Jan Mewes Ungleiche Netzwerke – Vernetzte Ungleichheit
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Jan Mewes Ungleiche Netzwerke – Vernetzte Ungleichheit
Netzwerkforschung Herausgegeben von Roger Häußling Christian Stegbauer
In der deutschsprachigen Soziologie ist das Paradigma der Netzwerkforschung noch nicht so weit verbreitet wie in den angelsächsischen Ländern. Die Reihe „Netzwerkforschung“ möchte Veröffentlichungen in dem Themenkreis bündeln und damit dieses Forschungsgebiet stärken. Obwohl die Netzwerkforschung nicht eine einheitliche theoretische Ausrichtung und Methode besitzt, ist mit ihr ein Denken in Relationen verbunden, das zu neuen Einsichten in die Wirkungsweise des Sozialen führt. In der Reihe sollen sowohl eher theoretisch ausgerichtete Arbeiten, als auch Methodenbücher im Umkreis der quantitativen und qualitativen Netzwerkforschung erscheinen.
Jan Mewes
Ungleiche Netzwerke – Vernetzte Ungleichheit Persönliche Beziehungen im Kontext von Bildung und Status
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die Arbeit entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Transnationalisierung sozialer Beziehungen“, welches von 2005 bis 2008 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde. Zugl. Dissertation Universität Bremen, 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17209-5
Inhalt
Abbildungsverzeichnis .......................................................................................7 Tabellenverzeichnis ............................................................................................8 1
Einleitung................................................................................................13
2
Soziologische Theorien persönlicher Beziehungen..............................19 2.1 Der Begriff der persönlichen Beziehung .........................................19 2.2 Freundschaft und Verwandtschaft ...................................................25
3
Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen ............................43 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
4
Soziologische Netzwerkanalyse.............................................................77 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
5
Soziologische Konzepte sozialer Ungleichheit................................43 Die Freunde der Freunde: Das Prinzip der Transitivität ..................48 Schichtspezifisches Mobilitätskapital..............................................51 Die Defizithypothese .......................................................................52 Dekontextualisierung.......................................................................54 Die Focustheorie..............................................................................57 Die Affekttheorie des sozialen Austauschs .....................................60 Reziprozität und die Monopolisierung von Verwandtschaftsbeziehungen ..........................................................69
Die Größe sozialer Netzwerke.........................................................82 Netzwerkdichte................................................................................83 Multiplexität ....................................................................................85 Geographische Distanz ....................................................................86 Kontakthäufigkeit ............................................................................88
Hypothesen .............................................................................................91
6
Inhalt
6
Operationalisierung und Daten .......................................................... 101 Die Operationalisierung des Bildungsniveaus ............................... 101 Die Operationalisierung des beruflichen Status............................. 103 Die verwendeten Umfragedaten (I): Familiensurvey .................... 104 Die verwendeten Umfragedaten (II): Netherlands Kinship Panel Study ........................................................... 105 6.5 Die verwendeten Umfragedaten (III): ALLBUS/ISSP .................. 108 6.6 Die verwendeten Umfragedaten (IV): Survey Transnationalisierung ........................................................ 110 6.7 Soziodemographische Kontrollvariablen....................................... 111 6.1 6.2 6.3 6.4
7
Empirische Analysen ........................................................................... 119 Homophilie: Zur Bildungshomogenität persönlicher Netzwerke .. 119 Die Größe und die Komposition persönlicher Netzwerke ............. 123 Die Dichte persönlicher Netzwerke............................................... 135 Schichtzugehörigkeit und Multiplexität......................................... 143 Ungleiche Netzwerkgeographien................................................... 153 Kontakthäufigkeit in persönlichen Netzwerken............................. 164 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen ..... 170 Zur Schichtspezifik der Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen ........................................................... 189 7.9 Eine Anmerkung zur empirischen Tragweite der Ergebnisse........ 203 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8
8
Resümee und Ausblick ........................................................................ 205
9
Literaturverzeichnis ............................................................................ 215 Anhang.................................................................................................. 227
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10:
Boxplot über die Bildungshomogenität persönlicher Netzwerke ........................................................ 121 Boxplot über die Bildungshomogenität von Freundschaftsnetzwerken .............................................. 122 Zahl der genannten Freundschaftsbeziehungen .................... 130 Boxplot über die Dichte persönlicher Netzwerke................. 138 Räumliche Verteilung persönlicher Beziehungen ................ 154 Kontakthäufigkeit nach Bildung........................................... 166 Kontakthäufigkeit zum besten Freund/ zur besten Freundin .............................................................. 169 Gewünschte Charaktereigenschaften enger Freunde ............ 178 Boxplot über die Distanz zwischen dem Wohnort der Jugend und dem heutigen Wohnort ................................ 193 Herkunftskontexte nicht-verwandtschaftlicher Beziehungen ......................................................................... 194
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Vergleich der Effekte unterschiedlicher Austauschstrukturen.........63 Tabelle 2: Übersicht über die Forschungshypothesen ......................................98 Tabelle 3: Die Bildungsklassifikation CASMIN am Beispiel des deutschen Bildungssystems..................................................... 102 Tabelle 4: Operationalisierung des ISCED-Schemas ..................................... 103 Tabelle 5: Bildung und Netzwerkgröße.......................................................... 125 Tabelle 6: Beruflicher Status und Netzwerkgröße.......................................... 126 Tabelle 7: Netzwerkgröße nach Bildungsniveau (Spaltenprozentwerte)........ 127 Tabelle 8: Verteilung der Netzwerkgröße nach sozioökonomischem Status (Spaltenprozentwerte) ....................... 128 Tabelle 9: Merkmale der/des besten Freundin/Freundes (nach Bildung, Spaltenprozentwerte) ............................................ 129 Tabelle 10: Zahl der durchschnittlichen Netzwerkpartner (nach Bildung)....... 129 Tabelle 11: Die Größe des Freundeskreises (nach Bildung) ............................ 131 Tabelle 12: Determinanten der Größe des Freundschaftsnetzwerks (OLS-Regression).......................................................................... 132 Tabelle 13: Determinanten des Verwandtschaftsanteils persönlicher Netzwerke (OLS-Regression)........................................................ 134 Tabelle 14: Determinanten der Netzwerkdichte (OLS-Regression) ................. 141 Tabelle 15: Die durchschnittliche Multiplexität persönlicher Netzwerke (nach Bildung)............................................................. 145 Tabelle 16: Anzahl multiplexer Verwandtschaftsbeziehungen (nach Bildung, Spaltenprozentwerte) ............................................ 145 Tabelle 17: Anzahl multiplexer Freundschaftsbeziehungen (nach Bildung, Spaltenprozentwerte) ............................................ 147 Tabelle 18: Determinanten der Multiplexität persönlicher Netzwerke (OLS-Regressionen).................................................... 148 Tabelle 19: Determinanten spezifischer Unterstützungsleistungen (logistische Regressionen)............................................................. 150 Tabelle 20: Die durchschnittliche Reichweite persönlicher Netzwerke (nach Bildungsniveau)................................................. 155 Tabelle 21: Beruflicher Status und die Reichweite persönlicher Netzwerke.... 156
Tabellenverzeichnis
9
Tabelle 22: Determinanten der räumlichen Spannweite persönlicher Netzwerke (OLS-Regression)........................................................ 157 Tabelle 23: Anzahl der Beziehungen zu Personen im Ausland (nach Bildungsniveau)................................................................... 159 Tabelle 24: Zahl transnationaler Beziehungen (Mittelwerte, nach Beruf)........ 161 Tabelle 25: Regression auf die Gesamtzahl transnationaler Beziehungen ....... 162 Tabelle 26: Determinanten der Kontakthäufigkeit in persönlichen Netzwerken (OLS-Regression) ................................ 167 Tabelle 27: Determinanten der familiären Solidarität (OLS-Regressionen)..... 174 Tabelle 28: Bewertung der Eigenschaften, die enge Freundinnen und Freunde erfüllen sollten (Spaltenprozentwerte)............................. 176 Tabelle 29: Determinanten der Charaktereigenschaften, die sich Ego von engen Freundinnen und Freunden wünscht (Multinomiale Ordered Probit Modelle)................................................................ 181 Tabelle 30: Bevorzugung freundschaftlicher gegenüber verwandtschaftlichen Bindungen? (OLS-Regression)................... 183 Tabelle 31: Schichtzugehörigkeit und Einsamkeit (OLS-Regression) ............. 187 Tabelle 32: Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen (Mittelwerte des Netzwerkanteils, Varianzanalyse, nach Bildung).................... 190 Tabelle 33: Determinanten des Transitivitätsprinzips (OLS-Regression) ........ 195 Tabelle 34: Vereinsmitgliedschaft und Netzwerkgröße (OLS-Regression) ..... 199 Tabelle 35: Offene vs. geschlossene Foci (OLS-Regression) .......................... 201
Vorwort
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Mai 2009 an der Universität Bremen angenommen wurde. Die Arbeit entstand im Rahmen meiner Beschäftigung im Forschungsprojekt „Transnationalisierung sozialer Beziehungen“, welches von 2005 bis 2008 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde. Ohne die Hilfe vieler Menschen wäre die Fertigstellung dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Ich bin zu großem Dank verpflichtet: Steffen Mau für die langjährige Unterstützung und die konstruktive Kritik; Johannes Huinink für die hilfreichen Kommentare und das stets offene Ohr; der DGS-Arbeitsgruppe ‚Netzwerkforschung’ für die theoretischen und praktischen Impulse; Roger Häußling und Christian Stegbauer für ihr Interesse, meine Arbeit in die VSReihe ‚Netzwerkforschung’ aufzunehmen; den EDV-Verantwortlichen Hartmut Asendorf, Markus Miezal und Jakob Lenfers, die dafür gesorgt haben dass mein Computer innerhalb von vier Jahren immer tadellos lief; den studentischen Kräften Lena Laube, Niels Winkler, Franziska Klöfkorn, Melanie Heußner, Katharina Poschmann und Maike Schulz für ihre Unterstützung bei unzähligen Recherchen und Analysen (besonders Maike gilt ein besonderes Dankeschön für das umsichtige Lektorat meiner Dissertation und die Auseinandersetzung mit den Formatvorlagen); Patrick, Christoph, Sebastian, Sina, Lena, Nadya, Herwig, Oliver, Charlotte und vielen weiteren Fellows für eine Vielzahl geselliger und lustiger Stunden; noch einmal Patrick für die kritische und aufmerksame Durchsicht meiner Manuskripte; dem gesamten BIGSSS-Team für eine angenehme Arbeitsatmosphäre, dem ‚Runken-Eck’ für die Aufhellung meiner Laune in regnerischen Stunden; der Kirchweg-Crew um Jens, Kirsten, Anja und Melanie für die schöne Zeit in unserer WG sowie Thomas und Manuel, deren langjährige Freundschaft durch nichts zu ersetzen ist. Meinen Eltern danke ich schließlich für das in mich gesetzte Vertrauen und für ihre unermüdliche Unterstützung in allen Lebenslagen. Zu allergrößtem Dank bin ich jedoch meiner Freundin Sarah verpflichtet, denn sie hat weitaus mehr zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen als sie sich wohl jemals wird vorstellen können.
1 Einleitung
In der vorliegenden Arbeit untersuche ich, inwieweit die Muster der Beziehungen zu Partnern, Verwandten, Freunden, Bekannten und Nachbarn von der Schichtzugehörigkeit der Individuen beeinflusst werden. In der Soziologie herrscht große Einigkeit darüber, dass persönlichen Beziehungen sowohl auf der gesellschaftlichen Makroebene als auch auf der Mikroebene der Individuen eine wichtige Bedeutung zukommt (Böhnke 2008: 134). Beispielsweise wird angenommen, dass sich das Vorhandensein vertrauensvoller, informeller Beziehungen unmittelbar auf die Lebenszufriedenheit der Individuen auswirkt (Froh et al. 2007; Pilisuk und Froland 1978; Röhrle 1994). Personen, die in persönlichen Beziehungen eingebunden sind, laborieren darüber hinaus seltener an Leiden körperlicher und seelischer Art als Menschen, die sozial isoliert sind (Badura 1981; Wilkinson 1997). Diewald (2007: 13) geht in seiner Einschätzung über die Bedeutung dieser zwischenmenschlichen Bindungen am weitesten: „Niemand kann ohne emotionale Nähe und persönliche Zuwendung leben, auch wenn Bedürfnisse danach unterschiedlich ausgeprägt sind. Direkte informelle Beziehungen sind zu ihrer Erfüllung unmittelbar notwendig und nicht durch andere Ressourcen substituierbar.“ Während systematische soziologische Untersuchungen über die Determinanten der Entstehung von sozialen Netzwerken noch ausstehen (Rössel 2005: 277), erscheint deren Nutzen als weitaus erforschter. Denn das Vorhandensein persönlicher Beziehungen steigert nicht nur, wie bereits eingangs erwähnt, das körperliche und seelische Wohlbefinden. Die Sozialkapitalforschung zeigt beispielsweise, dass persönliche Beziehungen unter spezifischen Bedingungen in andere Kapitalien (ökonomisches und/oder kulturelles Kapital) transformiert werden können (Bourdieu 1983; 1989; Lin 2001). Ebenso können soziale Beziehungen dienlich sein, um Zugang zu spezifischen sozialen Ressourcen (Macht, Anerkennung etc.) zu erlangen. Darüber hinaus strukturieren soziale Netzwerke den alltäglichen Fluss von wichtigen und unwichtigen Informationen und machen diese nur einem ausgewählten Personenkreis zugänglich, so dass Beziehungsgeflechten gleichsam eine ‚Schleusenfunktion’ zukommt (Campbell et al. 1986: 98). Diese äußert sich beispielsweise darin, dass bestimmte soziale Kontakte die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz massiv erleichtern, während wiederm vermittels anderer Beziehungen allenfalls redundante Informationen
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1 Einleitung
zutage gefördert werden (Franzen und Hangartner 2005; Granovetter 1974; Wegener 1987). Wie Granovetter (1973) in seiner berühmt gewordenen Studie über die Stäke schwacher Beziehungen gezeigt hat, können in diesem Zusammenhang die Kontakte zu entfernten Bekannten sogar von größerem Nutzen sein als intime und vertrauensvolle Bindungen. Einen dominanten Status im Hinblick auf die Untersuchung interpersonaler Beziehungen hat sich die soziologische Netzwerkforschung erworben. Dies betrifft sowohl ihr methodisches Instrumentarium wie auch ihr theoretisches Programm. Auch in der Netzwerkforschung ist es jedoch zumeist der von sozialen Netzwerken ausgehende Nutzen für die einzelnen Netzwerkmitglieder, der für die Forschenden im Blickpunkt des Interesses steht. Derartige Untersuchungsdesigns beziehen die sozialen Netzwerke gleichsam als Explanans in ihre Überlegungen ein. Der umgekehrte Analysepfad wird von den Netzwerkforschern dagegen selten eingeschlagen: Inwieweit strukturiert soziale Ungleichheit zum Beispiel die Gestalt und die Inhalte sozialer Netzwerke? Beeinflusst der schichtspezifische Zugang zu kollektiv als wichtig erachteten sozialen Gütern (Bildung, Status, Einkommen) den Prozess der Genese und der Pflege interpersonaler Beziehungen? Diesen Fragen werde ich in der vorliegenden Arbeit auf den Grund gehen. Da Beziehungen und Beziehungsinhalte abseits von beruflichen Verpflichtungen den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit darstellen, werden in Kapitel 2 zunächst soziologische Konzepte persönlicher Beziehungen diskutiert. Im Vordergrund steht dabei die Entwicklung einer Arbeitsdefinition des Begriffs der ‚persönlichen Beziehung’ und dessen Operationalisierung vor dem Hintergrund einer empirischen Analyse. Mit Blick auf die Ausgangsfragestellung wird des Weiteren die Unterscheidung zwischen verwandtschaftlichen und nichtverwandtschaftlichen Beziehungsstrukturen vorgeschlagen. Beide Typen der interpersonalen Bindung können zu den persönlichen Beziehungen gezählt werden und bilden sowohl in der empirischen Netzwerkforschung als auch in der Beziehungssemantik des Alltags zwei sehr eigenständige Kategorien sozialer Beziehungen. In Kapitel 3 wird zunächst das verwendete theoretische Konzept sozialer Ungleichheit erörtert. Dabei werde ich zu Beginn deutlich machen, warum gerade die Verwendung des Schichtkonzepts Vorteile für meine Untersuchung verspricht. Sodann werde ich darlegen, inwiefern sich die Schichtzugehörigkeit der Individuen auf die Genese und die Aufrechterhaltung ihrer sozialen Beziehungen auswirken kann. Im Vordergrund meiner Arbeit steht zum einen die Betrachtung der schichtspezifischen Gelegenheitsstrukturen persönlicher Beziehungen. Ebenso wird aber auch ein Schlaglicht auf die notwendigen Ressourcen und Fähigkeiten zur Pflege von Beziehungen geworfen: Was ist nötig, um er-
1 Einleitung
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folgreich und sozial befriedigend interpersonale Beziehungen aufrechtzuerhalten? Wonach richtet sich der Zugang zu den dafür notwendigen Ressourcen? Wer verfügt über die spezifischen Kompetenzen, um Beziehungen auch über weitere räumliche Distanzen aufrechterhalten zu können? Das Kapitel entwickelt die These, dass sich die Angehörigen unterschiedlicher sozialer Schichten hinsichtlich ihrer Gelegenheitsstrukturen persönlicher Beziehungen systematisch voneinander unterscheiden. Ebenso erscheint auch die Pflege bereits bestehender Beziehungen als abhängig von der Schichtzugehörigkeit der Individuen, da Bildung, Beruf und Einkommen in starkem Maße über Mobilitäts- und Kommunikationskapital der Individuen entscheiden. Vor allem Beziehungen unter Bedingung der (temporären) körperlichen Abwesenheit bedürfen besonderer Anstrengungen hinsichtlich ihrer Aufrechterhaltung, wie dargelegt werden wird. Weiterhin wird darauf eingegangen, dass sich die sozialen Schichten bezüglich ihrer Umzugsgewohnheiten unterscheiden: Personen mit Hochschulreife weisen eine stärkere Neigung zu residentieller Mobilität auf als Personen mit niedrigerem Bildungsgrad. In diesem Zusammenhang steht zu vermuten, dass Formen residentieller Mobilität, insbesondere über größere räumliche Distanzen, einschneidende Ereignisse im Hinblick auf die Strukturierung persönlicher Netzwerke darstellen. In diesem Zusammenhang werde ich diskutieren, welche Auswirkungen Umzüge auf die Wirksamkeit des so genannten ‚Transitivitätsprinzips’ (Prinzip der Fortschreibung sozialer Beziehungen) haben können. Als weiterer zentraler Faktor der schichtspezifischen Strukturierung von Beziehungsgefügen wird die sozial ungleiche Teilhabe an spezifischen Formen gemeinsam ausgeübter Tätigkeiten vorgestellt. Aus der Perspektive der ‚Affekttheorie des sozialen Austauschs’ werde ich die Frage diskutieren, warum gerade von produktiven Austauschbeziehungen zu erwarten ist, dass sie – unter Bedingungen der Statusgleichheit – die Entstehung persönlicher Beziehungen massiv begünstigen. Zum Abschluss des dritten Kapitels widme ich mich der Identifizierung von Gelegenheitsstrukturen produktiver Austauschbeziehungen. Dabei wird die These entwickelt, dass die oberen sozialen Schichten über geeignetere Opportunitätsstrukturen für derlei Formen des sozialen Austauschs verfügen dürften. Das Instrumentarium zur empirischen Analyse persönlicher Beziehungen entehme ich der soziologischen Netzwerkforschung. Die in diesem Zusammenhang wesentlichen Kennziffern und Merkmale werden in Kapitel 4 diskutiert. In meiner Untersuchung gehe ich auf die Netzwerkparameter Größe, Zusammensetzung, Dichte, Multiplexität, Spannweite und Kontakthäufigkeit ein. Basierend auf den in den Kapiteln 3 und 4 entwickelten Überlegungen entwickle ich in Kapitel 5 die forschungsleitenden Hypothesen.
16
1 Einleitung
Der empirische Teil der Arbeit, beginnend mit Kapitel 6, widmet sich zunächst der Anlage der darauf folgenden empirischen Untersuchung. Zunächst steht die Operationalisierung der beiden zentralen Schichtindikatoren ‚Bildung’ und ‚sozioökonomischer Status’ im Vordergrund. Sodann stelle ich die verwendeten Datensätze vor: Da es auf Ebene der Gesamtbevölkerung keinen Datensatz gibt, der umfassende Auskunft über alle interessierenden Merkmale geben kann, greife ich im empirischen Teil der Untersuchung gleich auf mehrere einschlägige Bevölkerungsumfragen zurück. Diese sind (in alphabetischer Reihenfolge): Der ALLBUS 2002 (mit dem Schwerpunktprogramm ‚Soziale Netzwerke’ im Rahmen des ISSP 2001), die dritte Welle des Familiensurveys (2000), der ‚Netherlands Kinship Panel Study’ (2005) und der ‚Survey Transnationalisierung’ (2006). Neben einem kurzen Überblick über die einzelnen Bevölkerungsbefragungen erfolgt eine Diskussion der methodischen und methodologischen Eigenheiten und Feinheiten der unterschiedlichen Fragebögen. Darüber hinaus werden die für die Untersuchung berücksichtigten Items zur Erhebung und Bewertung persönlicher Netzwerke erläutert. Im Anschluss gehe ich auf einige zentrale soziodemographische Charakteristika ein, die als Kontrollvariablen in der darauf folgenden Diskussion der empirischen Untersuchung Berücksichtigung finden. Kapitel 7 beinhaltet die Diskussion der empirischen Untersuchung. Einleitend überprüfe ich die empirische Relevanz des Homophilieprinzips in persönlichen Netzwerken. Dabei geht es um die Frage, ob die in einem bestimmten Netzwerk zusammengeschlossenen Individuen einen ähnlichen Bildungsstand aufweisen. Die Gültigkeit dieser Annahme muss als erfüllt für die weitere Analyse schichtspezifischer Netzwerkstrukturen angesehen werden, wie anhand eines konkreten Beispiels deutlich gemacht werden wird. Sodann werden die im fünften Kapitel formulierten Hypothesen anhand von quantiativem Datenmaterial überprüft. Jeder zuvor diskutierten Netzwerkkennziffer ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet, welches jeweils einen Hypothesentest und eine Ergebnisdiskussion beinhaltet. Doch nicht nur die hard facts der schichtspezifischen Strukturierung persönlicher Netzwerke kommen im siebten Kapitel auf den Prüfstand. Untersucht wird zudem, inwiefern sich Bildung und sozioökonomischer Status auf bestimmte Einstellungen ausüben, die im Zusammenhang mit dem Themenkomplex ‚Freundschaft und Verwandtschaft’ stehen. Dabei steht zum Beispiel die Frage im Vordergrund, wie stark sich die unterschiedlichen sozialen Schichten subjektiv von Einsamkeitsgefühlen betroffen sehen. Insgesamt kann also, trotz heterogenen Datenmaterials, ein recht dichtes Bild schichtspezifischer Unterschiede in Bezug auf die Pflege und die Initiierung von persönlichen Beziehungen gezeichnet werden. Da die zu Anfang des Kapitels durchgeführten Analysen Bezug auf die Aggregatebene persönlicher Netzwerke
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nehmen, widme ich mich zum Abschluss des siebten Kapitels der empirischen Relevanz der Hypothesen in Bezug auf die Bedeutung der Faktoren ‚residentielle Mobilität’ und ‚produktive Austauschbeziehungen’. Dabei wird das Augenmerk auf den jeweiligen Herkunftskontexten einzelner Beziehungen in egozentrierten Netzwerken liegen. Meine Ergebnisse werden in Kapitel 8 noch einmal zusammengefasst und unter Berücksichtigung der Ausgangsüberlegungen kritisch gewürdigt. Der Schwerpunkt des sich anschließenden Ausblicks wird auf der Frage liegen, welche Konsequenzen sich aus der Schichtspezifik persönlicher Netzwerke für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen ableiten lassen. Dabei wird die These entwickelt, dass sich systematische Ungleichheiten in Bezug auf die gesellschaftliche Verteilung von Privilegien auch auf der informellen Ebene niederschlagen und somit zu einer Akkumulation von Benachteiligungen führen.
2 Soziologische Theorien persönlicher Beziehungen
Da sich die vorliegende Arbeit mit der Frage beschäftigt, inwiefern die Schichtzugehörigkeit die Struktur interpersonaler Beziehungsgefüge beeinflusst, bilden den vorrangigen Untersuchungsgegenstand nicht die Individuen selbst, sondern deren kommunikative Verknüpfungen. Diese Verknüpfungen bzw. Bindungen werden, sobald sie in einem systematischen Zusammenhang zwischen mindestens zwei Individuen stehen, im Folgenden unter dem Begriff der ‚Beziehung’ zusammengefasst. Noch spezifischer handelt es sich bei den in dieser Arbeit interessierenden interpersonalen Verbindungen um so genannte persönliche Beziehungen. Diesen konkreten Untersuchungsgegenstand detailliert zu erörtern und begrifflich zu operationalisieren erscheint mir insofern dringlich, als sich eine „Soziologie persönlicher Beziehungen (...) bis heute nicht herausgebildet und etabliert [hat]“ (Lenz 2006: 22). Lenz (ebd.) spricht im selben Zusammenhang gar von einem „Kümmerdasein“, welches dieses Thema in der Soziologie immer noch friste. Im Folgenden werde ich zunächst verschiedene theoretische Perspektive in Bezug auf den Forschungsgegenstand ‚persönliche Beziehungen’ darlegen. Das vorrangige Ziel ist es dabei, eine Arbeitsdefinition für den Begriff der persönlichen Beziehung vorzulegen. Danach gehe ich ausführlich auf die beiden Beziehungskategorien ‚Verwandtschaft’ und ‚Freundschaft’ ein.
2.1 Der Begriff der persönlichen Beziehung Die Idee, interpersonale Verbindungen als Untersuchungsgegenstand der Soziologie zu konzipieren, lässt sich ganz zentral auf Georg Simmel (1908) zurückführen. Ihm zufolge entsteht das Moment der Vergesellschaftung1 aus dem Zusammenspiel der von den Individuen hervorgebrachten Wechselwirkungen
1
Simmel (1908: 6) definiert Vergesellschaftung als die „in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der die Individuen auf Grund jener – sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewussten oder unbewussten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden – Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb deren diese Interessen sich verwirklichen.“
20
2 Soziologische Theorien persönlicher Beziehungen
(ebd.: 6). Indem zwei oder mehrere Menschen in Wechselwirkung zueinander treten, bringen sie eine Einheit zustande, „die je nach Art der Wechselwirkung von anderen sozialen Einheiten empirisch abgrenzbar ist“ (Dahme 1981: 370).2 Die spezifischen Einheiten menschlicher Wechselwirkungen, die ich in der vorliegenden Arbeit untersuchen werde, sind interpersonale Beziehungen. Das Gros der soziologischen Netzwerkstudien, insbesondere im Bereich der empirischen Sozialforschung, verzichtet überraschenderweise auf einen theoretisch hergeleiteten Beziehungsbegriff (Schenk 1995: 29). Zu groß erscheint vielen Soziologen offenbar die empirisch beobachtbare Typenvielfalt sozialer Beziehungen, als dass eine trennscharfe Begriffsdefinition vorgelegt werden könnte. Beispielhaft hierfür steht Pappi (1987: 16), der die Auffassung vertritt, dass der Versuch, eine erschöpfende theoretische Konstruktion sozialer Beziehungen vorzunehmen, geradezu in den Entwurf einer Allgemeinen Soziologie münden würde (vgl. Schenk 1995: 29). In der Literatur der Netzwerkforschung zeigt sich dementsprechend, dass die ja eigentlich im Vordergrund stehenden ‚Beziehungen’ zwischen Individuen im Allgemeinen als nicht näher definierte ‚Verbindungen’ charakterisiert werden. Ab welchem Grad eine Kommunikation zwischen einer beliebigen Untersuchungsperson (Ego)3 und einer anderen Person (Alter) als Beziehung aufgefasst wird, erschließt sich dann entweder erst ex post, nämlich anhand der Lektüre der jeweils verwendeten Netzwerkinstrumente, oder es bleibt den im Rahmen einer empirischen Studie befragten Individuen selbst überlassen, was genau sie als Beziehung bezeichnen. Beide Vorgehensweisen erschweren die Vergleichbarkeit empirischer Erhebungen, die sich mit interpersonaler Beziehungen befassen. Für den soziologisch geschulten Beobachter, der gewöhnlich nicht auf trennscharfe Definitionen verzichten will, ist dieses Vorgehen unbefriedigend.
2
3
Als klassisch gilt zudem Leopold von Wieses (1933) Versuch, die Soziologie auf das Fundament einer so genannten ‚Beziehungs- und Gebildelehre’ zu stellen. Diese Perspektive gilt heute nicht nur nach der Auffassung von Lenz (2006) als gescheitert: „Die zu ihrer Zeit bedeutsamste Beziehungslehre Wieses ist bis heute eine weitgehend vergessene Theorieperspektive. Sie ist an Wieses Systematisierungs- und Klassifikationsbestrebungen gescheitert, bei der die Einordnung der sozialen Formen deutlichen Vorrang vor einer inhaltlichen Analyse gewann.“ (ebd.: 22f.) Im Luhmann-Lexikon (online) findet sich zum Begriffspaar Ego/Alter folgender Verweis: „Ego und Alter bezeichnen zwei soziale Positionen einer Person während der Kommunikation: Als Ego erlebt die Person Kommunikation (Information), als Alter handelt sie durch Kommunikation (Mitteilung).“ http://www.luhmann-online.de/glossar/egoalter.htm (Zugriff: 19.02.08) Das für die vorliegende Untersuchung zentrale Begriffspaar Ego/Alter schreibe ich aus Darstellungsgründen im Folgenden kursiv. Damit ist auch eine optische Unterscheidung zwischen der kommunikativen Figur Alter und dem Verweis auf das (Lebens-)Alter der Individuen gegeben.
2.1 Der Begriff der persönlichen Beziehung
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Beispielsweise stellt sich die Frage, ob bereits eine Beziehung vorliegt, wenn zwei einander fremde Passanten in eine nur Sekunden währende Abfolge von Fragen und Antworten treten. Entsteht bereits eine Beziehung, wenn Ego Alter anspricht, um sich nach der Uhrzeit zu erkundigen (vgl. Schneider 2002: 58 f.)? Warum wird im Alltag von der Beziehung zwischen Großonkel und Großnichte gesprochen, obwohl sich die beiden leibhaftig noch nie begegnet sind? Fragen wie diese bleiben ohne einen trennscharfen Beziehungsbegriff, der zudem in der Lage ist, der Typenvielfalt von interpersonalen Beziehungen Rechnung zu tragen, zwangsläufig unbeantwortet. Eine frühe soziologische Definition des Beziehungsbegriffs findet sich bereits bei den soziologischen Klassikern, genauer bei Max Weber (1972), der von so genannten sozialen Beziehungen spricht: Soziale ‚Beziehung’ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, daß in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beruht. (Weber 1972: 13)
In Webers recht allgemein gehaltener Definition sozialer Beziehungen wird die Frage nach ihrer Dauerhaftigkeit offen gelassen: „Eine soziale Beziehung kann ganz vorübergehenden Charakters sein oder aber auf Dauer, d.h. derart eingestellt sein: dass die Chance einer kontinuierlichen Wiederkehr eines sinnentsprechenden (…) Verhaltens besteht“ (Weber 1972: 14). Eine einleuchtende theoretische Erklärung für die Notwendigkeit einer gewissen Dauerhaftigkeit von sozialen Beziehungen liefert Luhmann. Dieser interpretiert interpersonale Beziehungen als emergente Systeme des Aufbaus von wechselseitigen Erwartungsstrukturen. Nach Luhmann stellen die psychischen Systeme von Alter und Ego füreinander Black Boxes dar, d.h. sie sind für den jeweils anderen vollkommen intransparent. Um diese Differenz zu überbrücken, ist Kommunikation bzw. Interaktion zwischen den Beiden notwendig. Zur Etablierung einer tatsächlichen Beziehung bedarf es aber nun mehr: Alter muss etwas über Ego lernen können – und umgekehrt. Erst indem die Beteiligten einer Beziehung etwas übereinander lernen können, kann es zur Verfestigung von wechselseitigen Erwartungsstrukturen und damit zum Aufbau einer tatsächlichen Beziehung kommen. Hiefür sei, so Luhmann, wiederum eine gewisse zeitliche Dauer vonnöten (vgl. Luhmann 1975). Die Ansicht, es handele sich bei Beziehungen um mehr als nur einmalige Kontakte, findet sich sowohl in der Beziehungssemantik des Alltags als auch in der der soziologischen Netzwerkanalyse (vgl. Kapitel 4) wieder, wo in der Regel erst dann von Beziehungen gesprochen wird, wenn sich zwischen den be-
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2 Soziologische Theorien persönlicher Beziehungen
trachteten Individuen bestimmte Muster der Interaktion erkennen lassen (Holzer 2006: 9). Im Normalfall interessieren also nur solche Konstellationen der interpersonalen Kommunikation/Interaktion, die gewissermaßen über eine „eigene Geschichte“ verfügen (Goffman 1982: 257). Natürlich bedeutet das nicht, dass Alter und Ego ununterbrochen aufeinander eingestellt handeln müssen, damit von einer Beziehung die Rede sein kann. Auch wenn die beiden nicht jede Minute ihre Mobiltelefone bemühen, um sich gegenseitig über die aktuellsten Geschehnisse zu unterrichten, heißt das nicht gleich, dass ihre Beziehung gescheitert ist. Entscheidend ist vielmehr, dass das Vorhandensein einer sozialen Beziehung zwischen Ego und Alter die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die beiden auch nach einem Kommunikationsabbruch den erneuten Kontakt suchen. Die einzelnen, wiederkehrenden Episoden der Kommunikation, die sich innerhalb einer solchen ‚Dyade’4 abspielen, sind keine voneinander unabhängigen Ereignisse: „Rather they constitute a series in more than the temporal sense, for what goes on in prior interactions forms, influences and inhibits – in a word, structures – what goes on in later ones” (Allan 1979: 14). Persönliche Beziehungen lassen sich dementsprechend nie als statische ‚Gebilde’ begreifen, sondern müssen immer in einer dynamischen Perspektive betrachtet werden. „Persönliche Beziehungen weisen eine komplexe Zeitstruktur auf, sie besitzen eine erinnerte Vergangenheit und eine antizipierte Zukunft, die beide der Gegenwart der Beziehung ihre besondere Gestalt verleihen“ (Lenz 2006: 25). Das Bestehen einer persönlichen Beziehung verweist mithin darauf, dass a) eine zukünftige Kommunikation zwischen Ego und Alter erwartbar wird und b) dass sich zwischen den beiden ein beziehungskonformes, aufeinander eingestelltes soziales Handeln ereignen wird. Um deutlich zu machen, was Beziehungskonformität bedeutet, ist es notwendig, die Ebene der individuellen Handlungsorientierungen innerhalb interpersonaler Beziehungen zu berücksichtigen. Erst in diesem Zusammenhang lassen sich persönliche von unpersönlichen Beziehungen unterscheiden. Gegenüber den persönlichen Beziehungen zeichnen sich unpersönliche Beziehungen dadurch aus, dass die an ihnen Beteiligten ihr Beziehungshandeln aufgrund von Rollenerwartungen aufeinander abstimmen. Das betrifft die Be-
4
Der Begriff der Dyade ist in der vorliegenden Arbeit weniger voraussetzungsvoll definiert als bei Simmel, der hiermit ausnahmslos Zweipersonengruppen meint, in denen intime face-toface-Beziehungen zwischen zwei Personen über einen längeren Zeitraum bestehen (Dahme 1981). Im Folgenden werde ich als Dyaden solche Interaktionszusammenhänge bezeichnen, die über einen längeren Zeitraum bestehen und durch Kommunikation jedweder Art getragen werden (z.B. auch über Email- oder Telefonkontakte).
2.1 Der Begriff der persönlichen Beziehung
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ziehungen zwischen Mitgliedern einer Organisation genauso wie diejenigen zwischen Ärzten und Patienten oder Verkäufern und Kunden. Wechselseitig bestehende Erwartungen und deren Erwartbarkeit werden innerhalb von unpersönlichen Beziehungen im idealtyischen Fall nicht durch die Individualität der jeweiligen Rollenträger ‚irritiert’. Boris Holzer (2006: 10) findet hierfür ein anschauliches Beispiel: „Um zu wissen, was Herr Schmidt vom Kaufhauspersonal erwarten kann (nicht: was er konkret erwarten mag), müssen wir weder ihn noch den Verkäufer Müller kennen.“ Unpersönliche Beziehungen bzw. spezifische Beziehungen (Parsons 1994) zeichnen sich, aus strukturfunktionalistischer Perspektive betrachtet, durch universalistische Handlungsorientierungen der an ihnen beteiligten Akteure aus. In diesen „(…) Beziehungen trägt derjenige die Beweislast, der in einer konkreten Situation ein Thema hinzufügen will, das nicht in den Definitionen von Rollen spezifiziert ist, in deren Namen man in dieser Situation mit anderen handelt“ (Oevermann 2001: 85). In persönlichen Beziehungen, wie sie in der vorliegenden Arbeit von Interesse sind, stehen sich die Individuen dahingegen als „ganze Menschen“ (Wagner 2004: 155) bzw. als „Vollpersonen“ (Luhmann 1990) gegenüber. Kennzeichnend dafür ist, dass in diesen Beziehungen „prinzipiell alles thematisierbar“ ist (Wagner 2004: 155). Sowohl der inhaltliche als auch der äußerliche Rahmen dessen, was von der Kommunikation zwischen den an einer persönlichen Beziehung Beteiligten erwartet werden kann, ist mithin nicht durch die systemspezifischen Rationalitäten der Mitgliedschaft in formalen Organisationen vorgegeben. Freunde, die sich zufällig am Arbeitsplatz kennen gelernt haben, können in ihrer Freizeit über ihre Arbeit sprechen. Genauso gut können aber auch Übereinstimmungen und Abweichungen des Kunst-, Musik- und Filmgeschmacks während der Arbeitszeit zum Gegenstand der Kommunikation werden. Ebenso wenig wie die Themen festgelegt sind, sind es die Orte, an denen sich die in einer persönlichen Beziehung befindlichen Individuen austauschen. Dass die zwei an einer persönlichen Beziehung Beteiligten kommunikativ anerkennen, dass sie es mit ‚ganzen Menschen’ zu tun haben bedeutet jedoch nicht, dass die beiden Beziehungspartner in ihrem Beziehungshandeln jede Nuance der Persönlichkeit Alters berücksichtigen können. Was für die romantische Liebe noch als Ideal gelten mag, nämlich die „wechselseitige Komplettannahme im Modus der Höchstrelevanz“ (Fuchs 1999), ist unter Freunden und Verwandten wohl weniger und unter Bekannten und Nachbarn schon gar nicht üblich (vgl. Kapitel 2.2). Entscheidend ist vielmehr, dass die an persönlichen Beziehungen beteiligten Individuen stets „(…) die Besonderheiten von Personen mitberücksichtigen“ (Holzer 2006: 11,) [Herv. J.M.]. Gegenüber den in unpersönlichen Beziehungen zur Geltung kommenden universalistischen Handlungs-
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2 Soziologische Theorien persönlicher Beziehungen
orientierungen lassen sich die Handlungsorientierungen in persönlichen Beziehungen daher auch als partikularistisch bezeichnen (ebd.: 10).5 Da persönliche Beziehungen erfordern, dass Ego ein Mindestmaß über seine persönlichen Alteri weiß (zumindest sollte Ego ihre Namen in Erinnerung rufen können) und hierfür ein gewisser Vertrauensvorschuss vonnöten ist, gibt es hinsichtlich der Anzahl der persönlichen Beziehungen, die ein jedes Individuum eingehen kann, gewisse Grenzen der Kapazität (Axhausen 2007).6 Die Gründe dafür liegen auf der Hand, unterliegt die Pflege von Beziehungen doch gewissermaßen „kognitiven und zeitlichen Einschränkungen“ (Stegbauer 2008: 115). Mit Blick auf die empirische Erhebung persönlicher Beziehungen sei zuletzt auf einen kritischen Punkt verwiesen, nämlich auf die oftmals zum Scheitern verurteilte Möglichkeit der Operationalisierung eines soziologischen Beziehungsbegriffs. Entgegen dem möglicherweise aufkeimenden Eindruck, jede beliebige interpersonale Beziehung entlang der oben vorgestellten Dichotomie ‚persönlich/unpersönlich’ kategorisieren zu können, ist empirisch zu beobachten, dass in ein und derselben Personenkonstellation je nach Situation einmal universalistische, einmal partikularistische Handlungsorientierungen zum Tragen kommen können. Dies lässt sich am einem Beispiel illustrieren: Im (freilich sehr unwahrscheinlichen) Extremfall kann Egos Nachbarin Alter dessen Vorgesetzte, Anwältin, Käuferin seiner Schallplattensammlung und Liebhaberin in einer Person sein. Es ist davon auszugehen, dass sich die Orientierungen des Beziehungshandelns von Ego und Alter ändern, sobald der soziale Kontext wechselt vor dessen Hintergrund sie in Kommunikation miteinander treten (insbesondere wenn die neugierigen Augen Dritter auf die beiden geheftet sind).
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Problematisch erscheint diese Konzeptualisierung persönlicher Beziehungen im Hinblick auf den Einbezug verwandtschaftlicher Beziehungen, da das Beziehungshandeln dort (zumindest teilweise) auf dem askriptiven Merkmal der Verwandtschaft beruht (detaillierter in Kapitel 2.2). Es ist zumindest fraglich, ob die (zum Teil institutionalisierten) Erwartungen, die an verwandtschaftliche Beziehungsstrukturen geknüpft sind, tatsächlich immer hinreichenden Raum für die Berücksichtigungen der Besonderheiten von Personen lassen (Holzer 2006: 10). Die Unterscheidung zwischen persönlichen und unpersönlichen Beziehungen findet sich auch bei Mitchell (1969: 10) wieder; dort firmieren die beiden Typen unter den Bezeichnungen ‚persönliche Beziehungen’ und ‚strukturierte Beziehungen’. Zusätzlich führt Mitchell noch den Typ der ‚kategorischen Beziehung’ ein, womit all solche Interaktionszusammenhänge gemeint sind, in denen die beteiligten Individuen ihre Handlungsorientierungen auf die Basis gängiger sozialer Stereotype stellen. Diese Stereotype nehmen meist Bezug auf ein bestimmtes Merkmal Alters, so etwa Hautfarbe, Alter, Geschlecht oder Schichtzugehörigkeit. Mit der Bildung des Beziehungstyps ‚kategorische Beziehung’ versucht Mitchell deutlich zu machen, dass Individuen auch in unstrukturierten Handlungssituationen oft auf etablierte, durch Klischees geprägte, Interaktionsmuster zurückgreifen.
2.2 Freundschaft und Verwandtschaft
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Im Fazit können interpersonale Beziehungen also nur situativ dem Bereich der persönlichen oder unpersönlichen Beziehungen zugeschlagen werden. Mit Blick auf die empirische Ausrichtung der vorliegenden Arbeit werde ich zum Typ der persönlichen Beziehungen daher all jene zählen, die „(…) im tatsächlichen Verhalten wie in den involvierten Orientierungen und Emotionen zumindest nicht ausschließlich über von außen gesetzte Anforderungen formaler Organisationen und Arbeitsformen bestimmt sind, sondern Elemente einer ‚persönlichen Stellungnahme zum anderen’ beinhalten“ (Diewald 1991: 60, Hervh. J.M.). Diese Arbeitsdefinition bietet den Vorteil, dass sie all jene interpersonale Beziehungen berücksichtigt, deren Beteiligte sowohl formellen als auch informellen Umgang miteinander pflegen. Diewalds Definition bezieht sich nämlich ausschließlich auf so genannte informelle soziale Beziehungen. Ich ziehe es jedoch vor, die Unterscheidung zwischen persönlichen und unpersönlichen Beziehungen beizubehalten, da nicht alle Beziehungstypen, die gewöhnlich unter dem Begriff der informellen Beziehung zusammengefasst werden, frei von rechtlich kodifizierten Normen sind. Dies betrifft insbesondere Verwandtschaftsbeziehungen, wie im nächsten Kapitel dargelegt wird.
2.2 Freundschaft und Verwandtschaft Im vorangegangenen Abschnitt wurde ein theoretischer Ansatz einer Soziologie interpersonaler Beziehungen skizziert und die Unterscheidung zwischen unpersönlichen und persönlichen Beziehungen vorgeschlagen. Im Folgenden werde ich näher auf zwei Typen persönlicher Beziehungen eingehen, die im Alltag eine zentrale Rolle spielen. Zunächst werde ich mich mit verwandtschaftlichen Beziehungen auseinandersetzen, um mich im Anschluss mit Freundschaften und freundschaftsähnlichen Beziehungen wie Bekanntschaft, Nachbarschaft und ‚Kameradschaft’ (im Sinne des englischen Begriffs der mateship) zu beschäftigen.7
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Die Fixierung auf verwandtschaftliche, freundschaftliche und nachbarschaftliche Sozialkontakte in der soziologischen Netzwerkforschung geht wahrscheinlich auf Cooley (1925) zurück, der diese Beziehungstypen unter dem Begriff der primary group zusammengefasst hat. Für eine ausführlichere Kritik an der Zusammenfassung dieser Beziehungstypen unter einem einzigen Sammelbegriff siehe Hoyt und Babchuk (1983: 85).
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2.2.1 Verwandtschaftliche Beziehungen „Verwandte hat man, Freunde kann man sich aussuchen“. Dieses Sprichwort behauptet, dass verwandtschaftliche Beziehungen grundsätzlich askriptive Beziehungen sind. Dies betrifft jedoch nur den Teil der Blutsverwandten, womit all jene Personen gemeint sind, die einen natürlichen Vorfahren teilen.8 Neben der ‚Gemeinschaft des Blutes’ (Tönnies) gibt es im Hinblick auf Verwandtschaft zudem den Untertyp der affinalen Familienbeziehungen (Firth et al. 1969: 7).9 Damit sind all jene Verwandtschaftsbeziehungen gemeint, die die Individuen durch Heirat erwerben. Streng genommen greift der Begriff auch bei der Adoption von Kindern. Blutsgemeinschaft und affinale Verwandtschaftsbeziehungen bilden gemeinsam das ‚westlich-urbane’ Gebilde verwandtschaftlicher Beziehungsstrukturen. Eine wichtige Unterscheidung hinsichtlich familiärer und freundschaftlicher Beziehungsstrukturen besteht darin, dass der biologisch bzw. soziokulturell abgeleitete ‚Fakt’ der Verwandtschaft zwischen Ego und Alter nicht bedeutet, dass diese auch tatsächlich in Kontakt zueinander treten. Verwandtschaft stellt, ähnlich wie ein Sportverein oder ein Arbeitsplatz, zunächst nur einen Entstehungszusammenhang für das Schließen einer persönlichen Beziehung dar (Marsden 1987) – auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen ‚sozialen Berührung’ (von Wiese 1933) zweier Verwandter relativ groß ist. Demgegenüber beruht Freundschaft stets auf einer bereits stattgefundenen Kontaktaufnahme von Alter und Ego: Ego kann nicht wissen, dass Alter dessen Freund ist, ohne ihn tatsächlich kennen gelernt zu haben. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die beiden Beziehungstypen Verwandtschaft und Freundschaft also erheblich voneinander. Firth (1969: 156) löst dieses konzeptuelle Problem, indem er zwischen effective und non-effective ties unterscheidet: „’Effective kin’ in our terms are those with whom social contact is maintained, as by correspondence, occasional visits, services, or attendance at family gatherings. By non-effective kin is meant those kin who are recognized to be related, but with whom no contact of any kind is maintained – though contact may be initiated or revived.” Ich möchte diese Unterscheidung aufgreifen und überführe Firths Begriffs-Dichotomie in die Unterscheidung zwischen ‚latenten’ und ‚manifesten’ Beziehungen (vgl. Hondrich 1996).
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Gleichwohl ist zu bedenken, dass die Kategorie des ‚Natürlichen’ selbst sozial konstruiert ist und damit genauso hinterfragbar bleibt wie der Rest der gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit. (vgl. Allan 1979: 31 f.). Die Begriffe ‚Familie’ und ‚Verwandte’ verwende ich im Folgenden synonym, wobei ich darauf hinweisen möchte, dass sich ersterer Begriff hier nicht allein auf die Kernfamilie im Parson’schen Sinne (die nuclear family bestehend aus Eltern und ihren Kindern), sondern auch auf den erweiterten Familienkreis bezieht.
2.2 Freundschaft und Verwandtschaft
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In Anschluss an die Diskussion des vorherigen Kapitels handelt es sich bei latenten Verwandtschaftsbeziehungen nicht um persönliche Beziehungen im eigentlichen Sinne, da diese nicht auf tatsächlich aktualisierter Kommunikation basieren. Cumming und Schneider (1961: 499 f.) beziffern den in einer empirischen Studie ermittelten Median in Bezug auf latente Verwandtschaftsbeziehungen auf rund 150 Personen. Zu mindestens der Hälfte dieses Personenkreises erinnerten die Befragten auch die jeweiligen Namen. Ob es sich dagegen um manifeste Beziehungen handelt, steht dagegen auf einem ganz anderen Blatt. So nennen die Befragten in einer Studie von Firth (1969: 196) durchschnittlich 20 Verwandte, zu denen sozialer Kontakt, gleich welcher Art, besteht. Es kann also davon ausgegangen werden dass zwischen latenten und manifesten Verwandtschaftsbindungen ein Verhältnis von 1:3 besteht, wobei die Differenz dieser beiden Maßzahlen hier noch unterschätzt sein dürfte. Verwandtschaft nimmt eine eigentümliche Mittelposition zwischen institutionalisierten und nicht-institutionalisierten Strukturen sozialer Beziehungen ein. Hierbei ist zunächst zwischen der Kernfamilie, bestehend aus den Elternteilen und ihren Kindern, und dem weiteren Verwandtschaftskreis zu unterscheiden. Die Kernfamilie zeichnet sich dadurch aus, dass jede Position innerhalb dieser Beziehungsstruktur durch recht klare Rollen definiert ist. Zum Teil sind die an die Familie gestellten normativen Erwartungen sogar rechtlich fixiert (Allan 1979: 92; Diewald 1991: 107). Als Beispiele seien hier die im Bereich der Eltern-Kind-Beziehungen wirksamen Gesetze bezüglich der Regelung des Unterhalts der Kinder und die elterlichen Haftpflicht für ihre Sprösslinge genannt. Auch abseits rechtlich bindender Normen stellen die Beziehungen innerhalb der Kernfamilie einen Sonderfall unter den persönlichen Beziehungen dar. Das diesen Beziehungen innewohnende besondere Moment glaubt die Soziologie im Liebesprinzip zu erkennen, welches diesen Beziehungstyp beherrscht. Das diesbezüglich zugrunde gelegte Liebesverständnis ist jedoch kein ausschließlich sexuell-affektives, wie es ausschließlich der romantischen Paarbeziehung vorbehalten ist. Hier verweist ‚Liebe’ vielmehr darauf, dass das Beziehungshandeln der durch Liebe verbundenen Individuen unter dem Stern der wechselseitigen Komplettberücksichtigung steht – und dies stets im ‚Modus der Höchstrelevanz’ (Fuchs 1999). Mithin akzeptiert Ego Alter mitsamt dessen spezifischen idiosynkratischen und persönlichen Eigenheiten bedingungslos – und umgekehrt. Das bedeutet natürlich nicht, dass reale Beziehungen innerhalb der Kernfamilie tatsächlich immer und in jedem Fall durch das Liebesprinzip geprägt sein müssen.
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(…) [I]n some families, children intensely dislike their parents and leave the nuclear nest as soon as circumstances permit. Many siblings harbor no love each other. Furthermore, while an increasing number of married couples who have difficulty in maintaining the conjugal tie seek divorce, other couples who are very disaffected nevertheless remain together. (Hoyt und Babchuk 1983: 85)
Treten Konflikte wie die oben beschriebenen auf, bedeutet dies nicht, dass sich an die spezifischen Familienrollen gekoppelte normative und moralische Erwartungen auflösen. Vielmehr neigen die Betroffenen dann dazu, von einer ‚schlechten Ehe’ oder von einem Fall ‚schwieriger Erziehung’ zu sprechen. Beziehungen innerhalb der Kernfamilie sind also aus soziologischer Sicht insofern bemerkenswert, als es zum einen klare und starke normative Erwartungen an die jeweiligen Rollen gibt (Mutter, Vater, Kind) bzw. dass es überhaupt zur Ausbildung starker normativer Erwartungen an Alteri kommt (die Freundschaft, in ihrer antiken und idealisierten Form, unterscheidet sich hier deutlich, wie später gezeigt wird). Andererseits erwarten Individuen, dass gerade innerhalb der Kernfamilie ihre eigenen Persönlichkeitszüge besonders stark berücksichtigt werden. Das moderne Familienideal erweist sich im Hinblick auf das Beziehungshandeln innerhalb der Kernfamilie damit als recht voraussetzungsreich: Aus soziologischer Perspektive beginge man also einen methodischen Fehler, wenn man von dem bloßen Vorhandensein kernfamiliärer Beziehungen auf symmetrische und ausschließlich positiv konnotierte Beziehungen schließen würde (vgl. Kapitel 3.8 zur Symmetrie in persönlichen Beziehungen). Geht man über die Kernfamilie hinaus, so wird deutlich, dass verwandtschaftliche Beziehungen zweiten oder höheren Grades nur durch einen geringen Grad der Institutionalisierung gekennzeichnet sind: But apart from certain legal specifications regarding ‚next of kin’, the great body of extra-familial kin are free from any general social formulations about expected behaviour to relatives. There are norms of respect or familiarity for kin who are of senior, of equivalent or of junior grade, but these are not formalized to any high degree; nor are they associated with any firm code of privilege and obligation. (Firth et al. 1969: 452 )
Verwandtschaftliche Beziehungen höheren Grades, in denen es wiederholt zu Erwartungsenttäuschungen kommt, haben langfristig gesehen eine geringere Chance, in manifester Form zu verbleiben als kernfamiliäre Bindungen. Jede Leserin und jeder Leser kennt vermutlich, entweder persönlich oder über Dritte,
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die Beispiele zermürbender Streits zwischen Eltern und Kindern bzw. zwischen Geschwistern, die nach Jahren anhaltender (gegenseitiger) Vorwürfe friedlich beigelegt werden, um irgendwann, zu unpassender Zeit (etwa auf dem vermeintlich besinnlichen Weihnachtsfest) erneut auszubrechen. Im Hinblick auf die Bedeutung einzelner Typen verwandtschaftlicher Beziehungen zeigt sich also eine deutliche hierarchische Gliederung. So zeigen Studien, dass die Individuen insgesamt betrachtet den Eltern-Kind-Beziehungen die größte Bedeutung beimessen, gefolgt von den Beziehungen zu (Ehe)Partnern und Geschwistern.10 Die in der Belletristik und in den Massenmedien viel beschworene ‚Höchstrelevanz’ der romantischen Paarbeziehung ist empirisch also nicht zu beobachten. Spätestens ab dem 50. Lebensjahr büßt sie gegenüber anderen Beziehungstypen an Bedeutung ein, wie eine USamerikanische Studie von Cumming und Schneider (1961) zeigt. So neigten die Befragten (die zum Untersuchungszeitpunkt im Alter zwischen 50 und 80 Jahren waren) dazu, ihre geschwisterlichen Beziehungen mindestens ebenso stark zu bewerten wie jene zu ihren (Ehe-)Partnern. Besonders traf dies auf die Bindungen zwischen Schwestern zu (vgl. auch Firth et al. 1969: 458). Nimmt man die Beziehungen zur Kernfamilie einmal aus, so scheint zudem die geographische Distanz zu den Verwandten eine große Rolle zu spielen. Allgemein gilt: je geringer die jeweilige Entfernung, desto höher die Chance, dass Ego eine manifeste Beziehung zur verwandten Person Alter pflegt, ganz gleich, welche Position Alter in der Verwandtschaftsstruktur Egos konkret einnimmt (Cumming und Schneider 1961: 501). Insgesamt ist der Aufbau manifester Beziehungen im erweiterten Familienkreis also einer größeren Selektivität unterworfen als es der soziologische Mainstream oft annimmt (Cooley 1925; Firth et al. 1969; Hoyt und Babchuk 1983). Diese Bindungen zeichnen sich dann häufig durch einen erstaunlich hohen Grad an wechselseitigem Vertrauen und auf der Ebene der Beziehungsinhalte durch eine ausgesprochene Vielfalt aus. Familiären Beziehungen haftet prinzipiell der Nimbus der Unkündbarkeit an. „[W]hat is unique about the genealogical frame of kinship is that it starts at birth and endures through all of life, and that the ties and obligations associated
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Wie immer hängen Fragen wie die nach der Hierarchie verwandtschaftlicher Beziehungen von der jeweiligen Operationalisierung ab. Nimmt man im Gegensatz zur oben dargestellten Hierarchie beispielsweise die Frage zum Ausgangspunkt, wem sich Individuen am ehesten anvertrauen, so zeigt sich die folgende Hierarchie: (Ehe-)Partner, ältere Eltern, erwachsene Kinder (insbesondere Töchter), Geschwister und jüngere Kinder (Hoyt und Babchuk 1983). Wie erklärt sich die nun zu beobachtende Höchstrelevanz der Partner? Den Autoren zufolge fühlen sich Eltern zwar emotional am stärksten an ihre Kinder gebunden, doch bedeutet dies nicht, dass der Nachwuchs auch die erste Option für ein vertrauensvolles und intimes Gespräch ist. In diesem Fall wird dann eher die Nähe zum Partner gesucht.
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with it are therefore given a 'built-in' quality which is unlike other forms of social linkage“ (Firth et al. 1969: 11). Zwar spricht die bundesdeutsche Realität, in der mehr als jede dritte Ehe geschieden wird (Huinink 2007: 81), eine andere Sprache, doch kein Typ persönlicher Beziehungen scheint so sehr von einer ‚Unendlichkeitsfiktion’ (Huinink 1995: 106) beherrscht zu sein wie der der kernfamiliären Bindungen. Warum? „Die Kalkulation beziehungsweise die Erwartung, die auf ein Ende gerichtet ist, erhöht die Wahrscheinlichkeit (verdeckt) strategischen Verhaltens oder der einseitigen ‚Täuschung’ eines Akteurs durch den anderen. (…) Es würden Zweifel an der gegenseitigen Aufrichtigkeit der Absichten seitens der beteiligten Akteure genährt werden können“ (Huinink 1995: 107). Die Aussicht auf einen mittelbaren oder langfristigen Beziehungsabbruch könnte das Vertrauen der für eine Beziehung in Frage kommenden Kontaktpartner sogar derart erschüttern, dass eine weitere Aufrechterhaltung in der Gegenwart unmöglich erscheinen würde. Die genannten Attribute – ‚Dauerhaftigkeit’ und ‚scheinbare Unkündbarkeit’ – machen Verwandtschaftsbeziehungen damit zu einem idealen Nährboden für Formen der aufgeschobenen Reziprozität (Diewald 1991; Hollstein 2001; Rexroth und Schmidt 2007: 8). Dieses Prinzip wird in Kapitel 3.8 noch eingehender beleuchtet. Auch auf der Ebene der Inhalte von persönlichen Beziehungen unterscheiden sich verwandtschaftliche Beziehungen von freundschaftlichen Beziehungen, wie später deutlich werden wird. Ins Auge sticht insbesondere das in kernfamiliären und partnerschaftlichen Beziehungen vorherrschende hohe Niveau konkret-pragmatischer und emotionaler sozialer Unterstützung. Ein besonders hohes Transaktions- und Interaktionsniveau zeichnet sich zwischen Eltern und ihren nicht erwachsenen Kindern ab. Vater und Mutter neigen in der Regel nicht nur dazu, ihren Kindern Liebe und Zuneigung angedeihen zu lassen, sondern diese auch abseits rechtlicher Normen tatkräftig und finanziell zu unterstützen. Dieses asymmetrische Verhältnis, in dem die Eltern zunächst viel mehr geben als sie nehmen, kehrt sich im Zeitverlauf oftmals um. Im Falle betagter Eltern sind es nämlich wiederum die Kinder, die ihren Eltern oft emotionalen Beistand leisten, ihnen im Haushalt zur Hand gehen oder diese sogar pflegen. Auch abseits von Eltern-Kind-Beziehungen lassen sich zahlreiche Beispiele für Formen der sozialen Unterstützung innerhalb verwandtschaftlicher Beziehungsstrukturen finden. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Enkel, die Gartenarbeiten für ihre Großeltern verrichten (und dafür wiederum finanziell entlohnt werden) oder an Tanten, die ihre Nichten und Neffen beherbergen, um ihren Cousins und Cousinen ein kinderfreies Wochenende zu ermöglichen. Zumindest für Angehörige der Mittelschicht scheint jedoch zu gelten: Je höher der Verwandtschaftsgrad, desto weniger instrumentalistisch und desto expressiver die Kontakte.
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[T]he significance of extra-familial kinship is expressive rather than instrumental. Although concrete assistance is of considerable importance – in helping towards choice of school or job, giving financial aid or performing small services, as for aged parents – it is primarily as a means towards fuller expression of a personality that such kinship ties are maintained. (Firth et al. 1969: 462).
