Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
Herausgegeben von Nicola McLelland Hans-J...
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Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
Herausgegeben von Nicola McLelland Hans-Jochen Schiewer Stefanie Schmitt MAX NIEMEYER VERLAG
Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frhen Neuzeit
Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frhen Neuzeit
XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003 Herausgegeben von Nicola McLelland, Hans-Jochen Schiewer und Stefanie Schmitt
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008
n
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-64030-6 7 Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul@ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf@ltigungen, Abersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Inhalt
Vorwort Einleitung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
Jeffrey Ashcroft Humanismus und volkssprachliche Bibel in der frühen Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Joachim Hamm Pax Erasmiana deutsch. Zu den Erasmusübersetzungen Ulrich Varnbülers und Georg Spalatins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
Michael Baldzuhn Von der praxisgeleiteten zur sprachenpolitischen Verwendung des Deutschen. Der Statuswandel der Volkssprache in den lateinisch-deutschen Cato-Handschriften und -Drucken des 15. und 16. Jahrhunderts
. .
53
Almut Suerbaum ›Ovidius christianus‹. Helius Eobanus Hessus in der Tradition der ›Heroides‹-Rezeption seit dem Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Graeme Dunphy Melchior Goldast und Martin Opitz. Humanistische Mittelalter-Rezeption um 1600
. . . . . . . . .
105
VI
Inhalt
Ralf-Henning Steinmetz Die Rezeption antiker und humanistischer Literatur in den Predigten Geilers von Kaysersberg . . . . . . . . . . . . . .
123
Stefanie Schmitt Humanistisches bei Georg Wickram? Zur Problematik deutschsprachiger humanistischer Literatur
. . .
137
Beate Kellner Verabschiedung des Humanismus Johann Fischarts ›Geschichtklitterung‹ . . . . . . . . . . . . .
155
Harald Haferland Weltzeit, Lebenszeit und das Individuum als Augenzeuge und Gegenstand persönlicher Erfahrung. Ereigniskonzepte in der volkssprachlichen Chronistik des 16. Jahrhunderts am Beispiel der ›Chronik‹ Sebastian Fischers . . .
183
Michael Shields Klischees und ihre Schatten. Zur Darstellung von Dunkelmännern und zu den impliziten Bildern von Humanisten bei Erasmus und Michael Lindener . . . . . . .
199
Volker Mertens Was Humanisten sangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215
Timothy McFarland Schulautoren und Kulturtourismus im Reisebrief Konrads von Querfurt. Zum Umgang mit der Antike in der staufischen Führungselite – mit einem Blick auf Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹, 656,14–19 231 Ricarda Bauschke Johann von Neumarkt: ›Hieronymus-Briefe‹. Probleme von Epochengrenzen und Epochenschwellen am Beispiel des Prager Frühhumanismus . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
VII
Inhalt
Michael Stolz Altitudo contemplationis humanae. ›Conversio‹ bei Francesco Petrarca und Heinrich Seuse
. . . . .
273
. . . . . . . . . .
299
Silvia Reuvekamp Heinrich Bebels ›Proverbia Germanica‹ (1508). Zum Verhältnis von Latinität und nationalem Selbstbewußtsein im deutschen Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333
Cora Dietl Schauspieler und Schwankheld. Faszination und Schrecken des Trügerischen
. . . . . . . . . .
347
Annette Volfing Ich hab gemacht vnd geben ein wirtschafft on eßnn vnd trincken. Albrecht von Eybund die Hochzeit zu Kana . . . . . . . . . .
365
Sebastian Coxon Gelächter und Gesundheit. Humanistische Thematik im ›Quacksalber‹ des Hans Folz
. . . .
383
John L. Flood Das Bild des Poeta laureatus in Deutschland und England um 1500 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
Namenregister
429
Gerd Dicke Homo facetus. Vom Mittelalter eines humanistischen Ideals
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorwort
Die Beiträge dieses Bandes gehen auf das XVIII. Anglo-German Colloquium 2003 in Hofgeismar zurück. Wir danken unseren damaligen Mitveranstaltern der Tagung: Timothy Jackon (Trinity College Dublin), aber vor allem Klaus Grubmüller (Göttingen), Markus Stock (jetzt Toronto) und ihren Hilfskräften an der Universität Göttingen, die für die lokale Organisation verantwortlich waren. Für die finanzielle Unterstützung der Tagung danken wir ganz herzlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Trinity College Dublin. Die Fertigstellung des Bandes hat sich aus unterschiedlichen Gründen mehrfach verzögert. Den Autoren, die ihre Beiträge bereits vor drei bis vier Jahren eingereicht haben, sei für ihre große Geduld herzlich gedankt. Wir danken auch den beteiligten MitarbeiterInnen am Lehrstuhl Schiewer der Universität Freiburg i. Br. für die Erstellung der Druckvorlage und des Registers. Schließlich sei dem Max-Niemeyer-Verlag für die geduldige Betreuung des Bandes gedankt. Die Herausgeber
Einleitung
Die Erforschung des ›Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Neuzeit‹ hat ihren Schwerpunkt bisher fast ausschließlich auf der Untersuchung lateinischer Literatur, die von deutschen Dichtern verfaßt und in Deutschland entstanden ist, und berücksichtigt den Stellenwert des Humanismus in der deutschsprachigen Literatur kaum.1 Die Beiträge dieses Bandes, die auf das XVIII. Anglo-German Colloquium 2003 in Hofgeismar zurückgehen, versuchen eine Neuorientierung und richten die Aufmerksamkeit vor allem auf den ›deutschsprachigen‹ Humanismus. Der Einfluß der programmatischen, notwendig mit einer Konzentration auf das Lateinische verbundenen Rückwendung zur Antike auf die Volkssprachen wird dabei zum zentralen Problem. Daß der Humanismus ganz überwiegend an (lateinisch gebildete) gelehrte Zirkel gebunden ist, wirft für die deutschsprachige Literatur die Frage auf, wie er hier überhaupt greifbar wird und inwieweit allgemeine Charakteristika des Humanismus als heuristisches Instrumentarium brauchbar sind:2 – Der Humanismus interessiert sich für den Menschen, wie er »in der Geschichte und vor allem in den Texten der Antike Realität gewonnen hat.«3 – Er zeichnet sich durch eine kritische Haltung zur Tradition aus und strebt danach, das in der Gegenwart und den vorangehenden Jahrhunderten verlorene oder verfälschte antike Erbe im Rückgriff auf die Quellen (ad fontes) wieder zu entdecken. Die so motivierte Erschließung antiker Tex1
2
3
Vgl. Herbert Jaumann, Humanismus2, 3RLW II, S. 95–100, hier S. 97–99; signifikant ist auch der Schwerpunkt auf lateinischen Werken in der Literaturgeschichte von Hans Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Erster Teil: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance (1370–1520). München 1970 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, IV/1); zum deutschen Humanismus in lateinischer Sprache zuletzt etwa Jörg Robert, Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konzeption von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003. Vgl. Herbert Jaumann [Anm. 1], S. 95f. Außer acht bleiben hier die grundsätzlichen Probleme von Epochalisierungen. Wie unterschiedlich die Epochenwende in Italien und Deutschland inszeniert wird, zeigt Jörg Robert, Carmina peridium nulli celebrata priorum. Zur Inszenierung von Epochenwende im Werk des Conrad Celtis, PBB 124 (2002), S. 92–121. Jaumann [Anm. 2], S. 95.
XII
Einleitung
te durch Editionen, Kommentare und Übersetzungen erweitert das Spektrum der bekannten antiken Überlieferung beträchtlich. – Charakteristisch für den Humanismus ist das »Bewußtsein einer epochalen Schwelle«,4 d. h. die Zuwendung zur Antike vollzieht sich im Bewußtsein des historischen Abstandes5 und »in Abgrenzung gegenüber einer vorausgehenden Epoche der Barbarei«.6 Erst unter dieser Bedingung kann die Antike als etwas Eigenes wahrgenommen werden. Die Antike dient dann nicht mehr primär als Stofflieferant, wobei die Stoffe und Figuren einer beliebigen Fragmentierung und heterogenen Deutungen unterzogen werden können.7 Die Beiträge dieses Bandes behandeln Begriff und Phänomen des Humanismus in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur. Anhand von Autoren, Gattungen und Rezeptionsphänomenen suchen die einzelnen Beiträger nach einer humanistischen Matrix in der deutschsprachigen Literatur, um den Begriff als Epochensignatur zu bestätigen oder zu problematisieren. Die Tauglichkeit als epistemische Leitkategorie wird auf den Prüfstand gestellt und vor einem weiten literarischen Spektrum diskutiert, in das die Wechselwirkungen mit der Romania und der lateinischen Leitkultur stets einbezogen werden. Die Einwirkung des Humanismus auf die deutsche Literatur ist vor allem auf zwei Ebenen aufzuspüren: auf der Materialebene im Sinne einer Bereitstellung vorher unbekannter Stoffe und Texte durch die Rückwendung auf die Antike und – noch wichtiger – in der allmählichen Modifizierung mittelalterlicher Traditionen durch humanistische Anregungen. Insbesondere drei Problemfelder treten in den Beiträgen in den Vordergrund: 1. das Problem, unter welchen Bedingungen und ggf. mit welchen Modifizierungen ›lateinischer‹ Humanismus mit seinem hohen intellektuellen Anspruch volkssprachlich zu vermitteln ist. Zu leisten ist dabei eine doppelte Übertragung: zwischen Latein und Volkssprache und zwischen der lateinischen Gelehrtenkultur und dem ganz anders geprägten, weniger elaborierten Bildungshorizont volkssprachlicher Rezipienten; 4
5 6 7
Walter Haug, Die Zwerge auf den Schultern der Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Kosellek, München 1987 (Poetik und Hermeneutik, 12), S. 167–194, hier S. 171. Vgl. Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, Frankfurt/Main 2 1996, S. 116. Haug [Anm. 4], S. 171. Zu ›Fragmentierung‹ und ›Heterogenität‹ als Kennzeichen mittelalterlicher Antikerezeption Manfred Kern, Einführung in Gegenstand und Konzeption, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. von Manfred Kern und Alfred Ebenbauer, Darmstadt 2003, S. IX-LVII, hier S. XXIII-XIX.
Einleitung
XIII
2. das Problem, wie die neu erschlossenen Stoffe und Texte rezipiert und verarbeitet werden. Hier ist zu untersuchen, ob die Antike als differente kulturelle Epoche wahrgenommen oder doch eher die assimilierende Tradition mittelalterlicher Antikerezeption weitergeführt wird;8 3. das Problem der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Humanismus, das hier als Frage nach der behutsamen und allmählichen Veränderung mittelalterlicher Traditionen unter humanistischem Einfluß virulent wird. Der bedeutende Einschnitt, den der Humanismus für die Übertragung klassischer und/oder lateinischer Texte im deutschsprachigen Raum markiert, steht in den Beiträgen zum ersten Themenfeld im Vordergrund. Zu berücksichtigen ist dabei sowohl die sprachliche Übertragung in der Übersetzungspraxis als auch die kulturelle Anpassung an einen veränderten Bildungshorizont. Ashcroft zeigt, daß Luthers Bibelübersetzung nicht ohne die Bibelkommentare und -paraphrasen des Erasmus denkbar ist. Luthers Formulierung du holdselige Maria etwa ist in ihrer Entstehung Erasmus verpflichtet, denn holdselig entspricht dem erasmischen gratiosa, das Erasmus dem gratificata der Vulgata als schöner und klassischer vorzieht. In der Rechtfertigung seiner Übersetzung verleugnet Luther jedoch seine Abhängigkeit von Erasmus und greift auf Argumente zurück, die auf die Idiomatik der Zielsprache Deutsch gemünzt sind. Erasmische sacra philologia und lutherischer Eifer um die Volkssprache treffen sich in der Bibelverdeutschung der Schweizer Reformer (1530), in der Leo Jud Luthers Übersetzungen überarbeitete und unter Zuhilfenahme des erasmischen Textes ergänzte. Daß viele Humanisten auf die zeitgenössische politische Ethik und Praxis Einfluß nehmen wollten, zeigt Hamm am Beispiel des ›Dulce bellum inexpertis‹ und der ›Querela Pacis‹ des Erasmus. Erasmus verbindet erstmals die neutestamentarische Friedenslehre mit dem antiken Erbe zu einer neuen Ethik. Dessen unmittelbare Relevanz macht die Mahnung in seinem Widmungsbrief an den neuen Bischof von Utrecht deutlich, er möge einen Frieden mit Frankreich nach Kräften befördern. Die deutschen Übersetzungen dieser Schriften durch 8
Vgl. Franz Josef Worstbrock, Deutsche Antikenrezeption 1450–1550. Teil 1: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren, Boppard am Rhein 1976 (Veröffentlichungen zur Humanismusforschung 1), S. 118, Nr. 298.; Simone Drücke, Humanistische Laienbildung um 1500. Das Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried, Göttingen 2001 (Palaestra 312); Annette Gerlach, Das Übersetzungswerk Dietrichs von Pleningen. Zur Rezeption der Antike im deutschen Humanismus, Frankfurt a. M. [usw.] 1993 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 25); Birgit Plank, Johann Sieders Übersetzung des ›Goldenen Esels‹ und die frühe deutschsprachige ›Metamorphosen‹-Rezeption. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Apuleius’ Roman. Tübingen: Niemeyer 2004. (Frühe Neuzeit, 92).
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Einleitung
Varnbüler (1474–1545) und Spalatin (1482–1545) vermitteln dann in einem zweiten Translationsschritt – und mit je spezifischen, die jeweilige politische Situation berücksichtigenden Akzenten der beiden Übersetzer – die erasmische Friedenslehre einer breiteren, deutschsprachigen Leserschaft. Daß der Humanismus unter anderem als eine pädagogische Reformbewegung zu verstehen ist, zeigt der Beitrag von Baldzuhn. Er zeichnet anhand der zahlreichen Handschriften und Drucke der ›Disticha Catonis‹ examplarisch nach, wie der Umgang mit einem kanonischen lateinischen Schultext das sich verschiebende Machtverhältnis zwischen Latein und Volkssprache innerhalb des Bildungswesens spiegelt. Während im späten 15. Jahrhundert Brant die in dieser Zeit noch häufige Zuhilfenahme deutscher Reimpaarverse als Stütze bei der Übersetzung des Lateins thematisiert, führt die Aufwertung der Volkssprache im 16. Jahrhundert zunächst zu einem Rückgang im Einsatz des Deutschen als bloße ancilla neben dem Latein. Aber Moter (1535), Fries (1551) sowie der Cordier-Übersetzer gestalten ihre deutschen Übersetzungen viel freier, so daß diese nun auch freistehend und gleichrangig neben dem Latein Gegenstand des Unterrichts werden können. Keine sprachliche, sondern eine kulturelle Übertragung antiker Texte zeigt Suerbaum in ihrer Analyse der ›Heroides Christianae‹ des Helius Eobanus Hessus (1514) vor dem Hintergrund der als bekannt vorausgesetzten Ovidschen ›Heroiden‹. Am Beispiel der Briefe in Hessus’ drittem Buch zeigt Suerbaum, wie die bei Ovid eher nebensächlichen Frauenfiguren von Hessus ins Zentrum des Interesses gerückt und umfunktioniert werden, wenn sie in einem neuen didaktischen Kontext zu Musterfiguren christlichen Glaubens und christlicher Ethik erhoben werden. Im Späthumanismus wird auch ein kulturpatriotisches Interesse für wiederentdeckte und als Belege für den sprachlichen Reichtum der Volkssprache gewertete mittelhochdeutsche Texte neu belebt. In seiner Untersuchung zweier früher Editionen und Kommentare mittelalterlicher Texte durch Goldast (›Paraenetica vetera‹, 1604) und durch Opitz (›Annolied‹, 1639) findet Dunphy fleißige Quellenarbeit auf einem vergleichsweise hohen Niveau. Er vermag ebenfalls zu zeigen, wie der spätere Herausgeber Opitz zum Teil Auslegungen aus Goldast schöpft, ihm aber nicht selten methodisch überlegen ist. Ein weites Spektrum unterschiedlicher Möglichkeiten im Umgang mit im 15. und 16. Jahrhundert neu erschlossenen Stoffen und Texten im Spannungsfeld von mittelalterlicher und humanistischer Antikerezeption zeigen die Fallstudien zum zweiten Problemkomplex: Steinmetz fragt nach dem Umgang Johann Geilers von Kaysersberg mit antiken und humanistischen Quellen und untersucht diese Frage exemplarisch an drei Predigten aus dem ›Narrenschiff‹-Zyklus, dessen Vorlage Brants ›Narrenschiff‹ und Lochners lateinische Fassung waren. Die Analyse zeigt, daß Geiler die Referenzen auf antike und humanistische Autoren signifikant vermehrt,
Einleitung
XV
dabei aber nicht direkt auf die Quellentexte zurückgreift, sondern die Zitate sekundär aus moraltheologischen und -philosophischen Werken übernimmt. Schmitt wendet sich mit Jörg Wickram einem der bedeutendsten deutschschreibenden Autoren des 16. Jahrhunderts zu und zeigt, daß weder in seiner ›Metamorphosen‹-Übersetzung noch in seinen Romanen eine humanistisch geleitete Rezeption der Antike stattfindet. Bildung und Belesenheit des Autors stehen ganz im Dienst einer mittelalterlichen Rezeptionstradition der Fragmentierung und Funktionalisierung. Die Kluft zwischen lateinischem Humanismus und volkssprachlicher Literatur wird nicht überbrückt. Kellners Anliegen ist die Bestimmung des Rezeptionsmodus, mit dem Fischart sich Franc¸ois Raberlais’ ›Gargantua‹ in seiner ›Geschichtklitterung‹ aneignet. Gerade in der Konfrontation von Thele`me mit Willigmut kulminiert die Destruktion humanistischer Leitvorstellungen der französischen Vorlage, denen gerade nicht das Interesse Fischarts gilt. Fischart ist hingegen besessen von der Körperlichkeit der Protagonisten und von dem sensorischen und affektiven Potential. Haferland sucht nach Spuren des Humanismus im urbanen literarischen Milieu. Als Ausgangspunkt wählt er die ›Chronik‹ des Augsburger Schuhmachers Sebastian Fischer. Signifikant ist dabei die Weltaneignung durch Erfahrung und das Bemühen um gelehrte Unterweisung und Unterfütterung der eigenen Darstellung, die sich u. a. im Rückgriff auf Felix Fabri und Polydorus Vergilius zeigen. Aufgrund dieser Indizien sieht Haferland sich legitimiert, von einem Handwerker-Humanismus zu sprechen. Der Beitrag von Shields spürt ausgehend von Erasmus’ ›Moriae encomion‹, den ›Epistolae obscurorum virorum‹ und Michael Lindeners ›Katzipori‹ dem Bild des Humanisten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach. Dabei bleiben die Charakeristika des ›Humanisten‹ eher undeutlich. Sie werden vor allem ex negativo gewonnen, aus der Abgrenzung von den ‹Dunkelmännern‹ als denjenigen, die oberflächlich an der Wahrung überkommener, häufig ihrer Inhalte entleerter Formen interessiert seien. Die größtenteils fehlende positive Charakterisierung des ›Humanisten‹ könnte auf Schwierigkeiten hinweisen, ›humanistische‹ Identität sozial zu etablieren. Mertens erinnert daran, dass der ›Humanismus‹ kein Monolith ist, sondern aus vielen Teilphänomenen besteht. In der Musik setzt der Humanismus selbst in Italien erst recht spät ein, mit Nicola Vicentinos Versuch von 1555, die metrischen und harmonischen Mittel der altgriechischen Musik für die Gegenwart brauchbar zu machen. Für deutsche Humanisten dieser Zeit hingegen gehörte die Musik noch nicht zur Sphäre des kulturell wichtigen Wissens eines Gebildeten, sondern galt als Privatangelegenheit. Was gesungen wurde, stand auch noch nicht unter dem Einfluß der neuen Formen aus anderen Ländern: man sang noch vorwiegend deutschsprachige Lieder. Bei der internationales Liedgut zusammenführenden Sammlung des deutschen Humanisten Hartmann Schedel
XVI
Einleitung
(1440–1514) gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass sie für die Aufführung je gebraucht wurde. Hingegen besteht die offenbar sehr wohl in der Praxis gebrauchte Liedersammlung eines Felix Platter (1536–1624) durchweg aus deutschsprachigen (auch ins Deutsche übersetzten) Liedern. In einer dritten Gruppe von Beiträgen wird die Modifizierung mittelalterlicher Traditionen unter dem Einfluß der humanistischen Bewegung unter verschiedenen Blickwinkeln herausgearbeitet. Das geschieht auch mit dem Ziel, die Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Humanismus stärker zu konturieren. Konrad von Querfurt und dessen Reisebrief stehen im Zentrum des Beitrags von McFarland, der sich dem Humanismus des 12. Jahrhunderts zuwendet, aber ebenso nach der Qualität der Rezeption der Antike fragt, wie es die Beiträge zum 15. und 16. Jahrhundert tun. Es zeigt sich im lateinischen Milieu, was später für die deutschsprachige Literatur gilt: Antike wird funktionalisiert, instrumentalisiert und assimiliert. Exemplarisch steht dafür der Magus Vergil und dessen neapolitanische Tradition, dessen Rezeption noch Spuren im ›Parzival‹ Wolframs hinterließ. Programmatisch geht Bauschke den Schwierigkeiten, die mit der Bestimmung der Epochengrenze zwischen Mittelalter und Renaissance verbunden sind, am Beispiel des in der Forschung oft dem Frühhumanismus zugerechneten Johann von Neumarkt nach. An seiner deutschen Übersetzung der ›Hieronymus‹-Briefe, die zwar formal und stilistisch vielfach auf den Humanismus verweisen, in anderer Hinsicht – vor allem in der Verwendung der Antike als ›Steinbruch‹ – in mittelalterlicher Tradition stehen, zeigt Bauschke, daß diese Einschätzung zu revidieren ist, und plädiert gleichzeitig für einen ›engen‹ Humanismusbegriff. Mit der in literarischen Texten des 14. Jahrhunderts greifbar werdenden Konstitution eines vormodernen Bewußtseins, in dem das Wissen um die Kontingenz des irdischen Daseins in den Vordergrund tritt, beschäftigt sich der Beitrag von Stolz. Mit Petrarcas Brief über die Besteigung des Mont Ventoux und Heinrich Seuses ›Vita‹ analysiert Stolz zwei literarische Rezeptionen des conversio-Modells aus Augustins ›Confessiones‹, die sich insbesondere in der Gestaltung der religiösen Imitatio unterscheiden: Bei Petrarca fehlt sie, bei Seuse wird sie am Beispiel der Elsbeth Stagl detailliert vorgeführt. Dicke verfolgt die Geschichte der in Humanismus und Renaissance zum Ideal erhobenen Tugend der facetudo ins lateinische und volkssprachliche Mittelalter zurück und zeigt auf, daß sie, in scholastischen Schriften kontrovers beurteilt, als Eigenschaft von Bischöfen und Herrschern durchaus schon Konjunktur hatte – unter der Voraussetzung, daß das rechte Maß gewahrt blieb. Auch wenn es im Deutschen anders als im Italienischen, Französischen und Englischen kein begriffliches Äquivalent für den vir facetus gab, spricht vieles dafür, daß es diesen Typus der Sache nach dennoch gegeben hat.
Einleitung
XVII
Der Beitrag von Reuvekamp konzentriert sich auf das außergewöhnliche Profil der ›Proverbia Germanica‹ Heinrich Bebels (1508), die den Versuch machen, humanistische Latinität mit nationalen Eigenarten zu unterfüttern, so daß aus einer deutschen Leitkultur heraus der Entwurf eines nationalen Humanismus in lateinischer Sprache ablesbar wird. Dieses Anliegen spiegelt sich auch in den Überlieferungssymbiosen, die die ›Proverbia‹ u. a. mit den ›Facetien‹ verknüpfen und so humanistische Stilideale und grobianische Gegenstände kombinieren. Dietl untersucht am Beispiel von Erasmus von Rotterdam, Agrippa von Nettesheim, Johannes Reuchlin und der humanistischen Rezeption des mittelalterlichen Schwankromans den humanistischen Umgang mit Schauspiel- und Schwankmotiven. Im Unterschied zum Mittelalter, in dem der Schwankheld hauptsächlich zum Nutznießer wird, ohne daß der für seinen Erfolg maßgebliche Betrug aufgedeckt würde, stehen im Humanismus gerade das Bewußtmachen von Täuschung und Trug und die Frage nach ihrer sprachlich-literarischen Vermittlung im Vordergrund. Volfing rückt das ›Ehebüchlein‹ Albrechts von Eyb in den Mittelpunkt ihres Interesses, und zwar unter dem Aspekt der textsortenspezifisch determinierten Diskursebenen, die Albrecht in seiner Kompilation verbindet. Volfing versteht dabei das Weinwunder der Hochzeit zu Kana als poetologisch-programmatische Positionsbestimmung, denn es ist eine Metapher für den Schreibprozeß, der ebenso wie Jesus nicht ex nihilo schafft, sondern eine integrative Metamorphose verschiedener Textsorten ist. Auch wenn sich, wie bei Hans Folz, keine Verbindungslinien zwischen einem deutschsprachigen Autor und dem Humanismus ziehen lassen, kann es gemeinsame thematische Schwerpunkte geben, die freilich sehr unterschiedlich aktualisiert werden. Coxon zeigt das am Zusammenhang von Gelächter und Gesundheit im ›Quacksalber‹ des Hans Folz, den er vor dem Hintergrund der humanistischen Auffassung von der gesundheitsfördernden Wirkung des Lachens betrachtet. Mit der humanistischen Praxis der Dichterkrönung in Deutschland und England um 1500 beschäftigt sich Flood. Er präsentiert bildliche Darstellungen von poetae laureati und zeigt, daß die Auszeichnung von den gekrönten Dichtern und von der Umwelt unterschiedlich bewertet wird. Die in diesem Band zusammengebrachten Beiträge fragen also aus zahlreichen Blickwinkeln nach dem ›Humanistischen‹ in Texten der deutschsprachigen Literatur vom 12. bis zum 17. Jahrhundert. Dabei wird die Vielfalt von – auch in ihrer Intensität – sehr unterschiedlich ausgeprägten humanistischen Spuren deutlich; ein einheitliches Profil ergibt sich dabei nicht. Als Epochenbegriff erscheint ›Humanismus‹ für die deutschsprachige Literatur eher problematisch: Die Verarbeitung antiker Quellen in der Volkssprache geschieht oft noch deutlich unter dem Einfluß mittelalterlicher Traditionen; häufig werden humanisti-
XVIII
Einleitung
sche Elemente der Quellentexte sogar mehr oder weniger bewußt abgebaut. Teils gelingt die doppelte – sprachliche wie kulturelle – Übertragung aus dem Lateinischen in die Volkssprache gut, teils kaum oder gar nicht. Eine Reihe der Beiträge (Mertens, Shields, Haferland, Dicke, Coxon und Flood) etabliert die soziale Identität des ›Humanisten‹ als zentrales Thema – neben Fragen nach humanistischen Gattungen, humanistischem Umgang mit Quellen, humanistischem ›Kulturpatriotismus‹ sowie humanistischer Ethik und Pädagogik. Die Herausgeber
Jeffrey Ashcroft
Humanismus und volkssprachliche Bibel in der frühen Reformation1
Von Ostern bis Ende September 1530 hielt sich Martin Luther auf der Veste Coburg auf, in möglichster Nähe zum Augsburger Reichstag, aber noch innerhalb der Grenzen Kursachsens, damit er Kurfürst Georg beraten konnte, ohne den 1521 über ihn verhängten kaiserlichen Bann zu verletzen. Sein schlechter Gesundheitszustand hemmte seine übliche Schreibwut. Immerhin vermochte er die Übersetzung der prophetischen Bücher des Alten Testaments voranzutreiben, mit der Äsop-Übertragung einen Anfang zu machen und seine wie immer rege Korrespondenz, vor allem mit Philipp Melanchthon über die Ausarbeitung des Augsburger Bekenntnisses, zu führen.2 Gegen Ende seines Aufenthalts schrieb Luther an Konrad Cordatus: Die ganze Zeit, die ich hier bin, ist mir fast zur Hälfte in lästigem Nichtstun verloren gegangen, so heftig und hartnäckig war das Brausen und Toben, das meinen Kopf peinigte wie ein großer Wirbelsturm. Lieber Cordatus, wäre das nicht gewesen, hätte ich sicherlich alles zu Ende gebracht, was ich mir noch für den Rest meines Lebens vorgesteckt hatte. Nun aber muß ich stückchenweise Traktätlein herausgeben, um nicht ganz untätig zu sein.3
Einer dieser commentarioli war der ›Sendbrieff von Dolmetzschen und Fürbit der heiligenn‹, der vor Ende 1530 in einer von Wenzeslaus Linck besorgten Nürnberger und in zwei Wittenberger Ausgaben erschien.4 Was Luther dazu 1
2
3
4
Mein Dank gilt der Bibliothek der Universität St Andrews, der British Library und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB) sowie der Stiftung Carnegie Trust for the Universities of Scotland, die einen Forschungsurlaub an der HAB großzügig subventionierte. D. Martin Luther: Die Gantze Heilige Schrift Deudsch, Wittenberg 1545, hg. von Hans Volz, München 1972, S. 72*f. Die Weimarer Luther-Ausgabe enthält 181 Briefe aus der Zeit, 115 von Luther und 66 an Luther geschriebene, darunter 27 von Melanchthon. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff. [WA], Briefe, Bd. 5, Nr. 1552–1733. WA, Briefe, Bd. 5, Nr. 1724, S. 632f.: Totum hoc tempus, quo hic fui, pæne dimidium periit mihi otio molestissimo, tam violentius et pertinacius caput meum oppressit et vexavit tinnitus seu bombus potius ventorum turbini similis. Mi Cordate, quod nisi fuisset, forte omnia absolvissem, quæ in reliquio vitæ meæ cursu absolvere cupiebam. Nunc cogor frustillatim edere commentariolos, ne totus otiosus sim. Zitiert nach der Nürnberger Ausgabe A: Ein sendbrieff D. M. Lutthers. Von Dolmetzschen¯ vnd Fürbit der heiligenn. M. D. XXX., hg. von Karl Bischoff, Halle 1951 [im folgenden zitiert als: ›Sendbrieff‹].
2
Jeffrey Ashcroft
veranlaßte, war zunächst die Überarbeitung des Neuen Testaments von 1522, die er gegen Ende 1529 mit der Hilfe Melanchthons vollendet hatte. Nicht unwichtig war wohl auch die Erinnerung an einen vergleichbaren Aufenthalt: die Monate, die er 1521–1522 nach dem Wormser Reichstag auf der Wartburg verbringen mußte. Mehrere auf der Veste Coburg geschriebene Briefe, wie auch die Drucke vom ›Sendbrieff‹ selbst, verraten diese Assoziation, indem Luther sowohl 1530 wie damals 1521–1522 seinen Verbleib verschlüsselt angibt, wenn er behauptet, ex Eremo, »aus der Wüste« zu schreiben.5 Obwohl mitten in der langen Phase alttestamentlicher Übersetzungsarbeit verfaßt, behandelt der ›Sendbrieff‹ vier problematische Stellen aus dem auf der Wartburg entstandenen ›Neuen Testament‹. Nur einmal zieht Luther einen stützenden Beleg aus dem Alten Testament heran, und zwar aus dem Anfang 1530 übersetzten Buch Daniel. Der ›Sendbrieff‹ blieb neben den ›Summarien vber die Psalmen vnd Vrsachen des Dolmetschens‹ aus den Jahren 1531–15336 Luthers einzige eingehende Erörterung der Methodik seines Übersetzens. Eine sofort kontroverse Stelle in Luthers ›Neuem Testament‹ von 1522 war seine Übertragung von Lc 1,28, Gabriels Begrüßung der Jungfrau Maria: vnd der Engel kam zu yhr hyneyn, vnd sprach, Gegrusset seystu holdselige (WA, Deutsche Bibel, Bd. 6, S. 210). Der hartnäckigste Kritiker des ›Septembertestaments‹, Luthers ehemaliger Lehrer in Erfurt, Hieronymus Emser, veröffentlichte 1523 einen Traktat, der die Verbannung des Testaments durch Herzog Georg von Sachsen rechtfertigen sollte.7 Emser behauptet, Luthers holdselig sei ein krasser Lapsus in Hinsicht auf Stil und Dekorum und gehöre überdies zu den viertzehenhundert ketzerlichen jrthumb, die er im ›Septembertestament‹ aufgedecket haben wollte, denn gratia im Text der ›Biblia Vulgata‹ (Ave, gratia plena) sei kein menschliches Attribut der Jungfrau, sondern bezeichne sie als die von Gott Auserwählte: e
e
Tewtschet Luther dise wort auff gut bulerisch namlich. Gegrusset seyest du holdselige. wiewol nu gratia zu weylen ouch huld heyst oder gunst die einer bey den lewten hat. vnd gratiosus holdselig. so hat doch der engel hie nit geredt von menschlicher huld. sonder von der gnad gotes. vnd Maria die ehr vnd wirdikeyt / das sie werden solt ein mutter gottes. nit auß menschlicher holdselikeyt / sonder auß gottes gnaden gehabt. Derhalben wir diß orts nit du holdselige / sonder du vol genaden lesen / vnd e betten sollen. dann die gnaden die Eua vorschut / hat / Maria vns wider erhollet / vnd ist die maledeyung Eue / jn die benedeyung Marie bekert worden.
5 6 7
Siehe z. B. WA, Briefe, Bd. 2, Nr. 445f. und Bd. 5, Nr. 1574, 1578; ›Sendbrieff‹, S. 34. Volz [Anm. 2], Bd. 3, Anhang und Dokumente, S. 250*–257*. o Auß was grund vnnd vrsach Luthers dolmatschung / vber das nawe testament / dem gemeinen man billich vorbotten worden sey. Mit scheinbarlicher anzeygung / wie / wo e vnd an wolchen stellen / Luther den text vorkert / vnnd vngetrewlich gehandelt / oder mit falschen glosen vnd vorreden auß der alten Christelichen ban / auff seyn vorteyl vnd whan gefurt hab, Leipzig 1523, hier S. iija und xlb.
Humanismus und volkssprachliche Bibel in der frühen Reformation
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Emser scheint hier darauf hinweisen zu wollen, daß Luther ein sowohl semantischer als auch theologischer Fehlschluß unterlaufen sei, indem er lateinisch gratia nicht auf Gottes Huld, sondern auf Marias anmutiges Wesen bezieht. Freilich haftet im Lateinischen dem Substantiv gratia und dem Adjektiv gratiosus tatsächlich die gleiche semantische Ambiguität an wie im Deutschen dem Substantiv huld und dem Adjektiv holdselig. Die Substantiva bezeichnen die »gnädige, geneigte Gesinnung« sowohl Gottes als auch der Mitmenschen, die Adjektive bedeuten sowohl »freundlich gesinnt« als auch »freundlich und angenehm in der Erscheinung«.8 Luther habe, so Emser, den Gruß des Engels gleichsam säkularisiert. Im ›Sendbrieff‹ verteidigt sich Luther gegen Emsers Vorwurf zunächst mit einer Kritik an der herkömmlichen, von Emser zitierten Übersetzung des lateinischen Grußes in der ersten gedruckten deutschen Bibel. In den vier letzten, von 1487 bis 1518 in Augsburg verlegten Ausgaben heißt es: Gegrüsst seistu vol genaden. 9 Sage mir aber, fragt Luther rhetorisch, ob solchs auch gut deutsch sey? Wo redet der deutsch man also / du bist vol gnaden? Und welcher Deutscher verstehet / was gsagt sey / vol gnaden? Er mus dencken an ein vas vol bier / oder beutel vol geldes. Ins beste Deutsch übersetzt, hätte Gabriel erst recht auff gut bulerisch gegrüßt: Gott grusse dich du liebe Maria (denn so vil wil der Engel sagen / vnd so wurde er geredt haben / wan er hette wollen sie deutsch grussen). Der Übersetzer habe aus dem Wortschatz der Zielsprache den Ausdruck zu wählen, der nicht schlecht den lateinischen buchstaben nach verdeutschet, sondern vermittelt, was der engel meinet mit seinem grus. Wortwahl ist Sache eie gener Entscheidung: ich wil aber auch verdeutschen / nicht wie sie wollen / sonder wie ich wil, und ich wil sagen / du holdselige Maria / du liebe Maria. Lieb sei nun ein Wort, das für Deutsche eine Resonanz habe, die dem Papierlatein abgehe, das also dringe vnd klinge ynns hertz / durch alle sinne (›Sendbrieff‹, S. 18–20). Von dieser in modernen Kommentaren gern als ›linguistisch‹ bewerteten Argumentation10 geht Luther nun ins Humanistisch-Philologische über. Das eigentlich zu übersetzende neutestamentlich-griechische Wort sei kecharitomeni (κεχαριτοµε νη), das Lukas als ein meister in Hebreischer vnd Greckischer sprache für das Hebreisch wort / so der Engel gebraucht [.. .] treffen vnd deutlich geben wollte. Aus dem Buch Daniel wüßten wir aber, wie Gabriel zu grüßen 8
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Vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, Sp. 1739f., 1886f.; A Latin Dictionary, hg. von Charlton T. Lewis/Charles Short, Oxford 1879, S. 826 (zu gratiosus); Mediae Latinitatis Lexicon Minus, hg. von J. F. Niermeyer/C. van de Kieft, bearb. von J. W. J. Burgers, Leiden 2002, S. 619f. Zitiert nach: Die erste deutsche Bibel, hg. von Wilhelm Kurrelmeyer, 10 Bde., Tübingen 1904–1915, hier Bd. 1, S. 197. Vgl. Birgit Stolt, » . . . und fühl’s im Herzen . . .« Luthers Bibelübersetzung aus der Sicht neuerer Sprach- und Übersetzungswissenschaft, Zeitschrift für Theologie und Kirche 98 (2001), S. 186–208.
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pflegte: Vnd denck mir der Gabriel habe mit Maria geredt / wie er mit Daniel redet / vnd nennet jnn Hamudoth vnd Isch Hamudoth / vir desideriorum / das ist / du liber Daniel. Denn das ist Gabrielis weise zu reden. Auch hier scheiterten die älteren Übersetzer mit dem ebenso absurden wie falschen Daniel du man der begirungen. Erst aus der Zusammenschau beider Textstellen ergibt sich, wie der Deutsche man solchs redet / welchs der Ebreische man isch Hamudoth redet, nämlich: Du lieber Daniel / du liebe Maria / oder du holdselige ma[g]d / du [niedliche]11 junckfraw / du zartes weib / vnd der gleichen. Denn wer dolmetzschen wil / mus grosse e vorrath von worten haben / das er die wol konne haben / wo eins an allen orten nicht lauten will (›Sendbrieff‹, S. 20).
Mit ureigener Leidenschaftlichkeit vertritt Luther hier zwei wesentliche Ansätze seiner Übersetzungspraxis: Übertragung nach dem Sinn, nicht Wort-fürWort, und eine biblische Volkssprache, deren vollige Deutsche klare rede sich nach vnser deutschen sprachen art richtet (›Sendbrieff‹, S. 16, 28). Das dem Wort Gottes, geschweige denn dem Erzengel, angemessene Idiom ist eine Sprache, die der Deutsche man versteht und gebraucht, die die Grundlage bietet für eine Bibelsprache, deren sakraler Wortschatz nicht schlecht den lateinischen buchstaben nachgebildet ist, sondern die Vielfalt und Polysemie der deutschen Lexik, die Mehrdeutigkeit säkularer und religiöser Bedeutungen ausnutzt.12 Trotzdem bietet Luthers Argumentation einige Angriffsflächen. Er verspottet die Übersetzung vol genaden als unidiomatisch: welcher Deutscher verstehet / was gsagt sey / vol gnaden? Aber im gleichen Kapitel des Lukas-Evangeliums heißt es auch im ›Septembertestament‹: Elisabet wartt des heyligen geysts voll; Io 1,14 wyr sahen seyne herlickeyt [.. .] als des eyngepornen sons vom vatter, voller gnade vnd warheyt; in der Apostelgeschichte VI,5 heißt Stephanus eyn man voll glawbens vnd heyliges geysts (WA, Deutsche Bibel Bd. 6, S. 212, 326, 438). William Tyndale, der sein ›New Testament‹ zum Teil in Wittenberg übersetzte und sonst meist Luthers Text nahesteht, folgt in Lc 1,28 der ›Vulgata‹: And the angell went in vnto her, and sayde: Hayle full of grace, the Lorde is with the.13 Das Problematische an diesem Vers ist nicht die adäquate Über11 12
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Die Druckfehler mad und medliche im Nürnberger Druck A sind anhand des Wittenberger Drucks B korrigiert worden. Die amerikanische Übersetzung von Luthers Schriften kennt überhaupt keine stilistische Hemmung und läßt den Engel mit »a meaningless formal term of common familiarity« grüßen, nämlich: Hello there, Mary. Siehe Birgit Stolt, On translating Ave Maria as »Hello there, Mary«, Lutheran Quarterly 12 (1998), S. 105–107. Der englische Balladendichter Charles Causley verfährt ähnlich: Mary stood in the kitchen / Baking a load of bread, / An angel flew in through the window. / ›We’ve a job for you‹, he said. Siehe Susan Hill, Joking apart, The Guardian Review, 15. November 2003, S. 34. The Newe Testament dylygently corrected and compared with the Greke By Willyam Tindale [...], Antwerpen 1534. Zitiert nach: The New Testament translated by Wil-
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tragung der Formulierung plena gratia in der ›Vulgata‹, sondern die Tatsache, daß plena gratia, wie Luther höchstens impliziert, an sich schon eine Fehlübersetzung des griechischen Quellentexts ist.14 Dem griechischen Wort κεχαριτοµε νη entspricht im Lateinischen eher gratificata oder gratiosa, das (wie Emser andeutet) Luthers holdselig zugrundeliegt. Nicht die art vnser deutschen sprache also, sondern ein Textfehler in der ›Vulgata‹ schließt in erster Linie die Übersetzung vol gnaden aus, welche Luther in Io 1,14 durchaus brauchbar findet. Tatsächlich scheint es Luther vielmehr darum zu gehen, die nicht gewählte Übertragung du liebe Maria anstatt der 1522 bevorzugten und in allen darauffolgenden Druckfassungen stets beibehaltenen du holdselige zu rechtfertigen. Auch der Rückgriff auf das philologische Argument, neutestamentliches κεχαριτοµε νη setze alttestamentliches hamudoth voraus, soll die Übersetzung du liebe Maria stützen. Hinter der Berufung auf Dn 10,11 steht ohnehin eher eine aus vorhumanistischer Auslegungsmethode schöpfende Suche nach Analogien zwischen verwandten Textstellen, die im wesentlichen das gleiche Verfahren ist, das in der ›Vulgata‹ in Lc 1,28 gratia plena als Analogiebildung zu repleta Spiritu sancto (Lc 1,41) oder plenum gratiae (Io 1,14) ergibt, statt etwa gratificata aus κεχαριτοµε νη herzuleiten.15 Luther kam nicht von alleine auf seine Übersetzung des englischen Grußes. Isoliert auf der Wartburg im Frühjahr 1522, auf seine eigenen, noch begrenzten Griechischkenntnisse angewiesen, war Luther weitgehend von einem Schlüsseltext abhängig, dem ›Novum Testamentum‹ des Erasmus, das nebeneinander einen wissenschaftlich fundierten griechischen und einen gegenüber der ›Vulgata‹ stark revidierten lateinischen Text abdruckte.16 Luther übersetzte das ganze
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liam Tyndale 1534. A Reprint of the Edition of 1534 [...], hg. von Norbert Hardy Wallis, Cambridge 1938, S. 124. Andererseits bevorzugten die Kompilatoren der ›Authorised Version‹ der englischen Bibel (1611) das ›lutherische‹: thou that art highly favoured. Vgl. Jerry H. Bentley, Humanists and Holy Writ. New Testament Scholarship in the Renaissance, Princeton 1983, S. 169f. Zur ›Parallelstellenauslegung‹ vgl. Georg Steer, Intentionen der Bibelübersetzung im deutschen Spätmittelalter bei Martin Luther und den Katholiken des 16. Jahrhunderts, Text und Kritik 14, Sonderbd. Martin Luther (1983), S. 5–61, hier S. 60f. Novvm Testamentvm Omne [...] ab Erasmo Roterodamo recognitum, emendatum ac translatum [...], 2 Bde., Basel 1519, zweite Auflage des Novum Instrumentum omne, Basel 1516. Siehe Heinz Bluhm, The Sources of Luther’s ›Septembertestament‹. Galatians, in: Luther for an Ecumenical Age, hg. von Carl S. Meyer, St. Louis 1967, S. 144–171; Heinrich Bornkamm, Luther. Gestalt und Wirkung, Gütersloh 1975 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 188), S. 68–73; Martin Brecht, Beobachtungen über die Anfänge von Luthers Verhältnis zur Bibel, in: Text – Wort – Glaube. Studien zur Überlieferung, Interpretation und Autorisierung biblischer Texte, Berlin/New York 1986 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 50), S. 234–254, hier S. 248–252; Werner Schwarz, Principles and Problems of Bible Translation. Some Reformation Controversies and their Background, Cambridge 1955, S. 190–203; ders., Studies in Luther’s Attitude towards Humanism, Journal of Theological Studies 6 (1955), S. 66–76, hier S. 72–76.
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Neue Testament in elf Wochen. Während dieser Zeit schrieb er ferner seine ›Adventspostille‹ zu Ende und verfaßte zwei weitere kurze Abhandlungen. Er schrieb Erasmus keineswegs unkritisch ab, aber manches übernahm er. Im lateinischen Text des Lukas-Evangeliums lautet bei Erasmus der Gruß Gabriels: Ave gratiosa. In seinem Kommentarband, den ›Annotationes‹, führt Erasmus weiter aus, was er in der ersten humanistischen Textkritik zur ›Vulgata‹, Lorenzo de Vallas ›Adnotationes‹ vorfand.17 Der ›Vulgata‹-Text ersetzt durch die Nominalphrase gratia plena das griechische Verbpartizip κεχαριτοµε νη. Diesem entspricht Lateinisches gratificata,18 vorzuziehen sei aber das klassische, bei Cicero belegte gratiosa. In Erasmus’ Evangelien-Paraphrase aus dem Jahr 1522 lautet der Vers: Aue [.. .] et gaude uirgo gratiosa et fauorabilis. Dominum habes tibi fauentem et propitium.19 Wie Hieronymus Emser erraten hat (gratia zu weylen ouch huld heyßt [. ..] vnd gratiosus holdselig), stammte Luthers Übersetzung zunächst aus dem lateinischen Text bzw. dem Kommentar des Erasmus. Gewählt hat Luther freilich nicht das theologisch eindeutige gratificata, sondern gratiosa, das wie die Übersetzung holdselig mehrdeutig ist und auch gut bulerisch gemeint sein und verstanden werden kann. Erasmus hat allerdings gewissermaßen das letzte Wort gehabt: In der heutigen, dem modernen Sprachgebrauch angepaßten ›Luther-Bibel‹, sagt der Engel: »Sei gegrüßt, du Begnadete«.20 Emser verwirft Luthers holdselig, weil der engel hie nit geredt von menschlicher huld. sonder von der gnad gotes. Erasmus dagegen will nachweisen, daß gratiosa auch im weltlichen Wortgebrauch der Antike ein Höheres, Geistiges konnotiert.21 Gabriels Gruß sei einmalig in der Heiligen Schrift, daher eben erschrack [Maria] vber seyner rede / vnd gedacht / wilch eyn grus ist das (Lc 1,29). Daß weder Luther noch Emser angeben, was sie Erasmus verdanken, ist nicht weiter verwunderlich. Luthers Verhältnis zu Erasmus war 1530 längst ein gestörtes. Emser verteidigt die alte rechte ware Bibel gegen die neue Textkritik.22 Johann Eck, der Emsers theologisch gereinigte Fassung des ›September17
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Eingesehen wurde die Ausgabe: Laurentii Vallæ, viri tam Graecæ quam Latinæ linguæ doctissimi, in: Nouum Testamentum Annotationes, Basel 1541, hier S. 68v. Zu Valla: Bentley [Anm. 14], S. 34–63; Heinz Holeczek, Humanistische Bibelphilologie als Reformproblem bei Erasmus von Rotterdam, Thomas More und William Tyndale, Leiden 1975 (Studies in the History of Christian Thought 9), S. 79–93. Nec est gratia plena, sed ut ad verbam reddam Gratificata, Novum Instrumentum [Anm. 16], S. 318. In Evangelivm Lvcæ Paraphrasis Erasmi Roterodami, per auctorem recognita, Basel 1523, S. b4r. Schon ab 1531 korrigiert die Zürcher Bibel den Text Luthers im erasmischen Sinne: e »Bis gegrust du begnadete«. Siehe unten Anm. 88. Hinzu kommt, daß »the Greek text did not anticipate medieval categories of grace« (Bentley [Anm. 14], S. 169f.). So bezeichnet Johann Dietenberger, Biblia beider Allt vnnd Newen Testamenten [...], Mainz 1534, Vorred an den leser, S. 4r, das von Menschen tandt gereinigte GottesWort der Luther-Gegner.
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testaments‹ in seine deutsche Vollbibel übernahm, versichert dem Leser, er habe es bei seiner [Emsers] translation lassen bleiben: Allain [.. .] wo er ain lümpli o auß Erasmus translation hin zu than / dar von vnser heilig Christlich kirch nichte waißt / das hab ich geendert herauß gestochen vnd radiert.23 Während du holdselige den mehrdeutigen Sinn des erasmischen gratiosa trifft, gilt das kaum für Luthers eigentlich bevorzugte Übersetzung: du liebe Maria. 1522 hatte er wohl noch nicht die philologische Kompetenz, um die Analogie mit Gabriels Gruß an Daniel herzustellen. Zwar verfügte er schon über eine hebräische Bibel und die lateinische Übersetzung des Felix Pratensis, aber auch mehrere Jahre später, während der Arbeit am Alten Testament, gibt er zu, sich im Hinblick auf die hebräische Sprache auf den Wittenberger Experten Aurogallus verlassen zu haben (›Sendbrieff‹, S. 14). Die Übertragung des Buchs Daniel Anfang 1530 war die neueste Leistung Luthers und seiner Mitarbeiter, unmittelbar vor seiner Abreise nach Coburg; das argumentum analogicum, das von Gabriels hebräischem Gruß an Daniel her auf seinen griechischen Gruß an Maria schließen lassen soll, dürfte somit neueren Datums sein.24 Nicht auszuschließen ist aber, daß Luther auch hier von Erasmus abhängig ist. In der 1523 erschienenen Paraphrase des Lukas-Evangeliums stellt sich der Engel dem Priester Zacharia vor: Ego enim sum angelus ille Gabriel, olim missus ad Danielem prophetam, qui inter septem praecipuos cœli ministros, semper assisto in conspectu dei, paratus ad omne obsequium divinæ voluntatis.25 Trotz des philologischen Befunds, der die Übersetzung holdselig veranlaßte, zieht Luther das in erster Linie theologisch begründete du liebe Maria vor und versucht, seine Präferenz durch Argumente der sacra philologia und der volkssprachlichen Idiomatik zu erhärten. Er mag auch erkannt haben, daß holdselig kaum ein Wort aus dem Volksmund war. Ohnehin eine Neuschöpfung erst des 15. Jahrhunderts, wurde es tatsächlich nie volkstümlich, sondern blieb auf die Literatursprache beschränkt und gilt seit bald nach 1800 als veraltet.26 Schon in den ersten Monaten des Aufenthalts auf der Wartburg, bevor sich Luther zu seiner Bibelübersetzung entschloß, hatte er das Manuskript eines kleinen Werkes, seine Übersetzung und Auslegung des Magnificats, vollendet, 23
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Johann Eck, Bibel Alt vnd new Testament nach dem Text in der hailigen Kirche gebraucht [...], Ingolstadt 1537, S. aiiir. Eck bezieht sich auf Hieronymus Emser, Das naw testament nach lawt der Christlichen kirchen bewerten text corrigirt vnd widerumb zu recht gebracht, Dresden 1527. Zu Ecks Prolog und seiner Erasmus-Kritik: Jürgen Quack, Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung, Gütersloh 1975 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 43), S. 34–36; Bentley [Anm. 14], S. 181. Volz [Anm. 2], S. 125*. Wie Anm. 19, S. b2r. In Erasmus’ lateinischem Bibeltext lautet die Stelle: Ego sum Gabriel, qui asto ante deum, et missus sum ut loquor ad te. Vgl. Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, bearb. von Helmut Henne [u. a.], Tübingen 2002, S. 482.
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das sein Verständnis der theologischen Zusammenhänge der Verkündigung an Maria darlegt.27 Wichtig ist vor allem seine Auslegung, mit Abstand das ausführlichste Kommentarstück der ganzen Abhandlung, des Verses: Denn er hat angesehen die nichtickeyt seyner magt. Dauon werdenn mich selig preyssen alle kinds kind.28 Luther nimmt sofort die Frage auf, wie das lateinische Wort humilitas zu verstehen und zu übersetzen sei: Das wortle humilitas / habenn etlich hie / zur demut gemacht / alß het die iunckfraw Maria / yhr demut anzogen / vnd sich der berumet [...] Got erkennet alleyn die demut / richtet auch vnnd offenbart sie alleyn / das der mensch nymmer weniger von der demut weiß / denn ebenn wenn er recht demutig ist (›Magnificat‹, S. 559f.).
So meint hier Maria mit humilitas ihren niedrigen Status als einiß gemeinen armen Burgerß tochter [. ..] ein schlechts megdlin / das des fihes vnd hauß gewart (›Magnificat‹, S. 549). Das Magnificat lehrt also, daß allein Gottes Gnade, nicht menschliches Verdienst, den Menschen aus der Nichtigkeit zu erheben vermag. Das theologische Argument wird dann durch ein philologisches untermauert: Demut heyssen wyr zu deusch / das sanctus Paulus auff kriechisch nennet Tapinophrosyne / auff lateinisch / affectus vilitatis / seu sensus humilium rerum. Das ist eyn will vnnd gemut zu geringen vorachtenn dingen (›Magnificat‹, S. 562).
Der im Epheserbrief 4,2 als tapeinophrosyne (ταπεινοψροσυ νην) belegte Begriff erscheint im Magnificat freilich als das verwandte tapeinosis (ταπεινωσις).29 Daß Luther seine Auslegung des Begriffes humilitas im Zusammenhang der Gnadenlehre durch einen Hinweis auf Paulus stützt, ist nicht verwunderlich. Vermutlich hat Luther allerdings auch in diesem Fall Erasmus’ ›Annotationes‹ herangezogen, wo beide griechischen Wörter besprochen und durchaus in glei27
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Das Magnificat Vorteutschet vnd außgelegt durch D. Martinum Luther, Wittenberg 1521 (WA Bd. 7, S. 540–604). Siehe Volz [Anm. 2], S. 45*–49*: Die Übersetzungsund Auslegungsarbeit fing Luther im November 1520 an; erst Anfang Juni 1521 konnte er auf der Wartburg das Manuskript vollenden. Zum Folgenden vgl. Stephan Veit Frech, Magnificat und Benedictus Deutsch. Martin Luthers bibelhumanistische Übersetzung in der Rezeption des Erasmus von Rotterdam, Bern [usw.] 1995 (Zürcher Germanistische Studien 44). Zu den sukzessiven Fassungen des Verses in Luthers Übersetzungen von 1521 bis 1545 siehe Frech [Anm. 27], S. 44. Vgl. Luthers Bemerkung: »Ich weiß kein peßer deutsch, denn wenn ich sage: das elendt meidichen, denn es ist gar ein elende jungfrau gewest« (WA Tischgespräche Bd. 5, S. 414, Nr. 5977). Noch anschaulicher heißt es allerdings 1533: »sum eius ancilla vnd ein armes / nidriges / elends kind vnd meidlein / quae coram mundo kein ansehen hat, ydermans aschenbrodel vnd fustuch«, Predigt am Tage Visitationis Mariä, nachmittags, 2. Juli 1533 (WA, Bd. 37, S. 95). Zum philologischen und theologischen Zusammenhang vgl. Henry George Liddell, Robert Scott und H. Stuart Jones, Greek-English Lexicon, Oxford 91968; Eerdmans Dictionary of the Bible, hg. von David Noel Freedman, Grand Rapids, Michigan 2000 (zu ›humility‹); Theological Dictionary of the New Testament, hg. von Gerhard Kittel, Grand Rapids, Michigan 1972 (zu τα γµα – τα σσω).
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chem Sinne interpretiert werden und wo Erasmus, der theologische Fragen sonst eher scheut, energisch die Ansicht vertritt, durch dei gratiam ac misericordiam, nicht durch uirtutem, werde Maria mater dei (›Annotationes‹, S. 157f.). Sie beschreibt sich in der Paraphrase des Lukas-Evangeliums als omnium abiectissima (S. b8r).30 Ab der vierten Ausgabe des ›Novum Testamentum‹ (1527) gibt Erasmus seine Übereinstimmung mit Luther in diesem Punkt ausdrücklich zu.31 Es gehöre zu den Fällen, meint er, in denen die Theologen von den grammatisti lernen könnten. Problematisch in Luthers Darlegung im ›Sendbrieff von Dolmetzschen‹ ist das gespannte Verhältnis von drei grundlegenden Zielen der Bibelübersetzung in der Reformationzeit: die philologische Kritik an den Quellentexten heiliger Schrift, die Erschaffung einer gemeinverständlichen Bibelsprache und der theologische Imperativ. Die Frage ob solchs auch gut deutsch sey? hat im ›Sendbrieff‹ ziemlich konsequent den Vorrang vor der Feststellung und Bewertung der Quelle. Luthers eigene Quellenarbeit ist methodisch anfechtbar und steht im Widerspruch zu dem, was er von Erasmus übernahm. Sowohl das Philologische als auch die sprachliche Form sind dem theologischen Anspruch untergeordnet.32 Das Problem zeigt sich in akuter Form in der Kernpassage des ›Sendbrieffs‹, Luthers Verteidigung seiner kontroversen Übersetzung von Rm 3,28: So halten wyrs nu, das der mensch gerechtfertiget werde, on zu thun der werck des gesetzs, alleyn durch den glawben. Den Zündstoff lieferte Luther mit der Hinzufügung des Wortes allein. In diesem Fall ist der Text der ›Vulgata‹ philologisch einwandfrei: Arbitramur enim iustificari hominem per fidem sine ope30
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Vgl. Leo Juds Übersetzung der Paraphrase: Dann wiewol ich die aller schlechtest bin e e vnder allen / so hat doch er sein schlechte dienerin auß seiner gute angesahen [...]«. Zitiert nach Frech [Anm. 27], S. 278. Zur Textentwicklung der ›Annotationes‹ siehe: Erasmus’ Annotations on the New Testament: The Gospels. Facsimiles of the final Latin text (1535) with all earlier variants, hg. von Anne Reeve, London 1986, hier S. 157f. Zur »letzlich theologischen Prägung von Luthers Übersetzung«, siehe Andreas Gardt, Die Übersetzungstheorie Martin Luthers, ZfdPh 111 (1992), S. 87–111, hier S. 101–106. Vgl. Sönke Hahn, Luthers Übersetzungsweise im ›Septembertestament‹ von 1522. Untersuchungen zu Luthers Übersetzung des Römerbriefs im Vergleich mit Übersetzungen vor ihm, Hamburg 1973 (Hamburger Philologische Studien 29), S. 228–231; Gerda Hassler, Vulgarisation ou traduction? Une comparaison entre les principes de la traduction chez Luther et les concepts de la Renaissance italienne, in: Italia ed Europa nella linguistica de Rinascimento, hg. von Mirko Tavoni, Ferrara 1996, Bd. 2, S. 273–282, hier S. 276f.; Maurice E. Schild, Abendländische Bibelvorreden bis zur Lutherbibel, Gütersloh 1970 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 39), S. 254, zitiert Luthers Spruch in der Vorrede zum Alten Testament 1523: Vnd achte, sol die Bibel erfur kommen, so mussen wyrs thun, die Christen sind, als den verstand Christi haben, on wilchen auch die kunst der sprache nichts ist. Dagegen war für Erasmus Bibelwissenschaft Sprachwissenschaft; vgl. Cornelis Augustijn, Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wissenschaft, München 1986, S. 96. Vgl. Bentley [Anm. 14], S. 8–13 und 211.
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ribus legis. Allerdings verbesserte ihn auch Erasmus durch eine einfache syntaktische Transposition, die offenbar die ausschließliche Wirkung des Glaubens betonen soll: Arbitramur igitur fide iustificari hominem absque operibus legis (›Novum Instrumentum‹, S. Aiiiv). Er verzichtet auf einen Kommentar zur Stelle, erklärt allerdings in der Paraphrase, daß das neue Gesetz nihil exigit nisi fidem.33 Luther, um eine vollige Deutsche klare rede zu erzielen, verstärkt den ohnehin emphatischen Sinn sowohl semantisch, indem er allein einfügt, als auch syntaktisch, indem er die Phrase alleyn durch den glawben am Satzende bringt. Er verteidigt seine Formulierung mit dem Argument, daß es nicht nur idiomatisch sei, sondern auch notwendig zum Wesen der deutschen Sprache gehöre, das sie das wort (allein) hinzu setzt / auff das das wort (nicht odder kein) deste volliger vnd deutlicher sey. Gewährsleute dafür, wie man sol Deutsch reden, sind die muter jhm hause / die kinder auff der gassen / der gemeine man auff dem marckt (›Sendbrieff‹, S. 16). Luthers Argumentation ist offensichtlich unhaltbar.34 Seine eigene Übersetzung von Parallelstellen in den paulinischen Episteln zeigt, daß sich der Glaubensprimat auch ohne das betonende allein ausdrücken läßt.35 In Gal 2,16 verzichtet Luther auf das Wort: [...] wir wissen / das der Mensch durch des Gesetzes werck nicht gerecht wird / sondern durch den Glauben an Jhesum Christ (vgl. Eph 2,8f.).36 In der ersten gedruckten deutschen Bibel von 1466 liest man dagegen im Römer-Brief: wann wir massen zegerechthaftigen den menschen durch den gelauben : on die werck der ee, aber im Galater-Brief: Wann wyr wissen das der mensch nit wirt gerechthaftigt von den wercken der ee, nuer durch den gelauben ihesu cristi.37 Während Luther 1517 den vierten Vers des 130. Psalms übersetzt: Dan ist doch nur bey dir allein vorgebung, darumb bistu auch allein tzufurchten, heißt es im Psalter von 1524: Dann bey dyr ist vergebung, Das man dich furchte.38 Innerhalb der breiteren evangelischen BibelÜberlieferung wird Luthers allein keineswegs immer aufgenommen. William Tyndale übersetzt im Römerbrief 3: for we suppose that a man is iustified by fayth without the dedes of the lawe. Eine Randglosse betont: fayth iustifieth 33
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Paraphraseon Des. Erasmi Roterodami in omnes epistolas Apostolicas, Basel 1523, S. 39. Siehe auch den Prolog ›Methodus‹ zum ›Neuen Testament‹: Christus fidem unice semper exigit [Anm. 57], S. 60. Vgl. Gardt [Anm. 32], S. 100. Heimo Reinitzer, Wort und Bild. Zu Übersetzungsprinzipien und Illustrationsweisen der Luther-Bibel (Septembertestament), Text und Kritik 14 [Anm. 15], S. 62–74, hier S. 65f. Quack zitiert dagegen die anonyme Übersetzung des Galater-Briefs von 1522: [...] allein die selickeit durch den glauben, auch an alle andere werck tzu suchen und tzu erlangen were [Anm. 23], S. 17. Kurrelmeyer [Anm. 9], Bd. 2, S. 21 u. 146. Die Sieben pußpsalm mit deutscher außlegung [...], Wittenberg 1517 (WA, Bd. 1, S. 154–220, hier S. 206); Luthers handschriftliche Vorlage zum Psalter Deutsch, Wittenberg 1524 (WA, Deutsche Bibel, Bd. 1, S. 545.)
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(›New Testament‹, S. 323). In seiner Vorrede vnto the Reader bemerkt Tyndale: Howbeit in manye places me thynketh it better to put a declaracyon in the margent then to runne to farre from the text (ebd., S. 3).39 Die Parallelbelege zeigen, daß es sich hier nicht um ein Übersetzungsproblem als solches handelt. Die Mentelin-Bibel, das ›Novum Testamentum‹ des Erasmus, auch Luthers eigene Lösungen an eng verwandten Stellen beweisen, daß der Übersetzer jeweils zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten zu wählen hat: syntaktische Umstellung oder Einfügung eines Verstärkungspartikels wie nur, allein oder nisi. Der Rekurs auf den Volksmund: den gemeinen man [...] auff das maul sehen, als Instanz des Sprachgebrauchs stellt sich als polemische Taktik heraus. Was allein verlangt, ist nicht Chomskys »native informant«,40 sondern zunächst ein rhetorischer Habitus, der symptomatisch ist für Luthers emphatische Art mündlicher und schriftlicher Polemik und der ihn immer wieder zur Steigerung treibt.41 Zum Schluß seiner Ausführungen über das Dolmetschen kommt er auf das Wort allein zurück: e
So ists nit allein recht / sondern auch hoch von noten / dz man auffs aller deutlichst vnd voligst eraus sage / Allein der glaube on werck macht frum / vnd rewet mich / das ich nit auch dazu gesetzt habe alle vnd aller / also on alle werck aller gesetz das es vol vnd rund eraus gesprochen were. (›Sendbrieff‹, S. 28)
Insoweit es eine Sache der Linguistik ist, hat dieses Beharren auf all und allein mehr mit Luthers eigenem Idiolekt und seiner eigenen Rhetorik zu tun als mit dem, was der gemeine man auf dem marckt unreflektiert spricht. Formeln der Absolutheit wie alle, alles und allein, hallen wie Hammerschläge, etwa in Lue thers Vorrede zur Apostelgeschichte mit der Botschaft: wie wir alle mussen gerecht werden / allein durch den Glauben an Jesu Christo / on alles zuthun des e Gesetzes / oder Hullfe vnser werck. 42
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Trotzdem prangerte ihn Thomas More als Lutheraner an: an evil mynde translated it [scil. the New Testament] that it might serve hym for a pryncipele instrument towarde the setting forth of al suche heresies as he had learned of Luther. Siehe Holeczek, Bibelphilologie [Anm. 17], S. 310–357, hier S. 317f. So Stolt [Anm. 10], S. 190f. Peter Matheson, The Rhetoric of the Reformation, Edinburgh 1998, S. 11–18 und 34f., weist auf einen leider unbelegten Spruch, in dem Luther seine mordicitas eingestanden habe: »one has to snarl like a dog to be heard«. Vgl. auch Michael Beyer, Luthers Übersetzerregel(n), in: Eine glossierte Vulgata Martin Luthers. Untersuchungen zu dem 1519 in Lyon gedruckten Exemplar in der Bibelsammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, hg. von Martin Brecht/Eberhard Zwink, Bern [usw.] 1999 (Vestigia bibliae 21), S. 95–116, hier S. 105–108 und 110: Luther agiere im ›Sendbrieff‹ »insgesamt auf einer rhetorischen Ebene, die es einfach erforderlich macht, Steigerungen einzubringen«. Zitiert nach der Wittenberger Bibel von 1545 [Anm. 2], S. 2188. Vgl. die Vorrede zur Epistel an die Römer, ebd., S. 2256, 2261f.
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Es fällt auf, daß Luther in seiner Verteidigung dieser besonders strittigen Stelle, wie überhaupt im ›Sendbrieff‹, auf ein Argument verzichtet, das ihm Erasmus bot, der es selber gegen den heftigen Angriff des gemeinsamen Gegners Johann Eck verteidigen mußte. In einem Brief vom 2. Februar 1517 setzte sich Eck mit kontroversen Stellen im ›Novum Instrumentum‹ auseinander: Es erregt bei vielen Leuten Anstoß, daß Sie in Ihren Anmerkungen zum zweiten Kapitel des Matthäus die Worte schreiben: »oder weil die Evangelisten selbst derartige Beweise nicht den Büchern entnahmen, sondern sich, wie man eben tut, auf das Gedächtnis verließen und daher einem Irrtum erlagen«. [...] Hören Sie, lieber Erasmus, meinen Sie, daß Christen das geduldig hinnehmen werden, wenn man ihnen sagt, die Evangelisten hätten sich geirrt? [...] Der heilige Geist erwählte Illiteraten und Analphabeten und machte aus ihnen große Gelehrte.43
Erasmus hatte den Evangelisten aber nicht nur gelegentliche Fehlbarkeit zugemutet. Er bot auch eine durchaus pragmatische Erklärung ihres alles andere als klassischen griechischen Sprachstils: Selbst wenn die Evangelisten Griechisch schreiben, schlägt manchmal das Idiom ihrer eigenen Sprache durch. [...] Denn die Apostel lernten ihr Griechisch nicht aus den Reden des Demosthenes, sondern aus dem Gespräch mit gemeinen Leuten.
Eck besteht darauf, daß die Apostel durch die Eingebung des heiligen Geistes in anderen Zungen predigten [...]. Sie lernten Griechisch nicht von Griechen, sondern vom Geist Gottes.44 Seine ›linguistische‹ Argumentation von der Rezeption des volkssprachlichen Bibeltextes her hätte Luther dadurch verstärken können, daß er, sich auf Erasmus stützend, Lukas und Paulus selbst als gemeine man identifiziert hätte.45 So wäre der Text des Neuen Testaments auch in ihrer Entstehung als Äußerung des Volksmunds zu erkennen gewesen.
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[...] plures moleste ferunt te in adnotationibus Matthaei capite ii sic scripsisse: ›sive quod ipsi Euangelistae testimonia huiusmodi non e libris deprompserint, sed memoriae fidentes, ita vt fit, lapsi sint‹. Istis enim verbis innuere videris Euangelistas more humane scripsisse; [...] Audi, mi Erasme; arbitrarisne Christianum patienter laturum Euangelistas in Euangelio lapsos? [...] Assumpsit [Spiritus sanctus] illiteratos et analphabeticos, sed doctissimos reddidit. Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, Bd. 3, hg. von P. S. Allen, Oxford 1913, S. 210. ›Tamen etiam cum Graece scribunt Apostoli, multum referent ex proprietate linguae suae.‹ Et infra: ›Nam Apostoli Graecitatem suam non e Demothenis orationibus sed e vulgi colloquio didicerunt.‹ [...] Quis enim Christianus ignorat vel ignorare potest, si vellet, Apostolos dono Spiritus sancti varia linguarum genera nonisse? Quare non a Graecis sed a Spiritu sancto Graecitatem didicerunt (Ebd.). Vgl. Augustijn [Anm. 32], S. 86; Bentley [Anm. 14], S. 164f.; Holeczek, Bibelphilologie [Anm. 17], S. 134f. Zu Erasmus’ »view of meaning as a matter of practice and of language as a matter of action and effect« siehe Timothy J. Reiss, Knowledge, Discovery and Imagination in Early Modern Europe. The Rise of Aesthetic Rationalism, Cambridge 1997 (Cambridge Studies in Renaissance Literature and Culture 15), S. 75–79.
Humanismus und volkssprachliche Bibel in der frühen Reformation
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Das Glaubensprimat ist natürlich eine zentrale theologische Streitfrage, und Luthers sprachliche Formulierungen sind die scheyden, darynn dis messer des geysts stickt.46 Deshalb steht die Verteidigung seiner Übersetzung von Rm 3,28 im Mittelpunkt des ›Sendbrieffs von Dolmetzschen‹. In seinen Annotationen zum ›Septembertestament‹ spottet Emser über Luthers fixe Idee: Mich ermant aber Luthers gleich wie des malers, da Horatius von schreybt in arte e Poetica, der nit mher dann ein bom malen kund / vnd in allen seinen stucken, was im vordingt ward malet er alweg den selben bom daran. Also drehet Luther die schriefft schier allenthalben auff den glouben vnd die werck / wann gleich weder des gloubens noch der werck gedacht wird.47
Obwohl sich Emser über Luthers allein empörte, war es offenbar nicht die sprachliche Formulierung an sich, sondern die Interpretation von sola fide, die Luther von katholischen Übersetzern und Kommentatoren trennte. In den Erklärungen zu seinem deutschen Psalter zitiert und umschreibt der erasmische Katholik Ottmar Nachtigall den umstrittenen Römervers öfters und stets mit dem ›Lutherischen‹ allein: o
Die weyl das so in dem alten gesatz gebotten / vil ist / schwer vnnd vnmüglich zu volbringen / hat vns Got ain werck fürgehalten für die all / das wir glauben in Jesum Christum seinen gesandtenn [...] durch welche glauben wir allain mügen rechtfertig gemacht werden. Roma. 3. [...] Die gerechtigkayt würt allain durch den glauben in Christum geben.48
Luthers radikale Entwertung der Werke fand wenig Anhang unter Humanisten auf beiden Seiten der Glaubensspaltung.49 Der anfänglich gut lutherisch Willibald Pirckheimer war gegen 1530 der Ansicht: an die werck ist der glaub dot, wie auch die werck an den glauben. 50 Sola fide konnte sowohl allein durch den Glauben als auch ›nicht ohne den Glauben‹ bedeuten, lutherisch tantum per fidem oder erasmisch nisi per fidem. Luther tritt im ›Sendbrieff von Dolmetzschen‹ nicht in erster Linie als Bibelhumanist auf; verglichen und kontrastiert werden meist die ›Vulgata‹ und seine eigene Bibelsprache im ›Septembertestament‹. Wenn er ad fontes geht, 46 47
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Vermahnung an die Ratsherren aller Stadte Teutschlands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, Wittenberg 1524 (WA Bd. 15, S. 27–53, hier S. 38). Annotationen Hieronymi Emser vber Luthers naw Testament gebessert vnd emendirt, Dresden, 1524. Zitiert nach Heimo Reinitzer, Biblia deutsch: Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1983 (Ausstellungskataloge der HAB 40), S. 196. Der Psalter des kinigs vnd propheten Dauids von grund / auß den .lxx [den Septuao ginta] vnd hebreischer sprach art vnd aygenschaft zu verstendigem vnd klarem hochteutschen gebracht, Augsburg 1524, S. 5, 249. Quack [Anm. 23], S. 18, merkt einen lutherischen Grundton in den Schriften Nachtigalls. Bernd Moeller, Die deutschen Humanisten, ZKG 70 (1959), S. 46–61, hier S. 54, 60. Brief an Andreas Tschertte von November 1530, in: Dürer. Schriftlicher Nachlaß, Bd. 1, hg. von Hans Rupprich, Berlin 1956, S. 283–288, hier S. 285.
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verschweigt er, was er dem lateinischen Testament und den ›Annotationes‹ des Erasmus verdankt. Obwohl er die Autorität der Wittenberger Bibel-Sodalitas ins Feld führt, deckt diese nicht Luthers eigenhändige philologische Arbeit am Neuen Testament.51 In der Rechtfertigung seiner bewußt provokanten Übersetzungen konkurrieren drei nicht durchweg zu vereinbarende Kriterien: die Vorstellung einer volkssprachlichen Norm, die art vnser deutschen sprache, die Realisierung dieser ›langue‹ in der ›parole‹ der einfachen Laien: also redet die mutter ym haus vnd der gemeine man, eine Vorliebe für informelles Idiom: du liebe Maria, du niedliche junckfraw, die trotzdem oft zugunsten gehobener, sakralsprachlicher Alternativen ausscheidet: Doch hab ich widerumb nicht allzu frey die buchstaben lassen faren. Entscheidend ist ohnehin immer das theologische Kriterium, das eigentlich hinter der Behauptung steckt, daß der Bibeltext mein verstand vnd mein Dolmetschung ist, mein bleiben vnnd sein soll (›Sendbrieff‹, S. 8f.). Dabei vermag Luther eine geniale Schriftsprache zu schaffen, die eine intuitive oder internalisierte Volkstümlichkeit mit seiner Begabung für das rhetorisch und stilistisch Treffende in einer sakralen Volkssprache unvergleichlicher Art verbindet.52 Nirgends sprechen sich Luthers linguistisches Selbstvertrauen und theologische Überzeugung verblüffender aus als in seiner Übernahme des Mantels Pauli (II Cor 11,22): e
wie Paulus wider seine tollen Heiligen sich rhumet / so wil ich auch widder diese e meine Esel rhumen. Sie sind doctores? Ich auch. Sie sind gelert? Ich auch. Sie sind Prediger? Ich auch. Sie sind Theologi? Ich auch. [...] Ich kann dolmetzschen. Das können sie nicht. Ich kan die heiligen schrifft lesen. Das können sie nicht (›Sendbrieff‹, S. 12). 51
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Den Anspruch und die Grenzen von Luthers Bibelhumanismus trifft ein Spruch Melanchthons haargenau: Volebat enim Lutherus non detinere nos in suis scriptis, sed ad fontes deducere omnium mentes; ipsam vocem Dei audire nos voluit. Zitiert nach Herbert Wolf, Humanistische Einflüsse in der frühprotestantischen Literatur, Wirkendes Wort 20 (1970), S. 145–160, hier S. 147. Mit seltener Bescheidenheit räumt Luther sein philologisches Defizit ein: Si ego haberem copiam Erasmi, Graeca Ioachimi [Joachim Camerarius], Forstemii [Johann Forster] Hebræa et essem minor, wie wollt ich arbeiten (WA, Bd. 48, S. 448). Daß Luther eher »a philologist of the vernacular« war (Jaroslav Pelikan, The Reformation of the Bible: The Bible of the Refore mation, New Haven/London, 1996, S. 4), bestätigt er selbst: was ist uns aber nutze, e e lateynisch, kriechisch und ebreyisch zungen und andere freye kunste zu lehren? Kundten wyr doch wol deutsch die Bibel und Gottis wort leren, die uns genugsam ist zur selickeyt (WA, Bd. 15, S. 38). Vgl. ferner Helmar Junghans, Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen/Weimar 1985; ders., Luther als Bibelhumanist, Luther 53 (1982), S. 1–9; Moeller [Anm. 49], S. 55 u. 59. Zur Zielsetzung und Methodik der Übersetzungen Luthers vgl. Stolt [Anm. 10]; Siegfried Raeder, Voraussetzungen und Methode von Luthers Bibelübersetzung, in: Geist und Geschichte der Reformation. Festgabe Hanns Rückert, hg. von Heinz Liebing/Klaus Scholder, Berlin 1966 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 38), S. 152–178; Gardt [Anm. 32]; Ulrich Schröter, Luthers Sprachauffassung und deren Bedeutung für die deutsche Sprache im Zusammenhang mit seiner Bibelübersetzung und der Problematik ihrer Revision, Leuvense Bijdragen 85 (1996), S. 99–129.
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Während das Novum Testamentum des Erasmus conditio sine qua non des ›Septembertestaments‹ war, entwickelte sich ab 1523 eine evangelische Bibelphilologie Wittenbergischer Prägung, die zum Fundament von Luthers Übersetzung des Alten Testaments wurde. Der ›Sendbrieff von Dolmetzschen‹ läßt ein nicht immer bewußt kontrolliertes Kräftespiel in Luthers Methodik des Übersetzens erkennen zwischen der protestantischen Variation der humanistischen philologia sacra, Luthers kompromißloser Bibelhermeneutik und seiner Ausarbeitung einer biblischen Volkssprache.53 Griechisch-lateinische und deutsche Philologie sind dem theologischen Verständnis des Bibeltextes untergeordnet, einer Exegese, die in der Kontroverse um das Wort allein in die Eisegesis, ins Hineinlesen, auszuarten droht.54 Der Weg zu einer auf den ursprachlichen Quellen fundierten deutschen Bibel hätte nicht unbedingt über Wartburg, Wittenberg und Coburg führen müssen. Neben oder sogar ohne Luther hätten andere volkssprachliche Bibelfassungen entstehen können, die ihre erasmischen Wurzeln nicht hätten verleugnen müssen und die schließlich eine deutsche Bibel hätten ergeben können, die die geistige Leistung nicht allein reformierter Christen gewesen wäre. Eine solche Bibel hatte schon 1516 Erasmus als erreichbares Ziel vorhergesehen. Im Widmungsbrief des ›Novum Instrumentum‹ an Papst Leo X. schlug er eine Reform der christlichen Religion vor, die darin bestünde, »jedem einzelnen Christen evangelische und apostolische Lehre einzuflößen«, die »dem Born und Urquell entströmt, statt getrübten Tümpeln und Bächen«: Die süße Weise, das Christentum zu reformieren, wäre es, jedem einzelnen Christen evangelische und apostolische Lehre einzuflößen, aber diese Lehre übt ihre Wirkung am besten aus, wenn sie dem Born und Urquell entströmt, statt getrübten Tümpeln und Bächen.
So Erasmus im Widmungsbrief des ›Novum Instrumentum‹ an Papst Leo X.55 In der ersten der drei Vorreden zu seinem ›Neuen Testament‹, ›Paraclesis ad lectorem pium‹, richtet sich Erasmus an mortales omnes und ruft sie »zum heiligsten und nützlichsten Studium der philosphia Christi« auf.56 Christus erzieht alle in der Weisheit seiner universellen Philosophie: »kein Alter, kein Geschlecht, keinen Stand, keinen Beruf weist sie zurück«. Unmittelbar auf diese Vision einer umschließenden christlichen Moralphilosophie folgt die »vehemente« Forderung nach einer volkssprachlichen Bibel: 53 54 55 56
Vgl. Schwarz, Principles [Anm. 16], S. 192, zu Luthers »essentially troubled relationship between philology and theology«. Pelikan [Anm. 51], S. 44. Des. Erasmi Roterodami Praefatio ad Leonem X Pont. Max., in: Novum Instrumentum [Anm. 16], S. A2v. Zur Widmung an Leo X. und zu den Vorworten siehe die grundlegende Arbeit von Gerhard Winkler, Erasmus von Rotterdam und die Einleitungsschriften zum Neuen Testament. Formale Strukturen und theologischer Sinn, Münster 1973 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 108); ferner Schild [Anm. 32], S. 138–148.
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Jeffrey Ashcroft Leidenschaftlich rücke ich von denen ab, die nicht wollen, daß die heiligen Schriften in die Volkssprache übertragen und auch von den Laien gelesen werden, als ob Christus so verwickelt gelehrt hätte, daß er kaum von einer Handvoll Theologen verstanden werden könne, und als ob man die christliche Religion dadurch schützen könne, daß sie unbekannt bliebe. [...] Ich würde wünschen, daß alle Dienstmädchen das Evangelium lesen, daß sie die paulinischen Briefe lesen. Würden doch diese in die Sprachen aller Völker übertragen, damit sie nicht nur von den Schotten und Iberern, sondern auch von den Türken und Sarazenen gelesen und verstanden werden könnten. [...] Wenn doch der Bauer mit der Hand am Pflug etwas davon vor sich hin sänge, der Weber etwas davon mit seinem Schiffchen im Takt vor sich hin summte und der Wanderer mit Erzählungen dieser Art seinen Weg verkürzte.57
Wir sind hier noch ein Stück Weges von Luthers Forderung entfernt, die Sprache der Bibel müsse die der Mutter im Hause, des gemeinen Mannes auf dem Markt sein. Doch William Tyndale, der das ›Enchiridion militis christiani‹ übersetzte und sein englisches Neues Testament in Wittenberg begann, dachte wohl an Erasmus, als a certayne deuine recounted for a learned man [...] sayd, we were better to bee without Gods lawe, then the Popes, und Tyndale erwiderte: If God spared him life, ere many yeares, hee would cause a boy that driueth the plough to know more of the Scriptures than he did.58 Die Laienemanzipation, die Luther in der ›Freiheit eines Christenmenschen‹ verkündet, nimmt Erasmus im Gedanken des Theologenamtes aller Gläubigen im Ansatz voraus: »wenn einer dieses [...], vom Geiste Christi angetrieben, predigt [...], der ist letzten Endes ein wahrer Theologe, und sei er Ackermann oder Tuchweber. Wenn einer dafür durch seinen persönlichen Lebenswandel 57
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Zitiert nach: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, Bd. 3: In Novum Testamentum Praefationes, hg. von Gerhard B. Winkler, S. 3–37, hier S. 12–14: Nullam haec aetatem, nullum sexum, nullam fortunam, nullam reicit condicionem. [...] Vehementer enim ab istis dissentio, qui nolint ab idiotis legi divinas litteras in vulgi linguam transfusas, sive quasi Christus tam involuta docuerit, ut vix a pauculis theologis possint intelligi, sive quasi religionis Christianae praesidium in hoc situm sit, si nesciatur. [...] Optarim, ut omnes mulierculae legant euangelium, legant Paulinas epistolas. Atque utinam haec in omnes omnium linguas essent transfusa, ut non solum a Scotis et Hibernis, sed a Turcis quoque et Saracenis legi cognoscique possint. [...] Utinam hinc ad stivam aliquid decantet agricola, hinc nonnihil ad radios suos moduletur textor, huiusmodi fabulis itineris taedium lenet viator. Winklers Übersetzung von mulierculae als »Weiblein« scheint mir im Kontext nicht zu stimmen. Für wahrscheinlicher halte ich den schon in der Antike belegten Sinn ›Arbeiterin‹ oder ›Dienstmädchen‹. Siehe Lewis/Short [Anm. 8], S. 1170. In der deutschen Übersetzung: Erasmi Roterodami Paraclesi Teutscht wie ein teürbarlich vnaussprechlich schatz vnd klainot sey das Ewangelium vnd haylig wort gottes, Straßburg 1522, lautet die Stelle: [...] vnd ich wolt selbst das ich gleich die warhayt sage / das all o schuster / weber / hecker / ackerknecht / lesen das Ewangelium vnd epistolas Pauli. Die Anekdote erzählt John Foxe, The Whole workes of W. Tyndall, Iohn Frith, and Doct. Barnes, three worthy Martyrs, and principall teachers of this Churche of England [...], London 1573: Historie and discourse of the lyfe of William Tyndale out of the booke of Actes & Monumentes Briefly extracted, S. Bj.
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einsteht, ist er schließlich auch ein großer Doktor.«59 Die Grundlage von Lue thers sola scriptura, daß in der Schrift du horist deynen gott zu dir reden,60 nimmt die Versicherung der ›Paraclesis‹ auf, die Bibel sei die bleibende Fleischwerdung Christi: Wenn dieser uns versprochen hat, daß er immer bei uns bleiben wird bis ans Ende der Zeiten, so leistet er das vor allem in seinen Schriften, indem er auch jetzt noch für uns lebt, atmet, spricht, fast möchte ich sagen, noch wirksamer, als da er unter den Menschen weilte.61
Erasmus erhoffte für den lateinischen Text seines ›Novum Testamentum‹ eine Verbreitung und einen Einfluß über den beschränkten Kreis humanistischer Philologen hinaus. Die ›Vulgata‹ »möge in den Schulen gelesen, in den Kirchen gesungen, bei den Predigten zitiert werden; das verhindert niemand. Soviel möchte ich mir jedoch zu versprechen getrauen: Wer die unsere zu Hause liest, wird seine [Vulgata] besser erkennen.«62 Mindestens 110 Auflagen des Testaments, der ›Annotationes‹ und der als Erbauungsliteratur geschriebenen Paraphrasen erschienen in den Jahren nach 1518.63 Allein zwischen 1518 und 1525 wurde das lateinische Testament dreißigmal als Separatdruck aufgelegt, meistens in Kleinformat für die private Lektüre. Zwischen 1516 und 1563 dürften rund 40 000 Exemplare des ›Novum Testamentum‹ gedruckt worden sein. Die ›Paraclesis‹ erschien in 20 lateinischen Ausgaben bis 1523. Drei verschiedene deutsche Übersetzungen kamen 1520–1521 in zahlreichen Nachdrucken auf den Buchmarkt. Die verantwortlichen Übersetzer waren oder wurden sämtlich führende Gestalten der Reformation: Justus Jonas, Georg Spalatin und Leo Jud. Auch die Nova Praefatio zur zweiten Ausgabe des ›Novum Testamentum‹ wurde mehrmals übersetzt. Leo Jud übersetzte auch die Paraphrasen der Episteln im Jahre 1520–21. Der bei Silvan Otmar in Augsburg verlegte Druck von Auszügen aus Erasmus’ Paraphrasen des Johannes-Evangeliums und der ersten Epistel an die Korinther wendet sich an den armen, der das gantze Evangeli oder 59
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Erasmus, Paraclesis [Anm. 57], S. 16: Haec inquam [...] si quis afflatus spiritu Christi praedicat [...] is demum vere theologus est, etiamsi fossor aut textor. Haec si quis et ipsis praestet moribus, is denique magnus est doctor. Martin Luther, Von der freyheyt eynes Christen menschen, Wittenberg 1520 (WA Bd. 7, S. 21–38, hier S. 22). Erasmus, Paraclesis [Anm. 57], S. 28: Qui quod pollicitus est se semper nobiscum fore usque ad consummationem saeculi, in his litteris praecipue praestat, in quibus nobis etiamnum vivit, spirat, loquitur, paene dixerim efficacius, quam cum inter homines versaretur. Des. Erasmi Apologia, in: Ausgewählte Schriften [Anm. 57], S. 78–115, hier S. 95: illa legatur in scholis, canatur in templis, citetur in contionibus; nullus obstat. Illud ausim polliceri, quisquis hanc nostrum domi legerit, suam rectius intellecturus est. Folgende Darstellung basiert auf Heinz Holeczek, Erasmus Deutsch. Bd. 1: Die volkssprachliche Rezeption des Erasmus von Rotterdam in der reformatorischen Öffentlichkeit 1519–1536, Stuttgart 1983.
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new Testament nit zu bezalen hat.64 Sogar deutsche Ausgaben der ›Annotationes‹ wurden zwischen 1521 und 1523 in 33 Nachdrucken aufgelegt, allerdings stark verkürzt, ohne den philologischen Inhalt und offenbar als Moraldidaxe gemeint. In den Jahren 1521–1522 erschien eine Reihe von Übersetzungen der Evangelien und Episteln der translation des hochgelarten Erasmi von Roterdam nach.65 Der Augustiner Johannes Lang, Kollege Luthers im Kloster und auf den Universitäten Erfurt und Wittenberg, übersetzte Das heilig Euangelium Matthei aus Kriechser sprach / vnd bisweiln aus des hochgelerten hern Erasmi von Roterdam translacion (Ohne Ortsangabe, 1521). Nikolaus Krumpach, Pfarrer in Querfurt, veröffentlichte die beiden Episteln Petri und die Episteln Pauli an Timotheus, Titus und die Galater sowie das Johannes-Evangelium, fur die einfeltigen vngelerten.66 Langs Vorrede zum Matthäus-Evangelium erklärt, daß es in clarer vnd vorstendiger deutsche sprache dann vorhin [.. .] gebracht worden ist, Do mit sich ein itzlicher christgleubiger mensch an allenn ortern dester bequemer dorin mag vben.67 Auch nach September 1522 erschienen weitere Nachdrucke von Krumpachs Johannes-Evangelium nunmehr unter Luthers Namen.68 Der Leipziger Drucker Valentin Schumann brachte Langs und Krumpachs Übersetzungen als Sammeldruck heraus. Leipziger und Augsburger Nachdrukke fügten Übertragungen der Markus- und Lukas-Evangelien hinzu und schufen so einen deutschsprachigen Druck aller vier Evangelien. Diese rege volkssprachliche Auswertung des lateinischen Testaments des Erasmus in der kurzen Zeitspanne 1521–1522 bricht mit der Drucklegung von Luthers Neuem Testament jäh ab. Immerhin waren wichtige Bestandteile einer wenig anspruchsvollen Gebrauchsbibel für die alltägliche Lektüre geschaffen worden. Auch das Luxusformat und die kostspielige Ausstattung des ›Septembertestaments‹ verhinderte nicht dessen riesigen Erfolg. Sehr bald kamen billigere Nachdrucke auf den Markt. Die Eile, mit der Luther 1522 seine Arbeit auf der Wartburg und den Druckprozeß in Wittenberg vorantrieb, ist teilweise durch das Auftauchen dieser als Drohung empfundenen, embryonischen ›erasmischen Bibel‹ zu erklären.69 In einer Tischrede berichtet Luther:
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Ebd., S. 117. Euangelium Johannis [. . .]. Durch den wirdigen vnd hochgelarten hern Nicolaum Krumpach [. . .] yns deutsch gebracht [. . .], Leipzig 1522, S. Aiiir; vgl. Euangelium Matthei vnd Johannis vfs clerlichst auß der newen translation vordeutscht [. . .], Leipzig 1522. Euangelium Joannis verdeutscht, Leipzig 1522, Titelblatt. Euangelium Matthei vnd Johannis [Anm. 65], S. aiiir. Siehe Reinitzer [Anm. 47], S. 93. Zur Entstehung des ›Septembertestaments‹ sowie zu der Bibelübersetzung vor und neben Luther siehe Volz [Anm. 2], S. 49*–55*; Reinitzer [Anm. 35] S. 62–74.
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Philipp Melanchthon nötigte mich, das Neue Testament zu übersetzen, denn er sah, daß dieses von verschiedenen Seiten zerfetzt wurde. Einer übersetzte den Matthäus, ein anderer den Lukas. Vor allem mußte es aber um des Paulus willen geschehen; denn es erschien notwendig, die verfinsterten Paulusbriefe in das helle Licht und, weil dort Verwirrung herrschte, in eine rechte Ordnung zu bringen.70
An Johannes Lang, dem er seine erste Begegnung mit dem Studium des Griechischen und des Hebräischen verdankte, schrieb Luther im Dezember 1521 von der Wartburg: Ich werde hier bis Ostern verborgen bleiben. Indessen will ich [...] das Neue Testament ins Deutsche übertragen. Die Freunde drängen mich zu dieser Aufgabe, mit deren Lösung ja auch Ihr beschäftigt sein sollt. Setzt fort, was Ihr unternommen habt. Möchte jede Stadt ihren eigenen Dolmetsch haben, möchte nur allein dies einzige Buch in jedermanns Munde und in jedermanns Hand, jedermann vor Augen und Ohren und im Herzen sein.71
Hinter den einstudierten erasmischen Floskeln scheint Lang die abwarnende Absicht Luthers erkannt zu haben; fortan räumt er Luther das Feld. In jeder Hinsicht stellte Luthers ›Septembertestament‹ seine Konkurrenten in tiefsten Schatten. Die Fragmente einer deutschen Bibel, die durch Erasmus’ kritische Überprüfung der Vulgata und seine Befürwortung volkssprachlicher Bibeln in der ›Paraclesis‹ angeregt wurden, markierten ihrerseits einen klaren Fortschritt gegenüber der älteren gedruckten Bibel. Sie boten einen ersten bescheidenen Beweis dafür, daß eine »an der Sprache der Predigt geschulte Übersetzung« Texte schaffen konnte, für die es schon ein erwartungsvolles Lesepublikum gab.72 Das bezeugt etwa ein Brief, den der Ritter Hartmuth von Cronberg am 14. April 1522 an Luther schrieb, zu einem Zeitpunkt also, als Luthers Übersetzung des Neuen Testaments schon fertig, aber noch nicht im Druck erschienen war: e
Gott hat vns teütschen sein gottliches wort vnd die vnwidersprechleich warheit vor andern Nacionen geoffenbaret, die kunst des Truckens, darauß der gantzen wellt trost e vnnd seligkeyt komen mag, yst in teütschem lanndt erstlich erfunden, dar zu mogen o wir nit leücknen, wir haben die hymmellische schrifft vnd warheyt yn gutem clarem e teütsch, darauß der aller armest sein heyl als wol horen vnnd verstehen mag, als der aller reichest. Wir haben eynnen gewissen hymmellischen leermeister, der vns nit felen 70
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WA, Bd. 48, S. 448: Phil. Melanchthon coegit me ad Novi Testamenti versionem. Quia vidit hinc inde lacerari. Ille Mattheum, hic Lucam vertit. Et tamen praecipue propter Paulum faciendum erat. Necessarium enim videbatur Pauli epistolas obscuratas in lucem et dispositionem redigere, quia ibi erat confusio. Johann Aurifabers verkürzte deutsche Übersetzung befindet sich in WA, Tischreden, Bd. 1, S. 487. WA, Briefe, Bd. 2, Nr. 445, S. 413: [...] ego hic latebo usque ad Pascha. Interim Postillas conscribam, Novum Testamentum vernacula donaturus, quam rem postulant nostri, in qua et te audio laborare; perge ut coepisti. Utinam oppida singula interpretem suum haberent, et solus hic liber omnium lingua, manu, oculis, auribus, cordibus versaretur. Reinitzer [Anm. 35], S. 63f.
