Angela Pilch Ortega „Indigene“ Lebensentwürfe
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Angela Pilch Ortega „Indigene“ Lebensentwürfe
Lernweltforschung Band 5 Herausgegeben von Heide von Felden Rudolf Egger
Angela Pilch Ortega
„Indigene“ Lebensentwürfe Lernprozesse im Kontext konkurrierender Wissensprofile
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt mit Unterstützung der Karl-Franzens-Universität Graz
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Monika Mülhausen VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16482-3
Inhalt
Vorwort ........................................................................................................... 7 1 Einleitung .................................................................................................... 9 2 Konkretisierung des Phänomens ............................................................. 14 2.1 Historische Entwicklungen ...................................................................... 14 2.2 Kontextspezifische Relevanzstrukturen ................................................... 20 3 Theoretische und methodologische Bezüge ............................................ 3.1 Konstruktion des Fremden als methodologisches Problem ..................... 3.2 Interpunktieren des Erfahrungsstromes ................................................... 3.3 Strukturtheoretischer Handlungsbegriff ................................................... 3.4 Biographie als soziales Konstrukt ............................................................ 3.4.1 Gesellschaftliche Konstitutionsbedingungen von Subjektivität ............ 3.4.2 Biographischer Raum ........................................................................... 3.4.3 Biographische Gestaltungsprozesse ...................................................... 3.4.4 Biographie als Lern- und Bildungsraum ...............................................
28 28 32 40 44 45 48 55 57
4 Methodologischer Rahmen ...................................................................... 62 4.1 Grounded Theory ..................................................................................... 62 4.2 Das narrative Interview als methodisches Instrument .............................. 64 4.3 Forschungsdesign, Erhebungs- und Analyseschritte ................................ 66 5 Analyse des biographischen Raumes ...................................................... 77 5.1 ‚Salir adelante como indígena’ – biographisches Portrait Alberto ........... 77 5.1.1 Anmerkungen zum Interview mit Alberto ............................................ 77 5.1.2 Biographische Kurzbeschreibung Alberto ............................................ 79 5.1.3 Strukturelle Beschreibung Alberto ........................................................ 80 5.2 ‚yo solita salí adelante’ – biographisches Portrait Maria ....................... 102 5.2.1 Anmerkungen zum Interview mit Maria ............................................. 102 5.2.2 Biographische Kurzbeschreibung Maria ............................................. 103 5.2.3 Strukturelle Beschreibung Maria ........................................................ 104
5.3 ‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel .............................. 5.3.1 Anmerkungen zum Interview mit Miguel ........................................... 5.3.2 Biographische Kurzbeschreibung Miguel ........................................... 5.3.3 Strukturelle Beschreibung Miguel ......................................................
125 125 126 127
6 Vergleichende Fallanalyse ...................................................................... 6.1 Hypothesenkonzept ................................................................................ 6.2 Analytische Abstraktion der einzelnen Fälle im Vergleich ................... 6.2.1 Fallbeispiel Alberto ............................................................................. 6.2.2 Fallbeispiel Maria ............................................................................... 6.2.3 Fallbeispiel Miguel ............................................................................. 6.3 Zusammenfassende Anmerkungen zum Vergleich ................................ 6.3.1 Weiteres Fallbeispiel Ana ...................................................................
154 154 158 158 166 172 178 180
7 Modelle objektiv möglicher Sinnfiguren ............................................... 189 7.1 Analytische Abstraktion objektiv möglicher Sinnfiguren ...................... 191 Literaturverzeichnis .................................................................................. 201
Vorwort
Wie eignen sich Individuen widersprüchliche Wissensinhalte an, welche Formen der Syntheseleistung werden hier sichtbar und wie gestalten sich diese Strukturierungsprozesse vor dem Hintergrund hegemonial durchgesetzter Wissensordnungen? Das Aufeinandertreffen widersprüchlicher Relevanzstrukturen rückt die Frage des Aneignens unterschiedlicher Wissensformen und -ordnungen stärker in das Zentrum. Die kognitive Gültigkeit objektivierten Sinns und damit einhergehende Dominanzstrukturen geraten dabei ebenso in das Blickfeld wie die von den sozialen AkteurInnen geleistete (reflexive) Aneignung, der ein entscheidendes Potenzial in der handlungsorientierten Neugestaltung sozialer Wirklichkeit zugesprochen werden kann. Die vorliegende biographische Studie setzt AkteurInnengruppen in das Zentrum des Interesses, deren Selbst- Weltverhältnisse nicht primär in der reflexiven Moderne, sondern vielmehr in deren Peripherie verortet sind. Das durch Widersprüchlichkeit erzeugte Spannungsverhältnis provoziert einen vermehrten Selbstbezug, der nicht nur auf die prekären Lebensverhältnisse aufmerksam zu machen sucht, sondern ebenso die kognitive Gültigkeit dominant objektivierten Sinns, wie sie westliche Orientierungsfolien anbieten, in Frage stellt. In Rahmen der Studie wurden ‚indigene’ Lebensentwürfe narrativ-biographisch erschlossen und vor dem Hintergrund konkurrierender Wissensprofile diskutiert. Das Forschen im Kontext sogenannter kultureller Fremdheit stellt dabei eine besondere Herausforderung dar. Bei der Erschließung des Themenfeldes müssen geeignete theoretische Konzepte gefunden werden, wobei der Reflexion der Frage der Repräsentation und Objektivierung Anderer und der damit einhergehenden Verstricktheit in globale Dominanzstrukturen eine entscheidende Rolle zukommt. Die sozialen Rahmenbedingungen des untersuchten Feldes erfordern zudem ein hohes Maß an Flexibilität, zum einen bei der Anwendung methodischer Zugänge, zum anderen bei der Aneignung sogenannter fremdkultureller Praktiken. Der Forschungsprozess war mit einem intensiven Lernprozess über einen mehrjährigen Zeitraum verbunden, bei dem vertrautes Orientierungswissen permanent in Frage gestellt und unhinterfragte Schemata der Erfahrungsstrukturierung sichtbar wurden. Besonders die Auseinandersetzung mit Tiefendimensionen von kulturell variierenden Interpunktionsweisen stellt m. E. ein großes wissenschaftliches Erkenntnispotenzial in der Beleuchtung inkorporierter Relevanzstrukturen des scheinbar ‚Vertrauten’ dar und ermöglicht zudem den analytischen Blick auf ‚andere’ hervorgebrachte Modelle der Erfahrungsstrukturie-
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Vorwort
rung, wobei der Standort des Denkens und Sprechens eine Perspektive erzeugt, die zwar reflektiert, aber nicht verlassen werden kann. Mein besonderer Dank gilt den InterviewpartnerInnen, die mir ihre Lebensgeschichte erzählt und ihre Zeit zur Verfügung gestellt haben. Die Interviews ermöglichten tiefe Einblicke in lebensweltliche Rahmenbedingungen und machten vielfältige Handlungskonzepte und -potenziale der AkteurInnen sichtbar. Ohne die kontinuierliche Unterstützung meines Mannes, Antonio Ortega Hernández, in fast allen Belangen und Phasen wäre diese Arbeit jedoch in dieser Form nicht entstanden. Seine Unterstützung betrifft insbesondere seine Geduld in Bezug auf all meine Fragen, die ich während des Übersetzungs- und Analyseprozesses hatte. Sein kritischer Blick sowie das Vertrautsein mit den lebensweltlichen Rahmenbedingungen des untersuchten Feldes stellte ein wichtiges Element in dem Forschungsprozess dar. Ebenso stand mir Rudolf Egger mit seiner langjährigen Erfahrung im Bereich der Biographie- und Lebensweltforschung zur Seite und brachte wichtige Impulse und Anregungen in die Arbeit ein. Genannt werden soll zudem die theoretische und analytische Diskussion im Rahmen der freien Forschungsgruppe FG-BIO (Manuela Brodtrager, Solveig Haring, Martina Pusterhofer, Robert Riedl und Karin Vollmann), die als Korrektiv bei der Line-by-line Analyse sowie bei der Kategoriefindung sehr wesentlich war. Mein besonderer Dank gilt hier Martina Pusterhofer, die mich während des gesamten Prozesses mit ihren Anregungen und Ermutigungen begleitete und die wesentlich zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen hat. Abschließend sollen noch all jene genannt werden, die mir wichtige Impulse für die Arbeit gegeben haben, wie Werner Lenz im Rahmen der Forschungskolloquien, Winfried Marotzki und die KollegInnen des Forschungsateliers Bildinterpretation in Magdeburg, Barbara Schröttner, Cécile Huber, Irene Wenger sowie die vielen ExpertInnen des untersuchten sozialen Feldes, die sich für wertvolle Diskussionen zur Verfügung gestellt haben. Graz, im November 2008
Angela Pilch Ortega
1 Einleitung
„Solange gesehen werden kann, was zu sehen gewünscht ist, solange das FrageAntwort-Spiel durch die einzig zugelassene Antwort die Frage entwertet, hält der Monolog vor dem eigenen Ebenbild die drohende Wirklichkeit mit Macht- und Selbstverlust fern“ (Fischer-Rosenthal 1995, S. 78).
Wir verhalten uns lernend zu der Welt, die wir vorfinden und die spezifisch hervorgebrachten Welthaltungen geben Auskunft über die Beziehung, welche wir als Subjekte zu der Gesellschaft und der uns umgebenden Natur einnehmen. Die Konstitution und Konstruktion von Realität verweist auf eine reflexive Aktivität der Subjekte, die sich in historischen und gesellschaftlichen Vorgängen im menschlichen Handeln fortsetzt. Dies rückt die Perspektive der menschlichen Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit in das Zentrum. Die Verarbeitungsmuster sozialer Wirklichkeit machen in ihrer Tiefendimension ‚kollektiv’ hervorgebrachte Gewohnheiten, den Erfahrungsstrom auf eine bestimmte Art und Weise zu interpunktieren, erkennbar. Diesen Primärprozessen liegen kognitive Organisationsprinzipien zugrunde, die ein überwiegend implizites, und in diesem Sinne ein tendenziell nicht reflexiv zugängliches Wissen darstellen und die historisch sowie kulturell variieren. Die Aufspaltung der Wirklichkeit in eine sinnhafte Sozialwelt und in eine sinnentleerte Naturwelt, wie sie sich in der Moderne konstituiert hat, stellt – in Anlehnung an Luckmann – keine Vorgegebenheit des Seins dar, sondern verweist auf eine spezifisch gesellschaftlich hervorgebrachte Wirklichkeitskonstruktion, die sich neben anderen möglichen Vorauslegungen etabliert hat. Eine Moderne, die nicht in einem Monolog verhaftet bleiben und sich mit der Vielfalt möglicher menschlicher Wirklichkeitskonstruktionen auseinandersetzen will, muss divergenten Sinnhorizonten zugestehen, legitime Antworten auf lebensweltliche Problemstellungen zu sein. Neben den fremden müssen dann vertraute Leitorientierungen beleuchtet und hinterfragt werden, wobei dies auch die Chance in sich birgt, eigene zentrale Ordnungskategorien explizit und analytisch zugänglich zu machen. Wesentlich erscheint jedoch, dass es gelingt die Divergenz aus ihrem Entweder-oder-Zusammenhang herauszulösen. Von dem Aufeinandertreffen grundlegend unterschiedlicher Relevanzsetzungen sind verstärkt AkteurInnengruppen betroffen, deren Weltverhältnis nicht primär in der reflexiven Moderne gründet. Nicht zuletzt aufgrund des Triumphzuges der Moderne ist diese Begegnung im sozialen Raum von einem höchst
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Einleitung
ungleichen Verhältnis gekennzeichnet. Die Erosion anders figurierter lebensweltlicher Sinnhorizonte sowie die Marginalisierung der betroffenen AkteurInnengruppen haben allerdings auch soziale Bewegungen in Gang gesetzt, welche die Divergenz vorhandener Wirklichkeitskonstruktionen thematisieren und das Recht auf Anerkennung fordern. Ein jüngeres (historisches) Beispiel ist der zapatistische Aufstand im Hochland von Chiapas in Mexiko, der auf die prekäre Situation ‚indigener’ Bevölkerungsgruppen aufmerksam zu machen sucht und der sich gegen die neoliberale Vereinnahmung durch marktwirtschaftliche Interessen richtet. Gefordert werden die autonome Verwaltung von Ressourcen sowie das Recht auf Anerkennung von Differenz in einem selbstbestimmten Suchen nach Entwicklungsperspektiven. Die vorliegende biographische Studie untersucht ‚indigene’ Lebensentwürfe im Kontext konkurrierender Wissensprofile im Hochland von Chiapas in Mexiko. Besondere Relevanz in der Untersuchung erhält das Phänomen der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Relevanzstrukturen, welches in Form einer Inkompatibilitätserfahrung von AkteurInnen artikuliert wird und das auf eine Divergenz objektiv möglicher Wirklichkeitskonstruktionen schließen lässt. Die von den sozialen AkteurInnen erbrachte (reflexive) Aneignung sozialer Wirklichkeit kann dabei als Prozess des aktiven Verfügbarmachens von Welt verstanden werden, bei dem sowohl die/der Aneignende als auch das Angeeignete in ein transformierendes Moment eingebunden sind. Die Synthese unterschiedlicher Wissensformen vollzieht sich demnach nicht nur in Form einer Summierung des Vorhandenen, sondern vielmehr wird in einem wechselseitigen Durchdringen etwas „Neues“ erzeugt, das keinem der vorangegangenen Muster ganz zugehörig ist. Eine solchermaßen verstandene Synthese eröffnet den Blick auf eigensinnige Prozesse der Bezugnahme auf Welt, innerhalb dessen das Spannungsverhältnis zwischen Subjektivität und Struktur in seinem dynamischen Verhältnis rekonstruierbar wird. Die in Form individueller (wie kollektiver) Semantiken hervorgebrachten Selbst- Weltverhältnisse sind stets als kontextgebunden zu betrachten. Mit dem Blick auf die sozialen Rahmenbedingungen des gewählten Feldes zeigt sich, dass die Dynamiken des sozialen Raumes unter dem Aspekt postkolonialer Verhältnisse zu beleuchten sind. Massive soziale Ungleichheit wird dabei nicht nur als Positionierung im sozialen Raum und dadurch erzeugte typisch ungleiche Lebensverhältnisse wirksam, sondern auch in Bezug auf gesellschaftlich angelegte Wissensbestände deutlich. Die verschiedenen Wissensformen und -ordnungen können in dieser Hinsicht als in einem konkurrierenden Verhältnis stehend rekonstruiert werden, wobei diese von einer unterschiedlichen gesellschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit gekennzeichnet sind und vielfach mit Konstruktionen ethnischer Ordnungssemantiken einhergehen. Die vorhandenen differenten Prä-
Einleitung
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ferenzsysteme erzeugen dabei ein Spannungsfeld, innerhalb dessen Wirkungsgefüge die AkteurInnen ihr Leben ausrichten müssen. Selbst Biographie als Verarbeitungsmodus sozialer Wirklichkeit kann keineswegs als ein universell gültiges Phänomen betrachtet werden, sondern die Entstehung biographischer Reflexivität ist mit der Moderne in einem engen Zusammenhang zu sehen (vgl. Alheit/Brandt 2006, S. 11-27). „Die biographische Selbstthematisierung und ihre selektive Vergegenwärtigung in einem zeitlichen Rahmen erfordern es, dass die Fülle an Erleben und Handeln mittels wechselseitiger Relationierungen auf einen Punkt verkürzt werden“ (Pilch Ortega 2008, S. 40). Typisierungen verweisen in dieser Hinsicht auf die „an bestimmten Relevanzkriterien orientierte simplifizierende Verdichtungen erlebter Wirklichkeit“ (Reichertz 2003, S. 329), welche es ermöglichen, die Komplexität von Erfahrungen in einem zeitlichen Rahmen vergleichend zu konstruieren. Im Rahmen der Studie wurden zwölf narrativ-biographische Interviews durchgeführt, die in der ‚subjektiven Binnensicht’ enthaltenen Erfahrungsstrukturierungen, die u. a. Aufschluss über die Verschränkung und Verschachtelung unterschiedlicher Dispositionssysteme geben, rekonstruiert und die dahinterliegenden Strukturlogiken freigelegt. Dabei wurde der Frage nachgegangen, inwieweit die AkteurInnen Rahmenbedingungen vorfinden, die eine biographische Verarbeitung sozialer Wirklichkeit ermöglichen und inwieweit sich ein biographisches Ich als Perspektive der Selbstthematisierung herausgebildet hat, welches Aufschluss über soziale Bedingungsmechanismen biographischer Konstruktionsprozesse geben kann. Der forschende Blick richtet sich demnach auf die Strukturiertheit der biographischen Modelle, welche sich – wie anzunehmen ist – zum Teil von Lebenskonstruktionen moderner Lebensentwürfe unterscheiden. Von besonderem Interesse sind die von den AkteurInnen herausgebildeten Haltungs- und Handlungskonfigurationen, welche den sozialen Praxen zugrunde liegen. Die Divergenz möglicher Wirklichkeitskonstruktionen rückt zudem die von den AkteurInnen erbrachten Lern- und Bildungsprozesse in das Zentrum und verdeutlicht die ‚Emergenz von Neuem’ in der Begegnung unterschiedlicher Relevanzsetzungen. Wird Aneignung zudem als Form des Besitzergreifens, als eine Art des Ermächtigens von Welt begriffen, so wird das forschende Interesse auch auf Prozesse der Transformation sowie der Reproduktion sozialer Verhältnisse gelegt. In den gewählten sozialen Kontexten werden sowohl widerständige Artikulationen in Auseinandersetzung mit dominant objektiviertem Sinn und dessen Deutungsmuster sichtbar als auch Lebensarrangements, innerhalb der die sinnhafte Auslegung von Welt zuweilen zu einer Polarisierung der als unvereinbar gedeuteten Wissensformen führt. In dem einleitenden Kapitel des theoretischen Teils werden zunächst Einblicke in Lesarten historischer Ereignisse gegeben, die für das Verständnis des
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Einleitung
untersuchten Phänomens von Relevanz sind und die Entwicklung des gesellschaftlichen Wirkungsgefüges verdeutlichen. Die Thematisierung der kontextspezifischen Relevanzstrukturen richtet den Blick auf die Dynamik des sozialen Raumes, auf Prozesse der Herstellung ethnischer Zugehörigkeit sowie auf die von den AkteurInnen artikulierte Inkompatibilitätserfahrung, die anhand konkreter Beispiele veranschaulicht wird. Die Ausführungen geben darüber hinaus Einblick in lebensweltliche Rahmenbedingungen, wie z. B. die Situation der Marginalisierung und Militarisierung, mit der bestimmte AkteurInnengruppen konfrontiert sind sowie in Forderungen ‚indigener’ Autonomiebestrebungen, bei denen die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Im Kapitel 3 werden unterschiedliche theoretische und methodische Bezüge diskutiert, welche sich für die Erschließung des Themenfeldes als geeignet erwiesen haben und die in der Auseinandersetzung mit den kontextspezifischen Relevanzstrukturen besonders wesentlich waren. Zunächst wird auf die kritische Reflexion der Frage der Repräsentation und Objektivierung Anderer anhand ethnologischer und anthropologischer Diskurse eingegangen. Dabei werden die Verstricktheit dieser Fächer in die globalen Dominanzstrukturen näher beleuchtet sowie methodologische Neuorientierungen skizziert. Die Auseinandersetzung mit ‚Interpunktionsweisen des Erfahrungsstroms’ bildet die Basis für das theoretische Ausloten des analytischen Rahmens. Anhand sprachlicher Strukturierungsmuster wird kognitiven Organisationsprinzipien nachgegangen und deren Relevanz in Hinblick auf die bereits thematisierte Divergenz unterschiedlicher Wirklichkeitskonstruktionen diskutiert. Sprache wird dabei als Dispositionsrahmen verstanden, der die AkteurInnen verpflichtet sind und die sowohl Wahrnehmungs- als auch Erfahrungsprozesse in ein vorgeprägtes Muster zwingt. Das strukturtheoretische Verständnis dieser Arbeit wird unter dem Aspekt des Produzierens gesellschaftlicher Wirklichkeit sowie des Rückwirkens gesellschaftlicher Vorauslegungen thematisiert. Eine Arbeit, die das forschende Interesse auf biographische Konstruktionsprozesse von Lebensentwürfen richtet, die nicht primär in der reflexiven Moderne gründen, muss sich im Besonderen mit der Frage gesellschaftlicher Konstitutionsbedingungen von Subjektivität beschäftigen. Vor dem Hintergrund der ‚Andersartigkeit’ des Gewebes der narrativen Erfahrungsrekapitulationen werden theoretische Überlegungen zu konkurrierenden Wissensprofilen formuliert und Analysewerkzeuge, wie u. a. die ‚kognitiven Figuren’ vorgestellt. Der Blick richtet sich ebenso auf biographische Konstruktionsprozesse, die von den AkteurInnen geleistete komplexe Handlungen darstellen, welche sich in Interaktion mit anderen und der Welt vollziehen. Unter dem Aspekt der Gestaltbarkeit sozialer Kontexte werden lern- und bildungstheoretische Zugänge, denen vor dem Hin-
Einleitung
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tergrund divergierender Relevanzstrukturen besondere Bedeutung zukommt, thematisiert. Das Kernstück dieser Arbeit bildet der empirische Teil. Der methodologische Rahmen wird ausführlich im Kapitel 4 beschrieben. Dabei wird sowohl auf das forschungslogische Vorgehen der ‚Grounded Theory’, das narrative Interview als Erhebungsinstrument sowie auf die einzelnen Erhebungs- und Analyseschritte eingegangen. Die Beschreibung soll einen Einblick in das schrittweise und sukzessive Entwickeln der theoretischen Überlegungen geben und das Analysesetting veranschaulichen. Im Kapitel 5 beginnt die Darstellung der ausgewählten Fallbeispiele anhand struktureller Beschreibungen, wobei die einzelnen Interviewsituationen erläutert werden und biographische Kurzdarstellungen einen ersten Überblick über die einzelnen Lebensgeschichten vermitteln. Die ausführliche Darstellung ist aus Gründen der Nachvollziehbarkeit notwendig und ermöglicht zudem Einsicht in das analytische Vorgehen zu bekommen. Die Fallbeispiele unterscheiden sich durch die Konstruktion des biographischen Ichs, der Beschaffenheit der Herkunftsmilieus und den von den AkteurInnen entwickelten Handlungsstrategien. Anhand der strukturellen Beschreibungen werden die Erfahrungsaufbauten fallspezifisch herausgearbeitet und anschließend in einer vergleichenden Analyse weiter abstrahiert. Wesentlich war die Formulierung eines Hypothesenkonzeptes, innerhalb dessen drei zentrale Vergleichsdimensionen formuliert wurden. Bevor in einem letzten Schritt Sinnfolien abstrahiert werden sollten, wurde ein weiteres Fallbeispiel herangezogen, welches die Herstellung ethnischer Zugehörigkeit vor dem Hintergrund des hegemonialen Wirkungsgefüges und damit in Verbindung stehende interpretative Räume verdeutlicht. Den Abschluss der Arbeit bildet die Abstraktion objektiv möglicher Sinnfiguren, die vor dem Hintergrund des gesamten empirischen Datenmaterials und auf Basis der verdichteten Kategorien entwickelt wurden. Die Typologien weisen über die Einzelfälle hinaus und stellen übergreifende Sichtweisen dar, welche die konkret situierten Sinnfolien in einem allgemeineren Bedeutungszusammenhang fassen. Eine Graphik soll zunächst einen Überblick über den theoretischen Rahmen, in dem die Abstraktionen eingebettet sind, geben. Die anschließende Beschreibung wurde idealtypisch formuliert, wobei die Sinnfiguren anhand unterschiedlicher Merkmale und Eigenschaften fokussiert werden. Abschließend werden jene zentralen Kategorien, die sich vor dem Hintergrund des forschungsleitenden Interesses als besonders relevant erwiesen, resümierend betrachtet. Die Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit noch soll der Eindruck vermittelt werden, dass es sich dabei um unumstößliche wissenschaftliche Tatsachen handelt. Vielmehr stellen die abstrahierten Sinnfiguren Lesarten dar, die von der Forscherin angeboten werden und die in Hinblick auf den ethnographischen Gehalt der Arbeit zu betrachten sind.
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Konkretisierung des Phänomens
2 Konkretisierung des Phänomens
In dem folgenden Kapitel werden relevante historische und aktuelle Entwicklungen thematisiert, die für das Verständnis der vorliegenden Arbeit und die Konkretisierung des Phänomens wesentlich erscheinen. Ausgangspunkt ist die Unterwerfung der autochthonen Bevölkerung in dem untersuchten sozialen Kontext, die als historisches Ereignis in Form eines kollektiven Verlaufskurvenpotenzials weiter Wirksamkeit aufweist. Anhand des Diskurses des Indigenismus sollen Einblicke in die geschichtlichen Entwicklungen des gesellschaftlichen Wirkungsgefüges gegeben werden. Mit dem Blick auf aktuelle soziale Rahmenbedingungen der untersuchten AkteurInnengruppen werden kontextspezifische Relevanzstrukturen und die damit in Verbindung stehende Divergenz unterschiedlicher Wirklichkeitskonstruktionen als Phänomen thematisiert. 2.1 Historische Entwicklungen Die Geschichte Lateinamerikas ist von Unterwerfung, Ausbeutung und Fremdbestimmung geprägt. Die Gewaltherrschaft setzt sich von der Kolonialepoche, der Zeit der Unabhängigkeitsbewegungen bis in die Gegenwart weiter fort. Im folgenden Abschnitt wird auf geschichtliche Entwicklungen eingegangen, die in Hinblick auf die Relevanz für die Fragestellung ausgewählt wurden und demnach nur Einblicke in Lesarten historischer Ereignisse anbieten sollen. Ausgangspunkt der Darstellung ist die Conquista, die ‚Eroberung’ und die damit einhergehende Unterwerfung der autochthonen Bevölkerung des ‚entdeckten’ Kontinents. Die Bevölkerung wurde im Zuge der Okkupation entrechtet und soziale wie kulturelle Errungenschaften wurden unter dem Vorwand christlicher Missionierung systematisch zerstört. Mit der einsetzenden europäischen ‚Fremdbestimmung’ wurde die ‚neue Welt’ nach den Bedürfnissen des Eroberungslandes umstrukturiert. Im Zuge der Einführung der ‚encomienda’1 durch die spanische Herrschaft wurde ein Ausbeutungssystem installiert, das auf Tributs- und Arbeitspflicht basierte. Die ‚indigene’ Bevölkerung wurde als Arbeitskraft auf den 1 Den Konquistadoren wurden von der ‚Spanischen Krone’ aufgrund besonderer ‚Verdienste’ in der Eroberungsphase Arbeits- und Tributsleistungen der autochthonen Bevölkerung bestimmter Regionen auf Lebenszeit verliehen. Als Gegenleistung verpflichteten sich diese, die Region militärisch zu sichern und für die Christianisierung der BewohnerInnen zu sorgen.
Historische Entwicklungen
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Latifundien und für die Ausbeutung von Edelmetallen herangezogen (vgl. Lauth/Nohlen 1992, S. 170f.). Das rücksichtslose Vorgehen der Kolonialherren, des Klerus und der Großgrundbesitzer sowie die von Europa eingeschleppten Krankheiten führten zu einer drastischen Dezimierung der Bevölkerung. Die Brutalität gegen die ‚indigene’ Bevölkerung hatte jedoch auch Proteste zur Folge, wie z. B. von Bartolomé de las Casas, der das Vorgehen der Konquistadoren und die Zerstörung der kulturellen Errungenschaften und Praktiken verurteilte. Der koloniale Blick auf das Leben der autochthonen Bevölkerung war von einem eurozentristischen Überlegenheitsanspruch gekennzeichnet, welcher die ‚Anderen’ als minderwertige ‚Rasse’ – als ‚Wilde’ klassifizierte, die in einem ersten Schritt missioniert und später dann zivilisiert werden sollten. In der Studie ‚Das Fremde, das Eigene, das Andere – die Inszenierung kultureller und geschlechtlicher Identität in Lateinamerika’ sucht der Autor Hölz die Geschichte kultureller Wertzuweisungen nachzuzeichnen und diese als Differenzerfahrung auf Basis bestimmter Wissensdiskurse zu thematisieren. Er verweist darauf, dass sich der Kolonialdiskurs patriarchalischer Argumente bediente, um die Unterwerfung des – gegenüber der eigenen Geistes- und Erfahrungswelt – Anderen theologisch und metaphysisch zu legitimieren. Das Andere wird als kulturell rückständig markiert und gleichzeitig in einem Ausgrenzungsprozess kontrollierund verfügbar gemacht (vgl. Hölz 1998, S. 8ff.). Wenn auch mit dem aufklärerischen Denken die säkularisierte Zuordnung zunimmt, welche die koloniale Perspektive zu brechen sucht, so ist die Wahrnehmung des ‚Wilden’ weiterhin von ähnlichen Vorstellungen durchsetzt, wie etwa folgendes Zitat von Hegel veranschaulicht: „Sanftmut und Trieblosigkeit, Demut und kriechende Unterwürfigkeit gegen einen Kreolen und mehr noch gegen einen Europäer sind dort der Hauptcharakter der Amerikaner, und es wird noch lange dauern, bis die Europäer dahin kommen, einiges Selbstgefühl in sie zu bringen. Die Inferiorität dieser Individuen in jeder Rücksicht, selbst in Hinsicht der Größe, gibt sich in allem zu erkennen (...). Von Amerika und seiner Kultur (...) haben uns zwar Nachrichten erreicht, aber bloß die, dass dieselbe eine ganz natürliche war, die untergehen mußte, sowie der Geist sich ihr näherte“ (Hegel 1972, S. 140).
Das naturhaft geprägte Fremde weicht der Macht des Vernunftsubjekts. Die Herausbildung des vernunftbegabten Subjekts wird an die Überwindung von Natur und Mythos gebunden (vgl. ebd., S. 18f.). Interessant erscheint in der Analyse von Hölz der Übergang von der kolonialen zu der nationalen Geschichte Lateinamerikas. Dabei diagnostiziert er eine Verschiebung des ‚äußeren Anderen’ zu einem ‚inneren Anderen’. Über traditionelle biologische und rassische Ausgrenzungsstrategien setzt sich das koloniale Denken innergesellschaftlich
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Konkretisierung des Phänomens
weiter fort. Die Vielheit des entstandenen ethnischen Konglomerats wird über hierarchische Beziehungen definiert, die sich an dem ‚rassischen’ Anteil des ‚blanqueamiento’2 orientieren (vgl. ebd., S. 8ff.). Mexiko erlangte 1821 die Unabhängigkeit, wobei die folgenden Jahrzehnte durch interne Auseinandersetzungen zwischen Monarchisten, klerikalen Konservativen und antiklerikalen Liberalen sowie durch externe Kämpfe um territoriale Abgrenzung und Abwehr erneuter Okkupationsansprüche3 geprägt waren. Mit der Erlangung der Eigenständigkeit nationaler Souveränität setzten sich innergesellschaftlich die ‚Kreolen’ und später auch die ‚Mestizen’4 in der Übernahme von gesellschaftlichen Machtpositionen durch. Anhand des Diskurses des Indigenismus soll nun die Beziehung zwischen den sich herausgebildeten sozialen Gruppen und Schichten in ihrem zeitlichen Verlauf näher beleuchtet werden. Der Indigenismus beschreibt dabei den Blick der sich etablierten herrschenden Gesellschaftsschicht auf jene Gruppe, die als ‚indigen’ und der ehemals autochthonen Bevölkerung am ‚nächsten’ klassifiziert wurde. Die Orientierung an dem bereits benannten ‚blanqueamiento’ gründete dabei in der Übernahme der Fremdperspektive des Überlegenheitsanspruches der weißen ‚Rasse’. Mit der Erlangung der Unabhängigkeit stand innergesellschaftlich die Idee der Errichtung einer nationalen und kulturellen Identität, der ‚mexicanidad’ im Vordergrund. Die ‚indigene’ Lebensweise wurde dabei ökonomisch und kulturell weiterhin als rückständig eingestuft und sollte vom Stadium der ‚Wildheit’ in die Zivilisation geführt werden. Im Gegensatz zur Kolonialzeit wurde jedoch der präcortesianischen Kultur ein positiver Wert beigemessen, was sich auch in einem Abgrenzungsprozess zum spanischen Eroberungsland vollzog (vgl. Wenger 2002, S. 10ff.). Die soziale Situation der ‚indigenen’ Bevölkerung blieb allerdings äußerst prekär. Wurden zunächst unter Juárez die Kirche und die Großgrundbesitzer enteignet, ihrer Privilegien enthoben und das Land verteilt, so forcierte der ihm als Präsident nachfolgende Diaz die wirtschaftliche Modernisierung des Landes mit Hilfe von Auslandskapital, was zur Folge hatte, dass zu Beginn des 19 Jh. 90 % der Landbevölkerung ohne Land und völlig verarmt war. 2
Der Autor versteht darunter die Orientierung an der ‚weißen’ Ethnie. Im Texaskrieg verlor Mexiko über die Hälfte des Territoriums an die USA. Ebenso wurde mit Napoleon III Maximilian von Habsburg als Kaiser eingesetzt, der jedoch durch die Truppen von Benito Juárez überwältigt und schließlich hingerichtet wurde. Benito Juárez ging als erster und einziger Präsident ‚indigener Herkunft’ in die Geschichte Mexikos ein. 4 Die Begriffe ‚Kreole’ und ‚Mestize’ verweisen auf soziale Konstrukte, die über Rassentheorien hergeleitete ethnische Zuschreibungen darstellen und als Diskurse in der Alltagswelt weiter wirksam sind. ‚Kreole’ bezeichnet in diesem Sinne eine in Mexiko geborene Person spanischer ‚Herkunft’. Als ‚Mestizen’ werden jene Gruppen bezeichnet, deren Vorfahren sowohl spanischer wie ‚indigener Abstammung’ sind. Die Wortwahl der Autorin bezieht sich auf den damit in Verbindung stehenden interpretativen Raum. 3
Historische Entwicklungen
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Unter Diaz wurde vom Staat die Strategie der ‚Rassenvermischung’ weiter verfolgt. Mit der Revolution5, die zunächst von liberalen bürgerlichen Kräften ausging und dann immer mehr in einen Aufstand der besitzlosen Bauern mündete, kam es zu einer Landreform, die jedoch keine entscheidende Veränderung für die verarmte Bevölkerung brachte. Mexiko konstituierte allerdings die Verfassung, bei der u. a. die direkte Wahl, Richtlinien zur Agrarreform sowie bestimmte Rechte der ArbeitnehmerInnen festgelegt wurden. Unter Cardenas wurde dann auch die Verstaatlichung der sich im ausländischen Besitz befundenen Erdölindustrie und die Umverteilung von Land weiter vorangetrieben (vgl. Lauth/ Nohlen 1992, S. 173ff.). So wurde in dieser Zeit auch das ‚ejido’ als gemeinschaftlich nutzbares Land definiert, das nicht privatisiert werden durfte. Mit der weiter einsetzenden Modernisierung des Landes wurde die marginalisierte Situation der ‚indigenen’ Bevölkerung als soziales und politisches Problem bzw. Hindernis wahrgenommen, ohne jedoch die Perspektive der Betroffenen selbst zu berücksichtigen. Es wurden u. a. verstärkt staatliche Programme verfolgt, welche die Verbreitung der spanischen Sprache in Form einer Alphabetisierungskampagne zum Ziel hatten. Der Blick auf die ‚indigene’ Bevölkerung veränderte sich in weiterer Folge dahingehend, dass ihr unter dem Postulat des nordamerikanischen Kulturrelativismus zumindest auf intellektueller Ebene ein positiver Wert beigemessen wurde. Die ‚indigene’ Kultur wurde als anders, jedoch gleichwertig eingestuft, wobei diese nun differenzierter betrachtet wurde. Das Ziel einer einheitlichen nationalen Kultur nach westlichem Vorbild wurde in Frage gestellt (vgl. Wenger 2002, S. 13f.). Unter dem Banner der Modernisierung wurden jedoch weiterhin Förderprogramme entwickelt, um die ‚Indígenas’ in die mexikanische Gesellschaft zu integrieren. Die autoritäre Assimilationspolitik setzte sich – wenn auch in anderer Form – weiter fort. So wurde in dieser Zeit das INI (Instituto Nacional Indigenista) gegründet, welches verstärkt dazu diente, die Assimilationspolitik anthropologisch fundiert zu legitimieren. Die ‚indigene’ Bevölkerung ist in diesem Prozess keineswegs als untätiges Subjekt zu verstehen, sondern diese hat immer wieder versucht sich – mehr oder weniger erfolgreich – zur Wehr zu setzen. Zudem sollte auch darauf hingewiesen werden, dass sich innerhalb dieser AkteurInnengruppe eine Hierarchisierung herausgebildet hat sowie unterschiedliche Strategien, die Situation der Unterdrückung, Ausbeutung und Ausgrenzung zu handhaben, entwickelt wurden. So konnten sich bestimmte AkteurInnengruppen, die verstärkt mit der ‚mestizischen’ Gesellschaft kooperierend in Beziehung getreten sind, sozial als Kaziken etablieren. Die entstandenen sozialen Bewegungen können auch als Antwort auf 5
Unter der Führung von Emilio Zapata und Pancho Villa wurde für ‚Tierra y Libertad’ gekämpft.
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Konkretisierung des Phänomens
die indigenistische Politik des Staates betrachtet werden. Innerhalb dieser Bewegungen hat sich die ‚indigene’ Bevölkerung stärker emanzipiert, wie beispielsweise anhand der Forderungen nach sozialer Anerkennung und des Rechts auf Selbstbestimmung deutlich wird. Diese Entwicklungen sollen nun exemplarisch mit dem Blick auf das Hochland von Chiapas veranschaulicht werden. Vor dem Hintergrund der prekären Situation auf den Fincas begann sich die ‚indigene’ Bevölkerung von San Juan Chamula, im Hochland von Chiapas, Ende der 30er Jahre politisch und gewerkschaftlich zu organisieren. Erasto Urbina, der einer der Führer dieser Bewegung war, begann maßgeblich mit einer Landreform, die zuvor von der lokalen Oligarchie verhindert wurde. Er bildete ‚maestros bilingües’ aus, die in den Gemeinden eingesetzt wurden. Diese erlangten nach und nach autokratische Machtpositionen, die sie weiter ausbauen konnten. Trotz des gewerkschaftlichen Organisierens, das eine Verbesserung der Arbeitssituation bewirkte, führte die ‚revolución de los indígenas’ rückwirkend betrachtet zu einer vermehrten Kontrolle der Dorfgemeinschaften. Die neuen ‚indigenen’ Führer reorganisierten die ursprünglich als Widerstand angesehenen gemeinschaftlich orientierten Strukturen und pflegten gute Beziehungen zu der machthabenden Partei (vgl. Rus 1995, S. 257ff.). Die ‚escribanos principales’ (Gemeindeschreiber) spielten eine wesentliche Rolle bei dem Zugang des Staates zu den Dorfgemeinden – so wurde etwa durch diese die allgemeine Schulpflicht eingeführt. In den 60er Jahre, in der ‚época de Cardenas’ konnte die neue ‚indigene’ Elite ihre ökonomische Situation entscheidend verbessern. Durch die Erweiterung ihres Handels und Transportwesens wurden sie wichtige Geschäftspartner der ‚mestizischen’ Gesellschaft. Um die gewonnene Machtposition in den Gemeinden abzusichern, wurde u. a. in einem traditionalistischen Diskurs die Einheit als ‚heiles Inneres’ beschworen, die gegen das ‚böse Äußere’ verteidigt werden musste. Bei den entstandenen inneren Konflikten mit der jüngeren Generation konnten sich die Traditionalisten, die erstmals als ‚Caciques’6 bezeichnet wurden, durchsetzen, wobei die Unterworfenen beraubt und vertrieben wurden (vgl. Gerber 2002, S. 4). Die Vertreibung von 30.000 Tzotzil Indígenas hatte vorwiegend politische, ökonomische und soziale Ursachen (vgl. Pineda 1995, S. 285), wird jedoch in der geschichtlichen Darstellung vielfach als religiöser Konflikt7 6 Das Kaziken-System führte vor allem zu einer Polarisierung innerhalb der Dorfgemeinschaften. Von den Dorfautoritäten wurde der innehabende Status oft dazu missbraucht, persönliche ökonomische Vorteile zu erlangen sowie unliebsame DorfbewohnerInnen zu vertreiben. 7 Der Anteil an Baptisten, Adventisten, Zeugen Jehovas und anderen christlichen US Kirchen wird in Chiapas mittlerweile auf 30 % geschätzt. Neben religiösen stehen vor allem politische und wirtschaftliche Interessen im Vordergrund. Der Übertritt wird durch materielle Anreize motiviert, wobei die Konvertierten in weiterer Folge Abgaben an die neue Religionsgemeinschaft zu leisten haben.
Historische Entwicklungen
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beschrieben. Das Konvertieren zu einer protestantischen Kirche hatte nicht nur religiöse, sondern auch konkrete soziale Auswirkungen. So entrichteten z. B. die Evangelisten keinen Beitrag mehr für die gemeinsamen Dorffeste und es war ihnen nicht gestattet Alkohol zu konsumieren, der jedoch gerade in Chamula ein relevanter Bestandteil ‚ritueller Handlungen’ darstellt. Den ‚expulsados’ ist es nicht mehr erlaubt das ‚ejido’ Land zu bebauen. Die staatlichen Behörden reagierten mit Programmen der Nutzbarmachung der Selva Lacandona. So führte der unfreiwillige Exodus zur Gründung vieler neuer Dorfgemeinschaften in dieser Region, aber auch zur Entstehung von Randvierteln in San Cristóbal. In den 70er Jahren wurde in San Cristóbal von der Diözese und StudentInnen ein überregionaler ‚indigener’ Kongress8 organisiert, bei welchem wichtige Impulse für autonome Bewegungen entstanden. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen kann festgehalten werden, dass die eröffneten Räume als Plattform genutzt wurden sich verstärkt zu organisieren. Das jüngste Beispiel ‚indigener’ Widerstandsbestrebungen stellt der zapatistische Aufstand im Hochland von Chiapas dar. Gleichzeitig mit dem Inkrafttreten des NAFTA Abkommens zwischen Mexiko, USA und Kanada wurden in einem bewaffneten Aufstand mehrere chiapanekische Städte von der EZLN (Ejércitio Zapatista de Liberación Nacional) besetzt. Mit dem Ruf –‚Ya Basta’ (Es reicht) – wurde versucht, auf die prekäre soziale Situation und die vorhandenen Diskriminierungen ‚indigener’ Bevölkerungsgruppen aufmerksam zu machen. Die wesentlichen Forderungen beziehen sich auf das Recht autonomer Selbstverwaltung ihrer Gebiete in wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Belangen, um Eingriffen von außen entgegenzuwirken. Aufgrund des Drucks von Teilen der mexikanischen Bevölkerung, welche sich zunächst mit dem Zapatistaaufstand solidarisierten, kam es bei den Friedensgesprächen von San Andrés9 zu einem Abkommen, das zwar von der Regierung unterzeichnet, jedoch bis heute in dieser Form nicht umgesetzt wurde. Nach den exemplarisch dargestellten historischen Ereignissen, die für das Verständnis der in dem sozialen Kontext gewachsenen sozialen Praxen von besonderer Bedeutung erscheinen, wird in dem folgenden Abschnitt auf das gesellDie ‚missionarische Offensive’ führt zu erheblichen Konflikten innerhalb der Dorfgemeinschaften bzw. zur Spaltung dieser. 8 Von staatlicher Seite wurde in eine Art Gegenaktion ein eigener Kongress veranstaltet, bei dem das ‚Consejo Nacional de Pueblos Indígenas’ (CNPI) gegründet wurde, welchem die Aufgabe zukam, anhand linguistischer Kriterien ethnische Gruppen zu definieren. Die hergestellten Konstrukte wurden – wie es den Anschein hat – im weiteren Verlauf als fremdbestimmte Zuschreibung ethnischer Zugehörigkeit von der ‚indigenen’ Bevölkerung weitgehend übernommen (vgl. Hernández Castillo 2001, S. 146f). Pitarch schreibt in Bezug auf die Konstruktion der Ethnie Tzotzil: „Hay una lengua tzotzil pero no una cultura o una etnia tzotzil“ (1995, S. 239). Das gemeinsame Merkmal Sprache kann aus der Sicht von Pitarch nicht mit Kultur oder Ethnie gleichgesetzt werden. 9 Zu den Friedensgesprächen von San Andrés siehe Díaz-Polanco 1997: La rebelión y la autonomia; Hernández Navarro/ Herrera Vera 1999: Acuerdos de San Andrés.
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schaftliche Wirkungsgefüge, aktuelle Entwicklungen sowie auf damit in Verbindung stehende Problemstellungen der als ‚indigen’ bezeichneten Bevölkerung eingegangen. 2.2 Kontextspezifische Relevanzstrukturen Betrachten wir zunächst das Wirkungsgefüge des sozialen Raumes, so zeigt sich eine hohe ungleiche Verteilung von Ressourcen und Kapitalsorten innerhalb der Bevölkerungsstruktur10, welche zudem durch gesellschaftlich angelegte, ethnisch kodierte Differenzlinien verstärkt wird. Damit einher gehen divergente Relevanzsetzungen, die sowohl auf der sozialen, kulturellen sowie ökonomischen Ebene sichtbar werden und auf die später näher eingegangen wird. Laut des mexikanischen Statistikinstitutes INEGI haben 2005 6,7 %11 der Bevölkerung angegeben, eine ‚indigene’ Sprachen zu sprechen, im Bundesstaat Chiapas waren es 26,1 %. Wenden wir uns zunächst den Diskursen ‚Indígena’ und ‚Mestizo’ zu, so verdeutlichen diese einen in der Alltagswelt wirksamen interpretativen Raum, innerhalb dessen ethnische Herkunft verstärkt determiniert wird. Wie anhand der vorangegangenen historischen Darstellung veranschaulicht werden sollte, verweist dieser gesellschaftlich angelegte interpretative Raum zum einen auf gewachsene Orientierungsfolien, die aufgrund der Übernahme kolonialer Relevanzsetzungen weiter wirksam sind. Zum anderen wird ein kollektives Verlaufskurvenpotenzial sichtbar, welches bearbeitende und re-interpretierende Handlungsstrategien aller Betroffenen erfordert. Die ‚Mestizogesellschaft’ gilt als AkteurInnengruppe, die sich vermehrt an westlichen Ideen orientiert und meist der Oberschicht, sowie der Mittelschicht angehört. Die Haltung gegenüber der ärmeren Bevölkerung wird von den Betroffenen oft mit dem Begriff ‚ignorant’ gegenüber deren Problemstellungen und Lebensumstände beschrieben und als diskriminierend erfahren. Die bereits beschriebenen Positionen der betroffenen 10 Die Einkommensunterschiede divergieren sowohl sektoral als auch regional. Laut des mexikanischen Statistikinstituts INEGI verfügten 1983 20 % der Bevölkerung über 54,2 % des gesamten Einkommens, die niedrigsten Einkommensgruppen (etwa 20 %) lediglich 3,1 %. Das Einkommen am Land liegt zudem deutlich unter dem im urbanen Bereich (vgl. Nohlen, Lauth 1992, S. 191). Für die Einkommensverteilung konnten keine aktuelleren Werte gefunden werden. Das ‚solario minimo’, das Mindesteinkommen betrug im Jahr 2004 im Durchschnitt 956 Peso pro Monat, das entspricht etwa 63,10 € (Stand 05-09-06). 11 Die Werte beziehen sich auf Personen mit 5 oder mehr Jahren. Von den 6,7 % der Bevölkerung haben 87,7 % angegeben, sowohl eine ‚indigene’ Sprache als auch Spanisch zu sprechen. 12,3 % sprechen demnach kein Spanisch, wobei es 1960 noch 36,5 % und 1970 27,6 % der mexikanischen Bevölkerung waren.
Kontextspezifische Relevanzstrukturen
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AkteurInnengruppen im sozialen Raum erzeugen typisch ungleiche Lebensverhältnisse, wie etwa anhand von Bildungs- bzw. Berufschancen, aber auch anhand des Fehlens von basaler Grundversorgung im Bereich der Ernährung oder der Gesundheit deutlich wird. Das Ungleichgewicht führt zudem vermehrt zu Konflikten innerhalb der Bevölkerungsgruppen, wobei einerseits der Zugang zu Ressourcen und deren Selbstverwaltung gefordert wird, dem andererseits die Angst vor Verlust von Privilegien und ökonomischem Kapital entgegensteht. Ebenso verweist die wirtschaftliche und politische ‚Einmischung von außen’ auf postkoloniale Verhältnisse, welche die Dynamik im sozialen Raum noch weiter ‚anheizt’. Das NAFTA Abkommen hat eine weitere Verschlechterung der sozioökonomischen Situation bestimmter Bevölkerungsgruppen zur Folge. Der mexikanische Agrarsektor ist keineswegs mit den subventionierten Produkten des ‚geöffneten’ Marktes wettbewerbsfähig12. Andere gravierende Entwicklungen sind die massive Ausbeutung von natürlichen Ressourcen des Landes durch multinationale Konzerne. Ein weiteres für die ‚indigene’ Bevölkerung relevantes Detail stellt die Abänderung des Artikels 27 in der mexikanischen Verfassung dar. Der gesetzliche Schutz vor Veräußerung des ‚ejido’ wurde aufgehoben. Das Gemeindeland kann demnach von inländischem wie ausländischem Kapital erworben werden. Die Herausbildung marginalisierter Zonen soll anhand der Abbildung 1 ‚Grados de marginación municipal’ des Institutes CONAPO (Comición Nacional de Población) veranschaulicht werden. In 37 Gemeinden kann der Marginalisierungsgrad als sehr hoch, in 57 Gemeinden als hoch, in 12 Gemeinden als mittelmäßig und in 5 Gemeinden als niedrig bezeichnet werden. Die Klassifikation des Grades der Marginalisierung basiert auf 4 Dimensionen der sozialen Exklusion. Diese wurden anhand der Wohnverhältnisse, des Bildungsgrades, der Einkommensverhältnisse und der geographischen Lage (Wege, lokale Infrastruktur etc.) untersucht. Die von der Marginalisierung betroffenen Bevölkerungsgruppen sind laut dieser Erhebung zwar produktiv tätig, jedoch völlig oder teilweise von der Produktion und Verteilung des Wohlstands, vom Konsum diverser Güter und dem Angebot öffentlicher Dienstleitungen ausgeschlossen.
12 Bei dem Freihandelsabkommen für Nordamerika (NAFTA) 1994 wurde kein einziges mexikanisches Agrarprodukt bei den Verhandlungen ausgenommen. Seit 1993 ist der Wert der importierten Agrarprodukte um 73% gestiegen. Die Produkte der Bauern verlieren zunehmend an Wert, wie z. B. anhand des Kaffeepreises deutlich wird. Ebenso wurde die Kontamination des Saatguts durch gentechnisch veränderten Mais aus den USA festgestellt. Das NAFTA Abkommen wurde mit dem Ziel vereinbart, die im Agrarsektor tätige mexikanische Landbevölkerung (derzeit ca. 26 %) um die Hälfte zu reduzieren, da dieser Bereich nur 7 % des BIP produziert (vgl. Hernández Navarro 2003, S. 46ff).
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Abbildung 1:
Konkretisierung des Phänomens
Grados de marginación municipal (CONAPO 1990 zit.n. Castro/Hidalgo 1999, S. 130.)
In vielen Comunidades fehlt die Grundversorgung im Bereich der Ernährung und des Trinkwassers, im Bildungssektor sowie im Gesundheitswesen. In diesen Zonen ist zudem eine hohe Kindersterblichkeitsrate zu verzeichnen. Die Marginalisierung verweist auf Interdependenzunterbrechungen innerhalb der Gesellschaftsstruktur, wobei den Betroffenen der Zugang zu wesentlichen gesellschaftlichen Teilsystemen verwehrt bleibt. Das Erwerben von ökonomischem Kapital als Voraussetzung für die Teilhabe an diesen wird in den ländlichen Regionen durch das Fehlen von Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit noch erschwert. Die Regierung reagierte auf den Aufstand der Zapatisten, der auf die prekäre Situation bestimmter Bevölkerungsgruppen aufmerksam zu machen suchte,
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mit einer verstärkten Militarisierung dieser Gebiete. Die Zahl der in Chiapas stationierten Soldaten wird auf ca. 70.000 geschätzt13. Teil der von der Regierung verfolgten ‚Aufstandsbekämpfung’ stellt die Schaffung paramilitärischer Gruppen14 dar, welche u. a. unter dem Vorwand gemeindeinterner Konflikte legitimiert werden. Der ‚Krieg niederer Intensität’, welcher gegen Teile der ‚indigenen’ Bevölkerung geführt wird, umfasst Kontrolle und Destabilisierung sowie Fragmentierung und selektive Repression in diesen Regionen. Eine wesentliche Strategie der Betroffenen stellt das Sichtbarmachen der Militarisierung und der Repression dar, die von offizieller Seite negiert werden (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2:
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Militarización en Chiapas (FZLN 2000)
Das entspricht etwa einem Drittel des mexikanischen Militärs. Die paramilitärischen ‚Kräfte’ werden ebenfalls aus der ‚indigenen’ Bevölkerung rekrutiert. So kann es vorkommen, dass sich innerhalb einer Familie sowohl Zapatisten als auch Angehörige von Paramilitärs befinden. 14
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Konkretisierung des Phänomens
Durch die Präsenz militärischer wie paramilitärischer Gruppen sind Morddrohungen, Vertreibungen, Vernichtung der Ernte und der Dorfstrukturen Teil des Alltags der betroffenen Gemeinden geworden, wobei die organisierten Aktivitäten meist strafrechtlich nicht verfolgt werden15. Laut des Berichts des CCIODH 2002 (Comisión Civil Internacional de Observación de los Derechos Humanos) wurden als Konsequenz des Krieges in Chiapas mehr als 10.000 Personen aus ihren Gemeinden vertrieben, ohne dass es zu einer Entwaffnung der paramilitärischen Gruppen gekommen ist. Die Situation der betroffenen AkteurInnengruppen hat sich vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen weiter verschlechtert. Die Forderungen, welche in der Vereinbarung von San Andrés festgelegt wurden, stellen ein zentrales Anliegen der organisierten ‚indigenen’ Bevölkerung dar und sollen das sozio-ökonomische Überleben der betroffenen AkteurInnengruppen und die autonome Verwaltung ihrer Regionen gewährleisten. In der Gesetzesinitiative COCOPA16 wurde eine Verfassungsreform, welche das Verhältnis zwischen Staat und der ‚indigenen’ Bevölkerung in politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht neu festlegt, entworfen. Wesentlicher Bestandteil ist die Anerkennung der ‚indigenen Völker’ als Rechtssubjekte und die Anerkennung der ‚kulturellen’ Differenz in der Verfassung. Dies ermöglicht eine eigene Jurisdiktion, eigene politische Repräsentations- und Verwaltungsstrukturen, die Mitsprache bei der Nutzung von Ressourcen sowie die Anerkennung von Kollektivrechten. An dieser Stelle möchte ich nun anhand von Auszügen aus dem Text ‚Gründe der Initiative der COCOPA’ die Betroffenen17 selbst zu Wort kommen lassen: „Die Autonomie (stellt - A.P.O.) eine von den Vorfahren überlieferte Erfahrung dar. Dank ihrer Werte haben es unsere Gemeinden geschafft, sich aus eigener Kraft weiterzuentwickeln (...). Wir wollen diese Werte und die daraus hervorgehende soziale, wirtschaftliche, politische, juristische und kulturelle Organisation erhalten können, so wie wir es bis in die Gegenwart gemacht haben. Im Besonderen sind wir um die Stärkung unserer Autonomie besorgt, mit Bezug darauf, die Kontrolle über unsere gemeinschaftlichen Ländereien zu behalten sowie in dem Sinne, weiterhin mittels Gemeinschaftsversammlungen zu arbeiten um unsere Entscheidungen zu treffen und um unsere Autoritäten zu wählen. (...) Denn wir sind historisch ignoriert und an den 15
Trauriger Höhepunkt dieser Politik stellt das Massaker von Acteal (1997) dar, bei dem paramilitärische Gruppen 45 Personen der Abejas – darunter viele Kinder und Frauen – ermordeten. Die Gesetzesinitiative der COCOPA (Comisión de Concordia y Pacificación) setzte sich aus Senatoren und Abgeordneten aller im Bundeskongress vertretenen politischen Parteien zusammen und wurde als Vermittlungsinstanz zwischen dem Staat und der EZLN ins Leben gerufen. 17 Der Text ‚Gründe für die Initiative der COCOPA’ erschien am 18.03.01 in der Ausgabe ‚Masiosare’, welche der ‚La Jornada’ beigelegt ist. Der Autor, Adolfo Regino Montes bezeichnet sich selbst als Indígena vom Volk Mixe – er ist Anwalt und Mitglied des Congreso Nacional Indígena CNI. 16
Kontextspezifische Relevanzstrukturen
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Rand der Gesellschaft gedrängt worden. Während durch die Gesetze die vermeintliche Gleichheit unter allen MexikanerInnen hergestellt wurde, haben uns in der realen Praxis die Institutionen des Staates nicht gedient und unsere Völker sahen sich seit der Zeit der Kolonie einer völligen Situation der Ungleichheit unterworfen“ (Regino Montes 2001, S. 1). „Die Vorstellungen des Staates haben uns zur Logik geführt, dass wir mexikanischen Indigenen uns in die ‚nationale Entwicklung’ integrieren müssen. Dieser Überlegung folgend, ist die Zugangsbedingung zu besagter nationaler Entwicklung, daß wir aufhören zu sein, was wir sind. Gegenüber dieser Vorstellung ist der indigene Vorschlag entstanden, daß das Wachstum und das Gedeihen unserer Völker von uns selbst ausgehen muß. Jedes von außen entworfene und uns nicht berücksichtigende Entwicklungsprojekt, wird ein Anschlag auf die Unversehrtheit unserer Völker sein. (...) Der Vorschlag ist dann der des Suchens nach Entwicklungsaltnativen in unserer eigenen Kultur, während wir gleichzeitig bewusst die Technologien und Erkenntnisse von außen benutzen, sofern sie sich als tauglich herausstellen. Es geht auch darum, die Natur vernünftig, an das ökologische Gleichgewicht und die zukünftigen Generationen denkend zu nützen“ (ebd., S. 3).
Die ‚indigene’ Autonomie beinhaltet zum einen das Recht auf Gleichheit und zum anderen das Recht auf Differenz. In Auseinandersetzung mit unterschiedlich konstruierten Weltauffassungen wird gefordert, selbstbestimmte Entwicklungsalternativen vor dem Hintergrund des Vertrauten zu definieren und zu erproben. Die Anerkennung auf Differenz verdeutlicht dabei eine Form des Verteidigens des als divergent markierten Weltverhältnisses, das mit einem Prozess des SichKollektivierens auf Basis ethnischer Kategorien einhergeht und die Gleichwertigkeit des ‚Eigenen’ garantieren soll. Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang die von den Betroffenen artikulierte Inkompatibilitätserfahrung, die auf eine Divergenz möglicher Wirklichkeitskonstruktionen verweist, wie sie etwa anhand des Verhältnisses zwischen Natur und Mensch sichtbar wird. Lenkersdorf verdeutlicht in seinem Artikel ‚cosmovisiones en conflicto’ die Bedeutung der Erde für die von ihm untersuchte AkteurInnengruppe, den Tojolabales. Die Erde werde als Mutter aller Tiere und Menschen begriffen und nicht als Ware, die gekauft oder verkauft werden kann: „La tierra es nuestra madre que nos sostiene y cuida. Por ello somos respondables (sic) de ella como los hijos son respondables (sic) de su mamá. Ella jamás es una mercancía. El que la compra o vende convierte a su mamá en prostituta” (Lenkersdorf 1998, S. 260). Vor diesem Hintergrund ist für diese AkteurInnengruppe die Idee Grund besitzen und parzellieren zu können sowie die Ausbeutung von Land aufgrund ökonomischer Profitinteressen besonders problematisch. Ein anderes Beispiel für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Weltauffassungen stellen die neueren Entwicklungen in Bezug auf gentechnisch veränderten Mais dar. Der Mais ist für bestimmte ‚indigene’ Bevölkerungsgruppen nicht nur ein wichtiges Nahrungsmittel, sondern auf Basis der Weltauffassung von zentraler spiritueller Bedeutung. Der
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gentechnisch veränderte Mais greift dabei nicht nur in Form von Ernährung und Anbau in die Alltagswelt der AkteurInnengruppen ein, sondern berührt vielmehr einen Bereich, der sinnstiftenden- und identitätsstiftenden Charakter hat. In dem untersuchten sozialen Kontext kommt der gemeinschaftlichen Nutzung von Ressourcen, den gemeinschaftlich organisierten Dorfstrukturen sowie der sozialen Einbindung hohe Relevanz zu. In dem als divergent markierten Anderen wird eine Wirklichkeitskonstruktion sichtbar, innerhalb der sich die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt nicht im Sinne eines modernen, in der Aufklärung gründenden Verständnisses vollzogen hat. Das Verhältnis zwischen Natur und Mensch wird vielmehr verstärkt in einem intersubjektiven Verstehenszusammenhang erfahren, der auf einen Verarbeitungsmodus sozialer Wirklichkeit verweist, welcher die dem Menschen umgebende Lebenswelt als beseelt konstruiert und der in Form von sozialen Praxen in der Alltagswelt sichtbar wird. Demgegenüber steht eine Weltauffassung, die auf der Konstitution von Subjektivität basiert und innerhalb der die Objektivierung der Natur in einer mechanistischen Weltsicht konstruiert wird. Die Beherrschung und Unterwerfung der belebten und unbelebten Natur stellen nahezu unhinterfragte Leitorientierungen dar. Wie Fischer-Rosenthal betont, trägt der Triumphzug des Subjekts jedoch von Anfang an eine Schattenseite (vgl. FischerRosenthal 1995, S. 78f.): „Das Subjekt und die in ihm legitimierte vernünftige Gesellschaft sowie die objektivierte Natur erodieren gleichermaßen“ (ebd., S. 79). Die prekären Verhältnisse18, von denen bestimmte AkteurInnengruppen betroffen sind, erfordern bzw. provozieren – wie es den Eindruck erweckt – einen gesteigerten Selbstbezug. Die Selbstthematisierung wird vermehrt auf einer kollektiven Ebene formuliert. Die Strategie, dem unterworfenen Selbstverständnis Gehör zu verschaffen, wie sie beispielsweise anhand des bewaffneten Aufstandes der Zapatisten sichtbar wird, stellt eine von mehreren entwickelten sozialen Praxen in dem untersuchten sozialen Feld dar und zielt auf eine handlungsorientierte Neugestaltung19 der vorgefundenen sozialen Rahmenbedingungen ab.
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Der Begriff Prekarisierung wird gewöhnlich im Zusammenhang mit der Erosion von ‚Normalarbeitsverhältnissen’ im Kontext neoliberaler Deregulierungs- und Flexibilisierungsprozesse verwendet. Die sozialen Rahmenbedingungen der untersuchten AkteurInnengruppen verweisen auf viele diesem Begriff entsprechende Aspekte, wobei von einer umfassenderen Reichweite ausgegangen werden kann. Zum einen haben sich ‚gesicherte Arbeitsverhältnisse’, wie sie sich in Europa herausgebildet haben, niemals in dieser Form konstituiert, zum anderen beziehen sich die ‚widerruflichen Lebensverhältnisse’ ebenso auf die rechtliche, ökonomische und soziale Ebene. 19 Die Zapatisten werden u. a. als ‚Diskursgeriulla’ bezeichnet. Die von ihnen verfolgten Strategien verweisen auf eine intentionale Thematisierung divergent konstruierter zentraler Ordnungskategorien.
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Wie u. a. durch den Gebrauch des Begriffs ‚Volk’ sichtbar wird, ist die Mobilisierung über die Kategorie Ethnie durchaus auch problematisch zu sehen. Der hier angesprochene Prozess der Ethnisierung20 muss jedoch vor dem Hintergrund der Dynamiken des sozialen Raumes betrachtet sowie der Frage nachgegangen werden, welche sozialen Bedingungsgefüge den Konstruktionen ethnischer Zugehörigkeit zugrunde liegen. Wesentlich erscheint zudem der Blick auf die Relationalität von Ethnizität. Die Herstellung von Identifikationsmustern der eigenen Gruppe vollzieht sich stets in einem Abgrenzungsprozess zu anderen, die gleichermaßen klassifiziert werden. Unter diesem Blickwinkel kann angenommen werden, dass der Ethnisierung stärker die Funktion einer Binnenintegration benachteiligter AkteurInnengruppen als Machtressource zukommt (vgl. Rosenthal 2004, S. 217ff.). Die herausgebildeten Orientierungsfolien veranschaulichen von den AkteurInnen in Auseinandersetzung mit divergenten Wirklichkeitsauffassungen entwickelte Sinnhorizonte. Die Sinnkonstruktionen sind dabei vor dem Hintergrund des hegemonialen Wirkungsgefüges, der in dem sozio-historischen Kontext gewachsenen Orientierungsschemata und des Phänomens der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Relevanzsetzungen – die sich nicht nur in einem hohem Maß unterscheiden, sondern widersprüchlich und unvereinbar erscheinen – zu betrachten.
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Zu Prozessen der Ethnisierung siehe u. a. Bukow 1999
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Theoretische und methodologische Bezüge
3 Theoretische und methodologische Bezüge
3.1 Konstruktion des Fremden als methodologisches Problem „Das Andere der eigenen Kultur, dem wir im Fremden begegnen, bildet eine Herausforderung, die den Horizont der eigenen Lebensweise transzendiert und für andere Möglichkeiten der Existenz öffnet, die eigene Lebensweise aber auch in Frage stellt. Indem sich das Selbst durch das Andere definiert, hält es dies zugleich auf Distanz und wehrt es ab“ (Berg/Fuchs 1999, S. 7).
In den achtziger Jahren hat im angelsächsischen Raum im Umkreis der Ethnologie und Kulturanthropologie eine grundsätzliche Debatte eingesetzt, bei der die Praxis der kognitiven Aneignung anderer – nicht westlicher Gesellschaftsformen – in das Blickfeld gerückt wurde. Der Versuch, andere „Diskurse im eigenen zum Sprechen zu bringen“ (ebd., S. 93), verweist auf eine spezifische historische Konstellation, welche die Verstricktheit des Faches mit den globalen Dominanzstrukturen besonders deutlich macht. Berg und Fuchs veranschaulichen in ihrer Thematisierung der Phänomenologie der Differenz besonders die Definitionsmacht des Westens, der Moderne, die sich – Überlegenheit beanspruchend – anderer Lebensformen als Spiegel und Gegenüber bedient, um sich global zu verorten: „Die Anderen dienen als Hintergrund, von dem sich die Moderne abhebt, und sind zur gleichen Zeit Objekt und Opfer ihres Subsumtions- und Appropriationsanspruchs“ (ebd., S. 7). In dem nun folgenden Abschnitt soll die von Berg und Fuchs thematisierte kritische Reflexion21 der Frage der Repräsentation und Objektivierung Anderer aufgegriffen werden. Die Überlegungen nehmen zum einen Bezug auf das hegemoniale Wirkungsgefüge, in das jede Form der Wissensproduktion eingebettet ist. Zum anderen werden sich daraus ergebende Schlussfolgerungen für die Forschungspraxis beschrieben. Die thematisierten Diskurse liefern darüber hinaus wichtige Hinweise auf das Wirkungsgefüge der lebensweltlichen Rahmenbedingungen, in welche die sozialen AkteurInnen ehemaliger Kolonialländer eingebettet sind. Die metawissenschaftliche Perspektive sowie das autoritative Bild der einzelnen Kulturen, welches die Ethnologie durchgesetzt hat, wurden fundamental 21
Die kritische Auseinandersetzung mit ethnographischen Diskursen war für die Erstellung des Forschungsdesigns besonders wesentlich und fungierte zugleich als Vorbereitung für die Feldforschungs- und Erhebungsphase.