Das Solidaritätspotential innerhalb von Familien hat für manch einen der Beteiligten jedoch auch seine Schattenseiten. Durch den normativen Druck zur unbedingten Solidaritätsbereitschaft können Familienbeziehungen nämlich auch zu emotionalen und/oder psychischen Belastungen für die Beteiligten führen. Insbesondere hochgradig asymmetrische Beziehungen, in denen eine der beiden Parteien über längere Zeit weitaus mehr Leistungen gibt als empfängt, bergen derartige Risiken. Dies betrifft insbesondere Personenkonstellationen, in denen sich Dynamiken der generalisierten Reziprozität abzeichnen (zur Bedeutung der verschiedenen Formen von Reziprozität in persönlichen Beziehungen siehe Kapitel 3.8). Die Forschung zeigt in diesem Zusammenhang jedoch einen deutlichen Geschlechter-Bias auf, sind es doch insbesondere die Frauen, die – häufig unbezahlt – häusliche Unterstützung für ihre (oft betagten) Verwandten leisten (Argyle und Henderson 1986: 274; Willmott 1987: 41). Im Gegensatz zu freundschaftlichen Beziehungen zeichnen sich Familienbande weniger durch gemeinsam geteilte Interessen und ähnliche Persönlichkeitszüge aus als vielmehr durch Unterstützungsleistungen, die einerseits konkret/pragmatischen Charakter haben, andererseits emotional stabilisierend wirken können. Während Individuen Geselligkeit in vielen Fällen bei ihren Freunden suchen und finden, treten Verwandte häufig in Zeiten persönlicher Krisen in Kontakt zueinander, wie zum Beispiel im Falle einer schwereren Krankheit oder in finanziellen Schieflagen (Fischer 1982). Allerdings ist hier stark zwischen verwandtschaftlichen Beziehungen innerhalb und außerhalb der Kernfamilie zu unterscheiden. So zeigt Firth (1969), dass Individuen dazu neigen, Verwandte außerhalb der Kernfamilie zu ‚individualisieren’. Das bedeutet, dass das Beziehungshandeln nicht auf die Basis des jeweiligen Verwandtschaftsverhältnisses gestellt wird, sondern dass vielmehr die Besonderheiten der jeweiligen an der dyadischen Beziehung beteiligten Persönlichkeiten ausschlaggebend für das Verhältnis von Ego und Alter sind. Dies zieht in der Praxis zweierlei Konsequenzen nach sich: Erstens scheinen die Individuen dazu zu neigen, ihre Verwandten jenseits des engsten Familienkreises aus einer Kombination ihres Verwandtschaftsstatus und ihres Vornamens anzusprechen (‚Tante Gertrud’, ‚Onkel Hubert’ etc.), wobei dies nur in eine Richtung erfolgt, nämlich von der jeweils jüngeren zur älteren Generation. Zweitens, und das ist viel bedeutender, ist die Frage, ob sich manifeste, kontaktreiche Beziehungen zwischen Verwandten zweiten oder höheren Grades etablieren, im entscheidenden Maße davon abhän-
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gig, ob sich die jeweiligen Individuen sympathisch finden. Ego triff sich nicht deshalb gerne mit seinem Cousin Alter, weil dies zum Rollenbild des Vetterndaseins zählt, sondern vielmehr deshalb, weil die beiden die gemeinsam geteilte Zeit schätzen. In Fällen, in denen sich Verwandte zweiten oder höheren Grades nicht unbedingt wohl gesonnen gegenübertreten, gilt es mithin als unwahrscheinlich, dass diese regelmäßigen Kontakt zueinander pflegen. Allerdings gibt es hier zwei Ausnahmen. Zum einen sind dies familiäre Anlässe wie Feiern oder Beerdigungen (Firth et al. 1969: 215 ff.), bei denen zwangsläufig Begegnungen zwischen verschiedensten Verwandten stattfinden. Zum anderen entwickeln sich innerhalb von Verwandtschaftsnetzwerken eigentümliche Dynamiken der Reziprozität (detaillierter in Kapitel 3.8). So mag es vorkommen, dass eine Schwiegermutter im Hause ihrer Schwiegertochter aufgenommen wird, obwohl das Verhältnis der beiden eigentlich immer ein distanziertes und kühles war. Gründe für solche einseitige Beziehungskonstellationen gibt es viele: Die Schwiegertochter könnte sich des Prinzips der generalisierten Reziprozität verpflichtet fühlen, sie könnte versuchen, in der Gunst ihres Ehemannes zu steigen oder es könnte schlicht und ergreifend der Versuch sein, ein besseres Verhältnis zwischen sich und ihrer Schwiegermutter herbeizuführen. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Familie abseits der korporativen Struktur der Gesellschaft auch gegenwärtig noch den zentralen Erfüllungsort sozialer Integration zu bilden scheint. Familie leistet demnach einen entscheidenden Beitrag zur Sozialisation der Individuen (Nave-Herz 1998) und gilt gleichermaßen als emotionaler Schutzschild gegenüber der Zweck-MittelRationalität der oftmals als kaltherzig empfundenen arbeitsteiligen und funktional differenzierten Gesellschaft. Entgegen pessimistischer Prognosen einer Auflösung primordialer Beziehungsstrukturen suchen die Individuen immer noch stark die Nähe zur Familie (Huinink 1995). Insbesondere die Beziehungen innerhalb der Kernfamilie spielen nach wie vor eine ganz wesentliche Rolle im zwischenmenschlichen Alltag – sowohl im intergenerationalen als auch im intragenerationalen Vergleich. 2.2.2 Nicht-verwandtschaftliche Beziehungen: Freundschaft, Bekanntschaft und Nachbarschaft Die Soziologie hat den nicht-verwandtschaftlichen Typen persönlicher Beziehungen, worunter ‚Freundschaft’ die prominenteste Stellung einnimmt, vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt (Allan 1989: 1; Pahl und Spencer 2004: 203; Willmott 1987: 1). Vor allem mangelt es der Soziologie an einer theoretisch integrieren Gesamtübersicht über das Thema (Nötzold-Linden 1994). Dass sich die Soziologie gegenwärtig etwas mehr mit der Beziehungsform ‚Freundschaft’ beschäftigt, hängt eng mit der pessimistischen Community
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Lost-These zusammen. Erstmals von Vertretern der Chicago-School geäußert (z.B. Wirth 1938) und heute prominent durch Putnam (2000) vertreten, behauptet diese These den Niedergang des Sozialkapitals und vor allem den drastischen Verlust von informellen Beziehungen (für einen ausführlicheren Überblick über die Community-Lost-Debatte siehe Wellman 1979). In eine ähnliche pessimistische Richtung weist Colemans (1986) Befürchtung, dass primordiale Beziehungsstrukturen im Zuge von Modernisierungsprozessen systematisch ausgehöhlt und entwertet würden: Leistungen, die ehedem im Funktionsbereich der Familie lagen, verlagern sich demnach mehr und mehr in das Hoheitsgebiet korporativer Akteure. Diesen pessimistischen Vorhersagen lässt sich ein Mangel an Konzentration auf freundschaftliche Beziehungsstrukturen unterstellen. Angesichts der augenscheinlichen soziologischen Vernachlässigung dieser Kategorie persönlicher Beziehungen verwundet es nicht, dass Spencer und Pahls (2006) Untersuchung der Integrationskraft freundschaftlicher Beziehungen denn auch mit dem Untertitel Hidden Solidarities Today versehen wurde. Freundschaften seien demzufolge möglicherweise ebenso gut (oder sogar noch besser) in der Lage, den Individuen Zugehörigkeitsgefühle und Wohlbefinden – eben die Befriedigung des Bedürfnisses nach ‚persönlicher Fundierung’ (Huinink 1995: 94) – zu vermitteln, wie es in der Soziologie in der Regel nur von den verwandtschaftlichen Beziehungen angenommen wird. Diese These vertritt auch Diewald (1991: 158): „Freundschaftsbeziehungen bestärken die eigene soziale Attraktivität, vermitteln Selbstvertrauen und stärken so das Selbstbild, während die Abhängigkeit von ‚zugeschriebenen’ Verwandtenbeziehungen auch eine Bedrohung für das Selbstbild darstellen kann.“ Damit gerät das ‚Gesamtpaket’ persönlicher Beziehungen, bestehend aus familiären und nicht-verwandtschaftlichen Beziehungen (sowie nachbarschaftlichen Kontakten) in den Blickpunkt der soziologischen (Netzwerk-)Forschung (zur Theorie und Methodologie der soziologischen Netzwerkanalyse siehe Kapitel 4). Erst indem die Unterstützungs- und Gesellungspotentiale von verwandtschaftlichen Beziehungen durch die Einbeziehung anderer Typen persönlicher Beziehungen konterkariert werden, kann ein Rückschluss darüber angestellt werden, ob und wenn ja, zu welchem Grad der ‚moderne Mensch’ tatsächlich ein sozial atomisiertes Individuum ist. Hierbei ist besonders zu beachten, inwiefern die drei beschriebenen Typen persönlicher Beziehungen (Verwandtschaft, Freundschaft und Nachbarschaft) miteinander konkurrieren bzw. sich ergänzen. Das aus empirischer Perspektive heraus betrachtet ‚brisante’ am Wesen der Freundschaft ist ihr relationaler Charakter. Während es sich bei verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen oder kollegialen Beziehungen zunächst um zugeschriebene, also askriptive Bindungen handelt, fällt es Dritten schwerer zu
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2 Soziologische Theorien persönlicher Beziehungen
bestimmen ob eine Freundschaft zwischen Alter und Ego vorliegt. Zudem ist Freundschaft – wie aber eigentlich alle persönlichen Beziehungen (Hinde 1979) – niemals ein statisches Gebilde, sondern immer als dynamischer Prozess zu erachten: Ob Alter und Ego miteinander befreundet sind, wird fortlaufend, wenn auch nicht explizit, in ihrer gemeinsam geteilten Zeit ausgehandelt (Stegbauer 2008: 116; White 1992). Da Freundschaft nicht nur ein wissenschaftlicher Begriff ist, sondern gleichzeitig auch ein ‚Label’, welches Individuen benutzen, um eine bestimmte Form eines vergleichsweise geringen ‚sozialen Abstands’ (von Wiese 1933) voneinander zu bezeichnen, kann es sogar sein, dass Alter die Beziehung zu Ego als Freundschaft bezeichnet, während Ego umgekehrt nur von seinem ‚Arbeitskollegen’ Alter spricht. Man muss in Bezug auf den Begriff der Freundschaft also stark zwischen wissenschaftlichen Idealtypen und der unspezifischen Semantik der Freundschaft im Alltagsgebrauch der Individuen unterscheiden. Mit dieser Schwierigkeit hat insbesondere die quantitative empirische Sozialforschung zu kämpfen. Zudem zeigen empirische Ergebnisse, dass es im Ländervergleich große Unterschiede gibt. Variationen zeigen sich hier nicht nur zwischen industrialisierten ‚westlichen’ Gesellschaften und weniger modernisierten Kulturen. Auch innerhalb der OECD-Welt tun sich deutliche Unterschiede im Hinblick auf eine Kultur der Freundschaft auf: Gegenüber Deutschland gelten Freundschaften in den USA zum Beispiel als „weniger intim, intensiv und verbindlich“ (Eberhard und Krosta 2004: 26; vgl. auch Nötzold-Linden 1994). Weiterhin sind Freundschaften in nahezu allen ‚westlichen’ Gesellschaften kaum institutionalisiert – im Gegensatz zu Beziehungen innerhalb der Kernfamilie, an die ein recht einheitliches System an Handlungserwartungen gestellt wird und die zum Teil auch rechtlich kodifiziert sind. Es mag unter anderem daran liegen, dass Freundschaftsbeziehungen seitens der Soziologie bislang eher stiefmütterlich behandelt wurden. Die vergleichsweise populäre Untersuchung von Verwandtschaftsbeziehungen und –strukturen resultiert womöglich auch daher, dass in jenen Beziehungen ein viel größerer Teil konkret-pragmatischer sozialer Unterstützung geleistet wird. Weiterhin gilt es in der Soziologie mittlerweile als Gemeinplatz, dass der familiäre Hintergrund eine entscheidende Rolle für die eigene sozialstrukturelle Verortung spielt. Dagegen spielt die Messung des objektiven Nutzens von Freundschaftsbeziehungen in der eher traditionell verhafteten empirischen Sozialforschung allenfalls eine untergeordnete Rolle. Zudem gibt es eine anhaltende soziologische Debatte darüber, was genau eine Freundschaft auszeichne und welche Aspekte daran besondere Beachtung verdienten. Was meinen Individuen also, wenn sie bestimmte Personen als Freunde bezeichnen? Folgt man der einschlägigen Fachliteratur, so scheint es zumindest
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weitgehenden Konsens darüber zu geben, dass eine dyadische Freundschaft, also eine Freundschaft zwischen zwei Individuen, eine eher freiwillige, vertrauensvolle, auf die ganze Person gerichtete und wenig durch Rollenerwartungen geprägte Beziehung sei (vgl. z.B.Allan 1979; Fehr 1996; Kracauer 1990; McCall 1970; Nötzold-Linden 1994; Stokman und Vieth 2004; VanLear et al. 2006). Die Freundschaft stellt also ein ‚Musterbeispiel’ einer persönlichen Beziehung dar. Gleichwohl muss hinzugefügt werden, dass die der Freundschaft zugeschriebene wechselseitige Fokussierung auf die ‚ganze Person’, also eine an allen Facetten der jeweiligen Persönlichkeiten orientierte Dyade, auf das aristotelische Freundschaftsideal rekurriert. Aus soziologischer Perspektive nahm bereits Simmel (1908: 353 f.) an, dass sich mit fortschreitender Individualisierung auch die Freundschaften differenzieren würden. Während das antike Freundschaftsideal darauf aufbaut, dass Freundschaften auf eine Triade aus gemeinsam geteilten Interessen, gemeinsam geteilter Freizeit und einem gemeinsam geteilten Wertekosmos aufsitzen, wird von heutigen empirisch zu beobachtenden Freundschaften erwartet, dass sie zumeist auf nur eine dieser drei Dimensionen fokussieren. Soziologisch interessierte Studien legen nahe, dass zeitgenössische Freundschaften vor allem auf Geselligkeit, also auf gemeinsam geteilter Zeit abseits beruflicher und mitgliedschaftsgebundener Zwänge beruhen (Allan 1979: 41; Fischer 1982; Hollstein 2001). Zwar ziehen die Individuen zuweilen instrumentellen Nutzen aus ihren Freundschaften, beispielsweise bei der Suche nach einem Arbeitsplatz (Granovetter 1973) oder bei Suche nach Helfern für Reparaturen im Haus oder am Auto, doch in der Regel scheint Allans (1979: 42) Faustregel zu gelten: „[I]ndividuals can be useful because they are friends, but not friends because they are useful“. Insbesondere das Leihen größerer Geldsummen scheint unter Freunden eher ein Tabuthema zu sein (Willmott 1987: 91f.). Dies spiegelt sich auch im Sprichwort „Beim Geld hört die Freundschaft auf“ wider. Verwandtschafliche Beziehungsstrukturen scheinen dagegen deutlich stärker von finanziellen Transaktionen geprägt zu sein (Argyle und Henderson 1986; Marbach 2007: 76). Im Gegensatz zur romantischen Liebe zwischen zwei Personen, in denen die vorgestellten Merkmale ebenfalls von großer Relevanz sind, gibt es in der idealtypischen Freundschaft keine offene Sexualität (Eberhard und Krosta 2004: 27; Reisman 1979). Umgekehrt darf nicht unterschlagen werden, dass auch Beziehungen zwischen (Ehe-)Partnern oder Verwandten alle Elemente einer Freundschaft tragen können (Grätz et al. 2003: 6 f.; Spencer und Pahl 2006: 2). Vor allem zwischen den Beteiligten einer zeitgenössischen romantischen Paarbeziehung kann von einem äußerst intimen, vertrauensvollen und auf die ganze Persönlichkeit des jeweiligen Gegenübers ausgerichteten Verhältnis ausgegan-
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2 Soziologische Theorien persönlicher Beziehungen
gen werden (Fuchs 1999), wie es auch zwischen besten Freundinnen und Freunden erwartet wird. Große soziologische Aufmerksamkeit hat bislang die Ähnlichkeit der an einer Freundschaftsbeziehung beteiligten Individuen erregt. Für dieses Phänomen hat sich der von Lazarsfeld und Merton (1954) eingeführte Begriff der ‚Homophilie’ etabliert. Demnach neigen die Individuen dazu, freundschaftliche Beziehungen zu solchen Personen zu knüpfen, die über gleiche Vorlieben verfügen und sozialstrukturell ähnlich gestellt sind. So weisen Freundinnen und Freunde zumeist einen gleichwertigen Bildungsabschluss und denselben Familienstand auf, sind etwa gleichen Alters und häufig Angehörige derselben Ethnie. Außerdem neigen sie zu konvergierenden Interessen und geteilten Wertvorstellungen (Chan und Goldhorpe 2005; Ferrand et al. 1999; McPherson et al. 2001; Rössel 2005; Wolf 1996). Diese mehrdimensionale Ähnlichkeit von Freunden wird von den Beteiligten vermutlich insofern als vorteilhaft empfunden, als man mit ähnlichen Kontaktpartnern leichter unterhaltsame Gespräche führen und gemeinsam interessanteren Aktivitäten nachgehen kann. Darüber hinaus würde zum Beispiel ein ungleicher sozioökonomischer Status zwischen Freunden Schwierigkeiten machen, weil nur selten Reziprozität hergestellt werden könnte, wie etwa im Falle von Einladungen oder beim Essengehen (Rössel 2005: 271). Homophilie findet sich vor allem in so genannten ‚starken’ Freundschaften (Kracauer 1990). Diese dyadischen Beziehungsformen zeichnen sich jedoch oft dadurch aus, dass sie stark auf die beiden Beteiligten fokussiert ist und, im Gegensatz zu schwächeren Freundschaften, nicht transitiv sind. Das Prinzip der Transitivität lässt sich folgendermaßen wiedergeben: Wenn A mit B und C befreundet ist, dann steigt die Chance, dass sich auch B und C kennen lernen. Entwickelt sich eine (wie auch immer geartete) Beziehung zwischen B und C, so spricht die soziologische Netzwerkforschung vom Prinzip der Transitivität (Kossinets und Watts 2006; Louch 2000). Gesetz dem Fall, dass A und B eine sehr enge Beziehung zueinander pflegen, so gilt es nach Stokman und Vieth (2004) als unwahrscheinlich, dass sich zwischen B und C eine ebenso starke Bindung entwickelt, da ‚starke’ Freundschaften ungewöhnlich großen Pflegeaufwand benötigen (vgl. auch Watts 2003: 71). Ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal von Freundesbeziehungen ist das des Fehlens einer Hierarchie zwischen den Beteiligten (Allan 1989: 20). Folgt man dem zuvor dargestellten Idealtyp der Freundschaft, so basiert sie darauf, dass Freunde keine Macht (im Sinne von Weber 1972) aufeinander ausüben: Macht stellt mithin eine Gegenanzeige freundschaftlicher Beziehungen dar.11
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Der Befund, dass Macht immer eine Gegenanzeige von Freundschaftsbeziehungen darstellt, darf meines Erachtens zumindest angezweifelt werden: Insbesondere Freundschaften im Ju-
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Die vorangegangene Diskussion macht deutlich, dass der Idealtypus der Freundschaft ein sehr intimes und vertrauensvolles Verhältnis zweier Individuen voraussetzt. Empirische Freundschaftsstudien zeigen jedoch, dass es in der gesellschaftlichen Realität mindestens zwei Typen von ‚Freundschaften’ gibt, die sich beträchtlich voneinander unterscheiden. Die Alltagssprache unterscheidet beispielsweise zwischen Freundschaft und Bekanntschaft.12 Die soziologische Freundschaftsforschung bezeichnet den ersten Typ freundschaftlicher Beziehungen als durch hohe Kosten und hohe Belohnung (commitment) gekennzeichnet. Der zweite Typ, Bekanntschaft, kann dahingegen als durch niedrige Kosten und geringe Belohnungen geprägt beschrieben werden (convenience) (Diewald 1991: 109; vgl. auch Fischer et al. 1977). Von der Freundschaft zu unterscheiden ist die von außen vorgegebene ‚Kameradschaft’ (im Sinne des englischen peers), die nur für einen bestimmten Zeitabschnitt vorgesehen ist und auf ein gemeinsam zu verfolgendes Ziel ausgerichtet ist (Kracauer 1990: 12)13 sowie die auf den Austausch von Fachwissen beruhende Fachgenossenschaft (‚Arbeitskollegen’), die als Idealtypus nur eine Sachbeziehung sein kann (Kracauer 1990: 15 f.).14 Ferner gilt es noch, eine Trennlinie zwischen Freundschaft und Bekanntschaft zu ziehen. Spencer und Pahl (2006: 76) zufolge sind Bekannte (acquaint-
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gendalter sind von Situationen geprägt, in denen Freunde sich gegenseitig dazu anstiften, Handlungen zu vollziehen, vor denen sie eigentlich zurückschrecken. Bestes Beispiel hierfür sind die allseits bekannten und geforderten Mutproben, die in Cliquen oft Bestandteil der Aufnahmeprüfung in die Gruppe sind. Eine weitere Hybridkategorie bilden die so genannten ‚mittleren Freundschaften’ (Kracauer 1990: 66). Mittlere Freundschaften, so Kracauer, seien vor allem dadurch geprägt, dass sich die im antiken Freundschaftsideal unterstellte Wesensübereinstimmung nur auf einen Charakterzug bzw. eine Neigung beziehe. Beispiele hierfür finden sich in Freundschaften, die vor allem durch ein gemeinsames Hobby geprägt sind. Dabei kann es sich zum Beispiel um die Liebe zum Briefmarkensammeln, um einen lebhaften Austausch über moderne Kunst handeln oder um das schweigsame Vergnügen gemeinsamer Filmabende handeln. Entscheidendes Kriterium für eine mittlere Freundschaft ist, dass die affektive Bindung nicht sonderlich weit über diese eine gemeinsame Neigung hinausgeht. Entscheidend im Hinblick auf die Abgrenzung zur Freundschaft ist, dass es sich bei der Beziehungsform ‚Kameradschaft’ nicht um eine persönliche, sondern eher um eine unpersönliche Beziehung handelt. Gegenüber der auf gemeinsame Zielverfolgung ausgerichteten Kameradschaft haftet der Fachgenossenschaft stets der Charakter des Besonderen an, da sich die Mitglieder gegenseitig als Ausgewählte betrachten. In dieser Atmosphäre können durchaus Freundschaften entstehen: „Von der sogenannten ‚Fachsimpelei’ an, die vielen stumpfen Geistern ihr Lebtag genügt, erhebt sich das Verhältnis oft zu hoher geistiger Vertraulichkeit, dank dem Reichtum fesselnder Probleme, den eine Reihe von Berufen in sich bergen. Es entstehen glückspendende Beziehungen, die leicht in Freundschaften übergehen können, die es aber nicht sind, solange sie unter Ausschluß tiefer menschlicher Anteilnahme, allein auf der sachlichen Übereinstimmung beruhen“ (Kracauer 1990: 16).
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ances) „people who are pleasant to each other and who might engage in limited sociability, but intimacy is avoided. Acquantainces are kept at arm’s length: ‘they’re people you say ‘hello’ to but you don’t tell them your business.” Diese Ansicht möchte ich gemeinsam mit Kracauer bezweifeln: Es gibt Menschen, die fortwährend überströmen und sich entblößen, die es nicht in der fernen Nähe der von gleichmäßiger Wärme durchzogenen Bekanntschaft aushalten können, ohne damit reif für ein innigeres Verhältnis zu sein. Ihre Enthüllungen verletzen, weil sie weder einem wirklichen Zusammenleben entquellen, noch von einem sicheren Empfinden des notwendigen Abstandes begleitet sind. Wo dieses aber vorhanden ist, bildet es einen Reiz nur mehr der Bekanntschaft, wenn mitunter, bei seltener Gelegenheit, sich die Tore der Seele öffnen und einen vorübergehenden Einblick gewähren. Sie schließen sich wieder und eine dunkle Ahnung von dem fremden Wesen bleibt zurück, in das tiefer einzudringen, mit dem vereint zu wandern nicht verstattet ist. Man wird, entfaltet sich, durchmisst seine Bahn unabhängig voneinander. (Kracauer 1990: 21)
Entscheidend für die Unterscheidung zwischen Freundschaft und Bekanntschaft erscheint mir in Anschluss an Kracauer (1990: 21) demnach viel mehr die Frage zu sein, ob die jeweilige Beziehung durch eine gemeinsame Entwicklung geprägt ist. Wenn dies nicht der Fall ist, so sollte eher von Bekanntschaft die Rede sein.15 Bevölkerungsbefragungen, in denen Freundschaftsbeziehungen erhoben werden, zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass dem oben beschriebenen Facettenreichtum nicht-verwandtschaftlicher Beziehungen kaum Rechnung getragen werden kann. So stechen die den Befragungen zu Grunde liegenden Konzepte der Freundschaft in der Regel durch ihre Eindimensionalität hervor (Pahl und Spencer 2004: 203). Der Versuch, verschiedene Typen der Freundschaften zu identifizieren, steht im grundsätzlichen Widerspruch zur Schwierigkeit der zeitlichen Verortung interpersonaler Beziehungen (siehe Kapitel 2.1). Denn die Geflechte interpersonaler Beziehungen verändern sich innerhalb der Lebensverläufe der Individuen fortwährend (Kahn und Antonucci 1980). Die Gesichter der ehemals besten Freundinnen und Freunde verschwimmen in der Retrospektive oft nur noch zu unscharfen Konturen, während parallel die Beziehungen zu neu gewonnenen Mitgliedern im Bekanntenkreis an Bedeutung gewinnen. Andere Freundschaften wiederum können nach Jahren der Kontaktarmut neu aufflammen.
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Der Verweis der gemeinsamen Entwicklung öffnet eine theoretische Anschlussmöglichkeit an Lawlers Affekt-Theorie des sozialen Austauschs, vgl. Kapitel 3.7.
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Spencer und Pahl (2006: 73 ff.) versuchen, diesem Facettenreichtum der Freundschaft Rechnung zu tragen, indem sie sechs verschiedene Freundschaftstypen bilden: Die Autoren verorten ihre Freundschaftstypologie entlang zweier Dimensionen: sense of presence und Kontakthäufigkeit. Dabei ergeben sich insgesamt drei Überkategorien, nämlich historische, latente und aktive Freundschaften. In Bezug auf historische Freundschaften wird zwischen ehemaligen, gestorbenen und in der Nostalgie vorhandenen Freundschaften unterschieden. Latente Freundschaften unterteilen die Autoren in hauptsächlich rückwärtsgewandte ‚fossile’ Beziehungen und so genannte Pick up where you left offFreundschaften. Schließlich skizzieren sie noch den Typ der aktiven, unmittelbaren Freundschaft, welche in der Gegenwart besteht und sich durch ein vergleichsweise hohes Maß an interpersonaler Kommunikation auszeichnet. Meines Erachtens lässt sich diese theoretische Perspektive jedoch nur dann einnehmen, wenn man Ego zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt nach seinen engeren und entfernteren Freundschaften befragt. Die bisherige Diskussion über einen soziologischen Begriff der Freundschaft zeigt auf, mit welchen Schwierigkeiten die empirische Freundschaftsforschung zu kämpfen hat. Beispielsweise stellt sich die Frage, wie sich die Verbreitung einer Beziehungsform erheben lässt, die theoretisch derart unklar definiert ist und über die die Menschen derart unterschiedliche Auffassungen teilen. Um zu einer Lösung dieses Problems zu gelangen, erscheint es zumindest angebracht, in empirischen Erhebungen zunächst von einer vorgefertigten Typologie von Merkmalen der Freundschaft Abstand zu nehmen. Eine weitere Alternative besteht in der Anwendung mehrdimensionaler Erhebungskonzepte in Bezug auf freundschaftliche Beziehungsmuster (vgl. Stegbauer 2008). Abschließend sei noch auf die Beziehungsform ‚Nachbarschaft’ hingewiesen. Dabei handelt es sich um einen Typ von Beziehungen, die primär durch die geographische Nähe der Wohnorte von Ego und Alter gestiftet werden.16 Während Freundschaften unter dem ‚Generalverdacht’ der Freiwilligkeit stehen, können nachbarschaftliche Bindungen zumindest teilweise zu den askriptiven Beziehungsformen gezählt werden. Gleichwohl sind die an benachbarte Personen gestellten Erwartungen weitaus geringer als dies etwa bei Familienangehörigen der Fall ist. Im Gegenteil: da sich die Individuen bewusst sind, dass es
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Die Kategorie der Nachbarschaft hat eine Zwitterstellung in der Typologie persönlicher Beziehungen inne. Klare Abgrenzungen zu den beiden Typen Verwandtschaft/Nachbarschaft sind nicht möglich, da Nachbarn auch immer Verwandte oder Freunde sein können. In der vorliegenden Arbeit soll nur dann von ‚Nachbarschaft’ die Rede sein, wenn die persönliche Beziehung zwischen Alter und Ego primär durch räumliche Nähe gestiftet ist. Verwandte, die zugleich auch in der Nachbarschaft von Ego leben, würden somit der Kategorie ‚Verwandtschaft’ zugeordnet.
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2 Soziologische Theorien persönlicher Beziehungen
gerade in urbanisierten Gegenden nahezu unmöglich ist, ohne die (zumindest flüchtige) Erregung der Aufmerksamkeit ihrer Nachbarn zu leben, hat ein nachbarschaftliches Leitbild Einzug gehalten, das im Wesentlichen auf einem „mehr oder weniger distanzierte[n] Verhältnis“ (Zapf et al., zit. nach Diewald 1991: 111) fußt.17 Zwar eignen sich die Bewohner von Großstädten nicht selten eine indifferente Haltung gegenüber ihren Mitmenschen an, die Simmel als „Schutzvorrichtung“ charakterisiert „ohne die man in der Großstadt seelisch zerrieben und zersprengt würde“ (Simmel 1908: 645). Doch ist davon auszugehen, dass die meisten Individuen versuchen, zumindest zu ihren direkten Nachbarn, also jenen, mit denen sie Tür an Tür wohnen, oberflächlich einen guten Kontakt aufzubauen. „Völlige Fremdheit den Nachbarn gegenüber würde (…) Unsicherheit schaffen, denn es würde die Vertrautheit mit der unmittelbaren Wohnumgebung einschränken“ (Diewald 1991: 111). Auf der Schwelle zwischen askriptiver und selektiver Bindung stehend lassen sich nachbarschaftliche Beziehungen also nur schwer in die übliche Dichotomie von persönlichen und unpersönlichen Beziehungen zwängen. Die Begegnungen zwischen Nachbarn verlaufen in der Regel zwar unstrukturiert ab, d.h. sie sind nicht durch formale Vorgaben vorgezeichnet, doch zeigen Nachbarn offenbar eine Neigung zu stereotypem Beziehungshandeln. In Anlehnung an Mitchell (1969) ließe sich Nachbarschaft daher vielleicht als ‚kategorische’ Beziehung charakterisieren. Damit ist ein Beziehungshandeln angezeigt, welches sich in unstrukturierten Situationen im Wesentlichen an sozialen Stereotypen orientiert. Üblicherweise ist ein solches Verhalten zu beobachten, wenn sich das „Beziehungshandeln“ Egos nach bestimmten, äußerlich leicht ersichtlichen Merkmalen richtet, wie etwa Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft oder Schichtzugehörigkeit. Nur: Behandelt ein Individuum alle seine Nachbarn gleich, oder sind die Beziehungen zwischen Nachbarn nicht vielmehr auf einem Kontinuum von Nähe und Distanz angesiedelt? Vor dem Hintergrund dieser Frage büßt die Idee, Nachbarschaft als kategorische Beziehung zu konzipieren, wieder an Relevanz ein. Im Alltag mag man sich mit der sehr pragmatischen Definition eines Befragten in der Studie von Wilmott (1987) begnügen, der bemerkt: „A neighbour lives next door, and you say hello over the fence. A friend you sit down and talk to.“ Im Hinblick auf das Kriterium der Trennschärfe ist eine solche ‚Definition’ natürlich als unzureichend einzustufen. Die durch Nachbarschaft nahezu alltäglich ‚provozierte’ physische KoPräsenz von Ego und dessen Nachbarn erhöht die Chancen der Etablierung einer (positiven) Beziehung zwischen Ego und dem angesprochenen Personenkreis,
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Nachbarschaftsbeziehungen ‚an sich’ werden in der angelsächsischen Terminologie auch als ‚just neighbours’ bezeichnet (vgl. Willmott 1987: 16).
2.2 Freundschaft und Verwandtschaft
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da angenommen wird, dass räumliche Nähe, ganz gleich ob sozialer oder räumlicher Art, ein begünstigender Faktor für die Entstehung interpersonalen Beziehungen ist (Esser 2000a: 273; vgl. auch Allport 1979 [1954]). Die Beziehung zwischen Nachbarn ist in der Regel durch eine Fixierung auf wechselseitige pragmatische Unterstützung gekennzeichnet. Nachbarn erweisen sich für die Individuen insbesondere dann als ‚nützlich’, wenn es um das gegenseitige Erweisen kleinerer Gefälligkeiten geht – oder einfach um ein kleines Schwätzchen über den sprichwörtlichen Gartenzaun hinweg. Privatisieren und emotionalisieren sich diese Beziehungen jedoch, so tendieren die Individuen offenbar dazu, von befreundeten Nachbarn zu sprechen. Nachbarn als wichtige Bezugspunkte der informellen Gesellung und der sozialen Unterstützung spielen vor allem bei immobilen Bevölkerungsgruppen wie älteren Menschen oder nicht erwerbstätigen Elternteilen mit kleineren Kindern eine größere Rolle (Diewald 1991: 111). Für andere Bevölkerungsgruppen kann dagegen festgehalten werden, dass nachbarschaftliche Bindungen im Vergleich zu früheren Zeiten scheinbar massiv an Bedeutung verloren haben (Argyle 1994: 72). Diese Beobachtung nährt zuweilen soziologische Spekulationen eines universalen und generationenübergreifenden Verlusts an Gemeinschaft (Wirth 1938). Dass dies übertrieben sein mag, fasst Fischer treffend zusammen: “The bygone village required involvements with neighbors; if not neighbors, who else?” (Fischer 1982: 98).
3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
Aus ungleichheitssoziologischer Perspektive stellt sich nun die Frage, inwiefern die Initiierung und die Pflege von persönlichen Beziehungen von Faktoren wie Bildung und Status abhängen. Dabei geht es nicht um einmalige Interaktionen zwischen Fremden, denn Zufallsbegegnungen finden tagtäglich statt, ohne dass sie den Beteiligten nennenswert im Gedächtnis blieben. Kurzfristige Interaktionen scheinen darüber hinaus auch keinen Halt vor den sichtbaren und unsichtbaren Grenzziehungen sozialer Schichten zu machen. Sei es der wohlhabende Unternehmer, der mit dem Obdachlosen auf der Straße über das schöne Wetter spricht oder sei es das Fußballstadion, in dem sich beim Sieg der Heimmannschaft einander wildfremde Menschen fröhlich in den Armen liegen: Im Rahmen derlei zufälliger Interaktionen spielt soziale Ungleichheit sicherlich eine zu vernachlässigende Rolle. Von soziologischem Interesse interessanter sind hingegen die Rahmenbedingungen, die dafür sorgen, dass aus Zufallsbegegnungen mehr als eine zeitlich einmalige Abfolge von Interaktionen wird, nämlich eine Beziehung im engeren Sinn. Das Augenmerk wird im Folgenden daher auf die Frage gelenkt, wie die soziale Wirklichkeit in Form spezifischer und interindividuell ungleicher Ausstattungen mit materiellen und kulturellen Ressourcen (in diesem Fall: Bildung und Status) auf die Strukturierung von zwischenmenschlichen Beziehungsmustern einlenkt. In diesem Zusammenhang werden verschiedene theoretische Ansätze, die sich mit dem Nexus von Schichtzugehörigkeit und sozialen Netzwerken auseinandersetzen, vorgestellt und diskutiert. Zunächst werde ich jedoch der Frage nachgehen, wodurch sich soziale Ungleichheit im soziologischen Sinne auszeichnet.
3.1 Soziologische Konzepte sozialer Ungleichheit Gegenwärtige nationale Gesellschaften sind durch ein mehr oder minder stark ausgeprägtes Gefüge von sozialer Ungleichheit gekennzeichnet. Unter dem Begriff ‚soziale Ungleichheit’ ist zu verstehen, dass „die verschiedenen gesellschaftlichen Lagen (…) in einer Rangordnung [zueinander stehen], die sich aus einer gesellschaftlich geteilten unterschiedlichen Bewertung der jeweiligen
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
gesellschaftlichen Lagen ergibt.“ (Esser 2000b: 128). In der (deutschen) Soziologie gibt es in Bezug auf die Deutung von sozialer Ungleichheit im Wesentlichen zwei theoretische Lager: Eines, das die Frage nach der Produktion und Reproduktion von Ungleichheitsstrukturen hauptsächlich an vertikalen Differenzierungskriterien (Einkommen, Bildung, beruflicher Status) festmacht und eines, dass letztgenanntem Verständnis eine horizontale Konzeption sozialer Ungleichheit entgegensetzt. Die Vertreter vertikaler Ungleichheitskonzeptionen behaupten, dass sich Gegenwartsgesellschaften vor allem durch hierarchisch angeordnete Muster von Privilegien und Benachteiligungen auszeichnen. „Die zentralen Lebenschancen werden heute über die ökonomische, die politische und die Bildungsordnung verteilt“ hält zum Beispiel Schwinn (2007: 56) fest. Der Ideologie dieses Gesellschaftstyps zufolge hängt die jeweilige Position, die Individuen im gesellschaftlichen Ungleichheitsgefüge einnehmen, in starkem Maße von ihrer individuellen Leistung und von ihrem Erfolg ab (Krais 2001: 19f.). Eine derartige Gesellschaft versucht sich also, so Kreckel (1992: 97), durch die ‚meritokratische Triade’ – bestehend aus den Eckpfeilern Bildung, Beruf und Einkommen – zu legitimieren. Der von politischer und unternehmerischer Seite oft propagierten Leistungsideologie18 stellen die Vertreter der vertikalen Ungleichheitsforschung den Befund entgegen, dass die Chancen, Zugang zu höherer Bildung und zu statushöheren Berufen zu erlangen, bereits von Kindesbeinen an sozial ungleich verteilt sind. In diesem Licht erscheint die manchmal beschworene Durchlässigkeit der Gesellschaft also als Trugschluss. Zwar regelt das Grundgesetz, dass niemand aufgrund seines Status, seines Geschlechts oder seiner religiöse Weltanschauung diskriminiert werden darf. Doch der Befund, dass die soziale Herkunft in starkem Maße über den Zugang zu Ressourcen entscheidet, zeugt davon, dass wir es eben nicht mit einer durchlässigen Gesellschaft zu tun haben, in der die Lebenschancen prinzipiell gleich verteilt sind. Alternative Vorschläge zur theoretischen Konzeption sozialer Ungleichheit sind vor allem von Seiten der Milieu- und Lebensstilforschung (z.B. Hradil 1987; Schulze 1992; Vester et al. 2001) sowie von Vertretern der Individualisierungsthese (z.B. Beck 1983) hervorgebracht worden. Diesen verschiedenen theoretischen Ansätzen ist gemein, dass sie zwar ebenfalls die vertikal differenzierte Gesellschaft als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen auswählen, im weiteren jedoch davon ausgehen, dass die Hauptachse sozialer Ungleichheit heute nicht mehr in erster Linie entlang von vertikalen Unterscheidungsmerkmalen
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„Die Leistungsideologie ist Ideologie [Herv. im Original], weil sie sich nicht auf die Forderung nach und die Förderung von sachlicher Leistungsfähigkeit beschränkt, sondern gleichzeitig damit die Ungleichheit von Lebenschancen rechtfertigt.“ (Kreckel 1992: 98)
3.1 Soziologische Konzepte sozialer Ungleichheit
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wie Bildung, Einkommen und Beruf verläuft, sondern stattdessen horizontale Differenzierungsmuster (z.B. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit) immer mehr an Bedeutung für die Reproduktion von gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen gewinnen. Dies führt, so die weitere Annahme, dazu, dass sich die Praktiken der alltäglichen Lebensführung bildungs- und berufshomogener Gruppen zunehmend voneinander unterscheiden. In dieser Lesart individualisiert sich Ungleichheit also, gemeinsam geteilte ‚Klassenlagen’ (Weber 1972), deren bloße Existenz von den Vertretern der horizontalen Ungleichheitsforschung nicht immer angezweifelt wird, verlieren an Prägkraft für die Verteilung von Lebenschancen. Stattdessen gewinnen z.B. Wertesysteme, -kanons und Ideologien an Einfluss auf die Organisation und Reproduktion von Sozialität.19 Die Frage, welche der beiden Konzeptionen sozialer Ungleichheit – vertikal bzw. horizontal – besser auf die realen gesellschaftlichen Zustände passt, ist keine bloße theoretische Streitfrage, sondern muss letztlich empirisch entschieden werden (für einen ausführlicheren Überblick vgl. Kreckel 1983). Im Rahmen einer theoretischen Erklärung des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und der Strukturierung persönlicher Netzwerke greife ich auf die erstgenannte, vertikale Konzeption sozialer Ungleichheit zurück. Ein zu vernachlässigendes Argument für diese Entscheidung ist, dass der Milieu- und Lebensstilforschung ein Mangel an analytischer Klarheit vorgeworfen wird (siehe z.B. Geißler 1996). Angesichts der Vielzahl differenzierter und auch selbstkritischer theoretischer Ausarbeitungen, die die Vertreter der Milieu- und Lebensstilforschung in den letzten Jahren hervorgebracht haben, erscheint mir dieses Argument nicht als stichhaltig genug (für einen breiten Überblick siehe Rössel 2005). Wesentlich entscheidender für die Wahl eines vertikalen Modells sozialer Ungleichheit ist hingegen die sich abzeichnende Überschneidung zwischen meinem Untersuchungsgegenstand (persönliche Beziehungen bzw. Netzwerke) und dem, was die Milieuforschung als Kern der Struktur sozialer Ungleichheit identifiziert. So unterstellt die Mehrzahl milieutheoretischer Ansätze,
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Auf der Schwelle zwischen Konzeptionen vertikaler und horizontaler Ungleichheiten stehend operiert zudem Bourdieus Konzept des ‚Habitus’ (Bourdieu 1989). Mit dem Konzept des Habitus ( geronnene soziale Praxis) weist Bourdieu darauf hin, dass sich soziale Ungleichheit in der alltäglichen Praxis nicht nur durch sozial ungleich verteilte Handlungsressourcen (ökonomische, soziale und kulturelle Kapitalien) ausdrückt, sondern dass es gleichzeitig auch zu einer Verinnerlichung kollektiver Dispositionen kommt. In diesem Licht ist einer jeden Person die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht gleichsam ‚auf die Stirn geschrieben’. Dies äußert sich in der sozialen Praxis in ganz typischen Verhaltens- und Reaktionsmustern, in schichtspezifischen Geschmäckern sowie in bildungs- und statusabhängigen Kulturen der Distinktion. Da in Bezug auf die Analyse von Netzwerkstrukturen keine Aussage darüber getroffen kann, ob der Habitus Teil des Explanans oder Bestandteil des Explanandums ist, vernachlässige ich Bourdieus theoretische Anstöße im Folgenden.
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
dass es sich bei sozialen Milieus um „Gestaltbildungen mit erhöhter Binnenkommunikation (…) [handelt, J.M.], die zusätzlich über eigenständige normative Regelungen verfügen“ (Rössel 2005: 250; siehe auch Matthiesen 1998). Für meine Untersuchung würde sich eine milieutheoretische Konzeption sozialer Ungleichheit vor diesem Hintergrund als tautologisch erweisen, da meine empirische Untersuchung ja erst zeigen soll, ob es tendenziell geschlossene gesellschaftliche Gruppen gibt, welche bestimmte kommunikative Verknüpfungen zueinander aufweisen und deren soziale Netzwerke ähnlich konfiguriert sind. Dass es theoretisch äußerst fruchtbar sein kann, Beziehungsgefüge aus milieutheoretischer Perspektive zu betrachtet, zeigt Rössel (2005: 248ff.), der den Milieubegriff in das Konzept ‚homogame soziale Netzwerke’ überführt. Im Rahmen der nachfolgend diskutierten empirischen Analyse konzeptualisiere ich soziale Ungleichheit also in erster Linie als vertikale Ungleichheit – und greife in diesem Zusammenhang auf ein mehrdimensionales Schichtmodell zurück. Gegenüber theoretischen Konzeptionen, die soziale Ungleichheit mit Hilfe eines Marx’schen oder eines Weber’schen Klassenmodells abbilden und erklären, birgt das Schichtmodell drei bedeutsame Vorteile.20 Erstens impliziert der Schichtbegriff eine offenere Gesellschaft als die Begriffe ‚Klassen’ und ‚Stände’: „Auf- und Abstiege zwischen Ständen sind schon aus rechtlichen Gründen kaum möglich. Zwischen Klassen ist vertikale Mobilität zwar prinzipiell möglich, aber wegen Barrieren wirtschaftlicher Macht sehr schwierig.“ (Hradil 2005: 40) Zweitens sind Klassen potentiell kollektive Akteure mit gemeinsamen Interessen. „Schichten [dagegen] bestehen per definitionem aus individuellen Akteuren mit mehr oder minder vorteilhaften Lebensbedingungen“ (Hradil 2005: 42). Drittens, und dieser Punkt ist vor allem für die empirische Analyse der vorliegenden Arbeit entscheidend, fokussiert das Schichtmodell stärker den Beruf und die Bildung, während das Besitztum, noch ein Schlüsselbegriff in der marxistischen Ungleichheitskonzeption, heute möglicherweise weniger entscheidend für die Besetzung als wichtig erachteter gesellschaftlicher Positionen ist (Hradil 2005: 40). „In den Mittelpunkt des Interesses [rücken] (…) damit auch die sozialen Ungleichheiten innerhalb der Dimensionen, die in Verbindung mit dem Beruf stehen, also in erster Linie Ungleichheiten des Einkommens und Vermögens, des Berufsprestiges und der Qualifikation.“ (Hradil 2005: 40, Hervh. im Original). Im weiteren Verlauf folge ich dem Vorschlag Hradils (ebd.), von sozialen Schichten dann zu sprechen, wenn „Statusgruppierungen im Hinblick auf mehrere berufsnahe Dimensionen sozialer Ungleichheit zugleich angeordnet“ werden.
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Gleichwohl wird das Begriffspaar ‚Klasse und Schicht’ in der Soziologie heute vielfach synonym verwendet (siehe z.B. Kreckel 1992: 337; Rössel 2005: 23, FN 1).
3.1 Soziologische Konzepte sozialer Ungleichheit
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Nachdem nun eine Arbeitsdefinition des Begriffs der Schichtzugehörigkeit vorgelegt wurde, werde ich im Folgenden diskutieren, inwiefern Bildung und beruflicher Status – als Indikatoren der Schichtzugehörigkeit – mit der Genese und der Pflege von persönlichen Beziehungen zusammenhängen. Zunächst ist zu fragen, welche Rolle die Soziologie in Bezug auf die Erklärung von Strukturen persönlicher Beziehungen überhaupt spielen kann. Die Sozialpsychologie hat sich eingehend mit der Frage beschäftigt, warum manche Menschen nur bestimmte Individuen als Kandidaten für das Eingehen einer persönlichen Beziehung in Betracht ziehen (siehe z. B. Fehr 1996). Das Forschungsinteresse richtet sich in diesem Fall auf den Grad der Attraktivität, die die Individuen anderen Menschen bei der Suche nach potentiellen Freundschaften beimessen. Die Soziologie wählt in der Regel eine andere Herangehensweise an ihren Untersuchungsgegenstand: hier steht die Frage im Vordergrund, unter welchen strukturellen Bedingungen einander fremde Menschen näher kommen und wie diese Konditionen die Herausbildung von Beziehungen begünstigen beziehungsweise restringieren. Wer kommt überhaupt für eine persönliche Beziehung in Frage? Um darauf antworten zu können, ist es zunächst sinnvoll, zwischen verwandtschaftlichen und nicht-verwandtschaftlichen Beziehungen zu unterscheiden. Etwas kompliziert ausgedrückt erhöht der biologisch-kulturell abgeleitete Fakt der Verwandtschaft von Ego und Alter Egos Wahrscheinlichkeit, auf ein spezifisches Kommunikations-Ersuch an Alter keine Ablehnung zu erleben. Verwandtschaft ist mithin ein möglicher Entstehungszusammenhang für die Etablierung einer manifesten interpersonalen Bindung (vgl. Kapitel 2.1). Geht man zur Initiierung nicht-verwandtschaftlichen Beziehungen über, so stellt sich die Lage wesentlich komplizierter dar. Tagtäglich begegnen wir einer schier unüberschaubaren Masse von Menschen auf der Straße, in der Bahn, im Restaurant oder im Supermarkt. Theoretisch kann also jede Passantin und jeder Passant zum potenziellen ‚Pool’ möglicher Kontaktpartner gezählt werden. Mehr noch: nicht nur die Menschen, denen man leibhaftig begegnet, zählen zur schlummernden Masse möglicher Ansprechpartner. Nimmt man das Telefon zur Hand, so ließen sich durch zufällig eingetippte Nummernkombinationen unzählige Menschen auf der ganzen Welt erreichen. Tatsächlich folgt die Entstehung der großen Mehrzahl der interpersonalen Beziehungen jedoch keinem solch zufälligen Muster (Wolf 1996: 83). In den folgenden Kapiteln werde ich daher diskutieren, inwiefern vertikale soziale Ungleichheit systematisch Gelegenheiten und Barrieren in Bezug auf die Initiierung und Pflege von persönlichen Beziehungen zu erzeugen imstande ist.
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
3.2 Die Freunde der Freunde: Das Prinzip der Transitivität Viele Bekanntschaften werden auch ohne besonderen eigenen Antrieb initiiert. Angenommen, Ego verweilt auf der Geburtstagsfeier seines Freundes Uwe. Dort trifft er einige gemeinsame Bekannte, lernt aber auch jede Menge ihm zuvor unbekannter Gesichter kennen. Uwe stellt seinem Freund Ego auch Gisela vor, von der Ego besonders angetan ist. Schnell wird klar, dass diese Sympathie nicht nur einseitig besteht. Entwickelt sich nun eine persönliche Beziehung zwischen Ego und Gisela – ganz gleich, ob auf romantischer oder platonischer Ebene – so spricht die soziologische Beziehungsforschung vom Prinzip der Transitivität, welches in diesem Fall gegriffen hat. „Transitivität bezeichnet (…) eine (…) (systematische) Gelegenheit für die Entstehung sozialer Beziehungen, die allerdings der genuinen Focuswirkung in gewisser Weise nachrangig ist, weil sie nur die Ausbreitung bestehender Sozialbeziehungen (…) erklären kann, aber keinen Beitrag zur Klärung der Frage leistet, wie soziale Integration, von einem Nullpunkt aus betrachtet, funktionieren könnte“ (Hirschle 2007: 62). Für die Betrachtung von Netzwerkstrukturen bedeutet das, dass sich der Wirkungsgrad des Transitivitätsprinzips gut nachvollziehen lässt, wenn eine zeitlichdynamische Perspektive auf bereits bestehende Beziehungsgefüge eingenommen wird. Um nun den Einfluss der Schichtzugehörigkeit in Bezug auf diesen Sachverhalt nachvollziehen zu können, bedarf es eines kurzen Hinweises auf ein weiteres, der Genese interpersonaler Beziehungen inhärentes Prinzip, nämlich das der Homophilie. Unter dem Begriff der Homophilie wird in der Netzwerkforschung diskutiert, dass Individuen dazu neigen, als Adressaten persönlicher Beziehungen solche Personen in Betracht zu ziehen, die ihnen selbst möglichst ähnlich sind (siehe z. B. Lazarsfeld und Merton 1954; McPherson et al. 2001; Verbrugge 1977). Dies betrifft sowohl Fragen des persönlichen Geschmacks und Stils als auch die jeweilige sozialstrukturelle Position von Ego und Alter. Aus einer ungleichheitstheoretischen Perspektive ist vor allem interessant, dass sich soziale Netzwerke überwiegend aus Mitgliedern ähnlichen Bildungsstands und ähnlichen beruflichen Status zusammensetzen. Stellt man sich nun drei beliebige Netzwerk-Egos vor, jedes in eine andere Schulform (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) integriert, so bilden sich bei allen drei fokalen Personen zunächst stark im Dunstfeld des Wohnorts angesiedelte Cluster von Freundinnen und Freunden, so genannte Cliquen. Bis etwa zum Zeitpunkt des 16. Lebensjahrs dürfte das Prinzip der Transitivität für alle drei betrachteten Egos gleichermaßen wirksam sein. Doch dann verlassen Absolventen der Haupt- und Realschulen die Schulen und müssen (eventuell gemeinsam mit ihren Eltern) eine Entscheidung treffen, ob sie eine weitere Schul-
3.2 Die Freunde der Freunde: Das Prinzip der Transitivität
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form besuchen möchten oder eine Ausbildung anstreben. Die häufig angeschlossene berufliche Ausbildung wird dabei meist in der Nähe des Heimatorts absolviert. Schüler der Sekundarstufe II (Schüler, die nach der 10. Klasse das Fachabitur oder Abitur anstreben) werden dagegen erstmals mit spezifischen Mobilitätsanreizen konfrontiert. So gehen einige der Schüler dieser Schulform zum ersten Mal für ein halbes oder ein ganzes Jahr in ein anderes Land. Die Entscheidungen pro oder contra Mobilität nehmen in den Folgejahren zu: Nach dem Abitur müssen sich viele zukünftige Studierende mit der Frage auseinandersetzen, was sie wo studieren möchten. Die Wahl ist nicht immer frei von gewissen Zwängen, da viele begehrte Studiengänge zentral (ZVS) oder dezentral (von den Universitäten bzw. Fachrichtungen selbst vorgenommene Aufnahmeprüfungen) nach bestimmten Kriterien vergeben werden. Auf diese Weise kommt es daher auch manchmal zu Entscheidungen pro residentieller Mobilität, obwohl die jungen Erwachsenen vielleicht noch lieber am Ort bleiben würden, an dem sie zur Schule gegangen sind. Auch im weiteren Lebensverlauf zieht sich die im Vergleich zu niedriger Gebildeten relativ große Mobilitätsbereitschaft wie ein roter Faden durch die Lebensverläufe von Abiturienten und Hochschulabsolventen (Mulder 1993; Wagner 1989: 94ff.). Dieses Phänomen erklärt die Migrationstheorie von Hoffmann-Nowotny (1970) dadurch, dass das Erreichen hochwertiger Bildungsabschlüsse höhere Ansprüche an die Verfügbarkeit knapper sozialer Güter wie etwa Macht und Einkommen legitimiert. Um diesen Ansprüchen Folge leisten zu können, so die weitere Annahme, erwächst in den betroffenen Individuen die Bereitschaft zur räumlichen Mobilität, da die Wahrscheinlichkeit, eine ausbildungsadäquate Berufsposition am Wohnort zu finden umso geringer ist, je höher das Ausbildungsniveau und je spezialisierter der eingeschlagene Karrierepfad ist. Das Abitur (…) schafft spezifische Opportunitäten, setzt berufliche Erwartungen und Aspirationen und generiert damit Anschlüsse im Lebenslauf, von denen die auf diese Art und Weise Disponierten und Positionierten in höherem Maße Gebrauch machen werden. Entscheidend [sind] dabei (…) die diese Karriere begleitenden Rahmenbedingungen; insbesondere die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von Wohnortwechseln, die mit der Wahrnehmung von beruflichen Chancen in vielen Fällen korreliert (Hirschle 2007: 230).
Niedrig Gebildeten fällt es hingegen scheinbar leichter, eine neue Arbeitstelle in der Nähe des bisherigen Wohnorts zu finden: „The carpenter, for example, can find a job near to his parents rather easily, whereas the IT-manager or the uni-
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
versity professor will have more difficulties in finding a job so close to the parental home.” (Kalmijn 2006: 3) Es steht zu vermuten, dass diese Mobilitätsprozesse einen direkten Effekt auf die vorhandenen persönlichen Netwerke haben. Denn vorausgesetzt, die bisherigen Netzwerkpartner verweilen weiterhin an ihrem Wohnort, so nimmt die räumliche Spannweite des betrachteten egozentrierten Netzwerks zu. Im Gegenzug sinkt Egos Chance, neue Kontakte vermittels des Transitivitätsprinzips zu erschließen. Da Ego im Alltag nicht mehr bzw. weniger häufig mit seiner bisherigen Clique in face-to-face-Kontakt tritt, verringern sich die Chancen, die Freunde oder Bekannten von Freunden näher kennen zu lernen. Residentielle Mobilität kann also in gewisser Weise die Wirkung des Transitivitätsprinzips aushebeln. Dieser Effekt wird wahrscheinlich dadurch verstärkt, dass mit steigendem Bildungsniveau Egos auch die Wahrscheinlichkeit zunehmen dürfte, dass Egos ebenso hoch gebildeten Netzwerkpartner in andere Städte umziehen. Neben den direkten Folgen von Wohnortswechseln stellen sich im Hinblick auf die Strukturierung persönlicher Netzwerke auch indirekte Effekte residentieller Mobilität ein, da die am ursprünglichen Wohnort verbleibenden Alteri möglicherweise daran interessiert sind, den (zumindest leibhaftigen) ‚Verlust’ Egos durch das Erschließen neuer Kontakte zu kompensieren (Hirschle 2007: 75). Damit kann ein Umzug Egos die Neustrukturierung der Netzwerke von Egos signifikanten Anderen forcieren. Die Verwandtschafts- und Freundeskreise der höher Gebildeten scheinen dementsprechend sowohl aktiv als auch passiv von einer erhöhten Dynamik residentieller Mobilität bzw. Migration betroffen zu sein (vgl. auch Ohnmacht et al. 2008: 157). Diese Form von Mobilität unterminiert wiederum – so meine Annahme – das Transitivitätsprinzip. Gleichzeitig wird die relativ geringe residentielle Mobilität der Personen mit niedrigen Bildungsabschlüssen möglicherweise durch ein bestimmtes Muster von Wanderungsabsichten verstärkt. So zeigt Kley (2008) – allerdings anhand von Daten einer nicht repräsentativen Zwei-Städte-Studie (namentlich Freiburg und Magdeburg) – dass eine starke Konzentration familiärer Bindungen am Wohnort die Wahrscheinlichkeit zu verringern scheint, dass Individuen Umzüge über die Gemeindegrenze hinaus überhaupt in Erwägung ziehen. Meine Vermutung ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Prozess der Migration höher Gebildeter somit aus sich selbst heraus verstärkt: Bildungsabschlüsse weisen gerade in Deutschland eine hohe intergenerationale Stabilität auf (vgl. Müller und Mayer 1976). Daher ist davon auszugehen, dass die familiären Bindungen zum erweiterten Verwandtschaftskreis bei höher Gebildeten insgesamt eine deutlich größere räumliche Spannweite aufweisen als die der niedriger Gebildeten. Interessanterweise üben in der Studie von Kley jedoch nur die verwandtschaftlichen Beziehungsstrukturen eine mobilitätshemmende Wirkung
3.3 Schichtspezifisches Mobilitätskapital
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aus. Lokal verankerte Freundeskreise hielten die in der Studie von Kley (2008: 133) beobachteten jungen Erwachsenen jedenfalls nicht signifikant davon ab, Umzugspläne zu schmieden. Darüber hinaus verändern sich die klassischen Muster residentieller Mobilität. Klassische Formen der Umzugsmobilität weichen zunehmend Formen des Pendlerdaseins, im Rahmen dessen die räumliche Überschneidung von Arbeitsplatz und Familienwohnort mehr und mehr Platz macht für Konstellationen aus familiennahem Erstwohnsitz und arbeitsplatznahen Zweitwohnsitz. Wie Schneider et al. (2002b) zeigen, wächst zudem der Anteil von Berufstätigen, die entweder täglich weite Strecken zur Arbeit zurücklegen oder sich berufsbedingt einen Zweitwohnsitz zulegen. Besonders Abiturienten sind stark in diesen Gruppen vertreten: „Shuttles, LATs [Fernbeziehungen, J.M.] und Umzugsmobile [haben] Abiturientenanteile von jeweils über 80 Prozent“ (Schneider et al. 2002b: 146).Vor allem aufgrund der angenommenen hohen residentiellen Mobilität kann davon ausgegangen werden, dass das Prinzip der Transitivität persönlicher Beziehungen in den Gruppen der höher Gebildeten und den Personen mit hohem beruflichem Status vergleichsweise seltener zur Entfaltung kommt.
3.3 Schichtspezifisches Mobilitätskapital Auch im Zeitalter moderner Kommunikationsmedien wie Internet und Mobiltelefon spielt die Kommunikation unter Anwesenheit eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Pflege interpersonaler Beziehungen. Nach wie vor gelingt die Aufrechterhaltung der meisten Beziehungen zumeist nur dann, wenn sich die Beteiligten zumindest unregelmäßig persönlich begegnen (Urry 2003; 2007). Dafür spricht auch der Befund, dass zum Beispiel das Internet viel weniger dazu genutzt wird, neue Menschen kennen zu lernen, als vielmehr, um bestehende Kontakte zu pflegen (Boase et al. 2006; Spencer und Pahl 2006: 24). Aus einer ungleichheitssoziologischen Perspektive stellt sich daher die Frage, ob die Möglichkeit, ‚Fern’-Beziehungen über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, für alle sozialen Schichten gleichermaßen gegeben ist, oder ob es nicht vielmehr bestimmte gesellschaftliche Gruppen gibt, die über ein besonders hohes Mobilitätskapital verfügen. Aus ungleichheitstheoretischer Perspektive ist daher zu untersuchen, welche Ressourcen notwendig sind, um physisch mobil zu sein. Doch auch die Kommunikation unter Abwesenheit bedarf spezifischer Fähigkeiten, die in unterschiedlichen sozialen Schichten möglicherweise ungleich ausgeprägt sind. Ein instruktiver theoretischer Ansatz, der sich mit dieser Frage auseinandersetzt, stammt von Vincent Kaufmann (Kaufmann 2002; Kaufmann et al. 2004). Mit dem Konzept der Motility verweist er darauf, dass das Mobilitäts-
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
potential der Individuen von drei verschiedenen Faktoren abhängig ist, nämlich access (Zugang), skills (Kompetenz) und appropriation (Aneignung). Die vertikalen Ungleichheitsstrukturen nationaler Gesellschaften lassen darauf schließen, dass die Motility der unteren sozialen Schichten ebenso gering ausgeprägt sein dürfte wie ihrr Zugriff zu sonstigen Kapitalformen. Die bisher vorliegenden empirischen Befunde bestätigen dies: Nicht nur für Dritte-Welt-Staaten, sondern auch für westliche Industrienationen lassen sich klare „mobility divides“ (Larsen et al. 2006: 54) innerhalb des sozialstrukturellen Gefüges erkennen (für einen breiteren Überblick über den Zusammenhang zwischen Ungleichheiten und Mobilität siehe Ohnmacht et al. 2009). Die gesellschaftlichen Mobilitätsgräben verweisen sowohl auf sozial differenzierte Kompetenzen (im Hinblick auf die Nutzung von Kommunikationsmedien wie dem Internet) als auch auf schichtspezifisch ungleich verteilte Ressourcen im Hinblick auf die Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs oder des Erwerbs von Automobilen. Aus einer an sozialer Ungleichheit interessierten soziologischen Perspektive bedeutet dies, dass einkommensschwache Gruppen in Bezug auf die Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung von ‚Fern’-Beziehungen benachteiligt sind, da ihnen weniger materielle Ressourcen zur Verfügung stehen, um die geographische Distanz zu den betreffenden Alteri physisch zu überwinden. Mithin erscheint die Motility bzw. das Mobilitätskapital der unteren sozialen Schichten gegenüber der der oberen sozialen Schichten als relativ eingeschränkt: Sowohl im Hinblick auf die Möglichkeiten der Kommunikation unter Abwesenheit als auch in Bezug auf die Chancen zur Interaktion zeigen sich beinahe als klassisch zu bezeichnende Gräben zwischen den sozialen Schichten. Da „trifft es sich gewissermaßen günstig, dass Arbeiter – verglichen mit Angehörigen der Mittelschicht – räumlich weniger mobil sind“, so der nahezu sarkastische Kommentar Hollsteins (2001: 158) zu den schichtspezifischen Möglichkeiten der Pflege sozialer Beziehungen.
3.4 Die Defizithypothese Während die Motility-These (Kapitel 3.3) vor allem die Opportunitäten der Mobilität in den Mittelpunkt der theoretischen Blickrichtung rückt, kommen Vertreter der – tendenziell deterministischen – Defizithypothese zu dem Schluss, dass die im Vergleich zur Arbeiterschicht in der Mittel- und Oberschicht ausgeprägtere Freundschaftskultur in den vertikal verteilten kognitiven Kompetenzen zur Initiierung und Pflege von Freundschaften begründet liegt. In dieser Lesart ist es vor allem die den Arbeitern attestierte mangelnde Wahrneh-
3.4 Die Defizithypothese
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mungs- und Urteilsfähigkeit im Umgang mit Fremden, die als zentrale Ursache für deren Fokussierung auf verwandtschaftliche Beziehungen aufgefasst wird (z.B. Klein 1965; Whyte 1956).21 Stellvertretend für eine solche theoretische Position lässt sich hier eine früh geäußerte Auffassung von Oevermann (1969) wiedergeben (s. nächste Seite): Die soziale Lebenswelt im subkulturellen Milieu der Unterschicht beschränkt sich im wesentlichen auf das dichte Netz der Primärbeziehungen im erweiterten Verwandtschaftssystem, in der Nachbarschaft und zu wenigen alten Freunden. Aus diesem Netz tritt man nur ungern heraus, um etwa Kontakte zu Fremden aufzunehmen oder neue Bekanntschaften zu machen. Man sucht die enge, durch Solidarität geprägte, partikularistische Sozialbeziehung (...). (Oevermann 1969: 305)
In Anschluss an die linguistischen Arbeiten von Bernstein (1971) kann im Sinne der Defizithypothese davon ausgegangen werden, dass es spezifische sprachliche Barrieren zwischen den sozialen Schichten gibt. Demnach neigen die Angehörigen unterer sozialer Schichten zu einer Sprachweise, die von Bernstein als ‚restringierter Sprachcode’ (geprägt durch grammatisch einfache und oft unvollständige Sätze; starre Auswahl von Adjektiven und Adverbien; seltenem Gebrauch von Nebensätzen; Verwendung von Tatsachenfeststellungen als Begründungen) bezeichnet wird, während Mittel- und Oberschichtangehörige den so genannten ‚elaborierten Sprachcode’ verwenden (Merkmale: grammatisch sauber konstruierte Sätze; differenzierte Auswahl von Adjektiven und Adverbien; größere Abstraktionsfähigkeit, Fähigkeit zur Artikulation subjektiver Ansichten und Gefühle).22 In dieser Lesart lässt es „[d]er spezifische Sprachcode weniger gebildeter Schichten (statusorientiert, wenig differenziert und reflexiv) (…) gar nicht erst zu, dass Merkmale von spezifischen Personen im Vordergrund stehen, in deren Gefolge Beziehungen aus ihren Herkunftskontexten herausgelöst werden könnten.“ (Hollstein 2001: 160) Während Bernsteins Arbeiten in Großbritannien großen wissenschaftlichen Anklang fanden, konnten entsprechende linguistische Studien für das Gebiet der Bundesrepublik keine derart drastischen sprachlichen Unterschiede zwischen den sozialen Schichten identifizieren (Neuland 1975; Oevermann 1972). „Erhebliche sprachliche Differenzierungen innerhalb gleicher Statuslagen sowie deutliche sprachliche Gemeinsamkeiten über Statusgren-
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Aktueller findet sich eine ähnliche theoretische Position auch bei Argyle (1994: 89). Die besonderen Merkmale der beiden Sprachcodes habe ich aus Lehrfolien übernommen, die Marina Hennig im Internet zur Verfügung stellt, siehe: www.marinahennig.de/PowerPoint/Bildungsungleichheit.ppt (Zugriff: 19.04.09)
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
zen hinweg lassen es in Deutschland kaum zu, von geschlossenen ‚schichtspezifischen Sprachstilen’ zu sprechen“ (Hradil 2005: 452). Eine empirische Untersuchung in Bezug auf den Zusammenhang zwischen sprachlichen Codes und Netzwerkstrukturen steht indes noch aus.