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Jeffrey Ashcroft mag, das ist der helig geyst, der vnß allen in gemein versprochen ist, wellicher gott mit o vertrawen vmb disen lermeister mit gutem rechtem hertzen anrüefet, der würdt den hymmellischen leermeyster gewisslich haben, dyser leermeyster vermag, wo er will, eynen mer grundts des christlichen glaubens in eyner stund lernen, dan ob eyner o zehen yar vff der Paryser schul stunde.73
Cronberg wußte über Luthers Arbeit am Neuen Testament Bescheid und meinte wohl kaum die vndeutsche Deutsche Bibel, wie sie Johannes Matthesius bezeichnet, one zweyffel auß dem Latein verdeutscht / die war dunckel vnd finster, das ist die Bibel aus der Frühzeit des Buchdrucks.74 Mit der Autorität und Zuverlässigkeit, der Sprachgewalt und Zugänglichkeit von Luthers Neuem Testament konnten sich auch die Übersetzungen Langs und Krumpachs freilich nicht im geringsten messen. Nicht zuletzt bot Luther die ganze Schrift und aus einem Guß. Wie er in der Vorrede zum ›Septembertestament‹ schreibt, sei nur eyn Evangelion [...], gleych wie nur eyn buch des newen testaments, vnd nur eyn glawb vnd nur eyn gott, der do verheysset; darin sei der Römerbrief das rechte heubtstuck des newen testaments, vnd das aller lauterst Evangelio. 75 Damit will er nicht nur die Vernachlässigung der Schrift in der alten Kirche angreifen, sondern auch den Rang ›seines‹ Testaments behaupten, das »keine deutsche Version des griechischen Archetyps« im erasmischen Sinne, vielmehr »die Bibel selbst für die Deutschen ist.«76 Die kleine Flut erasmischer Bibelübersetzungen um 1521–1522 war trotzdem nicht einfach eine Übergangserscheinung. Aus der Ursprache übertragene Bibeltexte in schlichtem Deutsch setzten neue Maßstäbe und erreichten ein neues Leserpublikum schon vor dem großen Durchbruch des ›Septembertestaments‹. Die ›erasmische Bibel‹ hatte auch ein Weiterleben, freilich in Formen, die sich mit der Wittenberger ›Authorised Version‹ weder messen konnten noch messen wollten, immerhin aber Ansätze zu einer durchaus ernstzunehmenden Paralleltradition schufen. Im August 1524, einige Wochen bevor Luthers erster Psalterband erschien, brachte Ottmar Nachtigall seinen deutschen Psalter heraus.77 Nachtigall war in seiner Jugend in Straßburg Prote´ge´ von Johann Geiler von Kaysersberg und Jakob Wimpheling gewesen; zu seiner Bekanntschaft gehörten Reuchlin und Erasmus selbst, die ihn als Musiker und als Gräzist schätzten. Die Fugger för73 74
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WA, Briefe, Bd. 2, Nr. 475, S. 499–502, hier S. 500. Historien / Von des Ehrwirdigen in Gott Seligen thewren Manns Gottes / Doctoris Martini Luthers / anfang / lehr / leben vnd sterben [...], Nürnberg [1567]. Zitiert nach Reinitzer [Anm. 47], S. 58. WA, Deutsche Bibel, Bd. 6, S. 2; Vorrede zur Epistel an die Römer [Anm. 42], S. 2254. Holeczek, Erasmus Deutsch [Anm. 63], S. 63. Siehe Anm. 48. Zu Ottmar Nachtigall: Charles Schmidt, Histoire litte´raire de l’Alsace a` la fin du XVe et au commencement du XVIe sie`cle, Paris 1879 (Nachdruck: Nieuwkoop 1966), Bd. 2, S. 174–208; Susan E. Harvey, Ottmar Nachtigall and his German Psalter in the Context of the Early Reformation, ungedruckte Magisterarbeit, St Andrews 1991.
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derten ab 1522 seine Predigt- und Schreibtätigkeit in Augsburg. Das Konzept des Psalters ist durchaus erasmisch in der Verbindung der sacra philologia mit moraltheologischer Auslegung. Die ›Erklärungen‹ bringen ausführliche philologische Informationen, häufig Zitate aus dem Griechischen. Den hebräischen Text konnte Nachtigall nur in der auch von Luther benutzten lateinischen Übersetzung des Felix Pratensis zitieren. Nicht weniger im Geist des Erasmus ist Nachtigalls ›Gantz Evangelisch histori‹, eine Evangeliensynopse, die 1525 in Augsburg erschien, nachdem Nachtigall 1523–1524 lateinische und deutsche Übersetzungen der fragmentarischen Evangelienharmonie des Ammonius Alexandrinus veröffentlicht hatte.78 Damit erneuerte er eine spätantike und mittelalterliche biblische Textgattung mit Hilfe humanistischer Philologie und machte sie der laikalen Leserschaft zugänglich. Wie im Psalter kombiniert er volksprachlichen Text mit philologischem Kommentar und moraltheologischer Didaxe im Gegensatz zum Wittenberger Modell der reinen Textausgabe. In der Einleitung und im Kommentar verarbeitet Nachtigall die ›Annotationes‹ des Erasmus: o
o
[...] in dem gruß des engels der iungkfrauen zu bracht vnd verkündet / hab ich nit wie der alt brauch inhelt vol genaden gesagt / Darumb das genad meins bedunckens / mer ain nachlassung / freyheyt / oder begebung ainer schuld bedeutet / dann einen besonderen gunst vnd genaygten will / wie daz kriechisch wort kecharitomeni vermag / wyll doch hyemit das lob der ausserwelten gebereryn gottes nit geringet / sonder wie ich mich versich / gemert haben / verlangen auch nit das sie vol sey der gnaden gotes (›Histori‹, S. c8r). e
Im synoptischen Text heißt es: Und sprach der engel / Biß frolich vnd gegrüßt du vast angenem vnd begünstigte mit besunder hoher naygung vnd willen (ebd., S. 11). Die ausführlich exegetische Erzählweise nimmt sich als Muster offenbar die Bibelparaphrasen des Erasmus. Die bei weitem bedeutendste Leistung der erasmischen Bibelverdeutschung ist die Zürcher Bibel, wie sie 1530 als einbändige Oktavausgabe durch Christoph Froschauer verlegt wurde.79 Die gantze Bibel / der vrsprünglichen Ebraischen vnd Griechischen warhayt nach / auffs aller treülichest verteütschet, in zahlreichen Nachdrucken, in unterschiedlichem Format und in Tausenden von Exemplaren veröffentlicht, gilt als erste deutsche Vollbibel der Reformation im eigentlichen Sinne. Luthers vollständige ›Biblia Deudsch‹ erschien erst 1534 und 78
79
Die gantz Euangelisch hystori wie sie durch die vier Euangelisten / yeden sonderlich / in kriechischer sprach beschriben / in ain gleychhellige vnzertaylte red ordenlich e o verfaßt / sambt ainer erleüterung der schweren orter / vnd guten bericht wa alle ding hin dienend / Durch Othmaren Nachtigall Doct., Augsburg 1525. Zur Entstehung der Zürcher Bibel: Johann Jakob Mezger, Geschichte der deutschen Bibelübersetzung in der schweizerisch-reformirten Kirche von der Reformation bis zur Gegenwart, Basel 1876 (Neudruck Nieuwkoop 1967); Traudel Himmighöfer, Die Zürcher Bibel bis zum Tode Zwinglis (1531). Darstellung und Bibliographie, Mainz 1995 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte 154).
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Jeffrey Ashcroft
in kostspieliger, zweibändiger Ausstattung. Huldrych Zwingli beschreibt seine erste Begegnung mit dem ›Novum Testamentum‹ des Erasmus: Do kam ich zum letsten dahin, das ich gedacht, [...] du must das alles lassen liggen vnd die meinung gottes luter vß sinem eignen einvaltigen wort lernen. [...] vnd fieng an die geschrifft vil lichter – wiewol ich sy bloß laß – dann hatte ich vil comment vnd ußleger gelesen.80
Er ermahnt um 1525 die Priesterschaft Zürichs: Kouff ein yeder ein nüw testament in latein oder tütsch, wo er das latin nit recht o e e o verstund oder ußlegen mochte. Dann ich mich ouch nitt scham, das tütsch zu zeyten 81 ze lesen vonn wegen lichtlicher dargebung.
So werden sowohl Erasmus’ lateinisches als auch Luthers deutsches Testament, beide ab 1522 in Basler bzw. Zürcher Nachdrucken vorhanden, zu den Basistexten der Schweizer Reformation. Schon 1523 hatten Zwinglis radikale Anhänger unter den Zürcher Handwerkern eine Bibelschule gegründet. Im Juni 1525 wurde die ›Prophezei‹ konstituiert, die »fortan zum geistigen Zentrum für die künftigen Editionen der Zürcher Bibel« werden sollte.82 Dieses bibelphilologische Seminar, das beste Forum für das Studium der heiligen Schrift im Zeitalter des Humanismus, besprach und verglich hebräische und griechische Texte des Alten Testaments; abschließend faßte Leo Jud Zwinglis lateinische Exegesen o zusammen und trug sie als Predigtvorlage vor mit gutem tütsch mit hübscher e underrichtung. Im gleichen Jahr 1525 fieng ouch Oswaldus Myconius an Tutsch e e o e o lasen das nuw testament, imm Chor zu dem Frouwenmunster, und zu siner o lezgen giengen pfaffen vnd leien, wib vnd man in die schul.83 Diese einmalige Praxis erasmischer sacra philologia und volkssprachlicher Bibellektüre schuf die Voraussetzungen für die intensive Entwicklung deutscher Bibeldrucke in Zürich. Ab 1523 verlegte Froschauer in rascher Folge sprachlich helvetisierte Ausgaben des ›Septembertestaments‹ und der ersten drei Teile von Luthers Übersetzungen der alttestamentlichen Bücher. Seit Frühjahr 1527 gerieten die Arbeiten Luthers und seiner Kollegen an den Propheten ins Stocken, was die Mitglieder der ›Prophezei‹ veranlaßte, eigenhändig die Lücken zu füllen. Leo Jud übernahm auch die Übersetzung des Apokryphons. Schon 1530 konnte Froschauer die ›gantze Bibel‹ im Quartformat auf den Markt bringen, e e e e damit sie als ein tagliches handbuchlein zu predigt oder auch ubers vald komme lich vnd leichtlich getragen moge werden.84 Mit der Folioausgabe von 1531 er80 81 82
83 84
Zitiert nach Himmighöfer [Anm. 79], S. 13. Ebd., S. 38. Ebd., S. 213–224; vgl. Bruce Gordon, The Swiss Reformation, Manchester 2002 (New Frontiers in History), S. 232–244 und Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte, hg. von J. J. Hottinger/H. H. Vögeli, Frauenfeld 1838 (Neudruck Zürich 1984), Bd. 1, S. 289–291. Hottinger/Vögeli [Anm. 82], S. 291. Zitiert nach Mezger [Anm. 79], S. 88.
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Humanismus und volkssprachliche Bibel in der frühen Reformation
reichte die Zürcher Bibel ihre definitive Form, indem ein besundere unnd eygne e vertolmatschung 85 des Hiob, der Psalmen und Sprüche, des Ecclesiasticus und des Hohen Liedes sowie eine gründliche Überarbeitung der verbleibenden Teile aus Luthers Bibel eine im eigentlicheren Sinne Schweizer Bibel entstehen ließ. Gleichzeitig wandelte Froschauer die sprachliche Form vilen zu dienst in uße lendischer gemeiner spraach um, damit es ouch andere verston mogind, die unsrer spraach zu Zürich nit gewont habind, wohl um die Konkurrenzfähigkeit der Bibel mit den Wittenberger Teilbibeln zu stärken.86 Leo Juds Vorrede, die in allen Ausgaben ab 1531 erscheint, zitiert unmittelbar aus der ›Paraclesis‹, um die Bibel in den Zusammenhang der erasmischen philosophia Christi zu stellen:87 e
o
Christus hat verhayssen er wolle bey vns sein biß zu ende der welt / das leystet er aller e meest in der gschrifft / in deren labt er noch / aathmet vnd redt mit uns nit minder / dann do er noch bey den menschen wonet.88
Die Bibel soll Eigentum aller Christen werden: e
o
Wo vor zeyten ein Bibly was / da sind yetz tausend / das sollend wir für ein gut glücke hafftig ding haben / vnnd das uns Gott wolle begnaden so er uns sein wort so gmein macht. [...] eyle yederman bey zeyt / lauffe yederman vnd saum sich niemants / kauffe e yederman dieweyl der marckt wart / der kost ist nit groß / groß aber der nutz / thür der schatz der fürgestelt ist (›Bibel Teütsch‹, S. **viir).
Jud verteidigt die hybride Wesensart der Zürcher Bibel. Jede Version der heiligen Schrift habe nur relative Gültigkeit. Hieronymus selbst schuf die ›Vulgata‹ aus der Vielfalt frühchristlicher Bibeln, und im Zeitalter der Reformation komme eine solche Freiheit des Bibelworts erneut zur Geltung: 85 86
87
88
Siehe Anm. 88, S. **iiii. Zitat aus dem Nachwort zu Ludwig Hätzers deutschsprachiger Ausgabe von Johannes Oecolampadius’ ›Vom Sakrament der Danksagung‹. Siehe Gordon [Anm. 82], S. 201 und Paul Lehmann-van Elck, Die Offizin Froschauer. Zürichs berühmte Druckerei im 16. Jahrhundert, Zürich/Leipzig 1940, S. 66. Siehe zu Juds Übersetzungstätigkeit und zu der Vorrede: Himmighöfer [Anm. 79], S. 45–56, 372–383; Irmgard Bezzel, Leo Jud als Erasmusübersetzer. Ein Beitrag zur Erasmusrezeption im deutschsprachigen Raum, DVjs 49 (1975), S. 628–644; KarlHeinz Wyss, Leo Jud. Seine Entwicklung zum Reformator 1519–1523, Bern/Frankfurt a. M. 1976 (Europäische Hochschulschriften, III,61); Gordon [Anm. 82], passim. Zitate sind dem Exemplar der Oktav-Ausgabe der Zürcher Bibel in der Universitätsbibliothek St Andrews entnommen: Bibel Teütsch der ursprünglichen Hebreischen o vnd Griechischen warheyt nach / auffs treüwlichest verdolmetschet. Darzu sind yete zund kommen ein schon vnd volkommen Register oder Zeyger über die gantzen e Bibel. Die jarzal vnd rachnung der zeyten von Adamen biß an Christum / mitt sampt gewüssen Concordantzen / Argumenten vnd Zalen, Zürich 1538, hier S. **viv. Zur Geschichte dieses Exemplars siehe Jeffrey Ashcroft, A Swiss Bible and its German destiny, in: ›Vir ingenio mirandus‹. Studies presented to John L. Flood, Bd. 2, hg. von William Jervis Jones [u. a.], Göppingen 2003 (GAG 710/2), S. 669–677.
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Jeffrey Ashcroft e
Dann als Hieronymus bezeüget / sind schier als vil tolmatschungen gewesen als kire e chen. [...] Deßhalb mags keyn verstandiger schalten das sich diser zeyt die geleerten e allenthalben ubend in den spraachen / vnd jren vil auß dem Hebreischen transferierend. Ja vil mer sol man sölichs loben / vnd Gott darumb hohen danck sagenn / der die e gemute erweckt / das sy die heylige geschrifft so fleyssig tractierend vnnd erdurend. e [...] ob gleych zwentzig / ja vnzalbar vil warind / die auß Hebreischem grund die Bibli verteütschtind [...] Ja ein yetlich volck mag sy in jr spraach vertolmetschen / vnd wirt nütdestminder auß dem kein zwytracht in der kirchen Gottes entston (›Bibel Teütsch‹, S. **iiiir).
Polemik wie die Emsers gegen Luther (und implizit wohl die Luthers gegen o Emser) gehe fehl. Die diener der kirchen zu Zürich und die diener der Wittenbergeschen kirchen sollten sich wie freundliche Gegner auf einem Schützenfest benehmen und akzeptieren, daß mal der eine, mal der andere ins Schwarze treffe oder daneben schieße (ebd.). Der Holzschnitt der ›göttlichen Mühle‹ auf dem Titelblatt einer weit verbreiteten Flugschrift stellt dar, wie Erasmus das Mehl in einen Sack füllt, das Christus aus dem evangelischen Wort gemahlen hat und das Luther zum Brot für die Laien backt.89 Entstehung und Werden der Bibel der Reformation sehen in der Wirklichkeit weniger einfach aus. Luther schuldete Erasmus mehr, als er zuzugeben bereit war, und der ›Sendbrief von Dolmetschen‹ zeichnet ein polemisch verzerrtes Bild der philologischen Voraussetzungen und der Methodik seiner Übersetzungen im ›Septembertestament‹. Obwohl der Erfolg seiner deutschen Bibel unanfechtbar war und bleibt, soll doch nicht vergessen werden, daß es auch eine im eigentlicheren Sinne humanistische Tradition der ›erasmischen Bibel‹ gab, die bescheidene Früchte trug.
89
Hans Füssli/Martin Leger/Huldrych Zwingli, ›Dies hand zween Schwyzer Buren gemacht, fürwahr, sie hand es wohl betracht‹, in: Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts, Mikroficheserien, hg. von Hans-Joachim Köhler [u. a.], Zug 1978ff., fiche 279, Nr. 794; 535, Nr. 1373; 784, Nr. 1968; 1041, Nr. 2620. Die Bibliographie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts, Teil 1: Das frühe 16. Jahrhundert (1501–1530), Bd. 1 Druckbeschreibungen A-G, hg. von Hans-Joachim Köhler, Tübingen, 1991, S. 519–521, verzeichnet vier Drucke aus den Jahren 1521–1522 in Zürich, Augsburg und Speyer (Nr. 1123–1126). Vgl. dazu Holeczek, Erasmus Deutsch [Anm. 63], S. 13f., und Christiane Göttler, Das älteste Zwingli-Bildnis – Zwingli als BildErfinder. Der Titelholzschnitt zur ›Beschribung der götlichen müly‹, in: Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation, hg. von Hans-Dietrich Altendorf/Peter Jetzler, Zürich 1984, S. 19–36.
Joachim Hamm
Pax Erasmiana deutsch Zu den Erasmusübersetzungen Ulrich Varnbülers und Georg Spalatins
I Kiel, im Spätsommer 1658. Der Friedensvertrag von Roskilde ist erst wenige Monate alt, als der Dänisch-Schwedische Krieg erneut aufflammt: Karl X. Gustav von Schweden sticht vom Fördehafen aus in See, um Kopenhagen zu belagern. In der Zwischenzeit dringen Truppen des anti-schwedischen Bündnisses in die Herzogtümer Schleswig und Holstein ein. Obgleich mit den Kriegshandlungen nicht unmittelbar konfrontiert, beginnt für die Bevölkerung der verheerendste Abschnitt des Konflikts: In weit schlimmerem Maße als zuvor leidet sie unter Einquartierungen, Brandschatzungen und Plünderungen.1 Von den Kriegswirren betroffen ist auch Kaspar Meuseler aus Reval, der zu dieser Zeit in Schleswig studiert. Der Widmungsbrief seiner Erasmusübersetzung (datiert auf den 12. August 1659)2 berichtet, wie der junge Kaufmannssohn vor den dänischen Alliierten in die Residenz Gottorf geflüchtet sei und in der fürstlichen Bibliothek bei seinem Schwager, dem herzoglichen Bibliothekar Adam Olearie us,3 Unterschlupf gefunden habe. Um die Zeit der Belagerung nicht in Mussigv gang zum nachtheil meines Studirens (Aij ) zu vergeuden, habe er in den ›Adagia‹ des Erasmus von Rotterdam geblättert und sei dabei auf den Kommentar zum Sprichwort ›Dulce bellum inexpertis‹ gestoßen: Und weil es eben eine materia de tempore (wie man zu sagen pfleget) war / da wir in solcher Kriegsnoth begriffen / habe ichs nicht undienlich erachtet / diß herrliche Tractätlein nach meinem wenigen verstande aus dem Latein in unsere Muttersprache zu e ubersetzen (Aiijr).
1
2
3
Vgl. Jörg Rathjen, Friedrich III. Gottorf im Räderwerk der nordeuropäischen Mächtepolitik, in: Gottorf im Glanz des Barock. Kunst und Kultur am Schleswiger Hof 1544–1713, hg. von Heinz Spielmann/Jan Drees, Bd. 1, Schleswig 1997, S. 29–34, hier S. 34. e e Erasmi Roterdodami // schone vnd nachdenckliche // Rede // uber das Sprichwort: // Dulce bellum // inexpertis // Der Krieg scheinet den // unerfahrnen gar lieblich. // Verdeutschet // Durch // Caspar Meußlern von Revel // aus Lieffland, o. O. 1659 [ThULB Jena, Sign. 12 Th. XXXVIII, 30 (8)]. Der Widmungsbrief an den Vater, einen Kaufmann in Reval, auf Aijr-Aiiijv. Zu Adam Olearius und seinen Beitrag zu dieser Übersetzung vgl. unten S. 49f.
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Joachim Hamm
Er wolle, so Meuseler, seinen literarischen Erstling, der den kriegswilligen Landsleuten den leidigen Mars in seiner erschrecklichen Gestalt abconterfeit präsentiere, dem Vater zueignen, als nutzbringende Lektüre und (angesichts der nicht unerheblichen Kosten, die ihm durch das Studium des Sohnes entstünden) als Zeugen meines Fleisses (Aiijv-Aiiijr). Ob die so löblich anempfohlene Erasmusübersetzung – eine elegante Translation des ›Dulce bellum inexpertis‹, die lediglich in einem Exemplar erhalten ist und in der Forschung nur bibliographisch verzeichnet wurde4 – wirklich in der belagerten Gottorfer Residenz entstand, gleichsam inmitten von Kanonendonner und Pulverdampf, läßt sich zwar nicht verifizieren, ist aber auch eine läßliche Frage. Stellt man die rhetorischpersuasiven Vorgaben der Gattung Widmungsbrief in Rechnung, kommt der Werbecharakter dieses Paratextes in den Blick, der die Aufmerksamkeit des Lesers wecken und der Lektüre eine Richtung, dem Verständnis einen Weg weisen will. So gesehen, empfiehlt Meuselers Vorwort die Erasmusschrift von 1515 als höchst aktuelle Verhandlung einer materia de tempore, die nicht nur im lateinischen Original Autorität und Glaubwürdigkeit beansprucht: Gemeinsam mit dem auf dem Titelblatt genannten Humanistenfürsten spricht auch der im Krieg zum Übersetzer gewordene Student als expertus belli in die friedlose Gegenwart von 1659 hinein und stellt den Unerfahrenen die Greuel des Mars und die Segnungen des Friedens vor Augen. Das Gespräch mit dem Leser führen nunmehr zwei Stimmen.5 4
5
Den Druck verzeichnen weder Gerhard Dünnhaupt, Personalbibliographien zu den Drucken des Barock, Stuttgart 21990ff. noch der VD17. Er wird erwähnt von Hannemann [Anm. 28], S. 31, und von Irma Eltink, Ein unbekanntes Pseudonym des Adam Olearius, WBN 25 (1998), S. 35–38. Für eine ausführliche Besprechung der Übersetzung vgl. Joachim Hamm, ›Erasmus deutsch‹ auf Schloß Gottorf. Zu einer Übersetzung des ›Dulce bellum inexpertis‹ aus dem Umkreis des Adam Olearius, Nordelbingen 74 (2005), S. 47–62. Für wertvolle Hinweise bin ich Dieter Lohmeier (Kiel) zu herzlichem Dank verpflichtet. Der Autorität des Erasmus in Sachen Krieg und Frieden bedienten sich gerade in der kriegsbewegten ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zahlreiche weitere Zeitgenossen, seien es Herausgeber, Bearbeiter oder auch Übersetzer seiner einschlägigen Schriften. Nur verwiesen sei auf die Ausgaben der ›Querela pacis‹ während des Dreißigjährigen Krieges (etwa Straßburg 1622, Rostock 1622, Leiden 1641) sowie auf deutsche Adape tationen wie ›Der Friede:// Das ist // Gantz erbarmliche und trewhertzige Klage // deß Güldenen Friedens‹ (o. O. 1643, VD17 12:191605P), ›Teutscher FriedensBott. Querela Pacis Undique Gentium Afflictae Et Profligatae‹ (Frankfurt a. M. 1622, VD17 1:009415N), ›Das Alte Zierliche und von vielen Hochgelerten Leuten berühmbtes Sprichwort Dulce bellum inexpertis [...] ubersetzt. Durch Fridericum Cornelium von Friedensberg‹ (o. O. 1607, VD17 39:123527X), die an die ›Querela Pacis‹ anknüpfende Friedensrede Dietrichs von dem Werder (1639) oder die beiden auch von Erasmus geprägten Schauspiele des Wedeler Pastors Johann Rist anläßlich des Westfälischen Friedens. Zum literarischen Kontext vgl. Wilhelm Kühlmann, Krieg und Frieden in der Literatur des 17. Jahrhunderts, in: 1648 – Krieg und Frieden in Europa, hg. von Klaus Bussmann, Textbd. II, Münster 1998, S. 329–337 (mit weiterführender Literatur). Ich danke Ursula Kundert (Kiel) für weiterführende Hinweise.
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An diesem späten Beispiel der Pax Erasmiana deutsch6 bestätigt sich der geläufige Befund, daß Übersetzen einen vielschichtigen, vom Übersetzer nur zum Teil gesteuerten Translationsprozeß darstellt.7 Dieser besteht nicht allein in der Übertragung einer Vorlage in eine andere Sprache (verbunden mit der Abgleichung differierender grammatikalischer, syntaktischer und semantischer Systeme), sondern umfaßt zugleich ihre Anpassung an einen anderen Bildungsund Verständnishorizont, ihre Transposition in einen gewandelten historischen und funktionalen Kontext, ihre Neuverortung in einem veränderten politischen, religiösen und literarischen Koordinatensystem und die Indienstnahme der Autorität ihres Autors, deren Einschätzung ihrerseits dem Wandel unterliegt – um nur einige wenige, für meine Überlegungen besonders relevante Aspekte zu nennen. Für das Thema ›Humanismus in der deutschen Literatur‹ im allgemeinen und für die hier betrachteten Beispiele der Pax Erasmiana deutsch im besonderen ist zudem grundlegend, daß die mit der Übersetzung verbundenen Translationsprozesse sich, wie Jan-Dirk Müller es formuliert, als »Adaptation zweiten Grades« gestalten:8 Schon Erasmus vermittelte die politischen Ideen, philosophischen Konzepte, literarischen Modelle und politischen Semantiken der Antike und des Frühchristentums an eine gelehrte Bildungselite des 16. Jahrhunderts; in einer zweiten Adaptationsstufe folgen ihm die Übersetzer seiner Schriften nach, ihrerseits Angehörige der Gelehrtenwelt, die sich um die Vermittlung zwischen lateinischem und volkssprachigem Bereich bemühten. Diese vielschichtige Vermittlungsleistung erweist sich bis auf die semantische Ebene9 von der jeweiligen Gebrauchssituation gesteuert. Da diese im ersten zu besprechenden Fall nicht, im zweiten nur unvollständig erschlossen ist, soll von den Übersetzern selbst und den Begleittexten ausgegangen und versucht wer6
7
8
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Grundlegend Heinz Holeczek, Erasmus deutsch. Bd. 1: Die volkssprachige Rezeption des Erasmus von Rotterdam in der reformatorischen Öffentlichkeit 1519–1536, Stuttgart/Bad Cannstatt 1983. Der angekündigte zweite Band, der sich mit den »moralisch-zivilisatorisch-politischen Werken des Erasmus« (S. 7) – darunter auch die pazifistischen Schriften – beschäftigen soll, ist bisher nicht erschienen. Vgl. jetzt die breit ausgreifenden Studien von Hans J. Vermeer, Das Übersetzen in Renaissance und Humanismus (15. und 16. Jahrhundert), Bd. 1: Westeuropa, Bd. 2: Der deutschsprachige Raum. Literatur und Indices, Heidelberg 2000 (Wissenschaft 6 und 7). Vgl. hierzu Jan-Dirk Müller, Res publica und res publica litteraria. Am Bespiel von Spalatins Übersetzungen der politischen Ethik des Erasmus, in: Les premiers sie`cles de la Re´publique europe´enne des lettres. Actes du Colloque interational Paris, de´cembre 2001, hg. von Marc Fumaroli, Paris 2005 (Collections europe´enne des lettres. La Re´publique europe´enne des arts 1), S. 235–259, hier S. 238. Ich danke dem Verfasser herzlich für die Überlassung des Manuskripts noch vor der Drucklegung. Otto Herding, Die deutsche Gestalt der ›Institutio Principis Christiani‹ des Erasmus. Leo Jud und Spalatin, in: Adel und Kirche, FS Gerd Tellenbach, hg. von Josef Fleckenstein [u. a.], Freiburg i. Br. 1968, S. 534–551; Müller [Anm. 8], passim.
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den, sich den jeweiligen Entstehungs- und Gebrauchskontexten der Translationen ein Stück weit anzunähern. Ich konzentriere mich auf zwei prominente Beispiele aus der Anfangszeit der Pax Erasmiana deutsch: auf die erste gedruckte Übersetzung eines verdeutschten Erasmustextes überhaupt, Ulrich Varnbülers Übertragung des ›Dulce bellum‹ (gedruckt 1519), sowie auf eine Translation aus der Feder eines der bedeutendsten frühneuzeitlichen Erasmusübersetzer, die deutsche ›Querela pacis‹ von Georg Spalatin (entstanden 1520, gedruckt 1521).
II Krieg und Frieden waren auch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine materia de tempore, und dies nicht nur angesichts der schier ubiquitären Konflikte dieser Zeit, sondern auch hinsichtlich der vielfältigen Ansätze zur intellektuellen Bewältigung des Phänomens Krieg.10 Gerade im humanistischen Diskurs wird die Pluralität kontroverser Ansichten zu Krieg und Frieden erkennbar, die produktive Konfrontation antiker und zeitgenössischer Konzepte, die Brechungen und Verwerfungen einer im Wandel begriffenen intellektuellen Welt. Hier wie nirgendwo sonst, so Franz Josef Worstbrock,11 treten gegensätzliche Vorstellungen zueinander in Widerstreit und finden ihren literarischen Niederschlag: Epische Verherrlichung des im Krieg triumphierenden Helden steht neben der bukolischen Idylle eines Friedens procul negotiis; flammende Adhortationes ad bellum Turcicum neben Visionen einer friedlichen Koexistenz der Nationen und Religionen; systematische Anleitungen zur Kriegsführung neben Fürstenspiegel, die gerade in den Occupationes in pace die vornehmste Aufgabe eines christlichen Herrschers sehen. In dieser Auseinandersetzung, deren Spektrum vom pragmatischen Verständnis des Krieges als Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen bis zu dessen völliger radikal-pazifistischer Ablehnung reicht, nimmt Erasmus von Rotterdam eine besondere Rolle ein. In zahlreichen durchweg lateinischen Schriften verbindet er konsequent die neutestamentliche Friedenslehre mit dem antiken Erbe, und gerade diese Wiederbelebung christlich-pazifistischer Tradi10
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Vgl. Horst Brunner, Joachim Hamm, Mathias Herweg, Freimut Löser, Sonja Kerth, Johannes Rettelbach, Dulce bellum inexpertis. Bilder des Krieges in der deutschen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 2002 (Imagines medii aevi 11). Zum folgenden bes. Kap. 7 (J. Hamm), Pax optima rerum. Zu den Friedensschriften des Erasmus von Rotterdam und ihrer zeitgenössischen literarischen Rezeption, S. 394–456 (mit Hinweisen auf ältere Forschungsliteratur) sowie Kapitel 8 (ders.): Nec sine pace bonum? Kriegsbilder in neulateinischen Dichtungen im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, S. 469–542. Krieg und Frieden im Horizont des RenaissanceHumanismus, hg. von Franz Josef Worstbrock, Weinheim 1986 (Acta humaniora), S. X.
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tionen im Kontext des Humanismus unterscheidet ihn von Vorgängern wie Andreas Biglia, aber auch von Zeitgenossen wie Jodocus Clichtoveus. Der Rotterdamer entwirft ein Idealbild des Friedens, der nicht nur als Abwesenheit von Krieg, sondern als zentraler Wert des christlichen Europas begriffen wird. Zwar bestreitet er die juristische Berechtigung frühneuzeitlicher Machthaber zur Kriegsführung nicht, und er zögert, jeden Kriegsanlaß zu verurteilen – ein Verteidigungskrieg wird als ultima ratio konzediert. Doch innerhalb der durch das Neue Testament konstituierten unio Christianorum kann es für Erasmus keinen Krieg geben, der nicht zu verdammen wäre. Die traditionelle Lehre des bellum iustum wird damit erschüttert: Der Humanist lehnt jede Rechtfertigung eines zeitgenössischen Krieges aus der Bibel entschieden ab, prangert das für willkürlichen Mißbrauch anfällige System der causae iustae, der gerechten Kriegsgründe, an und entlarvt die pravae cupiditates, die eigennützigen Interessen der christlichen Potentaten, als eigentliche Ursachen für die ubiquitären innereuropäischen Konflikte. Indes mußte Erasmus sich eingestehen, daß seine Versuche, mit im weiteren Sinne politischen Schriften direkten Einfluß auf die Friedensbemühungen seiner Zeit zu nehmen, erfolglos blieben:12 Die Hoffnungen, die er gerade in den Jahren um 1515 auf eine Wende zu einem umfassenden Frieden in Europa setzte, erfüllten sich nicht. Ungeachtet dessen hatten gerade seine literarischen Friedensappelle auf dem Buchmarkt größten Erfolg. Schon zu seinen Lebzeiten erschienen 26 lateinische Ausgaben der ›Querela pacis‹ (1517), allein dreizehn Einzelausgaben des ›Dulce bellum inexpertis‹ (1515) sowie sechs Ausgaben der ›Consultatio de bello Turcis inferendo‹ (1530), des Ratschlags zum Türkenkrieg.13 Trotz mancher Anfeindungen14 wurde jedes der erasmischen Hauptwerke zum Thema Krieg und Frieden kurz nach seinem Erscheinen ins Deutsche übersetzt.15 12
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Als sich der Konflikt zwischen Frankreich und Habsburg nach der Kaiserwahl Karls V. erneut verschärfte, sieht Erasmus 1523 seine Bemühungen gescheitert: res eo profecerunt ut parandum sit paci epithaphium, quandoquidem nulla spes est eam revicturam, vgl. Opvs Epistvlarum Desiderii Erasmi Roterodami denvo recognitvm et avctvm, hg. von Percy Stafford Allen, 12 Bde. Oxford 1906–1958 (im folgenden Allen) Bd. I, S. 19, Z. 3f. Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata. Amsterdam /Oxford 1969ff. (im folgenden ASD), Bd. II, 7, S. 11– 44 (›Dulce bellvm‹), Bd. IV,2, S. 59–100 (›Querela pacis‹), Bd. V, 3, S. 30–82 (›Consultatio‹); der Brief an den Abt Anton van Bergen von 1514, eine der frühesten Programmschriften zum Frieden, bei Allen ep. 288. Von Lutheranern wurde Erasmus als nimium pacis amans angegriffen (Erasmus an Marcus Laurinus Basel 1523, Allen ep. 1342, Z. 605). Die theologische Fakultät in Paris warf in ihrem Urteil über die Erasmusübersetzung des Louis Berquin dem Rotterdamer vor: eneruat omnem politiam et a lege naturali et a diuina discrepat (vgl. Berquin an Erasmus am 13. Oktober 1528, Allen ep. 2066, Z. 37f.). Über die im folgenden erwähnten Übersetzer Lienhard Reicher, Ulrich Varnbüler, Leo Jud und Georg Spalatins hinaus vgl. das Verzeichnis deutscher Erasmusübersetzungen bei Vermeer [Anm. 7], Bd. II, S. 617f.
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III Als erste gedruckte Erasmusübersetzung überhaupt gilt die deutsche Übertragung des ›Dulce bellum‹, die 1519 in der Basler Offizin des Andreas Cratander erschien und ein Jahr später in Straßburg unverändert neuaufgelegt wurde.16 Als Übersetzer firmiert der Diplomat und Jurist Ulrich Varnbüler (1474–1545). Über die wichtigsten Stationen seiner beruflichen Laufbahn sind wir dank Bietenholz und Veesenmeyer gut informiert.17 Ulrich wurde 1474 in St. Gallen geboren, wo sein Vater mehrfach Bürgermeister war. Nach dem Studium in Basel (ab 1489), Freiburg (ab 1490) und Wien (ab 1492) schlug er die juristische Laufbahn ein: 1507 wurde er zum Protonotarius in der Kanzlei am Reichskammergericht ernannt, 1521 avancierte er zum Sekretär am Reichsregiment in Nürnberg.18 Mit dem Reichsregiment siedelte er 1524 nach Eßlingen und 1527 nach Speyer über. 1531 wurde er in Mainz als regens cancellariae, als Kanzleiverwalter am Reichskammergericht vereidigt,19 ein Amt, von dem er sich vor 1540 zurückzog. Im Sommer 1542 hielt er sich in der Gegend von Ulm und Lindau auf und wirkte als Rat des Markgrafen von Baden. Im selben Jahr ging er nach Straßburg, wo er drei Jahre später, 1545, verstarb. Die Stationen dieser juristischen Karriere, die Varnbüler als einen nicht unbedeutenden kaiserlichen Verwaltungsbeamten ausweisen, sind indes nur ein Teil seiner Biographie. Das 16
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Dulce bellum inexperto.// Eyn gemeyn // sprüchwort / Der krieg // ist lustig dem vnerfar=//nen / durch den allergelertesten // Erasmum von Roterodamm erst=//lich o zu latein gar künstlich außge//legt. Vnd yetzo durch her Vlrichen // Varnbüler geteutscht [...]. Basel [Andreas Cratander] 1519 (BSB München, Sign. Rar 1848; VD16 E 1984). Eine Neuauflage erschien 1520 in Straßburg bei Matthias Schürer (VD16 E 1985); vgl. Irmgard Bezzel, Erasmus von Rotterdam. Deutsche Übersetzungen des 16. Jahrhunderts, München 1980 (Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge 20), S. 8, 11f. Zitate und Foliozählung richten sich nach der Erstausgabe. Die in der Sekundärliteratur bisweilen anzutreffende Angabe, das Vorwort der Erstausgabe datiere auf 1515, ist falsch. Die erasmische Schrift führt den Titel ›Dulce bellum inexperto‹ oder auch ›inexpertis‹. Zur Vita vgl. Peter G. Bietenholz, Ulrich Varnbüler, in: ders., Contemporaries of Erasmus. A biographical register of the Renaissance and Reformation, 3 Bde., Toronto [usw.] 1985–1987, hier Bd. 3, S. 377; Georg Veesenmeyer, Ulrich Varnbüler, Neuer literarischer Anzeiger 2 (1807), Sp. 257–260; J. K. Höck, Auch etwas zu Ulrich Varnbülers Lebensgeschichte, Neuer literarischer Anzeiger 2 (1807), Sp. 331–332 und Sp. 438. Rudolf Smed, Das Reichskammergericht. 1. Teil: Geschichte und Verfassung, Weimar 1911 (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit Bd. IV, Heft 3), S. 323; zur Kanzlei ebd., S. 311–341; Christine Roll, Das Zweite Reichsregiment 1521–1530, Köln 1996 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 15), S. 311. Vgl. Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495–1555, Köln/Wien 1981 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 10), S. 44.
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Profil seiner Persönlichkeit gewinnt deutlichere Konturen, wenn man seine (in der Forschung nur konstatierten) Kontakte zu den Humanisten seiner Zeit nachverfolgt. Wohl schon auf die Basler Studienzeit geht die Freundschaft mit Albrecht Dürer zurück. Berühmt ist Varnbülers Holzschnittporträt (siehe Abb. im Anhang) das Dürer 1522 in Nürnberg nach einer um 1521 entstandenen Zeichnung anfertigte. In der Beischrift verweist er respektvoll auf die Stellung des kaiserlichen Sekretärs und drückt seine freundschaftliche Verbundenheit mit ihm aus – quem amat unice, heißt es.20 Von diesem Zeugnis abgesehen, sind Varnbülers Verbindungen zu Dürer kaum mehr belegt: Man tauschte Bücher aus und stand offensichtlich in Briefkontakt (der einzige erhaltene Brief Dürers an den Freund gelangt, enttäuschend genug, über die Anrede Liber Farnbuhle nicht hinaus).21 Wohl auf Dürers Vermittlung kam Varnbüler auch mit Willibald Pirckheimer, dem Aushängeschild des Nürnberger Humanismus, in Kontakt. Schon 1515 sandte ihm dieser eine Plutarchübersetzung zu, für die sich Varnbüler mit einem Brief bedankte, in dessen Grußformel er den gemeinsamen Freund einbezog: Vale, decus Noricum, et iterum cum amicissimo Alberto meo Thürer vale. 22 Noch sieben Jahre später, 1522, widmete ihm Pirckheimer eine weitere Übersetzung, die der Lukianschen ›Navis seu Vota‹.23 Bezeugen Dedikationen wie diese24 das Interesse des kaiserlichen Sekretärs an humanistischer Literatur im allgemeinen und an Übersetzungen im besonderen, so scheint ihn doch erst die Begegnung mit dem bedeutendsten Huma20
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Vgl. Fedja Anzelewsky, Dürer. Werk und Wirkung, Stuttgart 1980, S. 232. Zur Beischrift Albrecht Dürer 1471–1971. Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums 21.5.–1.8.1971, München 1971, Nr. 544–545. Das doch etwas nichtssagende Briefkonzept bei Dürer. Schriftlicher Nachlaß, hg. von Hans Rupprich, Bd. 1, Berlin 1956, S. 124 Nr. 68. Zum Bücheraustausch vgl. Dürers Brief an Felix Frey vom 5. Dezember 1523 (Dürers Briefe, Tagebücher und Reime. hg. von Moriz Thausing, 1872, ND Osnabrück 1970, Nr. 27). Willibald Pirckheimers Briefwechsel, hg. von Emil Reicke, München 1956, Bd. 2, S. 520 (ep. 351 Mainz, 13. Februar 1515). Es handelt sich um den einzigen erhaltenen Brief an Pirckheimer. Zum Lukian vgl. Willibald Pirckheimers Briefwechsel [im folgenden zit. als WPBW], hg. von Helga Scheible, Bd. V, München 2001, hier Nr. 761 (Widmungsepistel, Nürnberg, 26. Februar 1522) und Niklas Holzberg, Willibald Pirckheimer. Griechischer Humanismus in Deutschland, München 1981, S. 298–301, zur Plutarchübersetzung 210f. Einen Brief Pirckheimers an Varnbüler, den Tod Dürers betreffend, erwähnen Willehad Paul Eckert/Christoph von Imhoff, Willibald Pirckheimer. Dürers Freund im Spiegel seines Lebens, seiner Werke und seiner Umwelt, Köln 1971, S. 115f. Wolfgang Capito widmete Varnbüler die zweite Ausgabe seiner ›Institutionum Hebraicarum Libri duo‹ (Straßburg 1525), vgl. Beate Stierle, Capito als Humanist, Heidelberg 1974 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 42), S. 207 Nr. 20. Peter Schöffer d. J. dedizierte ihm einen Band der ›Cantiones quinque‹ (Mainz 1539), vgl. Allen III, S. 394, ad Z. 36.
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nisten seiner Zeit zu eigenem literarischen Engagement veranlaßt zu haben. 1518 hatte Varnbüler mit Erasmus von Rotterdam zufällig Bekanntschaft gemacht: Auf dem Weg von Worms nach Mainz saß man im gleichen Reisewagen. Rückblickend berichtet der Rotterdamer etwas gönnerhaft, mit welchem studium incredibile der kaiserliche Sekretär (quidam Caesaris secretarius, Vlrichus cognomento Farnbul) sich auf der Reise und bei der Suche nach einer Unterkunft in Mainz um ihn bemüht habe.25 Später indes zeigte Erasmus sich äußert dankbar, als Varnbüler auf Vermittlung Pirckheimers ein kaiserliches Privileg erwirkte, das Frobens Offizin vor Raubdruck schützte.26 Zwischen den skizzierten Polen, der Tätigkeit in der Reichsverwaltung auf der einen und der Verbindung zu Humanisten seiner Zeit auf der anderen Seite, läßt sich die Erasmusübertragung aus dem Jahr 1519 – offensichtlich Varnbülers einziges literarisches Werk27 – verorten. Ungeachtet ihrer prominenten literarhistorischen Stellung fand sie in der Forschung nur am Rande Beachtung: Von meist kurzen Erwähnungen abgesehen, geht vor allem Brigitte Hannemann auf diese erste gedruckte Erasmusübersetzung en passant ein, allerdings ohne den spezifischen Gebrauchskontext zu betrachten.28 Rückschlüsse auf diesen gestattet der Widmungsbrief zur Erstausgabe, der auf den 20. August 1519 in Mainz datiert ist. In der Salutatio spricht Varnbüler den Adressaten seiner Übertragung an, den Ernuesten / vnd besonder wol=/geachten Dyethern von Tal=/burg / seine[n] günstigen lieben Junckherrn (Aijr). Er erinnert an eine gemeinsame Unterhaltung in Mainz, in der man sich über Translationen griechischer und lateinischer Werke ausgetauscht habe. Da sein Adressat bereits mehrere solcher Übertragungen besitze und an ihnen Gefallen finde, wolle ihm Varnbüler nunmehr seine eigene Übersetzung des ›Dulce bellum‹ zueignen, verbunden mit dem Wunsch, daß ich in ewer kuntschafft / vnd das register ewerer e wolbegünstigten komen mocht (Aijr). Der angesprochene Adressat, Dyether von Talburg, blieb in der Forschung unbeachtet. Seine Identifizierung fällt nicht schwer: von Talburg ist eine Schreibvariante zu von Dalberg, zum Familiennamen der Kämmerer von Worms. Bischof Johann von Dalberg (1455–1503), Mittelpunkt des Heidelber25 26 27
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An Beatus Rhenanus, 1518 (Allen ep. 867, Z. 34–39); vgl. auch ep. 1341, 1344 und 1353. Pirckheimer hatte Varnbüler gebeten, für Erasmus und Froben tätig zu werden, was dieser ohne Honorar auch tat, vgl. WPBW [Anm. 23], Bd. V, Nr. 782, 819. Die 1544 in Straßburg erschienene Übertragung des ›Vadiscus‹ Ulrichs von Hutten, als deren Autor sich ein Ulrich Varnbüler nennt, wurde wohl von Varnbülers Sohn Hans Ulrich angefertigt, vgl. Siegfried Szamato´lski, Ulrichs von Hutten deutsche Schriften. Untersuchungen nebst einer Nachlese, Straßburg 1891, S. 3–7. Erasmus von Rotterdam. ›Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen‹, übers., eingel. und komm. von Brigitte Hannemann, München 1987 (Kaisers Traktate NF 4), S. 26–28; vgl. darüber hinaus Hamm [Anm. 10], S. 412–414; zur politischen Semantik vgl. Müller [Anm. 8].
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ger Humanistenkreises und einer der wichtigsten Förderer des deutschen Frühhumanismus, firmiert in den Heidelberger Matrikeln unter den Namensvarianten von Dalberg beziehungsweise von Dalburg, er selbst signierte als Dalburgius.29 Johann hatte drei Schwestern und sechs Brüder. Zu letzteren zählt nicht nur der in der Geschichte der Heidelberger Sodalitas bekannte Friedrich (1469–1507), sondern auch Diether VI. von Dalberg.30 Geboren um 1470, heiratete er 1495 Anna von Helmstadt, nahm am Bauernkrieg teil und soll später zum Protestantismus übergetreten sein. Diether gilt als Begründer der Diethrischen bzw. Ruppertsberger Linie und ist in den Dalberger Urkunden von 1476 bis 1529 bezeugt. Er verstarb am 9. Februar 1530 und wurde in Wallhausen beigesetzt. Über die Oppenheimer Burgmannschaft hatten die Kämmerer von Worms seit dem 14. Jahrhundert ihre Beziehungen zur Kurpfalz intensiviert, und auch Diether von Dalberg spielte in der kurpfälzischen Politik eine Rolle: Er gehörte zum engeren Beraterkreis Kurfürst Ludwigs V. von der Pfalz und ist in dessen Gefolge auf dem Wormser Reichstag von 1521, auf dem Wormser Vergleichstag im Dezember 1528 und auf dem zweiten Reichstag zu Speyer 1529 bezeugt.31 In den Reichstagsakten variiert die Schreibweise seines Namens, er firmiert als Dieter oder Dither von Dalberg oder auch von Talberg. Varnbüler hatte, wie der Widmungsbrief belegt, um 1519 in Mainz mit dem pfälzischen Rat Bekanntschaft gemacht, und auch in der Folgezeit ergab sich Gelegenheit zum persönlichen Austausch, etwa auf dem Wormser Reichstag 1521, den beide besuchten: Als Mitglied der pfälzischen Delegation beriet Diether hier unter anderem über das Reichsregiment, dessen Sekretär Varnbüler im selben Jahr werden sollte.32
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Vgl. Die Matrikel der Universität Heidelberg. Von 1386 bis 1662, hg. von Gustav Toepke, Theil 1: Von 1386 bis 1553. Heidelberg 1884 (ND Nendeln/Liechtenstein 1976); Karl Morneweg, Johann von Dalberg, ein deutscher Humanist und Bischof, Heidelberg 1887; Karl Hartfelder, Studien zum pfälzischen Humanismus. Zum 100. Todestag ausgewählt, eingeleitet und mit einem Register hg. von Wilhelm Kühlmann/Hermann Wiegand, Heidelberg 1993, S. 291–343, hier 293; Peter Walter, Johannes von Dalberg und der Humanismus, in: 1495 – Kaiser, Reich, Reformen. Der Reichstag zu Worms, Koblenz 1995, S. 139–171. Zu den neun Kindern, die aus der Ehe Wolfs II. von Dalberg mit Getrud geb. Greiffenclau zu Vollrads hervorgingen, und zu Diether VI. von Dalberg vgl. Dalberger Urkunden. Regesten zu den Urkunden der Kämmerer von Worms, gen. von Dalberg und der Freiherren von Dalberg 1165–1843, bearb. v. Friedrich Battenberg, 3 Bde., Darmstadt 1981–87 (Repertorien des hessischen Staatsarchivs Darmstadt 14/1–3), besonders die Stammbäume in Bd. 3 (Tafel III und VI). Vgl. Deutsche Reichstagsakten, hg. durch die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Jüngere Reihe, Bd. 2, S. 168, Z.9 (Reichstag zu Worms), Bd. 7,1, S. 438, Z. 13 (Wormser Vergleichstag), Bd. 7,1, S. 674, Z. 23 und S. 1384, Z. 25f. (2. Reichstag zu Speyer). Diether nahm an einer Beratung der Pfälzer Hofräte in Anwesenheit des Kurfürsten Ludwig und des Pfalzgrafen Friedrich über die kaiserliche Proposition zum Reichsregiment teil (Reichstagsakten [Anm. 31], Bd. 2, S. 168, Z. 9). Varnbüler war in Verhandlungen im Umkreis des Reichstages tätig (ebd., S. 756, Z. 2).
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Mit Ulrich Varnbüler und Diether von Dalberg standen zwei Politiker in persönlichem Kontakt, die das Interesse für den Humanismus teilten und sich, wie der Widmungsbrief bezeugt, auch über volkssprachige Übersetzungsliteratur austauschten. Zumindest Diether setzte damit eine Familientradition fort. Im Heidelberger Kreis um seinen Bruder Johann hatte, wie Worstbrock formuliert, der Gedanke der Übersetzung ins Deutsche seinen geschichtlich nachhaltigsten Anstoß erfahren, hier war es nach mancherlei Vorläufern zu seiner ersten umfassenden Verwirklichung gekommen.33 Besonderes Interesse bestand im Dalbergkreis an Übertragungen griechischer und lateinischer Klassiker ins Deutsche: Zu nennen sind etwa die für Dalbergs Bruder Friedrich gefertigten Übersetzungsarbeiten des Oppenheimer Pfarrers Johannes Gottfried, daneben die Johannes von Dalberg selbst gewidmeten Lukian- und Apuleiusübersetzungen des bischöflichen Sekretärs in Würzburg, Johann Sieder, sowie die im Umkreis Dalbergs angefertigten Übertragungen des Adam Werner von Themar und des Dietrich von Pleningen.34 Diether von Dalberg erscheint in diesem Zusammenhang zwar nicht, keine erhaltene Translation aus diesem Kreis ist ihm zugeeignet. Doch ganz ohne Interesse an humanistischer Übersetzungsliteratur scheint, wie Varnbülers Widmungsbrief nunmehr belegt, auch dieser jüngere Dalberg nicht gewesen zu sein. Ob man in ihm jenen nicht eindeutig identifizierten Bruder des Wormser Bischofs sehen darf, auf den eine Äußerung Wimpfelings anspielt und dem Reuchlin einige nicht erhaltene Übersetzungen zueignete, muß offen bleiben. Dahingehende Vermutungen der älteren Forschung werden heute zwar meist abgelehnt, sind womöglich aber doch nicht ganz abwegig:35 Nach Varnbülers Zeugnis jedenfalls fand auch Diether an Überset33
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Franz Josef Worstbrock, Zur Einbürgerung der Übersetzung antiker Autoren im deutschen Humanismus, ZfdA 99 (1970), S. 45–81, hier S. 57; ders., Deutsche Antikerezeption 1450–1550, Teil 1: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren. Mit einer Bibliographie der Übersetzer, Boppard am Rhein 1976 (Veröffentlichungen zur Humanismusforschung 1); zum Kontext des Heidelberger Humanismus vgl. oben Anm. 29 sowie Wissen für den Hof. Der spätmittelalterliche Verschriftungsprozess am Beispiel Heidelberg im 15. Jahrhundert, hg. von Jan-Dirk Müller, München 1994; Martina Backes, Das literarische Leben am kurpfälzischen Hof zu Heidelberg im 15. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gönnerforschung des Spätmittelalters, Tübingen 1992 (Hermaea NF 68). Vgl. Simone Drücke, Humanistische Laienbildung um 1500. Das Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried, Münster 1999 (Palaestra 312); Birgit Plank, Johann Sieders Übersetzung des ›Goldenen Esels‹ und die frühe deutschsprachige ›Metamorphosen‹-Rezeption. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Apuleius’ Roman, Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 92); Anette Gerlach, Das Übersetzungswerk Dietrichs von Pleningen. Zur Rezeption der Antike im deutschen Humanismus, Frankfurt a. M. [usw.] 1993. Das Zeugnis Jakob Wimpfelings, nach dem auch Johanns Brüder Interesse für Übersetzungen aus dem Lateinischen und Griechischen zeigten, wird heute auf Wolfgang und Friedrich, nicht aber auf Diether bezogen: Itidem mihi facere videntur fratres Ioannis episcopi Vangionum, qui licet divitiis et nobilitate sanguinis camerariorum
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zungsliteratur Gefallen und besaß mehrere Schriften, von den kriechischen vnd andern vrsprünglich herkomendt in das latein vnd fürther in teutsch gewendet (Aijr). Als Adressat der ersten gedruckten Erasmusübersetzung gewinnt Diether von Dalberg, eine in der Forschung zum Heidelberger Humanismus kaum beachtete Persönlichkeit, an Profil. Allein ihm zum Gefallen entstand, wie Varnbüler betont, die erste gedruckte Erasmusübertragung ins Deutsche: solchs e e o e buchlin allein obberurter meinung mich bey euch in merer kuntschafft zu furen o o v vnnd zu begünstigen / also zu teutsch interpretiert (Aij ). Wenn der Übersetzer ein im weiteren Sinne politisches Werk des Erasmus wählte, so setzte er die Traditionen im Umkreis der Heidelberger Sodalitas fort, in dem man gerade Schriften zur Politik, Ethik und Fürstendidaxe ins Deutsche transferierte. Was die praktizierte Übersetzungsmethode betrifft, erweist sich die Übertragung von 1519 (ebenso wie zahllose andere ihrer Zeit) als weitgehend wörtliche Version, die – vergleichbar mit den Übersetzungen von Rudolf Agricola, Adam Werner von Themar oder Dietrich von Pleningen – den Vorlagentext, soweit es die sprachlichen Mittel der muterlichen sprach erlaubten, in seiner Integrität zu wahren und mit dem jeweils sachlich genauesten Ausdruck der Volkssprache wiederzugeben versucht.36 Vor diesem Hintergrund markiert Varnbülers Übersetzung ebensowenig einen Wendepunkt in der frühneuzeitlichen Geschichte deutscher Übersetzungen aus dem Lateinischen wie die erste bekannte Erasmus-
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Dalburgensium excellant, non tamen otio vacant, sed optimis litteris vel in vernacula lingua strenue indulgent, historias et fabulas venantur, quas probe norunt, et ipsas quoque virtutes amant. Nec tamen artis aut exercitii militaris sunt imperiti, adeo ut ad principatus, ad res publicas gubernandas et belli et pacis tempore tum animi tum corporis viribus consilium et robur illustrissimis principibus suppeditare possint (›Adolescentia‹, um 1500, Kap. 42, S. 224, zit. nach Drücke [Anm. 34], S. 25). Johann Reuchlin sandte 1491 mehrere (heute verlorene) Übersetzungen aus dem Griechischen an Bischof Johann und einen seiner Brüder, den er als Theoderich anspricht. Morneweg [Anm. 29], S. 141–143 identifiziert letzteren zunächst als Friedrich, revidiert dies jedoch (S. 297, Anm. 158) und bezieht die Widmung nunmehr auf Diether von Dalberg, der damals 21 Jahre alt gewesen wäre (dagegen Walter [Anm. 29], S. 163, Anm. 108). Der Brief vom 12. Dezember 1491, in dem sich Johann von Dalberg auch im Namen seines (hier ebenfalls unbenannten) Bruders bedankt, bei Morneweg S. 354–356. Hierzu Drücke [Anm. 34], S. 151; Worstbrock [Anm. 33, 1970], S. 58, Anm. 57. Die Übersetzungsmethode und wohl auch der Respekt vor dem im Titel genannten Autor brachten es mit sich, daß Varnbüler auf inhaltliche Zusätze weitestgehend verzichtete. Hannemann [Anm. 28] indes konstatiert einige auffällige Abweichungen von der 1515 erschienenen Vulgata-Ausgabe des ›Dulce bellum‹ und folgert, Varnbüler müsse ein »bereits bearbeitetes Separat« (S. 89) vorgelegen haben. Nicht in Betracht zog sie dabei die Frobensche Adagia-Ausgabe von 1517/18, die bereits alle größeren Abweichungen und Zusätze zur Vulgata-Edition enthält, welche sich in Varnbülers Übertragung wiederfinden. Diese Textfassung lag dem Übersetzer vor, und er folgte ihr (von einigen Begriffserläuterungen und einer größeren Textlücke abgesehen, siehe Anm. 41) gewissenhaft, vgl. Hamm [Anm. 10], S. 413f.
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übertragung überhaupt, die den Fürsten Ottheinrich und Philipp von der Pfalz gewidmete deutsche ›Institutio Principis Christiani‹ des Mundlinger Pfarrers Lienhard Reicher von 1517:37 Die Anfänge der Pax Erasmiana deutsch knüpfen an die Traditionen des pfälzischen Humanismus an, welcher die Ideen der gelehrten Welt (gerade die politisch lehr- und nutzreichen) einem volkssprachigem Leserkreis nahezubringen suchte. Ulrich Varnbüler präsentiert sich – vergleichbar etwa mit Dietrich von Pleningen, der seinerseits als pfälzischer Rat am Reichskammergericht tätig war – als Mann der politischen Praxis und Angehöriger einer gebildeten Elite, der sich der Vermittlung zwischen lateinischem und volkssprachigem Bereich verpflichtet sah. Im Unterschied zu den meisten Übersetzern des Dalbergkreises nahm er sich allerdings keine antike, sondern eine zeitgenössische Schrift zur Vorlage. Der eingangs erwähnte doppelte Adaptationsprozeß wird hier konkret: Hatte Erasmus überkommene pazifistische Argumentationen für ein lateinkundiges zeitgenössisches Publikum aufbereitet, so blieb es dem Juristen Varnbüler vorbehalten, diese politischen Leitbilder auch außerhalb der humanistischen Bildungselite zu verbreiten. Auch auf dieser Vermittlungsstufe unterscheidet sich das Erasmusprojekt von 1519 von den vorgängigen Traditionen. Während die Übersetzungen des Dalbergkreises fast ausschließlich (wie auch Reichers deutsche ›Institutio‹) in handschriftlicher Form kursierten und sich an einen engen Kreis namentlich bekannter Adressaten richteten, nutzte Varnbüler das Druckmedium, sprach also nicht nur seinen primären Adressaten, sondern auch eine anonyme volkssprachige Leserschaft an – eben jene (im Widmungsbrief abschließend genannten) inexperti, die zum Krieg neigten, sich aber über dessen wahren Charakter im Unklaren seien (Aijv). Unterlag der Leserkreis der Übersetzung mit der Drucklegung nicht mehr der Kontrolle des Übersetzers, so ließ sich doch der Zeitpunkt der Veröffentlichung steuern. Daß der verdeutschte Friedenstraktat vor einem bestimmten politischen Hintergrund zu sehen ist, steht zu vermuten: Schon Erasmus selbst hatte seine großen Friedensschriften, wie bereits angedeutet, auch als publizistische Kommentare zur aktuellen politischen Lage verfaßt. Der pazifistische Brief an Anton van Bergen von 1514 und das ›Dulce bellum‹ von 1515 entstanden zu einer Zeit, als sich eine entscheidende Wendung im politischen Gefüge Europas abzeichnete und Anlaß zu Friedenshoffnungen zu geben schien.38 Als 1516 im 37
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Vgl. Luca d’Ascia, Die erste Übersetzung der ›Institutio Principis Christiani‹. Ein Beitrag zum »Erasmus deutsch«, Wolfenbütteler Renaissance Mitteilungen 14 (1990), S. 1–14. Nach kriegserfüllten Jahre waren es, wie Alois Haas resümiert, weitgehend junge, unverbrauchte Herrscher, die nunmehr nahezu zur selben Zeit in den Ländern Europas an die Macht kamen: König Heinrich VIII. von England (seit 1509), König Franz I. von Frankreich (seit 1515), König Karl I. von Spanien (seit 1516), schließlich Papst Leo X., der bereits 1513 die Nachfolge des kriegerischen Julius II. angetreten
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Abkommen von Noyon beschlossen wurde, das burgundisch-französische Verhältnis auszubauen, und im folgenden Jahr zu Cambrai eine große Fürstenkonferenz geplant wurde, verfaßte der kaiserliche Rat Erasmus seine ›Querela pacis‹ – und zwar, wie er selbst sagt, auf direkte Veranlassung des Staatsmannes Le Sauvage, der eine dauerhafte Aussöhnung zwischen Frankreich und Maximilian herbeizuführen versuchte: iussu Ioannis Syluagii scripsi Pacis querelam.39 Gleichermaßen auch vor einem tagespolitischem Hintergrund zu sehen ist die letzte große Friedensschrift des Rotterdamers, das Gutachten zum Türkenkrieg (›Consultatio de bello Turcis inferendo‹), das im Vorfeld des Augsburger Reichstages (1530) veröffentlicht wurde, auf dem unter anderem Verhandlungen über einen Türkenfeldzug auf dem Programm standen. Ohne diese Erasmusschriften auf ihre publizistische Funktion reduzieren zu wollen, bleibt doch zu konstatieren, daß der Rotterdamer sein literarisches Engagement in dieser Sache genau zu der Zeit intensivierte, als die Entscheidung über Krieg und Frieden auf die politische Tagesordnung rückte. Daß das ›Dulce bellum‹ und die ›Querela pacis‹, die sich besonders durch eine rhetorisch-appellative Argumentation auszeichnen, nicht ohne Blick auf die aktuellen Zeitläufe geschrieben und publiziert wurden, ist auch für ihre deutschen Übertragungen nicht ohne Belang. Als Varnbüler am 20. August 1519 den Widmungsbrief zu seiner Übersetzung verfaßte, durfte er auf ein interessiertes Publikum hoffen. Erasmus stand längst auch in Deutschland in höchstem Ansehen, und dies nicht nur in den elitären humanistischen Zirkeln.40 Seine engagierten, mitreißenden Friedensappelle boten sich einem Übersetzer als materia de tempore an, zumal in dem von zahlreichen Kriegen auf der einen, von aufkeimenden Friedenshoffnungen auf der anderen Seite geprägten ersten Viertel des 16. Jahrhunderts. Die Widmung und Drucklegung der Übertragung dürften – wenn auch ein expliziter Bezug fehlt – mit Blick auf die aktuellen politischen Geschehnisse erfolgt sein: Nur wenige Wochen zuvor, am 28. Juni 1519, war der Habsburger Karl nach einer von öffentlicher Wahlpropaganda und mancherlei Taktieren geprägten Verhandlungszeit zum Kaiser gewählt worden. Durchaus denkbar also, daß der kaiserliche Sekretär Varnbüler angesichts der Friedenshoffnungen, die man mit der Wahl des Habsburgers verband, das berühmte
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hatte. Die alten verkrusteten Strukturen schienen aufzubrechen, die Wende zum Frieden schien nun gekommen, vgl. Erasmus von Rotterdam, Ein Klag des Frydens. Leo Juds Übersetzung der Querela Pacis von 1521 zusammen mit dem lateinischen Original hg. von Alois M. Haas/Urs Herzog, Zürich 1969, S. 53. Zit. nach Herding, der resümiert: »Das ist so klar, daß nichts hinzuzufügen ist. [...] Der Publizist Erasmus, Rat Karls V., schreibt im Auftrag des maßgebenden Staatsmannes. Nichts sonst« (Otto Herding, Einleitung zur ›Querela Pacis‹, in: ASD [Anm. 13], Bd. IV, 2, S. 1–56, hier 8). Vgl. Johannes Beumer, Erasmus von Rotterdam und sein Verhältnis zum deutschen Humanismus mit besonderer Rücksicht auf die konfessionellen Gegensätze, in: Scrinium Erasmianum, hg. von Joseph Coppens, Bd. I, Leiden 1969, S. 165–201.
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›Dulce bellum‹ des kaiserlichen Rates Erasmus bewußt zu dieser Zeit veröffentlichte – und womöglich ist auch die einzige größere Lücke in seiner Übersetzung vor diesem aktuellen Hintergrund zu sehen.41 Verweist die erste gedruckte Erasmusübertragung in manchem noch auf das in den Frühhumanismus zurückreichende Interesse der Dalbergs an literarischen Übersetzungen, so spiegelt der Kontext, in dem die folgende Erasmustranslation entstand, einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung des Rotterdamers wider, der in den Jahren ab 1520 auch den deutschsprachigen Bereich erfaßte und nicht zuletzt von einem der eifrigsten Erasmusübersetzer seiner Zeit, dem kursächsischen Sekretär Georg Spalatin, gefördert wurde.
IV Georg Burkhardt aus Spalt, genannt Spalatinus (1482–1545),42 gehört zu jenen Mitgliedern der frühneuzeitlichen Bildungselite, die durch ihre einflußreiche Stellung am Fürstenhof einen eminent bedeutenden Beitrag zur Vermittlung reformerischer Ideen und Ansätze zwischen Gelehrtenwelt und politischer Pra41
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Erasmus hatte im ›Dulce bellum‹ abschließend Leo X. als Papst des Friedens gepriesen und sein Talent sowie Interesse für die humanistischen Studien begrüßt (hierzu Herding [Anm. 39], S. 17–20). In Varnbülers Übersetzung fehlt der Hauptteil dieses Panegyricus. Eine Textlücke in der benutzten Vorlage ist unwahrscheinlich, in Frobens ›Adagia‹ von 1517/18 wie auch in allen anderen von mir eingesehenen Ausgaben ist der vollständige Panegyricus zu lesen. Geht man von einer absichtsvollen Kürzung aus, so ist diese angesichts der ansonsten gewahrten Integrität des Originals bemerkenswert. Ein mögliches Motiv bietet das aktuelle politische Geschehen: Im Vorfeld der Kaiserwahl standen sich Franz I., Heinrich VIII., Kurfürst Friedrich der Weise sowie der Habsburger Karl gegenüber. Papst Leo X. hatte zunächst auf Franz gesetzt und favorisierte nach dessen Ausscheiden Kurfürst Friedrich, um eine Wahl des für den Kirchenstaat gefährlich erscheinenden Habsburgers zu verhindern. Als Friedrich sich jedoch zurückgezog, ging Karl aus der Wahl am 28. Juni 1519 als Sieger hervor. Varnbülers Widmungsvorrede entstand knapp sieben Wochen später, am 20. August 1519. Denkbar, daß der kaiserliche Sekretär es angesichts der politischen Wetterlage nicht für angebracht hielt, den Leo-Panegyricus in seiner ursprünglichen Ausführlichkeit ins Deutsche zu übertragen. Vgl. Hamm [Anm. 10], S. 414, zum Kontext Paul Kalkoff, Die Kaiserwahl Friedrichs IV. und Karls V. am 27. und 28. Juni 1519, Weimar 1925; Ingetraut Ludolphy, Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1453–1525, Göttingen 1984, S. 215–219; Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500–1600, München 1989, S. 147–153. Irmgard Höss, Georg Spalatin 1484–1545. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation, 2., durchges. u. erw. Ausg., Weimar 1989; Hans Volz, Bibliographie der im 16. Jahrhundert erschienenen Schriften Georg Spalatins, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 5 (1958) S. 83–119; zum Folgenden vgl. auch Paul Kalkoff, Erasmus, Luther und Friedrich der Weise. Eine reformationsgeschichtliche Studie, Leipzig 1919.
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xis leisteten. Um sich Spalatins Wirken als Erasmusübersetzer anzunähern, seien zunächst drei aufschlußreiche Ereignisse aus dem Jahr 1516 vergegenwärtigt: seine Berufung in die Kanzlei Kurfürst Friedrichs von Sachsen, die erste Vermittlung lutherischer Gedanken an Erasmus sowie die Anfänge eigenen literarischen Engagements am kurfürstlichen Hof. Nach dem Studium in Erfurt und Wittenberg, wo er u. a. von Mutian gefördert wurde, trat Spalatin 1508 in den Dienst des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, zunächst als Erzieher des Kurprinzen Johann Friedrich. Wohl im September 1516 wurde er in die kurfürstliche Kanzlei berufen. Zum Aufgabenbereich des mit der lateinischen Sprache bestens vertrauten Juristen gehörte es u. a., die lateinische Korrespondenz mit auswärtigen Mächten zu betreuen: Spalatin übersetzte offizielle Schreiben an Friedrich ins Deutsche, übertrug im Gegenzug dessen Korrespondenz ins Lateinische und fungierte auch sonst als Dolmetscher, etwa wenn er dem Kurfürsten lateinische Schriften vorübersetzte.43 Am Aufbau der Wittenberger Bibliothek, für den der Kurfürst großzügige Mittel bereitstellte, war Spalatin ab 1512 maßgeblich beteiligt. Besonderen Wert legte er darauf, die Werke des Erasmus möglichst vollständig zu erwerben: In seinem ersten Brief an den Rotterdamer vom 11. Dezember 1516 berichtet er voller Stolz, daß der Kurfürst alle bereits erschienenen Werke des Erasmus für seine Bibliothek zu Wittenberg angeschafft habe und auch alle künftigen Schriften mit Ungeduld erwarte und zu erwerben gedenke.44 Spalatins Stellung am Hof beschränkte sich indes nicht auf diese Aufgabenbereiche: Wohl schon seit 1518 fungierte er zudem als Friedrichs Beichtvater, vier Jahre später, 1522, wurde er zum Hofprediger ernannt. Die Doppelstellung als Geheimsekretär und weltlicher Rat auf der einen, als geistlicher Ratgeber und Seelsorger auf der anderen Seiten war grundlegend für den späteren Einfluß, den Spalatin gerade in der causa Lutheri nehmen sollte.45 Es ist für Spalatins späteres reformatorisches Engagement bezeichnend, daß schon sein erstes Schreiben an Erasmus im Zeichen der Vermittlung lutherischen Gedankenguts stand. Luther hatte im Jahr 1516 seine Einwände gegen die erasmische Interpretation des Apostel Paulus (in den Einleitungen zum ›Novum Instrumentum‹) dem Freund am kurfürstlichen Hof mitgeteilt. Er bat, diese Ansichten dem Rotterdamer zur Kenntnis zu bringen.46 Spalatin kam dem be43 44
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Höss [Anm. 42], S. 90. Habet etiam Princeps meus clementissismus, Dux Fridericus Saxoniae, [...] libros tuos omnes, quoscunque inuenimus, in sua bibliotheca ducali, comparaturus etiam reliquos quotquot posthac vbicunque edideris tantum (Allen ep. 501, Bd. II, S. 415–18, hier S. 417, Z. 39–44). Hierzu Höss [Anm. 42], S. 67; Kalkoff [Anm. 42], S. VIIIf., S. 8– 20; Karl August Meissinger, Erasmus von Rotterdam, Zürich 1942, S. 245–248. Höss [Anm. 42], S. 91. D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Briefwechsel 18 Bde., Weimar 1930–1985 [im folgenden zit. als WABr], Bd. 1, Nr. 27, 19. Oktober 1516; hierzu Höss [Anm. 42], S. 97–101.
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reitwillig in seinem erwähnten Brief vom 11. Dezember 1516 nach. Der Austausch zwischen Luther und Spalatin auf der einen, Spalatin und Erasmus auf der anderen Seite ist in zweierlei Hinsicht aufschlußreich: Zum einen wurde der Geheimsekretär – der sich doch so ausgiebig mit Friedrichs des Weisen Vorliebe für Heiligenreliquien beschäftigen mußte – durch Luthers Schreiben mit den Grundzügen seiner Rechtfertigungslehre vertraut gemacht und zu intensivierten theologischen Studien angeregt, die er im regen Austausch mit dem Wittenberger Freund verfolgte. Zum anderen übernahm Spalatin bereits hier wie auch später bereitwillig die Rolle eines Verbindungsmannes zwischen Luther und Erasmus, eines Vermittlers zwischen zwei Reformlagern, die er letztlich jedoch nicht zusammenhalten konnte.47 Schon bald nach seinem Eintritt in die kurfürstlichen Dienste wurde Spalatin zudem mit literarischen Projekten und Übersetzungsarbeiten betraut: Ab 1510 bis zu seinem Tod arbeitete er am Großunternehmen einer sächsischen Chronik, und wohl schon seit 1509 wurde er von seinem Kurfürsten mit Übersetzungsarbeiten beauftragt. Daneben verfolgte Spalatin eigene literarische Interessen. Schon bald nach seinem Eintritt in die Dienste des Kurfürsten hatte er seine Pläne für Übersetzungsprojekte Luther gegenüber angedeutet; dieser übersandte ihm 1517 einige theologische Schriften, darunter auch eine des Erasmus, womöglich als Vorlage für Übertragungen ins Deutsche.48 Etwa ab 1518 stellte er sich als Übersetzer vor allem in den Dienst von Luthers Sache, indem er einige seiner lateinischen Schriften ins Deutsche übertrug. Wenig später sollte er, wie Irmgard Höss es formuliert,49 zum »Dolmetscher des Führers der Humanistengeneration« werden. Die einflußreiche Kanzlei- und Ratgebertätigkeit, das zunehmende Engagement für die causa Lutheri, die vielfältigen humanistischen Kontakte und eine ausgeprägte Vermittlertätigkeit zwischen den verschiedenen geistigen Strömungen seiner Zeit kennzeichnen Spalatins Wirken in diesen Jahren. Sein Übersetzungsengagement für Erasmus wird erst im Frühjahr 1520 greifbar, als Spalatin sich mit dem kursächsischen Hof auf der Lochau aufhielt und hier in kürzester Zeit eine ganze Reihe von Erasmusschriften ins Deutsche übertrug, darunter auch die wohl berühmteste Schrift der Pax Erasmiana, die ›Querela pacis‹. Die deutsche Klag des Frids – erschienen 1521 in Augsburg bei Grimm und Wirsung, neuaufgelegt 1522 durch Matthias Schürers Erben in Straßburg, jeweils mit dem Brief an Abt Anton van Bergen im Anhang50 – fand in der 47 48
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Höss [Anm. 42], S. 99. WABr [Anm. 46] Bd. 1, Nr. 39 (6. Mai 1517 oder wenig später); hierzu Höss [Anm. 42], S. 94. Leider verklausuliert Luther, welches Erasmuswerk er beigab: Ecce Erasmus Eruditissimus una cum sibi laudatissimo Hiero[nymo]. Handelt es sich um Werke des Erasmus und des Hieronymus, wie Höss meint, oder nicht doch um die erasmische Hieronymus-Ausgabe, die 1515 in den Druck kam? Höss [Anm. 42], S. 94. Das ›Cristlich büchlein hern Erasmus Ro=//terdamus genannt / die Klage des
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Forschung mehrfach Beachtung. Während Jan-Dirk Müller sie jüngst neben anderen Spalatinschen Erasmusübersetzungen unter dem Aspekt der historischen Semantik betrachtete, widmete sich Martin Treu gerade auch der spezifischen Gebrauchssituation.51 Auf diese zu schließen, erlaubt Spalatins Widmungsbrief an Friedrich den Weisen. Bemerkenswert ist, daß diese (mit vier Druckseiten außergewöhnlich umfangreiche, eher als Einführung ins Werk anmutende) Dedikation nicht den erasmischen Widmungsbrief an Bischof Philipp von Utrecht aus dem Jahr 1517 ersetzt, sondern diesem vorangestellt ist: Dem Leser werden also zwei Widmungsbriefe in deutscher Sprache präsentiert, der des Übersetzers und, deutlich davon abgesetzt, der des Autors. 52 Man darf dies Spalatins Willen zur vollständigen Wiedergabe seiner Vorlage zuschreiben: Diese wird in ihrer Autonomie wahrgenommen und respektiert, ihre Integrität bleibt gegen den Zugriff des Übersetzers bewahrt – und dem entspricht auch die weitgehend treue, auf Zusätze und Kürzungen verzichtende Übertragung der Friedensklage selbst (auf die Marginalien indes wird noch einzugehen sein).53
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Frids / inn // allen nation vnd landen verworffen // vertrieben / vnd erlegt / Durch // Georgium Spalatin=//num verteütscht‹, Augsburg [Sigmund Grimm] 1521 (UB Würzburg, Sign. 14 an Inc.q.39; VD 16 E 3508). Eine zweite Auflage erschien bei Matthias Schürers Erben, Straßburg 1522 (?), VD16 E3510. Der verdeutschte Brief an Anton van Bergen (Allen ep. 288, Bd. I, 551–554) ist diesen Drucken jeweils im Anhang mit eigenem Titelblatt, aber fortlaufender Bogenzählung beigegeben. Allens einleitende Bemerkung zu ep. 288, Spalatins Übersetzung liege in einem separaten Druck ohne Ort und Jahr vor und sei wahrscheinlich schon im Jahr 1514 erschienen, stiftet bisweilen noch Verwirrung (Höss [Anm. 42], S. 94), beruht aber auf einem Mißverständnis, das bereits Volz [Anm. 42] und Treu [Anm. 51], S. 521 klären. Darüber hinaus: Das von Allen nach eigener Angabe benutzte und zitierte Exemplar der deutschen Epistel aus der UB Basel findet sich dort noch heute (Sign.: FM1 X 7:9). Nach freundlicher Auskunft von Dr. Hunger, Handschriftenabteilung der UB Basel, handelt es sich um die aus dem ursprünglichen Verbund mit der ›Querela pacis‹ gelöste Epistelübersetzung der Straßburger Zweitausgabe. Daß Spalatin vor 1521 eine Übersetzung der ep. 288 zum Druck brachte, ist damit endgültig widerlegt: Seine im Druck erhaltenen Erasmusübersetzungen entstanden erst 1520 auf der Lochau. Nach den ›Querela‹-Ausgaben von 1521 und 1522 erschien eine weitere im Jahr 1566, vgl. VD16 E3511. Martin Treu, Die deutsche Übersetzung der ›Querela pacis‹ des Erasmus durch Georg Spalatin. Ein Beispiel für die volkssprachige Rezeption des humanistischen Friedensgedankens, in: »Der Buchstabe tödt – der Geist macht lebendig«. FS HansGert Roloff, hg. von James Hardin/Jörg Jungmayr, 2 Bde., Bern [usw.] 1992, S. 519–532; Müller [Anm. 8] S. 241–258. Der Einsiedler Prediger Leo Jud hingegen verzichtet in seiner im gleichen Jahr erschienenen Übersetzung der ›Querela pacis‹ auf die erasmische Dedikationsepistel an Philipp, vgl. die Faksimile-Ausgabe des Druckes von Haas [Anm. 38] sowie Irmgard Bezzel, Leo Jud (1482–1542) als Erasmusübersetzer, DVjS 49 (1975), S. 628–644. Zu Spalatins Übersetzungsmethode Herding [Anm. 9], passim, sowie Treu [Anm. 51], S. 521–525 und jetzt Müller [Anm. 8], passim. Zu Recht wendet sich Treu, S. 521 gegen das (auf eine aus ihrem Kontext gelöste Bemerkung Luthers zu-
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Die zweifache Dedikation zieht eine Trennlinie zwischen Autor und Übersetzer, sie macht die doppelte humanistische Vermittlungsleistung explizit, die sich in dieser volkssprachigen Übertragung einer auf antiken Fundamenten stehenden lateinischen Schrift manifestiert. Zugleich werden damit unterschiedliche Gebrauchssituationen und Lesevorgaben markiert. Erasmus’ Widmungsepistel von 1517 ist eine laudatio des eben zum Bischof von Utrecht gewählten Philipp, die in eine adhortatio mündet: Angesichts der aktuellen Kriegsgefahr möge Philipp die Beförderung eines Friedens mit Frankreich als vordringliche Aufgabe und Verpflichtung in seinem neuen Amt begreifen.54 Spalatin setzt andere Akzente. Nicht ein Geistlicher, sondern ein Landesfürst ist sein Adressat. Diesem gegenüber rückt der Übersetzer – auf eine (durchaus mögliche) tagespolitische Anknüpfung verzichtend – die Pax Christi in den Mittelpunkt: Die anthropologische, philosophisch-ethische und biblische Argumentation des humanistischen Traktats wird im Vorgriff auf den von Gott o geschenkten Frieden verengt, der auf ainem geraden vnd richtigen weg zu der e ewigen vnd hymlischen salickayt führe (Aijr). Diese neutestamentliche pax wird – illustriert mit Zitaten aus der Bergpredigt, den Paulusbriefen und den Prophetenbüchern – dem Leser anempfohlen, gipfelnd in der Mahnung: Last vns den frid halten / last vns den frid verwaren / so verwart vnnd behelt vns der frid inn dem herzen Christo Jesu (Aijv). Dies geht über eine theologische Einführung in e das Werk weit hinaus: Der underthanige Caplan Georgius Spalatinus (so die Subscriptio) hält hier, pointiert gesagt, eine Predigt über den Frieden als Gottesgeschenk und als Verpflichtung für jeden Christenmenschen. Er dürfte damit seiner Stellung als geistlicher Ratgeber Genüge getan und zugleich der tiefen Religiosität seines Adressaten entsprochen haben.55 Im Unterschied zu Philipp
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rückgehende) Urteil, Spalatin habe mit »ängstlicher Wörtlichkeit« (Herding S. 545) übersetzt. Im übrigen war Spalatin sich über den Descensus vom eleganten Latein zur Volkssprache völlig im Klaren. Im Vorwort zu seiner Übersetzung der erasmischen o ›Institutio principis Christiani‹ (siehe Anm. 70) schreibt er: zu dem das nymmer mer kain spruch zierlich mag auß der andern getolmetscht werden / oder aber ye ser selten / das alle art zierhait vnd lieplichait in der tolmetschung mitfolge (Aijv). Im Gegensatz zu Spalatins Übersetzung steht wiederum die ›Querela pacis‹-Übertragung Leo Juds, der sich nicht scheut, daß erasmische Elogium auf Frankreich als Anachronismus zu übergehen, vgl. Herding [Anm. 39], S. 15 und Bezzel [Anm. 52], passim. Philipp war im März 1517 zum Bischof von Utrecht gewählt worden, trat im Mai sein Amt an und wurde am 8. März 1518 zum Bischof geweiht, vgl. Herding [Anm. 39], S. 3f. Allen (ad ep. 603) datiert den Widmungsbrief der ›Querela pacis‹ in den Juli 1517. Nach Treu [Anm. 51], S. 523 hat Spalatin darauf verzichtet, der ›Querela pacis‹ eine »entschieden reformatorische Wendung« zu geben. Das war angesichts der zurückhaltenden Einstellung Friedrichs des Weisen in dieser Frage natürlich auch nicht zu erwarten: »Ein überzeugter Anhänger von Luthers Lehre war er 1518 keinesfalls; er war es auch in den zwanziger Jahren nicht« (Höss [Anm. 42], S. 137).
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wird dieser nicht zu konkretem politischen Handeln aufgefordert: Denn Friedrichs Herrschaft zeichne sich, so Spalatin, bereits durch langjährigen Frieden aus, gründend auf christliche Einsicht und die Weitsicht eines erfahrenen Politikers. Spalatins Dedikation propagiert kein erstrebenswertes Ideal eines Friedens, der bisher inn // allen nation vnd landen verworffen // vertrieben / vnd erlegt ist. Spalatins Friede ist vielmehr bereits Realität, ein Dauerzustand gar im Herrschaftsgebiet seines Kurfürsten: o
dann wem solt diß Christlich büchle billicher zugeschriben werden / dann dem Chure o o fürsten / der gotlich hilff vnd gnaden [...] nun in das .xxxiiij. jar seiner Churfürstenthumb / Fürstenthumb / Landen / Herschafften / vnd leüte on alle kriege / fridlich vnd o e gewonlich / auch zu ettlich malen mit mercklicher beschwarung regiert [...] hat r (Aiij -v).
Sicherlich läßt sich der Lobpreis des friedliebenden Friedrich,56 der gleichsam als Inkarnation des erasmischen Fürstenideals vorgestellt wird, mit den panegyrischen Vorgaben der Gattung Widmungsbrief erklären. Dieser Gattung ist im allgemeinen jedoch auch, wie eingangs erläutert, die Tendenz eigen, Lektürevorgaben zu vermitteln und dem Verständnis eine bestimmte Richtung zu geben. Vor diesem Hintergrund betrachtet, bereitet Spalatins Widmungsbrief einer auf den christlichen Landesfürsten ausgerichteten Lektüre den Weg und greift dieser zugleich vor: Die deutsche ›Querela pacis‹ ist eine humanistische adhortatio an die christlichen Fürsten im allgemeinen und Friedrich im besonderen, mit der Einschränkung, daß letzterer derartige Ratschläge längst verwirklicht hat. Ein solcher »kurfürstlicher« Lektürestandpunkt spiegelt sich zum einen auch auf der begrifflichen Ebene, wenn Spalatin – in einer spezifisch »fürstenstaatlichen Variante« der semantischen Adaptation57 – die politische Terminologie des Humanisten an die institutionellen Gegebenheiten im Kurfürstentum anpaßt. Zum anderen läßt er sich auch und vor allem an den deutschen Marginalien ablesen, die Treu als »Spalatins eigenen Beitrag« ansieht.58 Wie diese die Aufmerksamkeit des Lesers auf einzelne Passagen lenken und ein bestimmtes Verständnis des Textes vorbereiten, zeigt der Vergleich mit den (von Treu nicht berücksichtigten) lateinischen Randanmerkungen in einem Zweig der ›Querela‹Überlieferung, welche die Löwener Ausgabe von 1518 einführte und ihre Nachfolgeausgaben (nicht aber die neuzeitlichen Herausgeber) übernahmen.59 Zwar 56
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Dieses Wortspiel schon bei Luther, vgl. WA 7, 463, 19; WABr [Anm. 46], Bd. 3, Nr. 868, S. 23–25; WA 19, S. 646, 17–28. Die diplomatische Kriegsvermeidung rühmte auch Melanchthon, vgl. CR 11 Sp. 92. Müller [Anm. 8], S. 241. Treu [Anm. 51], S. 525, zu einzelnen Marginalien S. 525f. Hierzu Herding [Anm. 39], S. 39, 43–47. In der Amsterdamer Neuausgabe der ›Querela pacis‹ (ASD [Anm. 13] Bd. IV,2) sind die Marginalien der Löwener und der ihr nachfolgenden Ausgabe im textkritischen Apparat verzeichnet.
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sind die Übereinstimmungen mit den Randanmerkungen der deutschen ›Querela pacis‹ gering, von einer Übersetzung läßt sich nicht sprechen.60 Doch zeigen bereits wenige Beispiele, welch unterschiedliche Schwerpunkte die deutschen Marginalien setzen: Während die wesentlich zahlreicheren lateinischen Anmerkungen der Löwener Ausgabe recht gleichmäßig über den gesamten Text der ›Querela pacis‹ verteilt sind, diesen also durchgehend gliedern, zusammenfassen und kommentieren, fehlen deutschsprachige Randverweise im ersten Textabschnitt der Übersetzung, der die Eintracht und Harmonie in Natur und Kosmos behandelt, zur Gänze.61 Sie häufen sich erst, im Unterschied zu den lateinischen, wenn Erasmus auf die Pax Christi (etwa ab Cijv) zu sprechen kommt: Des Frids lob auß der hailgen geschrifft (Ciijr), Den Frid hat der herr cristus vns e statigs vorgebildt in seinen leben und sterben ([Ciiij]r), oder Der herr Christus ist in kriegen nit (Dijv). 62 Einen weiteren Schwerpunkt legen die deutschen Anmerkungen auf Gesellschaftskritik und Fürstenermahnung: Die Kriegerische e gaystlichen (Eiijv);63 Wie die Fürstenthumb sollen bestelt werden (Fijv); Wie die e Cristlichen fürsten ir volck halten sollen (Fiijr), endlich, die Aussage des Erasmus noch verschärfend: Ain Cristlicher fürst soll nit kriegen (Gijv).64 Ob diese deutschen Marginalien nun auf den Drucker oder – wahrscheinlicher – auf Spalatin selbst zurückgehen, sie entsprechen dem Programm des Widmungsbriefes: Frieden wird vor allem als erste und wichtigste Verpflichtung eines Christen, zumal eines christlichen Fürsten vorgestellt. Einerseits verstärkt sich damit eine schon bei Erasmus angelegte Tendenz: Die deutsche ›Querela pacis‹ ist vor allem ein Fürstenspiegel auf dem Fundament der heiligen Schrift, der die christliche Obrigkeit nicht nur zur Vermeidung von Krieg, sondern zu grundsätzlichem Umdenken auffordert. Andererseits wird, wie auch auf der semantischen Ebene, im Widmungsbrief und in den Marginalien, also gerade in den paratextuellen Bereichen, in denen ein Übersetzer ohne Beeinträchtigung seiner Vorlage hervortreten kann, die fürstenstaatliche Perspektive deutlich markiert. 60
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Wörtliche Entsprechungen, übereinstimmende Positionierung in margine usw. lassen sich nur selten (und dann wohl zufällig bzw. vom Text selbst angeregt) feststellen. Wenn Spalatin eine Ausgabe mit lateinischen Marginalien vorgelegen haben sollte, so hat er sich von dieser nicht sonderlich beeinflussen lassen. Die deutschen Marginalien setzen erst ein, als der personifizierte Friede sich unter die Menschen begibt und vergeblich nach Aufnahme sucht, vgl. [Biiijv] zur Übersetzung von Z. 125 in ASD IV, 2 [Anm. 13]. Die genannten Beispiele finden im Lateinischen keine Entsprechung. Vgl. die weiteren deutschen Marginalien ab Cijv, vor allem ab Dr−Diijr. Bezeichnenderweise sind in der Überlieferungstradition der Löwener Ausgabe Marginalien zu diesem Abschnitt (Z. 203ff.) spärlicher und beschränken sich zumeist auf die Angabe von Bibelstellen. Vgl. hierzu eine vergleichbare Marginalie zu Z. 476 in den Drucken B, E, S, T und V (nach ASD [Anm. 13], Bd. IV, 2): Sacerdotes belli adiutores. Treu [Anm. 51], S. 525 hierzu: »keine Übersetzung, sondern Spalatins eigene Interpretation«.
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Die Marginalien des deutschen Drucks verweisen nicht nur auf die im Widmungsbrief vorgestellten Lektüre- und Verständnisvorgaben, sie bestätigen zugleich die einleitende Empfehlung des Erasmus: An den markierten Textpassagen erweist sich der Autor als politischer Ratgeber für die fürstliche Herrscherpraxis und als ein warlich [...] Christmietiger erbar man / vnd ain zier vnd eer [...] der ganzen Cristenhayt (Aiijr), dessen Friedensklage gemainer Cristeno hait zu furderung dienen könne (Aiijr). Vor dem Hintergrund einer solchen Akzentuierung der politischen und theologischen Kompetenz des Rotterdamers lassen sich auch die anderen Spalatinschen Erasmusübersetzungen sehen, die neben der ›Klage des Frids‹ im Frühsommer 1520 auf der Lochau, der kurfürstlichen Sommerresidenz, entstanden.65 Spalatin übertrug hier sechs (und wohl noch eine weitere)66 Erasmusschriften, deren Widmungsbriefe er jeweils auch datierte: das Adagium ›Aut regem aut fatuum nasci oportere‹ (gewidmet Fürst Joachim von Anhalt, Lochau 7. März 1520),67 die ›Enchiridion‹-Dedikation von 1518 (gewidmet Bernhard von Hirschfeld, Lochau 19. April 1520),68 die ›Querela pacis‹ (gewidmet Kurfürst Friedrich, Lochau April 1520), die ›Paraclesis‹ (gewidmet Hans von Dolzig, Lochau 20. April 1520),69 die ›Institutio principis Christiani‹ (gewidmet Karl V., Lochau 5. Mai 1520)70 sowie eine erasmische Plutarchübersetzung, verdeutscht als ›Von der vnderscheyde des freundts vnd schmeychlers‹ (gewidmet Herzog Johann Friedrich von Sachsen, Lochau 15. Juli 1520).71 Geht man von den Dedikationen aus, so fand auf der Lochau zwischen dem 7. März und 15. Juli 1520 eine bemerkenswerte Tour de force statt, die der deutschen Übertragung einiger der berühmtesten Schriften des Rotterdamer 65 66
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Zum Folgenden vgl. auch Holeczek [Anm. 6], S. 103–108; zu den Lochauer Übersetzungen vgl. Treu [Anm. 51], S. 520f. Als Werk Spalatins sieht Holeczek [Anm. 6], S. 105 auch die deutsche Übersetzung des erasmischen Adagium ›Sileni Alcibiadis‹ an, die 1520 bei Schöffer in Mainz gedruckt wurde und deren Gothaer Exemplar offensichtlich von Spalatins Hand dem Herzog Johann Friedrich von Sachsen gewidmet wurde. Inwieweit Spalatin auch für die anonymen deutschen Auszüge aus den Erasmusannotationen verantwortlich zeichnet, muß offen bleiben, vgl. zusammenfassend S. 108. Volz [Anm. 42], Nr. 6, Höss [Anm. 42], S. 442f., Holeczek [Anm. 6], S. 103f. Gedruckt in Mainz, Johannes Schöffer, 1520. Hierzu Mathieu Knops, Das Sprichwort Man musz entweder ein König, oder aber ein Narr geborn werden, in: Erasmus und Europa. Vorträge, hg. von August Buck, Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 7), S. 149–161. Volz [Anm. 42], Nr. 17; Höss [Anm. 42], S. 444; Holeczek [Anm. 6], S. 104f. Gedruckt in Mainz, Johannes Schöffer, 1521. Volz [Anm. 42], Nr. 24; Höss [Anm. 42], S. 445. Gedruckt in Augsburg, Sigmund Grimm, 1522. Volz [Anm. 42], Nr. 19; Höss [Anm. 42], S. 444. Gedruckt in Augsburg, Sigmund Grimm, 1521. Volz [Anm. 42], Nr. 9; Höss [Anm. 42] S. 443, Holeczek [Anm. 6], S. 104. Gedruckt in Mainz, Johannes Schöffer, 1520.