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erschüttert. Die Praxis der kognitiven Aneignung des Fremden verweist auf einen spezifischen Interaktionszusammenhang, bei dem aufgrund der Wirksamkeit postkolonialer Verhältnisse die grundlegende Asymmetrie in Form von Herrschafts- und Abhängigkeitsstrukturen besonders sichtbar wird (vgl. ebd., S. 17f.). Diese Erkenntnis führte zu einer theoretischen, gesellschafts- und methodenkritischen Neuorientierung in der Ethnologie, bei der die Verwobenheit des Faches in die globalen Dominanzstrukturen systematisch thematisiert und reflektiert wurde. Die Kategorien- und Wertesysteme der westlichen Moderne, welche innerhalb wissenschaftstheoretischer Positionierungen wahrnehmbar werden, rückten in das Blickfeld. Die Ethnologie und Ethnographie stellen de facto keine neutralen Orte dar (vgl. ebd., S. 41) – Erkenntnisprozesse finden demnach in keinem hierarchiefreien Raum statt, sondern sie sind auf das Bedürfnis des Westens ausgerichtet. Die Interpretationen werden dabei von der Beziehung zum Anderen getragen. Richtet sich der Blick auf den Umgang der Moderne mit anderen Gesellschaftsformen bzw. auf die Beziehung des Westens zum ‚Rest der Welt’, so zeigt sich, dass die Vielfalt der anderen Stimmen unter dem Abstraktum ‚die Anderen’ subsumiert wurde. Die Konstitution und Konstruktion des Projektes der Moderne vollzog und vollzieht sich in einem Prozess der Abgrenzung (‚othering’). Ethnologische Diskurse vergangener methodischer Praxen machen eingenommene Positionierungen im Forschungsprozess besonders deutlich. Der paternalistische Objektivismus verweist beispielsweise auf eine Forschungsperspektive, bei welcher der Ethnologe/die Ethnologin den Status erhält, allein Hintergründe und Zusammenhänge zu durchschauen – nur das wissenschaftliche Verständnis vermag ein vollständiges Verstehen zu leisten. Dem ‚Eingeborenen’/der ‚Eingeborenen’ als Teil seines/ihres lebensweltlichen Gefüges wurde nicht zugestanden, das ‚Ganze’ von außen betrachten zu können. Die Sicht der sozialen AkteurInnen auf die Welt blieb weitgehend unberücksichtigt. Die Handlungen und Interpretationen der Untersuchten wurden vor diesem Hintergrund auf ein Rohmaterial reduziert (vgl. ebd., S. 37f.). Der methodische Holismus hingegen verfolgte die Strategie, die zu untersuchende Gemeinschaft im Forschungsprozess zunächst als abgeschlossene Wirklichkeit zu behandeln. Transkulturelle Aspekte, wie z. B. Kontakte zwischen Angehörigen verschiedener Herkunftsmilieus oder kultureller Symbolsysteme, wurden methodisch ausgeblendet. Innerhalb einer homogenisierenden Interpretationsfolie wurden interne Differenzen und Diskontinuitäten vernachlässigt – der Einzelne/die Einzelne wurde anhand eines konstruierten Kollektivs repräsentiert. Im Rahmen der Neuorientierung in der Ethnologie wurde vor allem die Frage des ‚Wie’ einer erkenntniskonstituierenden Praxis, die sich differenzierter und der Komplexität der Problematik angemessener gestaltet, aufgeworfen. Die Kri-
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Theoretische und methodologische Bezüge
tik wissenschaftlicher Repräsentationsformen richtete sich gegen die Annahme der Existenz einer beschreibungsunabhängigen Wirklichkeit, welche als Idee ein äußeres Objekt visualisiert und widerspiegelt. Mit der hermeneutischen Wende, welche in den Kulturwissenschaften relativ spät einsetzte, wurde die Aufmerksamkeit auf die eigene Anwesenheit im erforschten Feld gerichtet. Der Trend führte zu einer (Selbst-)Objektivierung der Forschungspraxis, bei der das Beziehungsgeflecht zwischen ForscherIn und den Anderen stärker thematisiert, beobachtet und beschrieben wird. Der Dialog mit den Anderen kann als interaktiver Prozess verstanden werden, bei dem beide Seiten – wenn auch in unterschiedlicher Form – beteiligt sind. Die Grundlage des Erkenntnisprozesses bildet demnach die Beziehung zwischen Interpret und Interpretandum, die als soziales Phänomen untersucht werden kann. Geertz rückte in seinen Arbeiten die Frage der Erschließung fremder Lebens- und Weltentwürfe in den Mittelpunkt. Anstelle der Empathie treten bei ihm die Deutung der Symbolsysteme und deren objektiver Sinngehalt. Die Verschiebung hin zu einem stärkeren interpretativen Wissenschaftsverständnis wird durch die Betonung der AkteurInnenperspektive bei der Erschließung von Symbolsystemen sichtbar. Geertz wirft in diesem Zusammenhang die Problematik der Konstruiertheit ethnographischer Darstellung auf und stellt die Anderen als ProduzentInnen ihrer Wirklichkeitskonstruktionen ins Rampenlicht (vgl. ebd., S. 59). Auf Basis der Methode der ‚dichten Beschreibung’ werden von ihm Handlungen und Vorgänge festgehalten (vgl. ebd., S. 50), wobei er das Konzept ‚Kultur als Text’ auf unterschiedlichste Bereiche gesellschaftlichen Lebens ausdehnt. Die Frage der Bedeutungskonstitution – wie Interpretationen intersubjektiv hergestellt, reproduziert oder transformiert werden – bleibt jedoch in seinen Schriften relativ vage. Darüber hinaus wird ihm die Vernachlässigung postkolonialer Dominanz- und Abhängigkeitsstrukturen vorgeworfen. Durch die Substantialisierung des Textbegriffes in seinen Arbeiten wird das Interpretationsprivileg – der Überlegenheitsanspruch des wissenschaftlichen Erkenntnissubjekts – aufrecht erhalten (vgl. ebd., S. 59). Innerhalb einer Ethnographie, die sich zwischen Distanz und Dialog verortet, ist der Riss zwischen Subjektperspektive und möglicher Objektivierung unmittelbarer gegenwärtig. Die Auseinandersetzung mit der den Forschenden zugeschriebenen Interpretationsmacht und dem Erkenntnisprivileg brachte sehr unterschiedliche Positionen hervor. Dennoch entstand ein Konsens darüber, nicht mehr nur über bzw. für die Anderen sprechen zu wollen und sich von der Perspektive zu lösen, Kultur(en) „als etwas Fixes oder Fixierbares, das stillhält um portraitiert zu werden (Clifford), zu begreifen“ (ebd., S. 72). Berg und Fuchs verweisen darauf, dass in der Reflexion der Produktion ethnologischen Wissens im Wesentlichen drei Stränge auszumachen sind, deren
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Gemeinsamkeit in dem Versuch gesehen werden kann, „bessere Einsicht in den Vorgang der Transformation von Momenten lebensweltlicher Interaktion in objektiviertes Wissen“ (ebd., S. 78) zu erlangen. Mit der Neubestimmung des ethnographischen Tuns wächst die Sensibilität dafür, die Objektkonstitution stärker als interaktiven und kommunikativen Prozess zu begreifen, an dem beide Seiten beteiligt sind (vgl. ebd., S. 22). In dem Versuch einer dialog-theoretischen Verortung plädiert Crapanzano dafür, Realität als etwas zu begreifen, das zwischen den beteiligten Seiten verhandelt oder ausgehandelt wird. Bei dem Prozess der Konstruktion einer gemeinsamen Verstehensbasis geht es nicht nur darum, die gemeinsam geteilte Wirklichkeit zu bestimmen, sondern ebenso um das Ausloten einer adäquaten Ausdrucksweise. Das Konzept des Dialogs ist jedoch nicht frei von normativen Akzenten (vgl. ebd., S. 81f.). Auch Tedlock spricht sich dafür aus, den Forschungsprozess zu dialogisieren und die Spaltung zwischen Interaktion und Repräsentation aufzuweichen. Jedoch nimmt bei ihm der Aspekt der Differenz – der kulturellen Andersheit des Gegenübers – einen zentralen Stellenwert ein und fungiert als Warnung vor Subsumtionsansprüchen (vgl. ebd., S 81). Für Bourdieu hingegen ist die Distanz zwischen Forscher/Forscherin und Objekt konstitutiver Bestandteil sozialwissenschaftlicher Praxis (vgl. ebd., S. 79). Die ‚andere’ Seite ist in diesem Prozess keineswegs als passiv zu betrachten. Zunächst vom Kolonialismus überrollt, verschaffen sich nicht-moderne Gesellschaftsformen immer stärker Gehör und konfrontieren den Westen mit dem Anspruch, als ‚anders’ konstituierte Lebensformen Geltung zu erlangen (vgl. ebd. S. 76). Wesentlich dabei erscheint, dass diese nicht nur als Gegenstände des Denkens, sondern als Instrumente des Denkens Legitimität erhalten (vgl. Das, 1999, S. 410) und vor dem Hintergrund divergenter Ordnungssysteme sowohl den Herrschaftsanspruch als auch Relevanzsetzungen der Moderne in Frage stellen können. Bezugnehmend auf die Kritik von Fabian (1983) an der Distanzierung und Objektivierung der Anderen, verweisen Berg und Fuchs besonders auf die Anerkennung des Prinzips der Gleichzeitigkeit unterschiedliche Modelle der Vergesellschaftung: „die zeitliche Rückverlagerung zeitgenössischer sozialer Existenzweisen erlaubt nicht nur deren Verortung und Vermessung als defizitäre Vorstufen der Moderne, sondern enthebt auch jeder Bemühung, die Geltungsansprüche anderer Projekte und Modelle, (mit – A.P.O.) denen die westliche Moderne real konfrontiert ist, ernst zu nehmen“ (Fabian 1983 zit.n. Berg/Fuchs 1999, S. 76).
Die Konstruktion der Zeit – wie Fabian (1983) verdeutlicht – bestimmt die Konzeptualisierung von Differenz und Gleichheit (vgl. ebd., S. 85). Der ethnozentristischen Unterwerfung sogenannter nicht-moderner Lebensformen wurde
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Theoretische und methodologische Bezüge
in einer kritischen Auseinandersetzung mit der globalen Dominanz der Moderne die Thematisierung der Pluralität soziokultureller Existenzweisen entgegengesetzt. Bedeutsam erscheint in dieser Hinsicht das Moment eines wechselseitigen Infragestellens in der Begegnung unterschiedlicher Gesellschafsformen, Ordnungssysteme und damit in Verbindung stehenden Relevanzsetzungen: „Zu einem Dialog, der die Differenz achten und das Identitätsdenken vermeiden will, gehört auch die umgekehrte Perspektive, die Objektivierung und Kritik der westlichen Erkenntnistradition vor dem Hintergrund anderer Erkenntnistraditionen“ (ebd., S. 95f.).
Ebenso griff Geertz den Gedanken der Erschließung fremder Lebenswelten, welche die Erweiterung des eigenen Horizontes zum Ausgangspunkt nimmt, auf: „Sie soll uns – und dies lässt auch ähnliche Gedanken Paul Ricoeurs anklingen – mit den Antworten vertraut machen, die anderen Menschen zu den existenziellen Dilemmata des menschlichen Lebens gefunden haben, und sie dem einfügen“ (Geertz 1983 zit.n. ebd., S. 44).
Die reflexive Moderne als Gradmesser eines Entwicklungsterminus gibt jedoch nicht nur unter dem Blickwinkel ökonomischer Relevanzsetzungen Richtungen vor. Daher ist es wesentlich, dass anderen Gesellschaftsformen zugebilligt wird, westliche moderne Ideen vor dem Hintergrund ihres vertrauten Horizontes kritisch zu durchleuchten und sich diese in Erweiterung und Überschreitung des Eigenen anzueignen (vgl. ebd., S. 95). Im Kapitel 4 wird auf den methodologischen Rahmen der vorliegenden Arbeit sowie auf die gewählten Instrumentarien noch detaillierter eingegangen. In dem folgenden Abschnitt soll nun der Frage unterschiedlich konstruierter Wirklichkeitskonstruktionen nachgegangen werden. In der Auseinandersetzung mit der möglichen Divergenz werden kognitive Ordnungsprinzipien gesichtet, welche den Erfahrungsstrukturierungen zugrundegelegt sind. 3.2 Interpunktieren des Erfahrungsstromes „In der naiven Einstellung des täglichen Lebens erscheint uns die Aufspaltung der Wirklichkeit in gegenständlich schlicht Vorgegebenes, z. B. Steine und Bäume, und gesellschaftlich und geschichtlich Zustandegekommenes, z. B. die deutsche Sprache, das bürgerliche Gesetzbuch und eine Cousine zweiten Grades, selbstverständlich“ (Luckmann 2003, S. 19).
Interpunktieren des Erfahrungsstromes
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Von der Annahme ausgehend, „daß sich Wirklichkeit in Bewußtseinstätigkeiten konstituiert und daß historische Welten gesellschaftlich konstruiert werden“ (ebd., S. 19) nähert sich Luckmann in dem Artikel ‚Wirklichkeiten: individuelle Konstitution und gesellschaftliche Konstruktion’22 der Frage an, inwieweit die Grenzziehung zwischen Natur und Mensch, die Trennung in eine sinnhafte menschliche Sozialwelt und in einen sinnentleerten natürlichen Objektbereich auf einer Gegebenheit des Seins beruht oder aber, ob diese auf eine menschliche Wirklichkeitskonstruktion verweist, die – basierend auf gesellschaftlichgeschichtlichen Vorgängen – hergestellt wird. Luckmann folgert daraus, dass diese dann keine starren vorgegebenen Konturen sozialer Wirklichkeit darstellen, sondern „vielmehr in verwickelten gesellschaftlichen, geschichtlichen Vorgängen, letztlich im menschlichen Handeln“ (ebd., S. 19f.) entstehen. Anhand der These der ‚universalen Projektion’ – der Sinnübertragung der eigenen Leiblichkeit auf die Lebenswelt – sucht er in weiterer Folge die Sinnstruktur einer als beseelt erfahrenen Objektwelt als ‚primitive’ subjektive Bewusstseinsleistung zu veranschaulichen. An dieser Stelle wird auf diese Ausführungen nicht näher eingegangen, zudem – wie anhand des vorangegangenen Kapitels zum Ausdruck gebracht werden sollte – distanziert sich die Forscherin von einer Position, die andere nicht primär in der reflexiven Moderne verortete Gesellschaftsformen als vormodern klassifiziert23. Ein weiterer Einspruch kann dahingehend formuliert werden, dass zentrale Ordnungskategorien der Moderne, wie eben die bereits benannte Trennung zwischen Natur und Mensch, in Form eines inkorporierten Orientierungswissens ebenso projektiv wirksam zu sein scheinen. Vielmehr soll die von Luckmann aufgeworfene Frage und das damit in Verbindung stehende analytische Ernstnehmen unterschiedlicher Möglichkeiten menschlicher Wirklichkeitskonstruktionen aufgegriffen werden: „Die Sozialwissenschaften haben daher unterschiedlichen geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen sozusagen gleiche analytische Behandlung zuzugestehen“ (ebd., S. 21). Aus seiner Sicht entstehen Weltsichten in den vorherrschenden Relevanzsystemen sozio-historischer Kontexte. Die Relevanzsysteme werden dabei durch bestimmte Umstände, wie beispielsweise geographische Bedingungen, Abhängigkeiten zu bestimmten Pflanzen und Tierarten, beeinflusst und stellen demnach 22 Der Artikel ist eine leicht veränderte Fassung des Vortrags beim Heidelberger Kongress ‚Weisen der Welterzeugung. Die Wirklichkeit des Konstruktivismus’ am 3.5.1998. 23 In den von Luckmann entworfenen unterschiedlichen Stufen, die sich von einer umfassenden bis hin zu einer eingeschränkten ‚universalen Projektion’, die in einer mechanistischen Konzeption der Welt münden kann – bewegen, werden die von der Moderne divergierenden Wirklichkeitskonstruktionen zwar nicht als vormodern eingestuft, dennoch legen seine Ausführungen eine Lesart nahe, diese – nicht zuletzt aufgrund des Vergleiches mit kindlichen Wahrnehmungsmustern – als solche zu interpretieren.
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Theoretische und methodologische Bezüge
„die >>funktionalen Erfordernisserelativ natürlicher Weltanschauung< auf der Basis eingeübter alltäglich sich wiederholender Routinen und eines
Haltungen ist für ihn essentieller Bestandteil der Kommunikation (vgl. Soeffner/ Luckmann 2003, S. 176f).
Interpunktieren des Erfahrungsstromes
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impliziten, dem Bewusstsein im Handlungsvollzug weitgehend entzogen, sich daher tendenziell bestätigenden Erfahrungswissens“ (Luckmann/Soeffner 2003, S. 171).
Zum anderen fungiert Sprache als primäres Medium intersubjektiver Verständigungs- und Absicherungsprozesse. Marotzki thematisiert – bezugnehmend auf Berger und Luckmann – die ‚Unhintergehbarkeit von Sprache’ und ihre konstituierende abstützende Funktion für subjektive Wirklichkeiten. Von Bedeutung erscheint, dass mittels Sprache eine Art Plausibilitätsstruktur geschaffen wird, die fragile subjektive Welten absichert und dadurch Welt- und Selbstentwürfe intakt gehalten werden (vgl. Marotzki 1990, S. 119). Abschließend soll noch einmal zusammenfassend auf die Relevanz für die vorliegende Arbeit Bezug genommen werden. Ausgangsbasis für die Auseinandersetzung mit unterschiedlich möglichen Wirklichkeitskonstruktionen sowie damit in Verbindung stehenden Interpunktionsweisen stellt die von den sozialen AkteurInnen artikulierte Inkompatibilitätserfahrung innerhalb des untersuchten Feldes dar (siehe Kapitel 2). Anhand der Untersuchung von Lenkersdorf wurde eine maximale theoretische Differenz zwischen den unterschiedlichen Weltbezügen ausgelotet. Diese wird anhand des Merkmals stärker intersubjektiv konstituierter und konstruierter Sprachschemata, die mit den hergestellten Rahmungen sowie den Handlungsentwürfen in einem engen Zusammenhang zu sehen sind, gefasst. Sprache wird in dieser Hinsicht als Dispositionsrahmen verstanden, der für die sozialen AkteurInnen31 in einem wesentlichen Ausmaß konstituierende und absichernde Funktion hat und dem die Angehörigen dieses Sprachkontextes zu einem gewissen Grad verpflichtet sind. Vor diesem Hintergrund sollen jedoch die von den sozialen AkteurInnen hergestellten Selbst- und Weltverhältnisse über die ‚subjektive Binnensicht’ differenzierte herausgearbeitet werden. Das Ausloten einer maximalen Differenzsetzung fungiert demnach als analytischer Bezugsrahmen, der idealtypisch formuliert wurde. Anhand des untersuchten Materials zeigten sich Wandlungstendenzen der gesetzten Rahmungen, die auf Lern- und Bildungsprozesse der AkteurInnen verweisen, die – wenn auch nicht immer unter dem Aspekt der Freiwilligkeit – in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Transformationsprozessen, herausgebildet werden und die eine Verschachtelung oder Verschränkung unterschiedlicher Präferenzrahmen verdeutlichen. Der ‚Emergenz von Neuem’ kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Die Wirksamkeit der kognitiven Organisationsprinzipien des sprachlichen Kontexts kann jedoch auch als Indiz betrachtet werden, das Aufschluss über das Vorhandensein eines Resistenzpotenzials pri31
Die Muttersprache der befragten Personen ist Tzotzil, das ebenso wie Tojolabal als Ergativsprache klassifiziert wird und durch das Charakteristikum des Fehlens von Objektbegriffen gekennzeichnet ist.
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Theoretische und methodologische Bezüge
märer Orientierungsrahmen geben kann. Das darin enthaltene Trägheitsmoment gewährleistet den AkteurInnen, aufgrund der herausgebildeten Plausibilitätsstrukturen, ein gewisses Maß an Kontinuität ihrer Alltagswirklichkeit. Anders formuliert kann der sprachliche Kontext als relevanter Faktor bei der Reproduktion divergenter Wirklichkeitskonstruktionen angesehen werden. Die untersuchten Lebensentwürfe bewegen sich demnach in dem analytisch gesetzten Spannungsfeld zwischen Relevanzsetzungen unterschiedlicher Vergesellschaftungsformen. Die aufgeworfene Thematik der Divergenz wird innerhalb des biographischen Raumes anhand von unterschiedlich figurierten Wissensprofilen gefasst. Die Bezugnahme zu diesem Terminus wird im Kapitel 3.4.2 noch näher erläutert. Im folgenden Abschnitt wird auf das Wirkungsgefüge zwischen Struktur und Subjekt, das auf Basis eines strukturtheoretischen Handlungsbegriffs konkretisiert wird, eingegangen. 3.3 Strukturtheoretischer Handlungsbegriff In Abgrenzung zu dem in der Sozialforschung lange favorisierten Ansatz der deduktiv-nomologischen Methodologie führte Thomas Wilson32 (1970/1973) die bedeutsame Differenzierung zwischen dem interpretativen und dem normativen Paradigma ein. Im Rahmen des normativen Paradigmas wird das Verhältnis zwischen sozialen Regeln und sozialem Handeln als einseitig und eindeutig, im Sinne eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs, verstanden: „Regeln determinieren als (...) äußerliche und objektive Zwänge das Handeln“ (Meuser 2003a, S. 93). Das interpretative Paradigma hingegen betont, dass soziale Ordnungen durch die interpretative Leistung der Handelnden hergestellt werden. Wie Schütz in seinen Arbeiten dargelegt hat, finden wir immer schon eine sinnhaft strukturierte soziale Welten vor – die Lebenswelten, in die wir hineingeboren werden, sind bereits vorinterpretiert (vgl. Meuser 2003a, S. 92ff.). Soziales Handeln als individuelles Handeln kann von der interaktiven Struktur gemeinsamen Handelns begriffen und definiert werden (vgl. Kron 1999, S. 197). Die theoretischen Annahmen dieser Arbeit beziehen sich demnach nicht auf eine ‚strukturelle Hinterwelt’ (Meuser 2003b, S. 121), die als äußerlicher und objektiver Zwang das Handeln der AkteurInnen determiniert, sondern diese gehen von einem strukturtheoretischen Verständnis aus, das den Blick verstärkt auf die Reproduktion bzw. Transformation gesellschaftlich hervorgebrachter Hand32 Diese Forschungsperspektive wurde von Wilson zum ersten Mal 1970 im ‚American Sociological Review’ unter dem Titel ‚Conceptions of Interaction and Forms of Sociological Explanation’ veröffentlicht (vgl. Kron 1999, S. 188). Ansätze, auf denen das interpretative Paradigma beruht, sind u. a. der symbolische Interaktionismus sowie die Ethnomethodologie.
Strukturtheoretischer Handlungsbegriff
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lungsrahmen legt. Wesentlich erscheint – in Anlehnung an Luckmann – die Unterscheidung von Konstitution und Konstruktion. Die Hermeneutische Wissenssoziologie geht von der Annahme aus, dass sich „Wirklichkeit in Bewusstseinstätigkeit konstituiert und dass historische Welten gesellschaftlich konstruiert werden“ (Luckmann 2003, S. 19). Vor diesem Hintergrund können Strukturen als Wissensbestände begriffen werden, die gesellschaftlich hervorgebrachte, institutionalisierte Handlungsrahmen darstellen. Diese sind Vorauslegungen sozialer Wirklichkeit (vgl. Schröer 1997, S. 257). „Entscheidend für eine handlungstheoretisch orientierte Strukturtheorie ist aber, dass die gesellschaftlich etablierten Vorauslegungen nur über die aktive Aneignung und Umsetzung der Subjekte weiterhin zur Geltung kommen können“ (Schröer 1997, S. 257 zit.n. Meuser 2003b, S. 123). Demzufolge müssen gesellschaftliche Handlungsrahmen über die Konstitutionsleistung der Subjekte (re)produziert werden. AkteurInnen werden als aktive ProduzentInnen gesellschaftlicher Wirklichkeit verstanden. Das Forschungsanliegen ist es daher, jene interaktiven Prozesse zu rekonstruieren, durch die sozialer Sinn bzw. die Konstrukte gesellschaftlicher Wirklichkeit hervorgebracht werden, oder anders formuliert: „zu zeigen, wie das Gemachte zu einem Gegebenen wird und als solches die Möglichkeiten des Machbaren begrenzt“ (Meuser 2003b, S. 129). Wenden wir uns zunächst dem Begriff Lebenswelt zu, so beschreibt dieser – im Anschluss an Husserl (1954) – „das Insgesamt subsinnweltlicher Wirklichkeitsbereiche“ (Honer 2003a, S. 110). Subsinnwelten sind das Resultat spezifischer Relevanzsetzungen und werden von diesen geprägt. Wie Schütz und Luckmann betonen, sind Lebenswelt und Alltagswelt nicht als übereinstimmend zu verstehen (vgl. Honer 2003b, S. 52). Die Alltagswelt beschreibt den aus pragmatischen Gründen ‚ausgezeichneten’ Wirklichkeitsbereich der Lebenswelt, „der sich in der sogenannten relativ-natürlichen Einstellung räumlich, zeitlich und sozial aufschichtet – gegliedert nach je subjektiven, biografisch sich konstituierenden Relevanzstrukturen“ (Honer 2003a, S. 110). Die Lebenswelt eines Menschen bietet eine Vielfalt an Erfahrungsmöglichkeiten, die vom Subjekt nicht vollständig erfasst bzw. aufgenommen werden kann. Der Ausschnitt der Erfahrung basiert auf Auswahl- bzw. Selektionsprozessen, die das Subjekt vornimmt (vgl. Honer 2003a, S. 111). Der Erfahrungsraum, an dem Individuen teilhaben, verfügt über eine große Anzahl an gemeinsamen Deutungsschemata (vgl. Honer 2003a, S. 112), deren Grundlage spezifisch hervorgebrachte Welt- und Wirklichkeitsanschauungen sind. Wie bereits im Kapitel 3.2 verdeutlicht wurde, stellen die unterschiedlichen Interpunktionsweisen ‚Gewohnheiten’ dar, den Erfahrungsstrom auf eine Weise zu interpunktieren, dass er die eine oder andere Kohärenz annimmt (vgl. Bateson 1942, S. 224). Marotzki nennt diese Gewohnheiten Rahmungen (vgl. Marotzki 1990, S. 33ff.). Goffman
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beschreibt sie als „kollektiv verfügbare Muster der Organisation von Wahrnehmung und Handlung“ (Meuser 2003b, S. 140). Handlungspraktische Relevanz gewinnen Orientierungsschemata im Kontext von Orientierungsrahmen. Die in der Tradition von Mannheim stehende ‚Dokumentarische Methode’ unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem reflexiven oder theoretischen (expliziten) Wissen und einem handlungsleitenden, inkorporierten (impliziten) Wissen. Das gesellschaftlich vorhandene implizite Wissen wird als konjunktiver Erfahrungsraum beschrieben und meint im Wesentlichen jenen Orientierungsrahmen, der eine Gemeinsamkeit der Erfahrungsbasis durch die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Soziallage aufweist. Der Handlungspraxis liegt somit ein habitualisiertes und zum Teil inkorporiertes Orientierungswissen zugrunde, das durch gemeinsam gelebte Praxis angeeignet wird und das über den subjektiven Sinn hinausweist (vgl. Bohnsack 2003, S. 4044). Bourdieu formulierte in seinem Sozialraummodell ebenso einen mit der Soziallage korrespondierenden Habitus, der als „Handlungs- Wahrnehmungsund Denkmatrix“ (Bourdieu 1979, S. 169) typische Muster der Problembewältigung hervorbringt und als Mittel der Orientierung in der sozialen Welt fungiert. Der inkorporierte Mechanismus, der den AkteurInnen weitgehend entzogene reflexive Zugriff auf das habitualisierte Orientierungswissen, trägt jedoch dazu bei, dass soziale Ungleichheit (re)produziert wird (vgl. Meuser 2003b, S. 127f.; Bourdieu 1987, S. 728). Giddens verweist in seinen Arbeiten auf die Hierarchisierung des sozialen Raumes und auf das ‚Rückwirken’ dieser Konstruktionen auf die Handlungspraxis der AkteurInnen. Er beschreibt das ‚Machen’ unter nicht selbst gewählten ‚Umständen’ anhand eines wechselseitigen Ineinandergreifens von Handeln und Struktur (Dualität von Strukturen). Sein Machtbegriff schließt jedoch das gestaltende Vermögen der AkteurInnen ein (vgl. Iványi 2003, S. 149ff.). Besonders Bourdieu (1979/1987/1993) hat in seinen Arbeiten verdeutlicht, dass das Wirkungsgefüge des sozialen Raumes und die darin enthaltenen Machtfelder, die für die einzelnen AkteurInnen vorhandenen Handlungsspielräume in einem wesentlichen Ausmaß beeinflusst. Die Räume der Macht können als Kraftfeld beschrieben werden, in denen rivalisierende Gruppen mit unterschiedlichen Mitteln ihre Interessen vertreten bzw. aushandeln. Die Ausgangspositionen der sich gegenüberstehenden AkteurInnengruppen korrespondieren mit der jeweiligen Position im sozialen Raum. Die damit einhergehenden hegemonial bedingten Machtunterschiede zeigen sich u. a. an der ungleichen Verteilung von Kapitalsorten, aber auch an der Verteilung der zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel von Macht. In diesem Zusammenhang wird – in Anlehnung an die theoretische Diskussion innerhalb der Geschlechter- und der Migrationsforschung – auf ‚Achsen der Differenz’ (Knapp/Wetterer 2003), verwiesen. Gesell-
Strukturtheoretischer Handlungsbegriff
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schaftlich angelegte Differenzlinien, die mit den Kategorien class, race33 und gender gefasst werden können, erzeugen als zentrale Ordnungskategorien gesellschaftlicher Orientierungsrahmen soziale Ungleichheiten: „Klasse, Rasse und Geschlecht sind nicht bloß Linien von Differenzen zwischen individuellen oder kollektiven Subjekten, sondern bilden das Grundmuster von gesellschaftlichpolitisch relevanter Ungleichheit“ (Klinger 2003, S. 26). Die Differenzlinien sind Resultat sozialer Konstruktionen. Über einen Bewertungsprozess wird soziale Ungleichwertigkeit gesellschaftlich hervorgebracht und verursacht „positiv oder negativ privilegierte Lebensbedingungen von Menschen, die in ihrer Gesamtheit die Lebens- und Handlungschancen des Einzelnen in der Gesellschaft bestimmen“ (Hillebrandt 2001, S. 60). Innerhalb des biographischen Raumes können diese als konkret situierte ‚Konstellationen’ in den jeweiligen lebensweltlichen Relevanzstrukturen gefasst werden. Sie stellen ein Wirkungsgefüge dar, in welches das Individuum eingebettet ist. Dabei sind Differenzlinien einerseits über Zuschreibungsprozesse wirksam, andererseits sind sie Teil des inkorporierten Erfahrungswissens, welches nicht zur Gänze reflexiv zugänglich ist. In diesem Sinne können und werden soziale Ungleichstellungen von Individuen (re)produziert. Als gesellschaftliche Strukturprinzipien bilden Differenzlinien die Grundlage der Organisation moderner wie postkolonialer Gesellschaften und sind Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen, die mit Ausgrenzungsprozessen einhergehen. Richten wir den Blick auf die Reproduktion und Transformation gesellschaftlich hervorgebrachter sozialer Rahmen, so zeigt sich aus Sicht der Biographieforschung, dass Wissensprofile befragter ErzählerInnen Elemente eines habitualisierten Orientierungswissens aufweisen, die mit der sozial-räumlichen Positionierung korrespondieren (vgl. Dausien 1996, S. 118). Biographische Konstruktionsprozesse machen die Reproduktion, aber auch die Transformation gesellschaftlich hervorgebrachter sozialer Ordnungen sichtbar. Zusammenfassend wird festgehalten, dass ‚kollektive Orientierung’ als eine Dimension der sinnhaften Strukturierung der sozialen Welt verstanden werden kann (vgl. Meuser 2003b, S. 139). Ein kollektiv angelegtes, habitualisiertes Wissen strukturiert das Handeln der AkteurInnen, bedarf jedoch der sozialen Praxis, um weiterhin zur Geltung gebracht zu werden. Neuauslegungen des gesellschaftlichen Wissens fließen in die Wissensbestände ein. Wichtig ist, dass diese anschlussfähig gemacht und in einem interaktiven Prozess sozial ratifiziert werden. Auf den Aspekt der handlungsorientierten Neugestaltung sozialer Rahmenbedingungen wird in dem anschließenden Kapitel ‚Biographie als soziales Konstrukt’ detaillierter eingegangen. 33 Die Begriffe class, race und gender wurden in Anlehnung an die Diskussion im angelsächsischen Raum übernommen (vgl. Klinger 2003, S. 38).
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Theoretische und methodologische Bezüge
3.4 Biographie als soziales Konstrukt Die Biographieforschung folgt der Annahme, dass sich soziale Wirklichkeiten grundsätzlich in kulturellen Symbolsystemen konstituieren und über die interpretative Leistung von Subjekten wahrgenommen werden. „Gegenstand der Biographieforschung ist demzufolge die soziale Wirklichkeit, die die Menschen in Auseinandersetzung mit sich, mit anderen und der Welt für sich jeweils herstellen“ (Marotzki 2003, S. 23). Biographien verweisen auf konkret gelebte Leben, auf Formen subjektiver Erfahrungsverarbeitung und geben Aufschluss über das Verhältnis von Subjektivität und gesellschaftlich-historischer Wirklichkeit. In dem Spannungsfeld zwischen Struktur und Handeln, Gesellschaft und Individuum werden Lebenskonstruktionen – die innere Struktur – in Verbindung mit der Gesellschaft – der äußeren Struktur – gebildet. Lebenskonstruktionen als „das gestaltbildende und formgebende Regelgerüst eines individuellen Lebens“ (Bude 1999, S. 251) sind gekennzeichnet durch Regeln und Muster, welche sinnstiftend wirken. Biographie stellt eine Handlungsumwelt dar, die soziale Konstruktionsprozesse sichtbar macht. Sie deutet auf „komplexe und einzigartige Leistungen von individuellen Subjekten“ (Dausien 1996, S. 572) hin, die sich in Interaktion mit anderen vollziehen und in räumliche und zeitliche Strukturen eingebunden sind. Die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung legt den Fokus auf die Erforschung der Verarbeitungsmodi sozialer Wirklichkeit und im Besonderen auf Lern- und Bildungsprozesse sozialer AkteurInnen. „Das Interesse an dem genaueren Studium der Problematik der subjektiven Verarbeitung von Erfahrungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist spätestens seit der (...) Alltagswende stärker in das Zentrum pädagogischer Aufmerksamkeit gerückt“ (Marotzki 1990, S. 76). Egger weist bezugnehmend auf Baacke und Schulze34 (1985) darauf hin, dass die Biographieforschung einen unverzichtbaren Zugang für die Pädagogik darstellt. In dieser Hinsicht hebt er hervor, dass die pädagogische Forschung nicht nur an soziologischen Bedingungen interessiert ist, sondern dass der Handlungsaspekt in das Blickfeld gerückt wird (vgl. Egger 1995, S. 60): „Dieses Interesse an Handlungen setzt ein Verstehen der Strukturregeln der Lebenswelt voraus, und dies fordert wiederum, daß die vorgegebenen Definitionen relativiert werden. Eine so verstandene Biographieforschung sucht nach Gründen für menschliches Handeln und Verhalten“ (ebd., S. 60).
Lebenskonstruktionen geben Auskunft über ‚versteckte’ Referenzen, die AkteurInnen in einer lernenden Auseinandersetzung mit der Alltagswelt hervorbringen. 34
Vgl. Baacke/ Schulze 1985, S. 12-16.
Biographie als soziales Konstrukt
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Differenzierte bildungstheoretische Untersuchungen können als Chance betrachtet werden, soziale Konstruktionsprozesse auf eine Weise analytisch sichtbar zu machen, die Möglichkeiten einer kritischen Veränderung gesellschaftlicher Strukturen eröffnet (vgl. Alheit 1994, S. 52). Die Biographie als Rahmen der Selbstthematisierung stellt ein relativ junges Phänomen dar (vgl. Alheit 1998, 1ff). Im folgenden Abschnitt sollen gesellschaftliche Konstitutionsbedingungen von Subjektivität thematisiert werden. Hahn spricht in diesem Zusammenhang von Biographiegeneratoren, die in unterschiedlichen sozio-historischen Kontexten variieren. Biographie kann also keineswegs als ein universelles historisches Phänomen betrachtet werden. 3.4.1 Gesellschaftliche Konstitutionsbedingungen von Subjektivität Bei seiner Abschiedsvorlesung in Bremen thematisierte Alheit u. a. die Entstehung biographischer Reflexivität, die er als Phänomen der Moderne ausweist. Anhand des Prozesses der allmählichen Bedeutungsverschiebung der Biographie skizziert er zunächst vormoderne Modelle der Selbstthematisierung und verdeutlicht, dass das moderne Verständnis von Biographie einen neuen Modus individueller Verarbeitung der sozialen Wirklichkeit hervorgebracht hat. Wesentlich erscheinen für ihn ‚Stichwortgeber’, welche gesellschaftlich angelegte soziale Instanzen darstellen, die den Selbstbezug provozieren, jedoch auch widersprüchlich gegeneinander antreten können. Diese sozialen Instanzen können auch als Zwang gesehen werden, sich biographisch artikulieren zu müssen (vgl. Alheit 1998, S. 1-8). Ähnlich wie Alheit beschreibt Hahn die Konstruktion einer ‚Identität-fürSich’ als Leistung, die modernen Individuen abverlangt wird: „Identität-An-Sich ist universell, aber Identität-Für-Sich nicht. Diese ist das Korrelat von historisch keineswegs allgemein verbreiteten Biographiegeneratoren“ (Hahn 1987, S. 12). Eine Identität-An-Sich wird für Ihn durch ein eher ‚implizites Ich’ verkörpert, welches sich zwar in seinen Handlungen zeigt und verfestigt, jedoch im eigentlichen Sinne noch nicht als selbstreflexiv betrachtet werden kann: „Die Selbstthematisierung tritt hier noch nicht wirklich aus dem Fluss des Handelns heraus, sondern bleibt in ihn integriert“ (ebd., S. 12). Die Fähigkeit zum Selbstbezug verankert er in Anlehnung an Mead u. a. in der Leistung der Übernahme von Fremdperspektiven (vgl. Hahn 1987, S. 10). Die biographische Selbstthematisierung verweist auf Prozesse selektiver Vergegenwärtigung, wobei diese in einen zeitlichen Rahmen eingebettet werden (vgl. ebd., S. 13). Die Fülle eines Erlebens und Handelns erfordert es, die wechselbezüglichen Relationierungen auf einen Punkt zu verkürzen (vgl. ebd., S. 15). Das
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Bild, welches dabei hergestellt wird, ist jedoch vor dem Hintergrund institutioneller Zusammenhänge, in denen dieses konstruiert wird, zu betrachten. In diesem Zusammenhang geht Hahn auf Thematisierungsebenen ein, welche die Rückbesinnung auf das eigene Dasein ermöglichen und die als Stichwortgeber fungieren (vgl. ebd., S. 16f.). Einem narrativ-biographischen Interview kann dabei selbst die Funktion eines Biographiegenerators zukommen. Kohli beschreibt in seiner These der ‚Institutionalisierung des Lebenslaufs’ ein gesellschaftlich angelegtes Regelwerk, das den zeitlichen Ablauf des Lebens strukturiert und die Vergesellschaftung der Individuen steuert. Die Freisetzung des Individuums aus ständischen und lokalen Bindungen wird bei ihm durch die Herausbildung eines biographischen Ichs, das sich als unabhängige soziale Einheit begreift, markiert. Besonders relevant ist für ihn die Einführung der freien Lohnarbeit. Kohli vertritt dabei die Idee, dass der Lebenslauf vordergründig um das Erwerbssystem organisiert wird (vgl. Kohli 1986, S. 183f.). Besonders Dausien hat jedoch in einer Kritik an dem Modell von Kohli darauf hingewiesen, dass der moderne Lebenslauf ebenso durch die von der Erwerbstätigkeit „ausgegrenzten ‚privaten’ Lebensbereiche, insbesondere (durch A.P.O.) die Familie“ (Dausien 1996, S. 26) strukturiert wird. Vor dem Hintergrund geschlechterspezifischer biographischer Untersuchungen hebt sie hervor, dass die gesellschaftliche Durchsetzung des Prinzips der kapitalistischen Lohnarbeit zu einer spezifischen gesellschaftlichen Trennung zwischen Erwerbstätigkeit und Familie, Öffentlichkeit und Privatheit usw. geführt hat. In diesem Zusammenhang beschreibt sie zwei verschiedene geschlechterspezifische Muster der Institutionalisierung, die letztendlich für Frauen die Doppelperspektive Familie und Erwerbstätigkeit erzeugt (vgl. ebd., S. 27f.). Dausien betont, dass die Voraussetzung eines autonomen biographischen Ichs als Perspektive der Selbstthematisierung angesichts historischer und geschlechtskritischer Analysen fragwürdig geworden ist und verweist auf die androzentrische Konstruktion des wissenschaftlichen Biographiemodells (vgl. ebd., S. 67ff.). Anhand dieser Ausführungen soll nun die Frage aufgeworfen werden, ob und inwieweit eine soziale Kategorie wie Biographie, die so eindeutig als modernes Phänomen ausgewiesen wird, überhaupt geeignet ist, auf andere – nicht primär in der Moderne gründende – sozio-historische Kontexte angewendet zu werden. Von dem Kriterium der Durchsetzung einer allgemeinen Erwerbstätigkeit kann in dem untersuchten sozialen Feld nicht ausgegangen werden. Ebenso stellt die Idee, sich als unabhängige soziale Einheit zu begreifen, keineswegs ein Phänomen dar, das universelle Gültigkeit erlangt hat. In diesem Zusammenhang sollen vor allem die von Dausien formulierten Überlegungen über die Herausbildung unterschiedlicher ‚biographischer Modelle’ aufgegriffen werden. In der Untersuchung ‚Biographie und Geschlecht’ veranschaulicht sie eine höhere Ge-
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bundenheit weiblicher Lebenskonstruktionen. Diese kann jedoch, wie sie bezugnehmend auf Diezinger (vgl. 1991, S. 30f.) hinweist, als ein Potenzial für eine neue Form von Individualisierung gesehen werden, bei der Autonomie und soziale Einbindung nicht als Gegensätze aufgefasst werden. Darüber hinaus rücken diese Befunde den Blick stärker darauf, dass individuelle Biographien in ein soziales Beziehungsnetzwerk eingebunden sind (vgl. ebd., S. 68f.). Ihre Überlegungen erscheinen für die vorliegende Arbeit insofern besonders geeignet, da in dem untersuchten sozialen Feld von einer grundsätzlich stärkeren sozialen Einbindung der AkteurInnen ausgegangen werden muss. Es sollte ebenso darauf hingewiesen werden, dass es spezifischer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen bedarf, die einen ‚individuellen’ Lebensentwurf überhaupt erst ermöglichen. Beleuchten wir zunächst die Perspektive der Selbstthematisierung, so wurde auf Basis des Untersuchungsmaterials deutlich, dass die Annahme eines sich als unabhängige soziale Einheit begreifenden Individuums nicht unbedingt vorausgesetzt werden konnte. Es zeigten sich in den Interviews Formen, die den Eindruck erwecken, dass die Selbstthematisierung tatsächlich noch nicht eindeutig aus dem Fluss des Handelns herausgetreten ist. Diese könnten auf einen Modus verweisen, der sich quasi an der Schwelle zur Biographisierung befindet. Einen weiteren Aspekt stellt die stärkere intersubjektive Form der Selbstthematisierung35 dar, bei der die Wir-Konstruktion dermaßen präsent zu sein scheint, dass die Konstitution einer Ich-Perspektive unterlaufen wird. Für die vorliegende Arbeit wurden Fälle ausgewählt, deren Perspektive der Selbstthematisierung auf einer Ich-Konstruktion gründet, und die sich aus Sicht der Forscherin für die Analyse der Fragestellung als geeignet erwiesen. Wenn also eine Untersuchung die biographische Selbstthematisierung zum Ausgangspunkt nimmt, so muss sie im Umgang mit möglichen anderen Formen biographischer Modelle besonderes Augenmerk auf das Gewebe der Erfahrungsstrukturierung legen. Der folgende Abschnitt geht nun vor dem Hintergrund 35 Ein stärker intersubjektiv konstituierter Verstehenszusammenhang als Perspektive der Selbstthematisierung könnte aus forschender Sicht besonders interessant sein. In der konkret untersuchten Comunidad war es der Forscherin nicht möglich, biographische Interviews in Form von IchGeschichten durchzuführen. Die AkteurInnen lehnten diese Perspektive mit dem Hinweis auf die Relevanz der Gemeinschaft ab. Mit dem Fokus auf die Geschichten der Dorfgemeinschaft konnten jedoch Interviews durchgeführt werden, die als Hauptkonstruktion der Thematisierung eine WirPerspektive aufweisen und die Comunidad in ihrem Agieren mit anderen in einer Weise beschreibt, die auf reflexive Momente schließen lässt. Dies könnte als Hinweis interpretiert werden, der auf einen Erfahrungsmodus anderer Art in der Verarbeitung sozialer Wirklichkeit verweist. Um diesen Verdacht jedoch erhärten zu können, müssten weitere Untersuchungen durchgeführt werden. Das konkrete Interviewmaterial fungierte in der vorliegenden Arbeit als Vergleichshorizont, ohne dass auf das erhobene empirische Material direkt eingegangen werden kann. Dieses wird, zumindest ist dies geplant, in Verbindung mit Bildinterpretation in einer anschließenden Arbeit analytisch weiter beleuchtet.
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‚bewährter’ Analysewerkzeuge und theoretischer Annahmen moderner Lebenskonstruktionen auf die kontextspezifischen Relevanzstrukturen des untersuchten sozialen Felds ein. Aspekte, die dabei im Vordergrund standen, sind die bereits thematisierte Perspektive der Selbstthematisierung, die darin enthaltene ‚IchWir-Balance’ (Elias), die Verzeitlichung von Lebensläufen, die – wie etwa anhand der Ausdifferenzierung in unterschiedliche Lebensphasen deutlich wird – vor dem Hintergrund sozio-historischer Kontexte variiert, die soziale Instanz von Erwerbsarbeit, ‚institutionelle Ablaufmuster’ sowie normative Erwartungsfolien innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen. Wesentlich erschien, in welcher Form die bereits beschriebenen unterschiedlichen Präferenzsysteme analytisch innerhalb der biographischen Erfahrungsaufschichtung gefasst werden können. In diesem Zusammenhang wurden die von Alheit entwickelten theoretischen Überlegungen zum ‚sozialen Gedächtnis’ aufgegriffen. 3.4.2 Biographischer Raum Mit dem Blick auf die Komplexität einzelner Biographien wird jene soziale Wirklichkeit sichtbar, die soziale AkteurInnen in Auseinandersetzung mit sich, mit anderen und in Verbindung mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen permanent herstellen. Diese Prozesse der Erfahrungs- und Bedeutungszuschreibung können als Biographisierung beschrieben werden. Vergangene, gegenwärtige wie auch zukünftige Ereignisse werden in das eigene Leben sinnvoll eingeordnet. Dabei werden diese in einer Weise strukturiert, die Orientierung schafft. Erfahrungen werden zu bereits bestehenden hinzugefügt, verändert oder transformiert und anhand von Relevanzsetzungen geordnet (vgl. Marotzki 2000, S. 179ff.). Der biographische Raum36 ist vor allem ein Erfahrungsraum, in dem BiographieträgerInnen die für sie relevanten Ereignisse und Erfahrungen wahrnehmen und erkennen. Die Erfahrungsbestände, welche in das biographische Wissensgebäude37 eingeordnet und strukturiert werden, sind jedoch für die AkteurInnen nur zum Teil reflexiv zugänglich. Alheit spricht u. a. von ‚biographischem Hintergrundwissen’, das auf habitualisiertes Orientierungswissen verweist und Aufschluss über die „intuitiv verfügbare(n) Rahmenbedingungen“ (Alheit 1994, S. 46ff.) des Lebens gibt. In seinen theoretischen Überlegungen zur Strukturbildung biographischen Wissens unterscheidet er im Wesentlichen zwischen zwei Rekapitulationsprofilen des sozialen Gedächtnis, den Erinnerungs- und den Deutungsschemata. Erin36 37
Zum Konzept des biographischen Raumes siehe Pilch Ortega/ Pusterhofer 2005a. Siehe hierzu Alheit/ Hoerning 1989, S. 8-20.
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nerungsschemata stellen aus seiner Sicht individuelle und kollektive Wissensformen dar, die einen starken Bezug zur Ereignis- und Erlebnisebene aufweisen, wie sie beispielsweise anhand narrativer Anteile in einer biographischen Stegreiferzählung sichtbar werden. Eine weitere Erfahrungsschicht markiert er als beginnende Traditionsbildung. Diese ist mit lebensweltlichem Deutungswissen angereichert, hat jedoch weit weniger Ereignisbezug. Schließlich ordnet er in seinem Modell noch die feste Traditionsbildung als Form ästhetischer Stilisierung und Gattungsbildung den Erinnerungsschemata zu (vgl. Alheit 1989, S. 140f.). Deutungsschemata können hingegen als relativ ereignisunabhängige Formen der Verarbeitung sozialer Wirklichkeit betrachtet werden. In dieser Hinsicht unterscheidet Alheit zwischen alltagsweltlichen Deutungsmustern, die er als Alltagstheorien versteht, die durch schicht- und milieuspezifische Orientierungen geprägt sind, organisierten Deutungsmustern, wie sie in den Massenmedien oder Verbänden und Parteien zu finden sind und schließlich institutionalisierten Deutungsmustern, die er im Rechtssystem, dem Bildungswesen und der Religion verankert. Wesentlich erscheint in Hinblick auf die Analyse und Auswertung narrativ-biographischer Interviews zwischen den verschiedenen Darstellungsformen innerhalb der Erzählperspektive zu differenzieren (vgl. Dausien 1996, S. 116). Die unterschiedlichen Textsorten38 können hohe narrative, erlebnisnahe Anteile aufweisen, aber auch argumentierende, erklärende Passagen beinhalten, die insofern für den Gesamtzusammenhang wesentlich sind, weil sie Aufschluss über Deutungsschemata geben. Folgender Aspekt ist nun für die vorliegende Arbeit von besonderer Relevanz. Alheit thematisiert in seinem Modell des ‚sozialen Gedächtnisses’ (siehe Abbildung 3), das als geschichtetes und strukturiertes Wissensprofil interpretiert werden kann (vgl. ebd., S. 118), das mögliche Vorhandensein von kollektivem Kontrastwissen, das er in seiner Betrachtung dem ‚herrschenden Wissensprofil’ mit seinem Deutungsüberhang gegenübergestellt.
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In diesem Zusammenhang kann darauf hingewiesen werden, dass in den konkret untersuchten Interviews ebenso narrative, beschreibende und argumentierende Erzählhaltungen zu finden waren.
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Abbildung 3:
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Idealtypische Darstellung konkurrierender gesellschaftlicher Wissensprofile (Alheit 1989, S. 143/1994b, S. 120)
Die „mehr oder minder habitualisierte(n) und sedierte(n) ‚Gegenwissensprofile’“ (Alheit 1989, S. 144) können als alltagstheoretische Deutungsmuster beschrieben werden, die sich in ethnischen und subkulturellen Kontexten entwickeln und eine Ereignis- und Aktionsnähe aufweisen. Im Verhältnis zu dem ‚herrschenden Wissensprofil’ sind diese jedoch von einer geringeren gesellschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit gekennzeichnet, weil sie – wie Alheit argumentiert – weit weniger organisiert bzw. institutionalisiert in Erscheinung treten. Dennoch prognostiziert er ein konkurrierendes Moment in ihrem Verhältnis zueinander. Er verweist darauf, dass diese zwar in der Darstellung idealtypisch voneinander getrennt werden, sich jedoch wechselseitig beeinflussen und durchdringen (vgl. ebd., S. 142ff.). Das herrschende Wissensprofil beeinflusst die Erinnerungsschemata und die alltagsweltlichen Deutungsmuster – Gegenwissen greift, wenn auch in einem geringeren Ausmaß, die organisierten Deutungsschemata des herrschenden Wis-
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sensprofils an. Die Wissensprofile sind keineswegs als universell zu betrachten, „sondern abhängig vom sozialen Raum, in dem sie kollektiv hervorgebracht (...) reproduziert“ (Dausien 1996, S. 118) und auch transformiert werden. Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen sind die im Kapitel 3.2 bereits thematisierten unterschiedlichen Präferenzsysteme und der Versuch, diese aus biographischer Sicht innerhalb der Erfahrungsstrukturierung analytisch zu fassen. Wichtig erscheint, dass diese Dispositionssysteme darstellen, denen die sozialen AkteurInnen aufgrund der Zugehörigkeit zu der Sprachgemeinschaft39 und der damit in Verbindung stehenden Herausbildung von Plausibilitätsstrukturen verpflichtet sind. Die Dispositionssysteme stehen den AkteurInnen in Form von inkorporiertem Orientierungswissen zur Verfügung und beeinflussen die Strukturierung von Erfahrung in einem wesentlichen Ausmaß. Vor diesem Hintergrund muss allerdings von einer höheren Divergenz der unterschiedlich ‚figurierten’ Wissensprofile sowie von einer anderen Reichweite ausgegangen werden, als dies in dem von Alheit formulierten Modell des Gegenwissens der Fall ist. Die Divergenz gründet dabei – so kann angenommen werden – in den fundamentalen Ordnungsprinzipien, wie sie anhand eines Subjekt-Objekt Verhältnisses bzw. eines Subjekt-Subjekt Verhältnisses sichtbar werden. Die von bestimmten AkteurInnengruppen verfolgte Strategie, die überwiegend in einem Prozess des Sich-Organisierens verfolgt wird, kann als Versuch der Formierung und Institutionalisierung40 eines als divergent markierten Weltverhältnis interpretiert werden (siehe Kapitel 2) und stellt demnach ein Wissensprofil dar, das dem herrschenden konfrontierend gegenübergestellt wird. Richtet sich der Blick auf das Wirkungsgefüge des sozialen Raumes, so zeigt sich, dass die unterschiedlichen Wissensprofile zwar in einem konkurrierenden Verhältnis zueinander ste39
Alheit bezieht sich in seinem Modell zwar nicht direkt auf Sprache, diese – im Konkreten die syntaktische Struktur und ihr grammatikalisches Regelwerk – kann jedoch anhand der von ihm formulierten Schichten den Deutungsschemata, die sich auf einer organisierten, wie auch institutionalisierten Ebene bewegen (Rechtschreibreformen werden z.B. bei Gesetz erlassen, Bildungssystem und Dominanzsprache etc.) zugeordnet werden. Der Sprachgebrauch sowie die Aussprache hingegen verweist auf milieuspezifische Muster und variiert je nach sozialem Kontext. 40 Hier kann die Forderung genannt werden, in der mexikanischen Verfassung als ‚Indígenas’, mit den als divergent markierten Relevanzsetzungen und Organisationsmodellen, anerkannt zu werden. Ein weiteres Beispiel stellt das Verlangen eines Bildungssystems dar, das der Unterschiedlichkeit der Wirklichkeitskonstruktionen gerecht wird und sich demnach nicht nur auf die Implementierung bilingualer Unterrichtsformen beschränkt. Das in einem Re-Ethnisierungsprozess hergestellte, möglicherweise auch wiederentdeckte Divergente wird in Auseinandersetzung mit der reflexiven Moderne konstruiert, d. h. dass spezifische Charakteristika formuliert, näher bestimmt und als Kontrastfolie zur Moderne kommuniziert werden. Die AkteurInnengruppen bedienen sich dabei institutionalisierter Deutungsmuster des herrschenden Wissensprofils der Dominanzgesellschaft, um in den Dialog zu treten. Dabei wird m. E. die Frage aufgeworfen, inwieweit sich derartige Formierungsprozesse auch außerhalb ‚herrschender Kodes’ vollziehen könnten.
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hen, jedoch ebenso von einer unterschiedlichen Durchsetzungsfähigkeit gekennzeichnet sind. Das von Alheit entworfene Modell wurde für den analytischen Rahmen der vorliegenden Arbeit herangezogen und vor dem Hintergrund der kontextspezifischen Relevanzstrukturen des untersuchten Feldes adaptiert. Wesentlich erscheint, dass sich die befragten AkteurInnen in einem unterschiedlichen Ausmaß in den skizzierten Präferenzsystemen verorten, jedoch ihre Lebenskonstruktionen in dem erzeugten Spannungsverhältnis ausrichten müssen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass eine eindeutige Zuordnung weder im Detail möglich noch als sinnvoll erachtet werden kann. Zum einen würde eine zu strikte Trennung dem empirischen Gehalt des untersuchten Feldes nicht gerecht werden, und zum anderen wäre die Gefahr gegeben, sich in eine allzu dichotom gedachte Analyse zu verstricken. Die theoretischen Überlegungen sind vielmehr als Versuch zu sehen, den kontextspezifischen Rahmenbedingungen sowie der kommunizierten Unterschiedlichkeit der Relevanzsysteme in dem untersuchten sozialen Feld analytisch gerecht zu werden. Ein weiteres wesentliches Instrumentarium stellen die ‚kognitiven Figuren’ der autobiographischen Stegreiferzählung dar. Das von Schütze (1984) formulierte Konzept „beinhaltet eine differenzierte Analyse der kognitiven Gestaltungsaktivitäten der Subjekte im Prozeß des Erzählens und expliziert detailliert die Gestaltungsqualität des dabei kommunikativ hervorgebrachten Produkts “ (Dausien 1996, S. 111). Schütze geht in diesem Zusammenhang von dem Vorhandensein ‚elementarer kognitiver Ordnungsprinzipien’ aus, die als Basisregeln die Erfahrungsrekapitulation steuern: „Die kognitiven Figuren des Stegreiferzählens sind die elementarsten Orientierungsund Darstellungsraster für das, was in der Welt an Ereignissen und entsprechenden Erfahrungen aus der Sicht persönlichen Erlebens der Fall sein kann und was sich die Interaktionspartner als Plattform gemeinsamen Weltlebens wechselseitig als selbstverständlich unterstellen. Die retrospektive Erfahrungsrekapitulation kann nicht ohne die Aufforderungsfunktion der kognitiven Figuren auskommen; ohne sie könnte der Erzähler keine Erzählsegmente, die Verkettung dieser und Bezüge auf narrative Gesamtgestalten im aktuellen Erzählvorgang hervorbringen“ (Schütze 1984, S. 80f.).
Die kognitiven Figuren beruhen dabei nicht nur auf Ordnungsprinzipien innerhalb der Erfahrungsrekapitulation im Sinne einer abbildenden Darstellung, sondern stehen insofern in einem direkten Zusammenhang mit den konkret erlebten Erfahrungen und Ereignissen, als diese auf denselben kognitiven Schemata gründen, welche die Wahrnehmung und das direkte Erleben strukturieren (vgl. ebd., S. 80f.).
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Für die vorliegende Arbeit erschien es in einem ersten Schritt der Analyse wesentlich, die ‚kognitiven Figuren’ auf ihre Anwendbarkeit an dem erhobenen narrativen Daten zu erproben, da aus Sicht der Forscherin nicht davon ausgegangen werden konnte, dass diese ohne weiteres auf biographische Erfahrungsrekapitulationen anderer sozio-historischer Kontexte angewendet werden können. Dies erschien auch deshalb relevant, da in dem untersuchten sozialen Feld kognitive Organisationsprinzipien eines Präferenzsystems sichtbar wurden, welche Einfluss auf den Erfahrungsverarbeitungsmodus nehmen und die sich von den zentralen Ordnungskategorien – wie sie die Moderne anbietet – unterscheiden. Besonders interessant war in diesem Zusammenhang nicht nur, dass die kognitiven Figuren auch anhand dieses empirischen Materials ihre Gültigkeit erwiesen, sondern dass bestimmte Merkmale sichtbar wurden, auf die in der anschließenden Beschreibung der einzelnen Figuren eingegangen wird, sofern die Analyse es erlaubte, diese zu fundieren. Schütze unterscheidet vier ‚kognitive Figuren’ als elementare Ordnungselemente des Erzählens und Erlebens, die auf Konstruktionsprinzipien des subjektiven Selbst- und Weltbezugs verweisen: Die erste kognitive Figur bezeichnet er als „Biographie-, Ereignisträger und ihre Beziehungen“. Wenn die eigene Biographie rekapitulierend erzählt wird, dann muss diese – vorausgesetzt das Ich hat sich in Form einer Subjektperspektive konstituiert – auf sich selbst und auf andere an dem Ereignis Beteiligte bezogen werden. Das Ich, dessen Perspektive im Erzählfluss grundlegende Funktion zukommt, ist gleichsam TrägerIn der rekapitulierten Biographie. EreignisträgerInnen stellen soziale Einheiten dar, die eine lebensgeschichtliche Bedeutung in ihrer Beziehung zum/zur BiographieträgerIn haben. Diese können aber auch kollektive soziale Einheiten oder ‚unbelebte Objekte’41 sein. EreignisträgerInnen fungieren in der Erzählung des/der Biographieträgers/Biographieträgerin als interaktionsstiftende Subjekte. Die Beziehung zu diesen Subjekten und ‚Objekten’, die Art der Interaktion wird von dem/der ErzählerIn erläutert bzw. wird durch die Erzählung selbst verdeutlicht. Wie bereits hingewiesen wurde kommt der Perspektive der Selbstthematisierung in dem untersuchten Feld eine besondere Relevanz zu, da die Konstitution von Subjektivität – die Herausbildung eines biographischen Ichs als Perspektive der Selbstthematisierung – kein universell gültiges Phänomen darstellt. Bei dem Selbstbezug in relationalen Beziehungsräumen wurde vor allem eine stärkere Ich-Wir-Balance (Elias) sichtbar.
41 Der Begriff ‚unbelebte Objekte’ ist angesichts des bereits beschriebenen Weltverhältnisses der untersuchten AkteurInnengruppen sicherlich als problematisch einzustufen. Da sich jedoch die Darstellung auf das von Schütze formulierte Konzept bezieht, wurde der Begriff in dieser Form übernommen.
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Die zweite kognitive Figur bezieht sich auf „Erfahrungs-, Ereignis- und Erzählketten“ in dem Erzählfluss. Dabei wird der Prozess des Geschehens in einer Verkettung von Erfahrungen und Ereignissen dargestellt. Die Veränderungen von Zuständen – wie es zu einer bestimmten Situation gekommen ist, welche Ereignisse damit in Verbindung standen – sind Ausdruck dieser Figur. In der Erzählperspektive werden Haltungen thematisiert, welche die damals und heute eingenommenen Positionen gegenüber den jeweiligen Ereignissen und lebensgeschichtlichen Erlebnissen widerspiegeln. Die Wahl der Erzähllinie ist von der aktuellen Einstellung und von der damals für den/die BiographieträgerIn gegebenen Bedeutung des Prozessablaufs geprägt. In den untersuchten narrativen Interviews erweckte u. a. die Verzeitlichung als Dimension der Erfahrungsverkettung meine Aufmerksamkeit. So wurden unterschiedliche ‚Geschwindigkeiten’ durch den Gebrauch verschiedener Zeitformen sichtbar oder aber ein Wechsel in der Erzählperspektive, etwa durch den Gebrauch der Präsenszeit bei in der Vergangenheit liegenden Ereignissen, deutlich. Ebenso interessant erscheint mir der Aspekt, dass bestimmte Handlungen, die ein partizipierendes Gegenüber bedürfen, thematisiert und stärker in einem interaktiven Zusammenhang gestellt werden. Es zeigte sich ebenso, dass für den Erzähler/die Erzählerin relevante Prozessverläufe häufig in Form eines ‚indirekten Dialoges’ beschrieben werden. Diese Darstellungsformen könnten auf kontextspezifische ‚Zugzwänge des Erzählens42’ verweisen. Wesentlich in biographischen Erzählungen sind die in der ‚subjektiven Binnensicht’ enthaltenen Bezüge zu dem ‚sozialen Rahmen’ (dritte kognitive Figur). Dieser verweist auf Bedingungskonstellationen und soziale Beziehungsnetzwerke in welche der/die Biographieträgerin hineinverwoben ist. Der soziale Rahmen bildet den Kontext, vor dessen Hintergrund mögliche Veränderungs- und Lernprozesse erzählt werden. Dieser kann dabei als mehr oder weniger gestaltbar erfahren werden. Das Bedingungsgefüge muss jedoch nicht unbedingt als „intentional fassbarer Vorstellungs- und Orientierungshorizont“ (Schütze 1981, S. 98) zugänglich sein. Die Bezüge zu dem sozialen Rahmen in der narrativen Rekapitulation können Auskunft über habitualisiertes Orientierungswissen der jeweiligen Sinnhorizonte geben. Dem Sichten von ‚interpretativen Räumen’, die sich in den jeweiligen sozio-historischen Kontexte herausgebildet haben, kommt dabei besondere Bedeutung zu. Diese verweisen auf Deutungsschemata, die von bestimmten AkteurInnengruppen geteilt werden. Neben den konkreten sozialen Kontexten, in denen Erfahrungen gemacht werden, machen Lebensmilieus ‚sozi42 Die Zugzwänge des Erzählens wurden von Fritz Schütze formuliert und beschreiben eine grundlegende Erscheinung der autobiographischen Stegreiferzählung. Er unterscheidet dabei drei wirksame Formen, die in einem konkurrierenden Verhältnis zueinander stehen können: den Zwang zur Gestaltschließung, Kondensierung und Detaillierung (vgl. Riemann 2003a, S. 167).
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ale Erfahrungsrahmen in Reichweite’ sichtbar, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie umfassende Lebenszusammenhänge bilden und ein Territorium darstellen, in dem sich der/die BiographieträgerIn für einen gewissen Zeitraum aufhält und an dem er/sie körperlich teilnimmt. An sozialen Welten hingegen können soziale AkteurInnen auch symbolisch – ohne dass sie ein Territorium körperlich besetzen – teilhaben. Diese können als „relativ weitflächiger Aktivitäts- und Interessenszusammenhang“ (Schütze 1984, S. 117) betrachtet werden. Die Bezüge zu dem sozialen Rahmen verweisen zudem auf die Soziallage der BiographieträgerInnen. Die vierte kognitive Figur bezeichnet Schütze als ‚Biographische Gesamtformung’. Er beschreibt diese als übergeordneten Gesamtsinn der Lebensgeschichte, der von dem/der ErzählerIn hergestellt wird. Dabei unterscheidet er zwischen der autobiographischen Thematisierung – dem inhaltlichen Schwerpunkt, den der/die ErzählerIn seiner/ihrer Geschichte gibt – und der biographischen Gesamtformung, der Gesamtgestalt, die von dem/der ForscherIn formal herausgearbeitet wird. 3.4.3 Biographische Gestaltungsprozesse Im Spannungsfeld von individuellen und strukturellen Kontexten werden Erfahrungen immer wieder von Neuem in Beziehung zum biographischen Raum gesetzt und innerhalb dessen sinnvoll eingeordnet und strukturiert. Biographische Konstruktionen befinden sich somit in stetiger Bewegung und Veränderung43. Erfahrungsstrukturierungen sind von Erfahrungshaltungen, die Menschen gegenüber lebensgeschichtlichen Erlebnissen eingenommen haben und einnehmen, geprägt. Schütze unterscheidet dabei zwischen vier grundsätzlichen Haltungen bzw. Prozeßstrukturen: biographische Handlungsschemata, institutionelle Ablaufmuster, Verlaufskurven und Wandlungsprozesse (vgl. Schütze 1981, 1984). Diese verweisen auf verschiedene Mechanismen der ‚Innen- bzw. Außensteuerung’ einer Biographie, die in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen herausgebildet werden. Schütze thematisiert diese als Prozesse des Handelns bzw. Erleidens. Biographische Handlungsschemata können als „Aktivitätsstrukturen des Lebenslaufes“ (Schütze 1981, S. 133) beschrieben werden, welche auf ein gestaltendes Handeln des Biographieträgers gerichtet sind und das intentionale Prinzip einer Biographie darstellen. Handlungen werden dabei konzipiert und durchgeführt, wobei diese erfolgreiche oder erfolglose Versuche der Verwirklichung von 43
Zum Gestaltungsaspekt des biographischen Raumes siehe u. a. Pilch Ortega/ Pusterhofer 2005b.
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individuellen Vorhaben sein können. Schütze skizziert fünf Grundformen biographischer Handlungsschemata: „biographische Entwürfe, biographische Initiativen zur Änderung der Lebenssituation, episodale Handlungsschemata des Erlebens von Neuem mit nachträglicher biographischer Relevanz, situative Bearbeitungs- und Kontrollschemata von biographischer Relevanz, Handlungsschemata markierter biographischer Irrelevanz“ (ebd., S. 133f.; vgl. ebd. 70-88). Mit der Haltung des biographischen Handlungsschemas kann auf neue Situationen flexibel reagiert werden, da bereits erreichte Handlungsergebnisse bewusst mit einbezogen werden. Diese sind jedoch nicht als zweckrationale Handlungen zu verstehen, die Schritt-für-Schitt geplant und realisiert werden. Zwischen antizipierter Handlungsvorstellung und der konkreten Durchführung treten immer wieder Diskrepanzen auf, welche die Bearbeitung durch Phasen des Aushandelns von Bedingungskonstellationen sowie interaktive Prozesse mit relevanten anderen, erforderlich machen und eine Re-Interpretation des gesamten Handlungsschemas zur Folge haben können (ebd., S. 86ff.). Institutionelle Ablaufmuster sind als gesellschaftlich angelegte Institutionalisierungsmuster des Lebenslaufes zu verstehen, mit deren Erwartungsstrukturen unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden. Diese Erwartungsschritte können in einer Biographie beschleunigt oder verzögert auftreten, aber auch in ihrer Abwicklung behindert werden und möglicherweise als gescheitert erfahren werden. Wesentlich erscheint, dass diese vor dem Hintergrund von soziohistorischen Kontexten stark variieren können. Besonders Stadien und Phasen des Lebenszyklus, wie wir sie anhand moderner Lebenskonstruktionen kennen, treten als Erwartungsstrukturen weit weniger stabil bzw. gesichert in Erscheinung oder fehlen zur Gänze (z. B. der Einstieg in die Erwerbstätigkeit, der Schulbesuch). Normative Erwartungsstrukturen können zeitlich unterschiedlich strukturiert sein (z. B. früheres Heiratsalter), wobei sich diese auch in einem Veränderungsprozess befinden können. Ebenso variiert die Verzeitlichung des Lebenslaufes im Sinne einer Ausdifferenzierung in Lebensphasen vor dem Hintergrund sozio-historischer Kontexte. Um als institutionelles Ablaufmuster wirksam zu sein, bedarf es entsprechender gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Grundsätzlich kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sich der Lebensentwurf in einem Spannungsfeld zwischen Idealbild und tatsächlichem Vollzug gesellschaftlich angelegter institutioneller Ablaufmuster verortet. Situationen, in denen übermächtige Ereignisse als überwältigend erlebt werden und das Gefühl vorherrscht, diese nicht mehr planen und kontrollieren zu können bzw. von ihnen bestimmt zu werden, verweisen auf Prozessstrukturen der Verlaufskurve. Der Verlust von Handlungsautonomie erzeugt einen Prozess des Erleidens oder des Sich-getrieben-Fühlens. Die Biographie ‚gleitet aus den Händen’ und wird verstärkt als von äußeren Ereignissen gesteuert erfahren und
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gerät schließlich ins ‚Trudeln’. „Der soziale und biographische Prozess der Verlaufskurve ist durch Erfahrungen immer schmerzhafter und auswegloser werdenden Erleidens gekennzeichnet: die Betroffenen vermögen nicht mehr aktiv zu handeln, sondern sie sind durch als übermächtig erlebte Ereignisse und deren Rahmenbedingungen getrieben und zu rein reaktiven Verhaltensweisen gezwungen“ (Schütze 1995, S. 126). Das Vertrauen in die Tragfähigkeit des eigenen Lebensarrangements geht verloren. Verlaufskurven werden u. a. durch sozialstrukturelle, äußerlich-schicksalhafte Bedingungen bzw. durch Prozesse anomischer Unordnung ausgelöst und sind sowohl als individuelle als auch kollektive Prozesse wirksam, wie es bei historischen Ereignissen, z. B. Krieg, der Fall ist (vgl. Schütze 1981, S. 88ff.). Wandlungsprozesse beschreiben Veränderungen, die ihren Ursprung in der Innenwelt des/der Biographieträgers/Biographieträgerin haben. Veränderungsprozesse werden dabei systematisch fokussiert und zeigen sich in der Selbst- und Weltsicht, in den Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten der Individuen. Schütze differenziert zwischen Wandlungsprozessen, die längerfristig angelegt auf eine Veränderung des handlungsschematischen Orientierungsrahmens abzielen und jenen, die eher gegenwartsbezogen dominante Ordnungsschemata umstrukturieren. In vielen Fällen kommt es in der autobiographischen Stegreiferzählung zu einer Thematisierung der Gesamtsicht der Wandlungsprozesse des Lebenslaufes (vgl. Schütze 1981, S. 103ff.). 3.4.4 Biographie als Lern- und Bildungsraum Der biographische Raum verweist zum einen auf reflexiv zugängliches Wissen und zum anderen auf Sinnüberschüsse, jene Anteile des gelebten und ungelebten Lebens, die nur teilweise explizit verfügbar sind. Diese Sinnüberschüsse, die bei biographischen Konstruktionen wirksam werden, können als Ressource fungieren und genutzt werden. Der biographische Raum ist demnach auch unter dem Aspekt eines Lern- und Bildungsraumes zu sehen. Biographische Lernprozesse, die das Subjekt in Verbindung mit der sozialen Welt erwirbt, werden in Erfahrungsstrukturierungen sinnvoll eingebaut und an vergangene biographische Lernprozesse angebunden. Die Konfrontation mit einer Situation, bei der die Lebenskonstruktion und die herausgebildeten Orientierungsmuster nicht mehr ‚greifen’, kann eine Veränderung des Erfahrungsverarbeitungsmodus provozieren, bei der andere Deutungs- und Handlungsschemata gefunden bzw. entwickelt werden. Durch die Fähigkeit, das Leben immer wieder neu auslegen zu können, wird der individuelle Kontext als gestaltbar erfahren. Sinnüberschüsse können entziffert und bio-
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graphisch nutzbar gemacht werden. Entscheidend ist die selbstbestimmte Entdeckung der ‚Anschlussfähigkeit’ individueller biographischer Handlungspotenziale an die strukturellen Rahmenbedingungen (vgl. Alheit 1994a, S. 50). Das Konzept der ‚Biographizität’44 verdeutlicht das Potenzial das Handlungsvermögen in einer sich rasant verändernden Welt aufrecht zu erhalten und kann als Schlüsselqualifikation bezeichnet werden. Ebenso beschäftigte sich Marotzki in seinem ‚Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie’ mit der Handlungsfähigkeit moderner Individuen in hochkomplexen Gesellschaften, wobei er das Verhältnis von Lern- und Bildungsprozesse sowie ihre biographische Relevanz in das Blickfeld rückte. Auf die lerntheoretischen Annahmen von Bateson, auf die sich Marotzki bezieht, wurde bereits im Kapitel 3.4.4 kurz eingegangen. Ausgangspunkt der Überlegungen von Bateson sind Muster der Erfahrungsstrukturierung, welche auf Gewohnheiten verweisen, den Erfahrungsstrom auf die eine oder andere Weise zu interpunktieren. Wesentlich erscheint das Ausmachen und Sortieren von Kontexten innerhalb des Erfahrungsstromes. Die in einem sozialisatorischen Prozess herausgebildeten Interpunktionsweisen stellen Rahmungen dar, die für eine bestimmte Zeit – aufgrund ihrer ‚problemlosen’ Anwendbarkeit – Gültigkeit erlangen. Der Rahmen bildet dabei eine Art Verstehensanweisung für die interagierenden AkteurInnen, die kommunikativ zur Geltung gebracht werden und innerhalb dessen Lernprozesse stattfinden (vgl. Marotzki 1990, S. 33). Gerade dann, wenn herausgebildete Erfahrungsstrukturierungen bzw. Rahmungen nicht mehr ‚greifen’, können diese selbst eine Veränderung erfahren. Diese Transformation kann in Abgrenzung zu einer ‚reinen’ Erweiterung des Wissensvorrates, als Bildungsprozess verstanden werden, bei dem sich das Wissensgebäude selbst verändert. Bateson differenziert in seinem Modell zwischen fünf Ebenen des Lernens, wobei diese als aufbauende Lernprozesse zu verstehen sind: Bei der ersten Lernebene, die er als Lernen 0 bezeichnet, kommt es zu keiner Veränderung des Verhaltens. Reiz und Reaktion sind relativ starr aneinander gekoppelt. Alternierende Reaktionsmöglichkeiten werden auf dieser Ebene nicht erprobt. Die Lernebene I beschreibt Bateson als Erweiteiterung des Handlungsrepertoires. Auf Basis von Versuch und Irrtum lernt das Individuum unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten zu entwickeln, welche in den konkreten Situationen als Auswahlmöglichkeit zur Verfügung stehen: „Lernen I ist Veränderung in der spezifischen Wirksamkeit der Reaktion durch Korrektur von Irrtümern der Auswahl innerhalb einer Menge von Alternativen“ (Bateson 1964/1971, S. 379 zit.n. Marotzki 1990, S. 37). Bei der Entwicklung von Rahmungen spielt das Erkennen von Kontextmarkierungen, um diese klassifizieren bzw. sortieren zu 44
Siehe hierzu besonders die Arbeiten von Egger 1995, S. 97-109 bzw. 1993, S. 28-40.