3.5 Dekontextualisierung Der Begriff der Dekontextualisierung steht Allan (1979) zufolge für die Fähigkeit bzw. die Praxis, eine gegebene interpersonale Beziehung aus ihrem sozialen Herkunftskontext hinaus in andere Lebensbereiche zu ‚verlängern’. Eine Beziehung ist zum Beispiel dann dekontextualisiert, wenn sie im Rahmen der Arbeit geschlossen wurde und sich die Beteiligten gemeinsam in einem Verein anmelden, gemeinsam das Kino besuchen oder sich gegenseitig Essenseinladungen aussprechen. Anhand von über 40 qualitativen Interviews kommt Allan zu dem Ergebnis, dass sich in den unterschiedlichen sozialen Schichten unterschiedliche Kulturen der Geselligkeit manifestieren. Ich spreche an dieser Stelle explizit nicht von ‚Freundschaftskulturen’, da bereits die Verwendung des Labels ‚Freundschaft’ mit bestimmten methodologischen Schwierigkeiten behaftet ist (siehe Kapitel 2.2). Allans Studie zeigt, dass Formen der Geselligkeit zwischen nicht-verwandten Personen der Arbeiterklasse keine Seltenheit ist, sondern, ganz im Gegenteil, eine wichtige Rolle im Alltag der Arbeiter zu spielen scheint (Allan 1979: 136). Im Unterschied zu den von ihm untersuchten Personen der Mittelschicht, neigten die der Arbeiterklasse zugehörigen Probanden jedoch dazu, diese geselligen Kontakte nicht bzw. in einem geringeren Maße von ihrem jeweiligen Entstehungskontext zu lösen. Während es unter Mittelschichtangehörigen also üblicher zu sein scheint, Freundschaftsbeziehungen durch Kontakte in unterschiedlichsten Kontexten zu aktualisieren – etwa durch gemeinsame Kino-, Theater und Restaurantbesuche – so enden die geselligen Kontakte der bildungsfernen Gruppen überspitzt gesagt an den Werkstoren der Fabrik oder an der Pforte der gemeinsam mit den Kollegen aufgesuchten Lieblingskneipe. Die Schlussfolgerung aus Allans Interviews mit den Arbeitern ist die, dass sich die unterschiedlichen Formen der Geselligkeit in der Arbeiterklasse stärker auf etwas Drittes beziehen als es unter Angehörigen der Mittelschicht üblich ist. Wenn also Ego (als Angehöriger der Arbeiterschicht) ausgeht, und Alter A keine Zeit hat, verbringt Ego seinen Abend eben mit den Alteri B, C und D. Demgegenüber zeigen die Interviews mit den Probanden der Mittelschicht, dass bei ihnen die Pflege der konkreten dyadischen Beziehung im Vordergrund gemeinsamer Treffen steht. Es ist scheinbar gerade diese in den Reihen der Arbeiterschicht weniger verbreitete Neigung zur Individualisierung von Zweierbezie-
3.5 Dekontextualisierung
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hungen, die die Arbeiter davon abhält, bestimmte Personen mit denen sie ihre Freizeit teilen, als ‚Freunde’ zu bezeichnen. Vielmehr findet sich in den Interviews häufig die Bezeichnung mate (engl., grob übersetzt: ‚Kumpel’) für diesen Personenkreis wieder. Der ‚Clou’ aus der theoretischen Perspektive Allans ist nun, dass sich die Arbeiter durchaus bewusst sind, dass sich ihre Art und Weise der Geselligkeit von der der Mittelschicht unterscheidet. Das Konzept der Freundschaft mit der impliziten Betonung auf der Praxis der Dekontextualisierung erscheint den Arbeitern in diesem Sinne als ein Konzept der Mittelschicht.23 Die offenbar stärkere Fixierung auf Gruppenbeziehungen auf Seite der Arbeiter steht dem vermeintlichen Mittelschichtkonzept der Freundschaft damit diametral gegenüber. Empirisch lässt sich das generelle Vorhandensein nicht-verwandter Alteri in persönlichen Netzwerken nur dann aufklären, wenn nicht explizit nach dem Vorhandensein von ‚Freundinnen’ bzw. ‚Freunden’ gefragt wird. Als probat haben sich dafür solche Erhebungsinstrumente erwiesen, in denen nichtverwandtschaftliche Netzwerke vermittels von Namensgeneratoren erhoben werden, in denen der Beziehungstyp als solcher nicht näher thematisiert wird. Einen gravierenden Unterschied zwischen den beiden sozialen Schichten hat Allan vor allem in der Häufigkeit erkannt, mit der die untersuchten Personen nicht-verwandte Personen zu sich nach Hause einladen. Gegenseitige Einladungen in das eigene Heim erfolgten in den Reihen der Arbeiter demnach viel seltener als bei den Mittelschichtangehörigen. Zu diesem Ergebnis kommt auch Bourdieu (1989: 318f.), der anhand von Umfragedaten zeigen kann, dass leitende Angestellte, Beamte und Freiberufler gegenüber den Arbeitern und einfachen Angestellten weitaus häufiger Einladungen an enge Freunde und die Freunde ihrer Kinder aussprechen. Umgekehrt, so Bourdieu, laden die höheren sozialen Schichten der Studie zufolge jedoch seltener die eigenen, nicht dem Haushalt angehörigen Verwandten zu sich nach Hause ein.24
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Es steht zu vermuten, dass sich diese spezifische Form der Freundschaftspflege auch in den Reihen der upper class wieder gefunden hätte. Angehörige dieser sozialen Klasse wurden von Allan jedoch nicht untersucht. Das in den unteren sozialen Schichten offenbar weit verbreitete Unbehagen, Personen außerhalb der eigenen Verwandtschaft in die eigene Wohnung oder das eigene Haus einzuladen, ist Allan zufolge möglicherweise mit der Scham verbunden, den gängigen Ansprüchen an ein ansprechendes Interieur und eine geräumige Behausung nicht genügen zu können. Angesichts der allgemeinen Anhebung des Lebensstandards in den vergangenen Jahrzehnten darf zumindest bezweifelt werden, ob der Scham über die eigenen Wohnverhältnisse weiterhin einen Grund für eine mögliche Schichtabhängigkeit von Einladungen in die ‚eigenen vier Wände’ darstellt. Als weitere plausible Erklärung für die Beobachtungen von Allan und Bourdieu böte sich an, dass die Arbeiterklasse einfach weniger enge Freundschaftsbeziehungen unterhält und deshalb auch weniger Einladungen an nicht verwandte Personen ausspricht.
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
Allan schildert an einem extremen Beispiel, wie eine Beziehung, die aus einer Außen- (und Mittelschicht-)Perspektive zunächst wie eine enge Freundschaft anmuten mag, im Zeitverlauf ‚scheitert’. Es steht zu vermuten, dass eine wesentliche Ursache für das ‚Erkalten’ dieser Beziehung in der mangelnden Bereitschaft zur Dekontextualisierung zu suchen ist: Beschrieben wird die Bekanntschaft zwischen den beiden Arbeitern Herrn Thompson und Herrn White, wobei der Interviewpartner (Herr Thompson) in seiner Bezeichnung dieser persönlichen Beziehung im Laufe des Interviews nicht einheitlich ist. So bezeichnet er Herrn White einmal als ‚Freund’ (‚friend’) und ein anderes Mal als ‚mate’ ( ‚Kumpel’, ‚Kamerad’). Beide lernten sich bereits in ihren Jugendjahren kennen und „had always ‚hung about together’“ (ebd.: 77). Zum Zeitpunkt des Interviews währte diese Bekanntschaft bereits seit über 50 Jahren. Herr Thompson gibt jedoch an, dass sich die gemeinsam verbrachte Zeit deutlich reduzierte als beide ihre Partnerinnen ehelichten. Auch die Bandbreite der Orte, an denen gemeinsame Wiedersehen zwischen den beiden stattfanden, reduzierte sich ab diesem Zeitpunkt. Herrn Thompson zufolge trafen sie sich nur noch ‚auf der Straße’ (Herr White war Straßenfeger, Herr Thompson war Landarbeiter), beim Kauf von Gemüse aus Herrn Whites Garten und im Pub. Es ist in diesem Zusammenhang insbesondere das Muster der gemeinsamen Pub-Besuche, welches von zentraler Bedeutung im Kontext dieser Studie ist. Im Interview stellte sich nämlich heraus, dass Herr Thompson über Jahre hinweg jeden Samstagabend zusammen mit seiner Ehefrau den gemeinsamen Lieblingspub aufsuchte und dort jedes Mal ‚zufällig’ auf Herrn White und seine Gattin stieß. Obwohl die beiden Freunde und deren Ehefrauen jeden Samstag in angeregte Gespräche verstrickt waren, kam es über Jahre hinweg niemals zu einer gezielten Verabredung zwischen den beiden Paaren. Im Interview äußerten sowohl Frau als auch Herr Thompson, dass sie diese Gespräche einfach als Konsequenz dessen auffassten, dass zwei Paare zufällig gemeinsam zur selben Zeit dieselbe Kneipe besuchten. Insbesondere die beiden Ehefrauen betrachteten die zwischen ihnen bestehende Beziehung recht sachlich: „’We were never really friends. We were just with our husbands’“ (Allan 1979: 77). Das sich wöchentlich wiederholende gemeinsame Wiedersehen des Quartetts endete schlagartig, als das Ehepaar Thompson eine neue Bleibe nur vier Meilen entfernt vom alten Wohnort bezog. Mit der vormals durch räumliche Nähe gestifteten und nun aufgelösten Verbindung zum Pub ‚um die Ecke’ kam auch die Beziehung zwischen den beiden Ehepaaren zum Erliegen. Herr Thompson und Herr White, die über eine Periode von über fünf Dekaden gemeinsam einen großen Teil ihrer Freizeit miteinander verbracht hatten, sahen sich fortan nur noch dann, wenn Herr Thompson zwecks Gemüseeinkaufs zu Herrn White fuhr (wobei diese Besuche länger andauerten als es bei üblichen Verkäufen der Fall
3.6 Die Focustheorie
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war). Zu vermuten ist, dass das Erliegen der Beziehung zwischen den beiden angesprochenen Männern auf ihren mangelnden Willen (oder ihre mangelnden Fähigkeiten) zurückführen ist, die Beziehung auch losgelöst von ihrem Herkunftsort, dem ‚Pub’ um die Ecke, weiterzuführen. Da stets die unterhaltsame aber unverbindliche Kopräsenz (‚hanging out together’ in der Jugend, der Besuch des Pubs im mittleren Alter) und nicht etwa die Pflege der Beziehung selbst im Vordergrund ihrer Begegnungen standen, scheute sich der Interviewpartner (Herr Thompson) offenbar davor, von einer ‚wirklichen’ oder ‚richtigen’ Freundschaft zu sprechen. Festzuhalten bleibt, dass die idealtypische informelle Interaktion zweier Mittelschichtangehöriger also eher als Produkt einer gezielten Verabredung zu betrachten ist, während eine solche Interaktion unter Arbeitern eher ungeplant zu geschehen scheint (vgl. Hollstein 2001: 157).
3.6 Die Focustheorie Die meisten persönlichen Beziehungen entwickeln sich zwischen Individuen, die wiederholt miteinander interagieren. Doch warum ist das Zustandekommen einer vertrauensvollen persönlichen Beziehung zwischen den Mitgliedern eines Sportvereins wahrscheinlicher als etwa zwischen Nachbarn, die Tür an Tür wohnen und sich mehrmals pro Woche begegnen? Die Antwort der Focustheorie von Scott Feld (1981) erscheint zunächst verblüffend einfach: weil die Teilnehmer eines Mannschaftssports zwingend gemeinsam handeln müssen, um ihr jeweiliges Ziel (in diesem Fall: ein gutes Spiel bzw. sportlichen Erfolg) zu erreichen. Der Begriff des ‚Focus’ wird von Feld wie folgt definiert: A focus is defined as a social, psychological, legal, or physical entity around which joint activities are organized (…). As a consequence of interaction associated with their joint activities, individuals whose activities are organized around the same focus will tend to become interpersonally tied and form a cluster. (Feld 1981: 1016)
Mit seiner Focustheorie schließt Feld auch an Simmel (1908) an, der sich ebenfalls für die Zusammensetzung menschlicher Beziehungsgefüge interessiert hat. Laut Simmel sind im Zuge der sozialen Arbeitsteilung mehr und mehr Individuen aus relativ eng umfassten und geschlossenen sozialen Entitäten (wie etwa die traditionelle Großfamilie) herausgerissen worden. Zeitgleich zur Abschwächung primordialer Beziehungsstrukturen habe dann eine zunehmende Konfrontation mit immer unterschiedlicheren Personenkreisen eingesetzt. Dabei kommt es verstärkt zur ‚Kreuzung sozialer Kreise’. Die Individualität der Individuen leitet
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sich in dieser Lesart durch die Anzahl der sozialen Kreise ab, in denen sie verkehren. Feld versucht, die Wirksamkeit von gegebenen Foci vor allem anhand von quantitativen Kriterien wie Gruppengröße oder -dichte vorherzusagen. Hier schließt Feld vermutlich an die theoretischen Überlegungen von Fischer (1975) und Blau (1977) an, die davon ausgehen, dass „Gruppen mit einer höheren Konzentration am Wohnort auch eine stärkere interne Verdichtung aufweisen“ (Fuhse 2008: 81). Die Focustheorie impliziert zwar, dass die Chance der Entstehung einer persönlichen Beziehung steigt, wenn die Personen in gemeinsame Aktivitäten eingebunden sind. Der genaue soziale Mechanismus, der dabei zur Wirkung kommt, bleibt theoretisch jedoch im Unklaren. Ebenso bleibt im Vagen, nach welchen Kriterien sich der Zugang zu den Foci richtet und ob die Zugänglichkeit zu einem Focus entscheidend im Hinblick auf dessen Wirksamkeit als Katalysator für die Genese von interpersonalen Beziehungen ist (zu dieser Kritik an der Focustheorie siehe auch Wolf 1996: 80). Als hilfreich erweist sich in diesem Zusammenhang eine Weiterentwicklung der Focustheorie. So unterscheidet Hirschle (2007) in seiner Arbeit über die Gelegenheitsstrukturen romantischer Paarbeziehungen zwischen offenen und geschlossenen Foci. Offene Foci wie Bars, Diskotheken, Spielplätze etc. sind im Gegensatz zu den geschlossenen Foci dadurch charakterisiert, dass die Aktivitäten, die in ihrem Rahmen stattfinden, nicht dem Erreichen eines festgelegten, gemeinsamen Ziels dienen (abgesehen davon dass es keine Barrieren gibt, um Zugang zu ihnen erlangen). Aus austauschtheoretischer Perspektive (siehe Kapitel 3.8) ist daher anzunehmen, dass geschlossene Foci wirkungsmächtigere Foci für die Entstehung persönlicher Beziehungen darstellen. Die theoretische Konzeption von Hirschle scheint instruktiv für die weitere Analyse schichtspezifischer Gesellungsformen zu sein. Bedeutsam aus ungleichheitssoziologischer Perspektive erscheint jedenfalls sein Befund, dass offene Foci im Alltag der Mitglieder unterer sozialer Schichten eine dominantere Rolle einzunehmen scheinen als in den Reihen der Angehörigen höherer Schichten. So lässt sich den von Hirschle herangezogenen Daten der ‚Zeitbudgetstudie’, die das Statistische Bundesamt in den Jahren 2001 und 2002 durchgeführt hat, entnehmen, dass zumindest in jüngeren Jahren (20 bis 30) die Befragten mit einem niedrigen Bildungsabschluss (Hauptschulabschluss) deutlich mehr Zeit für das wöchentliche Ausgehen mit Freundinnen und Freunden im Kontext offener Foci wie Cafés, Kneipen, Discos investieren als die gleichaltrigen Probanden mit Abitur (nach Hirschle 2007: 79). Eine mögliche alternative theoretische Perspektive auf diese sozial differenzierten Muster der alltäglichen Lebensführung, worunter ja auch die Art und Weise der Freizeitgestaltung fällt, bietet Bourdieu an. In dieser Lesart ließen sich die ungleichen sozialen Prakti-
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ken als spezifische Distinktionspraktiken betrachten, mit Hilfe derer sich die sozialen Schichten – ganz gleich ob bewusst oder unbewusst – voneinander abgrenzen: 25 [D]as Beziehungsnetz ist das Produkt individueller oder kollektiver Investitionsstrategien, die bewusst oder unbewusst auf die Schaffung und die Haltung von Sozialbeziehungen gerichtet sind, die früher oder später einen unmittelbaren Nutzen versprechen. Dabei werden Zufallsbeziehungen, z. B. in der Nachbarschaft, bei der Arbeit oder sogar unter Verwandten, in besonders auserwählte und notwendige Beziehungen umgewandelt, die dauerhafte Verpflichtungen nach sich ziehen. Diese Verpflichtungen können auf subjektiven Gefühlen (Anerkennung, Respekt, Freundschaft usw.) oder institutionellen Garantien (Rechtsansprüchen) beruhen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass bestimmte soziale Institutionen, die einen zum Verwandten (Bruder, Schwester, Cousin), zum Adligen, zum Erben, zum Ältesten usw. stempeln, eine symbolische Wirklichkeit schaffen, die den Zauber des Geweihten in sich trägt. Diese weihevolle Atmosphäre wird durch ständigen Austausch (von Worten, Geschenken, Frauen usw.) reproduziert. Gegenseitiges Kennen und Anerkennen ist zugleich Voraussetzung und Ergebnis dieses Austauschs. Der Austausch macht die ausgetauschten Dinge zu Zeichen der Anerkennung. Mit der gegenseitigen Anerkennung und der damit implizierten Anerkennung der Gruppenzugehörigkeit wird so die Gruppe reproduziert; gleichzeitig werden ihre Grenzen bestätigt, d.h. die Grenzen, jenseits derer die für die Gruppe konstitutiven Austauschbeziehungen (Handel, Kommensalität, Heirat) nicht stattfinden können. (Bourdieu 1983: 192)
Die Wurzeln der Teilhabe an Angeboten außerhalb von schulischen Lehrplänen und beruflichen Erfordernissen werden auf Seite der bildungsaffinen Schichten offenbar bereits in der Kindheit gelegt. Vincent und Ball (2007) zeigen in einer qualitativen Studie, dass die Eltern der Mittelschicht ihren Kindern sehr früh darin bestärken, an „’enrichment’ activities, extra-curricular sports and creative classes“ (ebd.: 1062) teilzunehmen. Dieser Befund spricht für Bourdieus These der Verinnerlichung kollektiver Dispositionen. Für die Angehörigen der Mittelund Oberschicht gehört es demnach schlicht und ergreifend zum Alltag dazu, neben dem Beruf und der Schule noch anderen sportlichen, kulturellen oder politischen Aktivitäten nachzugehen. Die einer quantitativen Studie entnommenen Befunde von Argyle (1994: 77) unterstützen diese Annahme weitgehend.
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Vereine bzw. Organisationen wie der ‚Lions Club’, die ‚Freimaurer’ oder der ‚Rotary Club’ deuten darauf hin, dass bestimmte soziale Gruppen durchaus bewusst Distinktionpraktiken ausüben und auf eine Institutionalisierung ihrer Praktik der exklusiven Auslese von privilegierten Mitgliedern drängen.
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
3.7 Die Affekttheorie des sozialen Austauschs Auch die Affekttheorie des sozialen Austauschs (Lawler 2001) betrachtet wiederholte gemeinsame Aktivitäten als wichtige Grundvoraussetzung für die Entstehung von Beziehungen, welche sich durch ein spezifisches commitment der Beteiligten auszeichnen.26 Diese Theorie geht zunächst auf die klassischen Überlegungen der Austauschtheorie (Homans 1950; Blau 1977) zurück. „Das Konzept des Austausches zielt auf freiwillige soziale Handlungen ab, die von belohnenden Reaktionen anderer abhängig sind und die eingestellt werden, wenn die erwarteten Reaktionen nicht eintreffen.“ (Blau 2005: 129). Die soziologische Untersuchung der Entstehung von Freundschaften scheint demnach prädestiniert zur Erprobung der Austauschtheorie zu sein.Während wiederholte gemeinsame Aktivitäten, wie eingangs gesagt, einen wichtigen Baustein im Entstehungsprozess von persönlichen Beziehungen verkörpern, wird das Fundament persönlicher Bindungen Lawler zufolge jedoch durch Emotionen gebildet, die ihrerseits durch das gemeinsame Verfolgen gemeinsamer Ziele heraufbeschwört werden. Emotionen sind demnach entscheidend dafür, aus wiederholten gemeinsamen Aktivitäten tiefer gehende vertrauensvolle Beziehungen entstehen zu lassen.27 Entscheidend für das Verständnis des Effekts bestimmter gemeinsamer Aktivitäten auf die Entstehungschancen persönlicher Beziehungen ist demnach die theoretische Prämisse, zwischen emotions einerseits und sentiments andererseits zu unterscheiden (Lawler greift hier auf die Arbeit von Weiner 1986 zurück). Emotionen (emotions) erscheinen in dieser Lesart als diffuse, also ganzheitliche (globale) Gefühle, die sich auf einem Positiv-Negativ-Kontinuum verorten lassen. Sentiments sind dagegen Gefühlszustände, die sich auf ganz spezifische soziale Objekte (Aktivität, Ego, Alter, soziale Einheit) beziehen (‚Objektivierungen’ im Sinne von Berger und Luckmann 2004). Was geschieht nun im Rahmen gemeinsam ausgeübter Aktivitäten? Sozialer Austausch, bzw. das kon-
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Turner und Stets (2005: 186) definieren den Begriff des commitment in Anschluss an Cook folgendermaßen: „Commitment can be said to exist when actors choose their current exchange partners over potential alternatives and, in the situation of very high or extreme commitment, remain with partners who give them less valued or fewer ressources than potential alternative partners.“ Auch Häußling (2008: 69) verweist – in Anschluss an Simmel (1995: 41-118) – darauf, dass Emotionen notwendig für die Entstehung von auf Vertrauen und Treue basierenden Beziehungen seien: „Es dürfte nicht übertrieben sein, zu postulieren, dass Beziehungen tot wären, wenn sie nicht emotional unterfüttert wären. Emotionen bilden den Kitt, der aus Abhängigkeiten soziale Beziehungen im engeren Sinn, oder aus Zufallsbegegnungen folgenreiche Bindungen und soziale Netzwerke macht. Dieser Kitt schlägt sich seinerseits in Geschichten über diese Beziehungen, Bindungen und Netzwerke nieder, sodass dann beispielsweise nuancenreich zwischen engen und lockeren Freundschaften unterschieden werden kann.“ [Herv. im Original]
3.7 Die Affekttheorie des sozialen Austauschs
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krete Beziehungshandeln, ruft Emotionen auf Seiten der Beteiligten hervor, führt also entweder zum Erleben diffuser positiver oder diffuser negativer Gefühle. Da die Individuen stets versuchen, Herr ihrer Gefühle zu werden, hinterfragen sie kognitiv die erlebten Gefühle und attribuieren sie den dafür in Frage kommenden sozialen Objekten: I argue that – because global emotions are valued, self-reinforcing (or selfpunishing) stimuli, yet not controlled by those who feel them – actors attempt to understand and control underlying situational conditions or causes. (Lawler 2001: 332)
Mit anderen Worten: Die diffusen Gefühle werden ursächlich bestimmten sozialen Objekten zugeschrieben, emotions lösen sich in diesem Fall in spezifischere sentiments auf. Geht es nun um die Bewertung des Ergebnisses der gemeinsamen Aktivitäten, so ist aus austauschtheoretischer Perspektive der Grad der Gemeinsamkeit der gemeinsam ausgeübten Tätigkeit entscheidend: Kann Ego den Erfolg bzw. Misserfolg der Aktivität auf sich selbst zurückführen oder nur auf die Dyade bzw. Gruppe? Im Falle einer gemeinsamen Aktivität findet also eine (gegenseitige) Evaluation der durch den betreffenden Focus zusammengeführten Individuen statt. Misserfolge ziehen dabei negative Emotionen auf Seiten der Beteiligten nach sich, während Erfolge positive Emotionen auslösen. Die bei gemeinsamen Aktivitäten erlebten Emotionen werden von den Beteiligten kognitiv als sentiments übersetzt und den relevanten sozialen Objekten zugeschrieben. Ganz im Sinne der klassischen Austauschtheorie neigen die Individuen der Affekttheorie zufolge dazu, positive globale Emotionen zu erleben und negative Emotionen zu vermeiden (Turner und Stets 2005: 213). Austauschbeziehungen, die positive Emotionen ausgelöst haben, werden von Ego und Alter dementsprechend bevorzugt. Die Austauschtheorie liefert mithin einen Beitrag zur Klärung der Frage, unter welchen Bedingungen aus (wiederholten) Interaktionen ein gewisser Grad von commitment an die Dyade selbst erwächst. In klassischen Varianten der Austauschtheorie (z.B. Cook und Emerson 1979) wird argumentiert, dass häufiger Kontakt zwischen zwei Akteuren zu einem Abbau von Unsicherheit führt und auf diese Weise das commitment in diese Beziehung gestärkt wird. Indem sie also zusätzlich das affektive Moment des sozialen Austauschs berücksichtigen, gehen Lawler und dessen Kollegen mit ihrer Affekttheorie noch einen Schritt weiter: The emotions make the dyadic relation, and in particular, its unifying impact moresalient and more real to the actors; this salience and reality is conceptualized as ‘relational cohesion’, and the prediction is that it leads to commitment behavior of various forms. (Lawler und Yoon 1996: 103)
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
Eine wichtige Vorraussetzung der Herausbildung von hoher dyadischer relational cohesion28 – gemeint sind enge und vertrauensvolle Sozialbeziehungen –ist allerdings, dass es unter den Beteiligten möglichst kein Hierarchiegefälle gibt, es also nicht zur Ausübung von Macht zwischen Ego und Alter kommt: „Our theory and research suggest that greater cohesion and commitment will develop among equal-power peripheral actors and that this will limit the power of the central actors“ (Lawler und Yoon 1998: 892; siehe auch Lawler und Yoon 1993).29 Die Affekttheorie des sozialen Austauschs liefert zugleich eine theoretische Erklärung für den unterschiedlichen Wirkungsgrad bestimmter Foci im Feld’schen Sinne (vgl. Kapitel 3.6). So berücksichtigt Lawler vier verschiedene Typen des sozialen Austauschs, und zwar 1.) produktiven Austausch (productive exchange), 2.) verhandlungsbasierten Austausch (negotiated exchange), 3.) reziproken Austausch (reciprocal exchange) und 4.) indirekten Austausch bzw. generalisierten Austausch (generalized exchange).30 Die stärksten Emotionen ruft Lawler zufolge produktiver Austausch hervor, während generalisierter Austausch die geringste emotionale Anteilnahme bei den Beteiligten hinterlässt. Auf Basis ihrer Experimente kommen Lawler und Yoon (1993; 1996; 1998) zu dem Schluss, dass die spezifische Struktur des produktiven Austauschs gegenüber den anderen möglichen Austauschstrukturen (verhandlungsbasiert, reziprok, indirekt) die günstigsten Voraussetzungen für die Entstehung positiver Emotionen schafft:
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Leider ist Lawler und Yoons Terminologie etwas ambivalent. So scheinen sie für ein und denselben Sachverhalt (Grad der Stärke persönlicher Beziehungen bzw. strong ties) einmal den Begriff der relational cohesion, ein anderes Mal den Begriff der solidarity (z.B. Lawler 2001: 329) zu verwenden. Durch Experimente untermauert kommt Lawler (2001: 337) mit Blick auf verhandlungsbasiertem sozialen Austausch zu dem Schluss, dass Machtgefälle zwischen den Beteiligten einer Dyade dafür sorgen, dass es unter Bedingungen des Misserfolgs eines Austauschs zu gegenseitigen Anschuldigungen kommt. Statusunterschiede können demnach als wenig förderlich für das Entstehen persönlicher Beziehungen betrachtet werden. Zu einer Kritik am Lawler’schen Machtbegriff vgl. Münch (2004: 170). Turner und Stets (2005: 208) fassen die vier Typen des sozialen Austauschs folgendermaßen zusammen: „A productive exchange involves coordinating activities as well as pooling and exchanging resources to produce a joint good or outcome. A negotiated exchange is direct active bargaining over payoffs between two or more actors and arriving at an agreement on the terms of exchange. A reciprocal exchange is a sequential giving of resources without explicit guarantees that the favor will be returned. A generalized exchange is giving resources to one member of a network (who, in turn, gives them to other members, and so on) and receiving resources from others with whom one has not engaged in direct exchange.”
3.7 Die Affekttheorie des sozialen Austauschs
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Productive Exchange entails higher degrees of interdependence than other forms of exchange, an incentive structure that not only favors co-operation and exchange, but also produces coordination problems that make exchange problematic. (…) It is the most group-oriented form of exchange and likely to have the strongest/ emotional affective consequences for cohesion and solidarity (…) Productive exchange tasks have the greatest degree of nonseparability, produce the greatest degree of shared responsibility, and generate the strongest feelings of pleasantness in the case of success at exchange, and unpleasantness in the case of failure. Other exchange structures undercut these effects due to countervailing negative feelings or a smaller sense of shared responsibility. (Lawler 2001: 336)
Tabelle 1 fasst die wichtigsten Effekte der vier unterschiedlichen Typen des sozialen Austauschs zusammen.31 Tabelle 1: Vergleich der Effekte unterschiedlicher Austauschstrukturen (nach Lawler 2001: 340) Austauschstruktur
produktiv
Nicht-Trennbarkeit (in Wahrnehmung der Bezug auf die Zure- geteilten Verantworchenbarkeit zu einzeltung nen Personen)
Grad des Erlebens globaler Emotionen
hoch
hoch
hoch
verhandlungsbasiert
mittel
hoch
mittel bis hoch
reziprok
gering
mittel bis hoch
mittel
indirekt
gering
gering
gering
Herausragend im Hinblick auf die Entstehung von dyadischen Beziehungen sowie Gruppenbeziehungen mit einer hohen relational cohesion ist also die
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Zum Paradoxon der im Vergleich zum verhandlungsbasiertem Austausch geringeren Emotionalität auf Seiten des reziproken Austauschs siehe Lawler (2001: 338). Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Annahme, dass „[c]ohesion and solidarity should be more impersonal in negotiated exchange and more personal in reciprocal exchange“ (ebd.: 341). Bleibt man ausschließlich auf der Ebene dyadischer Beziehungen, so erscheint reziproker Austausch gegenüber verhandlunsbasiertem Austausch also als nachhaltiger im Hinblick auf die Entstehung positiver Emotionen, welche dann begünstigend auf die Entstehungswahrscheinlichkeit engerer persönlicher Beziehungen wirken. Demgegenüber trägt verhandlungsbasierter Austausch scheinbar stärker zur Entfaltung von Affekten gegenüber kollektiven sozialen Akteuren bei: „My contention is that negotiated exchange is more likely to create a sense of something larger, beyond the dyadic exchange, than is reciprocal exchange“ (ebd.).
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
Bedeutung von produktivem Austausch. Als Begründung hierfür fügt Lawler unter anderem den hohen Grad der wahrgenommenen geteilten Verantwortung für die innerhalb dieser Austauschbeziehungen erzeugten kollektiven Güter an: Ego ist nicht in der Lage, den Erfolg der gemeinsamen Unternehmung an seinem eigenen Können festzumachen und attribuiert diesen Erfolg daher den teilnehmenden Alteri. Die im Rahmen des Austauschs freigesetzten positiven Emotionen werden gleichfalls den Alteri zugeschrieben, woraus sich für Ego mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit der Wunsch ergibt, in Zukunft erneut in eine Austauschbeziehung zu genau diesen Alteri zu treten. Produktiver Austausch kann Lawler zufolge ganz unterschiedliche Formen annehmen: Productive exchange is a ‚conjunctive’ task, that is, one with a single socially produced event or good that occurs only if members perform certain behaviours. (…) The potential for productive exchange exists when cooperation provides actors the greatest individual benefits and the main issue is coordination. The prototype is partnership in which two or more actors bring something specific to a collective endeavour and the whole of what they produce is greater than the sum of the parts. Examples of this type of partnership include a nuclear family eating a meal together, three universities combining resources to initiate a new education program that none can launch alone or in conjunction with just one, three scholars coauthorising a paper, and several neighbors organizing a night watch in response to a series of burglaries in the area. (Lawler 2001: 336)
Inwiefern kann die Affekttheorie des sozialen Austauschs nun dazu beitragen, soziale Unterschiede im Hinblick auf die Strukturierung von persönlichen Beziehungsgefügen zu erklären? Meines Erachtens ergeben sich vor allem mit Blick auf die Opportunitätstrukturen enger persönlicher Beziehungen Gelegenheiten zur Anwendung. Lawlers Affekttheorie des sozialen Austauschs erscheint prädestiniert dazu, ‚wirksamere’ von ‚unwirksameren’ Foci zu unterscheiden. In welchem sozialen Kontext wird produktiver Austausch besonders gefördert? Unter welchen Voraussetzungen treffen Individuen in flachen Hierarchien zusammen? Es sind diese Fragen, die sich aus einer ungleichheitssoziologischen Perspektive beantworten lassen, welche den Anspruch hat, Hypothesen mit geeigneten Daten und statistischen Methoden überprüfen zu wollen. Konkret werde ich im Folgenden verschiedene Foci identifizieren, in denen günstige Voraussetzungen für produktiven sozialen Austausch unter Bedingungen der Statusgleichheit vorliegen.32 Für die Bedeutung der Affekttheorie des sozialen
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Die eigentlich auf dem Level von Netzwerkbeziehungen operierende Affekttheorie des sozialen Austauschs impliziert, dass eine ausschließlich auf dem Level von Dyaden angesiedelte
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Austauschs spricht beispielsweise eine empirische Studie von Flap und Kalmijn (2001), wonach Paarbeziehungen vor allem in Vereinen, Schulen und am Arbeitsplatz entstehen, mithin im Rahmen von Foci, in denen ein überdurchschnittlich hohes Maß an produktiven Austauschbeziehungen zu vermuten ist. Als weniger wichtige Entstehungszusammenhänge identifizierten die beiden Autoren hingegen Nachbarschaft und transitive Kontakte – eine Beobachtung, die sich ebenfalls mit den Implikationen der Affekttheorie des sozialen Austauschs deckt. Auf Grundlage der vorangegangenen Argumentation lässt sich zunächst ableiten, dass den Angehörigen niedriger sozialer Schichten bereits systematisch eine wichtige Gelegenheit zur Kontaktaufnahme entzogen wird: Durch die zeitlich kürzere Einbettung im Bildungssystem, in dem die Individuen über viele Jahre in eine peer-group mit gemeinsamem Ziel (Erreichen des Abschlusses) unter Bedingungen der Statusgleichheit eingebettet sind, dürften sich gegenüber den höher Gebildeten weniger Gelegenheiten zur Initiierung persönlicher Beziehungen ergeben (vgl. Hirschle 2007: 57). Empirische Hinweise für diese Vermutung liefert eine komparative Studie von Böhnke (2008). Die Autorin untersucht darin die kontextspezifischen Risiken der sozialen Desintegration von in Armut lebenden Menschen und kommt mit Blick auf individuelle Faktoren zu dem Schluss, dass insbesondere Personen, die sich noch in einer Ausbildungsphase befinden, signifikant geringer vom Risiko der Desintegration betroffen sind als diejenigen Armen, die nicht mehr zur Schule gehen oder eine weiterführende Bildungseinrichtung besuchen. 33 Ausbildungsinstitutionen scheinen demnach relativ wirkungsmächtige Foci im Sinne von Feld zu sein. Dementsprechend kann ich davon ausgehen, dass mit zunehmender Bildung die Zahl von Egos Netzwerkmitgliedern steigt. Vor allem die Ebene der nichtverwandtschaftlichen Beziehungen dürfte von einem direkten Bildungseffekt gekennzeichnet sein, da die Verweildauer im Bildungssystem ja vor allem die Kontaktaufnahme zu nicht-verwandten Personen begünstigt. Mit Blick auf die Identifizierung zentraler Foci dürften berufliche Kontexte aus ungleichheitssoziologischer Perspektive dahingegen eine etwas geringere
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Perspektive auf ego-zentrierte Netzwerke zu kurz greift. Um den Entstehungsprozess von persönlichen Beziehungen in Gänze verstehen zu können, bedarf es des Wissens über die Einbettung dyadischer Beziehungen in übergreifende Gruppenbeziehungen – und dies auf formeller wie auch auf informeller Ebene. Der Grad der sozialen Desintegration wird in der Studie von Böhnke (2008) anhand eines multidimensionalen Index gemessen, welcher die Häufigkeit des Kontakts zu Freunden oder Nachbarn, die Frage nach dem vollständigen Fehlen von Unterstützungspersonen, den Grad der Unzufriedenheit mit Freunden und Verwandten sowie bestimmte Items zur Beurteilung der eigenen sozialen Desintegration berücksichtigt.
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
Rolle spielen. Zum einen, weil Beziehungen am Arbeitsplatz oft durch ungleiche Machtverhältnisse geprägt sind. Gleichzeitig zeichnet sich die Arbeitswelt auch durch einen gewissen Konkurrenzdruck aus. Statusunterschiede, Macht und Konkurrenz können in diesem Zusammenhang als kontraproduktiv für die Entstehung von Freundschaften betrachtet werden.34 Nichtsdestotrotz ist der Arbeitsplatz aber nicht selten ein wichtiger Kontext für die Entstehung von Beziehungen aller Art. Doch dürften den Überlegungen von Hirschle (2007: 56) zufolge die empirisch beobachtbaren Unterschiede zwischen den einzelnen beruflichen Sparten größer sein als zwischen den sozialen Schichten: „Festzuhalten bleibt, dass die Bedeutung des Berufs im Hinblick auf die Entstehung informeller (dekontextualisierter) Sozialbeziehungen kaum systematisch zu kategorisieren sein wird. So ergeben sich unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, je nachdem in welchem Sektor man beschäftigt ist, auf welcher Rangebene man sich befindet und welche spezifischen Tätigkeiten man verrichtet.“ (ebd.) Da dieser Aspekt mit dem mir zur Verfügung stehenden Datenmaterial leider nicht untersucht werden kann, verzichte ich auf eine berufsspezifische Analyse der Strukturierung persönlicher Netzwerke. Vor dem Hintergrund meiner Ausgangsfragestellung muss dagegen der aktiven Freizeitgestaltung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Diese soziale Dimension erscheint aus der Perspektive der Affekttheorie des sozialen Austauschs als besonders zentral im Hinblick auf die Entstehung enger und persönlicher Bindungen. Wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, basieren persönliche Beziehungen, insbesondere Freundschaften, zumeist auf ähnlichen Wertemustern und konvergierenden Interessen. Vereine, Parteien und religiöse Gemeinschaften bieten diesbezüglich besonders geeignete Plattformen des sozialen Austauschs. Wie McPherson und Smith-Lovin (1987) gezeigt haben, neigen Mitglieder eines Vereines zu einer überdurchschnittlich hohen Ähnlichkeit in Bezug auf die Merkmale Bildung, beruflicher Status, Alter und Geschlecht. Damit kann das in Kapitel 3.2 diskutierte Prinzip der Homophilie in Vereinen als gewährleistet gelten. Vereine führen aber nicht nur einander ähnliche Menschen mit gleichen Interessen, Hobbies und Bedürfnissen zueinander, sondern sie produzieren weitaus mehr: indem in vielen dieser sozialen Einrichtungen das gemeinschaftliche Handeln in den Vordergrund gestellt wird, verwickeln sie die Beteiligten in wiederholte Abfolgen des Paar- und Gruppenhandelns. Im Rahmen dieser Aktivitäten werden kollektive Güter produziert, welche auf der bereits erwähnten jointness of activity-Skala typischerweise eine hohe Punktzahl erreichen. Gängige Beispiele hierfür sind sportlicher Erfolg der Mannschaft im
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Die Entstehung von Lieb- und Partnerschaften am Arbeitsplatz scheint dagegen durch ungleiche Machtverhältnisse nicht ganz so gefährdet zu sein wie die von Freundschaften.
3.7 Die Affekttheorie des sozialen Austauschs
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Mannschaftssport, der Gewinn der Wahlen bei politischen Parteien und die Organisation von Events im Rahmen kirchlicher Interessensgruppen. Aus austauschtheoretischer Sicht bieten sich in diesen Zusammenhängen also hervorragende Opportunitäten der Freundschaft, insbesondere, weil die Hierarchien im ‚dritten Sektor’ in der Regel eher flach sind. Erst die Affekttheorie Lawlers mit ihrem Verweis auf die Bedeutung von Emotionen in Austauschbeziehungen ist also in der Lage, den speziellen sozialen Mechanismus zu benennen, der aus den einander ähnlichen Individuen in Vereinen tatsächlich miteinander befreundete Menschen macht. Verschiedene empirische Befunde weisen daraufhin, dass die Teilhabe an Angeboten des dritten Sektors positiv mit dem Bildungsgrad und dem beruflichen Status zusammenhängt. Eine Längsschnittstudie (Li et al. 2003) mit Fokus auf England und Wales im Zeitraum von 1972 bis 1999 kommt zu dem Schluss, dass die Angehörigen der Arbeiterklasse und die niedrig Gebildeten in besonderer Weise zu den Verlierern der so genannten Zivilgesellschaft gezählt werden müssen. Zum einen sind sie sowieso in einer geringeren Zahl von Clubs und Vereinen als Mitglieder aufgeführt. Zum anderen zeigen die Ergebnisse, dass die Kluft zwischen ihnen und den Mitglieder der Dienstklasse sowie den höher Gebildeten im Zeitverlauf wächst. Auch Putnam (2000) kommt in seiner Studie zum Aufstieg und Fall der US-amerikanischen Zivilgesellschaft (Bowling Alone) zu dem anhand von empirischem Material gewonnenem Ergebnis, dass ehrenamtliche Engagements und die aktive Teilnahme an sportlichen Aktivitäten eher eine Angelegenheit der höher Gebildeten zu sein scheinen. Drastisch erscheint dabei Putnams Annahme, dass der von ihm vorgefundene Niedergang zivilgesellschaftlicher Aktivitäten auf Seite der US-Bürger noch schneller fortgeschritten und noch intensiver ausgefallen wäre, wenn zeitgleich nicht eine Bildungsexpansion die US-amerikanische Gesellschaft insgesamt auf eine höhere Bildungsstufe gehoben hätte. Wie erklärt sich die scheinbar sozial ungleiche Teilhabe an aktiven Freizeitangeboten? Savage (2000) vermutet, dass hinter dieser Entwicklung die zunehmende Auflösung einer spezifischen working class-Identität steht, die sich in der Vergangenheit in der Zugehörigkeit zu Gewerkschaften und so genannten working men’s clubs ausdrückte. Insbesondere diese Angebote haben hinsichtlich ihres Zuspruchs im Zeitverlauf jedoch besonders gelitten, wie die Befunde von Li et al. (2003) verdeutlichen. Mit Blick auf Deutschland ist dagegen festzuhalten, dass zum Beispiel die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in der Zeit des Dritten Reiches ihre Kultur- und Sportvereine verlor. Die überwiegende Mehrheit dieser Assoziationen wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht wiedergegründet (Rössel 2005: 278).
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
Zeitbudgetstudien kommen darüber hinaus zum Ergebnis, dass Arbeiter zwar potenziell über genug freie Zeit verfügen dürften, um an sozialen Aktivitäten außerhalb des Dienstplans teilzunehmen.35 Demgegenüber steht der Befund, dass höhere Schulbildung die Chance auf einen Arbeitstag zu gewöhnlicher Zeit deutlich erhöht (Merz und Burgert 2004). Ein solcher gewöhnlicher Arbeitstag, der morgens zwischen 8 Uhr und 10 Uhr beginnt und abends zwischen 17 Uhr und 19 Uhr endet, ist jedoch notwendig, um überhaupt an der Mehrzahl der Angebote des dritten Sektors teilnehmen zu können. Der unter Arbeitern übliche Schichtdienst dürfte daher eine regelmäßige Teilnahme an den häufig in den Abendstunden angesiedelten Angeboten von Vereinen, Parteien und Clubs oft gar nicht erst zulassen. Zugleich dürfte der unregelmäßige Schichtdienst die Kontaktaufnahme zu befreundeten Kollegen in der Freizeit erschweren, da diese ja häufig in andere Schichten eingeteilt werden. 3.7.1 Zwischenresümee: Zur Leistungsfähigkeit der bisher vorgestellten Theorieansätze Das der Allan’schen Studie entnommene, extreme Beispiel einer Arbeiterbekanntschaft (vgl. Kapitel 3.5) eignet sich gut dazu, die bereits diskutierten theoretischen Erklärungsstränge an ihm zu erproben. Begreift man den im Beispiel angesprochenen Pub zunächst als Focus im Sinne Felds, der die beiden Männer in regelmäßigen Abständen zusammenführt, so ließe sich prognostizieren, dass die Wahrscheinlichkeit des Entstehens einer engeren persönlichen Beziehung (Freundschaft) umso größer wird, je häufiger sich die beiden in ihrem Lieblingspub begegnen. Die Focustheorie erweist sich mit Blick auf die realen Tatbestände also als wenig hilfreich, da sich ja trotz der wiederholten Interaktion keine Beziehung zwischen den beiden Männern entwickelt. Problematisch an Felds Focustheorie ist, dass sie keine Aussage darüber erlaubt, warum der Focus ‚Pub’ weniger wirksam ist als andere Foci. Als nützlich erweist sich in diesem Zusammenhang Hirschles Unterscheidung zwischen offenen Foci und geschlossenen Foci. Je geschlossener, desto wirksamer ein Focus, so das Kernargument von Hirschle. Der Pub, als typisches Beispiel für einen offenen Focus, d.h. mit freiem Zugang und ohne Ausrichtung auf ein festgelegtes, gemeinsam zu erreichendes Ziel, erweist sich daher als vergleichsweise wenig wirkungsmächtig zur Herbeiführung einer Freundschaft. Hirschles modifizierte Focustheorie ist vor allem dann nützlich, wenn man beliebige soziale Kontexte auf einem PositivNegativ-Kontinuum bezüglich ihrer Eignung als ‚Beziehungskatalysatoren’ verorten will.
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Für den Hinweis auf die möglicherweise entscheidende Rolle von Zeitbudgets danke ich Nana Seidel.
3.8 Reziprozität und die Monopolisierung von Verwandtschaftsbeziehungen 69 Um zu verstehen, warum Herr White und Herr Thompson ihre Beziehung nicht als Freundschaft bezeichnen bzw. warum sich keine engere Beziehung zwischen ihnen entwickelt hat, die der Bezeichnung ‚Freundschaft’ gerecht wird, eignet sich meines Erachtens die Affekttheorie des sozialen Austauschs am besten.36 Im Kern behauptet die Theorie von Lawler (2001) ja, dass die Voraussetzungen für das Erleben gemeinsam geteilter Emotionen (als Basis persönlicher Beziehungen) insbesondere dann günstig sind, wenn die Form des sozialen Austauschs gewisse Koordinationsprobleme mit sich bringt (daher gilt die relativ schwierig zu bewerkstelligende Form des produktiven Austauschs auch als besonders förderlich für die Entstehung von Emotionen). Die stets zufällige Begegnung der beiden Interviewpartner in Allans Studie gilt aus austauschtheoretischer Perspektive daher geradezu als ‚kontraindiziert’ für die Chance der Entstehung positiver Emotionen. Ebenso wenig richtet sich das Beziehungshandeln der Beiden auf ein gemeinsam verfolgtes Ziel – ein Faktor, der Lawler und Yoon (1993) zufolge ebenfalls unproduktiv für die Genese persönlicher Beziehungen ist. Der Vorteil der Lawler’schen Perspektive ist, dass sein Erklärungsmodell in Anschluss an Popper (1966) als eine tatsächliche Theorie betrachtet werden kann – als ein System von aufeinander aufbauenden, prüfbaren Aussagen. Überdies scheint die Frage nach der Bereitschaft oder Nicht-Bereitschaft zur Dekontextualisierung interpersonaler Beziehungen dem gemeinsamen Erleben von Emotionen im Rahmen gemeinsam geteilter Aktivitäten zeitlich nachgelagert zu sein. Genauer gesagt: erst nachdem ein gewisses commitment an eine Beziehung erwachsen ist, so meine Vermutung, dürfte auch die Bereitschaft wachsen, Beziehungen von ihrem Entstehungskontext herausgelöst weiterzuführen und Verabredungen an anderen Orten als dem der Beziehungsherkunft zu treffen.
3.8 Reziprozität und die Monopolisierung von Verwandtschaftsbeziehungen Die soziologische Netzwerkforschung hat sich über die bloße Erhebung von Netzwerkstrukturen hinaus auch mit den Einstellungen und Wertvorstellungen befasst, die die untersuchten Probanden gegenüber dem Beziehungskomplex ‚Freundschaft, Verwandtschaft und Nachbarschaft’ aufweisen. Die mutmaßliche Monopolisierung verwandtschaftlicher Beziehungen seitens der unteren sozialen
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‚Freundschaft’ soll in diesem Zusammenhang bedeuten: eine Beziehung zwischen den beidenHerren, welche Platz für gemeinsame Verabredungen und Entwicklung eines größeren commitments an die Bindung selbst lässt.
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
Schichten mag in diesem Sinne auch als ein (Teil-)Ergebnis nach sozialer Schicht differenzierter Einstellungsmuster zu betrachten sein. In Bezug auf die beiden Beziehungstypen Freundschaft und – etwas überraschend – Nachbarschaft konnte beispielsweise Willmot (1987) schichtspezifische sprachliche Muster identifizieren. Die Angehörigen der unterschiedlichen sozialen Schichten meinen diesen Ergebnissen zufolge also nicht zwingend das gleiche, wenn sie über Freunde bzw. Nachbarn sprechen. So wurden die Befragten im Rahmen einer Studie von Willmott (1987: 84) gebeten, diejenige von fünf Aussagen auszuwählen, die ihrer Meinung nach am ehesten auf die Charaktereigenschaften einer platonischen Freundin oder eines platonischen Freundes zutreffe. Angehörige der Mittelschicht hoben hierbei insbesondere den geselligen Aspekt der Freundschaft hervor: Die meisten Nennungen (30 Prozent) entfielen in dieser Gruppe auf die Aussage: A friend is someone whose company you enjoy (Zum Vergleich: nur 6 Prozent der befragten Arbeitern stimmte dieser Aussage zu). Die befragten Personen der Arbeiterschicht schienen dagegen höheren Wert auf konkret-pragmatische Unterstützung zu legen. 36 Prozent der Arbeiter votierten für die Aussage A friend is someone you can always turn to help to (Mittelschichtangehörige: 23 Prozent).37 Es scheint kein Zufall zu sein, dass das schichtspezifische Antwortverhalten in den diskutierten Studien in gewisser Weise die alltäglichen Belange und Bedürfnisse der unterschiedlichen sozialen Schichten widerspiegelt. In dieser Lesart wäre „die Kontextgebundenheit der Arbeiterbeziehungen also (…) eine Konsequenz spezifischer Interessenlagen, die sich aus der Lebenslage und situation ergeben und die zu Verhaltensmodellen, routinisierten Verhaltensmustern und spezifischen Verhaltensnormen werden können: eben Elementen der ‚Arbeiterkultur’. Die geringere Ausrichtung der Arbeiter auf die ‚Person’ der
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Mit Blick auf nachbarschaftliche Kontakte zeigte sich in derselben Studie (Willmott 1987: 32) zunächst eine allgemeine Diskrepanz in Bezug auf das Antwortverhalten der Interviewpartner. Danach befragt, welche Personen die Probanden eigentlich unter der Bezeichnung ‚Nachbarn’ zusammenfassen, entgegnete knapp ein Drittel, nämlich 28 Prozent The people who live next door. 47 Prozent stimmten der Aussage The people who live in the nearest half a dozen houses zu, weitere 20 Prozent verteilten sich auf die Antwortmöglichkeit: The people who live in the same street (5 Prozent entfallen auf andere Nennungen). Überdies wiesen die Antwortmuster eindeutig einen schichtspezifischen Trend auf: „[M]iddle class people more often thought in terms of a geographically wider catchment area“ (Willmott 1987: 32). Eine offene Frage ist, inwiefern der aus soziologischer Perspektive oft attestierte Bedeutungsverlust der Nachbarschaft über die gesamte Breite der Gesellschaft erlebt wird. Vester et al. (2001: 99) beobachten aus milieutheoretischer Perspektive beispielsweise gegenwärtig eine verstärkte Aktivierung nachbarschaftlicher und gemeindlicher Netze im Kreis des „großen Arbeitnehmermilieus“. Andere soziale Milieus, wie beispielsweise das der ‚Aufsteiger’, seien dagegen durch eine größere Abkapselung aus nachbarschaftlichen Beziehungszusammenhängen gekennzeichnet.
3.8 Reziprozität und die Monopolisierung von Verwandtschaftsbeziehungen 71 Freunde erscheint dabei im Grunde als eine sich aus der Kontextgebundenheit der Beziehungen ergebende Nebenfolge.“ (Hollstein 2001: 159, unter Bezugnahme auf die Befunde Allans ). Mitglieder unterer sozialer Schichten sind beispielsweise oft nicht in der privilegierten Lage, für soziale Unterstützung bezahlen zu können. Personen mit höherer Bildung und höherem Einkommen sind dagegen eher fähig, einen eventuellen Mangel an Bezugspersonen im persönlichen Netzwerke durch den Rückgriff auf professionelle Helfer kompensieren zu können (z. B. Argyle 1994: 67). Dabei spielt es keine Rolle, ob es der geduldige Psychiater ist, der im Falle einer persönlichen Krise konsultiert werden könnte, oder ob es sich schlicht und ergreifend um einen Handwerker handelt, der die Renovierung der Wohnung übernimmt. Es steht also zu vermuten, dass die Mitglieder unterer sozialer Schichten stärker auf Beziehungspartner konzentriert sind, die ihnen in bestimmten Lebenssituationen hilfreiche Dienste gewähren oder ein offenes Ohr schenken können. In dieser Lesart erscheinen die persönlichen Beziehungen in den unteren sozialen Schichten also stärker von instrumentalistischen Motiven geprägt zu sein – was jedoch nicht bedeuten muss, dass diese Beziehungen nur aus diesen Gründen bestehen. Für die These der stärkeren Instrumentalisierung persönlicher Beziehungen in den Kreisen der unteren sozialen Schichten lassen sich, wie im Kapitel zuvor, Ansätze der klassischen soziologischen Austauschtheorie bemühen. Blau (2005) zufolge verhalten sich Akteure in interpersonalen Beziehungen in der Regel an einem balanciertem Reziprozitätsverhältnis interessiert. Mit dem Begriff der ‚Reziprozität' ist ein ausgeglichenes Verhältnis des Kreislaufs von Geben, Nehmen und Erwidern gemeint (vgl. Adloff und Mau 2005b; Stegbauer 2002). Gehen Individuen also eine persönliche Beziehung ein, so kann angenommen werden, dass Individuen dazu neigen, ein symmetrisches Verhältnis zwischen Geben und Nehmen zu erzielen. „Wenn man Vorteile aus einem Kontakt zieht, so ist man verpflichtet, sich zu revanchieren, und den anderen im Gegenzug Vorteile zu gewähren. Dabei werden nicht nur Freunden, sondern auch flüchtigen Bekannten oder gar Fremden Gefälligkeiten erwiesen und auf diese Weise soziale Verpflichtungen erzeugt. Wer der Abgeltung dieser Verpflichtungen nicht nachkommt und sich für die erwiesenen Vorteile nicht revanchiert, beraubt den anderen des Anreizes, die Freundlichkeiten ihm gegenüber fortzusetzen.“ (Blau 2005: 126). Im beruflichen Kontext und in der Geldwirtschaft gilt das Reziprozitätsprinzip dadurch erfüllt, dass auf erbrachte Leistung in der Regel mittelfristig oder unmittelbar eine finanzielle Gegenleistung erfolgt. Für eine bestimmte Leistung erhält ein Arbeitnehmer also einen fest vereinbarten Geldbetrag. Die Austauschenden können in der Regel darauf vertrauen, dass der festgelegte
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
Wechselkurs sich auch in der nächsten Woche noch in einem ähnlichen finanziellen Rahmen bewegen wird. Die Wertigkeit der ausgetauschten Leistungen ist dabei also ‚objektiv’ nachvollziehbar, so dass in diesem Zusammenhang von homeomorpher Äquivalenz (Gouldner 1960) der ausgetauschten Güter die Rede sein kann. In persönlichen Beziehungen ist der Wert der austauschten ‚Güter’ hingegen in der Regel nicht quantifizierbar oder direkt vergleichbar. Denn es liegt ja im subjektiven Ermessensspielraum, welchen Wert die Beziehungsmitglieder den ‚ausgetauschten’ Beziehungsinhalten zuschreiben. Daher spricht man bei persönlichen Beziehungen von der heteromorphen Form der Äquivalenz der ausgetauschten Güter (Gouldner 1960: 172). In der heteromorphen Form sind die wechselseitig ausgetauschten ‚benefits’ von verschiedener Art, aber sie sollten im Fall der Äquivalenz den gleichen Wert besitzen. Sofern sie nicht direkt und intersubjektiv in einen einheitlichen Maßstab wie Geld umrechenbar sind, kann dieser Wert im heteromorphen Fall nur von den jeweiligen Akteuren in der jeweiligen Austauschbeziehung subjektiv vereinbart werden. Vor allem in solchen Fällen existiert also ein gewisser Spielraum bei der Festlegung von Äquivalenz, der im Sinne von Normen, Angemessenheit- und Gerechtigkeitsvorstellungen ausgenutzt werden kann. Eine überindividuelle, ‚objektive’ und allgemein gültige Definition von Äquivalenz ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. (Diewald 1991: 118)
In Bezug auf die Reziprozitätsarrangements persönlicher Beziehungen ist es daher nützlich, eine Längsschnittperspektive einzunehmen. Denn die Mehrzahl der persönlichen Beziehungen – sowohl auf freundschaftlicher wie auf verwandtschaftlicher Ebene – scheint aus einer Querschnittsperspektive eher asymmetrisch zu sein: „Few ties resemble the link between Damon and Pythias – intense, comprehensive, and symmetric“ (Wellman 1988: 40; vgl. auch Boissevain 1974: 26). Erst aus einer dynamischen Betrachtungsweise heraus lässt sich die Reziprozitätstypologie von Diewald (1991) verstehen. So unterscheidet der Autor zwischen Formen der unmittelbaren, aufgeschobenen und generalisierten Reziprozität.38 Der Begriff der unmittelbaren Reziprozität lässt sich direkt aus der klassischen ökonomischen Tauschbeziehung herleiten. Alter gibt Ego eine bestimmte Ware, woraufhin Ego direkt einen festgelegten Geldbetrag an Alter zahlt. Mit aufgeschobener Reziprozität ist gemeint, dass einer der Beteiligten der sozialen
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Vgl. auch analog die vier Dimensionen des sozialen Austauschs (Lawler 2001): produktiver Austausch, verhandlungsbasierter Austausch, reziproker Austausch, indirekter (generalisierter) Austausch
3.8 Reziprozität und die Monopolisierung von Verwandtschaftsbeziehungen 73 Beziehung einen temporären Vertrauensvorschuss von der anderen Beziehungspartei erhält. Ein treffendes Beispiel hierfür bieten die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Während die Kinder in der Zeit ihres Heranwachsens und oftmals auch noch weit darüber hinaus in allen erdenklichen Situationen von ihren Eltern unterstützt werden, schlägt sich dieses Verhältnis im Zeitverlauf oft um. Am Lebensabend der Eltern sind es nun verstärkt die Kinder, die ihren Erzeugern zur Hand gehen und diese möglicherweise auch pflegen (vgl. Argyle und Henderson 1986: 277 f.). Die Norm der generalisierten Reziprozität besagt dagegen, auch denen zu helfen, die die Hilfe jetzt und auch in absehbarer Zukunft nicht werden erwidern können. „Wichtig ist dabei die Überzeugung aller, (1) dass sich das Geben und Nehmen im Leben insgesamt ausgleichen wird, (2) eine moralische Norm, die besagt, dass man anderen helfen sollte, damit man selbst in einer Notsituation Hilfe erhält, und (3) die Erfahrung, dass die generalisierte Reziprozität notwendig und verlässlich ist.“ (Diewald 1991: 54). Im Gegensatz zu den zeitlich gesehen zumeist flüchtigeren Formen der Freundschaft bieten Familienbande aufgrund der antizipierten Dauerhaftigkeit der Beziehung einen idealen Nährboden für Formen der aufgeschobenen und generalisierten Reziprozität. So können Individuen erwarten, dass in prekären Lebenslagen Beistand von irgendeinem Verwandten zu erwarten ist. Zugleich werden sie sich selber darauf einstellen (müssen), in eine Situation zu kommen, in der ein anderer Verwandter Unterstützung nötig hat. Dabei ist es weniger einer spezifischen Nächstenliebe geschuldet, dass Individuen Verwandten helfen. Vielmehr verspüren „Menschen (…) eine Art von Verpflichtung, Verwandten zu helfen“ (Argyle und Henderson 1986: 273). Selbst in Fällen zerstrittener Verwandtschaftsverhältnisse bietet die Aussicht, dass die Beziehung der jeweiligen Parteien ungeachtet des tatsächlichen Interaktionsniveaus bis zum Lebensende latent bestehen wird, günstige Voraussetzungen dafür, dass sich Animositäten im Zeitverlauf abmildern und durch eine freundlichere Atmosphäre abgelöst werden. Sogar wenn sich Verwandte untereinander noch gar nicht kennen gelernt haben, kann es zu Situationen kommen, in der die zuletzt einander noch fremden Familienmitglieder sich gegenseitig unterstützen – nicht zuletzt aufgrund (eines womöglich nur subjektiv empfundenen) normativen Drucks von außen. Freundschaften scheinen sich hingegen weniger für Formen der – sehr langfristig – aufgeschobenen Reziprozität oder gar generalisierten Reziprozität zu eignen. „Die Befunde sprechen dafür, dass in Freundschaften Transfers zwar aktuell nicht unbedingt bilanziert werden müssen (…), bei einer ‚Überziehung’ dieses Kontos auf Dauer die Beziehungsform aber an ihre Grenzen stößt. Diese Grenzen sind vermutlich vor allem der Freiwilligkeit dieser Bindung geschuldet.“ (Hollstein 2001: 135) Darüber hinaus ist auch in Rechnung zu stellen, dass
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3 Soziale Ungleichheit und persönliche Beziehungen
die Pflege einer Freundschaft unterschiedlichster Investitionen bedarf, wobei freie Zeit sowie Geld für Einladungen, Besuche, Ausgehen die wichtigsten Ressourcen sein dürften. Diese Investitionen gestalten sich für die Mitglieder unterer sozialer Schichten jedoch aufwändiger als für Angehörige der höheren Schichten, so dass unter Bedingungen relativer Deprivation mittelfristig nicht immer ein reziprokes Verhältnis zwischen Ego und Alter aufrechterhalten werden kann. Erinnert man sich in diesem Zusammenhang noch einmal an die Unendlichkeitsfiktion (Huinink 1995), welche verwandtschaftlichen Beziehungen anzuhaften scheint, so wird deutlich, warum die Familie in den Reihen der unteren sozialen Schichten eine vergleichsweise dominantere Rolle spielen dürfte. Das Empfangen der ‚Gabe’ (Mauss 2005) ohne darauf folgende Gegengabe kann aus austauschtheoretischer Perspektive nur dann zur Zufriedenheit der Beteiligten erfolgen, wenn klar ist, dass die Beziehung auf unbestimmte zeitliche Dauer gestellt ist. Erst dann kann ein Vertrauensverhältnis etabliert werden, in dem das Faktum der nicht unmittelbaren oder mittelfristigen Gegengabe dadurch kompensiert werden kann, dass die Balancierung der persönlichen Beziehung (im Sinne eines ausgeglichenen Reziprozitätsarrangements) auf ungewisse Zeit vertagt wird. Darüber hinaus führen strukturell dauerhaft ungleiche Tauschverhältnisse zu Verhältnissen der Über- und Unterordnung, „weil sie dem Leistungsgeber in einer sozialen Beziehung Macht und Autorität verleihen, während der Leistungsempfänger in eine Abhängigkeit gerät.“ (Adloff und Mau 2005a: 29) Wie in Kapitel 2.2 diskutiert, stellt Macht jedoch eine Gegenanzeige von Freundschaften dar. Daher ist zu vermuten, dass asymmetrische Freundschaftsbeziehungen relativ schnell zur Auflösung zu tendieren. Insgesamt ist also zu konstatieren, dass sich verwandtschaftliche Beziehungen gegenüber nicht-verwandtschaftlichen Beziehungen in Bezug auf ihre Fähigkeit zur Etablierung langfristig angelegter asymmetrischer Reziprozitätsarrangements als robuster erweisen. In diesem Licht erscheint es auch folgerichtig, dass die unteren sozialen Schichten verschiedenen Studien zufolge stärker von einem Solidaritätsgefühl gegenüber ihrer Verwandtschaft geprägt sind (z.B. Kalmijn 2006: 3). Die zu einem bestimmten Zeitpunkt Benachteiligten in asymmetrischen persönlichen Beziehungen, also die Leistungsgeber, können von verwandten Beziehungspartnern eher als von befreundeten Beziehungspartnern erwarten, in Zukunft verstärkt die Position des Leistungsempfängers einzunehmen (Diewald 1991).
3.8 Reziprozität und die Monopolisierung von Verwandtschaftsbeziehungen 75 Enttäuschungen in Bezug auf die Erwartung von Reziprozität führen im Falle von Verwandtschafts- und Paarbeziehungen seltener zum Kontaktabbruch. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass von einer Generalisierung des Aspekts der Freiwilligkeit in persönlichen Beziehungen abzusehen ist. Denn manchmal werden asymmetrische Beziehungen auch nur aufgrund des normativen Drucks von außen aufrechterhalten, wie es etwa die zuvor diskutierten Beispiele aus dem Bereich der häuslichen Pflege zeigen.
4 Soziologische Netzwerkanalyse
Da es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine empirische Arbeit handelt, stellt sich das Problem der Erhebung von persönlichen Beziehungen. Denn Beziehungen sowie deren Eigenschaften lassen sich nicht einfach ‚messen’. Besonders schwierig erscheint es deshalb, nicht nur einzelne Beziehungen sondern gleich ganze ‚Bündel’ von Beziehungen erheben und untersuchen zu wollen. Als adäquates Instrument hat sich in diesem Zusammenhang die soziologische Netzwerkanalyse erwiesen. Das Denken in Netzwerken stellt heute eine der der populärsten und am häufigsten angewandten Perspektiven auf interdependente Prozesse in verschiedensten Disziplinen wie etwa Ökonomie, Neurobiologie oder eben der Soziologie dar. Die Popularität des Konzepts lässt sich nicht zuletzt auf dessen „bemerkenswerte Schlichtheit“ (Keupp 1987) zurückführen. Ohne Beschränkung auf eine bestimmte Kategorie von interessierenden Akteuren (dies können im soziologischen Forschungsbereich neben Individuen auch Haushalte, soziale Bewegungen, Organisationen, Staaten oder sogar Maschinen bzw. Roboter sein)39 lässt sich ein Netzwerk in Anschluss an Castells (2004: 3) als ein „(…) set of interconnected nodes“ definieren. „A node is the point where the curve intersects itself. A network has no center, just nodes” (ebd.). Die kleinstmögliche Untersuchungseinheit einer Netzwerkanalyse ist dementsprechend eine Dyade: ein Netzwerk, dass aus nur zwei ‚Knoten’ besteht (Jansen 2006: 60). Mit Blick auf zwischenmenschliche Beziehungen handelt es sich bei einer Dyade dementsprechend um eine Beziehung zwischen zwei Personen. Einer der Vorzüge der soziologischen Netzwerkanalyse besteht in ihrem Vermögen, die Mikroebene individueller Akteure mit der Makro- bzw. Mesoebene gesellschaftlicher und institutioneller Strukturen verschränken zu können.
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Im recht neuen Forschungsgebiet der Actor-Network-Theory – zentriert um Bruno Latour (2005), Michel Callon (1986) und John Law (1992) – fallen sogar nichtmenschliche ‚Akteure’ wie Maschinen und Roboter in den Bereich potenziell zu erhebender Knoten von Netzwerken.