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Humanisten galt. Das Übersetzungsprojekt verdankte sich sicherlich einerseits den persönlichen literarischen Interessen Spalatins. Andererseits läßt es sich, wie schon Holeczek vermutet,72 als Werbung für den humanistischen Reformer Erasmus verstehen, der in seinen Werken immer wieder der weltlichen Obrigkeit seiner Zeit die aus Antike und Christentum gewonnenen politischen Ideale entgegenhielt und als ausgewiesener Bibelphilologe und Theologe auch im kirchlichen Bereich Mißstände anprangerte und Veränderungen anmahnte. Die Mehrzahl der von Spalatin übersetzten Werke des Erasmus sind im weiteren Sinne politische Schriften: Die Übersetzungen der ›Adagia‹, der Plutarchschrift, des Fürstenspiegels und der ›Querela pacis‹ eigneten sich dazu, die humanistischen Empfehlungen zur Selbstreform der frühneuzeitlichen Obrigkeit nun auch in deutscher Sprache zu verbreiten und Interesse für die im gelehrten Diskurs diskutierten Reformfragen zu wecken. Den Nutzen dieser Schriften betont Spalatin explizit in den jeweiligen Vorworten: das es einen jeden fürsten o o ser gut zu wissen ist.73 Die ›Paraclesis‹ hingegen, in welcher Erasmus die volkssprachige Bibellektüre befürwortet, und sein Vorwort zur Neuauflage des ›Enchiridion‹ von 1518 sind Texte der Kirchenreform. Vor allem die ›Enchiridion‹-Dedikation an Paul Volz ist hervorzuheben, da Erasmus hier deutlich auf den Ablaßhandel anspielt und eine vorsichtige Beifallsbekundung für Luthers Auffassung abgibt74 – eine Stellungnahme, für die der Reformator selbst sich in seinem ersten Brief an den Rotterdamer überschwenglich bedankt75 und die dazu beitrug, daß viele Zeitgenossen vor und gleich nach 1520 in Erasmus mindestens den Wegbereiter, wenn nicht gar den »vornehmsten geistigen Protektor Luthers«76 zu erkennen glaubten. 72 73
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Holeczek [Anm. 6], S. 105f. Die erasmische Plutarchschrift habe er – so Spalatin in der Dedikationsepistel – übero o setzt, angesehen das es einen jeden fürsten ser gut zu wissen ist (BSB München Res.4 r A.gr.b. 1128, fol. Aij ). Im Widmungsbrief der deutschen ›Institutio‹ definiert er die Intention dieser Übertragung und die Widmung an Karl damit, daß in bayde gezungen dem Lateinischen vnd teutschen / alle Christliche Künig / fürsten / Herrn vnd obern vnter Ewer Künigklichen Maiestat namen / Tittel / vnd gedenckzayhen hinfür e o o nach gotlichem willen vnd wolgefallen zu ewigen zeytten sich der underweysung zu irem regiment / ire Küniglichen Fürstenthumben / Herschefften / lande / leüt vnd sich o e e selbst zu regieren / halten vnnd erzaygen / dienstlich oder notig erholen mochten / vnd e durch den grosenlichen namen der großtetigen Karolen dester mer in got bewegt werden / sich Küniglicher fürstlicher herlicher / ia Christlicher tugentzimmung vnd pflicho ten gegen aller menigklich vnd jren vnderthonen vnd landtsessen zu befleyssen v r (A2 –A3 ). In seiner Widmung zum Sprichwort ›Aut regem aut fatuum‹ erwähnt Spalatin, er wisse zwar, daß Fürst Joachim von Anhalt (der damals gerade einmal 11 Jahre alt war!) in der erlernung des Lateynischen gezüngs sich übet / vnd auß derselben aller Fürstlichen tugendt / alß auß dem reynen brunnen erholen mügen (A2r). Aber er habe das Adagium trotzdem übersetzt, der meynung / das so Christliche ler E.F.G. auch e teutsch mocht haben. Höss [Anm. 42], S. 160; vgl. auch Holeczek [Anm. 6], S. 105. WABr [Anm. 43], Bd. 1, 163 (28. März 1519), hierzu Höss [Anm. 42], S. 161. Herding [Anm. 9], S. 538f.
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Spalatins Translationen sind teils einem weiteren Kreis von Angehörigen der weltlichen Obrigkeit gewidmet (dem jungen Fürsten Joachim sowie Karl V., der sich im Frühsommer 1520 auf dem Weg nach Deutschland befand),77 teils einem engeren Kreis von Mitgliedern des kurfürstlichen Hofes (Friedrich dem Weisen selbst, dem Kämmerer Bernhard von Hirschfeld sowie dem Hofmarschall Hans von Dolzig). Das gesamte Übersetzungsprojekt zielte offensichtlich darauf ab, die politischen und eben auch die kirchlichen Reformansätze des bedeutendsten Humanisten seiner Zeit diesen primären Adressaten und einem breiten volkssprachigen Leserkreis zu vermitteln und so ihren Einfluß über den Bereich der gelehrten Bildungselite hinaus zu erweitern. Gerade die beiden Übersetzungen von Erasmusschriften mit kirchenkritischem Potential stehen dabei bereits im Kontext der – wie Holeczek gezeigt hat78 – explosionsartigen Zunahme volkssprachiger Übertragungen von biblizistisch-reformerischen Erasmusschriften in den Jahren zwischen 1521 und 1524. Martin Treu sieht in Kurfürst Friedrich selbst den Anreger und ersten Leser der Spalatinschen Übersetzungen, die ungeachtet ihrer Widmungen im Frühsommer 1520 zumeist erst nach mehreren Monaten oder gar Jahren im Druck erschienen. Dies ist zwar nicht erwiesen, gewinnt aber angesichts der seit etwa 1518 intensivierten Kontakte zwischen Erasmus und dem kurfürstlichen Hof an Wahrscheinlichkeit.79 In den für die causa Lutheri entscheidenden Jahren 1518/19 hatte Spalatin sich vehement für Luther bei Friedrich dem Weisen eingesetzt, und gerade in den Wochen vor der Leipziger Disputation arbeitete man am kursächsischen Hof daran, Erasmus für den Reformator zu gewinnen (der Rotterdamer verhielt sich allerdings äußerst zurückhaltend, wie er überhaupt eine allzu eindeutige Parteinahme für Luther stets vermied).80 Wenig später jedoch, im Frühjahr 1519 gab Erasmus selbst gegenüber Friedrich dem Weisen eine wohlabgewogene Stellungnahme für Luther ab und bestärkte den Kurfürst in seinem Schutzversprechen.81 Im Jahr 1520 – dem Jahr des Lochauer 77
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Im Juni 1520 traf auf der Lochau die Nachricht ein, daß König Karl glücklich in England gelandet und auf dem Weg in seine niederländischen Erblande begriffen sei. Der Kurfürst schickte eine Delegation zur Begrüßung (Höss [Anm. 42], S. 176). Spalatins Widmung der deutschen ›Institutio‹ an Karl, die sich explizit auf die Dedikation o des Erasmus, des ersten maisters dises buchs (Aijv), an denselben Adressaten bezieht, bezeichnet Herding [Anm. 9], S. 539 als »Empfangsgeschenk«. Holeczek [Anm. 6] zählt insgesamt 275 deutsche Erasmusdrucke, denen ca. 80 vorwiegend theologische lateinische Schriften zugrunde liegen – allein in den Jahren 1521/22 erschienen nicht weniger als 22 Drucke mit Teilübersetzungen aus der Ausgabe des Neuen Testaments. Der Theologe Erasmus war, so sein Resümee, »nach Luther und vor Melanchthon der meistgelesene Autor seiner Zeit im deutschsprachigen Raum« (S. 22). Hierzu ausführlich Kalkoff [Anm. 42], passim; zur Situation am kurfürstlichen Hof und zur Politik in der Lutherfrage ab 1519 vgl. Ludolphy [Anm. 41], S. 413–425. Höss [Anm. 42], S. 160. Erasmus schrieb diesen Brief am 14. April 1519 (Allen ep. 939, Bd. III, S. 527–532).
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Übersetzungsprojekts – näherten sich die reformatorischen Aktivitäten des Wittenberger Professors ihrem Höhepunkt. Zugleich verschärfte sich seine Lage, als am 15. Juni 1520 die päpstliche Bannandrohungsbulle Exsurge Domine ausging, die ihm eine sechzigtägige Frist zum Widerruf ließ.82 In dieser Situation widmete Spalatin Mitgliedern des kurfürstlichen Hofes zwei verdeutschte kirchenkritische Erasmusschriften und dem Kurfürsten selbst die ›Querela pacis‹, in welcher er Erasmus nicht nur als Humanisten, sondern eben auch als christlichen Pazifisten empfiehlt. Die Lochauer Übersetzungen lassen sich vor diesem Hintergrund als konzentriertes Vermittlungsprojekt humanistischer Reformideen für Obrigkeit und Kirche verstehen – und angesichts der causa Lutheri, die in diesen und den folgenden Jahren Spalatin selbst, aber auch den gesamten kursächsischen Hof so intensiv beschäftigte, sollte die Empfehlung des Reformers Erasmus wohl auch auf den Reformator Luther ein günstiges Licht werfen.83 Ich fasse zusammen: Die erste gedruckte Erasmusübersetzung aus dem Jahr 1519 entstand nicht an einem Fürstenhof, sondern verdankt sich den persönlichen Kontakten zweier Männer der politischen Praxis, die für den Humanismus aufgeschlossen waren. Die Identifizierung des Adressaten Diether von Dalberg und die explizite Erwähnung seines Interesses an literarischen Übersetzungen verweisen auf die Vermittlungsbemühungen zwischen Gelehrtenwelt und volkssprachigem Bereich in Form von Translationen ins Deutsche, wie sie im Umfeld des Heidelberger Dalbergkreises auf breiter Front verwirklicht worden waren. Daß Varnbülers gedruckte Übersetzung binnen kurzem eine Neuauflage erfuhr, läßt vermuten, daß die erasmischen Gedanken zu Krieg und Frieden auch in einem breiteren volkssprachigen Leserkreis auf reges Interesse stießen – im Unterschied zu Lienhard Reichers handschriftlich überlieferter Übertragung der ›Institutio‹, die sich (wie auch die meisten Übersetzungen im Umfeld des Dalbergkreises) an einen vergleichsweise kleinen Adressatenkreis richtete. Es steht zu vermuten, daß nicht nur die persönlichen Vorlieben Diethers, sondern auch handfeste Eigeninteressen des aufstrebenden Juristen Varnbüler die Übertragung des ›Dulce bellum‹ motivierten. Auch der Zeitpunkt der Drucklegung kurz nach der Kaiserwahl war offensichtlich nicht zufällig gewählt.
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Zu den Reaktionen des kursächsischen Hofes auf dieses Ereignis vgl. Höss [Anm. 42], S. 174f. Wie stark das Interesse der reformatorisch gesinnten Partei war, in diesen Tagen Erasmus zum Fürsprecher zu gewinnen, wird im Herbst 1520 deutlich: Erasmus war im Gefolge Karls nach Köln gekommen, wo er, im Beisein Spalatins, mit Kurfürst Friedrich eine Unterredung in Sachen Luther führte und auf dessen Bitten seine Ansichten in zwanzig Thesen formulierte. Gegen den Willen des Rotterdamers wurden Abschriften dieses Blattes angefertigt, und auf nicht genau geklärtem Wege gelangten diese sog. ›Axiomata‹ in Leipzig in den Druck, vgl. Höss [Anm. 42], S. 182f.
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Auf eine über vermittelnde Begriffserläuterungen hinausgehende explizite Aktualisierung oder Ausdeutung seiner Vorlage verzichtete Varnbüler.84 Dies unterscheidet seine Übersetzung von der Spalatins, die 1520 entstand und im folgenden Jahr gedruckt wurde. Auch der kurfürstliche Geheimsekretär und Kaplan wahrt die Integrität der erasmischen ›Querela pacis‹, bereitet jedoch im Widmungsbrief und in den Marginalien ein Textverständnis vor, das geeignet war, Erasmus als politischen wie christlichen Autor zu empfehlen. Dies verweist auf Spalatins Lochauer Übersetzungsprojekt von 1520, das zentrale politische und kirchliche Reformschriften des Rotterdamers einem volkssprachigen Publikum erschloß. Im Hintergrund steht einerseits das seit etwa 1520 gestiegene Interesse einer breiteren Öffentlichkeit an den im gelehrten Diskurs verhandelten Reformfragen und insbesondere an den Schriften des berühmten Rotterdamer Humanisten. Andererseits lassen das so unvermittelt intensivierte Engagement Spalatins für Erasmus und die religionspolitischen Aktivitäten am Hof Friedrichs des Weisen einen Zusammenhang mit der causa Lutheri vermuten – in Form eines Werbens für den Reformer Erasmus, das auch dem in Bedrängnis geratenden Reformator Luther dienlich sein konnte. Letztlich vermochte Spalatin die beiden Lager nicht zusammenzuhalten – bereits ab 1520/21 ging Erasmus bekanntlich auf Distanz zu Luther und vollzog 1525 den endgültigen Bruch.85 Von all dem ist bei Kaspar Meuselers Übersetzung aus dem Jahr 1659 nichts mehr zu spüren: Das Interesse gilt explizit einer materia de tempore in der Zeit des Dänisch-Schwedischen Krieges. Diese wird dem Leser indes nicht nur aufgrund der eigenen experientia belli des Schleswiger Studenten anempfohlen. Denn auf Meuselers Widmungsbrief folgt eine Vorrede an den Leser (ab Avr), in der sein Mentor Adam Olearius selbst das Wort ergreift. Der Gottorfer Bibliothekar – einer der berühmtesten Humanisten des 17. Jahrhunderts, der mit Gryphius, Opitz und Fleming in Kontakt stand und als Literat weit über Norddeutschland hinaus bekannt war86 −, führt hier auf 12 Druckseiten in den Erasmustraktat ein: Auf profunde Textkenntnisse aufbauend, referiert er über die politischen Entstehungsumstände und die Datierung des ›Dulce bellum‹, erläutert an dieser und anderen Schriften die Kritik des Erasmus am Krieg und 84 85
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Die Kürzung des Leo-Panegyricus indes (vgl. Anm. 41) könnte vielleicht als solche verstanden werden. Heinz Holeczek, Die Haltung des Erasmus zu Luther nach dem Scheitern seiner Vermittlungspolitik 1520/21, Archiv für Reformationsgeschichte 64 (1973), S. 85–112 und Holeczek [Anm. 6], passim. Vgl. Dieter Lohmeier, Adam Olearius, in: Gottorf im Glanz des Barock. Kunst und Kultur am Schleswiger Hof 1544–1713, hg. von Heinz Spielmann/ Jan Drees, Bd. 1, Schleswig 1997, S. 349–353; ders., Adam Olearius. Leben und Werke, in: ders. (Hg.), Olearius. Vermehrte Moscowitische und Persianische Reisebeschreibung, 1656, ND Tübingen 1971, S. 3*–80* (in der Bibliographie der Olearius-Schriften wird diese ›Vorrede an den Leser‹ nicht erwähnt). Zum Folgenden jetzt Hamm [Anm. 4], passim.
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nimmt ihn gegen den Vorwurf eines radikalen Pazifismus in Schutz ([Aviiv]). Die frühe, mit zahlreichen lateinischen Zitaten garnierte Analyse der erasmischen Friedensschriften und ihrer Gebrauchssituationen, die in den Werkverzeichnissen des Olearius ungenannt bleibt, spricht nicht einen anonymen volkssprachigen Leserkreis an: Adressat sind vielmehr die Blutdürstigen Krieger ([Aviir]), die etlichen Fürsten und Potentaten, die in den nordischen Länder und im Heiligen Römischen Reich Krieg führten und diß Tractätlein [.. .] lesen und behertzigen mögen ([Aviir]). Die Erasmusübersetzung von 1659 steht dem ›Dulce bellum‹ des Erasmus damit vielleicht näher als die betrachteten Übersetzungen Varnbülers und Spalatins: Es handelt sich um einen Friedensappell an die Herrschenden der Zeit, die vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage von 1659 eindringlich an ihre Verantwortung als principes Christiani erinnert und zur Wahrung des Friedens ermahnt werden.
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Abb.
Albrecht Dürer, Holzschnittportrait Ulrich Varnbülers (aus Anzelewsky [Anm. 20]).
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Von der praxisgeleiteten zur sprachenpolitischen Verwendung des Deutschen Der Statuswandel der Volkssprache in den lateinisch-deutschen Cato-Handschriften und -Drucken des 15. und 16. Jahrhunderts Die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts beanspruchen nicht weniger als den Menschen an antiker Kultur und Sprache überhaupt erst zum homo humanus heranzubilden. Bereits im Selbstverständnis seiner Vertreter tritt der Humanismus als eine epochale Bildungsbewegung auf, der die Ausbildung richtigen Lateins als Ausbildung auch des richtigen Denkens und letztlich des richtigen Lebens gilt.1 Das Thema »Humanismus in der deutschen Literatur« vom entsprechend prononciert auf das Lateinische ausgerichteten Grammatikunterricht anzugehen, liegt damit zunächst nicht nahe. Setzt man freilich statt am übergreifenden Selbstbild der Humanisten konkreter an den Hilfsmitteln ihres Lateinunterrichts an und dort an jenen Unterrichtsmaterialien, in denen lateinische Texte ins Deutsche übersetzt werden, relativieren sich solche Bedenken. Wenn sich der nachstehende Beitrag mit den zwischen circa 1450 bis 1600 in über 150 Handschriften und Druckausgaben im zweisprachigen Verbund verbreiteten ›Disticha Catonis‹2 einem Korpus solcher zweisprachigen Unterrichtsmaterialien zuwendet, dann geschieht das zum einen, um an einem tendenziell repräsentativen, in seiner quantitativen Breite aber noch einigermaßen überschaubaren Bestand erste Voraussetzungen dafür zu schaffen, den emphatischen Bildungsanspruch der Humanisten in größerer Nähe zu seinem praktischen Niederschlag im Lateinunterricht untersuchen zu können, also eben dort, wo die noch nicht selbstverständlich im Lateinischen sich bewegenden pueri auf den ersten Schritten ihres Weges zum homo humanus noch muttersprachlicher Begleitung bedürfen. Die systematischere Aufhellung humanistischer Unterrichtspraxis, der mit diesem Korpus entgegengearbeitet werden soll, erscheint nach wie vor allenthalben wünschenswert. So wird innerhalb der andauernden, zentralen Debatte um die historische Leistung der Humanisten auf dem Gebiet der praktischen Pädagogik, die im angel1
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Einen instruktiven Überblick vermittelt August Buck, Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen, Freiburg i. Br./München 1987 (Orbis academicus. Problemgeschichte der Wissenschaft in Dokumenten und Darstellungen 1), S. 154–176. Disticha Catonis, hg. von Marcus Boas, Amsterdam 1952.
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Michael Baldzuhn sächsischen Raum gerade einmal wieder von Robert Black belebt worden ist, eine grundsätzlich unzureichende Erschließung der Quellen moniert.3 Black selbst begegnet diesem Defizit mit einem beeindruckenden Handschriftenkorpus, wählt freilich mit den Beständen vornehmlich italienischer Bibliotheken einen für den deutschen Raum kaum einschlägigen Überlieferungsausschnitt. Überdies leidet, trotz ihrer Materialfülle, auch Blacks Untersuchung noch daran, daß die spezifischen Konturen einer neuen humanistischen Unterrichtspraxis sich letztlich zureichend erst vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund beschreiben lassen, dieser aber im entsprechenden Bereich des lateinischen Unterrichtsschrifttums von einer durchgreifenden Aufarbeitung noch weit entfernt ist.4 Im engeren Rahmen des vorliegenden Beitrags sind daher alle zweisprachigen Cato-Handschriften und -Drucke, auch die des Spätmittelalters, in die Untersuchungen einbezogen worden. Ein gewichtiges Defizit nicht nur der Arbeit Blacks, sondern überhaupt von Untersuchungen, die sich mit Unterrichtsschriftlichkeit des Mittelalters und der Frühen Neuzeit befassen, liegt überdies im Verzicht systematischer Reflexion ihrer medialen Prägung. Die erhaltenen Handschriften und Drucke entfalten ihre Funktionen im Unterricht ja nicht allein auf der schriftlichen Ebene, sondern in weithin immer auch mündlich ablaufenden Kommunikationen. Helmut Puff hat an den Lateingrammatiken zwischen 1480 und 1560 gezeigt,5 wie sich aus Analysen des funktionalen Ineinanders von Mündlichkeit und Schriftlichkeit neue Sichtweisen auf den Lateinunterricht dieses Zeitraums entwickeln lassen. Die medialen Aspekte stehen im vorliegenden Beitrag zwar nicht im Vordergrund: mitbedacht aber sind sie, auch wenn das im folgenden nicht überall breit ausgeführt wird.
Das Hauptinteresse des nachstehenden Beitrags richtet sich freilich auf das im Umfeld des Humanismus sich wandelnde Verhältnis der beiden Sprachen Latein und Deutsch. Dieses verschiebt sich im Untersuchungszeitraum bekanntlich auf eine entscheidende Weise nicht einfach nur in seinen Relationen, etwa im Gefolge eines Prestigewandels des Deutschen, sondern in bezug auf den Status des Deutschen als Sprache überhaupt. Im gelehrt-lateinischen Diskurs des 16. Jahr3
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Robert Black, Humanism and education in medieval and renaissance Italy. Tradition and innovation in latin schools from the twelfth to the fifteenth century, Cambridge 2001, vgl. besonders S. 1–6. Entsprechend differenziert stellt sich im Lichte der spätmittelalterlichen Vorleistungen ein spezifisch die Renaissance kennzeichnender Zugriff auf Phänomene der Sprache und ihrer Grammatik dar: W. Keith Percival, The grammatical tradition and the rise of the vernaculars, in: Historiography of linguistics, hg. von Thomas Albert Sebeok/Hans Aarsleff, The Hague/Paris 1975 (Current trends in linguistics 13), Bd. 1, S. 231–275, hier S. 231–233. Vgl. zum Erschließungsstand mittelalterlicher Unterrichtsschriftlichkeit die Bemerkungen bei Rolf Köhn, Schulbildung und Trivium im lateinischen Hochmittelalter und ihr möglicher praktischer Nutzen, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. von Johannes Fried, Sigmaringen 1986 (VuF 30), S. 203–284, hier S. 211–214, bei Udo Kühne, Engelhus-Studien. Zur Göttinger Schulliteratur in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Freiburg i. d. Schweiz 1999 (Scrinium Friburgense 12), S. 11f., und in: Schulliteratur im späten Mittelalter, hg. von Klaus Grubmüller, München 2000 (MMS 69), S. 8. Helmut Puff, »Von dem schlüssel aller Künsten / nemblich der Grammatica«. Deutsch im lateinischen Grammatikunterricht 1480–1560, Tübingen/Basel 1995 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 70).
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hunderts gewinnt die Erkenntnis Raum, daß auch das Deutsche eine Ordnung aufzuweisen hat und grammatischen Regeln folgt, obschon es nicht durch die Zentralinstanz der Schule und ihrer disciplina einheitlich und überregional vermittelt wird, sondern vielgestaltig und nur mit regional beschränkter Geltung durch den usus des Elternhauses.6 Das Denkschema von Einheit/Ordnung vs. Vielfalt/Unordnung, in dem die mittelalterlichen litterati das Verhältnis von Latein und Volkssprache verhandeln,7 verliert an Bedeutung, so daß sich eine in der Tendenz sachnähere Betrachtungsweise durchsetzen kann. Sowohl im Blick auf den mittelalterlichen wie auf den späteren humanistischen Sprachendiskurs darf man aber nicht übersehen, daß sich die entsprechenden theoretischen Positionen nicht einfach linear auf die jeweilige Unterrichtspraxis herunterrechnen lassen. So besitzt das Deutsche als gelegenheitsgebunden ad hoc hinzugezogene, gesprochene Erklärungssprache gegen alle gelehrten Bedenken im lateinischen Sprachenunterricht des Spätmittelalters allemal seinen Platz, und in geschriebener Form dringt es seit dem 14. Jahrhundert sogar stetig in die Unterrichtsmaterialien vor. Indes bleibt sein besonderer, restringierter Status lange noch daran sichtbar, daß es selbst in schriftlicher Form wesentlich nur als Hilfsmittel dient, an das Lateinische heranzuführen. Daher bedarf es in der Tat seiner diskursiven Wahrnehmung und Aufwertung als Sprache eigenen Rechts, um dem Deutschen im institutionalisierten Unterricht neue Möglichkeiten zu eröffnen, die dann zum 17. Jahrhundert in der Breite ergriffen werden: Zum einen gewinnt, im Lateinunterricht, die Muttersprache der Schüler als primäres Vermittlungsmedium offiziell Legitimität;8 zum zweiten steigt sie im Deutschunterricht selbst zum Gegenstand der Sprachausbildung auf.9 6
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Aus der reichhaltigen Forschung zur humanistischen Theorie der Sprache bzw. Volkssprache führe ich hier nur Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 31980, und den Überblick von Percival [Anm. 4] an. Einen knappen Überblick speziell über die Positionen der Italiener vermittelt Sarah Stever Gravelle, The latin-vernacular question and humanist theory of language and culture, in: Journal of the history of ideas 1988, S. 367– 386. Vgl. weiterhin auch die in der nachstehenden Anmerkung genannten Arbeiten. Noch Justus Georg Schottel (1612–1676) reagiert auf die offenbar im Deutschen lange sich haltende Auffassung von der Regellosigkeit der Volkssprache: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache, hg. von Wolfgang Hecht, Tübingen 1967 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 2), S. 2. Grundlegend zum mittelalterlichen Sprachdenken nach wie vor Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Stuttgart 1957–1963. Vgl. speziell zur Theorie der Volkssprache besonders Serge Lusignan, Parler vulgairement. Les intellectuels et la langue franc¸aise aux XIIIe et XIVe siecles, Paris/Montreal 21987, S. 15–90. Eine der Untersuchung Lusignans vergleichbare, die sich gezielt auf den deutschen Sprachraum richtete, fehlt. Ausgangspunkte markiert Raphaela Gasser, Propter lamentabilem vocem hominis. Zur Theorie der Volkssprache in althochdeutscher Zeit, in: FZPhTh 17 (1970), S. 3–83. Vgl. das bei Puff [Anm. 5], S. 318–333, sehr differenziert entworfene Bild. Vgl. zusammenfassend Horst Joachim Frank, Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945, München 1973, S. 39–73 (»Muttersprachschule«).
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Vor diesem Hintergrund ist meine Frage, ob und wie sich ein entsprechender humanistischer Wandel im Sprachenverhältnis in den zweisprachigen Unterrichtsmaterialien des Lateinunterrichts, näherhin in der seit dem 14. Jahrhundert öfter von Übersetzungen begleiteten Lektüre moraldidaktischer auctores niederschlägt. Zum hier gewählten Beispieltext, den ›Disticha Catonis‹, läßt sich aus den Untersuchungen Friedrich Zarnckes und Leopold Zatocˇils10 in dieser Hinsicht kaum mehr entnehmen, als daß die Humanisten hier ein ansehnliches spätmittelalterliches Traditionsangebot vorgefunden haben. Darüber hinaus visiert Zarnckes Untersuchung allerdings einen weiterreichenden Horizont allenfalls noch in ihrem Titel an: Sebastian Brants (1457–1521) zuerst 1498 erschienene Übersetzung der ›Disticha Catonis‹ sei es gewesen, die schließlich die spätmittelalterliche Tradition abgelöst habe. Jedoch sind die handschriftlichen Texttraditionen, die Brant vorausgehen, nach wie vor nur ungenügend erfaßt, demgegenüber die druckschriftlichen durch den Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW) bis 1500, durch Thomas Wilhelmis Bibliographie speziell für Brant und durch Franz Josef Worstbrocks Verzeichnis für den Zeitraum bis 1550 einerseits in diesen Grenzen zwar insgesamt vollständiger,11 andererseits aber in der Hauptsache doch nur bibliographisch. Für die späteren Drucke ist man auf die üblichen Hilfsmittel mit ihren bekannten Unzulänglichkeiten angewiesen.12 Lediglich der Cato-Philologe Marcus Boas hat einigen späten Ausgaben punktuell weiterreichende Aufmerksamkeit gewidmet – freilich mehr unter bibliographisch-bibliophilen Aspekten und ohne zweisprachige oder gar lateinisch-deutsche Ausgaben gezielt aufzuarbeiten.13 Angesichts der solcher10
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Friedrich Zarncke, Geschichte der deutschen Übersetzungen der im Mittelalter unter dem Namen Cato bekannten Distichen bis zur Verdrängung derselben durch die Übersetzung Sebastian Brants am Ende des 15. Jahrhunderts, Leipzig 1852 (Nachdr. Osnabrück 1966); Leopold Zatocˇil, Der Neusohler Cato. Ein kritischer Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Catobearbeitungen, Berlin 1935; ders., Cato a Facetus. Pojedna´nı´ a texty. Zu den deutschen Cato- und Facetusbearbeitungen. Untersuchungen und Texte, Brno 1952 (Spisy masarykovy university v Brneˆ filosoficka´ fakulta / Opera Universitatis Masarykianae Brunensis Facultas Philosophica 48). Thomas Wilhelmi, Sebastian Brant Bibliographie, Bern [u.a.] 1990 (Arbeiten zur mittleren deutschen Literatur und Sprache 18/3); Franz Josef Worstbrock, Deutsche Antikerezeption 1450–1550. Teil I: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren. Mit einer Bibliographie der Übersetzer, Boppard 1976 (Veröffentlichungen zur Humanismusforschung 1). Vgl. für das VD 16 etwa die mit Cato-Drucken belegten kritischen Bemerkungen von Frieder Schanze, Inkunabeln oder Postinkunabeln? Zur Problematik der ›Inkunabelgrenze‹ am Beispiel von 5 Drucken und 111 Einblattdrucken, in: Einblattdrucke des 15. und 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, hg. von Volker Honemann [u.a.], Tübingen 2000, S. 45–122, hier S. 49. Der posthum erschienenen Boasschen Textausgabe der ›Disticha Catonis‹ [Anm. 2] ist ein umfangreiches Schriftenverzeichnis ihres Herausgebers beigegeben, dem diese Beiträge leicht zu entnehmen sind. Weniges davon ist lateinisch-deutschen Ausgaben
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maßen durchwachsenen Ausgangslage muß sich dieser Beitrag versagen, was eigentlich erforderlich wäre: jede Handschrift und jeden Druck zunächst einmal in extenso je für sich zu erschließen. Indes liefert bereits eine vergleichend verfahrende Übersicht über den systematisch erhobenen Bestand der einzelnen Übersetzungsfassungen, über deren sehr unterschiedliche Erfolge sowie nicht zuletzt über die Formen, in denen die Texte dem Benutzer an die Hand gegeben werden, Antworten auf meine Ausgangsfrage.14 Zunächst sind, in einem ersten Schritt, statt der deutschen Texte jedoch zunächst einmal die Voraussetzungen auf lateinischer Seite in den Blick zu nehmen. Die für die ›Disticha Catonis‹ regelmäßig reklamierte, über Jahrhunderte angeblich bruchlos durchlaufende Lektüretradition steht nämlich im Widerspruch zu der bekannten Geringschätzung spätmittelalterlicher Lektürestoffe durch die Humanisten. Herauszustellen ist hier einmal die Bedeutung des Erasmus von Rotterdam (ca. 1466–1536) für die Rezeptionsgeschichte, der sich zu einem entscheidenden Zeitpunkt expressis verbis wie mit einer eigenen CatoAusgabe für das spätantike Werk verwendet und so seiner Verwendung im Unterricht Kontinuität sichert, zum anderen zwar durchaus auch ein Einschnitt – ein Einschnitt aber, der sich im fraglichen Zeitraum nur auf der Seite der deutschen Übersetzungen beobachten läßt, deren Verwendung im Lateinunterricht beinahe aufgegeben wird. In welcher insbesondere in den letzten Dezennien des 15. Jahrhunderts überraschenden Breite dem Unterricht Übersetzungen bereitgestellt wurden, versucht dann ein Überblick über die verschiedenen Texttraditionen und ihre unterschiedlichen Erfolge deutlich zu machen (2.). Da diese bis zu Brant ganz einer ganz auf inhaltliche Erschließung gerichteten und ohne
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gewidmet – vgl. v. a. Een Cato-album uit het jaar 1585, Het Boek 3 (1914), S. 225–237; Addendum, Het Boek 4 (1914), S. 31; Cato digestus, Het Boek 21 (1932/33), S. 313– 326, hier S. 315f. (jeweils zu einem 1585 in Frankfurt erschienenen Druck) sowie Planudes’ Metaphrasis der sog. Disticha Catonis, Byzantinische Zeitschrift 31 (1931), S. 241–257, hier S. 244, Anm. 1, und Cato-uitgaven, gedrukt te Upsala, Het Boek 22 (1933), S. 17–32 (jeweils zu Ausgaben mit der Übersetzung des Martin Opitz). Um die Erschließung der einsprachig-lateinischen Ausgaben jenseits des GW ist es noch schlechter bestellt als um die zweisprachigen. Einen fundierten Überblick über die lateinischen Kommentare des 16. Jahrhunderts vermittelt jedoch Marie-Jose´ Desmet-Goethals, Die Verwendung der Kommentare von Badius, Mancinellus, Erasmus und Corderius in der »Disticha Catonis«-Ausgabe von Livinus Crucius, in: Der Kommentar in der Renaissance, hg. von August Buck/Otto Herding, Bonn 1975 (Deutsche Forschungsgemeinschaft. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilungen 1), S. 73–88. Vgl. ferner speziell für den lateinischen Kommentar des Erasmus von Rotterdam Louis A. Perraud, A document of humanist education: Erasmus’s commentary on the Disticha Catonis, in: Journal of the Rocky Mountain Medieval and Renaissance Association 9 (1988), S. 83–92, sowie Marcus Boas, Een vergissing van Erasmus, in: Het Boek 25 (1939), S. 277–287. Nichts gibt für meine Fragestellung her Juan Carlos Sese´ Sanz, La tradicio´n de los »Disticha Catonis«: entre la »auctoritas« medieval y la »renovatio« humanı´stica, Revista espan˜ola de filosofı´a medieval 0 (1993), S. 201–211.
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systematische Rücksicht auf sprachliche Details der Vorlage verfahrenden Übersetzungspraxis verpflichtet bleiben, läßt sich vor diesem Hintergrund dann (3.) für Brants Cato-Übersetzung präziser seine Zwischenstellung erfassen, die einerseits der spätmittelalterlichen Praxis verhaftet bleibt, andererseits gerade in ihrer neuen Sensibilität gegen die sprachliche Seite der Vorlage ins 16. Jahrhundert vorausweist. Im anschließenden Überblick über die nach Brant erscheinenden zweisprachigen Ausgaben (4.) und ihre Textausstattung tritt schließlich sowohl ein Umbau der Darbietungsformen hervor, der einer sprachdidaktisch angelegten Übersetzung neue Freiräume eröffnet, als auch, mit der Ausgabe des Züricher Rektors Johannes Fries (1505–1565), ein nunmehr dezidiert zweisprachig angelegtes Schulbuchprojekt. Fries ist der erste, der auf die Wahrnehmung des Deutschen als Sprache eigenen Rechts, die in den Unterrichtsmaterialien nach Brant zunächst den Rückgang deutscher Übersetzungen in den Unterrichtsmaterialien verantwortet, offensiv begegnet: Er versucht das Deutsche expressis verbis als eine auch in gedruckter Form legitime Begleitsprache des Unterrichts zu installieren.
1. Kontinuitäten und Diskontinuitäten Die lateinischen ›Disticha Catonis‹, im 3./4. Jahrhundert nach Christus verfaßt,15 haben spätestens seit karolingischer Zeit ihren festen Platz am Beginn des Trivialunterrichts.16 Die hochmittelalterlichen Umbrüche im Lektürekanon der auctores, auf die Henkel hingewiesen hat, überstehen sie sozusagen unbeschadet.17 Kritische Stimmen wie im 11. Jahrhundert jene Otlohs von St. 15
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Zu Datierung, Autor und Titel des Werks ausführlich zuletzt Paolo Roos, Sentenze e proverbio nell’antichita e i ›Distica di Catone‹. Il testo latino e i volgarizzamenti italiani. Con una scelta e traduzione delle massime e delle frasi proverbiali latine classiche piu importanti o ancora vive oggi nel mondo neolatino, Brescia 1984, S. 187– 198. Die schulmäßige Ausrichtung bereits in vorkarolingische Zeit datierender Interpolationen – zwischen eröffnender Epistola und erstem Buch wurden kurze Prosasentenzen (Breves sententiae) eingefügt und etwas später metrische Vorreden zu den Büchern II, III und IV – läßt auf dem Überlieferungseinsatz im 8. Jahrhundert bereits vorausliegende schulische Gebrauchstraditionen schließen; vgl. Marcus Boas, Die Epistola Catonis, Amsterdam 1934 (Verhandelingen der konklijke akademie van wetenschappen te Amsterdam. Afdeeling letterkunde. Nieuwe reeks 333,1), S. 26–30, sowie dazu etwa den Hinweis von Bernhard Bischoff auf die Verwendung des Werks als Schullektüre im westgotischen Spanien: Elementarunterricht und Probationes Pennae in der ersten Hälfte des Mittelalters, in: ders., Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1966, S. 74–92, hier S. 76f. Anm. 21. Vgl. Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Ver-
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Emmeram, der den Cato als heidnische Dichtung gerne durch sein ›Libellus proverbiorum‹ ersetzt sähe,18 stehen schon im Mittelalter ganz vereinzelt und bleiben es bis in die Frühe Neuzeit hinein. Wenn der französische Pädagoge Mathurin Cordier (1479–1564) den Lehren des Cato 1556, wiederum von dezidiert christlicher Warte aus, moralische Laxheit vorwirft und als Ersatz eine eigene Exzerptesammlung aus den Briefen Ciceros ankündigt,19 steht, angesichts der Prominenz des Cato, auch dieses Monitum wie schon jenes Otlohs unter dem Verdacht, um seine eigene Wirkungslosigkeit zu wissen und die Auflehnung gegen die Tradition nicht zuletzt als Werbemittel für das eigene Vorhaben zu instrumentalisieren. Gesichert wurde den ›Disticha Catonis‹ diese Prominenz im Sprachenunterricht der Humanisten bereits 40 Jahre vor Cordier durch keinen geringeren als Erasmus von Rotterdam, also von einem bereits zeitgenössisch überaus wirkungsmächtigen Fürsprecher, und an historisch entscheidender Stelle. Schon zwischen ihrem ersten Erscheinen in Leuven 1514 und 1530 nahezu ein halbes Hundert Mal gedruckt,20 ist es vor allem die Cato-Ausgabe des Erasmus, die dem mittelalterlichen Unterrichtstext die Brücke in die Frühe Neuzeit über einen kritischen Zeitabschnitt hinweg schlägt, über die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts hinweg nämlich, in der manches andere überkommene Lehrwerk des Lateinunterrichts, Alexanders de Villa Dei hochmittelalterliches ›Doctrinale‹ etwa oder das französische ›Auctores octo‹-Handbuch, obwohl durchaus schon länger als unzureichend gescholten, endgültig aus dem Unterrichtsbetrieb verschwindet.21 In einem Briefwechsel mit Guillaume Bude´ (1468–1540), der
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breitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte, München 1988 (MTU 90), S. 9–64. Vgl. Othloni Libellus proverbiorum, hg. von William Charles Korfmacher, Chicago 1936, S. 2 (Prolog Z. 14–18). Vgl. Desmet-Goethals [Anm. 13], S. 82f. Zu Person und Werk Cordiers Charles E´mile Delormeau, Un maıˆtre de Calvin: Mathurin Cordier, l’un des cre´ateurs de l’enseignement secondaire moderne, 1479–1564, Neuchaˆtel 1976; Jules Le Coultre, Maturin Cordier et les origines de la pe´dagogie protestante dans les pays de langue franc¸aise (1530–1564), Neuchaˆtel 1926 (Me´moires de l’Universite´ de Neuchaˆtel 5). Nicht zur Verfügung stand mir Gilbert Gerald Bleau, Mathurin Cordier: Son programme, sa me´thode d’apres les Colloques (1564), Phil. Diss. Austin 1972. Vgl. für Drucknachweise Ferdinand van der Haeghen, Bibliotheca Erasmiana. Re´pertoire des oeuvres d’E´rasme, Gent 1893 (Nachdr. Nieuwkoop 1961), Bd. 2, S. 14–18. An der Kölner Universität wird das ›Doctrinale‹ 1525 abgeschafft: vgl. Erich Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 1, Köln 1988, S. 233. Von den ›Auctores octo‹ erscheinen zwischen 1488 und 1500 37 Ausgaben, im ersten, zweiten und dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts nur noch sieben, fünf und drei: vgl. J. Osternacher, Die Überlieferung der Ecloga Theoduli, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 40 (1916), S. 329–376, hier S. 347–352. Zu den dort unter Nr. 72–93 erfaßten 22 Ausgaben des 16. Jahrhunderts (unter Nr. 94–96 drei weitere des 17.) ist etwa eine Paris 1528 erschienene zu ergänzen (Index Aureliensis. Catalogus librorum sedecimo saeculo impressorum, Bd. 1ff., Baden-Baden 1965ff., hier Bd. 1,2, S. 356, Nr. 109.680).
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Erasmus auffordert, doch seine kostbare Zeit nicht mit derart inferioren Texten zu vertun, legt Erasmus überdies dar, wieso er sich gleichwohl dem Cato widmet. Es sei vor allem die Schlichtheit des Lateins, die ihm den Text als Unterrichtslektüre geeignet erscheinen lasse, und diese Schlichtheit der Sprache paare sich mit einer ebenso willkommenen Konzisität des Inhalts, mit einfachen, aber grundlegenden Lebensregeln, die hier in jeweils zwei Hexameterdistichen vermittelt würden. Sprachform und Gehalt ergänzten sich also glücklich. In den Augen des Erasmus erfüllte das Werk die humanistische Forderung nach brevitas der Lehrwerke beispielhaft, die im Dienste effizienten Unterrichts steht und als Leitvorstellung eine zentrale Rolle in der humanistischen Kritik an den mittelalterlichen Lehrwerken spielt.22 Einen dem Erasmus vergleichbar zugkräftigen Namen, der sich an entscheidender Stelle ebenso für Übersetzungen ins Deutsche stark gemacht hätte, sucht man vergebens. Der Titel von Zarnckes Untersuchung – »Geschichte der deutschen Übersetzungen der im Mittelalter unter dem Namen Cato bekannten Distichen bis zur Verdrängung derselben durch die Übersetzung Sebastian Brants am Ende des 15. Jahrhunderts« – suggeriert zwar, mit Brant ende gleichsam der mittelalterliche und beginne ein neuer Zeitabschnitt. (In der Arbeit selbst geht Zarncke darauf übrigens an keiner Stelle mehr ein.) Aber das stimmt nur bedingt, denn diese Feststellung ist perspektivenabhängig. Eine Zäsur markiert Brants Cato zwar in der Tat insofern, als diesem seit seinem ersten Erscheinen 1498 bei Bergmann von Olpe in Basel ein beachtlicher Erfolg von 37 Ausgaben beschieden ist, die die älteren zweisprachigen Unterrichtsausgaben in kürzester Zeit vollständig verdrängen. Nachhaltigkeit jedoch, die entscheidend über die kritischen ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts hinausreichte, ist Brants deutschem Cato nicht beschieden – wenn man von einem Wormser Nachzügler 1538 und der besonderen Gruppe lateinisch-polnischer-deutscher Cato-Ausgaben seit 1535 absieht, die allesamt in Krakau erscheinen und von denen keiner Sebastian Brant als Autor des deutschen Textes ausweist. Die nachstehende Tabelle gibt einen die Erscheinungsjahre nach Dezennien zusammenfassenden Überblick über die gedruckten Cato-Übersetzungen ins Deutsche bis einschließlich derjenigen Sebastian Brants. Lateinisch-deutsche Textausgaben erscheinen recte, lateinisch-polnisch-deutsche kursiv, einsprachig-deutsche tragen ein *Sternchen. 22
Vgl. zu Erasmus’ Rechtfertigung gegenüber Bude´ anlässlich der Cato-Ausgabe ausführlich Perraud [Anm. 13], S. 84–86. Eberhard der Deutsche hatte in seinem ›Laborinthus‹ (V. 603f.) im 13. Jahrhundert die Kürze der Verse noch eher als Hindernis aufgefaßt, das einem dem Gewicht der Lehren entsprechenden Sprachschmuck im Wege stehe: Semita virtutum catus est Cato, regula morum, / Quem metri brevitas verba polire vetat. (»Der Tugend bahnt der scharfsinnige Cato, ein Maßstab der Sitten, den Weg, den die Kürze seiner Verse daran hindert, glanzvoller zu formulieren.«) Edmond Faral, Les arts poe´tiques du XIIe et du XIIIe sie`cle. Recherches et documents sur la technique litte´raire du moyen age, Paris 1924 (Bibliothe`que de l’E`cole des Hautes E´tudes. Sciences historiques et philologiques 238), S. 358.
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Von der praxisgeleiteten zur sprachenpolitischen Verwendung des Deutschen Tabelle 1 1470 ’80 RB NC T2 MC LC SB
*2
gesamt
2
2 4 1
7
’90
1500
’10
’20
’30
1 31
*1 5
*1
*1
2
1 2
13
14
1
1+2
35
19
16
2
4
’40
’50
’60
’70
gesamt
1+1
2
2 7 42 1 1 37
2
2
90
*1
Zur Erläuterung: Neben dem gedruckten ›Grundkatalog‹ wurde die in der Aufnahme von Nachträgen aktuellere, unter 〈http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de〉 erreichbare OnlineDatenbank benutzt. Da die Einzelnachweise der Ausgaben nach 1500 zahlreiche Korrekturen an den bisher vorliegenden Verzeichnissen erforderten,23 ist an dieser Stelle auf sie verzichtet.24 RB Rumpfbearbeitung (Text: Zarncke [Anm. 10], S. 27–58); vgl. GW Nr. 6349,20 und GW 6350. NC ›Niederrheinischer Cato‹ (Text: Graffunder);25 vgl. GW Nr. 6354–6357. T2
23
24
25
die die Textgruppe 2 Zatocˇils konstituierende Übersetzung (Text nach der Handschrift Stuttgart, Württembergische Landesbibl., cod. poet. et phil. 4° 50, 2r–76v, bei Zatocˇil, Cato a Facetus [Anm. 10], S. 94–116); vgl. GW Nr. 6319–6343 (mit dem der Epistula und den ›Breves sentantiae‹ entsprechenden Vorspann nach dem Text der Rumpfbearbeitung) und 6345–6349 (mit dem der Epistula und den ›Breves sentantiae‹ entsprechenden Vorspann nach dem Text des ›Michelstädter Cato‹) mit den Ergänzungen Nr. 6322,10, 6325,10, 6326,10, 6332,10, 6338,10 und 6338,20.
Vgl. v. a. Theodor Brüggemann /Otto Brunken, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1ff., Stuttgart 1987ff., Bd. 1, Sp. 962–977 u. Bd. 2, Sp. 1157–1160; Worstbrock [Anm. 11], S. 31–46; Wilhelmi [Anm. 11], S. 93–100 (speziell zu Brants ›Cato‹); Wolfgang Schmitz, Die Überlieferung deutscher Texte im Kölner Buchdruck des 15. und 16. Jahrhunderts, Habil. [masch.] Köln 1990, S. 210f. (speziell zum ›Niederrheinischen Cato‹). Zu den lateinisch-polnisch-deutschen Cato-Ausgaben vgl. demnächst Andre´ Drewelowsky, Die lateinisch-polnisch-deutschen Ausgaben der ›Disticha Catonis‹ aus dem 16. Jahrhundert, gedruckt in Krakau bei Hiernoymus Vietor und Mathias Wirzbieta, in: Studien zur historischen Mehrsprachigkeit, hg. von Niklaus Henkel [u. a.] [in Vorbereitung für den Druck]. Vgl. vorläufig ›Disticha Catonis – Datenbank der deutschen Übersetzungen‹ (unter 〈http://www1.uni-hamburg.de /disticha-catonis〉) sowie demnächst die Überlieferungskataloge in Michael Baldzuhn, Schulbücher des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ›Fabulae‹ Avians und der deutschen ›Disticha Catonis‹, Berlin/New York (QuF 44), Bd. 2 [im Druck]. Paul Graffunder, Cato’s Distichen in niederrheinischer Übersetzung, Progr. Berlin 1897.
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MC ›Michelstädter Cato‹, Übertragung eines unbekannten Übersetzers mit handschriftlicher Vorstufe in Michelstadt, Nicolaus-Matz-Bibliothek (Kirchenbibliothek), Cod. D 692/XV 3 (Text unediert); vgl. GW Nr. 6344. LC ›Ulmer Losbuch-Cato‹, Übertragung eines unbekannten Übersetzers (Text unediert); vgl. GW Nr. 6351. SB
Sebastian Brants Übersetzung der ›Disticha Catonis‹ (Text nach der in Basel um 1500 bei Johann Amerbach oder Michael Furter erschienenen Ausgabe GW Nr. 6353 in Zarnckes ›Narrenschiff‹-Ausgabe);26 vgl. GW 6352f.
Die mit dem Erfolg der Brant-Übersetzung anzusetzende Zäsur ist also eigentlich nur eine halbe. Im Grunde wird hier nur eine ältere gegen eine andere Texttradition ausgetauscht, verlängert Brant die spätmittelalterliche Wirkungsgeschichte des Cato nur noch einmal um zwei Jahrzehnte. Ein Bruch vollzieht sich erst nach Brant, in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts. Erschienen in den drei Jahrzehnten zwischen 1490 und 1519 siebzig lateinisch-deutsche Cato-Ausgaben, sind es in den drei anschließenden ab 1520 aus dieser älteren Texttradition nurmehr drei. Bis um die Jahrhundertwende werden dem beginnenden Lateinschüler zweisprachige Lehrmaterialien mit einer frappierenden Selbstverständlichkeit bereitgestellt, die dann Brants Ausgabe noch bis ins zweite Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts hinein ihren Erfolg sichert. Noch schärfere Kontur erhält diese Selbstverständlichkeit im Blick auf jene im GW verzeichneten Ausgaben der ›Disticha Catonis‹, die auf deutschem Boden als unkommentierte (und von daher am ehesten für den Lateinschüler bestimmte) Separatausgaben in den Druck gingen. Hier steht nämlich ganzen drei einsprachig-lateinischen Ausgaben mit 35 lateinisch-deutschen Ausgaben mehr als das Zehnfache gegenüber.27 Derartige Relationen werden nicht nur nach Brant, sondern überhaupt das gesamte 16. Jahrhundert nicht mehr erreicht. Offenbar geht dem deutschen ›Cato‹ mit der voranschreitenden Anpassung des Lateinunterrichts an humanistische Vorstellungen die Dignität dauerhafter Schriftlichkeit verloren. Die volkssprachliche Traktierung der ›Disticha Catonis‹ fällt in die anonyme Mündlichkeit des okkasionellen Unterrichtsgebrauchs zurück.
26 27
Sebastian Brants Narrenschiff, hg. von Friedrich Zarncke, Leipzig 1854, S. 131–137. Vgl. GW Nr. 6253, 6255 und 6259 gegenüber GW Nr. 6319–6357 (ohne GW Nr. 6349,20 und 6350 als einsprachige Drucke der Rumpfbearbeitung – zu dieser siehe unten Abschnitt 2 – sowie ohne GW Nr. 6351 mit auf Initien reduziertem und ohne GW Nr. 6357 mit fehlendem lateinischen Text). Auch wenn man die niederländischen Druckorte einbezieht, bleibt es bei einem deutlichen Übergewicht der zweisprachigen Textausgaben.
Von der praxisgeleiteten zur sprachenpolitischen Verwendung des Deutschen
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2. Vorleistungen: Der deutsche Cato bis Brant Der Erfolg zweisprachiger Catodrucke für den Lateinunterricht in den Jahrzehnten vor und um 1500 ist eine Eigenheit des deutschsprachigen Raums. Ausgaben englischer und französischer Übersetzungen reichen zahlenmäßig an diejenigen deutscher nicht entfernt heran. Es mag sein, daß sich das auch von der Geschichte des Buchdrucks her erklärt. Inkunabeldrucker durften sich für ihr riskantes Gewerbe einen einigermaßen kalkulierbaren Umsatz besonders aus der Versorgung des örtlichen Schulbetriebs mit Lehrwerken erwarten – und führend in der Ausbildung des Druckgewerbes war eben zunächst einmal Deutschland. Freilich würden sich die deutschen Drucker speziell auf ihren bilingualen Cato kaum in dieser Zahl und auch Sebastian Brant auf ihn nicht eingelassen haben, wenn zweisprachige Unterrichtsmaterialien überhaupt ein Novum gewesen wären. Das waren sie nicht, sondern längst lizensiert. Man hat gegen Erika Isings Versuch, für das Vordringen der deutschen Donate in den Lateinunterricht den Frühhumanismus und die Bemühungen im Umkreis der Wiener Universität in Anschlag zu bringen, zu Recht auf die weitaus weniger prominente und exponierte, dafür aber breitenwirksamere Praxis der Lateinschulen des 15. Jahrhunderts verwiesen.28 Das kann vom deutschen Cato her nur unterstrichen werden – und es muß differenziert werden. Zum einen liegen nämlich die entscheidenden Anstöße bereits im 14. Jahrhundert. Zum zweiten erscheint die Verbindung von Latein und Deutsch im Trivialunterricht von einem breiteren außerschulischen Rezeptionsverlangen des einsprachigen Laien flankiert, das sich in zahlreichen Abschriften der sogenannten Rumpfbearbeitung niederschlägt, die in den Handschriften nahezu ausnahmslos ohne den lateinischen Text abgeschrieben wird und deren Mitüberlieferung in den Handschriften sich regelmäßig allein aus deutschen Texten zusammensetzt. Die folgende Tabelle versucht einen Eindruck von der zeitlichen Verbreitung handschriftlich mehrfach bezeugter Übersetzungsfassungen zu vermitteln. Nicht berücksichtigt sind jedoch Übersetzungen ohne weitergehende Ausstrahlung (›Neusohler Cato‹, ›Amorbacher Cato‹, ›St. Galler Cato‹), die nur in jeweils einer Handschrift belegt sind, sowie die Übersetzung ins Mittelniederländische. 29 28
29
Klaus Grubmüller, Der Lehrgang des Triviums und die Rolle der Volkssprache im späten Mittelalter, in: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Bernd Moeller [u. a.], Göttingen 1983 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Kl. 3,137), S. 371– 397; Erika Ising, Die Herausbildung der Grammatik der Volkssprachen in Mittelund Osteuropa. Studien über den Einfluß der lateinischen Elementargrammatik des Aelius Donatus De octo partibus orationis ars minor, Berlin (Ost) 1970 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. Reihe A: Beiträge zur Sprachwissenschaft 47), S. 31–51. Vgl. Nikolaus Henkel, ›Neusohler Cato‹, 2VL VI, Sp. 924f.; Peter Kesting, Ein deutscher ›Cato‹ in Prosa. Cato und Cicero in der St. Galler Weltchronik, in: Würz-
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Tabelle 2 Datierung
Text
2. H. 13. Jh. 2. H. 13. Jh. 1. H. 14. Jh. M. 14. Jh. 2. H. 14. Jh. 2. H. 14. Jh. 2. H. 14. Jh. M. 15. Jh. 2. H. 15. Jh.
Rumpfbearbeitung Textgruppe 1 ›Niederrheinischer C.‹ Stephan von Dorpat ›Zwielichter C.‹ Textgruppe 3 ›Schlesischer C.‹ Textgruppe 2 ›Michelstädter C.‹
13. Jh.
14. Jh.
15. Jh.
Hss. insges.
1 – – – – – – – –
7 1 3 3 2 2 4 – –
29 3 3 2 – 24 16 11 1
37 4 6 5 2 26 20 11 1
Zur Erläuterung: Auf Einzelnachweise zur Überlieferung ist verzichtet; vgl. jedoch wiederum die ›Cato‹Datenbank unter 〈http://www1.uni-hamburg.de /disticha-catonis〉 sowie Baldzuhn [Anm. 24]. – Rumpfbearbeitung: Zur Textausgabe s. o. bei Tabelle 1. Verfaßt wurde der Text vielleicht gegen Ende des 13. Jahrhunderts.30 Den ältesten Textzeugen liefern die ›Benediktbeurer Bruchstücke‹ (München, BSB, Cgm 5249/29b, Streifen 8r/v) vom Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts.31 – Textgruppe 1: Die Unterscheidung von Textgruppe 1, 2 und 3 liegen Zatocˇils Modifikationen von der textkritischen Ausführungen Zarnckes zugrunde. Der Text liegt bisher nur nach einzelnen Handschriften abgedruckt vor (vgl. Zatocˇil, Cato a Facetus [Anm. 10], S. 29–94). Im Verfasserlexikon wird der Gruppentext 1 von Kesting »gegen Mitte des 13. Jh.s« datiert.32 Ältester Textzeuge ist Zwettl, Stiftsbibl., cod. 357, 89ra–98vb, aus dem frühen 14. Jahrhundert.33
30 31
32 33
burger Prosastudien II. Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag, hg. von P. K., München 1975 (Medium Aevum 31), S. 161–173; Dieter Harmening, Neue Beiträge zum deutschen Cato, Zeitschrift für deutsche Philologie 89 (1970), S. 346–368, hier S. 349–351 zum ›Amorbacher Cato‹; Den duytschen Cathoen. Naar de Antwerpse druk van Henrick Eckert van Homberch. Met als bijlage de andere redacties van de vroegst bekende Middelnederlandse vertaling der Dicta Catonis, hg. von A. M. J. van Buuren [u. a.], Hilversum 1998 (Niddelnederlandse tekstedities 5). Peter Kesting, Cato, 2VL I, Sp. 1192–1196, hier Sp. 1194. Vgl. Karin Schneider, Die Fragmente mittelalterlicher deutscher Versdichtung der Bayerischen Staatsbibliothek München (Cgm 5249/1–79), Stuttgart 1996 (ZfdA Beiheft 1), S. 59f.; Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, hg. von Hermann Paul, Tübingen 161996 (ATB 3), S. XV-XVIII. Kesting [Anm. 30], Sp. 1193. Vgl. Charlotte Ziegler, Zisterzienserstift Zwettl. Katalog der Handschriften des Mittelalters. Bd. 4, Zwettl 1996/97 (Scriptorium Ordinis Cisterciensium Monasterii B. V. M. in Zwettl 4), S. 193–196.
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– ›Niederrheinischer Cato‹: Zur Textausgabe s. o. bei Tabelle 1. Zur Datierung »vor 1350« siehe Kesting.34 Ältester Textzeuge ist das Bruchstück Frankfurt, StuUB, Fragm. germ. 4, aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.35 – Stephans von Dorpat niederdeutscher Cato: Textausgabe durch Graffunder 1897/99, Datierung nach Beckers im Verfasserlexikon.36 Die Überlieferung setzt Ende des 14. Jahrhunderts mit drei Handschriften ein. – ›Zwielichter Cato‹: Zarncke [Anm. 10], S. 162–170, hat diesen Cato »im zwielichten dialecte« nur in Textproben zugänglich gemacht. Die Überlieferung setzt, der Entstehung des Textes sowohl zeitlich als auch räumlich sehr wahrscheinlich nahe, mit Frankfurt, StuUB, Mgq 2, 10v–15v, um 1370/80 im Rheinfränkischen ein.37 – Textgruppe 3: Der Text liegt nur nach Einzelhandschriften abgedruckt vor (vgl. etwa Zatocˇil, Cato a Facetus [Anm. 10], S. 116–182). Zu den ältesten Überlieferungszeugen zählt London, BL, MS Additional 11250, 12r–13v.38 – ›Schlesischer Cato‹: Text als Abdruck des einzig vollständigen Textzeugen (London, BL, MS Arundel 243, 205r–288r) bei Zatocˇil, Cato a Facetus [Anm. 10], S. 195–229. Die Überlieferung setzt mit mehreren Handschriften im ausgehenden 14. Jahrhundert ein. Unter anderem überlieferungsgeschichtliche Gründe sprechen gegen eine zeitlich wesentlich davor zurückreichende Entstehung. – Textgruppe 2: Der Text liegt nur aus einzelnen Handschriften abgedruckt vor (s. o. bei Tabelle 1). Die Überlieferung reicht nicht hinter die Mitte des 15. Jahrhunderts zurück. Zu Datierung und Herkunft siehe unten. – ›Michelstädter Cato‹: S. o. bei Tabelle 1.
Im 14. Jahrhundert steigt das Verlangen der Lateinschüler und -lehrer nach volkssprachigen Hilfsmitteln für den Lateinunterricht. Von den wirkungsmächtigeren Übersetzungen datieren gleich vier in diesen Zeitraum: – Graffunders ›Niederrheinischer Cato‹ aus dem Mittelfränkischen, der nach Ausweis seiner Überlieferungsgeschichte für die Begleitung sowohl durch den lateinischen Ausgangstext als auch durch den lateinisch-deutschen ›Facetus Cum nihil utilius‹, eine auch als ›Supplementum Catonis‹ bezeichnete 34 35
36
37
38
Kesting [Anm. 30], Sp. 1194. Vgl. Gerhardt Powitz, Mittelalterliche Handschriftenfragmente der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1994 (Kataloge der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main 10,6), S. 155. Paul Graffunder, Mittelniederdeutscher Cato, NdJb 23 (1897), S. 1–50 [ein erster Teil auf der Grundlage der Wolfenbütteler Handschrift]; ders., Meister Stephans niederdeutscher Cato, NdJb 25 (1899), S. 1–33 [der Rest auf der Grundlage der Danziger Handschrift]; Hartmut Beckers, Stephan von Dorpat, 2VL IX, Sp. 290–293, hier Sp. 290. Birgitt Weimann, Die mittelalterlichen Handschriften der Gruppe Manuscripta Germanica, Frankfurt a. M. 1980 (Die Handschriften der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main 5,4), S. 10–12. Robert Priebsch, Deutsche Handschriften in englischen Bibliotheken, Erlangen 1896–1901, Bd. 2, S. 107.
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hochmittelalterliche Fortsetzung der Distichen, konzipiert wurde, d.h. als primer, als regelrechtes Erstlesebuch des Lateinunterrichts; – der nach Ausweis seiner Überlieferung, die ihn durchweg mit dem lateinischen Text bietet, ebenfalls als zweisprachiges Ensemble konzipierte niederdeutsche Cato des Dorpater Schulmeisters Stephan; – Zatocˇils schlesischer Cato, der wie der ›Niederrheinische Cato‹ sowohl für die lateinisch-deutsche als auch für die vom ›Facetus Cum nihil utilius‹ begleitete Darbietung konzipiert wurde, also wiederum als Lesebuch für den Anfängerunterricht – das freilich mit 20 erhaltenen Textzeugen in seinem ostmitteldeutschen Überlieferungsraum weiter als der ›Niederrheinische Cato‹ im Mittelfränkischen verbreitet war;39 – und die, weil nach Zarncke in »zwielichtem dialecte« abgefaßt, in der Tabelle als »zwielichter« Cato bezeichnete und noch unedierte rheinfränkische Übersetzung, die zwar zwar nicht den institutionalisierten Lateinunterricht, sondern ein litterates höfisches Publikum anvisiert, aber immerhin auf einer zweisprachigen Schulausgabe basiert.40 Ferner müssen hier auch die vier ältesten Handschriften von Zatocˇils Textgruppe 1 und die von diesem Gruppentext vielfach beeinflußten Texte der Gruppe 3 genannt werden, auch wenn die Textgruppe 1 noch ins 13. Jahrhundert, also vor dem Verschriftlichungsschub des Lateinunterrichts im 14. datiert. Auf diesem gleichsam vor seiner Zeit übersetzten Cato gründet im Unterschied zu den bereits benannten Übersetzungen keine fest umrissene textgeschichtliche Tradition. Der Gruppentext 1 wird in den Textzeugen der dritten Gruppe zwar immer wieder streckenweise aufgegriffen, aber daneben auch auf vielfältige Weise produktiv weiterverarbeitet, d.h. von individuellen Textstrecken begleitet, die nur einem einzigen Textzeugen oder höchstens einer kleineren Untergruppe eignen. Wir haben nur hier also – dies in Parenthese – jenen Typ Textgeschichte vorliegen, den Zarncke für den deutschen Cato verallgemeinert hat und der seine pragmatische Basis darin finde, daß eben mancher Lehrer »je nach seinem geschicke und geschmacke änderte«.41 Ihren Hauptverbreitungsraum hat freilich auch diese ›offene‹ Textgruppe 3 in der Lateinschule.
39
40
41
Dieses älteste lateinisch-deutsche Erstlesebuch habe ich an anderer Stelle ausführlicher charakterisiert: Textreihen in der Mitüberlieferung von Schultexten als Verschriftlichungsphänomen. Formen ihrer Herausbildung im Lateinischen (›Liber Catonianus‹, ›Auctores octo‹) und in der Volkssprache (Cato/Facetus), in: Erziehung, Bildung, Bildungsinstitutionen. Euducation, Training, and their Institutions, hg. von Rudolf Suntrup [u. a.], Frankfurt a. M. [usw.] 2006 (Medieval to early modern culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 6), S. 19–54, hier bes. S. 40–52. Vgl. für eine erste Kennzeichnung dieser Übersetzungsfassung Michael Baldzuhn, ›Cato‹ bei Hofe. Transformationen eines Schultextes in den Händen adliger Laien, AfK 87 (2005), S. 315–349. Zarncke [Anm. 10], S. 19.
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Flankiert wird das Verlangen nach geschriebenem Deutsch im Lateinunterricht, wie erwähnt, von einem kontinuierlichen und breiten Rezeptionsverlangen des einsprachigen Laien nach einem deutschen Cato. Die Rumpfbearbeitung erscheint in den Handschriften vom ausgehenden 13. Jahrhundert an ausschließlich42 im Verbund mit deutscher, nirgends mit lateinischer Literatur. Für den einsprachigen Laien im 13. Jahrhundert geschaffen und vom Laien abseits des Trivialunterrichts kontinuierlich und breit bis ins ausgehende 15. Jahrhundert tradiert, ist es die Rumpfbearbeitung, die die Bezeichnung »deutscher Cato« vor allen anderen verdient. Schon aus chronologischen Gründen ließe sich allenfalls für die Übersetzung der Textgruppe 2, die in der Forschung nach Zatocˇils Sigle der Stuttgarter Handschrift, die dem einzigen bisher edierten Text zugrundeliegt, auch als Übersetzungsfassung A bezeichnet wird, annehmen, sie sei vielleicht frühhumanistisch inspiriert. Die Textgemeinschaften, in denen diese Übersetzung ihre elf Handschriften bieten, nähren diesen Verdacht zunächst durchaus. In ihr tauchen sowohl Werke einschlägiger Autoren auf, Enea Silvio etwa, Agostino Dati, Antonio Barzizza, Lorenzo Valla, Boccaccio oder Poggio, als auch einschlägige Schreiber: in München, UB, 2° cod. ms. 667 etwa Heinricus Huter, der dem bekannten Kreis der schwäbischen Frühhumanisten zuzählt.43 In der Tat läßt sich für die Übersetzungsfassung A mithilfe des lateinischen Kommentars, der diesen deutschen Cato in sechs von elf Handschriften regelmäßig begleitet, Entstehung an einem Zentrum dieses Kreises, an der schon von den Zeitgenossen gerühmten Ulmer Lateinschule wahrscheinlich machen.44 Aber auch die schwä42 43
44
Vgl. Henkel [Anm. 17], S. 178. Vgl. Paul Joachimsohn, Frühhumanismus in Schwaben, Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte N. F. 5 (1896), S. 63–126 und S. 257–291; Ulrike Bodemann/Christoph Dabrowski, Handschriften der Ulmer Lateinschule. Überlieferungsbefund und Interpretationsansätze, in: Schulliteratur im späten Mittelalter [Anm. 4], S. 11–47, hier S. 31f. Den Kommentar überliefern Augsburg, UB, cod. II.1.4° 32, 88r–242v; München, BSB, Clm 27425, 2r–122r, und München, UB, 2° cod. ms. 667, 38r–98v; Ottobeuren, Stiftsbibl., Ms. O. 82, 20r–85r; Stuttgart, Württembergische Landesbibl., cod. HB XII 22, 1r–92v und cod. poet. et philol. 4° 50, 2r–76v. Von diesen Handschriften wurde die Handschrift der Münchner UB teils in Wien, größtenteil aber in Ulm geschrieben: vgl. Natalia Daniel [u.a.], Die lateinischen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München. Die Handschriften aus der Folioreihe. Zweite Hälfte, Wiesbaden 1979 (Die Handschriften der Universitätsbibliothek München 3,2), S. 131–138. Diesen Kommentar kann ich darüber hinaus nur noch in der Handschrift Augsburg, UB, cod. II.1.4° 27, 2r–77r, nachweisen, die nach Ausweis ihrer Schreiberkolophone 1450/51 über einen Zeitraum von circa 10 Monaten hinweg von drei Schreibern in Ulm geschrieben wurde. Von den drei Schreibern hatte einer, Ulrich Negellin, 1451 nach seinen eigenen Angaben das Amt des provisor lectionis cantoris inne. Dieses Amt wird an der Ulmer Lateinschule ein halbes Jahrhundert später durch den Ulmer Lektionsplan belegt: Vor- und frühreformatorische Schulordnungen und Schulverträge in deutscher und niederländischer Sprache, hg. von Johannes Müller, Zschopau
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bischen Frühhumanisten haben natürlich (wenn ihr primäres Interesse diesem inferioren Bereich überhaupt gegolten haben sollte) den über Jahrzehnte eingespielten lateinischen Unterricht in Ulm45 nicht von heute auf morgen umgestellt. Jedenfalls begleitet den ›Ulmer Cato‹, wie ich ihn nennen möchte, ein lateinischer Kommentar eines Typs, über den Erasmus in der Vorrede zu seiner eigenen Cato-Ausgabe 1514 sich mit sarkastischen Worten mokieren wird,46 wird den Text des ›Ulmer Cato‹ bereits Sebastian Brant als unzureichend verwerfen,47 verzichtet auch der Verfasser des ›Ulmer Cato‹ noch, wie regelmäßig alle seine Vorgänger, auf jede Reflexion des eigenen übersetzerischen Tuns;48 und weil ihm sein Geschäft als Übersetzer für den niederen Lateinunterricht keiner weiteren Rede wert war, bindet er sein Produkt denn auch nicht an seinen Namen und bleibt, wiederum wie alle seine Vorgänger, anonym.49 Vor diesem Hintergrund kann schließlich weder die Konventionalität des Ulmer Anonymus im Formalen überraschen, der wie seine Vorgänger vierhebige Reimpaarverse wählt, von denen dann regelmäßig jeweils vier – auch so hat man es nahezu immer schon gemacht – ein Hexameterdistichon wiedergeben, noch die Konventionalität im übersetzerischen Verfahren. Es ist zwar noch nicht genauer untersucht, dürfte sich aber am schlüssigsten im Rahmen des Systems der lateinischen Kommentierungsschritte beschreiben lassen, wie es im 12. Jahrhundert etwa Hugo von St. Viktor ausformuliert hat.50 Danach ist es, wie alle spätmittelalterlichen Schul-
45 46 47 48 49
50
1885–86 (Sammlung selten gewordener pädagogischer Schriften früherer Zeiten 12f.), S. 125–128. Vgl. Bodemann/Dabrowski [Anm. 44]. Vgl. Boas, Een vergissing [Anm. 13], S. 282–284. Siehe unten Abschnitt 3. Siehe unten Abschnitt 3. Stephans von Dorpat Selbstnennung beschränkt sich in der Art von abschließenden Schreiberversen auf die Bitte um geistliche Belohnung für das geleistete Werk: Vnde bidde uor my, stephan geheten, / Dat my mynes arbeydes late geneten / Got in synem ouersten throne, / De my gheue des hymmels krone (V. 2342–2345). Den Namen des Cato-Übersetzers Bartholomäus Mulich (der freilich keine in sich abgeschlossene Reimpaarübersetzung für den Schulunterricht erstellt, sondern sich den lateinischen Text nur für den Eigengebrauch partiell übersetzt hat) kennen wir nur aus begleitenden Quellen, nicht aus der Übersetzung selbst: vgl. Nikolaus Henkel, Bartholomäus Mulich, 2VL VI, Sp. 736–738. Vgl. ›Didascalicon‹ III,8: Expositio tria continet, litteram, sensum, sententiam. Littera est congrua ordinatio dictionum, quod etiam constructionem vocamus. Sensus est facilis quaedam et aperta significatio, quam littera prima fronte praefert. Sententia est profundis intelligentia, quae nisi expositione vel interpretatione non invenitur. (»Die Auslegung umfaßt drei Elemente: den Wortlaut, den Sinn und die tiefe Bedeutung. Der Wortlaut ist die angemessene Anordnung der Wörter, die wir auch Konstruktion nennen. Der Sinn ist eine gewisse leicht faßbare und offensichtliche Bedeutung, welche der Wortlaut an der Oberfläche zeigt. Die tiefe Bedeutung ist ein tiefgründiges Verständnis, das man nur durch Auslegung und Erläuterung erlangen kann.«) – Hugo von Sankt Viktor, Didascalicon de studio legendi. Studienbuch, übersetzt und einge-
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übersetzungen, in funktionaler Hinsicht am ehesten der expositio ad sensum an die Seite zu stellen: Sie zielen auf die facilis quaedam et aperta significatio, quam littera prima fronte praefert, und paraphrasieren, was gesagt wird, ohne wie die expositio ad sententiam (moralem/allegoricam) zusätzlichen Sinn aufdecken zu wollen oder ergänzend auf sprachliche Phänomene einzugehen. Da diese Paraphrase nun allerdings in Versen ausformuliert ist, schließt schon dies eine vorlagennahe Wörtlichkeit aus und läßt den Übersetzern einen gewissen Gestaltungsspielraum, den sie auch weithin unbekümmert nutzen. Erst Brant wird, auf der Basis des ›Ulmer Cato‹, versuchen, in den Fesseln gebundener Rede trotzdem seine Übersetzung an Syntax und Wortlaut des Vorbilds auszurichten: mit entsprechend notwendigem Blick auf die Sprachlichkeit des Lateinischen, seine besondere Syntax und die Semantik einzelner Wörter.51 Der ›Ulmer Cato‹ hingegen läßt von einem solchen Ansinnen noch nichts erkennen. Literarische Qualität oder besondere didaktische Eignung können es nicht gewesen sein, die ihm den Lorbeerkranz des nahezu einzigen gedruckten zweisprachigen Cato vor dem Erscheinen des Brantschen 1498 einbringen (s. o. Tabelle 1).52 Sein Erfolg hat nicht innere Gründe, die in der Beschaffenheit der womöglich einem wie immer gearteten frühhumanistischen Zeitgeist entsprechenden Übersetzung lägen, sondern – das ist der wichtige Punkt – einzig und allein äußere Gründe. Sie liegen vor allem im überregionalen Renommee der Ulmer Lateinschule unter den Zeitgenossen, aber auch der Ausfall der anderen Übersetzungen als ernsthafte Konkurrenz ist hier anzuführen. Der allein in Köln gedruckte ›Niederrheinische Cato‹ mittelfränkischen Sprachstands etwa hätte für oberdeutsche Leser eigens umgearbeitet werden müssen; die zweimal noch vor Brant gedruckte Rumpfbearbeitung dagegen zielt auf den einsprachigen Laien, nicht auf den Lateinunterricht. Und obschon der erste Druck des ›Ulmer Cato‹ in Ulm selbst erst 1498 nachzuweisen ist,53 wird hier auch eine besondere Stellung Ulms als eine Art Zentrum für Cato-Drucke mit zu bedenken sein. Nur in Ulm finden nämlich die ›Documenta moralia Catonis‹, ein systematisch zum Predigt-
51 52
53
leitet von Thilo Offergeld, Freiburg i. Br. [usw.] 1997 (Fontes Christiani 27), S. 242. Siehe unten Abschnitt 3. Die Artikelgliederung im GW zu den lateinisch-deutschen Ausgaben verstellt leider die Einsicht in die Dominanz des ›Ulmer Cato‹: Bei der dort in Abschnitt II.B als niederdeutsch ausgewiesenen Fassung handelt es sich um den mittelfränkischen ›Niederrheinischen Cato‹, bei den drei hochdeutschen Fassungen einmal (Abschnitt II.A.a: »Ältere deutsche Übersetzung«) sowohl um den ›Ulmer Cato‹ (Abschnitt II.A.a.1 und 2) wie die Rumpfbarbeitung (Abschnitt II.A.a.3: »Interpolierte Fassung«), zweitens um den ›Ulmer Losbuch-Cato‹ (Abschnitt II.A.b: »Jüngere anonyme Übersetzung« – siehe unten Anm. 56) und drittens um die Ausgabe Sebastian Brants (Abschnitt II.A.c). GW Nr. 6341. Von diesem Druck liegt eine Faksimileausgabe vor: Catho in latin und zu teütsch. Nachdruck des Originalbändchens aus dem Jahre 1498 (Ulm) im Kapuzinerkloster Wesemlin Luzern, Luzern 1966.
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handbuch ausgearbeiteter lateinischer Cato mit Kommentar, in den Druck.54 Und nur in Ulm erscheint die einzige vor Brant gezielt für den Druck neu ausgearbeitete, freilich auch gänzlich wirkungslose Übersetzung der Inkunabelzeit, die sich ihrem Leser als eine Art Losbuch für Laien präsentiert.55
3. Die Ablösung der gereimten sensus-Paraphrase durch die gereimte Übersetzung: Sebastian Brants lateinisch-deutsche Ausgabe der ›Disticha Catonis‹ von 1498 Von den vor Sebastian Brant verfaßten Übersetzungen bahnen jene gezielt als Hilfsmittel für den Unterricht konzipierten – also vor allem der ›Ulmer Cato‹ und die Übersetzungen der Gruppe 3, dazu der ›Niederrheinische Cato‹ und der ›Schlesische Cato‹ – der Volkssprache zwar einen Weg in den Lateinunterricht; sie leisten dies jedoch ganz aus der praxisgeleiteten Erwägung heraus, den Schülern den Inhalt der lateinischen Distichen auf einem zusätzlichen, eigenen Weg zu vermitteln (und nicht etwa, weil sie dem Deutschen irgendein neues »Terrain erobern« wollten). Wenn man die Übertragungen in Reimpaare innerhalb des traditionellen lateinischen Kommentarsystems und dort näherhin als sensus-Paraphrase in Reimen auffaßt, wird man in den Reimpaaren auch keine diskursiven Reflexionen auf sprachliche Details oder ein mehr als punktuell sich niederschlagendes Bestreben erwarten, sprachlichen Besonderheiten des lateinischen Ausgangstextes in der Übersetzung aus sprachdidaktischen Erwägungen heraus zum Ausdruck zu verhelfen. Solcher Zugriff hat seinen Platz allein in der expositio ad litteram, die am Einzelwort oder einzelnen Phrasen ansetzt und in der Darbietungsform der Interlinearglosse oder Marginalie auftritt. Erstere bieten die zweisprachigen Drucke ihren Benutzern überhaupt nur sehr selten an,56 Marginalien dagegen, die allein einer über die verbreiteten Wortgleichungen, wie sie die deutsche Glossierung in Handschriften wie Drucken bestimmt, hinausgehende Erörterung sprachlicher Details des Lateinischen Raum geben könnte, überhaupt nicht. Dieser Befund fügt sich zu dem, was man 54
55 56
Vgl. zur Charakteristik dieses Kommentars Nikolaus Henkel, Disticha Catonis. Gattungsfelder und Erscheinungsformen des gnomischen Diskurses zwischen Latein und Volkssprache, in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. von Barbara Frank [u. a.], Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 261–283, hier S. 273f. GW Nr. 6351 (Ulm, Konrad Dinckmut 1492): vgl. Brüggemann /Brunken [Anm. 23], Bd. 1, Sp. 972f., Nr. 101. Systematisch bringen Glossen in der Volkssprache lediglich die vier zwischen 1491 und 1499 in Reutlingen bzw. 1499 dann auch einmal in Straßburg erschienenen Ausgaben GW Nr. 6345–6349 an, die das jeweils auch besonders hervorheben (Reutlinger Ausgaben: teutonice expositus im Titel bzw. im Kolophon cum teutonicis interlinearibus expositionibus; Straßburger Ausgabe: cum expositione alemanica im Titel).
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an den zeitgenössischen Lateingrammatiken beobachten kann, in denen das Deutsche als diskursive Beschreibungssprache für grammatische Phänomene noch kaum eingesetzt wird.57 Er überrascht nicht, weil eine solche Verwendung des Deutschen einen dem Lateinischen vergleichbaren Status der Volkssprache als Sprache impliziert. Diese muß selbst als prinzipiell grammatikabel gelten, um wissenschaftliche, darunter grammatische Sachverhalte abbilden zu können, muß also nach zeitgenössischen Begriffen den Status einer Sprache eigenen Rechts tragen, die dem Lateinischen zumindest prinzipiell ebenbürtig ist (ungeachtet aller Defizite in Teilbereichen, etwa der fachsprachlichen Lexik: das konnte man schon seit Dante ungleichartigen Ausgangsvoraussetzungen von Latein und Volkssprache zuweisen).58 Von solcher Einschätzung des Deutschen als vollgültiger Zielsprache im Wortsinne lassen die Unterrichtsübersetzungen vor Sebastian Brant weithin nichts erkennen. Erst in der unter den Augen ihres Übersetzers für den Druck aufbereiteten, 1498 bei Johann Bergmann von Olpe in Basel aufgelegten Erstausgabe des Brantschen Cato scheint ein entsprechender Statuswandel der Volkssprache durch. Hier wird gleich auf verschiedenen Ebenen und zum ersten Mal mit besonderer Deutlichkeit signalisiert, daß hinter der Ausarbeitung der deutschen Entsprechung ein Vorgang des Übersetzens von einer (Ausgangs-)Sprache in eine andere (Ziel-)Sprache steht: 1. Durch die Wahl verschiedener Schrifttypen für den deutschen und den lateinischen Text. Für jenen ist eine stärker gebrochene Brotschrift, für diesen hingegen eine Antiqua verwendet. Die Entscheidung, Sprachendifferenz durch Schrifttypendifferenz zu markieren, stellt in der Drucktradition des deutschen Cato eine Neuerung dar, die in Brant selbst ihren Initiator findet. Das erweisen Stichproben an den älteren Drucken des ›Ulmer Cato‹ (GW Nr. 6319f., 6325,10, 6335, 6341 und 6345) sowie am erwähnten, den lateinischen Text immerhin noch anzitierenden ›Ulmer Losbuch-Cato‹ (GW Nr. 6351), von denen keiner die Sprachendifferenz markiert, erweisen zudem die weiteren Geschicke dieser Markierung: Andere Ausgaben des Brant-Textes, etwa die in Nürnberg 1518 bei Hieronymus Höltzel erschienene,59 verzichten durchaus wieder auf sie. (Daß mit dem Schriftartwechsel die traditionelle Hierarchie von [lateinischem] Text zur Reimpaarübertragung als Kommentarelement nur mit einem anderen Mittel als dem aus der handschriftlichen Überlieferung von Schultexten geläufigen der Schriftgröße [Text: groß, Kommentar: klein] hätte markiert werden sollen, das kann ebenfalls im Blick auf die Brant vorangehenden Drucke ausgeschlossen werden. Für diese wäre dann nämlich zu erwarten, daß sie die Unterscheidung nach Schriftgrößen bereits regelmäßiger brächten. Das ist aber nicht der Fall.)
57 58 59
Vgl. Puff [Anm. 5], S. 325f. Vgl. Lusignan [Anm. 7], S. 47. Vgl. Wilhelmi [Anm. 11], S. 100, Nr. 293.
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2. In der Herausstellung des Vorgangs des Übersetzens im Titel der Ausgabe: Catho in latin. durch Sebastianum Brant getützschet (Hervorhebung von mir, M.B.). Die Titelangaben der zweisprachigen Drucke vor Brant zielen entweder ganz auf den Inhalt – in Angaben des Typs Cato moralissimus (z. B. GW Nr. 6325f., 6337f., 6342) oder Hier belehrt der weise Cato seinen Sohn (z. B. GW Nr. 6319–6324, 6328) – oder informieren den Käufer lediglich, daß er einen zweisprachigen, sowohl lateinischen wie deutschen Cato erwarten darf – in Titeln des Typs Cato in latein und deutsch (z. B. GW Nr. 6327, 6331–36335, 6339–6341). Hingegen ist in den älteren handschriftlich überlieferten Übersetzungen schon der schlichte Hinweis darauf, daß der deutsche Text auf einem lateinischen beruht, ungewöhnlich. Wo man ihn am häufigsten erwarten möchte, dort nämlich, wo nicht bereits die gemeinsame Aufzeichnung mit dem lateinischen Text dem Leser diesen Zusammenhang vor Augen stellt, d.h. vor allem im Umfeld der stets ohne den lateinischen Text abgeschriebenen Rumpfbearbeitung, erschien ein solcher Hinweis gerade einem von 37 Textzeugen in eigenen Vorschaltversen buchenswert (London, BL, MS Add. 10010, 179v: Hje e o hoppt sich an ain geticht / Das ist auß latin gericht / Vnnd spricht zu tütsch also / Von ainem maister haiset katho [...]). 3. In der namentlichen Nennung eines Übersetzers: Indem das Deutsche zu einer (Ziel-)Sprache eigenen Rechts aufrückt und damit der Sprachentransfer der Übersetzung als Leistung deklariert werden kann, präsentiert sich auch derjenige, der diese Leistung erbracht hat, prononciert schon im Titel mit seinem Namen. Die zweisprachigen Druckausgaben vor Brant erscheinen durchweg anonym.60 4. In der, freilich nur knappen, Reflexion leitender Übersetzungsprinzipien innerhalb eines 16 Verse umfassenden lateinischen Widmungsgedichtes Ad Cathonis lectorem Sebastianus Brant: [...] Ecce Cathonis enim / vernarum / carmina lingua Vertimus: hos rhythmus edidimusque nouos Ac verbum verbo curaui reddere: quantum Id rhythmus tulit: & precipitantis opus (aIv, V. 9–12: »Siehe, wir haben Catos Lieder in die Volkssprache gebracht und diese gereimten Verse neu herausgegeben. Dabei habe ich mich bemüht, jeweils ein Wort durch ein Wort wiederzugeben: [freilich nur] soweit es der Reim zuließ und es in der Eile möglich war«). Unter Heranziehung des Horazischen Topos vom fidus interpres stellt Brant sein Bemühen heraus, möglichst wörtlich übersetzen zu wollen, wobei er jedoch geltend macht, daß ihm dabei die Bindung an den Vers Einschränkungen auferlegt habe.61 60
61
Zu den wenigen Namensnennungen in der handschriftlichen Überlieferung vgl. oben Anm. 49 sowie generell zur Selbstnennung von Übersetzern von Schultexten Henkel [Anm. 17], S. 194–206. Eine vollständige Übersetzung des Widmungsgedichtes und eine ausführlichere Interpretation bietet jetzt Carola Redzich, Hos rhythmos edidimusque novos: Sebastian Brants Übertragung der ›Disticha Catonis‹ im Kontext der gedruckten oberdeut-
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5. Schließlich in der Übersetzungspraxis selbst: Brant setzt bekanntlich zwar nicht vollkommen neu an, sondern zieht den Text des ›Ulmer Cato‹ regelmäßig und ausgiebig heran,62 modifiziert aber diese Vorlage, wie Carola Redzich jetzt detailliert herausgearbeitet hat,63 vielfältig und deutlich nach leitenden Prinzipien. Dazu zählt vor allem das Bestreben, einzelne Lexeme des Ausgangstextes präziser als der ›Ulmer Cato‹ zu erfassen sowie den eigenen Text enger an die lateinische Syntax anzuschließen. (Das reicht bis zur Wiedergabe des ACI, wozu ich in keiner der älteren Übersetzungen bisher eine Parallele finden konnte.) Unübersehbar »bleibt Brant konsequent der antiken Ausdrucksweise verpflichtet« (Redzich). Damit eignet sich die Brantsche Übersetzung schließlich mehr als alle ihre Vorgänger auch als ein sprachdidaktisches Instrument, das neben der Vermittlung der Inhalte auch an die Sprache des Lateinischen heranführen kann. Deutlich kommt bei Brant eine neue Sensibilität für die sprachliche Seite der Unterrichtsmaterialien zum Ausdruck. Seine Übersetzung ist die erste Übersetzung der ›Disticha Catonis‹, die diese Bezeichnung im Wortsinne verdient, da sie nicht mehr nur als Transportmedium lehrhafter Inhalte firmiert, sondern diese in einer bestimmten sprachlichen Form, die nach Maßgabe des lateinischen Ausgangstextes eben zureichender oder unzureichender erscheinen kann, vermitteln will. Kaum zufällig kommt dieses neue Augenmerk auf die sprachliche Seite der Unterrichtsmaterialien in zeitlicher Nähe zu Brant auch für den lateinischen Text zum Tragen: Mehrere seit 1500 in Nürnberg aufgelegte zweisprachige Ausgaben bemühen sich um einen wenn nicht schon kritischen, so doch immerhin besseren, von den Fehlern mittelalterlicher Überlieferung gereinigten Text, indem sie die den von Antonio Mancinelli (1452–ca. 1505) emendierten heranziehen.64 Indes wächst im Gefolge der Unterscheidung von mittelalterlichem und antikem Latein nicht nur die Sensibilität für verschiedene Sprachstufen des Lateinischen, sondern auch für die Sprachendifferenz von Latein und Deutsch: Daher ist sie bei Brant auch so deutlich wie nirgends zuvor in der zweisprachigen Cato-Tradition markiert. In der Folge dieses gesteigerten Bewußtseins für Sprachendifferenz werden freilich auch die Lizenzen zum Eingang unterrichtlicher Texterschließungshilfen in die Dignität der Schriftlichkeit neu verteilt: eben nicht mehr vorwiegend nach dem inhaltlichen Gewicht der Stoffe, wobei die Volkssprache als praktische Vermittlungshilfe lehrhafter Inhalte im ausgehenden 15. Jahrhundert, wie
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schen Gesamtübersetzungen, in: Studien zur historischen Mehrsprachigkeit, hg. von Nikolaus Henkel [u. a.] [in Vorbereitung für den Druck]. Zatocˇil, Cato a Facetus [Anm. 10], S. 330. Vgl. zum folgenden Redzich [Anm. 61]. Worstbrock [Anm. 11], S. 37, Nr. 83–85. Vgl. zu Person und Werk Mancinellis Remigio Sabbadini, Antonio Mancinelli. Saggio storico letterario, in: Cronaca del R. Ginnasio di Velletri 1876–1877 (1878), S. 1–40.
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an der Vielzahl der zweisprachigen Inkunabeln zu sehen, bemerkenswert willkommen war, sondern nun zuerst entlang der neuen Unterscheidung nach Sprachenprestige. Erst diese neue Differenzkategorie erklärt, wieso Brants Cato im Grunde nur die Erfolgsgeschichte der zweisprachigen Unterrichtsmaterialien des Spätmittelalters noch um zwei Jahrzehnte verlängert, ihm aber eine nachhaltige Rezeption verwehrt bleibt. Kaum reicht hier eine allein autor- und produktionszentrierte Erklärung hin, die nur auf das Profil eines »konservativen Humanisten«65 verweist, der letztlich eine doch noch spätmittelalterliche Vorlage bearbeitet und sich nicht traut, das traditionelle Korsett des Reimpaarverses abzulegen, das dem Bestreben, den Ausgangstext auch in seiner sprachlichen Form präziser als seine Vorgänger zu erfassen, permanent enge Fesseln anlegen mußte. Vielmehr mangelt es Brant an Weitsicht im Blick auf die Zukunft des von ihm noch als selbstverständlich vorausgesetzten Konsenses, die Volkssprache werde ein wie in den Drucken der Dezennien zuvor auch schriftlich weithin selbstverständlich eingesetztes Hilfsmittel des Lateinunterrichts bleiben.
4. Schulübersetzungen des 16. Jahrhunderts: Freiheit jenseits des Reimpaarverses und offensive Rechtfertigung der Volkssprache Die Entscheidung für oder gegen die Aufnahme der Volkssprache in Schulbücher für den Lateinunterricht66 wird bald nach Brant nicht mehr primär praxisgeleitet, sondern in erster Linie nach dem neuen, aus dem neuen humanistischen Sprachenbewußtein erwachsenen Leitkriterium des Sprachenprestiges getroffen. Sie fällt in der Folge weithin gegen das Deutsche aus. An den Erfolg ihrer spätmittelalterlichen Vorläufer reicht keine der zweisprachigen Catoausgaben des 16. Jahrhunderts mehr heran. Die nachstehende Tabelle gibt einen Überblick über die Verbreitung nach Sebastian Brant verfaßter Übersetzungen bis hin zum Ersterscheinen der Übertragung von Martin Opitz in Breslau 1629.67 Noch einmal zu betonen ist, daß die Relation zur Zahl der 65
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Vgl. etwa den Überblick von Thomas Wilhelmi, Zum Leben und Werk Sebastian Brants, in: Sebastian Brant. Forschungsbeiträge zu seinem Leben, zum ›Narrenschiff‹ und zum übrigen Werk, hg. von Th. W., Basel 2002, S. 7–35, hier besonders S. 12f. (mit weiterer Literatur). Die mündliche ebenso wie die ephemere (hand-)schriftliche Verwendung des Deutschen belegen hingegen verschiedene Schulordnungen aus Nürnberg (1505) und Nördlingen (1512, 1521): vgl. Vor- und frühreformatorische Schulordnungen [Anm. 45], S. 148 Z.11–25, S. 149f. Z.39ff., S. 172 Z.133–135, S. 217 Z.25–38 (noch unter Verwendung einer zweisprachigen Cato-Ausgabe Sebastian Brants), S. 220 Z.16– 21 (unter Verwendung einer Cato-Ausgabe des Erasmus). Die von Opitz als Hauslehrer der Grafen von Dohna für deren Zöglinge erarbeitete
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einsprachig-lateinischen Ausgaben der ›Disticha Catonis‹ immer mit zu bedenken ist. Auf diese wirft der allein zwischen 1514 und 1530 nahezu ein halbes Hundert Mal gedruckte, von Erasmus bereinigte Text ein Schlaglicht (s. o. Abschnitt 1; dieser ist es z. B. auch, den sieben von neun Ausgaben mit der Moter-Übersetzung schon im Titel als ihre lateinische Grundlage ausweisen).