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können, eine wesentliche Rolle. Die nächste Lernebene II beschreibt Bateson folgendermaßen: „Lernen II ist Veränderung im Prozeß des Lernens I, z. B. eine korrigierende Veränderung in der Menge von Alternativen, unter denen die Auswahl getroffen wird, oder es ist eine Veränderung in der Art und Weise, wie die Abfolge der Erfahrung interpunktiert wird“ (ebd., S. 379 zit.n. Marotzki 1990, S. 38). Entscheidend ist, dass herausgebildete Gewohnheiten auf dieser Lernebene verändert werden. Gewohnheiten den Erfahrungsstrom zu interpunktieren, können als besonders resistent gegenüber Veränderungsprozessen bezeichnet werden, da sie – sobald sie sich etabliert haben – größtenteils als implizites Orientierungswissen zur Verfügung stehen. Wenn jedoch die ‚gewohnte’ Rahmung nicht mehr ausreicht das Erfahrene zu erfassen, kann die Art und Weise, wie Welt wahrgenommen und geordnet wird, eine Wandlung erfahren. Marotzki bezeichnet sie als Bildungsprozesse, wobei diese durch die Veränderung der Konstruktionsprinzipien der Weltauffassung und in weiterer Folge des Selbstbezuges näher bestimmbar sind. Konkret kann von einer Transformation der Erfahrungsstrukturierung, die dem Selbst- und Weltverhältnis zugrunde gelegt ist, gesprochen werden (vgl. Marotzki 1990, S. 37-41). Ein steigerbares Lernpotenzial sieht Bateson in Veränderungen des Selbstbezuges. Bei der Lernebene III, die er als reflexives Lernen bezeichnet, wird das Erlernte reflexiv zugänglich gemacht, gegebenenfalls revidiert und ein neuer Strukturzusammenhang herausgebildet. Dem Subjekt ist es auf dieser Lernebene möglich, zwischen unterschiedlichen Interpunktionsweisen zu differenzieren und diese flexibel zu handhaben. Dabei wird der Vorgang des Wechsels zwischen unterschiedlichen möglichen Rahmungen erlernt, wodurch der Freiheitsgrad des handelnden Subjekts – der als Souveränität des Geistes beschrieben werden kann – gesteigert wird. Besonders interessant erscheint mir, dass Bateson davon spricht, dass Individualität als Produkt des Lernens II betrachtet werden kann: „Ich’ bin meine Gewohnheiten, im Kontext zu handeln und die Kontexte zu gestalten und wahrzunehmen, in denen ich handle. Individualität ist ein Resultat oder eine Ansammlung aus Lernen II. In dem Maße, wie ein Mensch Lernen III erreicht und es lernt, im Rahmen der Kontexte von Kontexten wahrzunehmen und zu handeln, wird sein ‚Selbst’ eine Art Irrelevanz annehmen. Der Begriff ‚Selbst’ wird nicht mehr als ein zentrales Argument in der Interpunktion der Erfahrung fungieren“ (Bateson 1964/1971, S. 393 zit.n. Marotzki 1990, S. 46).
Marotzki unterstreicht in dieser Hinsicht die Lesart eines mündigen Selbst, das sich der Gestaltbarkeit des Weltzugangs bewusst und daher das Subjekt seiner selbst habhaft wird. M. E. ist jedoch gerade jener Aspekt eines Bezugspunktes, der nicht primär im Subjekt verankert ist, besonders interessant, weil dieser einen Verarbeitungsmodus sozialer Wirklichkeit verdeutlichen könnte, der in der Lage
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ist, sich jenseits einer Subjekt-Objekt Spaltung zu konstituieren. Auf die Lernebene IV gehen weder Bateson noch Marotzki näher ein. Diese bezieht sich auf eine Reflexion der Reflexion des Lernens III und ist vermutlich „bei keinem ausgewachsenen lebenden Organismus auf dieser Welt“ (Bateson 1981, S. 379) zu finden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Lern- und Bildungsprozesse prinzipiell interaktionsgebunden sind und in sozialen Kontexten stattfinden. Jedem Lernprozess liegt eine Rahmung zugrunde innerhalb dessen Wissen vermehrt wird. Die Rahmungen, welche als Orientierung fungieren, können jedoch eine Veränderung erfahren. Der Wechsel von einem System der Selbstund Weltreferenz in ein völlig anderes System, jene ‚Modalisierungen’ (Marotzki) verweisen auf Transformationen der Orientierungen und sind in weiterer Folge Zeugnisse hoher Flexibilität. „Mit steigender Stufe wird der Freiheitsgrad in der Gestaltung der Umweltbeziehungen größer“ (Marotzki 1990, S 53). Biographische Lern- und Bildungsprozesse sind als Bewegungen im biographischen Raum erkennbar. Dabei kommt der ‚Emergenz von Neuem’ besondere Relevanz zu. Bei den sich entwickelnden, neuen Lebenskonstruktionen werden traditionelle, soziale Formen benutzt, verändert oder auch aufgelöst (vgl. Apitzsch 1997, S. 147). Die kreativen Verarbeitungsformen der inneren Erfahrungswelt schlagen sich in der äußeren Erfahrungswelt nieder. Alheit beschreibt jene als transitorische Bildungsprozesse (Alheit 1994a, S. 46ff.), bei denen Erfahrungen nicht in eine alte Struktur eingebaut, sondern bereits als Elemente neuer kontextueller Bedingungen gedeutet werden. Dabei können durch das Anschließen biographischer Ressourcen und Handlungspotenziale die Rahmenbedingungen selbst eine Veränderung erfahren. Alheit betont in diesem Zusammenhang, dass „nicht die Anpassung der Individuen an die neuen Gegebenheiten, sondern die handlungsorientierte Neugestaltung dieser Rahmenbedingungen unter Nutzung der biographischen Ressourcen der beteiligten Akteure (...) andere soziale Realitäten“ (Alheit 1994a, S. 50) schafft. In dem untersuchten sozialen Feld sind Lern- und Bildungsprozesse, die sich vor dem Hintergrund konkurrierender Wissensprofile vollziehen, von entscheidender Bedeutung. Die sozialen AkteurInnen sind in dem konkreten sozialen Kontext verstärkt gefordert die unterschiedlichen Präferenzsysteme zu erkennen, und diese – sofern sie dazu in der Lage sind – flexibel zu handhaben, um ihre Handlungsfähigkeit zu steigern. Zudem wurde ein Potenzial sichtbar, welches darauf abzielt, die vorgefundenen Rahmenbedingungen handlungsorientiert neu zu gestalten. Die Handlungsschemata, die in Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Unterwerfung des ‚vertrauten’ Präferenzsystems und der damit einhergehenden Marginalisierung herausgebildet werden, verweisen auf Transformationsprozesse der Selbst- und Weltverhältnisse sowie der sozialen Rah-
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4.1 Grounded Theory Als methodologisches Rahmenmodell wurde für die vorliegende Forschungsarbeit das Konzept der ‚Grounded Theory’ angewendet. Ziel dieses Forschungskonzeptes ist die ‚empirisch fundierte Theoriebildung’. Es handelt sich dabei nicht um ein striktes methodologisches Verfahren, bei dem bestimmte Methoden instrumentell angewendet werden, sondern vielmehr um einen ‚Forschungsstil’ (Glaser/Strauss 1979). Das Konzept der Grounded Theory wurde erstmals 1967 von Glaser und Strauss vorgestellt und als alternatives Modell zur damaligen soziologischen Mainstream-Forschung entwickelt. Die Kritik richtete sich vor allem gegen die praktizierte Arbeitsteilung zwischen dem Hervorbringen ‚großer Theorien’ und empirischer Sozialforschung. Empirische Erhebungen dienten vordergründig der Überprüfung von Hypothesen, welche aus den ‚grand theories’ abgeleitet wurden. Demnach kam der empirischen Forschung die Funktion von ‚Handlangerdiensten’ zu. Die Theorien hingegen wurden abstrakt, ohne direkten Bezug zur sozialen Wirklichkeit, konzipiert (vgl. Dausien 1996, S. 94; vgl. Alheit 1999, S. 1f.). Vor diesem Hintergrund entwickelten Glaser und Strauss ein Forschungsmodell, bei dem die Generierung neuer theoretischer Ideen anhand empirischer Daten im Zentrum steht. Theorie wird dabei als Prozess verstanden (vgl. Glaser/Strauss 1998, S. 41), der in der Verfahrensweise des Entdeckens möglichst offen – jedoch nicht beliebig, sondern methodisch kontrolliert – gestaltet wird. Das Entwickeln neuer Theorien sollte im Wesentlichen danach trachten, „diese auf der Grundlage von in der Sozialforschung gewonnenen Daten planvoll und systematisch zu generieren“ (ebd., S. 38). Eine ‚entdeckende Forschungshaltung’ bedeutet in diesem Sinne auf die Formulierung von ex-ante Hypothesen zu verzichten. Es geht dabei darum, eine abduktive Haltung gegenüber den empirischen Daten einzunehmen. Die theoretischen Überlegungen und die Analyse des Datenmaterials stehen in einem wechselseitigen Austauschprozess. Theoretische Vorannahmen und gewonnene Daten befinden sich in einem intensiven Dialog, der als „eine spiralförmige Hin- und Herbewegung zwischen theoretisch angeleiteter Empirie und empirisch gewonnener Theorie“ (Dausien 1996, S. 93) beschrieben werden kann. Eine entdeckende Forschungshaltung ist sowohl für die Erhebungs- als auch für die Analysephase bedeutsam. Der Forschungsprozess selbst kann dabei als ‚diffus teleolo-
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gisch’45 beschrieben werden und hat eine ‚zielstrebige Offenheit’ zur Ausgangsbasis. Wesentlich ist die Herausbildung einer ‚theoretischen Sensibilität’, welche den gesamten Forschungsprozess anleitet. Darunter werden geeignete heuristische Konzepte verstanden, die ein neues Gegenstandsfeld erschließen. Diese beziehen sich auf explizites Wissen, gezielt erhobene Kontextinformationen wie auch geeignete theoretische Bezüge. Das Explizitmachen des eigenen Vorwissens bildet die Basis einer kritischen Korrektur der Vorannahmen. Die systematische Modifikation der heuristischen Konzepte im Forschungsprozess wird als Lernprozess begriffen. Bei der Identifizierung theoretisch relevanter Kategorien und Hypothesen im Datenmaterial kommt der ‚theoretischen Sensibilität’ eine entscheidende Funktion zu. Die theoretischen Einsichten werden in einer abduktiven Suchbewegung – in einem wechselseitigen Austausch zwischen den theoretischen Vorannahmen und der Analyse des Datenmaterials – entwickelt und neue Erkenntnisse abgeleitet und fundiert. Die generierten Kategorien werden in Konfrontation mit den Daten weiter entfaltet und modifiziert, so dass neue Zusammenhänge gesichtet und Hypothesen für das untersuchte Phänomen abstrahiert werden können. Die Reflexion und Reformulierung der Fragestellungen begleiten den gesamten Forschungsprozess. Der eigene Lernprozess innerhalb des Forschungsprozesses wird demnach reflektiert und kontrolliert. Die Grundhaltung des Forschungsstils kann, wie bereits verwiesen wurde, als ‚zielstrebige Offenheit’ oder ‚geplante Flexibilität’ beschrieben werden. Zentral für die Beziehung von Theorie und Empirie im Forschungsstil der Grounded Theory ist die Kodierung der Daten in einem Verfahren des permanenten Vergleichs. „Allgemein formuliert, bedeutet Kodieren die Verknüpfung zwischen empirischem Material und theoretischen Begriffen und Kategorien, die als heuristisches Konzept den Forschungsprozess anleiten (Strauss 1991)“ (Egger 2006a, S. 96). Durch die sukzessive Generierung von Hypothesen und Kategorien bzw. durch die komplexe Kodierung des gesamten Datenmaterials kristallisiert sich stufenweise eine gegenstandsbezogene Theorie heraus. Im folgenden Abschnitt wird zunächst auf das narrativ-biographische Interview eingegangen, welches das zentrale Erhebungsinstrument dieser Arbeit darstellt. Anschließend wird die konkrete Vorgehensweise im Forschungsprozess detaillierter beschrieben.
45 Dem Begriff ‚diffus teleologisch’ liegt ein Handlungskonzept zugrunde, dass auf Dewey und Mead zurückgeht. Handlung selbst wird dabei als ein kontinuierlicher Prozess beschrieben, innerhalb dessen Reize, die für den Fortgang relevant sind, ausgewählt werden. Die‚ursprüngliche’ Intention kann insofern eine Revision erfahren, indem Zwecke der Handlung oft erst im direkten Handlungsverlauf deutlich werden (vgl. Alheit 1999, S. 3-6).
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4.2 Das narrative Interview als methodisches Instrument Im wissenschaftlichen Erhebungsverfahren wurde, neben der teilnehmenden Beobachtung im Rahmen der Felderkundung, das narrativ-biographische Interview als methodisches Instrument eingesetzt. Das narrativ-biographische Interview wurde von Fritz Schütze in den 70er Jahren, im Zuge der sich entwickelnden Biographieforschung konzipiert und ausgearbeitet. Es stellt ein rekonstruktives sozialwissenschaftliches Erhebungsverfahren dar, bei dem unterschiedliche interpretative Forschungsansätze, wie etwa des symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie und der Konversationsanalyse, zusammengeführt wurden (vgl. Riemann 2003b, S. 120). Im Gegensatz zu anderen standardisierten Formen ist bei dem narrativen Interview eine hohe Strukturierung durch die Informantin/den Informanten gegeben. Die Erzählaufforderung, die narrative Ausgangsfrage zielt auf eine detaillierte und umfassende Stegreiferzählung ab (vgl. Schütze 1987), wobei die erzählende Person selbst die erlebten Erfahrungen und Ereignisse vor dem Hintergrund ihrer Relevanzsetzungen selektiert und strukturiert. Das sozialwissenschaftliche Interesse richtet sich demnach auf Erfahrungsaufschichtungen und Verarbeitungsmodi sozialer Wirklichkeit innerhalb der retrospektiven autobiographischen Betrachtung. Dabei ist es wesentlich, die erzählten Lebensgeschichten nicht als Summation von Ereignis- und Handlungsverläufen im biographischen Zeithorizont zu verstehen, sondern „die Eigenlogik der autobiographischen Rekonstruktionsleistung“ (Dausien 1996, S. 106) muss berücksichtigt werden. Die Erfahrungsrekapitulation stellt einen komplexen Vorgang dar, bei der soziale Wirklichkeit konstruiert wird und die auf subjektive Aneignungsprozesse verweist. Auf die von Schütze herausgearbeiteten Ordnungsprinzipien – die ‚kognitiven Figuren’, welche den Gestaltungsaktivitäten der autobiographischen Stegreiferzählung zugrunde liegen, wurde bereits im Kapitel 3.4.2 näher eingegangen. An dieser Stelle soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass diese die Erfahrungsrekapitulation steuern und Ordnungsprinzipien der Erfahrungsaufschichtung der BiographieträgerInnen verdeutlichen (vgl. Schütze 1984, S. 80). Die Homologie zwischen konkret erlebten und erzählten Erfahrungen kann insofern gefasst werden, indem diese auf denselben Konstruktionsregeln basieren. In der Erfahrungsrekapitulation werden Dispositionen sichtbar, die damals eingenommene Haltungen, aber auch aktuelle biographische Prozessstrukturen (Schütze 1981/1984) veranschaulichen. Die herausgebildeten Erfahrungsdispositionen können als „Erfahrungs-code“ (Alheit 1997) beschrieben werden, auf dessen Grundlage neue Erlebnisse strukturiert und verarbeitet werden (vgl. Egger 2006a, S. 97f.). Innerhalb der Erfahrungsrekapitulation werden vorwiegend Erinnerungs- aber auch Deutungsschemata aktiviert (siehe Kapitel 3.4.2). Die in
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einem Interview enthaltenen ‚reinen’ Narrationen werden durch das Berühren mit der Ereignis- und Erlebnisebene hervorgebracht. Diese Form des SichErinnerns findet sich u. a. in Darstellungen, die eine hohe Idexikalität aufweisen (vgl. ebd., S. 98). Bilanzierende und argumentative Passagen hingegen, beispielsweise am Ende einer Stegreiferzählung, geben Auskunft über Deutungskonzepte der BiographieträgerInnen. Für den Ablauf eines narrativen Interviews sind folgende Aspekte wesentlich: Zunächst sollte im Zuge der Kontaktaufnahme mit einem/einer potentiellen InterviewpartnerIn sowie vor dem Interviewbeginn eine ausreichende Vertrauensbasis aufgebaut werden. Diese beinhaltet sowohl die Übereinkunft über das Ablaufschema eines narrativen Interviews als auch die Gewährleistung der Vertraulichkeit im Bezug auf die gegebenen Informationen. Es sollte eine Atmosphäre geschaffen werden, die es ermöglicht die persönliche Geschichte und das Gewordensein, welche dieser zugrunde liegt, zu erzählen. Der Einstieg in das Interview erfolgt anhand einer narrativen Ausgangsfrage, welche als Erzählaufforderung von der interviewten Person ratifiziert werden muss. Diese wird auf eine Weise formuliert, welche die Generierung eigener Erfahrung eröffnet (z. B. „Ich möchte sie bitten mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen, all die Erfahrungen und Ereignisse, die für sie wichtig waren. Ich werde sie nicht unterbrechen, sondern gegebenenfalls nach der Erzählung ein paar Fragen stellen ...“). Während der Erzählphase kommt der Interviewerin/dem Interviewer eine zuhörende Funktion zu, wobei Signale der Interviewerin/des Interviewers wie „mhm“ dazu beitragen, den Interaktionsfluss aufrecht zu erhalten. Wesentlich für das narrative Interview ist, dass der Erzählfluss nicht durch Fragen unterbrochen oder gelenkt wird. Wenn die befragte Person signalisiert, dass sie ihre Haupterzählung beendet hat, kann die Interviewerin/der Interviewer, z. B. zu einzelnen Lebensphasen oder Situationen, Fragen stellen. Die Fragen in der Nachphase sollten erzählgenerierenden Charakter haben. Bei der letzten Phase der Bilanzierung der erzählten Lebensgeschichte werden, sofern dies noch nicht während der Haupterzählung oder der Nachfragephase erfolgte, die Sinnzusammenhänge der gesamten Erzählung umrissen bzw. thematisiert. Diese Phase ist durch eine deutende Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gekennzeichnet und kann ebenso Blicke in die Zukunft beinhalten. Nach Abschluss des Interviews ist es wesentlich das Interview quasi ausklingen zu lassen. Die InformantInnen sind grundsätzlich ExpertInnen ihrer eigenen Biographie. Wichtig ist, dass sich die Personen vor dem Interview nicht näher kennen, weil es sonst zu Verkürzungen von Darstellungen kommen kann (vgl. Egger 2006b). Bei der Analyse richtet sich der Blick besonders auf die komplexe Gestalthaftigkeit und den Aspekt der Prozessualität von lebensgeschichtlichen Erzählungen. Im biographischen Horizont sind vielfach Überlagerungen und
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Fragmentierungen eingelagert. Die zeitliche Dimension enthält zudem das Moment der Veränderung und Überschreitung unterschiedlicher Zeitschwellen. Grundsätzlich ist in der narrativen Rekapitulation nicht nur die Perspektive der erzählenden Person enthalten, sondern über die ‚subjektive Binnensicht’ können Hintergrundstrukturen erschlossen werden, welche über die individuell erlebten Erfahrungen und Ereignisse der eigenen Geschichte hinausreichen und die Verwobenheit in gesellschaftliche Abläufe, in denen sie konstruiert werden, zum Ausdruck bringt. Das Ziel besteht darin, die dahinterliegende Strukturlogik dieser Konstruktionen freizulegen. 4.3 Forschungsdesign, Erhebungs- und Analyseschritte Auf den Forschungsstil der ‚Grounded Theory’, der als Rahmenkonzept der Arbeit zugrunde liegt, wurde bereits näher eingegangen. Die einzelnen Schritte im Forschungsprozess werden sowohl theoretisch als auch anhand des konkreten Vorgehens in der Forschungspraxis thematisiert. Wie durch die Darstellung deutlich wird, sind die einzelnen Phasen nicht klar voneinander abgrenzbar, sondern fließen zum Teil ineinander bzw. stehen in einem wechselseitigen Austauschprozess. Die Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit kann anhand folgender Schritte beschrieben werden:
Entwickeln des Forschungsdesigns und des ‚sensibilisierenden Konzeptes’ erster Feldaufenthalt: Erkundung des Feldes Modifikation des Forschungsdesigns und Auswahl der Methoden ‚theoretisches Sampling’ und Datenerhebung Übersetzung und Kodierprozess letzter Feldaufenthalt und Rückbinden der entwickelten Kategorien und Hypothesen Entfaltung der gegenstandsbezogenen Theorie
In der ersten Planungsphase bildete das Entwickeln des Forschungsdesigns den zentralen Schwerpunkt. Dieses beinhaltet die Entwicklung des forschungsleitenden Interesses, die Herausbildung einer ‚theoretischen Sensibilität’ anhand geeigneter heuristischer Konzepte, um das Gegenstandsfeld zu erschließen sowie die Konzipierung der Vorgehensweise und der Methodenwahl. Auf die Relevanz und Funktion des ‚sensibilisierenden Konzeptes’ wurde bereits eingegangen. Mit dem Stichwort ‚geplante Flexibilität’ soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die Erhebungs- und Analyseschritte während des gesamten Forschungsprozesses in einem intensiven Dialog stehen, d. h. dass die konzipierte
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Vorgehensweise im Forschungsdesign eine Grundlage, jedoch keine Vorgabe darstellt. Ziel ist das geplante und theoretisch angeleitete Vorgehen, das jedoch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Daten und der Kategoriebildung reformuliert werden kann. In einem ersten Schritt ging es darum, Einblicke in die ausgewählten sozialen Kontexte zu erhalten. Aufgrund der ‚Andersartigkeit’ des untersuchten Feldes war das Erheben von Kontextwissen sowie das Sichten geeigneter theoretischer Bezüge besonders relevant. Es wurden gezielt Informationen zu historischen, sozialen und politischen Aspekten des Bedingungsgefüges erhoben. In diesem Stadium wurde eine bewusste Auseinandersetzung mit Vorstudien vermieden, um die Kategoriefindung nicht im Vorhinein einzuschränken (vgl. Glaser/Strauss 1998, S. 47). Für den Forschungsprozess war jedoch die theoretische Beschäftigung mit relevanten ethnographischen und anthropologischen Diskursen wesentlich. Wie bereits im Kapitel 3.1 veranschaulicht wurde, sind methodische Problemstellungen bei der Konstruktion des Fremden in ihrer historischen Entwicklung belegbar und verdeutlichen die Verstricktheit eines (ethnographischen) Forschungsprozesses in globale Dominanzstrukturen. In diesem Zusammenhang war es wichtig, den Umgang der Moderne mit anders figurierten Wirklichkeitskonstruktionen kritisch zu hinterfragen und das ‚Prinzip der Gleichzeitigkeit’ im analytischen Rahmen zu gewährleisten. Teil der Phase des Entwickelns des Forschungsdesigns war ein erster Forschungsaufenthalt in Mexiko, um vor Ort die entwickelten Fragestellungen, die Sichtung des Phänomens sowie die konzipierte Vorgehensweise auf ihre Eignung zu prüfen. Forschungsfelder stellen in gewisser Hinsicht Landschaften dar. Bei der Entwicklung eines Forschungsdesigns ist es wichtig, die Ebenen des zu erforschenden Feldes oder Phänomens näher zu bestimmen. Bei der Erkundung eines sozialen Feldes werden allmählich verschiedene strukturelle Ebenen sichtbar, die je nach Fragestellung unterschiedlich relevant sein können. Grundsätzlich ist es sinnvoll, zwischen Makro-, Meso- und Mikroebene zu differenzieren. Das soziale Bedingungsgefüge, welches durch politische, ökonomische und andere Faktoren bestimmt wird, bildet den Rahmen, in dem AkteurInnen ihre Handlungsstrategien entwickeln. Der soziale Nahraum sowie regionale Institutionen sind für die Untersuchung der Mikroebene ebenso bedeutsam. Die Ebenen selbst sind miteinander und ineinander verflochten. Die analytische Trennung ist allerdings für die Auswahl der Methoden sowie für die Wahl des Zugangs zum Feld relevant (vgl. Alheit 1999, S. 11f.). Das Vertrautmachen mit den lebensweltlichen Rahmenbedingungen, dem gesellschaftlichen Wirkungsgefüge und den damit in Verbindung stehenden Relevanzstrukturen stand in dieser Phase im Vordergrund. Das Forschen in dem gewählten sozialen Kontext verlangt ein hohes Maß an Flexibilität. Im Laufe des
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Forschungsprozesses wurde ich immer wieder mit Situationen konfrontiert, die es erforderten, die geplante Vorgehensweise spontan und reflektiert zu modifizieren. Aufgrund der politischen Situation und der starken Militarisierung dieser Regionen war es notwendig Strategien zu konzipieren, um einerseits Zugänge zu bestimmten Lebenswelten zu schaffen, und um andererseits möglichen erschwerenden Bedingungen bei der Felderkundung vorzubeugen (Militärsperren, Gewährleistung von Anonymität der Interviewaufnahmen etc.). Als besonders hilfreich hat sich die Kontaktaufnahme zu regionalen Organisationen, vor Ort tätigen WissenschaftlerInnen und ExpertInnen des ausgewählten sozialen Feldes erwiesen. Im Forschungsdesign wurden grundlegende Entscheidungen getroffen, welche die Wahl des erkenntnistheoretischen Vorgehens betreffen. Die vorliegende Arbeit gründet in einem subjektorientierten Ansatz, bei dem die Erschließung und Rekonstruktion der ‚subjektiven Binnensicht’ im Mittelpunkt steht. Die Durchführung der Interviews wurde eingebettet in eine Sozialraumanalyse, bei der Daten zur Makro-, Meso- und Mikroebene der untersuchten sozialen Felder erhoben wurden. Der Analyse- bzw. Kodierprozess, auf den noch näher eingegangen wird, wurde in einem Setting angelegt, welches die Generierung einer Vielfalt von Lesarten garantieren sollte. Gemeint ist damit die Methode des Interpretierens in einer Forschungsgruppe. Zudem wurden die entwickelten Hypothesen und Kategorien mit AkteurInnen, die eine hohe Vertrautheit mit dem gewählten sozialen Kontext aufweisen, permanent diskutiert. Den nächsten Schritt bildete der längste Forschungsaufenthalt und die Erhebung der Daten (September bis Dezember 2002), die durch das ‚theoretische Sampling’ angeleitet wurde. Idealtypisch meint das theoretische Sampling „den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind“ (Glaser/Strauss 1998, S. 53). Die Datenerhebung zielt dabei auf ein emergierendes Konzept ab. Wird dieses in der Anfangsphase zunächst eher offen gestaltet, so wird im voranschreitenden Forschungsprozess zweckorientiert nach sozialen Kontexten gesucht, welche die Variation der entwickelten Kategorien und Dimensionen erlauben. Wesentlich ist daher das Auswählen von Vergleichsgruppen und das Ausloten von Ähnlichkeiten und Unterschieden (vgl. Corbin 2003, S. 71f.). „Ähnlichkeiten und Unterschiede verschiedener Vergleichsgruppen tragen dazu bei, die sozialstrukturellen Bedingungen der Anwendbarkeit der Theorie zu erkennen und fördern die Datenanalyse, da sich so verschiedene theoretische Kategorien ergeben, deren Bedeutung anhand der Gruppenvergleiche festgelegt werden“ (Lamnek 1995, S. 126).
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Das ‚theoretische Sampling’ der vorliegenden Arbeit gestaltete sich in zwei Schritten: Eine erste Variation der Vergleichsgruppen bzw. die Erhebung von Kontrastfälle erfolgte im Rahmen der Erhebungsphase. Eine weitere Auswahl der Fallbeispiele wurde in der späteren intensiven Analysephase getroffen. Zunächst soll auf die Erhebungsphase näher eingegangen werden. Das methodische Setting stellte eine Verschränkung von teilnehmender Beobachtung, Durchführung narrativer Interviews und gezieltem Sammeln von Kontextinformationen dar. Der Prozess der Datenerhebung hat sich also nicht nur auf die Durchführung der Interviews beschränkt, sondern wesentlich war das Partizipieren am Alltag auf Basis teilnehmender Beobachtung. Die Feldforschung wurde im Bundesstaat Oaxaca, vorwiegend jedoch in Chiapas durchgeführt. Besucht wurden in diesem Zusammenhang mehrere Comunidades, wobei der erste Feldaufenthalt in Oaxaca46 als Erprobungsphase für die Durchführung narrativ-biographischer Interviews konzipiert wurde. Die erhobenen Daten dienten ebenso als wichtiger Vergleichshorizont bei der Analyse der Daten. Weitere Forschungsaufenthalte konzentrierten sich auf das Hochland von Chiapas, wobei für die Forscherin sowohl die lebensweltlichen Rahmenbedingungen in der Stadt San Cristóbal als auch die ländlichen Regionen relevant waren. Dabei war es wichtig, Einblicke in die Alltagswelten zu erhalten, direkt an diesen zu partizipieren sowie wichtige Hinweise auf Differenzen in den sozialen Strukturen zu sichten. Die untersuchten sozialen Felder variierten u. a. in Bezug auf den Modernisierungs- und Marginalisierungsgrad, den Zugang zu Ressourcen und gesellschaftlichen Teilsystemen, Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit. Ebenso relevant war das Sichten von geschlechterspezifischen Räumen, Formen der Arbeitsteilung, Aspekten zwischen den Generationen, kommunalen Strukturen und damit in Verbindung stehenden sozialen Praxen. An dieser Stelle soll auch darauf hingewiesen werden, dass die Rahmenbedingungen für die konkrete Forschungsarbeit sehr unterschiedlich gestaltet waren. So war es nicht in allen untersuchten sozialen Kontexten möglich Interviews durchzuführen oder andere empirische Daten, wie etwa Fotomaterial, zu erheben47.
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Diese erste Feldforschungserfahrung war von erheblicher Bedeutung. Die Relevanzstrukturen in dem sozialen Gefüge erforderten ein hohes Maß an Flexibilität in der Anwendung der methodischen Instrumentarien und verhalfen mir in dieser Hinsicht mein Vorgehen zu reflektieren und zu modifizieren, was sich in der konkreten Situation als sehr erfolgreich erwiesen hat. Die ‚Offenheit’ der AkteurInnengruppe erlaubte es ‚tiefe’ Einblicke in das soziale Gefüge zu erlangen und lieferte wichtige Hinweise für das weitere Vorgehen. Das dort erhobene Datenmaterial zeigte sich zudem von hohem wissenschaftlichem Interesse, so dass eine separate Auswertung geplant ist. 47 Gerade in Regionen, wo die AkteurInnen vermehrt von Repressionen betroffen sind, ist das Misstrauen gegenüber ‚Fremden’ relativ hoch und die Frage der Anonymisierung eine besonders Wesentliche. Grundsätzlich müssen die Gemeinden ihr Einverständnis zu einer forschenden Tätigkeit geben.
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Die Beobachtungen wurden in Form von Feldberichten im Forschungstagebuch festgehalten, wobei die Teilhabe im sozialen Raum mit seinem hierarchischen Wirkungsgefüge48 als Einflussfaktor ebenso in den Blick gerückt wurde. Die Einblicke, die gewonnen werden konnten, waren so vielseitig und facettenreich, dass eine detaillierte Darstellung den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde. Diese waren jedoch für die Entwicklung der heuristischen Konzepte von entscheidender Bedeutung. Sie lieferten wichtige Anhaltspunkte bei der Analyse der biographischen Interviews, andere Aspekte hingegen konnten aufgrund der methodischen Anlage dieser Interviewform nicht ausreichend berücksichtigt49 werden. Besonders aufschlussreich waren irritierende Momente sowie ‚Fettnäpfchen’, in die ich während meiner Feldforschung getreten bin. Diese führten dazu, dass meine heuristischen Vorannahmen sowie Orientierungsschemata in Frage gestellt wurden und reflektiert werden mussten. Zudem erlaubten die intensiven Feldaufenthalte mit den sozialen Kontexten auf eine Weise in Kontakt zu kommen, welche die lebensweltlichen Rahmenbedingungen am eigenen Leib50 spürbar machten. Auf Basis des erhobenen Interviewmaterials wurden außerdem vor Ort gezielt Kontextinformationen gesammelt. In diesem Zusammenhang waren das Sichten interpretativer Räume sowie das Vertrautmachen mit spezifischen Sprachkodes wesentlich. Anhand der ersten gewonnenen Einblicke in das Interviewmaterial wurde in der Erhebungsphase nach weiteren Vergleichsgruppen bzw. Kontrastfällen gesucht.
48 Als ForscherIn ist man selbst immer Teil des hierarchischen Gefüges und steht nicht außerhalb dessen. Damit in Verbindung stehen Aspekte, wie die Zuschreibung des Status als ForscherIn, das Geschlecht, das Alter, aber auch die Hautfarbe. Meine Erfahrungen zeigten mir, dass es mir als Frau relativ leicht möglich war, an ‚typisch’ männlichen Räumen zu partizipieren. Die Position im sozialen Raum stellt ebenso einen Einflussfaktor in der Interviewsituation dar. Anhand der durchgeführten Interviews wurde zudem deutlich, dass eine geringere ‚Vertrautheit’ mit den sozialen Rahmenbedingungen angenommen wurde und dies zu detaillierten Erläuterungen bzw. Erzählungen führte. 49 In diesem Zusammenhang können z. B. Modernisierungsphänomene innerhalb der lebensweltlichen Rahmenbedingungen genannt werden. Aus forschender Sicht war es sehr interessant, wie gewisse Elemente in die Alltagsstrukturen eingebettet sind, in den sozialen Praxen sichtbar werden und wie sich diese im konkret physischen Raum darstellen. 50 Dies war für den Forschungsprozess insofern relevant, als es eine Sache darstellt, sich theoretisch mit Rahmenbedingungen der Marginalisierung, Militarisierung und Diskriminierung auseinander zusetzen und eine andere diese direkt zu erfahren. So war ich in einer Comunidad mit einer Situation konfrontiert, bei der die basale Grundversorgung, wie genügend Nahrung und sauberes Wasser, nur unzureichend vorhanden war. Eine Salmonelleninfektion veranschaulichte mir zudem, wie es sich anfühlt, sich ohne entsprechende medizinische Versorgung in einer ernsthaft bedrohlichen Situation zu befinden. Die angesprochene Comunidad war außerdem mit paramilitärischen Aktivitäten konfrontiert, welche sich in einer permanenten Bedrohung bemerkbar machte. Abgesehen von ‚pulgas’ und anderen ‚liebenswerten’ Begleiterscheinungen stellen m. E. Feldaufenthalte ein unabdingbares Element der Forschungserfahrung dar.
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Das entwickelte ‚theoretische Sampling’ bildete auch die Grundlage für die Auswahl der Vergleichsfälle in der Analysephase. Im Rahmen der Erhebungsphase wurden 12 narrativ-biographische Interviews durchgeführt. Zunächst wurde in einem ersten Schritt das gesamte empirische Material gesichtet. Wie bereits im Kapitel 3.4.1 verdeutlicht wurde, weisen nicht alle durchgeführten Interviews eindeutig ein biographisches Ich als Perspektive der Selbstthematisierung auf. Das forschungsleitende Interesse und das Kriterium des gewählten biographischen Analyseverfahrens waren daher für diese erste Auswahl ausschlaggebend. Bevor jedoch auf Aspekte der Auswahl näher eingegangen wird, soll die Übersetzung des Interviewmaterials und der Kodierprozess mit seiner stufenförmigen Entfaltung, dargestellt werden. Bei einer Übersetzung wird ein Text von einer Sprache in eine andere transformiert. Wesentlich ist, dass dieser Wandlungsprozess an einen differenzierten Verstehensvorgang gebunden ist, der von der übersetzenden Person geleistet werden muss. Dieser beruht zum einen auf bestimmten Regeln im Sinne eines professionellen Grades einer Übersetzung und zum anderen auf einem umfassenden lebenshermeneutischen Wissen, das für den Verstehenszusammenhang unabdingbar ist. Die übersetzende Person muss daher nicht nur die beiden Sprachen formal beherrschen, sondern zudem über besondere Kenntnisse der lebenspraktischen Bedeutungen der Sprache in den jeweiligen sozio-kulturellen Kontexten verfügen. Der Übersetzungsprozess ist nicht nur eine bloße Wandlung eines Textes nach formalen Kriterien, sondern stellt bereits eine erste Interpretationsebene dar. Das Augenmerk wird nicht nur auf einzelne Elemente gelegt, sondern diese werden unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhanges des sprachlichen Ausdrucks einer Person gefasst und in einer Weise wiedergegeben, der diesem möglichst nahe kommt. Dies bedeutet konkret, dass die individuelle Sprach- und Sprechpraxis von der konkret interviewten Person zu berücksichtigen ist und diese vor dem Hintergrund kollektiv geteilter sprachlicher Muster und Deutungsschemata interpretiert wird. Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, welche Kriterien der Übersetzung zugrunde gelegt wurden und welche Aspekte dabei besonders berücksichtigt wurden. Narrativ-biographische Interviews, wie bereits mehrmals hingewiesen wurde, stellen Dokumente dar, die auf einer Stegreiferzählung basieren. Diese sind durch Merkmale einer gesprochenen Sprache gekennzeichnet, wie u. a. durch unvollständige Sätze oder nicht zu Ende gesprochene Worte, durch Wiederholungen und Sprechpausen. Neben dem Charakteristikum einer gesprochenen Sprache, war es sehr wichtig den Umstand zu berücksichtigen, dass die Interviews nicht in der Muttersprache51 durchgeführt wurden. In diesem Zusammen51 In dem gegebenen Zeitraum war es mir nicht möglich die sprachlichen Kompetenzen zu erwerben, die für die Durchführung und Analyse muttersprachlicher Interviews notwendig gewesen wären.
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hang fungierte die Auseinandersetzung mit kognitiven Ordnungsprinzipien der ‚indigenen’ Sprachen in dem konkret untersuchten sozialen Kontext als wichtige Basis im Übersetzungs- und Analyseprozess. Die Forscherin orientierte sich an der Annahme, dass der Gebrauch einer ‚Fremdsprache’ durch Strukturierungsschemata der Muttersprache beeinflusst wird. Daher wurde im Besonderen auf Abweichungen zu dem Sprachgebrauch der ansässigen spanischsprachigen Bevölkerung geachtet, um diese in der Übersetzung entsprechend zu berücksichtigen, und um auf damit in Verbindung stehende mögliche Bedeutungsveränderungen52 aufmerksam zu werden. Die Kriterien wurden vor dem Hintergrund des forschungsleitenden Interesses und auf Basis des herausgebildeten ‚sensibilisierenden Konzeptes’ definiert. Im Übersetzungsprozess wurde eine möglichst genaue, sinngemäße und keine ‚schöne’ Übersetzung angestrebt, wobei der Charakter des Erzählflusses erhalten bleiben sollte. Ebenso wesentlich war es, den individuellen Erzählstil der konkret interviewten Person zu fassen. Die Übersetzungsarbeit stellt eine sehr zeitintensive und aufwendige Arbeit dar. Die aufgenommenen Interviews wurden zuerst in spanischer Sprache transkribiert und in einem nächsten Schritt übersetzt. Für die vorliegende Arbeit wurde eine zweisprachige Darstellungsweise gewählt, um das empirische Material für die nichtspanischsprachige Leserschaft zugänglich zu machen, und um die Übersetzung nachvollziehbar zu gestalten. Der Analyseprozess selbst erfolgte jedoch vordergründig anhand des spanischsprachigen Textes. Wie anhand des ‚theoretischen Samplings’ verdeutlicht werden sollte, beginnt der Kodierprozess bereits bei der Erhebungsphase – Datenerhebung und Auswertung werden demnach nicht strikt voneinander getrennt. Der Kodierprozess wird zunächst anhand der unterschiedlichen Kodierebenen, wie sie Glaser und Strauss formuliert haben, beschrieben. Anschließend folgt die Darstellung der konkreten Vorgehensweise bei der Analyse der narrativ-biographischen Interviews. In der Phase des ‚offenen Kodierens’ wird in Form einer detaillierten ‚Lineby-line’ Analyse das Datenmaterial in einer abduktiven Haltung verkodiert. Die wesentlichen Gedanken und Überlegungen werden laufend in Memos festgehalten. Wie bereits hingewiesen wurde, ist die theoretische Sensibilität für das Sichten relevanter Kategorien wie Hypothesen entscheidend. Wesentlich ist, dass es nicht zu einer bloßen inhaltlichen Verdoppelung der Daten kommt, sondern dass diese ‚aufgebrochen’ werden, um neue Dimensionen zu entdecken. Von beson52
In diesem Zusammenhang mussten im Übersetzungsprozess viele Entscheidungen in Bezug auf die Relevanz eines abweichenden Sprachgebrauchs getroffen werden, wie u. a., ob dieser ‚bloß’ auf eine mangelnde Sprachbeherrschung zurückzuführen ist (z. B. bei dem Gebrauch eines formal nicht ‚richtigen’ Artikels) oder aber, ob dieser auf mögliche andere Gründe schließen lässt, die mit den muttersprachlichen Strukturprinzipien in einem Zusammenhang zu sehen sind. Ebenso wurden von InterviewpartnerInnen Begriffe gebraucht, die Sprachkreationen darstellen, welche in der Formalsprache in dieser Form nicht vorhanden sind.
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derer Bedeutung sind z. B. im Datenmaterial enthaltene ‚in vivo Kodes’ sowie die Entdeckung von relevanten theoretisch konstruierten Verdichtungen. Das systematische Vergleichen aller erhobenen Daten begleitet den gesamten Prozess. Allmählich entsteht ein Beziehungsgeflecht innerhalb der gebildeten Kategorien. In der Phase des ‚axialen Kodierens’ werden die empirisch relevanten Kategorien geordnet und um eine theoretische Achse gruppiert (vgl. Kelle 1994). Die gesichteten Merkmale und Eigenschaften der Kategorien werden systematisch auf Ähnlichkeiten und Unterschiede untersucht und gruppiert. Dabei entstehen höhere, abstraktere Konzepte und Kategorien, die in einer benennbaren Beziehung zueinander stehen. Bedeutsam ist, dass die Theoriegenerierung darauf abzielt „(...) möglichst verschiedene Kategorien zu entwickeln und diese auf möglichst vielen Niveaus zu synthetisieren. Eine solche Synthese verknüpft die Daten mit den Kategorien und Eigenschaften der verschiedenen Abstraktionsund Generalisierungsniveaus“ (Glaser/Strauss 1998, S. 47). Bei dem letzten Schritt, dem ‚selektiven Kodieren’ richtet sich der Blick auf die Schlüsselkategorie, welche auf Basis der Kernkategorien abstrahiert wird. Die Schlüsselkategorie beschreibt dabei die ‚breitere Bedeutung’ des untersuchten Phänomens und zielt auf eine theoretische Erklärung ab. Das Beziehungsnetz der entwickelten Kategorien und Eigenschaften wird auf eine Weise gefasst, die theoretisch und inhaltlich konsistent ist. Der Kodierprozess gilt dann als abgeschlossen, wenn aus den Daten keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind und von einer theoretischen Sättigung ausgegangen werden kann (vgl. Wiedemann 1991, S. 441). Das gesamte aufgenommene Interviewmaterial wurde transkribiert, übersetzt und in einem ersten Schritt textstrukturell analysiert. Bei der formalen Textanalyse werden Strukturelemente herausgefiltert und das Interview segmentiert sowie die darin enthaltenen Textsorten anhand der Kategorien – Erzählung, Beschreibung und Argumentation – näher bestimmt (vgl. Dausien 1996, S. 127). Die Ergebnisse dieser ersten Analyse wurden, wie es sich in dieser Phase als brauchbar erwiesen hat, in einem Verlaufsprotokoll festgehalten und zudem biographische Portraits zu den einzelnen Fallbeispielen erstellt. Diese dienten ebenso als Orientierung für das Interpretieren der Interviews in der Forschungsgruppe. Zunächst wurde das erste ausgewählte Interview anhand der line-by-line Analyse offen verkodiert. Parallel dazu wurde von der Forscherin auf Basis der entwickelten theoretischen Überlegungen und vor dem Hintergrund der Fragestellung die weitere Auswahl von Fallbeispielen getroffen. Kriterien dafür war die bereits erwähnte Perspektive der Selbstthematisierung sowie die darin enthaltene Ich-Wir-Balance, die Variation von Merkmalen der Herkunftsmilieus und die Unterschiedlichkeit der entwickelten Strategien und Handlungskonzepte im Umgang mit den sozialen Rahmenbedingungen. Die Auswahl der Vergleichsgruppen erfolgte nach dem Prinzip des permanenten
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Vergleichs – es wurde gezielt nach Fällen im Sinne von Minimal- bzw. Maximalvergleichen gesucht. Für die weitere Analyse in der Gruppe wurden Kernpassagen ausgewählt, wobei von der Forscherin selbst das gesamte Interviewmaterial verkodiert wurde. Diese Vorgehensweise stellt eine abduktionslogische gezielte Auswertung des Interviewmaterials dar (vgl. Dausien 1996, S. 128). Im Analyseprozess wurde das erhobene Kontextwissen, die Feldforschungsdaten miteinbezogen bzw. führten auftauchende Fragen zu erneuten Erhebungen. Der letzte Feldaufenthalt war in diesem Rahmen für die Rückbindung der Kategorien und Hypothesen ebenso wesentlich. Dabei wurden die entwickelten Lesarten und theoretischen Überlegungen noch einmal mit WissenschaftlerInnen sowie mit unterschiedlichen AkteurInnen des gewählten sozialen Feldes diskutiert. Die strukturelle Beschreibung der drei ausgewählten Fallbeispiele wird in der vorliegenden Arbeit anhand von Kernpassagen dargestellt, da der Umfang des Datenmaterials diese Vorgehensweise erforderte. Der Analyseprozess wurde von der Forscherin in unterschiedlichen Settings, wie u. a. in der bereits genannten Forschungsgruppe, angelegt. Die beschriebene Vorgehensweise erscheint gerade beim Generieren möglichst unterschiedlicher Lesarten, beim Aufbrechen eines Textes, und im Rahmen des komplexen Kodierverfahrens, beim Entdecken empirisch relevanter Kategorien, besonders bedeutsam. Die Forschungsgruppe FG-BIO verfügt über eine mehrjährige Erfahrung und über gemeinsam erworbenes theoretisches sowie methodologisches Wissen im Umgang mit narrativbiographischen Interviews, wobei sich ein eigener Interpretationsstil herausgebildet hat. Der Interviewtext wird in der Gruppe Zeile für Zeile gelesen und interpretiert. Wie bereits hingewiesen wurde, geht es dabei nicht um eine inhaltliche Verdoppelung, sondern die Daten werden auf eine theoretische und konzeptuelle Ebene gebracht. Auftauchende Erzähllinien werden identifiziert, erzählte Zustandsänderungen und Ereignisverkettungen analysiert. Wesentliche Instrumentarien, wie die von Fritz Schütze formulierten kognitiven Figuren, die Prozeßstrukturen des Lebenslaufes oder die Zugzwänge des Erzählens, wurden im Kapitel 3.4.2 ausführlich beschrieben. Als weitere Analysetechnik kann das ‚Dimensionalisieren’ und das ‚Kontextualisieren’ genannt werden. Beim Dimensionalisieren werden bestimmte Begriffe oder Satzteile aus dem Kontext gelöst und in einen anderen Bedeutungszusammenhang gestellt, beim Kontextualisieren wird der Fokus auf die Dramaturgie einer Erzählung gelegt, um die dahinterliegenden Konzepte zu abstrahieren. Die biographische Erfahrungsaufschichtung und die Gesamtstruktur des Lebenslaufes wird sukzessive herausgearbeitet und anhand abstrakter Konzepte gefasst (vgl. Egger 2006b). Auf Basis der rekonstruierten Subjektperspektiven und den darin enthaltenen narrativen und alltagstheoretischen Konstrukten wurde als nächster Schritt ein Hypothesenkonzept formuliert, das die theoretischen Überlegungen in die-
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sem Stadium für das weitere Vorgehen zu fassen suchte und als Grundlage für die weitere fallübergreifende komparative Analyse diente. Dabei war es wichtig, die gefundenen empirisch relevanten Kategorien und deren Eigenschaften vergleichend zu ordnen und diese mit geeigneten theoretischen Überlegungen in Beziehung zu setzen. Das Hypothesenkonzept zielte darauf ab, zentrale Vergleichsdimensionen zu formulieren, die sich für die weitere Abstraktion der Fallbeispiele als geeignet erwiesen. Ein weiteres Anliegen war es, die herausgearbeiteten biographischen Entwürfe in einem parallel laufenden Prozess mit Merkmalen moderner Lebenskonstruktionen vergleichend zu untersuchen. Diese Vorgehensweise wurde im Analyseprozess und auf Basis der entwickelten Kategorien konzipiert. Das Finden geeigneter theoretischer Bezüge stellte insofern eine Herausforderung dar, da diese als Bestandteil des dominanten Wissensprofils eine Orientierungsfolie aufweisen, die primär in einer Subjekt-Objekt Spaltung gründet bzw. die Vorstellung eines individualisierten autonomen Ichs zum Ausgangspunkt nimmt. Das konkret erhobene Datenmaterial und dessen Figuriertheit konnte mit dieser Art der Theoriekonzeption nicht hinreichend gefasst werden und daher mussten die theoretischen Bezüge in Auseinandersetzung mit den Daten noch einmal überdacht werden. Auf die drei zentralen Vergleichsdimensionen, die ‚Perspektive der Selbstthematisierung’, das ‚Bedingungsgefüge des biographischen Gewordenseins’ und ‚soziale Praxen autonomer Bestrebungen’, wird im Kapitel 6.1 detailliert eingegangen. Diese stellen verdichtete theoretische Dimensionen dar, anhand derer die analytische Abstraktion der einzelnen Fallbeispiele erfolgte. Auf Basis der strukturellen Beschreibungen, die sich auf der Einzelfallebene bereits im Stadium des axialen Kodierens befunden haben, wurden bei dieser Phase auf der vergleichenden Ebene abstraktere Konzepte herausgearbeitet, die bereits im Wesentlichen die strukturellen Bestandteile der angestrebten empirisch fundierten Theorie beinhalten. Bevor in einem letzten Schritt die den Handlungskonzepten zugrunde gelegten objektiv möglichen Sinnfiguren abstrahiert wurden, erwies es sich als relevant, einen weiteren Vergleichsfall heranzuziehen. Dieser nimmt jedoch aufgrund divergenter lebensweltlicher Rahmenbedingungen nicht denselben Stellenwert ein. Die weitere Vorgehensweise wird im Kapitel 7 ausführlich beschrieben, daher wird an dieser Stelle nur kurz darauf eingegangen. Auf Basis des gesamten empirischen Materials wurden übergreifende Sichtweisen formuliert, die im speziellen Muster darstellen, welche Auskunft über Haltungs- und Handlungskonfigurationen sozialer AkteurInnen in dem untersuchten sozialen Feld geben. Die abstrahierten Modelle objektiv möglicher Sinnfiguren weisen dabei über den konkret situierten Handlungssinn hinaus und suchen diese in Form von Typologien in einem allgemeineren Verstehenshorizont und Bedeu-
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Methodologischer Rahmen
tungszusammenhang zu fassen. Die herausgearbeiteten subjektiven Erfahrungsaufbauten spiegeln diese insofern wider, indem sie perspektivengebundene Deutungsmuster darstellen, welche auf diese verweisen. Insgesamt stellt die Verkodierung der Daten einen komplexen Prozess dar, bei dem sukzessive in einer abduktiven Suchbewegung die Daten permanent verglichen, abstrahiert und auf ihr Beziehungsgeflecht hin weiter analysiert werden. Die stufenweise Abstraktion der empirisch relevanten Kategorien und deren Eigenschaften sowie deren Synthese führen dazu, dass sich diese oft auf einem unterschiedlichen Generalisierungs- wie Abstraktionsniveau befinden. Sehr wesentlich ist es daher, die Gewichtung auf bestimmte Aspekte vor dem Hintergrund des forschungsleitenden Fokus zu legen, wobei die Daten selbst und die daraus gewonnenen Erkenntnisse das interpretationslogische Vorgehen anleiten.
‚Salir adelante como indígena’ – biographisches Portrait Alberto
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5 Analyse des biographischen Raumes
Im folgenden Kapitel werden exemplarisch drei Fallbeispiele dargestellt. Die Auswahl der Lebensgeschichten erfolgte dabei auf Basis des ‚theoretischen samplings’ und vor dem Hintergrund des forchungsleitenden Interesses. Die Einzelfälle stehen in einem kontrastierenden Verhältnis zueinander und unterscheiden sich durch die herausgebildete Ich-Wir-Balance des biographischen Ichs, durch die Merkmale und Eigenschaften der Herkunftsmilieus und durch die Handlungskonzepte, welche in Auseinandersetzung mit den kontextuellen Rahmenbedingungen entwickelt wurden. In der Darstellung wird zunächst auf die Interviewsituation der einzelnen Fallbeispiele eingegangen und dann soll eine biographische Kurzbeschreibung einen ersten Überblick geben. Die Interviews wurden auf Spanisch durchgeführt, wobei die Muttersprache aller InterviewpartnerInnen Tzotzil ist. Dieser Aspekt wurde sowohl bei der Übersetzung als auch bei der Analyse besonders berücksichtigt. Die formale Sprachbeherrschung divergiert bei den einzelnen Interviews. Von den ErzählerInnen werden zum Teil Begriffe und Formulierungen verwendet, die nicht den orthographischen Richtlinien entsprechen bzw. von diesen abweichen. 5.1 ‚Salir adelante como indígena’ – biographisches Portrait Alberto 5.1.1 Anmerkungen zum Interview mit Alberto Die Kontaktaufnahme mit dem Gesprächspartner erfolgte über eine Österreicherin, die seit 12 Jahren in San Cristóbal lebt. Aus Gründen des Datenschutzes können keine näheren Angaben zu der Art der Beziehung zwischen der Kontaktperson, ihrer Familie und der konkret interviewten Person genannt werden. Die Kriterien für die Auswahl des Akteurs beziehen sich auf seine ethnische Selbstzuschreibung als ‚Indígena’, auf seine unmittelbare Lebenssituation und auf soziale Praxen, welche Hinweise auf das Vorhandensein aktiver Handlungsschemata lieferten. Diese wurden in einem Vorgespräch mit der Kontaktperson informell erkundet und die forschende Absicht mit dem Interviewpartner abgeklärt. Das Interview wurde in dem Haus, in der Küche der Kontaktperson durchgeführt. Der Raum bot dabei eine angenehme Atmosphäre und ermöglichte einen störungsfreien Verlauf des Interviews. Alberto lebt mit seiner Frau in der Nähe von San Cristóbal. Der aktuelle Anlass seines Aufenthaltes in der Stadt war die
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Analyse des biographischen Raumes
schwere Erkrankung seiner einen Monat alten Tochter, die er ins Spital nach San Cristóbal gebracht hatte. Trotz dieser Umstände erklärte sich der Interviewpartner bereit das Interview an diesem Tag durchzuführen, wobei es sich aus der Sicht der Forscherin nicht unbedingt um einen optimalen Zeitpunkt handelte und eine Verschiebung des Interviews vorgeschlagen wurde. Diese konkreten Rahmenbedingungen wirkten sich jedoch rückblickend betrachtet nicht negativ auf die Interviewsituation aus, sondern wurden vom Biographieträger als Anlass aufgegriffen, die marginalisierte Lebensumstände auch in Bezug auf Erkrankungen zu thematisieren. Vor dem Beginn des Interviews wurde ein Gespräch geführt, das den Ablauf mit seinem narrativen Charakter klärte und dem Interviewpartner die Möglichkeit bot, Auskunft über die forschende Absicht und den Umgang mit dem Datenmaterial zu erhalten. Die Frage der Anonymisierung wurde von Alberto weit weniger wichtig genommen, als von der Forscherin erwartet wurde. Dennoch wurden der Name und andere Daten, welche bedenkliche Informationen enthalten könnten, anonymisiert, da dies nach Einschätzung der Autorin aus politischen Gründen erforderlich erschien. Der Interviewpartner erklärte sich einverstanden, das gesamte Interview auf einen Minidiskrecorder aufzunehmen. Die Eingangsfrage wurde als Erzählaufforderung vom Biographieträger unmittelbar ratifiziert und dieser konnte ohne Probleme in die Erzählung seiner Lebensgeschichte ‚einsteigen’. Die von der Interviewerin gesetzten Signale des aktiven Zuhörens erwiesen sich als erfolgreich und so konnte die gesamte Haupterzählung ohne Unterbrechung durchgeführt werden. Eine weitere erzählgenerierende Frage, die anstelle einer gezielten Nachfragephase gesetzt wurde, führte dazu, dass Alberto erneut den Erzählfaden aufgriff und mir ausführliche Hintergrundinformationen zu seinen kontextuellen Rahmenbedingungen lieferte. Diese Interviewnachphase beinhaltet weit mehr argumentierende und beschreibende Textelemente als der vorangegangene Teil. Das gezielte Nachfragen hätte rückblickend betrachtet nicht dieselbe Ergiebigkeit geschaffen, wie diese vom Interviewpartner selbst gewählte Form des Erzählens. Das Interview dauerte etwa 1 Stunde, wobei von der Forscherin, nachdem Alberto signalisierte seine Erzählung zu beenden, keine weiteren Fragen gestellt wurden. Grund dafür war die Kenntnis darüber, dass der Interviewpartner anschließend wieder das Spital und seine Tochter aufsuchen wollte und ich deswegen seine Zeit nicht länger beanspruchen wollte. Ein paar Monate später erfuhr ich, dass seine Tochter aufgrund einer erneuten Erkrankung verstorben ist. Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal im Besonderen bei Alberto bedanken, dass er mir seine Lebensgeschichte erzählt und mir seine Zeit in dieser für ihn sehr schwierigen Situation zur Verfügung gestellt hat.
‚Salir adelante como indígena’ – biographisches Portrait Alberto
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5.1.2 Biographische Kurzbeschreibung Alberto Alberto ist zum Zeitpunkt des Interviews 32 Jahre alt. Er bezeichnet sich selbst als Indígena, wobei er gleich zu Beginn des Interviews darauf verweist 100 % Tzotzil zu sein. Tzotzil bezeichnet zum einen seine Muttersprache und zum anderen trifft er damit eine Unterscheidung innerhalb der ethnischen Zuschreibung ‚Indígena’. Neben seiner Muttersprache spricht Alberto ebenso Spanisch. Aufgewachsen ist er in einem kleinen Dorf in der Nähe von San Cristóbal de las Casas in Chiapas in Mexiko. Die lebensweltlichen Rahmenbedingungen der Comunidad53 bezeichnet er als sehr marginalisiert. Diese Situation wird von ihm anhand des Fehlens von einer ausreichenden Trinkwasserversorgung und einer medizinischen Betreuung näher thematisiert. Als einen weiteren Aspekt der Marginalisierung benennt der Interviewpartner die Ausgrenzung ‚indigener’ AkteurInnengruppen durch die mexikanische Regierung bzw. die erschwerte Teilhabe an gesellschaftlichen Funktionssystemen durch den Mangel an finanziellen Ressourcen. Alberto betont im Interviewverlauf die Möglichkeit die Primarschule zu besuchen, welche ihm seine Eltern eröffneten. Wie er erzählt, muss er diese jedoch im vierten Jahr aufgrund „der Notwendigkeit zu essen“ (1/21) abbrechen und gemeinsam mit seinem Vater arbeiten gehen. Mit 16 Jahren besucht der Interviewpartner verschiedene Ausbildungskurse über Gemüseanbau, wobei er in diesem Zusammenhang das Einverständnis des Vaters als wichtige Voraussetzung hervorhebt. Die Motivation sich weiter zu bilden wird in Form einer Notwendigkeit begründet, die von Alberto anhand der Erosion ‚traditioneller’ Einkommensmöglichkeiten näher detailliert wird. Der Erwerb von Wissen dient dazu, Erwerbsmöglichkeiten für sich und in weiterer Folge für die AkteurInnengruppe, der er sich zugehörig fühlt, zu eröffnen. Mit der Zustimmung seines Vaters, der ihn aus der Verantwortung gegenüber der Familie und der Dorfgemeinschaft entlässt, zieht der Biographieträger von seinem Heimatdorf weg. Er übernimmt im weiteren Verlauf die Koordination von in verschiedenen Gemeinden tätigen Organisationen. Der Interviewpartner geht jedoch nicht näher darauf ein, um welche Organisationen es sich handelt. Es wird allerdings anhand seiner Erzählung deutlich, dass diese als Plattform für den Austausch und die Mobilisierung ‚indigener’ Bevölkerungsgruppen fungiert. In diesem Zusammenhang verweist er auf einen ‚Widerstand mit dem Strom’, den er als eine politische Aktivität bezeichnet. Einen weiteren Aspekt bilden Fortbildungskurse, die Alberto in unterschiedlichen Comunidades anbietet. Die Verbesserung der Situation in den ‚indigenen’ Comunidades wird vom Akteur als zentrales Anliegen innerhalb seines Lebensentwurfes ausgewiesen. Vor diesem Hintergrund gibt er 53
Dorf, Gemeinde, Gemeinschaft
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Analyse des biographischen Raumes
seine erworbenen Kenntnisse an Jüngere weiter. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt Alberto seit einem Jahr mit seiner Lebensgefährtin zusammen. Wie er erzählt, hatte die Gründung einer Familie zunächst eine untergeordnete Rolle in seinem Lebensentwurf. Ein aktuelles Problem stellte für ihn die schwere Erkrankung seiner Tochter dar, die nach San Cristóbal gebracht werden musste, um ärztlich versorgt zu werden. 5.1.3 Strukturelle Beschreibung Alberto Aufgrund des Datenumfangs erfolgt die strukturelle Beschreibung des Fallbeispiels in Form von ausgewählten Kernpassagen. Darüber hinaus erschien es wesentlich, die ausgewählten Interviewpassagen in einer zweisprachigen Darstellungsform zu präsentieren (siehe Kapitel 4.3). Der Name des Akteurs wurde von der Forscherin anonymisiert. Der Interviewpartner beginnt seine Erzählung mit folgenden Worten: Eingangssegment (Segment 1, 1/3-6) B: „bueno (...) este bienvenida yo soy Alberto (..) Pérez Gómez (.) yo soy indígena (..) cien por ciento tzotzil hablo mi (.) mi lengua (..) tzotzil yo nací en una comunidad que se llama Corralitos (..) una comunidad que es muy marginada (...) no tiene agua (...) solo es agua del tanque no sé allí nací” B: „gut (...) dies willkommen ich bin Alberto (..) Pérez Gómez (.) ich bin Indígena (..) 100 % Tzotzil ich spreche meine (.) meine Sprache (..) Tzotzil ich bin in einer Comunidad geboren die Corralitos heißt (..) eine Comunidad die sehr marginalisiert ist (...) sie hat kein Wasser (...) es gibt nur Wasser aus dem Tank ich weiß nicht dort wurde ich geboren“ (1/4-8)
Mit den Worten „bueno“ signalisiert der Interviewpartner die Erzählaufforderung ratifiziert zu haben. Die nächsten Worte richtet er an die Interviewerin, indem er sie willkommen heißt. Dieser aus der Sicht der Forscherin etwas ungewöhnlicher Beginn im Eingangssegment ist im alltäglichen Sprachgebrauch des Biographieträgers eine Geste, die der ‚üblichen’ höflichen Umgangsform mit anderen GesprächspartnernInnen entspricht. Alberto nennt seinen Vor- und Nachnamen, mit denen er sich als Person einführt. Die weitere Selbstthematisierung des Biographieträgers erfolgt anhand einer kulturell-ethnischen und einer sozial-geographischen Kategorie. Alberto bezeichnet sich gleich zu Beginn als ‚Indígena’. Die Herstellung einer ethnischen Zugehörigkeit nimmt damit einen zentralen Stellenwert in der autobiographischen Darstellung ein. Dies wird durch
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die Formulierung „cien por ciento tzotzil“ noch unterstrichen. Damit trifft der Interviewpartner eine Unterscheidung innerhalb der ethnischen Gruppe Indígena und weist darauf hin, seine „lengua“ <Sprache> Tzotzil zu sprechen. Wesentlich dabei erscheint, dass Alberto Tzotzil als lengua54 bezeichnet. Dies verweist auf ein Selbstverständnis der eigenen Sprache, das sich von Zuschreibungen wie Dialekt abgrenzt. Die Verknüpfung von Sprache und ethnischer Zugehörigkeit kann als eine über Zuschreibungsprozesse internalisierte Fremdkonstruktion gedeutet werden (siehe Kapitel 2.1). In weiterer Hinsicht lässt die Formulierung vermuten, dass ihr eine Vorstellung von Rasse zugrunde liegt, welche durch ‚Rein-Indígena-Sein’ bzw. ‚Nicht-rein-Indígena-Sein’ charakterisiert ist. Ethnische ‚Herkunft’ wird innerhalb dieser Orientierungsfolie von Generation zu Generation vererbt und mittels ‚Abstammung’ begründet. Diese Darstellungsform verdeutlicht einen im gesellschaftlichen Kontext angelegten interpretativen Raum, innerhalb dessen ethnische Zuschreibung verstärkt determiniert wird. ‚Indígena-Sein’ beinhaltet in dieser Beschreibung zudem etwas Besonderes, etwas, auf das der Biographieträger gleich zu Beginn hinweist. Der Interviewpartner setzt fort, indem er seinen Geburtsort als „una comunidad“ näher benennt – eine Comunidad, die sehr marginalisiert ist. Neben der geographischen Verortung des Geburtsortes, die der Interviewpartner vornimmt und die darauf verweist, dass er nicht in einer Stadt geboren wurde, fügt er noch eine für ihn wesentliche Eigenschaft hinzu – die er mit „marginada“ markiert. Wenden wir uns zunächst dem Begriff „marginada“ zu, so bieten sich vorerst folgende Übersetzungsmöglichkeiten an: <marginalisiert, exkludiert bzw. diskriminiert> ‚excluido’ und ‚aíslado’. Die Bedeutungszuschreibung, die der Interviewpartner anbietet, charakterisiert die Comunidad als einen Ort, wo es nur Wasser aus einem Tank gibt, wo notwendige Güter für die Grundbedürfnisse nicht einfach vorhanden sind, sondern im Alltag organisiert und ‚herangeschafft’ werden müssen. Darüber hinaus beschreibt „marginada“ anhand dieser Darstellung einen Zustand, der sich von anderen unterscheidet und dem der Blickwinkel eines Defizits zugrunde gelegt wird. Als soziale Kategorie kann dieser Begriff als Ausdruck sozialer wie ökonomischer Isolation bzw. Ungleichheit beschrieben werden. Damit in einem engen Zusammenhang stehen Interdependenzunterbrechungen sowie gesellschaftliche Differenzlinien, die typisch ungleiche Lebensbedingungen für die 54
Auf Basis der Erkundung und Sichtung kontextspezifischer Relevanzstrukturen können folgende Unterscheidungen formuliert werden: ‚idioma, lengua bzw. dialecto’ werden im Wesentlichen als Bezeichnungen für die unterschiedlichen ‚indigenen’ Sprachen’ in Chiapas verwendet. ‚idioma’ ist dabei mit der Bedeutungszuschreibung einer ‚anerkannten’ Sprache verbunden. ‚lengua’ umschreibt mehr eine gesprochene Sprache und ‚dialecto’ steht für ein Derivat ‚indigener’ Sprachen im Allgemeinen. Die Bezeichnung Dialekt ist jedoch im Alltagsdiskurs mit einer diskriminierenden Haltung verbunden.
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AkteurInnengruppen in dem konkreten sozialen Kontext erzeugen. Mit der Verortung als ‚Indígena’ stellt der Biographieträger zum einen seine ethnische Zugehörigkeit her, zum anderen geht diese mit der Positionierung im sozialen Raum und dessen Wirkungsgefüge einher. In welcher Hinsicht und mit welchen Konsequenzen beschreibt der Interviewpartner im weiteren Interviewverlauf. Alberto nimmt immer wieder Bezug auf unterschiedliche lebensweltliche Bedingungen, die er miteinander vergleichend in Beziehung setzt. ‚das Erlernen als Indígenas’ (Segment 2, 1/ 6-26) B: „ (.) estuve desde que era yo chiquito entonces mis padres viven todavía (....) y bién gracias a ellos que (.) me dieron este facilidad de estudiar (..) y yo desde chiquito fui a la primaria (...) entonces este (..) yo este estuve estudiando y (..) pues lo que lo miro (…) porque quiero más estudiar es que me gustó leer esto de estudiar la primaria (..) si (...) pero más después en la escuela vi que hay una necesidad por el pueblo (...) por las comunidades marginadas que no hay capacidad (...) para negociar alguna cosa y entonces es muy importante (..) este la aprendizaje como indígena entonces yo (..) aprendí a estudiar (...) pero desgraciadamente yo no pude terminar mi primaria (...) sino que por una necesidad que no mi papá no tiene suficiente dinero para que yo estudie entonces dejé en el cuarto año (...) salía a trabajar y con mi Papá si por la necesidad de (..) comer y (..) entonces hay muchos necesidades cuando es una zona este (.) comunidades porque allí no hay este (..) salubridad no hay este supermercados no es igual a una ciudad es una comunidad y tenemos que caminar (.) de Corralitos de aquí en San Cristóbal tenemos que caminar cinco kilómetros (..) puro caminar no (.) sí (..) entonces (.) en eso (.) tuve que salir en la escuela (..) y tuve que trabajar duro para conseguir el dinero para pues este tener la suficiencia como (.) no es mucho para que hagamos una casa no sino sólo para substener55 di azúcar jabón y todo para los servicios de (..) sí” B: „ (.) ich war (dort) seit ich klein war dann meine Eltern leben noch (....) und gut danke an Sie dass (.) sie mir diese Möglichkeit (Leichtigkeit) gegeben haben zu studieren (..) und seit ich klein war bin ich in die Primaria gegangen (...) dann dies (..) ich habe studiert und (..) dann das was ich sehe (...) warum ich mehr lernen möchte es ist so dass es mir gefallen hat zu lesen dies Lernen in der Primaria (..) ja (...) aber viel später in der Schule habe ich gesehen dass es eine Notwendigkeit gibt für das Volk (...) für die marginalisierten Comunidades wo es die Fähigkeit nicht gibt (...) um irgendeine Sache zu verhandeln und deshalb ist es sehr wichtig (..) dies das (Er-)lernen als Indígenas dann ich (..) habe gelernt zu studieren (...) aber leider konnte ich meine Primaria nicht beenden (...) sondern wegen einer Notwendigkeit dass mein Papá nicht nicht genug Geld hat damit ich studiere dann habe ich im 55
Das Wort „substener“ gibt es im Spanischen nicht. Die Zusammensetzung des Wortes (‚sub – tener’/) lässt jedoch darauf schließen, dass der Erzähler zum Ausdruck bringen wollte, dass sich das Haben nur auf das Notwendigste bezieht.