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4 Soziologische Netzwerkanalyse
In diesem Sinne lassen sich soziale Netzwerke gemeinsam mit Weyer (2000) als ‚Mikro-Makro-Scharniere’ bezeichnen, mittels derer (…) sich eine Verknüpfung der beiden Ebenen konstruieren [lässt], die den abrupten, unvermittelten Sprung vom Individuum zur Gesellschaft (und umgekehrt) vermeidet und sich auf die intermediären Strukturen konzentriert, die eine Vermittlung in beide Richtungen leisten. Soziale Netzwerke (…) sind die Instanzen, über die gesellschaftliche Werte und Normen, aber auch gruppen-, schicht- oder milieuspezifische Verhaltenserwartungen an den individuellen Akteur weitergegeben werden. Durch die Einbettung des Akteurs in Netzwerke leisten diese (und nicht die Normen oder die Institutionen an sich) die Sozialisationsarbeit sowie die Kontrolle und die Sanktion individuellen Verhaltens. Und umgekehrt kann die soziale Konstruktion von Wirklichkeit durch die Interaktion der Akteure als ein mehrstufiger Prozess konzipiert werden, der nicht unmittelbar Gesellschaft hervorbringt, sondern in einem ersten Schritt zunächst soziale Netzwerke als lose, temporär verfestigte Institutionalisierungen von Verhaltenserwartungen, die erst in einem zweiten Schritt zu dauerhaften, gegenüber dem Handeln der Akteure sich verselbständigenden institutionellen Strukturen werden. (Weyer 2000: 239)
Das Forschungskonzept ‚soziale Netzwerke’ lässt sich als eines der ‚mittleren theoretischen Reichweite’ (Merton 1968) betrachten. Es nimmt eine vermittelnde Position zwischen nicht-kontraktuellen Formen der Vergesellschaftung einerseits und formalen Sozialstrukturen andererseits ein (vgl. Kardorff 1989: 30). Das Instrumentarium der Netzwerkanalyse stellt daher die erste Wahl dar, um den Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und der Struktur persönlicher Beziehungsgefüge einem empirischen Test zu unterziehen. Der Begriff des Netzwerks in Bezugnahme auf interpersonale Beziehungen findet sich erstmals bei Alfred Radcliffe-Brown (1977 [1940]: 222): „[D]irect observation does reveal to us that (…) human beings are connected by a complex network of social relations.” [Herv.: J.M.] Während der Begriff in diesem Zusammenhang lediglich dafür Verwendung fand, „what he [RadcliffeBrown] felt by describing metaphorically what he saw“ (Firth 1954: 4), erfolgte eine systematische Anwendung der Netzwerkperspektive innerhalb der Soziologie und Anthropologie erst ab den 1950er Jahren. Die zentralen Figuren entstammten mit John A. Barnes (1954) und Elizabeth Bott (1977 [1955]) dabei der so genannten ‚Manchester-Schule’. Ein ganz entscheidender Vorteil der Netzwerkperspektive besteht darin, dass von einzelnen sozialen Akteuren ausgegangen wird, diese aber nicht isoliert voneinander betrachtet werden, sondern vielmehr im Hinblick auf die Beziehungen, in der diese zueinander stehen (Boissevain 1974: 25; Jansen 2000: 36). Mit Simmel gesprochen bilden hier also nicht die Individuen, sondern die
4 Soziologische Netzwerkanalyse
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menschlichen Wechselwirkungen – in Form interpersonaler Beziehungen – den eigentlichen Untersuchungsgegenstand (vgl. Kapitel 2.1). Überdies erlaubt es die Netzwerkanalyse, das (Beziehungs-)Handeln sozialer Akteure ganz konkret vor dem Hintergrund spezifischer sozialer Kontexte bzw. handlungsrestringierender und -erleichternder Strukturen zu untersuchen. Ein weiterer Schwerpunkt der Netzwerkforschung befasst sich mit der Frage, inwiefern bestimmte Charakteristika der untersuchten Netzwerke auf das soziale Handeln der einzelnen Mitglieder (zurück)wirkt (Mitchell 1969: 2). Ein besonderes Verdienst der Netzwerkanalyse ist die ausgesprochen anschauliche graphische Darstellung von zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechten. Der Versuch, Beziehungen sozialer Akteure graphisch darzustellen, begann in den 1930er Jahren mit der Entwicklung des Soziogramms durch Jacob L. Moreno (1934). An diesem Grundprinzip der schematischen Illustration sozialer Beziehungen hat sich seitdem wenig geändert. So lassen sich die vom Forscher zu bestimmenden Netzwerkknoten als Punkte in einem Diagramm veranschaulichen. Die Verbindungen, die zwischen den betreffenden Elementen bestehen (im Englischen als ties bezeichnet), werden nun durch Linien bzw. ‚Kanten’ zwischen den einzelnen Netzwerkelementen symbolisiert. „Each person can thus be viewed as a star from which lines radiate to points, some of which are connected to each other“ (Boissevain 1974: 24). Übertragen auf das Beispiel eines gegebenen Geflechts persönlicher Beziehungen bedeutet dies, dass sich Personen mit einem großen Freundes- und/oder Familienkreis dadurch hervortun, dass sie in engmaschige Netze von Verbindungen zu anderen Netzwerkmitgliedern verwoben sind. Personen, die sozial isoliert sind, verfügen im Extremfall dagegen über keinerlei Verbindung zu den anderen Akteuren der ‚Punktwolke’ einer gegebenen sozialen Entität. Man denke in diesem Zusammenhang zum Beispiel an eine Schulklasse mit ihrer typischen Zusammensetzung aus besonders beliebten Schülern und ausgegrenzten Einzelgängern. Im Folgenden werde ich mich ausschließlich auf solche Ansätze der soziologischen Netzwerkforschung beschränken, die ihren Fokus auf so genannte soziale Netzwerke legen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem Forschungskonzept ‚soziale Netzwerke’ und der Funktion der sozialen Unterstützung, die sozialen Netzwerken oft zugeschrieben wird. Dies ist insofern wichtig, als eine Reihe empirischer Netzwerkerhebungen mit den Instrumenten aus dem Bereich der Forschung zur sozialen Unterstützung operiert. Neben der Tatsache, dass das Konzept der sozialen Unterstützung „weder theoretisch noch methodisch sehr elaboriert [ist]“ (Hollstein 2001: 31), setzen Studien, die sich dieses Konzepts bedienen, voraus, dass sich Sozialbeziehungen generell positiv auf die Beteiligten auswirken. Dabei wird der Unterstützungseffekt persönlicher Beziehungen von soziologischer Seite aus zuweilen auch übertrieben:
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4 Soziologische Netzwerkanalyse Innerhalb lebensreformerischer und sozialromantisierender Vorstellungen werden die ‚kleinen Netze’ als Garant einer dem menschlichen Maß entsprechenden, nicht entfremdeten Lebensweise betrachtet (...). Hier mischt sich die Trauer über den Verlust ‚traditioneller Vergesellschaftungsformen’ mit einer romantischen Überhöhung jener Muster, die sich aufgelöst haben. (Kardorff 1989: 33f.)
Zwar konnte die soziologische Netzwerkanalyse in ihrer noch recht jungen Geschichte zeigen, dass beispielsweise ein Zusammenhang zwischen der Einbindung in soziale Netzwerke und physischer sowie psychischer Gesundheit besteht und dass sozial integrierte Individuen in Krisenzeiten besser mit ihrem Leben zurechtkommen (z. B. Badura 1981), doch ist die Richtung der Kausalität selten zum Bestandteil der empirischen Forschung geworden. Werden Individuen nun deshalb glücklich, weil sie über Freunde verfügen, oder haben sie Freunde, weil sie glücklich sind (Fischer 1982)? Der Nutzen, den Individuen aus ihren persönlichen Beziehungen ziehen, dürfte zwar in der Regel negative Begleiterscheinungen zwischenmenschlicher Bindungen überwiegen, doch darf nicht unterschlagen werden, dass manche Beziehungen mehr Bürde als Unterstützung für die beteiligten Individuen darstellen (Fischer 1982: 3; Rook 1984). Man denke in diesem Zusammenhang nur an ‚Problemfälle’ wie alkoholkranke Ehepartner, delinquente Jugendliche, demente Großeltern oder in finanziellen Schwierigkeiten steckende Geschwister, die ihren Angehörigen oft zur Last werden. Dies spiegelt sich auch in einer Studie von Wellman (1982) wider, in der rund ein Viertel der genannten Beziehungen von den Probanden als Bindungen zu Personen qualifiziert wurden, die ihnen ‚nicht sympathisch’ waren. Diese Kontakte beruhen also nicht auf Gegenseitigkeit, doch profitieren die an den Beziehungen ‚leidenden’ Beteiligten möglicherweise davon dass sie in der Anerkennung Dritter wachsen. Als Beispiel ließe sich etwa eine Hausfrau heranziehen, die in Eigenregie die von ihr ungeliebte Schwiegermutter pflegt, um ihrem Mann ihre Gunst zu erweisen. Der Unterstützungseffekt solcherlei Verbindungen ist also ausgesprochen durchwachsen: der positive Effekt am einen Ende der Verbindung (die zu pflegende Schwiegermutter) wird durch das Leid am anderen Ende der persönlichen Beziehung scheinbar wieder aufgehoben (Schwiegertochter). Während soziologische Konzepte der sozialen Unterstützung also unmittelbar auf positive Beziehungen abzielen, erlaubt das Verharren in einer zunächst nur an der Existenz interpersonaler Beziehungen interessierten Perspektive das Ausblenden der Handlungsorientierungen im Prozess des menschlichen Zu- und Auseinanders. Die Einnahme der Netzwerkperspektive erlaubt also die bloße Feststellung, dass überhaupt eine manifeste Beziehung zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter existiert. Die Motive hingegen, aus denen zwei Individuen miteinander kommunizieren, können dagegen konzeptuell ausge-
4 Soziologische Netzwerkanalyse
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blendet werden. Dies ist insofern bedeutsam, als der quantitativen Sozialforschung nur bescheidende Instrumente zur Erhebung affektiv-expressiver Elemente innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen zur Verfügung stehen. Mit Blick auf die empirische Ausrichtung des Netzwerkkonzepts lässt sich festhalten, dass sich die entsprechende Operationalisierung generell als aufwändig erweist. Soll eine Erhebung sozialer Netzwerke vorgenommen werden, muss zunächst festgelegt werden, von welcher Basispopulation ausgegangen werden soll. Bei einer vollständigen Erhebung sozialer Netzwerke wird zunächst die gesamte Population einer vom Forscher festzulegenden sozialen Einheit erfasst. Dabei kann es sich zum Beispiel um alle Schülerinnen und Schüler einer bestimmten Schule, um die Bevölkerung eines gegebenen Stadtteils oder die Mitglieder einer bestimmten Organisation handeln. Sodann wird für jedes einzelne Netzwerkelement aufgezeichnet, in welcher Verbindung es zu den jeweiligen anderen Elementen steht. Je nach – der wiederum nur nach subjektiv möglichen Kriterien zu bewerkstelligenden – Festlegung der ‚Grenzen’ des jeweiligen Netzwerks kann der Aufwand, eine solchen Total-Erhebung sozialer Netzwerke vorzunehmen, schnell die Kapazitäten des geneigten Forschers erschöpfen (Mitchell 1969: 11; Keupp 1987: 25; zu Grenzen von Netzwerken allgemein siehe Häußling 2009) Aus forschungspragmatischen Gründen hat sich deshalb, vor allem im Bereich der Survey-Forschung, die Erhebung von so genannten ‚ego-zentrierten Netzwerken’ als ratsam erwiesen.40 Dies gilt insbesondere dann, wenn Aussagen über Netzwerke mit einer mutmaßlich sehr großen Population getroffen werden sollen. Unter einem ego-zentrierten sozialen Netzwerk versteht man das bei einer bestimmten fokalen Person ‚Ego’ verankerte Geflecht interpersonaler Beziehungen. Der Erhebung von Egos jeweiligen Alteri geht in der Regel die Einschaltung so genannter ‚Namensgeneratoren’ voraus. Je nach Forschungsinteresse werden dort spezifische Kriterien als Stimuli zur Benennung der jeweils in Frage kommenden Personen formuliert. Aufgrund dieser Kriterien benennt Ego sodann die ihm bekannten Personen, zu denen es die jeweils interessierenden Beziehungen unterhält. Die Methode der Erhebung ego-zentrierter Netzwerke wird vor allem in konventionellen Befragungsverfahren angewendet (Jansen 2006: 79). Bekanntheit haben in diesem Zusammenhang insbesondere das Burt-
40
Neben den Begriffen ‚ego-zentriertes Netzwerk’ und ‚personal communities’ sind auch die Bezeichnungen ‚primary stars’, ‚primary zones’ und ‚first-order zones’ üblich (vgl. Burt 1982: 31; Boissevain 1974). In der vorliegenden Arbeit finden jedoch nur die beiden erstgenannten Begriffe Verwendung, wobei ich den englischen Begriff der ‚personal community’ frei als ‚persönliche Netzwerke’ übersetze.
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4 Soziologische Netzwerkanalyse
Instrument (Burt 1984) und das Fischer-Instrument (Fischer 1982) erlangt. Das Burt-Instrument ist ein vergleichsweise ökonomisches Verfahren zur Erhebung signifikanter Bezugspersonen eines gegebenen Befragten (Ego). Dabei werden die Befragten gebeten, eine vom Forscher zu definierende, endliche Menge von Personen als Antwort auf folgende (oft auch leicht modifizierte) Frage (hierbei handelt es sich um einen Namensgenerator) zu geben: From time to time, most people discuss important matters with other people. Looking back over the last six months – who are the people with whom you discussed matters important to you? Just tell me their first names or initials (Burt-Instrument)
Der Vorteil dieses Verfahrens liegt auf der Hand: Mit Hilfe eines einzigen Namensgenerators lassen sich eine ganze Reihe unterschiedlichster Alteri benennen. Das Fischer-Instrument lässt die befragte Person hingegen eine Mehrzahl von Lebensbereichen Revue passieren. Zu jeder einzelnen sozialen Situation wird dann eine Nennung der Vornamen von Personen erbeten, die zum Beispiel folgende Dinge für Ego geleistet bzw. von Ego empfangen haben (Stegbauer 2008: 109f.): 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
nach der Wohnung oder dem Haus schauen, wenn man nicht zu Hause ist, bei Arbeiten rund ums Haus innerhalb der letzten Monate geholfen haben, mit denen man Gespräche über Job-Angelegenheiten geführt hat, mit denen Aktivitäten unternommen wurden, etwas zusammen Essen, gegenseitige Besuche, zusammen Ausgehen etc, mit denen man über Hobbys spricht, ein ‚Date’ bzw. ein Rendezvous hatte, mit denen man wichtige persönliche Angelegenheiten bespricht, Ratsuche bei wichtigen Entscheidungen, Geld leihen
Im Folgenden gebe ich einen Überblick über die im Zusammenhang mit meiner Fragestellung zentralen Kennziffern der empirischen Netzwerkforschung.
4.1 Die Größe sozialer Netzwerke Die Maßzahl ‚Größe’ wird durch die Anzahl der Knoten eines wie auch immer umgrenzten Netzwerks bestimmt. In ego-zentrierten sozialen Netzwerken ist dies zum Beispiel die Summe der vom Befragten genannten Alteri. Diese Kennziffer wird auch als Degree (oder Degree of Connection) bezeichnet (Jansen
4.2 Netzwerkdichte
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2000: 45). Zu unterscheiden ist bei der Berechnung der Netzwerkgröße zwischen tatsächlich bestehenden, manifesten interpersonellen Verbindungen, und solchen, die innerhalb eines wie auch immer umgrenzten Netzwerks potenziell möglich sind. Möchte man beispielsweise herausfinden, ob sich informelle Beziehungsstrukturen innerhalb der Belegschaft eines Unternehmens herausbilden, so stellt die Gesamtzahl der Mitarbeiter die Basispopulation des Netzwerks dar. Inwiefern es möglich ist, Aussagen über die Größe sozialer Netzwerke zu treffen, hängt also stark von den Instrumenten ab, die in den jeweiligen Erhebungen verwendet werden. So besteht innerhalb des Forschungsfeldes der surveybasierten Sozialforschung die Möglichkeit, Fragebogen-Items zu verwenden, die direkt auf die Nennung der Anzahl aller mit Ego bekannten Personen abzielen. Im Allgemeinen erweist sich dies jedoch nur dann als praktikable Lösung, wenn der Untersuchungsfokus auf einem recht eng umfassten Forschungsfeld liegt (z.B. kann es sich um die Mitglieder eines mittelständischen Unternehmens oder um die Bevölkerung einer kleinen Gemeinde handeln). Tatsächlich zielen quantitative Erhebungen sozialer Netzwerke in der Regel auf einen Ausschnitt der gegebenen Menge ‚bekannter’ Personen ab. Denn nimmt man die globale Frage „Wen kennen Sie?“ zum Ausgangspunkt einer Befragung, so zeigt sich, dass Individuen bei ausreichender Bedenkzeit im Mittel rund 1000 Personen benennen können (Wellman und Potter 1999: 52). Studien, in denen eine solche Bestandsaufnahme ‚aller’ mit Ego bekannten Personen vorgenommen wurden, divergieren zudem erheblich in Bezug auf die jeweils ermittelten NetzwerkDurchschnittsgröße. So zeigen Killworth et al. (1990) in einem Überblicksartikel, dass sich die Durchschnittsgröße sozialer Netzwerke in den von ihnen herangezogenen Studien in einem Wertebereich zwischen 1000 und 3500 ansiedelte. Die Kennziffern variierten dabei mit der Wahl der Erhebungsmethode und dem spezifischen Algorithmus, der der Ermittlung der Durchschnittsgröße zugrunde lag. Eine gängige Praxis ist es, jene Zahl der Personen als Indikator für die Netzwerkgröße zu verwenden, zu denen im weiteren Verlauf der Befragung auch detaillierte Angaben erfolgten. Die so erhobenen ego-zentrierten Netzwerke umfassen dann „typically the 2-30 people most strongly connected to the person at the center“ (Wellman 2007: 350).
4.2 Netzwerkdichte Ein weiterer wichtiger globaler Strukturparameter ist die so genannte ‚Dichte’ sozialer Netzwerke. Ein Kennzeichen für eine hohe Netzwerkdichte ist es, wenn viele der jeweils betrachteten Angehörigen der Basispopulation auch untereinander bekannt sind, also direkte Verbindungen zwischen möglichst vielen der
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4 Soziologische Netzwerkanalyse
von einem gegebenen ego-zentrierten Netzwerk umfassten Personen bestehen.41 Lose verknüpfte Netzwerke sind dagegen solche, in denen die von Ego genannten Alteri untereinander nicht bekannt sind. Die Bestimmung der Dichte ist in Studien, die auf Basis konventioneller Befragungstechniken entstehen, entweder nur dann möglich, wenn eine Totalerhebung sozialer Netzwerke vorgenommen wird, oder aber, wenn in einer ego-zentrierten Erhebung auch Informationen darüber erhoben werden, inwiefern die Alteri auch untereinander vernetzt sind.42 Rechnerisch ergibt sich die Dichte eines sozialen Netzwerks aus dem Quotient der Anzahl der tatsächlich beobachteten Verbindungen und der potenziell möglichen Anzahl der Beziehungen (Diewald 1991: 69, zur konkreten Berechnung der Dichte in der vorliegenden Arbeit siehe Kapitel 6.2) Empirisch lassen sich nur in seltenen Fällen soziale Netzwerke beobachten, die dem DichteMaximalwert von 1 nahe kommen. Als hohe Dichte-Werte gelten in der soziologischen Netzwerkforschung dementsprechend bereits Werte von 0,4 (Jansen 2000: 47). Da die Ego-Alter-Relation in Netzwerken ja normalerweise immer realisiert ist, finden sich in vielen Netzwerkstudien selten Dichtewerte nahe 0. Als Lösung für dieses Problem schlägt Diaz-Bone (1997: 59) die Berechnung der so genannten ‚Netzwerkgeschlossenheit’ vor. „Die Netzwerkgeschlossenheit setzt als Dichtemaß die vorhandenen [A]lter-[A]lter-Relationen ins Verhältnis zu der Anzahl der möglichen [A]lter-[A]lter Beziehungen“ (siehe auch Schenk 1995: 17). Der Netzwerkdichte kommt aus einer Perspektive sozialer Unterstützung entscheidende Bedeutung in Zeiten persönlicher Krisen zu. So wird etwa angenommen, dass eine hohe Dichte mit einem erhöhten Solidaritätspotential einhergeht. Umgekehrt zeigen Studien, dass die Mitglieder dichter Netzwerke ungewöhnlich hoher sozialer Kontrolle unterworfen sind, so dass unkonventionelle Neigungen und Lebenswege schneller durch die soziale Umwelt der Betroffenen
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Bestes Beispiel für dichte soziale Netzwerke bilden die nach außen hin oft stark isolierten ‚Cliquen’ von Kindern und Jugendlichen. Der Eintritt in diese erfolgt oft nur nach den von der Clique selbst festgelegten Regeln und ist für viele Interessenten daher nicht zu meistern. In der empirischen Netzwerkforschung kursieren zwei Verfahren zur Erhebung der Netzwerkdichte: Zum einen gibt es die relativ kostengünstige Möglichkeit, Ego nach der Qualität der Beziehung zwischen seinen einzelnen Alteri zu befragen, wie zum Beispiel im Rahmen des Familiensurvey 2000 geschehen (s. Kapitel 6.2). Diese Möglichkeit ist mit dem Risiko behaftet, allzu sehr auf die subjektive, potentiell irrige Einschätzung Egos zu vertrauen. Deshalb gibt es auch Versuche, beide Parteien der angegebenen Dyaden zu befragen und so zu einer intersubjektiven Einschätzung der Qualität der Beziehungen zwischen den signifikanten Anderen der ursprünglich befragten Person Ego zu gelangen (z.B. Ganter 2003).
4.3 Multiplexität
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sanktioniert werden als dies bei Angehörigen von persönlichen Netzwerken geringerer Dichte zu beobachten ist.43
4.3 Multiplexität Die so genannte ‚Multiplexität’ ist eine Kennziffer für die Zahl der Beziehungsinhalte, die innerhalb einer bestimmten Beziehung realisiert werden. Der Begriff der Multiplexität basiert auf dem soziologischen Rollenkonzept und trägt der Möglichkeit Rechnung, dass Individuen in einer großen Bandbreite von verschiedenen sozialen Rollen miteinander kommunizieren können.44 Als uniplex werden solche Beziehungen bezeichnet, in denen die Beteiligten vermittels nur einer einzigen Rolle gemeinsamen Umgang miteinander pflegen. Individuen, die dagegen regelmäßig in verschiedenen Rollen interagieren, sind Konstituenten multiplexer Sozialbeziehungen. Es wird angenommen, dass multiplexe soziale Beziehungen eher in freundschaftliche bzw. Freundesbeziehungen bzw. intime Beziehungen münden als uniplexe Sozialbeziehungen (Boissevain 1974: 32). Es scheint weitgehender Konsens darüber zu bestehen, dass die massive Zunahme uniplexer Beziehungen, also nur auf einen spezifischen Beziehungsinhalt fokussierte Beziehungen, ein Kennzeichen der modernen bzw. ‚funktional differenzierten’ Gesellschaft sei (Barnes 1954: 4; Frankenberg 1966: 257ff.; Mitchell 1969: 48). Die Kritik am Konzept der Multiplexität entzündet sich am Rückgriff auf das soziologische Rollenkonzept, welches seinen Kritikern zufolge nicht in der Lage sei, menschliches Beziehungshandeln trennscharf zu typisieren. Daher definiert Verbrugge (1979) Multiplexität weniger eng als „multiple bases for interaction in a dyad.“ [kursiv i.O.] Als begünstigende Faktoren für multiplexe Beziehungen gelten zum Beispiel räumliche Nähe und die individuelle Neigung zu eher partikularistischen Sozialbeziehungen (Verbrugge 1979: 1288).
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Es ist jedoch anzunehmen dass dieses Ergebnis auch damit zusammenhängt, dass die meisten empirischen Netzwerkerhebungen sehr stark auf verwandtschaftliche Beziehungsstrukturen fokussieren. Dieser Punkt wurde bereits in Kapitel 2.1 unter dem Stichwort universalistische vs. partikularistische Handlungsorientierungen in sozialen Beziehungen abgehandelt.
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4 Soziologische Netzwerkanalyse
4.4 Geographische Distanz Die fortwährende Entwicklung von Kommunikationsmedien hat physische KoPräsenz als Bedingung für Kommunikation im Laufe des letzten Jahrhunderts mehr und mehr hinfällig gemacht. Anwesenheit wird heute zunehmend durch Erreichbarkeit ersetzt (Berger 1995: 117). Im Zeitalter des Internet ist es nicht nur möglich, bestehende Kontakte unter Zuhilfenahme des World Wide Web zu pflegen, sondern auch Gleichgesinnte in verschiedensten Diskussionsforen, Online-Spielewelten oder Chat-Rooms kennen zu lernen. Im Rückblick stellt auch der Siegeszug des Telefons eine Kommunikationsrevolution dar, insbesondere da die (realen) Gesprächskosten heute nur noch einen Bruchteil ihres einstigen Betrages ausmachen. Des Weiteren hat die Entwicklung des Massentransports auch die körperliche Überwindung von Distanzen erleichtert. Ganz gleich ob es im eigenen Auto oder per Ticket für Bahn, Bus, Schiff oder Flugzeug ist, seit den 1960er Jahren haben sich sowohl die Zahl der Transportwege als auch die Transportkosten stark zugunsten der Reisenden entwickelt (Axhausen 2007; Mok und Wellman 2007). Ein häufig hervorgebrachtes Argument besagt, dass der der Moderne unterstellte Prozess des „Herausheben[s] sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen“ (Giddens 1995: 33) dazu führt, dass die Menschen ihre gemeinschaftlichen Wurzeln verlieren und zunehmend in die soziale Isolation abdriften (Putnam 2000).45 Solch pessimistischen Prognosen konnten verschiedene empirische Studien den Befund entgegenhalten, dass FernBeziehungen bestehende Nah-Beziehungen weniger ersetzen als dass sie diese vielmehr ergänzen (Boase et al. 2006). Im Klartext bedeutet das, dass sich die sozialen Netzwerke unter den Bedingungen von Globalisierung und Modernisierung insgesamt sogar zu vergrößern scheinen (vgl. Larsen et al. 2006). Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Menschen auch schon vor dem Zeitalter des Internets nur einen bestimmten Teil ihrer sozialen Beziehungen aus ih-
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Putnam wie auch andere Autoren verstehen Gemeinschaft jedoch ausschließlich als lokal verankerte Sinnbezüge und nicht etwa als ‚imagined community’ im Sinne von Benedict Anderson (2002). Konzipiert man soziale Netzwerke als lokal verankerte Beziehungsgeflechte, so mag pessimistischen Prognosen einer Auflösung gemeinschaftlicher Strukturen durchaus Recht zu geben sein. Aufgrund der ortsfixierten klassischen Community-Forschung gehen viele Netzwerkforscher dazu über, von so genannten personal communities (‚persönliche Netzwerke’) zu sprechen. Damit soll deutlich gemacht werden, dass empirisch beobachtbare soziale Netzwerke durchaus ‚ortspolygam’ (Beck 1997) sein können und die Soziologie nicht bereits im Vorfeld einer Untersuchung von strikten räumlichen Grenzen von Gemeinschaft ausgehen sollte. Kapitel 7.5 widmet sich eingehender der Frage, welche räumliche Konfiguration persönliche Netzwerke heute aufweisen.
4.4 Geographische Distanz
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rem geographischen Nahfeld rekrutierten. So zeigt eine retrospektiv angelegte Studie von Mok und Wellman (2007), dass die Teilnehmer der untersuchten kanadischen Stichprobe bereits in den 1970er Jahren über zahlreiche Fernkontakte verfügten. Im Unterschied zu heute zeichneten sich diese Kontakte jedoch noch durch eine seltenere Aktualisierung aus, d.h. medial vermittelter Kontakt zu in der Ferne lebenden Bekannten und Verwandten findet nun häufiger statt als früher. Da soziale Netzwerke zumeist mit Namensgeneratoren erhoben werden, die im Rahmen der Forschung zur sozialen Unterstützung entwickelt worden sind, müssen die Ergebnisse in Bezug auf räumliche Distanz in sozialen Netzwerken mit Vorsicht genossen werden: bestimmte Formen der sozialen Unterstützung sind telefonisch, per Fax, per SMS oder per Email kaum möglich, etwa dann, wenn es um pragmatische Hilfe im Haushalt oder im Hinblick auf die Betreuung von Kindern geht (Mulder und Kalmijn 2005; Mok und Wellman 2007: 434). Empirisch zeigt sich das wenig verwunderliche Bild, dass insbesondere das reziproke Erweisen kleinerer ‚Gefälligkeiten’ (z.B. das Borgen kleinerer Haushaltsgegenstände, das Hüten des Hauses im Falle einer urlausbedingten Abwesenheit) mit zunehmender geographischer Distanz zu den Alteri abnimmt. Der Forschungsstand hinsichtlich der räumlichen Ausdehnung sozialer Netzwerke ist recht spärlich. Das Augenmerk richtet sich auch hier vor allem auf Familienbande (z. B. Bras und van Tilburg 2007), während die räumliche Durchmessung von Freundschaftsnetzwerken oder gar informellen Netzwerken, die sowohl verwandtschaftliche als auch nicht-verwandtschaftliche Beziehungen enthalten, eher zu den exotischen Ausnahmen zu zählen scheinen. Zudem gestalten sich Ländervergleiche schwierig, da die Spannbreite der zumeist untersuchten OECD-Länder von Flächenstaaten wie den Vereinigten Staaten bis hin zu kleinen Nationen wie Luxemburg reicht. Eine Studie von Rogerson, Weng et al. (1993) zeigt, bezogen auf die Vereinigten Staaten, dass rund ein Viertel der erwachsenen Kinder in einer Entfernung von weniger als fünf Meilen von den Eltern entfernt wohnt, wohingegen ein weiteres Viertel weiter als 250 Meilen entfernt lebt. Diese geographischen Angaben dienen in der empirischen Sozialforschung auch als Indikator für die räumliche Mobilität der Probanden, da das Gros der Eltern von erwachsenen Kindern in der Regel als ortsverhaftet beurteilt wird. Bezogen auf Familiennetzwerke in den Niederlanden konnte festgestellt werden, dass die mittleren Entfernungen zu den Eltern mit dem beruflichem Status und dem Bildungsgrad der Befragten wachsen (Bras und van Tilburg 2007; Mulder und Kalmijn 2005).
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4 Soziologische Netzwerkanalyse
4.5 Kontakthäufigkeit Wie oft die Beteiligten einer persönlichen Beziehung miteinander kommunizieren ist eines der am häufigsten untersuchten Merkmale in der soziologischen Netzwerkforschung. Dies liegt zum einen sicherlich daran, dass sich dieses Charakteristikum relativ leicht erheben lässt. Zum anderen wird die Kontaktfrequenz in der soziologischen Netzwerkanalyse zuweilen als Gradmesser für die Qualität einer persönlichen Beziehung herangezogen. Während dies auf den ersten Blick nicht unplausibel erscheinen mag, zeichnen empirische Netzwerkstudien oft ein anderes Bild: Die Kontakthäufigkeit und der Grad der Nähe, den zwei Individuen füreinander empfinden, stehen in vielen Fällen in keinem signifikanten Zusammenhang (vgl. z.B. Spencer und Pahl 2006: 47; Wellman et al. 1997; Wellman und Potter 1999). Einerseits gilt, dass insbesondere Beziehungen unter guten Freunden vergleichsweise pflegeleicht sind, wenn diese Beziehungen eine gewisse Zeit überdauert haben (Mok und Wellman 2007: 434).46 Zum anderen muss die Gruppe der Personen, die täglichen Umgang miteinander haben, nicht unbedingt diejenigen sein, die sich einander sonderlich nahe steht. Dies gilt weniger für die Sphäre der Kernfamilie als vielmehr für die alltäglichen Kontakte im Rahmen von Beruf und Ausbildung. Eine nicht erwerbstätige Ehefrau mag ihren Gatten seltener zu Gesicht bekommen als dessen Arbeitskollegen und ihm emotional doch weitaus näher sein. Demgegenüber können sich Personen desselben Haushalts geradezu feindlich gegenüberstehen, und doch begegnen sie sich tagtäglich. Sich keines Blickes würdigende Geschwister im Jugendalter, die womöglich noch dasselbe Zimmer teilen (müssen), sind ein treffendes Beispiel hierfür. Die Häufigkeit der gemeinsamen Kommunikation innerhalb einer Dyade ist auch abhängig von der räumlichen Distanz zwischen Ego und Alter. Unterscheidet man die Art und Weise, wie ein gegebener Kontakt initiiert wird, so trifft dies natürlich vor allem auf Interaktionen zu (Warnes 1985).47 Doch inte-
46
47
Dass Verwandtschaftsbeziehungen häufig mit dem Attribut der Dauerhaftigkeit versehen werden, mag auch daran liegen, dass Familie eben nicht nur heißt, dass die Beteiligten einer isolierten Dyade in regelmäßigen Abständen aufeinander stoßen, sondern dass beide auch stets in Kontakt zu denselben Dritten stehen, so etwa zu Geschwistern, Eltern oder ferneren Verwandten wie Tante, Onkel, Großmutter oder Großvater. In diesem Zusammenhang zeigt die Studie von Levi Martin und Yeung (2006), dass die Wahrscheinlichkeit, dass Dyaden länger aufrecht erhalt werden, zunimmt, wenn die Beteiligten gemeinsame „patterns of contact with third parties“ (ebd.: 331) aufweisen. Ein gutes Beispiel für den Zusammenhang zwischen räumlicher Distanz und Kontakthäufigkeit liefert das üblicherweise relativ enge Verhältnis zwischen Kindern und ihren Eltern. So zeigt Diewald (1991: 169f.), dass die Häufigkeit, mit der erwachsene Kinder ihre Eltern besuchen, vor allem von der zwischen ihnen liegenden geographischen Distanz abhängt. Benötigten die
4.5 Kontakthäufigkeit
89
ressanterweise zeigen verschiedene Studien (Boase et al. 2006; Quan Haase et al. 2002; Wellman 1979), dass mit zunehmender Entfernung auch die Häufigkeit des telefonischen und des elektronischen Kontakts nachlässt. Daher steht zu vermuten, dass Individuen auch dann zu Kommunikationsmedien wie Telefon oder Computer greifen, wenn sie kurzfristige Verabredungen mit in nächster Nähe lebenden Bekannten und Verwandten treffen wollen. Beispielsweise zeigt eine Studie von Licoppe (2004), dass die häufigsten SMS innerhalb solcher Beziehungen kursieren, in denen die Beteiligten sehr häufig unter Anwesenheit kommunizieren.48 Zudem variieren Kontakthäufigkeiten stark nach Beziehungstypen. So zeigt die Studie von Mok und Wellmann (2007: 444), dass die häufigsten Treffen zwischen unmittelbaren Verwandten (Eltern, erwachsene Kinder, Geschwister) stattfinden. Dahinter rangieren die Kontakte zu nahe stehenden Freunden und Bekannten. Auf Treffen mit der entfernteren Verwandtschaft (extended kinship) legen die Individuen dagegen offenbar seltener Wert. Gleichzeitig ist die Kontakthäufigkeit zur nahen Verwandtschaft besonders stark abhängig von der räumlichen Distanz zu ihnen. Weit abgeschlagen stehen entfernte Bekanntschaften da: Hier zeigt sich die geringste Kontakthäufigkeit, ein Ergebnis, welches wiederum für die gängige Praxis spricht, die Stärke von Beziehungen anhand der Kontaktfrequenz zu operationalisieren.
48
Befragten der herangezogenen Studie nur maximal 15 Minuten, um die Entfernung zum elterlichen Haushalt zurückzulegen, so suchten diesen 36 Prozent der Kinder täglich und weitere 32 Prozent mehrmals wöchentlich auf. Benötigten die Probanden allerdings länger, so sank die Anzahl der wechselseitigen Besuche stark. Ab Entfernungen zwischen zwei und drei Stunden besuchte nur noch weniger als ein Viertel der Befragten ihre Eltern mindestens einmal im Monat. Dies muss jedoch nicht unbedingt ein Indikator für einen absoluten Kontaktrückgang sein, da Kontakt ja auch via Kommunikationsmedien zustande kommen kann. Daher wäre es zu begrüßen, wenn empirische Netzwerkstudien neben dem Merkmal der Kontakthäufigkeit auch die durchschnittliche Dauer der gemeinsam geteilten Zeit erheben würden. Ein interessantes Ergebnis in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass sich die durchschnittliche Gesprächsdauer von Telefongesprächen innerhalb der letzten Jahre verringert hat (Licoppe 2004). Fraglich ist jedoch auch hier, ob und wenn ja, inwiefern dieser Rückgang mit einer Zunahme der kommunikativ verbrachten Zeit im Kontext anderer Kommunikationsmedien verbunden ist.
5 Hypothesen
In den beiden vorherigen Kapiteln wurden verschiedene theoretische Ansätze in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und der Strukturierung persönlicher Netzwerke vorgestellt und diskutiert. Die dabei entwickelten Annahmen werden im Folgenden in forschungsleitende Hypothesen überführt. Zunächst formuliere ich Hypothesen im Hinblick auf globale Parameter persönlicher Netzwerke. Gemeint sind damit „mathematisch-quantitative Strukturbeschreibungen“ (Diewald 1991: 68) über alle in einem Netzwerk vereinigten Beziehungen hinweg. Dabei wird es um die Frage gehen, wie sich die Schichtzugehörigkeit – in der empirischen Untersuchung operationalisiert anhand des Bildungsniveaus und des beruflichen Status – auf Merkmale wie Netzwerkgröße, -dichte, -multiplexität, -reichweite und –kontakthäufigkeit auswirkt. In einem nächsten Schritt wird der Fokus von der globalen Ebene persönlicher Netzwerke auf die subjektiven Faktoren ungleicher Netzwerkstrukturen verschoben. Zum Abschluss werden Hypothesen in Bezug auf die konkreten Entstehungskontexte von persönlichen Beziehungen entwickelt. Zur Begründung der einzelnen Hypothesen werde ich in gebotener Kürze Argumente in Stellung bringen, die aus den theoretischen Kapiteln abgeleitet sind. Da vermutet werden kann, dass einige der im Folgenden skizzierten Zusammenhänge Konsequenzen für mehrere Dimensionen persönlicher Netzwerke haben, werde ich – um unnötige Redundanz zu vermeiden – gegebenenfalls auf bereits genannte Punkte der Hypothesenbildung verweisen. Die nachfolgend dargelegten Argumente, welche für die jeweilige Arbeitshypothese sprechen, sind mit eckigen Klammern markiert. (1)
In Bezug auf die Größe persönlicher Netzwerke vermute ich sowohl einen direkten als auch einen indirekten Effekt der Schichtzugehörigkeit. Vor allem aus der Perspektive der Affekttheorie des sozialen Austauschs kann vermutet werden, dass eine längere Verweildauer im Bildungssystem die Chance vergrößert, persönliche Kontakte zu knüpfen (direkter Bildungseffekt) [1.a]. Zugleich legitimieren hochwertige Bildungszertifikate der Migrationstheorie von Hoffmann-Nowotny zufolge höhere Ansprüche auf die Verfügbarkeit begehrter und knapper so-
92
5 Hypothesen zialer Ressourcen. Daher ist zu vermuten, dass höher Gebildete vergleichsweise mobiler sind, um diesen Ansprüchen Folge leisten zu können. Räumliche bzw. residentielle Mobilität erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit dass bereits bestehende Kontakte seltener aktualisiert werden und neue Beziehungen am neuen Wohnort geknüpft werden. Vor allem die Häufigkeit von Kontakten zu Verwandten wie Eltern, Geschwister etc. dürfte unter den Bedingungen von Wohnortwechseln gemindert sein (indirekter Schichteffekt) [1.b]. Darüber hinaus legen die Überlegungen aus den Kapiteln 3.7 und 3.8 den Schluss nahe, dass mit dem Bildungsgrad und dem beruflichen Status die Bereitschaft steigt, Vereinen, Clubs, Parteien und anderen Institutionen des ‚dritten Sektors’ beizutreten. Nach austauschtheoretischen Überlegungen handelt es sich dabei um optimale Entstehungskontexte für persönliche Beziehungen [1.c]. Unter Berücksichtigung der zuvor genannten Argumente lässt sich die folgende Hypothese (H1) in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und der Größe persönlicher Netzwerke formulieren:
H1:
Je höher das Bildungsniveau und je höher der berufliche Status, desto größer sind die ego-zentrierten persönlichen Netzwerke.
(2)
Ein weiterer zentraler Parameter persönlicher Netzwerke ist die Dichte. In diesem Zusammenhang ist ein starker indirekter Schichteinfluss zu vermuten, der ebenfalls über residentielle Mobilität vermittelt sein dürfte [vgl. 1.b]. Mobilitätsprozesse residentieller Art dürften die Wirkung des Transitivitätsprinzips aushebeln. Zwar steigern Wohnortwechsel theoretisch die Wahrscheinlichkeit, unbekannte Personen kennen zu lernen, da ja der Pool unbekannter Personen größer wird. Zugleich verringern Umzüge in weit entfernte Regionen jedoch die Wahrscheinlichkeit, bislang unbekannte Personen über bereits bekannte Menschen kennen zu lernen, da die Zahl der vor Ort bekannten Gesichter zumindest vorübergehend sehr gering sein dürfte. Darüber hinaus verweisen die Überlegungen zur Bildungshomogamie von persönlichen Netzwerken (Homophilie-Forschung) darauf, dass räumliche Mobilität auch Lücken in die Netzwerke derjenigen reißt, die selbst immobil sind [2.a]. Bedingt durch die stärkere Einbettung der hoch Gebildeten in Foci abseits von beruflichen Verpflichtungen wächst die Zahl der von den Betroffenen durchdrungenen ‚sozialen Kreise’. Mit jeder neuen Aktivität (Vereine, Clubs, Ausbildung, ehrenamtliche Engagements) vergrößert sich die Zahl der mit Ego in Verbindung stehenden Personenkrei-
5 Hypothesen
93
se. Nach Simmel ist die Zahl der von Ego durchkreuzten sozialen Kreise zugleich ein Maß für Egos Individualität. In diesem Zusammenhang steht zu vermuten, dass die Wahrscheinlichkeit der Entstehung transitiver Kontakte proportional zur Zahl der gekreuzten sozialen Kreise abnimmt [2.b]. Meine Annahme in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Dichte lautet: H2:
Je höher das Bildungsniveau und je höher der berufliche Status, desto geringer ist die Dichte der ego-zentrierten Netzwerke.
(3)
Die Multiplexität eines Netzwerks sagt etwas über die inhaltliche Vielschichtigkeit der einzelnen Beziehungen eines persönlichen Netzwerks aus. Überlegungen bezüglich des Nexus zwischen Multiplexität und Schichtzugehörigkeit lassen sich vor allem aus der These der Verwandtschaftslastigkeit der Netzwerke unterer sozialer Schichten ableiten. Diese These knüpft wiederum an die Überlegungen zur Defizithypothese (Kapitel 3.4), zur Dekontextualisierung (Kapitel 3.5) und zur Reziprozität (Kapitel 3.8) an. Der Grundgedanke ist dabei der folgende: Bedingt durch die angenommene ‚Zurückhaltung’ in Bezug auf die Etablierung von Freundschaften und die Bevorzugung von Verwandtschaftsbeziehungen müssen die Angehörigen unterer sozialer Schichten ihren notwendigen Bedarf an sozialer Unterstützung unter Zuhilfenahme vergleichsweise weniger Familienmitglieder decken. Aufgrund der unterstellten Fokussierung auf verwandtschaftliche Beziehungen ergeben sich für die Angehörigen unterer sozialer Schichten vergleichsweise wenige strukturelle und normative Einschränkungen in Bezug auf die möglichen Inhalte von Beziehungen. Finanzielle Unterstützung, gemeinsam verbrachte Freizeit, Hilfe im Krankheitsfall: all dies sind ganz typische Formen der sozialen Unterstützung innerhalb der Beziehungen zwischen engen Verwandten. Insgesamt baut das theoretische Argument damit also darauf auf, dass die Mitglieder unterer sozialer Schichten relativ kleine, im Wesentlichen aus Familienmitgliedern bestehende, Netzwerke unterhalten, welche dafür aber den gleichen Umfang an sozialer Unterstützung zu geben imstande sind wie es von den größeren und gemischteren Netzwerken der oberen sozialen Schichten zu erwarten ist. In Bezug auf den Nexus zwischen Schichtzugehörigkeit und Multiplexität formuliere ich daher die folgende Hypothese (H3):
94
5 Hypothesen
H3:
Je höher das Bildungsniveau und je höher der berufliche Status, desto geringer ist die durchschnittliche Multiplexität persönlicher Netzwerke.49
(4)
Ein starker Einfluss der Schichtzugehörigkeit kann des Weiteren in Bezug auf den Parameter ‚räumliche Spannweite’ vermutet werden. Für diese Annahme können gleich mehrere Argumente in Stellung gebracht werden. Zunächst bringt es die Zugehörigkeit zu den unteren sozialen Schichten mit sich, dass ein relativ geringes finanzielles Budget für Mittel- und Langstreckenreisen zur Verfügung steht. Damit kann also das physische Mobilitätskapital der Mitglieder unterer sozialer Schichten als eingeschränkt verstanden werden. Zumindest unregelmäßige wechselseitige Besuche gelten jedoch als notwendig dafür, dass persönliche Beziehungen nicht einschlafen. Daher dürften die Netzwerke von Personen mit niedriger Bildung und geringem beruflichen Status stärker auf den räumlichen Nahbereich konzentriert sein als bei Personen aus oberen sozialen Schichten [4.a]. Nimmt man darüber hinaus die unter [2.a] entwickelten Überlegungen zur residentiellen Mobilität ernst und unterstellt, dass bereits bestehende Beziehungen am ursprünglichen Wohnort nicht gekappt werden, so kann geschlussfolgert werden, dass residentielle Mobilität die räumliche Spannweite von egozentrierten Netzwerken erhöht. Dies gilt ceteris paribus auch für diejenigen, die, indem ein Netzwerkpartner fortzieht, nur passiv von residentieller Mobilität betroffen sind [4.b]. Meine Forschungshypothese (H4) zum Zusammenhang zwischen räumlicher Spannweite und Schichtzugehörigkeit lautet:
H4:
Je höher das Bildungsniveau und je höher der berufliche Status, desto größer ist die räumliche Spannweite der ego-zentrierten Netzwerke.
(5)
Ein weiterer Parameter, der vermutlich von der Schichtzugehörigkeit beeinflusst wird, ist die Kontakthäufigkeit. Auch diesbezüglich lassen
49
In Anschluss an Allan (1979) ließe sich jedoch auch eine gegenläufige Hypothese zu H3 formulieren, geht er doch davon aus, dass die Mitglieder der oberen sozialen Schichten stärker zur Dekontextualisierung ihrer Freundschaften neigen. Betrachtet man nun die in der Netzwerkanalyse üblichen Namensgeneratoren, so etwa das Fischer-Instrument, wird klar, dass Dekontextualisierung empirisch gewendet die gleiche Bedeutung hat wie das Konzept der Multiplexität. Denn der Fakt, dass ein und dieselbe Person Alter im Rahmen der Befragung mit Hilfe eines Fischer-Instruments mehrmals genannt wird, ist gleichbedeutend mit der Beobachtung, dass die Beziehung zu Alter in verschiedene Lebensbereiche gleichzeitig hineinragt.
5 Hypothesen
95
sich aus der theoretischen Diskussion mehrere Argumente ableiten. Berücksichtigt man zunächst die These, dass die oberen sozialen Schichten in räumlicher und residentieller Hinsicht mobiler sind [vgl. 1.b], so ist zunächst zu erwarten, dass für diesen Personenkreis eine vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit besteht, den Netzwerkmitgliedern zufällig zu begegnen. Denn de-lokalisierte Beziehungsgefüge machen die bewusste Initiierung von Kommunikationen zwischen den Netzwerkmitgliedern nötig [5.a]. Wie bereits gesagt, erfordert die Pflege von Beziehungen zumindest unregelmäßige face-to-face-Kontakte [siehe 4.a]. Physische Mobilität erfordert die Investition von Zeit, Geld und Energie. In diesem Zusammenhang kann angenommen werden, dass die Höhe dieser Investitionen proportional zur räumlichen Distanz zwischen Ego und Alter wächst. Zwar kann einerseits vermutet werden, dass die finanziellen Hürden einer solchen Reise bei Mitgliedern höherer sozialer Schichten weniger stark ins Gewicht fallen. Andererseits sind auch die Opportunitätskosten des Reisens zu beachten. Denn Ego muss abwägen, ob in derselben Zeit eine Alternative zur Handlung ‚Reise’ eventuell einen höheren subjektiven Nutzen verspräche. Des Weiteren ist in Rechnung zu stellen, dass die Netzwerke der höher Gebildeten relativ groß sind. Vor diesem Hintergrund dürften regelmäßige Kontakte unter Anwesenheit mit allen Netzwerkmitgliedern einen großen Energie- und Zeitaufwand in Anspruch nehmen [5.b]. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen komme ich in Bezug auf das Strukturmerkmal ‚durchschnittliche Kontakthäufigkeit’ zu folgender Annahme (H5): H5:
Je höher das Bildungsniveau und je höher der berufliche Status, desto weniger häufig werden Netzwerkbeziehungen unter Anwesenheit aktualisiert.
(6)
Während die ersten fünf Hypothesen Bezug auf die globale Strukturebene persönlicher Netzwerke nehmen, richtet sich die sechste Arbeitshypothese inhaltlich auf die subjektive Dimension ungleicher Netzwerke. Genauer gesagt geht es dabei um Einstellungsmuster im Zusammenhang mit dem Themenkomplex ‚Freundschaft und Verwandtschaft’. Zunächst ist ein Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und diesbezüglichen Einstellungen insofern zu erwarten, als die häufig von Armut betroffenen Mitglieder der unteren sozialen Schichten stärker auf informelle Unterstützung angewiesen sein dürften. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus der Tatsache, dass das finanzielle
96
5 Hypothesen Budget der Personen mit niedriger Bildung und geringem beruflichen Status in vielen Situationen nicht ausreicht, um auf bezahlte Hilfe zurückgreifen zu können.50 [6.a] Die weiteren Argumente in Bezug auf die subjektive Dimension ungleicher Netzwerke ergeben sich im Wesentlichen aus den Überlegungen zu Reziprozitätsarrangements (Kapitel 3.8). Zu vermuten ist, dass es den Mitgliedern unterer sozialer Schichten tendenziell schwerer fällt, auf eine Gabe im Mauss’schen Sinne binnen kurzer Frist eine äquivalente Gegengabe folgen zu lassen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Pflege familiärer Bindungen vorteilhafter, da verwandtschaftliche Beziehungen einen idealen Nährboden für Formen der aufgeschobenen und generalisierten Reziprozität bilden. Es ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass in einem solchen Fall beide Beziehungsparteien im direkten Sinne von der Bindung profitieren. Vielmehr steht zu vermuten, dass ungleichgewichtige Beziehungen zum Teil aufrechterhalten werden, um in der Gunst Dritter zu wachsen. Ebenso gut ist es vorstellbar, dass die Leistungsgeber in derartigen Beziehungen einzig aufgrund (subjektiv empfundenen) normativen Drucks an der Beziehung festhalten. [6.b] Auf dieser Grundlage formuliere ich in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und familienbezogenen Einstellungen die beiden folgenden Teilhypothesen (H6.1 und H6.2):
H6.1:
Je höher die Bildung und je höher der berufliche Status, desto weniger stark betonen Individuen den Wert der Solidarität zur eigenen Familie
H6.2:
Je höher die Bildung und je höher der berufliche Status, desto geringer fühlen sich Individuen ihrer Familie gegenüber in die Pflicht genommen
Die beiden letzten Hypothesen beziehen sich auf die Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen. Die erste der beiden diesbezüglichen Hypothesen setzt sich mit dem Verhältnis von Schichtzugehörigkeit und der Entfaltung des Transitivitätsprinzips auseinander (H7), während sich die zweite Forschungshypothese eng an die Überlegungen in Bezug auf die Affekttheorie des sozialen Austauschs anlehnt (H8).
50
Die Diskussion in Bezug auf das Spannungsverhältnis zwischen Schichtzugehörigkeit und sozialer Unterstützung klammert aus Gründen der vereinfachenden Darstellung Überlegungen zur Rolle wohlfahrtsstaatlicher Transferleistungen aus.
5 Hypothesen
97
(7)
Ich hatte bereits unter H2 die Erwartung formuliert, dass die Mitglieder höherer sozialer Schichten in geringerem Maße über transitive Sozialbeziehungen verfügen dürften. Doch Hypothese H2 bezieht sich lediglich auf das globale Strukturmerkmal ‚Dichte’. Dies impliziert die Gefahr, einem so genannten ‚ökologischen Fehlschluss’ aufzusitzen. Denn geschlossene Netzwerke, in denen sich die meisten der Netzwerkmitglieder untereinander kennen, können das Produkt zweier gänzlich verschiedener Mechanismen sein. Zum einen ist es denkbar, dass dichte Netzwerke deshalb entstehen, weil die Netzwerkmitglieder in denselben sozialen Kontexten miteinander agieren. Zum anderen können dichte Netzwerke aber auch dem Prinzip der Transitivität sozialer Beziehungen geschuldet sein. Es ist die letztgenannte theoretische Verknüpfung, auf die H7 Bezug nimmt [vgl. 2.a, 2.b]:
H7:
Je höher das Bildungsniveau und je höher der berufliche Status, desto geringer ist der Netzwerkanteil von Beziehungen, die kraft des Transitivitätsprinzips entstehen.
(8)
Im Kern behauptet die Affekttheorie des sozialen Austauschs, dass vertrauensvolle und enge persönliche Bindungen vor allem im Rahmen produktiver Austauschbeziehungen entstehen. Vor diesem Hintergrund lassen sich zum Beispiel die Institutionen des Bildungssystems (Schulen, Universitäten etc.) sowie politische Parteien und die verschiedenen Angebote des ‚dritten Sektors’ (Vereine, Clubs) als ideale Gelegenheitsmärkte persönlicher Beziehungen begreifen. Unterstellt man, dass die Netzwerke der Mitglieder oberer sozialer Schichten tendenziell größer sind (vgl. H1), so könnte dies der Affekttheorie zufolge daran liegen, dass mit Bildung und beruflichem Status die Wahrscheinlichkeit zunimmt, an institutionellen Angeboten teilzuhaben, in deren Rahmen gute Chancen für produktiven sozialen Austausch bestehen [8.a]. Darüber hinaus unterstellt die erweiterte Focustheorie (Kapitel 3.6), dass die Angehörigen der unteren sozialen Schichten tendenziell eher in offene Foci eingebettet sind als Personen mit höherer Bildung und höherem beruflichen Status. In Anschluss an Lawler ist zu erwarten, dass Austauschbeziehungen im Rahmen offener Foci weniger Emotionen freisetzen als in geschlossenen. Offene Foci sind charakterisiert durch eine fehlende gemeinsame Zielsetzung, so dass kooperatives Handeln nicht notwendig ist. Doch aus austauschtheoretischer Perspektive ist es gerade das Moment der Kooperation, welches die Entstehung von Beziehungen begünstigt, die durch commitment geprägt sind [8.b] Im Fa-
98
5 Hypothesen zit lautet meine Erwartung (H8) bezüglich des Zusammenhangs zwischen Schichtzugehörigkeit und Gelegenheitsmärkten produktiver Austauschbeziehungen:
H8:
Je höher das Bildungsniveau und je höher der berufliche Status, desto stärker ist die Teilhabe an Foci, die günstige Voraussetzungen für produktive Austauschbeziehungen bieten.
Zum Abschluss habe ich alle acht forschungsleitenden Hypothesen in einer Tabelle (Tabelle 2) überblicksartig zusammengefasst. Der Tabelle können auch die jeweiligen Unterkapitel entnommen werden, in welchen sich theoretische Argumente finden lassen, die die entsprechenden Hypothesen unterstützen. Tabelle 2: Übersicht über die Forschungshypothesen Untersuchungsgegenstand Größe
Dichte
Multiplexität
Theoretischer Erklärungsansatz Hypothese (zu finden in Kapitel…) H1 Je höher das Bildungsniveau Mobilitätskapital (3.3); und je höher der berufliche Defizithypothese (3.4); Status, desto größer sind die Focustheorie (3.6); ego-zentrierten Netzwerke. Affekttheorie des sozialen Austauschs (3.7); Reziprozität (3.8) H2 Je höher das Bildungsniveau Transitivität (3.2); und je höher der berufliche Reziprozität (3.8); Status, desto geringer ist die Dichte als inverse Größe Dichte der ego-zentrierten zur Zahl der Alteri Netzwerke. H3 Je höher das Bildungsniveau Defizithypothese (3.4); und je höher der berufliche Dekontextualisierung Status, desto geringer ist die (3.5); Reziprozität (3.8) durchschnittliche Multiplexität der ego-zentrierten Netzwerke.
5 Hypothesen
Untersuchungsgegenstand Räumliche Spannweite
Kontakthäufigkeit
Solidarität und Reziprozität (Einstellungsebene)
99 Theoretischer Erklärungsansatz Hypothese (zu finden in Kapitel…) H4 Je höher das Bildungsniveau Mobilitätskapital (3.3); und je höher der berufliche KompetenzdefizithypoStatus, desto größer ist die these (3.4); räumliche Spannweite der ungleiche Mobilitätsraego-zentrierten Netzwerke. ten H5 Je höher das Bildungsniveau Mobilitätskapital (3.3); und je höher der berufliche Schlussfolgerung aus H4 Status, desto weniger häufig werden Netzwerkbeziehungen unter Anwesenheit aktualisiert. H6.1 Je niedriger das Bildungsni- Reziprozität (3.8) veau und je niedriger der berufliche Status, desto stärker betonen Individuen den Wert der Solidarität gegenüber der Familie.
H6.2 Je niedriger das Bildungsniveau und je niedriger der berufliche Status, desto stärker fühlen sich die Individuen von ihrer Familie in die Pflicht genommen. Transitivität H7 Je höher das Bildungsniveau Transitivität (3.2) und je höher der berufliche Status, desto geringer ist der Netzwerkanteil von Beziehungen, die kraft des Transitivitätsprinzips entstehen. Gelegenheitsstrukturen H8 Je höher das Bildungsniveau Focustheorie (3.6); produktiver Ausund je höher der berufliche Affekttheorie des soziatauschbeziehungen Status, desto stärker ist die len Austauschs (3.7) Teilhabe an Foci, die günstige Voraussetzungen für produktive Austauschbeziehungen bieten.
6 Operationalisierung und Daten
Um die zuvor diskutierten Hypothesen in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und der Struktur persönlicher Netzwerke zu überprüfen, greife ich auf die Daten verschiedener Bevölkerungsbefragungen zurück. Die Schichtzugehörigkeit wird im Folgenden anhand der Faktoren ‚Bildung’ und ‚beruflicher Status’ operationalisiert. Das dritte Standbein der ‚meritokratischen Triade’ (Kreckel 1992) wird im Folgenden deshalb nicht berücksichtigt, weil die Frage nach dem Haushalts- oder nach dem persönlichen Einkommen in (zu) vielen Fällen eine Antwortverweigerung nach sich zieht bzw. das Einkommen gar nicht erst erhoben wird. Daher werde ich in den Analysen, auch aus Gründen der Vergleichbarkeit des ohnehin heterogenen Datenmaterials, nur auf Indikatoren für den Bildungsgrad und für den sozioökonomischen Status zurückgreifen. Da die drei Dimensionen Bildung, Status und Einkommen in der Regel in hohem Maße miteinander korrelieren, dürfte sich der durch den Verzicht auf die Einkommensdaten gegebene Informationsverlust jedoch in vertretbaren Grenzen halten. Im Folgenden gehe ich zunächst auf die konkrete Operationalisierung der beiden verwendeten Indikatoren für die Schichtzugehörigkeit ein. Sodann stelle ich die verwendeten Datensätze vor, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der Frage liegen wird, welche Netzwerkinstrumente zum Einsatz kommen und wie sich diese von anderen Studien unterscheiden. Zum Abschluss dieses Kapitels diskutiere ich weitere wichtige soziodemographische Kontrollvariablen, die in den empirischen Analysen zum Einsatz kommen.
6.1 Die Operationalisierung des Bildungsniveaus Das Bildungsniveau der Befragten wird auf zweierlei Weise gemessen. In vielen Analysen soll ein erster Eindruck der Bildungsabhängigkeit sozialer Netzwerke durch die Verwendung des allgemein bildenden Schulabschlusses vermittelt werden. Des Weiteren verwende ich die so genannte CASMIN-Klassifikation51, deren Ausprägungen jeweils eine Kombination aus schulischer und beruflicher
51
CASMIN= Comparative Analysis of Social Mobility in Industrial Nations
102
6 Operationalisierung und Daten
Bildung darstellen. Dieses international gängige Bildungsschema entstand in den 1980er Jahren und hat zum Ziel, „Bildungsstufen so abzubilden, dass diese hinsichtlich ihrer Funktion als Selektionskriterium im Prozess gesellschaftlicher Klassenbildung und sozialer Mobilität größtmögliche Äquivalenz aufweisen.“ (Lechert et al. 2006: 3) Eine besondere Eigenschaft dieser Klassifikation ist ihre Fokussierung auf Zertifikate: Eine Realschulabsolventin, die auf dem zweiten Bildungsweg einen Universitätsabschluss erwirbt, wird in die gleiche CASMINKategorie eingestuft wie eine Abiturientin, die direkt nach der Schule auf eine Universität wechselt und dort graduiert. Tabelle 3 veranschaulicht die Klassifikation am Beispiel des deutschen Bildungswesens. Um die Modelle einfacher zu gestalten, gehen nur die drei Hauptstufen der CASMIN-Klassifikation in die Analysen ein. Dementsprechend bilden die Angehörigen der CASMIN-Stufen 1a, 1b und 1c die Gruppe der niedrig Gebildeten. Das mittlere Bildungssegment besteht aus den CASMIN-Stufen 2b, 2a, 2c_gen und 2c_voc. Zu den hoch Gebildeten können Personen gezählt werden, die über einen Fachhochschulabschluss oder einen Universitätsabschluss verfügen (CASMIN-Stufen: 3a, 3b).
Tabelle 3: Die Bildungsklassifikation CASMIN am Beispiel des deutschen Bildungssystems CASMIN-Stufe
Bildungsniveau
1a
kein Abschluss
1b
Hauptschulabschluss ohne berufliche Ausbildung
1c
Hauptschulabschluss und berufliche Ausbildung
2b
Mittlere Reife ohne berufliche Ausbildung
2a
Mittlere Reife und berufliche Ausbildung
2c_gen
Fachhochschulreife/Abitur ohne berufliche Ausbildung
2c_voc
Fachhochschulreife/Abitur und berufliche Ausbildung
3a
Fachhochschulabschluss
3b
Universitätsabschluss (nach Lechert 2006: 5)
Schwierig gestaltet sich die Vergleichbarkeit der deutschen Bildungsabschlüsse mit denen des niederländischen Bildungssystems. Die Daten der ebenfalls verwendeten niederländischen Studie (NKPS) erlauben keine Zuordnung zum CASMIN-Schema. Aus diesen Gründen habe ich auf die ebenfalls international
6.2 Die Operationalisierung des beruflichen Status
103
anerkannte ISCED-Klassifikation zurückgegriffen.52 Ebenso wie bei den Kategorien des CASMIN-Schemas habe ich auch im Hinblick auf ISCED eine Vereinfachung für die empirischen Auswertungen vorgenommen. Da die NKPS neben der niederländischen Originalfassung vollständig in englischer Sprache dokumentiert ist, findet sich in der folgenden Tabelle (Tabelle 4) sowohl der niederländische als auch der englische Wortlaut der Items wieder. Tabelle 4: Operationalisierung des ISCED-Schemas niedriges Bildungsniveau:
complete elementary (lagere school niet afgemaakt); Elementary school only (lagere school incl. vglo); Lower vocational (lbo, huishschool, lhno)
mittleres Bildungsniveau:
Lower general secondary (mavo, ulo, mulo); Medium general secondary (havo, mms); Upper general secondary (vwo, hbs, atheneum, gymnasium); Intermediate vocational (mbo, kmbo);
hohes Bildungsniveau:
Higher vocational (hbo, kandidaats); university (universiteit); post-graduate training (postac bv notariaat, artsexamen, dr-titel)
6.2 Die Operationalisierung des beruflichen Status Als weiteren Schichtindikator verwende ich den Beruf bzw. den damit verbundenen sozioökonomischen Status der Befragten. Die im Vorfeld erworbene Bildungsqualifikation stellt lediglich die Eintrittskarte dar, welche es erlaubt, in den Wettbewerb um die eher raren Berufe mit guten finanziellen Verdienstmöglichkeiten bzw. hohem Prestige zu treten. Je nach Datenlage werde ich in diesem Zusammenhang auf zwei verschiedene Messinstrumente zurückgreifen. Dabei handelt es sich zum einen um Konzepte, die den sozioökonomischen Status auf Basis genauer Berufsangaben abbilden (zurückgehend auf die so genannten ISCO-Vercodungssysteme53 ISCO-68 und ISCO-88). Liegen diese Angaben nicht vor, besteht, zumindest mit Blick auf die herangezogenen deut-
52 53
ISCED= International Standard Classification of Education ISCO=International Standard Classification of Occupations (internationale Standardklassifikation der Berufe)
104
6 Operationalisierung und Daten
schen Studien, die Alternative, die Statuszuordnung auf die Basis der ‚Stellung im Beruf bzw. Betrieb’ zu stellen. Erfolgt die Erfassung des sozioökonomischen Status mit Hilfe der ISCOKodierung, so werde ich auf die von Ganzeboom et. al. (1992) entwickelte internationale Skala des sozioökonomischen Status (International SocioEconomic Index of Occupational Status, kurz: ISEI) zurückgreifen. Im Gegensatz zu den Prestigeskalen von Treiman (1977) und Wegener (1988) steht „hinter dieser Skala nicht mehr die Überlegung, dass jede berufliche Tätigkeit ein Ansehen hat, das bewertbar und zu anderen beruflichen Tätigkeiten über eine Rangreihung in Beziehung zu setzen ist (…)“ (Hoffmeyer-Zlotnik und Geis 2003: 129), sondern vielmehr dass „(…) jede berufliche Tätigkeit einen bestimmten Bildungsgrad erfordert und durch ein bestimmtes Lohnniveau entlohnt wird.“ (ebd.) Eine Alternative zu den auf den ISCO-Codes basierenden Indizes bildet der von Hoffmeyer-Zlotnik (1993) entwickelte, ausschließlich für deutsche Daten verwendbare ‚Index der Autonomie des beruflichen Handelns’ (kurz: HZAIndex). Grundlegend für die Zuordnung zu einer der fünf Skalenausprägungen (1= niedrige Autonomie, z.B. bei ungelernten Arbeitern, 5= hohe Autonomie, z. B. leitende Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben) ist hierbei die differenziert erhobene Stellung im Beruf bzw. Betrieb. Im gängigen Erhebungsinstrument des ALLBUS umfasst die entsprechende Feintypologie ‚Stellung im Beruf’ zum Beispiel 26 Ausprägungen. Aufgrund der vergleichsweise hohen Korrelation (0,79) mit der auf den ISCO basierenden Treiman-Prestigeskala (Wolf 1995: 111) eignet sich der HZA-Index als gute Alternative zur Erfassung des sozioökonomischen Status der Befragten.