A. Moter M. Cordier J. Fries Th. Heis J. B. C. D.
1530
’40
’50
35,37
41,43 58 40,46,48 51,53
’60 65,68 61 61
’70 70 70,75 78
’80
’90
1600
’10
84 81 80,84,89
90
10,17
91,96
17
85
Dazu nach 1610: um/nach 1619 eine weitere Friessche Ausg.; 1620 der ›Klausenbrg. C.‹
Zur Erläuterung (für Einzelnachweise s. o. Anm. 24): A. Moter: Worstbrock führt in seinem »Verzeichnis« ([Anm. 11], S. 44, Nr. 113) erst die zweite in Frankfurt 1537 bei Christian Egenolph erschienene Ausgabe auf, nicht die im VD 16 unter Nr.C 1707 ausgewiesene Leipziger, die »um 1535« angesetzt wird. Die Verfasserzuweisung an Abraham Moterius scheint Worstbock fraglich – wohl weil dessen Name nicht im eigentlichen Titel genannt wird, sondern lediglich einem ersten von insgesamt drei vorangestellten Widmungsgedichten vorangeht (ABRAHAMVS MOTE´RIVS a Vueißenburg), das allerdings, denn erst auf S. 2 e folgen die zweite Leserapostrophe von Dauid Zopffel a Bietingen und die dritte von Heluig Vock a Zuingenberg, als einziges schon auf dem Titelblatt plaziert wurde. Lediglich als Überschrift des Widmungsgedichtes an diesem Platz bieten den Namen später u.a. noch die bei Georg Baumann in Erfurt 1558 (VD 16 Nr. C 1712) und bei Kaspar Siegfried in Brieg 1610 gedruckten Ausgaben. Dagegen weist die 1617 in Leipzig bei Jakob Apel d. J. erschienene den deutschen Text ausdrücklich einem Anonymus zu (»DIONYSII CATONIS DISTICHA DE MORIBUS, AD FILIUM. Vna` cum Lemmatibus JO- HANNIS STURMI, versione Maximi Planudis Graeca´, & anony- mi Germanica«). Zur Person macht Worstbrock keine Angaben, doch dürfte es sich um jenen Pfarrherrn von Arheiligen, heute Darmstadt-Arheilgen, namens Abraham Moter († 2.2.1584) handeln, auf den der lutherische Theologe, Darmstädter Superintendent und Förderer der Darmstädter Lateinschule, Johannes Angelus (1542–1608), eine 1584 in Frankfurt bei Christoph Rab gedruckte Leichenpredigt hielt.68 Als besondere Leistung Moters würdigt An-
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Übersetzung (Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. von Georg Schulz-Behrend, Bd. 1ff., Stuttgart 1968ff., hier Bd. 4,2, S. 338–391) avancierte schon kurz nach ihrem ersten Erscheinen 1629 zum deutschen Standard-Cato. Bis 1763 weit über dreißigmal gedruckt, haben sich andere Übertragungen neben ihm kaum behauptet können. (Ergänzungsbedürftige) Drucknachweise bringt Gerhard Dünnhaupt, Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Hundert Personalbibliographien deutscher Autoren des siebzehnten Jahrhunderts, 2. Teil, Stuttgart 1981 (Hiersemanns Bibliographische Handbücher 2,2), Nr. 107. Vgl. zur Person des Johannes Angelus NDB I, S. 291. Die Predigt ist unter dem Titel e »Ein Leichpredigt Auß dem sieben unnd zwentzigsten Capitel der Spruchen So= lomonis [...] Gehalten vber dem [...] Todt [...] Abrahami Moteri, Pfarrherrns zu
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Michael Baldzuhn gelus, er habe aber viertzig gantzer jar lang Schulen vnd Kirchen Gottes in diser obern Graffschaft mit höchstem fleiß vnnd eifer in omnib. ministerij partibus gedienet (S. 18). Ins Darmstädter Ambiente fügt sich überdies zumindest eine der beiden Herkunftsangaben, die für die Verfasser des zweiten und dritten Widmungsgedichts gemacht werden. Bei Helwig Vocks Heimatstadt Zwingenberg kann es sich sowohl um den an der Hessischen Bergstraße keine 20 Kilometer südlich von Darmstadt als auch um den 100 Kilometer südwestlich bereits im Württembergischen am Neckar gelegenen Ort handeln. M. Cordier: Der französische Humanist und Pädagoge Mathurin Cordier ließ 1533 jenen lateinischen Text, den er sich für seinen eigenen Lateinunterricht am College in Nevers aufbereitet hatte, gemeinsam mit einer französischen Übersetzung bei einem engen Freund, dem »königlichen Drucker« Robert Estienne in Paris in den Druck gehen.69 Diese Ausgabe wurde dann bis zum Ende des 16. Jahrhunderts mehr als 30 weiteren zwei- oder mehrsprachigen zugrunde gelegt, darunter seit 1540 auch sechs lateinisch-deutschen (Straßburg 1540 und 1546 [Worstbrock (Anm. 11) Nr. 114f.; Index Aureliensis (Anm. 21) Nr. 134.206/228], o. O. 1548 [Index Aureliensis (Anm. 21) Nr. 134.231], Straßburg 1561 [Index Aureliensis (Anm. 21) Nr. 134.263], Eisleben 1570 [Index Aureliensis (Anm. 21) Nr. 134.292] und Leipzig 1581 [VD 16 Nr. C 1715; Index Aureliensis (Anm. 21) Nr. 134.328]). Einen Übersetzer nennen die Titelblätter nicht – mit einigem Grund, bestand doch seine Leistung vor allem darin, Cordiers französische Erläuterungen zum lateinischen Text nur noch einmal ins Deutsche zu bringen.70 J. Fries: Als Johannes Fries seine zweisprachige Ausgabe 1551 das erste Mal bei Froschauer in Zürich in den Druck gehen ließ, hatte er eine Stelle als ludi magister am Großmünster inne.71 Der Friessche Cato wird noch sechsmal (1553, 1561, 1570, 1575, 1580, 1584) von Froschauer in die Presse gegeben und vertritt damit eine Züricher Lokaltradition; erst seit 1589 wechseln Ort und/oder Verlag. Th. Heis: Die von dem Augsburger Schulmeister Thomas Heis erstellte zweisprachige Ausgabe ist für den Unterricht am Gymnasium St. Anna enstanden: »CATONIS DISTICHA DICTA MORALIA VNA CVM dictis Sapientium, & Mimis Publianis in Germanicos Rhythmos conuersa. AVTORE THOMA HEIS Augustano, scholae Annaeae mo= deratore. AVGUSTAE VINDE= licorum Philippus Vlhardus excudebat. ANNO M. D. LXXVIII. Cum Gratia & Priuiliegio.« Der Übersetzer ist dort seit 1574 als Lehrer nachzuweisen.72
69
70 71
72
Arheiligen [...]« erschienen (von mir benutzt im Exemplar der HAB Wolfenbüttel, Signatur A: 182.8 Theol. [19]). Ihr ist der 29./30.1.1584 als Todesdatum Moters und als Geburtsjahr 1519/20 zu entnehmen. Zum Cato Cordiers grundlegend: Le Coultre [Anm. 19], S. 73–90 (Charakteristik) und S. 441–445 (bis 1650 reichendes, gleichwohl ergänzungsbedürftiges Verzeichnis der Ausgaben). Der Beitrag von Delormeau [Anm. 19] führt demgegenüber nicht weiter. Le Coultre [Anm. 19], S. 87. Person und Werk stellt zusammenfassend dar Peter Bührer, Johannes Fries (1505– 1565). Pädagoge, Philologe, Musiker. Leben und Werk, Zürcher Taschenbuch 122 (2002), S. 151–231. Vgl. das Verzeichnis des Lehrpersonals bei Philipp Jakob Crophius, Geschichte des Gymnasii zu St. Anna in Augsburg. Neuausgabe, hg. von Monika Prams-Raumer mit digitalen Bildern der Original-Ausgabe und einem Textprogramm auf CD-R von
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J. B. C. D.: Die Ausgabe erscheint 1585 bei Johannes Wechel in Frankfurt am Main unter dem Titel »CATO: SIVE, SPECVLVM MORALE; PRIVATVM VITAE GENUS concernens: quod in locos suos redactum, & tam Planudis Graeca, qua`m rhythmo- rum vernacula versione expolitum, instar ALBI AMICORVM se habet. Sittenspiegel Catonis: Das Menschliche priuat Leben betreffend in eine richtige ordnung gebracht/ vnd so wol in Schulen/ als an statt eines Stammbuchs zuge= brauchen«. Zum Herausgeber und Übersetzer »Johannes Baptista Caesar D.« (S. 4) wußte schon Boas, der sich bisher als einziger dieser Ausgabe zugewendet und sie detailliert charakterisiert hat, nichts mitzuteilen.73 Obschon sie sich im Titel auch dem Schüler anpreist, blieb ihr doch der Eingang in den Schulraum versagt, denn sie wurde auch im 17. Jahrhundert nicht mehr aufgelegt. Der Grund dafür ist auf den ersten Blick in der unkonventionellen Anordnung des Textes auszumachen, bei der sich der Herausgeber mehr von der Funktion des Stammbuchs als der des Schulbuchs leiten ließ. Die Versfolgen des lateinischen Ausgangstextes sind nämlich aufgegeben, statt dessen die Distichen nach thematischen Gesichtspunkten neu angeordnet.74 Der Heranziehung des lateinischen Textes (in eklektischer, sowohl Verbesserungen von Erasmus wie von Mathurin Cordier berücksichtigender Gestalt) und seine Ergänzung zunächst um den griechischen des Maximos Planudes (ca. 1260–ca. 1330)75 – erst dann folgt, an dritter Stelle also, die deutsche Übersetzung – gibt dem Ergebnis mehr einen gelehrten Anstrich für Kenner als es dem Lateinoder Griechischunterricht anzuempfehlen. ›Klausenbrg. C.‹: Im 17. Jahrhundert erscheint eine ganze Reihe von Cato-Übersetzungen in lateinisch-ungarisch-deutscher Sprache, die in der Forschung noch vollkommen unbeachtet sind. Sie werden in Siebenbürgener Druckereien aufgelegt; erster Vertreter der Gruppe in der ›Klausenburger Prosa-Cato‹, der im ungarischen Kolozsva´r, heute Cluj-Napoca in Rumänien, von Johannes R. Makai gedruckt wird. Der Verfasser ist unbekannt.76 e
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Erwin Rauner, Augsburg 1999 (zuerst Augsburg 1740 u. d. T. »Kurtze und grundliche Historische Erzehlung von dem Ursprung / Einrichtung und Schicksaalen deß Gymnasii zu St. Anna in [...] Augsburg [...]«), S. 100. Marcus Boas, Een Cato-album [Anm. 13] (zur Verfasserfrage S. 15: »over wien ik niets naders kan mededeelen«); ders., Addendum [Anm. 13]. Mit der Umordnung der Versfolgen steht die Ausgabe zwar nicht gänzlich allein, aber doch innerhalb der Cato-Tradition der Frühen Neuzeit relativ isoliert; vgl. auch Marcus Boas, Cato digestus [Anm. 13], S. 315f. Verteilt sind Distichen wie Breves sententiae gleichermaßen unter Überschriften wie (in der Reihenfolge der Seiten bis 116) deus (darunter dann b.s. 1 und I,1) superstitio (darunter dann II,2, II,12, IV,14, IV,38, II,31), patria (darunter dann b.s. 23), coniuges, parentes, liberi, cognati, servi, senes, amici, vita, animus, mores, vitium, sermo, doctrina, iustum, aequum, iniquum, iudicium, fides, prudentia usw. Da einerseits ein Stellenregister fehlt, andererseits die Kategorien thematisch statt alphabetisch geordnet sind, muß man die Versfolgen des Originals schon recht gut kennen, um den Wortlaut einer Einzelstelle zu finden. Das ist eher etwas für geübte Anwender denn für beginnende Lateinschüler. Textausgabe: Maximus Planudes, Disticha Catonis in Graecum translata, hg. von Vincentius Ortoleva, Rom 1992 (Bibliotheca Athena 28). ´ rpa´d Hellebrant, Re´gi magyar könyvta´r, Budapest 1879–98, Vgl. Szabo´ Ka´roly/A Bd. 1, Nr. 504 und Bd. 2, Nr. 401 (Klausenburg 1620), Bd. 1, Nr. 693 und Bd. 2, Nr. 539 (1639), Bd. 2, Nr. 928 (1659), Bd. 1, Nr. 950 und Bd. 2, Nr. 940 (Hermannstadt 1659), Bd. 2, Nr. 1089 (1666), Bd. 2, Nr. 1157 (1668), Bd. 2, Nr. 1297 (Leutschau
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Die drei wirkungsmächtigeren Übersetzungen des 16. Jahrhunderts, jene Moters, die des anonymen Cordier-Übersetzers und die des Johannes Fries, lassen sich als Versuche, die Volkssprache über das gedruckte Schulbuch in den Lateinunterricht einzubringen, nicht mehr so einfach auf einen gemeinsamen Nenner bringen wie noch die Druckausgaben bis einschließlich Brant. Mit dem Fortfall des wenn nicht unmittelbar die Unterrichtslektüre moraldidaktischer auctores leitenden, so doch deren schriftliche Grundlagen weithin vorstrukturierenden, traditionellen einheitlichen lateinischen Kommentierungsschemas eröffnen sich neue Freiräume, die jeweils unterschiedlich genutzt werden. Verglichen mit den spätmittelalterlichen Cato-Drucken fällt an den jüngeren besonders zweierlei auf. Zum einen verliert der vierhebige Reimpaarvers seine dominante Position als nahezu einziges Medium der Heranführung an den lateinischen Text (Ausgaben mit deutschen Interlinearglossen hat es ja kaum gegeben).77 Zum zweiten wird das Deutsche weitaus entschiedener als zuvor auch für eine sprachdidaktische Erschließung des Ausgangstextes genutzt. Beide Phänomene treten freilich in unterschiedlicher Mischung auf. An Moters Ausgabe läßt sich vor allem die abnehmende Verbindlichkeit des Reimpaarvierhebers ablesen. Neben die nach wie vor überwiegenden Vierheber treten an einer Vielzahl von Stellen nun auch gereimte Zweiheber und gereimte Dreiheber. Ferner wird die zwar unausgesprochene, aber bis Brant nur selten gebrochene Regel, auf einen lateinischen Hexameter stets zwei Reimpaarverse zu verwenden, außer Kraft gesetzt. Nur zwei Beispielreihen für die Verteilung der Formen: 1. Zu den ersten 25 Breves sententiae der Ausgabe von 1537 wird in 19 Fällen das traditionelle Vierheberverspaar gebildet, doch treten jeweils einmal auch zwei Vierheberpaare, zwei Zweiheberverspaare und zwei Dreiheberpaare auf; ferner werden einmal zwei aufeinander folgende Sentenzen von einem Vierheberpaar abgedeckt und folgen auf die Sentenz Irasci ab re noli (»Sei nicht ohne Grund zornig.«) sowohl zwei Zweiheber- wie ein Dreiheber- und ein Vierheberpaar. 2. Die ersten zwanzig Distichen des ersten Buchs werden sowohl traditionell in zwei Vierheberpaaren (15 Belege) wiedergegeben als auch in drei Vierheberpaaren (3 Belege), vier Vierheberpaaren (1 Beleg), zehn Vierheberpaaren (1 Beleg) und in einem Fall durch eine Kombination von vier Zweiheberpaaren mit einem Vierheberpaar. Insbesondere an den überlangen deutschen Entsprechungen wird ein Verfahren deutlich, die lateinische Vorgabe auf ihren minimalen Aussagekern zu reduzieren, der dann in größerer Unabhängigkeit von der Vorlage nurmehr den Anstoß zu eindringlicher und ausladender
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1672), Bd. 2, Nr. 1350 (Hermannstadt 1674), Bd. 2, Nr. 1631 (Kronstadt 1688), Bd. 2, Nr. 1733 (Leutschau 1693), Bd. 2, Nr. 1734 (1693). Den Hinweis auf diese Ausgaben verdanke ich Andre´ Drewelowsky, Kiew. Siehe oben Anm. 56. Die Verhältnisse in der den Inkunabeln vorausgehenden handschriftlichen Überlieferung sind dieselben. Systematische deutsche Glossierung ist überaus selten.
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Belehrung in der Volkssprache liefert. Das Ergebnis ist dann durchaus weit davon entfernt, noch irgendwie an sprachliche Formen des Originals heranzuführen. Darin tritt eine gewisse Distanz zu den Zielsetzungen des Lateinunterrichts hervor, mit der auch das Widmungsgedicht Moters spielt. Es empfiehlt die ›Disticha Catonis‹ nämlich durchaus auch dem erwachsenen Leser: Carmina prudentis puer accipe dia Catonis, / Non tamen a senibus reijcienda uiris. / Nam quicunque senex mores non curat honestos: / Quam puer est infans, est puer ille magis (»Die göttlichen Verse des klugen Cato nimm, Kind, entgegen, die doch auch die Alten nicht zurückweisen dürfen. Denn wer im Alter die ehrbaren Sitten missachtet, erscheint als noch lallendes Kind, ja mehr als das.«)78 Der anonyme Cordier-Übersetzer entledigt sich wenig später überhaupt des Zwangs zu Vers und Reim. Das geschieht nun schon längst nicht mehr in gezielter Gegenreaktion zum mittelalterlichen Reimpaarvierheber und dessen Unzulänglichkeit, den Schülern das Lateinische auch sprachdidaktisch zureichend zugänglich zu machen. Für diese Zwecke steht dem Cordier-Übersetzer nämlich bereits eine alternative Form zur Verfügung, in denen sich sehr viel flexibler an Syntax und Semantik des Ausgangstextes heranführen ließ als im knappen Raum einer Prosaparaphrase. Nachdem die Inhaltsangabe zunächst von einer dem lateinischen Textstück nachgestellten Prosaparaphrase abgedeckt wird, folgt dieser dann nämlich noch ein eigener, in seiner allerersten Anwendung auf den Eingangssatz der Einleitungsepistel einmal ordo et declaratio überschriebener Abschnitt, der das lateinische Distichon noch einmal in Einzelwörter und Phrasen zerlegt bietet, zu diesen dann variierende lateinische Entsprechungen aufführt und schließlich eine wortgetreue deutsche Übersetzung der Stelle folgen läßt. Inhaltswiedergabe und detaillierte Erschließung der lateinischen Vorlage sind damit also erstmals systematisch entkoppelt. In seiner Minimalform wird dieses Grundschema etwa auf die Erschließung der Sentenz b.s. 4 angewandt:79 78
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Daß mit der Beibehaltung am spätmittelalterlichen Reimpaarvierheber auf die außerschulische Käuferschicht des gebildeten Laienlesers gezielt ist, läßt sich auch an der einzigen im 16. Jahrhundert noch mehrfach aufgelegten spätmittelalterlichen Übersetzung, am ›Niederrheinischen Cato‹ zeigen (s. o. Tabelle 1), der seine Vierheberform bis in die siebziger Jahre bewahrt: Keine dieser späten Ausgaben zielt noch auf den Lateinunterricht. Nachstehend Beispiele aus den Breves sententiae statt aus den Distichen, da es sich bei dem einzigen erhaltenen Exemplar der Straßburger Ausgabe (London, BL, Sign. 827.d.36. [6.]) um ein vor dem Ende der Breves sententiae bereits abbrechendes Fragment handelt. Ein zweites Exemplar aus Berlin wird bei Worstbrock als verschollen geführt, lag aber Le Coultre [Anm. 19] 1926 noch vor, der S. 87f. aus den Distichen zitiert und Angaben zur weiteren Anlage macht. Überdies stimmt die ohne Ort 1548 erschienene Ausgabe (von mir im vollständig erhaltenen Exemplar der ÖNB Wien [Sign. 71.X.106] benutzt) in Text und Anlage der ›Disticha Catonis‹ weitestgehend mit dem Straßburger Bruchstück überein. Ein markanterer Unterschied liegt lediglich in der Angleichung des lateinischen Lemmas an die lateinischen Interpretamente durch
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Die bedachte Verteilung der Schrifttypen und -grade trennt neben Deutsch und Latein nun auch – wiederum nicht die geringste Neuerung gegenüber allen Vorläufern der vorangehenden Jahrhunderte – den Text des »Originals« präzise von allen fremden Zusätzen. Genau genommen setzt sie sogar den Wortlaut des »Originals« von Zusätzen ab, da die Wiederholung der Lemmata sie, wie am Beispiel zu sehen, gegen den Wortlaut auch in die »natürliche«, d.h. eigentlich aus dem Deutschen geläufigere Wortfolge bringt, dabei aber für den durch Umstellung veränderten lateinischen Text zwar noch dieselbe Schrifttype, aber doch einen kleineren Schriftgrad wählt. Diese Differenzierungen werden auch in Ausbauformen des Minimalschemas fortgeführt: der deutschen Prosaparaphrase kann zunächst eine lateinische Paraphrase vorangehen (die wiederum kursiv erscheint); das grammatische Verständnis der lateinischen Syntax erleichternde Ergänzungen können unmittelbar in das lateinische Lemmata eingebaut sein (und erscheinen dann in Kapitälchen); die eigentlichen lateinisch-deutschen Interpretamente können schließlich auch noch um weitere Prosaerläuterungen oder -bemerkungen (»Scholien«) angereichert sein (die wiederum kursiv und in ihrer Übersetzung wiederum in der dem Deutschen vorbehalten gebrocheneren Schrifttype erscheinen). Alle drei Ausbauformen versammelt etwa der Eintrag zu b.s. 5:80
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hier wie dort angewandten Kursivdruck: Der Text der Vorlage wird nicht mehr zusätzlich durch recte gesetzte Antiqua kleineren Schriftgrads abgehoben. Nachstehend ist sub. als substitue = ›ergänze‹ aufzulösen, also für forum dann [f.] iudicale (= ›Gericht‹) zu lesen.
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Im Rahmen dieser Darbietungsform läßt sich für die sprachliche Erschließung des Ausgangstextes bedeutend mehr leisten als im Rahmen der technisch aufwendiger zu realisierenden und für die volkssprachliche Erschließung der ›Disticha Catonis‹ kaum je genutzten Interlinearglossen, die ihre Interpretamente zwar ebenfalls wort- oder phrasenweise anbieten, jedoch durch die Fixierung zwischen den Zeilen nicht beliebig ausholen können und überdies an die Textsukzession der Vorlage gebunden bleiben. Demgegenüber lassen sich, indem jedes Lemma eine neue Zeile erhält, nun Interpretamente beliebiger Länge unterbringen. Die technisch einfach zu bewerkstelligende Umordnung der Lemmata in die leichter verständliche Wortfolge leistet schließlich, was in der vorangehenden handschriftlichen Cato-Überlieferung gelegentlich mit Hilfe von Syntaxziffern bewerkstelligt wurde, die jedoch nirgends in die zweisprachigen Cato-Drucke übernommen wurden, weil sie technisch nur aufwendiger zu realisieren sind. Die leistungsfähigere neue Darbietungsform hat lediglich diesen einen Nachteil, daß sie mehr Platz auf der gedruckten Seite beansprucht und die Schulausgaben somit einen größeren Seitenumfang aufweisen. Ihre Verbreitung setzt also ein insgesamt effizienter arbeitendes Druckereiwesen voraus, das auch voluminösere Schulbücher noch zu akzeptablen Preisen anzubieten in der Lage ist. In dieser Hinsicht sind übersetzerische Innovation und Medienentwicklung aneinander gekoppelt: Diese schafft den erforderlichen technisch-ökonomischen Freiraum für neue Versuche. Es wird auch diese seit 1540 in drucktechnischer Hinsicht bereits erprobte und auch ökonomisch offenbar in einem vertretbaren Rahmen realisierbare Aufteilung in eine auf den Inhalt und eine leistungsfähige, sprachdidaktisch ausgerichtete Übersetzung ins Deutsche gewesen sein, die dem Rektor der Lateinschule am Züricher Großmünster, Johannes Fries, 1551 die Leistungsfähigkeit des Deutschen für die Erschließung des lateinischen Ausgangstextes vor Augen geführt und ihn dazu bewegt hat, schließlich jene Konsequenz aus der Wahrnehmung des Deutschen als Sprache eigenen Rechts zu ziehen, die seit Brant nahelag, dieser aber noch nicht gezogen hatte: nun nicht mehr länger stillschwiegend praxisgeleitet, sondern auch offensiv und sprachenpolitisch engagiert das Deutsche als eigener Aneignung würdig in die Dignität dauerhafter Schriftlichkeit des gedruckten Schulbuchs zu bringen. Bereits der Titel der Erstausgabe des Friesschen Cato von 1551 markiert sein auch sprachenpolitisch ausgerichtetes Anliegen, die dezidierte Aufwertung auch des Deutschen zu einem legitimen Unterrichtsgegenstand: Catonis disticha moralia, germanica ita reddita, ut pueri facile et latinam et germanicam linguam una eademque opera condiscant (»Die moralischen Distichen des Cato, im Deutschen auf eine Weise vorgebracht, daß die Schüler auf leichte Art sowohl die lateinische als auch die deutsche Sprache an ein- und demselben Werk erlernen können«). In seiner Vorrede benennt Fries sein Vorbild, Mathurin Cordier, den er während seiner Pariser Studienzeit kennen und als Pädagoge und
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Freund zu schätzen gelernt hatte, und was dieser mit seinem lateinisch-französischen Cato geleistet habe:81 Is enim singula Catonis disticha Gallica phrasi pueris suae curae et fidei commissis, ita exposuit, ut statim utranque linguam uel citra laborem assequi possint. Huius ordinem et expositionem aliqua ex parte imitatus, nostro Germanico sermone explicare constitui [...]. [»Jener nämlich hat die einzelnen Distichen des Cato in französischen Phrasen den seiner Sorge und Treue anvertrauten Schülern so erklärt, daß sie sofort beide Sprachen ohne Mühe verstehen konnten. Seine Anordnung und Auslegung habe ich zu einem gewissen Teil übernommen und beschlossen, (den lateinischen Text) in unserer deutschen Sprache zu erklären.«]
Der Gebrauch des Lateinischen wie des Deutschen gleichermaßen soll anhand der vorliegenden Ausgabe in einem einzigen Arbeitsgang vermittelt werden, [...] partim quidem ut et nostrae scholae pueri et Latinae et germanicae linguae usum uno eodemque labore exactius perdiscerent: (»[...] teils nämlich, damit die Schüler auch unserer Schule den Gebrauch sowohl der lateinischen als auch der deutschen Sprache in ein- und demselben Arbeitsgang gründlicher erlernen«) partim uero ut singularum uocum propria expositione subiecta et explicata, facilius ad maiora addiscenda perducerentur (»teils aber, damit sie, indem eine eigene Auslegung der einzelnen Wörter nachgestellt und ausgeführt wurde, leichter zum Verständnis größerer Sinneinheiten geführt werden«). Nam cuiusque dictionis proprietatem, quam fieri potuit, exactissime sum interpretatus (»Denn ich habe die Besonderheit jedes einzelnen Teils so gut ich konnte möglichst genau übersetzt.«).
Die ›Disticha Catonis‹ sind nur eines von mehreren Arbeitsfeldern, auf denen der Schulmeister der Volkssprache ihren Weg in die Lehrmittel und Hilfsmittel des Unterrichts zu bahnen versucht hat. In seinen beiden berühmten Wörterbüchern, dem ›Großen Fries‹ (›Dictionarium Latino-Germanicum et Dictionarium Germanico-Latinum‹) und dem ›Kleinen Fries‹ (›Novum dictionariolum puerorum Latinogermanicum et e diverso Germanicolatinum‹), verfolgt er wenig später als Wörterbuchmacher dieses Ziel, formuliert – im ›Großen Fries‹ – den Eigenwert des Deutschen diskursiv aus und versucht, ihn – im deutschlateinischen Teil des ›Kleinen Fries‹ – in der eigenen lexikographischen Praxis zur Wirksamkeit zu bringen. Der Seitenblick auf die Parallelunterfangen der Wörterbücher ist insofern aufschlußreich, als für diese festgestellt wurde, daß ihr neuer Anspruch der praktisch-lexikographischen Umsetzung durchaus vorauseilt, die noch weitaus stärker der lateinischen Tradition verhaftet bleibt, als sich wirklich auf die Immanenz der Volkssprache als eigenes Sprachsystem einzulassen.82 Man kann nämlich in durchaus vergleichbarer Weise auch für den 81
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Le Coultre ([Anm. 19], S. 89) erwägt zudem, ob nicht vielleicht Fries es gewesen sei, der auch die erste, freilich um alle volkssprachlichen Anteile verkürzte Ausgabe des Cordierschen Cato auf deutschem Boden in Basel 1537 (VD 16 Nr. C 1628) in den Druck hat geben lassen. Klaus Grubmüller, Vokabular und Wörterbuch. Zum Paradigmawechsel in der
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Friesschen Cato bezweifeln, ob sich das Anliegen, neben dem Lateinischen den Schülern ebenso die Volkssprache zu lehren, auf dem beschrittenen Weg wirklich sinnvoll durchsetzen läßt.83 Zwar übernimmt Fries tatsächlich nicht einfach die deutschen Interpretamente seiner Vorgänger, übersetzt also in der Tat neu. Aber er bleibt dabei prinzipiell in jenem Darbietungsrahmen, den bereits der anonyme Mortier-Übersetzer 1540 genutzt hatte. Das Hexameterdistichon II,2 etwa erscheint wie nachstehend:84
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Frühgeschichte der deutschen Lexikographie, in: Brüder-Grimm-Symposion zur historischen Wortforschung. Beiträge zu der Marburger Tagung vom Juni 1985, hg. von Reiner Hildebrandt /Ulrich Knoop, Berlin/New York 1986 (Historische Wortforschung 1), S. 148–163. Ich möchte den Diskussionsteilnehmern der Tagung auch an dieser Stelle noch einmal für ihre durch kritisches Nachfragen vermittelte Anregung danken, speziell dieses Selbstverständnis des Fries’schen Cato noch einmal auf seine praktische Durchführbarkeit hin zu durchdenken. Das in der Auslegung angeführte Zitat stammt aus Silius Italicus, ›Punica‹, Buch III, V. 172 (Sili Italici Punica, hg. von Joseph Delz, Stuttgart 1987): »Töricht ist es, wenn der Anführer die ganze Nacht mit Schlaf verbringt«.
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Die markantesten Unterschiede zur Ausgabe des anonymen Cordier-Übersetzers bleiben im durch jenen bereits dem Deutschen gewonnenen Darbietungsrahmen. Sie lassen vor allem ein Bemühen um einen einheitlicheren, überschaubareren Aufbau erkennen: in der Entscheidung, die vorangestellte lateinische und deutsche Epitome stets systematisch zu bringen und immer unter diese Überschrift zu stellen (in der Ausgabe von 1548 fehlte beides bisweilen), in den Marginalien regelmäßig noch eine kurze lateinische Merksentenz zu ergänzen (im Beispiel: Somnolentia vitanda/»Meide zu viel Schlaf!«) und schließlich die Interpretamente ganz auf ihre deutschen Anteile zu reduzieren. Diese Umgestaltungen können das über den anonymen Mortier-Übersetzer hinausgehende Ziel des Züricher Cato, wie das Lateinische auch das Deutsche vermitteln zu wollen, kaum begründen.85 Insbesondere mit dem Entschluss, die vorangestellte Gesamtwiedergabe wieder in gereimten Versen zu bringen, die auf den ersten Blick einer besseren Memorierfähigkeit der Lehren geschuldet zu sein scheint, fällt Fries sogar auf eine zunächst befremdliche Weise wieder hinter die erweiterten Möglichkeiten einer freieren Prosawiedergabe zurück. Da man nun aber das Lateinische wie mithilfe einer sprachdidaktisch angelegten, deskriptiv auf den Regelbestand ausgerichteten Grammatik mit der vorliegenden Ausgabe aber ebensowenig lernen kann, muß man Fries in diesem Punkt noch einmal genauer beim Wort nehmen. Er beabsichtigt, den Latinae et germanicae linguae usu[s] zu vermitteln, d.h. dem Benutzer den Gebrauch der Sprachen nahezubringen. Fries geht es demnach gar nicht primär um die positiv in Regelwerken vermittelbare, gesetzhafte Systemgrammatik, deren Vermittlung im Unterricht seine Ausgabe für das Lateinische bereits voraussetzt. Ihm geht es, ganz im Sinne einer allgemeinen humanistischen Auffassung von der zentralen Aufgabe des Sprachunterrichts, um Beispiele für eine praktische Anwendung mehr als nur grammatisch richtigen, nämlich ›eleganten‹ Lateins, mehr also um Idiomatik als um Grammatik.86 Dabei reichte es Fries hinsichtlich des Lateinischen offenbar, mit den von Erasmus gerühmten Hexameterdistichen Musterbeispiele überhaupt bereitgestellt und mit deutschen Einzelerklärungen dem Schüler zugänglicher gemacht zu haben. Jedenfalls hat er sich nicht entfernt vorgenommen, an dieser Stelle einen philologisch-didaktisch kommentierenden Explikationsgrad zu erreichen, den etwa das Musterwerk für eine derart ausgerichtete Vermittlung des Lateinischen, die ›Elegantiarum linguae latinae libri sex‹ Lorenzo Vallas (1407–1457) aufweisen:87 Auch diese Aufgabe bleibt an den 85
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Das vermag im übrigen auch die an Beispielen von Kettler untersuchte, im Einzelfall angewandte Übersetzungspraxis von Fries nicht: Wilfried Kettler, Trewlich ins Teütsch gebracht. Lateinisch-deutsches Übersetzungsschrifttum im Umkreis des schweizerischen Humanismus, Bern [u. a.] 2002, S. 291–328. Einen instruktiven Überblick vermittelt jetzt Volkhard Wels, Triviale Künste. Die humanistische Reform der grammatischen, dialektischen und rhetorischen Ausbildung an der Wende zum 16. Jahrhundert, Berlin 2000 (Studium litterarum 1), S. 29–90 (vgl. speziell zur elegantia S. 56–64). Beispiele aus Valla etwa ebd., S. 57f.
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mündlichen Unterricht verwiesen. Das parallel deklarierte Vorhaben, gleichzeitig den germanicae linguae usus zu vermitteln, kann dann in logischer Konsequenz nur darauf zielen, dem Schüler Anwendungsbeispiele der Volkssprache in usu bereitzustellen, die vorführen, wie diese den Lehrgehalt der Hexameterdistichen in vergleichbar ›eleganten‹ Versen zu erfassen und zu vermitteln in der Lage ist. Der germanicae linguae usus soll also gar nicht anhand der dem modernen Leser schon quantitativ dominant erscheinenden Einzelübersetzungen, sondern mit den Reimpaarversen demonstriert werden. Darin findet schließlich auch ihre befremdliche Wiedereinführung gegenüber dem Cordier-Übersetzer ihren Grund. Sowenig die Einzelerläuterungen bei Fries mit lediglich untereinander statt inter lineas dargebotenen spätmittelalterlichen Glossen verglichen werden dürfen, sowenig die Fries’schen Reimpaare mit den spätmittelalterlichen sensusParaphrasen in Vierheberreimpaaren. Die Friesschen Verse sind eher schon dem Bemühen Heinrich Bebels (1472/73–1518) in seinen ›Proverbia Germanica‹ (1508) an die Seite zu stellen, das deutsche Sprichwort als in seiner Leistung lateinischen Beispielen durchaus vergleichbar auszuweisen88 – nur daß Fries sozusagen den umgekehrten Weg geht: er übersetzt nicht ins Lateinische, sondern aus dem Lateinischen.
5. Zusammenfassung und Ausblick Die Frage nach dem Niederschlag humanistischer Bildungsvorstellungen in das gedruckte, lehrhafte Unterrichtslektüre zweisprachig aufbereitende Schulbuch unter dem Aspekt des Verhältnisses von Latein und Deutsch führt auf ein in seinen Grundzügen klar konturiertes Bild: – Latein und Deutsch gehen in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, von Verschriftlichungsschüben des Lateinunterrichts seit dem 14. Jahrhundert vorbereitet, in überraschender Breite eine Verbindung ein: eine »Amalgam-Situation« der Sprachen, wie sie das 15. Jahrhundert überhaupt kennzeichnet.89 Movens der Aufnahme des Deutschen ist das Bestreben, den lehrhaften Inhalt der lateinischen Hexameterdistichen auch in der Muttersprache der Schüler bereitzustellen, um akkumulativ seine Vermittlung zusätzlich auf einem ergänzenden Weg abzusichern. Dass dazu von einer in eine andere Sprache übersetzt werden muß, wird dem Benutzer der Unterrichtsmateria88 89
Vgl. dazu den Beitrag von Silvia Reuvekamp im vorliegenden Band. Vgl. Klaus Grubmüller, Latein und Deutsch im 15. Jahrhundert. Zur literaturhistorischen Physiognomie der ›Epoche‹, in: Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung, Greifswald 1986 (Deutsche Literatur des Mittelalters 3), S. 35–49.
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lien nirgends noch zusätzlich durchsichtig gemacht. Es ist keiner besonderen Darlegung wert, weil die Integration der Übertragungen recht direkt von den unmittelbar-praktischen Zielsetzungen des Unterrichts geleitet wird, dessen schriftlicher Steuerung hier in erster Linie die sensus-Vermittlung wichtig ist. Als Instrument für die Sprachendidaxe sind die deutschen Reimpaarvierheber nicht angelegt. Diese bleibt an die okkasionelle Unterrichtsmündlichkeit verwiesen. Erst Sebastian Brant löst diese selbstverständliche Einheit von Latein und Deutsch auf und markiert seinen Lesern eigens auch den Sprachengegensatz. Entlang der neu gezogenen Grenze werden in der Folge nun auch am Übergang von einer Sprache in die andere beteiligte Größen markiert: der Vorgang der Übersetzung als solcher, der Übersetzer als sein Träger, den Transfer leitende, reflektierbare Prinzipien. Ferner versucht Brant mit seiner Übersetzung, freilich noch im Korsett des Reimpaarverses, nun auch an die Sprachgestalt des Lateinischen heranzuführen. Dabei setzt er aber die Volkssprache noch ganz traditionell als im Lateinunterricht etabliert und selbstverständlich geeignetes Hilfsmittel voraus. Im Gefolge der Wahrnehmung des Deutschen als Sprache eigenen Rechts greift die Kategorie des Sprachenprestiges und regelt den Zugang der Volkssprache in die Dignität gedruckter Unterrichtsmaterialien neu. In der Folge wird dem Deutschen dieser Zugang nach Brant weithin erst einmal verstellt. Lateinunterricht wird, zumindest was seine gedruckten Komponenten betrifft, auf Kosten der Volkssprache latinisiert. Von nun an besteht für die Integration der gedruckten Volkssprache in die Unterrichtslektüre lateinischer Schriftsteller ein prinzipieller Rechtfertigungsbedarf. In besonderen Konstellationen läßt er sich umgehen: Moter übersetzt nicht allein für den Lateinunterricht, sondern hat auch den gebildeten Laien im Blick; der Cordier-Übersetzer arbeitet auf französischer Grundlage. Ein dezidiert zweisprachiges Projekt wie das des Johannes Fries muß sich ihm jedoch stellen. Das geschieht freilich erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Die Friessche Begründung bemüht nicht die mit der Volkssprache in sprachdidaktischer Hinsicht zu steigernde Effizienz des Lateinerwerbs, der die Auflösung der spätmittelalterlichen Reimpaarform sowie die dem deutschen nach französischem Vorgang seit den 40er Jahren verfügbare, detaillierte Einzelübersetzung entgegenkommt. Sie läuft im Gegenteil primär über einen in eigenen Versübersetzungen nachgewiesenen usus der Volkssprache, der beispielhaft deren Eignung zu formal durchgestalteter und idiomatisch ebenbürtiger Aufnahme des lateinischen Lehrgehalts vorführt. Der Ertrag für den Lateinschüler spielt innerhalb dieses nun sprachenpolitisch ausgerichteten Begründungsdiskurses insofern eine nachgeordnete Rolle, als positives grammatisches Regelwissen bereits als verfügbar vor-
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ausgesetzt wird und nicht mehr im Detail vermittelt werden muß. Dasselbe gilt für die deutsche Sprache, obschon diese gar kein entsprechend institutionalisiertes Fundament unterrichtlicher Vermittlung besitzt. Indem gleichwohl schon deren idiomatischer Gebrauch geschult werden soll, wird aus dem Begründungsbedarf ihrer Aufnahme ins Schulbuch heraus quasi der zweite Schritt vor dem ersten getan.
Hätte Fries wirklich seinen Schülern ihre deutsche Muttersprache beibringen wollen, hätte er eine deutsche Grammatik verfassen müssen. Mit ihren zweisprachigen Wörterbüchern weist die weitere literarische Produktion des Züricher Schulmeisters immerhin in diese Richtung, zugleich aber auch über die zweisprachigen Textausgaben für den Lateinunterricht hinaus, in deren Rahmen das Thema »Latein und Volkssprache« im Schulunterricht nicht mehr weiterführend zu verhandeln ist. Dazu müssen spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts andere Quellenbereiche als die zweisprachigen Ausgaben der ›Disticha Catonis‹ befragt werden.
Almut Suerbaum
›Ovidius christianus‹: Helius Eobanus Hessus in der Tradition der ›Heroides‹-Rezeption seit dem Mittelalter
I Welche Rolle Ovid im zwölften Jahrhundert, der ›aetas Ovidiana‹, gespielt hat, braucht man in Mediävistenkreisen nicht eigens zu erwähnen, doch auch im späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhundert scheint es, als hätten eine ganze Welle von Autoren, von Christoph Ransmayr bis Marina Warner, den lateinischen Elegiker für sich wiederentdeckt – diesmal nicht den Künstler der psychologischen Darstellung, sondern eher den Trendsetter des ironisch-distanzierten intertextuellen Spiels mit dem Leser.1 Jede Umbruchszeit braucht, so scheint es, ihren Ovid, oder doch einen ›Ovid metamorphosed‹, so eine jüngst erschienene angelsächsische Anthologie.2 Was in diesem Beitrag vorgestellt werden soll, ist eine Variante solcher Ovidrezeption und Adaptation im deutschen sechzehnten Jahrhundert bei Helius Eobanus Hessus. Hessus durchläuft die Stadien einer ›klassischen‹ Humanistenkarriere, mit Anstellungen an Universität und Lateinschulen in Erfurt und Nürnberg, pflegt Kontakte mit vielen namhaften Gestalten von Pirckheimer bis Luther, und ist, trotz einiger Ausflüge in Disziplinen wie die Medizin, wohl am bekanntesten für sein Lob der Stadt Nürnberg.3 Aber Helius Eobanus Hessus verfaßte auch 1
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Zum von Ludwig Traube geprägten Begriff der ›aetas Ovidiana‹ L. P. Wilkinson, Ovid Recalled, Cambridge 1953, S. 376; Francesco Munari, Ovid im Mittelalter, Zürich/Stuttgart 1960; Niklas Holzberg, Ovid. Dichter und Werk, 3. durchges. Aufl., München 2005, S. 11–13. Beispiele neuester Ovid-Rezeption sind einerseits Romane, in denen Ovid zum Protagonisten wird, z. B. Christoph Ransmeyer ›Die letzte Welt‹ (1988), David Malouf ›An Imaginary Life‹ (1978, repr. 1990), Antonio Tabucchi ›Sogni di Sogni‹ (1992), aber auch Neuübersetzungen und Nachdichtungen, so z.B. in der von Michael Hofmann und James Lasdun herausgegebenen Anthologie ›After Ovid: New Metamorphoses‹ (1994), in der Carol Ann Duffy, Seamus Heaney, Ted Hughes, Tom Paulin und andere der Aufforderung gefolgt sind, »to translate, reinterpret, reflect on or completely reimagine the narratives« (S. xii), oder Ted Hughes ›Tales from Ovid‹ (1997), und schließlich freie Bearbeitungen Ovidischer Motive in Prosaerzählungen, so z. B. die Anthologie ›Ovid Metamorphosed‹ (2001), hg. von Philip Terry, mit Beiträgen u. a. von Margaret Atwood, A. S. Byatt, Cees Nooteboom, Joyce Carol Oates, Miche`le Roberts und Marina Warner. Eine zeitgenössische Biographie bei Joachim Camerarius, Narratio de Helio Eobano Hesso: comprehendens mentionem de compluribus illius aetatis doctis et eruditis viris
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Almut Suerbaum
eine Sammlung von Frauenbriefen, die ›Heroidum Christianarum Epistolae‹, und diesem Werk und seiner spezifischen Form der Antikenrezeption gilt hier das Interesse.4 Wenn Hessus seine Sammlung heroischen Frauenbriefe mit zwei Briefen männlicher Autoren umrahmt, signalisiert schon dies das durchaus unangekränkelte Selbstbewußtsein eines Autors, der sich selbst in seiner Sammlung in die richtige Gesellschaft stellt: den ersten dieser Briefe nämlich richtet Gottvater an die Jungfrau Maria, um ihr ganz in der theologischen Tradition des Mittelalters die Inkarnation anzukündigen, den letzen aber schreibt Helius selbst an die Nachwelt, der er in der Tradition Petrarcas seine Sammlung anempfiehlt.5 Solche Selbsteinschätzung wird, zumindest für kurze Zeit, von eben dieser Nachwelt geteilt, denn auch seine unmittelbaren Zeitgenossen urteilen so positiv, daß es sie vermutlich überrascht hätte, wie die Bescheidenheitsformeln des Briefes an die Nachwelt sich nur wenig später bewahrheiten: Helius Eobanus Hessus, der von Luther gepriesene neue Ovid und, so Hutten, »größte deutsche Dichter unter den Zeitgenossen«, dem seine Dichtkunst zu Lebzeiten Amt und Würden an der Universität Erfurt, später in Marburg, und im Tod Epitaphien seiner Dichterkollegen einbringt, ist wenige Jahrzehnte nach seinem Tod ebenso schnell vergessen, wie er berühmt geworden war.6 Woran das gelegen haben
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(1553), Lateinisch und deutsch, mit der Übersetzung von Georg Burkard hg. und erläutert von Georg Burkard/Wilhelm Kühlmann, Heidelberg 2003 (Bibliotheca Neolatina 10). Helij Eobani Hessi Heroidum Christianarum Epistolae. Opus Nouitium nuper aeditum Anno M.D.xiiij [Leipzig: Melchior Lotter]; Helii Eobani Hessi Heroidum Libri tres. Nuper ab Authore recogniti, et ab aeditionis proiris iniuria uindicati. Hagenoae ex Offocna Seceriana. Anno M.D.XXXII; kritische Edition und Übersetzung in: Helius Eobanus Hessus, Dichtungen. Lateinisch und Deutsch, hg. und übersetzt von Harry Vredefeld, Bd. 3: Dichtungen der Jahre 1528–1537, Bern [usw.] 1990 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken 39), S. 269–483. Auf chronologische Unstimmigkeiten in dieser Schlußepistel ist des öfteren hingewiesen worden; Karl Enenkel, Autobiographisches Ethos und Ovid-Überbietung. Die Dichterbiographie des Eobanus Hessus, Neulateinisches Jahrbuch 2 (2000), S. 26–38, macht dagegen plausibel, daß auch dieser Brief nicht so sehr autobiographische Faktizität, sondern vielmehr literarische Stilisierung nach dem Vorbild Ovids beabsichtigt; zum Nachweise der Ovid-Parallelen, besonders zu Ovids ›Tristien‹ IV,10, vgl. den Stellenkommentar in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und Deutsch, hg. von Wilhelm Kühlmann [u. a.], Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek der frühen Neuzeit 5), S. 1140–1143. Kühlmann [Anm. 5], S. 1097f. Zum Nachruhm vgl. das Epitaph von Joachim Camerarius [Anm. 2], hier S. 142: Per terras bona fama volat, speciosaque laudis / Nomina Pieria testificata manu. Das die Biographie beschließende griechische Epitaph preist Hessus als neuen Homer: »Astera mousaoˆv, xaritoˆn ernos, stoma Phoibon, / Poieteˆn ligyron eˆdythroon meleoˆn. (Stern du der Musen und Sohn der Chariten, du Sprachrohr Apollos, / Kräftig erschallenden Lieds Dichter von liebliche Klang)« (S. 144f.); dieser Vergleich mit Homer wird auch in der Vita aufgegriffen: Nam quum Eobanus eam nostra aetate & his rebus praesentiam attingerit, quam olim
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könnte, ist nicht uninteressant zu verfolgen, denn Erfolg und Mißerfolg von Helius Eobanus Hessus haben wohl nicht nur persönliche Ursachen, sondern lassen charakteristische poetische Probleme einer Umbruchszeit sichtbar werden. Was also hatte sich Hessus mit seinen ›Heroides Christianae‹ vorgenommen? Der Bezugspunkt ist schon im Titel ganz deutlich: es handelt sich um eine Replik auf Ovids Sammlung heroischer Frauenbriefe, in denen mythologische Frauengestalten ihren abwesenden Geliebten schreiben und Aspekte ihrer Liebesbeziehung im Brief aufleben lassen.7 Der Reiz der Ovidischen Sammlung liegt darin, wie sie mythologisches Wissen selbstverständlich voraussetzt und gezielt aus einer narrativen in eine dramatisch-psychologisiserende Perspektive umkomponiert.8 Liebe wird dabei in all ihren Nuancen präsentiert – den Eingang macht Penelope, die ihren schon Jahrzehnte abwesenden Gatten zur Rückkehr mahnt, doch bleibt sie eine der wenigen Frauengestalten, für die ein Happy End, jedenfalls für den mythologisch bewanderten Leser, wenn auch gerade nicht für die Briefschreiberin selbst, abzusehen ist. Zahlreicher sind bei Ovid – gemäß der Konzeption der Sammlung als Elegien in der Tradition von Catull, Properz und Tibull – solche Heroinnen, die kurz vor ihrem Tod noch einmal den Geliebten zu erreichen versuchen und daran scheitern: Dido, wenn sie an den schon im Aufbruch begriffenen Aeneas appeliert, Phyllis, die dem aus Thracien nicht zurückkehrenden Verlobten Demophoon das eigene Epitaph entgegenschleudert, Deianira, die vom jämmerlichen Tod des Hercules durch das von ihr geschickte vergiftete Hemd erfährt, während sie noch an ihn schreibt, und ihren Brief mit der Andeutung ihres eigenen bevorstehenden Selbstmordes schließt. Ovids Sammlung wird zu einem Spektrum menschlicher Leidenschaft, von der inzestuösen Geschwister- und Elternliebe über die rasende Eifersucht bis zur treuen Ehefrau.
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rebus aliis Homerus, quasi diuinam & suscipiendam omnibus absoluisset, fuerunt inter hos similia permulta (S. 40). P. Ovidii Nasonis Heroidum, hg. Heinrich Dörrie, Berlin 1971, vgl. auch Publius Ovidius Naso, Liebesbriefe, hg. und übersetzt von B. W. Häuptli, München/Zürich 1995 und Ovid. Heroides. Briefe der Heroinen, Lateinisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Detlev Hoffmann, Christoph Schliebnitz und Hermann Stocker, Stuttgart 2000 (RUB 1359). Luthers Tischreden bezeugen, daß die Heroiden neben der Eklogenbearbeitung des Baptista Mantuanus zur universitären Lektüre gehören: Baptista Mantuanus primus fuit poeta, quem legi, deinde Heroidas Ovidii, post incidi in Vergilium. Praeterea nihil legi in poetis. – Scholastica theologia diecbat se impeditum. Werke, Kritische Gesamtausgabe. Tischreden I, Weimar 1912, S. 107, No. 256, zit. nach Harry Vredefeld, Pastoral Inverted: Baptista Mantuanus’ Satiric Eclogues and their Influence on the ›Bucolicorum Idyllia‹ of Eobanus Hessus, Daphnis 14 (1985), S. 461–496, hier S. 464, Anm. 8. Zur ›Mehrstimmigkeit‹ Ovidischer Texte und und zur zentralen Bedeutung intertextueller Verweise vgl. Holzberg [Anm. 1], S. 13–30, zu den ›Heroides‹ bes. S. 79–99.
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Vieles an dieser Sammlung erschien Helius Eobanus Hessus als hochproblematisch für einen christlichen Dichter und christliches Publikum; Ziel seiner dem Jugendfreund Freiherr von Schwarzenberg, Domherr von Würzburg und Bamberg, gewidmeten Neubearbeitung ist daher die Transposition des Genres in ein christliches Milieu:9 Nam nullas Veneres, non ulla Cupidinis arma Non quicquam prae se quod sit inane ferunt Moribus assuetae castis castissima spondent Oscula, quae roseo mista pudore feres. (Dedicatio, 123–126)
Nicht die Reize der Venus und des Cupido schmücken seine Dichtwerke, die er hier als Töchter vorstellt, sondern allein Küsse der Keuschheit. Das ist nun aber nur unter radikaler Änderung des Personals zu erreichen, und folglich treten bei Hessus an die Stelle der Ovidischen Mythen christliche Überlieferung und Legende. Es schreiben nun nicht mehr mythologische Heroinnen an ihre Geliebten, sondern Maria an Gottvater, Maria Magdalena oder Katharina von Alexandrien an Jesus Christus, Lydia an Paulus, Monica an Augustinus, Elisabeth von Thüringen an Ludwig, Kunigunde an Kaiser Heinrich. Wie die Widmung der Neuausgabe von 1532 andeutet, stieß allerdings diese stoffliche Entschärfung ihrerseits sogleich auf heftige Kritik angesichts des biblisch nicht immer bezeugten Wahrheitsgehaltes, so daß sich Eobanus Hessus gezwungen sah, drei Briefe ganz zu tilgen und die verbleibenden neu zu orden, und zwar nach dem Grad ihrer Fiktionalität.10 So ist das erste Buch den Schreiberinnen vorbehalten, die 9
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Sein Verfahren ist daher wohl als überbietende Adaptation oder aemulatio zu sehen. Vgl. Jan-Dirk Müller, Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts ›Ehezuchtbüchlein‹ und ›Geschichtsklitterung‹, in: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, hg. von Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber, Frankfurt a. M. [usw.] 1994 (Frühneuzeit-Studien 2), S. 63–109, hier S. 68–71, der die humanistischen Begriffe der imitatio und aemulatio von modernen Intertextualitätskonzepten absetzt, da alter und neuer Text in der humanistischen Poetik zwar unterscheidbar, aber auf eine gemeinsame Norm bezogen seien. Im Gegensatz zur imitatio, »die Vervolkommnung der eigenen Fertigkeiten und dadurch des eigenen Selbst an großen Vorbildern« (S. 71), bezeichne aemulatio »den Wettkampf mit dem Vorbild, wenn jene Bildung bereits gelungen ist.« Getilgt werden die Briefe der Alcyone an Georg und Ursulas an Aethereus; der Brief Elisabeths and Zacharias wird umformuliert zu einem Brief an Johannes den Täufer (I 6). Bereits Erasmus hatte dagegen polemisiert, daß poetische Legenden wirksamer seien als das Evangelium: Item si quis sit diuus fabulosior et poeticus, quod si exemplum requiris, finge huius generis Georgium aut Christophorum, aut Barbaram, videbitis hunc longe religiosius coli, quam Petrum, aut Paulum, aut ipsum etiam Christum (Erasmus von Rotterdam, Moriae encomium id est stultitiae laus, hg. von Clarence H. Miller, Toronto/Oxford 1979, S. 130). Luther dagegen richtet seine Kritik nicht gegen die Gattung als solche, auch wenn er sie andererorts als Lügende parodiert, sondern allein gegen die Verehrung der Heiligen als Fürsprecher. Bekennerlegenden, die ein Beispiel für tatkräftige Bezeugung des Glaubens liefern, erkennt er
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im Neuen Testament bezeugt sind; im zweiten stehen mixtas vero falsoque sorores, das heißt solche weiblichen Gestalten, in deren Geschichte Wahres und Falsches vermischt sind, und auf den dritten Platz werden diejenigen relegiert, deren Geschichte gänzlich unwahr ist – allerdings mit einer Einschränkung, da ihre Geschichten zwar unwahr, aber doch wahrscheinlich seien: Tertius (ut fama est) omnia falsa locus. Non ita falsa tamen nequeant ut vera videri Veraque si quaedam dempseris esse queant (56–58)
(»Der drittte Platz ist – wie man so sagt – ganz mit dem Unwahren besetzt; nicht so unwahr allerdings, daß man es nicht für wahr halten könnte.«) So reizvoll es ist, das sprachliche und literarische Geschick zu untersuchen, mit dem Eobanus Hessus in seinem ersten Buch biblische Passagen unter Verwendung Ovidischer Muster und Formulierungen neu zu gestalten sucht, scheint dennoch im Kontext der humansitischen Antikenrezeption das umstrittene dritte Buch am interessantesten, und hier sollen daher exemplarisch zwei Briefe, Sabina an Alexius und Dorothea an Theophilus, näher untersucht werden, worauf in einem zweiten Schritt die in ihnen angerissenen Probleme in den Kontext der Heroidesrezeption seit dem Hochmittelalter gestellt werden.
II Brief III,5 beginnt, wie alle Muster bei Ovid, mit einer kurzen Selbstdarstellung der Schreiberin und ihrer Situation: Sic ubi perdiderit charum viduata sodalem Si canere hoc dicas, moesta columba canit Non quia te nolim rebus gaudere professis Sed mihi quod tecum non licet esse queror Tu quoque credentem potuisti fallere nuptam Primaque de nobis fraus tua nomen habet. (1,6)
dagegen ausdrücklich an: Und nehest der heilgen schrifft ist ja kein nutzlicher buch fur die Christenheit denn der leiben heilgen Legenden, sonderlich welche rein und rechtschaffen sind. Als darinn man gar lieblich findet, wie sie Gottes wort von hertzen gegleubt und mit dem munde bekand, mit der that gepreiset und mit yhrem leiden und sterben geehret und bestettigt haben (Martin Luther, Vorrede zu Lazarus Spengler, Bekenntnis, 1535, WA 38, S. 313. Vgl. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, 2. überarb. Aufl., München 1997, S. 233–238.
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Sabina, die sich hier im Bild der Turteltauben-Witwe inszeniert, hat Grund zur elegischen Klage um ihren Geliebten, da sie gerade keine Witwe ist, denn Alexius, an den sie ihren Brief richtet, hatte sie in der Hochzeitsnacht verlassen und prophezeiht, man werde sie nach Ablauf von dreimal sieben Jahren wegen seiner Rückkehr glücklich preisen. Sabina schreibt, als diese einundzwanzig Jahre abgelaufen sind und immer noch kein Zeichen von ihrem Ehemann erscheint, und versucht ihn zur Heimkehr zu überreden. Sie hat dreifachen Grund zur Klage: erstens hat Alexius sie nicht nur als Gattin ohne Gatten, sondern auch als Jungfrau zurückgelassen, so daß ihr nichts bleibt, als sich in Geduld in ihr Schickal zu fassen – was ihr zunehmend schwerfällt. Zweitens sind auch seine inzwischen alten Eltern um ihren Sohn besorgt; während der Vater den Tod des Sohnes fürchtet und wie David um Absalom klagt, versucht seine Mutter Sabina zu trösten, indem sie ihr Berichte zuträgt, man habe den Sohn in fremden Ländern gesichtet – doch leider stellen sich all diese Berichte als gegenstandslos heraus, und Briefe nach Zion, Griechenland, ja sogar Britannien und Germanien bleiben unbeantwortet und, so fürchtet Sabina, ungelesen: ergo tuum tibi convenit illud Alexi Littera responso nulla onerata tuo est (III 5, 101f.) (»Alexius ist daher zu recht dein Name, da kein Brief von deiner Antwort beschwert wird.«)
Sabina fürchtet, Alexius wolle im Exil unerkannt bleiben und sich sogar in seiner Vaterstadt verborgen halten. Entgegen der so geäußerten Furcht erhält der letzte Teil des Briefes, die nochmalige Einforderung des ihr gemachten Versprechens, seine literarische Kontur, denn wer die Alexiuslegende kennt, dem muß klar sein, daß Sabina damit unwissend den entscheidenen Punkt anspricht, da der vermeintlich abwesende Gatte in Wirklichkeit unerkannt und als Bettler im Haus seiner Eltern lebt, dort stirbt und erst nach seinem Tod seine Identität enthüllt.11 Erst vor diesem Hintergrund erhält das von Sabina entworfene Epitaph ihres eigenen Grabes seine besondere Wirksamkeit: Tu quoque, ut occidero si forte redibis Alexi Quod doceat quo sim condita carmen habe 11
Iacopo da Varazze, Legenda Aurea, hg. Giovanni Paolo Maggioni, Florenz 21998, Bd. 1, S. 621–626, Nr. XC ›De Sancto Alexio‹, hier S. 623: Decem et septem igitur annis in domo patris sic ignotus permansit. Videns ergo per spiritum quod appropinquaret terminus uite sue, cartam cum atramento petiit et totum ordinem uite sue ibidem conscripsit.
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Dum gemit absentem sine crimine nupta maritum Fessa malis placida morte Sabina iacet. (III 5,151–154) (»Falls du denn zurückkehren solltest, wenn ich schon gestorben bin, so lies, wie es sich gehört, mein Epitaph: Nach dem fernen Mann seufzend, vermählt und doch schuldlos, liegt hier Sabina, des Grams müde, in friedlichem Tod«).
Alexius ist, so weiß es die Legende, nicht abwesend, und er wird auch nicht nach ihrem Tod zurückkehren, sondern wird tot im Haus der Eltern aufgefunden und anhand eines von ihm verfaßten Briefes identifiziert.12 Christusnachfolge bedeutet für den Alexius der Legende die radikale Absage nicht nur an weltlichen Besitz, sondern auch an alle sozialen Bindungen, ein Leben, in dem weder Eltern noch Ehefrau eine Platz haben, so sehr sie auch ihre Treue und Tugendhaftigkeit beteuern mögen. Das Material für diesen Brief liefert somit die Alexiuslegende, doch Diktion und formale Anregung stammen von Ovid, der auf eben diese Weise Material aus Homer gegen den Strich verarbeitet, so etwa im 13. Heroidenbrief der Laodamia an Protesilaus. Lesern der Ilias ist bekannt, daß Protesilaos als erster Grieche im Kampf um Troja sterben wird, doch transponiert Ovid dieses Wissen, indem er Laodamia im Brief an ihren Mann appelieren läßt, er möge sich im bevorstehenden Krieg ja vorsehen, damit er wie versprochen unversehrt zu ihr zurückkehren könne. Die gleichsam dramatische Ironie der Schreibsituation, in der die begrenzte Erkenntnis der schreibenden Frau dem mythenkundigen Leser bewußt wird und den Effekt ihrer emotiven Klage erhöht, adaptiert Eobanus Hessus für sein christliches Publikum, auch wenn es dabei zu einigen Querständen kommt. Wo Ovid in seinem Perspektivwechsel statt des narrativen Fadens der Ereignisse die oft schnell wechselnden Emotionen eines konkreten Moments verfolgt, ergeben sich in der christlichen Umarbeitung andere Akzente, denn Tenor der Briefe ist nicht, wie bei Ovid, die differenzierte Vielfalt menschlicher Emotionen, sondern die unwandelbare Treue der christlichen Heldin – und darin hat Sabina gegen Alexius einen schweren Stand. Ihr Selbstentwurf läßt eher an Penelope denn an Laodamia denken, und wie Penelope hofft sie auf Belohnung ehelicher Treue bei der Rückkehr des allzu säumigen Ehemannes. Anders als Ovids Laodamia, deren letzte Liebesbeteuerungen auf die Fackeln ihrer Liebe ihren Tod in den Flammen vorausdeutet, darf Sabina nur auf einen friedlichen Tod (placida mors) hoffen, in dem sie Maria und Jesus ihre Jungfräulichkeit widmet. Indem Eobanus Hessus die Legende des zur äußersten Christusnachfolge entschlossenen Alexius aus der Perspektive der verlassenen Ehefrau beleuchtet, rückt schärfer als in der Legende der Preis dieser Heiligkeit 12
Zum Paradox der Präsenz in der Schriftlichkeit im Rahmen der Alexius-Legende vgl. Peter Strohschneider, Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ›Alexius‹, in: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, hg. von Gert Melville/Hans Vorländer, Köln [usw.] 2002, S. 109–147.
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in den Blick – und darf doch nicht im Vordergrund stehen, da Sabina sich letztlich als Muster christlicher Geduld und Mäßigung erweisen muß und – in der an Ovid geschulten Ironie ihrer unwissend unerfüllbaren Hoffnung – schließlich hinter der Treue des Alexius zu seinem Gott zurücksteht. Dennoch bewirkt die Ovidische Perspektivverschiebung vom männlichen Heiligen auf seine in der Legende namenlose Ehefrau, daß zwischen Ehefrau und ihrem abwesenden, allein in der Rede seine Frau präsenten Ehemann, ein Ideal von Menschlichkeit entwickelt wird, in dem Gottesliebe nicht nur in der radikalen Weltabsage des Alexius möglich ist, sondern auch in der treuen Liebe der Ehefrau.
III Auch im Brief der Dorothea an Theophilus gestaltet Hessus eine bekannte Heiligenlegende aus ovidischer Perspektive, indem er Dorothea aus der Gefangenschaft, genauer kurz vor ihrer Hinrichtung, einen Brief an Theophilus konzipieren läßt, den sie ihm zusammen mit einem Korb voller Rosen zusendet, um ihn damit zu bekehren: Haec tibi de sponsi munuscula mittimus horto Frigida quo nunquam tempore vernat humus Accipe, nec dubita, non est rosa falsa, nec ipsa Inficit adiectus punica mala rubor. (III 8,1–4) (»Diese kleinen Gaben aus dem Garten meines Bräutigams schicke ich dir in einer Jahreszeit, in der die kalte Erde nie ergrünt. Nimm, zögere nicht! Die Rose ist echt, und die purpurnen Äpfel hat keine Schminke gefärbt.«)
Was scheinbar kokett wie die kleine Liebesgabe einer höfisch-höflichen Dame beginnt, die im Winter Luxuspräsente versendet, wird durch den Hinweis auf den Garten des Bräutigams und die ungeschminkte Echtheit der Äpfel schnell auf die Ebene spiritueller Bilder verlegt. Theophilus keine mythischen Objekte empfängt, sondern er wird vielmehr Zeuge eines Wunders, da der Bräutigam niemand anderer ist als Christus. Was folgt, ist Narration des Legendengeschehens: Dorothea waren die Rosen an der Richtstelle von einem Knaben überreicht worden, der sich als Bote ihres himmlischen Bräutigams zu erkennen gibt. Dorothea habe sich des Auftrages erinnert, den Theophilus ihr einst gegeben habe, und bittet den Kanben, nun als ihr Bote die Rosen weiterzugeben – wozu sich der Knabe bereiterklärt, allerdings erst, nachdem sie versprochen habe, ihren Auftrag auf einer Wachstafel schriftlich für ihn festzuhalten. Interessant scheint dieser Brief vor allem darin, daß er zwar einerseits genau dieses Begleitschreiben liefert, andererseits aber ausführlich auf die Bedingungen seiner eigenen Abfassung reflektiert. So unterzieht Dorothea die Rosen und Äpfel
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der vorhersehbaren spitiruellen Auslegung, verweist darauf, daß Rosen und Äpfel nicht irdischer Natur sind, sondern aus dem Paradies stammen, und ermahnt Theophilus, er solle nicht die Gabe, sondern den Geber, das heißt den Schöpfergott bewundern – so, wie das auch die ›Sultanstochter im Blumengarten‹ der im 15. und wohl auch noch im 16. Jahrhundert beliebten geistlichen Kurzerzählung getan hatte.13 Andererseits erlauben die wiederholten Hinweise auf die von ihren Wärtern mehr und mehr bedrängte Dorothea, das den Brief beendende Martyrium dramatisch präsent werden zu lassen; der Brief schließt mit dem Ausruf der Sterbenden, die ihren Nacken dem Beil darbietet: Frigida nunc avidae praebemus colla securi Deque meo modicum carmine vulnus abest. Christe fer hanc animam promissi gaudia coeli Ipsa tuo solvor carcere terra. Vale. (III 8,111–114) (»Jetzt biete ich meinen kalten Nacken dem gierigen Beil dar, und nur noch ein weniges fehlt von meinem Gedicht zur Wunde. Christus, geleite meine Seele zu den Freuden des verheißenen Himmels. Ich werde aus deinem Gefängnis befreit, o Erde! Leb wohl!«)
Anleihen bei Ovid sind hier mindestens so deutlich wie im Brief der Sabina – Kritker der ›Heroides‹ haben immer wieder daran Anstoß genommen, daß Ovid einige seiner Heroinnen in scheinbar unmöglichen Situationen ausgerechnet Briefe schreiben läßt, so etwa Ariadne, die von Theseus auf der Insel Naxos ausgesetzt an ihren Geliebten schreibt, ohne daß man doch so recht wüßte, wie dieser Brief die Felseninsel hätte verlassen können, oder Hypermestra, die aus dem Gefängnis und in Ketten gelegt an Lynceus schreibt, während sie darauf wartet, von den Schergen ihres Vaters Danaus enthauptet zu werden (Heroides XIV).14 Und doch gibt es, bei allen Parallelen der Motivik und Formulierung, wesentliche Unterschiede, denn was im Fall der Hypermestra ungerecht-tyrannische Ermordung durch den eigenen Vater und im Fall Ariadnes Todesfurcht ohne Wissen um die schon bevorstehende Rettung durch Dionysus ist, wird bei Dorothea zum Paradox christlicher Theologie. Gerade der dramatisch auf den Tod der Schreiberin zusteuernde Brief dient dazu, Dorotheas vorbildhaftes Vertrauen auf ein Leben nach dem Tod und in Christus nicht nur zu erzählen, sondern in Szene zu setzen.
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Den Text des lateinischen Exempels aus dem 14. Jahrhundert in: Erzählungen des Mittelalters, hg. von Joseph Klapper, Breslau 1914, S. 322f., Nr. 111. Zu den dt. und mndl. Fassungen des 15. Jahrhunderts und ihrem Fortleben in Liedfassungen bis in die Neuzeit vgl. Nigel F. Palmer, ›Die Sultanstocher im Blumengarten‹, 2VL 9, Sp. 497–502. Zum komischen Potential dieser Szenen bei Ovid, aber auch zur Funktion der paradoxen Schreibsituationen, »die Wirkungslosigkeit elegischen Sprechens« abzubilden, vgl. Holzberg [Anm. 1], S. 90.
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IV Was beide Briefe vereint, ist damit die Kompositionsmethode, nach der nicht nur Ovidische Diktion, sondern Ovids Technik des intertextuellen Spiels mit dem Leser anhand von antiken mythischen Erzählungen auf Material aus der Heiligenlegende transponiert wird. Hessus äußert sich zu den Gründen solcher Transposition nicht explizit, sondern lenkt in Widmungsbrief und autobiographischem Schlußbrief das Augenmerk allein auf seine Rolle als Autor und seinem Umgang mit der elegischen Versform. Dennoch steht er mit seiner programmatischen Abwendung von der heidnischen Materie in Traditionen, die sich bis ins Mittelalter verfolgen lassen. Ovids ›Heroides‹ sind mit mehr als 100 Handschriften seit dem zwölften Jahrhundert breit überliefert und gehören zum Kanon dessen, was mit Accessus und Kommentaren für den Schulgebrauch aufgearbeitet und erläutert wird.15 Es gibt verschiedene Versionen dieser Accessus, doch alle sind sich darin einig, daß gerade die in den ›Heroides‹ präsentierte Materie eines auslegenden Interpreten oder ›spin-doctors‹ bedarf, um sie für mittelalterliche Leser akzeptable zu machen.16 Ovid führe, so der am deutlichsten kritische Accessus, gleichsam Negativexempel vor, um vor unangemessener Liebe zu warnen: Intentio huius operis est reprehendere masculos et feminas stulto at illicito amore detentos.17
Eine erweiterte Version des Accessus registriert, daß dies so vor allem auf den meist ausführlich kommentierten ersten Brief der Penelope natürlich nicht zutreffe, und differenziert: Intentio sua est legitimum commendare connubium vel amorem, et secundum-hoc triplici modo tractat de ipso amore, scilicet de legitimo, de illicito, et de stulto, de legitimo per Penelopen, de illicito per Canacen, de stulto per Phillidem.18
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Allerdings mit einer Ausnahme (Frankfurt, UB, Ms. Barth. 110, 13. Jh), ohne den Sappho-Brief; vgl. Heinrich Dörrie, Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Lehrgattung, Berlin 1968, S. 80, Anm. 23. Zum Gebrauch in der Schule vgl. Günther Glauche, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt, München 1970 (Münchner Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 5); Ralph J. Hexter, Ovid and Medieval Schooling. Studies in Medieval School Commentaries on Ovid’s Ars Amatoria, Epistulae ex Ponto, and Epistulae Heroidum, München 1986 (Münchener Beiträge zu Humanismus und Renaissanceforschung 38). Accessus ad Auctores. Bernard d’Utrecht. Conrad d’Hirsau, Dialogus super auctores, hg. von R. B. C. Huygens, Leiden 1970, S. 28–33; vgl. Zum Problem der Textgeschichte Hexter [Anm. 13], S. 137–170. Huygens [Anm. 15], S. 29: Accessus I, Z. 1f. Huygens [Anm. 15], S. 30: Accessus II, Z. 7–10.
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Doch es bleibt dabei, daß die problematischen Kategorien zwei und drei (illegitime und unbedachte Liebe) der ersten als abschreckende Beispiele untergeordnet werden: Sed has duas partes, scilicet stulti et illiciti, non causa ipsarum, verum gratia illius tercii commendandi interserit, et sic commendando legitimum, stultum et illicitum reprehendit.19
Noch Eobanus Hessus reiht sich in diese Tradition, wenn er in seiner programmatischen Umdeutung der ›Heroides Christianae‹ die Ovidische Vielfalt des Spektrums radikal verengt auf positive Beispiele christlicher Gatten- und Gottesliebe. In der ersten Version seiner Briefsammlung hatte er dies im Brief der Ursula an Aethereus noch explizit gemacht, indem er sie die Liebe einer Phyllis, Hermione, Briseis, Hypsipyle – also der Ovidschen Briefschreiberinnen – als rein körperliche Lust und als Trug abqualifizieren und sie gegen die Lügen der heidnischen Dichter polemisieren läßt.20 Doch bezeichnenderweise fällt dieser Brief aus der Erstausgabe (1514) der Revision von 1527 zum Opfer, so daß dort ein ausdrücklicher Bezug auf Ovid weder im negativen Sinne, in Form einer Kritik an der heidnischen Materie, noch aber im positiven erfolgt, wie man es angesichts des unbestreitbaren Einflusses auf Diktion und intertextuelle Kompositionstechnik erwarten könnte. Auch dafür mag es Gründe in der Tradition geben, in welche sich Hessus mit seinen Heroidenbriefen stellt. Zwei Beispiele prominenter Ovid-Adaptoren mögen hier genügen: Boccaccios ›De mulieribus claris‹, verfaßt um 1362, und Chaucers ›Legend of Good Women‹ von 1385.21 Boccaccio konzipiert sein Werk ausdrücklich als Exempelsammlung, in der die als Beispiel angepriesenen Frauen chronologisch gereiht werden.22 So eröffnet Eva die Reihe der Erzählungen, die dann von Semiramis über Opis, Iuno, Ceres, Minerva bis zu Engeltrud von Florenz, Constanze von Sizilien, Camiola von Siena und der 19 20
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Huygens [Anm. 15], S. 30: Accessus II, Z. 10–13; vgl. auch Accessus III, S. 31–33. Harry Vredefeld, Der heroische Brief ›Maria Magdalena Iesu Christo‹ aus den ›Heroidum Libri tres‹ des Helius Eobanus Hessus, Daphnis 6 (1977), S. 65–90, hier 65f. Giovanni Boccaccio, ›De claris mulieribus‹, Erstdruck Ulm: Johannes Zainer 1473, benutzt im Exemplar der Bodleian Library, Oxford, Douce 216; Geoffrey Chaucer, ›The Legend of Good Women‹, in: The Riverside Chaucer, 3. Ausgabe hg. von Larry D. Benson, Oxford 1987, S. 587–630; Kommentar S. 1059–1075; vgl. Dörrie [Anm. 13], S. 353–357. Der Prolog rechtfertigt die Auswahl allein danach, ob die Beipiele etwa als anstößig empfunden werden könnten, denn er wolle seinem Publikum, auf der Suche nach Blüten, nicht mit Dornen die Hände zerkratzen: Et esto nunnumqupam lasciviam comperias in mixtam sacris (quod ut facerem recidandorum coegit oportunitas) ne omiseris vel horrescas quin ymo persevereans vit viridarium intrans eburneas manus semotis spinarum aculeis extendis in florem sic obscenis se positis collige laudanda (S. iv).
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Päpstin Johanna antik-mythologische und gegenwärtig-historische Frauen aufeinanderfolgen läßt, wobei acht der Ovidschen Heroinen integriert werden, Beispiel aus der Heiligengeschichte jedoch auffällig fehlen. Boccaccio selbst konstruiert zwar eine chronologische Abfolge, thematisiert sie allerdings nicht, während etwa Steinhöwel ausdrücklich auf chronologische Parallelen zwischen mythologischen und biblischen Heldinnen hinweist. Mit einem solchen Geschichtsbezug aber werden die exemplarischen Erzählungen aus der Welt des Mythos herausgelöst und in einen neuen Kontext gesetzt, dessen Anspruch auf Faktizität ihnen ihre Glaubwürdigkeit verleiht. Genau dies reflekiert Hessus im Vorwort seiner revidierten Ausgabe, wenn er seine Heroinen nicht mehr ungeordnet, wie bei Ovid, präsentiert, sondern nach dem Grade ihrer Faktizität. Chaucers ›Legend of Good Women‹ dagegen setzt auf andere Weise die mittelalterliche Tradition fort, wenn er Ovids Frauengestalten um solche aus der antiken Geschichte ergänzt und als Beispiele wahrer Liebe präsentiert. In einer im Prolog geschilderten Traumvision beauftragt Königin Alceste den Autor: Thow shalt, while that thou lyvest, yer by yere, The moste partye of thy tyme spende In makyng of a glorious legende Of goode wymmen, maydenes and wyves, That were trewe in lovyng al hire lyves; and telle of false men that hem betraien, That al hir lyf ne don nat but assayen How many women they may doon a shame; For in youre world that is now holde a game. And thogh the lyke nat a lovere bee, Speke wel of love; this penance yive I thee. (LGW F 481–491)
Die Verteidigung der Frauen wird damit zu einer Buße für den Dichter, der sich – ob autobiographisch oder doch eher auf literarische Vorbilder verweisend, ist nicht endgültig geklärt – den Zorn des Liebesgottes zugezogen hat. Auch hier also bestimmt das den Exemplen gegebenen Rahmenprogramm des Frauenpreises die Beispiele und die Einseitigkeit der Auswahl an positiven Rollenmodellen; gestrichen werden gerade die problematischen Heldinnen Ovids. Allerdings wird an Chaucer auch der Abstand zu Hessus sehr deutlich, denn Chaucer’s Adaptation ist in vielem recht weit von Ovid entfernt. Er gibt nicht nur die Briefform zugunsten der Narration auf, sondern bedient sich einer italienischen Prosaübersetzung anstelle des lateinischen Originals; Ovid ist für ihn lediglich Lieferant der Stoffe, während seine dichterische Gestaltung völlig unbeachtet bleibt.23 23
Dies gilt so nur für die ›Legend of Good Women‹; in anderen Werken, besonders in den ›Canterbury Tales‹, ist der Einfluß ovidischer Modelle von Intertextualität sehr deutlich nachweisbar. Dazu Helen Cooper, Chaucer and Ovid. A Question of Authority, in: Ovid Renewed. Ovidian influences on literature and art from the Middle Ages to the twentieth century, hg. von Colin Martindale, Cambridge 1988, S. 71–81.
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V Aus diesen kurzen Vergleichen dürften einige charakteristische Züge der neulateinischen Bearbeitung des Hessus deutlich geworden sein. Anders als für Boccaccio oder Chaucer ist der Wortlaut der Ovid-Heroiden für Hessus von zentraler Bedeutung, und sein Widmungsbrief und der Brief an die Nachwelt thematisieren die Bedeutung der studia humanitatis in einem Bemühen um stilistische Klarheit des Ausdrucks und Eleganz in der Handhabung des von Ovid vorgegebenen Metrums – einem Bemühen, welches der Autor bei allem Selbstbewußtsein im Widmungsbrief ausdrücklich als Freunschaftsdienst präsentiert, mit dem er fortsetzt, was ihn mit dem Freund gegen alle menschenfeindlichen Strömungen der Zeit verbindet. Nicht der Stoff der Briefe, sonder vor allem ihre poetische Struktur und das in ihnen vermittelte psychologisch differenzierte Menschenbild werden zum zentralen Punkt. Dies ist deutlich in den zahlreichen und von Vredefeld an Beispielbriefen extensiv dokumentierten Anleihen an Ovid, aber auch Vergil, in einzelnen Formulierungen, Tropen und Bildern. Daß Ovid auch für das Verfahren des intertextuellen Spiels mit dem Vorwissen des Lesers als Vorbild wirkt, ist hier am Beispiel der Sabina- und Dorothea-Briefe demonstriert worden. Wie läßt sich also die Position des Helius Eobanus Hessus bestimmen? In gewisser Weise folgt er Chaucer, da ihm gerade die Perspekivenvielfalt der Ovidschen Briefsammlung nicht tolerierbar erscheint; er bewegt sich weg vom schwankenden Boden des antiken Autors, bei dem noch moderne Interpreten nicht immer ganz sicher sind, ob eine Phädra oder Medea nun abschreckend oder bewundernswert zu finden seien, und strebt statt dessen hin zu einer Konzeption, die letzlich allein die theologisch positiv besetzte Seite der treuen Liebe als Abbild der Gottesliebe anerkennt. Allerdings ist dies nicht etwa Indiz für eine Öffnung auf ein größeres Publikum hin, im Gegenteil: Der Widmungsbrief macht die Exklusivität des Angestrebten sehr deutlich. Dennoch wird auf diese Weise integriert, was für Hessus ein wesentliches Element seiner Selbstbestimmung und eben auch der Differenz zum antiken Vorbild ist – der Verweis auf die Transzendenz.24 Andererseits aber vollführt er die Inversion dessen, was wir bei Boccaccio und Chaucer sehen, denn er ist gerade kein volkssprachiger Dichter und bleibt beim elegischen Distichon statt der Prosaerzählung Boccacios. Für ihn ist Dig24
Auch darin setzt er allerdings, so könnte man argumentieren, eine bei Ovid bereits angelegte Tendenz fort. Mit der Umkehrung der in der klassischne Elegie etablierten Geschlechterrollen nämlich verschiebt schon Ovid einerseits die Perspektive hin zum Standpunkt der Frauen, läßt aber andererseits seine Heroinnen »auf Fortdauer eines unwiderruflich beendeten Zustands« beharren. (Holzberg [Anm. 1], S. 98). Was bei Ovid letztlich so gegenüber dem Prinzip der ständigen Metamorphose defiziente Statik bleibt, wird bei Hessus als Ideal christlicher Treue und Beständigkeit restituiert.
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nität der Sprache anders als im Lateinischen und im elegischen Vers nicht denkbar, und dies thematisiert er nicht nur im Widmungsprolog, sondern auch in der Briefsammlung selbst. Kunigunde etwa verteidigt die Tatsache, daß sie ihre Klage um die nicht vollzogene Ehe mit Kaiser Heinrich nicht auf Deutsch, sondern Lateinisch abfasse, auch wenn ihr das als Frau eigentlich nicht zustehe, denn allein die Lyra, also das Instrument der Elegie, sei ihrem Klagelied angemessen. Quid tibi cum Latiis, ne quaeras, barbara musis? Tristia cum scribam questibus apta lyra est. Sive quod est numeris et vis et gratia maior Vixquie rudes animos barbara verba movent. (III 3, 3–6) (»Frage nicht: ›Was hast du, eine Deutsche, mit den lateinischen Musen zu schaffen?‹ Weil ich ein Trauerlied schreiben will, ist die Leier vorzüglich zu meinen Klagen geeignet. Verse haben ja größere Macht und Anmut, und kaum werden rauhe Herzen von deutschen Worten gerührt.«)
Diesen gelehrten Umgang mit der Sprache des großen Vorbilds, der manchmal an den Rand des Cento gerät, hat Vredefeld in seinen Kommentaren zu den ›Heroides‹ und den ›Bucolica‹ detaiiliert aufgezeigt und als Aspekt der delectatio für das gelehtre Kollegen- und Philologenpublikum gewertet.25 Doch entscheidend für Eobanus Hessus scheint mir zu sein, daß seine Ovid-Adaptation trotz allem theologischen Programm und auch bei aller sprachlichen Gelehrsamkeit nicht nur auf der Ebene der Diktion angesiedelt ist, sondern auch Ovids literarische Strategie der intertextuellen Referenz auf den bekannte Wissensbeziehungsweise Glaubenshorizont wahrnimmt und für seine Materie umsetzt. Sowohl im Umgang mit dem antiken Vorbild wie auch mit der mittelalterlichen Materie wird damit allerdings auch die Situierung der Heroides chrisianae an einer Epochenschwelle deutlich. Hessus zitiert Ovids häufige Hinweise auf die Materialität des geschriebenen oder gar im Entsehen begriffenen Briefes, so etwa im Dorothea-Brief oder aber im oben zitierten Brief der Kunigunde. Er setzt damit, so könnte man argumentieren, eine bei Ovid bereits angelegte Tendenz fort. Doch gleichzeitig unterscheidet er sich wesentlich von seinem antiken Vorbild, denn im Kontext der Ovidschen Komposition dienen gerade die Verweise auf die Schreibtätigkeit dazu, Distanz zur Figur der Schreiberin herzustellen. Mit der Umkehrung der in der klassischen Elegie etablierten Geschlechterrollen nämlich verschiebt schon Ovid einerseits die Perspektive hin zum Standpunkt der Frauen, läßt aber andererseits seine Heroinnen »auf Fortdauer eines unwiderruflich beendeten Zustands« beharren.26 Was bei Ovid letztlich so gegenüber dem Prinzip der ständigen Metamorphose defiziente Statik bleibt, wird bei Hessus als Ideal christlicher Treue und Beständigkeit restituiert. 25 26
Harry Vredefeld, A Neo-Latin Satire on Love-Madness: The Third Eclogue of Eobanus Hessus’ ›Bucolicon‹ of 1509, Daphnis 14 (1985), S. 69–115. Holzberg [Anm. 1], S. 98.
Ovidius christianus
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Doch demonstrieren diese Passagen auch, wie sehr sich Hessus von der Welt der Heiligenlegende unterscheidet, denn was dort ein Beweis für die Manifestation des Heiligen in der Welt und dessen Unmittelbarkeit sein könnte, hebt bei Hessus gerade die Bedeutung des Dichtungsaktes hervor.27 Erst in der Vermittlung des Autors, der sich in solchen Zitaten bewußt auf Ovid bezieht und doch gleichzeitig von seinem antiken Vorbild abhebt, ist Präsenz zu erzeugen. Was Hessus vorführt, ist letzlich weder ironisch-artifizielles Spiel mit dem gebildeten Leser wie bei Ovid – dafür ist ihm der theologisch Inhalt der Briefe und ihr wiederholter Verweis auf die Bedeutung von Gottesliebe und christlicher Lebensführung zu ernst. Noch aber fügt sich seine Darstellung bruchlos in die Welt der Legende und Mirakelerzählung, denn Epilog und Verweise auf die Schreibtätigkeit betonen die literarische Brechung. Daß letzlich gerade der Anschluß an Ovids Methode nur im Rückgriff auf bekanntes, seinen Zeitgenossen aber zunehmend ideologisch suspektes Material zu haben war, gehört zu den Paradoxien des Helius Eobanus Hessus. Doch hat er wohl tatsächlich für seine Zeit geschaffen, was am Anfang dieses Beitrags als für eine Umbruchsphase charakteristisch berschrieben wurde: keinen ›Ovide moralise´‹, sondern ›Ovid metamorphosed‹.
27
Vgl. Gabriel H. Decuble, Die hagiographische Konvention. Zur Konstituierung der Heilgenlegende als literarische Gattung. Unter besonderer Berücksichtigung der Alexius-Legende, Konstanz 2002.
Graeme Dunphy
Melchior Goldast und Martin Opitz Humanistische Mittelalter-Rezeption um 1600
Im Jahre 1631 schreibt Melchior Goldast »von Haiminsfeld« einen kurzen Brief aus Frankfurt am Main an seinen jüngeren Zeitgenossen Martin Opitz »von Boberfeld«, in dem er dessen Komplimente erwidert. Schon seit langer Zeit bewundere er Opitz’ Geist. Er spricht von seinen und von Opitz’ laufenden Arbeiten, von seinen Plänen für seine berühmte Bibliothek, und am Schluß auch von seiner eigenen Festschrift, die ein ungenannter Freund für ihn herauszugeben beabsichtige – ob Opitz vielleicht einige Verse beisteuern wolle? Dieser vor kurzem entdeckte und einzige erhaltene Brief aus dem Goldast-OpitzSchriftwechsel bezeugt, daß der Respekt, den Opitz beispielsweise in seinem Annolied-Kommentar mehrfach vor Goldast äußerte, auf Gegenseitigkeit beruhte.1 Melchior Goldast (1578–1635), Schweizer Jurist und Altphilologe, hat einen Ehrenplatz in der Geschichte der Altgermanistik inne, hat er doch als erster mittelhochdeutsche Werke in einer Weise herausgegeben, in der wir heute wenigstens ansatzweise unsere modernen wissenschaftlichen Ansprüche erkennen. Seine germanistische Tätigkeit, die vor allem in einer Monographie von Anne Baade aufgearbeitet worden ist,2 war zwar im Umfang begrenzt, aber trotzdem von immenser Bedeutung. Als editio princeps gab er eine Reihe lateinischer und deutschsprachiger Texte des Mittelalters heraus. Seine 1604 erschienene Ausgabe der ›Parænetica vetera‹ (Teil 1; ein zweiter Teil ist nie zustande gekommen) enthält den ›Tirol‹ und die ›Winsbecke Gedichte‹, die er mit einem ausführlichen lateinischen Kommentar versehen hat.3 Fast ebenso wichtig, aber letztendlich 1
2
3
Klaus Conermann, Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beilagen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617–1650, Bd. III 1630–1650, Tübingen 2003. – Weder der geplante Band zu Goldasts Ehren noch der erbetene Beitrag von Opitz ist sonst belegt; vermutlich ist das Projekt nie realisiert worden. Anne A. Baade, Melchior Goldast von Haiminsfeld: Collector, Commentator and Editor, New York 1992. Auch Bernhard Hertenstein, Joachim von Watt (Vadianus), Bartholomäus Schobinger, Melchior Goldast: Die Beschäftigung mit dem Althochdeutschen von St. Gallen in Humanismus und Frühbarock, Berlin/New York 1975. Melchior Goldast, Paræneticorum veterum pars I. in qua producuntur Scriptores VIII [...] cum notis Melchioris Haiminsfeldi Goldasti ex bibliotheca et sumtibus Bartholomæi Schoberingi IC [...], Lindau 1604. Nachdruck des mittelhochdeutschen Teils: Manfred Zimmermann, Melchior Goldast von Haiminsfeld, Paraeneticorum
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Graeme Dunphy
nicht ganz so einflußreich sind seine ›Rerum Alamannicarum Scriptores‹, wo neben lateinischen auch mehrere althochdeutsche Werke zum ersten Mal gedruckt werden.4 Auf Denkmäler wie die Fuldaer Beichte oder die althochdeutschen Glossen zur Benediktiner-Regel – deren Autor Goldast fälschlicherweise Kero nennt – wurde durch diese Anthologie zum ersten Mal die Aufmerksamkeit eines wissenschaftlich interessierten Publikums gelenkt. Goldast hat teilweise einen sehr schlechten Ruf wegen seines eigenwilligen Umgangs mit den Handschriften, die er in der St. Galler Klosterbibliothek gefunden hat. Gerechtfertigt zumindest in seinen eigenen Augen durch die Feststellung, daß »die Münche studiren nit«, pflegte er – so ein Zeuge vor der 1606 einberufenen Untersuchungskommission – in der Klosterbibliothek vorgefundene Textzeugnisse einfach mitzunehmen: »wann er in einer liberey in eim buch ein blat, zwey ader mehr befunden, die für ine gewesen, habe er dieselben flugks herauß gerissen vnd in seine hossen [seine Strümpfe] gestossen«.5 Die auf diese Weise entwendeten Urkunden – gut 50 Stück, teilweise vom ältesten Pergament – fanden mit seiner restlichen Bibliothek ihren Weg nach Bremen und gelangten erst 1948 wieder in die Schweiz zurück. Doch seine Editionsarbeit stellt einen deutlichen Fortschritt in der wissenschaftlichen Methode dar und wurde von Zeitgenossen wie Opitz sehr geschätzt. Die Kluft zwischen Goldast und seinen Vorgängern hat schon 1975 Horst Brunner hervorgehoben:6 Die wenigen humanistischen Gelehrten, die vor Goldast schon alt- oder mittelhochdeutsche Texte herausgegeben hatten, etwa Flacius Illyricus, Merula oder Vulcanius, hatten die Texte lediglich abgedruckt, manchmal etwas willkürlich glossiert, aber nie so vollständig annotiert, wie Goldast das versuchte. Oft wirkt seine distanzierte, objektive Stimme bei der Diskussion von Formen und Gegenständen sehr modern, und wenn seine Ergebnisse gelegentlich fehlerhaft sind, so ist der Versuch einer systematischen Arbeitsweise doch deutlich zu spüren.
4
5 6
veterum pars I (1604), Göppingen 1980. Dieser Teil des Werks erschien auch in Johann Scherz/Johann Schilter, Thesaurus antiquitatum teutonicarum ecclesiasticarum, civilium, literariarum, Bd. 2, Ulm 1727. Doch weder Scherz/Schiltner noch Zimmermann drucken die Nachträge, die Goldast am Ende seines Bandes einfügt. Zum Titel des Werkes ist zu bemerken: Der Genitiv paræneticorum veterum läßt nicht erkennen, ob es hier um parænetici veteres (ermahnende Schriftsteller) oder um parænetica vetera (ermahnende Schriften) handelt. Ich neige dazu, hier ein Neutrum zu sehen, zumal Martin Opitz (Prolog zum ›Annolied‹, S. 42; siehe unten, Anm. 13) schreibt: »Parænetica eius nota nonnulla edidit Goldastus«, aber in der Fachliteratur – etwa bei Zimmermann – sieht man es auch als Maskulinum aufgefaßt. Zu ›Tirol‹ und ›Winsbecke‹ siehe Albert Leitzmann/Ingo Reifenstein, Winsbeckische Gedichte nebst Tirol und Fridebrant, Tübingen 31962 (ATB 9). Melchior Goldast, Rerum Alamannicarum scriptores aliquot vetusti [...] tribus tomis divisi cum glossis rerum et verborum difficilorum ex bibliotheca Melchioris Haiminsfeldii Goldasti [...], Frankfurt 1606. Auch nach den Seitenüberschriften ›Alamannicarum Antiquitatum‹ benannt. Vgl. Zimmermann [Anm. 3], Nachwort, S. 3–4. Horst Brunner, Die alten Meister, München 1975 (MTU 54), S. 38–42.