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vierten Jahr aufgehört (...) ich bin arbeiten gegangen und mit meinem Papá ja wegen der Notwendigkeit zu (..) essen und (..) dann es gibt viele Notwendigkeiten wenn es eine Zone ist (wie) diese (.) Comunidades weil dort gibt es dieses (..) Gesundheitswesen nicht es gibt diese Supermärkte nicht es ist nicht gleich wie in einer Stadt es ist eine Comunidad und wir müssen zu Fuß gehen (.) von Corralitos bis hier nach San Cristóbal müssen wir 5 km zu Fuß gehen (..) pures Gehen nicht (.) ja (.) dann (.) deshalb (.) musste ich die Schule verlassen (..) und ich musste hart arbeiten um das Geld zu bekommen für also dies um das Notwendigste (Ausreichend) zu haben wie (.) es ist nicht genug (viel) damit wir ein Haus bauen nein sondern nur um das Notwendigste zu haben wie Zucker Seife und alles für die Dienste der (..) ja“ (1/8-29)
Drei unterschiedliche Ebenen, die miteinander in Beziehung stehen bzw. ineinander verwoben sind, können in dieser Sequenz formuliert werden:
die persönliche Geschichte, der Bildungsverlauf bzw. die -verhinderung und das familiäre Umfeld des Biographieträgers die lebensweltliche Beschreibung von sozialen Rahmenbedingungen, welche für den Biographieträger relevant sind und die mit anderen lebensweltlichen Bedingungen vergleichend in Beziehung gesetzt werden die Ebene des Kollektivs ‚Indígena’, die mit dem Begriff „pueblo“ markiert wird und auf welcher der Biographieträger Auskunft über Handlungsstrategien gibt
Zu Beginn erwähnt der Interviewpartner, dass er, seit er klein war, in dieser Comunidad gewesen ist. Damit verweist er auf das Alter in der Ereignisabfolge. Der Biographieträger beginnt nach der Selbsteinführung bei seiner Kindheit, allerdings ohne diese als solche zu benennen56. Der Interviewpartner nimmt weder in diesem Segment noch im weiteren Interviewverlauf eine Bewertung dieser vor. Im weiteren Verlauf verweist Alberto darauf, dass seine Eltern noch leben und er bedankt sich bei Ihnen, dass sie ihm diese Leichtigkeit gegeben haben zu studieren: „(....) y bién gracias a ellos que (.) me dieron este facilidad de estudiar“. ‚Die Möglichkeit zu studieren’ stellt der Interviewpartner in diesem Zusammenhang als etwas Besonderes, nicht Selbstverständliches dar. Der Schulbesuch wird einerseits von ihm in einem engen Bezug zu den Eltern gesetzt und andererseits in einem wesentlich Maße an ökonomische Rahmenbedingungen57 gebunden. Mit dem Akt des Bedankens bringt der Biographieträger einen 56
Die Kindheit als Phase zu begreifen, die als solche gekennzeichnet wird, konnte nur in einem Teil der durchgeführten Interviews lokalisiert werden. Auf Basis des gesamten Interviewmaterials zeigte sich, dass der Besuch einer Primarschule variiert und von der Einstellung der Eltern bzw. des sozialen Umfeldes sowie von ökonomischen Rahmenbedingungen stark beeinflusst wird. Grundsätzlich gibt es jedoch die Schulpflicht in Mexiko. 57
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gewissen Respekt58 zum Ausdruck, den er seinen Eltern entgegenbringt. Gleichzeitig wird darin eine Situation sichtbar, welche das Abhängigkeitsverhältnis eines Kindes zu seinen Eltern in der Frage, ob es in den Genuss von Bildung kommt oder nicht, verdeutlicht. In Verbindung mit der Schule hebt der Interviewpartner besonders hervor, dass ihm das Lesen und das Lernen gefallen hat: „que me gustó leer esto de estudiar la primaria“. Diese Feststellung wird mit den Worten „pues lo que lo miro (…) porque quiero más estudiar es“ eingeleitet. Alberto verdeutlicht seine Bildungsbestrebung ‚mehr lernen zu wollen’. Der Kode ‚was ich sehe’ beinhaltet einen Perspektivenwechsel, den der Erzähler immer wieder in der Erfahrungsrekapitulation vornimmt. Zunächst bezieht sich ‚das Sehen’ auf die persönliche Motivation des Erzählers, wird jedoch in weitere Folge über den persönlichen Horizont hinausgeführt, was an dieser Stelle über ‚das Lernen’ initiiert zu sein scheint. „pero más después en la escuela vi que“ entwirft eine zeitliche Perspektive, die als Erfahrungs- und Erkenntnisprozess verstanden werden kann. Der Perspektivenwechsel von der persönlichen Geschichte zu einer Art Außenperspektive beschreibt eine Position, die der Biographieträger einnimmt, von der aus er „el pueblo“ sieht und beobachtet. Aus diesem Blickwinkel benennt Alberto ‚Notwendigkeiten für sein Volk’. Der Raum, welchen der Interviewpartner in dieser Hinsicht konstruiert, setzt drei Aspekte miteinander in Beziehung:
die Situation der Marginalisierung in den Comunidades die Notwendigkeit des ‚Sich-Befähigens’, um sozialen Ungleichstellungen entgegen zu wirken das (Er)Lernen als Indígenas als ethnisch kodierte Handlungsstrategie
Der Begriff Notwendigkeiten wird durch die beiden anderen Aspekte näher konkretisiert und erfordert einen gewissen Blick von außen, der vom Interviewpartner mit dem Kode ‚ich sehe’ eingeleitet wird. Die Fähigkeit des Verhandelns irgendeiner Sache wird an dieser Stelle nicht detailliert. Die Darstellung legt jedoch die Vermutung nahe, dass es neben den sozialen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft vor allem um die Kontakte der Gemeinschaft nach außen geht, wie z. B. die Rechte der Gemeinschaft nach außen hin zu vertreten oder etwa den
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Im Umgang mit der älteren Generation wird auch der Begriff ‚los mayores’ gebraucht. Damit kommt zum Ausdruck, dass der älteren Generation ein gewisser Respekt entgegengebracht wird, der sich von einer Bezeichnung, wie z. B. ‚die Alten’ abhebt.
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Verkaufspreis für landwirtschaftliche Produkte zu verhandeln59. Das (Er)Lernen wird als eine Art Handlungsstrategie dargestellt, die durch den Zusatz ‚als Indígenas’ kollektiv ausgerichtet und an eine ethnische Zugehörigkeit gebunden wird. Im weiteren Interviewverlauf geht der Erzähler noch näher darauf ein. Alberto setzt mit der Schilderung seiner persönlichen Geschichte fort. Er spricht davon, gelernt zu haben zu studieren60: „entonces yo (..) aprendí a estudiar“. Damit benennt der Biographieträger das Aneignen von Fähigkeiten im Zusammenhang mit formalen Bildungsprozessen auf der individuellen Ebene. Individuelle Lern- und Bildungsprozesse fungieren im biographischen Konzept als Ressource, die Alberto weniger als individuelle, sondern vielmehr als ‚kollektive’ Kapitalsorte begreift, die er mit den AkteurInnen seines sozialen Nahraums teilt. Durch den Umstand die Schule verlassen zu müssen, wird die Verwobenheit der persönlichen Geschichte mit den sozialen Rahmenbedingungen, in die der Biographieträger hineingeboren wurde, verdeutlicht. Diese führen zunächst zu einer Bildungsverhinderung. Als relevante Gründe werden ökonomische Bedingungen genannt, die mit den Worten ‚arbeiten gehen zu müssen, wegen der Notwendigkeit zu Essen’ markiert werden. Auch an dieser Stelle sieht sich der Erzähler veranlasst den Begriff ‚Notwendigkeit’ weiter zu detaillieren. Er beschreibt in einer allgemein gehaltenen Betrachtungsweise Rahmenbedingungen61 marginalisierter Comunidades und stellt diese der Situation in einer Stadt vergleichend gegenüber: „allí no hay este (..) salubridad no hay este supermercados no es igual a una ciudad es una comunidad y tenemos que caminar“ <dort gibt es dieses (..) Gesundheitswesen nicht es gibt diese Supermärkte nicht es ist nicht gleich wie in einer Stadt es ist eine Comunidad und wir müssen zu Fuß gehen>. Geld wird als etwas ausgewiesen, das eine wesentliche Rolle spielt, um Güter für Grundbedürfnisse zu erwerben. Die existenziellen Notwendigkeiten führen zunächst zu einer Verhinderung von formalen Bildungsmöglichkeiten. In diesem Segment findet sich die Verschränkung von persönlich erlebtem Leben, das in Form einer Ich-Geschichte des Interviewpartners sichtbar wird, von lebensweltlichen Rahmenbedingungen, die vom Biographieträger mit „marginada“ markiert werden und von Handlungsstrategien des Biographieträgers, 59 Da die Mehrheit der Angehörigen der Dominanzgesellschaft keine ‚indigenen’ Sprachen spricht, ist es für die ‚Indígenas’ u. a. sehr wesentlich Spanisch zu lernen, um bei einem Handel nicht benachteiligt zu sein. 60 „Estudiar“ wurde mit <studieren> übersetzt, meint jedoch im Wesentlichen das schulische Lernen im Unterschied zu „aprender“, das stärker nicht-formale Lern- und Bildungsprozesse beschreibt. 61 An dieser Stelle wird auf den Aspekt der Interaktion zwischen Interviewerin und Interviewtem hingewiesen. Die Kenntnisse über relevante lebensweltliche Rahmenbedingungen werden vom Interviewten nicht vorausgesetzt, sondern der Interviewerin explizit erläutert. Zudem stellt die ‚marginalisierte Situation’ eine Wirklichkeit dar, die tendenziell von der Mehrheit der Dominanzgesellschaft negiert wird.
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die auf das Kollektiv – als dessen Teil er sich erfährt – ausgerichtet werden. Der Interviewpartner wählt dabei eine Art Außenperspektive, die ihm einen reflexiven Blick ermöglicht. Diese Form des Verwobenseins individueller sowie kollektiver Lebensgeschichte stellt ein dominantes Erzählschema des Biographieträgers dar. Der Interviewpartner setzt seine Erzählung im nachfolgenden Segment fort: „después que ya tuve este 18 no 16 años entonces mi papá ya me dejó libre“ (1/26-27) <später als ich schon 18 nein 16 Jahre alt war dann hat mein Papá mich schon frei gelassen (1/30-31)>. Wesentlich dabei erscheint, dass der Erzähler Lebenspassagen bzw. Statuspassagen mit Ankündigungen einleitet, welche die Haltung seines Vaters beschreiben. Hier zeigt sich wiederum die enge Beziehung zum Elternhaus, auch wenn an dieser Stelle explizit der Vater genannt wird. Er wird aus der Verantwortung gegenüber dem nahen sozialen Umfeld ‚entlassen’. Dem ‚Entbunden-Werden’ aus sozialen Verpflichtungen kommt im biographischen Verlauf eine zentrale Bedeutung zu. Für den Biographieträger eröffnet sich die Möglichkeit, seinen Lebensentwurf abseits von normativen Erwartungsstrukturen zu gestalten. Alberto beginnt einen Ausbildungskurs über organischen Gemüseanbau, den er gratis besuchen kann. In dieser Hinsicht verweist er noch einmal auf die Wichtigkeit des Lernens in den Comunidades, um die Fähigkeit zu erwerben eine Sache zu verhandeln, und um die Situation in den Comunidades zu verbessern. In der nächsten Sequenz beschreibt der Biographieträger lebensweltliche Rahmenbedingungen, die mit der Motivation sich formale Bildung anzueignen in einem engen Zusammenhang zu sehen sind. Erosion der Handlungsumwelt (Segment 3, 1/34-35, 2/1-8) „ por eso nosotros yo pensé que mejor me metí a capacitarme (..) para que yo salga mas adelante (..) sí porque allá lo único que estamos haciendo allá es tala de madera tala de los árboles pero para mí (..) lo miro que no es suficiente para mí si yo para adelante pues mi vida no es suficiente para que yo tale madera y vendo madera porque la madera es (..) se acaba (.) entonces tuve que capacitarme para tener otro trabajo (..) si (.) entonces (..) recibí capacitaciones que (.) en las organizaciones que dieron gratis porque las capacitaciones que dan aquí en San Cristóbal cuestan muy caro entonces allí aproveche y aprendí un poco sobre la agricultura la hortaliza orgánica (.) alli aprendí me han enseñado desde que era yo 17 años (..) si (.)” „deshalb wir ich dachte es ist besser dass ich mich angemeldet habe mich weiter auszubilden (..) damit ich weiter vorwärts komme (..) ja weil dort das Einzige was wir dort machen ist das Holz zu fällen die Bäume zu fällen aber für mich (.) ich sehe dass es nicht genug ist für mich damit ich in meinem Leben vorwärts komme ist es nicht genug dass ich das Holz fälle und das Holz verkaufe weil das Holz ist (..) geht zu Ende (.) dann musste ich mich weiterbilden um eine andere Arbeit zu bekommen
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(..) ja (.) dann (..) habe ich eine Ausbildung erhalten (.) in den Organisationen die Ausbildungen gratis gegeben haben weil die Ausbildungen die sie hier in San Cristóbal anbieten kosten sehr viel dann dort habe ich das genutzt und ich habe ein bisschen über die Agrikultur gelernt (über) organischen Gemüseanbau (..) dort habe ich gelernt haben sie mich unterrichtet62 seit ich 17 Jahre alt war (..) ja (.)“ (2/4-15)
Die vom Interviewpartner dargestellten Bildungsstrategien verweisen auf eine Form des Umgangs mit den sozialen Rahmenbedingungen, in die Alberto eingebettet ist. „para que yo salga mas adelante” erscheint in diesem Zusammenhang als zentrale intentionale Haltung, die zunächst auf der persönlichen Ebene formuliert wird. Anhand der Darstellung der ‚traditionellen’ Tätigkeit – Bäume zu fällen – veranschaulicht der Erzähler die Erosion jener Handlungsumwelt, die mit Erwerbstätigkeit verbunden ist und in weiterer Folge das Überleben des Einzelnen sowie der Gemeinschaft gefährdet. Die Betrachtung – ‚dass es nicht genug ist das Holz zu schneiden, weil es zu Ende geht’ – erfordert vom Interviewpartner einen Blick in die Zukunft, der ebenso durch das Vorwärtskommen illustriert wird. Formale Bildung erscheint in seiner Erfahrungsrekapitulation als Bestrebung das Überleben zu sichern und Möglichkeiten einer anderen Erwerbstätigkeit zu eröffnen. Die verfolgten Bildungsstrategien können einerseits als Antwort auf die Erosion der Handlungsumwelt begriffen werden, andererseits geht es um das Erwerben von Fähigkeiten im Umgang mit dem, was sich außerhalb der Comunidad ereignet. Das Aneignen von Wissen kann als wichtiger Aspekt betrachtet werden, mehr Handlungsspielraum im Wirkungsgefüge des sozialen Raumes zu erlangen. Alberto versteht es, das Bildungsangebot zu nutzen, das in der nahe gelegenen Stadt San Cristóbal gratis angeboten wird. Inwieweit der Blick des Biographieträgers über die ‚indígene’ Gemeinschaft hinausgeht, soll anhand der folgenden Sequenz verdeutlicht werden. ‚warum wir arm sind’ (Segment 4a, 2/8-18) „ (.) y entonces (.) allí me di cuenta que (.) me falta mucho para que yo salga adelante en ese (..) entonces mi papá me dió facilidad que yo salga (...) y después me entre que hacer que este responsable de una coordinación con las organizaciónes y entonces allí (.) me gustaría mucho para ayudar a la gente pobre (...) sí da de cono62 Auf Basis der analytischen Auseinandersetzung mit den Sprachen Tojolabal und Tzotzil wurde dieser spezifische Kode von der Forscherin als ‚typische’ Ausdrucksform einer interaktiven Ebene identifiziert. Die Handlungen zweier Subjekte, in diesem Fall – das Subjekt, das lernt und das Subjekt, das unterrichtet – werden auf einer horizontalen partizipativen Ebene dargestellt. Durch diese sprachliche Darstellungsweise wird ein interaktiver Handlungszusammenhang zum Ausdruck gebracht, der die Ebene zweier aktiv handelnder Subjekte stärker in das Zentrum rückt (siehe Kapitel 3.2).
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Analyse des biographischen Raumes cer las ideas (...) porque estamos pobre (...) sí (.) entonces ya allí lo compartí con mis amigos porque estamos pobre porque nos falta (.) este (.) el estudios no es igual que aquí en San Cristóbal tienen que terminar sus carreras (...) a veces llegan de la secundaria (.) a veces llegan a preparatoria (..) a veces algunos allí los que ya pueden tener más trabajo pero nosotros no podemos llegar por falta de dinero que no podemos alcanzar (..)“ „(.) und dann (.) dort habe ich bemerkt dass (.) mir noch viel fehlt um vorwärts zu kommen in diesem (...) dann hat mir mein Papá die Leichtigkeit (Möglichkeit) gegeben dass ich weggehe (...) und danach habe ich begonnen die Verantwortung einer Koordination mit den Organisationen zu übernehmen und dann dort (.) es würde mir sehr gefallen den armen Leuten zu helfen (..) ja sie die Ideen wissen zu lassen (...) warum wir arm sind (...) ja (.) dann schon dort habe ich mit meinen Freunden geteilt (besprochen) warum wir arm sind weil uns fehlt (.) dieses (.) das Lernen es ist nicht gleich wie hier in San Cristóbal sie müssen ihre Laufbahn beenden (...) manchmal erreichen sie die Secundaria (.) manchmal erreichen sie die Preparatoria (...) manchmal Einige dort die die schon mehr Arbeit haben können aber wir können das nicht erreichen (nicht ankommen) weil uns das Geld fehlt deshalb können wir nichts erreichen“ (2/15-27)
Eingeleitet wird diese Sequenz, indem der Interviewpartner darauf verweist, dass ihm noch viel fehlt, um vorwärts zu kommen. Dies kann als Bestrebung nach mehr Autonomie für das Subjekt und – vor dem Hintergrund des biographischen Orientierungsschemas – für das Volk gedeutet werden. Darin enthalten ist eine Defizitperspektive, die im Subjekt verankert wird. Der Vater wird vom Biographieträger erneut eingeführt, um die Möglichkeit zu verdeutlichen, von der Gemeinschaft weggehen zu können, um eigene Vorstellungen zu verfolgen. Alberto benennt die Übernahme der Verantwortung einer Koordination von Organisationen als Statuspassagenwechsel in seinem Lebensentwurf. Der Biographieträger beschreibt sich als jemanden, dessen Blick sich aus der Gemeinschaft, aus dem unmittelbaren sozialen Nahraum hinaus bewegt und der in diesem Rahmen Handlungsstrategien entwirft. Vor diesem Hintergrund formuliert der Erzähler: „sí da de conocer las ideas (...) porque estamos pobre“ <ja sie die Ideen wissen zu lassen (...) warum wir arm sind>. Die Betrachtung ‚Arm-zu-Sein’ beinhaltet innerhalb dualer Begrifflichkeit die Vorstellung oder das Vorhandensein von ‚Reich-Sein’. Eine Idee beschreibt in diesem Zusammenhang das Produkt eines Erkenntnisprozesses. Unter dem Blickwinkel der vorangegangenen Sequenzen, geht es um die Analyse ‚indigener’ Marginalisierung, die an dieser Stelle mit ‚Arm-Sein’ markiert wird. Der Biographieträger beschreibt eine Idee als etwas, das er mit anderen Personen teilt und das in Form von Wissen weitergegeben werden kann. Im weiteren Erzählfluss weist der Interviewpartner auf die Situation in der Stadt San Cristóbal hin. Das ‚Sie’ als soziale Einheit wird dabei nicht
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näher benannt und in Form einer homogenen Gruppe dargestellt. Dieser Einschub macht eine Orientierung an ‚Normalbiographien’ von AkteurInnen sichtbar, die in San Cristóbal leben und fungiert demnach als normative Folie in Bezug auf Bildungsverläufe und Entwicklungschancen. Der Blick der Analyse des Biographieträgers richtet sich auf das Fehlen von ökonomischem Kapital, das zu Bildungsverhinderung führt, Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit erschwert und den Handlungsspielraum der Betroffenen stark einschränkt. Zudem beschreibt die Darstellung die Eingebundenheit der AkteurInnen in das Wirkungsgefüge des sozialen Raumes. Der Interviewpartner setzt seine Erzählung fort: ‚meine Gedanken ändern um weiterzukommen’ (Segment 4b, 2/18-32) „entonces allí (.) entonces tengo que entrar en (.) en otro para que podríamos salir adelante (.) sí (..) entonces (.) yo pensé allí que porque lo miro mi casa (.) no hay suficiente para trabajar o para autosuficiente (.) entonces este (.) yo lo (.) veo allí entonces si mas adelante (..) no voy a tener más trabajo (.) sino tengo capacidad para que yo me sustenga (..) entonces a los 24 años (.) tuve que recibir otro curso (..) para otra vez agrocologia (sic. agricultura) (.) cómo cambiar el sistema de (..) del químico lo que es el químico 20 años tuve yo allí entonces tuve que cambiar mi idea y mis pensamientos para salir adelante (..) al futuro (..) sí (.) entonces allí tuve que pasar otra vez a un curso de capacitación que me dieron (.) y entonces allí (.) me facilitó mas (.) para conocer la técnica del campo (..) y cómo (.) este (.) sobre eso (..) que yo pensé (..) no pensé nada de familia porque primero quiero (.) esté trabajar primero (...) en esa de los 20 años no tuve mi esposa nada (..) tuve que capacitarme más (..) porque no tengo dinero para que yo (.) pagué un asesor técnico sino que por favor de así gratuita aproveche porque lo miro mi (.) lo veo lo observo a mi pueblo que no tienen capacidad para trabajar (...)” „dann dort (.) dann muss ich hineingehen in (...) in etwas Anderes damit wir vorwärts kommen könnten (.) ja (..) dann (.) ich habe gedacht dort dass weil ich mein Haus sehe (.) es gibt nicht genug zu arbeiten oder um uns selbst zu erhalten (.) dann dieses (.) das (.) sehe ich dort dann ja weiter vorwärts (..) werde ich keine Arbeit mehr haben (.) wenn ich nicht die Fähigkeit habe mich selbst zu ernähren (..) dann mit 24 Jahren (.) musste ich wieder einen Kurs bekommen (..) noch einmal über Agrikultur (.) wie man das System der (..) der Chemie ändert was die Chemie ist 20 Jahre hatte ich dort dann musste ich meine Idee und meine Gedanken ändern um weiter zu kommen (...) in die Zukunft (..) ja (.) dann dort musste ich noch einen Ausbildungskurs besuchen den sie mir gegeben haben (.) und dann dort (.) es hat mir sehr geholfen (.) um die Technik des Anbaus kennen zu lernen (..) und wie (.) dies (.) über dies (..) was ich gedacht habe (..) ich habe überhaupt nicht an eine Familie gedacht weil zuerst will ich (.) dieses zuerst arbeiten (..) deshalb mit 20 Jahren hatte ich meine Frau nicht nichts (..) ich musste mich weiterbilden (...) weil ich kein Geld habe damit ich (.) einen Landwirtschaftslehrer bezahlen (konnte) sondern mit dieser
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Analyse des biographischen Raumes Hilfe der Gratiskurse die ich nutzte weil ich schaue mein (.) ich sehe ich beobachte mein Volk das keine Ausbildung hat um zu arbeiten (...)“ (2/27-35, 3/1-8)
Der Biographieträger beschreibt einen Wandlungsprozess der explizit angestrebt wird und durch eine aktive Haltung des Subjekts gekennzeichnet ist. Der Veränderungsprozess wird zunächst auf der persönlichen Ebene formuliert, intendiert jedoch in weiterer Folge das Vorwärtskommen des Kollektivs. Die Art der Formulierung verdeutlicht einen Lern- bzw. Bildungsprozess des Subjekts, der über eine bloße Aneignung von Wissen hinaus geht. Inwieweit das Selbst- und Weltverhältnis dadurch transformiert wird, kann anhand dieser Stelle nicht fundiert werden, wobei die Wortwahl ‚hineingehen in etwas anderes’ darauf hinweist. Der angestrebte Wandlungsprozess wird als etwas dargestellt, das durch die intentionale Haltung ‚vorwärts zu kommen’ bedingt ist. Der Erzähler betont in diesem Zusammenhang den Aspekt ‚sich selbst zu ernähren’, der in Frage gestellt ist. Die Situation erfordert Handlungsbedarf und wird im Fall des Interviewpartners über formale sowie nicht-formale Lern- und Bildungsstrategien biographisch bewältigt. In einem engen Zusammenhang mit dem Erwerb von Wissen stellt der Biographieträger die Fähigkeit eines Subjekts, die Herausforderungen in dem jeweiligen Kontext zu bearbeiten und entsprechende Handlungsstrategien zu entwickeln. An dieser Stelle wird auf das aktive Handlungsschema des Biographieträgers verwiesen. Der unmittelbare soziale Kontext, aber auch die Subjektebene selbst, wird als gestaltbar erfahren und ist auf ein Mehr an Autonomie gerichtet. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist das ‚Aufbrechen’ des gebundenen Anteils der Lebenskonstruktion. Der ‚Loslösungsprozess’ von der Familie bzw. von der Dorfgemeinschaft scheint dabei durch den Gender Aspekt begünstigt zu werden. Da es vordergründig um die Versorgung von Grundbedürfnissen geht, wird zudem auf die Dimension einer Überlebensstrategie hingewiesen. Alberto besucht einen weiteren Ausbildungskurs im Rahmen dessen er in Kontakt mit Wissen außerhalb seines Sinnhorizontes kommt. Der Wandlungsprozess wird dieses Mal auf der gedanklichen Ebene formuliert und als etwas Notwendiges dargestellt, um in die Zukunft voran zu kommen. Wie anhand der Schilderung über seine Frau deutlich wird, hat in seinem Lebensentwurf Weiterbildung und Erwerbstätigkeit zunächst Priorität. Der Interviewpartner schließt diese Sequenz mit den Worten: „lo miro mi (.) lo veo lo observo a mi pueblo“. . Diese Formulierung beschreibt wiederum die Haltung, welche der Interviewpartner gegenüber seinem Volk einnimmt. Die Konstruktion einer Außenperspektive eröffnet dem Biographieträger einen Blick auf die AkteurInnengruppe und den gemeinsam geteilten Erfahrungsraum. Innerhalb dieser Konstruktion ist es dem
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Akteur möglich sowohl als Subjekt als auch als Teil der AkteurInnengruppe zu agieren. die Arbeit in den Comunidades (Segment 5, 3/3-32) „(..) sí entonces allí cambié mi vida y pues mejor entonces voy a aprovechar esto (..) entonces allí aprendí en eso de los 20 años que tuve que después ya (.) pasamos otro que eso ya mejoré mi trabajo allá ya me entonces entré (.) de trabajar que con las gentes de diferentes comunidades diferentes municipios (..) hay unos que sí fortaleció el trabajo hay unos que no le gustan (..) sí pero allí no (.) no lo dejamos si no que (.) para mí me gustaría que yo informara que aprendiera todo como yo (.) para que (.) yo me gustaría en las zonas indígenas marginadas como aquí el Gobierno Mexicano no lo ayuda a los indígenas que se fortalezca que se capazite para mejorar su vida con la familia (...) entonces, (.) ese es mi (.) mi intención (.) hasta ahorita que yo quiero (.) asesorar mas jóvenes mas este (.) este (.) que los jóvenes ya no que vengan así que no conozcan trabajo ni un trabajo sino que (.) pero lo conozcan el trabajo que lo conozcan la experiencia del campo de la casa de la familia (..) entonces allí vamos a (.) entrar un poco (..) de trabajo allí va a haber un poco este autosuficiente para la casa (.) si (..)” „(..) ja dann dort habe ich mein Leben verändert und später verbessert dann werde ich dies nutzen (..) dann habe ich das dort gelernt mit den 20 Jahren die ich hatte und danach (.) haben wir schon einen anderen besucht der dies ich habe meine Arbeit schon verbessert dort habe ich begonnen (.) zu arbeiten mit Leuten aus verschiedenen Comunidades verschiedenen Municipios (..) es gibt welche ja die die Arbeit gestärkt haben Andere denen das nicht gefällt (..) ja aber dort nicht (.) hören wir nicht auf sondern (.) für mich mir würde es gefallen dass ich sie informiere und sie alles lernen so wie ich (.) damit (.) es würde mir gefallen in den indigenen marginalen Zonen wie hier die mexikanische Regierung hilft den Indígenas nicht dass sie sich stärken sich ausbilden um ihr Leben mit der Familie zu verbessern (...) dann (.) dies ist meine (.) meine Absicht (.) bis jetzt was ich will (.) (ist) Jüngere zu beraten mehr dies (.) dies (.) dass die Jungen nicht mehr so kommen dass sie keine Arbeit kennen nicht eine einzige Arbeit sondern dass (.) aber dass sie die Arbeit kennen dass sie die Erfahrung vom Feld kennen im Haus in der Familie (..) dann dort werden wir (.) ein bisschen beginnen (..) Arbeit (zu haben) dort wird es ein bisschen diese Selbständigkeit für das Haus geben (.) ja (..)“ (3/16-35, 4/1-11)
Der Interviewpartner leitet das Segment ein, indem er darauf verweist, dass er sein Leben zunächst verändert und dann verbessert hat. Damit nimmt Alberto eine Bilanzierung seiner Weiterbildungsaktivitäten vor, die er als Prozess darstellt und die von ihm positiv bewertet werden. Veränderung wird in seiner Formulierung nicht mit einer Verbesserung gleichgesetzt. Die persönliche Geschichte bzw. Erfahrung fungiert als Ressource, welche der Biographieträger in einem
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nächsten Schritt an andere weitergibt. Der Erzähler veranschaulicht seine Arbeit in unterschiedlichen Comunidades bzw. Municipios und legt dieser seine intentionale Haltung zugrunde. Er beschreibt einen Empowerment-Prozess, der auf eine ‚Selbständigkeit für das Haus’ gerichtet ist. Die EreignisträgerInnen werden dabei differenziert dargestellt: „hay unos que sí fortaleció el trabajo hay unos que no le gustan“ <es gibt welche ja die die Arbeit gestärkt haben Andere denen das nicht gefällt>. Das Bildungsangebot, das Alberto im Rahmen seiner Tätigkeit zur Verfügung stellt, wird unterschiedlich aufgenommen. Dieser Aspekt wird in der vergleichenden Analyse noch näher beleuchtet werden. Der Interviewpartner verweist darauf, an diesem Punkt nicht aufzuhören. Angeeignetes Wissen kann in Form von Information weitergegeben werden, um das angestrebte Ziel ‚die Selbständigkeit für das Haus’ zu erreichen. In dieser Metapher enthalten ist ‚das Haus’ als Symbol für eine soziale Einheit, das mit der Idee von Unabhängigkeit verschränkt wird. Diese kann durch die Befähigung der Mitglieder der Gemeinschaft, als Träger dieser sozialen Einheit, erreicht werden. Der Erfahrungsprozess des Biographieträgers fungiert in diesem Rahmen quasi als Modell, um die eigene Situation zu verbessern. Wesentlich erscheint zudem, dass der Veränderungsprozess durch Angehörige der AkteurInnengruppe initiiert wird, also eine Form des ‚Sich-selbst-Befähigens’ darstellt. Die mexikanische Regierung erscheint in diesem Zusammenhang als ‚passiver’ Ereignisträger, welcher die ‚indigenen Zonen’ nicht unterstützt und ist somit Bestandteil der Auseinandersetzung, die der Erzähler vornimmt. Wie der Gebrauch der Begriffe ‚Comunidad’, ‚Municipio’, aber auch ‚Jüngere’ bzw. ‚Haus’ verdeutlicht, werden EreignisträgerInnen vom Biographieträger anhand von Gemeinschaften oder Gruppenzugehörigkeiten dargestellt. Diese Formulierungen veranschaulichen eine stärkere Orientierung an Gemeinschaften, als an individuellen Subjekten. ‚mein Problem jetzt’ (Segment 6, 3/32-35, 4/1-10) „ahora ya de los (...) 32 años entonces yo ahorita ya tengo una esposa (.) sí (..) es joven todavía pero yo como soy mayor (..) tengo que enseñar la capacidad de la casa (...) en la cocina y todo porque yo yo tengo capacidad sobre eso entonces aquí este (..) estamos viviendo todavía un año (.) si pero mi problema ahorita esta muy fuerte las enfermedades que hay en este lugar (...) que es la tosferina y ahorita por esto estoy aquí porque tengo un bebe de un mes que esta enferma (..) sí (.) esta enferma esta hospitalizada ahorita (..) sí ahorita la dejé allá pero como los doctores no permiten entrar por esto ahorita estoy aquí (..) tuve la noche ayer llegué las 3 de la tarde por eso aquí estoy (..) sí (.) pero entonces lo miro que hay que tener capacidad con las enfermedades (...) y este también cómo curar las enfermedades si no tenemos (capa) por eso como le dije el principio aprender a aprender todas las cosas
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(..) ya tenemos la capacidad cómo enfrentar rápidamente las enfermedades (..) como indígenas“ „jetzt bin ich schon (...) 32 Jahre dann jetzt ja habe ich schon eine Frau (.) ja (..) sie ist noch jung aber weil ich schon älter bin (..) muss ich ihr die Arbeit (Fähigkeit) im Haus zeigen (...) in der Küche und alles weil ich ich habe Erfahrung (Fähigkeit) darin dann hier dies (..) wir leben seit 1 Jahr zusammen (.) ja aber mein Problem jetzt ist sehr stark die Krankheiten die es in diesem Ort gibt (...) das ist der Keuchhusten und jetzt deshalb bin ich hier weil ich ein Baby mit einem Monat habe das krank ist (..) ja (.) sie ist krank sie ist im Spital jetzt (..) ja jetzt hab ich sie dort gelassen aber weil uns die Ärzte nicht erlauben rein zu gehen deshalb bin ich jetzt hier (..) ich hatte in der Nacht gestern bin ich um 3 Uhr nachmittags angekommen deshalb bin ich hier (..) ja (.) aber dann sehe ich dass es gibt dass man Kenntnisse (Fähigkeit) über die Krankheiten hat (...) und dies auch wie man die Krankheiten heilen kann was wir nicht haben deshalb wie ich Ihnen am Anfang gesagt habe lernen und lernen alle die Dinge (..) dann haben wir schon die Fähigkeit den Krankheiten schnell entgegenzutreten (..) als Indígenas“ (4/11-24)
Der Interviewpartner ist in seiner Erfahrungsrekapitulation bei der Jetzt-Zeit angelangt. Er benennt sein Alter und führt seine Frau als Ereignisträgerin ein. Die Begriffe ‚jung’ und ‚alt’ deuten auf eine Dynamik innerhalb des relationalen Beziehungsraumes hin, bei der das Alter mit der Bedeutungszuschreibung Erfahrung versehen wird, die an Jüngere weitergegeben werden kann. Inwieweit dadurch eine Hierarchie – in diesem Fall zwischen Mann und Frau – verbunden ist, kann anhand dieser Passage nicht fundiert werden. Die Familie stellt im Interviewverlauf kein zentrales Thema dar, wird jedoch in dieser Sequenz vor dem Hintergrund eines aktuellen Problems thematisiert. Die Krankheit des einen Monat alten Babys ist der Grund, warum Alberto und seine Frau in die Stadt San Cristóbal gekommen sind. Der Interviewpartner verweist darauf, seine Tochter im Spital gelassen zu haben, weil ihn die Ärzte nicht reingelassen haben. Die hohe Kindersterblichkeitsrate in dieser Region verdeutlicht, wie gefährlich Erkrankungen gerade für Kleinkinder sein können. Das Kind von Alberto stirbt einen Monat später. Auch in dieser Sequenz wird die Verwobenheit von persönlicher Geschichte und dem ‚politischen Auftrag’, dem sich der Akteur verpflichtet fühlt, sichtbar. Der Biographieträger wechselt in seinem Erzählfaden von der persönlichen Geschichte auf eine allgemeinere Perspektive. Dabei veranschaulicht er eine Lernstrategie, welche intendiert, sich als Indígena zu befähigen, um Krankheiten entgegenzutreten. Die Kenntnisse über Krankheiten werden als etwas verortet, das sich außerhalb des eigenen Sinnkontexts befindet. Die Aneignung dieses Wissens und dessen Nutzung wird auch an dieser Stelle an die ethnische Zugehörigkeit gebunden. Das Vorwärtskommen als Kollektiv stellt
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eine zentrale Orientierungsfolie für den Lebensentwurf des Interviewpartners dar. Die nun folgenden ausgewählten Sequenzen sind Teil der Nachfragephase, die von der Interviewerin weniger durch eine konkrete, sondern vielmehr durch eine erzählgenerierende Frage initiiert wurde. Der Biographieträger nimmt in diesem zweiten Teil des Interviews Stellung zu aktuellen Strategien, die von der AkteurInnengruppe, der er sich zugehörig fühlt, in einer mehr oder weniger organisierten Form verfolgt werden. Dabei ist die persönliche Geschichte sowohl Ausgangsbasis als auch Anlass zu einer neuerlichen Erfahrungsrekapitulation. Beide Teile können auch insofern nicht voneinander getrennt werden, da die im Lebensentwurf enthaltene Orientierung an der Gemeinschaft wesentlicher Bestandteil des Selbst- und Weltverhältnisses des Biographieträgers ist. ‚das Notwendigste ist schon ein bisschen näher gekommen’ (5/1-8) B: „bueno la situación en la comunidad que como tu pregunta es (...) es muy importante tambien (.) sacar adelante de que sean capaces de hacerlo (.) nombrarlo (.) la situación que allá hay comunidades que todavía falta (...) de (.) urgencias médicas (..) y también hay antes (.) hay mucha pobreza en eso falta atención médica falta agua tenemos que traer en kilómetros el agua ahorita grácias por el estudio por la capacidad (..) ya hay depósitos de agua (.) entonces en eso favoreció (.) a las mujeres (..) porque a ella en un lugar llega la tubería y pues allí lo agarran el agua (.) un poco ya se cercó la necesidad“ B: „gut die Situation in der Comunidad wie deine Frage ist (...) es ist auch sehr wichtig (.) weiterzukommen sie sind dazu fähig es zu machen (.) es zu benennen (.) die Situation die dort ist es gibt noch immer Comunidades (...) wo (.) Ärztestellen fehlen (..) und auch früher gibt (gab) es (.) gibt es viel Armut darin es fehlt ärztliche Betreuung es fehlt Wasser wir müssen das Wasser kilometerweit tragen jetzt dank der Studien der Kenntnisse (..) gibt es schon Wasserbecken (..) dann das hat sich sehr positiv ausgewirkt (.) für die Frauen (..) weil für sie an einem Ort kommen die Wasserrohre und von dort nehmen sie das Wasser (.) ein bisschen ist das Notwendigste schon näher gekommen“ (5/17-25)
Der Erzähler greift die Frage nach der Situation in seiner Comunidad auf. Zunächst wird das Weiterkommen noch einmal thematisiert. Auffällig ist erneut die zeitweilig eingenommene Position, bei der sich der Biographieträger als außenstehend darstellt und die durch die Formulierung ‚sie’ sichtbar wird. ‚Dazu fähig zu sein weiterzukommen, es zu machen’ beschreibt ein Potenzial, das als vorhanden beschrieben wird und über ein ‚Sich-Befähigen’ der AkteurInnen wirksam werden kann. In weiterer Folge spricht Alberto davon, es – die Situation (Annahme der Forscherin) – zu benennen. Das Benennen kann als eine Fähigkeit
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verstanden werden, die Situation in der man sich befindet zu bezeichnen, ihr einen Namen zu geben. Wesentlicher Teil dieses Benennens ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen sozialen Kontext, der mit anderen in Beziehung gesetzt wird. Die AkteurInnen sind von einer relativ hohen gesellschaftlichen Ausgrenzung betroffen. Wesentlich ist es daher, auf die eigene Situation aufmerksam zu machen, sie in einem ersten Schritt für sich selbst und andere sichtbar zu machen. Ein weiterer Aspekt ist das ‚Übersetzen’ des Benannten in die Sprache der Dominanzgesellschaft. Der Prozess des Benennens kann selbst Teil eines transformierenden Geschehens sein. Alberto beschreibt, dass – dank der Studien – das Notwendigste bereits näher gekommen ist. Die Studien werden mit Kenntnissen genauer benannt. Diese Passage verdeutlicht, wie die Kenntnisse – die von ‚außen’ kommen – in Form von Erleichterungen im Alltag wirksam und erfahrbar werden. Diesem Aspekt kommt im Zusammenhang mit dem ‚Hereinlassen’ von ‚fremden’ Wissensbeständen eine relevante Rolle zu. Frauen werden als diejenigen dargestellt, die Wasser tragen und somit ‚Nutznießerinnen’ sind. Die Erleichterung wird als etwas Notwendiges benannt. Darin findet sich ebenso ein Hinweis auf die Motivation des Biographieträgers, sich Kenntnisse anzueignen und sich mit Technik auseinander zu setzen. Diese Passage verdeutlicht zudem die Perspektive auf Veränderungsprozesse in der Comunidad, die vom Biographieträger ausgewiesen wird. In der folgenden Sequenz thematisiert der Interviewpartner eine soziale Strategie im Umgang mit Marginalisierung: ‚sich gegenüberstellen’ (5/16-22) „a veces no tenemos la capac el dinero a veces el dinero es muy (.) este caso para nosotros como indígenas porque aquí se nos cobran muy caro para venir en la urgencia sí (...) entonces allí lo (.) miro que no se puede solucionar rapidamente pero si (..) se hace el esfuerzo para solicitar para mejorar la comunidad (.) sí se logra (.) pero tenemos que enfrentar (.) este (.) fuerte a las autoridades municipales y el Gobierno Estatal para mejorar nuestra comunidad” „manchmal haben wir die Kapaz das Geld nicht manchmal ist das Geld sehr (.) dies ein Umstand (spärlich) für uns als Indígenas weil hier verlangen sie sehr viel um in die Notaufnahme zu kommen ja (..) dann dort das (..) sehe ich dass man das nicht schnell lösen kann aber ja (..) man muss die Anstrengung machen um zu bitten (zu verlangen) um die Comunidad zu verbessern (.) man kann es erreichen (..) aber wir müssen uns gegenüberstellen (..) dies (.) stark den Autoritäten der Gemeinden und der Bundesregierung um unsere Comunidad zu verbessern“ (5/33-35, 6/1-5)
Ökonomisches Kapital wird an mehreren Interviewstellen als wesentliche Voraussetzung für die Teilhabe an gesellschaftlichen Funktionssystemen ausgewie-
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sen. Der Biographieträger beschreibt Geld als etwas, das spärlich ist bzw. eine ‚Ausnahme’ für ‚Indígenas’ darstellt. Um aus dieser marginalisierten Position heraus agieren zu können, verweist Alberto auf ein ‚Sich-gegenüber-Stellen’, das mit dem Wort ‚stark’ unterstrichen wird: „tenemos que enfrentar (.) este (.) fuerte“. Diese Haltung beschreibt eine Strategie, die sozialen Ungleichstellungen entgegenwirkt. Die von Marginalisierung betroffene AkteurInnengruppe stellt sich den Autoritäten, die in diesem konkreten Kontext über mehr Mittel verfügen, um eine Veränderung herbeizuführen, konfrontierend gegenüber. Die soziale Praxis des ‚Aufbrechens’ von Marginalisierung geht mit einem Prozess des ‚Sich-Ermächtigens’ einher. In der Erfahrungsrekapitulation richtet Alberto seinen Blick immer wieder in die Zukunft, um zu sehen, was ‚das Volk’ braucht, um vorwärts zu kommen. Das Vorwärtskommen kann als Streben nach sozialer Gleichheit beschrieben werden. Bedeutsamer Teil ist die Leistung des Subjekts sich vorzustellen, dass diese hergestellt werden kann. Blick in die Zukunft (6/4-9) „pero es gratuita ni cobro ni nada sólo para mejorar al pueblo porque el pueblo lo necesita (..) sí (.) sí entonces eso (.) lo favorece mucho la comunidad y la sociedad del (.) del pueblo (...) y va a haber un día que se mejore el el pueblo entonces y allí va a haber (..) trabajo va a haber este (.) mejoramiento de vivienda (..) si va haber un un cambio pues personal él que lo quiere lo necesita asesorar” „aber es ist gratis ich erhalte nichts gar nichts nur um das (Leben des) Volk(es) zu verbessern weil das Volk es braucht (..) ja (.) ja dann dies (.) das hilft der Comunidad sehr und der Gesellschaft des (.) des Volkes (...) und es wird ein Tag kommen wo sich die Situation des des Volkes verbessern wird und dort wird es (..) Arbeit geben es wird dies (.) Verbesserung der Wohnhäuser geben (..) ja es wird einen einen Wechsel geben also persönlich wer es will der braucht Rat“ (6/25-30)
Alberto geht zunächst auf seine persönliche Motivation ein, sein Wissen in den Comunidades zur Verfügung zu stellen. Er betont in dieser Hinsicht diese Arbeit gratis anzubieten, weil eine Notwendigkeit für das Volk besteht. Diese Darstellungsweise kann als ein weiterer Hinweis betrachtet werden, dass sich der Biographieträger seinem Volk gegenüber verpflichtet fühlt und diesem Umstand in Form eines ‚politischen Auftrags’ Rechnung trägt. Der Biographieträger versteht sich in diesem Zusammenhang als eine Art ‚selbsternannter’ Berater. Die damit verbundenen Fähigkeiten, wie beispielsweise das ‚Sehen’, werden allerdings von ihm nicht biographisch ausgewiesen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist sein Blick in die Zukunft, bei dem er eine Situation imaginiert, in der sich die Situation verbessert hat, und zwar nicht nur für ihn persönlich, sondern auch für das Volk. „y va a haber un día“ beinhaltet die Dimension
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des ‚Sich-Verwirklichens’. Die Veränderung wird als etwas dargestellt, das auch tatsächlich passieren wird, und das nicht nur als Wunschvorstellung Raum erhält. Der Wechsel von dem er spricht, ‚passiert’ jedoch nicht von sich aus, sondern muss von den AkteurInnen initiiert werden. Einen weiteren Aspekt des Umgangs mit der marginalisierten Situation verdeutlicht die folgende Schilderung: “hemos venido también movilizandos movimientos (.) a mí (.) en (...) 99 98 (..) pasé a ser un coordinador de organizaciónes (.) es lo que estamos acabando la marginación del gobierno (...)” (6/15-17) „wir haben uns auch mobilisiert Bewegungen (.) für mich (.) in (dem Jahr) (...) 99 98 (..) wurde ich ein Koordinator von Organisationen (.) so wollen wir die Marginalisierung durch die Regierung beenden (...)“ (7/1-4)
‚Sich-zu-Organisieren’ stellt eine weitere soziale Praxis im Umgang mit den marginalisierten Rahmenbedingungen dar. Die Regierung wird an dieser Stelle explizit als aktiver Ereignisträger ausgewiesen, der ausgrenzt. Alberto spricht davon die Koordination von Organisationen übernommen zu haben. Wie anhand verschiedener Interviewpassagen fundiert werden kann, dient diese u. a. als wichtige Plattform für die Auseinandersetzung mit der eigenen Situation. Bedeutsam ist das Ausloten von Strategien im Umgang mit der Ausgrenzung. Neben Initiativen, wie die Weiterbildungsaktivitäten in den Comunidades, geht es um die Bündelung von Kräften, um eine höhere Wirksamkeit in der Auseinandersetzung mit AkteurInnen bzw. AkteurInnengruppen zu erzeugen. ‚indigener’ Kampf (6/24-32) “sí entonces allí (..) lo veo (.) que (.) un movimiento social (.) sea civil sea lo que sea debemos mejorar a nuestro pueblo (..) la verdad la lucha que estamos haciendo (.) sí (.) supongamos así como la lucha zapatista (.) que pasó en 94 (.) habló sobre la marginación la pobreza (..) la (...) es que hay muchos que no hay clínicas no hay mejoramiento (.) de vivienda salubridad (.) entonces (..) si hay una parte (.) que sí se logró poco muy poco si entonces la lucha indígena quiere decir que avanzó un poco pero poco yo así lo observo muy poco (.) entonces (.) es buena la lucha nos dió de conocer para mí (.) gracias a los compañeros que se levantaron en 94 (..) porque (.) el gobierno allí entendió un poco pero poco (.)” “ja dann dort (..) sehe ich (.) dass (.) eine soziale Bewegung (.) sei sie zivil oder sonst was wir müssen (das Leben) unser(es) Volk(es) verbessern (..) die Wahrheit (ist) der Kampf den wir machen (.) ja (.) sagen wir so wie der Kampf der Zapatisten (.) der 94 war (.) der sprach von der Marginalisierung der Armut (..) die (...) es gibt viele (Dörfer) wo es keine Kliniken gibt keine Verbesserung gibt (.) der Wohnhäuser
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Analyse des biographischen Raumes des Gesundheitswesens (.) dann (..) es gibt einen Teil (.) wo schon ein bisschen erreicht wurde sehr wenig ja dann der indigene Kampf will sagen (bedeutet) dass ein bisschen erreicht wurde aber nur ein bisschen so beobachte ich das ein bisschen (.) dann (.) der Kampf ist gut er hat uns gezeigt für mich Danke an die Compañeros die sich 94 erhoben haben (..) weil (.) die Regierung dort ein bisschen verstanden hat aber (nur) wenig“ (7/11-21)
Thematisiert der Interviewpartner zunächst das ‚Sich-Organisieren’, so spricht er in dieser Passage von einer ‚sozialen Bewegung’. Diese kann beschrieben werden als eine Formierung von AkteurInnen, die als eine soziale Bewegung sichtbar wird. Als weitere Bedeutungszuschreibung wird vom Biographieträger der Begriff Kampf eingeführt: „(..) la verdad la lucha que estamos haciendo“ . In diesem Zusammenhang verweist Alberto auf den Aufstand der Zapatisten, der sich 1994 in Chiapas ereignete. Anhand seiner Darstellung wird eine relativ hohe Identifikation mit dem Zapatista-Aufstand deutlich. Der Kampf soll zu einer Verbesserung der Situation der ‚indigenen’ Bevölkerung beitragen. Dabei geht es nicht nur um einen Verteilungskampf, sondern um die Rechte der ‚indigenen’ Bevölkerung, die in der Verfassung verankert werden sollen. Diese wurden in Form von Forderungen an die Regierung herangetragen. Wesentlicher Teil dieser sozialen wie politischen Bewegung ist der Dialog mit der Zivilgesellschaft, der umfassende Reformen im Land ermöglichen soll und von einer breiten Masse getragen wird. Alberto verweist explizit darauf, dass der Kampf darauf abzielt, dass die Regierung die Situation, in der sich diese AkteurInnengruppen befinden, versteht. Er bezeichnet den Kampf als gut, weil aus seiner Sicht etwas erreicht wurde. Durch den Zapatista-Aufstand machten die ‚Indígenas’ dieser Region auf ihre Situation aufmerksam. Diese soziale Bewegung ist jedoch nur eine von vielen in Mexiko. Neben dem bewaffneten Aufstand verfolgen andere Gruppierungen Formen des Widerstandes, die mit anderen sozialen Praxen einhergehen. Zentral für alle Bewegungen ist das Sichtbarmachen der eigenen Situation gegenüber den EntscheidungsträgerInnen, das Ernstgenommenwerden im Verteilungskampf sowie die Forderung nach sozialer Gleichheit und Anerkennung (siehe Kapitel 2.2). Die Formulierung ‚indigener Kampf’, welche der Biographieträger wählt, verdeutlicht, dass diese soziale Praxis im Umgang mit dem hegemonialen Wirkungsgefüge mit einer Mobilisierung über die Konstruktion Ethnie verschränkt wird. Die nachfolgende Sequenz soll einen weiteren Aspekt der Marginalisierung verdeutlichen:
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‚mit ihnen wird es funktionieren’ (7/6-18) “(.) entonces allí lo veo que el programa del Gobierno Mexicano no no funciona (.) va a funcionar pero con los mismos (.) él que tiene de por sí los ricos terratenientes rancheros ellos sí van a funcionar (..) sí con los rancheros sí van a funcionar porque ellos tienen (..) ahorita esta dando proyectos el Gobierno Mexicano tenemos que aportar el (.) el 25% y el va a dar el 75% para que nos pueda ayudar (.) entonces nosotros no podemos este (..) como dire no nos podemos juntar ese dinero para que nos apoye el Gobierno nosotros queremos que nos apoye (..) pero el quiere que pongamos 25% y 75% el no sé por dónde se va a sacar ese dinero (..) si si la comunidad no tiene pues quiere apoyo entonces eso es (.) algún ranchero sí lo va a tener (..) este dinero lo puede dar a un ranchero para entonces se benificar mas a los que tienen de por sí (.) si ahora los indígenas (..) no va a poder aprovechar ese recurso también va a haber igual con el sistema priista de este tiempo no más que es cambio de política” „dann dort sehe ich dass das Programm der mexikanischen Regierung nicht nicht funktioniert (.) es wird funktionieren aber mit denselben (.) mit dem der eh schon alles hat den Reichen den Landbesitzern den Rancheros mit ihnen ja wird es funktionieren (..) ja mit den Rancheros ja wird es funktionieren weil sie haben (..) jetzt gibt die mexikanische Regierung Projekte wir müssen die (.) die 25% aufbringen und sie werden die 75% geben (zahlen) aber was kann uns das helfen (.) also wir können nicht diese (..) wie soll ich sagen wir können dieses Geld nicht zusammenbekommen damit uns die Regierung hilft wir wollen dass sie uns helfen (..) aber sie will dass wir 25% geben und 75% sie ich weiß nicht wo man dieses Geld auftreiben (soll) (..) ja ja die Comunidad hat es nicht also sie will Unterstützung also so ist es (.) irgendein Ranchero wird es schon haben (..) dieses Geld kann ein Ranchero geben für dann hilft man denen mehr die eh schon haben ja (.) ja jetzt die Indígenas (..) werden diese Mittel auch nicht nutzen können es wird gleich sein wie mit dem System Priista von dieser Zeit es ist nicht mehr als ein Wechsel in der Politik“ (7/31-35, 8/1-10)
Der Interviewpartner thematisiert die mexikanische Regierung sowie Programme, die diese in dieser Region unternimmt. Alberto weist gleich zu Beginn darauf hin, dass dieses Programm nicht funktioniert. Anhand seiner Darstellung, in der er eine weitere AkteurInnengruppen – die Rancheros – benennt, veranschaulicht er, wie das Fehlen von ökonomischem Kapital zu einem weiteren Ausgrenzungsaspekt führt. Er betont dabei, dass die Comunidades die zur Verfügung gestellten Mittel nutzen möchten, jedoch nicht in der Lage sind das dafür notwendige Geld aufzubringen. Die Gegensatzpaare ‚Arm und Reich’ verdeutlichen den Verteilungskampf in dem konkreten sozialen Kontext, bei dem jene begünstigt werden, die bereits über entsprechende Ressourcen verfügen. Der Wunsch nach Unterstützung bzw. das angebotene Förderungsprogramm können – wie
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dieses konkrete Beispiel veranschaulicht – nicht anschlussfähig gemacht werden. Diese Situation wird durch vorhandene Interdependenzunterbrechungen in dem gesellschaftlichen Wirkungsgefüge noch verschärft. Abschließend verweist der Interviewpartner auf das System der Priista. Die PRI – ‚el Partido Revolucionario Institucional’ war in Mexiko 70 Jahre lang an der Macht. Seit 2001 ist Vincente Fox Präsident63 von Mexiko (PAN ‚Partido Acción Nacional’). Für Alberto stellt dieser Wechsel – wie er meint – keine wirkliche Veränderung dar, sondern er bezeichnet diesen als Wechsel auf der politischen Ebene. Für die ‚Indígenas’ kam es zu keinen wesentlichen Veränderungen – die ‚Vereinbarungen von San Andrés’ (‚los acuerdos de San Andrés’) wurden auch von der neuen Regierung in dieser Form nicht anerkannt. Widerstand mit dem Strom (7/22-35, 8/1-12) “sí entonces ese es la idea que estamos definiendo o estamos allí en resistencia con la luz porque sabemos que la luz sale por aquí en nuestro estado de Chiapas (..) sí (..) y estamos viendo que (.) en las presas donde sale la luz (.) se es lo acabo miles de hectáreas (..) de terrenos cultivable (.) y ahorita lo estamos viendo que (..) los estamos pagando una cantidad muy fuerte la luz (.) en las comunidades estamos pagando de 500 (..) a 600 (..) a 100 pesos lo más barato (.) entonces allí se mira que entonces (.) una comunidad no va a gastar mucha luz (..) no es igual que una ciudad (..) entonces allí se se nota que porque entonces estamos gastando mucha luz si tenemos solo un poco (.) por eso la comunidad se despierta (..) pero alguien que lo despierta porque si sola allí no se despierta si algien que tiene que que tener conocimiento como esta Chiapas cómo esta este nuestra nación cómo funciona pero cómo lo vamos a saber esto tenemos que salir tenemos que a ver tenemos que (.) entonces es la que hicimos en 96 97 98 (..) hasta ahorita (.) entonces (.) estamos viendo que (.) eso es nuestro recurso natural que esta allí y lo estamos pagando muy caro (.) sí entonces este tenemos esta lucha ahorita en las comunidades varias comunidades que estan así posesionar sobre la resistencia (.) pero también la comisión federal nos esta obligando (.) que (..) que pagemos (..) pero la resistencia no lo paga (..) llega el corte al rato lo ponen la luz porque hay compañeros ya capacitados sobre la luz y lo ponen otra vez” „ja dann das ist die Idee die wir (gerade) definieren oder wir sind dort im Widerstand mit dem Strom weil wir wissen dass der Strom von hier kommt aus unserem Bundesstaat Chiapas (..) ja (..) und wir sehen dass (.) in den Kraftwerken wo der Strom herkommt (.) hat man tausende Hektar (..) fruchtbaren Boden zerstört (.) und jetzt sehen wir dass (..) wir einen sehr hohen Betrag zahlen für den Strom (.) in den Comunidades bezahlen wir an die 500 (..) 600 (.) 100 Pesos sind das Allermindeste 63 Im Juli 2006 fanden die neuerlichen Präsidentschaftswahlen in Mexiko statt, bei denen Felipe Calderón zum Präsidenten gewählt wurde.
‚Salir adelante como indígena’ – biographisches Portrait Alberto
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(.) dann dort sieht man dass dann (.) eine Comunidad wird nicht viel Strom verbrauchen (..) es ist nicht gleich wie in einer Stadt (..) also dann dort bemerkt man das weil warum verbrauchen wir so viel Strom ja wenn wir nur ein bisschen haben (.) deshalb wacht die Comunidad auf (..) aber jemand muss sie aufwecken weil sie erwacht dort nicht von alleine ja jemand der der Kenntnisse hat wie Chiapas ist wie dies unsere Nation ist wie sie funktioniert aber wie werden wir dies wissen wir müssen rausgehen wir müssen sehen wir müssen (.) dann das ist es was wir 96 97 98 gemacht haben(..) bis jetzt (.) dann (.) wir sehen dass (.) dies ist unsere natürliche Ressource die dort ist und wir bezahlen sehr viel (teuer) (.) ja dann dies wir haben diesen Kampf jetzt in den Comunidades in verschiedenen Comunidades die so sind ergriffen von dem Widerstand (.) aber auch die Comisión Federal will uns zwingen (.) dass (..) dass wir bezahlen (..) aber der Widerstand bezahlt das nicht (..) sie schalten ab (es kommt die Abschaltung) kurz darauf drehen sie den Strom wieder auf weil es Compañeros gibt die schon Kenntnisse über den Strom haben und sie schalten ihn wieder ein“ (8/15-35, 9/1-6)
Im Gegensatz zu der vorangegangenen Sequenz illustriert diese Textpassage eine soziale Praxis in einer interdependenten Situation. Zunächst erzählt Alberto von einer Idee, die definiert wird. ‚Selbst zu definieren’ beschreibt eine Form des Handelns, bei der Subjekte Handlungsstrategien im Umgang mit anderen AkteurInnengruppen eigenmächtig entwerfen. Der Interviewpartner spricht in diesem Zusammenhang davon, sich im ‚Widerstand mit dem Strom’ zu befinden. Die Erläuterungen des Biographieträgers legen ein Zusammenwirken von Wissen sowie dem Entschluss – die eigene Position zu vertreten – dar. Die Analyse der eigenen Situation erfolgt dabei in Relation zu anderen AkteurInnengruppen bzw. Handlungsumwelten. Das Thema der Auseinandersetzung ist der Strompreis und die Entscheidung, diesen nicht zu bezahlen. Als Begründung werden die Vernichtung von fruchtbarem Boden sowie die Tatsache, dass der Strom in Chiapas erzeugt wird, angeführt. Dies wird mit den Worten: „eso es nuestro recurso natural que esta allí“ bekräftigt. Der Interviewpartner bringt das Unverständnis über die Höhe des Strompreises zum Ausdruck, das mit dem Vergleich des Verbrauches zwischen einer Stadt und einer Comunidad fundiert wird. Mit den Worten: “por eso la comunidad se despierta (..)” <deshalb wacht die Comunidad auf> beschreibt der Interviewpartner einen Prozess, der durch die Verschränkung von explizit gemachtem Wissen über die eigene Situation und Kenntnissen über die Region eingeleitet wird. Das ‚Aufwachen’ kann dabei als eine Form des ‚Sich-Bewusstwerdens’ verstanden werden, das die AkteurInnen in die Lage versetzt, etwas zu sehen. Mit der Vorstellung des Aufwachens ist ferner die Idee des Aktiv-Werdens verbunden, das zudem Handlungsoptionen eröffnet. Der Biographieträger erweitert diese Aussage durch den Nachsatz: „(..) pero alguien que lo despierta porque si sola allí no se despierta“ . Die Comunidad als Gemeinschaftsform wacht nicht von alleine auf, sondern muss von jemandem – einem Akteur, einer AkteurIn – aufgeweckt werden. Alberto gibt Auskunft über Fähigkeiten und notwendige Handlungen, die gesetzt werden müssen: “cómo lo vamos a saber esto tenemos que salir tenemos que a ver” . Als wesentlich wird ‚das Rausgehen aus der eigenen Situation’ sowie ‚das Sehen’ ausgewiesen, das – wie bereits beschrieben wurde – eine Position darstellt, in der das Subjekt eine Art reflexiven Raum eröffnet, um die eigene Situation in ihren relationalen Beziehungen zu deuten. Der Kode ‚wir sehen’ wird mit Wissen über die regionalen Bedingungen, die über die eigene Situation hinausreichen, näher charakterisiert. Die Formulierung ‚wir’ verdeutlicht, dass der Biographieträger sich als Person versteht, die dazu in der Lage ist. Das Deuten der eigenen Situation wird zudem als etwas dargestellt, das bereits geschehen ist. Alberto spricht von einem Kampf, vom Widerstand, von dem verschiedene Comunidades ergriffen wurden: „(en) varias comunidades que estan así posesionar sobre la resistencia“ . Die beschriebene Dynamik verweist auf einen Prozess, der mit ‚Idee definieren’ seinen Ausgangspunkt nimmt, mit einem Aufwachen einhergeht und in einen Widerstand, von dem verschiedene Comunidades ergriffen wurden, mündet. Die Sequenz macht eine interdependente Situation erkennbar, bei der die Ausgangslage der AkteurInnengruppen, aufgrund der Positionierungen im sozialen Raum, von einer sozialen Ungleichheit gekennzeichnet ist. Die hegemonialen Strukturen können jedoch durch einen Prozess des ‚Sich-Ermächtigens’ in Form eines Widerstandes aufgebrochen werden. Darin enthalten sind die beiden Aspekte, zum einen sich mit der Situation nicht abzufinden und zum anderen dem eigenen Verständnis Gewicht zu geben. ‚Wirklichkeit’ bzw. die konkrete Situation muss im Rahmen einer Neugestaltung ausverhandelt werden. Damit der Strom wieder eingeschaltet werden kann, sind jedoch spezifische Kenntnisse notwendig. 5.2 ,yo solita salí adelante’ – biographisches Portrait Maria 5.2.1 Anmerkungen zum Interview mit Maria Die Kontaktaufnahme zur Interviewpartnerin erfolgte wie bei dem vorangegangenen Interviewpartner durch eine Österreicherin, die seit einigen Jahren in San Cristóbal lebt. Die Interviewpartnerin erklärte sich sofort bereit, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. In einem ausführlichen Gespräch wurde die Frage der Ano-
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nymisierung geklärt und auf Fragen im Zusammenhang mit der Durchführung des Interviews eingegangen. Die Akteurin zeigte dabei besonderes Interesse an den Forschungsfragen bzw. an der damit in Verbindung stehenden Thematisierung ‚indigener’ Lebensumstände. Das Interview selbst wurde in dem Haus der Kontaktperson durchgeführt. In einem Gespräch bei Kaffee wurde zunächst eine Vertrauensbasis aufgebaut. Maria erklärte sich einverstanden, dass das Interview aufgenommen wird. Nach der Einstiegsfrage vergewisserte sie sich noch einmal der Sprache, in der sie ihre Lebensgeschichte erzählen sollte. Die Ratifizierung des Erzählschemas erfolgte problemlos. Das Interview dauerte ca. eineinhalb Stunden, wobei die Haupterzählung von der Interviewerin nicht unterbrochen wurde. Auch bei diesem Interview wurde in der Nachfragephase der Erzählfaden von der Interviewpartnerin anhand einer erzählgenerierenden Frage erneut aufgegriffen. In dieser Nachphase werden von ihr vor allem Hintergrundstrukturen thematisiert und Haltungen des Herkunftsmilieus angesprochen. Der Erzählstil unterscheidet sich dabei von der Haupterzählung durch seinen tendenziell stärkeren argumentierenden und bilanzierenden Charakter. Nach Abschluss des Interviews wurde deutlich, dass Maria während des Erzählens sehr tief in Erinnerungsschemata eingetaucht ist und daher das ‚Ausklingen’ der Interviewsituation besonders wesentlich war. Zudem wurde von der Interviewpartnerin der reflexive Blick auf die eigene Lebensgeschichte als ‚neue’ Erfahrung thematisiert und kommentiert. Die Akteurin wurde aufgrund ihrer Selbstzuschreibung als ‚Indígena’ und den von ihr beschriebenen Lebensumstände ausgewählt. Besonders interessant erschien der Aspekt des ‚Migrierens’ in lebensweltliche Kontextbedingungen, die sich vom Herkunftsmilieu wesentlich unterscheiden. Die von der Akteurin gewählten und entwickelten Handlungsstrategien, wie u. a. das Verlassen des Herkunftsmilieus oder die Nicht-Thematisierung ethnischer Zugehörigkeit, stellen von bestimmten AkteurInnengruppen entwickelte Handlungskonzepte dar, welche in Auseinandersetzung mit den kontextuellen Rahmenbedingungen herausgebildet werden. Das Fallbeispiel wurde demnach exemplarisch herausgearbeitet und vor dem Hintergrund der anderen Fallbeispiele kontrastierend diskutiert. 5.2.2 Biographische Kurzbeschreibung Maria Maria wurde in einem kleinen Ort in der Nähe von San Cristóbal geboren. Die Familie, in der sie aufgewachsen ist, bezeichnet sie als arm. Als Kind arbeitete sie mit ihren Eltern und Geschwistern auf einer Ranch64. Die Tätigkeiten, die sie 64
kleiner Hof
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in diesem Zusammenhang beschreibt, sind das Brennholz Tragen, das Wasser Holen, das Mais Pflanzen und das Versorgen von Tieren. Der Tag auf einer Ranch beginnt dabei schon sehr früh am Morgen. Maria und ihren Geschwistern bleibt die Möglichkeit verwehrt, die Primarschule zu besuchen. Als Begründung wird von ihr die Haltung ihres Vaters besonders hervorgehoben. Inwieweit Maria später lesen und schreiben gelernt hat, konnte anhand des Interviews nicht fundiert werden. Mit 12 Jahren verlässt sie ihre Familie und den Ort, wobei von ihr keine näheren Gründe angegeben werden. Zunächst geht sie nach San Cristóbal und beginnt dort Spanisch zu lernen. Nach 4 oder 5 Jahren zieht sie nach México D.F., in die Hauptstadt, um dort Arbeit zu suchen. Nach einiger Zeit kommt sie nach San Cristóbal zurück, wo sie sich dann entschließt, alleine – ohne ihre Familie – zu leben. Sie lernt dort ihren Lebensgefährten kennen und bekommt ihr erstes Kind. Aufgrund von Problemen mit dem Vater ihrer Tochter und dessen Familie muss sie für sich und das Kind alleine sorgen. In dieser Zeit ist es für sie sehr schwierig Arbeit zu finden, da ihre erste Tochter noch sehr klein ist und sie noch keine sozialen Kontakte in San Cristóbal aufgebaut hat. Nach und nach lernt sie mehr Spanisch und findet Arbeit, wie z. B. Putzen und Kochen bei verschiedenen Familien in San Cristóbal. Der Vater ihrer Tochter verspricht ihr, sie nicht wieder zu verlassen und sie bekommt zwei weitere Kinder, muss jedoch auch diese alleine versorgen und aufziehen. Zum Zeitpunkt des Interviews sind die Mutter der Biographieträgerin bereits seit 30 Jahren und der Vater seit 20 Jahren verstorben. Maria steht jedoch mit ihrer Schwester in Kontakt, die mit ihrer Familie noch in dem Ort lebt, in dem sie aufgewachsen ist. Sie besucht diese von Zeit zu Zeit, möchte jedoch nicht wieder dorthin zurückkehren. Die Interviewpartnerin hat sich bereits ein soziales Netzwerk in San Cristóbal aufgebaut, das für sie von besonderer Bedeutung ist. Ebenso ist es für sie wichtig, dass ihre Kinder in die Schule gehen, damit sie lesen und schreiben lernen. 5.2.3 Strukturelle Beschreibung Maria Wie bereits bei der vorangegangenen strukturellen Beschreibung erfolgt die Darstellung des zweiten Fallbeispiels anhand von Kernpassagen, die von der Forscherin nach Sichtung des gesamten Interviewmaterials als wesentlich erachtet wurden. Die Interviewpassagen werden zweisprachig veranschaulicht, wobei der Name der Akteurin anonymisiert wurde. Nach der Eingangsfrage beginnt die Interviewpartnerin mit dem Erzählen ihrer Lebensgeschichte.
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Eingangssegment (Segment 1, 1/10-16) A: „este viví yo antes en Huixtán (..) y pero puedo hablar en español verdad“ B: “si si” A: “viví yo en Huixtán (.) y allí mi papá y mi mamá están este son pobres (.) y allí si vivimos cargamos leña alli están mi papá mi mamá cargan leña para hacer fuego (..) y allí (.) pues trabajamos en el rancho y allí cuando estaba yo chiquita pues (.) salí yo de monte cargando leña (.) acompañar a mis papás y a mis mamás (.) ir a en el monte y allí pues así vivimos así crecimos“ A: „also ich habe früher in Huixtán gelebt (..) und aber ich kann in Spanisch sprechen stimmt’s“ B: „ja ja“ A: „ich habe in Huixtán gelebt (.) und dort mein Papá und meine Mamá sind dies sie sind arm (.) und dort ja haben wir gelebt wir haben Brennholz getragen dort sind mein Papá meine Mamá sie tragen Brennholz um Feuer zu machen (..) und dort (.) also haben wir auf der Ranch gearbeitet und dort als ich ein kleines Mädchen war dann (.) bin ich auf den Berg gegangen Brennholz zu tragen (.) meine Papás (Väter) und meine Mamás (Mütter) begleitend (.) auf den Berg gehen und dort also so haben wir gelebt so sind wir aufgewachsen“ (1/ 10-19)
Zu Beginn vergewissert sich die Interviewpartnerin der Sprache, in der sie ihre Lebensgeschichte erzählt. Maria verweist darauf, ‚früher’ in Huixtán gelebt zu haben. Sie nennt ihre Eltern – ihren Vater wie ihre Mutter – und führt diese mit dem Begriff ‚arm’ ein. In weiterer Folge beschreibt sie die Alltagsaktivitäten ihrer Kindheit, die sie mit ‚Brennholztragen’ und ‚auf der Ranch arbeiten’ näher beschreibt. Sie begleitete ebenso ihre Eltern65 in die Berge. Mit den Worten: „pues así vivimos así crecimos“ schließt die Interviewpartnerin das Eingangssegment. Die Selbstthematisierung erfolgt anhand einer Darstellung, die eine gewisse Distanz zu dem benannten Ort, in dem sie aufgewachsen ist, vermittelt. Die Eltern werden – als noch dort lebend – verortet. Wie der weitere Interviewverlauf zeigt hat Maria den Ort, in dem sie aufgewachsen ist, verlassen. Das Segment weist sowohl Formulierungen in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart auf. Das ‚Dort-Leben’ wird in der Selbstthematisierung als etwas dargestellt, das bereits abgeschlossen ist – das Teil der Vergangenheit der Biographieträgerin ist. Die Eltern werden jedoch auf eine Weise thematisiert, die sie als noch ‚dort lebend’ erscheinen lässt. Die Kindheit wird anhand von alltäglichen Aktivitäten 65
Die von der Interviewpartnerin verwendeten Begriffe „mis papás“ <meine Väter> bzw. „mis mamás“ <meine Mütter> deuten darauf hin, dass die Interviewpartnerin damit ebenso Familienangehörige meint, wie z. B. Onkeln, Tanten, Großväter und Großmütter sowie andere Bezugspersonen ihres sozialen Nahraums.