6.3 Die verwendeten Umfragedaten (I): Familiensurvey Der vom Bundesministerium für Familie und Forschung (BMBF) in Auftrag gegebene und vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) geplante und in Kooperation mit mehreren Sozialforschungs-Instituten durchgeführte Familiensurvey stellt eine umfangreiche Datenbasis in Bezug auf persönliche Netzwerke dar. Mein Hauptaugenmerk richtet sich dementsprechend auf das Modul ‚Soziale Netze’. Die erste Welle startete 1988 mit rund 10.000 standardisierten mündlichen Interviews von 18- bis 55jährigen deutschen Staatsbürgern in den alten Bundesländern, 1992 fand eine Nacherhebung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR statt. Der Familiensurvey 2000 gibt insbesondere Aufschluss über die Netze relativ enger persönlicher Beziehungen. Für eine solche Lesart spricht die Einleitung des Netzwerkteils:
6.4 Die verwendeten Umfragedaten (II): Netherlands Kinship Panel Study
105
Mit den folgenden Fragen möchten wir wissen, welche Menschen derzeit in Ihrem Leben eine besondere Rolle spielen. Ich nenne Ihnen dafür eine Reihe von Tätigkeiten oder Situationen, die im täglichen Leben immer wieder vorkommen. [Herv. J.M.] Der besondere Vorteil des nunmehr etwas in die Jahre gekommenen Familiensurveys ist der Komplexitätsgrad des Netzwerkmoduls. Auf Basis eines modifizierten Fischer-Instruments konnte Ego bis zu 20 Alteri benennen. Folgende 5 Namensgeneratoren wurden im Familiensurvey 2000 verwendet: 1. 2. 3. 4. 5.
Mit wem besprechen Sie Dinge, die Ihnen persönlich wichtig sind? Mit wem haben Sie eine sehr enge gefühlsmäßige Bindung? Von wem erhalten Sie ab und zu oder regelmäßig finanzielle Unterstüt zung? An wen geben Sie ab und zu oder regelmäßig finanzielle Unterstützung? Mit wem verbringen Sie hauptsächlich Ihre Freizeit?
Ferner wurden die Probanden noch gebeten, bestimmte andere Personen ergänzend hinzuzufügen, falls diese als Reaktion auf die oben genannten Namensgeneratoren noch nicht genannt worden waren. Dies betraf vor allem Familienmitglieder (Eltern, Kinder, Haushaltsmitglieder etc.). Diese Gruppe von Alteri, die nicht über einen Namensgenerator erhoben wurde, wurde in allen Phasen der nachfolgend diskutierten empirischen Untersuchung ignoriert, da davon auszugehen ist, dass es sich in diesen Fällen lediglich um latente, nicht aber um manifeste persönliche Beziehungen handelt. Für jeden einzelnen der Alteri wurden unter anderem folgende Informationen erhoben: Geschlecht; Art der Beziehung zum Genannten; Beurteilung der Beziehung zum Genannten; räumliche Entfernung zum Genannten; Kontakthäufigkeit zum Genannten. Ein Wort zur Repräsentativität des Samples: Überrepräsentiert sind im Familiensurvey vor allem Frauen sowie Verheiratete mit Kindern.
6.4 Die verwendeten Umfragedaten (II): Netherlands Kinship Panel Study Die zwei Wellen (2005; 2007) der Netherlands Kinship Panel Study (im Folgenden NKPS) bieten eine für den Bereich der persönlichen Beziehungsstruktu-
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6 Operationalisierung und Daten
ren einmalige Datenbasis, die in der Bundesrepublik derzeit noch ihresgleichen sucht.54 Bei der NKPS handelt es sich um einen Ableger des von den Vereinten Nationen koordinierten ‚Generations and Gender’ Programms. Das NKPS ist ein Kooperationsprojekt des Netherlands Interdisciplinary Demographic Institute (NIDI), der Universität Utrecht, der Universität Tilburg und der Universität Amsterdam und wird finanziell von der Nederlandse Organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek (NWO) gefördert (Fördernummer 480-10-009). Hierbei handelt es sich um eine innovative und umfangreiche Datenbasis (N= 9500: Methoden-Mix aus standardisierten und qualitativen problemzentrierten Interviews). Die Daten der NKPS erweisen sich insbesondere im Hinblick auf die Untersuchung von nicht-verwandtschaftlichen Netzwerken als hilfreich. Streng genommen handelt es sich bei den in der vorliegenden Arbeit diskutierten Netzwerken der NKPS also nur um persönliche Teilnetzwerke. Der dabei eingesetzte Namensgenerator entspricht in Grundzügen dem Burt-Instrument: We have covered your family. I would now like to ask you a few questions about contacts outside your family. Please give the names of friends, acquaintances, colleagues, neighbours or other people you meet through a club or society or otherwise with whom you are in touch regularly and who are important to you. You may give a maximum of five names. Auch hier liegt die Betonung also auf Beziehungen, die a) regelmäßig gepflegt werden und b) die den Probanden (in nicht näher definierter Weise) wichtig sind. Weak ties (Granovetter 1973), wie auch immer operationalisiert, dürften durch dieses Erhebungsverfahren also deutlich unterrepräsentiert sein. Als einzige der herangezogenen Untersuchungen bietet die NKPS 2005 Einblick in die Entstehungszusammenhänge der jeweiligen Beziehungen. Der diesbezügliche Text im Fragebogen lautete (s. nächste Seite, vgl. Dykstra et al. 2005):
54
Vergleichbare Daten für die Bundesrepublik wird erst die sich derzeit im Aufbau befindliche Studie PAIRFAM (‚Beziehungs- und Familienentwicklungspanel’) liefern (vgl. Feldhaus und Huinink 2008). Zum PAIRFAM-Projekt siehe: http://www.pairfam.uni-bremen.de/ (Zugriff: 15.01.09)
6.4 Die verwendeten Umfragedaten (II): Netherlands Kinship Panel Study
107
How did you meet {name}? 1 through work 2 through school/a course or volunteer work 3 in the neighbourhood 4 through church 5 through a sports club 6 through another club or society 7 by going out, at a party 8 through your partner 9 through friends or acquaintances 10 through family 11 other
Darüber hinaus bietet die NKPS einen sehr aufschlussreichen Indikator für räumliche Mobilität, ein Faktor, der in der vorangegangenen Diskussion ja als zentral für die Wirksamkeit des Transitivitätsprinzips in sozialen Netzwerken skizziert wurde. Im Rahmen der Erhebung wurde sowohl die Postleitzahl von Egos derzeitigem Wohnsitz als auch diejenige des Ortes erfasst, an dem Ego zum Zeitpunkt seines 15. Geburtstags lebte. Aus diesen Informationen wurden, basierend auf einem System der ‚Rijksdriehoeksmeting’ (Dutch Geometric Infrastructure), in Kooperation von GEODAN und der Universität Amsterdam metrische räumliche Koordinaten gebildet (der Ursprungsvektor {0;0} liegt dabei in Frankreich). Anhand dieser Koordinaten lässt sich ziemlich genau die räumliche Distanz zwischen Egos aktuellem Wohnsitz und dem der Jugend beziffern.55 Um die Privatsphäre der Probanden zu schützen, wurden die Koordinaten bis auf 100 Meter gerundet, darüber hinaus enthält das User file der NKPS – im Gegensatz zu den Rohdaten – nur kilometergenaue Angaben. Die Formel zur Berechnung der Distanz (D) lautet:56
Di
55 56
( Koord ( xi ) Koord ( xi15 )) 2 ( Koord ( yi ) Koord ( yi 15 )) 2
Fälle, in denen Ego ins Ausland gezogen ist, wurden dabei jedoch nicht berücksichtigt. Entsprechend lautet die SPSS Syntax zur Berechnung der räumlichen Distanz zwischen Egos jetzigem Wohnort und dem zur Jugendzeit: compute Dist= sqrt(((azipx - ab601x)**2) + ((azipy - ab601y)**2)). (Vgl. Dykstra et al. 2005: 68)
108
6 Operationalisierung und Daten
Da es sich bei den Niederlanden um einen flächenmäßig sehr kleinen Staat handelt, sind jedoch selbst die maximalen Entfernungen zwischen Egos derzeitigem Aufenthaltsort und dem des Jugendalters als recht gering zu bezeichnen. In der für die nachfolgende empirische Untersuchung maßgeblichen Stichprobe liegt die maximale Entfernung der beiden Wohnsitze dementsprechend nur bei 274 km. Im Durchschnitt trennen den Wohnort des 15. Lebensjahrs und den aktuellen Wohnort rund 30 km. Daher kann der Trend zur räumlichen Mobilität zumindest im Hinblick auf die Niederlande lediglich als moderat bezeichnet werden. Wie andere Datensätze auch bildet die Datenstruktur des NKPS kein genaues Ebenbild des niederländischen Zensus. Unterrepräsentiert sind Männer, allein lebende Frauen, Personen unter 30 Jahren sowie sehr alte Personen und junge Erwachsene, die noch bei ihren Eltern leben.
6.5 Die verwendeten Umfragedaten (III): ALLBUS/ISSP Die ‚Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften’ (ALLBUS) wird seit 1980 im Turnus von zwei Jahren auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erhoben. Es handelt sich dabei um eine repräsentative Querschnittsbefragung der deutschen Bevölkerung. Im Rahmen des ALLBUS gibt es einerseits ein sich wiederholendes Set von Standardfragen. Darüber hinaus gibt es aber auch sich abwechselnde inhaltliche Schwerpunkte. Einen besonderen Platz unter den sich abwechselnden Modulen nehmen die Fragebatterien des International Social Survey Programme (ISSP) ein. Dabei handelt es sich jeweils um ein länderübergreifend eingesetztes sozialwissenschaftliches Fragebogenmodul, mit dessen Hilfe wissenschaftliche Studien mit einem Fokus auf komparative Ländervergleiche durchgeführt werden können. Vor dem Hintergrund meiner Fragestellung liegt ein Schwerpunkt der nachfolgenden empirischen Analyse auf dem ALLBUS 2002, in dem das ISSP-Modul „Social Relations and Support Systems“ (N= 1369, davon Ost: n= 433) integriert war. Das Netzwerkmodul bietet sowohl einen Einblick in die Einstellungen, welche die Probanden in Bezug auf Freundschaften hegen, als auch einen Überblick über das quantitative Ausmaß von Freundschaftsbeziehungen. Die Zahl der Freunde wurde dabei global erfasst (s. nächste Seite):
6.5 Die verwendeten Umfragedaten (III): ALLBUS/ISSP
1. 2. 3.
109
Nun ein paar Fragen zu Menschen, die Sie kennen, die aber nicht zu Ihrer Familie oder Verwandtschaft gehören [Einleitungstext]: Denken Sie an Menschen bei Ihrer Arbeit. Wie viele sind davon Ihre engen Freunde? Denken Sie an Menschen, die in Ihrer Nachbarschaft oder in Ihrer Nähe wohnen. Wie viele sind davon Ihre engen Freunde? Wie viele andere enge Freunde haben Sie – abgesehen von Freunden aus der Nachbarschaft, bei der Arbeit oder in der Familie? (Denken Sie etwa an Freunde in Vereinen, Clubs, in der Kirche usw.)
Darüber hinaus beinhaltet das im ALLBUS 2002 enthaltene ISSP-Modul Einstellungsfragen in Bezug auf enge Freundschaften. Auch diese Items werden im nachfolgenden empirischen Kapitel in Abhängigkeit von der Schichtzugehörigkeit der Probanden untersucht. Die entsprechenden Fragen lauteten: Manche Menschen schätzen verschiedene Dinge an einen engen Freund/an einer engen Freundin und unterscheiden sich darin, wie wichtig das eine oder das andere für sie ist. Bitte kreuzen Sie an, wie wichtig oder nicht wichtig folgende Aspekte für Sie bei engen Freunden sind [Antwortmöglichkeiten: Außerordentlich wichtig; sehr wichtig; ziemlich wichtig; nicht so wichtig; überhaupt nicht wichtig]. Intelligenz:
Dass jemand intelligent ist und mich zum Nachdenken anregt. Verständnis: Dass jemand mich wirklich versteht. Hilfe: Dass jemand mir hilft, die Dinge anzupacken. Unterhaltsamkeit: Dass jemand unterhaltsam ist.
Leider haben die Niederlande nicht am ISSP-Programm 2001 teilgenommen, so dass kein Datenvergleich zwischen der Bundesrepublik und dem Nachbarland möglich ist. Die nachfolgend diskutierten Befunde weisen jedoch daraufhin, dass sich die Muster der Netzwerkstrukturen in beiden Staaten weitgehend überschneiden.
110
6 Operationalisierung und Daten
6.6 Die verwendeten Umfragedaten (IV): Survey Transnationalisierung Der ‚Survey Transnationalisierung 2006’ wurde im Rahmen des mit Mitteln von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts ‚Transnationalisierung sozialer Beziehungen’ an der Universität Bremen entwickelt und gemeinsam mit dem Sozialforschungsinstitut IPSOS im Frühjahr 2006 erhoben. Dabei handelt es sich um eine repräsentative Bevölkerungsbefragung von 2700 Personen. Die Grundgesamtheit bildete dabei die deutschsprachige Wohnbevölkerung Deutschlands ab 16 Jahren mit deutscher Staatsbürgerschaft57 und telefonischem Festnetzanschluss. Ziel des Surveys war es, ein möglichst differenziertes Bild der die nationalstaatliche Grenze überschreitenden Kontakte und Erfahrungen der autochthonen Bevölkerung Deutschlands zu gewinnen (Mau 2007). Vor dem Hintergrund meiner Fragestellung lassen sich die erhobenen Auslandsnetzwerke als Proxy für fernräumliche Kontakte auffassen. Für jeden einzelnen der Bereiche ‚Deutsche im Ausland’, ‚nicht-deutsche Verwandte im Ausland’ und ‚nicht-deutsche Bekannte im Ausland’ gab es zunächst eine pauschale Abfrage in Bezug auf die Gesamtzahl der entsprechend bekannten Personen. Sodann wurden die Befragten gebeten, über bis zu vier der jeweilig genannten Personen genauere Angaben wie Aufenthaltsstaat, Art der Beziehung zum Genannten etc. zu machen. Im Fragebogen liest sich das mit Blick auf ausländische Verwandte im Ausland zum Beispiel so: 1.
2.
Denken Sie jetzt bitte nur an Ihre Familienmitglieder und Verwandten, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben und die im Ausland leben. Mit wie vielen Personen, auf die diese Beschreibung zutrifft, haben Sie regelmäßig Kontakt? Beziehen Sie sich bei den nächsten Fragen bitte auf die vier Personen, mit denen Sie von den eben genannten … Personen am meisten Kontakt haben!
Ein analoges Set von Items widmete sich überdies den im Ausland lebenden Deutschen (Verwandte und/oder Bekannte) sowie im Ausland lebenden Personen nicht-deutscher Staatsbürgerschaft, mit denen Ego nicht verwandt ist.
57
Zur Stichprobe zählen auch Personen mit zwei oder mehreren Staatsangehörigkeiten, sofern eine der Staatsbürgerschaften die deutsche ist.
6.7 Soziodemographische Kontrollvariablen
111
6.7 Soziodemographische Kontrollvariablen Einschlägige Studien aus dem Bereich der Netzwerkforschung konnten eine Vielzahl soziodemographischer Einflussfaktoren identifizieren, die eine wichtige Rolle bei der Initiierung und Pflege persönlicher Kontakte spielen. Leider steht den empirischen Befunden ein erstaunlicher Mangel an theoretischer Klarheit über die gefundenen Zusammenhänge gegenüber. In den nachfolgenden empirischen Untersuchungen werden, wenn möglich, die folgenden ‚klassischen’ soziodemographischen Kennziffern kontrolliert: Alter, Geschlecht, Ost-West-Herkunft (für Daten der Bundesrepublik), feste/r Partner/in vorhanden bzw. mit/ohne Partner zusammenlebend; eigene bzw. Stief-/Adoptiv-Kinder vorhanden bzw. mit eigenen bzw. Stief-/Adoptiv-Kindern im Haushalt lebend; Gemeindegröße (Unterscheidung zwischen Großstädten und kleineren Gemeinden/Städten). Als besonders wichtige Einflussgrößen für die Muster von sozialen Netzwerken gelten typische Lebenslaufsereignisse wie Heirat, Geburt der Kinder und Tod des Partners. Zudem wurde in jüngster Zeit auch dem Phänomen der Migration und der sozialen Integration von Ausländern große Aufmerksamkeit seitens der soziologischen Netzwerkforschung geschenkt (Ganter 2003). Auf die mutmaßlichen Effekte verschiedener Zäsuren des Lebensverlaufs sowie der Merkmale ‚Geschlecht’ und Migrationshintergrund’ werde ich im Folgenden kurz eingehen. 6.7.1 Persönliche Netzwerke im Lebensverlauf Seit den 1980ern bereichert ein konzeptioneller Vorstoß von Kahn und Antonucci (1980) den Zweig der soziologischen Netzwerkforschung, der interpersonale Beziehungsgefüge aus einer Lebensverlaufsperspektive heraus verfolgt. Die Autoren entwickelten das heuristische Modell des social convoy, auf deutsch etwas sperrig als ‚soziales Weggeleit’ übersetzt. „Es handelt sich dabei um ein heuristisches Modell, welches Eigenheit und Determinanten langjähriger sozialer Beziehungen mit dem Konzept der sozialen Unterstützung in Verbindung setzt. Die wichtigste Annahme ist dabei, dass Individuen ihr gesamtes Leben hindurch von einem Konvoi an sozialen Beziehungen begleitet werden“ (Baas 2008: 150). Das theoretische Modell von Kahn und Antonucci setzt nicht voraus, dass die Zusammensetzung dieses Konvois zeitlich stabil ist. Vielmehr findet, je nach Lebensphase und den entsprechenden Bedürfnissen, ein Austausch des ‚Personals’ des sozialen Konvois statt. „Unter optimalen Bedingungen ist der Konvoi aufgrund seiner dynamischen Fähigkeiten in der Lage, den sich im Lebensverlauf wandelnden Bedürfnissen des ‚Ego’ anzupassen.“ (Baas 2008: 150). Wie hat man sich die lebenverlaufsspezifischen Bedürfnisse in Be-
112
6 Operationalisierung und Daten
zug auf die Strukturierung des sozialen Konvois praktisch vorzustellen? Im Kindes- und Jugendalter pflegen die Individuen vor allem räumlich lokale Beziehungen: Bedingt durch die Unterbringung im elterlichen Heim kommt es zu Umzugsmobilität in den meisten Fällen nur dann, wenn auch die Eltern wegziehen. Daher erweisen sich die Netzwerke von schulpflichtigen Jugendlichen zumindest in räumlicher Hinsicht als relativ homogen. Zugleich beobachtet die Forschung sehr große Netzwerke unter den Heranwachsenden. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang vor allem die relativ großen Bekanntschafts- und Freundschaftskreise. Auch scheinen Jugendliche häufiger ihre Freunde zu wechseln, die Beziehungen dieser Altersgruppe können insgesamt also als weniger stabil bezeichnet werden. Mit dem Eintritt in die Phase der Erwerbstätigkeit stellt sich dann oft eine signifikante Veränderung der Struktur des Beziehungsgefüges ein. So verringert sich in vielen Fällen sowohl die zeitliche Investition in Bezug auf die Pflege von Freundschaften als auch die Zahl dieser Bindungen selbst (Bidart und Lavenu 2005). Neben der mangelnden Zeit stellt die Herausbildung romantischer Partnerschaften sowie das Zusammenleben mit dem geliebten Partner die wohl wichtigste Ursache für den allmählichen Frequenzrückgang in Bezug auf die Aktivierung freundschaftlicher Beziehungen dar. Dies muss jedoch nicht bedeuten, dass die vormals sehr häufig aktualisierten Freundschaften völlig zum Erliegen kommen. Gerade enge Freundschaften zeichnen sich dadurch aus, dass die Kontakte beiderseitig jederzeit wieder aktiviert werden können und es ohne weiteres zu einem spontanen und lebhaften Austausch zwischen den an einer Freundschaft Beteiligten kommen kann. Allerdings zeigen Wellman et al. (1997) in einer retrospektiv angelegten Studie, dass ein nahezu vollständiger Mitgliederaustausch in Netzwerken von Personen stattgefunden hatte, die innerhalb der untersuchten Dekade geheiratet hatten. Mit der Geburt eigener Kinder stehen für die Individuen dann in der Regel weitere entscheidende Einschnitte im Hinblick auf die Strukturierung von persönlichen Netzwerken an. Zeit, eine der wichtigsten Ressourcen in Bezug auf die Pflege persönlicher Beziehungen, ist dann häufig noch kostbarer und scheint den Erkenntnissen einschlägiger Netzwerkstudien zufolge häufig zu Lasten von Freundschaften zu gehen. Generell gilt, dass die Größe des Netzwerks, besonders des Verwandtenkreises, ab dem mittleren Lebensalter (25 bis 50 Jahre) stark vom eigenen generativen Verhalten abhängt (Diewald 1991: 151). Zusätzlich wecken Kinder auch das Interesse der Großeltern und – wenn vorhanden – von Onkeln und Tanten, so dass bei Personen mit Kindern von intensiveren Kontakten zu diesem Personenkreis auszugehen ist. „In der entgegengesetzten Richtung besteht das Klischee der ‚Singles’ zum Teil gerade darin, dass ihre
6.7 Soziodemographische Kontrollvariablen
113
Lebensgestaltung vergleichsweise wenig verwandtenorientiert sein soll.“ (Diewald 1991: 151) Eine weitere große Veränderung der Komposition des Beziehungsgefüges der Individuen stellt sich den Befunden der Netzwerkforschung zufolge dann in der Regel in der Phase des Ruhestandes ein. So gewinnen die Menschen mit der Abkehr aus dem Beruf und dem Erwachsenwerden der eigenen Kinder wieder mehr freie Zeit für sich. Gleichzeitig gibt es oft aber noch Enkelkinder, für die die im Ruhestand lebenden Großeltern dann häufig wichtige Unterstützungspersonen darstellen. Eine weitere, traurige Konsequenz des hohen Lebensalters ist in der Regel auch durch das allmähliche „‚Wegsterben’ der Mitglieder der eigenen Generation“ (Hollstein 2001: 162) gegeben. Eine besondere emotionale Tragweite entfaltet in diesem Zusammenhang häufig der Tod des Partners (Hollstein 2002). Auch im Hinblick auf die Strukturierung der persönlichen Netzwerke ist Verwitwung ein einschneidendes Ereignis: Das Ableben des Menschen, mit dem man viele Jahre des Lebens gemeinsam verbracht hat, bringt nach einer gewissen Zeit der einsamen Trauer große Veränderungen im Hinblick auf das Sozialleben der Verwitweten mit sich, wie Baas (2008) in einer auf den Daten des Familiensurvey basierenden Längsschnittstudie zeigt. 6.7.2 Geschlecht Inwieweit das (biologische) Geschlecht die Strukturierung ego-zentrierter Netzwerke beeinflusst, ist eine der großen Debatten in der soziologischen Netzwerkforschung. In einem Überblick über den Forschungsstand in Bezug auf die Geschlechterspezifik von Freundschaften kommt Hollstein (2001: 148) zu dem Schluss, dass die „typischen Muster, bezogen auf die Inhalte von Freundschaften, (…) den landläufigen Vorurteilen über Freundschaften von Männern und Frauen [entsprechen].“ Demnach unterscheiden sich Männer und Frauen zum Beispiel in Bezug auf die bevorzugten Kommunikationsstile: Während Frauen stärkeren Wert darauf legen, dass relativ häufige Begegnungen von Angesicht zu Angesicht möglich sind und sie dabei über ‚Herzensangelegenheiten’ sprechen können, konzentrieren sich die Freundschaften von Männern offenbar stärker auf etwas Drittes. Frauen betonen die affektiven Aspekte ihrer Freundschaften wie Intimität, Vertrauen (‚confiding’) und emotionale Unterstützung (…). Frauen messen dem Gespräch größere Bedeutung bei; und ihre Freundschaften zeichnen sich durch eine höhere Veröffentlichungsbereitschaft (‚self-disclosure’) aus (…). Frauen thematisieren eher Zweifel und Ängste und sprechen in Freundschaften häufiger als Männer über persönliche, familiäre Probleme und intime Beziehungen (…). (Hollstein 2001: 148)
114
6 Operationalisierung und Daten
Diese Ergebnisse werden in den empirischen Untersuchungen zwar in regelmäßigen Abständen repliziert, doch eine umfassende theoretische Erklärung für das geschlechtsspezifische Muster ist bislang ausgeblieben. Daher sollten die Vertreter der Freundschaftsforschung nicht vorzeitig das Resümee ziehen, dass Freundschaften von Männern generell ‚oberflächlicher’ als die von Frauen seien. Im Hinblick auf die Zahl von Freunden zeigt die Netzwerkforschung dagegen ein leichtes Plus auf der Habenseite von Männern auf, wobei sich dies zumeist erst in der Zeit nach der Familiengründung einstellt. Dies äußert sich auch bei der Frage nach der Verfügbarkeit eines besten Freundes: So haben laut Diewald (1991) Männer mittleren Alters eine höhere Chance, einen besten Freund zu haben als Frauen. Aus einer an unterschiedlichen Formen der Reziprozität interessierten soziologischen Netzwerkperspektive bleibt darüber hinaus festzuhalten, dass es empirischen Studien zufolge in der Regel Frauen sind, die unbezahlte Pflege für Familienangehörige leisten. In besonderem Maße betrifft dies die Beziehung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Töchtern (Argyle und Henderson 1986). Daher steht zu vermuten, dass Frauen, auch aufgrund ihrer immer noch tragenden Rolle im Hinblick auf die Kindererziehung, erstens generell stärker in verwandtschaftliche Beziehungen einbezogen sein dürften. Zweitens kann angenommen werden, dass sich Frauen auch aufgrund des normativen Drucks des Faktischen stärker in die Pflicht genommen fühlen, unentgeltliche Unterstützung für Verwandte zu leisten. 6.7.3 Migrationshintergrund Aus den Arbeiten zur Intergruppenkontaktforschung (z.B. Allport 1979 [1954]; Amir 1969; Pettigrew 1998; Mau et al. 2008) ist bekannt, dass es für das Beziehungshandeln vieler Menschen einen Unterschied macht, welcher Ethnie, Hautfarbe oder Sprachgruppe ihr Gegenüber angehört. Häufig ist der Intergruppenkontakt zwischen Mitgliedern einer gegebenen Gruppe (Ingroup) und denen einer gegebenen fremden Gruppe (Outgroup) also mit Vorurteilen behaftet. Daher ist zu vermuten, dass Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft sowie Personen mit Migrationshintergrund zuweilen mit Hindernissen auf dem Weg zur Initiierung persönlicher Beziehungen mit Mitgliedern des Aufnahmelandes konfrontiert sind. Umso bedeutsamer dürften für die Betroffenen daher die Kontakte zur eigenen ethnischen Gruppe und zur eigenen Familie sein. In diesem Zusammenhang zeigt die einschlägige Forschungsliteratur, dass Migranten, die keinerlei persönlichen Kontakte zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft pflegen, keineswegs sozial isoliert sein müssen: Oft migrieren Menschen bereits gemeinsam mit ihren Familienmitgliedern oder tragen dafür Sorge, dass Partner und Kinder alsbald nachziehen. Dass Migration zudem häufig zur Nachahmung im erweiterten Familien- und Freundeskreis anregt, zeigt das weit ver-
6.7 Soziodemographische Kontrollvariablen
115
breitete Phänomen der ‚Kettenmigration’ (Haug 2000). Dementsprechend sind viele Migranten schnell in der Lage, vergleichsweise große soziale Netzwerke im Zielland aufzubauen. Diese Netzwerke bestehen dann manchmal nur zu einem geringen Anteil aus autochthonen Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft. Zugleich zeigt die Transnationalisierungsforschung (z. B. Basch et al. 1994; Pries 1998; Vertovec 1999; Faist 2000), dass viele Migranten nicht den von der klassischen Migrationstheorie beschriebenen Prozess der schrittweisen, vollständigen Assimilation in das Zielland durchlaufen, sondern über eine lange Zeit – oft bis zum Lebensende – „ihre Füße in zwei Gesellschaften haben“ (zit. nach Chaney, Glick Schiller et al. 1997: 86). Insgesamt legen die Ergebnisse der Transnationalisierungsforschung also zwei Schlüsse nahe: Erstens dürften die Beziehungen zu Familienmitgliedern und Verwandten, die ebenfalls den Prozess der Migration durchlaufen haben, eine besonders wichtige Rolle spielen. Zweitens dürften sich die persönlichen Netzwerke vieler Migranten über relativ große räumliche Distanzen erstrecken. Während Personen mit einer vom Erhebungsstandort (im Falle der vorliegenden Arbeit: Deutschland bzw. die Niederlande) abweichenden Staatsbürgerschaft aus Gründen der Vergleichbarkeit der Ergebnisse aus meinen Untersuchungen ausgeschlossen wurden, berücksichtige ich, soweit möglich, den Faktor des Migrationshintergrunds. Ein solcher kann sich zum Beispiel darin äußern, dass ein oder beide Elternteile in das Erhebungsland immigriert sind. Gemeint sind aber auch all jene Menschen, die im Laufe ihres Lebens die Staatsangehörigkeit einer anderen Nation angenommen haben. Mit Blick auf die Bundesrepublik zeigt Mau (2007), dass knapp ein Fünftel (19 Prozent) der in Deutschland lebenden Bevölkerung entweder ausländischer Staatsangehörigkeit ist oder über einen Migrationshintergrund verfügt, wobei der Anteil der letztgenannten Gruppe sogar die ersteren übersteigt. „[Ü]ber acht Millionen Menschen mit deutschem Pass [verfügen] über einen Migrationshintergrund, sind also selbst eingebürgert worden, besitzen Migrationserfahrung oder haben mindestens einen Elternteil, welcher Spätaussiedler, Eingebürgerter oder Ausländer ist.“ (Mau 2007: 114) Ebenso wie Deutschland sind auch die Niederlande als Einwanderungsnation zu erachten. Dies hängt zum einen mit der Kolonialgeschichte des Nachbarstaates zusammen (ehemalige bzw. derzeitige Gebiete: Surinam, Indonesien, Antillen, Aruba). Zum anderen rekrutierten auch die Niederlande in den Jahren des Wirtschaftswachstums (1960er bis Anfang der 1970er Jahre) viele so genannte ‚Gastarbeiter’ aus Marokko und der Türkei. Offiziellen Schätzungen zufolge liegt der Anteil der Personen mit ausländischer Herkunft in den Niederlanden heute bei rund 18 Prozent (vgl. Roodenburg et al. 2003). Stellt man in Rechnung, dass zur Identifikation eines etwaigen Migrationshintergrundes ein ganzes Bündel von Informationen notwendig ist, so sind die in
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6 Operationalisierung und Daten
meiner empirischen Untersuchung verwendeten Indikatoren für das Bestehen eines Migrationshintergrundes keineswegs als erschöpfend zu betrachten. Sowohl im Familiensurvey als auch in der NKPS wurde einerseits erhoben, ob die Befragten auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder auf dem eines anderen Staats geboren sind. Darüber hinaus sollten die Probanden auch angeben, in welchem Staat die beiden Elternteile geboren sind. Befragte, die entweder selbst in einem anderen Staat als in den Niederlanden geboren sind, oder von denen mindestens ein Elternteil in einem anderen Land zur Welt kam als in den Niederlanden, gelten als Personen mit Migrationshintergrund. Dies trifft natürlich auch auf Fälle zu, in denen sowohl die befragte Person als auch eines der beiden Elternteile im Ausland geboren sind. Im Survey Transnationalisierung kann dagegen die Muttersprache der beiden Elternteile als Indikator dafür verwendet werden, ob ein Migrationshintergrund vorliegt. Handelt es sich bei einer dieser Sprachen um eine andere als die deutsche Sprache, so gilt die oder der Befragte als Person mit Migrationshintergrund. 6.7.4 Die verwendeten multivariaten Analyseverfahren Da die forschungsleitenden Hypothesen ausschließlich konditional formuliert sind (im Stile von ‚je-desto’-Annahmen), greife ich in der nachfolgend diskutierten empirischen Untersuchung im Wesentlichen auf das Verfahren der linearen Regressionsanalayse zurück. In Bezug auf dichotom skalierte abhängige Variablen kommt das Verfahren der binären logistischen Regression zum Einsatz. Bilden dagegen ordinal skalierte Variablen die zu erklärende Größe, so wurde das Verfahren der multinomialen Ordered Probit Regression angewendet.58 Die Art und Weise der Darstellung der Regressionskoeffizienten wurden jeweils auf ihre jeweilige Anschaulichkeit geprüft: In Fällen, in denen der Wertebereich der abhängigen Variablen einfach zu überschauen ist (z.B. die Kennziffern ‚Dichte’ und ‚Multiplexität’, die zwischen 0 und 1 liegen können) und in denen auch die Skalierung der Kovariaten für den Leser verständlich ist, werden die unstandardisierten Regressionsgewichte dargestellt. Da jedoch auch Model-
58
Zu den Verfahren der linearen und logistischen Regression siehe Backhaus (2006). Zum Verfahren der ordered probit Regression siehe: http://faculty.chass.ncsu.edu/garson/PA765/ordinalreg.htm (Zugriff: 12.03.09) Ordered Probit-Modelle fußen generell auf der Annahme, dass die abhängige Variable annähernd normal verteilt ist, während Ordered Logit-Modelle diesbezüglich eine Gleichverteilung unterstellen.
6.7 Soziodemographische Kontrollvariablen
117
le berechnet wurden, in denen entweder die abhängigen Variablen oder die Kovariaten eher ‚abstrakt’ erscheinen (so etwa im Falle der OLS-Regressionen auf additive Skalen), weisen die meisten Tabellen die standardisierten Regressionskoeffizienten auf. Welche Darstellungsweise zum Einsatz kommt, ist den jeweiligen Anmerkungen zu den einzelnen Tabellen zu entnehmen.
7 Empirische Analysen
Im Folgenden diskutiere ich die Ergebnisse der empirischen Untersuchung. Zunächst steht die Betrachtung der Schichtabhängigkeit globaler Netzwerkmerkmale im Vordergrund. In diesem Zusammenhang werde ich den Einfluss der beiden Faktoren ‚Bildung’ und ‚Berufsstatus’ auf spezifische Netzwerkparameter wie Größe, Dichte, Reichweite, Multiplexität und Kontakthäufigkeit aufzeigen (Kapitel 7.2 bis Kapitel 7.6). Sodann befasse ich mich mit subjektiven Faktoren der Ungleichheit persönlicher Netzwerke (Kapitel 7.7). In Kapitel 7.8 wird es dann um einen Test bezüglich der These der schichtspezifischen Wirksamkeit des Transitivitätsprinzips sowie um eine empirische Würdigung der Bedeutsamkeit der Gelegenheitsmärkte von produktiven Austauschbeziehungen gehen. Zum Abschluss erfolgen noch einige kritische Reflexionen in Bezug auf die empirische Tragweite der Untersuchungsergebnisse (Kapitel 7.9). Nähere Details zu den verwendeten Kovariaten und zu deren Kodierung finden sich im Anhang.
7.1 Homophilie: Zur Bildungshomogenität persönlicher Netzwerke Im Zuge der Erörterung der spezifischen Merkmale von persönlichen Beziehungen – und dies gilt insbesondere für jene nicht-verwandtschaftlicher Natur – wurde bereits auf das wichtige Theorem der ‚Homophilie’ (Lazarsfeld und Merton 1954) von Freundschaften hingewiesen (vgl. Kapitel 3.2). Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Annahme, dass Individuen freundschaftliche Beziehungen zu solchen Personen knüpfen, die ihnen selbst möglichst ähnlich sind. Diese Ähnlichkeit kann sich sowohl auf die Einstellungsdimension (Wertvorstellungen, politische Gesinnung etc.) als auch auf die sozialstrukturelle Dimension (Bildungsgrad, beruflicher Status, Alter, religiöse Anschauung, ethnische Zugehörigkeit etc.) beziehen. Die Gültigkeit des Homophilieprinzips ist für meine weitere empirische Untersuchung von essentieller Bedeutung. Warum? Geht man von der Annahme aus, dass Bildung und Beruf einen systematischen Einfluss auf die Größe und Komposition von persönlichen Netzwerken haben, so sollten sich innerhalb
120
7 Empirische Analysen
eines gegebenen Netzwerks solche Individuen ‚einfinden’, die über ähnliche Gelegenheitsstrukturen zur Etablierung und Pflege von persönlichen Beziehungen verfügen. Überdies würden allzu heterogene persönliche Netzwerke die These von der Schichtabhängigkeit der Struktur von informellen Beziehungsgefügen ad absurdum führen. Diese Überlegungen lassen sich anhand eines einfachen Beispiels illustrieren. Angenommen, der immer noch am Geburtsort lebende Befragte Ego (Schulabschluss: Abitur) habe insgesamt fünf ‚signifikante Andere’ (X1, X2, X3, X4 und X5), wobei die aus der Heimat fortgezogenen X1 und X2 ebenfalls die Hochschulreife aufweisen und die am Ort verbliebenen X3, X4 und X5 einen Hauptschulabschluss erworben haben. In diesem Fall ließe sich zum Beispiel nur schwer die Hypothese von der Bildungsabhängigkeit der räumlichen Dispersion sozialer Netzwerke aufrechterhalten, da die überwiegende Mehrzahl von Egos Freunden der unteren Bildungsgruppe angehört und somit die durchschnittliche Entfernung zu den Alteri deutlich reduziert wäre. Mit Hilfe von SOEP-Daten aus dem Jahr 2006 habe ich persönliche Netzwerke in Bezug auf die Ähnlichkeit der Schulabschlüsse der Netzwerkmitglieder untersucht. Daten für Status und Einkommen von Alter waren leider nicht verfügbar. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildete dabei die Frage, wie stark sich die Bildungsabschlüsse der Alteri von demjenigen Egos unterscheiden. Abbildung 1 veranschaulicht zunächst, inwiefern sich die unterschiedlichen Bildungsgruppen im Hinblick auf die Bildungshomogenität ihrer jeweiligen persönlichen Gesamtnetzwerke unterscheiden. Hierbei wurden also alle in Frage kommenden Alteri berücksichtigt. Das bedeutet, dass die signifikanten Anderen sowohl verwandte als auch nicht-verwandte Personen sein konnten. Tatsächlich – folgt man den Daten – neigen Personen eines gegebenen Bildungsniveaus dazu, ihr Netzwerk aus den Reihen derer zu rekrutieren, die denselben Bildungsgrad wie sie selbst aufweisen. Dieser Trend nimmt mit dem Bildungsgrad zu. Hervor sticht jedoch, dass Befragte ohne Schulabschluss auffallend oft signifikante Andere in ihr Vertrauen ziehen, die einen höheren Status als sie selbst haben. Diese Beobachtung deckt sich mit denen von King (1961) und Laumann (1966), wonach Individuen danach streben, Freundschaften mit statushöheren Personen zu schließen (dies erklärt gleichzeitig auch die besonders stark ausgeprägte Bildungshomogenität der Netzwerke der hoch Gebildeten). Gleichwohl zeigt sich, dass der Trend zur Bildungshomophilie mit Blick auf alle Typen persönlicher Beziehungen allenfalls als moderat zu bezeichnen ist. Keine Bildungsgruppe zeigt einen Trend zur absoluten Schließung ihrer persönlichen Kreise. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die im SOEP erhobenen Netzwerke stark verwandtschaftslastig sind. Da man auf die Selektion seines Verwandtschaftskreises ja vergleichsweise wenig Einfluss hat,
7.1 Homophilie: Zur Bildungshomogenität persönlicher Netzwerke
121
ist Abbildung 1 nur wenig aussagekräftig in Bezug auf die Frage nach der Rolle von Ähnlichkeit bei der Auslese von signifikanten Anderen. Abbildung 1:
Boxplot über die Bildungshomogenität persönlicher Netzwerke (nach Schulabschluss)
3,0
2,5
2,0
1,5
1,0
0,5
0,0
kein Schulabschluss Realschulabschluss Hauptschulabschluss (Fach-)Hochschulreife Anmerkungen: Einbezogen sind Befragte mit deutscher Staatsangehörigkeit ab 18 Jahren. Dargestellt ist die durchschnittliche Distanz (‚Euklidische Distanz’) zwischen dem Schulabschluss Egos und den Schulabschlüssen von bis zu drei Personen des ego-zentrierten Netzwerks. Der maximale Distanzwert beträgt 3 und beziffert die Distanz zwischen einer Person ohne Schulabschluss und einer mit Abitur bzw. Fachhochschulreife. Die dickeren schwarzen Balken in den Kästen zeigen den bildungsspezifischen Median an. Lesebeispiel: Die Hälfte der Befragten mit Hauptschulabschluss weist eine durchschnittliche Bildungsdistanz von 0,5 zu den Alteri auf. Quelle: SOEP 2006, eigene Berechnungen (gewichtet, ohne Hocheinkommensbezieher), n= 19775.
Anders stellt sich das Bild dar, wenn nur solche Alteri berücksichtigt werden, mit denen Ego nicht verwandt ist (siehe Abbildung 2). Mit Ausnahme der Gruppe mit der niedrigsten Bildung, die zu Freundschaften zu Personen höherer Bildung neigt, tendieren die Gruppenmediane deutlich stärker gegen Null als im vorherigen Beispiel, in welchem der Grad der Bildungshomogenität zu allen
122
7 Empirische Analysen
Netzwerkpartnern dargestellt wurde. Besonders augenfällig ist, dass die hoch Gebildeten besonders stark zu Freundschaften neigen, in denen das Gegenüber den gleichen Bildungsstatus aufweist. Mehr als die Hälfte der Befragten mit Abitur hat ebenfalls ausschließlich Freunde, die auch selbst das Abitur haben. Man kann in diesem Zusammenhang also tatsächlich von Tendenzen zur sozialen Schließung in den Kreisen der höher Gebildeten sprechen. Abbildung 2:
Boxplot über die Bildungshomogenität von Freundschaftsnetzwerken (nach Bildung)
3,0
2,5
Distanz
2,0
1,5
1,0
0,5
0,0 kein Schulabschluss Hauptschulabschluss
Realschulabschluss
(Fach-)Hochschulreife
Anmerkungen: Dargestellt ist die durchschnittliche Distanz (‚Euklidische Distanz’) zwischen dem Schulabschluss Egos und den Schulabschlüssen von bis zu drei nicht-verwandten befreundeten Personen. Der maximale Distanzwert beträgt 3 und beziffert die Distanz zwischen einer Person ohne Schulabschluss und einer mit Abitur bzw. Fachhochschulreife. Die dickeren schwarzen Balken in den Kästen zeigen den jeweiligen Gruppenmedian an. Quelle: SOEP 2006, eigene Berechnungen (gewichtet, ohne Hocheinkommensbezieher), n= 11560. Einbezogen sind Befragte mit deutscher Staatsangehörigkeit ab 18 Jahren.
7.2 Die Größe und die Komposition persönlicher Netzwerke
123
Persönliche Netzwerke sind mit Blick auf den Bildungsstatus ihrer Mitglieder also hochgradig homogene Gebilde, so dass pauschale Hypothesen über die Determinante ‚Bildung’ auf bestimmte Teilaspekte der Strukturmuster persönlicher Netzwerke gerechtfertigt zu sein scheinen.
7.2 Die Größe und die Komposition persönlicher Netzwerke Die Größe persönlicher Netzwerke ist eine quantitative Kennziffer, die sich aus der Zahl der mit Ego in Verbindung stehenden Netzwerkmitglieder (Alteri) ergibt. Der Familiensurvey bot den Befragten Raum, bis zu 20 potentielle Alteri zu benennen. In der letzten Welle (2000) betrug die durchschnittliche Netzwerkgröße jedoch nur 4,0 (Standardabweichung – im Folgenden SD – 2,2), es handelt sich mithin um relativ kleine Netze, in der vermutlich nur die wichtigsten Alteri genannt wurde. Im Lichte der vorangegangen Diskussion ist besonders die Zusammensetzung (Komposition) dieser Netzwerke von Interesse. Der Familiensurvey zeigt diesbezüglich eine deutliche Dominanz verwandtschaftlicher Beziehungsmuster: Mehr als drei Viertel der genannten Alteri sind in irgendeiner Form mit Ego verwandt. Rückschlüsse auf Beziehungsgefüge freundschaftlicher Art sind daher nur mit Vorsicht zu verallgemeinern. Überraschend gering ist der Anteil all solcher Alteri, die unter das Label ‚Sonstige’ fallen. Hierunter sind nämlich auch die Beziehungen zu Nachbarinnen und Nachbarn zusammengefasst, deren Unterstützungspotentiale immer wieder Ausgangsüberlegungen von zuweilen sozialromantisiertenden community studies sind. Die Befunde bestätigen zunächst den von Putnam (2000) attestierten Bedeutungsverlust lokalen Beziehungskapitals (These des ‚Community Lost’). Darüber hinaus lässt sich natürlich auch nicht überprüfen, ob der Anteil nachbarschaftlicher Kontakte in den betreffenden Unterstützungsnetzwerken (denn es handelt sich bei den im Familiensurvey erhobenen Beziehungsgefügen um Unterstützungsnetzwerke im klassischen soziologischen Sinn) in der Vergangenheit, wie in der pessimistischen Lesart der Community Lost-Vertreter angenommen, tatsächlich größer war. Offen bleibt außerdem, ob Nachbarinnen und Nachbarn, welche in die Rolle von relevanten Unterstützungspersonen schlüpfen, von den Befragten möglicherweise eher als Freunde denn als Nachbarn bezeichnet wurden. Für eine solche Vermutung sprechen die auf sehr intime und vertrauensvolle Beziehungen abzielenden Namensgeneratoren im Familiensurvey. Konterkariert werden diese Ergebnisse durch die Befunde aus den Niederlanden. In der Netherlands Kinship Study (im Folgenden: NKPS) von 2005 wurden die Befragten gebeten, bis zu 5 wichtige Personen außerhalb der Familie oder Verwandtschaft zu benennen. Bereits der in der Frageformulierung
124
7 Empirische Analysen
verankerte Anreiz, solche Personen überhaupt zu benennen, dürfte insgesamt dafür gesorgt haben, dass gegenüber dem Familiensurvey sowohl mehr Freunde als auch Nachbarn genannt wurden.59 Interessant ist in diesem Zusammenhang der völlig überraschende Befund, dass Nachbarschaft als wichtigster Herkunftskontext für die Entstehung persönlicher nicht-verwandtschaftlicher Beziehungen auftaucht: Rund ein Fünftel der in der NKPS genannten Dyaden sind den Befragten zufolge in der Nachbarschaft geschlossen worden. Wie erklärt sich der Unterschied zwischen den Ergebnissen der deutschen und der niederländischen Studie? Zunächst ließen sich hier womöglich kulturelle Unterschiede ins Feld führen, auf die ich an dieser Stelle mangels einer fundierten theoretischen Erklärung nicht eingehen kann. Darüber hinaus könnten semantische Unterschiede der Schlüssel zur Lösung sein, so etwa in dem vorstellbaren Fall, dass Nachbarschaft (niederländisch: buurt) eine breitere Bedeutung in den Niederlanden hat. Doch diese Vermutung erweist sich als wenig stichhaltig, wie mich ein Gespräch mit einer niederländischen Muttersprachlerin lehrte.60 Ein weiterer Grund für den deutsch-niederländischen Bias könnte in der Nutzung unterschiedlicher Erhebungsinstrumente zu finden sein. So operiert der Familiensurvey mit mehreren Namensgeneratoren, welche überwiegend der Forschung zur sozialen Unterstützung entnommen sind, während im NKPS ein einziger, dafür jedoch als zuverlässig geltender Namensgenerator zum Einsatz kommt (BurtInstrument). Der entscheidende Unterschied ist meines Erachtens jedoch im unterschiedlichen Wortlaut der Antwortkategorien zu suchen. Der Wortlaut des niederländischen Fragebogens scheint stärker auf theoretische Standpunkte der aktuellen soziologischen Netzwerk- und Beziehungsforschung Bezug zu nehmen. Im Familiensurvey hatten die Probanden die Aufgabe, den Typ der in Frage kommenden Beziehung direkt zu benennen (Vorgegebene Labels waren zum Beispiel: Freundeskreis, Nachbarschaft, Vereinskollegen), während im Rahmen der NKPS voraussetzungsloser danach gefragt wurde, in welchem Kontext die betreffende Beziehung entstanden ist. Damit verweisen die beiden herangezogenen Studien auf zwei unterschiedliche soziale Tatbestände: Während der Familiensurvey die Befragten förmlich dazu ‚zwingt’, eine qualitative Einordnung der jeweiligen Dyade vorzunehmen, belässt es die NKPS dabei, die (aufgrund des Einleitungstextes bereits als strong ties qualifizierten) nicht-
59
60
Angesichts der Befunde einer komparativen quantitativen Studie (van Oorschot und Arts 2005) zum Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsstaatsregimes und Sozialkapital verstärkt sich der Eindruck, dass die relativ hohe Zahl von Freundschaften in der NKPS 2005 vermutlich auch auf das spezifische Erhebungsinstrument der NKPS zurückzuführen ist. Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich für die nützlichen Kommentare von Helga de Valk bedanken!
7.2 Die Größe und die Komposition persönlicher Netzwerke
125
verwandtschaftlichen Beziehungen lediglich in Bezug auf die äußeren Umstände des Kennenlernens zu untersuchen. Doch neuartige Itembatterien bringen auch neue Probleme mit sich: Viele wichtige persönliche Beziehungen kommen auch vermittels der eigenen Kinder zustande, so etwa bei jungen Familien, die etwa auf dem Spielplatz, in der ‚Krabbelgruppe’ oder im Kindergarten neue Kontakte zu anderen Eltern schließen. Diese Kategorie kommt als Herkunftskontext in der NKPS jedoch nicht vor, so dass ‚Nachbarschaft’ hier auch als Proxy für die Antwortkategorie through children herhalten mag. Eine logistische Regression, in der ich die Wahrscheinlichkeit geschätzt habe, mindestens einmal ‚Nachbarschaft’ als Herkunftskontext persönlicher Beziehungen anzugeben (ohne Abbildung), unterstützt diese Vermutung. So erweist sich das Vorhandensein eigener Kinder als einflussreichste der getesteten erklärenden Variablen: Gegenüber Probanden ohne Kinder geben solche mit Nachwuchs ceteris paribus mit einer 90 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit an, mindestens eine Beziehung in der Nachbarschaft geschlossen zu haben. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt auch Hennig (2006), die in ihrer quantitativen Studie zeigt, dass nachbarschaftliche Unterstützung für junge Familien mit kleineren Kindern eine besonders wichtige Rolle im Alltag spielt. Kommt man wieder zum Ausgangspunkt meiner Untersuchung, nämlich zur Zusammensetzung persönlicher Netzwerke, zurück, so veranschaulichen die Ergebnisse des Familiensurveys die wichtige Rolle, die familiäre Bindungen auch im viel beschworenen Zeitalter der Individualisierung noch einnehmen. Emotionale Nähe und das Besprechen wichtiger persönlicher Dinge erscheinen als Beziehungsinhalte, die nach wie vor ganz zentral der Familie obliegen. Ein wesentlicher Teil dieser Leistungen wird dabei innerhalb der persönlichen Beziehung par excellence erbracht, nämlich innerhalb romantischer Paarbeziehungen. Inwiefern richten sich die Faktoren ‚Größe’ und ‚Zusammensetzung’ nun nach Kriterien sozialer Schichtung? Haben Bildung und sozioökonomischer Status einen systematischen Einfluss auf die Komposition persönlicher Beziehungsgefüge? Tabelle 5: Bildung und Netzwerkgröße Bildung hoch mittel niedrig
Anzahl der Alteri (Mittelwert)
SD
n
4,54 4,01 3,69
2,21 2,23 2,18
1198 3658 2703
Anmerkungen: SD= Standardabweichung Quelle: Familiensurvey 2000; Deutsche Staatsbürger (Hauptbefragung); n= 7559 (eigene Berechnungen)
126
7 Empirische Analysen
Die Daten des Familiensurvey 2000 zeigen, dass die Ergebnisse in Bezug auf die Bildungsabhängigkeit der Netzwerkgröße in hohem Maße mit den im Theorieteil betriebenen Überlegungen konvergieren (Tabelle 5). Beträgt die Größe der persönlichen Netzwerke in den Reihen der niedrig Gebildeten (CASMIN ISubgruppen) im Durchschnitt 3,7 Personen, so liegt diese Kennziffer bei Probanden mit Fachhochschulabschluss und bei Graduierten von Universitäten (CASMIN III-Angehörige) mit 4,5 deutlich höher. Tabelle 6: Beruflicher Status und Netzwerkgröße Autonomie des beruflichen Handelns (HZA-Index) 1 2 3 4 5
Größe des Netzwerks (Mittelwert)
SD
n
3,75 3,78 4,13 4,25 4,31
2,31 2,15 2,22 2,15 2,39
798 2178 1701 1338 193
Quelle: Familiensurvey 2000, Deutsche Staatsbürger (Hauptbefragung, ohne neue Bundesländer), ohne Angehörige freier Berufe, n= 6208
Der gleiche lineare Trend zeigt sich auch bei der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen sozioökonomischem Status (operationalisiert anhand des auf der Stellung im Betrieb basierenden Index’ von Hoffmeyer-Zlotnik) 61 und der Größe persönlicher Netzwerke (Tabelle 6): Je höher der Status, desto größer die betrachteten Beziehungsgefüge. Lag der Fokus bislang auf der durchschnittlichen Größe von persönlichen Netzwerken, so rückt im Folgenden die absolute Verteilung von Netzwerkmitgliedern in den Vordergrund. Betrachtet man zunächst den Zusammenhang mit der Bildung der Befragten, so ergeben sich vor allem an den Rändern der entsprechenden Verteilung Unterschiede zwischen den Bildungsschichten (Tabelle 7). Der Anteil der sozial eher isolierten Befragten – jene, die niemanden als Bezugsperson genannt haben – ist mit rund 3 Prozent unter den niedrig Gebildeten mehr als doppelt so hoch wie bei den höher Gebildeten (1 Prozent). Gleichzeitig weisen die hoch Gebildeten auch die höchsten Gruppenanteile in Bezug
61
In freien Berufen tätige Befragte (n= 132) wurden für den Mittelwertvergleich nicht berücksichtigt, da sich diese Merkmalsträger als besonders heterogene Gruppe in Bezug auf Bildung und Einkommensdaten erwies.
7.2 Die Größe und die Komposition persönlicher Netzwerke
127
auf besonders große Netzwerke auf: Während nur 9 Prozent der Probanden mit niedriger Bildung Netzwerke von 7 Personen und mehr zu Protokoll geben, sind es unter den Befragten mit Fachhochschul- oder Universitätsabschluss gleich doppelt so viele (18 Prozent). Tabelle 7: Netzwerkgröße nach Bildungsniveau (Spaltenprozentwerte) Bildungsniveau niedrig
mittel
hoch
3,0
2,4
1,3
1 bis 3 Beziehungen
50,2
42,2
34,1
4 bis 6 Beziehungen
37,8
43,4
46,5
9,0
12,1
18,2
100,0
100,0
100,0
keine Beziehung
7 Beziehungen insgesamt
Anmerkungen: Dargestellt sind die jeweiligen prozentualen Anteile der einzelnen Bildungsgruppen (CASMIN). Es wurden nur Alteri berücksichtigt, die als Antwort auf mindestens einen der 5 Namensgeneratoren genannt wurden. Quelle: Familiensurvey 2000; Hauptstichprobe, Deutsche Staatsangehörige, n= 7559
Ein weniger aussagekräftiges Bild zeigt die Verteilung der Netzwerkgröße in Abhängigkeit des sozioökonomischen Status (Tabelle 8). Dort verwischen die Grenzen zwischen den Statusgruppen stärker, was das sich bereits aufdrängende Bild eines allgemeinen Schichteinflusses in Bezug auf die Strukturierung persönlicher Netzwerke wieder relativiert. Diese Beobachtung wird durch meine theoretischen Vorannahmen keineswegs unterstützt, so dass sich hier Bedarf für weitere Forschungsarbeit ergibt. Eine Erklärung könnte in der besonderen Beschaffenheit des herangezogenen HZA-Index zur Messung des Grades der beruflichen Autonomie liegen, welcher gegenüber der ISEI-Skala vermutlich nur unzureichend die Vielfalt des beruflichen Status widerspiegeln kann.
128
7 Empirische Analysen
Tabelle 8: Verteilung der Netzwerkgröße nach sozioökonomischem Status (Spaltenprozentwerte) Ausprägung des HZA-Index 1
2
3
4
5
3,5
2,3
1,7
0,6
2,1
1 bis 3 Beziehungen
48,4
48,9
41,4
40,5
38,9
4 bis 6 Beziehungen
38,0
39,8
44,1
44,5
45,1
7 Beziehungen
10,2
9,0
12,8
14,4
14,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
keine Beziehung
insgesamt
Quelle: Familiensurvey 2000, Hauptbefragung, deutsche Staatsbürger, ohne Freiberufler, n= 6208
Nachdem bisher der Fokus auf der Größe der Netzwerke lag, gehe ich im Folgenden stärker auf die schichtspezifischen Freundschafts- und Verwandtschaftsanteile von persönlichen Netzwerken ein. Im Rahmen des ALLBUSFragebogenprogramms von 2002 wurden die Probanden zu einigen wesentlichen Merkmalen des wichtigsten Ansprechpartners jenseits partnerschaftlicher Bindungen gefragt (Tabelle 9). Auf deskriptiver Ebene zeigen sich hier einige sehr deutliche bildungsspezifische Tendenzen, die die These unterstützen, dass sich die sozialen Schichten in Bezug auf die Komposition ihrer persönlichen Netzwerke voneinander unterscheiden. Auffällig ist zunächst, dass unter den niedrig Gebildeten im Vergleich zu den hoch Gebildeten ein mehr als doppelt so hoher Anteil der Probanden (23 Prozent vs. 10 Prozent) angibt, keinen beste/n Freund zu haben. Weiterhin zeigen die Ergebnisse, dass die Beziehungen zu weiblichen Verwandten in den unteren sozialen Schichten eine wichtigere Rolle zu spielen scheinen. Während knapp 11 Prozent der Befragten mit niedriger Bildung angeben, dass ihre beste Freundin eine weibliche Verwandte ist, beträgt dieser Prozentsatz bei den hoch Gebildeten nur 4 Prozent.
7.2 Die Größe und die Komposition persönlicher Netzwerke
129
Tabelle 9: Merkmale der/des besten Freundin/Freundes (nach Bildung, Spaltenprozentwerte) Bildungsgrad niedrig
mittel
hoch
männlich, verwandt
7,6
6,7
5,9
weiblich, verwandt
10,9
6,5
4,0
männlich, nicht verwandt
25,8
31,5
45,5
weiblich, nicht verwandt
33,0
42,3
34,7
keine beste/r Freund/in vorhanden
22,7
13,0
9,9
100,0
100,0
100,0
insgesamt
Anmerkung: Dieses Item bezog sich ausdrücklich nicht auf Ehepartner/innen. Quelle: Eigene Berechnungen; ALLBUS 2002 (nach Ost-West gewichtet); deutsche Staatsbürger, n= 1232
Tabelle 10: Zahl der durchschnittlichen Netzwerkpartner auf Ebene der...(nach Bildung) …Kernfamilie (Mittelwert)
…weiteren Verwandtschaft (Mittelwert)
hoch
2,08
3,93
mittel
2,01
3,73
niedrig
2,22
3,10
Bildungsniveau
Quelle: Familiensurvey 2000, Hauptbefragung, n= 5861
Deutlich weniger Alteri wurden – über alle sozialen Lager hinweg – im Familiensurvey in absoluten Zahlen gemessen unter der Kategorie ‚Freundschaft’ genannt. Mehr als die Hälfte der Befragten verfügt den Daten des Familiensurvey zufolge über keine einzige Freundschaft. Dieser Befund verdeutlicht einerseits, welch anspruchsvollem Anforderungsprofil eine Freundschaft auch zur Jahrtausendwende noch genügen muss. Gleichzeitig manifestiert sich in diesem Befund aber auch die dem Familiensurvey eigene Fokussierung auf sehr familienlastige Teilnetzwerke.
130
7 Empirische Analysen
Abbildung 3:
Zahl der genannten Freundschaftsbeziehungen (in Prozent)
60 50
Prozent
40 30 20 10 0 0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Quelle: Familiensurvey 2000, Hauptbefragung, deutsche Staatsangehörige, n= 7686
Ungleich größere Freundschaftsnetzwerke hat dagegen das Fragebogenprogramm im Rahmen des ALLBUS 2002 generiert, in dem direkt nach der Zahl der Freunde in verschiedenen sozialen Kontexten gefragt wurde. Der Vergleich der beiden Studien bestätigt das bereits bekannte Bild, dass die Wahl des Erhebungsinstruments einen entscheidenden Einfluss auf die Ergebnisse in Bezug auf Struktur, Größe und Qualität von Netzwerkstrukturen hat. Betrachtet man nun, inwiefern die Größe von Freundschaftsnetzwerken mit dem Bildungsgrad der Probanden variiert, so zeigen die Daten des ALLBUS und des Familiensurveys ein recht einheitliches Bild. Demzufolge steigt die Zahl der Freunde und Bekannten mit zunehmendem Bildungsgrad der Befragten (Tabelle 11). Gemäß den theoretischen Vorannahmen (H1) weisen die niedrig Gebildeten im Durchschnitt auch die kleinsten Freundschaftskreise auf, während die Fachhochschul- und Universitätsabsolventen über die größten Freundeskreise verfügen. Der direkte Vergleich mit dem umfangreicheren Datenbestand der NKPS gestaltet sich etwas schwieriger, da die niederländischen Forscher etwas subtiler bei der Erhebung nicht-verwandtschaftlicher Netzwerke vorgegangen sind. So bestand dort die Möglichkeit, jedwede Form persönlicher Beziehungen zu nichtverwandten Personen zu nennen, also Freunde, Bekannte, Nachbarn und Vereinsmitglieder gleichermaßen. Ausschlaggebend war die Tatsache, dass die Befragten in regelmäßigem Kontakt zu Alter stehen und diese Person für Ego ‚wichtig’ ist.
7.2 Die Größe und die Komposition persönlicher Netzwerke
131
Tabelle 11: Die Größe des Freundeskreises (nach Bildung) Familiensurvey
ALLBUS 2002
(Erhebung per Namensgeneratoren)
(Erhebung per Globalabfrage)
hoch
1,30
6,72
mittel
0,95
6,59
niedrig
0,66
5,17
insgesamt
0,91
6,10
Bildungsgrad
Anmerkungen: Dargestellt sind die jeweiligen Gruppenmittelwerte. Für die Mittelwertberechnung der ALLBUS-Daten wurde lediglich auf das Item ‚Freunde in anderen Bereichen als Nachbarschaft und Arbeit’ zurückgegriffen. Die Bildungskategorien begründen sich auf der CASMINKlassifizierung. Niedriges Bildungsniveau: CASMIN I; mittleres Bildungsniveau: CASMIN II; hohes Bildungsniveau: CASMIN III. Quelle: Eigene Berechnungen; Familiensurvey 2000 (n= 7559), Allbus 2002 (Ost-West-Gewichtung, n= 1338)
Dabei konnten bis zu fünf Alteri genannt werden, zu denen dann noch nähere Informationen erhoben wurden. Die Betrachtung der Gruppenmittelwerte bestätigt das Bild, welches bereits die deutschen Daten skizziert haben: auch im Nachbarland zeigt sich ein klarer, nahezu linearer Bildungstrend in Bezug auf die Größe von Bekanntschafts- und Freundschaftsnetzwerken: je höher das erreichte Bildungsniveau, desto größer die Zahl der genannten wichtigen Alteri außerhalb des Familienkreises (ohne Abbildung). Nachfolgend diskutiere ich die Ergebnisse einer multivariaten Analyse in Bezug auf die Größe von Freundschaftsnetzwerken. Betrachtet man die Ergebnisse (Tabelle 12), so bestätigt sich die Annahme, dass Bildung und Status einen positiven Effekt auf die Größe des Freundeskreises haben. Auch im Zusammenspiel mit einschlägigen soziodemographischen Merkmalen zeigen sich signifikante Zusammenhänge mit den beiden zentralen Schichtindikatoren. Darüber hinaus übt räumliche Mobilität, gemessen anhand des freilich sehr groben Indikators ‚Umzug in ein anderes Bundesland seit der Geburt’, einen positiven Effekt auf die Zahl der Freundschaften aus. Umzüge ‚provozieren’ also scheinbar die Suche nach Anschlussmöglichkeiten außerhalb des Dunstkreises von Familie und Verwandtschaft.62
62
Auch die Daten der NKPS wurden dazu genutzt, H1 zu überprüfen. Die Ergebnisse der niederländischen Daten weisen dabei in dieselbe Richtung wie im oben dargelegten Beispiel: Perso-
132
7 Empirische Analysen
Tabelle 12: Determinanten der Größe des Freundschaftsnetzwerks (OLSRegression) I
II
III
b
b
b
Bildungsniveau hoch
0,46
***
0,38
***
mittel
0,23
***
0,17
***
niedrig
Ref.