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Melchior Goldast und Martin Opitz
Goldasts ›Parænetica‹ sind eine Anthologie von moralisch-didaktischer Literatur des Mittelalters, die zunächst fünf lateinische Werke enthält, sodann auch die drei mittelhochdeutschen Eltern-Kind-Gespräche aus der Heidelberger Liederhandschrift: ›Tirol‹, ›Winsbecke‹ und ›Winsbeckin‹. Bekanntlich wurde die Manessische Handschrift eine Zeitlang in Goldasts Händen aufbewahrt, und es war sein Verdienst, die erste Auswahl herauszugeben. Am Ende der deutschen Texte druckt er einen lateinischen Kommentar, der zahlreiche weitere kurze Ausschnitte aus derselben Handschrift – meistens aus den Minneliedern – als illustrierende Vergleichspunkte enthält. Damit hatte die gelehrte Welt zum ersten Mal Zugang zu Werken der mittelhochdeutschen Blütezeit, was an und für sich eine wesentliche Anregung zu einer altgermanistischen Wissenschaft war. Genauso einflußreich war jedoch seine Art, mit diesen Texten umzugehen. Goldast greift ein zu besprechendes Lexem heraus, das als Lemma für eine Anmerkung dient. Die Kommentare erläutern dann entweder die Form des Wortes oder die dahinter stehenden historischen Begebenheiten häufig unter Anführung der verschiedensten Analogstellen; eine Vorgehensweise, die zu dieser Zeit noch ziemlich innovativ war. Bei differenzierter Betrachtung stellt man fest, daß Goldasts kommentierende Bemerkungen sich in Typen klassifizieren lassen, wobei man von vorneherein festhalten muß, daß die Besprechung eines einzelnen Stichwortes aus Bemerkungen verschiedener Arten bestehen kann. Will man eine Typologie aufstellen, so kann man mit einer zweifachen Unterscheidung zwischen sprachlichen und sachlichen Angaben beginnen. Die sprachlichen Kommentare zerfallen wiederum in die folgenden Untergruppen: 1. Sprachlich-glossierend. Hierbei handelt es sich um reine Übersetzungshilfen; dem exzerpierten Wort folgt ein lateinisches Äquivalent: Von vu´rsten ku´r) Principum electione
(zu ›Tirol‹ 13.4, S. 360)7
Gesigen) cadere, labi.
(zu ›Winsbecke‹ 31.4 [33.4], S. 430)
Eine solche Glosse kann allein stehen, oder kann in eine Besprechung eines anderen Typs weiterführen. Die Mehrzahl der Anmerkungen beginnen mit Glossen. Für diese Übersetzungen hat Goldast keine autoritative Quelle – ein mittelhochdeutsches Wörterbuch gab es nicht – und oft muß er die Bedeutungen aus dem Textzusammenhang erraten, was in der Regel erfolgreich ist. Im Fall gesigen ist es ihm mißlungen. Er erkennt zu Recht, daß deste wirs gesigen ›umso peinlicher scheitern‹ bedeuten muß, und vermutet eine wörtliche Übertragung wäre ›umso härter fallen‹; doch er rechnet nicht mit der mittelhochdeutschen Vorliebe für Litotes: das Verb ist gesigen ›siegen‹, nicht gesıˆgen ›sin7
Seitennummern beziehen sich auf Goldasts Druck von 1604. Strophenummern beim ›Winsbecke‹ folgen Goldast; abweichende Nummern in der Leitzmann-Ausgabe werden in eckigen Klammern gesetzt.
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ken, fallen‹, wie der Reim deutlich macht. Es ist jedoch erstaunlich, wie selten man an Goldasts Glossen etwas auszusetzen hat. 2. Sprachlich-erläuternd. Hier geht es um Orientierungshilfen. Sie entschlüsseln ein sprachliches Phänomen, damit der Leser den mittelhochdeutschen Text nicht nur an der aktuellen Stelle sondern allgemein besser verstehen kann. Swenne) Semel & istud seruandum, vocali vv. fere` præfigi litteram S. in his, quæ caussa exempli appono, particulis, swer, swan, swa, swie, swelh, swas, swo, swoden, & consimilibus. (zu ›Tirol‹ 6.2, S. 355)8
3. Sprachlich-interpretierend. Hierunter verstehe ich Kommentare, die auf eine Metapher aufmerksam machen oder die poetische Qualität der Dichtung würdigen. Interpretierende Glossen dieser Sorte sind bei Goldast eher selten. Den walt) siluam, h e. lanceam, sarissam
(zu ›Winsbecke‹ 20.5, S. 407)
Habedank) Prouerbialiter.
(zu ›Winsbecke‹ 48.8 [51.8], S. 424)
Im ersten Beispiel wäre die Glossierung von walt für den deutschen Leser völlig überflüssig, doch der Ausdruck den walt swenden erscheint Goldast etwas obskur; er versteht sehr wohl, daß es um die Tjost geht, und vermutet vollkommen richtig, daß walt metonymisch für ›Lanze‹ steht. Zu habedank bietet er keine Glossierung; es reicht ihm, das Sprichwörtliche zu kennzeichnen. 4. Sprachlich-erweiternd Kommentare dieses Typs nehmen die Besprechung eines Wortes als Ausgangspunkt für die sprachliche Erschließung verwandter Vokabeln, auch wenn diese im Text nicht vorkommen. Es kann sich um semantisch verwandte Begriffe handeln – unter recken bespricht er auch helden – oder um philologisch verwandte – unter gebergen bespricht er halsberg. Diese Ausführungen können relativ lang geraten und sind in der Regel sehr fundiert; hier ist deutlich, daß Goldast nicht nur bemüht ist, den Text zu entschlüsseln, sondern das sprachgeschichtliche Bewußtsein des Lesers insgesamt zu fördern. 5. Sprachlich-etymologisierend. Diese Kommentare versuchen, die Wortgeschichte zu erforschen. Von allen sprachlichen Bemerkungen sind es diejenigen mit dem höchsten wissenschaftlichen Anspruch, und eben deshalb führen sie am häufigsten zu einem fehlerhaften Schluß, denn Goldast stellt sich hier Fragen, die erst die moderne Indogermanistik ernsthaft beantworten kann. Solange es um die innerdeutsche Entwicklung geht, bewegt er sich noch auf sichererem Boden: Ors) equum, hodie ros, µεταθε σει τω r.
8
(zu ›Winsbecke‹ 21.4, S. 408)
Swenne) Auch hier ist einmal zu bemerken: In diesen Partikeln, die ich als Beispiele aufführe, wird der Doppelvokal 〈w〉 direkt mit dem Buchstaben 〈s〉 verbunden: swer, swan, swa, swie, swelh, swas, swo, swoden und ähnlichen.
Melchior Goldast und Martin Opitz
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Hier wird ors mit equum glossiert, die neuhouchdeutsche Form wird verglichen, und der Wandel vollkommen richtig als Metathese des 〈r〉 erklärt. Goldasts Feingefühl für die Art der Entwicklungen aus dem Mittelhochdeutschen ist beachtlich. Doch scheint es ihm fast noch wichtiger zu sein, auch Verwandtschaftsbeziehungen mit den alten Sprachen zu finden, was ja schließlich für die Altehrwürdigkeit des Deutschen bürgen würde. Also verbindet er beispielsweise vogt mit advocatus und fünf mit πε ντε, oder fälschlicherweise bar mit liber.9 Hier kann er nicht zwischen Lehnwörtern (vogt) und parallelen Entwicklungen aus dem Indogermanischen (fünf) unterscheiden; für ihn sind sie alle gleichermaßen Entlehnungen. Auch verfügte Goldast über ein paar Brocken Hebräisch, doch wo er diese in den Dienst seiner Philologie stellen will, ist er schwach. Ein Beispiel: Auf der Suche nach einer Etymologie von kurn ›sie wählten‹ findet er ein vermeintlich hebräisches *rhk [ka¯har], das er unpunktiert ˙ anführt und mit elegit glossiert.10 Da hat man die Konsonanten k und r, und man kann sich vorstellen, daß ein h im Inlaut verschwinden könnte; plausibel klingt es, wenn man die Möglichkeit einer Entlehnung aus dem Hebräischen einmal zugelassen hat. Leider heißt ›wählen‹ im Hebräischen jedoch nicht rhÅkÄ sondern rhÅbÄ [ba¯har]: Die Buchstaben Beth und Kaph sind für Anfänger zum ˙ Verwechseln ähnlich! Daß die Form kurn durch grammatischen Wechsel zu erklären ist, daß die historischen Kontakte, die eine Entlehnung aus dem Hebräischen ermöglicht hätten, in der germanischen Frühzeit gar nicht gegeben waren, das sind Einsichten, die im 17. Jahrhundert noch nicht möglich waren, aber eine Verwechslung von b und k hätte schon damals nicht passieren müssen. Wir sehen, daß Goldasts etymologische Versuche ihn in fremde Territorien führen, wo der Wert seiner Hypothesen sowohl durch die Grenzen der damaligen Erkenntnisse als auch – aber nur im Falle des Hebräischen – durch Mängel in seinen eigenen Sprachkenntnissen eingeschränkt wird. Aus heutiger Sicht dürfte man manche dieser Thesen als grundsätzlich mißlungen betrachten, doch stellen seine etymologischen Beobachtungen trotzdem oft eine beachtliche Leistung und einen wesentlichen Beitrag zum Projekt des Humanismus dar. Goldasts sachliche Bemerkungen kommentieren meistens kulturelle Begebenheiten; auch diese kann man präziser klassifizieren: 6. Sachlich-historisch. Hier denke ich an Besprechungen historischer Sachverhalte, die dem Zeitgenossen Goldasts nicht unbedingt vertraut sind, etwa des Turniers, von dem er erklärt, es diene dazu, adelige Gesinnung zu prüfen, wie das Feuer Gold.11 Diese Kommentare sind nicht besonders häufig. Typischerweise ergeben sie sich aus der sprachwissenschaftlichen Diskussion von semantischen Feldern. 9 10 11
Goldast, ›Parænetica‹ [Anm. 3], S. 358, 488 und 415. Ebd., S. 361. Ebd., S. 374.
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7. Sachlich-motivgeschichtlich. Hier sucht er Parallelen für literarische Motive oder spekuliert über deren Ursprung. Ein Beispiel wäre die Idee, daß es 72 Sprachen in der Welt gibt.12 Goldast notiert, daß manche Autoritäten dies auf die Völkerlisten in Gen. 10 zurückführen, doch glaubt er eher an eine Verbindung mit den Übersetzern der Septuaginta. 8. Sachlich-polemisch. Damit bezeichne ich die Passagen, in denen Goldast zu politischen, theologischen oder auch wissenschaftspolitischen Streitthemen Stellung nimmt. Sein schweizerischer Lokalpatriotismus ist überall dort zu spüren, wo die Helvetici sprachlich Relevantes liefern, vor allem wenn sie sich mit Helden oder Kelten verbinden lassen. Auch sein protestantischer Standpunkt kommt immer wieder zum Ausdruck, zum Beispiel in der allerersten Anmerkung, wo er eine Anspielung auf Daniel in ›Tirol‹ 1.2 mit einer kurzen Erörterung der Geschichten von Susanna und von Bel und dem Drachen kommentiert. Da diese Episoden in protestantischen Bibeln fehlen, will auch er sie verwerfen. Dieser Umriß einer Typologie von Goldasts Kommentarweise soll zeigen, wie vielseitig innovativ seine Untersuchungen sind. Die alten Paraenetiker hat er nicht nur veröffentlicht, sondern für seine Zeitgenossen weitgehend erschlossen. Wie einflußreich seine Methode war, wird klar, wenn wir jetzt im Hinblick auf diese Typologie einen Vergleich mit seinem schlesischen Korrespondenten anstellen. Martin Opitz, der aufgrund seiner Reform der volkssprachigen Poetologie als Vater der neueren deutschen Literatur gilt, sah in der mittelalterlichen Poesie einen Beleg für das Prinzip, daß die deutsche Sprache eine würdige Trägerin einer deutschen Nationalliteratur sein könnte. Bei seinen Bemühungen um die neue Dichtkunst schaute er auf die ältere vor allem durch die Augen Goldasts zurück. Der Einfluß der ›Parænetica‹ auf Opitz’ ›Aristarchus‹ und ›Buch von der Deutschen Poeterey‹ sowie auf seine Erläuterungen zu den eigenen Gedichten ›Zlatna‹ und ›Lobgesang Christi‹ ist von der modernen Barockforschung ausführlich thematisiert worden. In den letzten Monaten seines Lebens wandte sich Opitz einem Projekt zu, das auf den ersten Blick mit seinem sonstigen Lebenswerk wenig gemeinsam zu haben scheint und doch ein integraler Teil davon ist: er edierte und kommentierte das frühmittelhochdeutsche ›Annolied‹.13 Sein lateinischer Kommentar ist eine beachtenswert vorsichtige philolo12 13
Ebd., S. 369. Martin Opitz, Incerti Poetae Teutonici Rhythmus de Sancto Annone Colon. Archiepiscopo ante D aut ci[r]citer annos conscriptus, Danzig 1639. Kommentierte Ausgabe mit Übersetzung: Graeme Dunphy, Opitz’s Anno: The Middle High German Annolied in the 1639 Edition of Martin Opitz, Scottish Papers in Germanic Studies 11 (Glasgow: SPIGS, 2003). Literatur: Frederick R. Whitesell, Martin Opitz’ Edition of the Annolied, Journal of English and Germanic Philology 43 (1944) 16–22; Ernst
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gische Leistung. Und hier, wo er sich direkt auf Goldasts Terrain bewegt, schöpft er auch am ausgiebigsten aus der Editionsarbeit seines Vorbildes. Daß Goldast Opitz’ Lehrmeister war, gibt dieser schon in seinem Kommentar zum dritten Vers des ›Annoliedes‹ zu erkennen: von »unserem verstorbenen Goldast«, spricht er, »dem dieses Buch und das gesamte deutsche Volk nicht wenig zu verdanken haben.« Diese Schuld zeigt sich am offensichtlichsten im Material, das er aus dessen Editionen übernehmen kann. Der Name Goldast erscheint nicht weniger als 27 Mal in Opitz’ Auseinandersetzung mit dem ›Annolied‹, am häufigsten in Zusammenhang mit einem alt- oder mittelhochdeutschen Text, den er aus dieser Quelle übernimmt, doch die eigentliche Anzahl der Entlehnungen ist viel höher. Die Dichte der angeführten Verse wird mitunter so groß, daß ein gesonderter Hinweis auf Goldast als Quelle lästig wäre, doch ein allgemeiner Vermerk im Prolog deckt diese Fälle ab. Aus Goldasts ›Scriptores‹ zitiert er althochdeutsche Werke, die ›Fuldaer Beichte‹, die Glossen zur Benediktiner-Regel, sowie das St. Galler Namensverzeichnis. Doch viel häufiger zitiert er aus den ›Parænetica‹, sowohl aus den eigentlichen paraenetischen Texten ›Tirol‹ und den ›Winsbeckischen Gedichten‹, als auch aus den Heldenbuch- und Minnesangexzerpten, die in Goldasts ›Parænetica-Kommentar‹ eine so zentrale Rolle spielen. Diese Zitate werden bei Opitz auf ähnliche Weise eingesetzt wie bei Goldast, indem er die Diskussion eines Lexems durch weitere Belegstellen ergänzt; und nicht selten ist sogar das besprochene Lemma in beiden Kommentarwerken das gleiche.14 So wichtig waren diese Textzeugnisse für Opitz, insbesondere diejenigen aus den ›Parænetica‹, daß er sogar versuchte, die Veröffentlichung weiterer anzuregen. In seiner Anmerkung zu ›Annolied‹ 17.5 berichtet Opitz von einem heute verschollenen Briefwechsel, in dem er Goldast mehrfach um weitere Verse von Heinrich von Breslau gebeten hatte. Goldast habe stets so vage geantwortet, daß Opitz zu dem Schluß kommen mußte, Goldasts Andeutungen, diese unter seinen Papieren zu haben, seien ein Bluff. Vermutlich hatte Goldast die Gedichte Heinrichs in der Manessischen Handschrift gesehen, und wollte seine Autorität als Minnesangkenner nicht durch das Geständnis kompromittieren, daß er keinen Zugang mehr zur Handschrift hatte. In diesen wissenschaftspolitischen Manövern dürfen wir ein Zeugnis dafür sehen, wie sehr die gelehrte Welt zu dieser Zeit für ihre Primärstoffe noch auf Goldast angewiesen war.
14
Hellgardt, Die Rezeption des Annoliedes bei Martin Opitz, in: Peter Wapnewski, Mittelalter-Rezeption: Ein Symposion, Stuttgart 1986, S. 60–79; Graeme Dunphy, Martin Opitz und die mittelalterlichen Alexander-Geschichten: Wissenschaft und Polemik in der editio princeps des Annoliedes, Daphnis 31 (2002), S. 229–316. Interessanterweise erscheint auch dieses kommentierende Werk in Scherz & Schilters ›Thesaurus antiquitatum teutonicarum‹, allerdings in Bd. 1: Goldasts und Opitz’ Kommentare wurden offenbar im 18. Jahrhundert zusammen rezipiert. Man vergleiche: wicht unter ›Winsbecke‹ 5.1, ›Annolied‹ 20.12; vingerlıˆn unter ›Winsbecke‹ 9.2 und ›Annolied‹ 33.16; vogt unter ›Tirol‹ 13.4 und ›Annolied‹ 46.7.
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Opitz stand jedoch nicht nur wegen der von Goldast herausgegebenen Verse in dessen Schuld. Auch die Art des Kommentierens hat er von Goldast gelernt. Schon in der Wortwahl der Titelblätter kann man Anklänge erkennen, oder sogar im Schriftsatz: Jede Anmerkung beginnt mit einem zu behandelnden Stichwort aus dem Text, das kursiv und von links eingerückt steht und von der folgenden Diskussion durch eine einzelne Klammer getrennt wird. Zwar weicht Opitz insofern von Goldast ab, als er seine Bemerkungen zu jedem der 49 Abschnitte des Annoliedes direkt nach dem entsprechenden Abschnitt druckt, anstatt sie hinten am Ende des ganzen Werkes anzuhängen, doch der Form nach erinnert schon das Layout an die ›Parænetica‹. Opitz’ Prolog übernimmt eine Reihe von Motiven aus Goldasts Widmungsbrief an Schellenberg: Die alten Germanen waren den Römern gleichgestellt; ihre Lieder glichen denjenigen der Salii, der Priester des Mars; ihre poetischen Begabungen wurden am Hof Karls des Großen gepflegt; und dichterische Wettbewerbe waren genauso ein Spielplatz ritterlicher Gesinnung wie die Turniere in den Schranken.15 Die Typologie, die wir für Goldasts Kommentare aufgestellt haben, gilt weitgehend auch für Opitz. Im ›Annolied‹-Kommentar stehen die sprachlichen Bemerkungen im Vordergrund, die sachlichen sind weniger stark vertreten als bei den ›Parænetica‹. Einfache glossierende Anmerkungen bilden die Mehrzahl. Wie bei Goldast beginnen viele Besprechungen mit einer Glosse, im Gegensatz zu Goldast findet man hier auch zahlreiche Lemmata, die ohne weitere Bemerkungen nur glossiert sind. Bei dieser Aufwertung der glossierenden Anmerkung muß man daran denken, daß das ›Annolied‹ ein ganzes Jahrhundert älter ist als die Lyrik der Blütezeit und sprachlich entsprechend schwieriger. Neu bei Opitz ist die Tatsache, daß manche Glossen entweder zweisprachig oder ganz in deutscher Sprache gehalten sind, wo Goldast nur Latein benutzt. Möglicherweise ist sich Opitz der Ironie bewußt, daß er sein Buch schreibt, um Deutsch als Literatursprache zu fördern; doch weil er den Gelehrten spielt, muß er das Plädoyer in Latein schreiben. Die etymologischen Anmerkungen sind im Allgemeinen weniger abenteuerlich als bei Goldast. Schon Opitz’ Prolog ermahnt hier zur Vorsicht, obwohl Spekulationen über die Geschichte eines Wortes ihn offenbar genauso interessieren wie seinen Vorgänger. Er neigt eher zu Vergleichen mit Dänisch, Englisch oder Niederländisch als mit Latein oder Griechisch, und Hebräisch liegt außerhalb seines Horizontes. Folglich ist der Anteil von fehlerhaften Etymologien kleiner. Viel stärker ausgeprägt als bei Goldast ist das Bewußtsein von den germanischen Sprachen als einer Sippe, und er zieht deshalb auch gotische, altenglische und altfränkische Glossarien hinzu. So kommt Opitz in diesem Bereich der Methode der modernen Philologie einen wesentlichen Schritt näher als Goldast. 15
Vgl. Opitz, ›Annolied‹ [Anm. 13], S. 42–44; Goldast, ›Parænetica‹ [Anm. 3], S. 259– 263.
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Die weiteren Typen von sprachlichen und sachlichen Anmerkungen, die wir bei Goldast beobachteten, sind ebenfalls bei Opitz vorhanden und brauchen hier nicht im Einzelnen belegt zu werden. Unter seinen »sachlich-historischen« Bemerkungen sind Daten über die im ›Annolied‹ erwähnten Städte, über vermeintlich historische Personen (Francus, Caesar, den heiligen Moritz) und über die Biographie von Anno selbst: Diese Anmerkungen sind also stärker mit dem Handlungsverlauf verknüpft als es bei den Paraenetikern möglich wäre; schließlich sind ›Tirol‹ und die Winsbeckschen Gedichte keine narrativen Texte. Motivgeschichtliche Kommentare überwiegen bei den Alexander-Erzählungen, wo Opitz zufälligerweise kontrastierende Fassungen desselben Stoffes in seiner Bibliothek hat. Unter der Rubrik »Polemik« ist bei Opitz nichts im konfessionellen Bereich zu verzeichnen, aber sehr wohl ein schlesischer Lokalpatriotismus, der mit dem Goldasts um die Wette kämpfen könnte. Außerdem erlaubt er sich gelegentlich eine persönliche Spitze gegen Kritiker seiner Dichtung. Daß Opitz die Methodik des Kommentierens von Goldast gelernt hat, kann man also eindeutig belegen. Doch seine Abhängigkeit ist stellenweise noch frappanter, nämlich überall dort, wo er nicht nur die Art, sondern auch den Inhalt – vereinzelt sogar den exakten Wortlaut – von Goldasts Anmerkung übernimmt. Anders als beim Zitieren von Primärtexten geht es hier um Goldasts eigenes Gedankengut. Ein sehr klares Beispiel ist Opitz’ »sprachlich-erweiternde« Diskussion von halspergin in ›Annolied ‹ 8.9. Bei Goldasts Anmerkung zu gebergen in ›Winsbecke‹ 41.9 findet er Stoff, der sich für seinen eigenen Kommentar eignet. Gebergen niht den lib) seruare a periculo. ita Saxones hodie; Se sint geborgen, seruati sunt a periculo. inde halsperge nomen verissime` eduxit Freherus, quæ Franco-Gallis hodie garde bras. A veteri Psalmor. interprete geberge exponuntur cubilia, & alibi legerstede. recte`: & sic hereberga vocatur castrorum statio, vbi exercitus munitur & conseruatur ab hostium iniurijs. hodie pro omni diversorij loco, vt Gallis quoq. & Italis, in quo peregrinantes, ab iniuria tempestatum ac latronum defenduntur.16 (Goldast zu ›Winsbecke‹ 41.9 [43.9], S. 423) halspergin] Auctor de gestis Theoderici Bernensis: Da die zwen chuone man Zü dem streit gesprungen, Ir halsperg erklungen.
16
Gebergen niht den lib) Aus Gefahr retten. So die Sachsen noch heute: Se sint geborgen, ›sie sind aus Gefahr gerettet‹. Daher bezieht Freher korrekterweise das Substantiv halsperge, analog zu Neufranzösisch garde bras. In einem alten Psalmenkommentar bezeichnet geberge ›Ruhestätten‹, und anderswo ›Kriegslager‹. Richtigerweise! Und ebenso bedeutet hereberga eine Festung, wo ein Heer sich verschanzt und vor den Gewalttaten der Feinde sicher ist. Heute für jede Zuflucht, auch bei den Franzosen [auberge] und den Italienern [albergo], wo Reisende vor dem Wüten des Sturmes und den Räubern geschützt werden.
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Et iterum:
Blodleins Rekhen die waren allgar, Mit tausent halsperg huoben si sich dar. Vbi Halsperg idem esse qnod arcus existimavit Lazius. Sed ego audiendum illos censeo, qui loricas sic dici asserunt, ac µετονυµικωÄ ς ipsos loricatos & cataphractos in expeditionem ducendos. Inter hos Marq. Freherus Glossario ad Script. Rer. Germanicar. & Spelmannus ad particulam Hauber. ëΕ τυµον vocabuli est ab hals & bergen. Winsbeke: Swer sich vor schanden wil befriden Der mag gebergen niht den lib, er müs enblanden an den liden. Et vulgo dicimus: Er ist geborgen, servatus est. Sic hereberga, castorum statio, vbi exercitus ab hostium iniuriis conservatur. Hodie pro omni diversorii loco, vt Gallis quoque & Italis, in quo peregrinantes ab iniuria tempestatum ac latronum defenduntur; vt animadvertit Goldastus.17 (Opitz zu ›Annolied‹ 8.9, S. 70, 72)18
Goldast greift aus der Strophe gebergen heraus, gibt ein zeitgenössisches Beispiel einer semantisch parallelen Wendung (geborgen sein), die er als sächsisch charakterisiert, da sie offenbar nicht zu seinem eigenen Sprachgebrauch gehört, und dann bespricht er unter Berufung auf Marquard Freher – vielleicht auf dessen ›Carolus Crassus‹19 – zwei Komposita mit der Wurzel bergen, nämlich halsberg und herberge. Opitz strukturiert seine Anmerkung genau umgekehrt. Sein Ausgangspunkt ist das Lexem halsberg aus dem ›Annolied‹-Vers, das er als erstes unabhängig von Goldast bespricht, indem er zwei Passagen aus dem ›Heldenbuch‹ zitiert, die bei Goldast nicht vorkommen, und eine falsche Deutung von Wolfgang Lazius erwähnt. Um Lazius zu widerlegen, beruft er sich nach Goldasts Vorbild auf Freher, den er jedoch selbst nachschlägt und aus 17
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halspergin] Autor des Lebens Dietrichs von Bern: »Als die zwei tapferen Männer / sich in den Kampf stürzten, / klirrten ihre Halsberge.« und ebenfalls: »Bloedelins Krieger waren allesamt gerüstet, / mit tausend Halsbergen fuhren sie auf.« Lazius glaubte, Halsperg bedeute ›Bogen‹. Aber ich für mein Teil glaube, wir sollen auf diejenigen hören, die behaupten, es seien Brustpanzer, und metonymisch diejenigen, die gepanzert und geharnischt in den Krieg geführt werden. Siehe dazu Marquard Freher, Glossarium zu den ›Germanischen Geschichtsschreibern‹, und Spelman unter dem Stichwort Hauber. Die Etymologie dieses Wortes geht auf hals und bergen zurück. Winsbeke: »Wer sich vor Schande bewahren will, / darf seinen Leib nicht schützen (gebergen) / sondern er muß das Leiden annehmen.« Und in der Umgangssprache sagen wir: Er ist geborgen, ›er ist gerettet‹. So hereberga, eine Festung, wo ein Heer vor den Gewalttaten der Feinde sicher ist. Heute für jede Zuflucht, auch bei den Franzosen und den Italienern, wo Reisende vor dem Wüten des Sturmes und den Räubern geschützt werden; wie Goldast bemerkt. Die Seitennummern beziehen sich auf die SPIGS-Ausgabe von Opitz. Druckfehler sind hier diplomatisch wiedergegeben: qnod für quod und castorum für castrorum fallen auf das Konto des Danziger Verlags, aber µετονυµικωÄ ς für µετωνυµικωÄ ς geht auf Opitz’ Quelle zurück: schon bei Freher steht die verkehrte Form – siehe unten Anm. 20. Marquard Freher, ›De feudis constitutio Caroli III imp. Crassi dicti‹, Hanau 1599. Das Werk habe ich nicht einsehen können, vgl. jedoch die in Anm. 20 zitierte FreherPassage.
Melchior Goldast und Martin Opitz
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einer anderen Passage zitiert.20 Zur mittelenglischen Form verweist er auf Henry Spelman.21 Dann schlägt er mit einem Hinweis auf die Etymologie die Brükke zu bergen, und zitiert genau die ›Winsbecke‹-Verse, welche Goldast kommentiert. Daran anschließend übernimmt er die frühneuhochdeutsche Wendung geborgen sein, doch anstatt von den Sachsen zu sprechen, benutzt er die erste Person, » w i r sagen«, da er als Schlesier diese Wendung nicht nur vom Hörensagen kennt. Von bergen gelingt ihm dann der Sprung zu herberge, und er übernimmt Goldasts Ausführungen dazu – mehr als 30 Wörter – beinahe unverändert. Die pro forma eingefügte Quellenangabe vt animadvertit Goldastus täuscht über das eigentliche Ausmaß der Benutzung dieser Quelle hinweg. Eine solche Übernahme enzyklopädischer Informationen, etymologischer Spekulationen und Meinungen zu kontroversen Themen beobachtet man an vielen Stellen. Wo beide Kommentatoren das Wort vogt besprechen, bedient sich Opitz einer Etymologie, eines Reinmar-Zitates und eines reichspolitischen Hinweises, wofür er sich beim »Scholiasten« Goldast dreimal bedankt. e
Romsch vogt) Romanus Rex vel Imperator. [...] Reinmar von Zvveter; Das riche dast des Keisers niht, Er ist sin pfleger vnd sin voget. [...] Est autem voget Latinorum aduocatus, verbo per apheresin corrupto, quasi vocat: Aduocatus, administrator, gubernator, curator [...].22 (Goldast zu ›Tirol‹ 13.4, S. 358, 60) vogit] [...] Vogit, curator, protector, herus; quasi vocat, ut vult Goldastus, ab Advocatus. Reinmar von Zweter, citante Goldasto. Das riche dast des Keisers niht, Er ist sin pfleger vnd sin voget. Römsch vogt etiam Imperator dicitur a` Tirole, n. XIII. ubi vide laudatum iam Scholiasten.23 (Opitz zu ›Annolied‹ 46.7, S. 150)
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Marquard Freher, ›Germanicarum Rerum Scriptores aliquot insignes, hactenus incogniti‹, Frankfurt 1600. Das von Opitz konsultierte Glossarium steht im ersten Band in den unnummerierten Seiten am Anfang. Der Eintrag, der eindeutig Opitz’ Quelle ist, der jedoch die von Goldast zitierten Daten nicht bietet, lautet: »Halspergæ, lorice, thoraces, µετονυµικωÄ ς pro ipsis loricatis & cataphractis in expeditionem ducendos. Vide quae notauimus ad consitutionenem Caroli Crassi Imper. de Feud.« Henry Spelman, ›Archaelolgus‹, London 1626. Römsch vogt) Römischer König oder Kaiser. [...] Reinmar von Zweter: »Das Reich gehört nicht dem Kaiser, / er ist sein Vormund und sein Schutzherr«. [...] Aber voget ist das lateinische advocatus, weil er gleichsam ›ruft‹ (vocat), wobei das Wort durch eine Aphärese korrumpiert wurde: Advocatus, ›Verwalter, Leiter, Vormund‹ [...]. vogit] [...] Vogit, Vormund, Schutzherr, Hausherr; von Advocatus, so meint Goldast, weil er gleichsam ›ruft‹ (vocat). Reinmar von Zweter, nach Goldast zitiert: »Das Reich gehört nicht dem Kaiser, / er ist sein Vormund und sein Schutzherr«. Römsch vogt nennt auch ›Tirol‹ den Kaiser in Strophe 13. Siehe dazu den bereits zitierten Gelehrten [Goldast].
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Wo in seinem Text eine Erwähnung der 72 Sprachen der Welt steht, kann Opitz aus Goldast eine schön formulierte motivgeschichtliche These schöpfen. Zwo und sibenzeg sprache) [...] Non nupera est opinio, in orbe septuaginta duas linguas esse. cui sunt ex Moyse fundamentum fulciant Genes. cap x. At mihi potior videtur origo a LXXII. interpretibus esse, per quos existimatum fuit verbum Dei in vniversum terrarum orbem emanasse. Quod quidem vt verum est, ita falso` credideˆre singularum gentium linguis tradidisse, qui Græcæ tantu`m.24 (Goldast zu ›Tirol‹ 20.2, S. 269) In zungen sibenzog] [...] Hanc opinionem de septuaginta linguis inde esse, quod per LXXII. interpretes existimatum fuit verbum Dei in orbem totum emanasse, non male` coniicit Goldastus ad hunc Tirolis locum.25 (Opitz zu ›Annolied‹ 10.13, S. 78)
Auch zur Etymologie von sahs und Sachsen hat Goldast Interessantes zu berichten. Scacher) [...] Ostersachs, sica Pascalis, quo festis diebus cingebantur. Idem Göli; Bint das ostersachs zer segen siten. Scharsachs, nouacula. Glossæ in Dialogorum Gregorij; Fledomum, blodsaex. [...] Nomen hodie vni Saxones vindicant. vnde & Saxones dictos vult VVitichindus. [...]26 (Goldast zu ›Winsbecke‹ 63.9 [66.9], S. 430) Daz si michili mezzir hiezin sahs] [...] Inde ostersachs, sica Paschalis, quo festis diebus cingebantur. Göli, citante Goldasto:
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Zwo und sibenzeg sprache) [...] Die Vorstellung, daß es 72 Sprachen in der Welt gibt, ist nicht neu. Genesis 10 legt nahe, daß sie von Mose stammt. Ich aber glaube eher, sie kommt von den 72 Übersetzern, durch die, wie man annimmt, das Wort Gottes in allen Ländern der Welt verbreitet wurde. Dies ist zwar zutreffend, doch hat man fälschlich angenommen, sie hätten es in die Sprachen der einzelnen Völker übertragen, die es doch nur ins Griechische übertrugen. In zungen sibenzog] [...] In seinem Kommentar zu dieser Stelle im ›Tirol‹ vermutet Goldast zu Recht, daß diese Vorstellung von den siebzig Sprachen daher komme, daß durch 72 Übersetzer das Wort Gottes, wie man annimmt, in die ganze Welt verbreitet wurde. Scacher) [...] Ostersachs, ›Osterdolch‹, der ihnen an den Festtagen umgeschnallt wurde. Ebenso Göli: »Bindet den Osterdolch zum heiligen Ritus um.« [So ungefähr muß Goldast den Vers verstanden haben. In der Handschrift steht nicht segen sondern le¯gen; doch die Tilde berührt das 〈l〉, das dadurch fast wie ein langes 〈s〉 aussieht. Zu Ostersachs bemerkt Bartsch: ›Österreichisches Schwert‹; Schiendorfer fügt hinzu: ›oder vielleicht eher Osterschwert, Sonntagsschwert?‹ Der Vers steht im Kontext eines osterspil (ein Turnier zu Ostern?),in dem Fridebolt aufgefordet wird, den huot aufzusetzen und das ostersahs umzubinden – und zwar zur lengen (= linken) sıˆten. Siehe dazu Karl Bartsch, ›Die Schweizer Minnesänger‹, Frauenfeld: Huber, 1886, S. 124; Max Schiendorfer, ›Die Schweizer Minnesänger‹, Tübingen: Niemeyer, 1990, S. 225; Michael Bärmann, ›Herr Göli. Neidhart-Rezeption in Basel‹, Berlin/NY: de Gruyter, 1995, S. 209.] Scharsachs, ›Rasiermesser‹. Glossen zu den Dialogen Gregors: blodsaex ›Lanzette‹ [...] Diesen Namen beanspruchen heute allein die Sachsen; und eben deshalb heißen sie Saxones, meint Widukind. [...]
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Bint das ostersachs zer segen siten. Glossæ Lipsianæ: scarsahs; novacula. Glossæ aliæ: Flebotomum, blodsachs. Ab his autem cultris Saxonas nomen accepisse, & Witikindus lib I. asserit [...].27 (Opitz zu ›Annolied‹ 21.18, S. 104)
Auch hier merkt man übrigens, daß Opitz nicht blindlings zitiert, sondern auch selbst recherchiert, denn die Buchnummer aus der ›Sächsichen Geschichte‹ von Widukind hat er nicht von Goldast, sondern wohl aus Maiboms Ausgabe von 1621. Auch die Erwähnung von Justus Lipsius, dessen altfränkische Psalmglossen 1602 im Druck erschienen, geht auf eigene Nachforschungen von Opitz zurück: Für scharsachs hat Goldasts Text nämlich keine Quellenangabe. Nicht anders ist es, wenn Opitz meint, horn als ›hornige Haut‹ im Sinne der Siegfried-Tradition deuten zu müssen. Hier bietet Goldast eine passende Heldenbuch-Passage und einige Bemerkungen zu Siegfried, die Opitz wieder wörtlich übernimmt. Da hurt gegen hurte dringet) [...] de VVolfdieterich; Den schilt von horen veste o Den hub er do fu´r sich. [...] Horne, sic apud Ebræos cornu, scutum ex neruis: qualia in armamentarijs hinc e inde ostentantur. Nomen inde Sigefrido Gibichi Vangionum Regis genero, Hornin Su´frid; non quia corneus erat (quæ fabula nihilo verior illaˆ Græcorum de Achille) veru`m quo`d arma gestaret ex neruis contexta.28 (Goldast zu ›Tirol‹ 30.6, S. 377) Herehorn] Scuta ex nervis. Heldenbuch de Wolf Dieterich: Den schilt von horen veste Den hüb er do fu´r sich. Nomen inde Sigefrido Gibichi Vangionum Regis genero, Hörnin Su´frid; non quia corneus erat, verum quod arma gestaret ex nervis contexta; vt notavit Goldastus.29 (Opitz zu ›Annolied‹ 27.3, S. 116)
Allerdings ist Opitz hier ein Fehler unterlaufen. Eigentlich beschreibt der ›Annolied‹-Dichter, wie bei der Schlacht zwischen Caesar und Pompeius herehorn 27
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Daz si michili mezzir hiezin sahs] [...] Daher ostersachs, ›Osterdolch‹, der ihnen an den Festtagen umgeschnallt wurde. Göli, zitiert nach Goldast: »Bindet den Osterdolch zum heiligen Ritus um.« Lipsius’ Glossen: scharsachs, ›Rasiermesser‹. Andere Glossen: blodsachs, ›Lanzette‹. Von diesem Schlachtmesser erhielten die Sachsen ihren Namen, wie auch Widukind im ersten Buch behauptet. [...] Da hurt gegen hurte dringet) [...] Wolfdieterich: »Den harten hörnernen Schild / nahm er auf.« [...] Horne, wie auch bei den Hebräern cornu, bedeutet ›Schild aus Leder‹. Dergleichen sieht man noch heute im Arsenal. Daher der Name von Siegfried dem Schwager des Königs Gibich von Worms, Hörnin Su´frid, nicht weil er hornig war – welche Sage genausowenig Wahrheit enthält wie die griechische von Achill –, sondern weil er Rüstung aus geflochtenem Leder trug. Herehorn] ›Schilde aus Leder‹. Heldenbuch von Wolfdieterich: »Den harten hörnernen Schild / nahm er auf.« Daher der Name von Siegfried dem Schwager des Königs Gibich von Worms, Hörnin Su´frid, nicht weil er hornig war, sondern weil er eine Rüstung aus geflochtenem Leder trug, wie Goldast notiert.
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duzzin, also ›Kriegsdrommeten tönten‹ (so Nellmann),30 doch Opitz denkt an lederne Schilde, verleitet vielleicht durch seine allzu bereitwillige Nachfolge Goldasti. Gelegentlich kann Opitz aber bei einer Etymologie seinen Meister eines Besseren belehren. Bei seiner allerersten Entlehnung aus den ›Parænetica‹, wo er Goldast so sehr lobt, geht es um den germanischen Helden: recken) [...] sic Celtæ. cuius nominis par eademq. ignorantia, veteribus Cheld, aut, adspiratione duplicataˆ, Hheld, qui nobis nunc Held. Sic puto Heluetios dictos quasi Celtarum cognatos.31 (Goldast zu ›Tirol‹ 18.7, S. 366) helide] Helden. Cheld, siue aspiratione duplicata Hheld, idem fuisse veteribus quod nobis Held, asserere conatur is cui hæ literæ ac Germanum nomen omne haud parum debent, Melch. Goldastus olim noster. Quamuis credi possit, quod a` Græcis κε ληται, seu per syncopen κε λται dicti fuerint, quasi desultores, ob equitandi peritiam. Sed repugnant hæc Cæsaris verba initio lib. I. de bello Gallico: Gallia est omnis diuisa in partes tres, quarum vnam incolunt Belgæ; aliam Aquitani; tertiam qui ipsorum lingua Celtæ, nostra Galli appellantur. 32 (Opitz zu ›Annolied‹ 1.3, S. 46)
Von Goldast übernimmt Opitz zuerst eine Bemerkung zur Schreibweise, dann eine hypothetische etymologische Verbindung zu den Kelten, wobei Goldasts Anspielung auf die heldenhaften Vorfahren der Schweizer für ihn weniger interessant ist. In diesem Fall scheint er jedoch Goldasts Meinung nicht so ganz zu teilen. Man könnte, schreibt er, zwar erwägen, ob held aus dem Griechischen herzuleiten wäre; in diesem Fall kann er Goldast dahingehend ergänzen, daß die ursprüngliche Bedeutung sich aus ›Akrobaten zu Pferde‹ erklären muß, von κε ληται, was auf κε λης, ›Rennpferd‹ (Grundbedeutung ›Renner‹, auch ›schnelles Schiff‹), zurückgeht. Hier kommt er einer noch heute gültigen wissenschaftlichen Erkenntnis sehr nahe, denn die moderne Indogermanistik neigt in der Tat zur Ansicht, daß κε λης mit Held urverwandt sein könnte, wenn auch durch eine ganz andere semantische und lautliche Entwicklung, als Opitz sich vorstellt.33 Damit hat er helide sehr klug annotiert, aber die Verbindung zu den 30 31
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Eberhard Nellmann, ›Das Annolied‹, Stuttgart: Reclam, 1975. recken) [...] So auch die Kelten. Dieselbe Unkenntnis von deren Namen [welche auch den Namen der Helvetier korrumpierte] führte bei den Alten zur Form Cheld, oder mit verdoppelter Aspiration Hheld, was bei uns nun Held heißt. Ich glaube, die Helvetier heißen so, weil sie mit den Kelten verwandt sind. helide] ›Helden‹. Unser verstorbener Goldast, dem dieses Buch und das gesamte deutsche Volk nicht wenig zu verdanken haben, traute sich zu behaupten, daß Cheld, oder mit verdoppelter Aspiration Hheld, für die Alten das war, was bei uns Held heißt. Dabei könnte man es eventuell vom griechischen κε ληται, oder durch Synkope κε λται, herleiten, nämlich ›Pferdespringer‹, wegen ihrer Geschicklichkeit zu Pferd. Doch dem widersprechen Caesars Worte am Anfang des ersten Buches des ›Bellum Gallicum‹: »Das Gesamtgebiet Galliens zerfällt in drei Teile: in dem einen leben die Belger, im zweiten die Aquitaner und im dritten die Menschen, die in der Landessprache Kelten heißen, bei uns jedoch Gallier.« Vgl. Rosemarie Lühr, ›Die Gedichte des Skalden Egill‹, Dettelbach: Röll, 2000, S. 265.
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Kelten stört ihn offenbar. Zuerst versucht er diese herzustellen, indem er das spätgriechische κε λται – eine vielleicht als Rückentlehnung aus dem Lateinischen entstandene Variante zu κελτοι – als kontrahierte Form von κε ληται darstellt, doch dann setzt er dagegen aus, daß Caesar im berühmten Eingangssatz zum ›Bellum Gallicum‹ die Bezeichnung Celtae als ureigene keltische Wortform kennzeichnet, die also nicht aus dem Griechischen kommen kann. Dieser Einwand ist, wie wir wissen, nicht ganz stichhaltig, denn Celtae ist tatsächlich in erster Linie eine Entlehnung von κελτοι , und höchstens indirekt eine keltische Form. Doch Opitz’ instinktive Bedenken sind berechtigt: Eine Herleitung der κε λται von κε λης ist ebenso fehlerhaft wie Goldasts schlichtere Verknüpfung von Celtae mit Held. In allgemeinen, »sprachlich-erläuternden« Anmerkungen, das heißt denjenigen, die die mittelhochdeutsche Sprache als solche beschreiben, anstatt nur die jeweilige Stelle zu entschlüsseln, folgt er Goldast oft sehr genau. Gleich am Anfang von beiden Werken ist ein Vermerk bezüglich der Schreibweise des »germanischen 〈h〉«: Duht) Maiores nostri τοÁ c. non iungebant aspirationi, ideo` scribere & pronuntiare solebant, iht, tohter, niht, wiht, sieht, vorht, Zuht, doh, maht, reht, giht, Zeh, & similia vocum, quas in libris antiquis obseruamus.34 (Goldast zu ›Tirol‹ 1.3, S. 354) vuhten] [...] Veteres autem τοÁ c. adspirationi ut plurimum non iunxisse, ideoque rehte, rihtere, girihtis, zuht, nahtis, maht, vorht, ac talia scripsisse ita ac pronunciasse, quod vbique vel in hoc Poemate occurrit, semel notandum est.35 (Opitz zu ›Annolied‹ 1.3, S. 46)
Goldast will gleich bei der ersten Strophe des ›Tirol‹ die mittelhochdeutsche Schreibkonvention nicht nur im Bezug auf diese Strophe sondern mit Blick auf das Wiederkehren des Phänomens im ganzen Gedicht erklären, und Opitz macht es ihm mit beinahe denselben Worten nach. Kurz darauf haben beide Werke eine ähnliche Erklärung der Kontraktion (z.B. sost für so ist), wo man bei Opitz wenigstens ein Echo von Goldast spüren muß, auch wenn man in diesem Fall keine wörtliche Übereinstimmung findet.36 Erscheint das Wort Welt in seiner mittelhochdeutschen Form – mit 〈r〉 – so stellen beide Kommentatoren mit den gleichen Worten fest, daß das in den »alten Büchern« so üblich war, genauso wie sie dieselben Synonyme für Held auflisten: 34
35
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Duht) Unsere Vorfahren haben das 〈c〉 nicht mit einer Aspiration verbunden. Deshalb pflegten sie zu schreiben sowie auszusprechen: iht, tohter, niht, wiht, sieht, vorht, Zuht, doh, maht, reht, giht, Zeh, und ähnliche Wörter, die wir in den alten Büchern beobachten. vuhten] [...] Meistens haben die Alten das 〈c〉 nicht mit einer Aspiration verbunden, weshalb rehte, rihtere, girihtis, zuht, nahtis, maht, vorht etc. so geschrieben wurden, wie man sie aussprach. Da dies auch anderswo in diesem Gedicht vorkommt, soll es hier einmal notiert werden. Man vergleiche: sost unter ›Tirol‹ 4.7 mit zden unter ›Annolied‹ 2.16.
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Du´ werlt) ita scriptum obseruo in plerisq omnibus libris antiquis. recte`, si originem spectes [...].37 (Goldast zu ›Tirol‹ 20.2, S. 370) werilde] mundi. Ita semper scriptum in libris antiquis [...].38 (Opitz zu ›Annolied‹ 2.1, S. 52) e
e
e
e
recken) [...] Kune wigant apud Poetas, qui kune degen, kune reke, kune held, in eorumdem libris. sunt nempe synonyma ista [...].39 (Goldast zu ›Tirol‹ 18.7, S. 366) volcwigis] [...] Hinc apud Willeramum wighuis, castrum siue castellum, & apud Poetas nostrates: Küne wigant, vt küne degen, küne held, küne reken, quæ synonyma sunt.40 (Opitz zu ›Annolied‹ 8.6, S. 70)
An diesen letzten drei Stellen fällt auf, daß der Name Goldast in Opitz’ Ausführungen fehlt; ganz eindeutig schreibt er von dieser Quelle ab, ohne sie gebührend anzuerkennen. Genauso ist es in seiner Erläuterung des Adjektivs hold in ›Annolied‹ 28.15; hier erwähnt er sehr wohl Goldast als seine Quelle für das Zitat aus Heinrich von Frauenberg, nicht jedoch für die anschließenden philologischen Bemerkungen. Mit holden reinen) Cum bonis ambulet. Holden, amicus. Notkerus in Psalm. CXXVII. Cum dederit somnum dilectis eius, soˆ er daz ende gı´bet sıˆnen Ho´ldon. Holde, amasia. Heinrich von Frovvenberg; Das min holde Lange bi mir Muge sin. Vnholde inimica, infesta; quales sagæ & veneficæ generis humani hostes. Holden siue hulden, fiduciare, cu`m fides præstatur magistratui.41 (Goldast zu ›Tirol‹ 44.3, S. 386) holdin] Freunden. n. XLVI. XLVIIII. lib. III. Evang. cap. XX: Er ist quad Godes holde. Holde, amasia. Heinrich von Frowenberg, citante Goldasto: Das min holde Lange bi mir Muge sin. Vnholde, inimica, infesta; quales sagæ & veneficæ. Holden siue hulden, fidem præstare magistratui: huldung, huldigung, homagium.42 (Opitz zu ›Annolied‹ 28.15, S. 118) 37 38 39 40
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Du´ werlt) So finde ich es in beinahe allen alten Büchern geschrieben. Zu recht, wenn man den Ursprung betrachtet [...]. werilde] ›Welt‹. So wird es immer in den alten Büchern geschrieben [...] recken) [...] Küne wigant bei den Dichtern, in den Büchern derselben auch: küne degen, küne reke, küne held. Dies sind nämlich Synonyme [...]. volcwigis] [...] Daher bei Williram wighuis, ›Lager‹ oder ›Festung‹, und bei unsern einheimischen Dichtern Küne wigant, sowie küne degen, küne held, küne reken, welche Synonyme sind. Mit holden reinen) ›Er verkehrt mit den Guten‹. Holden, ›Freund‹. Notker zu Psalm 127: soˆ er daz ende gı´bet sıˆnen Ho´ldon, »Da er seinen Lieben den Schlaf gegeben hat«. Holde, ›Geliebte‹. Heinrich von Frauenberg: »Daß meine Geliebte / lange bei mir / sein kann.« Vnholde, ›feindselige, feindliche Frau‹; irgendwelche Hexen oder Giftmischerinnen, Feindinnen des Menschengeschlechts. Holden oder hulden, ›anvertrauen‹, wenn einem Beamten Vertrauen gezeigt wird. holdin] ›Freunde‹. Vgl. ›Annolied‹ 46 [v.18]; 49 [v.24]. [Otfrids] ›Evangelienbuch‹ Buch 3 Kap. 20: »Man nannte ihn Gottes holde. Holde, ›Geliebte‹. Heinrich von Frauenberg, nach Goldast zitiert: »Daß meine Geliebte / lange bei mir / sein kann.« Vnholde, ›feindselige, feindliche Frau‹; irgendwelche Hexen oder Giftmischerinnen. Holden oder hulden, ›einem Beamten vertrauen‹: huldung, huldigung, ›Ehrerbietung‹.
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Hier von Plagiat zu sprechen ist wohl zu modern gedacht, aber eine vorsätzliche Unterlassung liegt sicherlich vor. Opitz geht ansonsten sehr großzügig mit dem Lob seiner Gewährsleute um und überhaupt ist er ein unverbesserlicher name-dropper, wie die 35 antiken und zeitgenössischen Gelehrten, die er schon in seinem Prolog namentlich erwähnt, deutlich belegen. Vor allem seinen Freunden, Michael Flandrin, Tobias Scultetus, Robert Robertin und vielen anderen, läßt er gerne ehrenhafte Erwähnungen zukommen. Bei Goldast ist die wiederholte ausdrückliche Würdigung ganz besonders ausgeprägt. Man könnte deshalb meinen, die Auslassung einer Quellenangabe sei an solchen Stellen ein Versehen, wenn nicht eine ähnliche Tendenz bei seinem Umgang mit Claude Saumaise in Erscheinung träte.43 Opitz würdigt gerne seine Quellen, aber auf eine Art und Weise, die nicht wirklich deutlich macht, wie sehr er ihnen verpflichtet ist. Und vor allem neigt er dazu, seine Schuld gegenüber früheren Untersuchungen gerade an dem Punkt herunterzuspielen, wo er selbst als Autorität dastehen will. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß er genau weiß, daß er Dichter ist und kein Wissenschaftler, und wo er sich auf fremdes Terrain vorwagt, muß er seinen Mangel an Erfahrung tarnen. Angesichts seiner anderweitigen Verdienste kann man ihm das wohl verzeihen. Für die deutsche Mittelalterrezeption um 1600 sind Melchior Goldast und Martin Opitz auf verschiedene Art und Weise wichtig. Im Vergleich zu den Humanisten des 16. Jahrhunderts stellt Goldasts Arbeit einen Quantensprung in der Richtung einer modernen Germanistik dar. Er lieferte die ersten zuverlässigen Texte aus der mittelhochdeutschen Blütezeit, und er legte den Grundstein einer empirischen Methode, diese zu bearbeiten. Sein Interesse galt den Anfängen der deutschen Sprache und Literatur an und für sich. Opitz dagegen war Dichtungstheoretiker und erst in zweiter Linie Altgermanist. Das hatte den Vorteil, daß er ein breiteres Publikum ansprechen konnte, gleichzeitig aber den Nachteil, daß er als Wissenschaftler zwangsläufig derivativ war. Doch konnte auch er innovativ sein, zum Beispiel im Bereich der Etymologie, wo er die Verhältnisse oft besser überblickte als Goldast. Überdies sind seine Anmerkungen generell viel besser in einen Gesamtplan der Texterschließung integriert, als dies bei Goldast der Fall ist, der den Text oft eher für das, was er selbst berichten will, als Ausgangspunkt benutzt. Opitz’ Neigung, seine Gewährsleute lobend zu erwähnen, ohne dabei jedoch das Ausmaß seiner Abhängigkeit zu verraten, bedeutet, daß er im Detail weniger Neues geleistet hat, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Trotzdem hat er eine erstaunliche Menge an relevantem und hochgelehrtem Material zusammengetragen. Er hat einen bemerkenswert guten ersten Versuch gemacht, einige recht schwierige frühmittelhochdeutsche Passagen zu entschlüsseln, und er hat auch das ›Annolied‹ für uns gerettet. Und das ist doch schließlich gar nicht wenig. 43
Vgl. Dunphy [Anm. 13], S. 315.
Ralf-Henning Steinmetz
Die Rezeption antiker und humanistischer Literatur in den Predigten Geilers von Kaysersberg
Als Thema meines Vortrags habe ich »Die Rezeption antiker und humanistischer Literatur in den Predigten Geilers von Kaysersberg« angekündigt. Das war, wie ich nun kleinlaut bekennen muß, voreilig. Denn ich hätte wissen müssen, daß es ganz unmöglich sein würde, die Erwartungen, die diese Formulierung weckt, einzulösen – unmöglich schon deshalb, weil uns die meisten Predigten Geilers gar nicht überliefert sind, unmöglich aber auch, weil der uns erhaltene Rest so umfangreich ist, daß die analytisch-vergleichende Lektüre viele Jahre in Anspruch nähme. Dazu kommt, daß, wie so vieles aus dieser Zeit, auch die Texte der knapp vierzig meist dickleibigen Folianten, die zwischen 1480 und 1522 gedruckt wurden, nur zum kleinsten Teil in modernen Ausgaben zur Verfügung stehen.1 Doch die eigentlichen, nicht wirklich lösbaren Probleme bieten die überlieferten Texte selbst. Denn die Authentizität der zu einem großen Teil erst nach Geilers Tod gedruckten Fassungen ist eingeschränkt und man wird sich in vielen Fällen damit zufrieden geben müssen, frühe Redaktionen zu untersuchen. So verwundert es nicht, daß Geilers Schriften ein Stiefkind der deutschen Philologie geblieben sind. Was veranlaßt mich nun, trotzdem so glattes Parkett zu betreten? Immerhin handelt es sich bei Geiler um einen sehr prominenten Vertreter der Literatur um 1500, einen Autor, der im Quellenverzeichnis des Grimmschen Wörterbuchs mehr Platz beansprucht als jeder andere,2 einen, der in den Darstellungen der deutschen Literaturgeschichte seit jeher ein merkwürdiges Ansehen genießt, das sich allerdings selten in einer ausführlicheren Darstellung niederschlägt.3 Dabei kommt Geiler eine eigenartig unentschiedene Stellung zwischen Spätmittelalter 1
2 3
Le´on Dacheux (Hg.), Die ältesten Schriften Geilers von Kaysersberg. XXI Artikel. Briefe. Todtenbüchlein. Beichtspiegel. Seelenheil. Sendtbrieff. Bilger. Pre´ce´de´s d’une e´tude bibliographique, Colmar 1882, S. XXV−CXXXVII; Gerhard Bauer, Johannes Geiler von Kaysersberg: Ein Problemfall für Drucker, Herausgeber, Verleger, Wissenschaft und Wissenschaftsförderung, Daphnis 23 (1994), S. 559–585; Uwe Israel, Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510). Der Straßburger Münsterprediger als Rechtsreformer, Berlin 1997 (Berliner historische Studien 27), S. 356–369. Vgl. Israel [Anm. 1], S. 8. Vgl. Waltraud Fritsch-Rössler, Kann denn Wortlust Sünde sein? Zur Darstellung Johannes Geilers von Kaysersberg in deutschen Literaturgeschichten, in: Granatapfel. Fs. f. Gerhard Bauer z. 65. Geb., hg. von Bernhard Dietrich Haage, Göppingen 1994 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 580), S. 187–205, hier S. 203–205.
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und Humanismus zu. In unseren Handbüchern und Nachschlagewerken erscheint er gewöhnlich als wortgewaltiger Volksprediger, der theologisch in die Tradition der Spätscholastik eingeordnet und bisweilen den Nominalisten zugeschlagen wird. Doch Geiler steht auch in engen persönlichen Beziehungen zu den zentralen Gestalten des oberrheinischen Humanismus, zu Sebastian Brant, Jakob Wimpfeling und Beatus Rhenanus.4 Klaus Manger nennt ihn sogar »die treibende Kraft eines Humanistenkreises«.5 Sollte dieser Kreis seiner »Freunde und Jünger«6 den Inhalt und den Stil seiner Predigten nicht weiter beeinflußt haben? Sollte er die neue, humanistische Literatur seiner Zeit überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben?7 Herbert Kraume, der die Forschung 1980 mit einer Studie über Geilers Gerson-Übersetzungen bereicherte,8 scheint dieser Ansicht zu sein, denn er vermerkt im ›Verfasserlexikon‹ über Geilers Quellen mit zweifelndem Unterton: »Außerdem schreibt Wimpfeling G[eiler] die Kenntnis römischer Autoren und moderner Humanisten zu.«9 Wimpfeling hatte nämlich 1510 in seiner Lebensbeschreibung des gerade verstorbenen Freundes festgehalten, »daß er auch die humanistische Literatur und die Geschichte studierte und aus unserer Zeit nichts verschmähte«,10 und verzeichnet eine ganze Reihe antiker und moderner Schriftsteller, die Geiler zu lesen pflegte: 4 5
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Vgl. die einschlägigen Beiträge in: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile, hg. von Paul Gerhard Schmidt, 2., veränd. Aufl., Stuttgart 2000. Klaus Manger, Literarisches Leben in Straßburg während der Prädikatur Johann Geilers von Kaysersberg (1478–1510), Heidelberg 1983 (Heidelberger Forschungen 24), S. 17. Richard Newald, Elsässische Charakterköpfe aus dem Zeitalter des Humanismus. Johann Geiler von Kaisersberg / Jakob Wimpfeling / Sebastian Brant / Thomas Murner / Matthias Ringmann, Kolmar im Elsaß 1944; wieder in: ders., Probleme und Gestalten des deutschen Humanismus. Studien, hg. von Hans-Gert Roloff, Berlin 1963, S. 326–457, hier S. 339. Newalds Feststellung gilt weiterhin: »Die Frage nach seinem Humanismus ist noch kaum gestellt worden. Man begnügte sich damit, ihn als einen der Väter der oberrheinischen Humanisten, als älteren Freund Wimpfelings und Brants zu bezeichnen« (Newald [Anm. 6], S. 332f.). Herbert Kraume, Der Gerson-Übersetzungen Geilers von Kaysersberg. Studien zur deutschsprachigen Gerson-Rezeption, München 1980 (MTU 71). Herbert Kraume, Geiler, Johannes, von Kaysersberg, 2VL II, Sp. 1141–1152, hier Sp. 1148f. Auf viel zu schmaler Grundlage, nämlich der vierbändigen Auswahlausgabe de Lorenzis von 1881–83, ruhen die Angaben von Eduard Fuchs, Die Belesenheit Johannes Geilers von Kaisersberg, ZfdPh 52 (1927), S. 119–122. Jakob Wimpfeling/Beatus Rhenanus, Das Leben des Johannes Geiler von Kaysersberg, unter Mitarb. von Dieter Mertens eingeleitet, komm. u. hg. von Otto Herding, München 1970 (Jacobi Wimpfelingi opera selecta II 1), S. 55: Quod litteras quoque humaniores et historias revolverit nullumque nostrae aetatis despexerit. Es handelt sich um die Zusammenfassung in der Inhaltsübersicht, die Wimpfeling der Biographie vorangestellt hat.
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Er erfreute sich nicht nur an der Lektüre der heiligen Schriften, sondern auch an der Geschichte der Heiden, an den Dichtern, den Rednern und ihren Auslegern, an Cicero, Quintilian, Seneca, Plinius, Josephus, Aulus Gellius, Macrobius, am ›Polycraticus‹, an Petrarca, an Enea Silvio. Sehr begierig las er Platina. Die Kommentare Picos de Mirandola arbeitete er mit großer Lust durch und bekräftigte öffentlich in der Predigt, daß Pico, wenn die Natur seinem Lebenslauf die doppelte Länge gegeben hätte, Augustinus und Hieronymus in bezug auf die göttlichen Schriften kaum nachgestanden hätte. Was auch immer die verschiedenen Autoren in unserer Zeit irgendwo ans Licht gebracht hätten, wollte er unbedingt kennen und sorgte dafür, daß sie wenigstens bei Tisch vorgelesen wurden. Er ignorierte weder die Arbeiten von Battista Mantovano, Marsilio Ficino und Thomas Wolff d. J. noch die Bebels und anderer neuerer Autoren. [. . .] Man braucht sich nicht zu wundern, daß der Prälat im Gegensatz zu anderen so auffällig und mit so großem Aufwand die besten Schriften studierte und soviel Gelehrtes und Heilsames kommentiert ans Licht gegeben hat.11
Es gibt keinen Grund, den Angaben Wimpfelings über die Lektüregewohnheiten seines Freundes nicht zu glauben. Auch Beatus Rhenanus äußert sich in seiner gleichzeitig erschienenen Biographie ähnlich: »Er besaß eine reiche Bibliothek, voll mit Büchern aller Art [...]. Dort fehlten weder die Regalfächer für die Dichter noch die für die Geschichtsschreiber«.12 Geilers studia humanitatis haben auch in seinen Werken deutliche Spuren hinterlassen. Wenn Wimpfeling am Ende des eben zitierten Abschnitts Geilers Tätigkeit als Herausgeber und Kommentator hervorhebt, dann ist damit die große Gerson-Edition gemeint, die Geiler 1488 zusammen mit Peter Schott herausgegeben hat und die bis ins 18. Jahrhundert die maßgebliche Ausgabe blieb.13 1483 unternahm er dafür sogar eine Handschriftenreise nach Südfrankreich, auf der er von einem Petrarca-Gedicht, das er in einer Höhle in Aix-en-Provence fand, eine Abschrift anfertigte, auf deren Grundlage Wimpfeling später den ersten Druck besorgte.14 11
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Wimpfeling [Anm. 10], S. 69f.: Nec solum delectabatur sacrarum lectione scripturarum, verum etiam historias gentilium, poetas, oratores et eorum interpretes, Ciceronem, Quintilianum, Senecam, Plinium, Iosephum, Aulum Gellium, Macrobium, Polycraticum, Petrarcham, Aeneam Silvium; Platinam avidissime legebat, Ioannis Pyci Myrandulani commentarios cum magna voluptate versabat, aperte contionandum affirmans, si vitae cursum Pico natura duplicasset ipsum nostro Augustino aut Hyeronimo in divinis sripturis vix inferiorem fuisse futurum. Quicquid aetate nostra diversi passim scriptores in lucem ediderunt nolebat prorsus ignorare, saltem ad mensam sibi lectum iri curabat. Nec a Baptistae quidem Mantuani, Marsilii Ficini, Thomae Wolphii iunioris nec Bebellii et aliorum nostratium opusculis abstinuit [. . .]. Mirari non potuit quod tam insignis praelatus praeter morem aliorum tantopere litteras optimas coleret et tam egregia salutariaque annotamenta in lucem edidisset. Rhenanus [Anm. 10], S. 93: Bibliothecam habuit omnis generis librorum refectissimam [. . .]. Ibi neque poetis neque historicis sua loculamenta deerant; Rhenanus schränkt dann allerdings ein, maior tamen eorum numerus erat qui rem theologicam suis scriptis illustrarunt. Johannes Gerson, Opera, Bd. 1–3, hg. von Johannes Geiler von Kaysersberg /Peter Schott d. J., Straßburg: Johann Prüss, 1488; Bd. 4, hg. von Jakob Wimpfeling, Straßburg: Martin Flach d. J., 1502. Wimpfeling [Anm. 10], S. 79f., dazu Herding ebd., S. 32f.; Israel [Anm. 1], S. 129.
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Im Bereich der Predigt15 zeigt sich Geilers humanistische Bildung am deutlichsten in den 139 Kanzelreden, die er über ein Jahr lang, von der Fastenzeit 1498 bis zur Fastenzeit des folgenden Jahres, über Sebastian Brants wenige Jahre zuvor erschienenes ›Narrenschiff‹ gehalten hat. Diese wohl bekannteste, aber literaturwissenschaftlich kaum erschlossene Predigtreihe des Straßburger Münsterpredigers war auch ein literarischer Erfolg. Das Explicit Jakob Others, des Herausgebers der lateinischen Ausgabe mit dem Titel ›Navicula sive speculum fatuorum‹, datiert vom 11. Februar 1510. Als Geiler vier Wochen später starb, wurde der Band um die von Beatus Rhenanus verfaßte Biographie erweitert, die auch in den folgenden Ausgaben fester Bestandteil der Ausgabe blieb. Sie wurde 1511 in verbesserter Ausstattung, nämlich mit den vorzüglichen Holzschnitten aus Brants ›Narrenschiff‹ versehen, neu aufgelegt und 1513 noch einmal gedruckt. 1520 erschien dann im Folio-Format, mit den gleichen Holzschnitten ausgestattet, die deutsche Übersetzung durch Johannes Pauli.16 Auf die in der Geiler-Forschung berüchtigten Probleme der Textgrundlage gehe ich hier nicht weiter ein. Sie sind so groß, daß man sich erst einen verläßlichen Überblick verschaffen kann, wenn eine detaillierte monographische Aufarbeitung vorliegt.17 Daher stütze ich mich für die folgende Darlegung vornehmlich auf die wenigen bisher gründlich untersuchten und zum Teil parallel, lateinisch und deutsch, edierten Predigten, nämlich auf die Predigt über die erste Narrenschar, die Büchernarren,18 und auf die Predigt über die Buhlnarren.19 Ich beziehe mich dabei stets auf den von Geiler selbst verfaßten lateinischen Text. 15
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Ein Beispiel für den anspielungsreichen, humanistisch gebildeten Witz, den Geiler im Gespräch mit Freunden und Vertrauten vielleicht eher einsetzte als auf der Kanzel, bietet Wimpfeling [Anm. 10], S. 62, Z. 285–294; dazu Herding ebd., S. 33. Die Narrenschiff-Predigten standen von Anfang an, also seit 1564, auf dem Index der verbotenen Bücher, mal unter Geilers Namen, mal unter dem Namen ihres Herausgebers Jakob Otther; erst die Neufassung des Index durch Leo III. gab sie im Jahr 1900 für die katholische Kirche frei; vgl. Israel [Anm. 1], S. 21 und Anm. 45. Es ist kein Zufall, daß in der einzigen ausführlicheren Untersuchung der ›Narrenschiff‹-Predigten und ihrer Quellen, einer von Friedrich Vogt betreuten Dissertation, gerade die wichtigsten Vorlagen Geilers beinahe durchweg übersehen wurden; vgl. Theodor Maus, Brant, Geiler und Murner. Studien zum Narrenschiff, zur Navicula und zur Narrenbeschwörung (Teildruck), Diss. Marburg 1914, S. 2–54. Tim Lorentzen, Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in ausgewählten Predigten Geilers von Kaysersberg über Sebastian Brants ›Narrenschiff‹, Staatsexamensarbeit, Kiel 2002. Ralf-Henning Steinmetz, Über Quellenverwendung und Sinnbildungsverfahren in den ›Narrenschiff‹-Predigten Geilers von Kaysersberg. Am Beispiel und mit dem lao teinischen und dem deutschen Text der Predigt über die ›Bulnarren‹, in: Predigt im Kontext. Internationales Symposium am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin vom 5.–8. Dezember 1996, hg. von Volker Mertens [u.a.] [im Druck]. Näher untersucht wurde außerdem die Einleitungspredigt über die Sprache des ›Narrenschiffs‹; vgl. Günter Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16. Jahrhunderts, München 1971 (MTU 41), S. 99–111.
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Allein in diesen drei Predigten zitiert Geiler eine große Zahl antiker Autoren, von Juvenal, Persius und Terenz über Horaz und Ovid bis zu Seneca und Quintilian. Es liegt nahe, dies dem Einfluß seiner Vorlage zuzuschreiben, für die Brant ausgiebig auf antike Texte zurückgegriffen hat.20 Geiler benutzte vermutlich nicht die Erstausgabe, die 1494 in Basel erschienen war, sondern die sogenannte interpolierte Fassung, die Grüninger noch im selben Jahr in Straßburg herausbrachte.21 Ein unbekannter Bearbeiter hat hier viele Kapitel zum Teil stark erweitert, anderes gekürzt. Daneben hatte Geiler die lateinische Umarbeitung zur Hand, die Jakob Locher 1497 in Zusammenarbeit mit Brant in Basel erschienen ließ. Um die Rezeption antiker Literatur in Geilers Predigten recht beurteilen zu können, müssen zuvor seine unmittelbaren Vorlagen unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Die noch immer ausführlichste Untersuchung der Quellen des ›Narrenschiffs‹ verdanken wir Friedrich Zarncke. Er machte zuerst auf den collageartigen Charakter des Textes aufmerksam, der, wie viele didaktische Werke des Mittelalters, »im wesentlichen eine übersetzung und zusammenkittung von stellen aus verschiedenen alten, biblischen und classischen, schriftstellern ist«.22 Brant hat besonders ausgiebig die Autoren zitiert, die als Grundlage für seine moraldidaktische Satire am ehesten in Frage kommen, also die römischen Satiriker Juvenal, Persius und Horaz, dann Ovid, vor allem die ›Remedia amoris‹ und die ›Metamorphosen‹, bisweilen auch Catull, weiter die Moralphilosophen Seneca, Cicero, Boethius und, in lateinischer Übersetzung, Plutarch (›De educatione‹), außerdem die ›Disticha Catonis‹ und Plinius’ ›Historia naturalis‹.23 Nicht weniger naheliegend ist seine Auswahl aus den biblischen Büchern: Sprüche, Weisheit, Prediger Salomo, Jesus Sirach und natürlich etliche Sentenzen aus dem Neuen Testament. Dazu kommen noch Zitate aus den Kirchenvätern, die allerdings nicht aus den Quellen selbst, sondern aus dem auch sonst ausgiebig benutzten ›Corpus iuris canonici‹ stammen.24 Manche Kapitel des ›Narrenschiffs‹ sind nichts anderes als Übersetzungen und Paraphrasen aus einem ein20
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22 23 24
Vgl. die Zusammenfassung von Friedrich Zarncke, Sebastian Brants ›Narrenschiff‹, Leipzig 1854, S. XLIV−XLVI; ergänzend Eli Sobel, Sebastian Brant, Ovid, and classical allusions in the ›Narrenschiff‹, University of California Publications in Modern Philology 36 (1952), S. 429–440; Craig B. Fisher, Several allusions in Brant’s ›Narrenschiff‹, Modern Language Notes 68 (1953), S. 395–397. Sebastian Brant, Das neue Narrenschiff [Nachdruck von S. B., Das nüv schiff von Narragonia, Straßburg 1494], hg. von Loek Geeraerdts, Dortmund 1981 (Deutsche Wiegendrucke); vgl. dazu Jan-Dirk Müller, Das nüv schiff von Narragonia. Die interpolierte Fassung von 1495/95, in: Se´bastien Brant, son e´poque et »la nef des fols« – Se´bastian Brant, seine Zeit und das ›Narrenschiff‹. Actes du colloque international Strasbourg 10–11 mars 1994, hg. von Gonthier-Louis Fink, Straßburg 1995 (Collection Recherches Germaniques 5), S. 73–91. Zarncke [Anm. 20], S. XLIV. Vgl. außer Zarncke die oben in Anm. 20 genannten Arbeiten. Zarncke [Anm. 20], S. XLV.
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zigen Werk. So geht etwa Kapitel 22 ganz auf das 8. Kapitel der Sprüche Salomons zurück, Kapitel 26 auf Juvenals 10. Satire und Kapitel 112 auf das Gedicht ›De viro bono‹, das Brant noch Vergil zugeschrieben und 1502 auch in seine Vergil-Ausgabe aufgenommen hat.25 Diese intensive Ausbeutung von Vorlagen ist im deutschen Original nicht so augenfällig wie in Lochers lateinischer Bearbeitung. Denn hier hat Brant selbst seine Quellen in margine vermerkt,26 da ihm, wie er in einem Zusatz zu Lochers Text schreibt, besser bekannt sei, an welchen Stellen er die dicta decora exzerpiert habe. Damit der Leser sie schneller erkennen könne, füge er die loca concordantia hinzu.27 Nur selten nennt Brant Werke, die weder antik noch biblisch sind. So zitiert er einmal aus dem ›Liber parabolarum‹ Alans von Lille (Kap. 53, V. 29) und verweist mehrfach auf die ›Summa theologiae‹ des Thomas von Aquin (Kap. 87, V. 1; Kap. 97, V. 1). Allerdings sind Brants Hinweise höchst unzuverlässig und bieten oft weniger Quellenangaben als Verweise auf nicht immer naheliegende Parallelstellen, während die tatsächlichen Quellen gerade nicht genannt werden.28 Diese sind vor kurzem von Nina Hartl und Michael Rupp eingehend untersucht worden.29 Auffällig ist zunächst eine Verschiebung im Hinblick auf die Präferenzen beim Rückgriff auf bestimmte Quellenbereiche. Brants Blütenlese aus biblischen und kirchenrechtlichen Texten wird bei Locher teilweise durch weitere Rückgriffe auf antike Literatur ersetzt. Wo der ursprüngliche Wortlaut und damit die Verweise auf bekannte Kontexte bei Brant schon durch die Übersetzung in die Volkssprache verschleiert werden, finden sich bei Locher alle Grade der Entlehnung, vom ausführlichen wörtlichen Zitat, das recht selten vorkommt, über leicht veränderte Passagen bis zu bloßen Reminiszenzen, die sich auf die stilistische Imitation beschränken, auf die »Übernahme bestimmter Formeln oder autorspezifischen Vokabulars«.30 In manchen Fällen »kommt es zu einer freien Wiedergabe ganzer Passagen, die sich oft nur mittels markanter ›Schlüsselwörter‹ zurückverfolgen lassen«.31 Thematisch bedingt integriert Lo25
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Vgl. Nina Hartl, Die ›Stultifera Navis‹. Jakob Lochers Übertragung von Sebastian Brants ›Narrenschiff‹, Münster 2001 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 1), Bd. 1, S. 95. Vgl. die Abbildung von Bl. 37v bei Hartl [Anm. 25], Bd. 1, S. 42. Vgl. Jakob Locher, ›Stultifera Navis‹, ›De singularitate quorundam novorum fatuorum additio Sebastiani Brant‹, V. 119–122 (Basel 1497, Bl. 142r): Nota magis fuerat nobis inventio nostra, / Quo quaeque excerpsi dicta decora loco. / Iccirco ascripsi loca concordantia, lector / Noscere quo valeat singula quaeque cito; zitiert nach der Teilausgabe von Hartl [Anm. 25], Bd. 2, S. 358; vgl. dazu ebd., Bd. 1, S. 99–101. Vgl. Zarncke [Anm. 20], S. 292 u. 296 s. v. ›gesamlet‹. Vgl. die Zusammenfassungen bei Hartl [Anm. 25], Bd. 1, S. 91–99 und Michael Rupp, ›Narrenschiff‹ und ›Stultifera navis‹. Deutsche und lateinische Moralsatire von Sebastian Brant und Jakob Locher in Basel 1494–1498, Münster 2002, S. 242–245. Hartl [Anm. 25], Bd. 1, S. 91. Ebd., S. 91.
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cher im großen und ganzen die gleichen antiken Autoren in seinen Text wie Brant: die Satiriker Horaz, Juvenal und Persius, dann Ovid und Vergil, weiter Cicero, Seneca, Properz, Boethius, Silius Italicus, Lucan, Plinius und andere, dazu kommen wieder Zitate aus den ›Disticha Catonis‹ und aus Alans ›Liber parabolarum‹. Bei den häufig vorkommenden Sentenzen bleibt oft unklar, ob Locher direkt auf antike Quellen zurückgreift oder auf bereits im Mittelalter tradierte und somit von ihrem ursprünglichen Kontext isolierte Spruchweisheiten.32 Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Brant und Locher in bezug auf die Verwendung antiker Literatur liegt in der Intention. Die bei Brant eindeutige Funktionalisierung humanistischer Bildung für die Vermittlung christlicher Weisheitslehre weicht bei Locher einer Verschmelzung beider Bereiche, in welcher der klassische Anteil einen eigenen Wert erhält.33 Zugleich werden durch die Marginalien, mit denen Brant Lochers Bearbeitung versehen hat, klassische Kontexte deutlich, die für das Publikum der deutschen Fassung oft schwerer oder gar nicht erkennbar sind. Anderseits stellt Brant damit für Lochers glattere und eindimensionaler, aber auch präziser argumentierende Übertragung ein wenig die inhaltliche Vielgestaltigkeit und Offenheit des deutschen Textes wieder her.34 Als Geiler von Kaysersberg seine Predigten vorbereitete, benutzte er, wie gesagt, sowohl Brants ›Narrenschiff‹ wie Lochers ›Stultifera navis‹. Gegenüber diesen beiden fällt die starke Erweiterung des Quellenbereichs auf. Liest man die Stellenangaben, die Geiler immer wieder in die Predigten einschaltet, erhält man den Eindruck, ihm habe die ganze Breite der am Ende des 15. Jahrhunderts bekannten lateinischen Tradition zur Verfügung gestanden: von der römischheidnischen Antike und der lateinischen Bibel über die spätantiken Kirchenväter und mittelalterlichen Theologen bis zu den humanistischen Autoren des 14. und 15. Jahrhunderts. Wie bei Brant und Locher finden wir zahlreiche Sentenzen aus römischen Satiren, Komödien und moralphilosophischen Werken. Aber wie Locher, der ja selbständig erneut auf die gleichen Quellen zurückgegriffen hat wie Brant, oft andere Stellen zitiert, so begegnen wir bei Geiler wieder anderen Zitaten. Das jeweilige Kapitel des ›Narrenschiffs‹ nimmt Geiler in der Regel als thematischen Ausgangspunkt für Darlegungen, die, schon wegen des erheblich größeren Umfangs der Predigten, ganz eigene Wege gehen.35 In den wenigen bisher genauer untersuchten Predigten greift Geiler nur bei einem kleinen Teil seiner Klassikerzitate auf die Originaltexte zurück. Denn die meisten dieser Spruchweisheiten entpuppen sich bei näherer Untersuchung als Zitate in Zitaten, als Binnenzitate innerhalb umfangreicherer Textblöcke, die oft geschlossen aus mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Werken zitiert werden. 32 33 34 35
Vgl. ebd., S. 96f. Rupp [Anm. 29], S. 243f. Rupp [Anm. 29], S. 244f. Maus [Anm. 17], S. 52.
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Daraus läßt sich nun keineswegs schließen, Geiler habe selbst nicht über die nötige Belesenheit in den Werken der römischen Antike verfügt. Es gibt genügend Primärzitate, die Geilers Vertrautheit mit den Klassikern bezeugen. Er arbeitete jedoch, soweit die bisher untersuchten Predigten das erkennen lassen, anders als Brant oder Locher, die in ihren ja oft nur etwa vierzig Verse umfassenden Kapiteln größtenteils Aneinanderreihungen einschlägiger Sentenzen und kurzer Exempel bieten. Geiler greift meist auf mehrere einschlägige theologische oder moralphilosophische Traktate zurück, die ihm sowohl das Gerüst wie auch das Material für den Aufbau einzelner Predigtteile liefern. Ein einfaches Beispiel für diese Verfahrensweise stellt die bisher noch nicht untersuchte Predigt über die Glücksnarren dar. In den 37 Versen von vberhebung glucks (Kap. 23) tadelt Brant die Narren, die glauben, das Glück gepachtet zu haben, die auf ihr Glück vertrauen anstatt damit zu rechnen, daß Gott ihnen das Geschenkte jederzeit wieder nehmen kann.36 Über diese stulti fortunati, die Glücknarren, wie er auf deutsch einfügt, predigt Geiler am 25. März 1498: »Die zweiundzwanzigste Schar ist die der Glücksnarren, die sich unvernünftigerweise über glückliche Ereignisse freuen oder über unglückliche betrüben. Und folglich erkennen wir zwei Schellen [Geiler unterteilt die Predigt über eine bestimmte Narrenschar stets in Schellen, die Zeichen ihrer Narrheit], da es zwei Arten von Glück gibt, nämlich böses und gutes Glück.«37 Die Formulierung des Themas dürfte viele seiner gebildeteren Hörer bereits auf die Quelle hingewiesen haben, der Geiler im größten Teil der Predigt folgen wird. Er nennt sie ausdrücklich, als er die weitere Unterteilung des ersten Predigtabschnitts erläutert: »Die erste Schelle ist, sich über vergängliches Glück zu freuen. Diese Schelle ist am rechten Ohr befestigt, unter ihr hat sie 122 weitere Schellen, nämlich nach der Menge der zufälligen Güter, über die die Menschen sich gewöhnlich freuen. Wenn du diese Schellen kaufen willst, gehe zu Francesco Petrarca, dort wirst du sie im ersten Teil der Apotheke von der Arznei beiderlei Glücks zum Verkauf angeboten finden.«38 36 37
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Die interpolierte Fassung ist stark erweitert; das eingefügte Exempel von Polykrates greift Geiler auf; vgl. Brant, Das neue Narrenschiff [Anm. 21], Bl. eiiiv, V. 5–29. Navicula sive speculum fatuorum. Prestantissimi sacrarum litterarum doctoris Joannis Geyler Keysersbergij: concionatoris Argentinensis in sermones iuxta turmarum seriem diuisa: suis figuris iam insignita: atque a Jacobo Othero diligenter collecta, Straßburg 1511, Turba XXII, IX, L: UJcesima secunda turma est fortunatorum (Glücknarren) Qui gaudent irrationabiliter super prosperis: aut tristant super aduersis euentibus. Et igitur cognoscunt duabus nolis: secundum quia duo sunt genera fortune: scilicet diffortunium et eufortunium (Böß glück vnd guot glück). Geiler, Navicula [Anm. 37], XXII, IX, L−M: Prima nola est: gaudere super prosperitate temporalium. Affixa est hec nola in dextra aure: et sub se habet nolas centum viginti et duas: secundum scilicet multitudinem eorum fortuitorum de quibus solent homines gaudere. Quas nolas emere si volueris: vadito ad Franciscum Petrarcham: et eas illic venales reperies in prima parte officine de remedijs vtriusque fortune.
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Nachdem Geiler die wahren von den nichtigen Freuden unterschieden hat – die Predigt wird am Tag der Verkündigung Mariä gehalten –, kommt er auf einzelne der 122 Kapitel des ersten Teils von Petrarcas Abhandlung zu sprechen, zuerst, noch ohne Verweis auf das einschlägige Kapitel (XVIII), auf die Narren, die sich über gutes Essen freuen. Die übrigen Schellen werden sehr viel kürzer abgehandelt, in wenigen Sätzen, die jeweils wörtliche Zitate aus ›De remediis‹ enthalten. Dafür folgt stets ein Verweis auf das entsprechende Kapitel, der deutlich macht, daß Geiler seine Aufzeichnungen auch als Kompendium für andere Prediger versteht.39 Als er etwa über die Liebe des Volkes zu seinem Fürsten spricht, fügt er an: Si placet extensius dicere: vide parte prima Franciscum capitulo .xciiij. (M 3). Die kurzen, wieder aus Petrarca montierten Ausführungen über die Freude an der Keuschheit der Ehefrau ergänzt er mit dem Verweis Francisco capitulo .lxv. adde que placuerint (O 5). Auch für die nächste Schelle gibt Geiler ein Kapitel seiner in Dialogform verfaßten Vorlage an: Ex Francisco dial. lxxxiiij. (O 7). Für alles übrige verweist er dann wieder auf den gesamten ersten Teil von ›De remediis‹: Et quid amplius? multa talia centum et .xxij. vt supra dixi (ebd.). Im zweiten Teil der Predigt erzählt Geiler ausführlich das Exempel des Tyrannen Polykrates, der seinem Glück zu sehr vertraute. Geiler ließ sich wohl von der interpolierten Fassung des ›Narrenschiffs‹ anregen, verweist aber auch auf die primäre Quelle: de Policrate legitur apud Valerium liber sexto (O 8).40 Im letzten Teil der Predigt zitiert er eine Sentenz des Gregorius und schließt den Verweis auf ein Exempel an, das allgemein bekannt sei, dessen Wiedergabe in der interpolierten Fassung des ›Narrenschiffs‹ (V. 50–67) Geiler jedoch beiläufig korrigiert.41 Er beschließt die Predigt mit einem weiteren Exempel (›Der Dieb auf dem Mondstrahl‹)42 aus der ›Summa predicantium‹ des Johannes von Bromyard und einem Psalterzitat. In der Predigt über die Glücknarren beschränkt sich Geiler also darauf, eine moderne Quelle, Petrarcas ›Remedia‹, für die sachliche Gliederung, für Formulierungen und als Verweisobjekt zu gebrauchen und diese Hauptquelle mit zwei Exempeln anzureichern, einem antiken und einem mittelalterlichen. Das hier sehr einfache Verfahren der additiven Reihung von Zitaten, Paraphrasen und Verweisen führt er in anderen Predigten systematischer und zugleich komplexer durch, wie die folgenden Beispiele zeigen. 39 40 41
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Vgl. auch Kraume [Anm. 8], S. 97f. Vgl. Valerius Maximus, ›Facta et dicta memorabilia‹, l. VI, cap. 9. De mutatione morum aut fortunae, ext. 5. Geiler, Navicula [Anm. 37], I, III, P: Exemplum diues ille hospes de quo fugit beatus Ambrosius notum omnibus. Et habes in speculo tuo. Sed Augustinus allegatur falso tamen. MOT, K 1054; vgl. Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, hg. von Kurt Ranke, Bd. 3, Berlin/New York 1981, Sp. 635.
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Das erste Kapitel in Brants ›Narrenschiff‹ handelt Von vnnutzen buchern.43 Geiler nimmt darauf in seiner Predigt über die Büchernarren nur zweimal kurz Bezug, einmal verweisend gleich zu Anfang und dann eine Formulierung zitierend am Ende der ersten Schelle (von insgesamt sieben). Das Material jedoch, auf das Geiler sich vor allem stützt, bietet das Kapitel De librorum copia in Petrarcas Glücksbuch von 1366. Fast zwei Fünftel der Predigt sind daraus wörtlich übernommen.44 Doch bevor Geiler sich mit dem Mißbrauch von Büchern beschäftigt, stellt er klar, daß es auch lobenswerte Büchersammler gibt, und verweist dafür auf drei Werke des 14. und 15. Jahrhunderts: auf das Richard von Bury zugeschriebene, 1344 vollendete ›Philobiblon‹45 sowie auf zwei Traktate mit dem Titel ›De laude scriptorum‹, der eine 1423 von Johannes Gerson verfaßt, der andere 1494 von Johannes Trithemius. Die erste Narrenschelle ist größtenteils Petrarca verpflichtet. Von ihm übernimmt Geiler vier Zitate, zwei ohne Quellenangabe aus der ›Historia augusta‹ und der ›Historia ecclesiastica‹ des Eusebius, zwei mit Quellenangabe aus Senecas Abhandlung ›De tranquillitate animi‹ und aus den Briefen an Lucilius. Als Geiler Petrarcas Spur verläßt, verweist er auf Brants ›Narrenschiff‹, zitiert dann ungenau und ohne Quellenangabe Poggios um 1470 entstandene ›Fazetien‹, verweist wieder auf ein Exempel bei Brant und zieht schließlich begründend eine Sentenz aus den ›Proverbia Salomonis‹ heran. Auch die zweite Narrenschelle setzt mit einem ausführlichen Petrarca-Zitat ein, mit dem wiederum ein Binnenzitat aus Senecas Lucilius-Briefen übernommen wird. Es folgt ohne Quellenangabe ein Exempel aus den ›Vitae patrum‹, eingeflochten ein Beleg aus dem ersten Korintherbrief. Am Ende steht wieder ein ausführliches Petrarca-Zitat. Die sehr kurze dritte Schelle beginnt mit einer Seneca-Sentenz, wieder aus den Briefen an Lucilius, die, wie sich dann zeigt, auch wieder von Petrarca übernommen ist, der erst frei paraphrasiert und dann wörtlich zitiert wird. Die ebenfalls kurze vierte Schelle beruht ganz auf der Verknüpfung biblischer Sentenzen, aus dem Buch der Weisheit, aus dem zweiten Petrus-Brief und aus Jesus Sirach. In der fünften Schelle wird dieses Verfahren fortgesetzt, Matthäus und die Sprüche Salomons werden kurz zitiert, dann die ›Monosticha Catonis‹ und der zweite Timotheusbrief. Die angeschlossene Senzenz aus der ›Andria‹ des Terenz (Ne quid nimis) ist kein Binnenzitat, könnte also etwa aus dem um 1470 in Straßburg erschienenen Erstdruck stammen, aber eher wohl noch als geflügeltes Wort über mittelalterliche oder neuere Quellen vermittelt worden sein.46 Eine die Schelle beschließende Anspielung auf Nikolaus von Lyra ist über Gersons ›De laude sriptorum‹ eingeflossen. 43 44 45
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Die folgenden Ausführungen über die Büchernarrenpredigt sind der Quellenanalyse von Lorentzen [Anm. 18] verpflichtet. Dort finden sich auch detaillierte Nachweise. Vgl. ebd., S. 22. Vgl. Helmut Presser, Das Buch vom Buch. Mit einer Übersetzung des Philobiblons von Lutz Mackensen und einer Bibliographie von Hans Wegener, Bremen 1962 (Sammlung Dieterich 240), S. 36. Vgl. Jakob Werner, Lateinische Sprichwörter und Sinnsprüche des Mittelalters aus
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In den letzten beiden Schellen greift Geiler wieder intensiv auf Petrarca zurück. Die sechste Schelle besteht beinahe vollständig aus ›Remedia‹-Bruchstükken, darin eingeschlossen ein Eusebius-Zitat aus der ›Vita Constantini‹, unterbrochen nur von einem Verweis auf die ›Offenbarung‹ und ergänzt durch weitere Verweise auf einen Brief des Niccolo` Perotti und auf eine weitere ›Remedia‹-Stelle. Die siebte Schelle fährt mit Petrarca-Ausschnitten fort; eingeschlossen sind Anspielungen auf die ›Epitome de caesaribus‹ und die vierte Epode des Horaz. Mit zwei Exempeln beendet Geiler seine Predigt. Das eine wird ausführlich aus Robert Gaguins 1495 erschienenem ›Compendium de origine et gestis Francorum‹ zitiert, das andere berichtet Geiler aus eigener Erfahrung. Die Aufforderung am Schluß, wer ein weiteres Beispiel kenne, möge es hinzufügen (Et qui vidit testimonium, perhibuit),47 zeigt einmal mehr, daß Geiler das Buch auch als Kompendium für andere Prediger verstanden wissen will. Orientiert sich die Büchernarrenpredigt vor allem an einem einzelnen Werk, so werden die Bezüge in der Predigt über die Buhlnarren vielfältiger. Ich gebe einen kurzen Überblick.48 Die Predigt besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil bietet Geiler eine Art Typenkunde der Buhlnarren, für die er sich an den einschlägigen Abschnitten in der Secunda secundae von Thomas’ ›Summa‹ orientiert. Mit übernommen werden die Zitate, je zwei aus dem ›Eunuchus‹ des Terenz, aus Gregors ›Moralia‹ und aus dem ›Buch Daniel‹. Mit diesem geschlossenen Textstück aus einem Hauptwerk der mittelalterlichen Theologie erhält der Hörer der Predigt eine theologisch und psychologisch fundierte Einführung in das Wesen der luxuria und ihrer Folgelaster. Er erfährt, warum die in den ersten acht Schellen vorgestellten Torheiten wesentlich auf die Sünde der Wollust zurückzuführen sind. Auf diesen theoretischen Abschnitt läßt Geiler zwanzig weitere Narrenschellen folgen, darunter als neunte bis zwölfte Schelle die abweichende Darstellung der filiae luxuriae bei Isidor von Sevilla. Er bezieht sie im Wortlaut ebenfalls von Thomas, der in seiner Widerlegung auf Isidor eingeht. Mit zwei weiteren Terenzzitaten schließen die Anleihen bei Thomas ab. Die letzten dreizehn Schellen stammen aus dem in Reimpaarverse gesetzten ›Beichtspiegel‹ von Hans Folz, über den Geiler bereits 1497 gepredigt hatte.49
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Handschriften gesammelt, 2. überarb. Aufl. v. Peter Flury, Heidelberg 1966, S. 73, Nr. 13. Geiler, Navicula [Anm. 37], I, III, B. Vgl. für das Folgende die Quellenanalyse in Steinmetz [Anm. 19]. Vgl. Geilers von Kaysersberg ›Ars moriendi‹ aus dem Jahre 1497. Nebst einem Beichtgedicht von Hans Foltz von Nürnberg hg. u. erörtert von Alexander Hoch, Freiburg im Breisgau 1901 (Straßburger Theologische Studien 4/2), S. 64–72; Geiler von Kaysersberg, Ein A.B.C. wie man sich schicken soll zu einem köstlichen seligen tod (1497), Facsimile-Wiedergabe, mit einem kurzen Geleitwort v. Luzian Pfleger (Veröffentlichungen des Museums in Hagenau i. Els.), Hagenau 1930, Bl. A 8v.