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präsentiert, ohne dass die Erzählerin eine Bewertung dieser vornimmt. Anhand der Kategorie ‚Arm-Sein’ benennt sie die sozial-ökonomische Situation der Familie, die jedoch mittels der Außenperspektive ‚sie sind arm’ einen gewissen Abstand erfährt. Betrachten wir diese Sequenz vergleichend mit dem Eingangssegment des vorangegangenen Fallbeispiels so zeigt sich, dass sich die Biographieträgerin – im Gegensatz zu Alberto – nicht als ‚indigen’ verortet. Maria spricht ebenso Tzotzil, wobei dies während des gesamten Interviewverlaufes keine besondere Erwähnung erfährt. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass die Herstellung ethnischer Zugehörigkeit keinen zentralen Stellenwert innerhalb des Lebensentwurfes einnimmt. Die Lebenswelt, in der Maria aufgewachsen ist, wird in Form von Beschreibungen alltäglicher Tätigkeiten dargestellt, ohne dass die Biographieträgerin Auskunft über ihr Erleben oder ihre Befindlichkeit gibt. Alberto hingegen verweist gleich zu Beginn seiner Erzählung auf die ‚marginalisierte Situation’, in welche er hineingeboren wurde. Die Thematisierung des Schulbesuches fehlt bei Maria gänzlich. Die Biographieträgerin geht darauf im weiteren Interviewverlauf ein. Mit den folgenden Worten setzt die Interviewpartnerin ihre Erzählung fort: ‚Verlassen des Herkunftsmilieus’ (Segment 2, 2/16-30) „ya más grande ya empecé a salir afuera del lugar salí ya como tenía como serán 12 años o 11 años (..) salir afuera de aquí a San Cristóbal no lo conocía yo San Cristóbal (..) no conocía estaba yo pues allá se llama un lugar que se llama Huixtán allí nací allí estan (..) toda mi familia (...) y allí ya este no sabía yo español no sabía yo castellano no sabía yo nada solo así mi (...) de idioma nada mas sabía yo hablar (..) ya empecé a aprender aquí en San Cristóbal (.) empecé a aprender como unos 4 o 5 años que tuve viviendo aquí en San Cristóbal empecé a salir en México fui a México a trabajar lo dejé mis papás mis mamás los dejé allá en Huixtán y allí yo este empecé aprender el español empecé a hablar y hablar y hablar pero no muy bien (..) no sabía yo tanto no sabía yo tanto y allí ya cuando (..) cuando después tarde bastante tiempo en México ya allí regresé a trabajar otra vez aquí a San Cristóbal (..) pues allí poco a poco lo aprendí lo aprendí dejando de mi papá dejando de mi mamá trabajando ellos vivieron solos ya allá y mis hermanas se casaron se fueron con sus maridos (..) ya me quedé yo sola aquí en San Cristóbal“ „als ich schon größer war habe ich schon angefangen raus zu gehen von dem Ort ich bin weggegangen ich hatte etwa ich werde (wurde) 12 Jahre oder 11 Jahre alt sein (..) wegzugehen hier nach San Cristóbal ich habe (es) San Cristóbal nicht gekannt (..) ich kannte es nicht ich war also dort er heißt an einem Ort der Huixtán heißt dort bin ich zur Welt gekommen dort ist (..) meine ganze Familie (...) und dort also dies ich konnte kein Spanisch ich konnte kein Castellano ich habe nichts gekonnt nur so meine (...) Sprache nur (das) konnte ich sprechen (..) also ich habe hier
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in San Cristóbal begonnen zu lernen (.) ich habe begonnen zu lernen etwa als ich 4 oder 5 Jahre hier in San Cristóbal gelebt habe ich habe begonnen nach México zu gehen ich bin nach México gegangen um zu arbeiten ich habe meine Papás meine Mamás hier gelassen ich habe sie dort in Huixtán gelassen und dort habe ich dies ich habe begonnen das Spanisch zu lernen ich habe begonnen zu sprechen und zu sprechen und zu sprechen aber nicht sehr gut (..) ich hab nicht soviel gekonnt ich habe nicht soviel gekonnt und dort als ich (..) als danach später (als ich) genügend Zeit in México (war) dann dort bin ich nach San Cristóbal zurückgekommen um noch einmal hier zu arbeiten (..) dann dort hab ich es nach und nach gelernt ich habe es gelernt meinen Papá verlassend meine Mamá verlassend arbeitend sie haben schon alleine dort gelebt und meine Schwestern haben geheiratet sie sind mit ihren Männern gegangen (..) ich bin alleine hier in San Cristóbal geblieben“ (1/ 19-35, 2/1-3)
Das zentrale Thema dieser Sequenz ist das Weggehen der Biographieträgerin von dem Ort, in dem sie aufgewachsen ist. Dieses Ereignis wird in Form eines Prozesses und anhand unterschiedlicher Nuancen wiedergegeben. Zunächst spricht die Interviewpartnerin davon – als sie schon älter war – begonnen zu haben, von dem Ort raus zu gehen: „ya empecé a salir afuera del lugar“. Diese soziale Praxis kann als Expansion des sozialen Nahraums gedeutet werden. Maria erweitert ihre konkrete Handlungsumwelt, indem sie von dem Ort, in dem sie aufgewachsen ist, rausgeht. Mit 11 oder 12 Jahren markiert sie den Zeitpunkt, wo sie von Huixtán weggeht. Von der Erzählerin werden jedoch weder Anlass noch Motivation66, die dazu geführt haben, näher benannt. So wird das Weggehen auch nicht als Entscheidung dargestellt, welche die Akteurin aktiv trifft. In der Beschreibung ‚des Weggehens’ können folgende Ebenen formuliert werden:
die Biographieträgerin, die ihre Familie und in weiterer Folge ihr ‚traditionelles Herkunftsmilieu’ verlässt die relationale Beziehung der Biographieträgerin zu ihrer Familie und die damit verbundenen Relevanzstrukturen die zunächst noch ‚fremde’ Lebenswelt San Cristóbal, welche sich die Biographieträgerin über Aneignungsprozesse zugänglich macht
66 Im Rahmen der Felderkundung konnte von der Forscherin in Erfahrung gebracht werden, dass es die ‚soziale Praxis’ von bestimmten AkteurInnengruppen gibt, ihre Kinder als Arbeitskraft zu vermitteln. Gründe dafür können das Geldverdienen sein, aber auch eine von den Eltern intendierte Unabhängigkeit, welche die Heranwachsenden erlangen sollen. Viele junge Frauen aus ‚ärmeren Verhältnissen’ arbeiten als Kindermädchen und/ oder Haushaltshilfe in den Häusern von Angehörigen der Dominanzgesellschaft. Das Verlassen des Elternhauses durch Heirat kann ebenso bereits mit 14 oder 15 Jahren erfolgen.
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Der Prozess des Verlassens des ‚traditionellen Herkunftsmilieus’ wird von der Biographieträgerin zunächst durch das Ereignis des Weggehens von ihrem Heimatort eingeleitet und mit dem Alter zeitlich markiert. Die Interviewpartnerin betont, die Stadt San Cristóbal zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekannt zu haben. Die Sprache wird dabei als wesentliches Element der Differenz zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten gekennzeichnet. Als die Interviewpartnerin nach México D.F. (Mexiko Stadt) geht, um zu arbeiten, verweist sie darauf, ihre Eltern bzw. ihre Familienangehörigen – „mis papás mis mamás“– in dem Ort Huixtán gelassen zu haben. Dieser Hinweis kann als ein weiterer Schritt innerhalb des Ablösungsprozesses vom Elternhaus gedeutet werden, der von der Erzählerin benannt wird. Das Lernen in dem ‚neuen’ Sinnkontext wird in weiterer Folge von der Interviewpartnerin mit dem Verlassen der Eltern in einem engen Zusammenhang gestellt und mündet in ein ‚Allein-Sein’, das thematisiert wird: “lo aprendí dejando de mi papá dejando de mi mamá trabajando” . Die Familie sowie das ‚traditionelle Herkunftsmilieu’ wird als ‚DortSeiend’ verortet. Im Rahmen des ‚Sich-weg-Bewegens’ wird die Familie als relativ statische Einheit dargestellt. Die Haltung oder die Initiative der Eltern wird in diesem Zusammenhang nicht thematisiert. Die Biographieträgerin stellt dem ‚Allein-Sein’ in San Cristóbal den ‚traditionellen Rahmen’ bzw. die ‚Normalbiographien’ ihrer Geschwister – die heiraten und mit ihren Männern fortziehen – gegenüber. Das ‚Ich’ der Interviewpartnerin wird in diesem Kontext als different gekennzeichnet. Die zunächst noch ‚fremde’ Lebenswelt San Cristóbal wird zunächst mit ‚Lernen’ eingeführt und von der Interviewpartnerin anhand von Sprache zugänglich gemacht. Darin finden sich Aneignungsprozesse von Fremdheit, die als eine vom Subjekt erbrachte Leistung verstanden werden können. Zudem wird in dieser Passage die Anordnung unterschiedlicher Wissensbestände, welche die Biographieträgerin vornimmt, bereits angedeutet: . Im weiteren Interviewverlauf finden sich vermehrt Hinweise, die Aufschluss über die Einbettung unterschiedlicher Wissensbestände in die Erfahrungsaufschichtung geben. Bei einer vergleichenden Analyse mit dem vorangegangenen Fallbeispiel zeigt sich, dass beide InterviepartnerInnen darauf hinweisen, von dem Dorf – in dem sie aufgewachsen sind – weggegangen zu sein. Alberto spricht in diesem Zusammenhang davon, dass ihn sein Vater mit 16 Jahren ‚frei gelassen’ hat. Wie bereits verdeutlicht wurde, stellt für ihn das Weggehen nicht etwas Selbstverständliches dar, sondern bedarf des Einverständnisses der Eltern bzw. des Vaters. Der Vater ‚entlässt’ ihn aus der Verantwortung gegenüber der Familie. Für Ma-
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ria hingegen geht das Weggehen von ihrem Heimatdorf mit einem Verlassen der Eltern einher. Deren Haltung wird von ihr nicht näher thematisiert. Die unterschiedlichen Lebenswelten, welche sie im Interviewverlauf beschreibt, erscheinen weniger ‚durchlässig’, als sich dies für Alberto darstellt. Zudem konnte Maria, wie der weitere Interviewverlauf zeigt, keine Schule besuchen. Anhand beider Fallbeispiele kann das familiäre Umfeld sowie der lebensweltliche Rahmen als wesentliche Voraussetzung für den Besuch einer Schule benannt werden. ‚ich allein bin vorwärts gekommen’ (Segment 4, 2/1-16) „pues allí mas o menos un poquito ya después poco a poco después pues ya no me acuerdo cuantos años tenía yo (.) cuando me junté con mi marido no soy casada y este me junté con mi marido pues tuve muchas problemas con ellas sola y viviendo trabajando yo sola mantener a mis hijos tengo 3 hijos y mantener yo sola y haciendo la lucha donde buscando lavar y planchar (.) ya no me dan trabajo cuando tenía yo mi hijito cargé mis hijitos ya no me dan trabajo sufrí cantidad fui así a planchar fui así el limpieza en las casas (..) y allí la sufría sufría en cantidad porque la gente de aquí en San Cristóbal me trataban mal con mis hijitos (...) me trataban mal me trataban cuando esta mi hijita asi tamaño como 3 años o 4 años tiene una mi hija que ahora que ya esta grande ahorita lo trataron mal y lo mandaba a trabajar también la niña y lo mandaba estas juntaba basuras hay unos patios grandes así jardincitos vete juntar esa basura ve agarra tu bolsa pero una criatura no sabe así este levantar las cosas basuras pues no sabe está chicita todavía (..) pues así lo guardé lo guardé sufriendo sufriendo sufriendo pero trabajé a donde a donde me cansé a busqué el modo como voy a comer con mis hijos ya no me ya no me ayudó mi papá yo solita salí adelante con mis hijos pues ahí pues allí se creció mis criaturas“ „dann dort mehr oder weniger ein bisschen schon danach nach und nach danach ich erinnere mich nicht mehr wie alt ich war ich (.) als ich mit meinem Mann zusammengekommen bin ich bin nicht verheiratet und dies ich bin mit meinem Mann zusammengekommen dann hatte ich viele Probleme mit ihnen allein und ich lebte arbeitete allein meine Kinder ernährend (versorgen/Inf.) ich habe 3 Kinder ich ernähre (Inf.) sie allein und den Kampf machend suchend wo zu waschen und zu bügeln (.) ja sie geben mir keine Arbeit als ich mein Töchterchen hatte ich habe meine Kinder getragen ja sie geben mir keine Arbeit ich habe (eine) Menge gelitten so bin ich bügeln gegangen so bin ich gegangen die Reinigung (zu machen) in den Häusern (..) und dort die ich habe gelitten ich habe gelitten in Menge(n) weil die Leute von hier in San Cristóbal haben mich schlecht behandelt mit meinen Kinderchen (...) sie haben mich schlecht behandelt sie haben mich behandelt als dies mein Töchterchen so groß war etwa 3 Jahre oder 4 Jahre hat eine meine Tochter die jetzt die jetzt schon groß ist sie haben mich schlecht behandelt und ich habe auch das Mädchen geschickt zu arbeiten und ich habe sie geschickt dies sie sammelte Abfälle es gibt einige Höfe so große Gärtchen geh diesen Abfall sammeln geh nimm deinen Sack aber so ein Geschöpf weiß nicht so dies die Dinge aufheben Abfälle dann sie weiß es
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Analyse des biographischen Raumes nicht sie ist noch klein (..) dann so ich habe sie beschützt ich habe sie beschützt leidend leidend leidend aber ich habe gearbeitet bis bis ich zu müde wurde ich hab die Art und Weise gesucht wie ich mit meinen Kindern essen werde er hat mir nicht mehr er hat mir nicht mehr geholfen mein Papá ich allein bin vorwärts gekommen mit meinen Kindern dann da dann dort sind meine Geschöpfe aufgewachsen“ (2/ 10-31)
In diesem Segment beschreibt die Biographieträgerin lebensweltliche Rahmenbedingungen, mit denen sie als Frau, die ihre Familie verlassen hat, konfrontiert ist. Zunächst erzählt sie von ihrem Mann, mit dem sie zusammengekommen ist und betont dabei, nicht verheiratet zu sein. Aufgrund von Problemen, die von Maria nicht näher detailliert werden, muss sie ihre drei Kinder67 alleine ernähren und aufziehen: „tengo 3 hijos y mantener yo sola y haciendo la lucha donde buscando lavar y planchar“ . Die Biographieträgerin beschreibt die Art und Weise gesucht zu haben, um mit ihren Kindern zu überleben. Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang der Gender Aspekt. Als Frau fühlt sie sich ihren Kindern gegenüber verpflichtet und übernimmt alleine die Versorgungsarbeit. Erschwerend für sie kommt hinzu, dass sie in dieser Stadt keine Familie hat oder über eine andere Form von sozialem Netzwerk verfügt. Von dem Vater der Kinder erhält sie keine Unterstützung. Die Formulierung „pues tuve muchas problemas con ellas“ legt die Vermutung nahe, dass sich die Probleme nicht nur auf den Vater der Kinder, sondern auch auf seine Familie beziehen. Möglichkeiten Arbeit zu finden werden durch die Kinder sehr erschwert. Das Verlaufskurvenpotenzial wird ebenso durch die Worte: „y allí la sufría sufría en cantidad porque la gente de aquí en San Cristóbal me trataban mal con mis hijitos“ hervorgehoben. Maria betont immer wieder in Mengen gelitten zu haben. Vorhandene Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Zuschreibung ‚indigen’ können nur vermutet werden. Die Interviewpartnerin betont jedoch von den Leuten in San Cristóbal schlecht behandelt worden zu sein. Von der Erzählerin wird keine ethnische Differenzierung anhand der Kategorien ‚indígena’ oder ‚mestizo’ hergestellt.
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Zunächst bekommt Maria ihr erstes Kind, das sie alleine aufzieht. Später verspricht der Vater der Tochter ihr, sie nicht wieder zu verlassen und sie bekommt zwei weitere Kinder, muss jedoch auch diese alleine versorgen.
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Da es jedoch für AlleinerzieherInnen kaum staatliche Unterstützung68 gibt, ist jemand der seine Familie verlässt mehr oder weniger auf sich gestellt. Dem ‚Allein-Sein’ kommt somit eine gewichtige ökonomische Bedeutung zu. Das Vorhandensein von Nahrung und der Umstand, ein Dach über dem Kopf zu haben, stellen Aspekte dar, die vor diesem Hintergrund als nicht gesichert gelten. An dieser Stelle wird auf die Dimension einer Überlebensstrategie hingewiesen, welche ebenso anhand der Schilderung des Abfallsammelns zum Ausdruck kommt. Zentral ist das Überleben der Familie, der Mutter mit ihren Kindern. Maria sucht diese zu ernähren, zu versorgen und zu beschützen, ohne von anderen Unterstützung zu erhalten. Für das ‚Sich-zu-recht-Finden’ in dieser Situation werden von der Biographieträgerin Orientierungsleistung und Aneignungsprozesse von Fremdheit erbracht sowie Handlungsstrategien entwickelt. Die Worte: „ya no me ayudó mi papá yo solita salí adelante con mis hijos pues ahí pues allí se creció mis criaturas“ <er hat mir nicht mehr geholfen mein Papá ich allein bin vorwärts gekommen mit meinen Kindern dann da dann dort sind meine Geschöpfe69 aufgewachsen> machen das Bewältigen des Verlaufskurvenpotenzials der Biographieträgerin erkennbar, die ohne familiäre Hilfe ihre Kinder aufzieht. Dem ‚Allein-vorwärts-Kommen’ kommt in dem biographischen Entwurf wesentliche Bedeutung zu. ‚sie machen weiter wie früher’ (Segment 6c, 3/6-15) „ya estoy ya aquí tiene como unos 20 25 años es que nada más porque ya tiene tiempo estoy aquí en San Cristóbal pero sí regreso en visitando y ver mi familia mi familia mi gente como nacimos allá pues ahí y están viviendo ahí y siguen viviendo y llego a verlo qué están haciendo donde están siguen trabajando igual y siguen trabajando igual tienen sus sus carneros sus chivos todo eso tienen sus animales sus toros tienen eso (..) voy a ver va a salir en el monte (.) van a sus hijos ellos cargan sus leñas hacer tortillas ellos como viven antes así así están ahorita (..) pero dice a mi hermana mejor regresa para que estás en San Cristóbal mejor vente acá más mejor pero yo ya no quiero regresar porque sufre uno yo como lo veo ellos pues a ellos siguen haciendo como de antes“ „ja ich bin schon etwa 20 25 Jahre hier es ist nur weil ich schon lange Zeit hier in San Cristóbal bin aber ja ich gehe zurück besuche und sehe meine Familie meine 68 In der ausgewählten Region gibt es Organisationen bzw. staatliche Institutionen, welche Frauen oder Personen, die sich in Not befinden, unterstützen – etwa mittels juristischer Beratung, medizinischer Versorgung, Nahrungsmittel etc.. Es wird jedoch keine finanzielle Unterstützung angeboten. 69 Der Begriff „criatura“ kann mit Säugling, Kind oder Geschöpf übersetzt werden. Das Wort Kreatur wurde von der Forscherin bewusst vermieden, da Assoziationen, die mit dieser Formulierung im ‚deutschen Sprachraum’ verbunden sind, dem Sprachgebrauch der Interviewpartnerin nicht hinreichend entsprechen würde.
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Analyse des biographischen Raumes Familie meine Leute wie wir dort geboren sind also dort und sie leben dort und sie leben weiter und ich komme um sie zu sehen was sie machen wo sie sind sie arbeiten gleich weiter und sie arbeiten gleich weiter sie haben ihre ihre Widder ihre Zicklein all das sie haben ihr Tiere ihre Stiere dies haben sie (..) ich werde sehen sie werden (wird) auf den Berg gehen (.) sie gehen mit ihren Kindern sie tragen ihr Brennholz Tortillas machen sie leben wie früher so so sind sie jetzt (..) aber meine Schwester sagt mir besser du kommst zurück für was bist du in San Cristóbal besser komm hierher viel besser aber ich will nicht mehr zurückgehen weil einer leidet ich so wie ich es sehe sie also sie machen weiter wie früher“ (3/32-35, 4/1-7)
Die Interviewpartnerin beschreibt den Kontakt zu ihrer Familie bzw. zu dem Ort, in dem sie aufgewachsen ist. Zentral erscheint in dieser Sequenz wiederum die relativ statische Darstellung des Lebens auf der Ranch. Die Biographieträgerin nimmt am Ende dieser Passage eine Art Bilanzierung vor: „como lo veo ellos pues a ellos siguen haciendo como de antes“ <so wie ich es sehe sie also sie machen weiter wie früher>. Zunächst verweist sie auf ihren subjektiven Blickwinkel, der durch die Formulierung ‚wie ich es sehe’ zum Ausdruck kommt. ‚Sie machen so weiter wie früher’ beschreibt eine Handlungsebene, die mit bestimmten alltäglichen Aktivitäten verbunden ist und einem Kollektiv bzw. einer Gruppe zugrunde gelegt wird. Die Alltagspraxen werden von der Interviewpartnerin in eine zeitliche Struktur eingebettet, die sich auf die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft bezieht. Das Bild, welches dabei erzeugt wird, lässt das Leben auf der Ranch als etwas erscheinen, das sich im Tun fortsetzt, ohne dass Veränderungen sichtbar werden oder der Ablauf in Frage gestellt wird. Im Zentrum stehen traditionalisierte Handlungsschemata. Wandel wird dabei von den AkteurInnen nicht intendiert. Die Tiere werden versorgt, der Mais wird gepflanzt und geerntet, Wasser und Brennholz werden getragen. Die von der Biographieträgerin beschriebene Lebenswelt wird als in sich geschlossen präsentiert. Die Gemeinschaft tritt als homogene Gruppe auf. Die unterschiedlichen Lebenswelten werden von der Biographieträgerin in der Erfahrungsrekapitulation in einem ‚Entweder-oder’ Schema eingebettet. Die Schwester möchte, dass Maria auf die Ranch zurückkehrt. An einer anderen Stelle des Interviews merkt Maria an: “pero en el rancho ya no me hallaba ya no me acostumbraba en el rancho” (2/2223) (3/5-6) Die Akteurin trifft die Entscheidung, nicht mehr auf die Ranch zurückzukehren. Das ‚Nicht-mehr-Gewöhnt-Sein’ und das ‚Sich-nicht-mehr-Finden’ werden dabei als Begründungsfolie formuliert. Damit gibt die Biographieträgerin Auskunft über Veränderungsprozesse, die auf das Subjekt bezogen werden. Die Gewohnheit, die als interaktive Ebene zwischen Subjekt und traditionalisierten Handlungsabläufen verstanden werden kann, wird von der Akteurin nicht mehr
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hergestellt bzw. nicht mehr intendiert. Die Anschlussfähigkeit als aktive Leistung des Subjekts wird in Frage gestellt. Die Formulierung ‚sich nicht zu finden’ verweist auf eine Nicht-Identifikation mit der Gemeinschaft und der damit verbundenen Lebensweise. Darüber hinaus wird dieser Umstand von der Akteurin durch die Erfahrung des Erleidens zum Ausdruck gebracht. Alltag auf der Ranch (Segment 7, 4/5-21) “a las 5 de de la mañana se van (.) allí todos allí como de este es costumbre de aquella antes mucho más antes cuando cuando empezó empezaron a vivir ellos pues se acostumbraron tienen que ir temprano así es mi papá se va temprano a trabajar (..) si si tiene sus animales va a ir temprano a verlos sus animales (..) allí ya llega a la 1 o 2 de la tarde a comer a desayunar comer (..) a tomar algo (..) y allí siempre la gente nosotros nosotros este la que crecemos la que nacimos allá allá en el Huixtán (..) allá en el pueblo de Huixtán y allí pues siempre este trabajamos temprano nunca nunca sentamos tan tarde o tan este salimos muy tarde no temprano la salida temprano vamos a ver los animales temprano vamos a trabajar temprano traemos leña cargando leña o cargandole una cosa venimos temprano cargando en la cabeza así sufrimos cantidad antes no tenemos zapato no tenemos este buen ropa no tenemos somos humildes somos pobrecita hasta dinero no tenemos dinero no tenemos que comer bien así digamos que comamos un algo comida buena no comemos (.) no (.) comemos humildemente la comida pues nos aguantamos todo ese sufrimiento (..) vivimos así y nos aguantamos todo ese sufrimiento sólo nuestra tortillita (.) sólo de vez en cuando alguna comida buena (.) nada más” „um 5 Uhr am Morgen gehen sie (.) dort alle dort so wie dies es ist eine Gewohnheit von dort früher sehr viel früher als als es begann (als) sie begonnen haben zu leben also sie haben sich gewöhnt sie müssen früh gehen so ist mein Papá er geht früh arbeiten (..) ja ja er hat seine Tiere er wird früh gehen um nach ihnen seinen Tieren zu sehen (..) dort kommt er schon so um 2 oder 3 am Nachmittag um zu essen um zu frühstücken zu essen (..) um etwas zu trinken (..) und dort sind die Leute immer wir wir dies die wir aufgewachsen sind die wir dort geboren sind dort in Huixtán (..) dort in dem Dorf Huixtán und dort also arbeiten wir immer früh niemals niemals stehen wir so spät auf oder so dies gehen wir sehr spät nein früh das Weggehen früh sehen wir nach den Tieren früh gehen wir arbeiten früh bringen wir Brennholz Brennholz tragen oder eine Sache tragen wir gehen früh auf dem Kopf tragend so haben wir eine Menge gelitten früher wir haben keine(n) Schuhe (Sing.) wir haben keine dies gute Kleidung haben wir nicht wir sind Bescheidene wir sind arm selbst Geld wir haben kein Geld wir haben nichts gutes zu Essen so sagen wir dass wir eine etwas gute Speise essen essen wir nicht (.) nein (.) wir essen bescheiden das Essen also wir ertragen dieses ganze Leid (..) so leben wir und wir ertragen dieses ganze Leid nur unsere Tortillita (.) nur manchmal etwas gutes Essen (.) nicht mehr“ (5/3-19)
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Analyse des biographischen Raumes
Die Interviewpartnerin beschreibt den Alltag auf der Ranch. Der Ablauf eines Tages wird dabei zeitlich strukturiert dargestellt. Drei unterschiedliche Erzählperspektiven, welche die Interviewpartnerin in dieser Sequenz einnimmt sowie der Gebrauch verschiedener Zeitformen im Erzählfluss sollen näher beleuchtet werden:
die Perspektive von außen, die durch „todos allí“ oder „ellos“ <sie> zum Ausdruck kommt die Perspektive der Biographieträgerin (als Tochter) auf ihren Vater die Perspektive der Akteurin, die sich einer Gruppe zugehörig fühlt und welche durch den Gebrauch der Wir-Form verdeutlicht wird
Die Erzählerin beginnt zunächst mit einer Art Außenperspektive: „a las 5 de de la mañana se van (.) allí todos allí“ . Das morgendliche Aufstehen wird als kollektives Ereignis formuliert und in weiterer Folge als Gewohnheit benannt. Der Begriff ‚Gewohnheit’ wird dann von der Interviewpartnerin näher detailliert, als etwas, das schon sehr viel früher – ‚als es begann, als sie begonnen haben zu leben’ – als soziale Praxis der Gemeinschaft ‚entstanden’ ist. Damit gibt die Biographieträgerin Auskunft über traditionalisierte Handlungsschemata, die sie zeitlich in einem Beginnen verankert – so, als ob es schon immer so war. Die von der AkteurInnengruppe hergestellte ‚Gewohnheit’ wird in ein zeitliches Gewordensein eingebettet und führt zu einem ‚Gewohnt-Sein’ der AkteurInnen. Anhand des Vaters erläutert die Interviewpartnerin den Alltag, der nun zeitlich strukturiert und durch Bewegungen, die der Vater in seinem Alltag tätigt, dokumentiert wird. Diese Darstellungsweise legt die Vermutung nahe, dass die von der Biographieträgerin eingenommene Perspektive, die der Tochter auf ihren Vater ist, der das Haus oder das Dorf verlässt und am Nachmittag wiederkehrt. An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass zum Zeitpunkt des Interviews der Vater bereits vor 20 Jahren bzw. die Mutter vor 30 Jahren verstorben sind. Umso überraschender ist in diesem Zusammenhang der Gebrauch der Gegenwartsbzw. der Zukunftsform. Mit den Worten: „nosotros este la que crecemos la que nacimos allá allá en el Huixtán“ nimmt die Biographieträgerin erneut einen Perspektivenwechsel vor. Das ‚Dort-Geboren-Sein’ bzw. ‚Dort-Aufgewachsen-Sein’ dient im Interviewverlauf immer wieder als Anker, der die Erzählerin veranlasst, die Wir-Form zu verwenden. In der Erfahrungsrekapitulation nimmt die Interviewpartnerin einen Blickwinkel ein, der die Gemeinschaft und die damit verbundene Lebensweise stärker in das Zentrum rückt und diese als eine Art Kontinuum erscheinen lässt,
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das sich weiter fortsetzt. Dieses Merkmal kommt ebenso durch die Verwendung der Gegenwartszeit zum Ausdruck. Als Hypothese wurde von der Forscherin Rekurs auf die Schichten des ‚sozialen Gedächtnisses’70 (vgl. Alheit 1994, S. 111-121) genommen. Demnach lässt die von der Interviewpartnerin gesetzte Darstellungsform das Vorhandensein von inkorporierten Strukturen vermuten, die zum einen von einer hohen Wirksamkeit gekennzeichnet sind und zum anderen der Akteurin nur zum Teil reflexiv zugänglich sind. Diese können als intuitiv verfügbare Mentalitätsebene verstanden werden, die einen unmittelbaren Ereignis- und Handlungsbezug aufweist. Auch wenn sich die Biographieträgerin von ihrem Herkunftsmilieu wegbewegt hat, verdeutlicht diese Sequenz eine Form des Nachwirkens ‚tief sitzender’ habitualisierter Orientierungsschemata, die in der narrativen Erfahrungsrekapitulation sichtbar wird. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass Maria den ‚Bruch’ mit dem Herkunftsmilieu mit einem ‚Nicht-mehr-Gewöhnt-Sein’ argumentiert. Die Gewohnheit, als ein sich fortsetzendes Tun, wird durch eine ‚veränderte’ Haltung der Biographieträgerin deutend gebrochen. Im letzten Abschnitt der Sequenz nimmt die Biographieträgerin erneut eine Bilanzierung vor: „así sufrimos cantidad antes“ <so haben wir eine Menge gelitten früher>. Die Bewertung, welche von der Akteurin gesetzt wird, kann als alltagsweltliche Verarbeitung sozialer Wirklichkeit verstanden werden und beschreibt den Prozess des Erleidens auf der Subjektebene. Diese Betrachtung wird nun von der Erzählerin zeitlich wieder der Vergangenheit zugeordnet. Maria nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf für sie relevante Elemente, die in der von ihr beschriebenen Lebenswelt nicht vorhanden sind bzw. nicht vorhanden waren. Sie stellt das Leben auf der Ranch als sehr bescheiden dar, als einen Ort, wo es keine Schuhe oder gutes Essen gibt. Das ‚Nicht-vorhanden-Sein’ von Geld wird als wesentlicher Aspekt hervorgehoben. Das Fehlen von ökonomischem Kapital führt in dem konkreten sozialen Kontext zu einer gravierenden Exklusion der Gemeinschaft und behindert den Zugang zu gesellschaftlichen Teilsystemen. Maria veranschaulicht die Dorfgemeinschaft als eine Gesellschaftsform, in der sich die Erwerbstätigkeit noch nicht etabliert hat. unterschiedliche Lebenswelten (Segment 8, 4/28-35, 5/1-6) „y allí (..) y allí (.) allí estamos así estamos pero estamos acostumbrado (.) no hay no hay trabajo ya cuando empecé a conocer San Cristóbal ya fué que ya fué que conocí ya ví donde hay trabajo y donde hay dinero (.) allí fué que empecé a a conocer poco a poco poco a poco a después no yo no conozco San Cristóbal poco a poco yo conocí ya fué que miré miré este que hay dinero para acá San Cristóbal allí empecé 70
siehe Kapitel 3.4.2
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Analyse des biographischen Raumes a trabajar ya ya lo dejé te digo que ya lo dejé de allá y ahora pues pues si sigo trabajando ahorita sigo trabajando te digo pues que mi familia si siguen trabajando también a ellos (.) pero así crecemos así nacimos así (.) no tenemos nada no tenemos ni zapato ni ropa andamos descalzos sin zapato (.) toda la gente allí somos así (..) es así estamos este allá en Huixtan y ya (..) pues aquí ya conocí la ropa conocí zapatos conocí suéter conocí conocí dinero (..) ahora ya tengo pues no tengo dinero pero sí tengo donde voy a trabajar pues allí me dan un poquito allí allí conocí empecé a ver empecé a conocer la vida como es aquí en San Cristóbal“ „und dort (..) und dort (.) dort sind wir so sind wir aber wir sind es gewöhnt (.) es gibt keine es gibt keine Arbeit ja als ich begonnen habe San Cristóbal kennen zu lernen dann war es dass dann war es dass ich herausgefunden habe ich habe schon gesehen wo es Arbeit gibt und wo es Geld gibt (.) dort war es dass ich begonnen habe es kennen zu lernen nach und nach nach und nach dann danach nicht ich kenne San Cristóbal nicht nach und nach habe ich es kennen gelernt es war dass ich gesehen habe ich gesehen habe dies dass es Geld gibt hier in San Cristóbal dort habe ich begonnen zu arbeiten ja ja ich habe es verlassen ich sage dir dass ich von dort weggegangen bin und jetzt also also ja arbeite ich weiter jetzt arbeite ich weiter ich sage dir also dass meine Familie ja sie arbeiten auch weiter sie (.) aber so wachsen wir auf so sind wir geboren so (.) wir haben nichts wir haben weder Schuh(e) noch Kleidung wir gehen barfuss ohne Schuh(e) (.) alle Leute dort wir sind so (..) es ist so wir sind dies dort in Huixtán und ja (..) dann hier habe ich schon die Kleidung kennen gelernt ich habe Schuhe kennen gelernt ich habe Sweater kennen gelernt ich habe Geld kennen gelernt kennen gelernt (..) jetzt habe ich schon also ich habe kein Geld aber ja ich habe wo ich arbeiten gehe also dort geben sie mir ein bisschen dort dort habe ich kennen gelernt ich habe begonnen zu sehen ich habe begonnen das Leben kennen zu lernen wie es hier in San Cristóbal ist“ (5/28-35, 6/1-11)
Diese Sequenz wurde ausgewählt, um die vorangegangenen Überlegungen weiter zu verdeutlichen, und um die von der Biographieträgerin erbrachten Aneignungsprozesse von Fremdheit zu veranschaulichen. Die beiden Lebenswelten werden von der Interviewpartnerin unterschiedlich und in Form einer Gegenüberstellung eingebettet. Wiederum findet sich der Gebrauch von unterschiedlichen Zeitformen und Subjektperspektiven, welche die Erzählerin einnimmt. In die Darstellung des ‚Vertraut-Machens’ mit der zunächst noch ‚fremden’ urbanen Lebenswelt wird der Bezug zur traditionellen Lebensweise hineinverflochten. Ausgangspunkt ist das ‚So-Sein’, welches jenen Aspekt der Biographieträgerin zum Ausdruck bringt, der mit dem Herkunftsmilieu verstärkt in Beziehung steht. Fast nahtlos reiht sich in der Ereignisabfolge der Erzählerin das Kennen lernen des ‚neuen’ sozialen Umfeldes an die Schilderung des Alltags auf der Ranch an. Die ‚neue’ Handlungsumwelt wird anhand der Möglichkeit ‚zu arbeiten’ bzw. ‚Geld zu verdienen’ näher konkretisiert. In diesem Zusammenhang spricht die Biographieträgerin davon, Geld kennen gelernt zu haben. Der
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Aneignungsprozess wird durch die Worte „poco a poco“ noch weiter verdeutlicht. Maria betont auch in dieser Sequenz, das Dorf sowie das soziale Umfeld verlassen zu haben. Die unterschiedlichen sozialen Kontexte erscheinen in ihrer Darstellung als unvereinbar. Die Erwerbstätigkeit ermöglicht der Interviewpartnerin verschiedene Dinge wie Kleidung oder Schuhe zu erwerben. Der soziale Kontext ‚San Cristóbal’ wird als Lebenswelt präsentiert, in der das Verfügen über ‚zivilisatorische Errungenschaften’ sowie die Möglichkeit des Gelderwerbs für die Akteurin eröffnet wird. neue soziale Netzwerke (Segment 10, 5/16-25) „y ahora hasta ahorita hasta ahorita estoy aquí ya no me acuerdo aquí cuantos años cuantos años y (.) y cuantos tiempos estoy aquí en San Cristóbal no me acuerdo ya tiene bastante creo tiene bastante aquí aquí este varias personas conocí y (.) pues ya sé español ya hablo en español y este (..) ya platico con algo conocidos algo personal es en fuera de lugar platico con ellos me conocen y este me conocen (.) pues me conocen de vista pero sí me conocen y me hablan ya tengo amistades ya tengo conocidos (..) en cambio antes no tenía yo nada no conozco a nadie (.) no conozco a nadie no sufrí porque no no conozco a nadie nadie me da mi trabajo nadie (.) nadie (.) que tenga su corazón que que no pues te voy a dar un vaso de café o te voy a dar una tortilla nadie me dice eso sufrí cantidad“ „und jetzt bis jetzt bis jetzt bin ich hier ich erinnere mich nicht mehr hier wie viele Jahre wie viele Jahre und (.) und wie viele Zeiten ich hier in San Cristóbal bin ich erinnere mich nicht schon lange glaube ich schon lange hier hier dies ich habe einige Personen kennen gelernt und (.) also ich kann schon Spanisch ja ich spreche in Spanisch und dies (..) ich unterhalte mich mit einigen Bekannten etwas Persönliches es ist außerhalb von dem Ort ich unterhalte mich mit ihnen sie kennen mich und dies sie kennen mich (.) also sie kennen mich vom Sehen aber ja sie kennen mich und sie sprechen mit mir ja ich habe Freundschaften ja ich habe Bekannte (..) im Gegenteil (Wandel) zu früher ich hatte nichts ich kenne niemanden (.) ich kenne niemanden nein ich habe gelitten weil ich nicht nicht niemanden kenne niemand gibt mir Arbeit niemand (.) niemand (.) der sein Herz hat das das nicht also ich werde dir eine Tasse Kaffee oder Tee geben ich werde dir eine Tortilla geben niemand sagt mir dies ich habe eine Menge gelitten“ (6/23-35)
Die Interviewpartnerin beschreibt die sozialen Netzwerke, die sie in San Cristóbal hergestellt hat. Die spanischen Sprachkenntnisse erscheinen in diesem Zusammenhang als wesentlicher Part, welcher die Kommunikation mit anderen ermöglicht. Sie betont dabei den Kontakt mit Personen, die ‚außerhalb’ von dem Ort wohnen: „en fuera de lugar platico con ellos me conocen“ . Sie stellt damit die Kontakte, die sie aufgebaut hat, als etwas nicht Selbstverständliches dar und
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bindet diese an die Subjektebene. In weiterer Folge differenziert die Biographieträgerin zwischen Bekannten und Freunden. Die Sequenz wird von Maria anhand eines Früher-jetzt-Schemas strukturiert. Kontrastierend veranschaulicht sie ihre Erfahrungen des Ankommens in San Cristóbal, die sie mit ihrer aktuellen Situation in Beziehung setzt. Die Errichtung ‚neuer’ sozialer Netzwerke stellt ein wesentliches Element der Bewältigung des Verlaufskurvenpotenzials dar. Die folgenden ausgewählten Kernpassagen entstanden nach der Haupterzählungsphase des Interviews. Von der Interviewerin wurde keine konkrete Frage gestellt, sondern die Biographieträgerin hat von sich aus den Erzählfaden erneut aufgegriffen. In dieser Nachphase finden sich sehr viele Hintergrundinformationen zu den jeweiligen lebensweltlichen Kontexten. Die Textsorte ist daher stärker deutend bzw. argumentierend, als die Haupterzählung mit ihrem hohen Anteil an narrativen Passagen. Bildungsverhinderung (6/32-35, 7/1) “pues no no quiere no quiere que nos vayamos en la escuela y yo aquello tiempo me gustaría yo aprender (.) me gustaría aprender a leer a escribir (..) pero mi papá si pero mi papá no quisó (.) no quisó entonces ya fué que no supimos leer pero ellos no se preocuparon hay que lo vean dirán nada más pues no no no quieren que nos vayamos a la escuela” „also er will nicht nicht er will nicht dass wir in die Schule gehen und ich in dieser Zeit hätte (würde) ich gerne gelernt (lernen) (.) ich hätte (würde) gerne lesen und schreiben gelernt (lernen) (..) aber mein Papá aber mein Papá wollte nicht (.) er wollte nicht also dann so war es dass wir nicht lesen konnten aber sie haben sich keine Sorgen gemacht das ist ihr Problem werden sie sagen nicht mehr also nein nein sie wollen nicht dass wir in die Schule gehen“ (8/17-22)
Die Biographieträgerin nimmt Bezug auf lebensweltliche Rahmenbedingungen des Aufwachsens und auf herausgebildetes habitualisiertes Orientierungswissen des Herkunftsmilieus. Der Vater wird als jemand dargestellt, der die Bildungsmöglichkeiten der Biographieträgerin ‚verhindert’. Die Mutter wird in dieser Passage wiederrum nur implizit thematisiert – der Entscheidungsträger ist männlich. Dieser Umstand kann als Hinweis auf männlich dominierte Gemeinschaftsstrukturen gedeutet werden. Maria setzt der Verhinderung ihren Wunsch, lesen und schreiben zu lernen, entgegen. Die Aneignung der Sprache der Dominanzgesellschaft stellt eine wichtige Voraussetzung dar, sich mit Kontexten außerhalb des Ortes in Beziehung zu setzen. Wie die Erzählerin an anderen Stellen verdeutlicht, geht es u. a. um Orientierung, Kommunikation und Erwerbstätigkeit. Die Haltung des Vaters bzw. der Mutter wird mit ‚Sich-keine-Sorgen-Machen’ beschrieben. Das Erlernen der Symbolsprache der Dominanzkultur wird als nicht
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notwendig erachtet. Dies verdeutlicht die bereits beschriebene relativ geschlossene Form der Gemeinschaft, die in sich funktioniert und Bildungsformen der Dominanzgesellschaft verweigert. An dieser Stelle wird noch einmal auf das von der Biographieträgerin konstruierte Entweder-oder-Schema verwiesen, das vor dem Hintergrund dieser Haltung des Herkunftsmilieus gesehen werden muss. In den folgenden Sequenzen verweist die Erzählerin auf verschiedene Aspekte in Bezug auf Analphabetismus. nicht lesen können (7/7-17) „y allí fue que ya no nos no sé hay no hay varios nos quedamos así pues no podemos leer hay mucha gente todavía que no supieron a leer (.) y allí se quedaron así ni modo que hacemos así por porque no no hay dinero (..) y no quiere nuestro papá y entonces no se puede (..) no se puede ya no fuimos a la escuela (.) ellos pues no pues también ellos no supieron leer también nuestro papá y mama no saben leer (.) sus papás sus mamás aquellos aquellos antiguos aquellos mi (..) abuelito mi tatarabuelo no saben leer no saben nada así crecieron como animalito (..) y así así fuimos nosotros también así fuimos porque no sabemos leer y así quedamos (..) así quedamos y allí ya este (..) pues qué va a decir nuestro papá nada no no dice nada ellos le (.) está bien está bien que no sabemos leer está bien no no se preocupó y así estamos y nos quedamos así vamos“ „und dort war es dass (ja) wir nicht ich weiß nicht es gibt nein es gibt Verschiedene wir sind so geblieben also wir können nicht lesen es gibt noch viele Leute die nicht lesen konnten (gelernt haben) (.) und dort sind sie so geblieben keine Art und Weise (Weg) dass wir es so machen weil es kein kein Geld gibt (..) und er will nicht unser Papá und dann man kann nicht (..) man kann nicht ja wir sind nicht in die Schule gegangen (.) sie also nein also auch sie konnten nicht lesen auch unser Papá und (unsere) Mamá können nicht lesen (.) seine Papás seine Mamás die dort die dort die Alten der dort mein (.) Großvater mein Urgroßvater können nicht lesen sie wissen nichts so sind sie aufgewachsen wie ein Tier (..) und so so waren wir auch wir waren so weil wir nicht lesen können und so sind wir geblieben (bleiben wir) (..) so sind wir geblieben und dort ja dies (..) also was wird unser Papá sagen nichts er sagt nichts nichts sie (.) es ist gut es ist gut dass wir nicht lesen können es ist gut er hat sich keine keine Sorgen gemacht und so sind wir und bleiben wir so gehen wir“ (8/28-35, 9/1-6)
Die Interviewpartnerin verweist in dieser Sequenz auf jene Gruppe von AkteurInnen, welche die Erfahrung mit ihr teilt, nicht lesen zu können. Maria verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass es Verschiedene gibt, die so geblieben sind: „hay varios nos quedamos así pues no podemos leer“. Die Bildungsverhinderung wird in einem allgemeinen Sinne – anhand des Fehlens von ökonomischen Ressourcen – und individuell mit der Haltung des Vaters begründet. In weiterer
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Folge gibt Maria Auskunft über die Generationen davor, die ebenfalls nicht lesen konnten: „sus papás sus mamás aquellos aquellos antiguos“ <seine Papás seine Mamás die dort die dort die Alten>. Damit wird dem Analphabetismus71 eine gewisse ‚Tradition’ zugewiesen, die sich vom Urgroßvater zum Großvater bis hin zum Vater fortgesetzt hat. Darüber hinaus nimmt die Biographieträgerin an dieser Stelle eine Bewertung vor, indem sie dem ‚Nicht-lesen-Können’ das ‚Aufwachsen wie ein Tier’ zuschreibt. Wenden wir uns zunächst dem Begriff ‚Tier’ zu, so beinhaltet diese Bedeutungszuschreibung eine Abgrenzung zu ‚Mensch-Sein’. Die Unterscheidung wird dabei anhand von ‚Lesen-Können’ bzw. ‚Nicht-lesen-Können’ getroffen. Die Biographieträgerin nimmt damit eine massiv abwertende Haltung gegenüber ihrem Herkunftsmilieu ein. Diese muss jedoch vor dem Hintergrund des Verlassens des sozialen Kontextes, indem sie aufgewachsen ist, gesehen werden. Das ‚Nicht-lesen-Können’ stellte die Biographieträgerin vor schwierige Herausforderungen im Umgang mit Lebenswelten, die sich außerhalb des Ortes befinden. Dennoch zeigt sich anhand dieser Bedeutungssetzung eine vertikale Anordnung der divergenten Wissensprofile bzw. – bestände, über welche die Interviewpartnerin verfügt. Die Lebensweise auf der Ranch wird der Lebensform in dem urbanen Raum untergeordnet und als etwas bewertet, das mit ‚wie Tiere leben’ als nicht menschlich markiert wird. Das ‚Nicht-Wahrnehmen’ der Wissensbestände des Herkunftsmilieus als etwas Eigenes – anderes, das als Ressource fungieren kann, wird ebenso anhand der Formulierung: „no saben nada“ <sie wissen nichts> besonders deutlich. Mit den Worten: „está bien que no sabemos leer“ <es ist gut dass wir nicht lesen können> beschreibt die Biographieträgerin die Haltung ihres Vaters, die sie ihrer kontrastierend gegenüber stellt. Die Orientierungsfolie, welche dadurch charakterisiert wird, zeichnet sich durch eine eher geschlossene Haltung gegenüber Einflüssen von außen aus. Die Formulierung: „y así estamos y nos quedamos así vamos“ weist auf ein Sinnsystem hin, das sich im ‚So-sein’ begründet und sich im Tun weiter fortsetzt. Eine Veränderung wird dabei nicht angestrebt. ‚So gehen wir’ kann als
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Exkurs Schriftsprache: An dieser Stelle soll darauf verwiesen werden, dass die Schriftkultur der ‚indigenen’ Bevölkerung durch die Konquista fast zur Gänze zerstört wurde. Die noch wenigen vorhandenen Codizes befinden sich als ‚Raubgut’ in Europa und wurden bis heute nicht zurückgegeben. Die Zerstörung der Schriftkultur hat dazu geführt, dass die AkteurInnengruppen, welche diese Sprachen nach wie vor benutzen, kaum noch Kenntnisse über die Darstellungsform dieser Sprachen vor der Konquista haben. Die heutige Schriftform ist in einem Prozess neuerlich entwickelt worden und wird durch Buchstaben des römischen Alphabets konstruiert. 72 Das deutsche Wort <sein> entspricht im Spanischen den Verben „ser“ und „estar“. Allgemein formuliert kann festgehalten werden, dass „ser“ einen relativ unveränderbaren Zustand und „estar“ vorübergehende Zustände oder Eigenschaften bezeichnet.
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Bewegung begriffen werden, die sich durch die Gemeinschaft mit ihren Regeln und Haltungen und ihren Akteurinnen ständig neu konstituiert. ‚damit sie etwas wissen’ (8/3-23) „mis sobrinitos sus hijitos de mi hermana también no saben leer hay unos grandes 2 grandes 2 3 grandes que están aquí en San Cristóbal no saben leer (..) no están en la escuela y los chiquitos hay chiquitos allí también no saben leer pero si les digo manda los a la escuela para qué los vas a tener aquí que vayan a la escuela para que sepan algo pero para qué dice mi hermana para qué lo voy a mandar pues ay pues que sepan algo que sepan algo los numeros pa´ que conozca no que no conoce nada (.) ay lo mando un poquito lo mando pero apenas ahorita no muy saben todavía (.) a ver si quieren los chamaquitos si no quieren pues vuelven a no van a saber leer como como te digo pues con trabajar y trabajar y nada mas allí en sus casas sus pollitos gallinitas sus animalitos (..) ahí solo eso lo que ven (.) solo lo que miran eso pues ya que lo traen y ya no quiere estudiar ya no quiere leer ya no quiere ir a la escuela pues no pues aparte los animales (...) aparte los animales que estén los animales pero necesita que vayan a la escuela ellos (..) que vayan a la escuela pero no no no quieren los chamaquitos no quieren pero (..) pero sí me di cuenta que si es bonito para para leer para saber a leer para saber las letras una cartita una cosa pues es bonito (..) pero si uno no sabe pues cosa vas a mirar no sabes nada (..) y eso y eso yo le digo por eso le digo pero no hay dinero como en la escuela se va a pagar se va a pagar la escuela pero tengo que pagar y donde voy a sacar dinero hasta la comida no hay (..) así dice mi hermana ay pero es una lástima porque (.) porque es bonito” „meine Neffen die (ihre) Kinder meiner Schwester sie können auch nicht lesen es gibt Große 2 Große 2 oder 3 Große die hier in San Cristóbal sind sie können nicht lesen (..) sie sind nicht in der Schule und die Kleinen es gibt Kleine dort sie können auch nicht lesen aber ja ich sage ihnen schicke sie in die Schule für was wirst du sie hier haben sie sollen in die Schule gehen damit sie etwas wissen aber für was sagt meine Schwester für was soll ich sie schicken also ay also damit sie etwas wissen damit sie etwas wissen die Zahlen damit sie sie kennen dass sie nicht nichts kennen (.) ay sie hat sie geschickt ein bisschen sie hat sie geschickt aber kaum jetzt wissen sie noch nicht sehr viel (.) mal sehen ja ob sie wollen die Kinder wenn sie nicht wollen also werden sie wieder nicht lesen können wie wie ich dir sage also sie mit arbeiten und arbeiten und nicht mehr dort in ihren Häusern ihre Hühner ihre Hähne ihre Tiere (..) dort nur dies ist was sie sehen (.) nur das schauen sie an dies also ja was sie bringen und ja sie will nicht mehr lernen sie will nicht mehr lesen sie will nicht mehr in die Schule gehen also nein also neben den Tieren (...) neben den Tieren die können sein aber es ist wichtig dass sie in die Schule gehen (..) dass sie in die Schule gehen aber nein nein sie wollen nicht die Kinder wollen nicht aber (..) aber ich habe gemerkt ja dass es schön ist zu zu lesen lesen zu können die Buchstaben zu kennen ein Briefchen eine Sache also es ist schön (..) aber wenn einer nicht
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Analyse des biographischen Raumes weiß also welche Sache wirst du anschauen du weißt nichts (..) und dies und dies das sage ich ihr deshalb sage ich ihr das aber es gibt kein Geld wie in der Schule muss man bezahlen man muss bezahlen in der Schule aber ich muss bezahlen und wo werde ich das Geld hernehmen selbst das Essen es gibt keines (..) so sagt meine Schwester ay aber es ist schade weil (.) weil es ist schön“ (9/29-35, 10/1-17)
In dieser Sequenz beschreibt die Interviewpartnerin den Kontakt bzw. die Interaktion mit ihrer Schwester. Anhand des ‚Lesen-Lernens’ – als Inhalt der Konversation – verdeutlicht die Biographieträgerin den Austausch in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Haltungen im Umgang mit Bildungserwerb. Die differenten Diskurse stellt die Interviewpartnerin in Form eines indirekten Dialoges dar: „que vayan a la escuela para qué sepan algo“ <sie sollen in die Schule gehen damit sie etwas wissen>. Der Schulbesuch intendiert etwas zu wissen. Dieser Absicht stellt sie die Haltung ihrer Schwester gegenüber. Diese fragt nach dem „para qué“ – nach dem Sinn bzw. der Motivation des Bildungserwerbs. In diesem Zusammenhang verweist Maria auf das Wissen von Buchstaben und Zahlen. Wie die folgende Formulierung deutlich macht: <welche Sache wirst du anschauen du weißt nichts> führt das ‚Nicht-lesen-Können’ zu einem ‚Nicht-Wissen’, das mit ‚Nichts-anschauen-Können’73 verschränkt wird. Das Wissen bezieht sich auf Wissensbestände der Dominanzgesellschaft, dessen Aneignung den AkteurInnen ermöglicht andere – als die vertrauten Dinge oder Zusammenhänge – zu betrachten. Damit wird noch einmal das Wirken von Exklusionsmechanismen im Zusammenhang mit dem Erwerb von Sprache, aber auch mit den damit verbundenen Relevanzsetzungen verdeutlicht. Die unterschiedlichen Sinnhorizonte sind von einer hohen Abgegrenztheit gekennzeichnet, können jedoch durch den Erwerb von Sprache ‚durchlässiger’ gemacht werden. Diese ‚Anpassungsleistung’ der Subjekte an die gegebene Situation, die auch in Form des Erwerbs von interkulturellen Kompetenzen gefasst werden kann, wird jedoch in dem konkreten sozialen Kontext vorwiegend von jenen AkteurInnen gefordert, die dem Sinnkontext angehören, der durch die Konquista unterworfen wurde. Dieser Anspruch geht mit der Forderung, das eigene Selbstund Weltverhältnis ‚aufzugeben’ bzw. zu transformieren, einher. Die Orientierung an der ‚Moderne’ wird vor diesem Hintergrund durch einen Prozess der Assimilation vollzogen, zu dem es – wie ‚propagiert’ wird – keine Alternative gibt. Diese Sequenz veranschaulicht die aktiven ‚Bemühungen’ der Biographieträgerin, Einfluss auf das Herkunftsmilieu zu nehmen und macht den relationalen 73
Ein weiterer Aspekt könnte im Subjekt-Subjekt Verhältnis als Präferenzsystem des Interagierens eines Individuums mit seiner Umwelt angedacht werden. Erst auf Basis eines reflexiven Vermögens tritt das Subjekt einem Objekt gegenüber, das betrachtet werden kann.
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Beziehungsraum zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten sichtbar. Das Dorf als Sinnsystem erscheint in dieser Darstellung durchlässiger. Dieser Umstand kann als Hinweis auf Veränderungsprozesse gedeutet werden. Die Verweigerung von formaler Bildung der Dominanzgesellschaft wird jedoch tendenziell fortgesetzt. Zentral ist der Bildungserwerb der Kinder, die als nächste Generation mit ‚anderen’ Herausforderungen konfrontiert werden. Als Bildungsverhinderung wird erneut das Fehlen von ökonomischem Kapital angeführt. Darüber hinaus wird die Motivation der Kinder, die ohne hinreichende sinnstiftende Haltung der Eltern die Schule nur ungern besuchen, hervorgehoben. Die Dimension des Überlebens als wesentlicher Bestandteil der Alltagsaktivitäten lässt den AkteurInnen nur begrenzten Handlungsspielraum. Den Bildungserwerb bilanziert die Biographieträgerin abschließend als persönliche Erfahrung, die schön ist. Wie bereits verdeutlicht wurde, geht diese Betrachtungsweise mit einer ‚Abwertung’ der Wissensbestände des Herkunftsmilieus einher. ‚einer weiß nicht’ (8/27-35, 9/1-3) “a veces (.) dan lástima cuando no saben leer dan lástima porque sí dan lástima una calle para ir a un una callecita no conoce uno donde se va va al mercado y no conoce donde queda el mercado donde esta el mercado (.) no sabe (.) pues es una vida triste (..) porque porque no sé sabe uno se eso es así como antes pues cuando vine aquí en San Cristóbal no sé leer (..) me vine para acá bajé por el Cristóbal Colon hasta allá (..) no sé ni dónde voy a ir y no sé ni dónde voy a ir porque no sé leer que cosa voy a mirar no sé (.) y y y caminaba yo caminaba yo perdida yo a dónde voy a ir y cual será el mercado a dónde voy al mercado no sabía yo para nada (..) pues ya que que después me orientaron unas personas por acá ya fué que supe para ir al mercado ya allí ya medio medio lo supe (.) no sabía yo (.) pues es una lástima que porque porque no nos mandó en la escuela pues nuestros papás pues por eso razón nos perdimos aunque está cerca” „manchmal (.) tun sie einem Leid wenn sie nicht lesen können sie tun einem Leid weil ja sie tun einem Leid eine Straße um zu einer kleinen Straße zu gehen die einer nicht kennt wo will man hingehen man geht zum Markt und man weiß nicht wo der Markt ist wo ist der Markt (.) man weiß (es) nicht (.) also es ist ein trauriges Leben (..) weil weil ich weiß nicht einer weiß nicht ich weiß dies es ist so wie früher also als ich hier nach San Cristóbal gekommen bin ich kann nicht lesen (..) ich bin hierher gekommen ich bin bei dem Cristóbal Colón74 ausgestiegen dort (..) ich weiß nicht wo ich hingehen werde und ich weiß nicht wo ich hingehen werde weil ich nicht lesen kann welche Sache werde ich anschauen ich weiß nicht (.) und und und ich ging und ich ging ich habe mich verirrt und wohin werde ich gehen und wo wird der Markt sein wo gehe ich zum Markt ich habe überhaupt nichts gewusst (..) also ja 74
Cristóbal Colón ist der größte Busbahnhof in San Cristóbal.
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Analyse des biographischen Raumes dass dass danach haben mir einige Leute von hier den Weg gezeigt (mir geholfen mich zu orientieren) dann habe ich schon gewusst wie man zum Markt geht ja dort halb halb habe ich es schon gewusst (.) (zuerst) habe ich es nicht gewusst (.) also es ist schade dass weil weil er uns nicht in die Schule geschickt hat also unsere Papás (Eltern) also aus diesem Grund verirren wir uns auch wenn es nahe ist“ (10/22-35, 11/1-2)
Die Biographieträgerin thematisiert in dieser Sequenz einen weiteren wesentlichen Aspekt, von dem AkteurInnen betroffen sind, die über keine oder nicht ausreichende Kenntnisse über das soziale Umfeld – in welchem sie sich aufhalten – und dessen kulturelle Wissensbestände verfügen. Das ‚Lesen-Können’ wird anhand dieses Beispiels als notwendige Voraussetzung für Orientierung ausgewiesen. Die Interviewpartnerin nimmt dabei eine bewertende Haltung ein. Nicht zu wissen, wo der Markt ist, wird von ihr als ‚ein trauriges Leben’ bezeichnet: „dónde esta el mercado (.) no sabe (.) pues es una vida triste“ <wo ist der Markt (.) man weiß (es) nicht (.) also es ist ein trauriges Leben>. Diese Aussage wird von ihr durch die persönliche Erfahrung fundiert. Sie erzählt von ihrem Ankommen in dem für sie zunächst ‚fremden’ Sinnkontext. Um sich zu orientieren und handlungsfähig zu sein, benötigt sie die Fähigkeit, lesen zu können. Bei der Orientierung im Alltag spielen gemeinsam geteilte Wissensbestände eine tragende Rolle. Um in Interaktion treten zu können, muss eine gemeinsame Sprache von den Akteurinnen gefunden werden, die eine Form des ‚Sich-Verständigens’ bzw. des ‚In-Beziehung-Tretens’ erst eröffnet. Wie bereits in der vorangegangenen Sequenz verdeutlicht wurde, sind es die Angehörigen ‚indigener’ Sinnkontexte, von denen diese Anschlussfähigkeit vermehrt gefordert wird. Nur wenige Angehörige der Dominanzgesellschaft sprechen oder verstehen ‚indigene’ Sprachen. Die Zweisprachigkeit ist bei jenen AkteurInnen gegeben, die sich verstärkt mit dem jeweils ‚anderen’ Sinnkontext auseinandersetzen. Von der Biographieträgerin werden beide Sinnkontexte in einem Entwederoder-Schema aufgeschichtet. Sie verlässt ihr ‚traditionelles’ Herkunftsmilieu, in welchem es ihr nicht möglich war, sich lernend andere, differente Orientierungsfolien anzueignen. Die unterschiedlichen Wissensbestände werden von ihr vertikal angeordnet. Sie errichtet sich ein ‚neues’ loseres soziales Netzwerk und findet Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit. Die Aneignungsprozesse von Fremdheit sind auf eine Erweiterung des Handlungsspielraumes gerichtet und intendieren individuelle Autonomie zu ermöglichen. Die entwickelten Handlungsstrategien bzw. die sozialen Praxen – als Antworten auf die vorgefundenen sozialen Rahmenbedingungen – werden in ihrem Lebensentwurf vor dem Hintergrund des ‚Alleine-Vorwärtskommens’ konstruiert und ausgerichtet.
‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel
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5.3 ‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel 5.3.1 Anmerkungen zum Interview mit Miguel Das dritte Fallbeispiel wurde ebenso vor dem Hintergrund eines kontrastierenden Vergleichsfalls ausgewählt. Das Herkunftsmilieu des Interviewpartners weist dabei die stärksten Wandlungstendenzen sowie Modernisierungsmerkmale auf. Die Position des Akteurs im sozialen Raum kann als eine beschrieben werden, die im Vergleich zu den anderen InterviewpartnerInnen von einem größeren Handlungsspielraum gekennzeichnet ist. Der Wohnort von Miguel liegt nordwestlich von San Cristóbal und kann mit einem Kollektivo, einem Kleinbus erreicht werden. Bei der Kontaktaufnahme unterschied sich der Interviewpartner von den anderen durch sein selbstbewusstes Auftreten, welches den Eindruck einer gewissen Routine im Umgang mit ‚Ortsfremden’ vermittelte. Ein erstes Kennen lernen sowie ein ausführliches Gespräch über das Forschungsthema erfolgte in dem Garten des Hauses des Interviewpartners. Bevor das Interview durchgeführt wurde zeigte mir Miguel sein Grundstück, das sich über einen Hügel erstreckt. Dabei erläuterte er die Möglichkeit einer ökonomischen Nutzbarmachung des Geländes, z. B. durch die Errichtung eines Golfplatzes, sowie die Wichtigkeit des Tourismus für seinen Ort. Nach einem ausgedehnten Spaziergang erklärte sich der Akteur bereit mit dem Interview zu beginnen. Ich erläuterte noch einmal die Art des Interviews sowie mein Interesse an seiner Lebensgeschichte. Das Interview dauerte fast zwei Stunden, jedoch erforderten technische Probleme eine kurze Unterbrechung. Das Interview wurde im Freien durchgeführt, wobei sich diese Situation dennoch als störungsfrei erwies. Miguel konnte ohne weiteres seinen Erzählfaden aufgreifen, ohne dass eine weitere Erläuterung notwendig war. Die Haupterzählung erstreckt sich über das gesamte Interview und wurde von der Interviewerin nicht durch Fragen unterbrochen. Als der Interviewpartner signalisierte seine Erzählung beendet zu haben, wollte er jedoch auf keine weitere Frage eingehen, weil er aus seiner Sicht alles gesagt hatte, was für ihn wesentlich war. Am Ende des Interviews wurde noch ein Foto gemacht, bei dem Miguel seine Tracht tragen und vor einem seiner Bilder abgebildet werden wollte. Aus Datenschutzgründen wird jedoch diese Aufnahme hier nicht veröffentlicht. Die Kontaktaufnahme, die Durchführung des Interviews sowie das Ausklingen der Interviewsituation erstreckten sich über einen ganzen Tag. Anschließend besuchte ich noch die Kirche in Chamula, die aufgrund ihrer Eigentümlichkeit, besonders interessant ist.
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Analyse des biographischen Raumes
5.3.2 Biographische Kurzbeschreibung Miguel Miguel ist in Pinictón im Gemeindegebiet San Juan Chamula aufgewachsen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er 43 Jahre alt. Er spricht Tzotzil sowie Spanisch. Wie er gleich zu Beginn betont, wurde er ‚auf einem Weg’ geboren. Seine Familie bezeichnet er im Interviewverlauf als arm. Sein Vater ist Campesino75, jedoch ohne eigenen Landbesitz, seine Mutter ist Weberin, hütet die Schafe und versorgt ihren Vater. Miguel besuchte die Primarschule, konnte das sechste Jahr jedoch aufgrund „von Armut aller Art“ (4/25-26) nicht beenden. Schon früh beginnt er mit Bleistift Zeichnungen zu machen, indem er Darstellungen, die er in Büchern sieht, kopiert. Mit neun Jahren wechselt seine Familie den Wohnort und sie ziehen direkt nach San Juan Chamula. Abseits der Schule begleitet er seine Eltern beim Brennholztragen und Wasserholen. Sein Vater nimmt ihn mit zu den Maisfeldern und auf die Jagd. Als Miguel siebzehn Jahre alt ist, geht er gemeinsam mit seinem Bruder nach Tuxtla Guitérrez76, um dort Arbeit zu suchen. Damit er als Arbeiter akzeptiert wird, muss er jedoch sein Alter um zwei Jahre erhöhen. Er beginnt seine Erwerbstätigkeit mit dem Säubern von Straßenrändern. Bei der Arbeit zeigt er seinem Chef seine Zeichnungen und dieser unterstützt ihn bei seinen Ambitionen das Zeichnen weiterzuentwickeln. Durch Geschenke, die er seinen Vorgesetzten mitbringt, eröffnet sich für ihn die Möglichkeit in die Werkstätte für Straßenschilder zu wechseln. Er lernt mit dem Malerpinsel umzugehen und aufgrund seiner Tätigkeit durchquert er den größten Teil des Bundesstaates Chiapas. Sieben Jahre, nachdem er die Primarschule abgebrochen hatte, entschließt sich Miguel erneut in die Schule zu gehen, um die Primaria sowie die Secundaria77 zu beenden. Seine Arbeit verrichtet er in dieser Zeit am Nachmittag sowie in der Nacht. Autodidaktisch entwickelt er seine Fähigkeiten als Zeichner und Maler weiter. Im zweiten Jahr der Secundaria erhält er in seiner Gemeinde einen Posten. Vor dem Hintergrund eines Machtwechsels wird er dann als drittes Ratsmitglied der Gemeinde gewählt. Aufgrund verschiedener Verpflichtungen muss er die Arbeit in Tuxtla Guitérrez beenden. Ein weiterer politischer Machtwechsel hat zur Folge, dass er von seinem Amt zurücktreten muss. Mit ein paar Freunden beginnt er für das ‚Subsecretaría de Asuntos Indígenas’ zu arbeiten, wo er erstmals als Zeichner beschäftigt wird. In diesem Kontext wird an ihn herangetragen, sich dem Zeichnen von ‚Indígenas’ und nicht dem von ‚Mestizos’ zu widmen. Miguel arbeitet acht Jahre in der Abteilung für die Verbreitung kultureller Förderung. Aufgrund eines neuerlichen politischen 75
Bauer Hauptstadt des Bundesstaates Chiapas 77 Die Primarschule wird ‚gewöhnlich’ mit einem Alter von 6 bis 12 Jahren, die Sekundarschule mit 13 bis 16 Jahren besucht. 76
‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel
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Machtwechsels kommt es zu Veränderungen in den Abteilungen und Miguel muss diese Arbeitsstelle verlassen. Er erhält eine Arbeit als Zeichner bei C.C.E.S.C. (Centro de Capacitación en Ecología y Salud para Campesinos), wo er im Rahmen der Betreuung guatemaltekischer Flüchtlinge Plakate entwirft. In dieser Zeit erhält er den Auftrag das ‚Popol Vúh’ – das Buch des Rates – zu illustrieren. Die Bilder werden später in Washington ausgestellt. Nach drei Jahren bekommt er das Angebot als Direktor des Hauses für Kultur in Chamula zu arbeiten. Durch einen erneuten politischen Machtwechsel, der mit dem Zapatistaaufstand im Zusammenhang steht, muss Miguel das Haus für Kultur verlassen und er beginnt noch einmal bei ‚Asuntos Indígenas’ zu arbeiten. Er erstellt sein erstes murales Werk in dem Festsaal des Institutes. Gleichzeitig wird er Gemeinderichter in San Juan Chamula. Aufgrund seiner Tätigkeit im Rahmen der kulturellen Verbreitung, die in dem Ort auf Widerstand stößt, muss er dieses Amt jedoch niederlegen. Nach dieser Zeit arbeitet Miguel als freischaffender Künstler. Der Auftrag eines muralen Werkes, für das er bereits einen Kostenvoranschlag erstellt hatte, wird – mit seinen Worten – durch das ‚Massakers von Acteal’ zunächst verhindert, dann aber später doch umgesetzt. Als besonders wesentliches Anliegen hebt Miguel die Verbreitung der ‚Kultur und Tradition’ seines ‚Heimatdorfes’ hervor. 5.3.3 Strukturelle Beschreibung Miguel Die strukturelle Beschreibung erfolgt wie bei den vorangegangenen Fallbeispielen in einer zweisprachigen Form und anhand von Kernpassagen, die von der Forscherin nach Sichtung des gesamten Interviewmaterials als wesentlich erachtet wurden. Der Erzähler beginnt seine Lebensgeschichte mit den folgenden Worten: Eingangssegment (Segment 1, 1/4-35) B: “Yo me crecí digamos de una familia este (..) aquí dice mi mamá que iba yo a nacer en el camino porque mi mamá y mi papá se fueron a San Cristóbal desde temprano mi mamá estaba embarazada y ya estaba a punto de dar la luz pero no había fecha entonces este (..) de regreso ya por allá por la quinta de regreso a pié de repente empieza un dolor en el vientre de mi mamá no se afligió para venir caminando un poco para tomar tiempo de que (..) qué tál pueda arbortar en el camino ya que por acá por tres (..) por por cruz obispo sierra entonces este (..) sentía mayor el dolor desde así me lo contó todo de repente este (..) ya más por acá por Nazareno se llama hay un (..) hay una cumbrecita allá por Nazarenatik se llama en tzotzil así le dicen al lugar y mi papá que caminaba más ligerito y mi mamá estaba atrasada
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Analyse des biographischen Raumes unos cien metros digamos entonces este (..) dice hijole pero hay dos (..) hay una vereda si y si tomo por Soanaltík dice hay una (..) hay un lugar que que donde se cree que son piedritas y Soanaltik es un lugar donde cae mucho aerolito ese es lo que se cree no bueno (..) si tomo este camino por Soanaltik voy a tardar un poco más mejor como hay mucha gente tengo que pasar en la plaza que dijo mi Mamá entonces de repente tomó por Nazareno y pasa por acá más arriba y (..) y medio rapidíta se vino corriendo ya por allá por ya (..) Olores se llama Agua del Niño y a punto de abortarse ya con más dolor y mi papá como tomó otro camino para pasar en la plaza entonces se quedó sentado por ahí esperando a su mujer y que no venía que no venía y que no vení pasó talvéz media hora (.) más una hora quizás pero mi mamá tomó otro camino y que se llegó antes pué y que al llegar otro treinta minuto y nací pué era un dia miercoles como a las tres de la tarde sí como estas horas pero y mi papá tardó y no venía y no venía y no venía la hermana mayor de mi mamá lo avisaron por favor mejor vé a topar en el camino y por ahí se venía otro por Soanaltik talvéz entonces este (..) mi papá que (..) se vino pero de repente se paró mi (..) mi tía mayor por Calomosil se llama por el mirador por ahí se viene de repente apenas se aparece allá uuh todavía y venía despacio pensaba por ahí al saber donde que pasaría si y que baja mi tía a topar a mi (..) a mi papá y le dice Sebastián Sebastián ya nació el niño ahí estoy esperando todavía allá y que no venía no que tomó otro camino pues y así jué78 (sic) así me nací me crié con una familia muy pobre” B: „Ich wuchs auf sagen wir in (von) einer Familie dieses (..) hier meine Mamá sagt ich wurde auf einem Weg geboren weil meine Mamá und mein Papá (seit) früh nach San Cristóbal gingen meine Mamá war schwanger und schon an dem Punkt (bereit) das Licht zu geben aber da war kein Datum dann dieses (..) auf dem Rückweg dort entlang nach La Quinta auf dem Rückweg zu Fuß begann plötzlich ein Schmerz im Unterleib meiner Mamá nicht sie war betrübt (besorgt) weiterzugehen ein wenig um Zeit für zu nehmen für (..) es könnte sein dass sie eine Fehlgeburt auf dem Weg hat da weil hier entlang bei Tres (..) bei bei Cruz Obispo Sierra dann dieses (..) sie fühlte den Schmerz stärker so erzählte sie mir alles plötzlich dieses (..) schon mehr hier nach Nazareno so heißt es gibt es einen (..) gibt es einen kleinen Hügel dort in Nazarenatík so heißt es in Tzotzil so nennen sie diesen Ort und mein Papá der viel flinker ging und meine Mamá blieb etwas zurück sagen wir einhundert Meter dann dieses (..) sie sagt hijole aber es gibt zwei (..) es gibt einen Pfad ja und wenn ich den nach Soanaltik nehme sagte sie (dort) gibt es einen (..) gibt es einen Ort der der wo man glaubt dass es Steinchen gibt und Soanaltik ist ein Ort wo viele Aerolitos herunterfallen das ist es was man glaubt nicht gut (..) wenn ich diesen Weg nach Soanaltik nehme werde ich mich etwas mehr verspäten besser weil es gibt viele Leute (und) ich muss den Platz passieren (überqueren) sagte meine Mamá dann plötzlich nahm sie den nach Nazareno und sie kam hier entlang viel höher und (..) und halb schnell kam sie laufend schon hier entlang schon bei (..) Olores so heißt Agua del Niño und an dem Punkt eine Fehlgeburt zu haben schon mit mehr Schmerz und mein Papá der einen anderen Weg genommen hatte um den Platz zu überqueren
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Das Wort „jué“ kann mit „fué“ gleichgesetzt werden.