Ref. 0,06
***
-0,01
***
Frau (Ref.: Mann)
0,08
**
Umzugsmobilität (Ref.: nein)
0,07
**
Partnerschaft (Ref.: nein
-0,50
***
Kinder vorhanden (Ref.: nein)
-0,23
***
Region: Ost (Ref.: West)
-0,18
***
sozioökonomischer Status
0,09
***
Alter (in Jahren)
Migrationshintergrund (Ref.: nein)
0,08
*
> 500.000 Einwohner (Ref.: nein)
0,12
***
1,23
***
Konstante
0,05
R² (korr.)
0,02
***
0,47 0,01
***
0,11
Anmerkungen: Die abhängige Variable wird bestimmt durch die Anzahl der Freundinnen und Freunde, welche als Reaktion auf mindestens einen der 5 Namensgeneratoren genannt wurden. Dargestellt sind die unstandardisierten Regressionsgewichte. Sig. *** p< ,001; ** p< ,01; * p< ,05 Quelle: Familiensurvey 2000, Hauptbefragung, n= 5621 (eigene Berechnungen)
Zur Erinnerung: Der Familiensurvey verwendet an das Fischer-Instrument angelehnte Namensgeneratoren, während der NKPS das Burt-Instrument benutzt und im ALLBUS direkt nach Kontakten außerhalb der Familie gefragt wird. Im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist jedoch allein relevant,
nen mit mittleren und hohen Bildungsabschlüssen weichen signifikant und positiv von der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten ab. Ebenso zeitigt der berufliche Status (operationalisiert anhand der ISEI Skala nach Ganzeboom) einen positiven Effekt auf die Anzahl der Freunde, Bekannten, Nachbarn und anderweitigen informellen Kontakte. Aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsinstrumente weichen die Durchschnittswerte im NKPS jedoch deutlich nach oben ab.
7.2 Die Größe und die Komposition persönlicher Netzwerke
133
dass sich über die sozialen Schichten (operationalisiert anhand der Faktoren ‚Bildung’ und ‚beruflicher Status’) auch im deutsch-niederländischen Staatenvergleich dieselben strukturellen Zusammenhänge erkennen lassen: Je höher die soziale Schicht, der Ego angehört, desto größer die ego-zentrierten persönlichen (Teil-)Netzwerke. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen von Höllinger und Haller (1990), die auf Basis einer komparativen Sieben-Länder-Studie zu dem Ergebnis kommen, dass Bildung und die Zahl der Freunde positiv miteinander korreliert sind – unabhängig vom jeweiligen kulturellen Hintergrund.63 Das ausschließlich strukturelle Faktoren berücksichtigende Gesamtmodell (Modell III) klärt rund 11 Prozent der Varianz auf, ein Wert, der vergleichsweise hoch erscheint, wenn man berücksichtigt, welch bedeutsame Rolle individuelle Neigungen und Dispositionen bei der Genese und Pflege von Freundschaftsbeziehungen nach Ansicht der sozialpsychologischen Fachliteratur spielen. Gleichwohl sprechen die niedrigen R²-Werte der ersten beiden Modelle dafür, dass die Schichtzugehörigkeit im Vergleich zu den anderen soziodemographischen Merkmalen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Während zuvor (Tabelle 12) die absolute Größe des Freundeskreises geschätzt wurde, bietet eine Regression auf den Verwandtschaftsanteil persönlicher Netzwerke die Möglichkeit, etwas darüber zu erfahren, welche Rolle verwandtschaftliche Beziehungen in Relation zu anderen Beziehungsformen im Netzwerk spielen. Die entsprechende Analyse (Tabelle 13) zeigt, dass mit Bildung nur einer der beiden Schichtindikatoren einen negativen Einfluss auf den Anteil ausübt, welchen verwandte Alteri am gesamten ego-zentrierten persönlichen Netzwerke einnehmen. Damit komme ich zum selben Ergebnis wie Marsden (1987), der erstmals eine Vermessung ego-zentrierter Netzwerke anhand von amerikanischen Surveydaten vorgenommen hat. Auch er kam – mit Blick auf die US-amerikanische Bevölkerung – zu der Erkenntnis, dass „the proportion of kin in a network falls with education“ (ebd.: 129). Gleichwohl trägt der Faktor Bildung nur wenig dazu bei, die Varianz in Bezug auf die Netzwerkanteile verwandtschaftlicher Bindungen aufzuklären: So beträgt der R²-Wert von Modell I, welches ja noch eine Fülle anderer soziodemographischer Informationen berücksichtigt, lediglich 0,04.
63
Freilich müssen die hier präsentierten Befunde stets vor dem Hintergrund der Tatsache betrachtet werden, dass mit dem Fokus auf Daten der Niederlande und von Deutschland sowie einem theoretischen Erklärungsansatz aus dem angelsächsischen Raum ein starkes Gewicht auf industrialisierte westliche Gesellschaften gelegt wird. Alle Schlüsse, die aus den nachfolgend diskutierten Ergebnissen gezogen werden, können sich mithin nur auf diese beiden sowie strukturell ähnliche OECD-Staaten beziehen.
134
7 Empirische Analysen
Tabelle 13: Determinanten des Verwandtschaftsanteils persönlicher Netzwerke (OLS-Regression) I
II
III
IV
beta
beta
beta
beta
Bildungsniveau hoch
-0,11
***
-0,08
***
-0,08
***
-0,07
***
mittel
-0,06
***
-0,06
***
-0,06
**
-0,06
***
niedrig
Ref.
Ref.
sozioökonomischer Status
0,00
Alter
0,07
***
0,07
***
Frau (Ref.: Mann) Umzugsmobilität (Ref.: nein) Region: Ost (Ref.: West) > 500.000 Einwohner (Ref.: nein) Migrationshintergrund (Ref.: nein)
-0,01
Ref.
Ref.
-0,04
*
0,01
-0,03
-0,04
**
0,13
***
0,00
0,06
***
-0,01
-0,02 -0,03
*
0,01
0,07
***
0,07
***
0,07
***
0,07
-0,07
***
-0,04
**
-0,04
**
-0,03
0,00
-0,02
0,00
Partnerschaft (Ref.: nein)
0,26
***
Kinder vorhanden (Ref.: nein)
0,28
***
Netzwerkspannweite R² (korr.)
-0,01
-0,31 0,04
0,21
0,13
*** *
-0,01
***
0,26
***
0,20
***
-0,19
***
0,24
Anmerkungen: Die abhängige Variable ist der prozentuale Anteil, den verwandtschaftliche Beziehungen am gesamten persönlichen Netzwerk ausmachen. Dargestellt sind die standardisierten Regressionskoeffizienten. Sig.: *** p< 0,001; ** p< 0,01; * p 500.000 Einwohner (Ref.: nein)
-0,01
Netzwerkspannweite
-0,07 **
Netzwerkgröße R² (korr.)
0,02 0,07
0,03
0,09
Quelle: Familiensurvey 2000, Panelbefragung, deutsche Staatsangehörige zwischen 30 und 67 Jahren, n= 410. Der Migrationshintergrund konnte im Panel nicht hinreichend identifiziert werden. Dargestellt sind die unstandardisierten Regressionsgewichte. Eigene Berechnungen. Sig.: *** p< 0,001; ** p< 0,01; * p< 0,05
Es steht zu vermuten, dass die auf diese Art und Weise neu kennen gelernten Alteri eher selten eine Freundschafts- oder Bekanntschaftsverbindung zu den anderen Bekannten und Verwandten Egos aufweisen. Räumlich zerfaserte Netzwerke zeichnen sich, so ein weiteres und weniger überraschendes Ergebnis, durch eine geringere Dichte aus. Je weiter also die räumliche Distanz zwischen
142
7 Empirische Analysen
Ego und den einzelnen Netwerkmitgliedern ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Egos Freund A auch Egos Freundin B kennt.65 Der Befund, dass unter der Bedingung der Konstanthaltung zentraler soziodemographischer Faktoren kein Beleg für einen statistischen Zusammenhang zwischen der Netzwerkgröße und der Netzwerkdichte angezeigt werden kann, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Pflege sozialer Beziehungen tatsächlich schichtspezifischen Modi zu folgen scheint. Denn eine populäre Annahme in der Netzwerkforschung besagt ja, dass die relativ betrachtet größere Zahl von Alteri in den Netzwerken der höher Gebildeten einen negativen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hat, dass sich die Alteri untereinander kennen lernen. Diese Annahme muss durch die hier vorliegenden Ergebnisse verworfen werden. Vielmehr legen die Ergebnisse die Vermutung nahe, dass die höher Gebildeten in eine Vielzahl unterschiedlicher Foci eingebettet sind. Durch diese verstärkte Kreuzung sozialer Kreise (Simmel 1908), so meine Annahme, wird der Pool der Beziehungspartner immer heterogener, woraus folgen würde, dass auch die Transitivität der Beziehungen abnimmt. Zusammenfassung Unter H2 hatte ich die Annahme formuliert, dass die persönlichen Netzwerke der Angehörigen unterer sozialer Schichten eine höhere Dichte aufweisen als die Netzwerke der oberen sozialen Schichten. Diese Hypothese wird durch die vorliegenden Befunde nur eingeschränkt unterstützt, da lediglich ein negativer Effekte des Faktors ‚Bildung’ (operationalisiert anhand des CASMIN-Schemas) beobachtet werden kann. Vom zweiten Schichtindikator, sozioökonomischer Status (gemessen anhand des HZA-Index), geht hingegen kein signifikanter Effekt auf die Netzwerkdichte aus. Darüber hinaus ist der vorgefundene Bildungseffekt nicht linear, da sich allein die Gruppe der hoch Gebildeten signifikant von der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten unterscheidet. Der Faktor Bildung erklärt alleine rund 7 Prozent der Varianz in Bezug auf die Netzwerkgeschlossenheit (Modell I). Wie der bei 0,09 liegende R²-Wert von Modell III zeigt, tragen die weiteren herangezogenen soziodemographischen Variablen jedoch insgesamt nur in bescheidenem Umfang zur Erklärung der Dichte persönlicher Netzwerke bei.
65
Die Netzwerkforschung tut sich mit ihrem deutlichen Standbein auf Querschnittserhebungen sowie zeitlich limitierter Befragungstechniken schwer mit der Bestimmung der Frage, ob dichte Netzwerke das Resultat transitiver Gesellungsprozesse sind oder ob transitive Beziehungen nicht vielmehr ihren Ursprung in gemeinsamen Foci haben, die von A, B und C gleichermaßen ‚genutzt’ werden. In der Literatur der empirischen Netzwerkforschung erscheint es mir oft so, als ob a priori angenommen würde, dass dichte Netzwerke stets ein Produkt der ‚Fortschreibung’ sozialer Beziehungen sind (für eine empirische Bestandsaufnahme vgl. Kapitel 7.8).
7.4 Schichtzugehörigkeit und Multiplexität
143
7.4 Schichtzugehörigkeit und Multiplexität Multiplexität ist eine Maßzahl für die Vielfalt der Beziehungsinhalte, die innerhalb einer gegebenen Beziehung ausgetauscht werden. Kinobesuche, Hilfe im Krankheitsfall, Gespräche in Krisensituationen – für jeden dieser Beziehungsinhalte lässt sich vielleicht jeweils ein anderer Adressat finden; genauso gut kann aber auch ein Netzwerkmitglied all diese Beziehungsinhalte realisieren. In einem Fall, in dem eine Dyade nur durch einen bestimmten Beziehungsinhalt gekennzeichnet ist, spricht man von einer ‚uniplexen Beziehung’. Demgegenüber zeichnen sich ‚multiplexe’ Beziehungen dadurch aus, dass die Beteiligten verschiedene Beziehungsinhalte austauschen. Dieses Konzept wurde für die hier durchgeführte empirische Analyse dergestalt operationalisiert, als dass die Häufigkeit der Nennung ein- und derselben Person als Reaktion auf unterschiedliche Namensgeneratoren als Kennziffer für den Grad der Multiplexität verwendet wird. Im Familiensurvey gab es fünf Namensgeneratoren, mithin fünf mögliche Beziehungsinhalte pro Dyade (Unterstützungsleistungen u1 bis u5). u 1: u 2: u 3: u 4:
Mit wem besprechen Sie Dinge, die Ihnen persönlich wichtig sind? Mit wem haben Sie eine sehr enge gefühlsmäßige Bindung? Mit wem verbringen Sie hauptsächlich Ihre Freizeit? Von wem erhalten Sie ab und zu oder regelmäßig finanzielle Unterstüt zung? u5: An wen geben Sie ab und zu oder regelmäßig finanzielle Unterstützung?
Zur Messung der Multiplexität der persönlichen Netzwerke im Familiensurvey habe ich den entsprechenden Vorschlag von Jansen (2006) aufgegriffen. „Die Akteursmultiplexität Egos kann durch eine Teilmatrix abgebildet werden, in der jeweils für alle Alteri eingetragen wird, wie viele der untersuchten Beziehungen (…) zwischen den jeweiligen Dyaden gegeben sind. Ab einem bestimmten Grenzwert m der Multiplexität von Beziehungen gilt die Beziehung zwischen Ego und Alter als multiplex…“ (ebd.: 209). Als entsprechenden Grenzwert habe ich, analog zu Jansen, m= 2 festgelegt, so dass als multiplex alle Beziehungen gelten, innerhalb derer mindestens zwei der fünf möglichen Beziehungsinhalte realisiert werden. Fälle, in denen die Beziehung zu Alter multiplex sind, erhalten dementsprechend den Wert 1, während uniplexe Beziehungen den Wert 0 tragen. Nachfolgend (Formel 3) illustriere ich die Berechnung der Multiplexität einer Dyade, basierend auf der Anzahl von j abgefragten Unterstützungsleistungen.
144
7 Empirische Analysen
Formel 3: Multiplexität (m) einer Dyade auf Basis von j Unterstützungsleistungen (u) j
m 1 (¦ uij ) t 2 i 1
j
m 0 (¦ uij ) 1
wobei gilt:
u
1 0
i 1
Für die Berechnung der Multiplexität eines gegebenen Netzwerks (welches im Familiensurvey bis zu 20 Alteri umfassen kann) wird nun die Zahl der uniplexen Beziehungen in das Verhältnis zur Zahl der multiplexen Beziehungen gesetzt. Dementsprechend reicht der Wertebereich dieser Kennziffer von 0 (ausschließlich uniplexe Beziehungen) bis 1 (ausschließlich multiplexe Beziehungen). Die Vorschrift zur Berechnung der Multiplexität (Mi) des persönlichen Netzwerks von Egoi lautet dementsprechend (s. nächste Seite, vgl. Jansen 2006: 110):66 Formel 4: Multiplexität (M) des ego-zentrierten Netzwerks von Ego n
¦m
i
M
66
i 1
n
n: Anzahl der Alteri von Ego i
Da ich für meine Analyse Fälle in Variablen transformiert habe, entfällt die bei Jansens Beispiel notwendige Subtraktion (n-1) im Nenner des Bruches. Ego ist in meinen Beispielen nicht Teil des Netzwerks, sondern bildet jeweils einen Fall in der Datenmatrix. Jedem Befragten (= Netzwerkegos) ist daher nur eine Zeile in der Teilmatrix zugeordnet, in denen den einzelnen Alteri dann jeweils eine Variable pro Unterstützungsleistung zugeordnet ist.
7.4 Schichtzugehörigkeit und Multiplexität
145
Tabelle 15: Die durchschnittliche Multiplexität persönlicher Netzwerke (nach Bildung) Multiplexität (Mittelwert) 0,639
Bildungsgrad hoch mittel
0,637
niedrig
0,627
Anmerkungen: Das Maximum der Multiplexität persönlicher Netzwerke beträgt 1, das Minimum 0. Quelle: Familiensurvey 2000, Deutsche Staatsangehörige ab 18 Jahren, ohne Panelteilnehmer, n= 5496 (eigene Berechnungen)
Tabelle 16: Anzahl multiplexer Verwandtschaftsbeziehungen (nach Bildung, Spaltenprozentwerte) Bildungsgrad Anzahl Beziehungen
niedrig
mittel
hoch
0
33,3
34,9
33,2
1
57,5
54,9
55,7
2
6,0
6,8
6,7
3
2,2
2,6
3,6
4
0,7
0,5
0,5
5 und mehr
0,1
0,3
0,3
gesamt
100,0
100,0
100,0
Tabelle 15 gibt einen Eindruck von der bildungsspezifischen Multiplexität in persönlichen Netzwerken wieder. Dort sind die Mittelwerte der Multiplexität des Gesamtnetzwerks abgetragen, jeweils in Abhängigkeit vom Bildungsniveau Egos. Auf Basis dieser ersten deskriptiven Ergebnisse muss Hypothese H3, laut der Bildung und beruflicher Status einen negativen Einfluss auf den Grad der Multiplexität haben, verworfen werden. Auch ein entsprechender Mittelwertvergleich zwischen den einzelnen Berufsstatusgruppen (ohne Abbildung) zeigt keinen meinen Erwartungen entsprechenden Trend auf. Tabelle 16 (mit Blick auf Verwandtschaftsbeziehungen) und Tabelle 17 (in Bezug auf freundschaftli-
146
7 Empirische Analysen
che Bindungen) veranschaulichen den Zusammenhang zwischen Bildung und der Häufigkeit des Vorkommens multiplexer Beziehungen auf zwei unterschiedlichen Ebenen von Beziehungstypen: verwandtschaftliche Beziehungen einerseits und nicht-verwandtschaftliche Beziehungen andererseits. Im Hinblick auf verwandtschaftliche Beziehungen unterscheiden sich die Bildungsschichten in Bezug auf die Anzahl multiplexer ties kaum voneinander. Hingegen gibt es in Bezug auf die Dimension der Freundschaft einen klaren Bildungstrend: je höher die Bildung, desto höher die Anzahl multiplexer Freundschaftsbeziehungen. Um zu überprüfen, ob die Effekte sozialer Schichtung möglicherweise von anderen soziodemographischen Merkmale bzw. weiteren Aspekten der Netzwerkstruktur verdeckt oder überlagert werden, habe ich eine OLS-Regression auf die durchschnittliche Multiplexität persönlicher Netzwerke durchgeführt (Tabelle 18). Modell I, in dem der isolierte Effekt der Bildung festgehalten ist, wirkt mit Blick auf die von mir formulierten Hypothesen ernüchternd: ein signifikanter Effekt der Bildung auf die Multiplexität ist laut den Ergebnissen des ersten Modell schlechterdings nicht vorhanden. Das gleiche Bild, nur bezogen auf den beruflichen Status als einzige Kovariate, zeigt Modell II. Modell III enthält zum einen die beiden Schichtindikatoren, zum anderen zentrale soziodemographische Kontrollvariablen. Auch wenn man diese Merkmale konstant hält, ist kein Effekt der Schichtzugehörigkeit zu konstatieren. Gleichwohl bringt das Vorhandenseins eines – wenn auch schwachen – negativen Mobilitätseffekts etwas Licht in das Dunkel um die Frage, wieso die Netzwerke hoch Gebildeter in der Netzwerkliteratur häufiger mit uniplexen Netzwerken in Zusammenhang gebracht werden (Boissevain 1974). Schließlich sind es insbesondere die höher Gebildeten, die verstärkt dazu neigen, ihren Lebensmittelpunkt häufiger in andere Regionen bzw. Staaten zu verlegen. Darüber hinaus werden bereits bekannte Ergebnisse repliziert: Mit zunehmenden Alter nimmt die Multiplexität der Netzwerke ab; Frauen haben im Durchschnitt multiplexere Beziehungen als Männer. Der größte Effekt geht jedoch vom Vorhandensein von Kindern aus: Wenn Nachwuchs vorhanden ist, steigt der Grad der Netzwerkmultiplexität signifikant. Es steht zu vermuten, dass hierfür zwei Mechanismen verantwortlich sind.
7.4 Schichtzugehörigkeit und Multiplexität
147
Tabelle 17: Anzahl multiplexer Freundschaftsbeziehungen (nach Bildung, Spaltenprozentwerte) Bildungsgrad Anzahl Beziehungen
niedrig
mittel
hoch
0
94,4
90,4
84,7
1
4,6
7,7
11,4
2
0,8
1,6
2,4
3
0,1
0,2
1,1
4
0,1
0,1
0,3
5 und mehr
0,0
0,0
0,0
gesamt
100,0
100,0
100,0
Anmerkungen: Bei ‚multiplexen’ Beziehungen handelt es sich um interpersonale Bindungen, in denen Ego mit Alter „über persönlich wichtige Dinge“ spricht, zu Alter eine „enge gefühlsmäßige Bindung“ unterhält und in denen Ego mit Alter „hauptsächlich seine Freizeit verbringt“. Quelle: Familiensurvey 2000, Deutsche Staatsangehörige (ohne Panelteilnehmer), n= 7559
Zum einen sind Kinder selbst wichtige Adressaten der in Frage kommenden Beziehungsinhalte: Die Eltern schenken ihnen Zuneigung (Generator: ‚enge persönliche Bindung’), verbringen ihre Freizeit mit ihnen und geben ihnen nicht zuletzt häufig finanzielle Unterstützung. Zum anderen ist aus der Netzwerkforschung bekannt (z. B. Hennig 2006), dass sich mit der Geburt von Kindern die Komposition und die Zahl der Kontakte in bestehenden Netzwerken verändert. Vor allem junge Familien scheinen mit der Situation konfrontiert zu sein, dass sich mit den Lebensweisen ihrer (noch) kinderlosen Freunde immer weniger Schnittpunkte ergeben und es in manchem Fall zum Erkalten von Freundschaften kommt. In diesem Zusammenhang kann man davon ausgehen, dass die ‚Last’ der erforderlichen sozialen Unterstützung von zuvor vielen auf nunmehr weniger Schultern verteilt wird und somit die Multiplexität persönlicher Netzwerke steigt. Modell IV (Tabelle 18), welches zudem noch zwei strukturelle Dimensionen der persönlichen Netzwerke (Größe und Reichweite) konstant hält, zeichnet schließlich ein Bild, das den in Hypothese H3 festgehaltenen Erwartungen diametral gegenüber steht.
148
7 Empirische Analysen
Tabelle 18: Determinanten der Multiplexität persönlicher Netzwerke (OLSRegressionen) I
II
III
IV
beta
beta
beta
beta
Bildungsgrad hoch
0,01
0,03
0,06
mittel
0,00
0,01
0,02
niedrig
Ref.
Ref.
Ref.
sozioökonomischer Status
0,01
0,01
***
0,03
-0,04
**
-0,02
-0,10
***
-0,07
***
Frau (Ref.: Mann)
0,04
**
0,06
***
Partnerschaft (Ref.: nein)
0,03
Kinder vorhanden (Ref.: nein)
0,25
Umzugsmobilität (Ref.: nein) Alter (metr.)
Region: Ost (Ref.: West)
-0,01
> 500.000 Einwohner (Ref.: nein)
-0,03
Migrationshintergrund (Ref.: nein)
-0,03
-0,03 ***
0,16
* ***
0,00 -0,01 *
-0,02
Netzwerkspannweite
-0,27
***
Netzwerkgröße
-0,10
***
R² (korr.)
0,00
0,00
0,06
0,14
Anmerkungen: Sig. *** p< 0,001, ** p< 0,01, * p< 0,05. Dargestellt sind die standardisierten Regressionskoeffizienten (Betagewichte). Quelle: Familiensurvey 2000, Deutsche Staatsangehörige, Hauptbefragung, n= 5432 (eigene Berechnungen).
In diesem Fall beeinflusst Bildung den Grad der Netzwerkmultiplexität nämlich positiv. Dieses Modell spielt sozusagen zwei besondere Eigenheiten der Netzwerke (mobile Lebensformen; Trend zu relativ großen Netzwerken) hoch Gebildeter gegeneinander aus und verhilft somit, ein klareres Bild von den schichtspezifischen Modi der Beziehungspflege zu gewinnen. Während die beiden Netzwerkdimensionen ‚räumliche Spannweite’ und ‚Größe des Netzwerks’
7.4 Schichtzugehörigkeit und Multiplexität
149
relativ gesehen die stärksten Effekte auf den Grad der Multiplexität ausüben, geht von Bildung jedoch ein allenfalls moderater Effekt aus. Der Mobilitätsindikator hat vermutlich gegenüber Modell III deshalb an Gewicht verloren, weil in Modell IV die Entfernung zu den Alteri kontrolliert wird. Das um die Berücksichtigung der beiden Netzwerkdimensionen erweiterte Modell IV klärt rund 14 Prozent der Varianz auf, ein Wert der als beachtlich einzustufen ist, berücksichtig man das Fehlen von Variablen zur Messung individueller Dispositionen. Zwar bestätigen die Ergebnisse die These Boissevains (1974: 86), wonach räumlich zerfaserte Netzwerke sich negativ auf die Multiplexität von Netzwerken auswirken. Doch die weiteren Annahmen des Autors bezüglich der Muliplexität sozialer Netzwerke müssen meinen Ergebnissen zufolge verworfen werden, geht Boissevain doch davon aus, dass die höher Gebildeten zwar vergleichsweise große Netzwerke aufbauen, diese Beziehungsgefüge dann aber überwiegend aus uniplexen Beziehungen bestehen. Diese These mag sich möglicherweise dann bewahrheiten, wenn neben den im Familiensurvey beobachtbaren persönlichen Beziehungen auch weak ties berücksichtigt werden können. Aufgrund des limitierten Datenmaterials lässt sich dieser Zusammenhang jedoch leider nicht überprüfen. Der eigentliche Kern persönlicher Netzwerke, welcher die vor allem zu Familienmitgliedern und engen Freunden bestehenden persönlichen Beziehungen beinhaltet, zeichnet sich auf Seiten der mittleren und höheren Bildungsgruppen gegenüber der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten jedenfalls durch eine signifikant höhere Multiplexität aus. Um zu überprüfen, ob statistisch ernstzunehmende Überzufälligkeiten lediglich aus der schichtspezifischen Antwortverteilung bezüglich einer Auswahl der fünf Namensgeneratoren resultiert oder ob sich die geschilderten Effekte auf allen fünf Unterstützungsebenen abzeichnen, habe ich eine Reihe von logistischen Regressionen durchgeführt, in denen jeweils einer der fünf Namensgeneratoren als abhängige Variable verwendet wird (Tabelle 19). Die Modelle sollen die Wahrscheinlichkeit abschätzen, überhaupt eine Person in den einzelnen Unterstützungsdimensionen angeben zu können. Das bereits bekannte Set der soziodemographischen Kontrollvariablen wurde um die beiden Variablen „Lebenspartner/in vorhanden“ und „eigene bzw. Stief/Adoptiv-/Kinder vorhanden“ reduziert, da innerhalb dieser kernfamiliärer Beziehungen selbst ein Großteil der abgefragten Beziehungsinhalte geleistet wird. Somit lassen sich die in Tabelle 19 zusammengefassten logistischen Regressionsmodelle als sehr ‚puristisch’ im Sinne einer auf sozialstrukturelle Faktoren abzielenden empirischen Perspektive bezeichnen. In den ersten drei Modellen ist keinerlei Effekt des Bildungsniveaus zu erkennen (Tabelle 19). Entscheidend scheint vielmehr der sozioökonomische Status, gemessen anhand des HZAIndex: Je höher der Wert dieses Index, desto größer wird die Wahrscheinlich-
150
7 Empirische Analysen
keit, dass die Individuen mindestens eine Ansprechpartnerin oder einen Ansprechpartner für den in Frage kommenden Beziehungsinhalt benennen können. Dieses Ergebnis manifestiert sich in allen drei Modellen (Wichtiges besprechen, emotionale Nähe, Freizeitaktivitäten).
Persönlich wichtiges besprechen?
Gefühlsmäßige Bindung?
Hauptsächlich Freizeit verbringen?
Finanzielle Unterstützung erhalten?
Finanzielle Unterstützung geben?
Tabelle 19: Determinanten spezifischer Unterstützungsleistungen (logistische Regressionen)
Exp(b)
Exp(b)
Exp(b)
Exp(b)
Exp(b)
hoch
1,27
1,57
0,94
1,40
mittel
1,09
1,17
1,05
1,03
niedrig
Ref.
Bildungsniveau
Ref.
1,29
**
Alter
0,98
**
0,99
Frau (Ref.: Mann) Region: Ost (Ref.:West)
2,54 1,06
***
3,31 0,97
Umzugsmobilität (Ref.: nein)
0,70
*
0,97
> 500.000 Einw. (Ref.: nein)
0,76
*
Pseudo-R² (Nagelkerke)
0,05
sozioökonomischer Status
Ref.
1,25
Ref.
Ref.
1,28
0,88
***
0,97
***
0,95
***
1,05
2,45 0,83
***
2,39 1,32
***
0,93 1,63
0,95
1,18
*
0,99
0,97
0,96
0,89
0,07
0,05
0,12
0,07
***
*
1,12
***
1,40
***
**
***
1,06 ***
***
0,98
Anmerkung: Die abhängigen Variablen sind binär codiert (ja/nein). Quelle: Familiensurvey 2000, deutsche Befragte zwischen 18 und 55 Jahren, ohne Panelteilnehmer; n= 5873
Im Zusammenspiel mit dem Merkmal Geschlecht erhält diese Beobachtung jedoch eine besondere Relevanz: So sind es nämlich in allen Fällen die Frauen, die ceteris paribus eine größere Chance haben, nicht in die soziale Isolation abzudriften. Die ‚Verlierer’ sind in diesem Bild einmal mehr die Männer mit niedrigem beruflichen Status – eine Beobachtung, die andere Studien bereits im
7.4 Schichtzugehörigkeit und Multiplexität
151
Hinblick auf die Chancenverteilung auf dem Heiratsmarkt gezeichnet haben (siehe z. B. Blossfeld 2003). Einzig im Hinblick auf die beiden Namensgeneratoren in Bezug auf das Geben und Nehmen von finanzieller Unterstützung unterscheiden sich die drei Bildungsgruppen. In beiden Fällen erhöht Bildung die Wahrscheinlichkeit, eine Person Alter als Geber bzw. Empfänger von Unterstützungsleistungen zu nennen.Dies mag etwas widersprüchlich anmuten, doch hält man sich vor Augen, dass sich ausschließlich die Gruppe der Fachhochschul- und Universitätsabsolventen signifikant von der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten unterscheidet, so liegt der Schluss nahe, dass es insbesondere finanzielle Zuwendungen aus Anlass eines Studiums u.ä. sind, die dafür sorgen, dass es zu bildungsspezifischen Unterschieden auf der Ebene von Unterstützungsleistungen in Netzwerken kommt. Des weiteren muss in Rechnung gestellt werden, dass Bildung dazu neigt, sich von einer Generation auf die andere zu vererben (Müller und Mayer 1976): Hoch Gebildete haben mit einer relativ großen Wahrscheinlichkeit auch hoch gebildete Eltern oder Großeltern, welche dann kraft ihres mit der Bildung eng korrelierten sozioökonomischen Status in der Lage sind, den nachfolgenden Generationen mit finanziellen Mitteln unter die Arme zu greifen. Dahingegen ist die oft knappe Haushaltslage der niedrigen und mittleren Bildungsgruppen dafür verantwortlich, dass die Heranwachsenden und jungen Erwachsenen auf Bildungskredite oder Fördermöglichkeiten wie Bafög zurückgreifen müssen. In diesen Fällen bleibt also die vermutete Notwendigkeit, auf die materielle Unterstützung seitens der Familienangehörigen oder engen Freunden zurückzugreifen, aus. Der in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit, zum Empfänger finanzieller Transaktionen zu werden, negative Effekt des beruflichen Status lässt wiederum vermuten, dass die höher Gebildeten nicht mehr der informellen materiellen Hilfe bedürfen, sobald der Berufseinstieg erst einmal vollbracht ist. Der Befund, dass arme Menschen stärker auf materielle Unterstützung in informellen Netzwerken zurückgreifen, deckt sich mit den Beobachtungen einer qualitativen Studie italienischer Singles. Anhand eines – freilich sehr extremen – Beispiels verdeutlicht Belotti (2008: 328) diesen Zusammenhang folgendermaßen: People with low incomes count more on friends’ informal help that can be seen as a strategy to save money. (…) Giuseppe is a 28-year-old unemployed who left school when he was fifteen. He reports how friends helped him in a difficult situation (he spent 2 years in prison), lending money, buying food for his family (he lives with his mother and sister) and offering temporary jobs once he came out of jail. Belotti (2008: 328)
152
7 Empirische Analysen
Aufgrund des zeitlich einmaligen Messzeitpunkts gestatten es mir die Daten leider nicht, die vorangegangenen Vermutungen einer genaueren empirischen Überprüfung zu unterziehen. Hier bietet sich in Zukunft eine Validierung unter Zuhilfenahme von Daten an, die mit geeigneteren Verfahren erhoben wurden (wie beispielsweise Paneluntersuchungen). Um den Effekt der beiden Generatoren in Bezug auf finanzielle Unterstützungen abschätzen zu können, habe ich – analog zum in Tabelle 18 abgebildeten Modell – eine zweite Regression auf den Multiplexitätsgrad von Netzwerken gerechnet (ohne Abbildung). Der Unterschied zur ersten Schätzung bestand darin, dass sich die abhängige Variable in diesem Fall lediglich auf drei Unterstützungsleistungen bezog (Persönlich wichtiges besprechen; enge gefühlsmäßige Bindung; Freizeit verbringen). Das Ergebnis deckte sich mit den bereits diskutierten Befunden: Das nunmehr modifizierte Modell IV (vgl. Tabelle 18) zeigt einen signifikanten positiven Effekt der Zugehörigkeit zur Gruppe der hoch Gebildeten. Demnach steht zu vermuten, dass die geringe Anzahl der Nennungen in Bezug auf die beiden Namensgeneratoren zur finanziellen Unterstützung wenig ausschlaggebend für das Verhältnis von uniplexen und multiplexen Beziehungen in persönlichen Netzwerken insgesamt ist. Zusammenfassung Unter H3 hatte ich die Annahme formuliert, dass die ‚Multiplexität’ – bezogen auf den Durchschnitt jeweils aller Beziehungen eines gegebenen Netzwerks – mit dem Bildungsgrad und dem beruflichen Status von Individuen abnimmt. Diese Hypothese basierte auf der Annahme, dass die ‚Last’ der erforderlichen sozialen Unterstützung auf Seiten der unteren sozialen Schichten gegenüber den oberen sozialen Schichten im Durchschnitt auf weniger Schultern verteilt werden muss. Daher, so meine Vermutung, sollte auch die Multiplexität der Netzwerke von Angehörigen unterer sozialer Schichten höher sein als die von Mitgliedern oberer sozialer Schichten. Die Ergebnisse zeigen, dass Hypothese H3 verworfen werden muss. Dabei zeigen die Befunde nicht nur, dass es keinen Zusammenhang in der von mir vermuteten Richtung gibt, sondern dass die empirischen Daten genau das Gegenteil meiner zuvor formulierten Erwartungen widerspiegeln, sobald andere strukturelle Parameter der persönlichen Netzwerke berücksichtigt werden. Unter Konstanthaltung von Netzwerkparametern wie ‚räumliche Spannweite’ und ‚Zahl der Alteri’ erweisen sich die Netzwerke der höher Gebildeten gegenüber der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten nämlich als signifikant multiplexer. Die Daten sprechen dafür, dass es insbesondere die Einbeziehung der beiden Namensgeneratoren in Bezug auf das Geben und Empfangen von Geldleistungen ist, welches zu diesem etwas überraschenden Ergebnis beiträgt. Insgesamt deuten die Ergebnisse aber auch in die von Allan (1979)
7.5 Ungleiche Netzwerkgeographien
153
angezeigte theoretische Richtung, könnten multiplexe Beziehungen auf Seiten der hoch Gebildeten doch auch als Beleg für die These der schichtspezifischen Dekontextualisierung persönlicher Beziehungen herangezogen werden. Offen bleibt jedoch, warum die höher Gebildeten stärker zur Dekontextualisierung persönlicher Beziehungen neigen. Modell IV, das sowohl die soziodemographischen Kovariaten als auch die Netzwerkparameter ‚Größe’ und ‚räumliche Spannweite’ berücksichtigt, klärt rund 14 Prozent der Varianz in Bezug auf die Multiplexität persönlicher Netzwerke auf. Dieses Ergebnis ist als zufrieden stellend zu erachten, stellt man in Rechnung, dass individuelle Dispositionen einen entscheidenden Anteil in Bezug auf die Frage haben dürften, mit wem die Individuen welche Beziehungsinhalte austauschen.
7.5 Ungleiche Netzwerkgeographien In der Pionierzeit der soziologischen Netzwerkforschung war der Untersuchungsschwerpunkt auf communities im traditionellen soziologischen Sinn gerichtet. Der empirische Fokus lag dementsprechend auf nahräumlichen Verwandtschafts- und Nachbarschaftsverhältnissen (z.B. Barnes 1954; Bott 1957). Mit der zentralen konzeptuellen Weichenstellung, nicht mehr ausschließlich abgegrenzte soziale Einheiten wie Schulklassen, Dörfer oder Organisationen zu untersuchen, sondern vielmehr personal communities, also persönliche Netzwerke ohne räumlich präjudizierte Grenzen in den Blickpunkt der Netzwerkforschung zu rücken (Wellman 1979; 1982), gewann die Soziologie zunehmend Überblick über Formen sozialer Integration abseits von nahräumlichen Interaktionszusammenhängen. Das Verhältnis von räumlicher Nähe und räumlicher Distanz innerhalb ego-zentrierter persönlicher Netzwerke blieb dabei jedoch sowohl aus theoretischer wie auch aus empirischer Perspektive weitgehend ungeklärt: Wie groß ist der Anteil von Fernkontakten in Gesamtnetzwerken? Wie weit streuen die Kontakte räumlich betrachtet? Fragen wie diese blieben meist unbeantwortet. In diesem Kapitel widme ich mich also einer – vor allem empirischen – Leerstelle der soziologischen Netzwerkforschung. Den Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchung liefert die Hypothese, dass die durchschnittliche Distanz zu den Alteri mit dem Bildungsgrad und dem beruflichen Status von Ego zunimmt (H4). Mit Hilfe der Daten des Familiensurvey 2000 lässt sich zunächst eine räumliche Verortung eher vertrauensvoller strong ties vornehmen. Zur Erinnerung: Bereits im Einleitungstext dieser Studie werden die Befragten gebeten, ausschließlich solche Alteri zu nennen, die in ihrem Alltag eine besondere Rolle spielen. Um das empirische Bild nicht noch weiter in Richtung ausschließlich
154
7 Empirische Analysen
lokal angesiedelter Netzwerke zu verzerren, wurden im Rahmen der empirischen Analyse nur solche Alteri berücksichtigt, die über mindestens einen der folgenden drei Namensgeneratoren erhoben wurden: „1. „Mit wem besprechen Sie Dinge, die Ihnen persönlich wichtig sind?“; 2. „Mit wem haben Sie eine sehr enge gefühlsmäßige Bindung?“; 3. „Mit wem verbringen Sie hauptsächlich Ihre Freizeit? Denken Sie nur an Menschen, mit denen Sie einen großen Teil der Freizeit verbringen.“ Abbildung 5:
Räumliche Verteilung persönlicher Beziehungen (in Prozent) Prozent 0
5
10
15
20
25
30
Haushaltsmitglied im gleichen Haus unmittelbare Nachbarschaft gleicher Ortsteil im Ort >15 min Anderer Ort bis 1 Stunde weiter entfernt Anmerkungen: Die Prozentangaben beziehen sich auf den Anteil der einzelnen Entfernungskategorie an der Gesamtanzahl der erhobenen Beziehungen (berücksichtigt wurden ausschließlich vermittels Namensgeneratoren erhobene Bindungen) Quelle: Familiensurvey 2000, Befragte mit deutscher Staatsbürgerschaft (ohne Panelteilnehmer),n= 63451 (Beziehungen)
Dementsprechend nicht berücksichtigt wurden die beiden Namensgeneratoren in Bezug auf das Verleihen bzw. Leihen größerer Geldsummen, da diese Instrumente besonders prädestiniert sind, Verwandtschaftsbeziehungen zu „generieren“. Meine Vermutung war, dass diese noch stärker auf den Wohnort der Individuen fokussiert sind als nicht-verwandtschaftliche Beziehungen. Dadurch hätte sich die Gefahr einer noch stärkeren Verzerrung der Ergebnisse in Bezug auf Netzwerkgeographien ergeben. Ein erster deskriptiver Überblick (Abbildung
7.5 Ungleiche Netzwerkgeographien
155
5) über die räumliche Verteilung der Alteri im Familiensurvey 2000 zeigt denn auch, wie eng beieinander emotionale und räumliche Nähe auch im viel beschworenen ‚Digitalen Zeitalter’ gedacht werden müssen. Mehr als die Hälfte der genannten signifikanten Anderen kann von den Befragten innerhalb eines Zeitraums von nur 15 Minuten aufgesucht werden: Zunächst sind in diesem Zusammenhang die 27 Prozent der Alteri zu nennen, die im selben Haushalt wie Ego leben (bei dieser Gruppe von Alteri handelt es sich überwiegend um die Angehörigen der Kernfamilie: Partner und eigene, adoptierte oder Stiefkinder). Tabelle 20: Die durchschnittliche Reichweite persönlicher Netzwerke (nach Bildungsniveau) CASMIN
Mittelwert
n
IIIa
3,56
341
IIIb
3,83
843
IIb
3,05
857
IIa
3,16
1900
IIc_gen
3,31
403
IIc_voc
3,25
415
Ia
2,52
90
Ib
2,92
581
Ic
3,01
1962
Anmerkungen: Die Zielpersonen wurden nach der Dauer gefragt, die sie zum entsprechenden Netzwerkmitglied zurücklegen müssen. Die Ausprägungen lauten: 1: Haushaltsmitglied; 2: im selben Haus, 3: unmittelbare Nachbarschaft; 4: gleicher Ortsteil; 5: im Ort >15 Minuten; 6: anderer Ort bis 1 Stunde; 7: mehr als 1 Stunde Quelle: Familiensurvey, Hauptbefragung (ohne Panelteilnehmer), nur deutsche Staatsangehörige, n= 7392
Rund 11 Prozent der Alteri leben darüber hinaus entweder im selben Haus oder in der „unmittelbaren Nachbarschaft“, weitere 9 Prozent sind im selben Ortsteil anzufinden. Weniger als ein Fünftel der Netzwerkmitglieder lebt dagegen weiter als eine Stunde entfernt.
156
7 Empirische Analysen
Tabelle 20 veranschaulicht den Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau Egos und der durchschnittlichen Dauer, die Ego zurücklegen muss, um die Alteri zuhause aufsuchen zu können. Auf der deskriptiven Ebene bestätigen die Ergebnisse den von mir erwarteten Zusammenhang: Personen ohne Sekundarstufenabschluss und ohne berufliche Bildung (CASMIN Ia) weisen die persönlichen Netzwerke mit der geringsten räumlichen Spannweite auf. Dagegen erstrecken sich die persönlichen Beziehungen von Absolventen der Fachhochschulen (CASMIN IIIa) und Universitäten (CASMIN IIIb) im Mittel über die größten Distanzen. Auch die Zahlen in Bezug auf den Zusammenhang zwischen räumlicher Spannweite und Berufsstatus deuten in die erwartete Richtung (Tabelle 21): Personen in Berufen mit sehr niedriger Handlungsautonomie verfügen im Durchschnitt über die Netzwerkbeziehungen mit der geringsten räumlichen Distanz, während Berufe mit einem hohen Status, also solche mit einer großen Handlungsautonomie, mit besonders weiträumig aufgespannten Beziehungsgefügen einhergehen. Eine Ausnahme bilden lediglich die Angehörigen der Autonomieklasse 2, die einen etwas niedrigeren Mittelwert als diejenigen Befragten mit der geringsten beruflichen Handlungsautonomie haben. Tabelle 21: Beruflicher Status und die Reichweite persönlicher Netzwerke Grad der Autonomie des beruflichen Handelns (HZA-Index)
Reichweite (Mittelwert)
n
1 (gering)
3,07
777
2
3,00
2134
3
3,21
1675
4
3,31
1330
5 (hoch)
3,55
191
Anmerkungen: Die Transformation der Skalenwerte basiert auf den Empfehlungen von Wolf (1995). Quelle: Familiensurvey 2000, Hauptbefragung (ohne Panelteilnehmer), deutsche Staatsangehörige, ohne Personen in freien Berufen, n= 6107
Tabelle 22 zeigt die Ergebnisse einer Regression, in der die Reichweite zu Alteri, die außerhalb von Egos Haushalt wohnen, die abhängige Variable darstellt. Auch hier wurde neben den beiden Schichtindikatoren auf zentrale Kontrollvariablen zurückgegriffen, von denen bekannt ist, dass sie im Hinblick auf die Strukturierung sozialer Netzwerke eine wichtige Rolle spielen können. Die Ergebnisse des ersten Modells (Modell I) zeigen den Einfluss der Variable ‚Bildung’ (operationalisiert anhand der CASMIN-Klassifikation). Gegenüber der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten weichen einzig die Fachhochschul- und
7.5 Ungleiche Netzwerkgeographien
157
Universitätsabsolventen signifikant ab: Personen mit tertiärer Bildung verfügen demnach über räumlich weiter aufgespannte Netzwerke als niedriger Gebildete. Auch der berufliche Status wirkt sich positiv auf die durchschnittliche Beziehungsreichweite aus (Modell II). Tabelle 22: Determinanten der räumlichen Spannweite persönlicher Netzwerke (OLS-Regression) I
II
III
beta
beta
beta
Bildungsniveau hoch
0,20
mittel
0,03
niedrig
Ref.
***
0,16
***
0,04
*
Ref. 0,04
*
Umzugsmobilität (Ref.: nein)
0,16
***
Alter (metr.)
0,09
***
Frau (Ref.: Mann)
0,01
sozioökonomischer Status
0,13
Kinder vorhanden (Ref.: nein)
***
-0,01
Partnerschaft (Ref.: nein)
0,07
***
Migrationshintergrund (Ref.: nein)
0,05
**
> 500.000 Einwohner (Ref.: nein)
0,04
Region: Ost (Ref.: West) R² (korr.)
-0,04 0,05
0,02
*
0,08
Anmerkungen: Die abhängige Variable hat einen Wertebereich von 1 bis 6, wobei hohe Werte mit einer großen durchschnittlichen räumlichen Distanz einhergehen (s. Anmerkungen zu Tabelle 1). Alteri, die denselben Haushalt wie Ego teilen (EhepartnerInnen, Kinder etc.), wurden nicht berücksichtigt. Dargestellt sind die standardisierten Regressionskoeffizienten. Sig.: *** p< 0,001; ** p< 0,01; * p< 0,05 Quelle: Familiensurvey 2000, Deutsche Befragte, ohne Panelteilnehmer, n= 4492
Wie verändern sich nun die berichteten Effekte, wenn gleichzeitig weitere zentrale soziodemographische Merkmale konstant gehalten werden? Modell III zeigt, dass der Einfluss der Zugehörigkeit zur höchsten Bildungsgruppe auf die Netzwerkreichweite sogar dann gegeben ist, wenn Alter, Geschlecht, Gemein-
158
7 Empirische Analysen
degröße und weitere soziodemographische Merkmale kontrolliert werden. Vergleicht man darüber hinaus die standardisierten Regressionskoeffizienten, so stellt sich das Bildungsniveau – neben dem Mobilitätsindikator ‚Umzug’ – gar als einflussreichste der berücksichtigen Kovariaten dar. Signifikante positive Effekte auf die Reichweite persönlicher Netzwerke ergeben sich zudem aus der Tatsache, in einer festen Partnerschaft zu leben, ganz gleich, ob verheiratet oder nicht. Dies mag damit verbunden sein, dass Partnerschaft selbst über immer längere Zeit über immer größere Distanzen aufrechterhalten wird (Schneider et al. 2002a). Die Ergebnisse könnten nun insofern verzerrt sein, als dass die räumlichen Reichweiten all jener Partnerschaften nicht berücksichtigt werden, innerhalb derer die Beteiligten im selben Haushalt leben. Demgegenüber stehen wachsende Mobilitätsanforderungen an die Individuen. Gegenwärtige Wohnarrangements von Lebenspartnern erschöpfen sich längst nicht in der Frage, wo die Individuen leben, sondern auch wie lange sie innerhalb einer jeden Woche jeweils an welchem Ort wohnen. Antworten auf die Frage, wie die Individuen die alltäglichen berufsbedingten Mobilitätsanforderungen bewältigen, zeigt der von Schneider et al. (2002b: 79ff.) erarbeitete Katalog von mobilen Lebensformen: So gibt es etwa „Fernpendler“ (Personen die jeden Tag eine Stunde oder mehr zur Arbeit fahren), „Varimobile“ (Personen mit variierenden Mobilitätsanforderungen), „Shuttles“ (Personen mit einem arbeitsbezogenen Zweitwohnsitz) und Personen, die in Fernbeziehungen leben und deren PartnerInnen einen eigenen Haushalt haben. Des Weiteren bringt Partnerschaft eben auch oft die Konsequenz mit sich, dass sich einer der beiden Beteiligten entschließt, dem geliebten Menschen an einen neuen Wohnort zu folgen („umzugsmobile Paare“) (siehe auch Manderscheid und Bergman 2008). Alte Bindungen zu am Herkunftsort ansässigen Alteri werden also beileibe nicht grundsätzlich gekappt, sondern oft aus der Ferne weitergeführt. Etwas überraschend mag der positive Alterseffekt anmuten. In Netzwerkstudien mit gerontologischem Fokus wird zumeist davon ausgegangen, dass soziale Unterstützung mit dem Alter zunehmend in das räumliche Nahfeld der Individuen rückt (z.B. Hennig 2006). Diesbezüglich spielt sicherlich nicht nur die eigene, sondern auch die Mobilität der Angehörigen eine wichtige Rolle. So zeigt eine Regression, in der vier Alterskategorien (18-25, 26-35, 36-45, 46-55) als Dummies berücksichtigt werden (ohne Abbildung), dass nur die beiden jüngsten Altersgruppen von der Referenzkategorie der 46- bis 55jährigen signifikant negativ abweichen. Hierfür sehe ich zwei Ursachen. Erstens bauen sich die Individuen in ihrer Jugend relativ stabile persönliche Netzwerke an ihrem Wohnort auf. Je älter die Individuen nun werden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Egos signifikante Andere in einen anderen Stadtteil, eine
7.5 Ungleiche Netzwerkgeographien
159
andere Stadt oder ein anderes Land ziehen. Zweitens hat die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung im Alter zwischen 30 und 55 Jahren Kinder, seien dies die eigenen oder Stief- bzw. Adoptivkinder. Je betagter nun die Eltern werden, desto größer ist gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder den eigenen Haushalt verlassen und andernorts ihr Glück versuchen. Damit wird diese Generation also aus einer passiven Rolle heraus zum Träger weiträumig aufgespannter persönlicher Netzwerke. Während der Familiensurvey nur eine grobe Kategorisierung von ‚Langstreckenbeziehungen’ zulässt (die maximale Entfernung, die die Befragten angeben konnten, beläuft sich auf die Ausprägung ‚eine Stunde oder mehr entfernt’), bietet der Survey Transnationalisierung 2006 die Möglichkeit, Unterschiede entlang der Schichtkoordinaten ‚Bildung’ und ‚Berufsstatus’ für das Vorhandensein von persönlichen Auslandsnetzwerken festzustellen. Konkret wurden die Befragten im Rahmen des Surveys nach dem Vorhandensein und der Zahl transnationaler, d.h. die deutsche Staatsgrenze überschreitende Beziehungen zu Bekannten, Freunden und Verwandten sowohl nicht-deutscher als auch deutscher Staatsangehörigkeit gefragt. Diese Kontakte wurden global erhoben, d. h. es wurde direkt danach gefragt, ob die Interviewten solche Beziehungen haben. Grenzüberschreitende Beziehungen werden im Zusammenhang meiner Fragestellung also als besondere Form von räumlich weiter entfernten Sozialbeziehungen aufgefasst. Zwar mag Beziehungen solcherart ein eigenes Moment innewohnen, der sie von anderen, über weite Distanzen geführte Beziehungen innerhalb einer Nation, unterscheidet, doch möchte ich an dieser Stelle die Überquerung nationalstaatlicher Grenzen zunächst als bloße Bewegung im Raum festhalten. Transnationale Beziehungen werden dementsprechend als Proxy für räumlich distanzierte Dyaden verwendet. Tabelle 23: Anzahl der Beziehungen zu Personen im Ausland (nach Bildungsniveau) Bildungsniveau
Mittelwert
SD
n
hoch
5,16
12,09
521
mittel
2,35
5,91
1294
niedrig
1,58
4,47
520
Anmerkungen: Der Mittelwert bezieht sich auf die Gesamtsumme zu der pauschal abgefragten Zahl von im Ausland lebenden Personen, mit denen die Zielpersonen in regelmäßigem privaten Kontakt stehen. Quelle: Survey Transnationalisierung 2006, n= 2326
160
7 Empirische Analysen
Auch wenn die Ergebnisse in Bezug auf die Bildungsspezifik transnationaler Netzwerke zunächst die Vermutung nahe legen, dass hier einige Ausreißer die Mittelwerte nach oben verzerren, so lässt sich doch ein klarer Trend erkennen (Tabelle 23): mit zunehmendem Bildungsgrad wächst die Zahl der Kontakte zu Personen im Ausland. Vergleicht man nun die Zahl der transnationalen Kontakte in den einzelnen Statusstufen unterschiedlicher Beschäftigungsverhältnisse, so lässt sich ebenfalls ein positiver Zusammenhang zwischen beruflichem Status und der Größe des grenzüberschreitenden Beziehungsgefüges erkennen. Transformiert man die jeweilige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe sowie der entsprechenden Stellung im Beruf approximativ auf einer ISEI Prestige-Skala, so lässt sich die Höhe der Korrelation zwischen der Zahl der Auslandsbeziehungen und des beruflichen Status berechnen. Mit einem Wert von r= 0,138 lässt sich ein signifikanter (p< 0,01), aber eher schwacher, positiver Zusammenhang erkennen. Um zu überprüfen, wie sich die beiden Schichtprädiktoren ‚Bildung’ und ‚Berufsstatus’ bei gleichzeitiger Kontrolle weiterer soziodemographischer Merkmale verhalten, wurde eine multivariate Regressionsanalayse durchgeführt, in der die Zahl der Auslandsbeziehungen als abhängige Variable fungiert (Tabelle 25). Die Analysen zeigen, dass sowohl Bildung als auch Berufsstatus einen signifikanten Einfluss auf die Zahl grenzüberschreitender Beziehungen ausüben. Dies betrifft sowohl die Modelle, in denen die beiden Schichtindikatoren jeweils als einzige erklärende Variablen verwendet werden (Modell I bzw. Modell II), als auch Modell IV, in dem weitere soziodemographische Charakteristika in die Regressionsgleichung einfließen. Gleichwohl ist zu beachten, dass sich Bildung nicht linear auf die Zahl der bekannten Personen im Ausland auswirkt. Zwischen der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten und den Angehörigen der mittleren Bildungsgruppe gibt es keinen signifikanten Unterschied. Anders dagegen die Fachhochschul- und Universitätsabsolventen, die gegenüber den niedrig Gebildeten über signifikant mehr Beziehungen zu Personen jenseits der deutschen Grenze verfügen.
7.5 Ungleiche Netzwerkgeographien
161
Tabelle 24: Zahl transnationaler Beziehungen (Mittelwerte, nach Beruf) Zahl transnationaler Beziehungen (M)
n
ungelernte/ angelernte Arbeiter
2,02
130
Facharbeiter
1,15
229
Vorarbeiter/Meister
0,88
34
einfache ausführende Tätigkeit
2,12
355
gehobene qualifizierte Tätigkeit
2,84
683
leitende Tätigkeit
3,94
299
einfacher Dienst
0,00
5
mittlerer Dienst
2,23
44
gehobener Dienst
5,00
61
höherer Dienst
8,60
47
keine weiteren Mitarbeiter
2,38
134
1 bis 4 Mitarbeiter
4,54
68
5 und mehr Mitarbeiter
3,33
30
1,40
5
Berufsgruppe und Stellung im Beruf Arbeiter
Angestellte
Beamte
Selbständige, Freiberufler
Landwirte
Anmerkungen: Die jeweilige Zuordnung erfolgte auf Basis des derzeitigen oder letzten Berufs (z.B. bei Rentnerinnen und Rentern, Arbeitslosen, Hausfrauen/-männer etc.), falls die Probanden zum Zeitpunkt der Befragung nicht (mehr) berufstätig waren. Quelle: Survey Transnationalisierung 2006 (eigene Berechnungen), n= 2124
162
7 Empirische Analysen
Tabelle 25: Regression auf die Gesamtzahl transnationaler Beziehungen I
II
III
IV
beta
beta
beta
beta
Bildungsniveau ***
hoch
0,20
mittel
0,05
0,02
niedrig
Ref.
Ref.
sozioökonomischer Status
0,10
0,13
***
**
0,09
***
Muttersprache der Eltern (Migrationshintergrund) kein Elternteil spricht deutsch
0,24
**
0,25
***
ein Elternteil spricht deutsch
0,06
**
0,07
**
beide Eltern sprechen deutsch
Ref.
Ref.
keine Fremdsprache
Ref.
Ref.
eine Fremdsprache
0,05
Befragte/r spricht…
zwei oder mehr Fremdsprachen
0,20
Alter (metr.)
0,00 ***
0,13
0,04
0,00
Frau (Ref.: Mann)
-0,03
-0,02
Region: Ost (Ref.: West)
-0,02
-0,03
***
Gemeindegröße > 500.000 Einwohner
0,06 **
0,05
100.000 bis 499.999 Einwohner
0,02
0,01
unter 100.000 Einwohner
Ref.
Ref.
0,11
0,13
R² (korr.)
0,03
0,02
*
Anmerkungen: Die abhängige Variable setzt sich zusammen aus der Summe aller regelmäßigen privaten Kontakte zu im Ausland lebenden Personen (pauschale Abfrage). Signifikanzniveaus: *** p< 0,001; **p< 0,01; * p< 0,05 Quelle: Survey Transnationalisierung 2006, Deutsche Befragte ab 18 Jahren (n= 2122)
7.5 Ungleiche Netzwerkgeographien
163
In Bezug auf die Zahl grenzüberschreitender Beziehungen spielt es natürlich auch eine ganz erhebliche Rolle, ob die Befragten über einen Migrationshintergrund verfügen. Dieser wurde anhand der Muttersprache der Eltern operationalisiert: Personen, von denen mindestens ein Elternteil eine nicht-deutsche Muttersprache spricht, weisen signifikant größere Auslandsnetzwerke auf.67 Dieser Effekt verdreifacht sich in seiner Stärke, wenn beide Elternteile eine andere Muttersprache als Deutsch sprechen. Betrachtet man die Effekte der anderen Kontrollvariablen, so sticht ins Auge, dass im Gegensatz zu den Daten des Familiensurveys kein signifikanter Alterseffekt auftritt. Zudem zeigt sich ebenfalls ein signifikanter Effekt der Gemeindegröße: Personen, die in Gemeinden mit mindestens 500.000 Einwohnern leben, sind stärker in private grenzüberschreitende Beziehungen eingebunden als Menschen, die in eher kleineren Gemeinden und Dörfern leben. Zusammenfassung Im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und der räumlichen Reichweite persönlicher Netzwerke hatte ich die Hypothese formuliert, dass mit dem Bildungsniveau und dem beruflichen Status die Spannweite ego-zentrierter Beziehungsgefüge zunimmt (H4). Diese Annahme wird durch die vorliegenden Befunde unterstützt. Sowohl vom Bildungsgrad als auch vom sozioökonomischen Status gehen positive Effekte auf die durchschnittliche Distanz zu den Alteri aus. Insgesamt muss jedoch gesagt werden, dass die von den beiden Schichtindikatoren herrührenden direkten Effekte auf die räumliche Spannweite persönlicher Netzwerke eher schwach sind. Eine Sonderrolle mit Blick auf die räumliche Ausdehnung interpersonaler Netzwerke nehmen freilich Personen mit Migrationshintergrund ein: Aufgrund der gängigen sozialen Praxis des ‚Transnationalismus’ (Basch et al. 1994) spannen sich die sozialen Netzwerke dieser Personengruppe über enorme räumliche Distanzen aus, während die soziodemographischen Einflussfaktoren in Bezug auf die räumliche Spannweite der Netzwerke dieser Gruppe deutlich schwächer sind.
67
Mir ist bewusst, dass die Entscheidung, die Muttersprache der Eltern als einziges Kriterium für die Indikation des Migrationshintergrundes zu verwenden, all jene Befragte ausklammert, deren Eltern aus dem deutschsprachigen Ausland stammen. Leider bietet der Survey Transnationalisierung für diese Fallgruppe keine weitere Möglichkeit der Identifikation eines etwaigen Migrationshintergrundes.
164
7 Empirische Analysen
7.6 Kontakthäufigkeit in persönlichen Netzwerken Die Häufigkeit, mit der die Beteiligten einer persönlichen Beziehung miteinander kommunizieren, wurde in der Anfangszeit der Netzwerkforschung häufig als Gradmesser für die Qualität der Beziehung verstanden. Transnationale Familiennetzwerke (z. B. Basch et al. 1994), grenzüberschreitende Freundschaftsnetzwerke (z.B. Mau und Mewes 2007) und romantische Fernbeziehungen, in denen die Individuen sich zumindest nicht allzu oft dem Gespräch unter vier Augen widmen können, sprechen gegen eine derartige Interpretation. Boissevain (1974: 34) fordert daher die Fokussierung auf die Dauer, mit der sich die Beteiligten einer Beziehung einander zuwenden: „The duration of the contact is perhaps a more telling index than frequency of interaction, as it is a measure of the amount of time (a limited resource) that people invest in each other.“68 Nichtsdestotrotz ist die Häufigkeit, mit der dyadische Beziehungen ‚aktiviert’ werden, ein wichtiger Parameter persönlicher Netzwerke. Eine seltene Anzahl von face-to-face Begegnungen senkt beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, neue Kontakte vermittels von bereits bekannten Personen zu erschließen (Prinzip der Transitivität). Auf der anderen Seite mag die gewonnene Zeit, die aus der eher seltenen Aktivierung von Beziehungen folgt, als Ressource verwendet werden um neue Menschen kennen zu lernen. Die Frage, inwiefern die Schichtzugehörigkeit Einfluss auf die durchschnittliche Kontakthäufigkeit in persönlichen Netzwerken ausübt, lässt sich nicht von der Frage lösen, wie kommuniziert wird. Die Kommunikation zwischen Beteiligten, die viele Kilometer voneinander trennen, bedarf zum Beispiel größerer Anstrengung als die Initiierung von Kontakten zu Personen, die in derselben Stadt oder sogar in der Nachbarschaft leben. Somit verweist die Kennziffer ‚Kontakthäufigkeit’ auch implizit auf das schichtspezifisch ungleich verteilte ‚Mobilitätskapital’ (vgl. Kapitel 3.3). Mit Hilfe der Daten des Familiensurvey 2000 lässt sich ein erster deskriptiver Überblick über die Häufigkeiten gewinnen, mit der die Individuen miteinander kommunizieren (ohne Abbildung).69 Zunächst verdeutlichen die Befunde,
68
69
Auch die Dauer von persönlichen Beziehungen scheint mit dem Bildungsgrad korreliert zu sein. Wie de Jong Gierveld und Perlman (2006: 744) in einer komparativen Studie mit Fokus auf die Niederlande und die Vereinigten Staaten zeigen konnten, sinkt die Dauer nichtverwandtschaftlicher Beziehungen mit dem Bildungsgrad der Untersuchungspersonen. Die Autoren sehen hierfür insbesondere die höhere residentielle Mobilität der hoch Gebildeten als ausschlaggebend an. In Bezug auf Kontakthäufigkeiten ist zu beachten, dass die Probanden nach der Häufigkeit gefragt wurden, mit der sie die entsprechenden Beziehungen unter Anwesenheit, telefonisch oder postalisch aktivieren. Die Möglichkeit der Berücksichtigung elektronischen Kontakts (In-
7.6 Kontakthäufigkeit in persönlichen Netzwerken
165
dass der Familiensurvey, wie bereits angenommen, auf sehr alltägliche Interaktionsmuster zugeschnitten ist. Rund die Hälfte (48 Prozent) aller von den Befragten angegebenen Kontakte werden täglich aktualisiert. Hierunter fallen vor allem die persönlichen Beziehungen zu Partnern und Kindern. Zu weiteren 20 Prozent der insgesamt angegebenen Alteri findet mehrmals in der Woche Kontakt statt. Mindestens einmal wöchentlich treten die Beteiligten der genannten Beziehungen in 12 Prozent der angegeben Beziehungen in Kontakt. 10 Prozent der Dyaden werden immerhin einmal im Monat aktiviert. Seltenere Kontaktfrequenzen sind dagegen deutlich in der Minderheit (mehrmals im Jahr: 4 Prozent; seltener: 1 Prozent). Welche Rolle spielt nun die Schichtzugehörigkeit in Bezug auf die Häufigkeit, mit der Dyaden aktiviert werden? In diesem Zusammenhang hatte ich die Hypothese (H5) formuliert, dass sich die sozialen Schichten in Bezug auf die Realisierung von Interaktionen unter Anwesenheit voneinander unterscheiden, und zwar dergestalt, dass die entsprechende Kontakthäufigkeit mit dem Bildungsgrad und dem beruflichen Status der Befragten abnimmt. In Abbildung 6 ist zunächst die Kontakthäufigkeit persönlicher Beziehungen in Abhängigkeit vom Bildungsstatus abgebildet. Dabei wird deutlich, dass die hoch Gebildeten vor allem seltener täglich ihre Beziehungen aktualisieren als die Angehörigen der beiden anderen Bildungsgruppen.70 Während die Angehörigen der niedrigen und mittleren Bildungsgruppen rund die Hälfte ihrer Kontaktpartner täglich sehen oder hören bzw. von ihnen lesen, sind es auf Seite der hoch Gebildeten nur 40 Prozent.