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Ganz anders der zweite Abschnitt. An die Stelle der diskursiv vorgetragenen theologischen Gelehrsamkeit tritt nun die moralistische Allegorese antiker Mythologie, ohne jeden ausdrücklichen Bezug auf Religion und Christentum. Im Mittelpunkt steht das Bild der Venus. Geiler bezieht sich jedoch nicht auf den Holzschnitt, der später aus Brants Ausgabe in die zweite Auflage der Predigten übernommen wurde, sondern auf die figura Veneris, »wie sie die Alten beschrieben haben [...], um den Lebenswandel und das Elend der Buhlnarren zu bezeichnen«.50 Wieder übernimmt Geiler fast alles aus einer einzigen Quelle, Boccaccios ›Genealogie deorum gentilium‹ von 1365,51 die hier ihrerseits auf Fulgentius’ ›Mitologie‹ beruht. Wörtliche Zitate, vor allem aus dem 23. Kapitel, machen die Hälfte der Erklärungen aus. Der dritte Teil der Predigt baut auf einer Allegorese auf, die Geiler wohl selbst entworfen hat. Doch auch hier werden literarische Bezüge sichtbar. Für die Warnung vor der luxuria und ihrer Wirkung benutzt Geiler Hieronymus und Jesaja, für die remedia amoris einige Ovid-Verse, eine Anspielung auf das Exempel des Ägist, deren Quelle jedoch nicht genannt wird. Wenn die drei hier vorgestellten Beispiele einigermaßen repräsentativ sein sollten, dann wird vor allem eines deutlich. Im Unterschied zu Brant und Locher greift Geiler nur selten direkt auf die antike Literatur zurück. Die zahlreichen Sentenzen antiken Ursprungs sind zumeist indirekt in die Predigt geraten. Sie werden von Geiler auch nicht einfach aus anderen Werken herausgelöst, sondern werden als Teil ihres sekundären Kontextes mit übernommen. Diese sekundären Kontexte, Geilers primäre Quellen, sind vor allem moraltheologische und moralphilosophische Werke des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ob es sich bei seinen Vorlagen um scholastische oder humanistische Literatur handelt, macht für Geiler offensichtlich keinen Unterschied. Er faßt sie als Steinbrüche auf, aus denen er sein Predigtmaterial klopft. Wo er seine Quellen nennt, primäre wie sekundäre, gewinnt man nicht den Eindruck, daß er ihre Autoren als Autoritäten anführt, sondern als Verweise für andere Prediger, die weiteres Material brauchen. So ist es nur konsequent, daß diese Verweise in Paulis deutscher Übersetzung sehr häufig fehlen, was Pauli, der ja selbst Prediger war,52 damit begründet, daß er sich in seiner Übersetzung an der gesprochenen Predigt Geilers orientiert: Auch hat er mit willen vil auctoritates vnd inzüg der geschrifft vnderwegen gelasen / vß vrsachen wan ein doctor zuo zeiten gar anders schreibt in ein buoch / vnd auch darneben anders prediget dem 50 51
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Geiler, Navicula [Anm. 37], XXII, VI, O: qua eam veteres descripserunt [...] vt mores et miserias procorum venereorum significarent. Giovanni Boccaccio, Genealogie deorum gentilium. De montibus, silvis, fontibus, lacubus, fluminibus, stagnis seu paludibus, de diversis nominibus maris, hg. von Vittore Branca, 2 Bände, Mailand 1998 (Tutte le opere di Giovanni Boccaccio 7/8). Vgl. Die Predigten Johannes Paulis, hg. von Robert G. Warnock, München 1970 (MTU 26).
Die Rezeption antiker und humanistischer Literatur bei Geiler von Kaysersberg
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volck / als die bücher beweren deren die da bücher geschriben vnd geprediget hond.53 Die eingangs aus Wimpfelings Lebensbeschreibung zitierten Angaben über Geilers Lektüregewohnheiten und seine humanistische Bildung werden durch den Eindruck, den man schon bei der Untersuchung weniger ›Narrenschiff‹Predigten erhält, bestätigt. Der Bildungshorizont Geilers scheint sich sich weitgehend mit demjenigen seines humanistischen Freundes- und Schülerkreises zu decken. Die in den Werken zutage tretenden Unterschiede sind hauptsächlich gattungsbedingt. Für den Prediger konnte die Anhäufung von Sentenzen und Exempeln aus der Bibel und aus antiken Texten, die Brants deutsches ›Narrenschiff‹ ebenso bestimmt wie Lochers lateinische Überarbeitung, nur thematische Anregungen bieten. Die Notwendigkeit, in der Predigt in aller Ausführlichkeit zu lehren, zu ermahnen und zu erbauen, rückt Geilers ›Navicula sive speculum fatuorum‹ eher in die Nähe anderer Werke der oberrheinischen Humanisten. Besonders Wimpfelings ›Adolescentia‹ läßt einen ähnlichen, gezielt sammelnden Rückgriff auf scholastische wie humanistische Autoren erkennen:54 »Die Adolescentia ist ein Mosaikwerk aus Entlehnungen. Wimpfelings Liste derer, quos imitati sumus quorumque sententias citavimus (S. 187) wie er sagt, umfaßt in der Erstedition 50 Namen. Wie zu erwarten, geschieht dieses citare nicht im exakten Sinne, wie wir es gewohnt sind, sondern nur sehr ungefähr, vielfach irrtümlich; zahlreiche Zitate oder Anklänge sind überhaupt nicht gekennzeichnet und müssen erst an ihrem Ort gesucht und verifiziert werden.«55 Herdings Charakterisierung läßt sich ohne Einschränkungen auf die ›Narrenschiff‹-Predigten übertragen. Mehr noch: Nicht wenige der in die ›Adolescentia‹ eingearbeiteten Autoren begegnen auch bei Geiler, von Poggio und Petrarca über Gerson bis zu Sebastian Brant. Und auch die fortwährende Übernahme von meist antiken Sentenzen aus mittelalterlichen oder humani53
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Des hochwirdigen doctor Keiserspergs narenschiff so er gepredigt hat zuo straßburg in der hohen stifft daselbst Predictant der zeit. 1498 dis geprediget und vß latin in tütsch bracht / darin vil weißheit ist zuo lernen / und leert auch die narrenschel hinweck werffen. ist nütz und guot alen menschen, Straßburg: Grüninger, 23. August 1520 [=VD 16, Nr. G780; benutztes Exemplar: Göttingen, SUB, 4° Patr. Lat. 2446/15], Bl. IXa. Vgl. Jakob Wimpfelings Adolescentia, unter Mitarb. v. Franz Josef Worstbrock eingeleitet, komm. u. hg. von Otto Herding, München 1965 (Jacobi Wimpfelingi opera selecta I), S. 28–151. Ein ähnliches Verfahren der Quellenauswahl und -verwendung wird in Wuttkes ausführlichem Stellenkommentar zu Schwenters ›Histori herculis‹ allenthalben deutlich: Dieter Wuttke, Die Histori Herculis des Nürnberger Humanisten und Freundes der Gebrüder Vischer, Pangratz Bernhaubt gen. Schwenter. Materialien zur Erforschung des deutschen Humanismus um 1500, Köln/Graz 1964 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 7), S. 68–227. Herding [Anm. 54], S. 28.
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stischen Quellen läßt sich bei beiden beobachten.56 Mit Wimpfeling, der ja die Herausgabe der Werke Gersons durch Schott und Geiler fortgesetzt hat, teilt er offensichtlich die Überzeugung, daß alle nötigen Reformen in der richtigen Erziehung gründen, die »durch die neue Bildung«, jedoch »einen auf die Kirchenväter mehr als auf Literatur der paganen Antike fundierten Humanismus, gewährleistet werden«.57 Wimpfelings Geiler-Biographie zeigt an vielen Stellen, daß das Vorbild für den »humanistisch gebildeten Weltpriester«, den Wimpfeling zunehmend in »den Mittelpunkt seiner Reformvorstellungen u.[nd] pädagog.[ischen] Bemühungen rückte« (ebd.), Geiler von Kaisersberg war.58
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Ebd., S. 28: »Selbstverständlich kann, wird sogar häufig auch das – wörtliche oder sinngemäße – Zitat wieder ex rivulo, non ex fonte, aus einer ›sekundären Quelle‹ also, geschöpft sein, Quintilian aus Enea Silvio, Aristoteles aus Aegidius Romanus usw.« Vgl. auch August Buck, Die »Studia humanitatis« und ihre Methode, Bibliothe`que d’Humanisme et Renaissance 21 (1959), S. 273–290. Dieter Mertens, Wimpfeling, in: Literaturlexikon, hg. von Walther Killy, XII, S. 341f., hier S. 341. Vgl. Herding [Anm. 10], der S. 42 »Wimpfelings Vita Geilers nicht ausschließlich, aber doch auch als moralisch-kirchenpolitische Programmschrift« auffaßt: »Was dieser aber zugute kommt, geht der Biographie ab. Freilich muß man hinzufügen: sie war auch kaum anders intendiert, Geiler ist das personifizierte Reformprogramm und für Wimpfeling allein unter diesem Aspekt wesentlich.« Vgl. auch Kraume [Anm. 8], S. 91–96.
Stefanie Schmitt
Humanistisches bei Georg Wickram? Zur Problematik deutschsprachiger humanistischer Literatur
Georg Wickram gehört zu den herausragenden deutschsprachigen Autoren des 16. Jahrhunderts. Sein umfangreiches Werk deckt ein weites Spektrum unterschiedlichster Themen und Gattungen ab: religiös und moralisch-didaktisch ausgerichtete Spiele1 und didaktische Dichtungen,2 eine Sammlung von Meisterliedern (1549), die im ›Rollwagenbüchlein‹ (1555) gesammelten Schwänke und fünf Prosaromane. Daß der aus Colmar stammende Autor3 Kontakte zum oberrheinischen Humanismus hatte, belegen die Colmarer Stadtannalen: Sie berichten von einer 1542 im Auftrag des Rates unternommenen Reise Wickrams zum Reichstag nach Speyer und zur Frankfurter Messe, die dazu dienen sollte, die vom Colmarer Stadtschultheißen Hieronymus Boner ins Deutsche übersetzten ›Vitae parallelae‹ Plutarchs4 zu verkaufen.5 Daß Wickram mit dem Vertrieb von Boners Plutarch-Übersetzung betraut war, muß nicht unbedingt heißen, daß er dieses oder andere zu dieser Zeit neu übersetzte Werke antiker Autoren auch inhaltlich zur Kenntnis genommen hat. Hinweise darauf finden sich allerdings in seinen Werken, wobei noch nicht ausreichend untersucht ist, welcher Stellenwert dieser Rezeption antiker, aber auch humanistischer Autoren in deut1
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›Die Zehen alter der welt‹ (1531); ›Der Trew Eckart‹ (1532/1538); ›Das Narren gießen‹ e (1537/1538); ›Ein schones und Euangelisch Spil von dem verlorenen Sun‹, (1540); ›Tobias‹ (1550/1551). ›Loszbuch‹ (1539); ›Dialogus über die Trunkenheit‹ (1551); ›Die Siben Hauptlaster‹ (1556), ; ›Der Irr reitende Pilger‹ (1555/56). Zur Biographie vgl. Jan-Dirk Müller, Kommentar, in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hg. von Jan-Dirk Müller, Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 1267f. Vgl. Franz Josef Worstbrock, Deutsche Antikenrezeption 1450–1550. Teil 1: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren, Boppard am Rhein 1976 (Veröffentlichungen zur Humanismusforschung 1), S. 118, Nr. 298. [W]ir habent 204 Bücher plutarchs jnn 4 fass schlahen, die gen Speir füeren vnd vnserm burger Jergen Wickramen zugegen befehlen lossen, derselben so vil möglich vff jetzigen richstag Speir zu vertriben vnd was vberplibt, den nechsten in franckfurter Mess o zu andern büechern des orts ligendt zu achten und [...] zu verkouffen. (Ratsbrief aus dem Colmarer Stadtarchiv vom 2. März 1542; zit. nach: Hannes Kästner, Antikes Wissen für den ›gemeinen Mann‹. Rezeption und Popularisierung griechisch-römischer Literatur durch Jörg Wickram und Hans Sachs, in: Latein und Nationalsprachen in der Renaissance, hg. von Bodo Guthmüller, Wiesbaden 1998, S. 345–378, hier S. 345, Anm. 1).
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scher Übersetzung für Wickrams eigene Werke zukommt und ob man sie als ›humanistisch‹ bezeichnen kann.
I In der Forschung findet man dazu gegensätzliche Einschätzungen: Erich Kleinschmidt betont Wickrams Distanz zum Humanismus: Wickram schrieb zwar im Einflußspektrum des oberrheinischen Humanismus, doch nahm er von ihm nur bedingt Impulse auf. Dessen inhaltliche wie ästhetische Perspektiven blieben ihm in der Substanz fremd, so daß sich nur eine oberflächliche Rezeption einstellt.6
Offen bleibt, wie man sich diese »oberflächliche Rezeption« vorzustellen hat. Hannes Kästner hingegen glaubt, bei Wickram (und bei Hans Sachs) eine »besondere Spielart des deutschen Humanismus«7 feststellen zu können: Die Anstrengungen dieser beiden volkssprachlichen Autoren, antike Texte und Themen mit Hilfe von Adaptions- und Transformationsprozessen aus dem Verfügungskreis der lateinkundigen Gelehrten zu lösen und so die Schatzkammer antiken Wissens auch für den ›gemeinen Mann‹ ein Stück weit zu öffnen, sollte ihnen als besonderes Verdienst angerechnet werden. In diesem Sinne kann man sie als Vertreter eines spezifischen deutschen Renaissance-Humanismus würdigen.8
Wenn der Begriff ›Renaissance-Humanismus‹ hier nicht nur einen bestimmten Zeitraum bezeichnen soll, müßte das heißen, daß sich Wickrams Antikenrezeption von mittelterlicher Antikenrezeption abgrenzen und als spezifisch ›humanistisch‹ beschreiben läßt. Doch auf eine Bestimmung dessen, was hier unter ›humanistisch‹ zu fassen sei, läßt Kästner sich nicht ein. Die Stichwörter jedoch, mit denen er Wickrams Umgang mit den ›Metamorphosen‹ beschreibt: als »Einebnung der zeitbedingten kulturellen und religiösen Unterschiede und [als] Verringerung der historischen Distanz«,9 als Tendenz zur »Exemplifizierung und Moralisierung des antiken Erzählgutes«10 und als Einbettung in einen »christlichen Verständnis-Rahmen«,11 scheinen einer Charakterisierung mittelalterlicher Antikenrezeption entlehnt.12 6
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Erich Kleinschmidt, Jörg Wickram, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk, hg. von Stephan Füssel, Berlin 1993, S. 494–511, hier S. 500. Kästner [Anm. 5], S. 378. Ebd. Ebd., S. 371. Ebd. Ebd., S. 372. Vgl. Manfred Kern, Einführung in Gegenstand und Konzeption, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. von Manfred Kern
Humanistisches bei Georg Wickram?
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Der Sache nach ist Kästners Beschreibung von Wickrams Verfahren in den ›Metamorphosen‹ durchaus zutreffend. In der Forschung ist wiederholt – und zuletzt mit ausführlicher Darlegung der Befunde von Brigitte Rücker – darauf hingewiesen worden, daß die mittelalterliche Prägung des Werks nicht in erster Linie damit zusammenhängt, daß Wickram als Vorlage die mittelhochdeutsche ›Metamorphosen‹-Bearbeitung Albrechts von Halberstadt und nicht das lateinische Original oder eine diesem verpflichtete deutsche Übersetzung aus dem 16. Jahrhundert heranzieht. Nach den überlieferten Fragmenten zu urteilen, hat Albrecht sich nämlich trotz einiger Auslassungen an aus christlicher Sicht moralisch fragwürdigen Stellen, einzelner »volksmythologische[r] Deutungen«13 und der in einigen Passagen deutlich greifbaren Höfisierung, die wohl als Tribut an das mit antiker Mythologie nicht vertraute Publikum zu werten sind,14 »in der Darstellungsweise relativ genau an seine Vorlage gehalten«.15 Er unterlegt seinen ›Metamorphosen‹ auch keine ›interpretatio christiana‹, wie es für die Tradition des ›Ovide moralise´‹ seit dem 14. Jahrhundert charakteristisch ist.16 Hier knüpft erst Wickrams ›Metamorphosen‹-Bearbeitung an, die in den zeitgenössischen Drucken immer zusammen mit dem Kommentar des Gerhard Lorichius erscheint. Durch die Texteinrichtung avanciert der Kommentar zu einem elementaren Bestandteil der ›Metamorphosen‹, denn Wickram unterteilt jedes der 15 Bücher in drei Teile und zwischen diesen als figuren bezeichneten Buchdritteln befinden sich die Auslegungen von Lorichius zu der betreffenden Passage.17 Diese enge Verschränkung von Text und Auslegungen soll offenkundig bewirken, daß die ›Metamorphosen‹ durch die Brille des Kommentars rezipiert werden. Stackmann betont, daß diese Rezeptionssteuerung ganz an die Tradition mittelalterlicher Exegese anschließt: Lorichius schreibt seinen Kommentar im Geist mittelalterlicher Schriftauslegung. Mag er diesen Geist nur mangelhaft oder oberflächlich begriffen haben, an dem Zusammenhang als solchem ist nicht zu zweifeln.18
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und Alfred Ebenbauer, Darmstadt 2003, S. IX−LVII, hier S. XII−XX; Elisabeth Lienert, Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 13–17; forschungsgeschichtlich wegweisend: Karl Stackmann, der alten werdekeit. Rudolfs ›Alexander‹ und der Roman des Q. Curtius Rufus, in: Festschrift Josef Quint anläßlich seines 65. Geburtstages überreicht, hg. von Hugo Moser [u. a.], Bonn 1964, S. 215–230; Karl Stackmann, Ovid im deutschen Mittelalter, Arcadia 1 (1966), S. 231–254, bes. S. 245–254. Kern [Anm. 12], S. XXII. Vgl. Brigitte Rücker, Die Bearbeitung von Ovids ›Metamorphosen‹ durch Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram und ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius, Göppingen 1997 (GAG 641), S. 54–86. Kern [Anm. 12], S. XXII. Ebd. Vgl. Georg Wickram, Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, Band 13/1,2: ›Ovids Metamorphosen‹, Berlin/New York 1990; Karl Stackmann, Die Auslegungen des Gerhard Lorichius zur ›Metamorphosen‹-Nachdichtung Jörg Wickrams, ZfdPh 86 (1967), S. 120–160, hier S. 124f.
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Das Anknüpfen an mittelalterliche Ovid-Kommentierung hat seinen Grund allerdings nicht darin, daß sich das Werk an ein ungelehrtes, nicht lateinkundiges Publikum wendet, sondern steht im Zusammenhang mit einer Sonderentwicklung im Bereich der Mythographie: Sie orientiert sich, auch in lateinischer Sprache, in ganz Europa bis ins 17. Jahrhundert hinein an mittelalterlichen Vorbildern und Traditionen.19 Wickrams ›Metamorphosen‹-Bearbeitung ordnet sich mit dem beigegebenen Kommentar also in eine allgemeine Tendenz ein. e e In der Widmungsvorrede an Wilhelm Bockle von Bocklesaw formuliert der elsässische Autor das Ziel, das er mit seinem Werk verfolgt: eine ›Modernisierung‹ der sprachlich als veraltet angesehenen Übersetzung Albrechts von Halberstadt. Es heißt dort: o
Damit aber eüwer Veste vernem woher mir diß Buch behendigt / hat sich der gestalt o o o zugetragen / als man zalt von unsers Herren und Seligmachers geburt 1210 Jar / zu den e zeitten des loblichen Fursten unnd Herren Lantgraven Hermans / eyn Lantvogt inn o Türingen. Diser hat gehabt auff eynem seinem schloß Zechenbuch genant / eynen wolgelerten mann / mit namen Albrecht von Halberstatt / auß dem landt Sachsen / der o selbig mit grosser arbeyt dise fünfzehen Bucher inn reimen gestelt / wie aber semliche reimen geschriben seind / werden an volgendem blat inn seiner Vorred / die ich nit hab e anderen wollen / gelesen / wiewol ich die inn keynen weg schelten kan / so seind sie doch mit solchemm alten Teütsch und kurtzen versen gemachet / so daß sie mit keye nem verstand gelesen mogen werden. Die selben reimen hab ich nit alleyn geendert e oder corrigiert / sunder gantz von neüwem nach meinem vermogen inn volgende ordnung brocht / und auch mit schlechter kunst / als eyn selbgewachßner Moler mit Figuren gekleidet (Wickram, ›Ovids Metamorphosen‹, S. 5, 24–6, 15).
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Stackmann [Anm. 17], S. 149; vgl. auch die allerdings wenig pointierten Ausführungen von Rücker [Anm. 14], S. 292–321. – Daß Kommentare durchaus zur Erschließung antiken Wissens in der Volkssprache eingesetzt werden können, zeigt etwa eine Randglosse bei Dietrich von Pleningen, Gay Pliny des andern lobsagung . . . [Panegyricus Traiano imperatori dictus], Landshut: Johann Weißenburger 1515, fol. B ij: e Consulat ampt ist der hochst stand zu Rom gewest ee die kayser in gwalt kamend darnoch der ander stand worde¯ Consul: ainer der zu Rome dem gemainen nutz vor was: vn¯ nach dem Kayser de¯ groste¯ gewalt vor den keysern: de¯ ersten behielte. Vgl. Jean Seznec, Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance, München 1990, S. 163–249; Hartmut Kugler, Handwerk und Meistergesang. Ambrosius Metzgers ›Metamorphosen‹Dichtung und die Nürnberger Singschule im frühen 17. Jahrhundert, Göttingen 1977 (Palaestra 265), Kap. 3–5. Kugler zeigt, daß Ambrosius Metzgers Versuch, in seinem ›Metamorphosen‹-Liederzyklus gelehrt-humanistische Aspekte zu betonen, sich vor allem in einem Verzicht auf moralische Ausdeutung niederschlägt (S. 170–173). Doch das bedeute nicht, daß er sich von der Tradition des ›Ovide moralise´‹ programmatisch abgrenzen wolle. Es verringere sich eher der Stellenwert der Auslegungen: »Zwar ist er [Ambrosius Metzger, St. Sch.] durchaus bereit, den mythologischen Fabeln eine gute christliche Lehre abzugewinnen, aber diese Lehre ist nicht der Hauptzweck, den er mit seiner ›Metamorphosis‹ verfolgt« (S. 167).
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Angestrebt wird eine der Verständlichkeit zuträgliche und am zeitgenössischen Sprachgebrauch ausgerichtete Überarbeitung sowie eine neue Anordnung der Texte; eine Absicht, die in der Vorrede an den Leser noch einmal bekräftigt wird.20 Diese schließt an den unverändert übernommenen Prolog Albrechts von Halberstadt an, der den Rezipienten exemplarisch die Schwierigkeiten der älteren Sprache erfahren läßt. Durch die Publikation im Druck trägt Wickram de facto zwar zur Weiterverbreitung des mythologischen Repertoires von Ovid beim volkssprachigen Publikum bei, aber dieser Aspekt spielt nur in der Titelformulierung, nicht in Widmung und Vorrede an den Leser eine Rolle, wenn die Eignung der ›Metamorphosen‹ als Stoffquelle für Maler und Künstler erwähnt wird.21 Da es aus dieser Perspektive auch nicht darauf ankommt, die antike Dichtung Ovids an sich und als Zeugnis einer vorbildhaften vergangenen Epoche wahrzunehmen und zu präsentieren, sondern auf die »Bereitstellung«22 von Stoff, schmälert es den Stellenwert von Wickrams Werk nicht, daß er nicht auf das lateinische Original rekurriert. Dafür hätten, wie er in der Vorrede an den Leser erwähnt, seine Lateinkenntnisse auch nicht ausgereicht.23 Sofern man nicht ›Humanismus‹ und Antikenrezeption undifferenziert in eins setzt, fehlt also jede Grundlage dafür, Wickrams ›Metamorphosen‹-Bearbeitung als ›humanistisch‹ oder als eine Variante des »deutschen Humanismus« zu bezeichnen. Das Werk des elsässischen Autors reiht sich vielmehr in eine vom Humanismus generell weitgehend unbeeinflußte mythographische Tradition ein und bleibt mittelalterlichen Exegeseverfahren verhaftet.24 Wenn Wickram selbst oder Hans Sachs einzelne Geschichten aus den ›Metamorphosen‹ in ihren Werken verarbeiten, greifen sie die Option aus der Titelformulierung auf und nutzen die Ovidianische Dichtung als Stoffreservoir.25 In dieser Hinsicht 20
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[D]ann das [Abdruck von Albrechts Prolog] auß keyner verachtnuß geschehen / sunder alleyn darum / das du magst erkennen / wo dise bücher solcher gestalt getruckt weren worden / das sie mit schwerem verstand hetten mügen gefaßt werden / wie dann die alten reimen gemeinlich mit schwerem verstand außgetruckt seindt. [...] So weit o mir aber müglich / hab ich mich geflissen meine reimen zum verstentlichsten zu machen [...] (Wickram, ›Ovids Metamorphosen‹, S. 10, 3–13). P. Ovidii Nasonis deß aller sinn=reichsten Poeten Metamorphosis / Das ist von der wunderbarlicher Verenderung der Gestalten der Menschen / Thier / und anderer Creaturen etc. Jederman lüstlich / besonder aber allen Malern / Bildhauwern / unnd dergleichen allen Künstnern nützlich / Von wegen der ertigen Invention unnd Tichtung. (Wickram, ›Ovids Metamorphosen‹, S. 4). Auf diesen Aspekt weist Kleinschmidt [Anm. 6], S. 500, hin. Erich Kleinschmidt, Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen und Entfaltung im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum, Köln/Wien 1982, S. 260. Wickram, ›Ovids Metamorphosen‹, S. 5, 22–24. Zu Wickrams Lateinkenntnissen: Rücker [Anm. 14], S. 116–121. Das übersieht Kleinschmidt [Anm. 22], S. 259, wenn er aus dem Fehlen einer »Überformung in Richtung auf ein humanistisch-gelehrtes Stilideal« in Wickrams ›Metamorphosen‹ auf die »fehlende Existenz eines deutschen Vulgärhumanismus« schließt. Vgl. Kästner [Anm. 5], S. 377f.
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könnte man ihnen sogar ein gewisses Verdienst um die Verbreitung von Ovids Mythologie im Deutschen zusprechen, aber das spielt sich weit abseits von jeglichem humanistischen Impetus ab.
II Nach dem zunächst negativen Befund bei Wickram stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien ein Werk mit dem Attribut ›humanistisch‹ belegt werden kann. Ohne hier in die grundsätzlichen Probleme von Epochalisierungen einsteigen zu können,26 möchte ich an allgemeine Charakteristika des Humanismus erinnern:27 – Der Humanismus interessiert sich für den Menschen, wie er »in der Geschichte und vor allem in den Texten der Antike Realität gewonnen hat.«28 – Er zeichnet sich durch eine kritische Haltung zur Tradition aus und strebt danach, das in der Gegenwart und den vorangehenden Jahrhunderten verlorene oder verfälschte antike Erbe im Rückgriff auf die Quellen (ad fontes) wieder zu entdecken. Die so motivierte Erschließung antiker Texte durch Editionen, Kommentare und Übersetzungen erweitert das Spektrum der bekannten antiken Überlieferung beträchtlich. Bei den zahlreichen neu angefertigten deutschen Übersetzungen antiker Texte, die von der Forschung erst zu einem geringen Teil erschlossen sind,29 müßte jedoch zunächst im Einzelfall geklärt werden, ob sie tatsächlich die lateinischen oder griechischen Originale per se zugänglich machen wollen oder ob sie nicht doch eher an mittelalterliche Antikenrezeption anschließen. – Charakteristisch für den Humanismus ist das »Bewußtsein einer epochalen Schwelle«,30 d. h. die Zuwendung zur Antike vollzieht sich im Bewußtsein des historischen Abstandes31 und »in Abgrenzung gegenüber einer voraus26
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Wie unterschiedlich die Epochenwende in Italien und Deutschland inszeniert wird, zeigt Jörg Robert, Carmina peridium nulli celebrata priorum. Zur Inszenierung von Epochenwende im Werk des Conrad Celtis, PBB 124 (2002), S. 92–121. Vgl. Herbert Jaumann, Humanismus 2, 3RL II, S. 95–100, hier S. 95f. Jaumann [Anm. 27], S. 95. Vgl. Worstbrock [Anm. 4]; Simone Drücke, Humanistische Laienbildung um 1500. Das Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried, Göttingen 2001 (Palaestra 312); Annette Gerlach, Das Übersetzungswerk Dietrichs von Pleningen. Zur Rezeption der Antike im deutschen Humanismus, Frankfurt a. M. [usw.] 1993 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 25). Walter Haug, Die Zwerge auf den Schultern der Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Kosellek, München 1987 (Poetik und Hermeneutik, 12), S. 167–194, hier S. 171. Vgl. Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, Frankfurt a. M. 2 1996, S. 116.
Humanistisches bei Georg Wickram?
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gehenden Epoche der Barbarei«.32 Erst unter dieser Bedingung kann die Antike als etwas Eigenes wahrgenommen werden. Sie dient dann nicht mehr primär als Stofflieferant, wobei die Stoffe und Figuren einer beliebigen Fragmentierung und heterogenen Deutungen unterzogen werden können.33 Daß der Humanismus ganz überwiegend an (lateinisch gebildete) gelehrte Zirkel gebunden ist, wirft für die deutschsprachige Literatur die Frage auf, ob und wie er hier überhaupt greifbar wird. Daß zumindest in Paratexten ›humanistische‹ Motive für die Übersetzung antiker Autoren ins Deutsche eine Rolle spielen können, zeigt etwa Bernhard Schöfferlins Vorrede zum ersten Teil der ›Römischen Historie‹, gedruckt 1505 bei Johann Schöffer in Mainz.34 Die nach mehreren Quellen35 gearbeitete Geschichte Roms von den Anfängen bis zur Monarchia, die die Kaiserwürde der Gegenwart begründe,36 wurde nach Schöfferlins Tod (1501) von Ivo Wittich nach Titus Livius zuende gebracht.37 Schöfferlin begründet in seiner programmatischen Vorrede sein Vorhaben und die Wahl der Quellen damit, daß sich die von den alten Römern aufgezeichneten historien durch ihren hohen Wahrheitsgehalt sowie durch die genaue Darstellung der für das Verständnis notwendigen Umstände, Reden und Taten auszeichneten.38 Das Fehlen von historien dieser Art in deutscher Sprache habe ihn zu seiner Geschichte Roms veranlaßt, die er dem gemeinen nutz zu gut, zu lob und eer tütscher nation verfaße. Für den Nutzen seines Werks rekurriert Schöfferlin auf den historia magistra vitaeTopos. Das Besondere ist, daß er den historischen Abstand zwischen dem in den historien Berichteten und der Gegenwart ausdrücklich in den Blick nimmt:
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Haug [Anm. 30], S. 171. Zu ›Fragmentierung‹ und ›Heterogenität‹ als Kennzeichen mittelalterlicher Antikenrezeption Kern [Anm. 12], S. XXIII−XIX. Grundlegende Informationen zu Verfasser und Werk bei Walther Ludwig, Römische Historie im deutschen Humanismus, Hamburg 1987 (Sitzungsberichte der Joachim-Jungius-Gesellschaft Hamburg 5,1); Carla Winter, Humanistische Historiographie in der Volkssprache. Bernhard Schöfferlins ›Römische Historie‹, Stuttgart/Bad Cannstatt 1999 (Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur, NF 6), S. 1–23; Walter Röll, Bernhard Schöfferlins Vorrede zum 1. Teil der ›Römischen Historie‹ (1505), ZfdA 117 (1988), S. 210–223, hier S. 218, zeigt gedankliche Verbindungen zu italienischen Humanisten auf und sieht Schöfferlin »auf dem Boden der humanistischen historiographischen Topoi«. Zu den Quellen Ludwig [Anm. 34], S. 53–56. Und wie es am ledsten zu der Monarchia – das ist zu gewalt und regiment eins einigen menschen – kommen sy, dadurch die keyserliche würde iren ursprung und anfang genommen hat [...]. (zit. nach Röll [Anm. 34], S. 222, Z. 63–65). Röll [Anm. 34], S. 211. [...] wan von inen ein yde geschicht warlich, wie sich die an ir selbs begeben hat, mit allen umbstenden, worten und tatten, dar an icht gelegen gewesen ist, beschriben wirt [...] (zit. nach Röll [Anm. 34], S. 221, Z. 6f.).
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Wer aber flißlich historien unnd alt geschichten lißt unnd dar durch erfert, nit allein was in eins menschen leben oder in einer stat, sonder was sich in allen landen und stetten vor zweytusent iaren her mercklichs begeben hat, der mag [...] in kurtzen iaren erlangen vernunfft und geschiklicheit, das er sich on zwyfel in allem dem, das im in synem leben zustet, dester weißlicher unnd fürsichtigklicher halten, im selber unnd andren nutz schaffen, Eer und lob erlangen mag [...].39
Die Beschäftigung mit der römischen Geschichte, die in historischer Distanz40 wahrgenommen und nicht im Anschluß an mittelalterliche Geschichtsschreibung in der Heilsgeschichte verankert wird,41 erweitert nach Schöfferlins Ansicht den Horizont und helfe bei der erfolgreichen Bewältigung der Gegenwart.42 Ein Bewußtsein für Historizität zeigt Schöfferlin auch bei seiner Ankündigung einer Geschichte der Deutschen. In ihr will er ordenlich beschriben, was in vor fünffzehenhundert iaren mit den Römern und ander nation begegnet ist [...].43 Zusätzlich zu dem von Röll nachgewiesenen Einfluß italienischer Humanisten auf einzelne Gedanken und Formulierungen in der Vorrede lassen also auch die beiden folgenden Punkte eine humanistische Prägung erkennen: 1. Schöfferlin will mit seinem Werk bisher in deutscher Sprache nicht zugängliches Wissen über die römische Geschichte (und die nationale Vergangenheit) erschließen und dabei auf authentische Quellen mit höchster Glaubwürdigkeit zurückgreifen (ad fontes). 2. Er drückt dabei ein Bewußtsein für die historische Distanz zwischen Gegenwart und Antike aus und verzichtet ganz auf heilsgeschichtliche Rückkoppelung.
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Zit. nach Röll [Anm. 34], S. 222, Z. 43–49. Vgl. ähnlich die Widmungsvorrede an Kaiser Maximilian von Dietrich von Pleningen zu seiner Sallust-Übersetzung: Des hochberompten Latinischen histori schreibers Salustij zwo schon historien [...] Landshut: Johann Weißenburger 1515, fol. A iiij: Was e nutzes auch historien zu losen auff ir tragen: findt man: aus dem / sy ist ein gezeug der e zeit. ein liecht der warhait. ein maisterin des lebe¯s / ein amptmanin der gedechtnus. vn¯ ein verkunderin der alten geschichten. [...] dan (wie Cicero sagt) nichts von den dingen so geschechen sind ee. du geporn wurdest: zu wissen: ist nichts anderst dann ain kind zupleiben. Vgl. Röll [Anm. 34], S. 213. Vgl. dazu die Analyse zweier Kapitel aus der ›Römischen Historie‹ von Walther Ludwig, Erasmus und Schöfferlin. Vom Nutzen der Historie bei den Humanisten, in: Humanismus und Historiographie, hg. von August Buck, Weinheim 1991, S. 61–88, hier S. 74–83. Zit. nach Röll [Anm. 34], S. 223, Z. 69f.
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III Das Fehlen solcher humanistischen Elemente in Wickrams ›Metamorphosen‹Bearbeitung könnte zu der Hypothese Anlaß geben, daß die humanistische Bewegung bei ihm keine Spuren hinterlassen habe. Doch dafür müssen noch die Werke geprüft werden, in denen das Anschließen an Antikenrezeption in mittelalterlicher Tradition nicht mit der Sonderentwicklung der Mythographie erklärt werden kann. Dafür ziehe ich die als Dialog gestaltete, didaktisch angelegte Versdichtung ›Der irr reitende Pilger‹ und die Romane heran, weil diese Werke auf den ersten Blick Anhaltspunkte für eine Verarbeitung humanistischen Wissens zu enthalten scheinen.44 Im ›Irr reitenden Pilger‹ gibt es im Haupttext und in den Randglossen eine Reihe solcher Indizien. Wenn etwa der Tod in seinem ersten Gespräch mit dem Pilger seine Macht nicht nur veranschaulicht, indem er auf die Nutzlosigkeit von Samsons Stärke und auf die Ohnmacht des mächtigen Herrschers Alexander des Großen verweist, sondern auch Beispielfiguren aus Homers ›Odyssee‹ nennt, läßt sich das nicht mit mittelalterlicher Antikenrezeption erklären. In dem Hinweis, daß weder die läuferische Schnelligkeit eines Clitonius noch die Ringerkunst eines Eurialus noch die Sprungkraft eines Elatrius einen Menschen dem Tod entkommen lassen könnten,45 steckt möglicherweise ein neuer Antikebezug. In der Randglosse dazu findet sich der Verweis auf das achte Kapitel der ›Odyssee‹, die Wickram in der ersten deutschen Übersetzung von Simon Schaidenraisser (1537) rezipiert hat,46 sowie eine kurze Kontextualisierung: die genannten Figuren hätten auf Geheiß des Königs Alcinus den schiffbrüchigen Odysseus mit sportlichen Wettkämpfen unterhalten sollen.47 Doch obwohl hier auf neues, im Mittelalter unbekanntes Antikenwissen angespielt wird, zeigt sich kein neuer Zugang zur Antike. Das liegt zum einen daran, daß Wickram gar 44
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Für die Romane hat das die ältere Forschung festgehalten: vgl. Martha Waller, Wickrams Romane in ihrer künstlerischen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Briefe, ZfdPh 64 (1939), S. 1–20. Georg Wickram, Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, Band 6: ›Der irr reitende Pilger‹, Berlin/New York 1972, S. 16, V. 80–92. Zu Schaidenraissers Übersetzung der ›Odyssee‹ Petra Fochler, Fiktion als Historie. Der Trojanische Krieg in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 4), S. 69–78. ›Der irr reitende Pilger‹, S. 16. Kapitelangabe und Kontextualisierung sind korrekt. Ob Clitonius, Eurialus und Elatrius als Sieger in den jeweiligen Disziplinen deshalb hervorgehoben werden, weil sie auch bei Schaidenraisser in einer Randglosse genannt werden, wäre zu überlegen. Neu ist bei Wickram die exemplarische Funktionalisierung der Figuren für die unbesiegbare Macht des Todes. Vgl. ›Odyssea‹. Das seind die aller zierlichsten vnd lustigsten vier vnd zwaintzig bücher des eltisten kunstreichesten Vatters aller Poeten Homeri zu Teütsch tranßferiert / mit argumenten vnd kurtzen scholijs erkläret durch Simon Schaidenraisser. Faksimiledruck der Ausgabe Augsburg 1537, hg. von Günther Weydt und Timothy Sodman, Münster 1986, fol. XXXv.
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nicht am Eigenwert der antiken Figuren oder gar der antiken Dichtung interessiert ist, sondern eine für mittelalterliche Antikenrezeption kennzeichnende Fragmentierung betreibt,48 indem er die Figuren auf eine bestimmte Eigenschaft reduziert und exemplarisch funktionalisiert, und zum anderen hängt es mit der Machart von Schaidenraissers Übertragung zusammen. Da dieser aufgrund mangelnder Griechischkenntnisse auf zwei zeitgenössische lateinische ProsaÜbersetzungen zurückgreift, kann von einer dem griechischen Original verpflichteten ›Übersetzung‹ nicht die Rede sein. Schaidenraissers Übertragung dokumentiert deutlich das Bestreben, die ›Odyssee‹ in deutscher Sprache zu erschließen, indem er z. B. »Fremdartiges durch Vertrautes ersetzt«,49 Sprichwörter und Redewendungen verwendet und noch stärker als seine Vorlagen kürzt, aber er orientiert sich dabei am literarischen Horizont seines volkssprachigen Publikums und nicht am antiken Original. Als ›humanistisch‹ kann also die Benützung der ›Odyssee‹ hier nicht gelten. Die Verweise auf neulateinische humanistische Literatur in Haupttext und Randglosse des ›Irr reitenden Pilgers‹ haben eher den Charakter von Autoritätsberufungen: o – Der italienische Gelehrte Polydorus Vergilius wird mit seinem ›buch von Erfindung der ding‹ (›De inventoribus rerum‹), das Wickram wohl in der deutschen Übersetzung von Marcus Tatius Alpinus aus dem Jahr 1537 kannte, als Gewährsmann für den Ursprung der Künste und Wissenschaften benannt.50 – Ein älterer Gast in der Herberge, in der Arnolts Sohn Trutprecht Quartier nimmt, rügt einen jungen Adligen wegen seines unbotmäßigen Verhaltens und beruft sich für sein Konzept von Tugendadel auf Petrarcas Glücksbuch, das Wickram in der deutschen Übersetzung von Stephan Vigilius (1539) kannte.51 – Der gebildete Bauer, bei dem Arnolt einkehrt, gründet seine Prinzipien der Kindererziehung auf Erasmus von Rotterdam: Das beurlin sagt ein hochglert man / Hies Erasmus von Rotterdam e Ewig würt nit erloscht sein nam / Der hat von dem Eelichen stand e Ein buchlin gmacht inn dem ich fand /
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»Der interpretative Zugriff bedeutet somit strenge Perspektivierung, Reduktion und eben schließlich Fragmentierung des antiken Gegenstands, des Mythos, der Historie, der Gestalt.« (Kern [Anm. 12], S. XIX). Fochler [Anm. 46], S. 77. ›Der irr reitende Pilger‹, Glosse zu V. 696–698. – Allgemeine Informationen zu Marcus Tatius Alpinus bei Fochler [Anm. 46], S. 16–19; sein Vorgehen bei der Übertragung von ›De inventoribus rerum‹ müßte noch untersucht werden. ›Der irr reitende Pilger‹, V. 1553f.
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Das man im vierden jar die kind e Wol an mag furen doch fein lind / Das man sie gar nit übereyl [...]. (›Der Irr reitende Pilger‹ V. 1939–45) o
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In ›Von Guten und Bosen Nachbaurn‹ wird Erasmus in ähnlicher Weise als pädagogische Autorität herangezogen: Lucia gibt Amelia zwei Abhandlungen des Gelehrten zur Lektüre, um ihre Ansichten über Ehe und Klosterleben zu korrigieren: eine erste betitelt mit Virgo misogamos. Ist sovil als ein junckfraw / so ein verdruss hatt im ehestand und eine zweite mit dem Titel: Virgo poenitens. In welchem das Closterleben uff das gründtlichest angezeigt wirt.52 Deutlich wird die Funktion dieser Verweise: Sie dokumentieren die Belesenheit des Verfassers, die sich auch auf gerade erst ins Deutsche übertragene Werke antiker und zeitgenössischer Autoren erstreckt. Auch die Figuren, denen die Verweise in den Mund gelegt werden, werden so als gebildet charakterisiert. Wo, wie im Erasmus-Beispiel, dabei ›Humanistisches‹ genutzt wird, wird es aus seinem ursprünglichen Kontext gelöst und didaktisch-exemplarisch funktionalisiert. Es geht nicht um die erasmianische Erziehungslehre im Ganzen, sondern nur darum, für ein bestimmtes Verhalten auf eine Autorität zu verweisen. Das im Zuge des Humanismus oder besser: durch die neuen Übersetzungen antiker und zeitgenössischer gelehrter Autoren neu erschlossene Wissen wird im ›Irr reitenden Pilger‹ ohne spezifischen Eigenwert als zusätzlicher Stoffbereich genutzt. Eine programmatische humanistische Prägung entsteht dabei nicht. Eine Bestandsaufnahme der vermeintlich humanistischen Splitter in Wickrams Romanen hat die ältere Forschung geleistet.53 Allerdings muß kritisch überprüft werden, inwiefern die Zuordnung zum Humanismus angemessen ist, denn häufig werden Anspielungen auf die Antike pauschal als ›humanistisch‹ gewertet, ohne daß mittelalterliche Antikenrezeption als mögliche Quelle in Betracht gezogen würde. So z. B. dürfen Protagonisten antiker Dichtungen nur mit dem Humanismus in Zusammenhang gebracht werden, wenn sie nicht aus mittelalterlicher Antikenrezeption bekannt sein können oder wenn sie in neuer Funktion auftreten.54 Wenn Waller z. B. die Erwähnung von Achill, Jason und Pyramus als humanistischen Einfluß wertet, fehlt genau diese Differenzierung.55 Hier knüpft Wickram vielmehr an eine aus der mittelhochdeutschen höfischen Lyrik und Epik bekannte Tradition an: die »Anspielungsrezeption der antiken Mythologie«.56 Besonders deutlich wird das an den Minneleidexempla. 52 53 54
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Georg Wickram, Sämtliche Werke, hg. von Hans Gert Roloff, Band 4: ›Von Guten e und Bosen Nachbaurn‹, Berlin/New York 1969, S. 138, Z. 22–25. Vgl. insbesondere Waller [Anm. 44]. Vgl. etwa Waller [Anm. 44], S. 1–3; Gertrud Fauth, Jörg Wickrams Romane, Straßburg 1916 (Einzelschriften zur Elsässischen Geistes- und Kulturgeschichte 2), S. 96. Ebenso wenig überzeugend ist Wallers Zuordnung der Widmungsschreiben in ›Knabenspiegel‹ und ›Nachbarn‹-Roman zu den humanistischen Elementen (Waller [Anm. 44], S. 13). Waller [Anm. 44], S. 3. Manfred Kern, Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken
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Von Kern als »zentraler Anspielungstypus der höfischen Epik«57 herausgearbeitet, kommen sie in ›Ritter Galmy‹ und ›Gabriotto und Reinhart‹ in einer besonders eng an den Handlungskontext gebundenen Form zum Tragen, nämlich als Warnung vor den Gefahren der Liebe, die eine Romanfigur einer anderen gegenüber ausspricht.58 Am ausführlichsten und gleich an zwei Stellen findet das in ›Gabriotto und Reinhart‹ statt: Philomena offenbart ihrer Vertrauten Rosamunda ihre Liebe zu Gabriotto und vergleicht ihre eigene Liebe mit der Tristrants und Ysaldes sowie Florios und Biancefforas,59 die nicht intensiver gewesen sein könne als ihre: e
ich glaub nimmer mer das Tristrant die schone Ysald / also mit grosser liebe umbgeben hab / dergleich er gegen ir in semlicher inbrünstiger lieb entzündt gewesen sey / als sye das unglückselig trunck inen beden unwissendt getruncken hatten / Ich glaub auch e nit / das junckfraw Bianceffora (gegen Florio des Künig Pfelice son) grosser huld und o liebe getragen hab / als ich dem edlen jüngling tragen thun / wiewol Florio und Biane ceffora / mancherley ellend leiden / und trubsal umb irer liebe willen erlitten haben.60
Rosamunda greift das Stichwort ›Minneleid‹ auf und illustriert ihrer Freundin am Beispiel der beiden literarischen Liebespaare die Gefahren der Liebe (die hier durch das ungleiche Herkommen der Partner noch verstärkt werden) und warnt abschließend vor der zerstörerischen Macht unmäßiger Liebe: doch wer mein raht / ir euch die lieb nit so gantz beherschen ließen / dann wo ir flamm mit gewalt auffgat / ihm gar kümmerlich widerstanden werden mag (›Gabriotto und Reinhart‹, S. 39, 11–13).
Ein ähnliches Gespräch findet wenig später zwischen Gabriotto und Reinhart statt, nachdem Gabriotto seinem Freund seine Liebe zu Philomena gestanden hat. Gabriottos gesellschaftliche Unterlegenheit gegenüber der Königstochter Philomena veranlaßt Reinhart zu seiner Warnung vor den Gefahren dieser Liebe, die er mit Beispielen aus alten Historyen 61 veranschaulicht:
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Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik, Amsterdam /Atlanta 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135). Kern [Anm. 56], S. 270; vgl. ebd., S. 267–365. Vgl. zu Beispielen aus der höfischen Epik Kern [Anm. 56], S. 351–354. Die Namensformen deuten darauf hin, daß jeweils die Prosaromane, nicht die Versfassungen dahinter stehen. Vgl. die Titelformulierungen: Hienach volget die histori e von herren Tristrant vnd der schonen Isalden von irlannde (Tristan und Isolde. Augsburg bei Antonius Sorg, 1484. Mit einem Nachwort von Helga Elsner. Hildesheim [usw.] 1989 [Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken A 16]); Ein gar schone newe histori der hochen lieb des kuniglichen fursten Florio: vnnd von seyner lieben Bianceffora [...] (Florio und Biancefora. Mit einem Nachwort von Renate Noll-Wiemann, Hildesheim [usw.] 1975 [Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken A 3]). Georg Wickram, Sämtliche Werke, hg. von Hans Gert Roloff, Band 2: ›Gabriotto und Reinhart‹, Berlin/New York 1967, S. 36, 2–11. ›Gabriotto und Reinhart‹, S. 46, 14f.
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ich bitt dich / mein aller liebster Gabriotto / wollest bedencken die alten Historyen / unnd erwegen was doch ye für freüd von solcher liebe entsprungen sey / bedenckest du nit den trawrigen außgang der beder liebhabenden menschen / (›Gabriotto und Reinhart‹, S. 46, 13–17).
Es folgt ein ganzer Katalog von Beispielfiguren und -paaren, die durch die Liebe ins Unglück gestürzt worden sind: Pyramus und Thisbe, Jason, Samson, Salomon, David, Hercules, Achill und Polixena, Paris und Helena, Guiscardo und Sigismunda und Eurialus und Lucretia. Der Akzent liegt dabei vor allem darauf, daß Männer durch die Liebe ihre Gewalt über sich sowie Tapferkeit und Klugheit verloren hätten und zu Minnetoren geworden seien.62 Doch Gabriotto läßt sich dadurch nicht abschrecken und beruft sich seinerseits auf die literarischen Figuren, um die Unbedingtheit seiner Liebe zu betonen: ich sag dir aber das soliche warnung gar nichts an mir verfahen mag / dann als wenig e sich die so du mir erzalt hast / irer liebe hand mogen entziehen / als wenig mir auch e solchs muglich sein würt (›Gabriotto‹, S. 48, 7–10).
Wie schon in der mittelhochdeutschen Literatur fügen sich auch in Wickrams Roman Figuren unterschiedlicher ›Herkunft‹ zum Katalog der Minneleidexempla zusammen:63 Neben biblische Figuren (Samson, Salomon, David) treten – vermittelt über die Antikenromane und mittelalterliche Ovidrezeption – die Helden antiker Sage und Dichtung (Pyramus und Thisbe, Jason, Hercules, Achill und Polixena, Paris und Helena), Tristan (Tristrant) und Isolde (Ysald) sowie die Protagonisten aus neu aus dem Lateinischen bzw. Italienischen übersetzter Literatur (Guiscardo und Sigismunda, Eurialus und Lucretia sowie Florio und Bianceffora) zu einer synkretistischen Reihe zusammen.64 Wickram schließt also an eine Traditionslinie aus der mittelhochdeutschen Literatur an und führt sie weiter, indem er den Katalog der Minneleid-Exempla durch Figuren aus neu ins Deutsche übersetzten Dichtungen ergänzt. 62
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›Gabriotto und Reinhart‹, S. 46, 24–31. – Vgl. zur Tradition Friedrich Maurer, Der Topos von den ›Minnesklaven‹. Zur Geschichte einer thematischen Gemeinschaft zwischen bildender Kunst und Dichtung im Mittelalter, DVjs 27 (1953), S. 182–206. Für die Parallelen in der mittelhochdeutschen Literatur vgl. die entsprechenden Einträge im Belegstellenregister von Kern [Anm. 56], S. 546–557. Im ›Ritter Galmy‹ werden als Beispiele für die Macht der Liebe folgende Figuren genannt: Adam, David, Samson, Achill, Jason, Pyramus und Thisbe, Tristrant, Pontus (S. 9), Eurialus und Lucretia, Guiscardo und Sigismunda (S. 24f.). In der ersten Passage belegt Galmy mit dem Hinweis auf die exemplarischen Figuren die unbezwingbare Macht der Liebe, der nicht nur er allein unterlegen sei; an der zweiten Stelle warnt Friedrich Galmy vor ihren Gefahren. (Georg Wickram, Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, Band 1: ›Ritter Galmy‹, Berlin/New York 1967) – Die Anspielung auf Guiscardo und Sigismunda im ›Goldtfaden‹ ist anders akzentuiert: Nachdem er von der Verlobung zwischen seiner Tochter und Leufried erfahren hat, überlegt Anglianas Vater, ob er, wie Tancredo, den Geliebten seiner Tochter umbringen soll (Georg Wickram, Sämtliche Werke, hg. von Hans Gert Roloff, Band 5: ›Der Goldtfaden‹, Berlin/New York 1968, S. 107).
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Von den kurzen Anspielungen auf diese Beispielfiguren hebt sich die auso e führlichere Erzählung von der Römerin Lucretia in ›Von Guten und Bosen 65 Nachbaurn‹ ab. Eingeführt wird sie in Figurenrede bei einem Abendessen, zu dem sich Cassandra, Lucia und Amelia während der Abwesenheit der Männer zusammenfinden. Cassandra weist zu Beginn des Treffens darauf hin, daß die Frauen dem Vorbild Lucretias entsprechend besser zuhause geblieben wären: Darumb uns beyden vil bas gezimen thet / das ein yede in irem haus belib / sorg und e e angst für iren gemahel trug / gleich der Edlen Romerin Lucretia / damit wir nit geache tet und gleich geschatzt würden / des Sextus und andren schlamgirigen weibern. (›Nachbarn‹, S. 133, Z. 16–20)
Bevor Cassandra Lucias Bitte nachkommt, ihr die ihr unbekannte Histori von Lucretia zu erzählen, betont sie ein zweites Mal ihre exemplarische Dimension: Zum einen enthalte sie ein Vorbild, wie sich Frauen in Abwesenheit ihrer Männer verhalten sollten; zum anderen zeige sie, wie Könige und Fürsten für Hoffart und Tyrannei bestraft würden, die den Untergang des römischen Königtums verursacht hätten.66 Auch im Anschluß an ihre Erzählung bekräftigt Cassandra noch einmal die aus Lucretias Schicksal zu ziehende Lehre, daß Frauen in Abwesenheit ihrer Männer nit einen yeden gast aufnemen und herbergen sollen / damit sie an ehren nit befleckt noch bemaßget werden. 67 Doch Lucia widerspricht dieser Deutung, weil das gemeinsame Abendessen nicht mit den Ausschweifungen der anderen Römerinnen zu vergleichen sei und sie nicht mehr Aufwand getrieben hätten, als wenn jede den Abend zuhause verbracht hätte.68 Doch auch für die Geschichte Lucretias gibt es eine breite mittelalterliche Tradition,69 so daß von einer Erschließung einer neuen antiken Vorbildfigur auch hier nicht die Rede sein kann. 65 66
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›Von Guten und Bosen Nachbaurn‹, S. 134,7–137,11. o o Zum ersten / gibt sie uns weibern ein sunderlich gute underweisung und lehr / wes wir o uns in abwesen unserer gemaheln halten sollen / Zum anderen / strafft sie die Künig o und Fürsten irer hoffart und tyranney / dann durch solche geschicht / ist zu grund gane gen der Küniglich gewalt und Regiment / also das die Romer harnoch kein Künig mehr o e gehabt hand. (›Von Guten und Bosen Nachbaurn‹, S. 133, Z. 27–S. 134, Z. 4). o e ›Von Guten und Bosen Nachbaurn‹, S. 137, Z. 12–14. Winter [Anm.34], S. 126, weist im Kontext ihrer Analyse der Schöfferlinschen ›Lucretia‹-Bearbeitung auf eine Diskussion der »Schicklichkeit der Aufnahme eines Fremden bei Abwesenheit des Hausherrn in der zeitgenössischen Ehe- und Frauenliteratur« hin, bringt als Beleg jedoch nur den Hinweis auf eine Lucretia-Tragödie von Jacob Ayrer. Die Einbettung der o e Lucretia-Geschichte in ›Von Guten und Bosen Nachbaurn‹ deutet eine ähnliche Funktionalisierung an. o e ›Von Guten und Bosen Nachbaurn‹, S. 137, Z. 18–30. Vgl. Winter [Anm. 34], S. 114–139; umfassend zur Stofftradition: Hans Galinsky, Der Lucretia-Stoff in der Weltliteratur, Breslau 1932 (Sprache und Kultur der Germanisch-romanischen Völker B3).
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In der Forschung zu Wickrams Romanen sind die Frequenz der humanistischen Versatzstücke und der Grad ihrer Integration lange als maßgebliches Kriterium für deren ästhetischen Wert und das Verhältnis zum ›Volksbuch‹ gewertet worden.70 Insbesondere im ›Nachbarn‹-Roman wird, zuletzt von Hannelore Christ,71 die mangelhafte Einbindung der humanistischen Elemente kritisiert. Dieter Kartschoke hingegen betrachtet sie aus gattungspoetischer Perspektive gerade als Teil von Wickrams Legitimationsstrategie: Es kann also nicht die Rede davon sein, daß Wickram die Mythologica als mehr oder minder zufällige Lesefrüchte über seinen ›Nachbarn‹-Roman ausstreut, ohne Rücksicht auf den Erzählungszusammenhang und ohne Funktion in ihm. Richtig ist vielmehr, daß durch solche Signale die Erzählung von Vorgängen und Ereignissen ermöglicht werden soll, die bislang in dieser Form nicht als literaturfähig galten. Die Beliebigkeit eines oder mehrerer bürgerlicher Schicksale [...] konnte verbindlich gemacht werden also nur über die in ihnen zutage tretende moralische Wahrheit oder durch emphatische Verknüpfung mit traditionellen Erzählformen.72
Gerade die von Kartschoke ins Zentrum gestellten Anspielungen auf antike Mythologie, zu denen es teilweise Parallelen im ein Jahr zuvor (1555) gedruckten ›Irr reitenden Pilger‹ gibt,73 lassen sich zwar kaum als »›humanistische‹ Überformung«74 betrachten, weil sie in der Hauptsache auf den altvertrauten Ovid zurückgehen. Doch auch unter dieser veränderten Perspektive bleibt Kartschokes These plausibel, daß die mythologischen Versatzstücke »gewisse affektive Höhepunkte markieren« und daß sie dazu dienen, »die Zuwendung zu neuen bislang unerhörten Inhalten [...] durch die nachdrückliche Behauptung ihrer ästhetischen Dignität [zu rechtfertigen]«.75 – Mehrfach werden im ›Nachbarn‹-Roman und im ›Irr reitenden Pilger‹ Aurora und Phöbus mit dem Sonnenwagen zur mythologisch verbrämten Darstellung des Tagesanbruchs eingesetzt, z. B. so:76
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Vgl. etwa Waller [Anm. 44]; Fauth [Anm. 54], S. 74–103. Fauth [Anm. 54], S. 95; Waller [Anm. 44], S. 16–19; Hannelore Christ, Literarischer Text und historische Realität. Versuch einer historisch-materialistischen Analyse von Jörg Wickrams ›Knabenspiegel‹ und ›Nachbarn‹-Roman, Düsseldorf 1974 (Literatur in der Gesellschaft 22), S. 105f. Dieter Kartschoke, Bald bracht Phebus seinen wagen [...]. Gattungsgeschichtliche Überlegungen zu Jörg Wickrams ›Nachbarn‹-Roman, Daphnis 11 (1982), S. 717–741, hier S. 733. Vgl. aus dem ›Irr reitenden Pilger‹ v. a. die zweite Gartenbeschreibung: Pomana und Vertumnus: XIV, 9; Atlas und der vom Drachen beschützte Garten: IV, 20; Chiron, der Kentaur und der kräuterkundige Äskulap: II, 19/20. Kartschoke [Anm. 72], S. 729. Ebd., S. 731 u. 733. o e ›Von Guten und Bosen Nachbaurn‹, S. 27; S. 117. Ähnlich mit Minerva/Pallas, die sich als Hüterin der Nacht zurückzieht und dem Tag Raum gibt: ebd., S. 142.
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Aurora mit irm roten mund / Harfur aus irer kamer ging Die vier windschnellen pferd sie fing / Und spannet die bald in den wagen So die Sun umb die welt solt tragen / Da kam Phebus gebot der nacht Das sie sich in ir wonung macht / Und ihn ungeirt liesse faren Dess frewten sich der vogel scharen / e e Und sungen in den grunen walden o e In blumreichen lustigen valden / Da ward durch Auroram auffgschlossen Das thor dann sie was unverdrossen Phebus mit sein windschnellen rossen / o War schnel bereit und fur dahar (›Der irr reitende Pilger, V. 3624–38).
In der Randglosse dazu findet sich die Erläuterung, daß Aurora die Morgenröte sei, die man vor auffgang der sunnen sicht auffgon / fingieren die Poeten sie e spann alle morgen den wagen an / darauff Phebus die sunn umb die welt fure (Ebd.). – Im ›Nachbarn‹-Roman wird die entstehende Liebe zwischen dem jungen Lasarus und Amelia auf das Einwirken Cupidos zurückgeführt:77 e
Von semlicher taglicher beywonung / enzünt Cupido ein züchtige und freundtliche o liebe in inen / das keins nu haben mocht / wann es nit wußt wie die sach umb das o ander stunde. (›Nachbarn‹, S. 87, Z. 10–13)
– Lasarus führt in seinem Brief an Amelia deren Kunstfertigkeit bei Handarbeiten auf ihre Begabung durch die Göttin Pallas zurück: o
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Zu dem hat dich Pallas die gottin mit iren lieblichen brüsten und honig susser milch geseugt und ernert / des gibt mir zeugnis das kunstlich stuckwerck und gewirck / damit du mich begabt / und hertzlich erfreut hast. (Nachbarn, S. 108, Z. 18–23) e
Eine Randglosse unterrichtet darüber, daß Pallas die Gottin / [...] ein sundere künstliche wirckerinn gewesen sei.78 – In seinem Abschiedsbrief an Amelia erinnert Lasarus an Penelope und Odysseus als Leitbild für Treue, die eine lange Trennung überdauert.79 – Amelia vergleicht ihre Situation nach der Abreise des Geliebten zweimal mit der Enttäuschung Daphnes.80 – Morpheus erscheint Lasarus in Gestalt seiner Geliebten Amelia und bezichtigt ihn der Untreue; dies wird nicht nur vom Erzähler so dargestellt, son77 78 79 80
Ebenso wird die Entstehung der Liebe zwischen Angliana und Leufried im ›Goldtfaden‹ beschrieben (S. 18, 14–16; 34, 9–11). Vgl. ›Goldtfaden‹ S. 16, 24–30: Angliana übertrifft mit ihrem Geschick bei Handaro o beiten jeder Art Arachne, welche understund mit Palladi zu wircken. o e ›Von Guten und Bosen Nachbaurn‹, S. 126, 1–8. o e ›Von Guten und Bosen Nachbaurn‹, S. 122, 29–123, 4; S. 126, 1–8.
Humanistisches bei Georg Wickram?
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dern auch Lasarus bezeichnet den Gott des Schlafes als Urheber des Traums.81 Ob sich Wickrams Ovid-Verarbeitung hier von der mittelalterlichen unterscheidet, bliebe in größerem Kontext zu überprüfen. Als vorläufiges Ergebnis läßt sich aber festhalten, daß Wickrams Ovid-Verarbeitung auch hier die für mittelalterliche Antikenrezeption weithin charakteristische »Fragmentierung« kennzeichnet: die antiken Figuren werden punktuell im Hinblick auf eine bestimmte, im Erzählkontext ›passende‹ Eigenschaft hin herangezogen, ohne daß eine Gesamtdeutung oder -würdigung angestrebt wird.82
IV Ich versuche ein Fazit: Wickrams Bezugnahmen auf die Antike finden mehrheitlich in klar mittelalterlich vorgeprägten Bahnen statt. Wenn sich der Antikebezug nicht durch mittelalterliche Traditionen erklären läßt (Schaidenraisser), gibt es dennoch keine Anhaltspunkte für einen humanistisch geprägten Zugang zur Antike, weil Wickram auch hier das mittelalterliche Verfahren der Anspielungsrezeption fortschreibt und weit davon entfernt ist, die Antike in ihrem Eigenwert zu begreifen. Das im 15. und 16. Jahrhundert verstärkt einsetzende Interesse für antike Dichtung im Bereich der deutschsprachigen Literatur, das sich in den zahlreichen Übertragungen bis dahin unbekannter Werke niederschlägt, könnte zwar mit der intensiven Beschäftigung mit der Antike in gelehrt-humanistischen Kreisen zusammenhängen, vielleicht davon angeregt sein, doch darf nicht jede Übertragung eines antiken Werks in dieser Zeit gleich als ›humanistisch‹ angesehen werden. Vielmehr muß im Einzelfall überprüft werden, ob es sich nicht um die Fortschreibung mittelalterlicher Antikenrezeption handelt. Hier sind für die meisten Texte die Grundlagen erst noch zu schaffen. Soweit Untersuchungen dazu vorliegen, scheint eher Skepsis angebracht: häufig steht weniger die Erschließung einer antiken Dichtung in ihrem Eigenwert im Vordergrund als vielmehr der Versuch, einen bis dato unbekannten Stoff oder eine Erzählung in einer entsprechend adaptierten Form in die deutschsprachige Literatur einzuführen. Für die Verweise auf Erasmus, Petrarca und Polydorus Vergilius läßt sich festhalten, daß Wickram seine Kenntnis ›humanistischer‹ Literatur punktuell ganz selbstverständlich in sein Werk einfließen läßt. Nicht zu erkennen ist, ob diese Autoren als ›Humanisten‹ oder einfach als aktuelle zeitgenössische Autoren wahrgenommen werden, durch deren Kenntnis man als ›gebildet‹ gelten 81 82
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›Von Guten und Bosen Nachbaurn‹, S. 151–153. Vgl. Kern [Anm. 12], S. XIX.
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Stefanie Schmitt
kann. Da dabei keine dezidiert humanistische Prägung entsteht, bleibt Wickrams Humanismusrezeption tatsächlich »oberflächlich«. Solche ›humanistischen‹ Splitter treten als Bildungswissen an die Seite von Anspielungen auf die Antike in mittelalterlicher Tradition und neben die Kenntnis zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur (›Guiscardo und Sigismunda‹, ›Eurialus und Lucretia‹, ›Florio und Bianceffora‹).83 Die Erschließung ›neuer‹ humanistischer Inhalte in der Volkssprache liegt offensichtlich außerhalb von Wickrams Intention und Horizont. Am Beispiel Wickram lassen sich so vor allem die Probleme studieren, die mit der Frage nach dem ›Humanismus in der deutschen Literatur‹ verbunden sind. Die größten Schwierigkeiten und Hindernisse entstehen daraus, daß in der Forschung vielfach mit einem undeutlichen Humanismusbegriff gearbeitet wird und daß die Differenz zwischen einer humanistischen Gelehrtenkultur im Medium des Lateinischen und einer an ganz anderen Traditionen und Verständnishorizonten orientierten literarischen Kultur in der Volkssprache nicht ausreichend berücksichtigt wird. Die Kluft zwischen diesen beiden ›Kulturen‹ wird im 15. und 16. Jahrhundert im Zuge der gelehrt-humanistischen Rückbesinnung auf die Antike eher zementiert und vergrößert als überwunden. Am Beispiel Ulrichs von Hutten, der sich ab 1520 in seinen Werken neben der lateinischen auch der deutschen Sprache bedient und seine lateinischen Werke teilweise selbst übersetzt, läßt sich das noch einmal deutlich machen. Während er in seinen lateinischen Dichtungen in humanistischer Manier antike Strophen- und Versformen nachahmt, verzichtet er in seinen deutschen Texten ganz auf humanistische Überformung – auch dann, wenn er eigene lateinische Schriften ins Deutsche überträgt.84 Der Grund dafür liegt in der Wirkungsabsicht beim ungelehrten, lateinunkundigen Adressaten, der mit Humanistischem ohne zusätzliche erschließende Erläuterungen nichts hätte anfangen können. Programmatisch ›humanistisch‹ wird die deutschsprachige Literatur im 16. Jahrhundert also über weite Strecken nicht. Eine humanistische ›deutsche‹ Literatur gibt es, wenn man so will, nur in lateinischer Sprache: als lateinische Literatur in Deutschland, wie etwa bei Konrad Celtis.85 83 84
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Ich vermeide aufgrund der damit verbundenen Probleme bewußt den Begriff ›frühhumanistische Übersetzungen‹. Ich stütze mich auf Volker Honemann, Latein und Deutsch bei Ulrich von Hutten, in: Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994, hg. von Joachim Heinzle [u. a.], Berlin 1996 (Wolfram-Studien 14), S. 359–376; Petra Kuhlmann, Untersuchungen zum Verhältnis von Latein und Deutsch in den Schriften Ulrichs von Hutten. Diss. Frankfurt a. M. 1986. Vgl. dazu neuerdings Jörg Robert, Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich, Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit 76) und Gernot Michael Müller, Die ›Germania Generalis‹ des Conrad Celtis. Studien mit Edition, Übersetzung und Kommentar, Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 67).
Beate Kellner
Verabschiedung des Humanismus − Johann Fischarts ›Geschichtklitterung‹
I Johann Fischarts ›Geschichtklitterung‹ stellt bekanntlich eine Übertragung und Bearbeitung von Franc¸ois Rabelais’ ›Gargantua‹ (1534/5) dar, also dem ersten Buch der Pentalogie des französischen Humanisten.1 Fischart hat Rabelais’ Vorlage mehr oder weniger vollständig übertragen, dabei aber – in der Abfolge der Ausgaben von 1575, 1582 und 1590 – auf den dreifachen Umfang aufgeschwollen. Allein diese Relation zeigt, daß es sich nicht um eine Übersetzung im engeren Sinne handelt, und im Titel zur Ausgabe von 15902 betont Fischart, er habe Rabelais’ Entwurf Nun aber überschrecklich lustig in einen Teutschen Model vergossen, und ungefärlich oben hin, wie man den Grindigen laußt, in unser MutterLallen über oder drunder gesetzt. Auch zu disen Truck wider auff den Ampoß gebracht, und dermassen mit Pantadurstigen Mythologien oder Geheimnusdeutungen verposselt, verschmidt und verdängelt daß nichts ohn das Eisen Nisi dran mangelt.3
Fischarts Text umspielt jenen Rabelais’, indem er – um in Fischarts Metaphorik zu bleiben – sozusagen über und unter ihm läuft, er be- und verarbeitet ihn, gestaltet ihn kreativ um und weiter, bricht und parodiert ihn auf vielfache Weise.4 Die ›Geschichtklitterung‹ konstituiert sich dabei gegen ihr Vorbild und ge1
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Zitiert wird nach: Rabelais, Œuvres comple`tes, e´dition e´tablie, annote´e et pre´face´e par Guy Demerson, avec une translation de Guy Demerson, 2., korrigierte Aufl., Paris 1995; Johann Fischart, Geschichtklitterung, mit einem Glossar hg. von Ute Nyssen, Düsseldorf 1963; vgl. zum Text Rabelais’ auch die deutsche Übersetzung: Franc¸ois Rabelais, Gargantua, übersetzt und kommentiert von Wolf Steinsieck, Nachwort von Frank-Rutger Hausmann, Stuttgart 1992. Diese liegt der Ausgabe von Nyssen [Anm. 1], zugrunde. Vgl. daneben Johann Fischart, Geschichtklitterung. Gargantua. Synoptischer Abdruck der Fassungen von 1575 / 1582 / 1590, 2 Bde., neu hg. von Hildegard Schnabel, Halle a. d. S. 1969 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 70/71). Fischart, Geschichtklitterung, S. 5. Vgl. dazu Jan-Dirk Müller, Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts ›Ehzuchtbüchlein‹ und ›Geschichtklitterung‹, in: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, hg. von Wilhelm Kühlmann/Wolfgang Neuber, Frankfurt a. M. [usw.] 1994 (Frühneuzeit-Studien 2), S. 63–109, hier S. 78–80.
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gen die Fülle der Prätexte, die sie ins Spiel bringt, in ihrer literarischen Eigenheit.5 Der gelehrte französische Autor flicht eine Fülle von Diskursen in die Bücher von Gargantua, Pantagruel und Panurge ein: Erziehungs- und Bildungslehren, Grammatik, Rhetorik, verschiedene sprachphilosophische Richtungen, Historiographie, Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Naturkunde, Kosmographie, Anthropologie in umfassendem Sinn bestimmen den literarischen Text. Dessen Handlungsstruktur, die Geschichte einer Riesenfamilie über mehrere Generationen, bestimmt sich dadurch nicht nur im Rekurs auf vorgängige literarische Texte, sondern ist auch von zahlreichen gelehrten Kontexten umstellt.6 Bekanntlich spielen humanistische Leitvorstellungen, humanistische Bildungs- und Erziehungslehren in den Konzeptionen Rabelais’ eine zentrale Rolle.7 Es ist eine stupende Zahl von antiken Texten und humanistischen Schriften, 5
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Der Begriff des ›klittern‹, der sich seit der Ausgabe von 1582 im Titel Affentheuerlich Naupengeheuerliche Geschichtklitterung findet (vgl. die Titelblätter in der Ausgabe von Schnabel [Anm. 2], S. 4–6), bringt die Arbeitsweise in seinen verschiedenen Implikationen zum Ausdruck: ›klittern‹ läßt sich einerseits mit »schlecht, flüchtig schreiben«, »sudeln«, »beflecken« zusammenbringen (vgl. Hermann Fischer, Schwäbisches Wörterbuch, Bd. 4, Tübingen 1914, Sp. 493; Hermann Fischer/Hermann Taigel, Schwäbisches Handwörterbuch, Tübingen 1986, S. 262), zum anderen mit ›klittern/klüttern‹ (Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, München 1984 [Reprint der Ausgabe Leipzig 1873], Sp. 1214), mhd. ›verklütern‹ im Sinne von »verwirren«, »begaukeln« (Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 3, Stuttgart 1992 [Reprint der Ausgabe Leipzig 1872– 1878], Sp. 146f.), zum dritten mit ›klüttern‹, »grübeln« (vgl. Charles Schmidt, Historisches Wörterbuch der elsässischen Mundart, Straßburg 1901, S. 200). Vgl. Erich Kleinschmidt, Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Voraussetzungen und Entfaltung im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum, Köln [usw.] 1982, S. 308f., mit Anm. 262. Zur wechselseitigen Störung dieser Kontexte vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Literarische Gegenwelten, Karnevalskultur und die Epochenschwelle vom Spätmittelalter zur Renaissance, in: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, hg. von dems., Heidelberg 1980 (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Begleitreihe 1), S. 95–144, hier bes. S. 136–144; vgl. Beate Kellner, Spiel mit gelehrtem Wissen. Fischarts ›Geschichtklitterung‹ und Rabelais’ ›Gargantua‹, in: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, hg. von Jan-Dirk Müller unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs 64), S. 219–243. In Michail Bachtins forschungsleitender Studie zu Rabelais kommt diese zentrale gelehrte Dimension durchgängig zu kurz. Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, Frankfurt a. M. 21998. Mit Recht betont Bachtin die komischen und grotesken Momente und mit Recht hebt er die Bedeutung des Somatischen in Rabelais’ Œuvre hervor. Doch das Besondere an der Pentalogie liegt nicht zuletzt in der Verknüpfung der humanistisch-gelehrten Interessen enzyklopädischen Zuschnitts mit Vorstellungen von einer überbordend sich verausgabenden Leiblichkeit. Diese Aspek-
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die ganz im Sinne der studia humanitatis in der Pentalogie zum Tragen kommen.8 Immer wieder wird dabei deutlich, wie sehr sich Rabelais an Erasmus orientiert, den er, so ist es brieflich bezeugt, als seinen geistigen Vater bezeichnet hat.9 Fischart setzt in seiner Bearbeitung des ›Gargantua‹ die genannte Tendenz zur Anhäufung des literarischen Textes mit Wissen fort. Durch die Überschüttung mit Gelehrsamkeit, die Überfüllung mit Stoff aller Art wird die Handlungsstruktur bei ihm bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, der Geschichte kommt sozusagen ihr Gegenstand abhanden, worum es eigentlich geht, ist für die Rezipienten nur noch schwer zu durchschauen.10 Wird die hohe Symbolik, werden Moralisierung und Allegorisierung, wird die Gelehrsamkeit, ja werden selbst Leitideen aus Humanismus und Renaissance auch bei Rabelais immer wieder augenzwinkernd ins Zwielicht gesetzt, so wird das parodistische Spiel mit diesen Diskursen, ja mit Wissen jeglicher Provenienz bei Fischart auf die Spitze getrieben.11
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te arbeitet die Verf. in einem DFG-geförderten Forschungsprojekt zusammen mit Tobias Bulang aus. Vgl. dazu auch Kellner [Anm. 6]. Grundlegend zur Quellenerschließung noch immer: Jean Plattard, L’Œuvre de Rabelais. Sources, invention et composition, Paris 1967; ders., L’invention et la composition dans l’œuvre de Rabelais, Paris 1909, S. 171–259. Aus den neueren Beiträgen zum Humanismus Rabelais’ sei hier nur verwiesen auf: Madeleine Lazard, Rabelais l’humaniste, Paris 1993. Rabelais [Anm. 1], S. 1421; Brief an Erasmus vom 30.11.1532: Patrem te dixi, matrem etiam dicerem, si per indulgentiam mihi id tuam liceret. Quod enim utero gerentibus usu uenire quotidie experimur ut, quos nunquam uiderunt foetus, alant, ab aerisque ambientis incommodis tueantur, αν το τουτορνÂ γ’ ε παΘες, qui me tibi de facie ignotum, nomine etiam ignobilem sic educasti, sic castissimis diuinae tuae doctrinae uberibus usque aluisti ut, quidquid sum et ualeo, tibi id uni acceptum ni feram, hominum omnium qui sunt, aut aliis erunt in annis, ingratissimus sim. Der Text ist nicht syntagmatisch, sondern – in einer für einen vormodernen Text ganz exzeptionellen Weise – paradigmatisch organisiert. Weiterführende Überlegungen zu dieser Typologie bei Rainer Warning, Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition, Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176–209. Eine Analyse von Fischarts Text unter dem Aspekt des Paradigmatischen steht aus. Erste Ansätze zur dringend gebotenen – noch fast ganz unterbliebenen – narratologischen Untersuchung der ›Geschichtklitterung‹ bietet Josef K. Glowa, Johann Fischart’s ›Geschichtklitterung‹. A Study of the Narrator and Narrative Strategies, New York [usw.] 2000 (Renaissance and Baroque Studies and Texts 27). Die karnevaleske Verzerrung enzyklopädischer Interessen ist darüber hinaus auch in Fischarts ›Catalogus Catalogorum‹ als einem Verzeichnis tatsächlicher und erfundener Buchtitel offensichtlich. Vgl. dazu Jan-Dirk Müller, Universalbibliothek und Gedächtnis. Aporien frühneuzeitlicher Wissenskodifikation bei Conrad Gesner (Mit einem Ausblick auf Antonio Possevino, Theodor Zwinger und Johann Fischart), in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, hg. von Dietmar Peil [u. a.], Tübingen 1998, S. 285–309, hier S. 306–309; Erich Kleinschmidt, Die konstruierte Bibliothek. Zu Johann Fischarts ›Catalogus catalogorum‹ (1590), E´tudes Germaniques 50 (1995), S. 541–555.
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Beate Kellner
Im folgenden möchte ich den Blick nun auf die Frage lenken, wie Fischart die für Rabelais zentralen humanistischen Leitvorstellungen, seine humanistischen Erziehungs- und Bildungslehren in der ›Geschichtklitterung‹ präsentiert, wie er sie adaptiert und modelliert. Ich konzentriere mich dabei erstens auf die Erziehungsprogramme, welche der Protagonist Gargantua durchläuft, und zweitens auf die Konzeption der Abtei The´le`me, welche man gewissermaßen als das humanistische Herzstück des ›Gargantua‹ betrachten kann.12
II Als der Riesensohn Gargantua das Alter von fünf Jahren erreicht hat, erkennt sein Vater Grandgousier dessen wunderbare Intelligenz an der genialen Erfindung des besten Arschwisches (torchecul) (›Gargantua‹, c. 13)13 und beschließt daraufhin, ihn einem Gelehrten zur Erziehung zu übergeben (c. 14).14 Die Wahl fällt zunächst auf jenen Meister mit dem sprechenden Namen Thubal Holoferne (c. 14, S. 118),15 der als docteur sophiste (ebd.) für mittelalterlich scholastische Erziehung einsteht und damit aus der Sicht der Humanisten die Verfinsterung der Bildung durch Sophisterei und schlechtes Latein verkörpert. Rabelais und Fischart stimmen im Tenor ihrer parodistischen Darstellung überein: Die Erziehungsmethoden werden als so wenig effizient karikiert, daß Gargantua über 12
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Vorausschicken möchte ich, daß ich keine Gesamtinterpretationen der komplexen Textpartien anstrebe, mein Fokus liegt vielmehr auf den Tendenzen der deutschen Bearbeitung. Der im folgenden unternommene komparatistische Vergleich unterbleibt in der Forschung zu Fischarts ›Geschichtklitterung‹ allermeist. Ausnahmen: Florence M. Weinberg, Gargantua in a Convex Mirror. Fischart’s View of Rabelais, New York [usw.] 1986 (Studies in the Humanities. Literature – Politics – Society 2); vgl. auch dies., Fischart’s ›Geschichtklitterung‹: A Questionable Reception of ›Gargantua‹, The Sixteenth Century Journal 13 (1982), S. 23–35; dies., The´le`me selon Fischart: Omissions Fe´condes, E´tudes Rabelaisiennes 21 (1988), S. 373–379 [Weinberg wertet Fischarts Text ästhetisch deutlich gegen Rabelais ab und betrachtet ihn im Sinne einer moralsatirischen Vereindeutigung]; Frank-Rutger Hausmann, Differente Lachkulturen? – Rabelais und Fischart, in: Differente Lachkulturen? Fremde Komik und ihre Übersetzung, hg. von Thorsten Unger [u. a.], Tübingen 1995 (Forum Modernes Theater. Schriftenreihe 18), S. 31–45; vgl. Jan-Dirk Müller, Zum Verhältnis von Reformation und Renaissance in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts, in: Renaissance – Reformation. Gegensätze und Gemeinsamkeiten. Vorträge, hg. von August Buck, Wiesbaden 1984 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 5), S. 227–253, hier S. 251f. Vgl. Fischart, Geschichtklitterung, c. 16. Vgl. ebd., c. 17. Beide Komponenten des Namens entstammen dem Alten Testament und verweisen auf Feinde des auserwählten Volkes. (Vgl. Ez 38,2; Gn 4,22; Idt 13). Fischart verballhornt den Namen zu Trubalt Holofernes (Geschichtklitterung, c. 17, S. 202).
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fünf Jahre allein damit zubringt, das ABC zu lernen, um es dann immerhin vorund rückwärts aufsagen zu können. Über dem Donat, gemeint ist wohl die spätantike lateinische Schulgrammatik ›De octo partibus orationis libellus‹, der Sittenlehre des ›Facetus‹,16 dem sogenannten ›Theodolet‹17 und den ›Parabeln‹ des Alanus ab Insulis sitzt er gar über 13 Jahre. Als ganz besonders lächerlich erscheint das Brüten über dem im Mittelalter weit verbreiteten, hoch bedeutsamen sprachtheoretischen Grammatiktraktat ›De modis significandi‹,18 den Gargantua mit den Scholien verschiedenster der Phantasie Rabelais’ und Fischarts entsprungener Kommentatoren liest. Das Ergebnis des langwierigen und zähen Lernprozesses besteht lediglich darin, daß der Riese den Traktat, der den Humanisten als typisches Beispiel mittelalterlicher Sophistik galt, von vorne und hinten hersagen kann – zu einem tieferen Verständnis findet er nicht.19 Lehrmethoden und Inhalte ändern sich auch nicht unter Gargantuas zweitem Lehrer, maistre Jobelin Bride´ alias Meyster Gobelin vom Henckzigel:20 Jetzt paukt man u. a. das lateinische Wörterbuch des Hugutio von Pisa,21 den ›Graecismus‹ des Eberhard von Be´thune,22 die lateinische Versgrammatik ›Doctrinale‹ des Alexandre de Villedieu oder den sogenannten ›Mammetractus‹,23 einen Kommentar zu verschiedenen biblischen Büchern. Im Vordergrund stehen Wörterbücher, Grammatiken, Kommentare, durch Sitten-, Predigt- und Bußlehren wird das Programm arrondiert.24 Fischart ergänzt Rabelais durch weitere 16
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Der Titel ›Facetus‹ kann sich auf zwei mlat. Lehrgedichte beziehen, die beide wohl im 12. Jahrhundert entstanden sind. Der ›Facetus Moribus et vita‹ umfaßt Ständedidaxe und Liebeslehre, der ›Facetus Cum nihil utilius‹ stellt neben den ›Disticha Catonis‹ eine der verbreitetsten gnomischen Sammlungen moraldidaktischen Inhalts dar. Er bietet Regeln für die praktische Lebensführung, Verhaltens- und Anstandsregeln. Vgl. Rüdiger Schnell, Facetus, 2VL II, Sp. 700–703. Dem Autor Theodulus (10. Jh.) wurde eine Ekloge zugeschrieben, in welcher Mythologie und Heilsgeschichte ihrem Wahrheitsgehalt nach gegenübergestellt werden. Der lange Zeit Duns Scotus zugeschriebene Traktat des Thomas von Erfurt, der einen Höhepunkt der spätmittelalterlichen spekulativen Grammatik und Sprachtheorie darstellte, wurde in den letzten Jahren erstmals ins Deutsche übersetzt: Thomas von Erfurt, Abhandlung über die bedeutsamen Verhaltensweisen der Sprache. Tractatus de modis significandi, aus dem Lateinischen übersetzt und eingeleitet von Stephan Grotz, Amsterdam /Philadelphia 1998 (Bochumer Studien zur Philosophie 27). Rabelais, Gargantua, c. 14, S. 118; Fischart, Geschichtklitterung, c. 17, S. 202–205. Rabelais, Gargantua, c. 14, S. 118; Fischart, Geschichtklitterung, c. 17, S. 206. Die ›Magnae derivationes‹ des Hugutio von Pisa (12. / 13. Jh.) sind zentral für mittelalterliche Lexikographie und Etymologie. Wiederum ein mittelalterliches Grundlagenwerk, eine lateinische Versgrammatik, welche viele griechische Ausdrücke erklärt. Johannes Marchesino, Mammetractus sive expositio in singulos libros Bibliorum (erstmals 1470, dann immer wieder neu aufgelegt). Mit dem Titel ›De moribus in mensa servandis‹ wird wohl auf eine Tischzucht des Sulpicius Verulanus (15. Jh.) referiert. Der Verweis auf Senecas ›De quatuor virtutibus cardinalibus‹ ist auf Martin de Braga (6. Jh.) zu beziehen. Die Wortbildung ›Passa-
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Beate Kellner
verballhornte Titel der mittelalterlichen ›Sophistik‹, er fügt insbesondere umfängliche lateinisch-deutsche Wortlisten hinzu, welche in ihrem Küchenlatein, der makkaronischen Sprachmischung und in ihren trivialen und obszönen Referenzen den ganzen Nonsens dieser vermeintlichen Erziehung zum Ausdruck bringen sollen: Nachgehends lehrt er ihne eine schöne Namenclatur und sprachserklärung, Slemslicida ein Hafenreff, Bracus Pruch, Vilwundus Hackbanck, Vilhelmus Strosack: Vilrincus Pantzer: Stercus Küssin: Anus Lecker: Fornicator Ofenpletzer: biszinkus Ofengabel: lobium leib Brot: obsenogarus Linsenmäuchlin: Sufflabulum Plaßbalg. Suppedanium Fußbanck: Stercorium Scheißhauß: Sorsicetum Maußloch: scutellarium Schüsselkorb: Porcistetum Seustall: Pullarium Hünerkorb: Post cras übermorgen: Pomerium Oepffelmuß [...]. (›Geschichtklitterung‹, c. 17, S. 203)
Solche Vokabel- oder auch Titellisten werden von Fischart zu jenen für seine Bearbeitung typischen Wortketten ausgebaut, in denen der Handlungsfaden oft völlig verloren geht und die weit eher nach Rhythmik und Sprachklang gebaut sind als nach der Kohärenz inhaltlicher Referenzen.25 Doch abgesehen von die-
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vantus‹, welche mit ›pas savant‹ spielt, zielt auf den Florentiner Jacobo Passavanti aus dem 14. Jh. näherhin seine lateinischen Anmerkungen zu Kommentaren von Augustins ›De civitate dei‹ und seinen ›Specchio della vera penitenza‹. ›Dormi secure‹ bezieht sich auf eine weit verbreitete Sammlung vorgefertigter Predigten. Vgl. die Nachweise im Glossar bei Nyssen [Anm. 1], S. 116–118; vgl. auch Demerson [Anm. 1], S. 118, 120; und die Anmerkungen zur deutschen Übersetzung von Gottlob Regis, Meister Franz Rabelais, Gargantua und Pantagruel, 2 Bde., Regensburg o. J., Bd. 1, S. 464. Beim Versuch, Anspielungen und Verweise in Fischarts ›Geschichtklitterung‹ zu dechiffrieren, wird immer wieder deutlich, daß Ute Nyssens Glossar nur erste, oft völlig unzulängliche Orientierungshilfen bietet. Ein profunder Kommentar zum Gesamttext der ›Geschichtklitterung‹ ist nach wie vor ein dringendes Forschungsdesiderat. Die verdienstvollen Erläuterungen von Pia Holenstein beziehen sich leider nur auf ein Kapitel des Textes. Vgl. dies., Der Ehediskurs der Renaissance in Fischarts ›Geschichtklitterung‹. Kritische Lektüre des fünften Kapitels, Bern [usw.] 1991 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 10). Heuristische Erschließungsarbeit leistet vor allem auch Ulrich Seelbach, der eine Fülle von Berufungen auf Autoren und Texte, eine große Zahl von Zitaten und Anspielungen, Exempeln und Fabeln in der ›Geschichtklitterung‹ und anderen Texten Fischarts eruiert. Vgl. ders., Ludus Lectoris. Studien zum idealen Leser Johann Fischarts, Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion 39); ders., Fremde Federn. Die Quellen Johann Fischarts und die Prätexte seines idealen Lesers in der Forschung, Daphnis 29 (2000), S. 465–583. Der von mir hier u. ö. eingebrachte Begriff des Sprachspiels ist nicht im Sinne der sprachphilosophischen Kategorie Ludwig Wittgensteins zu verstehen. Gemeint sind vielmehr Sprachspielereien verschiedenster Art, die über die stilistische Figur des Wortspiels im engeren Sinne hinausgehen. Zu Fischarts Wort- und Sprachspielereien vgl. W. Eckehart Spengler, Johann Fischart gen. Mentzer. Studie zur Sprache und Literatur des ausgehenden 16. Jahrhunderts, Diss. Göppingen 1969 (GAG 10); Gerd Schank, Etymologie und Wortspiel in Johann Fischarts ›Geschichtklitterung‹, Diss. Freiburg i. B. 21978. Beide Autoren begnügen sich allerdings mit einer linguistischen Kasuistik dieser Wort- und Sprachketten.
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sen Unterbrechungen folgt Fischart Rabelais: Beide Autoren lassen keinen Zweifel daran, wie sehr der Riesensohn, der zudem noch die im Vergleich mit der neuen Kunst des Druckens abgewertete und als schwerfällig dargestellte mittelalterliche Schreibpraxis pflegt,26 durch solche Methoden und Inhalte verdummt. Dies bleibt auch seinem Vater nicht verborgen, der sieht, daß es sich bei dem vermeintlichen Fleiß um nichts als pure Zeitverschwendung handelt.27 Grandgousier läßt sich schließlich durch Probestücke des Schülers Eudämon, welcher durch seine für sein Alter erstaunliche umfassende Bildung, seine Eloquenz, sein vollkommenes Latein, das an Gracchus, Cicero oder Aemilius erinnert, sowie durch sein ausgezeichnetes Benehmen besticht, von der neuen, der humanistischen Bildung überzeugen und übergibt Gargantua dem humanistisch gebildeten Lehrer Ponocrates, welcher von Fischart als Kundlob von Arbeitsteig umbenannt wird (›Gargantua‹, c. 15; ›Geschichtklitterung‹, c. 18). Man beschließt, daß Gargantua mit Ponokrates und dessen Zögling Eudämon nach Paris ziehen solle, um dort eine Vorstellung von der Erziehung und Bildung der jungen Leute in Frankreich zu gewinnen.28 Die schwankhafte Inszenierung von Gargantuas Abenteuern während der Reise findet bekanntlich in den Pariser Episoden ihren komischen Höhepunkt: Gargantua flieht vor den schaulustigen Parisern auf die Glockentürme von Notre-Dame, ersäuft 260 418 Pariser (die Frauen und Kinder nicht mitgezählt) in den Strömen seines Urins und reißt die Glocken der Kirche herunter, um sie als Schellen für sein Pferd zu verwenden.29 Nun ist es der ›ernste‹ und ›gewichtige‹ Kasus dieses Glockenraubs, welcher zum Anlaß für eine einläßliche Auseinandersetzung zwischen Meister Janotus de Bragmardo als Vertreter der Sorbonne und Gargantua wird. Mit seinen hohlen Phrasen und falschen Syllogismen, mit seinem entsetzlichen Küchenlatein verkörpert jener Repräsentant der Pariser Universität noch einmal die ganze Absurdität mittelalterlicher Scholastik und Sophisterei – so die humanistische Perspektive Rabelais’, welche Fischart übernimmt.30 Allein die Tatsache, daß Gargantua die Glocken bereits zurückgegeben hat, als der maistre an ihn herantritt, enthüllt, wie null und nichtig dessen sermo ist. Die disputatio läuft von vorne herein ins Leere, ihr einziger Zweck ist es, die Dummheit des Meisters und damit den miserablen Zustand der Sorbonne zur Schau zu stel26
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Diese Schwerfälligkeit wird im enormen Gewicht der Schreibwerkzeuge wörtlich in Szene gesetzt. Vgl. Rabelais, Gargantua, c. 14, S. 118; Fischart, Geschichtklitterung, c. 17, S. 203. Rabelais, Gargantua, c. 15, S. 120; vgl. Fischart, Geschichtklitterung, c. 18, S. 208. Rabelais, Gargantua, c. 15, S. 122; vgl. Fischart, Geschichtklitterung, c. 18, S. 210f. Rabelais, Gargantua, c. 17, S. 126, 128; vgl. Fischart, Geschichtklitterung, c. 20, S. 215– 217. Fischart übertreibt und steigert die schwankhaften Elemente noch einmal deutlich. Rabelais, Gargantua, c. 19, S. 130, 132, 134; vgl. Fischart, Geschichtklitterung, c. 22, S. 221–227.