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dann er blieb sitzend dort wartend auf seine Frau und sie kam nicht sie kam nicht und sie kam nicht es verging vielleicht eine halbe Stunde (.) mehr eine Stunde vielleicht aber meine Mamá nahm einen anderen Weg und sie kam früher an dann und es kamen weitere 30 Minuten und ich wurde geboren dann es war ein Tag Mittwoch etwa um 3 Uhr Nachmittags ja wie diese Stunden aber und mein Papá verspätete sich und er kam nicht und kam nicht und kam nicht die große Schwester meiner Mamá wurde benachrichtigt bitte es ist besser ihn auf dem Weg zu treffen und dort entlang ist ein anderer Weg nach Soanaltik vielleicht dann dieses (..) mein Papá der (..) kam aber plötzlich hielt meine (..) meine ältere Tante an in Calomosil so heißt es bei dem Aussichtspunkt dort entlang kam er plötzlich fast erscheint er dort uuh noch und er kam langsam und dachte dort (drüben) wer weiß wo was könnte passieren wenn und meine Tante ging runter um meinen (.) um meinen Papá zu treffen und sie sagte Sebastián Sebastián das Kind wurde schon geboren dort ich warte noch (immer) dort und sie kam nicht nein weil sie hat einen anderen Weg genommen dann und so war es so wurde ich geboren ich bin in einer sehr armen Familie aufgewachsen79 (aufgezogen worden)“ (1/4-35, 2/1-6)
Das Eingangssegment des Interviewpartners unterscheidet sich von den vorangegangenen diskutierten Fallbeispielen durch die Form der Selbstthematisierung. Der Biographieträger beginnt mit dem Bild des Aufwachsens in seiner Familie. Der Satz wird unterbrochen und der Interviewpartner ratifiziert erneut die Erzählaufforderung, indem er die Ereignisse rund um seine Geburt schildert. Diese Darstellung kann als eine Art ‚Einschub’ betrachtet werden, der als Erzählfaden das Eingangssegment dominiert. Das Ereignis der Geburt wird aus der Sicht der beteiligten Ereignisträgerinnen dargestellt und stellt demnach keine explizite Erfahrung des Biographieträgers dar, sondern vielmehr eine erzählte Begebenheit, welche Miguel vermutlich durch seine Mutter übermittelt bekommen hat. ‚Auf einem Weg geboren zu sein’ fungiert dabei als Form der Selbstthematisierung. Die Geburt wird als etwas thematisiert, das sich außerhalb eines ‚gewohnten Rahmens’ ereignet. Die damit verbundenen Umstände werden von Miguel detailliert geschildert. Seine Mutter und sein Vater gehen früh nach San Cristóbal. Diesen Weg legen sie zu Fuß zurück, auch wenn seine Mutter hoch schwanger ist. Die Formulierung: “y ya estaba a punto de dar la luz” kann als eine – in dem sozialen Kontext – ‚gebräuchliche’ Metapher für das Ereignis der Geburt verstanden werden. Der Erzähler verweist darauf, dass das Datum der Geburt ungewiss ist. Auf dem Rückweg bekommt seine Mamá Schmerzen und es droht eine Fehlgeburt. Weil der Vater den Weg schneller zurücklegt, steht sie vor der Entschei79
Das Verb „criar“ kann mit dem Begriff übersetzt werden und ist mit dem Aneignen von Gewohnheiten wie mit der Idee des Erziehens verbunden. „Crecer“ hingegen drückt stärker den Gedanken des körperlichen Aufwachsens aus.
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Analyse des biographischen Raumes
dung, einen der zwei möglichen Wege zu wählen. Die örtlichen Markierungen, die der Biographieträger vornimmt, werden explizit in Tzotzil ausgewiesen und erläutert. Einer von den beiden Wegen wird, aufgrund von herunterfallenden Aerolitos, als länger bzw. beschwerlicher beschrieben. Die Mutter entscheidet sich einen anderen Weg als der Vater zu nehmen und bringt das Kind ohne ihn zur Welt. Vom Biographieträger wird das genaue Datum sowie die Uhrzeit seiner Geburt ausgewiesen. Er schließt dieses Segment, indem er die Familie – in der er aufgewachsen ist – als sehr arm benennt. Die Merkmale der Erzählung sind auf den Körper, auf konkrete physische Orte und auf die Zeit fokussiert und enthalten einen hohen narrativen Anteil. Wesentliche Passagen werden durch indirekte Dialoge, welche die beteiligten Personen führen, veranschaulicht. Die Ereignisse rund um die Geburt werden vom Biographieträger als dramatische Geschichte mit glücklichem Ausgang präsentiert. Diese Art der Selbstthematisierung im Eingangssegment wurde von der Forscherin in Form einer Metapher gefasst. In diesem Zusammenhang werden verschiedene Lesarten angeboten, welche unterschiedliche Aspekte – die in der Darstellung enthalten sind – näher beleuchten: M
‚aufgewachsen in einer armen Familie’
Der Biographieträger leitet die Ereignisse rund um die Geburt mit den Worten: „Yo me crecí digamos de una familia este” . Danach erfolgt die erneute Ratifizierung der Erzählaufforderung durch die Darstellung der Umstände der Geburt. Der Erzähler schließt diese Sequenz mit der Formulierung: “me crié con una familia muy pobre” . Das Beginnen wie das Schließen des Eingangssegmentes mit dem Kontext ‚Familie’ kann als Hinweis gelesen werden, dass sich der Akteur veranlasst sieht, den sozialen Rahmen des Aufwachsens zu detaillieren. Der soziale Kontext wird anhand einer Ich-Thematisierung – durch das Ereignis der Geburt – ins Zentrum gestellt. In der Darstellung können Anhaltspunkte zu den lebensweltlichen Rahmenbedingungen jener Zeit gefunden werden, in welche die Ereignisse eingebettet sind: Die EreignisträgerInnen legen die Wege zu Fuß zurück. Ein Transportmittel ist entweder nicht vorhanden oder kann nicht genutzt werden. Ebenso enthalten ist der Aspekt, dass eine Frau – trotz ihres hochschwangeren Zustandes – diesen beschwerlichen Weg auf sich nimmt. Dieser Umstand wird auf eine Weise dargestellt, die darauf schließen lässt, dass dies weder für den Mann noch für die Frau ‚ungewöhnlich’ zu sein scheint. Der Mann begleitet seine Frau nicht
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während des Gehens, sondern er eilt ihr voraus. Die ‚drohende Fehlgeburt’ wird nicht durch die unterstützende Haltung des Mannes ‚abgefedert’. Ein weiteres Element der Darstellung ist die Fähigkeit als Frau ‚alleine’ zu gebären. Die Anwesenheit des Mannes ist dabei nicht unbedingt notwendig. M
‚die Geburt bzw. die drohende Fehlgeburt als Anker der Selbstthematisierung’
Die Geburt bzw. die drohende Fehlgeburt, die in der Schilderung präsent sind, stellen unterschiedliche Möglichkeiten dar, welche grundlegende Konsequenzen für den Biographieträger mit sich bringen. Als Form der Selbstthematisierung wird das entscheidende Moment des Seins oder Nicht-Seins, des Geboren- bzw. Nicht-geboren-Werdens ins Zentrum gerückt. Die Mutter entscheidet sich für einen Weg, der aus ihrer Sicht in dieser Situation der bessere zu sein scheint. Auch ohne Hilfe ihres Mannes bringt sie das Kind zur Welt. Die dramatische Geschichte mündet in die Geburt des Biographieträgers, der nun seinerseits über eine eigene Geschichte verfügt. Von ihm werden der Wochentag sowie die Uhrzeit als relevante Marker benannt. M
‚ein außergewöhnliches Ereignis’
Vor dem Hintergrund einer Künstlerbiographie bietet sich in diesem Zusammenhang die Lesart einer ‚außergewöhnlichen Geschichte’ an, die als Anker der Selbstthematisierung dient. Die vom Interviewpartner rekapitulierte autobiographische Darstellung kann als Erfolgsgeschichte unter ‚schwierigen’ Bedingungen betrachtet werden. Der soziale Rahmen, in welchen der Biographieträger eingebettet ist, erfordert eine hohe Gestaltungsfähigkeit. Sein Werdegang veranschaulicht eine ‚außergewöhnliche’ Geschichte, die durch die besonderen Umstände der Geburt unterstrichen bzw. eingeleitet wird. Der soziale Kontext wird über das Ich gespiegelt – der Akteur ist das Zentrum des Geschehens. Einen weiteren Aspekt stellen die in der Darstellung enthaltenen Hinweise auf die Sprache Tzotzil dar, die hervorgehoben und erläutert werden. Diese Form der Einbettung kann als wesentliche Strategie des Biographieträgers betrachtet werden, diese Art von Wissen ‚erfolgreich’ an andere Wissensbestände anzuschließen. Sie erscheinen in diesem Zusammenhang als etwas Außergewöhnliches, als ein Wissen, über das der Biographieträger verfügt. Mit der folgenden Sequenz setzt der Interviewpartner seine Erzählung fort:
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Analyse des biographischen Raumes Schulzeit (Segment 2, 1/35, 2/1-6) „pues es (.) campesino y lo que se trabaja la tierra así vive mi papá pues este mi abuelito de mamá siempre aquí arriba en Pinictón y mi papá es de Cruz quemada sí y me metieron en la escuela claro veía yo algunos carros o unas motocicletas que circulaban de Larraínzar para San Cristóbal de eso nada más me llamó la (…) atención para tomar un lápiz o lapicero en aquel tiempo y empecé a tomar papel y cuaderno y y no me llamó mucho la atención lo que me ensenaba el maestro más que lo que (.) mi travesura de hacer pintar mis cuadernos no” „dann er ist (.) Bauer und das was man (mit) der Erde arbeitet so lebt mein Papá dann dieses mein Großväterchen von (meiner) Mamá (war) immer hier oben in Pinictón und mein Papá ist von Cruz Quemada ja und sie schickten mich in die Schule klar ich habe einige Autos gesehen oder Motorräder welche von Larraínzar nach San Cristóbal zirkulierten davon erweckte nur das meine (...) Aufmerksamkeit um einen Bleistift oder Kugelschreiber zu nehmen in dieser Zeit und ich begann Papier und Heft zu nehmen und und es erweckte nicht sehr meine Aufmerksamkeit was der Lehrer mir zeigte mehr (noch) es war (.) mein Streich meine Hefte zu bemalen nicht“ (2/6-14)
Anschließend an das Eingangssegment führt der Interviewpartner den Großvater mütterlicherseits sowie die Tätigkeit seines Vaters ein. Der Wechsel des Erzählstils verdeutlicht das Eröffnen eines ‚neuen’ Erzählsegments. Der Vater wird als Bauer bezeichnet und auf die damit verbundene Tätigkeit, die in seinem Leben Relevanz hat, verwiesen. Beide werden anhand von geographischen Markierungen eingeführt. Der soziale Kontext Familie wird an dieser Stelle nicht weiter detailliert. Mit den Worten: „y me metieron en la escuela claro” leitet der Interviewpartner direkt zu seiner Schulzeit über. Kontrastierend zu den bereits besprochenen Fallbeispielen wird der Schulbesuch als etwas Selbstverständliches ausgewiesen. Das Bemalen der Hefte bildet das ‚Hauptthema’ der Schulzeit. Der Biographieträger nimmt damit eine Verortung seiner künstlerischen ‚Neigung’ vor, die bereits mit früher Kindheit beginnt. Das Zeichnen selbst wird als eine Art ‚Streich’ beschrieben und der Aufmerksamkeit, die sich auf den Lehrer richtet, gegenübergestellt. Die zirkulierenden Autos und Motorräder dienen als Anregung, diese zeichnerisch darzustellen. Der Interviewpartner gibt in dieser Sequenz Auskunft über lebensweltliche Rahmenbedingungen – einerseits über das Vorhandensein von Fahrzeugen, andererseits über die Möglichkeit, die Primarschule zu besuchen.
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Lebenswelt Kindheit (Segment 3, 2/17-25) “aparte de eso pues mi mis papás siempre piden para cargar leña y para mi mamá para cargar agua porque no hay agua entubada en aquellos tiempos solamente en la cueva siempre en las cuevas así que este (..) íbamos cargando agua un cantaríto un puk´ep como le llamamos ese es puk´ep casi cantaríto pero no es no es (….) es cántaro para nosotros pero cántaro pero ese es puk´ep como vasija se puede llamar pero de barro hecho de aquí cargaba yo más agua con ese me enojaba talvéz porque no me gustaba cargar el agua pues pues como no ´tá parejo se dá la vuelta así lloraba yo para cargar agua jach jach jach” „abseits davon dann mein meine Eltern bitten mich immer Brennholz zu tragen und für meine Mamá Wasser zu tragen weil es kein Leitungswasser gibt zu jener Zeit (in diesen Zeiten) nur in der Höhle immer in den Höhlen so dass dies (.) wir trugen das Wasser in einem Krügchen in einem puk’ep wie wir es nennen das ist ein puk’ep fast ein Krügchen aber es ist kein es ist kein (...) es ist ein Krug für uns aber Krug aber das ist puk’ep wie Gefäß kann man es nennen aber aus Lehm gemacht hier ich trug mehr Wasser mit diesem ich war verärgert vielleicht weil es mir nicht gefallen hat Wasser zu tragen dann dann weil es nicht gerade ist es dreht sich so habe ich geweint weil ich Wasser trage ha ha ha (lacht)“ (2/27-35)
Der Biographieträger beschreibt die Lebenswelt des Aufwachsens ‚abseits’ der Schule. Ausgangspunkt der Erzählung sind, wie bei den bereits diskutierten Fallbeispielen, alltägliche Tätigkeiten, die gemeinsam mit den Eltern, Tanten und Geschwistern verrichtet werden und welche die Lebenswelt der Kindheit prägen. Das Brennholz wird getragen, das Wasser wird getragen. Der Interviewpartner verweist darauf, dass es kein Leitungswasser gibt. Dieser Umstand wird mit dem Zusatz: “en aquellos tiempos” versehen. Damit verortet der Interviewpartner das Nicht-Vorhandensein von Leitungswasser in der Vergangenheit und gibt gleichzeitig Auskunft über Veränderungen in dem konkreten sozialen Kontext. Das Wassertragen wird anhand eines Gegenstandes – einem puk’ep – näher beschrieben: „íbamos cargando agua un cantaríto un puk´ep como le llamamos” <wir trugen das Wasser in einem Krügchen in einem puk’ep wie wir es nennen>. Die Wir-Konstruktion bringt die gemeinsame Tätigkeit sowie den gemeinsam gebrauchten Begriff, auf den der Interviewpartner explizit hinweist, zum Ausdruck. Worte in Tzotzil werden in die Erzählung eingeflochten und deren Bedeutung dargelegt. Wie bereits im Eingangssegment, veranschaulicht diese Darstellungsform die Art und Weise, wie die unterschiedlichen Wissensbestände vom Interviewpartner innerhalb des biographischen Raumes eingebettet werden. Die folgenden Passagen geben Einblick in die Lebenswelt der Kindheit des Biographieträgers:
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Analyse des biographischen Raumes „mi papá siempre le gusta la cacería y a temprana edad íbamos al monte para cazar este (.) ardillas y conejo siempre usábamos una escopetita de pólvora cuando crecí tenía su escopeta siempre y se juntan de dos y tres o más amigos de él otros vecinos íbamos pues si los encontrábamos una ardilla le echaba yo en la bolsa para cargar aveces traen dos tres o cuatro cinco ardillitas y también hay este (.) le llaman pepenchuch ardilla voladora también abundaba a todo todo había hay ´orita sí pero ´orita ya la gente se calmó ya no este (.) se dedican a la cacería por que (.) ya toman otro camino para trabajar (..) y así de tantos años este (.) me crecí” (2/2735) „meinem Papá gefällt immer die Jagd und in frühen Jahren sind wir auf den Berg um zu jagen dieses (.) Eichhörnchen und Hasen immer benutzten wir ein Gewehrchen mit Pulver als ich aufgewachsen bin hatte er immer sein Gewehr und sie treffen sich mit zwei oder drei oder mehr Freunden von den anderen Nachbarn gingen wir dann wenn wir ein Eichhörnchen fanden warf ich es in einen Sack zum Tragen manchmal bringen sie zwei drei oder vier fünf Eichhörnchen und es gibt auch diese (.) sie heißen pepenchuch Flugeichhörnchen auch reichlich von allen alles gab es reichlich gibt es jetzt ja aber jetzt haben sich die Leute schon beruhigt schon nicht dies (.) sie haben mit der Jagd aufgehört weil (.) ja sie schlagen einen anderen Weg ein um zu arbeiten (.) und so in diesen ganzen Jahren dieses (.) bin ich aufgewachsen“ (3/3-13)
Miguel wird als Kind von seinem Vater mit auf die Jagd genommen. Gemeinsam mit dessen Freunden geht er auf den Berg Eichhörnchen jagen. Seine Aufgabe war es, die erlegten Tiere in einen Sack zu werfen. Wiederum werden entsprechende Bezeichnungen vom Biographieträger auf Tzotzil ausgewiesen. Die Erfahrungen selbst werden anhand eines ‚Wirs’ dargestellt. Mit den Worten: “´orita ya la gente se calmó” wird das Damals dem Jetzt vergleichend gegenübergestellt. Der Interviewpartner verweist darauf, dass sie – die Leute – einen anderen Weg eingeschlagen haben. Dies kann als ein weiterer Hinweis auf Veränderungsprozesse innerhalb des konkreten sozialen Umfelds verstanden werden. Die Ereignisse der Kindheit gelten als welche, die der Vergangenheit angehören und die in der Jetzt-Zeit nicht mehr erfahren werden können. Damit erhalten diese – auch durch die Art der Darstellung – etwas Bedeutungsvolles. Sie sind Teil der Erfahrung des Biographieträgers und können von ihm dokumentiert werden. “cuando (..) pasaban unos señores de ese campamento híjole no sabía hablar nada de español me daba miedo hablar totalmente y pasaron a pedir agua me acuerdo no tienes agua para tomar pues agua que quiere (.) quería decir je je je me escondí me iba todo al monte (.) dentro de la milpa corriendo casi era yo casi animal (lacht) si que tristeza verdad no hablar español no y así me crecí” (3/18-23)
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„als (.) einige Männer (Herren) bei diesem Lager vorbeigingen hijole ich wusste (nichts) kein Spanisch zu sprechen es machte mir total Angst zu sprechen und sie sind vorbeigekommen um um Wasser zu bitten ich erinnere mich hast du kein Wasser zu trinken also Wasser was will (.) was hat das geheißen je je je ich habe mich versteckt ich ging ganz zum Berg (.) hinein in das Maisfeld laufend fast ich (war) fast wie ein Tier (lacht) ja wie traurig (welche Traurigkeit) stimmt’s nicht Spanisch sprechen nicht und so bin ich aufgewachsen“ (3/34-35, 4/1-6)
Das Ereignis, welches vom Interviewpartner geschildert wird, beschreibt den Kontakt mit Personen, die einem anderen Sinnkontext angehören. Die Differenz wird anhand des Gebrauchs unterschiedlicher Sprachen markiert. Aufgrund der Begegnung, die mit Angst vor den Vorbeikommenden verbunden ist, versteckt sich Miguel im Maisfeld. Diese Reaktion wird vom Biographieträger mit den Worten: „casi era yo casi animal” in Beziehung gesetzt. Das Lachen des Interviewpartners unterstreicht dabei die retrospektive Darstellungsform einer ‚lustigen’ Episode. Die Begegnung mit ‚Fremdem’, auf die der Biographieträger mit Angst bzw. Flucht reagiert, erfährt retrospektiv eine Neubewertung. Das Fremd-Sein wird durch Sprachkenntnisse ausgewiesen, die sich der Biographieträger in seinem weiteren Leben angeeignet hat. Der Zustand des Nicht-Verfügens über die entsprechenden Sprachkenntnisse wird von Miguel als etwas Trauriges klassifiziert und mit dem Zusatz: „así me crecí” <so bin ich aufgewachsen> zeitlich zugewiesen. Die nachfolgende ausgewählte Sequenz beschreibt soziale Rahmenbedingungen, in denen der Biographieträger aufgewachsen ist. ökonomische Rahmenbedingungen (Segment 5, 4/3-14) “ya mi escuela lo tomé aquí en Chamula pero por la pobreza de todas maneras no terminé mi sexto año que es la educación primaria pues tuvimos que seguir buscar trabajo en tierra caliente para limpiar milpa pá sembrar milpa para pizcar no pero no propiedad de mi papá sino también que buscando trabajo pues para comprar algo de cobijas nuestra camisa algo de ropitas y (.) pues para pagar el maíz del autoconsumo familiar (.) mi mamá pues ella es tejedora y tenía una hermanita nadamás pero como la artesanía no estaba un poco desarrollado como actualmente pues no se podía vender lo que tejía mi mamá su actividad era nomás cuidar borrego en caso de algunas necesidades de enfermedad o algunas lo lo que falta de consumir es vender un borrego sí y hay que llevarlo a San Cristóbal para vender para sobrevivir y algunos gastos para cubrir y entonces así me crecí en tierra caliente sin que yo terminara mi primaria” „ja meine Schule habe ich schon in Chamula genommen aber aufgrund von Armut aller Art habe ich mein sechstes Jahr nicht beendet welche die Primarschule ist dann mussten wir weiter Arbeit suchen auf heißer Erde um das Maisfeld zu säubern
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Analyse des biographischen Raumes um Mais zu säen (aufzuziehen) um zu ernten nicht aber kein Eigentum von meinem Papá sondern er musste auch Arbeit suchen (Arbeit suchend) dann um ein paar Decken zu kaufen unser Hemd etwas Kleidung und (.) dann um den Mais zu zahlen für die familiäre Selbstversorgung (.) meine Mamá dann sie ist Weberin und sie hatte ein Schwesterchen nicht mehr aber wie das Kunsthandwerk noch nicht ein bisschen entwickelt war wie augenblicklich dann konnte sie nicht verkaufen was sie webte meine Mamá ihre Aktivität war nicht mehr als die Schafe zu hüten im Fall von einigen Notwendigkeiten von Krankheit oder einiges was was zum Verbrauchen (konsumieren) fehlte ist ein Schaf zu verkaufen ja und man muss es nach San Cristóbal zum Verkaufen bringen um zu überleben und einige Ausgaben abzudecken und dann so bin ich auf heißer Erde aufgewachsen ohne meine Primarschule zu beenden“ (4/25-35, 5/1-4)
Der Interviewpartner beginnt diese Sequenz, indem er darauf verweist, die Schule bereits in Chamula besucht zu haben. Damit bezieht er sich auf einen Ortswechsel, den er zuvor im Interviewverlauf schilderte. Als er 9 Jahre alt war, zieht seine Familie direkt nach San Juan Chamula. Aufgrund der ökonomischen Rahmenbedingungen kann Miguel seine Primarschule nicht beenden. Er muss in der sechsten Klasse – dem letzten Jahr – aufhören. Als Begründung für die Bildungsverhinderungen nennt er: „pobreza de todas maneras” . Gemeinsam mit seinem Vater sucht er Arbeit auf den Maisfeldern. Dies wird von ihm mit dem Zusatz „en tierra caliente” versehen. Der Biographieträger verwendet im Interview die Begriffe ‚heiße’ und ‚kalte’ Erde. Diese Formulierungen beziehen sich auf klimatische Bedingungen des physischkonkreten Raumes. Miguel schildert die unterschiedlichen Aktivitäten der einzelnen Familienmitglieder, die mit Gelderwerb in Zusammenhang stehen. Diese sind notwendig, um bestimmte Güter kaufen zu können. Ebenso wesentlich ist der Anbau von Mais für die familiäre Selbstversorgung. Der Interviewpartner betont dabei, dass seine Familie über kein eigenes Land verfügt. Die Schafe, welche die Mutter hütet, dienen ebenfalls als Einnahmequelle für die Familie. Anhand der Tätigkeit der Mutter als Weberin veranschaulicht Miguel wiederum einen Wandel innerhalb des sozialen Umfeldes. Das Zusammenwirken der Einzelnen führt dazu, dass das familiäre Überleben gewährleistet wird. Der Interviewpartner schließt dieses Segment, indem er noch einmal auf das Aufwachsen unter den konkreten Rahmenbedingungen verweist, die dazu geführt haben, dass er seine Primarschule nicht beenden konnte: „y entonces así me crecí en tierra caliente sin que yo terminara mi primaria” . Richtet sich der Blick vergleichend auf die bereits diskutierten Fallbeispiele so zeigt sich, dass die in dieser Sequenz angesprochenen ökonomischen Rahmenbedingungen ebenso als ‚arm’ ausgewiesen werden. Auffällig ist jedoch,
‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel
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dass die Handlungsebene der einzelnen AkteurInnen besonders hervorgehoben wird. Die Bedingungen sind ‚nicht einfach’, werden jedoch von den AkteurInnen in dem Zusammenwirken als Familie über unterschiedliche Handlungsaktivitäten ‚gelöst’. Auch Miguel muss dabei seinen Beitrag leisten. Dies führt dazu, dass er seine Primarschule nicht beenden konnte. Wie bereits an anderen Stellen im Interview verdeutlicht wurde, verweist der Biographieträger auf Veränderungen in dem konkreten sozialen Kontext, die vor allem die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit betreffen. Im weiteren Interviewverlauf schildert Miguel den Einstieg in die Erwerbstätigkeit. Gemeinsam mit seinem Bruder geht er nach Tuxtla Guitérrez, in die Hauptstadt von Chiapas, um eine Arbeit zu suchen. Um jedoch als Arbeiter ‚akzeptiert’ zu werden, muss er sein Alter um zwei Jahre erhöhen: „así pero faltaba este (.) tocar para que yo pudiera sacar mi credencial o mi cédula cuarta para que me tomen como trabajador debo tener dieciocho años tuve que aumentar mi edad dos años más para poder sacar mi mi credencial” (4/18-20) <so aber es fehlte dies (.) an der Reihe zu sein dass ich meine Identifikationskarte oder meine cédula cuarta (Militärausweis) bekommen könnte dass sie mich als Arbeiter nehmen ich müsste achtzehn Jahre haben ich musste mein Alter erhöhen zwei Jahre mehr um meine meine Identifikationskarte bekommen zu können> (5/711). Der Interviewpartner erhöht sein Alter, um die normative Vorgabe des Alters zu erfüllen. Auf das Weggehen vom Elternhaus wird vom Biographieträger nicht näher eingegangen. Miguel beginnt bei einer Stelle, die für Straßenreinigung zuständig ist, zu arbeiten. soziale Praxis des Vorankommens (Segment 7, 4/27-35, 5/1-10) “bueno ya como en setenta y siete un ingeniero se llama (.) se llamó (.) este como se llama Roberto Guillén Auguncio es un joven ingeniero como de la edad del amigo es un Comiteco él (.) yo como le mostraba yo mi mi mis dibujos creo que en el setenta y seis setenta y cinco dibujaba yo un retrato del gobernador que era el doctor Manuel Velásco Suárez y también al presidente Luis Echeverría como estába lo dibujaba yo Luis Echeverría los mostraba yo a los al ingeniero mira como está mi dibujo así tá bueno pero tus dibujos tá bien hay que desarrollarlos dice bueno así de peón era yo porque (..) la que (.) el que mandaba siempre era mi cabo cabo a su restante su restante al ingeniero bueno le llebava yo su posh a mi cabo para que me ayude un poco a menos trabajo me porté muy bien a mi cabo le fuí a pedir favor de que me cambiara mi chamba en lugar de ayudante a limpiar camino que me cambiaran a ver que me pueden dar mejor entonces este me ayudaba a ir a buscar leña a traer leña para hacer comida como eso a traer leña ya no a a trabajar en el camino pero (..) este yo lo consideré muy muy bien a mi cabo y su restante constantemente de repente también el tiempo de elote le llovía (.) le llevaba yo mi elote al ingeniero y y talvéz este (.) me vieron talvéz así de buena gente dice un día talvéz hubieron
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Analyse des biographischen Raumes cambio de trabajadores en el taller de senalamiento tú dice vas a ayudar aquí en los talleres del senalamiento dice aah bueno” „gut schon 77 ein Ingenieur er heißt (.) er hieß (.) dies wie heißt er Roberto Guillén Auguncio er ist ein junger Ingenieur im Alter von dem Freund er ist ein Comiteco er (.) weil ich ihm mein mein meine Zeichnungen zeigte ich glaube 76 75 zeichnete ich ein Porträt vom Gouverneur welcher der Doktor Manuel Velásco Suárez war und auch den Präsidenten Luis Echeverría wie er war zeichnete ich Luis Echeverría diese zeigte ich dem dem Ingenieur schau wie meine Zeichnungen so sind es ist gut aber deine Zeichnungen es ist gut du musst sie weiterentwickeln sagt er gut so wie ein Arbeiter war ich weil (..) die die (.) der der mich immer angewiesen hat war mein cabo (Vorarbeiter) (der) cabo von seinem restante (nächster Chef) sein restante vom Ingenieur gut ich brachte meinem cabo seinen Posh80 damit er mir ein bisschen hilft weniger Arbeit (zu bekommen) ich verhielt mich sehr gut mit meinem cabo ich ging ihn um einen Gefallen zu bitten dass er meine Arbeit (chamba) wechseln wird anstelle eines Helfers die Straße zu reinigen dass sie mich wechseln um zu sehen was sie mir Besseres geben können dann dieses er hat mir geholfen zu gehen um Brennholz zu suchen Brennholz zu tragen um Essen zu machen wie dies Brennholz zu tragen nicht mehr auf der Straße zu arbeiten aber (.) dies ich war sehr sehr rücksichtsvoll (vertrauensvoll) mit meinem cabo und seinem Chef (restante) kontinuierlich plötzlich auch in der Zeit von Elote81 (regnete) (.) brachte ich meine Elote zum Ingenieur und und vielleicht dies (.) sie sahen mich vielleicht so als guten Menschen an er sagte an einem Tag vielleicht haben wir einen Wechsel bei den Arbeitern in der Werkstätte für Schilder gehabt du sagt er du wirst hier in der Werkstätte für Schilder helfen sagt er ahh gut“ (5/18-35, 6/1-4)
Die Sequenz wird mit der Jahreszahl sowie mit einem Ereignisträger, der zunächst mit der Berufsbezeichnung genannt wird, eingeleitet. Dieser wird dann vom Biographieträger anhand des Namens, des Alters sowie dem ‚Herkunftsort’ näher erläutert. Miguel präsentiert ihm seine Zeichnungen, die er abseits seiner Arbeit fertigt. Der Interviewpartner macht sowohl auf das Entstehungsdatum wie auf die dargestellten Motive aufmerksam. Mit den Worten: „tá bueno pero tus dibujos tá bien hay que desarrollarlos” <es ist gut aber deine Zeichnungen es ist gut du musst sie weiterentwickeln es ist gut du musst sie weiterentwickeln> beschreibt der Interviewpartner – in Form eines indirekten Dialoges – die Reaktion des Ingenieurs. Die Aufforderung die Zeichnungen weiterzuentwickeln, die hier ausgewiesen wird, kann als Hinweis verstanden werden, dass der Biographieträger seine Fertigkeiten im Zusammenhang mit Malerei kontinuierlich weiterentwickelte. Ebenso wesentlich ist die interaktive Ebene des Präsentierens der eigenen Arbeiten. Die Zeichnungen müssen von anderen als beachtenswert befunden 80 81
Zuckerrohr-Maisschnaps Maiskolben ohne Deckblätter
‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel
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werden. Der Ingenieur, wie anhand des gesamten Interviews deutlich wird, hatte eine wesentliche unterstützende Rolle für den Biographieträger auf seinem Werdegang als Künstler. Der Interviewpartner leitet im Erzählfaden direkt zu seiner Arbeitssituation über, indem er auf seinen innehabenden Status verweist: „bueno así de peón era yo” . Diese Position wird anhand von vorhandenen Hierarchien näher veranschaulicht. Miguel wird als Arbeiter angewiesen, bestimmte Tätigkeiten durchzuführen. Er versucht sich innerhalb dieser Konstellation mit den Vorgesetzten zu ‚arrangieren’. Der Interviewpartner bringt ihnen Geschenke wie Posh und Elote mit und intendiert damit die Verbesserung seiner Arbeitssituation. Soziale Beziehung zu relevanten Personen, die in dem jeweiligen Kontext über mehr ‚Macht’ als der Biographieträger verfügen, werden dabei aufgebaut. Diese sind von einem Abhängigkeitsverhältnis gekennzeichnet, das durch die ungleichen Positionen der EreignisträgerInnen zueinander erzeugt wird. Die vom Biographieträger entwickelte Strategie beschreibt eine soziale Praxis des Umgangs mit Hierarchien. Die Handlungsmöglichkeiten des Biographieträgers sind begrenzt, werden jedoch durch ein ‚Sich-in-Beziehung-Setzen’ mit Vorgesetzten gestaltbar gemacht, wie etwa durch die Formulierung: „me vieron talvéz así de buena gente“ <sie sahen mich vielleicht so als guten Menschen an> verdeutlicht wird. Die Ebene des Beeinflussbaren richtet sich auf die Art und Weise, wie ‚man’ von anderen AkteurInnen gesehen wird. In diesem konkreten Fall intendiert der Biographieträger eine Veränderung, welche von ihm nicht direkt initiiert werden kann. Die aufgebauten Beziehungen eröffnen ihm die Möglichkeit als Arbeiter das System zu beeinflussen und den Handlungsspielraum zu erweitern. Wie durch den weiteren Verlauf des Interviews sichtbar wird, geht es um die Errichtung von persönlichen Netzwerken, die für das Vorankommen des Biographieträgers relevant sind. Damit im Zusammenhang ist die Nennung der jeweiligen EreignisträgerInnen zu sehen, die mit fortschreitendem Interview zunimmt. Die Wichtigkeit von Namen – die explizit ausgewiesen werden – steht in Verbindung mit gesellschaftlichen Positionen bzw. Ämtern, welche diese innehaben. Auf Basis des gesamten Interviews können drei soziale Praxen des Vorankommens des Interviewpartners formuliert werden. Die unterschiedlichen Strategien des Biographieträgers greifen dabei ineinander, werden vom Biographieträger wechselseitig eingesetzt und stehen in einem sich verstärkenden Zusammenhang.
sozialer Aufstieg durch das Errichten von Beziehungsnetzwerken in Form von ‚Seilschaften’ innerhalb hierarchischer Strukturen
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Analyse des biographischen Raumes Bildung als Kapitalsorte, die den sozialen Aufstieg begünstigt autodidaktisches Aneignen von Kenntnissen, um eigene Fertigkeiten weiterzuentwickeln
Die Orientierung an einem sozialen Aufstieg steht bei dem Bildungserwerb des Biographieträgers im Vordergrund. In diesem Zusammenhang verweist der Interviewpartner auf seinen damaligen Chef, den Ingenieur: „si no estudias no vale tu trabajo dice” <wenn du nicht studierst dann zählt deine Arbeit nicht sagt er>. Damit nimmt der Biographieträger Bezug auf Bedingungskonstellationen innerhalb des sozialen Kontextes. Diese werden in Form eines Außens formuliert – eines Akteurs, der als ‚Sprachrohr’ vorhandener normativer Orientierungsfolien fungiert. In der Zeit, als Miguel in der Werkstätte für Straßenschilder arbeitete, entschließt er sich noch einmal in die Schule zu gehen, um seine Primaria und dann die Secundaria zu absolvieren. Trotz der Doppelbelastung, welche durch die Arbeit und Schule entstanden, beendet er die Primaria. Aufgrund der Gründung einer Sekundarschule kann er diese in San Cristóbal besuchen: zweiter Bildungsweg (Segment 9, 6/2-24) „(.) se había fundado una escuela secundaria federal para trabajadores porque mucha gente que no tienen secundaria los trabajadores sólo primaria así así tal vez el gobierno de (.) de (.) ya López Portillo y Jorge de la Vega Domínguez crearon las escuelas secundarias que era federal para trabajadores que me voy a inscribir en la escuela federal para trabajadores y lo que pasó estaba yo para primero de secundaria segundo de secundaria y trabajandome talleres de señalamiento para que no me saquen ya del (.) del (.) trabajo tengo que mucho estar ahí en Tuxtla entonces este (.) Roberto Guillén estaba (.) contento ya una vez que (.) estaba yo pensando así ´ora sí ya estoy en la secundaria pero tengo que seguir crear ´ora que termine yo mi secundaria voy a seguir la prepa tenga yo y si tengo un empleo pues porque me dijo el ingeniero ´ora nadamás de que vas a subir en tu categoría orale hay que salgamos” „(.) sie gründeten eine Schule Secundaria Federal für Arbeiter weil (es gibt) viele Leute die keine Secundaria haben die Arbeiter nur Primaria so so vielleicht die Regierung von (.) von (.) schon Lopez Portillo und Jorge de la Vega Domínguez errichteten die Sekundarschulen dass sie (bundes)staatlich für die Arbeiter waren ich werde mich einschreiben in die staatliche Schule für Arbeiter und was passierte ich war in der ersten der Secundaria in der zweiten der Secundaria und (gleichzeitig) arbeitete ich in der Werkstätte für Schilder dass sie mich nicht entlassen schon von der (.) von der (.) Arbeit ich muss sehr lange dort in Tuxtla sein dann dieses (.) Roberto Guillén war (.) zufrieden ja einmal dass (.) ich hatte gedacht so jetzt ja bin ich schon in der Secundaria aber ich muss fortsetzen zu schaffen jetzt dass ich meine Secundaria beende ich werde meine prepa (preparatoria) fortsetzen habe ich und
‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel
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wenn ich einen Job habe dann weil der Ingenieur sagte mir jetzt nur wirst du aufsteigen in deiner Kategorie orale wir müssen weitergehen“ (6/32-35, 7/1-22)
Der Erzähler spricht davon, dass eine Secundaria für Arbeiter gegründet wurde. In diesem Zusammenhang veranschaulicht er das Erreichen unterschiedlicher ‚Bildungsniveaus’ in dem sozialen Kontext, wobei er darauf hinweist, dass Arbeiter meist nur über eine Primärbildung verfügen. Im Zentrum dieser Sequenz steht der soziale Aufstieg des Biographieträgers. Werden Schulbildung und die Neigung zu zeichnen zunächst als Gegensätze82 vom Interviewpartner eingebettet, so zeigt sich anhand dieser Passage, dass sie nun als sich ergänzend in Form einer Aufstiegsorientierung angeordnet werden. Der Ingenieur tritt wiederum als Vermittler normativer Erwartungen auf. Zudem ist das Einverständnis des Arbeitgebers eine wesentliche Voraussetzung für die Bewältigung der Doppelbelastung. Bildung steht in diesem Kontext für das Vorankommen durch den Erwerb eines Schulabschlusses und fungiert als kulturelle Kapitalsorte. Wie anhand der folgenden Passage verdeutlicht werden soll, stellt das autodidaktische Lernen, das Aneignen von Fertigkeiten im Zusammenhang mit Malen und Zeichnen, eine weitere wesentliche Strategie des Biographieträgers dar: autodidaktisches Lernen (Segment 10, 7/11-29) „pues una vez ya estando en Tuxtla ya desarrollar constantemente mi dibujo mi dibujo sí dibujaba yo mucho a Antonio Aguilar mucho a Pedro Infante mucho los chingones de México lo que veía yo lo que era chingón ´ora sí me puse a dibujar ya sea triplay la tablita delgada los dibujaba yo la siluetita para pararlo mi Santo el enmascarádo aquí y así todos sí pero así me desarrollé mi mi mi actividad propia pué aprendí ah poco a poco voy juntando mis mi mi mis estilógrafos de todo puntillas” „dann einmal schon in Tuxtla seiend schon meine Zeichnung kontinuierlich weiterentwickeln(d) meine Zeichnung ja ich zeichnete viel Antonio Aguilar viel Pedro Infante viel die Guten (Berühmten) von Mexiko was ich sah das war gut jetzt ja ich widmete mich zu zeichnen ja sei es triplay83 das dünne Holz ich zeichnete die Silhouette um ihn meinen maskierten Heiligen festzuhalten hier und so alle ja aber so habe ich meine meine meine eigene Aktivitäten weiterentwickelt dann habe ich gelernt ah Schritt für Schritt habe ich meine mein mein meine Füllfedern zusammenbekommen alle Arten von Schreibgriffel“ (8/12-32)
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siehe Segment 2 ‚Schulzeit’ Da von der Forscherin keine entsprechende Übersetzung gefunden werden konnte, wurde der Begriff übernommen.
83
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Analyse des biographischen Raumes
Das Zeichnen, das der Biographieträger bereits in seiner Kindheit verortet, stellt etwas dar, das er sein ganzes Leben verfolgt, wie die folgende Formulierung ebenso verdeutlicht: „dibujo jugando constantemente en el dibujo siempre así toda mi vida” (Segment 4, 3/25) (4/8-9). Miguel erwirbt sich die dafür notwendigen Utensilien und entwickelt seine Fähigkeiten beständig weiter. Die unterschiedlichen Strategien, welche der Interviewpartner verfolgt, haben eine Form der Verwobenheit des biographischen Entwurfs mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Folge, die vom Akteur ein hohes Maß an Flexibilität fordert. Diese Verschränkung eröffnet dem Biographieträger Handlungsoptionen, führt jedoch auch zu Verhinderungen aufgrund von Verpflichtungen, die der Biographieträger eingeht: soziale Rahmung (Segment 11, 7/29-35, 8/1-27) „y ya cuando estaba yo en segundo segundo de secundaria en el ochenta algo así y me nombran me dan un cargo aquí como (.) un un un un este (.) un miembro de la presidencia un cargo menor pues bueno pues tuve que aceptar pero eso hay que estar siempre los domingos y en en las fiestas ya ya estandome siempre en mi taller desarrollando como ayudante de pintor así aprendí a pintar kilometraje como como esas señales de seguro las señales que lo traje todavía no si tiene más de veinte años sí bueno era señal de camino pues y así en el ochenta namás venía yo en las fiestas o los domingos siempre aquí pero siguió un cambio de poder digamos este (.) en los constitucionales hubo un problema económico que (.) hubieron fraude (.) muchas cosas no una corrupción interna del municipio que manejaron mal un dinero que daba un gobernador es que daba efectivo a los presidentes municipales que un gobernador se llamó Juan Sabines Gutierrez entonces los trabajos que ejercen el municipio pero por la por la mala técnica no hay conocimiento administrativo económico entonces este (.) hubo malversación de fondo entonces nombraron un tál como presidenta de consejo se llamó Mario Heráz Hernández y también a Mario López Méndez como el este (.) segundo consejal y miembro y me nombraron la gente público así por votos como tercer consejal híjoles entonces ya me quedé así ya puesto un poco más más más más más proporción no pero dije que ya no puedo ir a Tuxtla tuve que renunciar en el trabajo de Tuxtla me renuncié ya no puedo yo intenté de pedir permiso para dos años pero necesitaba estar dos años para cubrir tres años de servicio constitucional y dos años de servicio consejal y así me quedé al mismo tiempo me aceptaron aquí como tercer consejal miembro de la presidencia pero me dieron otros cargos como presidente como comisario de servicios comunales para ver el problema del municipio del terreno bueno y al mismo tiempo como también convidé mi educación primaria como secretario híjole me cuadrapié de no entenderme que es lo que se podría hacer ese el ochenta y dos ochenta y tres y así hice año y medio de de comisariado pues y el consejal miembro del consejal tercer consejal pues dos años ya en el este (.) ochenta y dos ochenta y tres (.) ochenta y
‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel
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tres y allí un febrero del ochenta y tres me renuncié del comisariado sí me renuncié porque ya ya estoy solo con otros miembros porque ya no era algo los los los miembros anteriores porque ya terminó el periodo constitucional entonces hay un cambio y con los nuevos equipos ya es diferente tuve que renunciar” „und als ich schon in der zweiten zweiten der Secundaria war in dem (Jahr) 80 so in etwa und sie ernennen mich sie geben mir einen Posten hier wie (.) ein ein ein ein dieses (.) ein Mitglied von der Präsidentschaft ein niedriger Posten dann gut dann musste ich akzeptieren aber dieses ich musste immer sein an den Sonntagen und zu den den Festen schon schon war ich immer in meiner Werkstatt mich weiterentwickelnd als ein Malerhelfer so lernte ich Entfernungen (kilometraje) zu malen wie wie diese Sicherheitsschilder diese Schilder welche ich noch immer gebracht habe nicht ja es sind mehr als zwanzig Jahre ja gut es war (gab) ein Straßenschild dann und so in dem (Jahr) 80 nicht mehr ging ich zu den Festen oder den Sonntagen immer hierher aber es kam ein Machtwechsel sagen wir dieses (.) in den Konstitutionen (sic) gab es ein wirtschaftliches Problem dass (.) es gab (sie machten) einen Betrug (.) viele Dinge nicht eine interne Korruption der Gemeinde dass sie veruntreut (schlecht gehandhabt) haben ein Geld welches ein Gouverneur gegeben hatte es ist sie gaben den Gemeindepräsidenten Bargeld welches ein Gouverneur er hat Juan Sabines Gutierrez geheißen dann die Arbeiten die die Gemeinde macht aber wegen der wegen der schlechten Technik gibt es keine ökonomische administrative Kenntnis dann dieses (.) gab es Unterschlagung von Fonds dann ernannten sie irgendjemand als Präsidenten des Rates er hat Mario Heráz Hernández geheißen und auch Mario López Méndez wie ihn dieses (.) zweiter Rat und Mitglied und sie ernannten mich die allgemeinen (öffentlichen) Leute so mit Stimmen als dritter Rat hijoles dann schon bin ich geblieben so schon ich hatte ein bisschen mehr mehr mehr mehr mehr Anteil nicht aber ich habe gesagt dass ich nicht mehr nach Tuxtla gehen kann ich musste auf die Arbeit in Tuxtla verzichten ich hörte auf ich kann nicht mehr ich habe beabsichtigt um Erlaubnis für zwei Jahre zu fragen aber ich benötigte zwei Jahre (zu bleiben) um drei Jahre des Servicios Constitucional abzudecken (zu vervollständigen) und zwei Jahre Servicio Consejal und so bin ich geblieben zur gleichen Zeit haben sie mich akzeptiert hier als drittes Ratsmitglied des Vorsitzes (der Präsidentschaft) aber sie haben mir noch andere Posten gegeben wie Präsident wie Kommissar der kommunalen Dienste um die Probleme der Gemeinde des Gebietes zu sehen gut und zur gleichen Zeit habe ich auch meine Primärbildung geteilt als Sekretär hijole ich war verwirrt nicht zu verstehen was es ist was gemacht werden könnte dies 82 83 und so machte ich ein Jahr und ein halbes im im Kommissariat danach und der Rat Mitglied des Rates dritter Berater dann zwei Jahre schon in dem (Jahr) dieses (.) 82 83 (.) 83 und dort ein Februar von 83 bin ich zurückgetreten vom Kommissariat ja ich bin zurückgetreten weil schon schon ich bin allein mit anderen Mitgliedern weil schon es war nicht etwas die die die früheren Mitglieder weil ich beendete schon die konstitutionelle Periode dann gibt es einen Wechsel und mit den neuen Teams schon es ist anders ich musste zurücktreten“ (8/32-35, 9/1-35)
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Analyse des biographischen Raumes
Im zweiten Jahr der Secundaria erhält Miguel in seiner Gemeinde einen ‚niedrigen’ Posten: “me nombran me dan un cargo aquí” <sie ernennen mich sie geben mir einen Posten hier>. Die Formulierung verweist darauf, dass dieser Posten nicht aufgrund von Eigeninitiative bzw. einem direkten Anstreben ‚erhalten’ wird, sondern etwas darstellt, zu dem ‚man’ ernannt wird bzw. etwas, das einem gegeben wird. Der Interviewpartner fährt fort: “pues tuve que aceptar” . Das ‚Akzeptieren’ kann als Kode für das Übernehmen eines Postens oder einer Arbeit verstanden werden. Der Begriff ‚muss’ legt die Vermutung nahe, dass für den Biographieträger – vor dem Hintergrund des sozialen Umfeldes – ein gewisser Druck besteht, diesen anzunehmen. Die gesellschaftlichen Konventionen in der Gemeinde sind möglicherweise so angelegt, dass der angebotene Posten akzeptiert werden muss. Im Zusammenhang mit der Ernennung ist der Biographieträger nun verpflichtet, an den Sonntagen wie an bestimmten Feiertagen anwesend zu sein. Der Verweis, den der Erzähler an dieser Stelle vornimmt, verdeutlicht die bereits angesprochene Verwobenheit des biographischen Entwurfs mit gesellschaftlichen Strukturen. Darin enthalten ist zudem das Weiterentwickeln von Fertigkeiten, das Miguel kontinuierlich verfolgt. Er betont dabei als Malerhelfer tätig zu sein. Innerhalb des biographischen Gewordenseins erhält dieser Umstand insofern Relevanz, indem der Biographieträger in einer chronologischen Aufeinanderfolge zunächst auf den Status als Arbeiter verweist, dann auf den eines Malerhelfers und im weiteren Interviewverlauf die Selbstdarstellung anhand eines Zeichners oder Malers erfolgt. Damit verdeutlicht Miguel sein ‚Hauptkonstrukt’ als Künstler, dem er ein biographisches Gewordensein zugrunde legt. Vor dem Hintergrund eines Machtwechsels verändert sich die Situation für Miguel. Die Abhängigkeit von gesellschaftlichen Machtstrukturen führt immer wieder zu Brüchen im biographischen Verlauf, aber auch zu der Möglichkeit, sich ‚neue’ Handlungsumwelten zu erschließen. Eine interne Korruption hat Veränderungen auf der politischen Ebene zur Folge. Diese Situation führt dazu, dass die Ratsmitglieder von der Gemeinde neu gewählt werden. Miguel wird demzufolge drittes Ratsmitglied. Damit verbunden ist die Übernahme von sozialer Verantwortung und sozialen Verpflichtungen. Miguel muss aufgrund seiner Tätigkeit in der Gemeinde seine Arbeit in Tuxtla aufgeben: “ya puesto un poco más más más más más proporción no pero dije que ya no puedo ir a Tuxtla tuve que renunciar en el trabajo de Tuxtla me renuncié ya no puedo” . Das Anteil-Haben verdeutlicht ein stärkeres Involviert-Sein in die Tätigkeiten der Gemeinde und ist ebenso mit einem gewis-
‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel
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sen Maß an Macht-Innehaben verbunden. Die Möglichkeit, die sich eröffnet, geht einher mit der Verhinderung, die Arbeit in Tuxtla weiter fortzusetzen. Die mit den Posten verbundenen Anforderungen müssen vom Akteur ‚ausgefüllt’ werden. Der Interviewpartner formuliert dies folgendermaßen: “y al mismo tiempo como también convidé84 mi educación primaria como secretario híjole me cuadrapié85 de no entenderme que es lo que se podría hacer” . Die Erfahrungsverkettung wird an dieser Stelle durch den Begriff zum Ausdruck gebracht. Diese Formulierung verweist auf unterschiedliche Anforderungen auf verschiedenen Ebenen, mit denen sich der Akteur ‚gleichzeitig’ konfrontiert sieht. Das angeeignete Wissen der Primarschule wird eingesetzt und muss anschlussfähig gemacht werden. Dieser Umstand wird durch den Ausdruck ‚Teilen’ veranschaulicht. Der Begriff „cuadrapié“ verdeutlicht zudem eine Irritation, welche durch die an den Akteur gestellten Erwartungen bedingt und im weiteren Verlauf bewältigt wird. Der Biographieträger verbleibt zwei Jahre in dieser Position, muss dann jedoch zurücktreten. Ein erneuter Wechsel führt zu Veränderungen, von denen der Akteur direkt betroffen ist. Wie durch diese Sequenz veranschaulicht wurde, ist der biographische Entwurf eng an das gesellschaftliche Gefüge gekoppelt. Die in der gesellschaftlichen Struktur vorhandenen Wandlungstendenzen sind in Form von Einwirkungen von ‚außen’ sichtbar und erzeugen Veränderungsprozesse innerhalb der Handlungsumwelten des Biographieträgers. Aufgrund der vorhandenen Verflechtungen haben sie direkte Auswirkungen auf den Akteur. Im Umgang damit müssen vom Biographieträger Strategien entwickelt werden, diese ‚abzufedern’ bzw. handhabbar zu machen. Einerseits ergeben sich aus diesen Veränderungen ‚neue’ Optionen für den Interviewpartner, andererseits führen sie ebenso zu Brüchen in den für den Biographieträger relevanten Bereichen. Miguel beginnt als Zeichner in dem ‚Subsecretaría de Asuntos Indígenas’ in der Abteilung zur Verbreitung kultureller Förderung zu arbeiten. In diesem Rahmen wird an ihn herangetragen, nicht ‚Mestizos’, sondern ‚Indígenas’ zu zeichnen: „bueno pero pero mi dibujo era diferente me dedicaba así a dibujar mestizos pero me pide mi jefe necesitaba yo dibujar indígenas aaaaah” (8/3135, 9/1) . Die Anforderungen, die an den Akteur gestellt werden, erfordern das Adaptieren der ‚Gewohnheit’ Mestizos86 darzustellen. Welches Konzept der Unterscheidung den sozialen Konstrukten ‚Mestizos’ und ‚Indígenas’ zugrunde liegt, wird an dieser Stelle nicht direkt ausgewiesen. Der Interviewpartner ratifiziert diese Aufforderung, indem er sich auf das Abbilden traditioneller ‚indigener’ Kleidung konzentriert. Aufgrund eines weiteren politischen Wechsels muss Miguel diese Abteilung verlassen. Er beginnt bei C.C.E.S.C. (Centro de Capacitación en Ecología y Salud para Campesionos) als Zeichner zu arbeiten. In diesem Rahmen bekommt er den Auftrag das Popol Vúh zu illustrieren. Popol Vúh – das Buch des Rates (Segment 15, 9/33-35, 10/1-15) “ah pero también en el en el en el ochenta y siete el doctor Jacinto Arias Pérez jefe de mi departamento me me pidió que ilustrara el Popol Vúh el pincel mágico el Popol Vúh tuve que leer el Popol Vúh para conocer que imaginarías para dibujar el Popol Vúh aah pero con las platicas que se divulgan con la sabiduría que conocen lo que me platicaron mi abuelito mi abuelita todo lo que saben la creación del mundo laaa (.) leyenda los cuentos la proporción de la tierra la creación de seres humanos han platicado así sí como se han pasado las generaciones así contar cuando empecé a leer el Popol Vúh cuando me dij (.) me dí cuenta también que está escrito así los primeros seres los seres y los (.) la tercera más o menos humanos así se mejoró el trabajo del señor creador entonces empecé a ilustrar ochenta y siete el Popol Vúh que se co (.) que costó ciento veinticinco cuadros así se quedó en el ochenta y ocho se quedó ahí otro departamento” „ah aber auch in dem in dem in dem (Jahr) 87 der Doktor Jacinto Arias Pérez Chef von meiner Abteilung er hat mich mich gebeten dass das Popol Vùh (Buch des Rates) zu illustrieren der magische Pinsel das Popol Vúh ich musste das Popol Vùh lesen um zu wissen was du imaginiert hast um das Popol Vúh zu zeichnen aah aber mit den Gesprächen (Unterhaltungen) die sich verbreiten mit dem Wissen welches sie wissen das was sie mir erzählt haben mein Großvater meine Großmutter alles was sie wissen die Schöpfung der Welt diiie (.) Legende die Geschichten die Proportion von der Erde die Schöpfung des menschlichen Seins haben sie so erzählt ja wie die Generationen vorübergegangen sind so zu erzählen als ich angefangen habe das Popol Vúh zu lesen als sie mir sa (.) habe ich bemerkt auch was geschrieben ist so die ersten Seienden die Seienden und die (.) die Dritten mehr oder weniger Menschen so hatte sich die Arbeit verbessert von dem Herrn Schöpfer dann habe ich begonnen 87 das Popol Vúh zu illustrieren was gek (.) was gekostet (benötigt) hat 125
86
zu dem Begriff „Mestizo“ siehe Kapitel 2.2
‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel
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Bilder so verblieb es in dem (Jahr) 88 es blieb dort in einer anderen Abteilung“ (11/13-32)
Der Interviewpartner wird ‚als Indígena’87 mit der Illustrierung des Popol Vúhs88 beauftragt, ohne dass ihm die Weltsicht seiner Vorfahren explizit zugänglich ist. Die dem Buch zugrundegelegten Weltbezüge müssen erneut interpretiert werden, um bildlich dargestellt zu werden. Miguel veranschaulicht, wie er sich das damit verbundene Wissen zugänglich macht. Dabei geht es nicht nur darum, dieses Buch zu lesen, sondern die darin enthaltenen Sinnstrukturen zu dekodieren. In diesem Zusammenhang spricht der Interviewpartner von Wissen, das er von seinem Großvater und seiner Großmutter erzählt bekommen hat und das sich in Form von Gesprächen verbreitet. Die Vorfahren erhalten vor diesem Hintergrund den Status von TrägerInnen dieser Wissensbestände. Der Biographieträger wird auf Basis des ethnischen Zuschreibungsprozess Experte der Weltsicht seiner Vorfahren. Kunst fungiert in dem konkreten sozialen Rahmen als Medium der Vermittlung dieser Sinnstrukturen. Miguel erhält in Washington, wo das von ihm illustrierte Popol Vúh ausgestellt wird, besondere Anerkennung als Künstler. Er wird ebenso nach Nueva York eingeladen, wo er über ‚indigene’ Gebrauchsgegenstände Auskunft gibt. Im Zentrum seiner künstlerischen Tätigkeit steht die Vermittlung von sogenannter ‚indigener’ Weltsicht und ‚Gebräuchen’. ‚Indigene’ Wissensbestände werden re-inszeniert und erhalten dabei die Zuschreibung von etwas Bedeutungsvollem. Inwieweit der Biographieträger eine gewisse Form der Kommerzialisierung der ‚indigenen Kosmologie’ verfolgt, soll anhand der folgenden Sequenz beleuchtet werden:
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Die Formulierung ‚als Indígena’ verweist in diesem Zusammenhang auf einen ethnischen Zuschreibungsprozess, der aufgrund der im gesellschaftlichen Kontext angelegten determinierenden Interpretationsfolie wirksam wird und vor dem Hintergrund der Illustrierung des Popol Vúhs Relevanz erhält. 88 Das Popol Vúh – das Buch des Rates – ist ein umfassendes Werk, ein Schöpfungsmythos mit den kosmogonischen Ideen der ‚Qiché-Maya’ des Hochlandes von Guatemala. Die Kompilation aus Gesetzgebung, Dichtung und Geschichtsschreibung ist dabei mit der Bibel vergleichbar (vgl. Freidel, Schele 1999, S. 62ff). Darin beschrieben werden die Schöpfungsgeschichte der Welt sowie die Erschaffung des Menschen, der mehrere Versuche vorausgingen. Den Versuchen aus Lehm und Holz folgte die Erschaffung des Menschen aus Mais – Mais wird demzufolge als ‚Urstoff’ des Menschen verstanden. Ebenso enthalten sind die Abenteuer der Zwillingsbrüder Hunahpu und Ixbalanque, die u. a. in der Unterwelt Xibalba Prüfungen zu bestehen haben. Das Buch wurde Anfang des 18. Jh. von dem spanischen Geistlichen Franzisco Ximénez in Quiché und Spanisch kopiert und ist als Abschrift erhalten geblieben. Übersetzungen u. a. Tedlock (1985), Cordan (1987) (vgl. ebd., S. 509).
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Analyse des biographischen Raumes kulturelle Verbreitung (Segment 19, 12/7-30) “entonces ya en el noventa y (..) noventa y cinco noventa y seis hice una obra mural por primera vez allá en el centro o sea allá en la sala de reunión de la subsecreta (.) de la subsecretaría de asuntos indígenas ´ora ya ya se cambió ya que este (.) como secretaría de asuntos indígenas en la sala de reunión bueno hice una obra mural de diez metros de largo y de tres metros de ancho de lo que antece (.) acontece la la la tradición cultural de los pueblos indígenas y su cos (..) y su cosmología entonces este (.) en el noventa y seis lo terminé pero (.) en el noventa y siete me nombraron como juez municipal aquí entrandome ya como juzgado municipal pero por los mis mis contrarias que (.) que los políticos municipales no me aceptaron para para tanto tiempo es que aquí en Chamula yo siempre me gusta la difusión difusión cultural las (.) grabaciones videograbaciones culturales para difundir la cultura del pueblo de Chamula para difundir a todo el mundo ´pa que conozcan la situación la política la cultura la creencia cosmológica y y la artesanía los trabajos cotidianos yo me gusta decir a a (..) todo el mundo pero la gente de aquí en Chamula tienen reducido el conocimiento tienen vergüenza en la fotografía tienen miedo de que se vaya abajo su espíritu no le gustan la videofilmación de un trabajo documental yo me gusta yo he trabajado siempre en las dependencias para para difusión pero la gente piensan que estoy vendiendo mi pueblo piensan de que estoy vendiendo mi pueblo a otro país de eso se dificultó mi actividad en el juzgado municipal como juez entonces en Febrero pues nadamás nadamás consumí siete meses y cin (..) cinco meses y siete días como eso le digo a ver si no me sacan y de ahí me volví a trabajar en donde (.) ya no ya no trabajé en ninguna dependencia” „dann schon in dem (Jahr) neunzigund (...) 95 96 habe ich ein murales Werk (Wandbild) zum ersten Mal gemacht dort in dem Zentrum oder sei es dort in dem Festsaal des subsecreta (.) des subsecretaría de asuntos indígenas jetzt wurde es schon schon gewechselt schon dies (..) als secretaría de asuntos indígenas in den Festsaal gut ich machte ein Wandbild von 10 Meter Länge und drei Meter Breite das hand (..) handelt von der der der traditionellen Kultur der indigenen Völker und ihrer Kosm (...) und ihrer Kosmologie dann dies (..) in dem (Jahr) 96 habe ich es beendet aber (..) in dem (Jahr) 97 haben sie mich ernannt zum Gemeinderichter hier ich habe schon begonnen im Gemeindegericht aber aufgrund der meiner meiner Gegner die (.) die die Gemeindepolitiker haben mich nicht akzeptiert für für die ganze Zeit es ist weil hier in Chamula mir gefällt schon immer die Verbreitung kulturelle Verbreitung die (..) Aufnahmen kulturelle Videoaufnahmen um die Kultur des Volkes von Chamula zu verbreiten um sie auf der ganzen Welt zu verbreiten damit sie die Situation kennen die Politik die Kultur den kosmologischen Glauben und und das Kunsthandwerk die täglichen Arbeiten es gefällt mir zu sagen der der (..) ganzen Welt aber die Leute von hier in Chamula haben die Kenntnisse reduziert sie haben Scham vor der Fotografie sie haben Angst dass ihr Geist nieder geht sie mögen die Videoverfilmung einer dokumentarischen Arbeit nicht mir gefällt es ich habe immer in den Abteilungen zur zur Verbreitung gearbeitet aber die Leute denken dass ich mein Volk verkaufe sie denken dass ich mein Volk an ein anderes Land verkaufe von
‚así me desarollé’ – biographisches Portrait Miguel
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daher hat sich meine Aktivität in dem Gemeindegericht erschwert als Richter dann im Februar dann konsumierte ich nur nur sieben Monate und fün (...) fünf Monate und sieben Tage wie dies wie ich es sage zu schauen dass sie mich nicht rauswerfen und von da kehrte ich zurück zu arbeiten in wo (..) schon nicht ich habe schon nicht mehr in keiner Abteilung gearbeitet“ (13/30-35, 14/1-20)
Zunächst weist der Interviewpartner in dieser Sequenz auf sein erstes murales Werk hin. Nachdem er über den Standort des Wandgemäldes und über dessen Größe Auskunft gibt, beschreibt er den Inhalt der Darstellung: „que antece (.) acontece la la la tradición cultural de los pueblos indígenas y su cos (..) y su cosmología” . Der Begriff ‚traditionell’ wird vom Erzähler nicht näher erläutert. Damit umschrieben werden „costumbres“ sowie alltägliche Tätigkeiten ‚indigener Lebenswelten’. Inwieweit diese vom Akteur als veränderbar aufgefasst werden, kann an dieser Stelle des Interviews nicht fundiert werden. Wie auch an anderen Passagen erfolgt die Erfahrungsstrukturierung anhand zeitlicher Abläufe, die durch verschiedene Höhepunkte im biographischen Verlauf markiert werden. Miguel wird zum Gemeinderichter ernannt. Der folgende Erzählfaden verweist erneut auf die Verwobenheit unterschiedlicher Ebenen im biographischen Raum. Die Tätigkeit als Gemeinderichter sowie die künstlerischen Aktivitäten stehen zunächst in keinem Widerspruch, müssen jedoch unter dem Aspekt der Anbindung an die Gemeinde – ihren Autoritäten und deren Orientierungsfolien – anschlussfähig gemacht werden. Der Biographieträger spricht in diesem Zusammenhang zunächst von Gegnern: „pero por los mis mis contrarias que (.) que los políticos municipales no me aceptaron para para tanto tiempo” . Durch den Ausdruck ‚meine Gegner’ wird die Bedeutung der Interaktionsdynamik zwischen dem Akteur und einer Akteurengruppe unterstrichen. Der Inhalt der Auseinandersetzung bzw. der Grund, der zu einer Verkürzung der ‚Amtsperiode’ geführt hat, wird von dem Biographieträger anhand von zwei differenten Orientierungsfolien veranschaulicht, die der Erzähler einander gegenübergestellt. Der Biographieträger geht zuerst auf die für ihn relevanten Aspekte seiner Haltung ein. Seine Intention ist es, die Kultur des ‚Volkes’ von Chamula auf der ganzen Welt zu verbreiten. Als Medium benutzt er Videoaufnahmen, welche die Situation – die Kultur, die Politik, den ‚kosmischen’ Glauben, das Kunsthandwerk sowie die tägliche Arbeit dokumentieren sollen. Dahinter steht die Idee, dass Kultur bzw. Tradition in Form einer ‚Objektivation’ – quasi losgelöst von den AkteurInnen – verbreitet werden kann. Traditionsbildung wird demnach weniger als stetiger und von den AkteurInnen hergestellter Prozess verstanden.
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Analyse des biographischen Raumes
Der Biographieträger bezieht sich direkt auf die Gemeinde Chamula als ‚Präsentationssubjekt’. Die Haltung ‚der Leute’ wird durch den Vorwurf – ‚das eigene Volk an andere Länder zu verkaufen’ – thematisiert. In diesem Zusammenhang spricht Miguel davon, dass die Leute in Chamula89 ihre Kenntnisse reduziert haben. Dieser Umstand wird zunächst durch eine Scheu vor Fotos begründet und mit der Formulierung: „tienen miedo de que se vaya abajo su espíritu” <sie haben Angst dass ihr Geist nieder geht> weiter detailliert. Damit verortet der Biographieträger die Abneigung gegen Videoverfilmungen in dem Orientierungshorizont der angesprochenen AkteurInnengruppe. Das Abbilden einer Person mittels Fotografie oder Videoaufnahme berührt den ‚Geist’ dieser Person auf negative Weise. Die kommerzielle Verbreitung90 in Form von Videoaufnahmen führt zu Konflikten mit den Dorfautoritäten und Miguel muss seine Amtsperiode vorzeitig beenden. Seit dieser Zeit ist er als freischaffender Künstler tätig. Wie die folgenden Passagen veranschaulichen, erfordert die Beschaffenheit des sozialen Rahmens vom Biographieträger eine hohe Flexibilität sowie die Leistung, eigene Intentionen anschlussfähig zu machen. ‚das erschwert es sehr’ (Segment 20, 14/1-7) „laaa (...) burocracia se tardó mucho mucho mucho departamento que consejo estatal para la cultura y las artes que (.) instituto de ciencias y artes de Chiapas que secretaría de obras públicas y así y así todo noviembre no se hizo nada todo diciembre (.) y se matan la gente Acteal cuarenta y cinco muertos el veintidos de diciembre el gobernador se va Luis Ferro se va y mi proyecto quedó pendiente hííjoles ya se fué el gobernador ahora ya no va a haber la obra mural” „diiie (...) Bürokratie brauchte sehr viel Zeit viele viele viele Abteilungen der consejo estatal para la cultura y las artes das (..) instituto de ciencias y artes de Chiapas das secretaría de obras públicas und so und so den ganzen November ist nichts gemacht worden den ganzen Dezember (...) und die Leute von Acteal wurden ermordet 45 Tote am 22. Dezember der Gouverneur geht Luis Ferro geht und mein Projekt
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In Chamula findet sich eine Art Synkretismus zwischen der ‚alten’ Götterwelt, den damit verbundenen religiösen Praktiken und dem katholischen Glauben. Der Begriff Synkretismus verweist auf eine Vereinigung von Gedanken verschiedener ‚Herkunft’, welche zu einem Ganzen zusammengefügt sind, wobei eine innere Konsistenz oder Widerspruchslosigkeit nicht unbedingt gegeben ist. 90 Für das Verständnis erscheint der Hinweis wesentlich, dass der Tourismus eine wichtige Einnahmequelle des Dorfes darstellt. Für die Touristen werden organisierte Reisen nach Chamula angeboten, wobei ‚indígene’ Lebensweise quasi zur Schau gestellt wird. Die lebensweltlichen Bedingungen haben sich vor dem Hintergrund dieser ökonomischen Komponente stark verändert. Die Kommerzialisierung der eigenen Lebensweise hat allerdings, wie anhand dieser Sequenz deutlich wird, auch ihre Grenzen.