70
ternet, Mobiltelefon, Chat) war den Befragten offenbar noch nicht gegeben. Hier wäre aktuelleres Datenmaterial also durchaus wünschenswert. Die Befunde zur Rolle der neuen Kommunikationsmedien in Bezug auf soziale Netzwerke deuten jedoch darauf hin, dass die elektronischen Kommunikationsmedien vor allem dazu eingesetzt werden, bereits bestehende Kontakte zu pflegen (Boase et al. 2006). Die Studie von Mok und Wellman (2007) legt jedoch den Schluss nahe, dass das so genannte ‚Digitale Zeitalter’ die ‚Taktzahl’ persönlicher Beziehungen, zumindest diejenigen außerhalb der körperlich greifbaren Reichweite, insgesamt erhöht hat, mithin einzelne Dyaden insgesamt häufiger aktualisiert werden als früher. Dass die Angehörigen der beiden niedrigeren Bildungsgruppen häufiger täglichen Kontakt haben, könnte auch ein statistisches Artefakt sein. Denn aus der vorherigen Diskussion der empirischen Befunde ist ja bereits bekannt, dass sich die Netzwerke der unteren Bildungsschichten sehr stark auf die engsten Familienmitglieder beschränken. Dass aber zum Beispiel Mitglieder der Kernfamilie täglich gesehen werden, ist ein wenig erstaunliches Ergebnis. An dieser Stelle wird abermals deutlich, welche Vorsicht dem Vergleich von Durchschnittswerten in Bezug auf Netzwerke entgegengebracht werden muss.
166
7 Empirische Analysen
Abbildung 6:
Kontakthäufigkeit nach Bildung (in Prozent der jeweiligen Bildungsgruppe)
60 50
Prozent
40 30 20 10
hoch
mittel
nie
seltener
mehrmals im Jahr
einmal im Monat
mehrmals im Monat
einmal in der Woche
mehrmals in der Woche
täglich
0
niedrig
Quelle: Familiensurvey 2000, Deutsche Staatsbürger, ohne Panelteilnehmer (eigene Berechnungen)
Die drei darauf folgenden Frequenzkategorien (mehrmals in der Woche, einmal in der Woche, mehrmals im Monat) weisen weitaus geringere Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen auf. Des Weiteren habe ich eine Regression der durchschnittlichen Kontakthäufigkeit auf das nunmehr bekannte Set an soziodemographischen Faktoren durchgeführt. Ähnlich wie in den zuvor diskutierten Analysen zeigen die Befunde, dass nicht von einem eigenständigen Schichteinfluss auf die Kontakthäufigkeit in persönlichen Netzwerken ausgegangen werden kann. So bleibt bei gleichzeitiger Kontrolle wichtiger anderer soziodemographischer Faktoren ein Effekt des sozioökonomischen Status (gemessen anhand des HZA-Index) aus. Vielmehr stellt sich die nunmehr bekannte Bildungsspezifik persönlicher Netzwerke auch
7.6 Kontakthäufigkeit in persönlichen Netzwerken
167
im Hinblick auf das Strukturmerkmal ‚Kontakthäufigkeit’ ein. Zentral ist zunächst der Befund, dass mit zunehmendem Bildungsgrad das durchschnittliche Kontaktniveau in persönlichen Netzwerken signifikant sinkt. Tabelle 26: Determinanten der Kontakthäufigkeit in persönlichen Netzwerken (OLS-Regression) I
II
III
IV
beta
beta
beta
beta
Bildungsgrad hoch
-0,14
mittel
-0,03
niedrig
Ref.
sozioökonomischer Status
***
-0,05
**
-0,11
***
-0,03
*
-0,04
**
0,00
Ref.
Ref.
-0,02
0,03
*
-0,02
*
Umzugsmobilität (Ref.: nein)
-0,07
Frau (Ref.: Mann)
-0,01
Alter (metr.)
-0,12
Region: Ost (Ref.: West)
***
0,04
***
***
-0,06
***
-0,05
***
-0,04
***
Partnerschaft (Ref.: nein)
0,24
***
0,04
***
Kinder (Ref.: nein)
0,11
***
-0,05
***
Migrationshintergrund (Ref.: nein)
-0,02
0,01 -0,02
*
Netzwerkspannweite
-0,69
***
Netzwerkgröße
-0,10
***
> 500.000 Einwohner (Ref.: nein)
R² (korr.)
-0,06
0,02
0,00
0,11
***
0,54
Signifikanzniveaus: *** p< 0,001; **p< 0,01; * p< 0,05 Quelle: Familiensurvey 2000, Deutsche Staatsbürger, Hauptbefragung, n= 5652 (eigene Berechnungen)
In Modell IV wurden – neben den soziodemographischen Kovariaten – zudem die beiden Netzwerkstruktur-Dimensionen ‚Größe’ und ‚Reichweite’ als erklärende Variablen berücksichtigt.71 So ist es möglich, Aufschluss darüber zu ge-
71
Alle Modelle halten dem Verdacht auf Multikollinearität stand. Die berücksichtigen Kovaria-
168
7 Empirische Analysen
winnen, ob die berichteten Bildungseffekte indirekter Natur sind, Bildung mithin als Katalysator für räumliche Zerfaserung einerseits und die Netzwerkgröße andererseits zu betrachten ist, oder ob Bildung einen eigenständigen Effekt auf die Kontaktfrequenz hat. Die Befunde zeigen, dass auch bei Konstanthaltung dieser beiden Größen ein – allerdings sehr schwacher – Bildungseffekt zu konstatieren ist. Gleichwohl unterscheidet sich in diesem Modell nur noch die Gruppe der höher Gebildeten signifikant von der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten. Rätselhaft erscheint dagegen der nunmehr signifikante Effekt des sozioökonomischen Status: Dem Modell zufolge steigt die Kontakthäufigkeit mit dem Status, ein Ergebnis, das im Widerspruch zu meinen theoretischen Erörterungen steht. Modell IV beschreibt rund 54 Prozent der Varianz der zu erklärenden Variable. Dieses Modell eignet sich somit nicht nur dazu, statistische Zusammenhänge aufzudecken, sondern hat auch bemerkenswerte prognostische Qualitäten. Um die diskutierten Ergebnisse mit anderem Datenmaterial zu konfrontieren, habe ich auf die Daten des ALLBUS/ISSP zurückgegriffen. Abbildung 7 zeigt die durchschnittlichen Kontakthäufigkeiten zur besten Freundin bzw. zum besten Freund. Für diese Analyse wurden also keine Netzwerkaggregate berücksichtigt, sondern es ging ausschließlich um die Kontakthäufigkeit zu einer ganz bestimmten anderen Person. Durch die Ausblendung verwandtschaftlicher Beziehungen, so meine Hoffnung, lassen sich eventuelle Verzerrungen zugunsten nahräumlicher Beziehungen womöglich besser ausklammern. Die Ergebnisse bestätigen zunächst die Annahme, dass die höher Gebildeten seltener auf face-to-face-Interaktionen zurückgreifen (Signifikanzniveau der entsprechenden Varianzanalyse: p< 0,05). Die absoluten Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen sind jedoch nicht groß. Alle Bildungsgruppen pendeln sich in einem Bereich zwischen „mindestens einmal pro Monat“ (Skalenwert=4) und ‚mindestens einmal pro Woche’ (Skalenwert=5) ein. Insbesondere an den beiden äußeren Enden der Bildungsverteilung – also bei den niedrig Gebildeten einerseits und bei den hoch Gebildeten andererseits – entsprechen die Mittelwertunterschiede meinen Erwartungen. Während die niedrig Gebildeten mit ihren besten Freundinnen und Freunden etwas häufiger unter Anwesenheit kommunizieren, nehmen die hoch Gebildeten zu diesem Zweck etwas häufiger Kommunikationsmedien zur Hand. Einzig die mittlere Bildungsgruppe weicht in Bezug auf die Nutzung der Kommunikationsmedien von meinen Erwartungen
ten wiesen im entsprechenden Test Toleranzwerte von mindestens 0,58 auf und liegen damit deutlich über der kritischen Schwelle von 0,1. Auch die jeweiligen Konditionsindizes liegen unter dem Schwellenwert von 30.
7.6 Kontakthäufigkeit in persönlichen Netzwerken
169
ab, sind es doch deren Angehörige, die vergleichsweise am häufigsten in medial vermittelter Kommunikation zu ihren besten Freunden involviert sind. Abbildung 7:
Kontakthäufigkeit zum besten Freund/zur besten Freundin (Mittelwerte, nach Bildung)
face-to-face Kontakte
Kontakte unter Abwesenheit
5,2 5 4,8 4,6 4,4 4,2 4 3,8 hohe Bildung
mittlere Bildung
niedrige Bildung
Anmerkungen: Endpunkte der Häufigkeitsskala: 7=täglich, 1= seltener (als ein paar Mal pro Jahr) Quelle: ALLBUS 2002, eigene Berechnungen. n= 1004.
Zumindest mit Blick auf die Freundschaftsebene relativieren diese deskriptiven Befunde des ALLBUS also die Schlussfolgerung, dass die Kontakthäufigkeit zwangsläufig negativ mit dem Bildungsgrad der Individuen zusammenhängt. Es steht zu vermuten, dass sich hinter diesem Zusammenhang vor allem die (in der vorliegenden Arbeit empirisch bereits beobachtete) ‚Tatsache’ verbirgt, dass höher gebildete Personen auch größere persönliche Netzwerke aufweisen. Um diese Kontakte pflegen zu können ist es unabdingbar, dass sich die – zumindest mit Ego in einem engeren Verhältnis stehenden – Alteri notfalls gedulden müssen, um die dyadischen Kontakte weiterhin pflegen zu können. Des Weiteren gehe ich davon aus, dass auch die Entfernung zu den Alteri sowie die räumliche Streuung der Kontakte eine wichtige Rolle spielt: Egos mit räumlich zerfaserten Netzwerken haben mit größeren Koordinationsproblemen in Bezug auf die Kon-
170
7 Empirische Analysen
taktaufnahme zu den Alteri zu kämpfen als solche, deren Bekannte und Verwandte am selben Ort leben. Als letztes, dennoch aber wichtigstes Argument, welches für die geringere Kontakthäufigkeit in den Netzwerken von höher Gebildeten spricht, ist die empirische Beobachtung, dass die Netzwerke der niedrig Gebildeten nicht nur relativ klein sind, sondern auch deutlich stärker auf die Kernfamilie beschränkt sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig, dass Ego mit seinen wenig zahlreichen signifikanten Anderen vergleichsweise häufig kommuniziert. Zusammenfassung Im Fazit kann gesagt werden, dass die Daten des ALLBUS (Kontakthäufigkeit zum besten Freund/zur besten Freundin) Hypothese H5 unterstützen, wonach sich Bildung und beruflicher Status negativ auf die Häufigkeit des Kontakts unter Anwesenheit ausüben. Besonders deutlich wurde darüber hinaus die zentrale Bedeutung der räumlichen Spannweite für die Häufigkeit der Aktualisierung persönlicher Beziehungen: je näher die Alteri leben, desto häufiger finden Kontakte sowohl unter Anwesenheit als auch unter Abwesenheit statt. Da residentielle Mobilität in hohem Maße vom Bildungsniveau und vom beruflichen Status der Befragten abhängt, kann also überdies von einem starken indirekten Schichteffekt in Bezug auf die Kontakthäufigkeit in persönlichen Netzwerken gesprochen werden. Die beobachteten direkten Effekte der Schichtzugehörigkeit sind dagegen eher schwach.
7.7 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen Im Folgenden diskutiere ich, inwiefern die ‚objektive’ Schichtspezifik persönlicher Netzwerke mit subjektiven Dispositionen einhergeht. Vor dem Hintergrund der ungleichheitssoziologischen Fragestellung meiner Arbeit werde ich das Augenmerk auf vier verschiedene Einstellungskomplexe legen. Zuerst befasse ich mich mit der Frage, ob es schichtspezifische Dispositionen im Hinblick auf den Grad der familialen Solidarität gibt. Im Anschluss steht einerseits die Frage im Vordergrund, welche Eigenschaften sich Individuen von ihren engen Freunden wünschen und welche Rolle die Faktoren ‚Bildung’ und ‚Status’ dabei spielen. Zum anderen werde ich untersuchen, ob die Schichtzugehörigkeit einen Einfluss darauf hat, ob Individuen freundschaftliche gegenüber verwandtschaftlichen Beziehungen bevorzugen. Sodann befasse ich mich mit dem Phänomen subjektiv empfundener sozialer Isolation. Dazu werde ich mich mit Einstellungsfragen beschäftigen, die mit dem Phänomen ‚Einsamkeit’ in Zusammenhang stehen. Sind Angehörige niedrigerer sozialer Schichten stärker von diesem
7.7 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen
171
Problem betroffen? Und wenn ja, wie stark wirkt sich das Vorhandensein und die Zahl von persönlichen Beziehungen darauf aus, Einsamkeit zu empfinden? Zugleich erhoffe ich mir, anhand der Analyse von weiteren Einstellungsitems ein Schlaglicht auf die subjektive Dimension sozialer Desintegration werfen zu können. Mithin folge ich dem Vorschlag von Diewald (1991: 150), das Phänomen der sozialen Isolation gleichermaßen als „objektiv-strukturelles“ wie auch als „subjektives Phänomen“ zu begreifen und zu untersuchen. 7.7.1 Familiäre Solidarität: Schichtspezifische Bürden und Lasten? In der Familiensoziologie gibt es eine anhaltende Debatte über den sozialen Wandel der Familie bzw. des Familienbildes (Meyer 1992; Huinink 2002). Vor allem hohe Scheidungsraten werden häufig mit einem allgemeinen Trend zur Abkehr vom bürgerlichen Familienideal gebracht. In der soziologischen Netzwerkforschung ist angesichts des unterstellten Bedeutungsverlusts der Familie daher auch manchmal vom Trend zu families of choice anstelle von families of fate (Pahl und Spencer 2004) die Rede: Während man sich seine (Bluts-)Verwandten nicht aussuchen kann und Verpflichtungen ihnen gegenüber möglicherweise als lästig erscheinen können, bietet die Beziehungsform der Freundschaft die Möglichkeit, Ansprechpartner zu finden, die die eigenen Wünsche, Sehnsüchte und Interessen vermutlich sehr viel besser verstehen können als Eltern, Geschwister oder Großeltern. Konträr zu dieser den Wert der Familie eher unterschätzenden Perspektive habe ich in Kapitel 3.8 argumentiert, dass familiäre Beziehungen Formen der aufgeschobenen Reziprozität unter Umständen massiv erleichtern und daher eine kostbare Ressource für die Individuen darstellen können. Für die Mitglieder unterer sozialer Schichten dürfte sich aufgrund ihrer relativen Ressourcenknappheit das Problem ergeben, dass sie in vielen Fällen die ihnen entgegengebrachte ‚Gabe’ (Mauss 2005) in unmittelbarer oder mittelfristiger zeitlicher Perspektive nicht durch eine angemessene Gegenleistung erwidern werden können. Die besondere Beziehungsqualität der Verwandtschaft kann die Beteiligten von diesem Problem entlasten, da Individuen dazu neigen, familiäre Beziehungen unhinterfragt als ‚gegeben’ und zeitlich stabil zu bewerten (vgl. Kapitel 2.2). Somit dürften familiale Beziehungen – und hierunter insbesondere kernfamiliale Bindungen – aufgrund der ihnen eigenen ‚Unendlichkeitsfiktion’ (Huinink 1995) einen idealen Nährboden für Formen der aufgeschobenen Reziprozität bilden. Darüber hinaus dürften Verwandtschaftsbeziehungen (vorübergehenden) Leistungsasymmetrien länger standhalten als Freundschaften, die davon gefährdet sind, dass im Falle eines länger andauernden ‚Leistungsgefälles’ zwischen Ego und Alter die Freundschaft zersetzende Prozesse der Über- und Unterordnung einsetzen (vgl. Adloff und Mau 2005a). Meine Annahme ist, dass
172
7 Empirische Analysen
die Vorzüge verwandtschaftlicher Reziprozitätsarrangements besonders dann genutzt werden, wenn Individuen einen Mangel an sozialer Unterstützung nicht durch den Rückgriff auf andere Alternativen (wie etwa bezahlte Helfer) kompensieren können. Daher sollte die Neigung zu familialer Solidarität vorwiegend in solchen sozialen Schichten stärker ausgeprägt sein, in denen Ressourcen wie Bildung, Einkommen und Besitz vergleichsweise knapp sind. In der NKPS 2005 ist eine ganze Reihe von Items in Bezug auf das Thema familiale Solidarität vorhanden: E. F. G. H.
I give my family more than they give me. I feel my family should give me more support than I receive now. I receive enough help and advice from my family. If someone in our family misbehaves, we make a point of letting them know. I. In our family we gossip a lot about one another. J. We often quarrel in our family. K. When the whole family comes together, everyone has to tread carefully. L. When we’re together, the atmosphere is almost always tense. M. There’s a great deal of misery in our family. N. When I am troubled, I can always discuss my worries with my family. O. I place confidence in my family. P. Should I need help, I can always turn to my family. Q. I can always count on my family.
Folgende Antwortmöglichkeiten wurden den befragten Personen eröffnet: “strongly agree, rather agree, neither agree nor disagree, disagree, strongly disagree.” Diese Itembatterie wurde einer exploratorischen Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse) unterzogen. Ingesamt konnten dabei drei Faktoren extrahiert werden (KMO-Kriterium: ,91), die die Grundlage für die Bildung dreier Skalen bildeten: ‚familiärer Konflikt’ (je höher der Wert dieser Skala, desto stärker empfinden die Probanden den innerfamiliären Streit), ‚familiale Reziprozität’ (steigende Werte indizieren, dass Ego mehr von der Familie bekommt als in diese investiert wird)72 und ‚Familie als Hort von Geborgenheit’ (Befragte, die hier ein hohes Skalenniveau aufweisen, betrachten ihre Familie
72
Der Skalenausschlag zugunsten von Ego wurde in diesem Fall also nicht dahingehend ausgelegt, dass Ego einseitig von der Beziehung profitiert, sondern dass tendenziell eine Symmetrie der Beziehung gegeben ist.
7.7 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen
173
als wichtigen emotionalen Rückzugsort).73 Jede dieser Skalen wurde im Rahmen einer linearen Regression als abhängige Variable verwendet. Im Vordergrund des diesbezüglichen Ergebnisberichts stehen auch hier wieder die Indikatoren bezüglich der Schichtzugehörigkeit, namentlich das Bildungsniveau sowie der sozioökonomische Status der Probanden (gemessen anhand der ISEI-Skala nach Ganzeboom). Betrachtet man zunächst das erste Modell (Tabelle 27), welches die Effekte des Kovariatensets auf die Skala ‚Familiärer Konflikt’ abschätzt, so wird deutlich, dass die mittleren und hohen Bildungsgruppen signifikant von der Referenzkategorie der niedrig Gebildeten abweichen: Mit zunehmendem Bildungsniveau berichten die befragten Personen von einer stärkeren Harmonie innerhalb der Familie. Demgegenüber scheint der sozioökonomische Status nicht mit der abhängigen Variable im Zusammenhang zu stehen. Der negative Alterseffekt impliziert mindestens zwei Erklärungsansätze: Zum einen ist es tatsächlich denkbar, dass die Individuen den Dingen im Alter gelassener gegenüberstehen und es somit seltener zu unbehaglichen und streitseligen Situationen kommt. Andererseits stellt sich im fortgeschrittenen Alter womöglich eine stärkere Einsicht darüber ein, wie wertvoll die verbliebenen Familienmitglieder aus Sicht Egos sind. In diesem Licht betrachtet rücken die alltäglichen Nickligkeiten stärker in den Hintergrund und machen Platz für eine warmherzige, den Wert der Familie betonende (und eventuell auch verklärende) Sicht auf die eigene Familie. Darüber hinaus könnte das Bestehen eines Alterseffekts auch von einem reinen Kohorteneffekt zeugen. Diese Annahme kann jedoch mit den verwendeten Daten nicht überprüft werden. Familiären Konflikt mindernd wirkt sich zudem das Bestehen einer festen Partnerschaft aus. Die Tatsache, ohne Partner zu leben, entbindet die Individuen offenbar nicht von den Erwartungen und Pflichten, welche das Eingebundensein in familiäre Zusammenhänge mit sich führt. Im Gegensatz dazu wirkt sich das Vorhandensein eigener Kinder Konflikt schürend aus. Ebenso weisen residentiell mobile Menschen ein höheres innerfamiliäres Konfliktniveau auf. Schließlich ist noch ein negativer Effekt der Bevölkerungsdichte am Wohnort zu verzeichnen. In Modell II (Tabelle 27) wurde der Einfluss der Schichtungsvariablen auf den Grad der innerfamiliären Reziprozität abgebildet. Mit anderen Worten: Als
73
Die Scores setzen sich folgendermaßen zusammen: ‚Familie: Konflikt’ (Items I, J, K, L und M; Cronbachs Alpha: ,88), „Familie: Reziprozität“ (Items E und F; Alpha= ,69), Score „Familie: Geborgenheit“ (Items N, O, P und Q; Alpha= ,92). Aufgrund niedriger oder uneindeutiger Faktorladungen wurden die Items G (receive enough help) und H (if misbehave we let know) nicht berücksichtigt. Der in Bezug auf die modifizierte 11er-Itembatterie korrigierte KMOWert (Faktoranalyse) beträgt ,89.
174
7 Empirische Analysen
wie symmetrisch empfinden die Befragten das Verhältnis von Geben und Nehmen zwischen sich und ihrer Familie? Positive Werte der Reziprozitätsskala deuten hier auf eine Situation hin, in der die oder der Befragte subjektiv mehr von der Familie profitiert. Negative Werte indizieren hingegen, dass die befragte Person in der Familie tendenziell mehr gibt als sie von ihr bekommt. Eine Null auf der Reziprozitätsskala bedeutet, dass ein als ausgeglichen empfundenes Verhältnis von Nehmen und Geben in der Familie der Probanden vorherrscht. Ein Vergleich der Gruppenmediane (ohne Abbildung) in Bezug auf die drei Bildungsstufen (hoch/mittel/niedrig) zeigt in diesem Zusammenhang ein etwas überraschendes Ergebnis.
Bildungsniveau hoch mittel niedrig sozioökonomischer Status Umzugsmobilität (in km) Frau (Ref.: Mann) Alter wohnt mit PartnerIn (Ref.: nein) Kinder vorhanden (Ref.: nein) Migrationshintergrund (Ref.: nein) Bevölkerungsdichte Wohnort R² (korr.)
Konflikt
Reziprozität
emotionaler Hort
Tabelle 27: Determinanten der innerfamiliären Solidarität (OLS-Regressionen)
beta
beta
beta
-0,03 * -0,04 ** Ref. -0,02 0,04 ** 0,01 -0,10 *** -0,04 ** 0,03 0,00 0,05 *** 0,01
0,05 ** 0,03 * Ref. 0,04 * -0,01 0,05 *** -0,11 *** 0,05 -0,04 ** 0,02 -0,01 0,03
0,02 0,00 Ref. 0,03 -0,07 *** 0,07 *** -0,08 *** 0,03 * -0,02 0,03 * -0,02 0,02
Dargestellt sind die standardisierten Beta-Regressionskoeffizienten. Signifikanzniveaus: *** p< 0,001; **p< 0,01; * p< 0,05 Quelle: NKPS 2005, Niederländische Staatsbürger ab 18 Jahren, n= 6621 (gewichtet). Eigene Berechnungen.
7.7 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen
175
So liegt der jeweilige Median über alle drei Gruppen hinweg über 0 (niedriges Bildungsniveau: 1, mittleres Bildungniveau: 1, hohes Bildungsniveau: 2). Das bedeutet, dass mindestens die Hälfte der Probanden, ganz gleich welcher Schichtzugehörigkeit, der Meinung ist, dass sie von ihrer Familie mehr bekommen als sie dieser zurückgeben. Des Weiteren wurde eine Regression auf die Skala ‚Familie als Hort der Geborgenheit’ berechnet (Tabelle 27). Hierzu muss zunächst vorangeschickt werden, dass der Gesamtmittelwert der betreffenden Skala bei 15,6 liegt, also sehr nahe beim Maximalwert von 20. Diese generell sehr positive Einstellung gegenüber der Familie wird auch durch die Ergebnisse der multivariaten Regression bestätigt: Gegenüber der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten sind keine Abweichungen auf Seiten der höher Gebildeten festzustellen. Ebenso wenig unterscheiden sich die Statusgruppen hinsichtlich ihrer Beurteilungen voneinander. Abschließend ist noch zu sagen, dass die durch die jeweiligen Modelle aufgeklärten Varianzanteile sehr gering sind. Die hier abgebildeten Einstellungen zur eigenen Familien beruhen offenkundig auf weitaus komplexeren Mechanismen als sie seitens der recht einfachen, auf soziodemographische Informationen beruhenden, Regressionsmodelle abgebildet werden können. Daher muss der Einfluss der Schichtzugehörigkeit auf die Wahrnehmung des familialen Zusammenhalts insgesamt als sehr schwach bezeichnet werden. 7.7.2 Zur schichtspezifischen Instrumentalisierung persönlicher Beziehungen Um der These der stärker den unteren sozialen Schichten vorbehaltenen Instrumentalisierung persönlicher Beziehungen auf den Grund zu gehen, habe ich auf die Daten des ALLBUS 2002 zurückgegriffen, in dem das Netzwerkmodul des ‚ISSP 2001: Social Networks’ eingeschaltet war. In diesem Kontext wurden den Befragten vier Items vorgelegt, bei denen die Probanden Stellung zur Bedeutung gewünschter Charaktereigenschaften von engen Freundinnen und Freunden beziehen sollten (siehe Tabelle 28). Betrachtet man zunächst die Verteilung der Antworten, so fällt auf, dass die Befragten vor allem danach zu trachten scheinen, solche Freundschaftsbeziehungen aufzubauen, in denen Ihnen Verständnis entgegengebracht wird: Rund 30 Prozent der Befragten sind der Meinung, es sei ‚außerordentlich wichtig’, dass enge Freunde Ego ‚wirklich’ verstehen. Weitere 43 Prozent beurteilen ‚Verständnis’ in solch einer Beziehung als ‚sehr wichtig’, rund 20 Prozent entscheiden sich für die Kategorie ‚ziemlich wichtig’. Mithin finden 9 von 10 Befragten, dass Verständnis in einer engen Freundschaftsbindung mehr oder minder ‚wichtig’ ist. Damit setzt sich diese Charaktereigenschaft an die Spitze der vier zu bewertenden Kriterien. Die Eigenschaften ‚Intelligenz’ und ‚Hilfe’ werden als etwa gleich wichtig erachtet: Bei erstgenanntem
176
7 Empirische Analysen
Item entfallen 72 Prozent der Nennungen auf eine der drei positiven Antwortmöglichkeiten, bei ‚Hilfe’ sind es rund 76 Prozent. ‚Unterhaltsamkeit’ ist in engen Freundschaftsbeziehungen dagegen weniger gefragt: Nur 8 Prozent finden dieses Merkmal ‚außerordentlich wichtig’. Ein Viertel der Befragten findet, dass der gemeinsam geteilte Spaß in einer Freundschaft ‚sehr wichtig’ ist, während sich ungefähr ein Drittel dafür ausspricht, dass Unterhaltsamkeit allenfalls ‚ziemlich wichtig’ ist. Nachfolgend habe ich untersucht, inwiefern Bildung und die Beurteilung der angesprochenen Charaktereigenschaften von engen Freundinnen und Freunden miteinander zusammenhängen. Tabelle 28: Bewertung der Eigenschaften, die enge Freundinnen und Freunde erfüllen sollten (Spaltenprozentwerte) Intelligenz
Verständnis
Hilfe
Unterhaltsamkeit
außerordentlich wichtig
12,8
29,2
10,6
8,0
sehr wichtig
27,9
43,3
32,3
25,3
ziemlich wichtig
31,3
20,1
33,5
33,8
nicht so wichtig
20,4
3,6
17,0
26,4
gar nicht wichtig
4,0
1,0
3,3
3,0
keine Angabe
3,7
2,7
3,3
3,5
100,0
100,0
100,0
100,0
insgesamt
Quelle: ALLBUS 2002 (Ost-West-Gewichtung), eigene Berechnungen. Befragte ab 18 Jahren mit deutscher Staatsangehörigkeit. Frageformulierungen: „Manche Menschen schätzen verschiedene Dinge an einen engen Freund/an einer engen Freundin und unterscheiden sich darin, wie wichtig das eine oder das andere für sie ist. Bitte kreuzen Sie an, wie wichtig oder nicht wichtig folgende Aspekte für Sie bei engen Freunden sind: Intelligenz: Dass jemand intelligent ist und mich zum Nachdenken anregt. Verständnis: Dass jemand mich wirklich versteht. Hilfe: Dass jemand mir hilft, die Dinge anzupacken. Unterhaltsamkeit: Dass jemand unterhaltsam ist.“
Fasst man zunächst die Charaktereigenschaft ‚Intelligenz’ ins Auge (Abbildung 8), so sprechen die Daten für das Homophilie-Prinzip (‚Gleich und gleich gesellt sich gern’): Intelligenz gilt zwar nicht unbedingt als der wichtigste, so aber doch gemeinhin als ein wichtiger Einflussfaktor für das erfolgreiche Abschneiden im Bildungssystem. Geht man nun davon aus, dass Individuen dazu neigen, Freundinnen bzw. Freunde nach dem Ähnlichkeitsprinzip auszuwählen, so liegt es nahe, dass Fachhochschul- und Universitätsabsolventen Wert auf eine gewisse
7.7 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen
177
Intelligenz legen. Denn es steht ja zu vermuten, dass sich die Gruppe der höher Gebildeten auch selbst als ‚gebildet’ wahrnimmt und ihre eigene formale Bildung mit dem Vorhandensein hoher Intelligenz in Zusammenhang bringt. Insofern wäre es folgerichtig, dass der Wunsch nach ‚Intelligenz’ auf Seite Alters für die höher Gebildeten dringlicher ist als bei anderen Bildungsgruppen. Der Wunsch nach dem ‚Verständnis’ von Freundinnen und Freunden ist dagegen über alle Bildungsgruppen hinweg unisono vorhanden (Tabelle 28). Hinter diesem Ergebnis mag sich der universale Wunsch verbergen, dass ein enger Freund einem selbst nicht nur ähnlich sein sollte, sondern ebenfalls, dass dieser Freund auch die eigenen Wünsche, Ängste und Sehnsüchte verstehen oder zumindest respektieren kann. Vor dem Hintergrund der Fragestellung meiner Arbeit besonders bedeutsam ist das Item ‚Hilfe’, da dieses Hinweise darauf liefern kann, ob die unteren sozialen Schichten tatsächlich stärker dazu neigen, persönliche Beziehungen zu instrumentalisieren. Die prozentualen Unterschiede fallen hier moderat aus. Während 41 Prozent der niedrig Gebildeten und sogar 47 Prozent der Personen mit mittlerem Bildungsniveau dieses Merkmal als außerordentlich wichtig oder sehr wichtig erachten, sind es in den Reihen der höher Gebildeten 38 Prozent, die Wert auf derlei Unterstützung seitens ihres Freundeskreises legen. Auch das Item ‚Unterhaltsamkeit’ verweist stärker auf einen Modus der Freundschaftsselektion, welcher zur Aufnahme instrumentalistischer Beziehungen tendiert. Hier tut sich auch die größte soziale Schere auf. Mehr als ein Drittel der Angehörigen der beiden unteren Bildungsschichten, nämlich jeweils 35 Prozent, finden diesen Aspekt einer engen Freundschaft ‚außerordentlich wichtig’ bzw. ‚sehr wichtig’. Auf Seiten der Fachhochschulund Universitätsabsolventen sind es mit nur einem Viertel der Befragten rund 10 Prozentpunkte weniger, welche die gleiche Ansicht teilen.
178
7 Empirische Analysen
Abbildung 8:
Gewünschte Charaktereigenschaften enger Freunde (nach Bildung)
Unterhaltsamkeit
gar nicht wichtig nicht so wichtig ziemlich wichtig sehr wichtig außerordentlich wichtig gar nicht wichtig
Hilfe
nicht so wichtig ziemlich wichtig sehr wichtig außerordentlich wichtig gar nicht wichtig
Verständnis
nicht so wichtig ziemlich wichtig sehr wichtig außerordentlich wichtig gar nicht wichtig
Intelligenz
nicht so wichtig ziemlich wichtig sehr wichtig außerordentlich wichtig 5
10
15
Bildungsniveau hoch
20
25 Prozent
0
30
Bildungsniveau mittel
35
40
45
50
Bildungsniveau niedrig
Quelle: ALLBUS 2002; (Ost-West-Gewichtung); nur deutsche Staatsbürger. Frageformulierungen siehe Tabelle 27
7.7 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen
179
Nachfolgend wird eine multivariate Analyse zeigen, welche Rolle die Schichtzugehörigkeit bei der Beurteilung der vorangegangenen Attribute von Freundinnen und Freunden spielt. Um diese Frage zu beantworten wurden wiederum vier multivariate Modelle gerechnet, in denen die Einstellungsitems die zu schätzenden abhängigen Variablen bilden.74 Das Kovariatenset wurde um die bereits in den anderen Kapiteln vorgestellten Kontrollvariablen erweitert (Tabelle 29). Da die zu schätzenden Einstellungsitems ordinal skaliert sind, habe ich in diesem Fall auf das Verfahren der so genannten Ordered Probit Regression zurückgegriffen.75 Analog zur etwas bekannteren Methode der logistischen Regression werden in diesem Fall die Wahrscheinlichkeiten geschätzt, einer bestimmten Kategorie der abhängigen Variable anzugehören. Darüber hinaus berücksichtigt die Ordered Probit Regression jedoch auch die ordinale Struktur der abhängigen Variablen. Das angesprochene statistische Verfahren basiert auf der Annahme, dass die jeweilige abhängige Variable normal verteilt ist (während eine Ordered Logit Regression von einer Gleichverteilung ausgeht). Entsprechende explorative Analysen der vier verwendeten Einstellungsitems konnten zeigen, dass die Annahme der Normalverteilung nicht signifikant verletzt wird. Betrachtet man zunächst das erste Modell, welches die Wichtigkeit der Eigenschaft ‚Intelligenz’ abschätzt, so erweisen sich sowohl der sozioökonomische Status (operationalisiert anhand der ISEI Skala) als auch das Bildungsniveau (operationalisiert anhand von CASMIN) der Befragten als positive Einflussfaktoren. Gleichwohl zeigt der nicht-signifikante Einfluss der Zugehörigkeit zur mittleren Bildungsschicht, dass kein linearer Bildungseffekt vorliegt. Vielmehr unterscheidet sich nur die Gruppe der Fachhochschul- und Universitätsabsolventen von der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten. Wie bereits anhand der deskriptiven Befunde diskutiert wurde, scheint der Wunsch nach ‚Verständnis’ auf Seiten der engen Freundinnen und Freunde über alle Bildungs- und Statusgruppen hinweg sehr stark ausgeprägt zu sein (Spalte 2, Tabelle 29). Insofern überrascht es nicht, dass das entsprechende multivariate Analysemodell keinerlei Effekt der Schichtzugehörigkeit offenbart. Vielmehr hängt diese Einschätzung zum einen vom Lebensalter der Personen ab: Je älter die Menschen werden, desto weniger wichtig wird ihnen das Merkmal ‚Verständnis’ auf Seiten ihrer potenziellen Freunde. Ein deutlicher Graben tut sich
74 75
Anhand einer exploratorischen Faktorenanalyse wurde zudem deutlich, dass die vier Items für die statistische Analyse nicht weiter zusammengefasst werden können. Während das hier verwendete Verfahren der Ordered Probit Regression unterstellt, dass die abhängige Variable normalverteilt ist, ist das gängigere Verfahren der Ordered Logit Regression eher für Fälle geeignet, in denen die einzelnen Zellen der abhängigen ordinalen Variable etwa gleich häufig besetzt sind. Vgl. http://faculty.chass.ncsu.edu/garson/PA765/ordinalreg.htm (Zugriff 24.03.09).
180
7 Empirische Analysen
zudem zwischen den Geschlechtern auf: Frauen legen gegenüber Männern signifikant mehr Wert auf Freundschaftsbeziehungen, in denen ihr Gegenüber Verständnis für sie einbringt. Dieser Befund stützt einerseits die These, dass Männerfreundschaften stärker auf die gemeinsam geteilte Zeit fokussiert sind (vgl. Hollstein 2001: 148). Andererseits kann dieser Befund aber auch ein Signal dafür sein, dass Männer möglicherweise eher bereit sind, Freundschaften zu führen, die weniger harmonisch und stärker durch Kontroversen geprägt sind. Vor dem Hintergrund meiner Fragestellung interessante Ergebnisse liefert das vierte Modell, in welchem eine statistische Schätzung des Aspekts ‚Hilfe’ (Itemformulierung: „Dass jemand mir hilft, die Dinge anzupacken.“) erfolgt. Während der sozioökonomische Status der Personen keinerlei signifikante Effekte zeitigt, besteht ein negativer Zusammenhang zwischen Bildung und dem Wunsch nach konkret-pragmatischer Unterstützung. Zu ähnlichen Ergebnisse kommt auch Willmott (1987: 86), der feststellt, dass Arbeiter eher als Mittelschichtangehörige dazu neigen, solche Personen als ‚Freunde’ zu bezeichnen, von denen im Bedarfsfall konkret-pragmatische Hilfe zu erwarten ist. Nicht zuletzt unterscheiden sich die sozialen Schichten noch in der Einschätzung des Freundschaftskriteriums ‚Unterhaltsamkeit’. Während vom sozioökonomischen Status ein signifikanter, linearer und positiver Einfluss ausgeht, sind es wiederum nur die Fachhochschul- und Universitätsabsolventen, die sich signifikant von den niedrig Gebildeten unterscheiden. Der beobachtete Effekt ist dabei negativ: die Wahrscheinlichkeit, dass Personen ‚Unterhaltsamkeit’ als wichtiges Merkmal enger Freundschaften angeben, nimmt ab, wenn ein Fachhochschul- oder Universitätsabschluss vorhanden ist (Referenzgruppe: niedrig Gebildete). Überdies beeinflusst das Lebensalter das Urteil der Befragten: Je älter die Menschen werden, desto weniger wichtig wird ihnen ‚Unterhaltsamkeit’ als Kriterium enger Freundschaften.
7.7 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen
181
Tabelle 29: Determinanten der Charaktereigenschaften, die sich Ego von engen Freundinnen und Freunden wünscht (Multinomiale Ordered Probit Modelle) Intelligenz Verständnis Exp(b) Bildungsniveau: hoch mittel niedrig sozioökonomischer Status Alter Frau (Ref.: Mann) Region: Ost (Ref.: West) Migrationshintergrund (Ref.: nein) Umzugsmobilität (Ref.: nein) Partnerschaft (Ref.: nein) Kinder vorhanden (Ref.: nein) >500.000 Einwohner (Ref.: nein) Pseudo R² (Nagelkerke)
1,33 1,13 Ref. 1,01 1,00 1,02 1,09
*
0,79
*
1,09 0,92 1,01 1,10 0,05
**
Exp(b)
Exp(b)
0,92 0,96 Ref. 1,00 0,99 1,48 0,91
0,73 1,01 Ref. 1,00 1,00 0,95 1,12
*** ***
Unterhaltsamkeit Exp(b)
Hilfe
*
0,77 0,89 Ref. 0,99 1,00 1,02 0,97
0,95
1,07
0,88
1,00 0,97 1,09 0,97 0,06
0,96 0,94 0,98 0,92 0,02
0,96 1,02 0,92 0,95 0,05
*
** *
Sig *** p< 0,001, ** p< 0,01, * p< 0,05 Quelle: ALLBUS 2002 (ISSP-Modul), Deutsche Staatsangehörige ab 18 Jahren, n= 1076 (eigene Berechnungen).
Einschränkend im Hinblick auf die Tragweite der Ergebnisse muss gesagt werden, dass sich die herangezogenen Variablen nur bedingt zur statistischen Vorhersage der geschätzten Einstellungsmerkmale eignen. Der Anteil der Varianz, welcher durch die Modelle aufgeklärt werden kann, liegt lediglich in einem Bereich zwischen 2 Prozent (Item ‚Hilfe’) und 6 Prozent (Item ‚Verständnis’). Ohne weitere Berücksichtigung individueller Dispositionen erscheint der Effekt der Schichtzugehörigkeit auf die Bewertung gewünschter Charaktermerkmale von engen Freunden also nur als schwach. Es war jedoch auch nicht mein Ziel, die ausgewählten charakterlichen Attribute vollständig zu erklären. Vielmehr sollten die Modelle zeigen, ob sich die Schichtzugehörigkeit überhaupt auf den Wunsch nach spezifischen Attributen bei Freunden auswirkt. Dieser Aufgabe
182
7 Empirische Analysen
wurden die berechneten Modelle gerecht. Insgesamt konnten dabei kaum einheitliche Schichteinflüsse registriert werden. Lediglich das Kriterium ‚Unterhaltsamkeit’ wird gleichermaßen negativ vom sozioökonomischen Status wie vom Bildungsniveau beeinflusst. In der Zusammenschau stellt sich Freundschaft aus empirischer Sicht also als Beziehungsform dar, in der die Beteiligten quer durch alle Bevölkerungsschichten Verständnis von ihrem Gegenüber erwarten. Demgegenüber steht der Befund, dass die niedrigeren Bildungsgruppen dazu tendieren, freundschaftliche Beziehungen zu instrumentalisieren. 7.7.3 Aktive Bevorzugung verwandtschaftlicher Beziehungen? Im Folgenden untersuche ich, ob die unteren sozialen Schichten nicht nur objektiv stärker auf verwandtschaftliche Beziehungen konzentriert sind, sondern vielmehr, ob diese schichtspezifische Selektion von Bezugspersonen möglicherweise auch bewusst vorgenommen wird. Hierzu greife ich zunächst auf die Daten der niederländischen Studie (NKPS 2005) zurück. Konkret wurden die Probanden gebeten, Stellung zu insgesamt fünf Aussagen zu beziehen. Inhaltlich stellten die Items die Befragten vor die imaginäre Entscheidung, in bestimmten Situationen entweder Verwandten oder Freunden den Vorzug zu geben. Die diesbezüglichen Frageformulierungen lauteten: 1. 2. 3. 4. 5.
When I’m troubled, it’s easier to discuss my worries with family than with friends. I place greater confidence in my family than in my friends. Should I need help, I would sooner turn to my friends than to my family. I can count on my friends more than on my family. I prefer having friends over to having family visit.
Die entsprechenden Antwortmöglichkeiten waren: strongly agree, agree, neither agree nor disagree, disagree, strongly disagree. Für meine Analyse habe ich eine additive Skala aus den fünf Items gebildet, welche recht zuverlässig (Cronbachs =,796) eine mögliche Bevorzugung freundschaftlicher zu Ungunsten von familiären Beziehungen abbildet. Die Skala wurde so berechnet, dass hohe Werte eine Bevorzugung freundschaftlicher Beziehungen gegenüber verwandtschaftlichen Bindungen indizieren. Auf der Ebene der Mittelwertunterschiede zeigt sich allenfalls ein leichter Unterschied zwischen den verschiedenen Bildungsgruppen: Niedrig Gebildete punkten im Schnitt mit 13,6 auf der Skala (Minimum= 5, Maximum= 25), während die mittlere Bildungsgruppe einen Mittelwert von 14,0 aufweist. Befragte mit abgeschlossener Fachhochschulausbildung oder einem fertigen Universitäts-
7.7 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen
183
studium zeigen gegenüber den beiden anderen Bildungsgruppen mit 14,4 den höchsten Mittelwert auf. Ingesamt betrachtet muss jedoch eine deutliche Balance in Bezug auf die betreffenden Items attestiert werden. So pendeln die Mittelwerte aller drei Bildungsschichten etwa um die Hälfte des maximal erreichbaren Punktwerts, ein Antwortverhalten welches darauf hinweist, dass die Befragten weder Verwandten noch Freunden den Vorzug geben. Mithin scheint den Befragten an einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen Nicht-Verwandten und Familienangehörigen in persönlichen Netzwerken gelegen zu sein. Tabelle 30: Bevorzugung freundschaftlicher gegenüber verwandtschaftlichen Bindungen? (OLS-Regression) I
II
III
beta
beta
beta
Bildungsniveau hoch
0,11
***
0,07
***
mittel
0,08
***
0,05
**
niedrig
Ref.
sozioökonomischer Status
Ref. 0,05
***
0,00
Räumliche Mobilität (Ref.: nein)
0,06
Frau (Ref.: Mann)
0,01
***
Alter
-0,07
***
wohnt mit PartnerIn (Ref.: nein)
-0,07
***
Kinder vorhanden (Ref.: nein)
-0,02
Migrationshintergrund (Ref.: nein)
-0,04
***
0,06
***
Bevölkerungsdichte Wohnort R² (korr.)
0,01
0,00
0,03
Quelle: NKPS 2005, n= 6125 (gewichtet), Signifikanzniveaus: *** p< 0,001; **p< 0,01; * p< 0,05
Um einen genaueren Überblick über den Einfluss der Schichtzugehörigkeit auf die Bevorzugung von Freunden gegenüber Familienmitgliedern zu gewinnen, habe ich eine OLS-Regression der ‚Bevorzugungs’-Skala auf das nunmehr bekannte Set von Kovariaten durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass es einen signifikanten Einfluss des Bildungsniveaus auf den Grad der Bevorzugung
184
7 Empirische Analysen
freundschaftlicher Beziehungsmuster gibt. Gleichwohl ist der Bildungseffekt nicht linear, da sich nur die Gruppe der hoch Gebildeten von der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten unterscheidet. Weiterhin ist ein indirekter Bildungseffekt zu vermuten, denn auch der Faktor der residentiellen Mobilität (Umzug seit dem 15. Lebensjahr) zeitigt einen positiven Einfluss auf die Skala. Abermals muss die Frage nach einer etwaigen allgemeinen Schichtspezifik verneint werden, denn der sozioökonomische Status der Befragten zeigt keinerlei Auswirkungen auf die Bevorzugungs-Skala. Das Lebensalter wirkt sich hingegen negativ auf die Bereitschaft aus, in Unterstützungssituationen auf Freunde zurückgreifen. Dieses Ergebnis spiegelt möglicherweise wider, dass mit zunehmendem Alter der (getreu dem Homophilieprinzip zumeist gleichaltrige) Freundeskreis Egos durch Todesfälle und schwere Krankheiten weniger unterstützend wirken kann. 7.7.4 Soziale Ungleichheit, persönliche Netzwerke und soziale Isolation Die bisher diskutierten Ergebnisse verdeutlichen, dass die Mitglieder unterer sozialer Schichten bei der Komposition ihrer persönlichen Netzwerke stark auf verwandtschaftliche Beziehungen setzen. Dieses Muster findet sich nicht nur in den empirisch beobachtbaren Netzwerkstrukturen wieder, sondern scheint angesichts der vorgefundenen schichtspezifischen Einstellungsmuster auch das Produkt bewusster Gesellungsstile zu sein. Als eine mögliche Ursache hierfür habe ich auf das Prinzip der aufgeschobenen Reziprozität verwiesen. Aufgrund ihrer Nachteile hinsichtlich des Zugriffs auf zentrale Handlungsressourcen, so meine Annahme, neigen Angehörige der unteren sozialen Schichten stärker zu persönlichen Beziehungen, die von gewissen instrumentalistischen Motiven geprägt sind. Angesichts der den unteren sozialen Schichten eigenen Neigung zur Monopolisierung verwandtschaftlicher Beziehungen als Quelle sozialer Unterstützung ist jedoch davon auszugehen, dass diese gesellschaftlichen Gruppen auch stärker der Gefahr sozialer Isolation ausgesetzt sind: Ganz gleich, ob es sich um Schicksalsschläge wie Verwitwung oder Verwaisung handelt, oder ob es Entscheidungen sind, die den Abbruch vermeintlich stabiler Beziehungen hervorrufen (wie zum Beispiel Scheidungen) – die einseitige Pflege von Beziehungen zu Bluts- und Affinalverwandten bringt das Risiko mit sich, dass im Falle eines Wegbruchs dieser Bindungen die Chancen schlechter stehen, Zuneigung, Unterstützung und Hilfe aus alternativer Quelle beziehen zu können. Freunde, die in Zeiten persönlicher Krisen von großer Bedeutung sein könnten, fehlen in den Kreisen der niedrig Gebildeten und gering Qualifizierten, wie bereits dargelegt, statistisch gesehen häufiger. Um empirische Evidenz für die Annahme zu finden, dass die unteren Bildungs- und Statusgruppen stärker von sozialer Desin-
7.7 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen
185
tegration betroffen sind, habe ich eine Untersuchung von Einstellungen unternommen, welche in Bezug zum sozialen Phänomen der Einsamkeit stehen. Im Rahmen der NKPS 2005 wurde den Probanden eine Batterie von 11 Items vorgelegt, von denen angenommen werden kann, dass sie mit den Phänomenen ‚soziale Isolation’ und ‚Einsamkeit’ in Zusammenhang stehen. A. B. C. D. E. F. G. H. I. J. K.
There is always someone I can talk to about my day-to-day problems. I miss having a really close friend. I experience a general sense of emptiness. There are plenty of people I can lean on when I have problems. I miss the pleasure of the company of others. I find my circle of friends and acquaintances too limited. There are many people I can trust completely. There are enough people I feel close to. I miss having people around. I often feel rejected. I can call on my friends whenever I need them.
Die entsprechenden Antwortkategorien waren: (1) yes; (2) more or less und (3) no. Zunächst wurden die den Items zugeordneten Variablen so umkodiert, dass der höchste Wert (3) in Richtung des Konstrukts ‚Einsamkeit’ weist. Sodann habe ich für die Variablenauswahl eine exploratorische Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse, KMO-Kriterium= ,90) durchgeführt. Mit Blick auf diese Variablenauswahl lässt sich das Fazit ziehen, dass das 11er-Set recht gut das latente Konstrukt ‚Einsamkeit’ abzubilden scheint. Zwar laden die Items insgesamt auf zwei Faktoren (Kriterium: Eigenwert > 1), doch klärt der zweite Faktor lediglich 13 Prozent der Varianz auf (gegenüber einem Wert von 44 Prozent auf dem ersten Faktor). Bildet man auf Grundlage dieser Items nun eine einzige additive ‚Einsamkeitsskala’, so zeigt der Alpha-Wert (Cronbach) von 0,87, dass es sich um ein zuverlässiges Instrument zur Messung der gewünschten Einstellungsdimension zu handeln scheint. Das Minimum der Skala liegt entsprechend den jeweils vorhandenen drei Ausprägungen bei 11 (Maximum= 33). Im Mittel punkten die Befragten mit dem Wert 14,7 auf der Einsamkeitsskala (SD= 4,3). Weder erweisen sich die befragten Personen im Durchschnitt also als besonders einsam noch lässt sich behaupten, dass es sich bei dem Phänomen der Einsamkeit nur um ein Problem gesellschaftlicher Minderheiten handeln würde. Zur Abschätzung des Schichteinflusses auf das Einsamkeitsempfinden wurde wiederum das Verfahren der multivariaten linearen Regression angewendet. In einem ersten Modell wurde der Einfluss der Schichtungs- sowie der an-
186
7 Empirische Analysen
deren soziodemographischen Variablen getestet. Da zu vermuten steht, dass Einsamkeit in hohem Maße mit individuellen Dispositionen (z.B. Offenheit gegenüber Neuem) korreliert, kommt in Modell II zusätzlich eine Skala zur Messung der Expressivität der Probanden zum Einsatz. Das dritte Modell berücksichtigt alle Kovariaten der ersten beiden Modelle und kontrolliert zudem die Größe des Freundes-, Bekanntschafts- und Nachbarschaftskreises. Wie Tabelle 31 zeigt, besteht ein signifikanter Unterschied zwischen dem Einsamkeitsempfinden unterschiedlicher sozialer Schichten. Niedrig Gebildete verspüren mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Einsamkeitsempfindungen als Personen mit höherer Bildung. Dieses Ergebnis ist bereits aus Studien zur Erforschung des Phänomens ‚Einsamkeit’ bekannt (vgl. Bohn 2006). Vermutet wird zum Beispiel, dass das Scheitern am Arbeitsmarkt und die damit verbundene Arbeitslosigkeit den Weg in die Einsamkeit stark begünstigen. Demnach lege die moderne Arbeitsmarktideologie den Betroffenen nahe, dass sie selbst Schuld an ihrem vergeblichen Bemühen seien. Bildung gilt aus dieser Perspektive immer noch als ein sehr wirksamer Schutz gegen Arbeitslosigkeit und somit indirekt auch gegen Einsamkeit. Modell II zeigt, dass die vorgefundenen Bildungseffekte auch dann konstant bleiben, wenn gewisse Persönlichkeitsmerkmale der Probanden kontrolliert wurden (Expressivitätsskala). Zudem ist der Effekt des sozioökonomischen Status in diesem Modell auf schwachem Niveau signifikant (p< 0,05). Die Bedeutung des Vorhandenseins und der Zahl von persönlichen Beziehungen wird in Modell III deutlich, in dem zusätzlich noch die Größe des nichtfamilialen Netzwerks kontrolliert wird. Zu beobachten ist zunächst, dass auch in diesem Modell der Bildungseffekt konstant bleibt. Dahingegen erscheint der Effekt des beruflichen Status in diesem Modell wieder als nicht signifikant. Von der Netzwerkgröße geht ein signifikant negativer Einfluss auf den Grad der empfundenen Einsamkeit aus. Der Vergleich der standardisierten Regressionsgewichte zeigt, dass der Netzwerkgröße ein relativ starker Einfluss zukommt. So wiegen einzig persönliche Merkmale (Expressivität) und das Vorhandensein eines (Ehe)Partners schwerer als der Faktor der Netzwerkgröße.
7.7 Ungleichheit und Einstellungen zu persönlichen Beziehungen
187
Tabelle 31: Schichtzugehörigkeit und Einsamkeit (OLS-Regression) I
II
III
beta
beta
beta
Bildungsgrad hoch
-0,09
***
-0,11
***
-0,09
***
mittel
-0,05
**
-0,06
***
-0,05
**
niedrig
Ref.
Ref.
sozioökonomischer Status
-0,03
Umzugsmobilität (in km)
0,07
***
0,07
***
0,07
***
-0,04
**
-0,04
**
-0,03
**
0,08
***
0,05
***
0,06
***
-0,19
***
-0,19
***
-0,19
***
Frau (Ref.: Mann) Alter (metr.) wohnt gemeinsam mit PartnerIn (Ref.: nein) Kinder vorhanden (Ref.: nein)
0,04
-0,03
Ref. *
*
0,04
Migrationshintergrund (Ref.: nein)
-0,01
0,00
Bevölkerungsdichte Wohnort
-0,01
0,00
Skala 'Expressivität'
-0,21
Größe des nichtfamilialen Netzwerks R² (korr.)
0,05
0,09
*
-0,03
0,03
*
0,00 0,01 ***
-0,20
***
-0,15
***
0,11
Anmerkungen: Die abhängige Variable ist die aus 11 Items bestehende additive Einsamkeitsskala. Dargestellt sind die standardisierten Regressionskoeffizienten. Signifikanzniveaus: *** p< 0,001; **p< 0,01; * p< 0,05 Quelle: NKPS 2005, niederländische Befragte ab 18 Jahren, n= 6081
Darüber hinaus bestätigt das Modell die aus der Einsamkeitsforschung bereits bekannten Zusammenhänge (vgl. Bohn 2006). Mit zunehmendem Alter wächst die subjektiv empfundene Einsamkeit. Frauen sind gegenüber Männern signifikant geringer von diesem Problem betroffen. Den wirksamsten Schutzschild vor Einsamkeit scheint jedoch nach wie vor das Vorhandensein einer festen Partnerschaft zu bilden. Überraschend hingegen ist der Befund, dass umzugsmobile Personen signifikant häufiger einsam sind. Denn schließlich handelt es sich
188
7 Empirische Analysen
hierbei um eine vergleichsweise hoch gebildete Gruppe von Menschen, welche ja wiederum zum Kreis von Personen zählen, die meinen Ergebnissen zufolge über größere und multiplexere Netzwerke verfügen dürften. Eine offene Frage ist in diesem Zusammenhang, welche Rolle die Verweildauer am neuen Lebensmittelpunkt im Hinblick auf die subjektiv empfundene Einsamkeit spielt. Es mag sein, dass der – zugegebenermaßen ja auch recht schwache – Mobilitätseffekt daher rührt, dass die Befragten möglicherweise noch keine Kontakte an ihrem neuen Wohnort geknüpft haben, weil sie noch nicht lang genug dort gelebt haben und sich deshalb etwas einsamer fühlen als zuvor. Die verwendeten OLS-Modelle können zwischen 5 und 11 Prozent der Varianz in Bezug auf das Syndrom ‚Einsamkeit’ erklären. Die vergleichsweisen geringen R²-Werte sind wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass sich Einsamkeitsempfindungen weniger auf eine bestimmte Ursache zurückführen lassen, als vielmehr das Resultat einer Reihe von sozialen Prozessen und individuellen Dispositionen. Zusammenfassung Auf der Einstellungsebene lassen sich insgesamt sehr klare Tendenzen für die Unterstützung der Annahme finden, dass sich die Angehörigen der unteren sozialen Schichten bewusst stärker auf ihre verwandtschaftlichen Beziehungen berufen und sich stärker in familiale Zusammenhänge eingebunden fühlen. Damit können die entsprechenden Hypothesen H6.1 und H6.2 vorläufig als bestätigt gelten. Gleichzeitig scheinen die niedrig Gebildeten jedoch auch am stärksten mit den Erwartungen und Forderungen seitens ihrer Familien zu hadern, wie die Analyse des innerfamilialen Konfliktniveaus zeigt. Dieses Ergebnis lässt vermuten, dass die Solidarität innerhalb der Familien der unteren sozialen Schichten teilweise auch normativen Zwängen zu folgen scheint. Des Weiteren zeigen sich die niedrig Gebildeten stärker auf instrumentalistische Sozialbeziehungen konzentriert, ein Ergebnis, welches ebenfalls die These unterstützt, dass Gesellungsformen und die damit verbundene Vorliebe für die Fixierung auf freundschaftliche oder verwandtschaftliche Beziehungen tatsächlich lebenslagenspezifischen Bedürfnissen zu entspringen scheinen. Ein weiteres Ergebnis ist, dass die Familie über alle sozialen Schichten hinweg einen wesentlichen emotionalen Rückzugsort darstellt. So zeigt eine diesbezügliche Analyse keinerlei Unterschiede zwischen den Bewertungen der unterschiedlichen Bildungs- und Statusgruppen auf. Quer über alle untersuchten Einstellungsmuster zeigt sich der Einfluss der Variablen zur Messung der Schichtzugehörigkeit als eher gering. So liegen die Anteile der durch die Faktoren ‚Bildung’ und ‚sozioökonomischer Status’ erklärten Varianz stets in einem Bereich zwischen 0 und 6 Prozent.
7.8 Zur Schichtspezifik der Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen 189 7.8 Zur Schichtspezifik der Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen Nachdem zuvor schichtspezifische Einstellungsmustern zum Themenkomplex ‚persönliche Netzwerke’ diskutiert wurden, wird in diesem Kapitel der Untersuchungsfokus auf einer Überprüfung der Hypothesen bezüglich der Schichtspezifik der Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen liegen. Während ich zuvor die subjektive Neigung zu Beziehungen unter dem Stern der aufgeschobenen bzw. generalisierten Reziprozität als Erklärung für die Ursache der Monopolisierung von verwandtschaftlichen Beziehungen vorgestellt habe, gilt das Augenmerk im Folgenden der Frage, welche weiteren Ursachen für nach Schichtzugehörigkeit differenzierte Netzwerkparameter anhand von empirischen Daten identifiziert werden können. In der theoretischen Diskussion wurden in diesem Zusammenhang vor allem auf zwei, an sehr unterschiedlichen theoretischen Punkten ansetzenden, Erklärungsansätze verwiesen. So kann im Sinne der Affekttheorie des sozialen Austauschs argumentiert werden, dass Chancen zur Entstehung persönlicher Beziehungen vor allem dort entstehen, wo Individuen an produktiven Austauschbeziehungen teilhaben. In diesem Kapitel wird daher ein Schwerpunkt auf einer empirischen Identifizierung von entsprechenden Gelegenheitsstrukturen liegen (längere Verweildauer im Bildungssystem, Mitgliedschaft in Clubs, Vereinen etc.). Darüber hinaus untersuche ich, inwiefern das Prinzip der Transitivität in seiner Wirksamkeit von Faktoren wie Bildung, Status und Mobilität abhängt. Zum Abschluss der empirischen Abhandlung unternehme ich einen Test der These bezüglich der schichtspezifischen Neigung zur Gesellung im Rahmen offener bzw. geschlossener Foci. Zunächst rücke ich jedoch die Schichtspezifik der Entstehungskontexte von persönlichen Beziehungen in den Vordergrund der empirischen Betrachtung. 7.8.1 Soziale Ungleichheit und Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen Im Rahmen der NKPS wurden die Befragten gebeten, anzugeben, auf welche Art und Weise sie die maximal 5 nicht-verwandten Netzwerkmitglieder kennen gelernt haben (Itemformulierungen siehe Kapitel 5.4). Um zu überprüfen, ob es spezifische soziale Kontexte bzw. Gesellungsformen gibt, die für spezifische soziale Schichten von besonderer Bedeutung sind, ist es zunächst sinnvoll, den Anteil von Beziehungen zu berechnen, die in einem gegeben Kontext geschlossen worden sind und im Anschluss einen Mittelwertvergleich zwischen den unterschiedlichen Bildungsgruppen durchzuführen. Diese Vorgaben habe ich für jeden der 11 benennbaren Entstehungskontexte umgesetzt.