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len.31 Wenn Fischart Rabelais hier ohne größere Zusätze und Abschweifungen folgt, mag dies an seiner Übereinstimmung mit dem französischen Humanisten liegen, es mag aber auch darin begründet sein, daß er die Auseinandersetzung mit dem mittelalterlich-scholastischen Bildungssystem gegen Ende des 16. Jahrhunderts als obsolet empfunden hat. Gerade die folgenden Passagen zeigen dagegen, wo Fischarts eigentliche Interessen liegen. Er schwillt den Rabelaisschen Text mächtig auf, als es um die affektive, phlegmatische, ganz und gar grobianische Lebensweise Gargantuas geht, welcher Ponocrates zunächst noch freien Lauf läßt, um den Schüler zu beobachten.32 Während der Akzent bei Rabelais darauf liegt, das Ergebnis einer von mittelalterlicher Scholastik und Sophisterei geprägten Erziehung noch einmal vor Augen zu stellen, um solchermaßen die Ausgangsbasis zu zeigen für die späteren Erfolge humanistischer Erziehungskunst, gewinnt die Darstellung der undiätetischen Lebensweise Gargantuas bei Fischart eigenes Gewicht.33 So wird er nicht müde, durchaus auch mit obszönen Untertönen auszuspinnen, wie Gargantua, der erst zwischen acht und neun Uhr morgens aufsteht, sich in seinem Bett herumwälzt: Darnach wann er erwacht, gumpet, plitzet, strabelt, geilet, rammelt unnd hammelt er ein weil im Bett herumb, die leblichkeit der sinn unnd mütigkeit deß Geystes unnd fleisches etwas auff zumuntern unnd zuerfrischen [...]. (›Geschichtklitterung‹, c. 24, S. 232) So beschreibt er in ausufernden Wortketten, welche Verrichtungen der Riesensohn unternimmt, statt sich zu waschen: Nachgehends schiß er, pißt er, fartzt er, seicht er, erprach sich, rib sich: streifft sich: juckt sich: dänet sich: stach ein stund säuren auff: niset: kodert: göwet: ginet nach dem Leinlachen: steuret unnd rib die Zän: Hustet: Schweiset: Plutet: Bekotzet unnd schneitzet sich wie der best Ertz-Priester: der jetz die Kantzel antretten soll (ebd., S. 233).34 Und so gerät schließlich Gargantuas Verteidigung seiner opulenten Mahlzeiten – bei Fischart und nur bei ihm – zu einer Apologie undiätetischer Lebensweise, zu einer Diatribe gegen ärztliche 31
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Das Folgende zeigt einen der Höhepunkte der Rede. Rabelais, Gargantua, c. 19, S. 132: c¸a`, je vous prouve que me les doibves bailler. Ego sic argumentor: Omnis clocha clochabilis in clocherio clochando clochans clochativo clochare facit clochabiliter clochantes. Parisius habet clochas. Ergo gluc. Ha, ha, ha! C’est parle´ cela. Vgl. Fischart, Geschichtklitterung, c. 22, S. 224: Ich wills euch stattlich bewären, daß ihrs uns geben solt: Ego sic argumentor Jungherr Respondens: Omnis glocka glockabilis in glockerio glockando glockans glockative`, glockare facit glockabiliter glockantes. Parisius habet glockas. Ergo gluck. Ha, ha, ha, das heißt Narriert, das heißt gered, das heiß Parlirt. Rabelais, Gargantua, c. 21, S. 138, 140, 142; Fischart, Geschichtklitterung, c. 24, S. 232–238. Sie ist deutlich an Friedrich Dedekinds ›Grobianus. De morum simplicitate libri duo‹ (1549) orientiert, den Kaspar Scheidt, ein Verwandter Fischarts, ins Deutsche übertragen hat (1551). Dedekind erweiterte den Text 1552/1554 um ein drittes Buch: ›Grobianus et Grobiana‹. Die entsprechenden Passagen sind bei Rabelais deutlich kürzer: Vgl. Gargantua, c. 21, S. 140.
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Vorschriften und kirchliche Fastengebote, welche den Handlungsgang sprengt (ebd., S. 234–236). Der Fokus verschiebt sich hier und an zahlreichen anderen Stellen der ›Geschichtklitterung‹ auf die Darstellung des Affektlebens der Riesen. Das Unflätige, Monströse entfaltet sein eigenes Faszinationspotential, und auch wenn es vom deutschen Autor in den Vorreden als das Negative, die verkehrte Welt, als verwirretes ungestaltes Muster der heut verwirrten ungestalten Welt (›Geschichtklitterung‹, S. 8) klassifiziert ist,35 so wird es doch via negationis geradezu gefeiert.36 Rabelais’ humanistische Ideale, seine Erziehungs- und Bildungsprogramme scheinen demgegenüber bei Fischart zurückzutreten. Dies bestätigt sich bei einer Analyse derjenigen Kapitel, die der humanistischen Erziehungspraxis des Ponocrates gewidmet sind. Jener verabreicht seinem Schüler ein Purgiermittel, um ihn gewissermaßen körperlich von den veralteten Lehren seiner Vorgänger zu reinigen, und nimmt daraufhin die neuen Studien auf (›Gargantua‹, c. 23f.).37 Es handelt sich um ein universales Erziehungsprogramm, das in seinen gigantischen Dimensionen den körperlichen Maßen des Riesen Gargantua entspricht. Unmöglich kann es in diesem Rahmen en de´tail dargestellt werden, es soll nur darum gehen, seine Profile und seine Programmatik zu zeigen. Das Pensum, das um vier Uhr morgens beginnt und gegen Mitternacht endet, ist ganz darauf ausgelegt, keine Stunde des Tages zu vergeuden. Im Gegensatz zu mittelalterlich adligen Idealen von Muße und Zeitvertreib ist Zeit hier zur knappen Ressource geworden, die eine ökonomisch genau geplante Einteilung erfordert.38 Schon darin zeigt sich die Übereinstimmung mit Vorstellungen des Erasmus, denn jener hatte einem Freund während seines Pariser Studienauf35
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Die Verteidigung der Darstellung des Unflätigen läuft u. a. über das Argument: Erziehung durch Abschreckung. Vgl. etwa Fischart, Geschichtklitterung, S. 7f. Vgl. zur Topik der Rechtfertigung komischer Dichtung im 16. Jahrhundert z. B. die materialreiche Darstellung von Heinz-Günther Schmitz, Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der Ars Iocandi im 16. Jahrhundert, Hildesheim/New York 1972 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken, Reihe B, 2). Hans Ulrich Gumbrecht geht davon aus, daß neue und verbotene Gegenstände in Spätmittelalter und Früher Neuzeit allererst in Verfahren der Negation sagbar geworden sind. Die rekursiven Verfahren der Negation unterlaufen – so Gumbrecht – jede Dichotomisierung in eine richtige und eine verkehrte Welt, die ex negativo auf das Richtige wiese. Vgl. Gumbrecht [Anm. 6], S. 95–144, hier bes. S. 131–144. Die ältere Forschung verstand Fischarts ›Geschichtklitterung‹ dagegen als Moralsatire mit didaktischem Anspruch. Vgl. bes. Adolf Hauffen, Johann Fischart. Ein Literaturbild aus der Zeit der Gegenreformation, 2 Bde., Berlin 1921/2, Bd. 1, S. 162–264; ähnlich auch noch Günter Kocks, Das Bürgertum in Johann Fischarts Werk, Diss. Köln 1965, S. 85–152 u. 167–212; Dieter Breuer, Grimmelshausen und Fischart. Ein Vergleich, Simpliciana 12 (1990), S. 159–177. Vgl. Fischart, Geschichtklitterung, c. 26f. Möglicherweise schlägt hier ein neues, gewissermaßen ökonomisches Verständnis der Zeit im 16. Jahrhundert durch. Zugleich erinnert die strikte Einteilung des Tages aber auch an strenge mittelalterlich klösterliche Zucht.
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enthaltes in ganz ähnlicher Weise geraten, seine Zeit zu nutzen.39 Gargantua widmet sich den antiken Autoren, beschäftigt sich mit der Bibel, pflegt das Gebet, ergeht sich in feinen und gelehrten Gesprächen bei Tisch, repetiert die gelernten Lektionen, beschäftigt sich mit Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Eine große Rolle spielt die Beobachtung von Natur- und Himmelserscheinungen, und dem Leitsatz humanistischer Pädagogik – mens sana in corpore sano – gemäß vernachlässigt man den Körper keineswegs. Vielmehr wird großer Wert auf diätetische Lebensweise, entsprechende Ernährung und Verdauung gelegt, sodann stehen körperliche Übungen wie Schwimmen, Springen, Klettern, Werfen, Muskeltraining, Jagd, Reitkunst, Turnierkunst, Kriegskunst auf dem Plan – und damit ist erst das Pensum für die Sonnentage beschrieben (›Gargantua‹, c. 23). Denn an Regentagen stellt man unter peinlicher Beachtung der Humoreslehre die Ernährung auf trockenere Speisen um und verzichtet auf körperliche Übungen. Statt dessen beschäftigt man sich mit Holzarbeiten, Malerei oder dem Würfelspiel. Man besucht verschiedene Gewerke wie Metallgießer, Goldschmiede, Juweliere, Steinschneider, Alchimisten und Münzer, Weber, Uhrenmacher, Spiegelschleifer, Orgelbauer, Drucker, Färber, man geht auch zu Kräuterhändlern und Apothekern, schaut dem Treiben der Gaukler zu, hört sich unter den Juristen und Predigern um und tummelt sich in Fechtschulen. Einmal im Monat wird ein Ausflug unternommen, der neben der körperlichen Entspannung wiederum auch gelehrter Kurzweil dient (ebd., c. 24). Die hier verwirklichten Vorstellungen von körperlicher und geistiger Erziehung, von Bildung des ganzen Menschen, von der prinzipiellen Formbarkeit des Menschen zum Guten sind ganz wesentlich mit zentralen pädagogischen Texten des Humanismus verknüpft.40 Immer wieder hat man gesehen, welche große Bedeutung die Schriften des Erasmus hier haben. Ich erinnere nur an die ›Institutio principis Christiani‹ oder an ›De pueris statim ac liberaliter instituendis‹ und ›De civilitate morum puerilium‹.41 Daneben wurde in der Forschung mit Recht auch auf Juan Luis Vives’ ›De disciplinis‹ verwiesen.42 Spezifisch für Ra39 40
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Desiderius Erasmus Roterodamus, Opvs Epistolarvm, denvo recognitvm et avctvm per Percy S. Allen, Bd. 1, Oxford 1906, S. 173. Vgl. dazu etwa Gregor Müller, Bildung und Erziehung im Humanismus der italienischen Renaissance. Grundlagen – Motive – Quellen, Wiesbaden 1969; vgl. auch Günther Böhme, Bildungsgeschichte des frühen Humanismus, Darmstadt 1984, bes. S. 162–196. Desiderius Erasmus Roterodamus, Opera omnia, recognita et adnotatione critica instrvcta notisque illvstrata, Tom. I,2; Tom. IV,1, Amsterdam 1971, 1974; ders., Opera omnia, hg. von Joannes Clericvs, Tom. 1, Tom. 4, Leiden 1703 (Reprint Hildesheim 1961/1962). Joannes Ludovicus Vives, Opera omnia, ed. Gregorius Majansius, Valenciae 1782– 1790, Tom. VI. Vgl. zu den diskursiven Verknüpfungen mit dem Text Rabelais’ etwa Rita Guerlac, Vives and the Education of Gargantua, E´tudes rabelaisiennes 11 (1974), S. 63–72.
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belais ist der besondere Praxisbezug der studia humanitatis, ihre Verbindung mit Erfahrung von Welt in konkretem Sinn.43 In Fischarts Darstellung verliert das humanistische Erziehungsprogramm, das auch bei Rabelais schon durch seine Verzerrung in gigantische Dimensionen komisch übersteigert wirkt, jegliche Konsistenz. Gegen seine Vorlage schieben sich bei ihm immer wieder andere Aspekte in den Vordergrund, welche das eigentliche Thema, Erziehung und Bildung Gargantuas, stören. Fischarts Manierismus überwuchert, so könnte man formulieren, den Text.44 Das beginnt schon bei der Verabreichung des – die neue Erziehung sozusagen körperlich ermöglichenden – Purgiermittels durch Meister Theodore,45 denn Fischart verballhornt den Namen anspielungsreich in Herr Theodor Lilgenkol oder Lüllenkul (vom geschlecht des Ehrwürdigen Latinzarten Herren Lilii, dessen der Priscianus vapulans Kautreckkodrisch wol gedencket) (›Geschichtklitterung‹, c. 26, S. 252). So treibt er die schon bei Rabelais angelegten komischen Aspekte der Purgierung weiter, indem er – in makkaronischer Sprachmischung – mit deutschen, lateinischen und französischen Konnotationen spielt. Herr Theodor wird dieserart sowohl mit ›Kohl‹ und mit ›Lülle‹, ›Narr‹ zusammengebracht und für einen Dummkopf verkauft, als auch mit dem lateinischen ›culus‹ und dem fran43
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Es wurde immer wieder bemerkt, daß die Lernmethoden sich in vielerlei Hinsicht nicht von der zunächst verspotteten scholastischen Erziehung unterscheiden. Nach wie vor wird vorgelesen, auswendig gelernt und repetiert. Das alte Erziehungssystem trägt sich trotz aller Markierungen von Differenzen in das neue ein. Vgl. dazu etwa Jerome Schwartz, Irony and ideology in Rabelais. Structures of Subversion, Cambridge 1990 (Cambridge Studies in French), bes. S. 71f. Seit den 1960er Jahren wurde viel Forschungsenergie in die Klassifizierung der Werke Fischarts als ›manieristisch‹ oder auch als ›grotesk‹, ›komisch‹ und ›grobianisch‹ verwendet, wobei die Kategorien oft unklar blieben, historisch zu wenig konturiert wurden, mitunter ahistorischen Betrachtungsweisen (etwa durch autonomieästhetische Postulate) Vorschub leisteten und literaturanalytisch wenig Aufschlüsse erbrachten. Vgl. etwa Hugo Sommerhalder, Johann Fischarts Werk. Eine Einführung, Berlin 1960 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N. F. 4); Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg 21961, S. 167–169; Christoph Mühlemann, Fischarts ›Geschichtklitterung‹ als manieristisches Kunstwerk. Verwirrtes Muster einer verwirrten Welt, Frankfurt a. M. 1972 (Europäische Hochschulschriften, I,63); Rüdiger Zymner, Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn [usw.] 1995. Als hermeneutische Kurzschlüsse erscheinen aus heutiger Sicht jene sozialgeschichtlichen Ansätze, welche die Schreibweise Fischarts als unmittelbaren Ausdruck frühkapitalistischer Ökonomie, gesellschaftlicher Prozesse im 16. Jahrhundert, verstanden. Vgl. etwa Dieter Seitz, Johann Fischarts Geschichtklitterung. Untersuchungen zur Prosastruktur und zum grobianischen Motivkomplex, Frankfurt a. M. 1974 (These N. F. 6), S. 1–14. Vgl. dazu die Kritik von Erich Kleinschmidt, Gelehrtentum und Volkssprache in der frühneuzeitlichen Stadt. Zur literaturgeschichtlichen Funktion Johann Fischarts in Straßburg, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 10 (1980), S. 128–151, hier S. 144 u. 147. Vgl. Rabelais, Gargantua, c. 23, S. 154.
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zösischen ›cul‹ für ›Hintern‹ sowie dem lateinischen ›lilium‹ für die Blume. Das Geschlecht des Ehrwürdigen Latinzarten Herren Lilii, dem Theodor nach Fischarts Darstellung entstammt, verweist – die Anspielung auf die Lilie fortführend – parodistisch auf das humanistische Bestreben, die lateinische Sprache in ihrer Reinheit, ihrer Ursprünglichkeit, wiederherzustellen. Der Priscianus vapulans erinnert über den hier angelegten Gedanken, die lateinische Grammatik einzuprügeln, an brachiale Erziehungsmethoden und wird zudem noch durch die Verbindung mit Kuhdreck respektive Schleim entstellt (Kautreckkodrisch). Anspielungen dieser Art verdichten sich noch einmal in dem folgenden Beinamen für Herrn Theodor Cullingius (ebd., S. 252), denn hier verknüpfen sich auf krude Weise wiederum ›culus‹ für ›Hintern‹ mit ›lingua‹, der Sprache, was in diesem Kontext sicherlich wiederum auf die lateinische Sprache zielt, und der Vorstellung des lateinischen ›lingere‹, ›lecken‹, ›belecken‹, das deutlich auch weitere obszöne Konnotationen einschließt. Noch bevor die Darstellung der humanistischen Erziehungspraxis beginnt, wird jene also schon ins schräge Licht gerückt. Verballhornungen dieser Art ziehen sich, wie durch die gesamte ›Geschichtklitterung‹, so auch durch die beiden Kapitel, welche das Programm der studia humanitatis entfalten, und solchermaßen wird deutlich, daß Fischart Rabelais’ Humanismus herunterzieht, indem er den konnotativen Reichtum der Sprache für seine parodistischen Zwecke nutzt. Fischart spinnt seine Assoziationen weiter und folgt dabei der Eigenlogik der Sprache selbst: Er erzielt semantische Steigerungen, indem er verschiedene semantische Ebenen und deren Konnotationen übereinanderblendet, und dies in der makkaronischen Überlappung mehrerer Sprachen. Er denkt und schreibt auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Sprachen zugleich, wobei er sich insbesondere obszöne und skatologische Implikationen kaum je entgehen läßt. Durch diese semantischen Komplexisierungen wird der Text auf mehreren Ebenen lesbar, die Sprache selbst wird zum Thema, während die Sachbezüge der Handlung immer wieder in den Hintergrund treten. Die verschiedenen Konnotationen können dabei durchaus gegenstrebig angelegt sein. So werden auch im diskutierten Beispiel der Anspruch der Bildungsvermittlung, die Referenzen auf die Reinheit der lateinischen Sprache, die durch Meister Theodor beabsichtigte körperliche Purgierung als Voraussetzung der neuen Erziehungspraxis und die skatologischen, obszönen Konnotationen nicht harmonisiert. Die karnevaleske Verzerrung und Aufspaltung der Wortkörper legt vielmehr gerade die Polyphonie der Sprache offen, und jene Dialogizität46 der 46
Vgl. zu diesem Konzept Bachtins und seinen Weiterentwicklungen im Rahmen der Intertextualitätsdebatte etwa: Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. und eingeleitet von Rainer Grübel, Frankfurt a. M. 1979; ders., Probleme der Poetik Dostoevskijs, Frankfurt a. M. [usw.] 1985; Julia Kristeva, Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman, Critique 23 (1967), S. 438–465; leicht verändert wieder in: dies., Shmeivtikh. Recherches pour une se´manalyse, Paris 1969, S. 143–173; deutsche Über-
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Wörter korrespondiert, so ließe sich folgern, wiederum mit der Paradigmatik und der silenischen Schreibweise47 des gesamten Textes.48 Neben diesem Verfahren, das ich hier nur an einem Beispiel vor Augen gestellt habe,49 und das – um es noch einmal zu sagen – dem Effekt der parodistischen Verunglimpfung des Humanismus dient, wird die Darstellung der studia humanitatis ei Fischart durch verschiedene weitläufige Digressionen immer wieder unterbrochen und in den Leerlauf geführt. So baut der deutsche Autor etwa Gargantuas Besuch bei verschiedenen Gewerben und Gewerken zu Invektiven gegen Betrügereien aus, wie zur Invektive gegen Gewürzkrämer und Apotheker, welche folgendermaßen anhebt: Item an statt des umbmeyens im Garten, pflegten sie heimzubesuchen die Specereiläden, Wurtzkräm, Balbierstuben, des Geßners Gärten, die Wasserbrenner, Krautnirer, Pulverkremer, Simplicisten, Kälberärtzt, Bader, Platerscherer, Steinschneider, Wundärtzt, Apotecker: besah, beroch, betastet, versuchet, schmacket, rib, und betrachtet ihr materien, Frucht, Wurtzeln, Pletter, Gummi, Samen, Safft, Salben und Schmer, [...]: unnd namen war mit was betrug unnd beschiß dise Elementsbetheurer, Saffranirer, Chrisostometäflin, Latwergen, vergülder, Wurtzelbeytzer, unnd Tranckferber, umbgehn: wie nach ihrer Quidproquockitet, Merdapromuscitet und Pfeffersecklichkeit sie alles was inn Menschlichen leib kommen soll, verketzern, verehbrechen, verstümpeln, vergrümpeln unnd verhümpelen, Landkremerei mit Spanischen Pfeffer treiben, Gerbelirpfeffer under guten Pfeffer mischen, Rumpff under Moscatnuß [...]. (›Geschichtklitterung‹, c. 27, S. 276)
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setzung, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, hg. von Jens Ihwe, Bd. III (Ars poetica, Texte 8), Frankfurt a. M. 1972, S. 345–375; Rainer Grübel, Die Geburt des Textes aus dem Tod der Texte. Strukturen und Funktionen der Intertextualität in Dostoevskijs Roman ›Die Brüder Karamazow‹ im Lichte seines Mottos, in: Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, hg. von Wolf Schmid/Wolf-Dieter Stempel (Wiener Slawistischer Almanach. Sonderband 11), Wien 1983, S. 205–271; Dialogizität, hg. von Renate Lachmann (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Reihe A, Bd. 1), München 1982, daraus besonders: dies., Dialogizität und poetische Sprache, S. 51–62. Diese wird von Rabelais programmatisch im Prolog zum ›Gargantua‹ entfaltet. Vgl. Rabelais, Gargantua, S. 50, 52, 54; vgl. Fischart, Geschichtklitterung, S. 19–31. Vgl. dazu besonders Müller [Anm. 4], S. 78–94; Kellner [Anm. 6]. Erich Kleinschmidt versteht die sprachliche Virtuosität Fischarts geradezu im Sinne einer postmodern gedachten Selbstreferentialität der Sprache. Vgl. Erich Kleinschmidt, Die Metaphorisierung der Welt. Sinn und Sprache bei Franc¸ois Rabelais und Johann Fischart, in: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit, hg. von Wolfgang Harms/Jean-Marie Valentin, Amsterdam/ Atlanta, GA 1993 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 16), S. 37–57. Die historische Perspektivierung von Fischarts Position im Kontext der Sprach- und Kratylismusdiskurse im 16. Jahrhundert erscheint demgegenüber geboten. Vgl. dazu jetzt Tobias Bulang, Zur poetischen Funktionalisierung hermetischen Wissens in Fischarts ›Geschichtsklitterung‹, erscheint in: Erzählen und Episteme, hg. von Beate Kellner [u. a.]. Ausführlicher dazu Kellner [Anm. 6].
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Ergüsse dieser Art erstrecken sich über mehrere Seiten und lassen vergessen, daß es eigentlich um die Darstellung von Gargantuas Ausbildung gehen soll. Hier und an anderen Stellen wird deutlich, daß Fischart Wissen nach einem in Humanismus und Renaissance zentralen Muster der Wissensorganisation, dem Prinzip der loci communes, aufhäuft.50 Entscheidend ist, daß dieses Verfahren, welches der übersichtlichen Anordnung von Stoffülle nach bestimmten Kategorien dienen soll, im literarischen Text gerade zur Unordnung, ja ins Chaos führt, da es den syntagmatischen Fortgang der Erzählung sprengt. Ein zweites Beispiel dazu mag diesen Befund stützen und noch in eine etwas andere Richtung perspektivieren: Als Fischart beschreibt, wie Gargantua sich in der Reitkunst übt, läuft ihm die Darstellung ähnlich aus dem Ruder, indem er alles Mögliche über Reiten und Pferde zum Besten gibt: Da schickten sie sich inn ein andern bossen, verwechselten die Kleider, hingen den Schulsack an ein nagel, da schwang er sich zu Pferd, da saß er auff ein ungesattelts, ein gesattelts, mit sporen, ohnsporen, auff ein licht Roß, ein küriß Pferd, ein Harttraber, ein Hochheber, ein Hochstampffer, ein Sanfftzeltner: ein Jungfraudiener: ein Rennroß: da stach ers an: da mußt es traben: treischlagen: Rennen, gengen: anhalten: Passen: Schreiten: heben: Hässiren: Zabelen: Galopen: Lufftspringen: Außspringen, auflänen: Schweiffen: hacken, über den graben unnd wider herüber, [...]: Albrecht von Rosenberg hat ein Rößlein, das kan wol reuten unnd traben etc. (›Geschichtklitterung‹, c. 26, S. 257f.)
Sichtbar ist hier, wie übrigens auch an zahlreichen anderen Stellen der ›Geschichtklitterung‹, wie die Darstellung ins Obszöne kippt. Auch in Rabelais’ Text sind ohne Zweifel viele Zweideutigkeiten angelegt, doch Fischart schöpft den affektiven Reichtum der Sprache sozusagen noch weiter aus.51 Hier scheint er in seinem eigentlichen Element, die hohen Ideale der humanistischen Erziehung und Bildung Gargantuas treten demgegenüber immer wieder zurück.52 Und vor diesem Hintergrund möchte ich nun weiter fragen, wie Fischart Rabelais’ großen Entwurf der Abtei The´le`me adaptiert.53 50 51 52
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Grundlegend dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983 (Paradeigmata 1). Vgl. dazu Kellner [Anm. 6]. Ganz anders Schlossbauer mit Blick auf die Darstellung von Gargantuas humanistischer Erziehung in der ›Geschichtklitterung‹: »Die folgende zweite Erziehung Gargantuas durch den neuen Lehrmeister Kundlob wird zu einem Lehrstück frühneuzeitlicher Triebdisziplinierung auch für das Lesepublikum. Die schrankenlose Vitalität, dem Leser bis dato willkommenes Objekt entlastender Identifikation, wird nun in Bausch und Bogen verdammt oder zumindest herablassend belächelt.« Vgl. Frank Schlossbauer, Literatur als Gegenwelt. Zur Geschichtlichkeit literarischer Komik am Beispiel Fischarts und Lessings, New York [usw.] 1998 (Studies in Modern German Literature 80), S. 125. Deutungen dieser Art beruhen nicht zuletzt auf der Vernachlässigung der Akzentverschiebungen zwischen Fischarts Text und Rabelais’ ›Gargantua‹, welchen Schlossbauer bewußt ausblendet (ebd., S. 97). Vgl. Rabelais, Gargantua, c. 52–58; Fischart, Geschichtklitterung, c. 54–57. Um das
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III Als Gargantua nach dem Krieg gegen Picrochole, welcher seinem Vater gegen dessen Willen aufgezwungen war, seinen tapferen Mitstreiter, frere Jean des Entommeures,54 zu belohnen sucht, indem er ihm verschiedene Abteien überantworten möchte, verweigert sich der Mönch mit dem humanistischen Argument, er, welcher sich nicht selbst zu beherrschen vermag, könne nicht andere regieren (›Gargantua‹, c. 52, S. 266). Die Gunst der Stunde nützend, bittet Jean darum, eine Abtei gründen zu dürfen, welche das Gegenteil aller herkömmlichen Klöster sei. Jenes Antikloster solle keine Mauern haben und keine Uhren, welche das Leben nach einem starren Zeitplan regelten. Statt häßlicher, dummer Menschen, welche sich – so der Erzähler in deutlicher Invektive gegen die mittelalterliche Ordenskultur – in aller Regel in den Klöstern zusammenfänden, wolle man nur schöne, von der Natur bestens ausgestattete Männer u n d Frauen aufnehmen.55 Und statt der üblichen Ordensgelübde von Keuschheit, Armut und Gehorsam wolle man vereinbaren, daß alle Bewohnerinnen und Bewohner der Abtei heiraten sowie reich und frei leben dürften. Dies bedeutet auch, daß man das Kloster jederzeit verlassen kann (ebd., S. 266, 268).56 Gargantua läßt die Abtei errichten, und der Erzähler wird nicht müde, zu schildern, wie kostbar sie ausgestattet wird: Das Gebäude zeigt die Form eines Hexagons, die sechs runden Türme tragen griechische Namen, die sechs Etagen mit ihren über 9000 Gemächern, die Wendeltreppen, die großzügig angelegten Bibliotheken mit griechischen, lateinischen, hebräischen, französischen, italienischen und spanischen Werken, die geräumigen Galerien mit ihren Gemälden sind in ihrem überbordenden Luxus gegen Vorstellungen von klösterlicher Einfachheit gerichtet und muten wie eine höfische Residenz mächtigster Adelsfamilien an (ebd., c. 53, S. 268, S. 270 u. 272).57
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Forschungsreferat im folgenden zu entlasten, möchte ich mich nicht auf eine umfängliche Diskussion der zahlreichen Beiträge zu Rabelais’ The´le`me einlassen: Mein Interesse konzentriert sich, wie bereits gesagt, auf die Verschiebungen bei Fischart. Vgl. dazu bislang die unter Anm. 12 zitierte Literatur, bes. Weinberg, Gargantua in a Convex Mirror [Anm. 12], S. 159–179; dies., The´le`me selon Fischart, S. 373–379. Der Name zeigt, daß der Mönch seine Feinde zu Hackfleisch macht. Vgl. dazu die Episode in Gargantua, c. 27, S. 178 u. 180. Die Idee von Laien-Abteien wurde zur Zeit Rabelais’ öfter geäußert. Sie findet sich etwa auch in den radikalen Reformplänen des ehemaligen Franziskaners Franc¸ois Lambert. Vgl. E´mile van Telle, Franc¸ois Lambert d’Avignon et son Abbaye de The´le`me, Bibliothe`que d’Humanisme et Renaissance 11 (1949), S. 43–55. Wer sich, so teilt der Erzähler an späterer Stelle mit, dazu entschließt, die Abtei zu verlassen, nimmt diejenige Dame mit, welcher er auch schon in The´le`me ergeben war, und vermählt sich mit ihr. Vgl. Gargantua, c. 57, S. 284. Vgl. dazu auch die Erwähnung der Obst- und Lustgärten, des Theaters, des Schießplatzes, der Falknerei und Jägerei usw.; Gargantua, c. 55, S. 278 u. 280.
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Dementsprechend werden auf der Inschrift des großen Tores von The´le`me, welche – hochgradig symbolisch verdichtet – das Programm der Abtei in Versform einschließt (ebd., c. 54, S. 272, S. 274, S. 276), neben den Verkündern der reinen Lehre des Evangeliums (ebd., S. 276)58 insbesondere edle Ritter (nobles chevaliers [ebd., S. 274]) und Damen von edler, hoher Art (dames de hault paraige [ebd., S. 276]) willkommen geheißen zu einem Leben nach honneur, los, deduict (ebd., S. 274). Die damit angesprochenen höfischen Ideale von Ehre und Freude, die für die Bewohner der Abtei den Charakter von Leitvorstellungen haben, verbinden sich mit dem Willen zur Erneuerung des christlichen Glaubens in der Rückbesinnung auf das Wort Gottes, insbesondere das Evangelium (ebd., S. 276), was deutlich gegen mittelalterliche Theologie und glossierende, kommentierende Verstellungen der biblischen Schriften gesetzt wird (ebd.). Das Leben der Bewohner ist mit der Fülle von Zeit und Gütern, der Heerschar von Bediensteten, die ihnen zu Gebote steht, der Pflege ihrer körperlichen Schönheit und dem Reichtum ihrer Kleider durch und durch aristokratisch (c. 55f.), die Lebensform gleicht jenem Ideal des allseits gebildeten Hofmanns, welches in Baldassare Castigliones ›Il libro del cortegiano‹ (1528) entworfen wurde. Das Motto FAY CE QUE VOULDRAS, das den symbolischen Namen der Abtei, The´le`me,59 aufnimmt und in gewissem Sinne fortführt (ebd., c. 57, S. 284), zeigt die Selbstgesetztheit, die Selbstbestimmtheit der Bewohner, die nach keiner Regel, einzig nach ihrem freien Willen (leur vouloir et franc arbitre [ebd., S. 284]) leben. Der Begriff des freien Willens, der hiermit angesprochen wird, ist komplex, er kann im Rahmen dieses Beitrags in seinen Implikationen auch nicht annähernd geklärt werden. Nur soviel: Im Hintergrund steht zweifellos Erasmus’ Schrift ›De libero arbitrio‹ (1524)60 und seine für die Geschichte von Humanismus und Reformation fundamental einschneidende Auseinandersetzung mit Luther, welcher Erasmus’ Diatribe bekanntlich mit der Gegenschrift ›De servo arbitrio‹ (1525)61 beantwortete. Rabelais’ Position ist deutlich von Erasmus’ Humanismus geprägt. Das zeigt sich vor allem auch in der mit 58
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Rabelais, Gargantua, c. 54, S. 276, Zitat und Übersetzung siehe unten. Die Inschrift des Tores geht mit zahlreichen Sottisen u. a. gegen die durch Habgier und Wucher verkommene mittelalterliche Ordenskultur auch auf jene ein, die explizit ausgeschlossen werden (ebd., S. 272, 274). Der Begriff ›The´le`me‹ scheint eher dem Alten und Neuen Testament als der antiken Literatur entnommen zu sein. Möglicherweise soll damit auch angedeutet werden, daß sich göttlicher und menschlicher Wille im Einklang befinden. Vgl. dazu etwa Wolfgang Raible, Der Prolog zu ›Gargantua‹ und der Pantagruelismus, Romanische Forschungen 78 (1966), S. 253–279, hier S. 274f.; Schwartz [Anm. 43], S. 82f.; vgl. zu möglichen auf die Stoa verweisenden Konnotationen des Begriffs Michael A. Screech, Some Stoic Elements in Rabelais’s Religious Thought (The Will – Destiny – Active Virtue), E´tudes Rabelaisiennes 1 (1956), S. 73–97. Erasmus von Rotterdam, Opera omnia, hg. von Joannes Clericvs, Tom. 9, Hildesheim 1962 (Reprint Leiden 1706). Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 18, Weimar 1908.
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der Vorstellung vom freien Willen auf das Engste verbundenen optimistischen Einschätzung der Natur des Menschen, die Rabelais im unmittelbaren Anschluß an das Motto der Abtei entwickelt: Par ce que gens liberes, bien nez, bien instruictz, conversans en compaignies honnestes, ont par nature un instinct et aguillon qui tousjours les poulse a` faictz vertueux et retire de vice, lequel ilz nommoient honneur (c. 57, S. 284). Denn freie Menschen, wohlgeboren, d.h. von Stand, und gebildet, die ehrenvollen gesellschaftlichen Umgang pflegen, haben von Natur aus einen Antrieb und Ansporn, der sie dazu treibt, stets tugendhaft zu handeln und dem Laster fernzubleiben, einen Antrieb und Ansporn, den sie Ehre nennen, – so könnte man paraphrasieren. Impliziert ist hier der humanistische Grundgedanke von einer prinzipiellen Formbarkeit des Menschen, von der Möglichkeit zu seiner Vervollkommnung durch Erziehung und Bildung bis zu jener Stufe, auf welcher das Gute aus freien Stücken gewählt wird. Ebenso knapp wie klar wird damit auch das ethische Ziel aller Bildung im Sinne der studia humanitatis benannt. Wie umfassend die The´le`miten gebildet sind, zeigt der Erzähler, indem er darauf verweist, daß sie alle singen, lesen, schreiben und musizieren können, daß sie fünf bis sechs Sprachen sprechen, daß die Herren das Waffenhandwerk ebenso perfekt beherrschen, wie die Damen die typisch weiblichen Tätigkeiten der Handarbeit. Adel qua Geburt und Adel des Geistes verbinden sich bei den The´le`miten auf ideale Weise. Das Ergebnis ist die Gleichgestimmtheit ihres Willens, welche auch die alltäglichen Verrichtungen der Bewohner in Einklang bringt, das Ergebnis ist die vollständige Harmonie (c. 57, S. 284 u. 286). Prima vista mag man versucht sein, den Zustand der The´le`miten mit der Natur des Menschen vor dem Sündenfall zu vergleichen und The´le`me damit mit dem Garten Eden,62 doch wird auf solche Weise verdeckt, daß die Bewohner der Abtei als Repräsentanten einer ständischen Ordnung, einer auf das Äußerste verfeinerten höfischen Kultur erscheinen und daß die Gleichgestimmtheit ihres Willens, seine stete Ausrichtung auf das Gute, das Ergebnis eines umfassenden Bildungsprozesses darstellt. Um den Gedankengang zusammenzufassen: In der Lebensform der The´le`miten verknüpft sich das höfische Ideal des perfekten cortegiano mit jenen Leitideen aus Humanismus und Renaissance, die noch einmal in den Begriffen Vervollkommnung des Menschen durch Bildung, Selbstbestimmtheit, freier Wille, Würde – stichwortartig – in Erinnerung gerufen seien.63 Ganz im Sinne des erasmianischen Humanismus verbinden sich diese Tendenzen mit jenen christ62
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Vgl. etwa Howard I. Needler, Of Truly Gargantuan Proportions: From the Abbey of The´le`me to the Androgynous Self, Univ. Toronto Quarterly 51 (1981/82), S. 221– 247. Angesprochen ist damit ein weit verzweigter Diskurs. Ich erinnere an dieser Stelle nur an die zentrale Schrift Picos della Mirandola, ›De dignitate hominis‹. Vgl. Giovanni Pico della Mirandola, De dignitate hominis, lateinisch und deutsch, eingeleitet von Eugenio Garin, Bad Homburg v. d. H. [usw.] 1968.
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lichen Reformbestrebungen, welche eine Erneuerung des christlichen Glaubens in der konsequenten Rückkehr zur Botschaft der Evangelien suchten. Die Ideale von höfischer Aristokratie, von Humanismus und Renaissance sind in The´le`me mithin im Sinne eines christlichen ›Evangelismus‹ gewendet. Hier ist hinzuzufügen, daß Rabelais seinen ›Gargantua‹ bekanntlich nicht mit dieser Schilderung The´le`mes beendet, denn der Erzähler will es nicht versäumen, eine dunkle Rätsel-Prophezeiung mitzuteilen, welche auf einer Bronzetafel in den Fundamenten der Abtei gefunden worden sei.64 Jenes Rätsel, das bis auf wenige Verse65 auf Rabelais’ Zeitgenossen Mellin de Saint Gelais (1487/91– 1558) zurückgeht, beschließt das erste Buch,66 nicht ohne daß es zwei verschiedene Deutungen erfährt. Gargantua erkennt in den apokalyptischen, mit zahlreichen Rekursen auf die Bibel aufgeladenen Versen das Thema der Verfolgung der treuen Bekenner des evangelischen Glaubens und die Seligpreisung derjenigen, die dennoch am Glauben festhalten.67 Bruder Jean dagegen geht diese Deutung zu weit: Statt tiefgründigen Sinn in dem Gedicht zu suchen, beruft er sich auf die Schreibweise des Dichters Mellin, diesen zugleich mit dem Zauberer der Artussage Merlin vermengend, und versteht jenes als eine bloße Beschreibung des Jeu de Paulme, einem Äquivalent des 16. Jahrhunderts zu unserer Tennispartie.68 Eine besondere Pointe der beiden Deutungen besteht dabei noch in der Überkreuzung der hermeneutischen Verfahren, denn Bruder Jean, der den Text schlicht und wörtlich lesen will, allegorisiert ihn, während Gargantua seine tiefgründige spirituelle Bedeutung durch ein Verständnis nach dem Wortsinn erschließt.69 Indem Rabelais am Ende seines ›Gargantua‹ diese beiden Deutungen nebeneinander stehen läßt, ohne seinen Lesern auch nur einen Hinweis auf die richtige oder zumindest bessere Deutung zu geben, läßt sich das Rätsel, so könnte man folgern, auch als eine ›Chiffre für das Lesen selbst‹ verstehen. In seiner Verbindung mit den beiden konkurrierenden Lösungen, die vom Erzähler weder harmonisiert noch hierarchisiert werden, führt es die Dialogizität des literarischen Textes vor Augen, für den es keine eindeutige ›Auflösung‹, keine ein64 65
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Rabelais, Gargantua, c. 58, S. 286, 288 u. 290. Von Rabelais selbst stammen vermutlich nur die beiden ersten und die zehn letzten Verse. Vgl. Ulrich Mölk, Das Rätsel auf der Bronzetafel (Zu Rabelais, ›Gargantua‹, Kap. 58), Zeitschrift für romanische Philologie 83 (1967), S. 1–13, hier S. 2. Es korrespondiert daher strukturell mit dem das erste Buch eröffnenden, kaum deutbaren Rätsel Les Fanfreluches antidote´es (»antidotierter Firlefanz«, »Firlefanz mit Gegengift«). Rabelais, Gargantua, c. 2, S. 58, S. 60, 62 u. 64. Rabelais, Gargantua, c. 58, S. 290 u. 292. Vgl. den Nachweis der Bibelstellen bei Michael A. Screech, The Sense of Rabelais’s Enigme en Prophe´tie [Gargantua LVIII]. A Clue to Rabelais’s Evangelical Reactions to the Persecutions of 1534, Bibliothe`que d’Humanisme et Renaissance 18 (1956), S. 392–404. Rabelais, Gargantua, c. 58, S. 292. Vgl. dazu Schwartz [Anm. 43], S. 87–89.
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sinnige Deutung geben kann.70 Es ist eben jene im Prolog zum ›Gargantua‹ programmatisch entfaltete silenische Schreibweise, welche in den verschiedenen Lesarten des Rätsels zum Austrag kommt. Der Fokus verschiebt sich dabei von der gelehrten und von hoher Symbolik geprägten Beschreibung der Abtei The´le`me auf ein hermeneutisches Problem, die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Deutung eines Textes – ein Thema, welches die Pentalogie vom Prolog des ›Gargantua‹ an durchzieht. Zugleich wird der Schilderung der Abtei durch die Rätselprophezeiung und deren Deutungen ihr gewissermaßen statuarischer Charakter genommen. Es wird nicht expliziert, erscheint jedoch naheliegend, daß jenes Rätsel, das man in den Grundfesten der Abtei gefunden hat, mit seinem in apokalyptischen Bildern entwickelten Thema der Verfolgung auch auf Bedrohungen der Bewohner The´le`mes zielt, zumal die Verkünder des evangelischen Glaubens, auf welche Gargantua das Rätsel perspektiviert, unter denen sind, die in The´le`me ausdrücklich willkommen geheißen werden, ja denen man in der Abtei Schutz und Refugium vor ihren Feinden verspricht: Cy entrez, vous qui le sainct Evangile, En sens agile annoncez, quoy qu’on gronde. Ceans aurez un refuge et bastille Contre l’hostile erreur qui tant postille, Par son faulx stile, empoizonner le monde. Entrez, qu’on fonde icy la foy profonde, Puis qu’on confonde, et par voix et par rolle, Les ennemys de la saincte parolle. (›Gargantua‹, c. 54, S. 276)71
The´le`me wird als Manifestation von Humanismus, Renaissance und christlicher Erneuerung vor Augen gestellt, und zugleich wird in der verhüllten Form der Rätselprophezeiung auf die Gefahren für jene Humanismus und ›wahres‹, d. h. am Evangelium orientiertes, Christentum verbindende Lebensform der The´le`miten gewiesen. Der utopische, die Natur des Menschen optimistisch feiernde Entwurf The´le`mes wird also bereits bei Rabelais durch das dunkle Rätsel und seine Deutungen überschattet, ja relativiert.72 70
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Insofern müssen jene Ansätze scheitern, welche ›den Schlüssel‹ zum Text Rabelais’ eruieren wollen. Vgl. Alain Niderst, Les clefs de ›Gargantua‹ et l’abbaye de The´le`me, E´tudes Rabelaisiennes 25 (1991), S. 29–33 ; vgl. etwa auch Richard L. Regosin, The Artist and the Abbaye, Studies in Philology 68 (1971), S. 121–129. »Hier aber tretet ein, die ihr die Heil’ge Schrift / verkündet wachen Geists, ob Tadel euch auch trifft. / Hier sollt ihr Zuflucht finden, eine feste Wacht, / die vor des Feindes Irrtum schützt, der jetzt mit Macht / die ganze Welt mit seinem Gift verderben will: / Drum tretet alle ein, daß insgeheim und still / den Wahren Glauben wir hier gründen, und vernichten / von Gottes Wort die Feinde und sie richten!« Übersetzung nach Steinsieck [Anm. 1], S. 172. Michael A. Screech konstatiert einen Bruch zwischen dem Entwurf der Abtei und der Rätselprophezeiung. Er mutmaßt, daß Rabelais’ Optimismus durch die ›Affaire des Placards‹ (1534) und die daraufhin veränderte Haltung Franc¸ois I. gegenüber den
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Tiefgreifend sind die Veränderungen, welche diese Konzeptionen Rabelais’ in den Bearbeitungen Fischarts im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts erfahren. Dem deutschen Autor, welcher selbst in die konfessionellen Kämpfe seiner Zeit verwickelt ist und welcher in einer Reihe von Kampfschriften vehement Partei für die protestantische, insbesondere die calvinistische Seite ergreift,73 scheint der utopische Entwurf The´le`mes, scheint die Lebensform der The´le`miten fremd zu bleiben. Was Fischart an der Idee jenes Bruders Jean / Jan, den er – schon durch seine Funktion als Ordensmitglied – abgelehnt haben wird,74 einzig begeistern kann, ist die Vorstellung von The´le`me als Antikloster. Diesen Aspekt baut er aus, indem er das Kloster als Unanthonisch, Uncarmelitisch, Uncarthäuserisch, Unbettelordisch, Unsuitisch, Uncarafisch, Unconscientzmarterig, Uneidfesselig unverregelrigelig Muster von eim freien guteygenwilligen und Willigmutigen Orden bezeichnet (›Geschichtklitterung‹, c. 54, S. 403f.). Und auch im Weiteren wird die französische Vorlage immer wieder von Fischart durch jene für ihn typischen Wortketten und Reihen aufgeschwollen, wenn es darum geht, Sottisen aller Art gegen die mittelalterliche Klosterkultur unterzubringen. So wird er nicht müde, den Rabelaisschen Gedanken fortzuspinnen, man bringe in der Regel nur häßliche und dumme Männer und Frauen im Kloster unter: Item, weil man damals niemand inn Orden stieß, schmiß und riß, als etwann gestampffte Frauen und Jungfrauen, die etlich eisen abgeworffen hatten, oder plinde schilende Bettschelmen, hogerige, krüppele, Veitz däntzige Butzenandlitz, hinckende, närrische, unsinnige, verschimmelte, verlegene, korbfällige, Bestieffmuterte, unfolgsame, unhäußliche, verschreite, gereuterte Töchter: Deßgleichen kein Mansbilder, als minderjärige Kinder, unverständige, faule, langsame, schläferige schlingel, Rutenforchtsame, Schulscheue, Lehrverzweiffelte, Lehrhässige und disciplinfeinde tropffen, bestieffvatterte, Lebensverdrüssige, Lebensverwirckte Lecker und Buben, Schelmenbeinruckige, Pfluggebissene blaterarbeiter, gesundheitverlobte Meßsamuel, abgesoffene, abgehurte, außgespielte Leidige tropffen, Maulhengkolische, aberwitzige, sparren verlorene, verbanckarte, unehliche, presthaffte: Galeenwürdige: Mannlose: geprochene: unnütze augengreuel: Haußhinderer und Haußtölpel [...]. (Ebd., S. 404f.)
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neuen Glaubensbewegungen gedämpft wurde. Ein derartiger Konnex ist historisch jedoch nur zu plausibilisieren, wenn man eine Datierung des ›Gargantua‹ nach 1534 vorschlägt. Vgl. Michael A. Screech, Some Reflexions on the ›Abbey of Thelema‹, E´tudes Rabelaisiennes 8 (1969), S. 109–114, bes. S. 113. Vgl. etwa ›Der Barfüsser Secten- und Kuttenstreit‹ (1570), ›Von S. Dominici, des Predigermuenchs, vnd S. Francisci, Barfuesser, artlichem Leben vnd grossen Greweln‹ (1571), ›Das Jesuiterhütlein‹ (1580), ›Binenkorb. Des Heyl. Römischen Imenschwarms‹ (1579), ›Der Gorgonisch Meduse Kopf‹ (1577) u. a. Rabelais’ positive Darstellung der Figur des Mönches hat man immer wieder mit der Tatsache in Verbindung gebracht, daß der Autor selbst zeitweilig Angehöriger zweier Orden (zunächst der Franziskaner [ab 1510/11], dann der Benediktiner [ab 1524/1525]) war.
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In solchen Tiraden droht die positive, bei Rabelais akzentuierte Aussage, daß in The´le`me nur schöne, wohlgeformte Menschen von guten Naturanlagen aufgenommen werden sollen, zu versinken,75 – jedenfalls scheint sie den deutschen Autor weniger zu interessieren. Zwar ist sich jener mit seinem Vorgänger einig in der Ablehnung der traditionellen Ordensgelübde, doch bleibt auch sein Verhältnis zu den neuen Grundsätzen The´le`mes offensichtlich zwiespältig: Daß die für Rabelais in der Gesamtkonzeption der Abtei zentrale Idee der Freiheit dem Protestanten Fischart, welcher in den konfessionellen Kämpfen wohl teils dem Lutherischen Glauben, teils dem Calvinismus nahe stand, suspekt gewesen sein mag, läßt sich schon an der signifikanten Verschiebung des französischen vesquist en liberte´ (›Gargantua‹, c. 52, S. 268) in die Vorstellung von Gottgehorsamer, und Vernunfftfolgiger Freyheit (›Geschichtklitterung‹, c. 54, S. 405) ersehen. Protestantische Positionen schlagen hier durch: Die Freiheit eines Christenmenschen kann sich nur aus dem Gehorsam gegenüber Gott, aus der Überantwortung an Gott ergeben.76 Und auch über den zweiten Grundsatz, den Reichtum der The´le`miten, scheint der deutsche Bearbeiter wiederholt zu stolpern. Dies wird nicht nur in seinen Zusätzen, die Bewohner der Abtei könnten mit gutem gewissen reich sein (ebd.), oder würden den Reichthumb prauchen, als ob sie nicht Reicht weren (ebd.) deutlich, sondern auch in seinem offensichtlichen Desinteresse an der kostbaren Ausstattung der Abtei, der reichen Kleidung und dem luxuriösen Lebenswandel der The´le`miten. Gegen seine Tendenz, die Vorlage aufzuschwellen, neigt Fischart hier eher zur Kürzung (ebd., c. 54–56).77 Es ist das Ideal der höfischen Lebensweise, das aristokratische Element The´le`mes, das vernachlässigt, wohl auch abgelehnt wird. Demgegenüber wird der dritte der neuen Grundsätze, die Möglichkeit zu heiraten, von Fischart betont: Item wie jene [d. h. die Mönche herkömmlicher Klöster] wollen kein eigen Frauen haben, damit sie anderer unnd frembder geniesen: also soll hie frey stehn, wann sie ihr alter erreicht, außzutretten, unnd der Mann sein eigen Weib, unnd das Weib sein eigen Mann ihm wölen, nemmen unnd haben: Wie jhene [d. h. die Mönche herkömmlicher Klöster] die ehliche keuscheit verschweren, also hingegen wollen wir keusche ehlichkeit ehren, unnd unehlicher unkeuscheit mit zeitiger vermälung wehren. (Ebd., c. 54, S. 406) 75 76
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Vgl. Rabelais, Gargantua, c. 52, S. 268; Fischart, Geschichtklitterung, c. 54, S. 405. Vgl. dazu etwa Luthers Argumentation in ›De servo arbitrio‹ [Anm. 62], prägnant S. 614: Hoc autem asserto, certe simul asseris, Dei misericordiam solam omnia agere et voluntatem nostram nihil agere sed potius pati, alioqui non totum Deo tribuetur. [Angesprochen wird Erasmus]. Vgl. S. 635: Summa, si sub Deo huius saeculi sumus, sine opere spiritu Dei veri, captivi tenemur ad ipsius voluntatem, ut Paulus ad Timotheon dicit, ut non possimus velle, nisi quod ipse velit. [...] Sic humana voluntas in medio posita est, ceu iumentum, si insederit Deus, vult et vadit, quo vult Deus, ut Psalmus dicit: Factus sum sicut iumentum et ego semper tecum. Vgl. Weinberg, Gargantua in a Convex Mirror [Anm. 12], S. 159–179.
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In solchem Lob der Ehe ist der deutsche Autor in seinem Element, die Ehe erscheint gemäß der paulinischen Vorstellung, es sei besser zu heiraten als zu brennen (1 Kor 7, 1–7), als Bollwerk gegen Unzucht, während die mittelalterlichen Klöster als Brutstätten der Unkeuschheit gezeichnet werden. Die hohe Symbolik The´le`mes verzerrend, scheint die Abtei bei Fischart geradezu zum Institut der Ehevorbereitung transformiert zu sein. Um es noch pointierter zu formulieren: Einer der entscheidenden Vorteile The´le`mes besteht nach Fischarts Inszenierung in der Möglichkeit, die Abtei zu verlassen, um zu heiraten.78 Es liegt ganz auf der Linie der bisherigen Ausführungen, daß Fischart mit dem für Rabelais’ Konzeption programmatischen Wahlspruch FAY CE QUE VOULDRAS – Thu was du wilt −79 wenig anzufangen weiß. Ausgehend von der bei Rabelais am Ende seines 56. Kapitels entwickelten Vorstellung, daß die The´le`miten Perlen, die ihre ursprüngliche weiße Farbe verloren haben, Hähnen zum Fraß vorwarfen, um sie so einer Reinigung zu unterziehen (›Gargantua‹, c. 56, S. 282), ist Fischart so sehr damit beschäftigt, verschiedenste Arten der Purgierung aufzulisten, daß er den bei Rabelais entscheidenden Neuanfang des Kapitels 57, welches das zitierte Motto ins Zentrum stellt, übergeht. Die Passage liest sich bei Fischart daher folgendermaßen: Wa etlich Perlin veralteten, und die recht weiß Farb nicht meh hilten, verneuerten sies bald durch ein neue Kunst, daß sie die eim schönen Hanen zu fressen gaben und ihm durch den magen lauffen lisen. als wan man die Falcken curirt, und als dann wider drauß lassen, wie die Apotecker dz Gold, die Landsknecht das Gelt, die Wurmsamenkrämer die Spulwürm, und die alte karge Euclyones die alte nägel auß den Katlachen: das ist ein kunst für die, so die rote Müntz Quecksilbern, unnd die leichte Kronen mit Orenschmaltz schmieren, unnd ihr Andlitz mit Bruntz weschen und den Leib inn öl baden.80 Inn summa ihr gantz Leben war inn kein Regel, gesatz noch ordnung eingefangen, sonder alles gieng nach eygenem willen [...]. (›Geschichtklitterung‹, c. 56, S. 420).
Schon diese Anordnung, mag sie gezielt gewählt sein oder sich einfach ergeben haben, nimmt den Passagen über den freien Willen ihr Gewicht. Dazu kommt, daß Fischart das Motto Thu was du wilt durch den trivialen Reim Was dein Hertz Stillt (ebd., S. 421) ergänzt, während er die im Entwurf Rabelais’ zentrale und sich unmittelbar an das Motto schließende Passage über den qua Natur gegebenen Ansporn der freien, wohlgeborenen und gebildeten Menschen zum Guten fast vollständig unterdrückt.81 Herausgehoben wird dagegen der Gedan78
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Vgl. dazu auch Müller [Anm. 12], S. 252. Wie wichtig Fischart die Institution der Ehe ist, zeigt sich auch darin, daß das einzige, über die Vorlage des ›Gargantua‹ hinaus von ihm hinzugefügte Kapitel der ›Geschichtklitterung‹ von der Ehe handelt: c. 5. Vgl. dazu Holenstein [Anm. 24]. Vgl. auch Fischarts ›Philosophisch Ehzuchtbüchlein‹ (1578) als Beitrag zum Ehediskurs des 16. Jahrhunderts. Rabelais, Gargantua, c. 57, S. 284; Fischart, Geschichtklitterung, c. 56, S. 421. Das bei Fischart nahtlos Folgende bezieht sich auf den Anfang von Rabelais’ 57. Kapitel. Fischart reduziert die oben zitierte Passage Rabelais’ auf den Satz: Dann ein Adelicher mut, thut ungezwungen das gut. (Geschichtklitterung, c. 54, S. 421).
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ke, daß die Menschen stets danach streben, Verbote zu übertreten: was man verbeut, das thun erst die Leut (ebd., S. 421). Hier wird deutlich, daß und inwiefern Fischart sich von der Erasmianischen und Rabelaisschen Position eines Humanismus distanziert, welcher in der optimistischen Einschätzung der Natur des Menschen von der Möglichkeit zu seiner ethischen Vervollkommnung durch umfassende Bildung ausgeht. Es hieße den Text der ›Geschichtklitterung‹ heillos überfrachten, wollte man ihn stricto sensu und en de´tail auf die Debatte zwischen Erasmus und Luther über den freien Willen beziehen, doch zeichnet es sich bei der Transformation The´le`mes in Willigmut deutlich ab, daß die Vorstellung von einem liberum arbitrium im Zuge der Konfessionalisierung für den Protestanten Fischart auch im Kontext eines komischen Textes unakzeptabel wird. Um es auf eine Formel zu bringen: Die Akzente verschieben sich vom liberum arbitrium auf das servum arbitrium. Dies bestätigt sich einmal mehr durch Fischarts Parodie auf die Gleichgestimmtheit und Harmonie der The´le`miten, welche bei Rabelais gerade Ausdruck ihres freien Willens sind. Er verzerrt diese Ideale, er trivialisiert sie ganz und gar, indem er etwa vermeldet: wann einer oder eine sagt, wolauff laßt uns trincken, so trancken sie alle wie die Gänß: wann einer ginet, unnd göwet, so göbeten sie all [...] (ebd., S. 421).82 Derlei erscheint also im Zerrspiegel Fischarts als die Quintessenz des freien Willens! Die hehre humanistische Gedankenwelt und die tiefgründige Symbolik werden bei Fischart gewissermaßen heruntergerissen. Dementsprechend wird auch die programmatische Inschrift über dem großen Tor von The´le`me modelliert: Die drei Gruppen (edle Ritter, Damen von hoher Geburt und Verkünder des Evangeliums), die bei Rabelais explizit zu einem Leben nach höfischen Idealen herzugebeten werden (›Gargantua‹, c. 54, S. 274, S. 276), sind bei Fischart nicht mehr wiederzuerkennen. Sein Willkomm richtet sich wesentlich unspezifischer an die ›Tugendhaften‹.83 Signifikant ist dabei besonders, daß die in Rabelais’ Gesamtkonzeption bedeutsame Gruppe der Verkünder des Evangeliums keinerlei Erwähnung findet. Ausgebaut werden dagegen diejenigen Passagen Rabelais’, welche von der Abwehr der Unerwünschten handeln. So wollen die Invektiven gegen Heuchler, Halsabschneider, Schmeichler, Wucherer, einfältige Mönche und Bösewichte aller Art bei Fischart kein Ende finden (›Geschichtklitterung‹, c. 55, S. 415–417), es entstehen die für den deutschen Text charakteristischen, im Kontext der The´le`me-Kapitel allerdings eher selten eingesetzten Wortketten, bei denen der Akzent sich stets in Richtung Sprachartistik verschiebt. Gespielt wird mit den klanglichen Möglichkeiten der Wortkörper, was 82 83
Vgl. dazu Rabelais, Gargantua, c. 57, S. 284. Geschichtklitterung, c. 55, S. 417: Darumb komm nichts es sey dann thugendsam, / Höflich und Düchtig, / Nicht gröblich, undüchtig: / Glehrt, zuchtbescheiden, / Nicht glärt, zuchtgescheiden / Frau Tugentscham, Nicht der tugend scham. / So trettet herein beide Mann und Frauen, / Hierin solt ihr nichts als Zucht und ehr schauen [...].
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eigentlich gesagt werden soll, geht in der Häufung der Wörter und Laute irgendwann unter. Die Wortketten reihen Einzelphänomene nebeneinander, ohne sie zu einem Begriff zu vereinen, sie überschreiten die Grenzen der einzelnen Wörter und Sprachen, sie bringen über die Handlung hinaus und häufig gegen sie immer wieder neue Kontexte ins Spiel, welche das zunächst Gesagte stören und anders perspektivieren. Der Text wird nicht mehr syntagmatisch als Zusammenhang konstituiert, vielmehr löst er sich in einen Raum paradigmatischer Bezüge auf.84 Um eine Kost- und Klangprobe aus den Invektiven gegen die in Willigmut Unerwünschten zu geben: O weit von hinnen weit ihr verdinst verhändler: O ihr Zeichner Syllanischer Blutregister: Ihr verdampte verdammer und Blutvermäntler: Ihr Lotterisch Volaterranisch Worthändler: Ihr Paxsüsse, Pacemküssige Paxpriester: Ihr Liebverdüster, ihr Kirch und Schulverwüster: Ihr Formendängler, ihr form mul from, nit im hertzen, Ihr Luxmundige ArßLaternenkertzen: Ihr Wannenwäher, Ihr Wetterhäher: O Hetzenschwetzer, Aufhetzer, Fürstenretscher: Fridensprecher, Blutrecher. (›Geschichtklitterung‹, c. 55, S. 416)
In krasser Verdrehung des Rabelaisschen Textes85 kommt Fischart gegen Ende des Kapitels dann noch auf das Ablaßwesen zu sprechen (ebd., S. 417). Auch dabei läßt er sich kein Wortspiel entgehen, und irgendwann wird man als Rezipient über der Lektüre von Or donne par don. Seckellösen Sündenloß Seckelloß Wolan so löset So wird man lösen Und Ablaß lesen
Ordonne pardon. Mag sünden lösen Macht Seckellos, Ist Sündenlos, Daß ihr löset, Von guten und bösen [...]. (ebd.)
vielleicht vergessen haben, daß es sich hier eigentlich um eine Beschreibung der Abtei The´le`me – Willigmut handeln soll. Konfessionelle Polemik und die – im Vergleich mit Rabelais – stark betonte Abwehr von unerwünschten Eindringlingen machen ein Bollwerk, eine Festung86 aus jener Abtei, die ihren Bewohnern gegen die Ketten der alten Ordensgelübde ein Leben nach ihrem freien 84 85
86
Dazu Warning [Anm. 10], S. 176–209. Vgl. Rabelais, Gargantua, c. 54, S. 276: Or donne´ par don / Ordonne pardon [...] – Gold, als Gabe gegeben, befiehlt, bewirkt Vergebung, Gnade [...]. Chiffriert ist hier der Konnex zwischen der Stiftung der Abtei und ihrer reichen Ausstattung mit dem für Stiftungen zu erhoffenden himmlischen Lohn. Vgl. Weinberg, Gargantua in a Convex Mirror [Anm. 12], S. 164f.
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Willen ermöglichen sollte. Der Schlußsatz des Kapitels 55, den Fischart gegen Rabelais der Inschrift über dem großen Tor hinzufügt, ist konsequent im Sinne der erschlossenen Bearbeitungsrichtung: O thut Thor unnd Rigel für, wann die Bullengnad kompt für die Thür (ebd.). Hatte Rabelais Wert darauf gelegt, daß The´le`me keine Mauern haben soll, so fordert Fischart die Bewohner Willigmuts auf, sich zu verbarrikadieren gegen mögliche Gefahren durch päpstliche ›Bullen‹. The´le`me wird in der deutschen Bearbeitung dann vor allem ein Ort der Bibliothek, wie Fischarts wichtigste Ergänzung zeigt: Die bei Rabelais lediglich in einem Satz erwähnten Bibliotheken (›Gargantua‹, c. 53, S. 270) werden in der ›Geschichtklitterung‹ nicht nur detailliert beschrieben, sondern auch durch eine sechsseitige, mit komischen Einfällen gespickte, Panegyrik auf Bücher gefeiert (ebd., c. 55, S. 408–414). Deutlich wird dabei, daß es dem deutschen Autor ganz wesentlich um die quantitative Ausdehnung der Bibliothek geht. Nicht nur, daß die Anzahl der Sprachen, in denen die Bücher verfaßt sind, jene The´le`mes übersteigt, die Bestände übertreffen auch die 700000 Exemplare der berühmten Bibliothek von Alexandria und sie übertreffen die Bibliothek der Fugger in Augsburg sowie jene der Medici in Florenz (ebd., S. 408). Entscheidend ist ganz offensichtlich die Anhäufung, die Ansammlung von Büchern und Wissen in einer Universalbibliothek. Wie in einem Museum werden dementsprechend auch die Instrumente der Gelehrsamkeit, Astrolabe, Globen, Mappen, Landkarten in der Liberei zusammengestellt (ebd., S. 408). Von Besuchen der The´le`miten in der Bibliothek, von Lektüre und Studium der Bücher ist dagegen keine Rede. Eine detaillierte Analyse des ›Bücherlobs in Versform‹ soll hier nicht unternommen werden, doch möchte ich hervorheben, daß es auch hier in erster Linie um die Erhaltung und Archivierung der Bücher geht, nicht um deren Gebrauch.87 Vor der Beschmutzung der Bücher durch sorglosen Umgang, ja vor allzu starkem Gebrauch, der zu Abnutzungserscheinungen und schließlich zu ihrem Verfall führen könnte, wird immer wieder gewarnt.88 Das in der Bibliothek angehäufte Wissen ruht wie Gold unter einer Staubschicht, um ein Bild Fischarts aufzugreifen (ebd., S. 410, V. 12ff.), wie Gold, das erst ausgegraben werden muß. Der Gedanke der Universalbibliothek wird auf diese Weise ebenso ad absurdum geführt, wie in Fischarts ›Catalogus Catalogorum‹, in welchem er den Anspruch Conrad Gesners, mit seiner ›Bibliotheca universalis‹ alle irgendwie bezeugten Schriften zu verzeichnen, ins Karnevaleske verzerrt.89 87
88
Vgl. etwa den Anfang des ›Bücherlobs‹, Geschichtklitterung, c. 55, S. 409, V. 6ff.: Gott grüß euch Liebe Bücher mein, / Ihr seit noch ungverseehrt, / Dann ich schon euer wol und fein, / Daß ich nit werd zu Glehrt. / Dann wer vil kan, der muß vil thun, / Undd wer vil thut, nimbt ab. / Deßhalb ich euch die Rhu wol günn, / Daß mein lang wart das Grab. [...]. Vgl. etwa auch die Sottise gegen Erasmus, von dem es heißt, er hätte seinen Terenz so zermartert, daß er ihn neunmal kaufen mußte. (ebd., V. 23–30).
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Um die Tendenzen der deutschen Bearbeitung des Rabelaisschen Entwurfs noch einmal zusammenzufassen: Die Ideale und Leitvorstellungen aus Humanismus und Renaissance, die erasmianische Frömmigkeit, die hohe Symbolik The´le`mes werden bei Fischart nicht nur relativiert, sondern, so meine These, zerstört. The´le`me verliert seinen Charakter als Lebensform, was bleibt, ist eine Festung, welche die Bewohner vor dem Ansturm unerwünschter Eindringlinge wie der genannten päpstlichen ›Bullen‹ schützen soll, was bleibt, ist Willigmut als Ort der Ansammlung von Büchern und Wissen, eine Universalbibliothek als totes Archiv.
IV Verzerrt Fischart humanistische Ideale bereits bei der Darstellung von Gargantuas Erziehungsprogramm, so steigert sich diese Tendenz bei der Adaptation des utopischen Entwurfs von The´le`me noch einmal erheblich. Schon die Quantitäten von Fischarts Bearbeitung legen offen, daß ihn andere Partien des ›Gargantua‹ wohl weit mehr fasziniert haben. Werden hohe Symbolik, werden tiefgründige, zur Allegorisierung stets einladende Gedanken, werden Gelehrsamkeit, Humanismus, Evangelismus auch bei Rabelais immer wieder durch die schon im Prolog zum ›Gargantua‹ entfaltete silenische Schreibweise augenzwinkernd ins Zwielicht gesetzt, so scheint Fischart gerade dort in seinem Element zu sein, wo das Karnevaleske der Geschichte der Riesenfamilie dominiert.90 Besonders die ersten Kapitel des ›Gargantua‹ und der ›Geschichtklitterung‹ schildern die gesteigerte, sich ins Monströse dehnende Körperlichkeit der Riesen, ihre Gier zu fressen und saufen, ihren nicht still zu stellenden sexuellen Appetit. Der Körper der Riesen wird, um eine Kategorie Bachtins aufzugreifen,91 als offener inszeniert: Es geht um die Vorgänge des Verschlingens und Verdauens selbst. Das Leben der Riesen wird in den ersten Kapiteln von Rabelais’ ›Gargantua‹ und noch mehr in den Anfangspassagen von Fischarts ›Geschichtklitterung‹ gänzlich von ihren Affekten beherrscht. Dargestellt wird eine undiätetische Lebensweise, welche erst im Verlauf von Gargantuas Erziehung durch verschiedene Erziehungsprogramme – mehr oder weniger erfolgreich gebändigt wird. Während sich bei Rabelais gerade hier die humanistischen Bildungsziele entfalten, scheinen Fischart – betrachtet man allein die Quantitäten seiner Bearbeitung – die affektiven Genüsse, Ergüsse, ja Entladungen der Riesen, besonders in ihren sexuellen92 und skatologischen Dimensionen weit mehr 89 90 91 92
Dazu Müller [Anm. 11], S. 306–309. Zum Karnevalesken bei Rabelais sei noch einmal nachdrücklich verwiesen auf Bachtin [Anm. 7]. Vgl. ebd., S. 345–412. Gegen vielfach geäußerte Meinungen in der Forschung (vgl. z. B. Weinberg, Gar-
Verabschiedung des Humanismus
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zu interessieren. Der Humanismus Rabelais’ bleibt dagegen in seinem Entwurf eher marginal.
gantua in a Convex Mirror [Anm. 12], S. 2) bin ich der Ansicht, daß Sexualität bei Fischart eine zentrale Rolle spielt. Vgl. dazu Kellner [Anm. 6].
Harald Haferland
Weltzeit, Lebenszeit und das Individuum als Augenzeuge und Gegenstand persönlicher Erfahrung Ereigniskonzepte in der volkssprachlichen Chronistik des 16. Jahrhunderts am Beispiel der ›Chronik‹ Sebastian Fischers Am Mittwoch, dem 2. Juli des Jahres 1550 kommt Kaiser Karl V. nach Ulm. Seine Religionspolitik – die (Wieder-)Herstellung einer einheitlichen christlichen Universalmonarchie – wird wenige Jahre später (1555) scheitern und der Kaiser die Reichsgeschäfte seinem Bruder Ferdinand übergeben, aber im Augenblick ist er noch damit beschäftigt, den süddeutschen Territorien das Augsburger Interim aufzunötigen.1 Zwei Stunden vor ihm ist vormittags zwischen 10.00 und 11.00 Uhr Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen als Gefangener des Kaisers (der er von 1547 bis 1552 ist) eingetroffen, auf einem Wagen umgeben von gerüstetem Kriegsvolk mit aufgereckten Fahnen und aufgerichteten Spießen. Der Kaiser reitet dann auf einem braunen Roß hinter seinem Hofgesinde nach Ulm ein. Er trägt einen Pelzhut, einen schwarzen Samtrock und zwei weiße Korduanstiefel, Stiefel aus besonders feinem und geschmeidigem Leder, die bis über die Knie reichen. Ihm folgen sein Sohn Philipp und ein junger Fürst, ein Zug von 300 Reisigen und danach die beiden amtierenden Bürgermeister Ulms samt Teilen der Bürgerschaft sowie Söldner und Stadtknechte. Man sieht den Kaiser während seines Aufenthalts in Ulm nicht in der Messe, obwohl er es sonst so hält. Am folgenden Tag, dem Donnerstag, verliest sein von sieben Trompetern begleiteter Herold auf allen größeren Plätzen Verhaltensmaßregeln für die anwesenden Spanier. Am Nachmittag kamen des kaysers schumacher zwen Jn mein hauß, vnd brachten mitt Jnen des kaysers zway par stiffel, die weyssen Cordowan stiffel darin er zur statt herein was gerytten, vnd zwen gerücht [d. h. gerade] schwartz kordowan stiffel hipsch durchstochen, wie dan fast der welschen stiffel send, Jn den selben schwartzen stifflen, waren zwu stark solen die schnitten sie herauß, vnd baten mich das Jch Jnen zwu ring solen zukauffen geb, das thett ich [...].
1
Zum historischen Kontext vgl. Alfred Kohler, Karl V. 1500–1558. Eine Biographie, München 1999, Kap. 12 und 13, zu Karls Religionspolitik in Deutschland Robert Stupperich, Die Reformation in Deutschland, München 1972. Vgl. zum Augsburger Interim ebd., S. 128–135.
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Harald Haferland
Während sie die dünnen Sohlen in die schwarzen Stiefel einnähen, probiert der Ulmer Schuster Sebastian Fischer, aus dessen Chronik ich hier zitiere,2 einen der weißen Stiefel an: Er liegt glatt an, nur am Fuß ist er zu hoch und am Knie etwas zu weit. Also hett ich an meinem fuß den stiffel des großmechtigen kaysers, den er hat angehabt, da er zur statt herein gerytten ist, Er hats auch wider angehabt da er hinweg ist gerytten (Also was ich an dem grechten fuß ain remischer kayser, vnd an dem Lincken fuß ain schmaltziger schuhmacher) [...].3
Soweit die persönliche Begegnung Fischers mit dem Kaiser bzw. mit seinen Stiefeln. Übrigens rühmt sich auch Petrarca in seinem ›Brief an die Nachwelt‹, daß Fürsten und Könige sich an Begegnungen mit ihm interessiert zeigten, wenn natürlich auch auf andere Weise interessiert, als Schuhsohlen zu kaufen. Ich will meinen riskanten Brückenschlag zum Humanismus deshalb auf andere Weise versuchen. Bei Pirckheimer heißt es einmal, ut docti pariter et indocti hac tempestate scribant.4 Ich möchte einen solchen Ungebildeten vorstellen, der schreibt. Ich frage dabei aber nur am Rande, ob sein Schreiben in einen Zusammenhang zum Humanismus zu bringen ist, der sich dann auch zu einem Handwerker-Humanismus entfaltet hätte. Es gibt im 16. Jahrhundert eine nicht unerhebliche Zahl von schreibenden Handwerkern. Prominent ist darunter ein Dichter wie Hans Sachs, aber besonders in die reformatorische Debatte mischen sich viele Handwerksmeister ein. Sie können lesen, schreiben und rechnen, haben aber nur im Ausnahmefall eine Lateinschule besucht. Ihr Bedürfnis nach Bildung ist groß, ihr Zugang zu Bildungsgut indes zumeist über deutschsprachige Texte vermittelt und auf sie beschränkt.5 Wie ist ihr Schreiben – immerhin gelangt einiges davon auch in den Druck – zu erklären? Zum einen sicher dadurch, daß die frühneuzeitliche Gesellschaft keine sozialen und institutionellen Möglichkeiten bereithält, um allen Interessierten zu einer entsprechenden Ausbildung zu verhelfen – so daß diese sich ihren eigenen Weg zur Bildung suchen. Handwerker, die nicht Nutznießer der studia humanitatis werden konnten, schalten sich also in ihnen zugängliche öffentliche Debatten ein und beginnen zu schreiben. Möglich wäre aber auch eine indirekte Fernwirkung des Humanismus. Sofern der Begriff des Human2
3 4 5
Sebastian Fischers Chronik besonders von Ulmischen Sachen, hg. im Auftrag des Vereins für Kunst und Alterthum für Ulm und Oberschwaben von Karl Gustav Veesenmeyer, in: Mitteilungen des Vereins für Kunst und Alterthum in Ulm und Oberschwaben. Heft 5–8, Ulm 1896, S. 205. Ich beziehe mich im folgenden mit der Angabe der bloßen Seitenzahl auf diese Ausgabe. S. 205f. Willibald Pirckheimer, Apologia seu podagrae laus/Verteidigungsrede oder Selbstlob der Gicht, hg. und übertragen von Wolfgang Kirsch, Berlin 1988, S. 5. Vgl. Martin Arnold, Handwerker als theologische Schriftsteller. Studien zu Flugschriften der frühen Reformation (1523–1525), Göttingen 1990.
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ismus mehr bezeichnen soll als eine homogene geistige Bewegung, die einen bestimmten Bildungsstand ihrer Träger voraussetzt, und sofern man vom Humanismus als einer Epoche spricht, wäre zu unterstellen, daß es entsprechende Fernwirkungen und Multiplikatoreffekte gibt. Als ein Element, das sich über Bildungsbarrieren hinaus multiplizieren ließ, verstehe ich die Vorliebe, die Einmaligkeit von Gefühlen, Meinungen, Erfahrungen und Umgebung zum Ausdruck zu bringen und dies auch der Mühe wert zu finden; diese Vorliebe ist in der biographischen und erzählenden Literatur der Zeit wie auch in der Porträtmalerei anzutreffen; sie findet sich in allen Schriften des Humanismus; [...].6
Auch der Ulmer Schuster Fischer sieht in seiner nachrangigen Begegnung mit den Stiefeln des Kaisers einen einmaligen lebensgeschichtlichen Moment, der seine Person profiliert, weil er sie an die große Geschichte – verdichtet in der Person des Kaisers – herangeführt hat. Doch ist dabei konkretes Denken,7 wenn auch in ironischer Brechung, noch zu greifen: Indem Fischer das Privileg reklamiert, in einen der kaiserlichen Stiefel schlüpfen zu dürfen, wird er hierdurch zumindest mit einem Fuß zum Kaiser. Physische Nähe zum Kaiser und Berührung mit seiner Kleidung wird in Selbstgefühl umgemünzt und spielerisch zu einer Art metonymischer Identität mit ihm erhoben. Die Chronik des Sebastian Fischer, gedruckt erschienen 1896 in den ›Mitteilungen des Vereins für Kunst und Alterthum in Ulm und Oberschwaben‹, ist den Erforschern der Geschichte der Autobiographie ebenso entgangen8 wie auch andere Aufzeichnungen von Handwerkern aus dem 16. Jahrhundert, die nicht in größere Sammelausgaben wie besonders die ›Chroniken der deutschen Städte‹ eingegangen sind. Sie stellen keine bedeutenden historischen Quellen dar und weisen auch kein deutliches Gattungsprofil (als Chronik oder als Autobiographie) auf.9 6
7
8
9
Paul O. Kristeller, Die humanistische Bewegung, in: Humanismus und Renaissance I. Die antiken und mittelalterlichen Quellen, hg. von Eckhard Kessler, München 1974, S. 11–29, hier S. 26. Vgl. zur entsprechenden Anschauungsform oder Geisteshaltung die älteren volkskundlichen Gesamtdarstellungen von Richard Weiss, Volkskunde der Schweiz. Grundriss, Erlenbach, Zürich 1946, S. 249–253, und Adolf Bach, Deutsche Volkskunde. Wege und Organisationen. Probleme. Methoden. Ergebnisse und Aufgaben. Schrifttum, Heidelberg 31960, §§ 346–348. Vgl. die älteren Arbeiten von Werner Mahrholz, Deutsche Selbstbekenntnisse. Zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919, und Marianne Beyer-Fröhlich, Die Entwicklung der deutschen Selbstzeugnisse, Leipzig 1930. Den Hinweis auf Fischers ›Chronik‹ verdanke ich Thomas Fuchs und Ernst Riegg. Von Ernst Riegg ist eine vergleichende Studie zur Erinnerungskultur in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtchronistik zu erwarten. Als eine exemplarische Studie zu einer ebensowenig gattungsbewußten ›Chronik‹ eines Dithmarscher Großbauern betrachte ich Utz Maas: Bäuerliches Schreiben in der Frühen Neuzeit. Die Chronik des Hartich Sierk aus den Dithmarschen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Wolfgang Raible (Hg.), Kulturelle Perspektiven auf
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So auch im Fall Fischers. Er wird 1513 in Ulm geboren, durchläuft ab 1525 eine Schuhmacherlehre, befindet sich zwischen 1533 und 1536 auf Wanderschaft – Stationen sind Worms, Bern und Basel – und schreibt ab 1548 seine ›Chronik‹ mit dem letzten Eintrag aus dem Jahre 1554. Er dürfte bald danach gestorben sein. Er schreibt nicht eigentlich eine Chronik, sondern kompiliert aus deutschsprachigen Chroniken und Flugschriften, die er sich seit seiner Wanderschaft zusammengekauft hat (besonders von Johannes Carion, Sebastian Franck, Petermann Etterlin, Johannes Stumpf und Felix Fabri), chronikalische und annalistische Materialien, die er mit Selbstgesehenem sowie mit Nachrichten zu seiner Familie und zu sich selbst versetzt und für die Jahre 1548–1554 im Stil einer Gegenwartschronistik weiterführt und verdichtet, wobei er nicht nur als Augenzeuge spricht,10 sondern auch eigenständig Recherchen vornimmt.11 Er hält sich für die Jahre ab ca. 1530 an ein annalistisches Skelett, das durch zahllose Inserate unterbrochen und immer wieder neu aufgenommen wird. Die Inserate beschränken sich z. T. auf wenige Sätze – etwa bei kulturgeschichtlich interessanten Notizen12 −, erstrecken sich aber auch auf bis zu 30 und mehr Blätter, wenn er z. B. den Konflikt zwischen dem Kaiser und dem Schmalkaldischen Bund darstellt.13 Sie werden durch mittig geschriebene Überschriften
10
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Schrift und Schreibprozesse. Elf Aufsätze zum Thema ›Mündlichkeit‹ und ›Schriftlichkeit‹, Tübingen 1996 (ScriptOralia 72), S. 67–96. Maas betont auch für Sierk die mittelbare Abhängigkeit von der intellektuellen Mode des Humanismus, in deren Rahmen sich lokale Chroniken »in einen universalen historiographischen Horizont stellen« (S. 69). Die Augenzeugenschaft wird öfters betont, besonders deutlich einmal bei der Beschreibung der Herrichtung des Kirchenraums für eine von Karl V. besuchte Messe: [...] also haun ich der bsincknus [Messe] anfang vnd end beschryben, welches ich dan mit meinen augen selbs gsehen hab, darumb ich also darbey bin gwesen und zugeluget, hat mich der firwitz getryben, darmit ich auch ettwas daruon kind sagen die warhait wie es gangen ist, dan was ich selb erfaren kan glaub ich nit anderleytten sunder erfar es selbs, so wayß ich das es war ist dan das ain sagt weyß das ander schwartz (S. 131). Dies wird besonders deutlich, als er einen Angriff der Kaiserlichen auf Konstanz im Rahmen der Durchsetzung des Augsburger Interims beschreibt: [...] ich hab fleyssig nach solchem yberfal gefragt vnd anderleüt von meintwegen, vnd hab also geschryben das firnempst, das ich erfaren hab etc. (S. 121). Für eine faktenbezogene Geschichtsschreibung sind indes allenfalls seine Schilderungen der Ulmer Verhältnisse von Interesse. Vgl. dazu auch die Hinweise Veesenmeyers im Vorwort der Ausgabe, S. III. So übernimmt er z. B. im Interesse des eigenen Berufsstandes die bei Plinius (›Naturalis Historia‹ XXXV 84f.) erzählte Geschichte über den Maler Apelles, den ein Schuhmacher kritisiert, wortwörtlich von Sebastian Franck (Chronica, Zeytbuch und geschychtbibel [...]. Straßburg 1531, Buch I, Bl. LXXXVIIvf.), wobei auch Francks stolzer Verweis auf die berühmten Zeitgenossen Dürer, Cranach und Holbein mit übernommen wird (vgl. S. 63). Hier geht wie auch sonst oft die Abschnittbildung – mit der mittig gesetzten Überschrift – auf seine Quelle zurück. S. 121–134.
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gekennzeichnet. Auch universalhisorische Exkurse sowie Materialien ganz anderer Art – wie z. B. eine Bauernpraktik – werden inseriert. Die Aufnahme der Inserate erfolgt weitgehend ungeregelt. Ein vorgeschaltetes Register soll – wie oft bei Drucken des 16. Jahrhunderts – ihre Auffindung und überhaupt die Lektüre erleichtern, daneben lenken zahllose Vor- und Rückverweise den Leser zusätzlich. Fischer exzerpiert Universalgeschichte – ohne Ambition, eine heilsgeschichtliche Perspektive einzunehmen, und eher schon im Sinne einer Profanierung der biblischen Geschichte – meist in Form von Listen und Kurzerzählungen: so eine Aufzählung der Urväter und der biblischen Könige bis zur Zeit Christi sowie eine Erzählung der Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Da er seine Vorlagen oft wortwörtlich ausschreibt und das auch angibt, kommen auch Stellenangaben – wie hier Josephus [›De bello Judaico‹] lib. vij capittel xvij – mit herüber.14 Immerhin hat er für seine Darstellung der Zerstörung des Tempels fünf Bücher vor sich liegen, aus denen er das Geschehen Jn ain kurtze Sum gefasset hat.15 Nach einer Darstellung der Apostelmission16 folgt die römische Geschichte von der Gründung Roms bis zu den römischen Kaisern17 − die Republik fällt aus, weil sie nicht so leicht in Listenform zu bringen ist. Daran schließt sich eine Liste der Kaiser seit Konstantin sowie der deutschen Kaiser, ja schließlich der türkischen Kaiser.18 Nach Informationen über Mohammed und den Koran folgt eine Liste der Päpste, eine Liste der Orden nach dem ABC sowie eine Liste der Sekten.19 Neben kleineren Einschüben – etwa zur Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft20 und zur Konziliengeschichte – wird dann auf Ereignisse der Landesgeschichte (Württembergs) und schließlich auf die Stadtgeschichte (Ulms)21 fokussiert, wobei der Religionsstreit zwischen dem Kaiser und den Ländern und städtischen Gemeinden im Vordergrund steht. Der Bruder des Vaters von Fischer, sein Onkel Konrad Saum, war als Parteigänger der Reformation Prediger in Ulm, und Fischer stellt seine Abschrift einer im Jahr 1533 14
15 16 17 18 19 20 21
S. 34. So versammelt er Verweise auf Stellen z. B. bei Augustinus (S. 42), bei Eusebius (S. 102, 165, 172, 201), Plinius (S. 63, 64, 166), Eutrop (S. 94,176), bei den spätantiken Kirchenhistorikern Sozomenus, Theodoret und Sokrates (S. 172), Otto von Freising (S. 165) und dem ›Speculum Historiale‹ des Vinzenz von Beauvais (S. 217) – oft unter Auslassung des Verweises auf seine Sekundärquelle. S. 36. S. 81–87. S. 87–91. S. 91–94, 94–99, 99–102. S. 102–107, 107–110, 110–113, 113. S. 65–67 (nach der Chronik Petermann Etterlins). Nach eigener Anschauung, aber auch unter Heranziehung von Felix Fabris ›Tractatus de civitate Ulmensi‹.
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gedruckten Predigt Saums seinem Buch überhaupt voran und versammelt weiteres Material zum Wirken Saums in Ulm. Das verwandtschaftliche Moment beeinflußt sein Interesse an den religiösen Zuständen der Zeit deshalb in besonderem Maße, und seine Sympathie für die reformatorische Bewegung veranlaßt ihn, lokale Zeugnisse der Reformation aufzunehmen.22 Daneben bewegt ihn die große verenderung In diser statt vlm, und abgesehen von strukturellen Veränderungen, angesichts derer er den gegenwärtigen Stand festhält – z. B. in Bezug auf die Zünfte, besonders die der Schuhmacher –, wartet er mit seinen Aufzeichnungen jeweils auch, biß sich ettwas namhaffts zutregt.23 Bemerkenswert scheint mir die Kombination von Welt-, Reichs-, Landesund Stadtgeschichte mit den eigenen Beobachtungen lokaler Ereignisse und mit der eigenen Lebensgeschichte. Sie führt kaum zur intellektuellen Vermittlung dieser Gegenstände und zu ihrer Durchdringung, aber allein ihr Nebeneinanderstehen ist ungewöhnlich genug. So konnte nicht verborgen bleiben, daß die Lebenszeit einen in der narrativen Darstellung unverhältnismäßig groß erscheinenden und dennoch nur winzigen Teil der Weltzeit ausfüllt und ein Menschenleben nur einen kleinen Teil des Zeitalters ausmacht.24 Fischers Horizont ist der des gemeinen Handwerkers,25 seine beschränkten Einsichtsmöglichkeiten in geschichtliche Vorgänge werden indes kritisch behauptet,26 in der Regel freilich in der Form eines isolierten Selbstgesprächs im Zuge des Schreibvorgangs.27 22 23 24
25 26
27
Z. B. 18 Artikel Oekolampads, Bucers u. a. zur Ordnung der Messe in Ulm, S. 14–17. So eine Bekundung auf S. 158. Das Schreiben ›an den Ereignissen entlang‹ wird deutlich auch etwa auf S. 149. Zur Wahrnehmung dieser Erfahrung vgl. Arno Esch: Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: ders., Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, S. 9–38. Betont z. B. auf S. 81. In der Artikulation von Zweifeln an Gelesenem (z. B. auf S. 60, 65, 82), in der Absicherung gegenüber möglicherweise unzuverlässigen Quellen (vgl. S. 107), in Ansätzen zu einer Quellenkritik (S. 45) und zum Quellenvergleich (S. 18, 35), besonders wenn die Quellen abweichende Jahreszahlen angeben (S. 41, 87, 91, 103, 104, 175). Wo eigene Informationen vorliegen, werden auch einmal Chroniken korrigiert, z. B. die Johannes Carions (Chronica, Wittenberg 1532): [...] aber Carion schreybt 5000 man seyen erschlagen worden [in der Schlacht bei Kappel im Jahr 1531, in der Zwingli ums Leben kommt], diser Carion schreybt nit die warhayt, das 5000 erschlagen seyen worden, dan ich hab zway Jar jm schweytzer land gearbayt, so sagen bayd bardeyen das der Zircher nitt 5000 gwesen sind, wie kinden sy dan 5000 man erschlagen haun, dieweyl niena so fil da send gwesen. Nun jm sey wie jm well, ich hab es selber nit gezelt, darumb so kann ich es auch nit wissen, aber von zwayhundert mannen, die erschlagen seyen, haun ich offt gehert [...] (S. 49). Das wird schön kenntlich an der anakoluthischen Struktur eines Nachtrags zu der in Anm. 26 zitierten Partie: Also wie geschryben stat, hab ich uß ainer augspurgerische kronick abgeschryben [die sich dann ihrerseits auf Carion stützt], vnd ichs zu meim tayl, wie ich dan yetz in gedechtnus bin, nicht anders schreyben kan, wan das er ain
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Ich zeichne im folgenden nach, wie das Nebeneinanderstehen des Disparaten in Fischers ›Buch‹ (wie er es selbst nennt)28 zu erklären ist und wie es sich auswirkt und gehe dabei auswahlweise kurz auf folgende Punkte ein: 1. auf die intendierte Leserschaft, 2. auf den Nukleus, aus dem das ›Buch‹ hervorgegangen ist, 3. auf den elementarsten Typ von Aufzeichnungen in ihm, der aus bloßen Angaben besteht, 4. auf einen besonders charakteristischen Ereignistyp, der das Nebeneinander des zusammengestellten Materials ansatzweise doch vermittelt: auf den Tod nämlich als historisches und als Erfahrungsereignis, und 5. auf eine sehr verschieden artikulierte Erfahrung gerade der Renaissance (vgl. in diesem Zusammenhang etwa die Verbreitung des Fortuna-Motivs): die Beschränktheit der Eingriffs- und Einsichtsmöglichkeiten in geschichtliche Vorgänge – wobei die ständische Position Fischers ihm hier auch eine charakteristisch beschränkte Perspektive aufnötigt. 1. Welche Leserschaft hatte Fischer im Auge? Er will dem mentschen, dem diß buch nach meim todt zuhannd kumpt, solichs zulyeb schreyben [gemeint sind im unmittelbaren Kontext Regententabellen aus der Geschichte Roms], der ettwa sunst kaine kronicken hat, ain kurtz gemerckt der kayser firstellen, der ettwa sich darin erfrewet wen ich erfaulet bin [...].29
Nach einer anderen Äußerung hat er sein Buch begonnen, um zu beschreiben, was sich fir seltzam hendel zutragen, daselb fleyssig zu beschreyben, vff welchen tag vnd zeyt sich ain ding hab verloffen, mir zu ainer gedechtnus, Deselbigen gleychen denen nach mir, welchem dan nach meim absterben, diß buch, als mein geschrifft zukumpt [...].30
Fischer denkt an Leser, die sein Buch erst nach seinem Tod in die Hand bekommen werden, und insbesondere auch an Leser jenseits des Kreises der eigenen Familie.31 Von solchen Lesern hat er bereits eine Vorstellung, da schon einmal ein Teil seines Buchs mit der Beschreibung seiner Krankheit und ihrer Medikation immerhin so viele Leser gefunden hatte, daß er die völlig zerlesenen Lagen nicht mehr mit einbinden lassen konnte und noch einmal ganz neu abschreiben mußte.32 Einige z. T. unbeholfene Einträge aus späterer Zeit zeigen indes, daß sein Buch dagegen über Jahrzehnte im Familienbesitz blieb.33 Leser außerhalb der
28 29 30 31 32 33
meldet doch zweyffelhafftig, das er jm auch nit sunders glauben gibt, als da er schreybt, das Carion schreybt 5000 man erschlagen, wie ich dan oben gemeldet haun nach der lenge etc. (S. 49). S. 87, 113, 158 u. ö. S. 87. S. 158. Dies geht auch aus Absichtserklärungen über sein Schreiben (z. B. auf S. 19) und Anreden wie mein leser (S. 113) hervor. S. 27. Der letzte Eintrag erfolgt erst 1622. Vgl. die Angaben Veesenmeyers [Anm. 2], S. 247f.
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Familie scheint es nicht mehr gegeben zu haben. Ein kleinerer Teil des Buchs reserviert es denn auch für die Familie, ja für den Schreibenden selbst: Neben die umfangreichen Exzerpte und wörtlichen Abschriften aus seinen Vorlagen stellt Fischer eben auch Angaben zu persönlichen Belangen und zum engsten Familienkreis, die keinen fernen Leser interessieren konnten. Gerade was er sich selbst zu ainer gedechtnus notierte,34 verlor deshalb nach seinem Dahinscheiden jedes unmittelbare Interesse. Insofern kommt es zu einer charakteristischen Nicht-Abstimmung zwischen einer persönlichen Perspektive auf das eigene Leben und der Perspektive auf die Weltgeschichte. Beide Perspektiven scheinen mit dem eigenen Tod auseinanderzutreten. Natürlicherweise ist das Denken über den Tod hinaus etwa mit dem Gedanken an das Fortleben der eigenen Kinder verbunden, aber Fischer denkt dort über ihn hinaus, wo er selbst für sein Buch keine Verwendung mehr haben wird: Hier rücken für ihn sehr viel abstrakter die anonymen Leser ein, für die er Geschichte und alles das exzerpiert, was im engsten Familienkreis wenig bedeutet. Er differenziert deshalb klar zwischen Familiennachrichten und Nachrichten für eine an geschichtlichen Ereignissen interessierte Öffentlichkeit, ohne daß dies zur Differenzierung zweier Textsorten führen würde. Insofern formiert Fischer zugleich mit persönlicher Erinnerungsarbeit eine Erfahrung des ›Überlebens‹ durch Schreiben für spätere Leser. Gleichsam als Konterbande gelangen dabei auch seine für die eigene Erinnerung entstandenen Aufzeichnungen an sie. 2. In Fischers Beschreibung seiner Krankheit und ihrer Medikation liegt wohl der Nukleus des Buchs. Im Alter von 22 bekommt Fischer Ohrensausen, das er auf den Rat anderer Handwerksgesellen hin behandeln läßt. Seine Leidensgeschichte erzählt er auf 15 Blättern:35 Ein mit ihm bekannter Schuhmacher empfiehlt ihm, flüssigen Fischtalg ins Ohr zu träufeln, ein Scherer schüttet ihm Säure hinein und treibt einen Meißel so tief, daß er nicht mehr herauszubekommen ist; über einem Kräuterdampfbad verbrennt Fischer sich die Ohren, und in Anbetracht der Zahl der zur Einwirkung gebrachten Öle unterschiedlichster und exotischer Zusammensetzung verwundert es nicht, daß er bald nur noch hört, wenn man ihm ins Ohr brüllt, ja am Ende muß man ihm aufschreiben, was man ihm sagen will. Die ihn dergestalt sozial isolierende Krankheit begünstigt sein Schreiben in besonderem Maße, indem Kommunikation über Schrift eingeübt wird und die Gelegenheit zum einsamen Schreiben sich natürlich leichter einstellt. Das Schreiben als vertraut werdende Tätigkeit kann sich daraufhin 34
35
Einmal bedauert er, daß er die Kosten für Umbauten in seinem Haus nicht kontinuierlich notiert hat (S. 20), ein andermal wird deutlich, daß er sich für die Zahlenangaben zu den Teuerungen der Jahre 1543 und 1551 auf solche Notizen gestützt haben muß (S. 56). Einen Streit seines Vaters mit einem Nachbarn hält er fest, damit man ain andermal wiss wie es sey gehandlet worden (S. 19). S. 20–27.