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blieb unerledigt hííjoles der Gouverneur ist schon gegangen jetzt wird das Wandbild nicht mehr gemacht“ (15/33-35, 16/1-4)
Miguel erhält vom Gouverneur den Auftrag für ein weiteres Mural, für das er einen Kostenvoranschlag erstellen soll. In diesem Zusammenhang beschreibt er den damit verbundenen bürokratischen Aufwand, der zu großen Zeitverzögerungen führt. Bevor er mit dem Mural beginnen kann, ereignet sich das Massaker von Acteal. Dabei wurden ‚indigene’ Frauen, Männer und Kinder von paramilitärischen Gruppen ermordet. Der Interviewpartner nennt das Datum sowie die Anzahl der ermordeten Personen. Diese Ereignisse führen dazu, dass der Gouverneur sein Amt nieder legen muss und das Projekt zunächst nicht umgesetzt werden kann. Die Passage ist so gestaltet, dass die Zusammenhänge rund um den Auftrag für das Wandbild erläutert werden. Das Massaker wird dabei in Form einer Information in den Erzählfluss eingebaut, ohne dass der Erzähler näher darauf eingeht. Die soziale wie politische Dimension dieses Ereignisses ist für den Biographieträger nicht relevant. Wesentlich ist für ihn der erneute politische Machtwechsel, durch welchen sich der Akteur mit einer veränderten Situation konfrontiert sieht. Das Projekt, das sich bereits in der Planungsphase mit der Zusage des Gouverneurs befunden hatte, muss abgebrochen werden. Vor dem Hintergrund von Veränderungstendenzen innerhalb der Machtstrukturen sind Vereinbarungen aufgrund der Personengebundenheit in einem hohen Maße instabil. Der Biographieträger begegnet diesen ‚Unterbrechungen’ seiner Vorhaben, indem er sich mit den für ihn relevanten Personen erneut in Beziehung setzt. “y me lleva `ora pásate pues allá bueno `ora me presenta mira Juan José Hernández es un buen pintor dibujante y todo lo que se pueda hacer con el anterior gobernador este (..) Julio César Luis Ferro quedó aprobado el presupuesto para hacer una obra mural del para el gobierno ahh bueno lo saludé por primera vez a Albores Guillén Roberto Arman (..) Roberto Armando Albores Guillén se llama Roberto Albores Guillén sí bueno por primera véz saludo otro nuevo gobernador es que hubo gobernadores tantos tantos con los con los conflictos no si hay conflicto todo se vá el gobernador já já já já si hay matanza se va el gobernador dificulta mucho entonces este (.) así fué que (.) con él entonces si ya está presupuestado sí ya está el espacio entonces hay que hay que hacerlo de una véz dijo el gobernador bueno entonces hay que hacerlo ya mañana dijo bueno así de encabronado (sic)91 hay que hacerlo tu trabajo órale adelante dice” (14/29-35, 15/1-6)
91 Das Wort „encabronado“ stellt ein ‚dominio del pueblo’ dar und kann mit dem Begriff „decidido“ <energisch> oder mit „enojado“ übersetzt werden.
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Analyse des biographischen Raumes “und er nimmt mich mit jetzt gehe dann dort gut jetzt präsentiert er mich schau Juan José Hernández er ist ein guter Maler Zeichner und alles was man machen kann mit dem vorherigen Gouverneur dies (...) Julio César Luis Ferro verblieb (damit) den Kostenvoranschlag für ein Wandbild für die Regierung zu machen zu genehmigen ahh gut ich grüßte zum ersten Mal Albores Guillén Roberto Arman (...) Roberto Armando Albores Guillén er heißt Roberto Albores Guillén ja gut zum ersten Mal begrüße ich (den) anderen neuen Gouverneur es ist weil es hat so viele so viele Gouverneure gegeben mit den mit den Konflikten nicht wenn es (einen) Konflikt gibt alles geht der Gouverneur já já já já wenn es ein Gemetzel gibt geht der Gouverneur das erschwert es sehr dann dies (...) so war es dass (...) mit ihm dann ja es ist schon veranschlagt ja der Platz ist schon da dann man muss man muss es endgültig machen sagte der Gouverneur gut dann man muss es machen schon morgen sagte er gut so energisch muss deine Arbeit gemacht werden órale vorwärts sagt er“ (16/2935, 17/1-7)
Miguel wird als guter Maler und Zeichner dem neuen Gouverneur präsentiert. Der Biographieträger ist dazu nicht von sich aus in der Lage, sondern er benötigt eine Person, welche sich in der entsprechenden sozialen Position befindet. Im Vorfeld entwickelt der Interviewpartner sehr viel Eigenengagement, um – wie er es formuliert: „ver pues mi mi proyecto acabado” (14/21-22) <mein mein Projekt dann fertig zu sehen> (16/21). Er nimmt ein Darlehen auf, um die dafür notwendigen Reisen finanzieren zu können und setzt sich mit für ihn relevanten Personen in Verbindung. Der Biographieträger muss dabei Kenntnisse über die Beschaffenheit der hierarchischen Struktur und den darin enthaltenen sozialen Kodes haben. Die Betitelung als Maler und Zeichner dient in diesem Rahmen als kulturelles Kapital, welches von Miguel eingesetzt wird. Im Zusammenhang mit dem Begrüßen des neuen Gouverneurs verweist der Interviewpartner auf die für ihn erschwerende Situation. Ein politischer Wechsel erhält dabei den Status eines Mehraufwandes. Darin sichtbar werden die vom Biographieträger entwickelten Routinen im Umgang mit neuen ‚Machthabern’. Diese kollektiven Ereignisse können vom Biographieträger nicht beeinflusst werden. Als gestaltbar wird jedoch der Umgang mit den immer wieder neu erscheinenden ‚SchlüsselakteurInnen’ innerhalb des hierarchischen Gefüges erfahren. Wesentlich dabei ist, dass nicht die Machtstrukturen selbst eine Veränderung erfahren, sondern die Personen, die bestimmte Positionen innehaben, wechseln. Die mit dem hierarchischen Gefüge verbundenen Mechanismen bleiben mehr oder weniger unverändert. Die darin ‚verwickelten’ EreignisträgerInnen erhalten so den Charakter von ‚Spielfiguren’. Im Zentrum des Orientierungshorizontes des Biographieträgers stehen eigene Interessen sowie die Umsetzung individueller Vorhaben. Kontakte, die ‚durchbrochen’ werden, müssen durch neue Verbindungen ersetzt werden. Die EreignisträgerInnen werden vom Interviewpartner weniger mit ihren Haltungen
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dargestellt, sondern vielmehr als Mittel zur Erreichung persönlicher Ziele. Das biographische ‚Ich’ steht im Zentrum. Das personengebundene Kapital als Künstler muss immer wieder sozial inszeniert werden und persönliche Intentionen müssen an die sich ständig verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anschlussfähig gemacht werden.
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Vergleichende Fallanalyse
6 Vergleichende Fallanalyse
6.1 Hypothesenkonzept In einem nächsten Schritt werden die unterschiedlichen ‚Konstruktionsgebilde’ der dargestellten Fallbeispiele weiter abstrahiert. Die komparative Analyse kommt dabei in der analytischen Betrachtung auf unterschiedlichen Ebenen zur Anwendung. Zum einen wurden die auf Basis der einzelnen Fallbeispiele entwickelten Kategorien mittels der komparativen Analyse weiter dimensionalisiert. Die Analyse erfolgte anhand der Sichtung des gesamten empirischen Materials. Darin enthalten sind die durchgeführten narrativ-biographischen Interviews sowie die gesammelten Daten der Felderkundung, die wichtige Hinweise auf kontextspezifische Relevanzstrukturen lieferten. In einem Prozess des permanenten Vergleichs wurden Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Merkmalen und Eigenschaften einzelner Kategorien herausgearbeitet. Empirisch relevante Kategorien wurden in der Phase des axialen Kodierens theoretisch geordnet. Zum anderen wurde es vor dem Hintergrund der Analyse als notwendig erachtet, ‚biographische Merkmale’ kontrastierend zu modernen Lebenskonstruktionen zu sichten. Wie bereits im Kapitel 3.4.1 diskutiert wurde, stellt der Lebenslauf in der Moderne eine soziale Institution dar, ein Regelsystem, das die Vergesellschaftung der Individuen steuert (Dausien 1996, S. 3; vgl. Kohli 1986, 1988). Ausgangsbasis dabei ist die Herausbildung eines ‚biographischen Ichs’92, welches das Individuum als eigenständige soziale Einheit begreift. Die Aufmerksamkeit richtet sich demnach besonders auf die Perspektive der Selbstthematisierung sowie auf Konstitutionsbedingungen von Subjektivität. Zudem wurde es als relevant befunden, ‚institutionelle Ablaufmuster’ (vgl. Schütze 1981; 1984), durch welche BiographieträgerInnen mit normativen Erwartungen konfrontieren werden, vergleichend zu beleuchten, da diese ebenso vor dem Hintergrund soziohistorischer Kontexte variieren und mit unterschiedlichen Relevanzsetzungen einher gehen. Anhand der Fallbeispiele werden ‚biographische Indikatoren’ der
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In der Biographieforschung sowie in der Anwendung biographischer Methoden wird das Vorhandensein eines individuellen autonomen Ichs als Perspektive der Selbstthematisierung relativ unhinterfragt vorausgesetzt (vgl. Dausien 1996, S. 67). In dem konkreten sozio-historischen Kontext kann jedoch von der ‚Durchsetzung’ dieser Form eines biographischen Modells nicht ausgegangen werden.
Hypothesenkonzept
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unterschiedlich gestalteten Gesellschaftsformen auf Ähnlichkeiten und Differenzen untersucht sowie die dahinterliegenden Strukturlogiken in den Blick gerückt. Bevor die einzelnen Fallbeispiele vergleichend abstrahiert werden sollten, erschien es wesentlich, das Vorhandensein divergenter Subsinnwelten und das damit verbundene Wirkungsgefüge des sozialen Raumes analytisch zu fassen. Der Blick richtete sich zunächst auf die in dem konkreten sozialen Kontext vorhandenen Vergesellschaftungsformen und den damit in Beziehung stehenden Wissensbeständen. Dabei wurden die von den AkteurInnengruppen eingenommenen Perspektiven sowie der Aspekt gemeinsam geteilter Deutungsschemata als besonders relevant erachtet. Das Nicht-Vorhanden-Sein dieser – so die Annahme der Forscherin – führt neben anderen Faktoren zu Interdependenzunterbrechungen innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges und hat unterschiedliche Erfahrungsräume zur Folge. Die in der Rahmung des herrschenden Wissensprofils enthaltene hierarchisierende Strukturierung der unterschiedlichen Wissensprofile korrespondiert in weiterer Folge mit gesellschaftlichen Exklusions- wie Inklusionsmechanismen. Diese Aspekte mussten auf der theoretischen Ebene besonders berücksichtigt werden. Einen weiteren wichtigen Schritt stellte die kritische Auseinandersetzung mit theoretischen Modellen dar, die vor dem Hintergrund der Moderne entworfen wurden. Diese mussten auf ihre Anwendbarkeit überprüft und auf Basis der gegebenen sozialen Rahmenbedingungen ‚neu’ überdacht werden. Die analytische Abstraktion des sozialen Raumes erfolgte vor dem Hintergrund ‚konkurrierender Wissensprofile’93. Die Präferenzsysteme sind von einer ungleichen gesellschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit gekennzeichnet, wobei dieser Aspekt vor allem dann wirksam wird, wenn die einzelnen AkteurInnengruppen in Beziehung treten (siehe Kapitel 2.2 bzw. 3.4.2). Die Herausbildung sozialer ungleicher Verhältnisse wird anhand der Verteilung von Ressourcen, der sozialen Position der AkteurInnen sowie der damit verbundenen Chancen wie Verhinderungen besonders deutlich. Die Teilhabe an gesellschaftlichen Funktionssystemen ist zudem an die Verfügbarkeit von ökonomischem Kapital gebunden. Dieser Umstand erscheint für Gesellschaftsformen, die sich nicht primär auf Erwerbstätigkeit stützen, besonders problematisch. Die theoretischen Überlegungen der Forscherin beziehen sich demnach auf das Vorhandensein eines sozialen Raumes, innerhalb dessen – aufgrund der Machtverhältnisse – die Wissensprofile eindeutig vertikal angeordnet sind. Die AkteurInnen müssen ihre Lebenskonstruktionen in dem erzeugten Spannungsverhältnis ausrichten. Der Schwerpunkt der Analyse 93 Der Begriff ‚konkurrierend’ wurde von der Forscherin gewählt, um die relative ‚Inkompatibilität’ der Wissensprofile zueinander, welche aufgrund unterschiedlicher Relevanzsetzungssysteme gegeben ist, zum Ausdruck zu bringen und bezieht sich demnach nicht auf den Aspekt der Konkurrenzfähigkeit.
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Vergleichende Fallanalyse
liegt auf der Rekonstruktion unterschiedlicher Relevanzsetzungen, die in den konkreten biographischen Räumen konstruiert werden sowie auf den von den AkteurInnen entwickelten sozialen Praxen, die auf ein Expandieren des Handlungsspielraumes gerichtet sind. Folgende Dimensionen, die auf Basis der zentralen Kategorien der einzelnen Fallbeispiele entwickeln wurden, können formuliert werden: Perspektive der Selbstthematisierung – Konstruktion des biographischen ‚Ichs’ Wie bereits einleitend bemerkt wurde, richtet sich der Blick bei dieser Dimension auf das hergestellte ‚biographische Ich’ sowie dessen Grad der Ausprägung. Besondere Relevanz erhält in diesem Zusammenhang die Ich-Wir-Balance (Elias) innerhalb der biographischen Konstruktion. Dabei soll das von den BiographieträgerInnen hergestellte Verhältnis zwischen einem biographisch individualisierten autonomen Ich und der Orientierung an einem Kollektiv, wie sie anhand einer Wir-Konstruktion deutlich wird, näher untersucht werden. Innerhalb der Perspektive der Selbstthematisierung konnte ein hoher Anteil an sozialer Einbindung der BiographieträgerInnen festgestellt werden. Diese Dimension bezieht sich einerseits auf ein ‚Ich-in-Beziehung’ (Dausien 1996), das von den AkteurInnen in der Erfahrungsrekapitulation zum Ausdruck kommt, und andererseits auf das Hervorbringen eines ‚biographischen Wirs’, das in das ‚biographische Ich’ eingebettet ist. Die in dem konkreten sozialen Kontext vorhandene stärkere Orientierung an einem Kollektiv ist wesentlicher Bestandteil biographischer Gestaltung. Das Vorhandensein möglicher unterschiedlicher ‚biographischer Modelle’ soll vor dem Hintergrund ‚moderner’ Vergesellschaftungsformen diskutiert werden. Einen weiteren Aspekt bildet die Konstruktion ethnischer Zugehörigkeit. Der Blick richtet sich darauf, ob bzw. wie diese von den AkteurInnen hergestellt wird und welche Eigenschaften und Merkmale in diesem Zusammenhang formuliert werden können. Die Herstellung von ethnischer Zugehörigkeit kann als eine aktive Leistung der BiographieträgerInnen betrachtet werden, die einerseits aufgrund vorhandener gesellschaftlicher Differenzlinien mit einer Verortung im sozialen Raum einhergeht, andererseits verweist diese auf soziale Praxen, die mit den ‚konkurrierenden Wissensprofile’ in einem engen Zusammenhang zu sehen sind.
Hypothesenkonzept
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Bedingungsgefüge des biographischen Gewordenseins – biographische Konfiguration Bei dieser Dimension geht es um die Einbettung der AkteurInnen in das gesellschaftliche Wirkungsgefüge. Diese kann als konkret situierte ‚Konstellation’ gesellschaftlicher Differenzlinien bzw. lebensweltlicher Relevanzstrukturen gefasst werden. Die ‚Achsen der Differenz’ (Knapp/Wetterer 2003) sind als zentrale Ordnungskategorien gesellschaftlicher Orientierungsrahmen zu verstehen, die soziale Ungleichheit hervorbringen. Vorhandene Interdependenzunterbrechungen bzw. Fragmentierungen innerhalb der gesellschaftlichen Struktur müssen bei der Analyse besonders berücksichtigt werden. Das Bedingungsgefüge biographischen Gewordenseins bezieht sich einerseits auf Dynamiken innerhalb des sozialen Raumes, die typisch ungleiche Lebensverhältnisse für die AkteurInnengruppen erzeugen. Andererseits geht es um Vorauslegungen sozialer Wirklichkeit, die in Form von Wissensbeständen den AkteurInnen implizit wie explizit zur Verfügung stehen. Wesentlich sind die von den BiographieträgerInnen hergestellten Bezüge zu dem sozialen Rahmen, in welchem diese verortet sind. Diese geben u. a. Auskunft über habitualisiertes Orientierungswissen sowie über damit einhergehende Relevanzsetzungen und Wertepositionierungen. Innerhalb des sozialen Raumes wurden die unterschiedlichen Wissensprofile als miteinander konkurrierend analytisch gefasst. Wesentlich erscheinen daher Hinweise, die Auskunft über mögliche ‚Anordnungen’ verschiedener Wissensbestände innerhalb der Erfahrungsrekapitulation geben. Zudem sollen die für die AkteurInnen relevanten normativen Folien und daraus resultierenden Erwartungsstrukturen gesichtet werden. Aufgrund der stark variierenden sozialen Positionierungen der BiographieträgerInnen in den dargestellten Fallbeispielen kommt dieser Dimension besondere Relevanz zu. Soziale Praxen autonomer Bestrebungen – biographische Haltungs- und Handlungskonfiguration Das Forschungsinteresse richtet sich bei dieser Dimension auf soziale Praxen, die von den AkteurInnen in Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Wissensprofilen entwickelt werden. Besonders relevant erscheint in diesem Zusammenhang das handlungsleitende Interesse – die biographische Ausrichtung des Lebensentwurfes. Basierend auf unterschiedlichen biographischen Modellen und vor dem Hintergrund der Einbettung im sozialen Raum sollen biographische Handlungsschemata, welche eingenommene Haltungen von AkteurInnen beschreiben, beleuchtet werden. Dabei geht es um Formen handlungsorientierter
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Vergleichende Fallanalyse
Neugestaltung vorgefundener sozialer Rahmenbedingungen, aber auch um Bewältigungsstrategien von Verlaufskurvenpotenzialen. Einen wesentlichen Aspekt stellen Lern- und Bildungsprozesse der AkteurInnen dar, die in Auseinandersetzung widersprüchlicher Sinnkonstruktionen bzw. divergenter normativer Orientierungsfolien entwickelt werden. Die sozialen Praxen autonomer Bestrebungen werden vor dem Hintergrund unterschiedlicher Muster der Erfahrungsstrukturierung analytisch abstrahiert. 6.2 Analytische Abstraktion der einzelnen Fälle im Vergleich 6.2.1 Fallbeispiel Alberto Perspektive der Selbstthematisierung – Konstruktion des biographischen ‚Ichs’ Wie bereits anhand der strukturellen Beschreibung des Fallbeispiels Alberto verdeutlicht wurde, gründet die Perspektive der Selbstthematisierung im Interviewverlauf im Wesentlichen auf drei Ebenen, die ineinander verwoben sind:
das biographische Ich das Ich als reflexive Außenperspektive die Wir-Konstruktion ‚das Volk’
Das biographische Ich, dem ein Gewordensein zugrundegelegt wird, stellt die zentrale Perspektive der Selbstthematisierung dar. Vom Biographieträger werden Statuspassagenwechsel sowie biographische Wendepunkte beschrieben. Die Lebensphasen in dem veranschaulichten Fallbeispiel unterscheiden sich wesentlich von denen, welche in Lebenskonstruktionen moderner Gesellschaftsformen sichtbar werden. Der Akteur beschreibt im Interviewverlauf normative Erwartungsstrukturen, Möglichkeitsräume und Verhinderungspotenziale. Der Biographieträger beginnt in seiner Erfahrungsrekapitulation mit der Kindheit, auf die er im Interviewverlauf relativ kurz eingeht. So werden Erfahrungen oder Ereignisse vom Akteur nicht explizit beschrieben. In der biographischen Darstellung findet sich weder eine Bewertung der Kindheit noch wird diese als ‚eigenständige’ Lebensphase markiert. Die Thematisierung des Schulbesuches erfolgt in Form eines Möglichkeitsraumes, der mit den Eltern als EreignisträgerInnen in einem engen Zusammenhang gestellt wird. Der Besuch der Primarschule wird als etwas nicht Selbstverständliches dargestellt und verweist damit auf ein institutionelles Ablaufmuster, das in dem konkreten sozio-
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historischen Kontext als nicht ‚gesichert’ gilt. Wie durch den Schulabbruch aufgrund der ‚Notwendigkeit zu essen’ ersichtlich ist, wird der Schulbesuch in einem erheblichen Ausmaß von ökonomischen Rahmenbedingungen beeinflusst und beinhaltet somit ein für den Biographieträger relevantes Verhinderungspotenzial. Wesentlich im Lebensentwurf ist das Herauslösen des biographischen Ichs aus den normativen Erwartungsstrukturen des sozialen Nahraums. Dies eröffnet dem Biographieträger die Möglichkeit einer individuellen Lebensplanung. Der Akteur beschreibt in diesem Zusammenhang immer wieder Schnittstellen und Wendepunkte, bei denen er aus einer sozialen Verantwortung entlassen wird. Dadurch erhält er die Gelegenheit, Weiterbildungsaktivitäten zu verfolgen oder sich anderen Aufgaben, wie etwa dem Arbeiten in den Comunidades, zu widmen. Der familiäre Rahmen bzw. die Autorität des Vaters werden besonders hervorgehoben. Die Verpflichtung bzw. die Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber, in der jemand aufgewachsen ist, kann als besonders relevantes Element der biographischen Gestaltung in dem konkreten sozialen Kontext benannt werden. Diese stellt eine normative Erwartungsfolie dar, eine Art ‚sozialer Vertrag’ zwischen den Generationen, an welche die Nachkommen in einem gewissen Ausmaß gebunden sind. Die Bildungsbiographie, welche der Akteur präsentiert, ist gekennzeichnet durch das Zusammenwirken von sozialer Eingebundenheit, aus welcher der Akteur im Verlauf seines Lebens schrittweise herausgelöst wird und sozioökonomischen Rahmenbedingungen, die zunächst ein Verhinderungspotenzial darstellen. Der Einstieg in die Erwerbstätigkeit wird vom Biographieträger nicht explizit ausgewiesen. Dieser stellt keine Statuspassage im Sinne moderner Lebenskonstruktionen dar, sondern wird vielmehr in Form einer Suchbewegung sichtbar, bei der Möglichkeiten des Gelderwerbs ausgelotet werden. Die vom Biographieträger verfolgten Bildungsbestrebungen dienen als Instrumentarien, Räume der Erwerbstätigkeit zu öffnen. Der Vergleich, welchen der Akteur zu Bildungskarrieren von ‚Normalbiographien’ herstellt, fungiert in diesem Zusammenhang als Orientierungsfolie. Wie der Akteur beschreibt hat in seinem Lebensentwurf Weiterbildung und die Möglichkeit Geld zu verdienen Priorität. Die Gründung einer Familie oder die Partnerschaft wird diesem Ziel zunächst untergeordnet. Dieser Umstand stellt eine Entscheidung dar, die der Biographieträger individuell trifft. Biographische Wendepunkte, welche der Interviewpartner benennt, werden von der intentionalen Haltung – ‚vorwärts zu kommen’ bzw. den ‚Selbsterhalt’ zu gewährleisten – getragen. Die zwei weiteren Perspektiven der Selbstthematisierung, welche in der Erfahrungsrekapitulation sichtbar werden, sind dabei für den Akteur von besonderer Bedeutung. Das Ich als reflexive Außenposition ist Teil des biographischen Ichs und beschreibt eine Haltung, welche der Akteur gegenüber dem ‚Volk’, dem er sich
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zugehörig fühlt, einnimmt. Diese kommt in Form eines Beobachtens und Sehens zum Ausdruck und veranschaulicht eine Perspektive, durch welche das Ich Teil eines Wirs ist und gleichzeitig das Vermögen erwirbt, reflexiv das Wir von außen zu betrachten. Dieser Erzählperspektive wird kein biographisches Gewordensein zugrunde gelegt. Der Biographieträger gibt in diesem Zusammenhang keine Auskunft über das Entwickeln dieser Fähigkeit oder Haltung. Diese erhält jedoch die Funktion eines ‚Bindegliedes’ zwischen biographischem Ich und der darin enthaltenen Wir-Konstruktion. Im Erzählfluss wird dies durch den Wechsel vom Ich zum Wir verdeutlicht. Der Akteur artikuliert sich innerhalb dieser Erzählperspektive stellvertretend für bzw. über das ‚Kollektiv’, welches ebenso in einem Prozess des Gewordenseins eingebettet wird. Auf dieser Ebene formuliert der Biographieträger Handlungsstrategien, die das Vorwärtskommen als ‚Kollektiv’ intendieren. Das biographische Ich ist dabei Teil einer größeren sozialen Einheit, der des ‚Volkes’. Die eingenommene reflexive Außenperspektive erhält innerhalb des Lebensentwurfes eine zentrale sinnstiftende Funktion und wird in Form eines ‚politischen Auftrags’, dem sich der Akteur verpflichtet fühlt, sichtbar. Die in der Erfahrungsrekapitulation vorhandene Wir-Konstruktion ‚das Volk’ ist wesentlicher Bestandteil der biographischen Gestaltung. Besondere Relevanz erhält die darin enthaltene Konstruktion ethnischer Zugehörigkeit. Der Biographieträger bezeichnet sich gleich zu Beginn des Interviews als Indígena – als 100 % Tzotzil. Dem zugrunde gelegt ist – wie die Art der Darstellung nahe legt – die Vorstellung von einer ‚Rasse’, die über ‚Abstammung’ weiter vererbbar ist. Ebenso enthalten sind Elemente der Naturalisierung und Generalisierung. Merkmale und Eigenschaften können bzw. werden in diesem Zusammenhang zugeschrieben und vereinheitlicht. In der Erzählung finden sich jedoch auch Elemente einer differenzierten Darstellung der AkteurInnengruppe. Die vom Biographieträger vorgenommene ethnische Selbstverortung fungiert als Differenzlinie, die mit Einschließungs- und Ausschließungsmechanismen korrespondiert und mit einer Positionierung im sozialen Raum einhergeht. Neben ethnischen Aspekten kommt dem gemeinsam geteilten Erfahrungsraum besondere Bedeutung zu. Der Biographieträger verweist mehrmals auf die Situation der Marginalisierung dieser AkteurInnengruppe. Die Benachteiligung aufgrund der Position im sozialen Raum stellt somit eine gemeinsam geteilte Erfahrung dar, die mit ethnischen Zuschreibungsprozessen, aber auch durch das ‚Sich-Befinden’ in einer nicht primär an der Moderne orientierten Vergesellschaftungsform, in einem engen Zusammenhang steht. In der Erfahrungsrekapitulation wird die eigene Situation einem ‚generalisierten Anderen’ gegenübergestellt. Dieses Merkmal wird anhand der Orientierung an ‚Normalbiographien’, etwa in Hinblick auf Bildungskarrieren, sichtbar.
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Ebenso deutet die Bezugnahme des Akteurs auf ‚soziale Standards’, wie beispielsweise das Verfügen über eine Gesundheitsversorgung oder fließendes Wasser, darauf hin. Die soziale Grundversorgung, die bestimmten AkteurInnengruppen in dem konkreten sozialen Kontext zugänglich ist, fungiert als normative Folie, die zu erlangen einerseits angestrebt und andererseits gefordert wird. Der Akteur verweist bei der Orientierung an ‚generalisierten Anderen’ nicht auf die Dominanzgesellschaft, sondern stellt das Vorwärtskommen als ‚Indígenas’ in den Vordergrund. Die Wir-Konstruktion verdeutlicht zudem die soziale Einbettung des Biographieträgers. Diese kommt durch das Ich, welches sich mit anderen in Beziehung setzt, zum Ausdruck. Der Akteur wird zunächst aus seinen sozialen Verpflichtungen herausgelöst, übernimmt jedoch im weiteren Verlauf eine ‚größere’ Verantwortung. Diese wird ethnisch konstruiert und auf das ‚Kollektiv’ ausgerichtet. Damit wird ein stärker gebundener Lebensentwurf sichtbar. Das biographische Modell des Akteurs ist gekennzeichnet von einem biographischen Ich, dessen Gewordensein als individuell dargestellt wird, dessen zentrale Perspektive jedoch an eine Wir-Konstruktion gebunden wird. Das Ichin-Beziehung, das in der Erfahrungsrekapitulation zum Ausdruck kommt, stellt im Lebensentwurf ein mehr frei gewählter, als ein durch soziale Erwartungsstrukturen ‚erzwungener’ Aspekt dar. Die reflexive Außenperspektive dient dem Akteur als vermittelnde Instanz zwischen biographischem Ich und der Eingebundenheit in die darüber hinausreichende soziale Einheit – dem Wir. Die Ich-WirBalance, welche der Biographieträger in seinem Lebensentwurf konstruiert, ist geprägt von einer gegenseitigen Bedingtheit. Die Orientierung an dem individuellen wie an dem kollektiven Ich wird dabei nicht als Gegensatz – als ausschließende Komponente – konstruiert, sondern als sich gegenseitig bedingende und verstärkende. Bedingungsgefüge des biographischen Gewordenseins – biographische Konfiguration Die lebensweltlichen Rahmenbedingungen, welche der Biographieträger in dem Interview beschreibt, verdeutlichen eine hohe Marginalisierung des sozialen Nahraums, in dem er geboren und aufgewachsen ist. Diese wird vom Akteur anhand des Fehlens bestimmter Grundstandards, wie etwa fließendes Wasser, veranschaulicht. Das nicht ausreichende Vorhandensein von Nahrung als existentielles Grundbedürfnis und die hohe Kindersterblichkeitsrate verweisen zudem auf den Überlebenskampf, mit dem diese AkteurInnengruppe konfrontiert ist. Ein weiterer wesentlicher Aspekt stellt das geringe Verfügen über bzw. Fehlen von ökonomischem Kapital dar, das die Teilhabe an bestimmten gesellschaft-
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Vergleichende Fallanalyse
lichen Funktionssystemen (wie z. B. Schul- und Gesundheitswesen) erschwert bzw. verhindert. Die Beschreibung des sozialen Rahmens des Biographieträgers veranschaulicht vorhandene gesellschaftliche Fragmentierungen und soziale Ungleichstellungen der AkteurInnengruppen. Wie bereits angedeutet wurde, führt diese Situation zu einem Erfahrungsraum, in dem soziale Benachteiligung eine von den Akteuren gemeinsam geteilte Erfahrung darstellt. Die Position des Biographieträgers im sozialen Raum kann als eine beschrieben werden, die von einem hohen Grad an Ausgrenzung geprägt ist. Diese wird durch die Selbstverortung als ‚Indígena’94 noch intensiviert. Ausschließungsmechanismen in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Wirkungsgefüge verstärken sich dabei gegenseitig. So führt die erschwerte Situation bei einem Bildungserwerb zu verminderten Chancen bei Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit. Der Akteur verdeutlicht zudem Benachteiligungen beim Interagieren mit anderen AkteurInnengruppen, wie es z. B. durch das Verhandeln in den Comunidades zum Ausdruck kommt. Die Regierung wird vom Biographieträger als soziale Einheit benannt, welche aktiv ausgrenzt. In diesem Zusammenhang verweist der Akteur auf die Verteilung von Ressourcen bzw. staatlichen Förderungsmittel. Richtet sich der Blick auf den Gender Aspekt so zeigt sich, dass der Akteur als Mann im Vergleich zu Frauen über einen größeren Handlungsspielraum verfügt. Anhand des gesamten Interviewmaterials wurde ersichtlich, dass Frauen in dem konkreten sozialen Kontext primär die Aufgabe des Versorgens und Aufziehens der Nachkommen zukommt. Der Biographieträger ordnet hingegen die Gründung einer Familie zunächst dem Ziel der Erwerbstätigkeit unter. Er nutzt den ihm zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum für Weiterbildungsaktivitäten. Das Problem des Fehlens ökonomischer Mittel wird durch die Teilnahme an Kursen, die gratis angeboten werden, gelöst. Die Wissensbestände des Herkunftsmilieus, welche der Akteur beschreibt, sind nicht primär auf Erwerbstätigkeit gerichtet. Diese stellt kein zentrales Element dieser Vergesellschaftungsform dar, sondern vielmehr etwas, das im Werden begriffen ist. Der Biographieträger verdeutlicht an mehreren Stellen die Gestaltbarkeit des sozialen Nahraums. Diese wird auf der einen Seite anhand der Aktivitäten in den Comunidades ersichtlich, auf der anderen Seite beschreibt der Akteur Veränderungen in Form von Modernisierungsprozessen, die den Alltag in den Dorfstrukturen erleichtern. Die Weiterbildungsaktivitäten des Biographieträgers verweisen auf das Aneignen von Wissen außerhalb des ‚eigenen’ Sinnhorizontes. Die ‚fremden’ Wissensbestände werden vor dem Hintergrund der vertrauten in den individuellen Wissenshorizont integriert. In diesem Zusammenhang gibt der Erzähler nicht ausdrücklich Auskunft über eine vertikale oder hori94 Auf Aspekte der sozialen Positionierung als Strategie im Umgang mit Marginalisierung wird bei der Dimension ‚soziale Praxen’ näher eingegangen.
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zontale Anordnung der unterschiedlichen Wissensprofile. Jedoch verweisen die Darstellungen auf ein Expandieren des Wissensvorrates, wobei die unterschiedlichen Wissensbestände je nach Relevanzsetzungen angeordnet werden. So beschreibt der Akteur die Nutzung von Naturheilkunde in den Comunidades, betont jedoch die Kenntnisse der Schulmedizin als etwas, das dem Ziel – Krankheiten entgegenzutreten – dient und als sinnvoll erachtet wird. Auf für den Akteur relevante normative Folien und damit einhergehende Erwartungsstrukturen innerhalb des sozialen Gewebes wurde bereits im Rahmen der Perspektive der Selbstthematisierung eingegangen. Wesentlich erscheint, dass vom Akteur unterschiedliche normative Folien ausgewiesen werden. Zum einen beziehen sie sich auf soziale Erwartungsstrukturen, die aus einer sozialen Eingebundenheit resultieren, zum anderen werden diese in Form von formulierten Standards sichtbar, die zu erreichen angestrebt wird und die außerhalb des ‚Eigenen’ verortet werden. Das Sinnsystem, in dem sich der Biographieträger befindet, kann als ein tendenziell offenes beschrieben werden. Das Bedingungsgefüge des biographischen Gewordenseins ist gekennzeichnet von einem hohen Grad an Ausschluss innerhalb des gesellschaftlichen Wirkungsgefüges. Soziale Benachteiligungen werden anhand unterschiedlicher Ebenen, die gegenseitig verstärkend wirksam sind, deutlich. Die konkret situierte Verortung im sozialen Raum wird jedoch vom Akteur benannt und biographisch bearbeitet. Die folgende Dimension beleuchtet nun die sozialen Praxen, welche der Akteur im Umgang mit den kontextuellen Rahmenbedingungen entwickelt. Soziale Praxen autonomer Bestrebungen – biographische Haltungs- und Handlungskonfiguration Die sozialen Praxen des Akteurs im Umgang mit der Situation der Marginalisierung werden vor dem Hintergrund konkurrierender Wissensprofile näher beleuchtet. Zunächst erscheint die Verortung des Biographieträgers als ‚Indígena’ von besonderer Relevanz. Diese bezieht sich auf das biographische Ich und die darin enthaltene Wir-Konstruktion. Zentral für die biographische Ausrichtung des Lebensentwurfes ist das „salir adelante como indígen“’, das . Zwei wesentliche Perspektiven können in diesem Zusammenhang benannt werden. Zum einen geht es um eine Selbstbefähigung der AkteurInnengruppe, um den Selbsterhalt und die eigene Autonomie zu gewährleisten. Zum anderen wird in Form eines ‚Sich-Ermächtigens’ die ethnische Konstruktion ‚Indígena’ in einem Prozess der Re-Ethnisierung aufgewertet und dem herrschenden Wissensprofil konfrontierend gegenübergestellt.
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Das durch die Marginalisierung vorhandene Verlaufskurvenpotenzial erfordert von den AkteurInnen vermehrt Handlungsbedarf. Dabei geht es zunächst vordergründig darum das eigene Überleben sowie das der Gemeinschaft zu sichern. Das angestrebte Ziel stellt eine Form der Unabhängigkeit für die Subjekte dar, die mit der Fähigkeit ‚für sich selbst zu sorgen’ erreicht werden kann. Der Akteur verdeutlicht an mehreren Passagen die Notwendigkeit des ‚Erlernens als Indígenas’. Das durch die hohe Marginalisierung vorhandene Verlaufskurvenpotenzial wird dabei über das Konzept des ‚Sich-Befähigens’ biographisch bearbeitet und in weiterer Folge kollektiv ausgerichtet. Die Stärkung der Subjekte geht dabei mit einer Stärkung der Ethnie einher. Vom Akteur wird das Aneignen von Wissensbeständen außerhalb des ‚eigenen’ Sinnhorizontes veranschaulicht. Wie anhand des Interviewverlaufes ersichtlich wurde, dient das individuelle Vorwärtskommen als Modell für das Vorwärtskommen des ‚Volkes’. Über Weiterbildungsaktivitäten erwirbt sich der Akteur Fähigkeiten, die Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit eröffnen sollen. Die Aneignung von Kenntnissen, z. B. im Bereich der Technik, intendiert eine Erleichterung des Alltags. Das erworbene Wissen wird vom Biographieträger in weiterer Folge an andere weitergegeben. Die soziale Praxis ‚Wissen zu teilen’ verweist weniger auf ein personengebundenes Verständnis kultureller Kapitalsorten, welches das individuelle Vorwärtskommen begünstigt, sondern die praktizierte Haltung rückt den Blick stärker auf die Nutzung von Wissen innerhalb eines sozialen Umfeldes, indem dieses einer AkteurInnengruppe zur Verfügung gestellt wird. Der Biographieträger betont in diesem Zusammenhang, dass einige sich stärkten und andere dies nicht wollen. Damit gibt der Biographieträger Auskunft über eine differenzierte Haltung innerhalb der Gemeinschaft. Die Handlungsorientierte Neugestaltung des sozialen Kontexts macht ein aktives Handlungsschema erkennbar, welches auf Wandlung gerichtet ist und ein Mehr an Autonomie intendiert. Die vom Biographieträger eingenommene Haltung kann als Suchbewegung beschrieben werden, innerhalb der Handlungsspielräume reflexiv ausgelotet werden. In diesem Zusammenhang kann die Analyse der eigenen Situation der Marginalisierung, die der Akteur vornimmt, hervorgehoben werden. Das Subjekt nimmt eine aktive Beziehung zu gesellschaftlich vorgefundenen Rahmenbedingungen ein. Die Gestaltbarkeit bezieht sich dabei nicht nur auf das soziale Umfeld, sondern schließt Wandlungsprozesse des Subjekts mit ein. Wie durch verschiedene Interviewsequenzen ersichtlich ist, werden vom Akteur Veränderungsprozesse auf der Subjektebene aktiv angestrebt. In diesem Zusammenhang können Lern- und Bildungsprozesse benannt werden, welche eine Transformation der Rahmung des Orientierungshorizontes des Biographieträgers veranschaulichen. Wissensbestände fungieren als Ressource und stellen ein expandierendes, aber auch transformierendes Element dar. Die An-
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ordnung von verschiedenen Wissensbeständen auf Basis unterschiedlicher Relevanzsetzungen weist auf einen flexiblen Umgang des Biographieträgers mit unterschiedlichen Rahmungen hin. Wandlungsprozesse spielen im Zusammenhang mit der sozialen Positionierung als ‚Indígena’ eine relevante Rolle. Diese werden intendiert und als soziale Strategie, welche die ethnische Kategorie ins Zentrum rückt, aufgegriffen. In einem emanzipatorischen Prozess wird die hierarchische Zuweisung ‚indigener’ Sinnhorizonte aus ihrer vertikalen Anordnung herausgelöst und von der AkteurInnengruppe ‚neu’ definiert. Die vom dominanten Wissensprofil angebotenen Bedeutungszuschreibungen werden in Frage gestellt. Diese Form des ‚NeuBenennens’ kann als Prozess der Re-Ethnisierung beschrieben werden, bei dem eine Transformation bestehender Ordnungskategorien und damit einhergehende Wertepositionen angestrebt wird. Die ethnische Kategorie erfährt vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wirkungsgefüges eine Aufwertung. Zentrales Merkmal ist die Selbstvertretung bzw. Selbstrepräsentation durch die AkteurInnengruppen, die sich als Nachkommen der ‚Maya’ verstehen. Im Gegensatz zu ‚konservierten’ Formen kultureller Repräsentation wird das entwickelte ethnische Konzept von einem lebendigen Interaktionsgefüge getragen und weiter geformt. Wie der Akteur beschreibt, ist das ‚Sich-Organisieren’ wesentlicher Bestandteil dieser Strategie. Dabei werden vorhandene Kräfte gebündelt, um die Wirksamkeit in der Auseinandersetzung mit anderen zu erhöhen. Auf Dynamiken in Verbindung mit sozialen Bewegungen wurde bereits bei der strukturellen Beschreibung näher eingegangen. Wesentlich erscheinen die vom Interviewpartner verwendeten Formulierungen wie ‚aufwachen’ bzw. ‚vom Widerstand ergriffen zu sein’. Diese weisen auf eine Erweiterung des Deutungshorizontes in Bezug auf die eigene Situation hin und stehen mit dem ‚Aufbrechen’ von Marginalisierung in einem engen Zusammenhang. Der Biographieträger betont die Notwendigkeit des Hinausgehens aus dem sozialen Nahraum und den damit verbundenen Orientierungsfolien. Das Wissen ‚herrschender’ Sinnkontexte muss angeeignet werden, um eigene Wissensbestände und deren Rahmung anschlussfähig zu machen. Weiterer notwendiger Bestandteil – aufgrund des hegemonialen Wirkungsgefüges – ist das ‚Sich-Entgegenstellen’ bzw. die Strategie des Konfrontierens. Vor dem Hintergrund konkurrierender Wissensprofile vollzieht sich die angestrebte Anerkennung des Weltverhältnisses durch die Herstellung von Differenz. Das Präferenzsystem wird kontrastierend anderen Sinnkontexten gegenübergestellt, ohne jedoch Herrschaft zu beanspruchen. Vielmehr zielt die Bestrebung nach Anerkennung auf eine Transformation der Rahmung von Herrschaft an sich ab und setzt das Verständnis des Vorhandenseins unterschiedlich möglicher Wirklichkeitskonstruktionen voraus. Gesellschaftlich angelegte nor-
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mative Folien sowie dadurch erzeugte soziale Ungleichstellungen werden in diesem Sinne in einem erheblichen Ausmaß transformiert. 6.2.2 Fallbeispiel Maria Perspektive der Selbstthematisierung – Konstruktion des biographischen ‚Ichs’ Die zentrale Perspektive der Selbstthematisierung stellt das biographische Ich und dessen Gewordensein dar. Ein weiteres wesentliches Element ist die in der Erzählung vorhandene Wir-Konstruktion, aus dessen Perspektive heraus die Biographieträgerin Auskunft über den sozialen Rahmen, in dem sie aufgewachsen ist, gibt. Der durch die relationale Beziehung der Akteurin zu ihrem Herkunftsmilieu erzeugte Blickwinkel stellt eine konkurrierende Erzähllinie dar. Folgende Ebenen der Selbstthematisierung können benannt werden:
das biographische Ich die Wir-Konstruktion als relevantes Element der Erfahrungsschichtung
Das von der Akteurin dargestellte biographische Ich ist gekennzeichnet von einem Individualisierungsprozess, der mit dem Verlassen des Herkunftsmilieus einhergeht. Die Konstitution eines Ichs, das sich als unabhängige soziale Einheit begreift, stellt eine wesentliche Voraussetzung für das Gewordensein der Biographieträgerin dar. Von ihr werden divergente Erfahrungsräume thematisiert, die innerhalb der Erfahrungsstrukturierung als sich gegenseitig ausschließend konstruiert werden. Von besonderer Bedeutung sind die von der Erzählerin jeweils eingenommenen Perspektiven, die unterschiedliche Ausdrucksformen der Selbstthematisierung darstellen. Die Akteurin beginnt in ihrer Erfahrungsrekapitulation mit dem Ort, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Ähnlich wie bei dem vorangegangenen Fallbeispiel nimmt die Biographieträgerin keine Bewertung ihrer Kindheit vor. Diese wird – wie im Eingangssegment ersichtlich ist – anhand von Alltagsaktivitäten präsentiert, wobei die Akteurin in diesem Rahmen keine Erfahrungen oder Haltungen ihrerseits näher beschreibt. Mit der Formulierung „así crecimos“ <so sind wir aufgewachsen> kennzeichnet sie diese Phase als Form des Aufwachsens. Das ‚institutionelle Ablaufmuster’ eines Schulbesuches fehlt in dieser biographischen Darstellung zur Gänze. Als relevante normative Folie des Herkunftsmilieus wird die Verweigerung von formaler Bildung der Dominanzgesellschaft genannt, die dazu führt, dass die Akteurin die Primarschule nicht besuchen
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kann. Der erste wichtige Wendepunkt wird von der Biographieträgerin durch das Weggehen von dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, ausgewiesen. Das Verlassen des Ortes ist dabei mit dem Verlassen der Familie verbunden. Die Bewegung der Akteurin wird in Form eines Prozesses, der durch unterschiedliche Nuancen gekennzeichnet ist, dargestellt. Das Lernen in dem zunächst noch fremden Sinnkontext wird mit dem Verlassen der Familie – als sich gleichzeitig vollziehend – verschränkt. Im Zentrum dieser Phase steht für die Biographieträgerin das ‚Sich-Zurechtfinden’ innerhalb der für sie neuen Rahmenbedingungen. Ein weiterer wichtiger Wendepunkt im biographischen Verlauf ist das Zusammenkommen mit ihrem Mann, der sie jedoch nach der Geburt ihrer ersten Tochter verlässt. Ohne dessen Unterstützung ist die Akteurin völlig auf sich gestellt. Das Ich als selbständige soziale Einheit ist dabei eine wesentliche Basis für die Bewältigung des Verlaufskurvenpotenzials. Dem ‚Alleine-Vorwärtskommen’ kommt eine relevante Bedeutung zu. Der Einstieg in die Erwerbstätigkeit stellt keine Statuspassage im eigentlichen Sinne dar, sondern wird in Form eines Prozesses sichtbar, der mit dem Verlassen des Ortes und der Familie eingeleitet wird. Vor dem Hintergrund der Geburt ihrer Kinder fungiert dieser als soziale Voraussetzung für das Überleben der Akteurin mit diesen. In einer Suchbewegung eröffnet die Akteurin Möglichkeiten des Gelderwerbs. Diese Herausforderung wird von der Biographieträgerin im Wesentlichen durch das Aneignen des fremden Sinnkontextes, wie es vor allem anhand der Sprache deutlich wird, aber auch durch das Errichten von ‚neuen’ sozialen Netzwerken biographisch bewältigt. Die individuelle Ausrichtung des Lebensentwurfes wird durch den Wunsch nach Geld, Kleidung und Schuhen ebenso erkennbar. Diese stellen für die Akteurin Dinge dar, die ihr im Herkunftsmilieu nicht zugänglich waren. Das von der Akteurin hergestellte biographische Ich steht in einem relationalen Beziehungsraum zum Herkunftsmilieu, wie u. a. durch die Schwester, mit der sie nach wie vor in Beziehung steht, sichtbar wird. Zum einen ist dies für die Akteurin Anlass, die mit den divergenten Sinnkontexten verbundenen Haltungen mit ihren Relevanzstrukturen zu veranschaulichen, zum anderen wird in der Erfahrungsrekapitulation die Präsenz des Herkunftsmilieus besonders deutlich. So wechselt die Biographieträgerin im Erzählfluss immer wieder zu einer WirPerspektive, aus der heraus das Selbst thematisiert wird. Durch den Kode „la que crecemos la que nacimos allá“ eingeleitet, wird eine Form des Zugzwangs der Erzählung wahrnehmbar, welcher ebenso durch den Gebrauch unterschiedlicher Zeitformen zum Ausdruck kommt. Die Akteurin wechselt – wie es den Eindruck erweckt – fast ungewollt in diese Form der Selbstthematisierung, die sich auf eine bestimmte Art zu verselbstständigen scheint. Aufgrund der unterschiedlichen Ebenen, die in
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der Erfahrungsaufschichtung zum Vorschein kommen, wird eine gewisse ‚Instabilität’ des biographischen Ichs spürbar. Die Erinnerung wird an diesen Interviewpassagen auf eine Weise wirksam, durch welche das biographische Ich in die Wir-Konstruktion quasi einbricht. Durch die mit diesem sozialen Kontext verbundene Leiderfahrung gelingt es der Biographieträgerin jedoch, diese Form der Perspektive wieder zu verlassen. In der Selbstthematisierung der Biographieträgerin findet sich, im Gegensatz zu dem vorangegangenen Fallbeispiel, keine Herstellung ethnischer Zugehörigkeit. Die ethnische Nicht-Verortung kann in dem konkreten Kontext ebenfalls als Praxis einer sozialen Positionierung betrachtet werden, welche die ethnische Verortung zu vermeiden sucht. In dem sozialen Rahmen der Dominanzgesellschaft erhält die Erfahrung als Analphabetin besondere Relevanz. Der von einer bestimmten AkteurInnengruppe geteilte Erfahrungsraum bietet der Biographieträgerin die Möglichkeit, eine andere Art der Zugehörigkeit herzustellen. Das biographische Modell der Akteurin ist charakterisiert durch einen Vereinzelungsprozess, der mit dem Konstituieren eines Ichs als unabhängige soziale Einheit einhergeht. Dieser wird in Form einer Bewegung der Akteurin sichtbar, innerhalb der sie das Herkunftsmilieu verlässt, um andere Handlungsumwelten zu erschließen. Die Perspektive der Selbstthematisierung im Interviewverlauf enthält konkurrierende Erzähllinien. Trotz entwickelter Gegenhaltung wie auch der Herausbildung eines biographischen Ichs, weist das Herkunftsmilieu mit seinen habitualisierten Orientierungsfolien eine hohe Wirksamkeit auf. Diese steht mit der polarisierenden Erfahrungsstrukturierung in einem engen Zusammenhang. Die von der Biographieträgerin entwickelte Ich-Wir-Balance ist gekennzeichnet von einem sich ausschließenden und einen sich gegenseitig behindernden ‚Mechanismus’, der von der Akteurin ein ‚Sich-immer-wieder-neuVerorten’ erfordert. Dem biographischen Ich, das die Gewohnheit deutend bricht bzw. eine distanzierte Haltung zum Herkunftsmilieu einnimmt, kommt dabei besondere Relevanz zu. Innerhalb dieser Position stellt die Akteurin vor dem Hintergrund eines gemeinsam geteilten Erfahrungsraumes eine Form der Zugehörigkeit zu anderen AkteurInnen her. Bedingungsgefüge des biographischen Gewordenseins – biographische Konfiguration Der soziale Rahmen des Aufwachsens, den die Biographieträgerin beschreibt, wird weniger als marginalisiert ausgewiesen, sondern vielmehr als eine Handlungsumwelt, die durch eine hohe Geschlossenheit gekennzeichnet ist. Das Sinnsystem wird dabei als eines benannt, das auf Gewohnheit basiert, die in einem
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verortet wird und sich im Tun fortsetzt. Wesentlich erscheint in der Thematisierung des Herkunftsmilieus der häufige Gebrauch der Präsenszeit, welcher den Eindruck eines nach wie vor Geschehens und Handelns vermittelt, in welches die Akteurin involviert ist. Die Gewohnheit und die damit verbundenen Orientierungsfolien lassen dabei nur wenig Handlungsspielraum für Veränderungsprozesse. Dieser Umstand wird ferner durch die Verweigerung von Wissensbeständen, die von ‚außen’ kommen, besonders deutlich. Die normativen Erwartungsstrukturen des sozialen Gewebes des Herkunftsmilieus sind auf ein Fortsetzen der Gewohnheit und der damit verbundenen Lebensweise gerichtet und werden von der Akteurin als nur wenig oder als gar nicht gestaltbar erfahren. Die Alltagswelt wird von der Biographieträgerin vorwiegend durch Handlungsaktivitäten, wie etwa das Tragen von Feuerholz oder Wasser, das Pflanzen von Mais sowie das Versorgen von Tieren, präsentiert. Zentralen Stellenwert hat die Familie, deren Reichweite – wie die Formulierungen „mamás“ und „papás“ veranschaulichen – über die Eltern und die Geschwister als soziale Einheit hinausreicht. Formen der Erwerbstätigkeit innerhalb dieser Lebenswelt werden von der Biographieträgerin nicht direkt thematisiert. Wie jedoch das Fehlen von ökonomischem Kapital verdeutlicht kann davon ausgegangen werden, dass sich diese nicht primär auf Erwerbstätigkeit gründet, sondern dass es sich um eine Gesellschaftsform handelt, die auf Selbsterhaltung mittels Landwirtschaft und Tierhaltung gerichtet ist. Die Mitglieder dieser Gesellschaftsform sind jedoch als ‚Eigentümer’ der Konditionen ihrer Wirklichkeitskonstruktionen zu betrachten (vgl. Marx 1953, S. 11f.). Die Stadt San Cristóbal stellt für die Biographieträgerin ein weiteres relevantes soziales Umfeld dar. Diese unterscheidet sich nicht nur wegen des urbanen Charakters wesentlich von der Lebenswelt des Herkunftsmilieus. Von der Akteurin wird dieser Umstand durch das Vorhandensein von Geld, Kleidung, Schuhen und gutem Essen näher beschrieben. Um sich diese Handlungsumwelt zu erschließen, müssen damit verbundene Orientierungsfolien und Relevanzsetzungen von der Akteurin angeeignet werden. Zentral in diesem Zusammenhang ist der Erwerb der Sprache der Dominanzgesellschaft, wie auch das Eröffnen von Möglichkeiten des Gelderwerbs, um das eigene Überleben zu sichern. Der durch den Ortswechsel bedingte ‚Verlust’ der sozialen Einbindung stellt die Akteurin in eine besonders prekäre Situation. Vor dem Hintergrund des Gender Aspektes ist der Handlungsspielraum der Akteurin als Frau in einem wesentlichen Ausmaß an die Versorgungstätigkeit der Kinder gebunden. Richtet sich der Blick auf mögliche zur Verfügung stehende Kapitalsorten, so werden Ressourcen aus dem Herkunftsmilieu nicht explizit aufgegriffen. Die Bildungsverhinderung wird von der Akteurin als soziale Benachteiligung erfahren. Wie die Bedeutungszuschreibungen ‚Leben wie Tiere’ bzw. ‚nichts wissen’ besonders
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verdeutlichen, hat die Akteurin die Relevanzstrukturen der Dominanzgesellschaft mit ihrer vertikalen Anordnung der unterschiedlichen Wissensprofile internalisiert. Die soziale Positionierung der Biographieträgerin zeichnet sich durch eine mehrfache Benachteiligung vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Differenzlinien aus. Als ‚indigene’ Frau ohne Primärbildung und als Alleinerzieherin ohne staatliche Unterstützung ist ihre Position im sozialen Raum von einer hohen sozialen Ungleichheit gekennzeichnet. Durch das Aneignen von Wissen und den Erwerb von ökonomischen Mitteln gelingt es der Akteurin jedoch für sich eine Position zu finden, in der sie ihr Überleben und das ihrer Kinder gewährleisten kann. Soziale Netzwerke stellen dabei ein relevantes soziales Kapital dar. Wissensbestände des Herkunftsmilieus werden den Relevanzstrukturen der Dominanzgesellschaft untergeordnet. Soziale Praxen autonomer Bestrebungen – biographische Haltungs- und Handlungskonfiguration Die von der Akteurin entwickelten sozialen Praxen werden vor dem Hintergrund konkurrierender Wissensprofile näher beleuchtet. Die biographische Ausrichtung des Lebensentwurfes ist gekennzeichnet von einem Vereinzelungsprozess, der mit der Herausbildung eines Ichs als unabhängige soziale Einheit einhergeht. Zentral für die Biographieträgerin ist das ‚Alleine-Vorwärtskommen’: „yo solita salí adelante”, welches durch das Verlassen des Herkunftsmilieus und dem damit verbundenen Herauslösen aus der sozialen Einbettung, bedingt wird. Richtet sich der Blick auf die von der Akteurin eingenommenen Haltungen zu biographisch relevanten Kontextbedingungen so zeigt sich, dass der soziale Rahmen des Aufwachsens von der Akteurin als sehr wenig gestaltbar erfahren wird. Der Kode: <so sind wir und bleiben wir so gehen wir> verdeutlicht eine Orientierungsfolie innerhalb dieses Sinnsystem, welche in einem hohen Maße stabilisiert und Wandlungsprozessen entgegenwirkt. Die Entscheidung – alleine in San Cristóbal zu bleiben – kann als handlungsorientierte Neugestaltung des biographischen Entwurfs im Sinne einer aktiven Wahl des sozialen Umfelds betrachtet werden. Aufgrund der hohen Wirksamkeit, welche das Herkunftsmilieu mit seinen habitualisierten Orientierungsfolien aufweist, kommt dem deutenden ‚Brechen’ der Gewohnheit besondere Relevanz zu. Der biographische Entwurf wird individuell ausgerichtet und ermöglicht der Akteurin – abseits der Haltungen des Herkunftsmilieus – eigene Vorstellungen umzusetzen. Die von der Biographieträgerin entwickelten Handlungsstrategien verweisen dabei auf herausgebildete Gegenhaltungen, die dem Her-
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kunftsmilieu in der Erfahrungsrekapitulation kontrastierend gegenüber gestellt werden. Wesentlich für die soziale ‚Neuverortung’ der Biographieträgerin erscheint die Wegbewegung von dem vertrauten sozialen Umfeld, die in eine Hinbewegung zu jener Handlungsumwelt, die von der Akteurin zu erschließen angestrebt wird, mündet. Vertrautes wird in diesem Zusammenhang fremd und Fremdes vertraut gemacht. Der Kontextwechsel führt zu einem Vereinzelungsprozess, welcher durch den Verlust sozialer Einbindung sichtbar wird. Die Akteurin sieht sich zudem mit einer Situation konfrontiert, in der erworbene Kompetenzen des Herkunftsmilieus nur schwer bzw. nicht anschlussfähig gemacht werden können. Die Erfahrung als Analphabetin wird durch den Kontextwechsel verstärkt wirksam und geht einher mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen. Die Stellung der Akteurin im sozialen Gefüge erfährt vor dem Hintergrund des Wechsels des sozialen Umfeldes eine Neupositionierung. Die erfahrene soziale Ungleichheit wird von der Akteurin in Form eines Leidensprozesses beschrieben. Das vorhandene Verlaufskurvenpotenzial muss dabei biographisch bearbeitet werden. Die Bewältigung dieser Situation – wie die Akteurin an verschiedenen Stellen des Interviews verdeutlicht – wird durch eine aktive Suchbewegung nach Möglichkeiten, sich und die Kinder zu ernähren, veranschaulicht. Die Biographieträgerin befähigt sich dabei als Subjekt, um in diesem konkreten sozialen Umfeld handlungsaktiv zu sein. Durch den Erwerb von Kapitalsorten wird eine gewisse Form der Unabhängigkeit erreicht, wobei die Lebenskonstruktion an die Rolle als Alleinernährerin und Alleinerzieherin gebunden ist. Das Errichten neuer sozialer Netzwerke hat im Zusammenhang mit der Erschließung der Handlungsumwelt eine wesentliche Bedeutung und bietet der Akteurin die Möglichkeit, ihren Handlungsspielraum zu erweitern. Der Ortswechsel erfordert von der Biographieträgerin Aneignungsprozesse von Fremdheit sowie Anpassungsleistungen. Dabei kann eine Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses der Biographieträgerin fundiert werden. Die von der Akteurin erbrachten Lern- und Bildungsprozesse werden durch die Herausbildung eines biographischen Ichs, welches sich als unabhängige soziale Einheit begreift, sichtbar. Das Ich, welches sich als Teil der Gemeinschaft wahrnimmt, wird diesem untergeordnet. Wie bereits verdeutlicht wurde, verweist die Einbettung der divergenten Sinnkontexte im biographischen Raum auf eine polarisierte Erfahrungsstrukturierung. Die unterschiedlichen Orientierungsfolien und die damit verbundenen Relevanzsetzungen werden als solche nicht transformiert, sondern in ihrer Unterschiedlichkeit vertikal geschichtet, wobei die Wissensbestände des Herkunftsmilieus eine massive ‚Abwertung’ erfahren. Die von der Akteurin entwickelten Gegenhaltungen werden innerhalb des relationalen Beziehungsraumes zur Herkunftsfamilie gestaltend wirksam. Aufgrund des wandeln-
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den Aspektes innerhalb der Haltungs- und Handlungskonfiguration unterscheiden sich diese grundlegend von denen des Herkunftsmilieus. Gesellschaftlich erzeugte soziale Ungleichstellungen werden jedoch in einem hohen Maße reproduziert. 6.2.3 Fallbeispiel Miguel Perspektive der Selbstthematisierung – Konstruktion des biographischen ‚Ichs’ Das biographische Ich als Perspektive der Selbstthematisierung ist bei diesem Fallbeispiel am stärksten ausgeprägt. In diesem Zusammenhang können Merkmale moderner Lebenskonstruktionen, wie etwa die Strukturierung in unterschiedliche Lebensphasen, der Einstieg bzw. die Orientierung an Erwerbstätigkeit, benannt werden. Die Gewichtung innerhalb der Ich-Wir-Balance des Akteurs liegt eindeutig auf dem Ich, das als soziale Einheit individuell und autonom ausgerichtet ist – die Wir-Orientierung tritt dabei in den Hintergrund. Im Mittelpunkt des biographischen Entwurfs steht das Gewordensein als Künstler. Der Biographieträger beginnt in der Selbstthematisierung mit dem Ereignis seiner Geburt. Wie bereits veranschaulicht wurde, wird diese als dramatische Geschichte mit glücklichem Ausgang präsentiert. Die Darstellungsform verweist zum einen auf soziale Rahmenbedingungen, in welche der Biographieträger hineingeboren wurde, zum anderen fungiert die drohende Fehlgeburt – das Nicht-geboren-Sein – als Anker der Selbstthematisierung. Anders als bei den vorangegangenen Fallbeispielen wird die Kindheit nicht nur als eigene Phase ausgewiesen, sondern Erlebnisse und Erfahrungen werden vom Akteur thematisiert. In die fast romantische Beschreibung der Kindheit, die sich im Erzählstil vom weiteren Interviewverlauf unterscheidet, werden ‚indigene’ Wissensbestände hineinverflochten. Die Lebenswelt wird in einer Form präsentiert, bei welcher der Erzähler auf Begriffe in Tzotzil explizit aufmerksam macht. In diesem Rahmen wird die Jagd mit seinem Vater sowie alltägliche Tätigkeiten, welche in einem familiären Rahmen eingebettet sind, beschrieben. Als weiteres bedeutsames Ereignis der Kindheit nennt der Akteur die Begegnung mit fremden Personen, wobei der unterschiedliche Sprachgebrauch als Differenzmerkmal ausgewiesen wird. Vor dem Hintergrund von Modernisierungsprozessen wird die Lebensweise der Kindheit der Vergangenheit zugeordnet. Der Biographieträger erhält dabei den Status eines Trägers von Wissen. Das ‚institutionelle Ablaufmuster’ eines Schulbesuches wird im Interviewverlauf als selbstverständlich beschrieben – als etwas, das nicht in Frage gestellt ist. Die künstlerische Nei-
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gung, die der Vermittlung von Wissen gegenübergestellt wird, bildet das zentrale Thema der Schulzeit. Die ökonomischen Rahmenbedingungen führen jedoch dazu, dass der Akteur die Primarschule nicht beenden kann. In diesem Zusammenhang verweist der Biographieträger bereits auf Arbeiten, die mit Gelderwerb und dem familiären ökonomischen Auskommen in Verbindung stehen. Als biographischer Wendepunkt wird vom Akteur der Einstieg in die Erwerbstätigkeit markiert. Um die dafür notwendigen normativen Vorgaben zu erfüllen, muss er jedoch sein Alter erhöhen. Die erste Arbeitsstelle befindet sich außerhalb des vertrauten sozialen Umfeldes, in der Hauptstadt des Bundesstaates. Obwohl der Biographieträger verheiratet ist und Kinder hat, wird die Gründung einer Familie nicht thematisiert. Die berufliche Tätigkeit bzw. die Karriere als Künstler stellen die dominierenden Themen im Interview dar. Dies verweist auf eine stärkere Orientierung an Erwerbstätigkeit im biographischen Verlauf. In Verbindung mit dem Werdegang als Künstler können unterschiedliche Stadien benannt werden. Zunächst bezeichnet sich der Akteur als Arbeiter, dann als Malerhelfer und in weiterer Folge als Zeichner und Maler. Wesentlich für das Vorankommen als Künstler ist der Aufbau von Netzwerken zu relevanten Personen, Bildungsbestrebungen, welche der Akteur über einen 2. Bildungsweg verfolgt und das autodidaktische Aneignen von künstlerischen Fertigkeiten. Das Erlangen bestimmter gesellschaftlicher Positionen in der Dorfgemeinschaft, wie etwa Ratsmitglied, Sekretär bzw. Dorfrichter, wird dabei unterstützend, aber auch behindernd wirksam. Die Teilhabe an verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen eröffnet dem Biographieträger unterschiedliche Möglichkeitsräume, wird allerdings auch als Beschränkung erfahren. Die Verflochtenheit des biographischen Entwurfs mit den gesellschaftlichen Machtstrukturen, die von einer relativen Instabilität gekennzeichnet sind, erfordert immer wieder eine Neuausrichtung des biographischen Entwurfes sowie ein hohes Maß an Flexibilität. Richtet sich der Blick auf die Herstellung ethnischer Zugehörigkeit, so weist sich der Biographieträger nicht explizit als ‚Indígena’ aus, thematisiert diese jedoch implizit, indem er als Träger von Wissen auftritt. Im Zusammenhang mit der Verortung als Künstler werden ‚indigene’ Wissensbestände als kulturelle Kapitalsorte eingesetzt. Diese werden in einem Prozess der Wiederaneignung re-interpretiert und anschlussfähig gemacht. Der ‚indigenen’ Lebensweise wird dabei die Zuschreibung von etwas Bedeutungsvollem verliehen. Relevant – im Unterschied zu dem Fallbeispiel Alberto – ist die Kulturalisierung bzw. Konservierung ethnischer Inhalte, wie sie u. a. anhand der Darstellung von Gebräuchen und Traditionen, sichtbar wird. Ebenso erscheint im Vergleich wesentlich, dass der Biographieträger das Herkunftsmilieu nicht verlässt, sondern dass dieses selbst eine Veränderung erfährt. Die individuelle Ausrichtung des
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Vergleichende Fallanalyse
biographischen Entwurfs stellt keinen Widerspruch zu Orientierungsfolien des sozialen Umfeldes des Heranwachsens dar. Das biographische Modell des Akteurs weist eine starke Prägung individueller Ausrichtung auf und enthält wesentliche Merkmale moderner Lebenskonstruktionen. Das Ich, als individuelles und autonomes Subjekt, ist Ausgangsbasis und Träger der Selbstthematisierung. Der persönliche Werdegang als Künstler sowie die Orientierung an Erwerbstätigkeit stehen im biographischen Entwurf im Vordergrund. EreignisträgerInnen erscheinen in der Erfahrungsrekapitulation als Personen, die eigne Bestrebungen begünstigen oder behindern. Das ‚Ich-inBeziehung’ des Akteurs kann daher als eines beschrieben werden, das auf Autonomie gerichtet ist und das persönliche Vorwärtskommen intendiert. Die Eingebundenheit in das soziale Gefüge wird vor diesem Hintergrund thematisiert. Die Wir-Konstruktion ist im biographischen Entwurf in den Hintergrund gerückt. Der Biographieträger präsentiert sich als Künstler, dessen biographisches Gewordensein in Form einer Erfolgsgeschichte dargelegt wird, die mit einer internationalen Anerkennung ihren Höhepunkt findet. Bedingungsgefüge des biographischen Gewordenseins – biographische Konfiguration Wie bei den vorangegangenen Fallbeispielen wird der soziale Rahmen des Aufwachsens vom Akteur anhand alltäglicher Aktivitäten beschrieben, wie das Brennholztragen und das Wasserholen. Diese bilden einen wesentlichen Bestandteil der Alltagswelt. Wie durch das Eingangssegment verdeutlicht wird, sind die Rahmenbedingungen durch ärmliche Verhältnisse gekennzeichnet, die von den AkteurInnen ein hohes Maß an Eigeninitiative erfordern. Der familiäre Rahmen wird als eine soziale Einheit präsentiert, bei der jedes Mitglied, unabhängig vom Alter und Geschlecht, seinen Beitrag für den ökonomischen Erhalt leistet. Die Beschreibung unterscheidet sich jedoch von denen der anderen Interviews anhand der Darstellungsweise sowie durch das Erzählen von Kindheitserfahrungen und damit verbundenen Befindlichkeiten. Dadurch kommt eine stärkere Ausprägung, die Kindheit als eigenständige Phase zu begreifen und diese von einer Ich-Position heraus zu erfahren, zum Ausdruck. Das soziale Umfeld wird vor dem Hintergrund von Modernisierungsprozessen thematisiert. Der Rahmen des Aufwachsens erhält den Status von etwas, das in dieser Form vergangen ist. Der Biographieträger beschreibt diesen Umstand vor allem anhand von Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit, wobei dies mit dem Zusatz „pero òrita ya la gente se calmó“ ‚ versehen wird. Weitere Bereiche, welche von Veränderungsprozessen betroffen sind,
Analytische Abstraktion der einzelnen Fälle im Vergleich
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stellen u. a. die Schulbildung und der Spracherwerb dar. Der Schulbesuch, der vom Akteur beschrieben wird, lässt darauf schließen, dass der Erwerb formaler Bildung in dem Herkunftsmilieu auf eine Weise eingebettet ist, die auf eine selbstverständliche Haltung verweist. Der Schulbesuch ist Teil normativer Erwartungsstrukturen, wird jedoch – wie anhand der Schilderungen sichtbar wird – ebenso von ökonomischen Rahmenbedingungen beeinflusst. Als ein weiteres wesentliches Merkmal kann die Transformation der Orientierungsfolien innerhalb des Herkunftsmilieus benannt werden. In diesem Zusammenhang wurde bereits auf das Vorhandensein eines Synkretismus in dem konkreten sozialen Kontext verwiesen. Interessant erscheint vor diesem Hintergrund, dass das Verschmelzen von divergenten Sinnhorizonten die Herausbildung eines hybriden Modells sichtbar macht, bei welchem unterschiedliche Relevanzsetzungen und Wertepositionierungen aneinandergereiht, sich widersprechend, aber auch gegenseitig verstärkend auftreten. Vorauslegungen sozialer Wirklichkeit der unterschiedlichen Sinnhorizonte sind durch eine Gleichzeitigkeit gekennzeichnet und auf eine Weise miteinander verwoben, die auf ein spezifisches Gestaltungsmuster dieser AkteurInnengruppe verweist. Eine detailliertere Analyse dieser hybriden Form würde jedoch weitere Erhebungen sowie vermehrtes Kontextwissen erfordern. Es kann jedoch festgehalten werden, dass ‚indigene’ Wissensbestände in diesem Zusammenhang lebensweltliche Relevanzsetzungen darstellen, die mit dem Aspekt von etwas Bedeutungsvollem versehen werden. Dies ermöglicht der AkteurInnengruppe die ‚indigene Herkunft’ als kulturelle Kapitalsorte zu nutzen und fungiert in weiterer Folge als wichtige Einnahmequelle. Diese Form des Anschlussfähig-Machens stellt eine erfolgreiche Strategie in dem konkreten Kontext dar, welche den Anteil an ökonomischem wie kulturellem Kapital innerhalb des Wirkungsgefüges des sozialen Raumes für die AkteurInnen steigert. Die Orientierungsfolien innerhalb der Dorfgemeinschaften sind jedoch keineswegs als homogen zu betrachten, wie u. a. durch den Vorwurf der Kommerzialisierung, veranschaulicht wird. Der Biographieträger vermittelt in seiner Darstellung ebenfalls einen Einblick in die Verwaltungsstrukturen der Dorfgemeinschaft. Verschiedene Ämter werden in diesem Zusammenhang benannt, wie beispielsweise drei Ratsmitglieder und der Dorfrichter. Diese geben Auskunft über eine autonome Form der Verwaltung der Dorfgemeinschaft und ihrem Verfügungsrecht, z. B. bei der Gerichtsbarkeit. Richtet sich der Blick auf die Einbettung des Biographieträgers in das gesellschaftliche Wirkungsgefüge so zeigt sich, dass der Akteur – im Vergleich zu den anderen Fallbeispielen – über eine Position im sozialen Raum verfügt, welche ihm eine relative Autonomie sowie einen größeren Handlungsspielraum ermöglicht. Zudem ist es ihm als Mann möglich, seinen Lebensentwurf verstärkt
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Vergleichende Fallanalyse
um die Erwerbstätigkeit zu organisieren sowie seine Ambitionen als Künstler voranzutreiben. Die zur Verfügung stehenden Kapitalsorten werden dabei vom Akteur strategisch eingesetzt. Die Dynamik innerhalb des sozialen Raumes verweist auf eine hohe Instabilität gesellschaftlicher Machtstrukturen, die – aufgrund der Verwobenheit des biographischen Entwurfes mit diesem – für den Akteur von besonderer Relevanz ist. Wesentlich erscheint, dass sich der Wandlungsaspekt weniger auf die Strukturen selbst bezieht, sondern das vielmehr die darin eingebundenen Personen von diesem betroffen sind. Die Veränderungstendenzen werden demnach verstärkt auf der personalen Ebene wirksam. Soziale Praxen autonomer Bestrebungen – biographische Haltungs- und Handlungskonfiguration Ausgehend von einer individuellen Ausrichtung des biographischen Entwurfes stellt die Verwirklichung als Künstler bei diesem Fallbeispiel die zentrale Perspektive dar. Damit in einem engen Zusammenhang stehen die soziale Aufstiegsorientierung des Biographieträgers sowie das Schaffen eines Status, der die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit durch künstlerische Aktivitäten eröffnet. Sich als Künstler weiterzuentwickeln und das eigene Tun sozial zu inszenieren ist dabei besonders bedeutsam. Ebenso erforderlich sind Strategien im Umgang mit dem gesellschaftlichen Machtgefüge, welches durch vermehrte Veränderungstendenzen gekennzeichnet ist. Die hergestellte ethnische Zugehörigkeit fungiert als kulturelle Kapitalsorte, welche als Basis für das künstlerische Schaffen herangezogen wird. Das Talent bzw. die Neigung zu zeichnen wird vom Biographieträger bereits in der Kindheit verortet. Dem Werdegang als Künstler wird ein biographisches Gewordensein zugrunde gelegt. Fähigkeiten werden autodidaktisch angeeignet und kontinuierlich weiterentwickelt. Wie bereits im Rahmen der strukturellen Beschreibung veranschaulicht wurde, können unterschiedliche soziale Praxen des Vorankommens, welche ineinander greifen, benannt werden. Die Selbstzuschreibung von Status und die Fähigkeit sich zu präsentieren sind dabei ebenso relevant, wie das Errichten von personengebundenen Netzwerken, die das persönliche Vorankommen unterstützen. Im Vergleich zu den anderen Fallbeispielen steht bei dem Erwerb von Bildung weniger der Wunsch sich weiter zu befähigen im Zentrum, sondern das Erlangen eines Schulabschlusses. Die vom Biographieträger eingenommenen Haltungen verweisen auf aktive Handlungsschemata. Der unmittelbare Kontext wird als gestaltbar erfahren. Entwickelten sozialen Praxen, welche vor dem Hintergrund konkurrierender Wissensprofile herausgebildet werden, sind auf ein Mehr an Autonomie gerich-
Analytische Abstraktion der einzelnen Fälle im Vergleich
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tet. Dabei werden vom Akteur verstärkt durch ein Sich-in-Beziehung-Setzen soziale Räume und Möglichkeiten eröffnet. Die Teilhabe an den unterschiedlichen Teilsystemen führt jedoch auch zu Verhinderungen, die eine Neuausrichtung des biographischen Entwurfes erfordern. Wie anhand der strukturellen Beschreibung ersichtlich wurde, sieht sich der Biographieträger immer wieder mit ‚Brüchen’ konfrontiert, welche sich – durch gesellschaftliche Ereignisse ausgelöst – direkt auf individuelle Vorhaben auswirken. Diese werden durch ihren kollektiven Charakter als nicht gestaltbar erfahren. Auf sich selbst zurückgeworfen, reorganisiert der Akteur seine Handlungsintentionen und tritt verstärkt mit den für ihn relevanten Personen in Beziehung. Diese Form der Reorganisation ermöglicht es ihm, das vorhandene Verlaufskurvenpotenzial zu bearbeiten und eigene Vorhaben erneut anschlussfähig zu machen. Wesentlich erscheint im Vergleich, dass sich der Biographieträger nicht aufgrund von gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen in einer ‚marginalisierten’ Position befindet, sondern dass der Akteur über einen Handlungsspielraum verfügt, der ihm das Gestalten seines unmittelbaren sozialen Kontextes erleichtert. Dies erfordert jedoch verstärkt Orientierungswissen bzw. Strategien im Umgang mit dem gesellschaftlichen Wirkungsgefüge und den damit verbundenen Machtstrukturen. Der Biographieträger kann jedoch vor dem Hintergrund der Transformationsprozesse des Herkunftsmilieus auf habitualisiertes Orientierungswissen zurückgreifen. Neben der handlungsorientierten Neugestaltung kommt stabilisierenden Aspekten ebenso Relevanz zu. Aufgrund der Veränderungstendenzen innerhalb des Machtgefüges müssen ‚erreichte’ Positionen immer wieder abgesichert bzw. stabilisiert werden. Normative Folien der Dominanzgesellschaft werden vom Akteur in diesem Zusammenhang reproduziert. Richtet sich der Blick auf die in der Erfahrungsrekapitulation enthaltenen Lern- und Bildungsprozesse, so weist das Herkunftsmilieu im Vergleich die höchsten Wandlungstendenzen auf. Die Veränderungsprozesse werden vor dem Hintergrund des Aufwachsens erfahren. Begegnungen mit divergenten Sinnhorizonten werden dabei bereits in der Kindheit verortet. Lern- und Bildungsprozesse des Akteurs werden ferner durch die Konstitution eines Ichs als unabhängige soziale Einheit sichtbar. Darüber hinaus weist das biographische Gewordensein als Künstler, mit der darin enthaltenen schrittweise herausbildenden Konstruktion, darauf hin. Die divergenten Sinnkontexte innerhalb der Erfahrungsaufschichtung sind so angeordnet, dass sie – sich gegenseitig verstärkend – wirksam werden. Ressourcen aus der Kindheit werden aufgegriffen und ethnisch kodiert. Dieses Wissen tritt dabei weniger als Teil eines lebendigen Interaktionsgefüges auf, sondern wird in einem Re-Ethnisierungsprozess kulturalisiert und ‚konserviert’. Dadurch erfahren ‚indigene’ Wissensbestände eine Form der Vermittelbarkeit, welche den
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Vergleichende Fallanalyse
Einsatz als kulturelles Kapital erlaubt. Die Lebensweise kann abgebildet und in andere Sinnkontexte transportierbar gemacht werden. Wie anhand der auftauchenden Widerstände innerhalb der Dorfgemeinschaft sowie durch den Vorwurf der Kommerzialisierung wahrnehmbar wird, muss diese vom Akteur entworfene Sinnfolie ebenso in dem Herkunftsmilieu sozial ratifiziert werden. Die Anordnung der divergenten Sinnkontexte hat weniger transformierenden Charakter, vielmehr werden diese aneinander und übereinander geschichtet. Durch den Gebrauch ethnisch kodierter Wissensbestände als kulturelle Kapitalsorte erfahren diese zu einem gewissen Grad eine Aufwertung, werden jedoch tendenziell von dem Interaktionsgefüge und somit von einem sich stetig verändernden Prozess, abgelöst. Personen fungieren jedoch als Vermittler dieses Wissens. Interessant erscheint zudem, dass die unterschiedlichen Wissensbestände weniger in einem konkurrierenden Verhältnis zueinander angeordnet werden, sondern ‚indigenes’ Wissen den Status von etwas Exotischem erhält und in das dominante Wissensprofil eingebaut wird. Die sozialen Praxen, welche von dem Akteur entwickelt werden, verweisen auf das Anschlussfähigmachen ‚indigener’ Wissensbeständen in Form von ‚für sich stehenden’ Sinnfragmenten. Diese werden auf eine Weise integriert, die herrschende Ordnungskategorien nicht in Frage stellt. Vorhandene normative Orientierungsfolien und Relevanzsetzungen der Dominanzgesellschaft werden vom Biographieträger in diesem Sinne stärker reproduziert als transformiert. 6.3 Zusammenfassende Anmerkungen zum Vergleich Wie anhand der vergleichenden Analyse verdeutlicht werden konnte, gründet die Perspektive der Selbstthematisierung in allen dargestellten Fallbeispielen auf der Herausbildung eines biographischen Ichs, das sich jedoch durch den Grad der Ausprägung voneinander unterscheidet. In den ersten beiden Fällen wird das biographische Ich individuell ausgerichtet, ist jedoch stärker an eine WirKonstruktion gebunden. Das Ich wird nur zum Teil als unabhängige soziale Einheit erfahren. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass vor dem Hintergrund von Modernisierungsprozessen die stärkere Ausprägung eines biographischen autonomen Ichs mit dem Vorhandensein unterschiedlicher Lebensphasen korrespondiert. Die hergestellten biographischen Modelle veranschaulichen eine IchWir-Balance, welche für die AkteurInnen handlungsleitenden Charakter hat und die sich von modernen Lebenskonstruktionen unterscheidet. Der relationale Beziehungsraum zwischen dem Ich und dem Wir ist dabei unterschiedlich gestaltet und verweist auf Verschränkungen, die durch sich gegenseitig verstärkende bzw. behindernde Elemente gekennzeichnet sind.