190
7 Empirische Analysen
Tabelle 32: Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen (Mittelwerte des Netzwerkanteils, Varianzanalyse, nach Bildung) Focus bzw. Gesellungsform
Arbeit
Nachbarschaft
Kirche
Bildungsgrad niedrig
Schule/ Kurs/ Freiwilligen arbeit
Sportvereine
andere Vereine, Verbände
0,15
0,11
0,28
0,03
0,06
0,07
mittel
0,17
0,19
0,19
0,03
0,07
0,06
hoch
0,18
0,24
0,17
0,03
0,07
0,06
insgesamt
0,16
0,18
0,22
0,03
0,07
0,06
p
***
***
***
Focus bzw. Gesellungsform Party, Ausgehen
durch den Partner
durch Familienmitglieder
durch Freunde
sonstiges
niedrig
0,04
0,07
0,06
0,07
0,06
mittel
0,04
0,08
0,05
0,08
0,05
hoch
0,02
0,07
0,03
0,08
0,05
insgesamt
0,03
0,07
0,05
0,08
0,05
p
***
Bildungsgrad
***
*
Anmerkungen: Dargestellt ist jeweils der bildungsspezifische Anteil an allen Netzwerkbeziehungen, der im Gruppendurchschnitt im jeweiligen Kontext geschlossen wurde. Lesebeispiel: Der Anteil nicht-verwandtschaftlicher Netzwerkbeziehungen, die im Kontext Ausbildung/Freiwilligenarbeit geknüpft worden sind, liegt auf Seiten der hoch Gebildeten im Durchschnitt bei 0,24 (=24 Prozent). Sig. (ANOVA): ***p< ,001; ** p< ,01; * p< 0,05 Quelle: NKPS 2005, niederländische Staatsbürger, nur Befragte mit mindestens einem Netzwerkmitglied. n= 7053 (gewichtet). Eigene Berechnungen
7.8 Zur Schichtspezifik der Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen 191 Betrachtet man nun die bildungsspezifischen Anteile der einzelnen Foci bzw. Gesellungsformen (Tabelle 32), so fällt auf, dass sich die überwiegende Mehrheit der Alteri aus den drei Quellen Arbeitsplatz, Ausbildung/Freiwilligenarbeit und Nachbarschaft speist. Die deskriptiven Befunde bestätigen die These von Hirschle (2007), wonach der Arbeitsplatz zwar eine wichtige Quelle für die Entstehung persönlicher Beziehungen sei, schichtübergreifend aber keine großen Unterschiede im Hinblick auf die Wirksamkeit dieser Focusstruktur zu erwarten ist. Nichtsdestotrotz sind die gefundenen Mittelwertunterschiede in Bezug auf den Focus ‚Arbeit’ signifikant. Die Diskrepanz könnte darin begründet liegen, dass die Arbeitsplätze der höher Gebildeten über günstigere Gelegenheitsstrukturen für produktive Austauschbeziehungen liegen. Diese Annahme kann durch die vorliegenden Daten jedoch nicht bestätigt werden. Die deutlichsten Schichtunterschiede zeigen sich jedoch im Hinblick auf den Anteil von Beziehungen aus, welcher innerhalb von (Aus)Bildungsinstitutionen (Schule, Kurse, Seminare etc.) geschlossen wird. Durchschnittlich 24 Prozent der Netzwerkmitglieder der hoch Gebildeten sind durch gemeinsame Besuche von Veranstaltungen im Rahmen der Ausbildung oder der Teilhabe an Freiwilligenarbeit miteinander bekannt. Bei niedrig Gebildeten liegt dieser Anteil im Mittel bei lediglich 11 Prozent. Dieser Befund unterstützt meine Annahme, dass es sich bei Bildungsinstitutionen wie Universitäten, Schulen und Akademien um hervorragende Gelegenheitsmärkte für produktive Austauschbeziehungen handelt, die ihrerseits einen besonders günstigen Einfluss auf die Entstehung persönlicher Beziehungen ausüben. Der vorgefundene – direkte – Bildungseffekt dürfte insbesondere von der relativ langen Zeitspanne rühren, die die hoch Gebildeten im Durchschnitt im Bildungssystem verbringen. Konträr zu dieser positiven Bildungsabhängigkeit liest sich der Befund in Bezug auf die Bildungsabhängigkeit des Focus Nachbarschaft. Hier sind es vermehrt die niedriger Gebildeten, die einen Großteil ihrer nichtverwandtschaftlichen Beziehungen aus dem räumlichen nahen Umfeld der Nachbarschaft rekrutieren. Während der Anteil nachbarschaftlicher Kontakte in den Teilnetzwerken der niedrig Gebildeten im Durchschnitt bei 28 Prozent liegt, liegt dieser Wert bei den hoch Gebildeten mit 17 Prozent fast um die Hälfte niedriger. Dieser Befund unterstützt Allans These, dass der Kontext ‚Nachbarschaft’ insbesondere für die unteren sozialen Schichten von zentraler Bedeutung ist. Dagegen sprechen die Befunde in Bezug auf die transitiven Gesellungsforumen (Kennenlernen durch den Partner, durch die Familie, durch Freunde) gegen die These, dass das Prinzip der Transitivität in den Reihen der niedriger Gebildeten ein stärkeres Gewicht hat als auf Seiten der höher Gebildeten. Mit Ausnahme der Entstehungsform ‚durch die Familie’ finden sich keinerlei signi-
192
7 Empirische Analysen
fikante Mittelwertunterschiede zwischen den Bildungsgruppen. Sowieso wird deutlich, dass der Anteil der kraft des Transitivitätsprinzips geschlossenen Beziehungen gegenüber Entstehungskontexten wie Nachbarschaft, Ausbildung und Arbeit in einer deutlichen Minderheit ist: Über alle drei erhobenen Transitivitätsformen liegt er bei lediglich 20 Prozent. Nur ein Viertel der erhobenen nichtverwandtschaftlichen Beziehungen entstammt mithin dem Prinzip der Fortschreibung sozialer Beziehungen. Dieses Ergebnis lässt sich mit Hilfe einer Studie von Stokman und Vieth (2004) interpretieren. Die Autoren entwickeln in ihrer Studie die These, dass engere Beziehungen (‚starke Freundschaften’ im Sinne Kracauers) im Gegensatz zu loseren Bekanntschaften keine Tendenz zur Transitivität haben. Erinnert man sich in diesem Zusammenhang an die Frageformulierungen der NKPS, so wird deutlich, dass wir es hier jedoch eher mit strong ties als mit weak ties zu tun haben. Es ist also weiterer Forschungsbedarf vonnöten, um auch die schichtspezifischen Strukturen von Netzwerken schwacher Beziehungen im Sinne von Granovetter (1973) empirisch aufdecken zu können. 7.8.2 Die schichtspezifische Wirksamkeit des Transitivitätsprinzips In der theoretischen Diskussion konnte in Anschluss an Hirschle (2007) das Argument entwickelt werden, dass sich für die hoch Gebildeten aufgrund ihrer erhöhten räumlichen und residentiellen Mobilität weniger Gelegenheiten zu transitiven Beziehungen ergeben dürften. Diesen Zusammenhang werde ich Folgenden anhand von Daten der NKPS 2005 beleuchten. Wie bereits in Kapitel 5.4 beschrieben, bietet die NKPS die einzigartige Möglichkeit, den Grad der räumlichen Mobilität der Probanden anhand der räumlichen Distanz zwischen Egos heutigem Wohnort und Egos Wohnort zum Zeitpunkt des 15. Geburtstags zu quantifizieren. Betrachtet man zunächst die diesbezügliche Entfernung in Abhängigkeit von Egos Bildungsniveau (Abbildung 9), so bestätigt sich die Annahme, dass hoch Gebildete räumlich wesentlich mobiler sind als die niedriger Gebildeten. Während der Median der beiden unteren Bildungsgruppen eher gegen Null tendiert, lebt mehr als die Hälfte der Befragten mit Universitätsabschluss 40km oder weiter vom Ort entfernt, an dem sie zum Zeitpunkt des 15. Lebensjahrs gelebt haben. Welche empirische Rolle spielt der Faktor der residentiellen Mobilität nun im Hinblick auf die Wirksamkeit des Transitivitätsprinzips? Im theoretischen Abschnitt der vorliegenden Arbeit wurde ja die These entwickelt, dass Umzüge in eher weit entfernte Regionen das Prinzip der Fortschreibung sozialer Beziehungen wenn nicht unterminieren, so aber doch in seiner Wirksamkeit verringern dürfte. Im Rahmen der NKPS 2005 wurden die Befragten gebeten, bis zu fünf nicht-verwandte Personen anzugeben, mit denen sie regelmäßig in
7.8 Zur Schichtspezifik der Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen 193 Kontakt stehen und die ihnen wichtig sind. Zu jeder dieser maximal fünf Beziehungen wurde der jeweilige Kontext erhoben, in der diese entstanden ist. Abbildung 10 ist die Rangliste der Herkunftskontexte persönlicher Beziehungen zu Nicht-Verwandten zu entnehmen. Allen soziologischen Unkenrufen zum Trotz nimmt Nachbarschaft als Katalysator für die Entstehung persönlicher Beziehungen erstaunlicherweise den vordersten Platz in der Rangliste von Herkunftskontexten nicht-verwandtschaftlicher Beziehungen ein.
Abbildung 9:
Boxplot über die Distanz zwischen dem Wohnort der Jugend und dem heutigen Wohnort (nach Bildungsniveau)
Quelle: NKPS 2005, niederländische Staatsbürger, n= 7664 (gewichtet)
Rund jede fünfte der in der NKPS berichteten nicht-verwandtschaftlichen Beziehungen ist demnach vor allem dem Faktor der räumlichen Nähe zu verdanken. Ansonsten bestätigen die Befunde die Annahmen der vorhergehenden Diskussion. Noch vor dem Arbeitsplatz rangieren Bildungsinstitutionen an zweiter
194
7 Empirische Analysen
Stelle in der Rangliste von Herkunftskontexten persönlicher Beziehungen. Auch unterstützen die Befunde Hirschles (2007) These, dass sich vergleichsweise wenige Beziehungen allein durch die Tatsache ergeben, dass Ego gemeinsam mit Fremden in Diskotheken oder auf Parties verweilt. Dyaden- und Gruppenbildungsprozesse in derlei Kontexten scheinen vielmehr vom dominanteren Transitivitätsprinzip getragen zu sein.76
Abbildung 10: Herkunftskontexte nicht-verwandtschaftlicher Beziehungen Prozent 0
5
10
15
20
25
Nachbarschaft
Entstehungskontext
Schule/ Kurs/ ehrenamtliches Engagement Arbeit durch Freunde oder Bekannte durch den Sportverein durch eine andere Art von Verein durch die/ den PartnerIn sonstige durch die Familie durch Ausgehen/Parties durch die Kirche Anmerkungen: Dargestellt sind die prozentualen Anteile der Beziehungen, die im jeweiligen Entstehungskontext geschlossen wurden. Quelle: NKPS 2005, niederländische Befragte ab 18 Jahren, eigene Berechnungen
Um den Zusammenhang zwischen residentieller Mobilität und dem Transitivitätsprinzip zu beleuchten, habe ich zunächst eine bivariate Analyse der Faktoren ‚Netzwerkanteil der kraft Transitivität geknüpften Beziehungen’ und ‚residen-
76
Ein zentraler Unterschied zur theoretischen Konzeption Hirschles besteht jedoch in meiner Konzentration auf nicht-verwandtschaftliche Beziehungen allgemein. Hirschle rückt dagegen die Gelegenheitsstrukturen von Partnerschaftsbeziehungen in den Vordergrund. In diesem Zusammenhang steht zu vermuten, dass Orte wie Diskotheken für die Entstehungschancen von Liebesbeziehungen deutlich wichtiger sind als für die Entstehung rein platonischer (Freundschafts-)Beziehungen.
7.8 Zur Schichtspezifik der Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen 195 tielle Mobilität seit dem 15. Lebensjahr’ (operationalisiert anhand der Reichweite zwischen Egos jetzigem Wohnort und dem zum Zeitpunkt des 15. Geburtstags) vorgenommen. Das Ergebnis bestätigt die Hypothese, wonach residentielle Mobilität in negativem Zusammenhang mit der Wirkung des Transitivitätsprinzips steht. Gleichwohl ist der statistisch angezeigte Zusammenhang als sehr schwach (r=-0,032, p< 0,01) zu bezeichnen. Tabelle 33: Determinanten des Transitivitätsprinzips (OLS-Regression) I
II
beta
beta
Bildungsniveau *
hoch
-0,04
mittel
0,07
0,00
niedrig
Ref.
Ref.
sozioökonomischer Status
-0,05
**
-0,01
Umzugsmobilität > 100 km
-0,03
*
-0,03
*
21 bis 99 km
-0,03
*
-0,03
*
bis 20 km Geschlecht: Frau (Ref.: Mann) Alter wohnt mit PartnerIn (Ref.: nein)
Ref. 0,06 -0,03 0,10
Ref. *** * ***
0,06 -0,03 0,10
*** * ***
-0,04
*
-0,03
*
Migrationshintergrund (Ref.: nein)
0,03
*
0,03
**
Bevölkerungsdichte Wohnort
0,05
***
0,05
***
0,06
***
Kinder vorhanden (Ref.: nein)
Größe des nicht-familialen Netzwerks R² (korr.)
0,02
0,02
Anmerkungen: Die abhängige Variable ist der Netzwerkanteil der kraft des Transitivitätsprinzips geschlossenen Beziehungen (Æ Alter durch Partner kennen gelernt, durch Freunde kennen gelernt, durch Familie kennen gelernt). Der Wertebereich liegt zwischen 0 (keine Beziehung kraft Transitivität geschlossen bzw. keine Alteri vorhanden) und 1 (alle Beziehungen kraft Transitivität geschlossen). Dargestellt sind die standardisierten Regressionskoeffizienten. Sig.: *** p< 0,001; ** p< 0,01; * p< 0,05 Quelle: NKPS 2005, nur niederländische Staatsbürger, n= 6893 (gewichtet, eigene Berechnungen)
196
7 Empirische Analysen
Sodann habe ich ein Regressionsmodell geschätzt, in dem der Anteil der transitiven Beziehungen an der Gesamtzahl von Beziehungen zu nicht-verwandten Personen geschätzt wurde. Aus theoretischer Perspektive ist dabei insbesondere der Einfluss des oben diskutierten Indikators für residentielle Mobilität von Bedeutung. Neben dem Mobilitätsindikator kam auch das Set von Variablen zur Messung der Schichtzugehörigkeit zum Einsatz. Die Ergebnisse (Tabelle 33) unterstützen Hypothese H7: Mit wachsender räumlicher Entfernung vom Ort, an dem die Befragten in ihrer Jugend lebten, schrumpft der Anteil von Beziehungen zu Personen, die vermittels Dritter kennen gelernt wurden. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass sowohl der Faktor ‚Mobilität’ als auch der Faktor ‚Bildung’ nur eine untergeordnete Rolle im Hinblick darauf spielen, ob es zur Fortschreibung interpersonaler Beziehungen kommt. Darauf deutet zum einen die relativ geringe Effektstärke der beiden Kovariaten hin. Zum anderen liegt die Irrtumswahrscheinlichkeit in Bezug auf die beiden erklärenden Größen vergleichsweise hoch (p< 0,05). Insgesamt erklären die beiden Modelle lediglich 2 Prozent der Varianz, so dass davon ausgegangen werden kann, dass in Bezug auf die Dimension der Transitivität persönlicher Beziehungen individuelle Dispositionen eine weitaus größere Rolle spielen dürften als die herangezogenen soziodemographischen Merkmale. 7.8.3 Opportunitätsstrukturen produktiver Austauschbeziehungen Aus der in Kapitel 3.7 skizzierten austauschtheoretischer Perspektive dürften persönliche Beziehungen am ehesten in sozialen Kontexten entstehen, in denen die Individuen in flache Hierarchien eingebettet sind und in denen sie gemeinsam mit anderen ein gemeinsames Ziel verfolgen. Mit dem mir zur Verfügung stehenden Datenmaterial ist eine direkte Untersuchung der aus der Affekttheorie des sozialen Austauschs abgeleiteten Hypothese (H8) leider nicht möglich, da keine Angaben bezüglich der im Rahmen von Austauschbeziehungen erlebten Emotionen vorliegen. Jedoch können die Daten der NKPS 2005 zur indirekten Überprüfung der Hypothese dienen, dass die Teilhabe an gemeinsam ausgeübten Aktivitäten die Entstehung von persönlichen Beziehungen fördert. Dazu wurde zunächst eine Identifikation von zentralen Gelegenheitsmärkten produktiver Austauschbeziehungen vorgenommen. Eine zentrale Rolle dürften dabei die Bildungsinstitutionen spielen, wie in Kapitel 3.7 detailliert erörtert wurde. In Kapitel 7.7.1 konnte bereits aufgezeigt werden, dass der Netzwerkanteil der im Focus ‚Bildung/Ausbildung/Freiwilligenanteil’ entstandenen Beziehungen auf Seiten der hoch Gebildeten im Durchschnitt deutlich größer ist als der Anteil in der Gruppe der niedrig Gebildeten. Dieses Ergebnis zeigt ganz deutlich, welche besondere Bedeutung den Bildungsinstitutionen als Entstehungszusammenhang persönlicher Beziehungen zukommt. Bildung lässt sich dieser Lesart zufolge
7.8 Zur Schichtspezifik der Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen 197 nicht nur als Proxymaß für die Schichtzugehörigkeit begreifen. Vielmehr lassen die Ergebnisse darauf schließen, dass die Verweildauer im Bildungssystem einen ureigenen, direkten Effekt auf die Größe persönlicher Netzwerke zeitigt. Neben den großen Ausbildungsinstitutionen (Schulen, Universitäten, Akademien) kommen als ideale soziale Kontexte für produktive Austauschbeziehungen vor allem Vereine, Parteien und Clubs in Frage. Sportvereine, politische Parteien oder Kirchenkreise schaffen nicht nur soziale Räume, in denen man wiederholt denselben Personen begegnet, sondern zugleich bieten sie auch soziale Plattformen für die Schaffung kollektiver Güter. Der Sieg beim Fußball, der Erfolg im Wahlkampf und die gelungene Organisation eines Kirchentages hängen in der Regel davon ab, dass die Beteiligten Hand in Hand miteinander arbeiten. In Anschluss an die in Kapitel 3.7 diskutierte Affekttheorie des sozialen Austauschs (Lawler 2001) sind im Rahmen der freiwilligen Mitgliedschaft in Vereinen und Clubs also günstige Voraussetzungen zur Etablierung engerer sozialer Beziehungen zwischen den Beteiligten gegeben. Die Daten der NKPS 2005 zeigen, dass es einen signifikanten Bildungsunterschied hinsichtlich der Zahl der Mitgliedschaften in Vereinen gibt.77 So verfügen die hoch Gebildeten im Vergleich über die größte Zahl von Mitgliedschaften in Vereinen und Clubs (Mittelwert= 1,5). Der Trend verläuft dabei linear: Die niedrig Gebildeten haben im Durchschnitt 0,8 Mitgliedschaften, während die Mitglieder der mittleren Bildungsgruppe 1,1 angeben. Sodann habe ich mit Hilfe eines logistischen Analysemodells die statistische Wahrscheinlichkeit berechnet, überhaupt Mitglied in einem Verein zu sein (ohne Abbildung). Das Modell bestätigt die Richtung, in welche bereits die deskriptiven Ergebnisse gezeigt haben. Gegenüber der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten haben die hoch Gebildeten ceteris paribus eine dreifach höhere ‚Chance’ (Odds), Mitglied in einem Verein zu sein. Ebenso geht ein positiver Effekt vom sozioökonomischen Status aus.78 Die Schichtzugehörigkeit kann demnach als ein äußerst wichtiger soziodemographischer Prädiktor für die Teil-
77
78
Die Befragten konnten die Mitgliedschaft zu folgenden 7 Arten von Vereinen und Clubs angeben: 1. Sports association; 2. Trade union, employers’ organization or professional association; 3. An association with a societal objective; 4. Political party; 5. Religious or church association; 6. A choir, drama association or music society; 7. A hobby or leisure-time association, youth association. Für die hier vorliegende Analyse habe ich auf die Kategorie ‚library’ verzichtet, da in einer Bücherei in der Regel wenig Anlass zu gemeinsam koordiniertem Handeln besteht und somit eine Bücherei keinen focus of activity im engeren Sinne darstellt. Eigene Berechnung (n= 7367, gewichtet). Nagelkerke R²= 0,10; kontrolliert wurden: Bildung, sozioökonomischer Status, Migrationshintergrund, Geschlecht, Bevölkerungsdichte, in Partnerschaft lebend, Vorhandensein von Kindern, räumliche Mobilität.
198
7 Empirische Analysen
habe im dritten Sektor betrachtet werden. Diese Befunde decken sich mit einer Studie von Simonson (2004), in der mit Blick auf Deutschland gezeigt werden konnte, dass „die Neigung zur Mitgliedschaft in einem Verein in allen Klassen nahezu durchgängig höher ausgeprägt ist als in der Referenzkategorie der einfachen Arbeiter“ (ebd.: 204). Auch Putnam (2000) kommt zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit der Partizipation in zivilgesellschaftlichen Angeboten vom Bildungsgrad abhängt. Um einen Hinweis auf die Gültigkeit der Annahmen von Lawlers Affekttheorie zu bekommen, lässt sich der Zusammenhang zwischen der Einbettung in den Focus ‚Vereinsmitgliedschaften’ und der Netzwerkgröße betrachten. Beeinflusst die Mitgliedschaft in Vereinen die Zahl der angegeben Alteri? Um diese Frage zu beantworten, wurde eine OLS-Regression auf die Zahl der angegebenen nicht-verwandtschaftlichen Netzwerkmitglieder in der NKPS berechnet (Tabelle 34). Die Mitgliedschaft in einem Verein, einer Partei oder ähnlichem ging als Dummy-Variable in die Regressionsgleichung ein. Modell I zeigt, dass die Zugehörigkeit zu Vereinen und/oder Clubs einen positiven Effekt auf die Zahl der Alteri zeitigt (p< 0,001). In Modell II wurden soziodemographische Merkmale als Kontrollvariablen eingefügt. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass sowohl vom Faktor ‚Vereinsmitgliedschaft’ als auch von den beiden Schichtindikatoren ‚Bildung’ und ‚Status’ signifikante positive Effekte auf die Zahl der nicht-verwandten Alteri ausgehen. Um zu überprüfen, inwiefern die Teilnahme in Vereinen, Parteien und Clubs auch mit individuellen Dispositionen zusammenhängt, habe ich in Modell III zusätzlich zu den Kovariaten aus dem zweiten Modell noch eine Skala zur Messung der Expressivität der Befragten verwendet.79 Es kann vermutet werden, dass die Bereitschaft zur Mitgliedschaft in Vereinen auch davon abhängt, ob Individuen eher offen gegenüber Neuem sind oder ob sie eher verschlossen sind. Daher sollte zu erwarten sein, dass von der Expressivitätsskala ein positiver Effekt auf die Zahl der Mitgliedschaften in Vereinen ausgeht. Das Ergebnis: Selbst in dieser Variante bleiben die zuvor diskutierten Effekte seitens der Vereinsmitgliedschaft und der Schichtzugehörigkeit bestehen. Wie erwartet ist ein signifikanter Effekt der Expressivitätsskala zu verzeichnen. Insgesamt bestätigen die Befunde die Annahme, dass Mitgliedschaft in Vereinen (als Proxy für Gelegenheitsstrukturen produktiver Austauschbeziehungen im Sinne Lawlers) einen
79
Die entsprechenden Likert-Items lauteten: „I am good at stirring things up“; „I am a talkative person”; “I think others feel I am a very lively person”; „I can easily make a boring party more lively.” Eine auf diese vier Items angewendete exploratorische Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalye, Varimaxrotation) zeigt an, dass die Items wie erwartet auf einem Faktor laden (erklärte Varianz= 67,9 Prozent; KMO-Kriterium= ,79). Zum Zwecke der Skalenbildung wurden die Items umgepolt, so dass hohe Skalenwerte auf eine hohe Expressivität hinweisen. Die Reliabilität der Skala kann als sehr gut beschrieben werden (Alpha= ,84).
7.8 Zur Schichtspezifik der Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen 199 direkten positiven Effekt auf die Zahl der genannten Netzwerkmitglieder zeitigt. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass selbst der von Modell III aufgeklärte Varianzanteil von knapp 5 Prozent recht gering ist. Die Selektivität und die soziale Ungleichheit in Bezug auf den Aufbau von nicht-verwandtschaftlichen Netzwerken scheinen also stark von anderen als den hier dargestellten Einflussgrößen abhängig zu sein.80 Tabelle 34: Vereinsmitgliedschaft und Netzwerkgröße (OLS-Regression) I
II
beta
III
beta
beta
0,06
***
0,06
***
hoch
0,14
***
0,14
***
mittel
0,07
***
0,07
***
niedrig
Ref.
Mitgliedschaft in Vereinen (Ref.: nein)
0,09
***
Bildungsgrad
sozioökonomischer Status
0,04
Umzugsmobilität (in km)
Ref. *
0,05
**
-0,01
Frau (Ref.: Mann)
0,08
Alter (metr.)
0,01
wohnt mit PartnerIn (Ref.: nein)
0,01
Kinder vorhanden (Ref.: nein)
-0,04
***
*
Migrationshintergrund (Ref.: nein)
0,00
Bevölkerungsdichte Wohnort
0,06
***
Skala 'Expressivität'
0,11
***
R² (korr.)
0,01
0,03
0,05
Anmerkungen: Die abhängige Variable ist die Zahl der angegebenen nicht-verwandtschaftlichen Alteri. Dargestellt sind die standardisierten Regressionskoeffizienten. Sig.: *** p< 0,001; ** p< 0,01; * p< 0,05 Quelle: NKPS 2005, Niederländische Staatsbürger, n= 6049
80
Möglicherweise haben wir es hier auch mit einem methodologischen Problem zu tun, ist die durchschnittliche Anzahl der angegebenen Beziehungen im Vergleich zum Familiensurvey doch sehr hoch. Besonders in Rechnung zu stellen ist, dass mehr als ein Drittel der Befragten die maximale Anzahl von fünf signifikanten Anderen angegeben hat.
200
7 Empirische Analysen
7.8.4 Offene und geschlossene Foci Zum Abschluss der empirischen Untersuchung bediene ich mich Hirschles Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Foci (Hirschle 2007). Den Ausgangspunkt für die nachfolgend diskutierte Untersuchung bildet die Annahme, dass hoch Gebildete eher zur Initiierung von persönlichen Beziehungen im Kontext geschlossener Foci (z.B. Arbeit, Bildungsinstitutionen, Vereine) neigen, während die niedriger Gebildeten relativ betrachtet größere Netzwerkanteile aus Personenkreisen rekrutieren, die im Kontext offener Foci (z. B. Nachbarschaft, Cafés, Bistros, Kneipen) kennen gelernt werden. Hirschles Argumentation zielt ursprünglich auf die Gelegenheitsstrukturen von Ehen und Partnerschaften ab, ist meines Erachtens aber allgemein genug formuliert, um einen Test im Hinblick auf die Ebene nicht-verwandtschaftlicher persönlicher Netzwerke durchzuführen. Zu diesem Zweck habe ich wieder auf die Daten der NKPS 2005 zurückgegriffen. Als Indikator für Beziehungen, die im Rahmen offener Foci geknüpft werden, können demnach die Herkunftskontexte ‚Nachbarschaft’ und ‚Party/Ausgehen’ herangezogen werden. Demgegenüber werden die Entstehungskontexte ‚Arbeitsplatz’, ‚Ausbildung/Schule/Freiwilligenarbeit’, ‚Sportverein’ und ‚Sonstige Vereine’ als Indikatoren für Beziehungen verwendet, welche im Rahmen geschlossener Foci initiiert wurden. Beide additiven Skalen (offene Foci vs. geschlossene Foci) wurden sodann als abhängige Variablen in zwei Regressionsmodellen verwendet. Das Kovariatenset bildeten wiederum die bereits bekannten soziodemographischen Kennziffern. Die Befunde unterstützen die These von Hirschle uneingeschränkt. Während sich die Zugehörigkeit zu den oberen sozialen Schichten (operationalisiert anhand des ISCED-Schemas sowie der ISEI-Skala) positiv auf den Anteil derjenigen Netzwerkbeziehungen ausübt, die im Rahmen geschlossener Foci kennen gelernt werden, zeitigt die Zugehörigkeit zu den Gruppen mit hoher Bildung und hohem sozioökonomischen Status für einen vergleichsweise niedrigeren Anteil von Kontakten verantwortlich, die im Rahmen offener Foci geschmiedet werden. Wie die niedrigen R²-Werte zeigen, erklären die herangezogenen soziodemographischen Faktoren jedoch nur jeweils 6 Prozent der Varianz, so dass insgesamt nur von einem mäßigen Zusammenhang zwischen der Sozialstruktur und dem Wirkungsgrad von unterschiedlichen Foci geredet werden kann.
7.8 Zur Schichtspezifik der Entstehungskontexte persönlicher Beziehungen 201
Tabelle 35: Offene vs. geschlossene Foci (OLS-Regression) offene Foci
geschlossene Foci
beta
beta
Bildungsgrad hoch
-0,09
***
0,13
***
mittel
-0,07
***
0,06
***
niedrig
Ref.
Ref.
***
0,08
***
***
sozioökonomischer Status
-0,08
Umzugsmobilität (in km)
-0,02
0,02
Frau (Ref.: Mann)
-0,01
-0,03
**
-0,08
***
-0,06
***
-0,04
**
Alter wohnt mit PartnerIn (Ref.: nein)
0,08 -0,01
Kinder vorhanden (Ref.: nein)
0,08
Migrationshintergrund (Ref.: nein)
0,01
Bevölkerungsdichte Wohnort R² (korr.)
***
-0,10 0,06
***
-0,02 ***
0,04
**
0,06
Anmerkungen: Die abhängige Variable ist der Anteil von nicht-verwandtschaftlichen Beziehungen, die jeweils vor dem Hintergrund offener bzw. geschlossener Foci geknüpft wurden. Folgende Herkunftskontexte zählen zu den offenen Foci: Nachbarschaft, Party/Ausgehen. Die Herkunftskontexte von Beziehungen, die in geschlossenen Foci geknüpft wurden, lauten: Arbeitsplatz, Ausbidung/Schule/Freiwilligenarbeit, Sportvereine, sonstige Vereine. Dargestellt sind in diesem Fall die standardisierten Regressionsgewichte (beta-Koeffizienten). Sig.: *** p< 0,001; ** p< 0,01; * p< 0,05 Quelle: NKPS 2005, Niederländische Staatsbürger, nur Befragte mit mindestens einem Netzwerkmitglied, n= 6563 (gewichtet). Eigene Berechnungen
Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde der Untersuchungsfokus von globalen Netzwerkparametern auf die ‚Mikroebene’ einzelner Beziehungen von persönlichen Netzwerken verschoben. Konkret stand dabei die Frage im Vordergrund, in welchen Kontexten nicht-verwandtschaftliche persönliche Beziehungen entstehen. Unter H7 hatte ich die Annahme formuliert, dass der Anteil von Beziehungen, die kraft des Transitivitätsprinzips entstehen, mit dem Bildungsniveau und dem berufli-
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7 Empirische Analysen
chen Status abnimmt. Die vorliegenden Ergebnisse unterstützen diese Hypothese. Außerdem kann auf Basis meiner Befunde davon ausgegangen werden, dass räumliche Mobilität (gemeint ist hier ein Typus langfristiger, residentieller Mobilität) das Prinzip der Transitivität persönlicher Beziehungen tatsächlich unterminiert. In diesem Lichte erscheint es statistisch betrachtet klarer, wieso die umzugsmobileren hoch Gebildeten einen geringeren Anteil ihrer Netzwerkpartner kraft des Transitivitätsprinzips kennen lernen (können). Des Weiteren unterstützen die Daten die Annahme, dass Bildungsinstitutionen und Freiwilligenorganisationen wirkungsmächtige Gelegenheitsmärkte für produktive Austauschbeziehungen bilden. Ebenso wie eine längere Verweildauer im Bildungssystem kann die Mitgliedschaft in Vereinen als förderlich für die Entstehung persönlicher Beziehungen betrachtet werden. Beide Faktoren galten in meiner Untersuchung als Proxyvariablen zum Test der Annahmen der Lawler’schen Affekttheorie des sozialen Austauschs. Unter H8 hatte ich die Erwartung formuliert, dass mit dem Bildungsgrad und dem beruflichen Status die Wahrscheinlichkeit zunimmt, in Foci eingebettet zu sein, in denen günstige Bedingungen für produktive Austauschbeziehungen vorherrschen. Die Ergebnisse geben erste empirische Hinweise darauf, dass sich diese Annahme empirisch bewähren kann. Darüber hinaus erweist sich auch die Unterscheidung von offenen und geschlossenen Foci als nützlich für die Untersuchung schichtspezifischer Netzwerkstrukturen. So rekrutieren die Mitglieder oberer sozialer Schichten relativ betrachtet einen größeren Anteil ihrer Beziehungen im Rahmen geschlossener Foci (z.B. Bildungsinstitutionen; Vereine), während in den Kreisen der unteren sozialen Schichten im Umkehrschluss die Nähe zu Personen im Kontext offener Foci, wie etwa Nachbarschaft oder Bistros, Cafés, Kneipen etc. gesucht wird. Damit stehen meine Befunde in Einklang zu denen von Hirschle (2007), der in seiner Arbeit schichtspezifische Gelegenheitsstrukturen von Partnerschaftsbeziehungen identifiziert hat. Aufgrund der niedrigen Varianzaufklärung der dargestellten statistischen Modelle muss jedoch gesagt werden, dass die herangezogenen Merkmale nur bedingt erklärenden Charakter im Hinblick darauf haben, wo, wie und in welchen sozialen Kontexten persönliche Beziehungen entstehen. Insgesamt legen die vergleichsweise geringen R²-Werte der verschiedenen statistischen Modelle den Schluss nahe, dass soziodemographische Merkmale, worunter auch die Schichtindikatoren fallen, eine eher geringe Erklärungskraft in Bezug auf die Frage haben, in welchen sozialen Kontexten persönliche Beziehungen entstehen.
7.9 Eine Anmerkung zur empirischen Tragweite der Ergebnisse
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7.9 Eine Anmerkung zur empirischen Tragweite der Ergebnisse Wenn man einmal vom Parameter ‚Multiplexität’ absieht, bewähren sich die in Kapitel 5 formulierten Hypothesen in Bezug auf den Einfluss der Schichtzugehörigkeit auf persönliche Netzwerke. Mit Blick auf die Erklärungskraft der herangezogenen Modelle muss jedoch festgehalten werden, dass die empirisch aufgezeigten Zusammenhänge zwischen Schichtzugehörigkeit und Netzwerkstruktur in der Mehrzahl zwar den vorher formulierten Erwartungen entsprechen, die vorgefunden Bildungs- und Statuseffekte – zumindest in der direkten Form – jedoch meistens als recht schwach zu bezeichnen sind. Das Gros der hier diskutierten empirischen Analysen ist also weit davon entfernt, einen Beitrag zur vollständigen Erklärung von Strukturmustern persönlicher Netzwerke zu liefern. Die vorliegende Arbeit hat jedoch auch gar nicht den Anspruch verfolgt, eine systematische Erklärung der Entstehung von persönlichen Netzwerken vorzulegen. Dies wäre angesichts des Mangels an Informationen in Bezug auf individuelle Dispositionen und Werthaltungen auch gar nicht möglich gewesen. Vielmehr ging es darum zu zeigen, ob es überhaupt einen Effekt der Schichtzugehörigkeit in Bezug auf die Strukturierung persönlicher Netzwerke gibt. Dieser Aufgabe wurden die verwendeten statistischen Modelle gerecht. Nennenswerte prognostische Qualitäten offenbarten die statistischen Modelle vor allem dann, wenn weitere Netzwerkparameter wie Größe oder räumliche Spannweite berücksichtigt wurden. Aufgrund des heterogenen Datenmaterials war eine weitere Einbeziehung von Netzwerkparametern leider nicht möglich. Es steht zu vermuten, dass die Verwendung eines einzigen Datensatzes, welcher alle berücksichtigten Netzwerkinformationen enthielte, die Erklärungskraft der hier verwendeten Modelle deutlich steigern könnte. Darüber hinaus muss gesagt werden, dass die diskutierten Analysemodelle ausschließlich Bezug auf Querschnittsdaten nehmen. Die unterstellten kausalen Zusammenhänge zwischen Schichtzugehörigkeit und Netzwerkebene lassen sich daher nur theoretisch begründen. Erst die Verfügbarkeit von Längsschnittdaten könnte weitere Einblicke in den Prozess der schichtspezifischen Initialisierung und Aufrechterhaltung von persönlichen Beziehungen geben. Ein weiteres Problem besteht in der Tatsache, dass Datensätze unterschiedlicher Nationen analysiert wurden. Dieses Verfahren birgt die Gefahr der unbeobachteten Heterogenität, sei es in Bezug auf die verwendeten Frageformulierungen oder hinsichtlich etwaiger kultureller Unterschiede, z.B. im Hinblick auf den Stellungswert von Freundschaften. So zeigen Pichler und Wallace (2007) in einer komparativen Studie beispielsweise, dass die Niederländer allgemein über ein besonders hohes Maß an Sozialkpapital verfügen.
204
7 Empirische Analysen
Zum Abschluss will ich es nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass die in der Regel als ‚Schichteffekte’ deklarierten statistischen Zusammenhänge in manchen Fällen lediglich reine Bildungseffekte sind, während der berufliche Status in vielen Fällen keinen signifikanten Einfluss auf die zu erklärenden Variablen ausübt. In zukünftigen ungleichheitssoziologischen Analysen könnte der Schwerpunkt vieler empirischer Untersuchungen daher also verstärkt auf die reine Bildungsabhängigkeit persönlicher Netzwerke gelegt werden.
8 Resümee und Ausblick
Persönliche Netzwerke stellen für die Individuen unerlässliche Ressourcen zur alltäglichen Daseinsbewältigung dar. Einerseits wird ihnen ein direkter Effekt auf das körperliche und seelische Wohlbefinden zugesprochen (House et al. 1988). Auf der anderen Seite nehmen sie aber auch die Rolle wichtiger Erfüllungsgehilfen in einer Vielzahl von sozialen Prozessen ein. Sie sind nützlich, um einen neuen Arbeitsplatz zu bekommen (Granovetter 1974), sie sind nützlich, wenn man Grippe hat und die Einkäufe nicht selbst erledigen kann, und sie können Migranten helfen, ihr neues Leben im Aufnahmeland besser zu organisieren (Al-Ali und Koser 2002; Faist 2000). Kurz gesagt: Die gelungene Integration in Netzwerke persönlicher Beziehungen scheint für das individuelle Glück und die Generierung von Lebenschancen also mindestens ebenso wichtig zu sein wie das Vorhandensein eines festen Einkommens, einer erfüllenden beruflichen Tätigkeit und eines guten Schulabschlusses. Und ebenso wie der Arbeitsmarkt und das Bildungssystem sind auch persönliche Netzwerke soziale Gebilde, deren Gestalt durch Dynamiken sozialer Ungleichheit fragmentiert wird. Es ist ein Verdienst der soziologischen Ungleichheitsforschung, gezeigt zu haben, dass die informelle Ebene persönlicher Beziehungen keineswegs frei von den Grenzziehungen sozialer Klassen und Schichten ist. Ganz im Gegenteil: Indem sich auch Verwandtschafts- und insbesondere Freundeskreise bevorzugt aus Mitgliedern gleicher Bildungs- und Statusgruppen zusammensetzen, können sich sichtbare Grenzen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen erst tatsächlich manifestieren (vgl. Chan und Goldhorpe 2005; Lazarsfeld und Merton 1954; McPherson et al. 2001; Verbrugge 1977). Darüber hinaus hat die mit Instrumenten der Netzwerkforschung operierende Ungleichheitsforschung nahe gelegt, dass soziale Beziehungen dazu eingesetzt werden können, um Erfolge auf dem Markt zu erzielen (Lin 2001). Bis jetzt blieb jedoch weitgehend unklar, ob und wenn ja, wie stark sich die Muster persönlicher Netzwerke zwischen den einzelnen sozialen Schichten unterscheiden. Welche Gestalt nehmen die Netzwerke der unterschiedlichen sozialen Schichten an? Wie sind sie räumlich konfiguriert? Aus was für Beziehungstypen setzen sie sich zusammen? Die Beantwortung dieser Fragen erscheint umso dringlicher, wenn man in Rechnung stellt, dass das Zusammenspiel der einzelnen Strukturparameter von persönlichen Netzwerken auch dar-
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8 Resümee und Ausblick
über entscheidet, wie leistungsfähig diese Netzwerke in bestimmten Situationen, etwa in Zeiten persönlicher Krisen, sind. Das Ziel dieser Arbeit war es, anhand von empirischen Daten einen Eindruck davon zu vermitteln, inwieweit die Strukturen persönlicher Netzwerke an die Strukturen sozialer Ungleichheit gekoppelt sind. Die zentrale These, die den inhaltlichen Rahmen für die empirische Untersuchung vorgab, lautete, dass soziale Ungleichheit nicht nur auf der formellen Ebene (Arbeitsmarkt, politische Partizipation etc.), sondern auch auf der informellen Ebene zu einer Akkumulation von gesellschaftlichen Benachteiligungen führt. Ein persönliches Netzwerk wird hier als das um eine einzelne, jeweils im Mittelpunkt stehend Person Ego verankerte Geflecht persönlicher Beziehungen verstanden. Mit dem Begriff der ‚persönlichen Beziehung’ ist wiederum eine Dyade gemeint, vor deren Hintergrund die an einer Beziehung beteiligten Personen Merkmale der jeweiligen Persönlichkeit ihres Gegenübers in ihrem Beziehungshandeln mitberücksichtigen, es also dementsprechend zur Aneignung partikularistischer Orientierungen im Beziehungshandeln kommt. Aufgrund des empirischen Charakters der vorliegenden Arbeit wurde eine Arbeitsdefinition persönlicher Beziehungen gewählt, die es erlaubt, zweierlei Kategorien von persönlichen Beziehungen zu berücksichtigen. Zum einen handelt es sich dabei um ganz typische, nah am Idealtyp persönlicher Beziehungen angesiedelte Beziehungsformen wie etwa romantische Paarbindungen, Eltern-Kindbeziehungen oder engere Freundschaften. Zum anderen konnte ich mit Hilfe meiner Arbeitsdefinition aber auch all jene Beziehungstypen berücksichtigen, die gemeinhin als ‚schwach’ gelten (weak ties im Sinne von Granovetter 1973). Beispiele für letztgenannten Typ sind nachbarschaftliche Beziehungen, lose Bekanntschaften oder selten aktualisierte Beziehungen zu entfernten Verwandten. Betrachtet man zunächst die Ergebnisse in Bezug auf den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und globalen Netzwerkparametern (Kapitel 7.1 bis 7.6), so sind signifikante Unterschiede zwischen den Mitgliedern der unterschiedlichen sozialen Schichten zu beobachten. Dies beginnt schon bei der Größe persönlicher Netzwerke: Gegenüber den Mitgliedern höherer sozialer Schichten weisen die Angehörigen der unteren sozialen Schichten im Durchschnitt eine kleinere Zahl von Netzwerkpartnern auf. Zugleich ist der Verwandtschaftsanteil in den Netzwerken der Personen mit niedriger Bildung und geringem beruflichen Status höher. Darüber hinaus sind die Netzwerke der unteren sozialen Schichten von einer höheren Dichte geprägt. Das bedeutet, dass sich die einzelnen Mitglieder der Netzwerke von Personen mit niedriger Bildung und geringem Status häufiger auch untereinander kennen als es bei Personen aus höheren Schichten der Fall ist. Auch in geographischer Hinsicht unterscheiden sich die Netzwerke der verschiedenen sozialen Schichten voneinander. So ver-
8 Resümee und Ausblick
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fügen Personen mit einem hohen Bildungsgrad und hohem beruflichen Status im Durchschnitt über besonders weiträumig aufgespannte Netzwerke. Lässt man einmal Personen mit Migrationshintergrund außer acht, so zeigen sich insbesondere transnationale, d.h. über die nationalstaatlichen Grenzen hinausreichende, Netzwerke stark von einer Partizipation der höheren sozialen Schichten geprägt (vgl. Mau und Mewes 2009). Einzig die Beobachtung, dass mit dem Bildungsgrad und dem beruflichen Status die Multiplexität von persönlichen Netzwerken zunimmt, weicht von meinen Erwartungen ab. Die persönlichen Beziehungen von Personen aus den oberen Schichten sind also nicht nur zahlreicher als bei Personen mit niedriger Bildung und niedrigem Status, sondern sie sind in der Regel auch vielschichtiger, d.h. sie erstrecken sich über mehrere Lebensbereiche zugleich. Neben den objektiven Merkmalen von persönlichen Netzwerken bin ich auch der Frage nachgegangen, ob die Ungleichheit von Netzwerken möglicherweise mit schichtspezifischen Einstellungsmustern in Bezug auf soziale Beziehungen zusammenhängt (Kapitel 7.7). Auch in diesem Zusammenhang bestätigen die Ergebnisse meine Vermutungen: Während sich die Mitglieder unterer sozialen Schichten besonders häufig von ihren Verwandten in die Pflicht genommen fühlen, äußern sie gleichzeitig die stärksten Solidaritätsempfindungen gegenüber der Familie. Auch ziehen sie verwandtschaftliche Bindungen in vielen Fällen freundschaftlichen Beziehungen bewusst vor. Über alle sozialen Schichten hinweg ist mit dem Wegbleiben von freundschaftlichen Beziehungen zugleich ein erhöhtes Einsamkeitsrisiko verbunden. Verschiebt man den Fokus auf die Entstehungszusammenhänge von persönlichen Beziehungen (Kapitel 7.8), so ist zu beobachten, dass Bildung und Status einen negativen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit ausüben, andere Menschen über bereits bekannte Personen kennen zu lernen. Das Prinzip der Transitivität sozialer Beziehungen wird auf Seiten der Mitglieder höherer sozialer Schichten auf zweierlei Weise untergraben: Zum einen gibt es einen direkten, negativen Schichteffekt, zum anderen ist auch ein indirekter Schichteffekt zu konstatieren: So erweisen sich höher Gebildete als deutlich umzugsmobiler. Residentielle Mobilität wirkt sich wiederum negativ auf das Transitivitätsprinzip persönlicher Beziehungen aus, d.h. Personen mit hoher Bildung und hohem beruflichen Status lernen signifikant weniger Menschen über bereits bekannte Personen kennen als die Angehörigen niedrigerer sozialer Schichten. Um einen Hinweis auf die empirische Relevanz der Affekttheorie des sozialen Austauschs (Lawler 2001) zu erhalten, wurde des Weiteren untersucht, inwiefern sich die Mitgliedschaft in Vereinen auf die Zahl der angegebenen Netzwerkpartner auswirkt. Vereinsmitgliedschaft wurde im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit als Musterbeispiel eines Gelegenheitsmarkts persönli-
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8 Resümee und Ausblick
cher Beziehungen aufgefasst. Die Befunde deuten darauf hin, dass die Mitgliedschaft in Vereinen die Entstehung von Freundschaften tatsächlich fördert. Als letztes Ergebnis bleibt festzuhalten, dass es zwei unterschiedliche Typen von Foci (Feld 1981) gibt, auf die im Anbahnungsprozess persönlicher Beziehungen jeweils schichtspezifisch zurückgegriffen wird. Die von Hirschle (2007) eingeführte Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Foci erweist sich also nicht nur für die Analyse von Gelegenheitsmärkten romantischer Partnerschaften als geeignet, sondern kann auch für die Untersuchung von Opportunitätsstrukturen persönlicher Beziehungen fruchtbar gemacht werden. So ist zu beobachten, dass offene Foci (z.B. Nachbarschaft) für die unteren sozialen Schichten besonders wichtige Gelegenheitsmärkte persönlicher Beziehungen darstellen. Dahingegen erweisen sich geschlossene Foci (z.B. Bildungsinstitutionen, Vereine, Clubs, Parteien) insbesondere für die Gruppen der hoch Gebildeten und beruflich Privilegierten, als wichtige Entstehungskontexte von persönlichen Beziehungen. Welche Folgen lassen sich aus dem Vorhandensein von schichtspezifischen Netzwerkstrukturen für die Mitglieder unterer sozialer Schichten ableiten? Rückt man zunächst das Unterstützungspotential persönlicher Netzwerke in den Vordergrund, so stellt sich vor allem die Frage, inwiefern Menschen, die aufgrund niedriger Bildung und geringen Status benachteiligt in Bezug auf den Zugang zu als wichtig erachteten gesellschaftlichen Ressourcen sind, ihre prekäre Lage anhand informeller Quellen sozialer Unterstützung kompensieren können. Die Ergebnisse dieser Arbeit müssen in diesem Zusammenhang nachdenklich stimmen, legen sie in der Zusammenschau doch den Schluss nahe, dass die Mitglieder der unteren sozialen Schichten einem erhöhten Risiko der doppelten Exklusion (zum Begriff der Exklusion siehe Bohn 2008) unterliegen. Ich spreche deshalb von der Gefahr einer doppelten Exklusion, weil mit niedriger Bildung und niedrigem Status einerseits ein erhöhtes Risiko der Desintegration in den Arbeitsmarkt und den damit verbundenen typischen Folgen (z.B. Armut, soziale Deprivation) einhergeht. Andererseits benötigt gerade diese gesellschaftliche Gruppe ein besonders hohes Maß an informeller sozialer Unterstützung (Böhnke 2008). Die Ergebnisse dieser Arbeit sprechen jedoch gegen eine derart hohe Leistungsfähigkeit der Netzwerke von Personen mit niedriger Bildung und geringem sozioökonomischen Status. So neigt diese gesellschaftliche Gruppe zum Beispiel dazu, den persönlichen Kontakt auf einige wenige Netzwerkpartner zu beschränken. Unter Bedingungen persönlicher Krisen kann diese Vorliebe für kleine, verwandtschaftslastige Netzwerke auf Seiten der Betroffenen zu ernstzunehmenden negativen Konsequenzen führen. Bei Wegbruch besonders enger persönlicher Beziehungen droht dann schnell die soziale Isolation, da die erforderliche soziale und emotionale Unterstützung ja nicht so leicht auf die
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wenigen verbleibenden Schultern verteilt werden kann. Ereignisse wie Scheidung und Verwitwung erweisen sich für Personen mit sehr kleinen Netzwerken daher schneller als Auslöser ernsthafter Lebenskrisen (z. B. Hollstein 2002). Die Folgen sind für diese gesellschaftliche Gruppe psychisch dann oft schwieriger zu ertragen als für Menschen, die Trost und Rückhalt in vergleichsweise großen Freundes- und Verwandtschaftskreisen finden. Zwar muss das Vorhandensein einer geringeren Zahl von Netzwerkmitgliedern nicht zwangsläufig bedeuten, dass bestimmte Inhalte persönlicher Beziehungen gar nicht realisiert werden können. In diesem Fall müsste der Bedarf an sozialer Unterstützung dann aber auf weniger Schultern verteilt werden als im Falle relativ großer Netzwerke. Doch sind es vor allem die Mitglieder der unteren sozialen Schichten, deren persönliche Netzwerke einen eher geringen Multiplexitätsgrad aufweisen. Die im Vergleich wenigen signifikanten Anderen, die die Personen aus diesem Bevölkerungssegment ihren persönlichen Netzwerken zugehörig zählen können, erweisen sich also zugleich als Adressaten eher eindimensionaler sozialer Austausche. Berücksichtigt man zugleich das Ergebnis, dass die Netzwerke der unteren sozialen Schichten im Durchschnitt auch die kleinsten sind, so laufen die niedrig gebildeten und mit geringem sozioökonomischem Status ausgestatteten Personen stärker Gefahr, von Einsamkeit und sozialer Isolation betroffen zu werden, als Mitglieder der oberen sozialen Schichten. In dieses Bild passt, dass die Angehörigen der unteren sozialen Schichten zugleich dem größten Risiko ausgesetzt sind, überhaupt keinen Ansprechpartner für ihre emotionalen und pragmatischen Belange und Bedürfnisse zu haben. Als problematisch könnte sich auch die relativ hohe Dichte der Netzwerke in den unteren sozialen Schichten erweisen. Eigentlich ist eine hohe Netzwerkdichte kennzeichnend für ein hohes Solidaritätspotential. Doch scheint der hohe Dichtegrad in den Netzen der Mitglieder unterer sozialen Schichten lediglich Ausdruck davon zu sein, dass sich die deutliche Mehrzahl der Netzwerkmitglieder auf die Kernfamilie bzw. den Partner beschränkt. In diesem Fall kann die bloße Betrachtung der Kennziffer ‚Dichte’ im Hinblick auf das Solidaritätspotential eines Netzwerks also irreführend sein: Natürlich kennen sich die Mitglieder der eigenen Kernfamilie, schließlich wohnen sie ja häufig im selben Haushalt. Es steht zu vermuten, dass in diesen Konstellationen (hohe Dichte bei gleichzeitiger geringer Netzwerkgröße) eine verhältnismäßig große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die negativen Seiten dichter Netzwerke die Vorteile überwiegen. Zu den Kehrseiten dichter Netzwerke zählt vor allem eine unverhältnismäßig hohe soziale Kontrolle bei gleichzeitigem subjektiv empfundenem Zwang zur Aufrechterhaltung von dauerhaft ungleichgewichtigen Beziehungen. Auch scheint es so zu sein, dass viele der älteren Netzwerkstudien die Bedeutung der Familie in den Reihen der unteren sozialen Schichten überschätzen.
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Ging ich im Vorfeld meiner empirischen Untersuchung davon aus, dass Freundschaften eine größere Bedeutung für die oberen sozialen Schichten haben, während Verwandtschaft wiederum eine stärkere Rolle bei Menschen mit niedriger Bildung und niedrigerem Status einnimmt, so deuten meine Ergebnisse in eine andere Richtung. Einzig der Bereich der Kernfamilie, also das Beziehungsgefüge ‚Vater-Mutter-Kind’, spielt in den unteren sozialen Schichten durchaus eine wichtigere Rolle als in höheren sozialen Schichten. Demgegenüber erweisen sich die mittleren und oberen sozialen Schichten gleichermaßen aktiver bei der Pflege von Freundschaften und von Beziehungen zum Verwandtschaftskreis jenseits der Kernfamilie. Selbst Elternteile und Geschwister stellen in der mittleren und höheren Bildungsschicht häufiger wichtige Ansprechpartner in Fällen unterschiedlicher Unterstützungsbedarfe dar als bei den niedrig gebildeten Befragten. Zwar stimmt es, dass Familie für die Angehörigen unterer sozialer Schichten eine weitaus größere Bedeutung als Freundschaft hat. Die Trennung zwischen Verwandten und Nicht-Verwandten scheint in den höheren sozialen Schichten sowohl auf subjektiver Ebene als auch im tatsächlich beobachtbaren Beziehungshandeln weniger stark ausgeprägt zu sein. Nicht zulässig ist hingegen der Schluss, dass Verwandtschaft für Personen mit niedriger Bildung und geringem Status generell eine wichtigere Rolle spielt als für Personen oberer sozialer Schichten. Aus einer Sozialkapitalperspektive stellt sich des Weiteren die Frage nach der Transformierbarkeit von Beziehungskapital in andere Kapitalien. Die Kardinalfrage lautet in diesem Zusammenhang: Unter welchen Umständen erweisen sich persönliche Netzwerke als nützlich? Ein Beispiel ist die Suche nach einem Job: Viele Arbeitsplätze werden heute über Bekannte vermittelt (Granovetter 1974; Franzen und Hangartner 2005; Wegener 1991; Korpi 2001). Aus der Perspektive eines Angehörigen der unteren sozialen Schichten dürfte sich die Suche nach einem neuen Job als relativ schwierig erweisen. Niedrige berufliche Qualifikationen und ein niedriger Bildungsgrad stellen eine solche Suche generell vor große Herausforderungen. Eine gute Alternative könnte in diesem Zusammenhang der Rückgriff auf Bekannte und Verwandte sein. Die entscheidende Frage für die Suchenden lautet dann: Gibt es jemanden, der jemanden kennt, der eine neue Arbeitskraft einstellen will? Doch bleibt man beim Beispiel der niedrig gebildeten und gering qualifizierten Person auf Arbeitssuche, so dürfte auch die Struktur des für diese soziale Schicht typischen persönlichen Netzwerks gegen einen erfolgreichen Abschluss der Stellensuche sprechen. Erstens dürfte sich das persönliche Netzwerk einer Person aus den unteren sozialen Schichten als vergleichsweise klein erweisen. Der Kreis von Personen, die über eine relevante Information verfügen könnten, ist also schon einmal recht begrenzt. Zweitens spricht eine hohe Netzwerkdichte, wie sie in dieser sozialen
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Lage ebenfalls häufiger vorkommt, dagegen, dass andere Netzwerkmitglieder über eine Information verfügen, die Ego noch nicht geläufig ist. Drittens weisen die Netzwerke der niedrig Gebildeten eine relativ starke räumliche Konzentration auf. Angenommen, Ego sei in diesem Fall bereit, für einen neuen Job umzuziehen, so spräche die Wahrscheinlichkeit dagegen, dass viele aus Egos Freundes- und Verwandtschaftskreis bereits in größerer Entfernung von Ego leben und über exklusives lokales Wissen verfügen. Man muss nicht eine derart utilitaristische Position wie die zuvor diskutierte einnehmen, um weitere mögliche Konsequenzen der schichtspezifischen Ungleichheit sozialer Netzwerke abzuleiten. Beispielsweise hängt der Grad der subjektiv empfundenen Einsamkeit schichtübergreifend davon ab, ob Ego über signifikante Andere verfügt, und wenn ja, um wie viele Ansprechpartner es sich dabei handelt: Je mehr Alteri aus dem Kreis der Nicht-Verwandten die Probanden benannten, desto geringer war der Grad der subjektiv empfundenen Einsamkeit. Es scheint also tatsächlich so zu sein, dass Mitglieder unterer sozialer Schichten tendenziell weniger in gesellige Kontakte eingebunden sind. Damit nähren meine Befunde insgesamt starken Zweifel an der These von Allan (1979), wonach Personen unterer sozialer Schichten zwar über ebenso bedeutsame Beziehungen zu Nichtverwandten verfügen wie die Mitglieder oberer sozialer Schichten, diese aber davor zurückscheuen, ihre Beziehungspartner als ‚Freunde’ zu bezeichnen. Denn das Ergebnis, dass die Mitglieder unterer sozialer Schichten signifikant einsamer sind als Angehörige höherer Schichten, deutet darauf hin, dass Personen mit niedriger Bildung und niedrigem beruflichen Status tatsächlich weniger in gesellige Kontakte eingebunden sind. An die vorliegende Arbeit bieten sich eine ganze Reihe von Anschlussmöglichkeiten weiterer Forschungsprojekte an. Zum Teil habe ich entsprechende Desiderate bereits angesprochen. Auf zwei Forschungsdesiderate werde ich zum Abschluss noch näher eingehen. Ein erstes bezieht sich auf die Ursachen schichtspezifischer Strukturen von persönlichen Netzwerken, die auf Grundlage des verwendeten empirischen Materials nur unzureichend identifiziert werden konnten. Wünschenswert wäre also die Entwicklung eines Netzwerkinstruments, welches in der Lage wäre, die unterschiedlichen Hypothesen einer Bewährungsprobe zu unterziehen und somit gegeneinander in Stellung zu bringen. Vor allem bezieht sich diese Forderung auf eine weitergehende Überprüfung der Implikationen von Lawlers Affekttheorie des sozialen Austauschs, welche in dieser Arbeit erstmals im Hinblick auf eine Betrachtung der Determinanten ungleicher Netzwerkstrukturen zum Einsatz kam. Klassischere Ansätze der Austauschtheorie operieren mit der Annahme, dass häufig wiederholter sozialer Austausch zwischen zwei sozialen Einheiten, die wiederum ein gemeinsames Ziel verfolgen, die Wahrscheinlichkeit des Entstehens einer vertrauensvollen
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Beziehung fördert. Die hier verwendete Affekttheorie geht einen Schritt weiter, indem sie sich mit der Frage auseinandersetzt, warum nur bestimmte wiederholte Formen des sozialen Austauschs zur Entstehung von stärkeren Beziehungen führen. Als Schlüssel zur Lösung dieses Problem schlägt die Affekttheorie ‚Emotionen’ vor: Entscheidend ist demnach, ob die gemeinsamen Aktivitäten Emotionen auf Seiten der Beteiligten hervorrufen, und wenn ja, wie stark diese sind. Eine zweite wichtige Annahme der Affekttheorie des sozialen Austauschs ist, dass nicht alle Austauschstrukturen gleichermaßen begünstigend auf die Entstehung persönlicher Beziehungen wirken: produktiver Austausch setzt höhere Emotionen frei als reziproker Austausch, welcher wiederum stärker wiegt als generalisierter Austausch. Drittens kommt es zur Herausbildung von vertrauensvolleren Beziehungen im Sinne der Theorie vor allem dann, wenn es kein Machtgefälle zwischen den Beteiligten des Austauschs gibt. In Anschluss an diese Theorie habe ich mich in der vorliegenden Arbeit der Suche nach sozialen Kontexten verschrieben, in denen es mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit zu Gelegenheiten des sozialen Austauschs kommt, welcher die oben genannten Kriterien zu erfüllen imstande ist. Sowohl das Bildungssystem als auch das Vereinsleben konnten als wichtige Entfaltungskontexte emotionaler Austauschbeziehungen identifiziert werden. Nichtsdestotrotz bleibt offen, welche Art von sozialen Kontexten besonders starke Emotionen auf Seiten der Beteiligten eines gegebenen Austauschprozesses hervorruft. Wünschenswert wäre also die Entwicklung eines Netzwerkinstruments, das in der Lage wäre, empirische Einblicke in den hier allenfalls theoretisch präzisierten Zusammenhang zwischen der Einbettung in Foci, der Freisetzung von Emotionen im Rahmen sozialer Austauschprozesse und der Entstehung von persönlichen Beziehungen zu geben. Ein weiteres Forschungsdesiderat leitet sich aus der Tatsache ab, dass sich die vorliegende Arbeit in Bezug auf die Akquise von Netzwerkpartnern im Wesentlichen auf die ‚harte Währung’ von Bildung und beruflichem Status konzentriert hat. Neuere soziologische Netzwerkstudien zeigen jedoch, dass es im Hinblick auf die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und persönlichen Beziehungen durchaus fruchtbar sein kann, gesellschaftliche Ressourcen zu berücksichtigen, die seitens der klassischen Soziologie weniger häufig erhoben werden. Lizardo (2006), inspiriert von Bourdieu (1983) und DiMaggio (1987), geht in diesem Zusammenhang der Frage nach, wie kulturelles Kapital in soziales Kapital transformiert werden kann. Zur Operationalisierung des kulturellen Kapitals zieht der Autor dabei zwei unterschiedliche kulturelle Geschmacksmuster heran (Hochkultur und Populärkultur). Die Initiierung von vertrauensvollen, engen Beziehungen (strong ties) steht Lizardo zufolge unter einem besonders guten Stern, wenn die Betroffenen eine Konversationsstrategie wählen, die Themen wie bildende Kunst, Opern, Literatur etc.
8 Resümee und Ausblick
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Vorrang gibt (an die Hochkultur angelehnte Konversationsstrategie). Dagegen gelingt die Anbahnung von lockeren Bekanntschaften (weak ties) besonders gut, wenn in Gesprächen Themen wie das aktuelle Kinoprogramm, Radiohits, Sportereignisse oder Rockkonzerte diskutiert werden (an den Populärgeschmack angelehnte Konversationsstrategie). Auch in Lizardos Studie ist das Muster einer Akkumulation von gesellschaftlichen Privilegien und Benachteiligungen zu beobachten, sind es doch vor allem die vermögenden, hoch gebildeten und jungen Menschen, die stilsicher zwischen den beiden angesprochenen Konversationsstrategien wechseln können. Dadurch gelingt es diesen, gleichermaßen große Netzwerke starker wie schwacher Beziehungen aufzubauen. Damit benennt Lizardo also dieselbe gesellschaftliche Gruppe, die auch nach den Befunden der vorliegenden Arbeit zu den besonders aktiven ‚Netzwerkern’ gezählt werden kann. Eingedenk dieser Tatsache wäre es zu begrüßen, wenn zukünftige ungleichheitssoziologische Studien das Spannungsverhältnis zwischen dem kultursoziologischen Ansatz Lizardos und Lawlers Affekttheorie des sozialen Austauschs diskutieren und empirisch untersuchen würden. Vor allem stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Kausalität der Abläufe von Netzwerkbildungsprozessen. Wie sehr beeinflussen kulturelle Geschmacksmuster die Wahl von Vereinen, Clubs, Sportvereinen, welche wiederum ideale Gelegenheitsmärkte für produktive soziale Austauschbeziehungen darstellen? Oder neigen Individuen möglicherweise dazu, den kulturellen Geschmack von Beziehungspartnern zu übernehmen, mit denen sie im Rahmen produktiver Austauschbeziehungen kommunizieren? Fragen wie diese machen deutlich, dass die systematische Erforschung der Determinanten der Herausbildung von sozialen Netzwerken erst am Anfang steht. Die derzeit fortschreitende Entwicklung von sozialwissenschaftlichen Panelstudien mit einem dauerhaften Schwerpunkt auf soziale Netzwerke lässt jedoch darauf hoffen, dass eine empirisch begründete Antwort auf derlei Fragen möglicherweise nicht mehr in allzu weiter Ferne liegt.
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Anhang
Methodische und inhaltliche Erläuterungen zu den verwendeten Kontrollvariablen, nach Fragebogen geordnet: 1. ALLBUS Umzugsmobilität:
Lebt die Zielperson (im Folgenden ZP) seit Geburt am selben Wohnort (Referenzkategorie: ja), v619 (kursiv: Bezeichnung der ursprünglichen Variable; wird nur bei weniger gebräuchlichen Kovariaten angezeigt)
Partnerschaft:
Lebt die ZP in einer festen Partnerschaft? (Referenzkategorie: nein)
Kinder vorhanden:
Leben eigene Kinder und/oder Stief- oder Adoptivkinder im Haushalt der ZP? (Referenzkategorie: nein)
Migrationshintergrund:
Ist die ZP auf dem Gebiet des heutigen Deutschland geboren? (Referenzkategorie: ja); v343
Region Ost:
Lebt die ZP in den neuen Bundesländern? (Referenzkategorie: nein)
>500.000 Einwohner:
Lebt die ZP in einer Gemeinde mit mehr als 500.000 Einwohnern? (Referenzkategorie: nein)
2. Familiensurvey 2000 Umzugsmobilität:
Lebt die ZP im selben Bundesland wie bei der Geburt? (Referenzkategorie: ja)
228
Anhang
Partnerschaft:
Lebt die ZP derzeit in einer festen Partnerschaft? (Referenzkategorie: nein); f40
Kinder vorhanden:
Hat oder hatte die ZP eigene Kinder und/oder Stief-oder Adoptivkinder? (Referenzkategorie: nein); f220
Migrationshintergrund:
Ist die ZP auf einem anderen Gebiet als dem der heutigen Bundesrepublik Deutschland geboren bzw. ist mindestens ein Elternteil im Ausland geboren? (Referenzkategorie: nein); f81, f109a, f109g
Region Ost:
Lebt die ZP in den neuen Bundesländern? (Referenzkategorie: nein)
>500.000 Einwohner:
Lebt die ZP in einer Gemeinde mit mehr als 500.000 Einwohnern? (Referenzkategorie: nein)
3. Netherlands Kinship Panel Study Räumliche Mobilität
Entfernung (in km) zwischen derzeitigem Wohnort und dem, an dem die ZP zum Zeitpunkt des 15. Lebensjahrs gelebt hat. Wird diese Variable als Dummy verwendet, beziffert 1 einen Entfernungsunterschied von mindestens 1 km (Referenzkategorie: kein räumlicher Unterschied zwischen derzeitigem Wohnort und dem damaligen Lebensmittelpunkt) ; azipx, ab601x
wohnt mit PartnerIn:
Lebt die ZP gemeinsam mit einer Partnerin bzw. einem Partner im selben Haushalt? (Referenzkategorie: nein); ahhtyp
Kinder vorhanden:
Anzahl der eigenen (inkl. adoptierten und verstorbenen) Kinder (Referenzkategorie: ZP hat und hatte (noch) keine Kinder); ankids
Anhang
229
Migrationshintergrund:
Ist die ZP oder mindestens ein Elternteil nicht in den Niederlanden geboren? (Referenzkategorie: nein); an101, ab202, ab302
Bevölkerungsdichte:
1: not urbanised (< 500 addr./km2); 2: hardly urbanised (500-1000 addr./km2); 3: moderately urbanised (1000-1500 addr./km²); 4: strongly urbanised (1500-2500 addr./km²); 5: very strongly urbanised ( 2500 addr/km2); aurbres
4. Survey Transnationalisierung Partnerschaft:
ZP lebt verheiratet oder hat eine/n feste/n Partner/in (Referenzkategorie: nein)
Kinder vorhanden:
Mindestens ein Kind unter 17 Jahren lebt im selben Haushalt wie die ZP (Referenzkategorie: nein)
Migrationshintergrund:
Spricht mindestens ein Elternteil der ZP eine andere Muttersprache als deutsch? (Referenzkategorie: nein)
Region Ost:
Lebt die ZP in den neuen Bundesländern? (Referenzkategorie: nein)
>500.000 Einwohner:
Lebt die ZP in einer Gemeinde mit mehr als 500.000 Einwohnern? (Referenzkategorie: nein)