Zusammenfassende Anmerkungen zum Vergleich
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Das ‚Anschlussfähig-Machen’ der unterschiedlichen Orientierungsfolien scheint in einem wesentlichen Maß von der Beschaffenheit des Herkunftsmilieus und damit verbundenen Relevanzsetzungen beeinflusst. Die relative Geschlossenheit eines Sinnsystems wirkt stabilisierend, hat jedoch vermehrt gesellschaftliche Interdependenzunterbrechungen zur Folge, und wirkt demnach exkludierend. Zudem zeigt sich, dass das Sich-in-Beziehung-Setzen der AkteurInnen erschwert wird. Als wesentlich kann der Aspekt – inwieweit der unmittelbare Kontext als gestaltbar erfahren wird – betrachtet werden, wie es etwa durch das Fallbeispiel Maria sichtbar wird. In der von der Biographieträgerin entwickelten Orientierungsfolie wird zudem die Unterordnung der Wissensbestände des Herkunftsmilieus besonders deutlich. Anders stellt es sich bei dem Fallbeispiel Alberto dar. Der soziale Kontext des Aufwachsens wird als gestaltbar erfahren. Das Sinnsystem, welches von dem Akteur beschrieben wird, ist durch eine tendenzielle Offenheit gekennzeichnet. Veränderungsprozesse werden von den AkteurInnengruppen ‚selbst gewählt’ angestrebt und intendieren die Verbesserung der Lebensverhältnisse. Das Herkunftsmilieu des Fallbeispiels Miguel weist im Vergleich das höchste Maß an Wandlungstendenzen auf. Von dem Akteur werden unterschiedliche Modernisierungselemente ausgewiesen. Das Herkunftsmilieu – so kann angenommen werden – dient als wichtige Ressource. Der Akteur kann verstärkt auf ein habitualisiertes Orientierungswissen, welches in Auseinandersetzung mit Modernisierungsprozessen herausgebildet wurde, zurückgreifen. Die sozialen Praxen, welche von den BiographieträgerInnen vor dem Hintergrund konkurrierender Wissensprofile entwickelt werden, intendieren den Handlungsspielraum der AkteurInnen bzw. der AkteurInnengruppen zu erweitern. Die Reichweite der individuellen Möglichkeiten ist in einem erheblichen Ausmaß von der Position im sozialen Raum abhängig und wird von den im gesellschaftlichen Kontext vorhandenen Differenzlinien beeinflusst. So wurde anhand des erhobenen Interviewmaterials deutlich, dass für die Biographieträger die soziale Gebundenheit für den Lebensentwurf weit weniger relevant ist, als für die Biographieträgerinnen, denen primär die Versorgungsarbeit für den Nachwuchs zukommt. Ebenso ist die Dimension einer Überlebensstrategie, welche darauf abzielt die Grundversorgung zu sichern, in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Die Herstellung ethnischer Zugehörigkeit ist in dem konkreten Kontext für den Prozess der Positionierung im sozialen Raum besonders relevant. Wie verdeutlicht werden konnte, variiert diese in den einzelnen Fallbeispielen. Innerhalb des biographischen Entwurfs von Alberto hat sie zentrale Bedeutung, bei Maria hingegen fehlt die Thematisierung ethnischer Zugehörigkeit zur Gänze. Für Miguel als Künstler ist die Nutzung ‚indigener’ Wissensbestände als kulturelle Kapitalsorte entscheidend. Die horizontale oder vertikale Anordnung der unter-
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Vergleichende Fallanalyse
schiedlichen Wissensbestände in der Erfahrungsaufschichtung korrespondiert – so die Annahme der Forscherin – mit der ethnischen Positionierung und verweist auf verschiedene Strategien im Umgang mit den kontextuellen Rahmenbedingungen. Gesellschaftlich angelegte ungleiche soziale Verhältnisse sowie damit verbundene Relevanzsetzungen werden von den BiographieträgerInnen in einem unterschiedlichen Maße transformiert bzw. reproduziert. Die Haltungen, welche in diesem Zusammenhang abstrahiert wurden, können mit den Eigenschaften konfrontierend, anpassend bzw. anschlussfähig machend beschrieben werden. Die Herstellung bzw. Nicht-Herstellung ethnischer Zugehörigkeit ist nicht nur für die Perspektive der Selbstthematisierung sowie für die entwickelten sozialen Praxen von zentraler Bedeutung, sondern beeinflusst den Orientierungshorizont und die darin enthaltenen Sinnfiguren in einem wesentlichen Ausmaß. Bevor die einzelnen entworfenen Sinnfolien in einem nächsten Schritt weiter analytisch abstrahiert werden, soll auf Aspekte eines weiteren Fallbeispiels eingegangen werden. Die in dem Interview enthaltenen Thematisierungen geben dabei Auskunft über die im gesellschaftlichen Wirkungsgefüge verankerten hegemonialen Strukturen. Diese werden vor dem Hintergrund ethnischer Positionierung beschrieben und machen damit in Verbindung stehende interpretative Räume sichtbar. Ebenso eröffnet die von der Akteurin hergestellte Sinnkonstruktion im Umgang mit den ethnischen Kategorien ‚Indígena’ und ‚Mestizo’ einen weiteren Blickwinkel auf in dem konkreten Kontext ausgebildete Orientierungsfolien. Die anhand der diskutierten Fallbeispiele entwickelten theoretischen Überlegungen sollen durch die Sichtweise, welche diese Biographieträgerin einbringt, weiter fundiert werden. 6.3.1 Weiteres Fallbeispiel Ana Bevor auf Aspekte dieses weiteren Fallbeispiels eingegangen wird erscheint es wesentlich, auf die Auswahlkriterien des konkreten Interviews einzugehen. Die Biographieträgerin bezeichnet sich selbst als ‚Mestiza’. Diese Form der Selbstbetrachtung wird von der Erzählerin anhand des Vaters, der als ‚Indígena’ und der Mutter, die als Mestiza benannt wird, näher erläutert. Die von der Akteurin artikulierte Begründungsfolie verdeutlicht einen in dem sozialen Kontext verankerten interpretativen Raum, der ethnische Zugehörigkeit determiniert. Die in der Selbstthematisierung gewählte ethnische Positionierung der Biographieträgerin verweist jedoch auf einen Lebensentwurf, der die ‚indigene’ Lebensweise in Form eines selbst gewählten Lebensstils ins Zentrum rückt. Die Auswahl der Interviewpartnerin für die konkrete Forschungsarbeit basiert zum einen auf den im Forschungsprozess entwickelten Überlegungen in
Zusammenfassende Anmerkungen zum Vergleich
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Bezug auf die Kategorie Ethnie, die als Konstruktion theoretisch gefasst wird und sich von der Vorstellung des Vorhandenseins von Rassen bzw. ‚fixierten’ Identitätskonzepten distanziert. Zum anderen liefert die Erzählerin, wie bereits hingewiesen wurde, wichtige Hinweise auf das Wirkungsgefüge des sozialen Raumes, welche für die weitere Fundierung der abstrahierten Sinnfolien relevant erscheinen. In der Thematisierung sozialer Ungleichheit nimmt die Biographieträgerin immer wieder Bezug auf das diskursive Spannungsfeld zwischen ‚Mestizos’ und ‚Indígenas’. Die konkrete erzählte Lebensgeschichte kann jedoch aufgrund der divergenten lebensweltlichen Bedingungen nicht mit den bereits diskutierten Fallbeispielen gleichgesetzt werden. Vielmehr fungiert das Interview als Vergleichsfall, welcher weitere Einblicke in das gesellschaftliche Bedingungsgefüge sowie in herausgebildete Orientierungsfolien im Zusammenhang mit der Kategorie ‚Konstruktion ethnischer Zugehörigkeit’ bietet. Die Biographieträgerin ist zum Zeitpunkt des Interviews 70 Jahre alt und wurde in San Cristóbal de las Casas geboren. Sie hat zwei Kinder und führt eine Posada95 in San Cristóbal. Die Erzählerin beginnt in ihrer Selbsteinführung mit für sie relevanten Angaben zu ihrer Person und der Thematisierung der ‚ethnischen Herkunft’ ihrer Eltern. Im Erzählfluss leitet sie dann direkt zu der Kindheit ihres Vaters über: „cuando mi papá tenía siete años en la finca se enfermó su mamá y se murió y en vez de que la enterraran la tiraron (.) entonces los perros y los zopilotes que son como los buitres se comieron a su mamá y él lo miró entonces fué una impresión fuertísima“ (Segment1, 1/23-26) „als mein Vater sieben Jahre alt war ist seine Mutter auf dem Landgut krank geworden und sie ist gestorben und an Stelle sie zu begraben haben sie sie weggeworfen (.) dann die Hunde und die Geier die wie die Aasgeier sind haben seine Mamá gefressen und er hat das gesehen dann das war eine sehr starke Impression“ (Segment 1, 1/26-29).
In weiterer Folge erzählt die Interviewpartnerin von dem Werdegang ihres Vaters. Er wurde in eine Kirche gebracht, wo er ‚an die Pfarrer verschenkt wurde’. Später beginnt er sich für die Arbeiter in der Region zu engagieren. Er gründet die erste Gewerkschaft für ‚indigene’ Arbeiter in Lateinamerika96. Die Biographieträgerin bilanziert die Geschichte ihres Vaters mit folgenden Worten: „(..) es una historia muy bonita porque él no no quedó este a dolorido él tuvo consciencia de que era un problema político el hecho de que no era un (.) al tirar a la 95 96
Posada ist eine Art Frühstückspension. Die Gewerkschaft wurde 1937 in San Juan Chamula gegründet.
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Vergleichende Fallanalyse madre y que lo coman los perros bueno era un problema social muy fuerte porque era indígena ella entonces era una gran discriminación no si se muere un indio no importa pero mi papá se dió cuenta que no tenía que resolver un problema personal sino un problema social” (2/9-14) „(..) es ist eine sehr schöne Geschichte weil er nicht nicht dies im Schmerz (schmerzend) verblieben ist er hatte das Bewusstsein dass es ein politisches Problem war das Ereignis von es war kein (.) wegzuwerfen die Mutter und dass die Hunde (sie) fressen gut es war ein sehr schwerwiegendes (starkes) soziales Problem weil sie Indígena war dann es war eine große (starke) Diskriminierung nicht wenn ein Indio stirbt ist es nicht wichtig aber mein Papá hat bemerkt dass er kein persönliches Problem lösen musste sondern ein soziales Problem“ (2/14-19)
Die Thematisierung der Biographie des Vaters im Eingangssegment verdeutlicht, dass der Vater für die Biographieträgerin einen zentralen Stellenwert einnimmt. Die Geschichte, welche die Akteurin präsentiert, beschreibt soziale ungleiche Verhältnisse aufgrund der ethnischen Zuschreibungen ‚Indígena’ und ‚Mestizo’. Dies stellt ein dominantes Thema im Interviewverlauf dar. Die soziale Ungleichheit wird anhand eines Beispiels veranschaulicht und als Diskriminierung aufgrund der ethnischen Kategorie ausgewiesen. Die Diskriminierung als ‚Indígena’ ist dabei Teil der familiären Erfahrung. Die Akteurin verweist immer wieder auf die hegemonialen Strukturen innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges, aus dem heraus auch sie ihr politisches Engagement – ähnlich wie ihr Vater – ableitet. Wesentlich erscheint in ihrer Darstellung die Bezugnahme auf die Diskurse ‚Indígena’ und ‚Mestizo’, die in dieser Form von den AkteurInnen der bereits diskutierten Fallbeispiele nicht gewählt wird. Die folgende Sequenz gibt Auskunft über die Konstruktion ethnischer Zugehörigkeit, welche die Biographieträgerin als selbstbestimmt ausweist: “porque lo que yo te decía es que es muy difícil poder eh (...) ser en esto de ser podríamos decir como dirigir o actuar como una mujer (.) como una persona indígena cuando no se es indígena o como un mestizo cuando no se es mestizo verdad los mestizos son mestizos actuan como mestizos piensan como mestizos sienten como mestizos comen como mestizos viven como mestizos y los indígenas igual no sienten como indígenas viven como indígenas comen como indígenas pero bueno lo que se dá en algunos casos como en el caso de mi familia es que es muy difícil decir mi papá era un indígena civilizado no es cierto o mi mamá es una mestiza que tuvo la capacidad de amar a un hombre indígena tampoco es cierto y yo soy el producto felíz de dos personas que vivieron muy felices no es verdad nuestra vida fué muy complicada porque ni entendíamos bien que era ser indígena ni sabíamos bien que era ser mestizo no porque en mi casa por ejemplo dormían diariamente ochenta indígenas era era una casa comunitaria no y mi papá hacía todos los dias un trabajo en comunidad y hablaba cuatro lenguas tzeltal tzotzíl chol tojolabal y (.) y este y
Zusammenfassende Anmerkungen zum Vergleich
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hablaba español no (.) muy bien hablaba cinco lenguas (.) entonces nosotros comíamos como indígenas muchas cosas por ejemplo frijoles café tostadas todo no Pozol verduras y eso pero al mismo tiempo existía mi mamá que todos los dias no quería vivir así (..) entonces ella quería que viviéramos como ella y mi papá quería que viviéramos como él quería entonces nosotros teníamos un poco de los dos y cuando se trató de definir la vida de cada uno era muy difícil y yo llegué a la conclusión de que queda muy claro en mi vida que no soy indígena solamente que en mi hay muchísimas muchísimas más actitudes de indígena que actitudes de mestiza no me ves pues así rebelde sí mucho más pero eso es eso es una idea mia una decisión personal no yo tenía que definir bien porque no se puede caminar bien en la vida con un pié aquí y un pié aquí y andar así no puedes entonces yo tenía que decir que camino tomo“ (13/4-29) „weil was ich dir gesagt habe es ist es ist sehr schwierig zu können eh (...) zu sein in diesem zu sein wir könnten sagen wie zu steuern oder zu handeln wie eine Frau (.) wie eine indigene Person wenn sie nicht Indígena ist oder wie ein Mestizo wenn er nicht Mestizo ist nicht wahr die Mestizos sind Mestizos sie handeln wie Mestizos sie denken wie Mestizos sie fühlen wie Mestizos sie essen wie Mestizos sie leben wie Mestizos und die Indígenas gleich nicht sie fühlen wie Indígenas sie leben wie Indígenas sie essen wie Indígenas aber gut was es gibt in einigen Fällen wie in dem Fall meiner Familie (es ist dass) es ist sehr schwierig zu sagen mein Papá war ein zivilisierter Indígena es ist nicht wahr oder meine Mamá ist eine Mestiza welche die Fähigkeit hatte einen indigenen Mann zu lieben es ist auch nicht wahr und ich bin das glückliche Produkt von zwei Personen die sehr glücklich gelebt haben es ist nicht wahr unser Leben war sehr kompliziert weil wir weder gut verstanden haben was es war (heißt) Indígena zu sein noch wussten wir gut was es war (heißt) Mestizo zu sein nicht weil in meinem Haus zum Beispiel haben täglich 80 Indígenas geschlafen es war es war ein Gemeinschaftshaus nicht und mein Papá hat jeden Tag eine Arbeit in Gemeinschaft gemacht und er hat 4 Sprachen gesprochen Tzeltal Tzotzil Chol Tojolobal und (.) und dies und er hat Spanisch gesprochen nicht (.) sehr gut er hat 5 Sprachen gesprochen (.) dann wir haben wie Indígenas gegessen viele Dinge zum Beispiel Bohnen Cafe Tostadas97 alles nicht Pozol98 Gemüse und dies aber gleichzeitig ist meine Mamá da gewesen die all die Tage nicht so leben wollte (..) dann sie wollte dass wir leben wie sie und mein Papá wollte dass wir leben wie er wollte dann wir haben ein bisschen von beiden gehabt und als man versuchte das Leben jedes einzelnen zu definieren war es sehr schwierig und ich kam zu der Schlussfolgerung dass es sehr klar in meinem Leben bleibt dass ich keine Indígena bin nur dass es in mir sehr viel sehr viel mehr Einstellungen von Indígenas gibt als Einstellungen von (einer) Mestiza du siehst mich also nicht so rebellisch ja viel mehr aber dies es ist dies es ist eine Idee von mir eine persönliche Entscheidung nicht ich musste mich gut definieren weil man kann im Leben nicht gut gehen mit einem Bein
97 98
Tostadas sind getrocknete Tortillas (Maisfladen). Pozol ist ein Getränk aus Kakao, Mais und Zuckerrohr.
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Vergleichende Fallanalyse hier und einem Bein hier und so zu Fuß gehen du kannst nicht dann musste ich sagen welchen Weg ich nehme“ (13/ 27-35, 14/1-21)
Ausgangsbasis in der Darstellung der ethnischen Positionierung der Biographieträgerin ist die Beschreibung eines gesellschaftlich angelegten interpretativen Raumes. Differenzlinien zwischen den sozialen Konstruktionen ‚Mestizos’ und ‚Indígenas’ werden auf verschiedenen Ebenen nachgezeichnet. Diese weisen dabei naturalisierende, homogenisierende sowie generalisierende Elemente auf. In weiterer Folge nimmt die Akteurin Bezug auf die unterschiedlichen Lebensweisen ihrer Eltern, welche sie in ihrem Heranwachsen erfahren hat und die Teil des habitualisierten Orientierungswissens sind. Diese werden als miteinander konkurrierend in der Darstellung sichtbar. Die Divergenz wird durch die Metapher zweier Wege noch weiter verdeutlicht. Erinnerungs- und Deutungsschemata treffen in der Erfahrungsrekapitulation sich widersprechend aufeinander. In Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lebensweisen sieht sich die Biographieträgerin mit der Situation konfrontiert, ihre über ‚Abstammung’ vorausgelegte ethnische Zuschreibung in Frage zu stellen. Die Akteurin nimmt dies zum Anlass, die determinierende Interpretationsfolie aufzubrechen und ihren Lebensentwurf anhand eines selbstbestimmten Lebensstils, der mit Einstellungen näher benannt wird, ‚indigen’ auszurichten. Die von der Biographieträgerin vorgenommene ethnische Positionierung wird von ihr als selbst gewählt ausgewiesen und im weiteren Interviewverlauf noch mit den Worten: “pero yo puedo tengo la opción de ser como yo quiero (..) no” (14/15-16) (15/9-10) unterstrichen.
Im Vergleich mit den bereits diskutierten Fallbeispielen wird besonders deutlich, dass die ethnische Positionierung nicht primär über die Idee einer ‚Abstammung’ definiert wird, sondern als etwas, das als Lebensstil eigenmächtig gestaltet werden kann. Die Dimension Ethnie in Form von Einstellungen zu fassen, eröffnet dabei eine Interpretationsfolie, welche der Akteurin die Möglichkeit bietet, ‚indigene’ Wissensbestände für den Lebensentwurf anschlussfähig und diese als wesentlichen Part der biographischen Ausrichtung nutzbar zu machen. Die Biographieträgerin bleibt dem gesellschaftlich angelegten interpretativen Raum jedoch insofern ‚treu’, indem sie darauf verweist, keine ‚Indígena’ zu sein. Im Interviewverlauf nimmt die Erzählerin immer wieder Bezug auf die ethnische Verortung und den damit in Verbindung stehenden hegemonialen Wirkungsgefüge: „las personas indígenas son discriminadas entonces nadie quiere ser indígena porque nadie quiere ser discriminado y entonces todos empiezan a luchar para demostrar que no son indígenas porque claro si rechazamos a los indios todos los in-
Zusammenfassende Anmerkungen zum Vergleich
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dios son exterminados entonces yo no soy indio no bueno pero como lo demuestro que no soy indio si mi piel es blanco negra si mi pelo es lacio si mi nariz es ancha y tengo todos las facciones indígenas como voy a demostrar que no soy indígena entonces son las actitudes los indios los indios los indios entonces yo empiezo a tomar actitudes racistas y de esa manera demuestro que no soy indígena pero esta es una actitud que toma la mayoría de la gente de México pero es una medida de protección en un princípio“ (3/5-13) „die indigenen Personen sind diskriminiert dann niemand will Indígena sein weil niemand diskriminiert sein will und dann beginnen alle zu kämpfen um zu zeigen dass sie nicht Indígenas sind weil klar ja wir lehnen die Indios ab alle Indios sind zerstört dann bin ich kein Indio nicht gut aber wie zeige ich dass ich kein Indio bin wenn meine Haut weiß schwarz ist wenn mein Haar glatt ist wenn meine Nase breit ist und ich alle indigenen Gesichtszüge habe wie werde ich zeigen dass ich nicht Indígena bin dann es sind die Einstellungen die Indios die Indios die Indios dann beginne ich rassistische Einstellungen zu nehmen und auf diese Weise zeige ich dass ich kein Indígena bin aber das ist eine Einstellung welche die Mehrheit der Leute von Mexiko übernimmt aber es ist eine Schutzmaßnahme im Prinzip“ (3/11-20)
Die Biographieträgerin gibt in dieser Sequenz Auskunft über soziale Praxen ethnischer Positionierung bestimmter Akteurinnengruppen in dem sozialen Kontext. Diese präsentiert sie in Form eines Deutungskonzeptes, welches sie in Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Wirkungsgefüge entwickelt hat. Sie nimmt dabei die Perspektive der ‚Mestizos’ ein und thematisiert vorhandene Diskriminierungen ‚indigener’ Bevölkerungsgruppen im sozialen Raum. Anhand ihrer Darstellung kann die von der Forscherin entwickelte theoretische Überlegung, dass der Aspekt der sozialen Positionierung bei der Herstellung ethnischer Zugehörigkeit im Vordergrund steht, weiter fundiert werden. Die Erzählerin ist in diesem Zusammenhang als Expertin ihrer Lebenswelt zu verstehen, die sich aufgrund der in ihrer Lebenskonstruktion sichtbaren politischen Haltung vermehrt mit sozialen Ungleichstellungen im gesellschaftlichen Gefüge auseinandersetzt. Die von ihr beschriebenen Strategien im Umgang mit einer ethnischen Zuschreibung verdeutlichen die Haltung jener AkteurInnengruppen, welche die ethnische Positionierung als Indígena zu vermeiden sucht. ‚Indigen-Sein’ wird anhand von körperliche Merkmalen ausgewiesen. Die Vermeidung von Diskriminierung führt aus Sicht der Erzählerin dazu, dass die ethnische Zuschreibung Indígena abgewertet wird, um so die normativen Relevanzsetzungen des gesellschaftlichen Gefüges widerzuspiegeln. Die Biographieträgerin veranschaulicht in ihrer Erzählung noch einen weiteren Aspekt im Zusammenhang mit der Herstellung ethnischer Zugehörigkeit: „pero en este momento mucha gente quiere presumir que es indígena porque mucho se siente (.) este sienten que el movimiento indígena que hay es muy importante“ (14/28-30)
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Vergleichende Fallanalyse
(15/ 23-25). Damit benennt sie aktuelle Entwicklungen im Umgang mit ‚Indígena-
Sein’ vor dem Hintergrund emanzipatorischer Bestrebungen bestimmter AkteurInnengruppen, die gesellschaftlich angelegte Relevanzsetzungen zu transformieren suchen. Die ‚Neugewichtung’ der ethnischen Zuschreibung ‚Indígena’ erfährt dabei eine Aufwertung, welche – wie die Erzählerin zum Ausdruck bringt – ebenso eine gewisse ‚Modebewegung’ in Gang gesetzt hat. Von der Akteurin wird auch das in dem sozialen Kontext vorhandene kollektive Verlaufskurvenpotenzial angesprochen: „somos pueblos utilizados explotados golpeados muy muy deteriorados” (11/7-8) <wir sind benutzte ausgebeutete geschlagene und sehr sehr beschädigte Völker> (11/23-24). Das Wir, welches die Biographieträgerin in ihrer Darstellung wählt, bezieht sich auf die ‚lateinamerikanischen Völker’. Die eingenommene Haltung in der Erzählperspektive kann als inkludierend beschrieben werden – die Differenzsetzung anhand ethnischer Kategorien tritt in den Hintergrund. Der Blick richtet sich auf die Kolonialisierung99 und Unterwerfung der autochthonen Bevölkerung. Diese ist als Phänomen noch weiter wirksam und alle AkteurInnengruppen sind davon auf unterschiedliche Weise betroffen. Das in der Vergangenheit liegende Ereignis ist Ausgangspunkt für gravierende Veränderungsprozesse in dem sozio-historischen Kontext. Die ‚Vermischung’ der europäischen wie indigenen Bevölkerungsgruppen sowie daraus resultierende soziale Ungleichstellungen müssen biographisch bearbeitet und reinterpretiert werden. Die von der Biographieträgerin entwickelten Handlungsstrategien intendieren den individuellen wie weiteren Handlungsspielraum zu erweitern. Die Akteurin eignet sich im Laufe ihres Lebens Wissen über Naturmedizin an und praktiziert diese in ihrem sozialen Nahraum. Wie die folgende Sequenz verdeutlicht, steht dabei das Erlangen von mehr Autonomie im Zentrum: “yo decidí estudiar medicina natural y aprendí difere (.) diferentes formas de curar pero este con metodos naturales para que pudiera yo curarme a mí misma porque esta medicina tenía la ventaja de que yo no dependía de los médicos la ventaja de que no me costaba nada y además yo podía curarme en cualquier momento y en cualquier circunstancia porque un doctor cobra más si llega a tu casa a media noche y cobra menos si tú vas a su consultorio pero mis hermanos se enfermaban a diversas horas no bueno después de que estudié medicina natural treinta años más o menos entonces decidí enseñar lo que yo sabía porque era muy fácil (..) curarse con medicina natural (..) pero (..) era (.) muy muy muy largo enseñar muchas cosas no y entonces reduje todo todo lo hize más concreto y (.) encontré la forma de manejar 99 Das durch die Kolonialisierung verursachte kollektive Verlaufskurvenpotenzial wurde bei der Analyse des biographischen Raums besonders berücksichtigt.
Zusammenfassende Anmerkungen zum Vergleich
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una planta que cura todas las enfermedades un baño de agua fría que cura todas las enfermedades un un masaje que cura todas las enfermedades y de esa manera es mucho más rápido no” (4/6-19) “ich habe mich entschieden Naturmedizin zu studieren und ich lernte unterschiedliche Formen zu heilen aber dies mit natürlichen Methoden damit ich mich selber heilen konnte weil diese Medizin hat den Vorteil dass ich nicht von den Ärzten abhängig bin den Vorteil dass es mich nichts kostet und außerdem konnte ich mich in jedem Moment und in jedem Umstand heilen weil ein Doktor verlangt mehr wenn er in dein Haus um Mitternacht kommt und verlangt weniger wenn du in seine Ordination gehst aber meine Geschwister wurden zu diversen Stunden krank nicht gut dann habe ich Naturmedizin mehr oder weniger 30 Jahre studiert dann entschied ich mich zu zeigen (zu unterrichten) was ich wusste weil es sehr einfach war (..) sich zu kurieren mit Naturmedizin (..) aber (..) es war (.) sehr sehr sehr lang viele Dinge zu zeigen nicht und dann reduzierte ich alles ich habe alles konkreter gemacht und (.) ich fand die Form eine Pflanze zu handhaben die alle Krankheiten heilen kann ein kaltes Bad das alle Krankheiten heilen kann eine eine Massage die alle Krankheiten heilen kann und auf diese Weise ist alles schneller nicht“ (4/13-26)
An einer anderen Stelle im Interview weist die Biographieträgerin Naturmedizin als ‚indigene’ Wissensbestände aus. Die Aneignung dieses Wissens intendiert das Erreichen von mehr Unabhängigkeit und wird in weiterer Folge der Schulmedizin kontrastierend gegenübergestellt. Die Einbettung der unterschiedlichen Wissensbestände verweist auf eine Anordnung, bei der die Naturmedizin aufgrund ihrer Anwendbarkeit und Reichweite einen höheren Stellenwert erhält als die Schulmedizin. Die Nutzung ‚indigenen’ Wissens dient dabei als Kapitalsorte und wird von der Biographieträgerin so angelegt, dass die Heilpraxis auch von Bevölkerungsgruppen angewendet werden kann, die über nur sehr wenig oder kein ökonomisches Kapital verfügen. Die von der Akteurin entwickelte soziale Praxis kann als Strategie verstanden werden, die sozialen ungleichen Verhältnissen entgegenwirkt. ‚Indigene’ Wissensbestände erfahren eine Aufwertung, werden nutzbar und anschlussfähig gemacht. Das skizzierte Fallbeispiel verdeutlicht eine Orientierungsfolie, innerhalb der die ethnische Konstruktion ‚Indígena’ aus der determinierenden Zuweisung herausgelöst wird und in Form eines Lebensstils selbstbestimmt gestaltet werden kann. Die ‚indigene’ Ausrichtung des Lebensentwurfes wird von der Biographieträgerin anhand von verschiedenen Einstellungen begründet und mit der Formulierung ‚einfaches Leben’ umschrieben. Dabei wird durch die Nutzung ‚elementarer’ Mittel mehr individuelle Unabhängigkeit erzeugt. Die von der Akteurin hergestellte Sinnfolie erlaubt Elemente ‚indigenen’ Wissens nutzbar zu machen und mit anderen Wissensbeständen zu vernetzen. Damit in Verbindung stehende gesellschaftlich angelegte Relevanzsetzungen werden von der Akteurin zum Teil
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Vergleichende Fallanalyse
transformiert. Die Biographieträgerin entwickelt ihre sozialen Praxen in Auseinandersetzung mit den sozialen ungleichen Verhältnissen. Die Thematisierung von Diskriminierung aufgrund ethnischer Zuschreibungen gibt zudem Auskunft über den relationalen Beziehungsraum zwischen den Diskursen ‚Mestizo’ und ‚Indígena’ und dem damit verbundenen Wirkungsgefüge. Das Fallbeispiel verweist ferner auf die Betroffenheit aller Bevölkerungsgruppen – der Aspekt der Kolonialisierung wird als kollektiv geteiltes Verlaufskurvenpotenzial sichtbar. Besonders deutlich gemacht werden konnte, dass die Herstellung ethnischer Zugehörigkeit als Strategie verstanden werden kann, bei der die soziale Positionierung im Vordergrund steht.
Zusammenfassende Anmerkungen zum Vergleich
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7 Modelle objektiv möglicher Sinnfiguren
In einem nächsten Schritt werden nun auf Basis des gesamten Befragungs- und Erhebungsmaterials übergreifende Sichtweisen formuliert. Im Speziellen sollen Muster generiert werden, die Auskunft über Formen von Haltungs- und Handlungskonfigurationen sozialer AkteurInnen in dem konkreten sozio-historischen Kontext geben. Diese stellen „nachvollziehbare, explizierbare Annäherungen an den subjektiven Sinn, der Handlungen (und deren Entwürfen) zugrunde liegt“ (Egger 1995, S. 273) dar. Der subjektiv gemeinte Sinn der Handelnden verweist auf eine Verstehens- und Deutungsleistung, die in Auseinandersetzung mit der historisch konkreten Lebenswelt, ihren kollektiv geteilten Wissenssystemen und Deutungsschemata, herausgebildet wird. Diese gibt Auskunft über intersubjektive Orientierungen und interaktive Wechselbezüge sozialer AkteurInnen. Bei der Explikation von Modellen objektiv möglicher Sinnfiguren wird der fallspezifische Handlungssinn über seinen konkreten Kontext hinaus befragt, in einem allgemeineren Verstehenshorizont eingegliedert und auf sein allgemeines Bedeutungspotenzial hin gedeutet (vgl. Soeffner 2003, S. 41). Die Einzelfälle werden dabei nur in Hinblick auf ihren Abstand sowie ihrer Differenz zu dem konstruierten Typus kausal erklärt. Die entwickelten Typologien weisen somit über die Einzelfälle hinaus und ermöglichen die Singularität und Konkretion des Besonderen vor dem Hintergrund des historischen Kontextes zu verstehen (vgl. Soeffner 2003, S. 47f.). Wesentlich ist, dass die Daten sowie die entstehenden Objektivationen diskursiv zugänglich sind. „Das wissenschaftliche Verstehen kann nur dann systematisch und methodisch reflektiert ansetzen, wenn die Daten diskursiv vorliegen. Sie müssen in irgendeiner Form aufgezeichnet sein, vom Interpreten mehrfach gesichtet, gedeutet und hin- und hergewendet werden können“ (Soeffner 2003, S. 46). Auf Basis der in den Fallbeispielen enthaltenen perspektivengebundenen Deutungsmuster wurden Eigenschaften und Merkmale der subjektiven Erfahrungsaufbauten abstrahiert. Die Daten wurden dabei anhand heuristischer ad-hoc Interpretationen mehrmals gesichtet und gedeutet. Die entworfenen Hypothesen waren zunächst auf einem unterschiedlichen Generalisierungsniveau angesiedelt. Durch das Verfahren der komparativen Analyse, dem Vergleich mittels maximaler bzw. minimaler Ähnlichkeit und Differenz, konnten relevante Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Eigenschaften und Merkmalen einzelner Kategorien weiter herausgearbeitet und theoretisch geordnet werden. Bei der Explikation möglicher Sinnfiguren ist der abduktive Schluss, bei dem eine ent-
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Modelle objektiv möglicher Sinnfiguren
deckende Forschungshaltung im Vordergrund steht, besonders hervorzuheben (vgl. Egger 1995, S. 274). Eine Typologiebildung kann nicht nur die in der subjektiven Binnensicht enthaltene alltägliche Sinnkonfiguration wie Motivationszuschreibungen fassen, sondern wir „fragen zugleich nach den Bedingungen der Möglichkeit, unter denen diese überhaupt auf den Plan treten konnten“ (Heuberger/Kellner 2003, S. 91). Die AkteurInnen mit ihren Konstruktionsleistungen verfügen dabei über ein Sinnsetzungspotenzial, das über „mögliche zukünftige, sich erst noch herausbildende objektive Sinnzusammenhänge verfügt“ (Heuberger/Kellner 2003, S. 93). Die Dichte und Komplexität, die den Konstruktionsleistungen der AkteurInnen zugrunde liegt, kann jedoch in dem wissenschaftlichen Modell nur in begrenzten Ausschnitten thematisiert werden (vgl. Heuberger/Kellner 2003, S. 87). An dieser Stelle wird zudem darauf verwiesen, dass die von der Forscherin formulierten Modelle objektiv möglicher Sinnfiguren unter dem Aspekt100 einer analytischen Perspektive ‚von außen’ zu betrachten sind. Gerade wenn die Vertrautheit mit den lebensweltlichen Rahmenbedingungen nicht im Vorhinein vorausgesetzt werden kann, ist es in einem erheblichen Ausmaß notwendig, sich ein umfassendes Kontextwissen anzueignen, um die sozialen Konstruktionen in ihren historischen und sozialen Bedingungen zu erfassen. Da die soziale Welt verstehend konstruiert wird und sich die AkteurInnen deutend in einer bereits vorgedeuteten Welt bewegen, ist der Austausch und die Reflexion mit Personen, die mit den lebensweltlichen Rahmenbedingungen sehr eng vertraut sind, eine fast unverzichtbare methodische Voraussetzung. In den einzelnen Arbeitsschritten101 wurden die entwickelten Hypothesen immer wieder in der Biographieforschungsgruppe FG-BIO diskutiert und mit AkteurInnen, die in der konkreten sozialen Lebenswelt aufgewachsen sind, reflektiert. Dabei kristallisierte sich der ‚Blick von innen’ nicht nur bei dem Sichten von interpretativen Räumen als wichtige Ressource heraus. Die entwickelten analytischen sowie theoretischen Überlegungen sind vor diesem Hintergrund als Lesarten zu verstehen, die von der Forscherin angeboten werden. Die Ergebnisse wurden in der Darstellung anhand ihres Generalisierungsniveaus gegliedert. Zunächst werden objektiv mögliche Sinnfiguren vor dem Hintergrund konkurrierender Wissensprofile beschrieben. In weiterer Folge verweisen formulierte Charakteristika auf die in dem historisch konkreten Kontext 100
Dies bezieht sich sowohl auf den methodischen Zugang, wie auch auf das analytische Abstrahieren und dem damit verbundenen Deutungs- und Erfahrungswissen. 101 Die einzelnen Arbeitsschritte beziehen sich, beginnend mit der ‚Line-by-line’-Analyse, auf das offene Kodieren, das axiale Kodieren sowie das selektive Kodieren. Von der Forscherin wurden Kernpassagen ausgesucht anhand der das Interviewmaterial in der Forschungsgruppe bearbeitet und reflektiert wurde (siehe Kapitel 4).
Analytische Abstraktion objektiv möglicher Sinnfiguren
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entwickelten sozialen Praxen autonomer Bestrebungen. Als ein weiteres wesentliches Ergebnis können die verschiedenen abstrahierten biographischen Modelle betrachtet werden, die sich durch die darin enthaltene Ich-Wir-Balance von modernen Lebenskonstruktionen unterscheiden. In diesem Zusammenhang soll noch auf ‚Besonderheiten’ eingegangen werden, die im Laufe des Forschungsprozesses aufgetaucht sind und die auf andere in dem konkreten Kontext verankerte soziale Praxen im Umgang mit Wissensbeständen verweisen. Hinweise auf Beziehungen zu kontextuellen Rahmenbedingungen, die anhand des Befragungsmaterials gefunden werden konnten, werden dann abschließend thematisiert. 7.1 Analytische Abstraktion objektiv möglicher Sinnfiguren Bei der analytischen Abstraktion objektiv möglicher Sinnfiguren standen im Wesentlichen folgende Aspekte im Vordergrund. Zum einen richtete sich der Blick darauf, in welchen unterschiedlichen Sinnkontexten die herausgebildeten Sinnfiguren verortet werden und inwieweit zentrale Ordnungskategorien der jeweiligen Wissensprofile stabilisiert bzw. gewandelt werden. Zum anderen orientierte sich die Analyse daran, ob die gesellschaftlich angelegten ungleichen Verhältnisse von den sozialen AkteurInnen reproduziert bzw. transformiert werden. Ein weiteres wesentliches Element bildet die Leistung des Anschlussfähigmachens der jeweils herausgebildeten Sinnfiguren, die sich anhand unterschiedlicher Merkmale näher beschreiben lässt. Diese verdeutlicht unterschiedliche Strategien im Umgang mit den kontextuellen Rahmenbedingungen. Die eingenommenen Haltungen verweisen auf aktive Handlungsschemata und sind davon gekennzeichnet, dass das Individuum eine aktive Beziehung zu den kontextuellen Rahmenbedingungen einnimmt. Das forschungsleitende Interesse richtete sich demnach auf soziale Praxen autonomer Bestrebungen in dem sozialen Kontext. Die nachfolgende Abbildung soll die von der Forscherin gesetzten Parameter näher verdeutlichen.
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Modelle objektiv möglicher Sinnfiguren
Transformation Wandlung
Nicht-Moderne
‚indigen’ geprägtes Weltverhältnis
Emergenz von Neuem – + intersubjektive Konstitution + –
Moderne
‚modern’ geprägtes Weltverhältnis
Stabilisierung Reproduktion
Abbildung 4:
Wirkungsgefüge objektiv möglicher Sinnfiguren vor dem Hintergrund konkurrierender Wissensprofile
Die gesetzten Parameter ‚indigen’ geprägtes Weltverhältnis bzw. ‚modern’ geprägtes Weltverhältnis stellen keine dichotomen Pole dar, sondern sind vielmehr in einem Spannungsverhältnis zu sehen, das anhand der Dimension ‚intersubjektive Konstitution’102 gefasst werden kann. Die Variablen Transformation bzw. Reproduktion beziehen sich auf zentrale Ordnungskategorien sowie damit in Verbindung stehende Relevanzsetzungen der jeweiligen Wissensprofile, welche 102
Diese wird durch die Konstitution und Konstruktion intersubjektiver relationaler Räume verdeutlicht.
Analytische Abstraktion objektiv möglicher Sinnfiguren
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vor dem Hintergrund der herausgebildeten Selbst- und Weltverhältnisse gewandelt oder stabilisiert werden. Wie anhand der Abbildung 4 ersichtlich wird, kommt der ‚Emergenz von Neuem’ in Auseinandersetzung mit den divergenten Wissensprofilen besondere Relevanz zu. Die von den sozialen AkteurInnen entwickelten Modelle verweisen demnach ebenso auf die Herausbildung hybrider Gebilde. Diese sind dabei nicht als Subsumierung verschiedener Elemente zu begreifen, sondern verdeutlichen ‚Neuschöpfungen’, welche sich schwebend im Übergang zu den unterschiedlichen Positionen befinden (vgl. Mecheril 2003, S. 329ff.). In diesem Sinne sind diese analytisch nicht eindeutig zuordenbar bzw. gerade durch den Aspekt der uneindeutigen Klassifizierbarkeit gekennzeichnet. Folgende objektiv mögliche Sinnfiguren werden vor dem Hintergrund der Analyse formuliert: Dem Aspekt Verortung bzw. Stärkung des ‚indigen’ geprägten Weltverhältnisses können drei abstrahierte Sinnfiguren zugeordnet werden, die sich durch die eingenommenen Haltungen voneinander unterscheiden. Diese weisen dabei das Charakteristikum der ethnischen Differenzsetzung auf – ‚Indígenas’ und ‚Mestizos’ werden als sich voneinander unterscheidend markiert. Die Konstruktion ‚Indígena’ ist dabei an ein lebendiges Interaktionsgefüge gebunden, wird davon getragen, jedoch anhand unterschiedlicher Strategien sozial inszeniert und fortgesetzt. Stabilisierung des ‚indigen’ geprägten Weltverhältnisses Diese Sinnfigur erzeugt eine Stabilisierung des vertrauten Präferenzsystems, indem den Wissensbeständen der Dominanzgesellschaft mit Widerstand begegnet wird. Das Sinnsystem, welches damit verbunden ist, zeichnet sich durch eine tendenzielle Geschlossenheit aus. Zentrale Ordnungskategorien des ‚indigen’ geprägten Wissensprofils werden nicht in Frage gestellt. Die Stabilisierung des traditionellen Herkunftsmilieus hat handlungsleitenden Charakter – Veränderungsprozesse werden nicht aktiv angestrebt. Die alltägliche Handlungspraxis wird durch ein ‚Sich-im-Fluss-befindliches-Tun’ fortgesetzt. Das Sinnsystem ist durch eine hochgradige kollektive Orientierung gekennzeichnet – individuelle Bestrebungen treten in den Hintergrund. Die Anordnung der divergenten Wissensprofile verweist auf ein Entweder-oder-Schema, das polarisierend wirkt und gesellschaftliche Interdependenzunterbrechungen begünstigt. Die mit dieser Haltung verbundene Strategie wird in Form eines Sich-nicht-in-BeziehungSetzens mit anderen Sinnsystemen deutlich. Die Aneignung des dominanten Wissensprofils sowie damit verbundene Wissensbestände werden verweigert. Das Widerstandspotenzial wird also insofern relevant, indem es garantiert, Ein-
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Modelle objektiv möglicher Sinnfiguren
flüsse von außen ‚abzuschirmen’. Autonomie wird erzeugt, indem das Weltverhältnis durch Abgrenzung verteidigt und stabilisiert wird. Auf gesellschaftlich angelegte soziale ungleiche Verhältnisse wird nicht direkt Einfluss genommen, diese werden in diesem Sinne reproduziert. Kollektivierung und Stärkung des ‚indigen’ geprägten Weltverhältnisses Die Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit des vertrauten Präferenzsystems steht bei dieser Sinnfigur im Zentrum. Dieses wird – im Gegensatz zur vorangegangenen Sinnfigur – durch die soziale Praxis des Sich-in-Beziehung-Setzens erzeugt und zielt auf eine Transformation zentraler Ordnungskategorien sowie bestimmter normativer Folien des dominanten Wissensprofils ab. Dabei wird gestaltend in die sozialen ungleichen Verhältnisse eingegriffen. Die Konstruktion ‚Indígena’ wird aus ihrer hegemonialen Zuweisung herausgelöst und in einen ‚neuen’ Bedeutungszusammenhang gestellt. Das Selbst- und Weltverhältnis sowie damit verbundenes Wissen erfährt eine Aufwertung und wird dem dominanten Wissensprofil konfrontierend gegenüber gestellt. Die unterschiedlichen Wissensprofile werden dabei nicht in einem Entweder-oder-Schema konstruiert, sondern die herausgebildete Sinnfigur setzt das Verständnis vom Vorhandensein verschiedener möglicher Wirklichkeitskonstruktionen voraus. Ein weiteres Merkmal stellt eine vermittelnde Haltung dar. Das Präferenzsystem wird erklärend vermittelt und in die Sprache der Dominanzgesellschaft übersetzt. Differenzen sowie Ähnlichkeiten zu dem westlich geprägten Weltverhältnis werden dabei formuliert. Durch das aktive Sich-in-Beziehung-Setzen soll erreicht werden, dass die ‚andersartige’ Weltsicht nicht nur als Gegenstand, sondern als Instrument des Denkens begriffen wird. Die mit dieser Sinnfigur im Zusammenhang stehenden sozialen Praxen sind gekennzeichnet von einem Wandlungs- und Widerstandspotenzial. Handlungsspielräume der AkteurInnengruppen werden reflexiv ausgelotet. Der Aspekt des Sich-kollektiv-Organisierens spielt dabei eine wesentliche Rolle. Das Eingreifen in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kann als Empowermentprozess beschrieben werden, bei welchem auf Basis einer ReEthnisierung ungleichen sozialen Verhältnissen direkt entgegengewirkt wird. Der Herstellung ethnischer Zugehörigkeit kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Das Präferenzsystem wird durch eine Differenzsetzung gestärkt und kollektiviert, wobei die Selbstvergewisserung an ein lebendiges Interaktionsgefüge gebunden wird. Die nachfolgende formulierte Sinnfigur ist mit dieser Orientierungsfolie in einem engen Zusammenhang zu sehen.
Analytische Abstraktion objektiv möglicher Sinnfiguren
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Wandlung des ‚indigen’ geprägten Weltverhältnisses Wandlungsprozesse werden bei dieser Sinnfigur ‚selbst gewählt’ angestrebt. Das Sinnsystem ist dabei von einer tendenziellen Offenheit gekennzeichnet. Entscheidend ist jedoch, dass sich die angestrebten Veränderungen vor dem Hintergrund des Vertrauten vollziehen, also auf Basis des bekannten Präferenzsystems angeordnet werden. Westlich moderne Ideen und Werte werden als Erweiterung und Überschreitung des eigenen Sinnhorizontes betrachtet und dabei kritisch hinterfragt. Die angeeigneten Wissensbestände tragen zur Erleichterung des Alltags bei. Einen weiteren Aspekt bildet das Konzept des Sich-Befähigens, welches sowohl individuell wie auch kollektiv angelegt sein kann. Das Aneignen bestimmter Wissensbestände ermöglicht den sozialen AkteurInnen bzw. AkteurInnengruppen ihren Handlungsspielraum zu erweitern und ihre Position im sozialen Raum zu stärken. Im Verhältnis zur Dominanzgesellschaft geht es jedoch nicht nur um die Aneignung bestimmter Wissensbestände, wie etwa Kenntnisse der Medizin oder Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit, sondern die Transformation der Rahmung des Orientierungshorizontes wird aktiv angestrebt. In diesem Zusammenhang sind Lern- und Bildungsprozesse hervorzuheben. Wesentlich erscheint, dass es dabei weniger um einen Anpassungsprozess geht, sondern vielmehr um ein Verständnis der ‚indigenen’ Konstruktion, dem zugestanden wird, sich zu verändern und das sich von konservierenden bzw. kulturalisierenden Vorstellungen abgrenzt. Die Ethnie wird als lebendiges Interaktionsgefüge begriffen, das von diesem getragen und weiter geformt wird, wobei die Selbstvertretung bzw. Selbstrepräsentation von entscheidender Bedeutung ist. Die Zuschreibung ‚indigener’ Lebensweise in Form von Sitten und Gebräuchen wird demzufolge abgelehnt. Gesellschaftlich ungleiche Verhältnisse sowie damit in Verbindung stehende Relevanzsetzungen werden innerhalb dieser Sinnfigur transformiert. Die folgenden abstrahierten Sinnfiguren können unter dem Aspekt der Anpassung bzw. der Unterordnung an das dominante Wissensprofil betrachtet werden. Charakteristisch ist, dass bei dem In-Beziehung-Setzen der unterschiedlichen Orientierungshorizonte, die zentralen Ordnungskategorien des dominanten Wissensprofils nicht oder in einem geringeren Ausmaß in Frage gestellt werden – diese werden demnach stärker reproduziert. Die herausgebildeten Sinnfiguren unterscheiden sich jedoch durch verschiedene Strategien des Anschlussfähigmachens.
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Synchronisation und Integration ‚indigener’ Wissensbestände in das dominante Wissensprofil Bei dieser Sinnfigur steht die Aneignung des fremden Präferenzsystems im Vordergrund. Dieses wird für das Vorankommen als sinnvoll und erstrebenswert erachtet und fungiert in diesem Sinne als normative Folie. Dem ‚indigen’ geprägten Weltverhältnis wird kein zentraler Stellenwert eingeräumt. Die Aneignung fremder Wissensbestände zielt auf die Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit der sozialen AkteurInnen im Bedingungsgefüge des sozialen Raumes ab und ist auf eine Erweiterung des Handlungsspielraumes gerichtet. Diese Sinnfigur veranschaulicht ebenso die Nutzung ‚indigener’ Wissensbestände. Wesentlich erscheint, dass diese vor dem Hintergrund der zentralen Ordnungskategorien des dominanten Wissensprofils integriert werden. ‚Indigenes’ Wissen kann dabei eine Auf- oder Abwertung erfahren. Die Folien des Anschlussfähigmachens verweisen auf Muster der Strukturierungsleistung sozialer AkteurInnen, die mit den Begriffen Integration und Synchronisation gefasst werden können. Ein Integrationsmuster beschreibt eine stärkere Abstimmung der unterschiedlichen Bausteine zueinander, bei einer Synchronisation weisen die einzelnen Elemente eine Gleichzeitigkeit auf, jedoch wird auf eine inhaltliche Konsistenz weniger Rücksicht genommen. Bei einer Aufwertung ‚indigener’ Wissensbestände steht die Nutzung dieser als kulturelle Kapitalsorte im Vordergrund. Diese werden von den sozialen AkteurInnen strategisch eingesetzt, wobei Kenntnisse über das hegemoniale Wirkungsgefüge gegeben sein müssen. Eine wesentliche Rolle spielen zudem Sinnfolien, die vom modernen Wissensprofil angeboten werden. Bestimmte Wissensbestände werden dabei mit dem Aspekt von etwas Exotischem versehen und dienen als ‚Projektionsfläche’ für Sinnsetzungspotenziale, die in dem westlich geprägten Weltverhältnis weniger Raum erhalten. In diesem Zusammenhang kann darauf verwiesen werden, dass ‚indigenes’ Wissen in einem stärkeren Ausmaß konserviert wird, dieses demnach als weniger veränderbar oder sich weiterentwickelnd betrachtet wird. Ein weiteres Merkmal bildet die Haltung die Sinnstrukturen nicht zu entzaubern. Diese Strategie der Kommerzialisierung bzw. Vermarktung findet sich beispielsweise im Bereich des Tourismus, aber auch bei der Vermarktung von Kunsthandwerk. Andere Modelle der Integration sind u. a. im Bereich der Medizin denkbar, wobei diese stärker auf eine Nutzung in Form von Gegenwissen verweisen.
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Unterordnung ‚indigener’ Wissensbestände durch Polarisierung Die Eingliederung in die dominanten gesellschaftlichen Strukturen hat bei dieser abstrahierten Sinnfigur handlungsleitenden Charakter. Kennzeichnend ist die Unterordnung ‚indigener’ Wissensbestände innerhalb des dominanten Wissensprofils. Das Anschlussfähigmachen dieser wird dadurch erschwert. Die divergenten Orientierungen werden in diesem Zusammenhang in einem Entweder-oderSchema konstruiert, welches polarisierend wirkt. Dem Individuum ist es auf Basis dieser Vorstellung nicht möglich, in beiden divergenten Sinnkontexten verankert zu sein – diese werden als Gegensätze begriffen. Die Aneignung fremder Wissensbestände dient als Ausgangsbasis und ist mit dem Gefühl verbunden, bei Null anfangen zu müssen. Das Herkunftsmilieu wird unter dem Aspekt einer Defizitperspektive betrachtet und auf die eigene Situation übertragen. Angeeignete Wissensbestände sowie Orientierungsfolien werden unter diesem Blickwinkel weniger genutzt. Eine relative Autonomie des Individuums wird durch ein Sich-Befähigen in Auseinandersetzung mit den fremden Wissensbeständen erreicht. Die Thematisierung ethnischer Zugehörigkeit wird dabei stärker vermieden, um Diskriminierungen aufgrund gesellschaftlich angelegter Differenzlinien zu vermeiden. Diese Sinnfigur kann ebenso mit Vereinzelungstendenzen verbunden sein. Aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, dem kaum Vorhandensein von staatlicher Unterstützung, wie beispielsweise im Bereich der Altersversorgung, ist die soziale Einbindung von besonderer Relevanz. Dem Aufbau von sozialen Netzwerken kommt daher bei einem Vereinzelungsprozess besondere Bedeutung zu. Die hegemoniale Zuweisung ‚indigener’ Sinnhorizonte wird bei dieser Sinnfigur von den sozialen AkteurInnen internalisiert und in diesem Sinne in einem hohem Ausmaß reproduziert. Die abstrahierten Sinnfiguren sind vor dem Hintergrund der kontextuellen Rahmenbedingungen zu betrachten, wobei diese Darstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Sie verweisen auf herausgebildete Strategien in Auseinandersetzung mit dem kollektiven Verlaufskurvenpotenzial, welches die Unterwerfung des ‚indigen’ geprägten Weltverhältnisses zum Ausgangspunkt hat und sich – wenn auch in anderer Form – bis in die heutige Zeit fortsetzt. Fragen wir nach den Bedingungen der Möglichkeit unter denen sie hervorgebracht werden, so muss sich der Blick ebenso auf den Umgang der Moderne mit Wirklichkeitskonstruktionen, die sich von dieser wesentlich unterscheiden, richten. An dieser Stelle soll nicht auf die bereits thematisierten Zuweisungen eingegangen werden, sondern das Interesse richtet sich auf den Aspekt des Herrschaftsanspruches des westlich-modernen Verständnisses, das für andere – diesem widersprechende Sinnkonstruktionen – wenig Handlungsspielraum lässt. Den in dem konkreten sozio-historischen Kontext gewachsenen sozialen Praxen muss zugestan-
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den werden, legitime Antworten auf aktuelle wie historische Problemstellungen zu sein. Zentral ist demnach – aus Sicht der Forscherin – die Transformation des Herrschaftsanspruches des westlich-modernen Wissensprofils, um diese als Erweiterung des Orientierungshorizontes begreifen zu können. Die abstrahierten Sinnfiguren verdeutlichen in einem unterschiedlichen Ausmaß hybride Gestaltungsformen. Diese finden sich besonders unter dem Aspekt der Wandlung, der von den AkteurInnen explizit angestrebt wird, aber auch anhand der Integration bzw. Synchronisation divergenter Wissensbestände. An dieser Stelle wird noch einmal auf die damit in Verbindung stehenden Lernund Bildungsprozesse verwiesen, welche die Möglichkeit der ‚Emergenz von Neuem’, die anhand des herausgebildeten Erfahrungs- und Handlungswissens sozialer AkteurInnen sichtbar wird, besonders veranschaulichen. Der hybriden Gestaltung wurde im Rahmen dieser Darstellung keine eigene Sinnfigur zugewiesen, weil diese nicht als eine aktiv angestrebte im empirischen Material erkennbar wurde. Gefunden werden konnten jedoch Orientierungsfolien, bei denen die Konstruktion ethnischer Zugehörigkeit in den Hintergrund tritt und die mit der Haltung – ‚nicht zugeordnet werden zu wollen’ – in Verbindung zu sehen ist. Die in dem konkreten sozialen Kontext herausgebildeten Sinnfiguren verweisen zudem auf ein Sinnsetzungspotenzial, welches darauf hindeutet, die divergenten Wissensprofile als Rahmungen zu begreifen, die flexibel gehandhabt werden können. Hinweise darauf wurden u. a. in dem skizzierten Fallbeispiel Ana gefunden. Die Akteurin löst dabei die Kategorie Ethnie aus ihrer determinierenden Zuweisung heraus und macht diese unter dem Blickwinkel eines selbst gewählten Lebensstils für ihren biographischen Entwurf nutzbar. Wesentlich erscheint, dass divergente Wirklichkeitskonstruktionen nicht länger in einem Entweder-oder Verhältnis gefasst werden, sondern dass diese als Rahmungen begriffen werden. Auf diese Weise wird dem Individuum die Möglichkeit eröffnet, Wirklichkeit unter dem Aspekt unterschiedlicher Relevanzsetzungen und Orientierungsrahmen zu betrachten. Unter dem Aspekt der ‚Emergenz von Neuem’ kann anhand dieser Forschungsarbeit besonders auf entwickelte biographische Modelle verwiesen werden. Diese zeichnen sich durch eine Ich-Wir-Balance aus, welche einen stärkeren intersubjektiven Beziehungsraum zwischen dem biographischen Ich und dem Wir sichtbar machen. Die in dem Datenmaterial gesichteten unterschiedlichen Konstruktionen weisen dabei sich gegenseitig bedingende und verstärkende, aber auch behindernde Elemente auf. Die abstrahierten Modelle sind mit den dargestellten Sinnfiguren insofern in einem Zusammenhang zu sehen, indem diese die Muster der Erfahrungsstrukturierung widerspiegeln. In den dargestellten Fallbeispielen gründet die Perspektive der Selbstthematisierung im Wesentlichen auf der Herausbildung eines biographischen Ichs,
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welches sich als unabhängige soziale Einheit begreift. Im Rahmen der Felderkundung konnten jedoch auch soziale Strukturen ausgemacht werden, bei denen dieser Fokus nicht herausgebildet war, sondern – trotz des Vorhandenseins relevanter Modernisierungsmerkmale innerhalb des sozialen Gefüges – die kollektive Ausrichtung innerhalb des Orientierungshorizontes dominanten Charakter hatte. Die von der Forscherin gesichteten Modelle rücken die soziale Eingebundenheit der AkteurInnen stärker in das Zentrum. Dies zeigt sich u. a. anhand der sozialen Praxis ‚Wissen zu teilen’. Wissen wird dabei sowohl als individuelles als auch als kollektiv geteiltes Kapital sichtbar. Die hervorgebrachten biographischen Modelle können als Chance betrachtet werden, den darin enthaltenen Beziehungsraum als zentralen Baustein biographischer Modelle zu verstehen. Bei der Herstellung ethnischer Zugehörigkeit konnte anhand der vorliegenden Forschungsarbeit sichtbar gemacht werden, dass diese als Praxis sozialer Positionierung in dem konkreten sozialen Kontext besondere Relevanz erhält. Dabei kommen die im gesellschaftlichen Wirkungsgefüge angelegten Differenzlinien besonders zum Tragen. Diese erzeugen soziale Ungleichstellungen der AkteurInnen bzw. AkteurInnengruppen. Die Herstellung ethnischer Zugehörigkeit ist demnach unter dem Aspekt von sozialer Anerkennung bzw. Diskriminierung aufgrund ethnischer Zuweisung zu betrachten. Zudem konnte ein interpretativer Raum verdeutlicht werden, der auf eine determinierende ethnische Konstruktion verweist. Anhand des Interviewmaterials wurden unterschiedliche Strategien im Umgang mit der Kategorie Ethnie erkennbar. Diese reichen von einer intendierten Herstellung bis hin zu einer Vermeidung bzw. Nicht-Thematisierung dieser. Auch hier findet sich ein Sinnsetzungspotenzial, die gesellschaftliche determinierende normative Folie deutend zu brechen. Die ethnische NichtVerortung verweist auf Strategien, mögliche andere Formen der Zugehörigkeit oder Mehrfachzugehörigkeit innerhalb des Orientierungshorizontes stärker in den Vordergrund zu stellen. Grundsätzlich kann jedoch festgehalten werden, dass der ethnischen Differenzsetzung aufgrund des hegemonialen Wirkungsgefüges eine relevante Bedeutung zukommt. Diese wird zum Teil explizit angestrebt und trägt vor dem Hintergrund dieser Sinnfigur zu einer Stärkung der jeweiligen Wissensprofile bei. Die Anbindung an die ethnische Kategorie ‚Indígena’ kann ebenso als Strategie des sich Formierens bzw. Kollektivierens gelesen werden, bei der – in Abgrenzung zur Moderne – Vereinzelungstendenzen entgegengewirkt wird. Innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges hat die ethnische Differenzsetzung jedoch auch Fragmentierungs- bzw. Differenzierungsprozesse zur Folge. Die sozialen Praxen autonomer Bestrebungen, welche anhand des empirischen Materials veranschaulicht werden konnten, sind durch eine unterschiedliche Reichweite gekennzeichnet und dabei sowohl kollektiv als auch individuell
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angelegt. Sie verweisen auf aktive Handlungsschemata. Es wurden Formen gefunden, bei denen das Individuum eine aktive Haltung zu vorgefundenen Rahmenbedingungen einnimmt und diese handlungsorientiert neu gestaltet. Andere hingegen verdeutlichen eine Position, bei der sich das Individuum stärker an die Strukturen der Dominanzgesellschaft ‚einzupassen’ sucht. An dieser Stelle soll jedoch auch darauf verwiesen werden, dass in einigen Interviews ein massives Verlaufskurvenpotenzial sichtbar wurde, das zerstörte oder stark ‚beschädigte’ soziale Strukturen erkennbar machte. Die herausgebildeten sozialen Praxen enthalten Hinweise auf Beziehungen zu den jeweiligen Herkunftsmilieus. In diesem Zusammenhang kann auf das bereits benannte Merkmal tendenziell offener bzw. geschlossener Sinnsysteme verwiesen werden, welches die entwickelten Strategien in einem erheblichen Ausmaß beeinflusst. Hier kommt dem Aspekt, inwieweit der unmittelbare Kontext von den sozialen AkteurInnen als gestaltbar erfahren wird, eine wesentliche Bedeutung zu. Ebenso relevant zeigte sich der Umstand, in welchem Umfang bereits Handlungsstrategien in Auseinandersetzung mit dem dominanten Wissensprofil entwickelt wurden bzw. ob das Herkunftsmilieu schon Modernisierungsphänomene aufwies. Die herausgebildeten sozialen Praxen müssen vor dem Hintergrund der Position im sozialen Raum betrachtet werden. Die in dem gesellschaftlichen Wirkungsgefüge angelegten Differenzlinien erzeugen soziale ungleiche Verhältnisse, die typisch ungleichen Lebensverhältnisse hervorbringen. In diesem Zusammenhang ist der Aspekt der Marginalisierung besonders hervorzuheben, aber auch geschlechterbedingt erzeugte Lebensverhältnisse, welche die Dimension des Überlebens für die sozialen AkteurInnen verstärkt ins Zentrum rücken. Vor dem Hintergrund der Sinnfiguren werden mittels der sozialen Praxen die Relevanzsetzungen der Dominanzgesellschaft sowie damit verbundene soziale Ungleichstellungen in unterschiedlicher Ausprägung transformiert oder reproduziert.
Literaturverzeichnis
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Literaturverzeichnis
Alheit, Peter (1989): Erzählform und >>soziales Gedächtnis