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auch seine Gegenstände selbst suchen. Voraussetzung ist die Demotisierung der Schrift im 16. Jahrhundert.36 Das hohe Interesse der Leser an der zunächst gesondert zirkulierenden Partie der ›Arzneien‹, wie Fischer sie nennt, die doch nur einen vergeblichen Kampf gegen den Tinnitus schildert, der die Leser kaum als unmittelbar Betroffene interessieren konnte, erklärt sich zweifellos aus dem zeitgenössischen Medizindiskurs. Er reagiert auf die Alltäglichkeit und Allgegenwart von Krankheiten und geht besonders in die zeitgenössischen Hausbücher ein.37 Die Textumgebung dieser Partie – voraus gehen ihr die Kosten für Umbauarbeiten am eigenen Haus, und es folgen Rezepte und die Bauernpraktik – legt nahe, daß Fischer sein Buch als Hausbuch (mit unterschiedlichsten Eintragungen persönlicher Belange und persönlichen Interesses)38 beginnt und daß erst nach und nach ein Konglomerat heranwächst, das als Chronik zweifellos unzureichend bezeichnet ist. 3. Als nächste Schicht lagern sich bedeutsame Ereignisse und Umstände ab, die in ein annalistisches Raster gepreßt werden und durch Namen, Daten, Orte, Kosten, Maße usw., durch konkrete Angaben also, umrissen und so bestimmbar sind. Darin kommen etwa die Regierungszeit eines Herrschers, ein aufsehenerregender Mord und eine Monstergeburt in einem bestimmten Jahr überein. Solche Angaben sind Futter für das Schriftgedächtnis, sie rechtfertigen – auch 36 37
38
Vgl. Maas [Anm. 9], S. 73. Vgl. Dieter H. Meyer, Literarische Hausbücher des 16. Jahrhunderts. Die Sammlungen des Ulrich Mostl, des Valentin Holl und des Simprecht Kröll, 2 Bde., Würzburg 1989, s. Reg. zu ›Rezepte‹ bzw. ›Medizinische Rezepte‹. Schon im 15. Jahrhundert wird der besondere Typ des iatromathematischen Arzneibuchs herausgebildet und zu dem oft überlieferten Modelltext des ›Iatromathematischen Hausbuchs‹ verdichtet. Dazu und zu einer repräsentativen Handschrift dieses Textes vgl. Gundolf Keil, Das ›Iatromathematische Hausbuch‹ in der medizinischen Fachprosa des deutschen Mittelalters, in: Vom Einfluss der Gestirne auf die Gesundheit und den Charakter des Menschen. Kommentar zur Faksimile-Ausgabe des Manuskriptes C 54 der Zentralbibliothek Zürich (Nürnberger Kodex Schürstab), hg. von Gundolf Keil [u. a.], Luzern 1983, S. 131–132. Nach Keil sind Zielgruppe iatromathematischer Arzneibücher »die Laien, die in den astromedizinischen Kompilaten nicht nur diätetische Ratschläge, divinatorische Handhaben und Hinweise für die Zeitrechnung fanden, sondern auch ein Stück Weltverständnis und anthropologischer Deutung vermittelt bekamen« (S. 131). Hausbücher wachsen im 16. Jahrhundert zu einer äußerst vielgestaltigen Textsorte heran. Einzelne Hausbücher wiederum können heterogenstes Material vereinen. Adolf Boell, Das große historische Sammelwerk von Reutlinger in dem städtischen Archive zu Überlingen, Überlingen 1899, kennzeichnet den Charakter des Hausbuchs von Jacob Reutlinger aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts folgendermaßen: »In buntem Wechsel, ohne innere Ordnung oder vorausschauende Planung stehen chronikalische Zeit- und Kriegsberichte, Abschriften und Auszüge aus Büchern und Urkunden, Verhandlungen, Protokolle, Verordnungen und Mandate, Reichsgesetze, Rathsordnungen, Verträge und Briefe neben tagebuchartigen Aufzeichnungenm aus dem privaten Bereich« (S. 31).
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wenn sie tatsächlich nie wieder gebraucht werden – aus sich selbst die Aufzeichnung. Aus Angaben dieser Art – zur eigenen Familie (Geburt, Hochzeit und Tod ihrer Mitglieder), zu Jahren und Tagen, in bzw. an denen etwas für das eigene Leben Bedeutsames stattfand, zu finanziellen Aufwendungen usw. – erwächst im übrigen auch die Autobiographie als Gattung in der frühen Neuzeit.39 Auch bei Fischer läßt sich ein entsprechender Ansatz erkennen: Was etwas gekostet hat im Jahr der großen Teuerung 1543,40 wieviele Schuhlängen von der Kirchhofs- oder Gartenmauer entfernt die Eltern oder die erste Frau Fischers begraben liegen,41 welche Maße das Ulmer Münster (in Schuhlängen) besitzt – Fischer mißt es mit Helfern selbst aus, er malt es auch ab –,42 wieviele Reisige dem Kaiser beim Einzug in Ulm nachfolgen,43 welche Kleidung der Kaiser beim Gang in die Messe trägt:44 all solche Angaben korrespondieren – allerdings als selbst beobachtete, gemessene, recherchierte und notierte – den aus den Chroniken kompilierten Listen, Aufzählungen und Angaben (u. a. auch zum Erdumfang, zu Winden und geographischen Zonen). Sie reduzieren Lebensgeschichte und Geschichte scheinbar auf Namens-, Zahlen-, Ortsangaben. Für Fischer bedeuten seine Angaben allerdings zugleich auch immer schon mehr: Sie evozieren die konkrete Erinnerung an die Zeit der materiellen Einschnitte (im Zuge der Teuerung), den großen Schmerz über den Tod seiner Frau (den er auch explizit beschreibt), den Lokalstolz45 und die feierliche Ergriffenheit dessen, der dem Einzug und Kirchgang des Kaisers beigewohnt hat. So gehen die Angaben aus Erfahrungen des eigenen Lebens hervor, die anhand der Niederschrift heraufgerufen und verarbeitet wie dann bei späterem Überlesen abgerufen werden können. Nicht recht bedacht ist indes, daß sie für fremde Leser nicht mehr denselben Aussagewert haben konnten. 4. Fischer greift andererseits aber weit über solche Angaben hinaus. Ein Ereignistyp vermittelt dabei in besonderer Weise Geschichte und Lebensgeschichte: der Tod, der für Fischer lebendige Anschauung ist. Heute weiß man von den Hinrichtungsstätten spätmittelalterlicher Städte vielleicht noch aus dem Grimmschen Märchen ›Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen‹ (der sich 39
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45
So etwa bei Lucas Rem, Ulman Stromer und Endres Tucher, wo das Festhalten von Namen, Daten, Zahlen und Fakten jede freiere Entfaltung der Narration entschieden dominiert. Nicht so dagegen z. B. bei Burkhard Zink, wo die Narration zu einer besonderen Form der Bedeutungsstiftung erhoben wird. S. 56. S. 9. S. 223 gegen Mittag in Seitenansicht und S. 224 gegen Abend in Frontalansicht. S. 205. S. 131. Hier gewinnt Fischers Darstellung die Dignität einer ethnographischen Beschreibung: Er recherchiert bei einem Schreiner, der die Aufbauten im Kirchenraum angefertigt hatte, wieviele Kerzen bei der Messe abgebrannt wurden. Der Stolz auf die Stadt tritt deutlich hervor auf S. 221.
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die Gehenkten in der Nacht vom Galgen holt, um sich nicht langweilen zu müssen). Die Gerichteten bleiben monate-, mitunter jahrelang an Ort und Stelle, die Vögel picken ihnen bald die Augen aus, ihre Haut trocknet aus, ihre Eingeweide werden zerfressen und verfaulen. Viel schockierender aber noch: Man wohnt Hinrichtungen neugierig bei und verfolgt jede letzte Regung der Delinquenten, auch die Regungen der anwesenden Zuschauer, die sich schon einmal vom Mitleid anstecken lassen und weinen.46 Fischer selbst ist immer wieder Zeuge dieser Art von Extremunterhaltung und bewertet gern den beobachteten Tod (etwa: er starb manlich vnd nam ain fain End).47 Hierzu fügt es sich, wenn er den Tod Luthers,48 Zwinglis, Oekolampads und des Erasmus49 in eigenen Abschnitten würdigt. Er geht ausführlich auf die Hinrichtung von Jan Hus ein50 und schreibt eine Übersetzung des weitverbreiteten Briefs von Poggio Bracciolini über den Tod des Hieronymus von Prag aus (ich will yetz sein standthafften todt beschreyben), der fröhlich singend zur Richtstätte geht.51 Auf den Tod Zwinglis im Zweiten Kappeler Krieg kommt Fischer noch einmal ausdrücklich zurück: Augenzeugen haben ihm von Zwinglis Verweigerung eines Widerrufs berichtet: nachdem er standhafft uff seim glauben blyben sei, habe man ihn auf dem Schlachtfeld erwürgt.52 Der Tod führt nicht nur einfachen Menschen die Begrenztheit ihres Einflusses auf Vorgänge von historischem Format endgültig vor Augen, er macht auch Personen von historischer Größe zu einfachen Menschen: Entsprechend zieht Fischer sein Resümee aus seiner Darstellung des Lebens Alexanders des Großen: Diser Aleyander het nit weytte gnug Jn der gantzen welt, yetz muß er jn ainer grub 7 schu lang ain fellig beniegen haben [...].53 5. Ob es ein Elefantenzahn54 oder ein über Venedig nach Ulm geführter Löwe ist, ob ein Platzregen im Jahr 1544 oder der Kaiser in der Messe, das Selbstgesehene wird chronickwirdig,55 wenn es außeralltäglich ist.56 Mit beson46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
So, wenn ein junger Mann vor der Hinrichtung sein Leben auf herzzerreißende Weise bereut: S. 51. S. 168. Vgl. auch: er starb manlich vnd dapfer (S. 167). S. 52. S. 17f. S. 187–191. S. 191–193. S. 49. S. 102. Zur Größe des Grabs vgl. ebenso schon den ›Straßburger Alexander‹, V. 7274– 7278, nur daß Fischer in Schuhen mißt und nicht in Fuß. Im 1546 Jar hab ich beste [Sebastian] fischer schuhmacher ain helfanten zan gesehen [...] (S. 120). Vgl. den Begriff z. B. auf S. 62. Als Kriterium nennt Fischer etwa den Umstand, daß er etwas sein lebenlang nie ghert hat (S. 160) oder daß etwas unerhert ist (ebd. u. ö.). Entsprechend erfolgen Einträge von wunders wegen (z. B. S. 80), besonders hervorstechend bei einer auf den Seiten 56–60 aufgenommenen wunderberlichen Geschichte aus dem Jahre 1509. Von Inter-
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derer Beteiligung folgt Fischer der Einkerkerung der Ulmer reformierten Prediger, die sich 1548 dem Augsburger Interim nicht unterwerfen mögen. Er schreibt hier an den Ereignissen entlang,57 indem er Platz für Nachträge läßt (da haun ich die [!] spatzium gelassen)58 und dann tatsächlich die Freilassung nachtragen und berichten kann.59 Aber die Prediger dürfen nicht nach Ulm zurück, das Zusammentreffen mit und die Trennung von ihren Familien vor den Toren Ulms werden mit großer Anteilnahme geschildert. Karl V. setzt einen konformen Prediger ein, dessen Gottesdienst Fischer mit ablehnender Distanz verfolgt. Es fällt auf, wie hoch dasjenige bewertet wird, welches ich dan mit meinen augen selbs gsehen hab.60 Es läßt sich aufbessern durch eingezogene Informationen (vgl. wie ich bericht bin, wie ich hab die metzger daruon heren sagen,61 wie ich von fil knechten gehert haun,62 also ist mir glaubhefftig gesagt worden 63 u. ä. m.). Noch auffälliger ist aber, wie klein der Informationsradius des ›gemeinen Mannes‹ und vermutlich nicht nur der seine ist. Die große Politik dringt zu Fischer allenfalls in lokaler Brechung durch. Aber auch hier sind Informationen knapp. Was der Kaiser 1550 in Ulm letztlich überhaupt beredet, erfährt Fischer gar nicht, z. T. verhängt der Rat in solchen Fällen auch eine Nachrichtensperre.64 Wichtige Nachrichtenkanäle bilden gegebenenfalls die Zünfte, da Handwerksmeister hier in regelmäßigem Kontakt stehen und bestimmte Informationen schnell zusammenlaufen.65 So zählt für Fischers Augenzeugenschaft vorrangig die bloße Präsenz des Kaisers, und mangels zusätzlicher Informationen, wie sie sich vielleicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen ließen, beschreibt er die beiläufigsten Umstände dieser Präsenz mit geradezu ethnographischer Akribie. Die Informationsknappheit ist ausschlaggebend für die gemaine sag, auf die Fischer sich öfter bezieht.66 Er läßt erkennen, wie lebendig deshalb auch kleine mündliche Gattungen sind. So werden im Anschluß an bestimmte Ereignisse Ereignislieder verfaßt, z. T. um die Möglichkeit zu nutzen, eine tendenziöse
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esse ist hierbei auch etwa die Verzeichnung der Erfindung der Buchdruckerkunst (S. 40) und der Entdeckung der neuen Welt (S. 80). Dies wird deutlich durch Formulierungen wie so aber ettwas weytters geschicht, will ich es auch beschreyben (S. 145). S. 139–144. Platz für Nachträge wird öfter gelassen. Vgl. etwa S. 60, 68, 78, 121, 158 und 159. Nicht selten sind auch Bemühungen um klarere Disposition, explizit z. B. auf S. 35, 137, 140 und 154. S. 153f. S. 131. S. 124. S. 125. S. 126. Beim Besuch im Jahre 1547 (vgl. S. 129f., vgl. auch S. 136). Vgl. S. 124. Vgl. S. 76, 135, 139.
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Botschaft zu verbreiten.67 Und als im Jahr 1550 eine Fehde zwischen der Stadt Ulm und den Grafen von Wiesensteig über die Nutzung von Weideflächen ausbricht, heißt es bei Fischer: Es stond ain sprichwort vnder dem gmainen Man auff, man hieß den krieg nun den gayßkrieg, dieweyl er sich von des fichs wegen erhebt hett, wie oder welcher gstalt diser krieg vertragen sey, hab ich nach fleyssigem nachfragen nitt kunden erfaren.68
Selbst als Einwohner Ulms scheint es schwierig, Klarheit über die Fehde zu gewinnen. Aufschlußreich ist auch, was dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel widerfährt. Der Sommer des Jahres 1540 ist außergewöhnlich heiß. Jn dem jar giengen die brenner vm, die legten feür ein in stetten vnd derffern, vnd verbrantten fil heüser vnd derffer [...].69 Der Mordbrand wird dem Herzog Heinrich angehängt, der sich gegen den Schmalkaldischen Bund gestellt hatte. Auch Luther bezeichnet ihn in der gegen ihn gerichteten Schrift ›Wider Hans Worst‹ mehrfach als Mordbrenner.70 Der Herzog wird 1542 vom Schmalkaldischen Bund vertrieben, Fischer glaubt von wegen seines brenne[n]s.71 Hier sitzt man wohl Gerüchten auf, die schnell die Runde machen und rücksichtslos funktionalisiert werden können. Das Berichten von Himmelszeichen und Wundererscheinungen gehört seit je zur Annalistik, sei es, um bestimmte Jahre überhaupt namhaft zu machen, oder auch, um der Anschauung entzogene historische Prozesse gleichsam symbolisch kontrollieren zu können.72 Bei Fischer wird der mentale Kontext entsprechender Berichte deutlich: Sie gehören in einen sozialen Rahmen weitgehender und chronischer Unterinformation über Großereignisse und stiften hier Ordnung. Himmelszeichen und Wundererscheinungen gehen bestimmten Ereignissen voran und kündigen sie an. Man hält sie zunächst im Gedächtnis fest, weil sie später ihre Erklärung finden werden. Tritt ein Ereignis ein, das sie angekündigt haben könnten, so werden sie aus dem Gedächtnis hervorgeholt und darauf bezogen. Weil es in der Regel ein solches Ereignis geben wird, beginnt die Konstruktionsarbeit aber schon mit der Wahrnehmung der Erscheinungen. Tritt umgekehrt ein Ereignis ein, das sich nicht angekündigt zu haben scheint, so sucht man in der vorausgehenden Zeit nach Himmelszeichen und Wundererscheinungen. Hierbei erfolgt die Konstruktion gewissermaßen von hinten. 67
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Für das Ereignislied hat dies Rolf Wilhelm Brednich, Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15.–17. Jahrhunderts, 2 Bde., Baden-Baden 1974–1975, gezeigt. Auf Ereignislieder spielt Fischer z. B. auf S. 49 an. S. 229. Vgl. ähnlich auch S. 237. S. 55. Luthers Werke in Auswahl. Unter Mitwirkung von Albert Leitzmann hg. von Otto Clemen, Bonn 1913, Vierter Bd., S. 321–378, hier S. 351, 367f., 373f. S. 55. Vgl. zu diesem Bedürfnis auch Maas [Anm. 9], S. 87. Im 15. und 16. Jahrhundert nimmt sich auch das neue Medium des gedruckten Flugblatts solcher Erscheinungen an.
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Für den 28. März des Jahres 1552 zwischen 8.00 und 9.00 Uhr verzeichnet Fischer ein wunderzaychen am himel und beschreibt es genau: es handelt sich um eine auffällige Wolkenformation mit Regenbogen, die sich den ganzen Tag über nur wenig verändert. Dazu heißt es: warum aber gott sollich gesycht hat sehen lassen, das wayst gott wol, der well vns gnedig sein, Das aber wayß ich wol, das gleych ain grosse emberung vnd kriegsristung Jn allen landen darauff enstanden ist, vnd hat niemant gewißt wider wen es ist, oder welche man kriegen well, biß es bald offenbar ist worden, vnd vlm belegeret, wie yetz folgen wiert. Es ist wol aine klaine weyl for, Ee vnd das gesycht am himel gesehen ist worden, Ain gemirbel vnd haimlich rysten zum krieg gewesen, hat aber noch niemant gewißt wider wen es ist, aber gleych bald nach dem gesycht offenbar worden wie hernach folgt.73
Hier liegt das Zeichen zeitgleich zum beginnenden Ereignis, dessen Ziel freilich noch nicht deutlich ist. Um das Zeichen zu sehen, läuft – wie Fischer berichtet – das Volk herzu, das Zeichen selbst wird zum Ereignis. Fischer bezieht es eigenständig auf die Belagerung Ulms durch die Kaiserlichen. Die Konturen dieses Ereignisses wiederum sind einstweilen noch so verschwommen wie die des Zeichens. Sie klären sich im weiteren Verlauf. Allein die Zuordnung von Himmelszeichen auf nicht vollständig beobachtbare und unkontrollierbare Ereignisse verspricht für Fischer eine zumindest symbolische Kontrolle in der narrativen Verwaltung der Ereignisse. Ich schließe meine Vorstellung des Buchs von Fischer mit einem Hinweis zum ›Handwerker-Humanismus‹, der gegen die verschiedenen ›Humanismen‹, die man ausgemacht hat (UniversitätsHumanismus,74 KlosterHumanismus,75 KanzleiHumanismus,76 BürgerHumanismus77 usw.) vielleicht nur ein Aperc¸u sein kann. Es ist angesichts des Informationshorizonts von Fischer aber immerhin erstaunlich, daß er anläßlich der Behandlung Mohammeds zu einem firnemen buch greift, darin statt geschryben, wie alle ding angfangen hab, vnd sein vrsprung hab, Namlich alle künsten alle hantwercker [...].78 Das ist die deutsche Übersetzung von des Polydorus Vergilius ›De inventoribus rerum‹ (zuerst Ve73 74
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S. 231. Zu den Bildungsinstitutionen vgl. die Überblicke bei Günther Böhme, Bildungsgeschichte des europäischen Humanismus, Darmstadt 1986, Kap. 4 (Universitäten), sowie ders., Wirkungsgeschichte des Humanismus im Zeitalter des Rationalismus, Darmstadt 1988, Kap. 3 (städtische Schulen). Vgl. Uta Gerhardt, Humanismus und Geschichtsschreibung am Mittelrhein. Das ›Chronikon urbis et ecclesiae Maguntinensis‹ des Hermannus Piscator OSB, Tübingen 1999, bes. S. 12f. Vgl. Joseph Klapper, Johann von Neumarkt, Bischof und Hofkanzler. Religiöse Frührenaissance in Böhmen zur Zeit Karls IV, Leipzig 1964. Vgl. Hans Baron, The crisis of Early Renaissance, 2 Bde., Princeton 21967. Baron identifiziert diese Variante des Humanismus am Beispiel Leonardo Brunis in Florenz. S. 104.
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nedig 1499), die er über das Register konsultiert und dann zu Mohammed zitiert.79 Und er läßt den humanistischen Kunstmythos Felix Fabris zur Gründung Ulms durch die Amazonen80 anklingen.81 Dies sind Beispiele für Reflexe des Humanismus, wie sie ihren Weg eben auch noch zu Handwerkern finden können.
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Polydorus Vergilius, Eigentlicher bericht / der Erfinder aller ding [...], Frankfurt am Main o. J.; Fischer zitiert S. 448f. Vgl. Fratris Felicis Fabri Tractatus de civitate Ulmensi, de eius origine, ordine, regimine, de civibus eius et statu, hg. von Gustav Veesenmeyer, Tübingen 1889 (BLVS 186), S. 9ff. Zu humanistischen Tendenzen bei Fabri vgl. Paul Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1910, Aalen 1968, S. 45–50. Auf S. 215. Angesichts seiner Schreibung von Begriffen aus dem Lateinischen sowie lateinischer Wörter – z. B. Intertum für ›Interim‹ (S. 136), santcrystei für ›Sakristei‹ (S. 155), astronymo für ›astronomi‹ (S. 81) – kann Fischers Lateinkenntnis nicht sehr groß gewesen sein. Da er aber häufig Fabris ›Tractatus‹ konsultiert, wird er über eine Übersetzung verfügt haben, von der nichts mehr bekannt ist. Vgl. Kurt Hannemann, Fabri, Felix, 2VL II, Sp. 682–689, hier Sp. 688f.
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Klischees und ihre Schatten Zur Darstellung von Dunkelmännern und zu den impliziten Bildern von Humanisten bei Erasmus, Crotus Rubeanus und Michael Lindener Wie sahen sich Humanisten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts; wie wurden sie von anderen gesehen; wer wollte Humanist sein? Man kann sich wohl schwerlich einen neuen gesellschaftlichen Typus vorstellen, wenn dieser sich gegen öffentliche Definitionen sträubt; und trotzdem wird er sichtbar, etwa anhand einer Reihe sanktionierter Verstöße gegen die Regeln der universitas, ohne daß diese allzu programmatisch identifiziert werden mußten. Die Schwierigkeit einer Definition des Humanismus bestand für Humanisten (und besteht für uns) wohl darin, daß dieser scheinbar eher zaghaft sich öffentlich abzeichnende neue gesellschaftliche Elitetypus sich lieber zwischen den Zeilen seiner Schriften lesen ließ, was nicht zuletzt aus Angst vor Kritik der theologischen Fakultäten geschah. Erasmus tarnt seine Kritik an den Theologen, indem er sie im Lob der Torheit einbettet, und schützt sich so vor überscharfen Reaktionen von Seiten der magistri nostri – schließlich werden hier auch die eigenen Humanistentorheiten, namentlich der gräzisierende Philologenfimmel des Erasmus selbst, aufs Korn genommen. Insgesamt aber ist ein solcher Entwurf des Humanismus prinzipiell negativer Natur (wir wollen nicht wie die Theologen usw. närrisch sein); Identität wird ex negativo aus den Lächerlichkeiten der Gegner geschöpft. Erasmus eröffnet den Abschnitt über Theologen im ›Moriae Encomion‹ mit einer saftigen Beleidigung: Porro Theologos silentio transire fortasse praestiterit,1 kai tauteˆn kamarinan ou kinein, nec hanc anagyrim tangere, ne forte turmatim sexcentis conclusionibus adoriantur, et ad palinodiam adigant, quod si recusem, protinus haereticam clamitent. 2 Man braucht etwas Griechisch, auch Akribie und die Bereitschaft, falschen Etymologien nachzugehen, um die Tragweite der Stelle, die auf zwei Redewendungen aus den ›Adagia‹ anspielt,3 zu verstehen. 1
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Vgl. Stephanus Byzantinus: ne moveas Camarinam, etenim non tangere praestat, hier zitiert nach Adagia I.1, 64, in: D. Erasmi Roterodami opera omnia, hg. von J. Leclerq, Leiden 21961–2. »Die Theologen sollte man besser schweigend übergehen und diesen camarinischen Sumpf nicht bewegen; auch sollte man dieses Kraut anagyros nicht berühren, da sie mich sonst vielleicht mit geballter Kraft und mit 600 Schlußfolgerungen angreifen. Wenn ich mich weigere, meine Wörter zurückzunehmen, werden sie mich ohne Ende der Häresie bezichtigen.« Moriae Encomion, § 53 (Leclerq [Anm. 1]). Adagia I.1.64, I.1.65.
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Auf die Gefahr hin, zum camarinae sectator zu werden, gehe ich dem nach. Beide Sprüche besagen in etwa, daß man sich Schwierigkeiten einhandelt, indem man etwas Stinkendes anrührt. Anagyros (anagyris foetida, bei Plinius auch acopon) ist eine Pflanze, deren stark duftende kaputzenförmige Samenschoten bei der leisesten Berührung zerplatzen. Sinngemäß: Wer Theologen angreifdt, wird selber stinken müssen. Für kamarinan ou kinein führt Erasmus zwei Lesarten an. 1) Der pestverseuchte Sumpf vor der Stadt Camarina wurde aus hygienischen Gründen trockengelegt, sein Nichtvorhandensein gab die Stadt jedoch einem militärischen Angriff preis, der zu ihrem Untergang führte; die Theologen sind demnach als todbringend verunreinigte Gruppe auszulegen, die die Gesellschaft vor noch schlimmerem Übel schützt. 2) Camarina sei laut Suidas ein Strauch, der einen schrecklichen Gestank aussendet, sobald man dessen Äste schüttelt. Erasmus scheint gleichzeitig an die Wendung Camarine loqui (›Adagia‹ IV. 6,98; Leclerq [Anm. 1]) zu denken und somit auf einen Assoziationskomplex ›heimlich/übermütig sprechen‹ zu verweisen: kamarinoˆs loqui, qui sese jactarent barbarico more. Rursum idem ostendit kamarı´an dici cubile, in quo sunt plures camerae. In suo quisque cubiculo, quae vult, loquitur. Possem adferre plures divinationes, nisi verear has ipsas esse plus satis lectori. 4 Er scheint auch an ein Wortspiel mit comaron zu denken. Comaron erscheint zweimal bei Plinius als ein unangenehmes Gewächs, einmal als der ungenießbare Erdbeerbaum unedo,5 ausführlicher als das hochgiftige aconitum nepallum 6 (Eisenhut), das auch ›Mönchskappe‹, Niederländisch munckskappekens hieß; trotz seiner absoluten Giftigkeit bescheinigt Plinius diesem Gewächs eine gewisse Nützlichkeit, da es als Gegengift benutzt wird und außerdem sein Geruch schon von ferne Mäuse tötet.7 Die Stelle im ›Moriae Encomion‹ zitiere ich hier als Beispiel dafür, wie Pfaffenkritik bei Erasmus aus Insiderwitzen und versteckten Sticheleien bestehen konnte. Verglichen damit kann man bei den ›Epistolae obscurorum virorum‹8 eigentlich nicht von versteckten Witzen sprechen. Trotz4
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»Camarinisch sprechen: Wer sich unzivilisierterweise im Sprechen hervordrängt. Andererseits heißt kamarı´an auch ein Gemach, das mehrere Kämmerchen hat. Man spricht, was man will, hinter verschlossenen Türen. Ich könnte andere Definitionen anführen, wenn ich nicht fürchtete, daß diese dem Leser genug wären« Adagia IV,vi,98. Die Stelle ist Teil einer Reihe von Sprüchen über das lächerliche Reden: concio deorum, glossogastores, argenti fontes. Plini Secundi Naturalis Historiae, Libiri XXXVII, hg. von K. Mayhoff, Leipzig 1875–1906 (zit. N. H.), 15,98f. Plinius, N. H. [Anm. 5], 27,1 u. 27,9. Auf Plinius N. H. [Anm. 5], 15,98f. wird auch in einem Brief des Levinus Ammonius (31.7.1528) an Erasmus angespielt; s. Opus epistolarum Desiderii Erasmus Roterodami, hg. von P. S. Allen, Oxford 1906–1958, Ep.2016,56; Erasmus selbst parodiert Plinius N.H.27 später im Synodus grammaticorum (Colloquia), Erstausgabe 1529; englische Übersetzung (annotiert): Collected Works of Erasmus. Colloquies (Bd. 40), hg. von Craig R. Thompson, Toronto [usw.] 1997, S. 831–841. Epistolae obscurorum virorum, Bd. 2, hg. von Aloys Bömer, Heidelberg 1924 (Sta-
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dem bot das ›Moriae Encomion‹ den Verfassern der ›Epistolae obscurorum virorum‹ insofern eine Schablone, als es vorexerzierte, wie man positive, implizit humanistische Eigenschaften aus den negativen Eigenschaften eines Gegners hervorgehen lassen konnte. So, wie die Narrheit nicht Thema vom ›Moriae Encomion‹ ist, sind auch die Dunkelmänner nicht das Thema der ›Epistolae obscurorum virorum‹. Auf Beziehungen zwischen den zwei Texten werde ich noch einmal zu sprechen kommen. Zuerst möchte ich kurz skizzieren, wie die Unverblümtheiten der Dunkelmännerbriefe funktionierten. Es ist üblich und fast unvermeidlich, sie als den sehr expliziten Versuch zu betrachten, mit tagespolitischer Schärfe eine polarisierte Humanistenidentität im Kontext des sogenannten ReuchlinStreits zu stiften. Das gilt für das ganze Werk, am stärksten aber für den zweiten Band. Hier entsteht zwar auch, wie im ersten Band, das infantilisierte Bild einer ›dunklen‹ Männerpsychologie, es werden aber auch zunehmend burleske Darstellungen namhafter Humanisten eingeflochten. Die namentliche Nennung bekannter Humanisten (auch des Erasmus) soll wohl zur Schau stellen, daß überall in Deutschland Humanisten bereit stehen, öffentlich (und mit Prügeln) Johannes Reuchlin gegen seine Verfolger (Ortwinus Gratius, Jakob von Hochstraten, Peter Meyer, Johannes Pfefferkorn) zu verteidigen.9 Vielleicht das deutlichste Beispiel dafür ist der Brief Philipp Schlauraffs an den Hauptvertreter der Kölner Theologen, Ortwinus Gratius (II,9). Schlauraff beschreibt in mittelaltertümelnden paargereimten Knittelversen seinen bisherigen Studienweg, seine Reisen als cursor theologiae im hochdeutschsprachigen Raum, dessen Grenzen er nicht überschreitet. Unterwegs begegnet er insgesamt ungefähr 50 Poeten und Juristen,10 die ihn verspotten und verprügeln. Die Namensliste sollte wohl dar-
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chelschriften. Ältere Reihe I, 1.2). Ich mußte eine frühere Ausgabe verwenden: Epistolae obscurorum virorum et adversaria scripta. Defensio Ioannis Pepericorni contra famosas et criminales obscurorum virorum epistolas Ortvini Gratii Lamentationes obscurorum virorum, hg. von Eduard Böcking, Leipzig 1864. Zur Verfasserschaftsfrage vgl. Walther Brecht, Die Verfasser der Epistolae Obscurorum Virorum, Straßburg 1904 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 93). Unter den Darstellungen des Reuchlin-Streits wären zu nennen etwa Hans Rupprich, Geschichte der deutschen Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Erster Teil. Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance. 1370–1520, München 1970, S. 709–720 (Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, hg. von Helmut de Boor und Richard Newald, Bd. 4/1); oder das Nachwort Peter Amelungs, in der deutschen Übersetzung der ›Epistolae obscurorum virorum‹: Wolfgang Binder, Briefe der Dunkelmänner, München 41964, S. 261–272. Unter anderem werden genannt: Sibutus, Balthasar von Fach (Huttens Lehrer in Wittenberg), Hermann Busch (Rostock), Hermann Trebellius, Johann und Alexander Osten (Greifswald, Frankfurt/Oder), Georg Tannstetter, Joachim von Watt, Cuspinianus (Wien), Philomusus (Ingolstadt), Pirckheimer (Nürnberg), Richard Crocus, Mosellanus (Leipzig), Eobanus Hessus, Crotus Rubeanus (Erfurt). – Schlauraffs Ver-
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stellen, wie stark das humanistische ager sich für Reuchlin machte (was nicht unbedingt stimmen mußte). Ein zusätzlicher Witz besteht darin, daß Philipp Schlauraff, irgendwie fasziniert, dauernd den Kontakt mit Humanisten sucht; in der Liste kommen seine Verbündeten kaum vor, so daß er wie eine vereinsamte Figur wirkt. Die verärgerte Reaktion des Erasmus auf seine Nennung im Kontext dieser Machtdemonstration hat Lisa Jardine neulich nachgezeichnet.11 Seine Verärgerung hatte anscheinend damit zu tun, daß die ›Epistolae‹ ein humanistisches Gruppenbewußtsein schaffen oder fingieren, das die Freundschaftsregeln der sodalitates verletzt. In einem Brief vom 16. August 1517 an Johann Caesarius kritisiert er die Verfasser der ›Epistolae obscurorum virorum‹ unter anderem scharf dafür, daß sie mit der namentlichen Nennung lebender Personen polarisierend wirken: Damit haben sie nicht nur sich, sondern allen geschadet, die bone litere schätzen.12 Neben den tagespolitischen, ephemären Aspekten der ›Epistolae obscurorum virorum‹, die mit dem Abschluß der Reuchlin-Affäre ihre Aktualität verloren, evozieren die Briefe auch ein Dunkelmänner- und Humanistenbild, das über längere Zeit wirkte und das am deutlichsten in den Darstellungen des ersten Bands abzulesen ist. Daß diese psychologisch einheitlicher und überzeugender
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such, nach Köln zu gehen, schlägt fehl, als er von Konrad Mutian verfolgt wird; er schlägt sich nach Meißen durch, wo die Schüler des Aesticampianus von Spalatin dazu ermuntert werden, ihn an den Haaren zu ziehen. In Mainfranken begegnet er zu seinem großen Leidwesen Ulrich von Hutten, wandert weiter über Augsburg, wo Konrad Peutinger ihn nicht bleiben läßt, nach Stuttgart, wo Reuchlin selbst sich aufhält. In Tübingen, wo er nach Santiago zu pilgern gelobt, wenn er Philipp Melanchthons Tod miterlebt, sieht er Heinrich Bebel, Paulus Vereander und Johann Brassican, bevor er nach Straßburg entkommt. Dort unterliegt er Nicolaus Gerbellius in einer öffentlichen Disputation, bevor ihn Sebastian Brant auf seinem Narrenschiff nach Narragonien (in Baden) mitnimmt. Er flüchtet sich nach Schlettstatt, wo er von Wimphelings Neffen Jacob Spiegel sowie von einem gewissen Kircher und von Johann Sapidus verspottet wird; Storck will ihn die Stiege hinunterwerfen, Paul Phrigio nicht. Bevor er nach Hagenau aufbricht, versucht er Beatus Rhenanus zu überzeugen, er sei ein Flame. Dort angekommen wird er von Wolfgang Angst und einem Baccalaureus namens Setzer geprügelt. In Freiburg (Zasius, Johann Amerbach) und Basel (Erasmus, Glareanus, Frobenius) geht es ihm nicht viel besser. Nach einer Bootsfahrt nach Worms streitet er sich mit einem Arzt, Theobaldus und zieht nach Mainz, wo er einigermaßen gut bei Bartholomäus Zehender unterkommt. Weitere Streitigkeiten mit Nicolaus Carbachius, Huttichius, Konrad Weidmann, Johann Königstein folgen. Vom Rheinufer aus führt er mit dem vorbeischiffenden Thomas Murner ein Gespräch, von dem er erfährt, daß er ohne Murners Eintreten schon mehrmals im Rhein gelandet wäre. In Köln findet Schlauraff wieder Freunde und kann die Gegenwart von Hermann Busch, Johann Caesarius und dem Humanistenkreis um Hermann von Neuenahr ignorieren. Onlineveröffentlichung: L. Jardine, Defamiliarising Erasmus: Unstitching P.S.Allen’s Edition of the Letters (Centre For Editing Lives And Letters; 〈http://www.livesandletters.ac.uk /Erasmus/about.html〉), London 2002. Allen [Anm. 7] Ep. 622.
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sind als die des zweiten, ist häufig beobachtet worden. Hier treten vor allem fiktive Dunkelmänner mit sprechenden Namen (Konrad von Zwickau, Gerhardus Schirruglius) auf, die Vermittlung eines Humanistenbildes erfolgt über die Darstellung von Narren, wie bei Erasmus. Da die Gegner der Dunkelmänner namenlos bleiben, können auch sie leichter ins Clownhafte abgleiten; der fiktive Bereich ist ein produktiver Ort zur Ausarbeitung von studentischen Klischeebildern. Manchmal entsteht der Verdacht, daß es sich um Insiderwitze handelt. Wilhelm Binder ist der Ansicht, daß der freche Edelmann des fünften Briefs kein anderer als Ulrich von Hutten war;13 gleichzeitig wird der Edelmann als bufo bezeichnet und mit den präpotenten Juristen verglichen, die Marderschauben und (wie Neidhart) rote Stiefeln tragen. Wahrscheinlich sollten Leser die ersten Briefe als eine Art Fortsetzung des ›Moriae Encomion‹ einordnen. Die Sammlung beginnt mit einer schon von Erasmus (›Moriae Encomion‹, § 53) behandelten Narrheit, der abergläubischen Ehrfurcht vor dem Titel der Magister der Theologie. Dieser sei dem Tetragrammaton der Juden nicht unähnlich: Theologen fühlten sich jedes Mal den Göttern nahe, wenn sie mit Magister Noster angesprochen werden. Der erste Dunkelmännerbrief wirkt wie eine inhaltlich treue, wenn auch etwas fortgesponnene Ausarbeitung dieser Beschreibung in Briefform: Thomas Langschneyderius vergleicht seinen Lehrer Ortwinus Gratius mit einem Gott und erörtert in schöner Ausführlichkeit die Frage, ob ein angehender Magister der Theologie als magister nostrandus, noster magistrandus oder magisternostrandus zu bezeichnen sei. Statt die spezifischen Beziehungen zum Reuchlin-Streit nachzuerzählen, möchte ich im Folgenden versuchen, so etwas wie das fazetiöse Klischeebild eines Humanisten im Deutschland des früheren 16. Jahrhunderts in groben Zügen zu skizzieren, indem ich den Humanisten- und Dunkelmännerbildern in zwei Texten nachgehe, den ›Epistolae obscurorum virorum‹ und der etwa 40 Jahre später erschienenen Fazetiensammlung ›Katzipori‹ Michael Lindeners.14 Der zeitliche Abstand zwischen den zwei Texten kann als Gewähr einer gewissen Langlebigkeit der Klischees dienen. Mit dem älteren Text weist Lindeners jüngere Sammlung mehrere thematische und motivische Gemeinsamkeiten auf; die Frage, ob diese von den ›Epistolae obscurorum virorum‹ abstammen oder aus einem gemeinsamen anekdotischen Grundstock hervorgehen, scheint mir kaum beantwortbar, doch halte ich Letzteres für wahrscheinlicher. Die ›Katzipori‹ sind insgesamt an ein weniger gebildetes Publikum gerichtet, was das vermittelte Humanistenbild aber nicht wesentlich ändern muß. Anders als die ›Epistolae obscurorum virorum‹ haben sie keinen erkennbaren aktuellen politischen oder ethischen, dafür einen außergewöhnlich stark schlaraffischen Bezug, der sich gewissermaßen wertneutral-nihilistisch über das Treiben von Scot13 14
Binder [Anm. 9], S. 17. Michael Lindeners Rastbüchlein und Katzipori, hg. von Franz Lichtenstein, Tübingen 1883 (StLV 218/163).
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tisten und Modernisten freut; das könnte man als versteckte Wendung zum Asozialen bzw. Parasozialen, vielleicht zum Atheistischen hin auslegen, das in menschlicher Gemeinschaft nichts zu suchen hat.15 Die ›Katzipori‹ wurden wahrscheinlich zwischen 1558 und der Hinrichtung ihres Verfassers (1561) veröffentlicht; in der Vorrede zu den ›Katzipori‹ beschreibt er sich als freyen knaben, der in den Tag hineinlebt. Der gesellschaftliche Bezug der ›Epistolae obscurorum virorum‹ steht hingegen außer Zweifel. Als Thomas More in einem an Erasmus adressierten Brief vom 31. Oktober 1516 die ›Epistolae obscurorum virorum‹ erwähnt, geschieht das im Kontext einer Besprechung von Erasmus’ Ausgabe des Neuen Testaments. Für manche Humanisten sei diese immer noch nicht ausreichend an klassischen Vorbildern orientiert, aber More warnt, daß es auch gefährliche Gegenstimmen aus dem konservativen Lager gibt, die Erasmus als Ketzer abgestempelt haben. Gewisse Herren wollen alle seine Schriften genau auf Häretisches überprüfen; More möchte sie nicht nennen, um den Freund nicht in Schrecken zu versetzen, der wichtigste darunter ist ein hochstehender franziskanischer Theologe,16 der zusammen mit einigen hochgelehrten Männern seines Ordens versucht, die Fehler des Erasmus zu entdecken und gegen sie anzuschreiben. Um seine Werke möglichst akribisch und mit möglichst wenig Arbeitsaufwand zu beackern, beschließen sie, die Lesearbeit auf viele Leser zu verteilen. Das ist amüsant, denn schließlich lassen sich die brenzligen Stellen nur verstehen, wenn man Erasmus’ Bemerkungen als Ganzes liest: Profecto, Erasme, in nocturno quodam senatu sic statuerant bene madidi. Verum postridie, vt audio, vbi villum edormierant, obliti puto propositi sui oblitteratoque decreto quippe quod vino inscripserant, destiterunt cepto atque a legendo se ad mendicandum rursus rettulerunt; quam rem ipso vsu longe sibi comprobassent vtilius.17 Erst jetzt nennt More die von ihm parodierten ›Epistolae obscurorum virorum‹ beim Namen. Das Schönste an ihnen, sagt er, ist die Tatsache, daß sie allen gefallen, den Gelehrten als Witz und den Ungelehrten als gegen Reuchlin verfaßtes Werk der Frömmigkeit: Epistolae Obscurorum Virorum operae precium est videre quantopere placent omnibus, et doctis ioco et indoctis serio, qui, dum ridemus, putant ridere stilum tantum; quem illi non defendant, sed grauitate sententia15 16
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Vgl. Thomas Cramer, Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter, München 1990, S. 298f. Dieser bleibt namenlos; er sei jedoch von Erasmus in seiner Ausgabe des Hieronymus gelobt worden. Allen [Anm. 7] (Bd. 2, S. 371) identifiziert ihn als Henry Standish oder Birkhead. »Wirklich, Erasmus, das haben sie bei irgendeinem nächtlichen Senat beschlossen, als sie stockbesoffen waren. Und am nächsten Morgen, wie ich höre, als sie ihren Rausch ausgeschlafen, ihren Vorsatz vergessen und ihr Dekret ausradiert hatten, das sie ohnhin in Wein geschrieben hatten, gaben sie ihr Vorhaben auf und verlegten sich wieder vom Lesen aufs Betteln; eine Tätigkeit, die sie schon aus langer Übung als nützlicher erkannten.« Allen [Anm. 7], Ep. 481.
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rum dicant compensatum et latere sub rudi vagina pulcherrimum gladium. 18 Für den Fall, daß ein Leser den clownisch-phallischen Subtext noch nicht bemerkt haben könnte, fügt More hinzu, daß diese Männer ihre Nase, wenn sie länger als die eines Nashorns wäre, trotzdem nicht sähen. Dieser Brief, in dem More offenläßt, ob Erasmus an der Autorschaft der ›Epistolae obscurorum virorum‹ teilhatte, spannt einen Bogen vom höchsten philologischen Projekt des Humanismus zu den geistigen Niederungen ihrer Gegner. Er verdeutlicht auch die interessante Tendenz der Dunkelmänner, die Grenzen der Literatur zu sprengen und in Wirklichkeit aufzugehen. Wenn man Mores Brief als Literatur liest, sind seine besoffenen Franziskaner eine Parodie auf die Protagonisten der ›Epistolae obscuroum virorum‹. More scheint jedoch auch wirkliche, und wirklich gefährliche Franziskaner zu meinen, die den wirklichen Kölner Theologen, die in den ›Epistolae‹ parodiert werden, wesensverwandt sind. Er genießt die Perfektion eines Ebenbilds, das sich nicht von seinem Vorbild unterscheiden kann. In England verhalten sich die ›ungelehrten‹ Männer also beruhigend klischeekonform, indem sie die ›Epistolae obscurorum virorum‹ für ein Werk der Frömmigkeit halten – wahrscheinlich deshalb, weil sie nur das Titelblatt gelesen haben. Erasmus spinnt dieses Motiv für Propagandazwecke weiter, indem er den Täuschungseffekt der Parodie (ironisch, oder nur selbstgerecht?) als Mangel betrachtet: In einem Brief vom 14. 4. 1518 berichtet er von einem magister noster in Leuven, der kurz vor Verbannung des Buchs für seine Freunde 20 Exemplare kaufte in der Meinung, das Buch sei gegen Reuchlin: Pessime consuluit rebus humanis qui titulum indidit Obscurorum Virorum. Quod ni titulus prodidisset lusum, et hodie passim legerentur illae Epistolae tanquam in gratiam Praedicatorum scriptae. Adest hic Louvanii magister noster, pridem Prior apud Bruxellas, qui viginti libellos coemerat gratificaturus amicis, Paulo ante quam bulla illa prodiret quae effulminat eum libellum. Primum optabam non editum eum libellum; verum ubi fuit fuerat editus, optabam alium titulum.19
Auch wenn Erasmus gegen die Veröffentlichung der ›Epistolae obscurorum virorum‹ war, hat er das beste aus ihnen gemacht: Zehn Jahre später referiert er nochmal den Inhalt von Mores Brief, um die unfaßbare Dummheit seiner theologischen Gutachter zu charakterisieren. Die Anspielung auf Schwert und Scheide schwächt er ab – »ne spectaris«, inquiunt, »o bone, orationis cutem sed sententiarum vim.« und fügt einen anderen Fall hinzu, den eines Dominikanerpriors in Brabant, der wohl mit dem oben angeführten magister noster in Leuven identisch ist.20 Der Kreis von Wirklichkeit und Fiktion dreht noch eine 18
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»Wenn die Dummen uns so viel lachen hören, glauben sie, daß wir über den Stil lachen; aber den Stil verteidigen sie nicht, sondern behaupten, er werde aufgewogen durch das Gewicht der ausgesprochenen Sentenzen; in einer groben Scheide liege ein wunderschönes Schwert verborgen.« Brief an Johann Caesarius, Louvain 4. 4. 1518 (Allen [Anm. 7], Ep. 808, 13–20). Brief an Martin Lypsius, Basel 5. 9. 1528 (Allen [Anm. 7], Ep. 2045, 164–178).
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Runde, als im zweiten Band der ›Epistolae obscurorum virorum‹ ein Dunkelmann (Bernhardus Gelff, unus ex minimis, II,28) sich über das Erscheinen des ersten freut: vidi bene unum librum qui intitulatur Epistolae Obscurorum virorum, et multum delectat me quando lego, quia est notabiliter bonus, habens in se de multis materiis hincinde.21 Etwas später freut sich ein zweiter Schreiber stolz darüber, daß einer seiner eigenen Briefe (II, 36) in die Sammlung aufgenommen wurde. Auch die Dunkelmänner, die die ›Epistolae obscurorum virorum‹ für bare Münze nehmen, werden in den späteren Ausgaben einverleibt. Es ist auch denkbar, daß Erasmus von dem untergriffigen Ton der ›Epistolae obscurorum virorum‹ weniger als begeistert war, auch wenn seine Zeitgenossen sich nicht daran störten. Schon im vierten Brief wird die Frau eines mit Ioannes Cantrifusorius verfeindeten Mönchs gruppenvergewaltigt, was als ›diskrete‹ Art beschrieben wird, sich an ihm zu rächen, ohne seine Mönchsperson zu verletzen; die Geschichte ist eine Variation des Maerentopos vom geilen Mönch. Im Brief I,46 beweist ein Doktor der Theologie, daß es so etwas wie Vergewaltigung nicht geben kann; am Ende des zweiten Buchs stellt sich heraus, daß Ortwinus Gratius’ Mutter gleichzeitig die Tochter seines Vaters ist. Sowohl die ›Epistolae obscurorum virorum‹ als auch die ›Katzipori‹ liegen etwas näher beim Sumpf, aus dem sich das ›Moriae Encomion‹ erhebt. Die ›Katzipori‹ sind für einen motivischen Vergleich mit den ›Epistolae obscurorum virorum‹ auch deshalb geeignet, weil das Buch im Unterschied zu anderen Fazetiensammlungen relativ viele humanistische Elemente enthält. Wie schon oben erwähnt, könnten diese auf einen gemeinsamen motivischen Grundstock mündlich überlieferter, universitärer (Erfurter?) Fazetien zurückgehen. Ein Grundprinzip der Erzählweise ist, daß Anspielungen auf Sexual-, Fäkal-, Inzest- und Glaubenstabus mit philologischen Solözismen bunt durcheinandergemischt werden: So erfahren wir in den ›Katzipori‹ (Nr. 86), daß Eulenspiegel in Erfurt auf der Hochschule war, wo er einem Esel das Buchstabieren ohne Buchstaben beibrachte, was sogar die Pariser auch dann nicht könnten, wenn es eine Krankheit und sie Franzosen wären und außerdem noch die Pest hätten. Zwei oder drei der komischen Figuren, die in den ›Epistolae obscurorum virorum‹ nur als Namen flüchtig auftauchen, sind in den ›Katzipori‹ wiederzufinden: Magister Holkot, oder der ebenfalls fromme und geizige Alkoholiker Doktor Ochsenfart, der einen Nachruf erhält (Nr. 39). Figuren wie diese, oder der paradigmatisch dumme Student Wolfgang Hagner, der nur in den ›Katzipori‹ erscheint, gehen vielleicht auf historische Figuren zurück. Zwei Gelehrte, die Hund (canis maior und canis minor) hießen, sind historisch nachgewiesen und waren Hochschullehrer in Leipzig; sie werden in den ›Epistolae obscurorum virorum‹ und den ›Katzipori‹ nicht zum Gegenstand anekdotischen Erzählens, 21
»Ich habe ein Buch gesehen, welches den Titel führt ›Briefe von Dunkelmännern‹ und mich, wenn ich es lese, sehr ergötzt, indem es gar interessant ist und da und dort über viele Gegenstände sich verbreitet.« Übersetzung nach Binder [Anm. 9], S. 204.
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sondern als Auctoritates der Hochschulbildung alten Stils neben Petrus Hispanus gereiht. Beim Vergleich der zwei Texte konstatiert man zuerst eine Reihe gemeinsamer Merkmale. Beide Sammlungen machen sich lustig über die Gelehrsamkeit alten Stils, was sich einerseits auf die Unfähigkeit, Latein richtig zu verwenden und Texte zu verstehen bezieht, andererseits dargestellt wird als ein übereifriges Achten auf Äußerlichkeiten, ohne den inneren Sinn zu berücksichtigen. Bücher werden nach ihrem Äußeren beurteilt, ob sie groß sind, ob sie besonders aussehen (Der Donat, der reyffle hat). Auf Auswendiglernen wird besonderer Wert gelegt, auf Verstehen nicht. Wer kalligraphisch begabt ist oder gut malen kann, wird von den Dummen geschätzt. In den ›Epistolae obscurorum virorum‹ wird (wie schon im ›Moriae Encomion‹) auch die Fähigkeit, in der Messe schön zu singen, als Indiz geistiger Leere dargestellt. Das prandium Aristotelis, ein Saufgelage, ist der Ort der Wissensvermittlung, wo dunkle Fragen, wie die, ob ein angehender Magister der Theologie als noster magistrandus zu bezeichnen sei, erörtert werden. Das akademische Niveau liegt bei Lindener eine Stufe tiefer als in den ›Epistolae obscurorum virorum‹: Während hier nur der allereinfältigste der Dunkelmänner, Wilhelmus Lamp (II,12), den Donat noch erwähnt, ist dieses Lehrwerk bei Lindeners Dummen die Quelle dunkelmännerischen Wissens schlechthin: Antwortet er [ein alter Philosophus, der beim aristotelischen Frühstück dauernd ›ita‹ statt ›ja‹ sagt] »Ita«, auff lateynisch, das doch nit sein latein, sonder des Donats war, dann es stehet imm Affirmandi, das er in seiner jugendt het außwendig gelernet, als: ita hottesta, sic kikack etiam, ko oder ho fränckisch etc. (Nr. 86). Der unterschiedliche Bildungsstand der zwei Texte macht sich auch sonst in der Einstellung des dummen Gelehrten zur Literatur bemerkbar. Witze, die sich auf den engeren akademischen Betrieb in den Bursen beziehen, kommen bei Lindener nicht vor, obwohl sie wunderbare Gelegenheiten zu Zweideutigkeiten bieten, wie bei Philippus Schlauraff, der sich in Frankfurt/Oder den Spitznamen das Colnisch Kopulat (II,9) erworben hat, oder im folgenden Nachruf auf Gerhard van Zütphen (magister Sotphi), der Dozent an der Universität Köln war. Die volle Assoziationsbreite des ›Kopulierens‹ ist mir nicht bekannt. Copulare konnte schon in der Antike u. a. ›Versfüße zusammenfügen‹, später schlicht ›reimen‹ heißen, hier scheint das Wort auf die syllogistischen Schritte der Logik zu verweisen. Hic obiit unum solennissimum suppositum Per spiritumsanctum universitati natum Quod rexit in bursa kueck. Do macht er die kopulat von stuck zu stuck (2. Auflage: von kot zu dreck). [...] Universitas luget suum membrum Tanquam unam lucernam vel candelabrum, Quod longe luxit Per doctrinam que ab eo fluxit (I,19).
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Details bursenschaftlicher Ritualität, die in den ›Epistolae obscurorum virorum‹ für Lokalkolorit sorgen (processus, copulata, reparationes omnium bursarum I,11), werden in den ›Katzipori‹ ausgeblendet. Überhaupt scheint es, als ob Lindener bei seinem Publikum keine allzu detaillierte Kenntnis universitärer Fragen voraussetzen will, auch wenn sie Minimalkenntnisse im Lateinischen besitzen. Seine Einstellung zur Pflege des Griechischen ist witzig aber bleibt distanziert. Während wir in den ›Epistolae obscurorum virorum‹ eine schöne Anekdote finden darüber, wie Ortwinus Gratius alle Akzente aus einem griechischen Text entfernt mit der Bemerkung Quid debent ille stultitie? – wohl auch hier eine Erasmusanspielung – werden die philologischen Witze in den ›Katzipori‹ allgemein gehalten: Ein Abt aus Wilten bei Innsbruck versteht das Humanistenlatein eines päpstlichen Legaten nicht, weil er französisches Latein nicht kann (non teneo franzosiscum latinum – die lateinischen Stellen werden von Lindener ins Deutsche übersetzt, Nr. 8); eine junge Frau, die in einer Versammlung von lumpenleüt erotische Lieder singt, kann deutsch, welsch und polnisch tanzen, allein lateinisch verstünde sie nicht; sie het sich sonst auch drüber gemacht. Aber inn der griechischen sprache war sie nit ubel erfaren, denn sie war eines bawren tochter (Nr. 75). Lindener bietet insgesamt eine weniger gebildete und weniger bursenorientierte Welt als die ›Epistolae obscurorum virorum‹, was sicherlich mit seiner Leserschaft zu tun hat. Sein fingierter Zuhörerkreis ist ein Printmedien-Network von Außenseitern: Schreiber (Nr. 20.94.98), Briefmaler (Nr. 49) Buchbinder und -verkäufer (Nr. 64.75), Setzer (Nr. 67), Papierer (Nr. 92) und arme Studenten (jungkherrn, die alle zu fuoß gehen unnd sich des reytten schämen). Trotzdem haben die zwei Sammlungen genug motivische Gemeinsamkeiten und behandeln diese auf eine so ähnlichen Weise, daß man von einem gemeinsamen Bild des Dunkelmanns sprechen kann. Populär ist in beiden Sammlungen das Parodieren schlechter Dichtungen alten Stils. (Die ›Epistolae obscurorum virorum‹ führen den Frühhumanisten Samuel Karoch von Lichtenberg als Vorbild der Dunkelmänner an). In seiner 78. Fazetie beschreibt Lindener einen Dunkelmann und Schulmeister aus Scheüditz, einen Bachanten namens Groll, der die Anfangsverse der ersten Virgilekloge (in einer fehlerhaften Ausgabe) nach den Regeln seiner Kunst auslegt (dabei liest er z. B. das Adjektiv tenuis als Verb tenere): Sylvestrem tenui Musam meditaris avena, Tytere tu patulae recubas sub tegmine fagi. Tenui, ich hab gefangen; sylvestram musam, ein bäwrische mauß; avena, in dem haber; o meditaris, meines nachtbawrn purtzi; Tytire, o mein lieber bruder Veyt: recubas, du o rascht; sub tegmine, under dem schuppen; patulae fagi, deiner lauben; das ist, hoc est, o under deinem stahl-dach, da deine fülhen unnd muter pfleget zu stehn.
Latein ist die ›deutsche‹ Sprache, Griechisch etwas fremdes, ›polnisches‹, hier macht sich vielleicht der Einfluß Rabelais’ bemerkbar:
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Und so er bey dem leben gebliben were und hette den Vergilium also hinauß verteütscht, hette er einen grossen nutz geschafft. Dann man yetzundt das lateinisch nur ligen leßt, und sich die Teütschen irer spraach nit achten, und wöllen nur griechisch reden, auf polnische arth, und künnen letztlich gar nichts (Nr. 78).
Obwohl sie keineswegs alleinsteht, ist die 78. Fazetie wohl die am stärksten universitär gefärbte – sie ist auch an die Universität Erfurt gekoppelt. Herrn Grolls Versuche, Eobanus Hessus in der Kunst der Poesie zu übertreffen, werden detailliert ausgeführt. Er mißt die Verslängen an einem Lineal und dichtet auch selber nach diesem Stab. Die Ergebnisse dieses Verfahrens, die er dem Eobanus vorlegt, werden als carmina secundum sive post lignum bezeichnet; das Gedicht erweist sich als Epitaphium und schließt somit an die vielen Versepitaphien der ›Epistolae obscurorum virorum‹ an. Grollius in tremulis ludi moderator in Scheuditz. Rusticus in knebulis penglorum dant tibi rulzen. Schmirmius perpechius altschuchius dant tibi fleckus. Klopholtz cum pedibus, haec sunt schustralia corpus. Rusticus est quasi rind, nisi quod ei cornua desint. Jam jacet in dreck is, qui modo Grollus erat.
Ich halte den Text für relativ unübersetzbar. Immerhin erkennt man, daß Groll als Schulmeister gefürchtet war und seine Schüler gern mit Fußtritten traktierte: »Groll [war] Richter des Spiels (zum Zittern) in Scheuditz./ Ein Bauer unter Bengelknäblein geben [sic] dir einen Rülpser./Schmirmius der pechgetränkte alte Schuh, geben [sic] dir einen Fleck,/ Klopholtz, mit den Füßen; dies sind die beschuhten Körper./ Der Bauer ist wie ein Rind, nur fehlen ihm die Hörner./ Jetzt liegt der im Dreck, der früher Groll war.« Die vorletzte Zeile ist ein Adagium; in der letzten Zeile wird vielleicht ein Kopulieren impliziert, (wie im oben zitierten Epitaphium des Magister Sotphi), indem der Dichter Groll mit Dreck vereint wird. Wörter wie Copula, Copulat usw. kommen bei Lindener nicht vor. Immerhin können auch Lindeners Gelehrte Etymologien basteln. Wolfgang Hagner aus Freiburg im Breisgau, leitet das Wort »Poet« aus »Brett« ab: Ein Pret sei höher als eine Staffel, denn man macht Staffeln aus Brettern, was Vergils Tityrus nicht unähnlich sei (Nr. 95). Zum Abschluß der Darstellung sprachlicher und literarischer Gemeinsamkeiten der zwei Sammlungen sollte ihr parodistischer Umgang mit der mittelalterlichen Rezeption von Ovid zumindestens erwähnt werden. Welches Bild des Humanisten zeichnet sich bisher aus der vergleichenden Besprechung der ›Epistolae obscurorum virorum‹ und dem ›Katzipori‹ ab? Die aufgeführten Ähnlichkeiten zwischen zwei Texten aus verschiedenen Gattungen, die außerdem noch über 40 Jahre auseinanderliegen, zeigen, daß einige gemeinsame Nenner im Bild des Dunkelmanns über diese 40 Jahre konstant bleiben, etwa die Bereitschaft, Dummheiten in Kauf zu nehmen, solange ge-
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wisse Formen gewahrt werden. Zusammenfassend könnte man sagen, daß das Gemeinsame an der Darstellung der Dunkelmänner in den zwei Texten das Bild eines Oberflächenmenschen ist. Die obscuri sind an der traditionsgemäßen Erhaltung äußerlicher Strukturen interessiert: wichtig ist der Stab, mit dem man Verse mißt, oder die Quästchen oder Zotten (liripipii), die an den Kaputzen der Theologen hängen (›Epistolae obscurorum virorum‹ I,2, ›Katzipori‹ Nr. 5). Der Humanist interessiert sich hingegen für den Inhalt, wenigstens für die Lächerlichkeit derer, die den Inhalt mißachten, und zahlt dafür damit, daß er aus den Reihen der Dunkelmänner ausgeschlossen wird. Für die Dunkelmänner sind die Humanisten absolute Außenseiter, weil sie aufgrund ihrer Denkgewohnheiten die korrekten Formen nicht wahren. Wenn die Feindschaft zwischen Dunkelmännern und Poeten an das Verhältnis zwischen Neidhart und seinen Bauern erinnert, dann deshalb, weil die Humanisten die Taburegeln, z. B. der Dominikaner ignorieren. Obwohl diese allerlei läßliche Sünden begehen, ist ihre wichtigste Regel – das Vertuschen – diejenige, gegen die die Humanisten dauernd verstoßen. Die gesellschaftliche Außenseiterposition, die die Humanisten in den ›Epistolae obscurorum virorum‹ einnehmen, ist damit zu erklären, daß sie in Konfliktsituationen als denkende kritische Instanz agieren. Der Reuchlin-Streit war ein solcher Konflikt, aber es gibt auch andere causes celebres, in denen es weniger philologisch zuging. In den ›Epistolae obscurorum virorum‹ ist die Aufdeckung einer Verschwörung der Dominikaner in Bern das andere große Beispiel. Um ein theologisches Argument gegen die Franziskaner über die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria zu gewinnen, benutzten Dominikaner einen Schneidergesellen (in den ›Epistolae obscurorum virorum‹ wird er als Nollarde beschrieben) als Zeugen verschiedener nächtlicher Visionen und versahen ihn mit den Stigmata des heiligen Franziskus; als er sich als ein unzuverlässiger Zeuge erwies, mußten die Dominikaner versuchen, ihn zu vergiften, wozu sie das heilige Abendmahl mißbrauchten. Als die Sache aufflog, und die Dominikaner die Sache zu vertuschen suchten, wurden vier Dominikaner verurteilt und am 31. Mai 1509 am Scheiterhaufen verbrannt, wobei nicht ganz klar ist, welches Verbrechen als schlimmer galt, der Hostienfrevel oder der versuchte Mord an einem Schneidergesellen. In den ›Epistolae obscurorum virorum‹ gibt es mehrere Anspielungen auf diesen Vorfall. Die erste ist nur zwischen den Zeilen herauszulesen: Im Brief I,4 erzählt Johannes Cantrifusorius mit unfreiwilliger Ironie, daß der Dominikanerorden valde mirificus est inter omnes. Die anderen sind eindeutiger. Im Brief I,22 nennt Gerhard Schirruglius die Affäre in Bern und weigert sich zu glauben, daß die Geschichte der Vergiftung wahr sein könnte. Von besonderem Interesse hier ist Brief 47 (Nr. 7 des Anhangs zum ersten Band): Wendelin Pannitonsorius disputiert mit einem Humanisten, dessen Latein so gut ist, daß Wendelin nichts versteht. Als der Humanist eine schier endlose Liste angeblicher Dominikanerverbrechen, u.a. den Vergiftungsskandal, anführt, versucht Wendelin nicht, sie
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abzustreiten, sondern führt stattdessen ein Schweigegebot ein: Posito casu quod essent vera, tamen adhuc non deberetis dicere, quia posset bene contingere quod omnes occiderentur in una hora sicut Templarii, si homines illas nequitias omnes scirent.22 Die Aufdeckung der Sünde eines einzigen Ordensmitglieds könnte zum kollektiven Untergang führen. Wendelins Angst ist die vom Tabudenken geprägte Angst um seine Welt; diese beklommene Hilflosigkeit führt in den ›Epistolae‹ immer wieder zur gequälten Sprachlosigkeit der Dunkelmänner, wenn ihr Orden oder ihre Lehrer angegriffen und ausgelacht werden. Ihr gehorsames Schweigen steht freiem humanistischem Sprechen gegenüber und ist von Gedanken dort ungetrübt, wo sie nicht erwünscht sind. Die Dunkelmänner legen überhaupt wert auf Erfahrungsbereiche, die nicht oder nur durch Schweigen vermittelt werden können: Viele Briefe fangen mit einem Unsagbarkeitstopos an, z.B. II,25: Salutis tantum sit magistro Ortvino, quantum/ non potest in hac littera stare, et nuntius non potest portare,/ et nemo potest dicere, et nemo potest scribere. Es ist also nicht überraschend, wenn die Dunkelmänner der Poesie die Schuld für ihre mißliche Lage geben. Percutiat deus omnem societatem Poetarum et Iuristarum et non derelinquat unum ex eis mingentem ad parietem.(II,30)23 Wenn Poeten (hier Joachim Vadianus) an die Wand pissen, ist das eine humanistische Tätigkeit. Psychologisch weniger einfühlsam nachgeahmt, aber dafür stärker karikiert als in den ›Epistolae obscurorum virorum‹ ist das obskurantische Schweigen bei Erasmus, der sich an mehreren Stellen über Geheimnistuerei, vor allem die Geheimnisse der Franziskaner lustig macht. In den ›Exequiae seraphicae‹ (Erstdruck 1531)24 – einem Dialog, in dem Erasmus den Brauch kritisiert, sich vor dem ewigen Höllentod zu sichern, indem man seine Leiche im Franziskanerkleid beerdigen läßt – berührt das Gespräch zweimal die tabuartigen Gefahren des Sprechens. 1) Die Geheimnisse des Heiligen Franziskus dürfen nur Ordensmitgliedern, frommen Witwen und anderen dem Orden wohlgesinnten Personen mitgeteilt werden. Wer sie ausplaudert, wird von dem Heiligen mit Blindheit oder Wahnsinn bestraft, und 2) Wer gegen den seraphischen Orden der Franziskaner spricht, halbiert seine Lebenserwartung und stirbt eines schrecklichen Todes. Hier wird ein Beispiel zitiert: Der Cardinal Matthäus von Sion, der nicht nur die Franziskaner kritisierte, sondern auch (wenn man Theotimus, dem Sprecher in diesem Dialog, glaubt) maßgeblich an der Verurteilung der vier zugegebenermaßen frevelhaften Dominikaner in Bern beteiligt war, sei zur Strafe schon vor dem 50. Lebensjahr gestorben. 22
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»Auch im Fall, daß es wahr wäre, daß sich Dominikaner so schlecht verhalten hätten, sollte man es nicht erzählen; wenn alle ihre Verbrechen bekannt würden, könnte es leicht passieren, daß alle in einer Stunde umgebracht würden wie die Tempelritter.« Meine Übersetzung, vgl. Binder [Anm. 9], S. 113f. »Vernichte Gott die ganze Bande der Poeten und Juristen und übergehe nicht einen einzigen von ihnen, der an die Wand pisst!« Binder [Anm. 9], S. 193. Collected Works of Erasmus. Colloquies [Anm. 7], S. 996–1032.
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Sprechtabus sind auch Thema eines anderen parodistischen Gesprächs, des synodus grammaticorum, das Erasmus zuerst März 1529 in den ›Colloquia‹ veröffentlichte.25 Ausgangspunkt des Gesprächs ist die Frage nach der korrekten Bedeutung des Wortes anticomarita, eine barbarische Neubildung, die von dem Erasmusgegner Pierre Costurier im Titel seines Buchs ›Apologeticum in novos anticomaritas‹ verwendet worden war. Ohne das Wort comaron zu erwähnen, baut Erasmus das Gespräch auf einer Parodie der Pflanzen- und Krebsbeschreibung des Plinius (N.H. 27) auf. Das führt zu philologofäkalen Anspielungen, die von den freien Assoziationsketten Michael Lindeners nicht allzu entfernt sind. Das obskure Wort anticomarita wird unter anderem als eine schwimmende, stinkende Wurzel, die zum ›Kotzen‹ führt (ob phallisch oder skatologisch, bleibt unklar), und als ein Fisch, der schwarze Schuppen am Rücken und weiße am Bauch hat (= ein Dominikaner) ausgelegt. In einer Tour de Force wird eine ganze adjektivische Phrase daraus: an-ti-ko-ma-ru-ta bedeutet ›verrückt und unglücklich, die Haare dreckiger Tierfelle ausrupfend‹. Das Gespräch schließt damit, daß Albinus, der als einziger den Namen des Verfassers weiß, diesen nur unter dem Mantel der Verschwiegenheit verraten will. Da Costuriers Verfasserschaft in der Öffentlichkeit bekannt war, kann ein Verschweigen hier nur bedeuten, daß man Costuriers Identität als eine Art franziskanisches Geheimnis zu behandeln hat: Albinus bezeichnet ihn als himmlischen Weisen, der aus den Wolken herabgeschickt worden ist, um die Welt der Menschen zurechtzuweisen, weshalb es verboten ist, von seinem grammatikalischen Vergehen zu sprechen. Ganz anders als in den ›Epistolae obscurorum virorum‹ und bei Erasmus ist der Umgang mit Sprechtabus bei Lindener. In seinem Publikum sind kaum Instanzen gegenwärtig, die dem tabubrechenden Reden Grenzen setzen, vielmehr müssen Leser ihre persönlichen Tabugrenzen hineintragen in den Text, sofern sie das wollen. Als Beispielfall dafür, daß tabufreies Sprechen gerügt wird, könnte man etwa das zehnjährige Mädchen erwähnen, das hemmungslos ihre Gedanken über die Verdauungswege eines rülpsenden Pfaffen äußert (Nr. 27). Lindeners Anekdoten haben sich eigentlich von allen Tabus verabschiedet, was bei den Humanisten und Poeten der ›Epistolae obscurorum virorum‹ nicht der Fall ist. Auch wenn atheistisches Gedankengut bei Lindener pro forma verurteilt wird (wie im Gespräch zwischen einem Christen und einem gotlosen verdampten juden, Nr. 38), fällt die Pointe zugunsten der Tabubrecher. Dasselbe gilt auch dann, wenn sie ins Essen oder ins Bad scheißen (Nr. 29, Nr. 6) oder sich die Freiheit herausnehmen, beim Sterben dem Diesseits treu zu bleiben und die letzte Ölung zu verweigern (Nr. 24). Auch als Beispiel der Gattung ›Fazetien‹ geht die Bereitschaft, Tabus zu brechen, überraschend weit bei Lindener; vielleicht (wie man’s liest) bis zur gänzlichen Auflösung der Tabus und bis zum Identitätsverlust. 25
Siehe Anm. 7.
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Kommen wir zu unseren Humanisten zurück. Auch über den Vergleich mit seinem Schatten, dem vir obscurus, hat es sich als schwierig erwiesen, ein Humanistenbild zu finden. Dieses ließ sich höchstens über recht vage Kategorien definieren, wie die Bereitschaft, frei zu kritisieren und nicht auswendig zu lernen, die Fähigkeit, überlegene poetische und sprachliche Kompetenzen für gesellschaftskritische Zwecke einzusetzen, die Bereitschaft, sein Nest für ein höheres Wohl zu beschmutzen. er Dunkelmann ist ein tabufreundlicher Oberflächenmensch, der Humanist eben nicht. Die Schwierigkeit, eine gesellschaftlich integrierte Humanistenidentität zu entwickeln, kann auch im weiteren Kontext gesehen werden. Andere literarische Versuche, neue Identitäten vor dem Hintergrund einer traditionsgebundenen Standesgesellschaft zu gestalten, ließen sich zu dieser Zeit ähnlich schwer an. Dasselbe, was man etwa beim bürgerlichen Selbstbestimmungsversuch im Fortunatusroman beobachtet hat,26 scheint hier zu gelten: Das Individuum droht ständig, von seinem gesellschaftlichen Bezug abgekapselt und so zum Außenseiter zu werden. Insofern ist es vielleicht nicht überraschend, wenn Humanistenbilder sich in Michael Lindeners Unsinnbildern auflösen.
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Vgl. Cramer [Anm. 15], S. 302–306 (dort weitere Literaturangaben).
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Mit dem Humanismus verbinden wir aufs erste die Musik der Florentiner Camerata: das recitar cantando, die ›Wiedergeburt der antiken Tragödie aus dem Geist der Musik‹, so wie sie in den 1570er und 1580er Jahren angestrebt und in den frühen Opern Jacopo Peris, der ›Dafne‹ von 1597/98 und der ›Euridice‹ von 1600 erstmals verwirklicht wurde. Der Komponist schrieb im Vorwort zu seiner ›Dafne‹, er wolle nach Art der alten Griechen und Römer mit dem Gesang, den nachahmen, der spricht. Nach Deutschland aber kam dieser Stil erst im Jahre 1627 mit der Adaption der Florentiner ›Dafne‹ durch Martin Opitz und ihrer verlorenen Neuvertonung durch Heinrich Schütz, die vermutlich nicht so wortnah war wie die Musik Peris. Mit großer Verspätung im Vergleich zur Rezeption der antiken Literatur, Philosophie und Kunst hatte die wissenschaftliche Rezeption der antiken Musik in den 1560er Jahren begonnen. Der erste der Gelehrten war Nicola Vicentino mit seiner Veröffentlichung von 1555, der die Ausdrucksmöglichkeiten der altgriechischen Musik für die moderne nutzbar machen wollte.1 Weiter ging der in Rom lebende Florentiner Girolamo Mei.2 Er gewann die Überzeugung, daß die griechischen Tragödien durchgängig gesungen worden seien und zwar, auch in den Chören, einstimmig. Eine Vielfalt von Metren, Rhythmen sowie harmonischen Mitteln wie Chromatik und Enharmonik hätten eine überwältigende Macht über die Gefühle der Zuhörer und eine läuternde Wirkung gehabt. Diese Möglichkeiten sollten von den modernen Tonmeisters wiederbelebt werden. Er greift damit vorhandene Tendenzen der Komponisten auf, das Wort-Ton-Verhältnis enger als bisher zur Grundlage ihrer Vertonungen zu machen. Derarti*
1
2
Es handelt sich bei diesem Beitrag um den öffentlichen Vortrag. Dessen Gestus ist beibehalten worden. Zur Camerata vgl. Claude Palisca, The ›Camerata Fiorentina‹. A reappraisal, Studi musicali 1 (1972), S. 203–236. Zum recitar cantando vgl. John Hill, Oratory Music in Florence 1. recitar cantando. 1583–1655, Acta musicological 51 (1979), S. 108–136. Nicola Vicentino, L’antica musica ridotta alla moderna prattica, Rom 1555. Vgl. Ann Moyer, Musical Scientia. Musical Scholarship in the Italian Renaissance, Ithaca/N. Y. 1992. Nicola Pirrotta, Musical Tendencies in the 15th Century Italy, Journal of the American Musicological Society 19 (1966), S. 127–161. Vgl. Girolamo Mei, Letters on Ancient an Modern Music to Vicento Galilei and Giovanni Bardi. A Study with Annotated Texts by Claude Palisca, Dallas 1960 (Musicological Studies and Documents 3).
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gen Überlegungen und Bestrebungen verdanken wir mit Monteverdis Opern einige der großartigsten Werke des Musiktheaters. So neu wie die Überlegungen zur real existierenden griechischen Musik waren, so traditionsreich war die Beschäftigung mit der antiken Musiktheorie. Die Musik war Bestandteil des Quadriviums; man studierte Boethius’ ›Institutio musica‹ und kommentierte sie. Im Unterricht lernte man an der Musik die Fähigkeit zur Abstraktion: Melodien, die vom Lehrer vorgesungen werden und/oder die alle kannten, in Abschnitte und Einzeltöne zu segmentieren und zu reflektieren, wie diese miteinander kombiniert werden. Musikunterricht war orientiert an der intellektuellen Erschließung von Zahlenverhältnissen am musikalischen Material, damit heutigen Vorstellungen von Mathematik näher als denen von Musik. Im Schatten der antiken Theorie wurden jedoch auch Themen der zeitgenössischen Musikpraxis behandelt.3 Praktische Musikausübung gehört allerdings in einen völlig anderen Bildungszusammenhang. Jakobus von Vitry erzählt in seinen Exempla,4 wie drei junge Männer aus Flandern nach Paris wandern. Der eine will an die Universität und Magister werden, der zweite Zisterziensermönch. Der dritte findet das Studium zu schwierig und will daher organizator, hystrio et ioculator werden, also praktischer Musiker, der sowohl organizare, also mehrstimmige komplexe Musik aufführen, wie auch als hystrio et ioculator, Spielmann und Gaukler auftreten kann. Dieser Beruf ist anscheinend der am leichtesten zu erlernende von den dreien. Die Engführung von Wissenschaft und praktischer Musik ist nun zwar nicht erst den Bemühungen der Florentiner Camerata zu verdanken, sondern wird von der wissenschaftlichen Seite her seit etwa 1300 (Johannes de Grocheio) unternommen,5 die Auswirkungen auf die Musikpraxis blieben jedoch gering. Die Humanisten des 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hörten und sangen keine Musik, die in irgendeiner Weise auf die Wiederbelebung der Antike bezogen war. Musik erlangte allerdings einen neuen Stellenwert als poetische Kunst im gleichen Zeitraum durch die frankoflämischen Musiker, v. a. Josquin des Pres, Guillaume Dufay, Gilles Binchois, Johannes Ockeghem und andere. In ihren 3
4 5
Vgl. Klaus-Jürgen Sachs, Artes liberals. Ars musica, 2Mgg, Bd. 1, S. 923. Hans Eggebrecht, Ars musica. Musikanschauung des Mittelalters und ihre Nachwirkungen, Die Sammlung 12 (1957), S. 306–322. Zum 16. Jahrhundert vgl. Klaus Niemöller, Deutsche Musiktheorie im 16. Jahrhundert. Geistes- und institutionsgeschichtliche Grundlagen, in: Deutsche Musiktheorie des 15. bis 17. Jahrhunderts, 1. Teil, Darmstadt 2003 (Geschichte der Musiktheorie, Bd. 8/1, hg. von Thomas Ertelt und Frieder Zummer), S. 69–98. Jacobus de Vitriaco, The Exempla. Or Illustrative Stories from the Sermones vulgares, hg. von Thomas Crane, New York 1971, Nr. 84. Zu Johannes Groche(i)o vgl. Die Quellenhandschriften zum Musiktraktat des Johannes Chrocheio, hg. von Ernst Rohloff, Leipzig 1967.
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Werken erblickte man eine neue Kunst der Affektdarstellung, die nicht nur der textlichen Vorlage adäquat war, sondern auch die Zuhörer beeinflußte. Philipp Melanchthon sieht daher in seiner Tübinger Rede von 1517 über die Freien Künste (›De artibus liberalibus‹ die Musik auf dem Gipfel der artes, da sie geeignet ist, contemplatio et mores des Menschen zu beeinflussen und ihn zur virtus zu führen.6 Ich gehe der Frage ›was Humanisten sangen‹ an zwei Beispielen nach: Hartmann Schedel aus dem 15. Jahrhundert (1440–1514) und der fast genau einhundert Jahre jüngere Felix Platter (1536–1614). Von beider Beziehung zur Musik gibt es indirekte und direkte Zeugnisse – letztere sind das Schedelsche Liederbuch bzw. die Übersetzungen vornehmlich französischer Musiktexte durch Felix Platter. Ich verbinde die heuristische Fragestellung mit einer melodientheoretischen: Wie ist das Verhältnis von Schrifttext und Aufführung in diesen Fällen? Wir Literaturwissenschaftler sind ja, trotz des jüngeren Booms in Fragen von Aufführung und Schrift,7 eher geneigt, eine relativ große Distanz zwischen diesen Aggregatzuständen zu sehen, während die Musikwissenschaftler die Existenz von Noten eher mit der Evidenz von Aufführung verbinden, von der Aufführungseuphorie von Germanisten beim Anblick von Noten einmal ganz zu schweigen. Um ein Ergebnis bereits vorwegzunehmen: Es wird sich zeigen, daß das mit Noten versehene Liederbuch Hartmann Schedels weiter von ›Aufführung‹ entfernt ist als das notenlose Textkonvolut Felix Platters. Zuerst also zu Hartmann Schedel.8 Im Rahmen seines Studiums an der Leipziger Artistenfakultät beschäftigte er sich im Rahmen des Quadriviums sicherlich mit der oben angedeuteten Musiktheorie. Vorlesungsgegenstand in Leipzig war seit der Gründung der Universität nach Prager Vorbild die ›Musica speculativa‹ des Johannes de Muris, eine Zusammenfassung der Boethius-Schrift ›De institutione musica‹. Schedel besuchte das Kolleg zwischen dem 31. Januar und dem 20. Februar 1458 oder 1459, es gibt allerdings keine Notizen oder Mitschriften aus den 17 Lektionen in Schedels Bibliothek.9 Allerdings finden sich auf fol. 1 des Liederbuchs unter dem Titel ›De Inventore Musice‹ Auszüge aus einer anderen Schrift des Johannes, seiner Abhandlung ›Musica practica‹10 die ungeachtet ihres Titels von Möglich6 7
8
9 10
Philipp Melanchthon, De artibus liberalibus (1571), in: Corpus Reformatorum, Bd. 11, hg. von Karl G. Bretschneider [u. a.], Halle 1834–1860, Ps. 10–12. Vgl. dazu u. a. Aufführung und Schrift im Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart 1996. Volker Mertens, Visualizing Performance. Music, Word and Manuscript, in: Visual Culture and the German Middle Ages, hg. von Kathryn Starkey/Horst Wenzel, New York [u. a.] 2005, S. 135–158. Zur Biographie und zum ›Liederbuch‹ vgl. die Monograhie von Martin Kirnbauer, Hartmann Schedel und sein ›Liederbuch‹, Bern [usw.] 2001. Sowie die FaksimileAusgabe ›Das Liederbuch des Dr. Hartmann Schedel‹, Kassel 1978 (Das Erbe deutscher Musik 84). Vgl. Kirnbauer [Anm. 8], S. 82. Ebd., Anhang 1, S. 230, Z. 15–21.
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keiten der Zeitmessung und dem Rhythmus handelt, mit der im Liederbuch aufgezeichneten Musik also keine Berührungen aufweist. Ob Hartmann, ähnlich wie Willibald Pirckheimer, von seinem Vater oder von anderen im Instrumentenspiel unterrichtet wurde, wissen wir nicht,11 Belege dafür fehlen. Die eher indifferente oder sogar negative Einstellung zum Instrumentenspiel als passende Beschäftigung für Angehörige der Oberschicht scheint sich erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts gewandelt zu haben, so daß nicht davon ausgegangen werden darf, daß ein Sohn aus gutem Haus selbstverständlich selber ein Instrument spielte und sich nicht etwa vorspielen ließ.12 Hartmanns Bruder Johannes aber konnte Harfe spielen13 und tauschte cantilenae notatae, vermutlich Einzelblätter mit Liedern, er hält für den November 1463 fest, daß er ein Lied des Mönchs von Salzburg auf der Harfe spielen lernte, wahrscheinlich in der Intavolierung Conrad Paumanns im ›Fundamentum organisandi‹ dem 2. Teil des Lochamer Liederbuchs14 von dem gleich die Rede sein wird. Doch nun zum Schedel-Liederbuch. Es enthält 163 Namen, aufgezeichnet in der Zeit zwischen 1459/60 und 1463 mit Nachtrag von 1467. Der Hauptteil besteht aus 127 dreistimmige Sätze, der Nachtrag fügt weitere 10 hinzu, zuzüglich 26 ohne Noten. Die Texte und Noten sind im Hauptteil fast sämtlich von Schedel geschrieben, nur gegen Ende und im Nachtrag finden sich insgesamt elf andere Hände, vermutlich von Freunden Hartmanns. Neben 95 deutschen Liedern (davon 62 mit Noten) stehen ca. 70 frankoflämische Chansons und lateinische Motetten, meist mit fremdsprachlichen Textmarken. Darunter sind Werke der ›Modernen‹, also von Johannes Ockeghem (Nr. 54), Guillaume Dufay (Nr. 60), Gilles Binchois (Nr. 62, 83, 88), Walter Frye (Nr. 33, 63, 70, 87),15 aber auch anonyme Sätze z.T. mit deutschen Texten. Unter den deutschen Sätzen sind zwei Stücke je einem Autor zugewiesen: Conrad Paumann (Nr. 32) und Herzog Ludwig II. von Bayern. Konkordanzen bestehen v. a. mit dem Glogauer Liederbuch (um 1480): achtzehn Sätze, dem Bux11 12
13 14 15
Niklas Holzberg, Willibald Pirckheimer. Griechischer Humanismus in Deutschland, München 1981, S. 33. Vgl. Pirrotta [Anm. 1]; Howard Mayer Brown, Songs after Supper. How Aristocracy Entertained Themselves in the Fifteenth Century, in: Musical Privata. Die Rolle der Musik im privaten Leben, Festschrift W. Salmen zum 65., hg. von Monika Fink [u. a.], Innbruck 1991, S. 37–52; Gerhard Pietzsch, Zur Pflege der Musik an den deutschen Universitäten bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Hildesheim 1971 (Neudruck der Aufsätze von 1936–1942), hier S. 112 ein Beleg für 1537. Die Dominanz des vokalen Stils ist in der Instrumentalmusik im Buxheimer Orgelbuch und bei Conrad Paumann z. B. zu beobachten; vgl. Keith Polk, German Instrumental Music of the Late Middle Ages. Players, Patrons and Performance Practice, Cambridge 1992, S. 130. Vgl. Kirnbauer [Anm. 8], S. 79f. In ›Fundamentum‹, Nr. 40; auch im Buxheimer Orgelbuch Nr. 21. Vgl. den Katalog bei Kirnbauer [Anm. 8], S. 233–284.
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heimer Orgelbuch aus der gleichen Zeit, dem Königsteiner Liederbuch (Nr. 143), dem Lochamer Liederbuch, fünf Sätze (1451–53). Daneben gibt es bei den frankoflämischen Stücken Übereinstimmungen mit dem sog. Codex Specia´lnik aus Prag sowie Handschriften aus Trient, Wien und vom Oberrhein. Gegenüber dem ebenfalls in Nürnberg entstandenen Lochamer Liederbuch ist das Repertoire viel internationaler und moderner, v. a. durch die Aufnahme von über siebzig Sätzen der Frankoflamen. Es ist also nicht so, als ob derartige Musik die Ausnahme im Liederbuch wäre. Die französische, in geringerem Maße die italienische Polyphonie wurden in großem Umfang gesammelt, meist mit Textmarken und, allerdings nur selten, mit neuen deutschen Texten versehen. Pionier auf diesem Feld der deutschen Adaption der musikalischen Moderne war Oswald von Wolkenstein.16 Der Grund für die Strahlkraft der Romania ist die Rückständigkeit des genuindeutschen Tenorlieds mit seiner simplen Polyphonie. Bei der Übernahme der französischen Chansons ergaben sich allerdings sprachlich-musikalische Probleme. Zum einen konnten die meisten Musiker wohl weder Französisch verstehen noch aussprechen. Das verballhornte Französisch der Textmarken zeugt von dieser Defizienz: In unserem Liederbuch wird aus ›Mon seul plaisir‹ ›Mansieul‹, bzw. im Index ›Mansir plasir‹, im Buxheimer Orgelbuch z. B. aus ›La doulce amour‹ ›Madocomo‹ oder aus ›Adieu mes tres belles‹ ›Adyen matres belle‹. Ferner sperrten sich die französischen Texte einer singbaren Übertragung in deutsche Verse, was u. a. damit zusammenhängt, daß die melodie- und texttragende Stimme in Frankreich der Diskant, in Deutschland aber der Tenor war. Wenn ein Bearbeiter einer französischen Chanson also anfing, nach deutscher Sitte den Tenor mit seinen langen Notenwerten zu textieren, kam er mit den kürzeren im Diskant in Schwierigkeiten. Die fremdsprachlichen Lieder im Schedel-Liederbuch sind daher fast ausschließlich nur mit Textmarken oder Überschriften versehen. Einige allerdings haben – und auch das ist typisch – statt der französischen, lateinische Texte wie Nr. 79, das den Anfang des Rondeaus von Jean Pullois ›De ma dame au biau corps gentil‹ als Titel ›De madame‹ notiert, aber einen lateinischen Marienpreis unterlegt. Beata maria filia Dei, mater domini mei Jesu Christi, sponsa spiritus sancti, soror angelorum, domina apostolorum, intercede pro nobis. Latein war die lingua franca der Gebildeten; man wird in seinem Gebrauch hier einen elitären Kompromiß zwischen der Fremdartigkeit und Unverständlichkeit des Französischen und der Allgemeinverständlichkeit des Deutschen sehen. Demgegenüber darf das nur wenig ältere Lochamer Liederbuch als eher rückständig gelten: während Schedel ausschließlich mehrstimmige Sätze meist komplexer Faktur aufzeichnet, stehen im Lochamer Liederbuch Einstimmigkeit 16
Vgl. Ivana Pelnar, Die mehrstimmigen Lieder Oswalds von Wolkenstein, Tutzing 1982; Lorenz Welker, New light on Oswald von Wolkenstein. Central European Traditions and Burgundian polyphony, Early Music History 7 (1987), S. 187–226.
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und einfache Mehrstimmigkeit nebeneinander.17 Die Rezeption des frankoflämischen Repertoires fehlt fast völlig, nur ein Stück kommt aus dem Niederländischen (Nr. 18), eines im Nachtrag ist eine lateinische geistliche Kontrafaktur von Gilles Binchois (I,1). Dieses Liederbuch reflektiert die Musikpflege des Schülerkreises um Conrad Paumann, des hochberühmten Organisten von St. Sebald, dessen musikalische Qualitäten Hans Rosenplüt in seinem ›Lobspruch auf Nürnberg‹ ausführlich rühmt.18 Für den Zusammenhang mit einer lebendigen geselligen Praxis sprechen die Beischriften:19 Initialen, Namen, Devisen, Liebesversicherungen – wie fünfmal alzeyt dein –, ironische Pointierungen sentimentaler Liedschlüsse, so wird ich vor dohin mit an galgen glossiert, und auf dw erfreuest mich zwar vnd enczündest mir mein mut recht als der may den plumlein tut
folgt: als des neytharts veyol. Es gibt auch lateinische Beischriften – nihil est zu on sy ist mir al frewd ein pein, oder, gelehrter, auf dw liebest mir vnd anderß kayne mer: praeter septuagintaocto vel paulo plus, das Zitat einer Fazetie vom ehebrecherischen Mönch in der Form einer Parodie der Passionsgeschichte – achtundsiebtig Liebhaber oder ein wenig mehr habe eine Schöne gehabt, die erzählte, sie sei Jungfrau. Ein Notat mit hebräischen Schriftzeichen – der allerliebsten barbara meinem treuen liebsten gemahel – ist allerdings nicht in humanistischen Zusammenhang zu stellen,20 Derlei Scherze gehören in die Lateinschule oder an die Universität. Der Kreis, in dem das Lochamer-Liederbuch entstanden ist, gehört also zur gleichen Bildungsschicht wie Hartmann Schedel. Wie ist der fundamentale Unterschied der Repertoires beider Nürnberger Liederbücher, bei Schedel viel Moderne, bei Lochamer Traditionelles, zu erklären? Man hat das mit Schedels Studien in Leipzig zusammenbringen und in seinen Chansons einen Reflex der studentischen Musikpraxis der Zeit sehen wollen, wie sie angeblich in den Bursen zur Freizeitgestaltung gehörte.21 Wir wissen allerdings zu wenig darüber, wie sich das Leben dort abspielte, um das sagen zu können. Zeitgenössische Nachrichten sprechen von zügellosem Treiben, von nächtlichen Ständchen, von Cantilenas inhonestas,22 aber nicht vom Singen ela17 18
19 20 21 22
Vgl. Das Lochamer Liederbuch, hg. von Christoph Petzsch/Walter Salmen, Wiesbaden 1972 [eine philologisch problematische Edition]. Der Spruch von Nürnberg. Beschreibendes Gedicht des Hans Rosenplüt, genannt Schnepperer, hg. von Georg Wolfgang Karl Lochner, Nürnberg 1854. Vgl. Hartmut Kugler, Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters (MTU 88), München 1986, S. 181f. Vgl. Christoph Petzsch, Das Lochamer Liederbuch. Studien, München 1967. Petzsch [Anm. 19], S. 63, Anm. 15. Vgl. Kirnbauer [Anm. 8], S. 81–86. Pietzsch [Anm. 12], S. 71.
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borierter Polyphonie. Und ob man durch das Verbot, lutinas in die Gemeinschaftsräume mitzubringen, die Ausübung burgundischer Hofmusik verhindern wollte, ist recht fraglich. Vor allem aber gibt es zwischen den erhaltenen Musikaufzeichnungen aus dem Leipziger Umkreis und Schedels Liederbuch keinerlei Überschneidungen.23 So ist die Annahme, Schedel habe hier entweder das aktuelle Nürnberger oder Leipziger Repertoire praktischer Musikausübung festgehalten, sehr unwahrscheinlich. Da die Handschrift vermutlich in Nürnberg geschrieben wurde, was durch die teilweise Verwendung des gleichen Papiers wie im Lochamer Liederbuch nahegelegt wird,24 bleibt nur der Schluß, daß Hartmann hier die Situation Nürnbergs als »Zentrum Europas«, wie Regiomontanus im Jahre 1471 sagt, am Kreuzungspunkt von Handelsrouten und mit einem ständigen Durchzug von Kaufleuten ausgenutzt hat, um sich Noten zu besorgen, sie abzuschreiben und so ein Liederbuch der modernen Musik zu kompilieren, das weder aus einer lebendigen Musizierpraxis erwachsen noch für diese bestimmt war. Dafür spricht neben jeglichem Fehlen von Gebrauchsindizien, daß die gelegentliche Verteilung von gleichzeitig erklingenden Stimmen auf Vor- und Rückseite eines Blattes das Musizieren aus der Handschrift in diesen Fällen unmöglich machte. Auch hatten vermutlich weder Hartmann noch seine Freunde die Kompetenz zur Aufführung derart komplexer Polyphonie, wenn man denn für die jungen Patrizier den Stand des Lochamer Liederbuches voraussetzt – das immerhin aus dem Kreis des besten deutschen Musikers seiner Zeit kommt. Weiterhin zeigt die Art der Aufzeichnung, daß Hartmann kaum Verständnis für das Kopierte hatte. Dafür sprechen erschließbare Fehllesungen der Vorlagen, die einem Musikkenner nicht passiert wären. Schedel ahmt das Notenbild seiner Vorlage anscheinend graphisch getreu nach; er übernahm z.B. Korrekturen, wie irrtümlich gesetzte Noten, die geschwärzt und damit getilgt waren, in seine Abschrift. Man hat das als »graphische Mimikry« bezeichnet.25 Paul Zumthor spricht von einer »tradition typographique«, womit er eine Konsistenz der graphischen Anlage durch verschiedene Abschriftstufen meint.26 Man wird davon ausgehen müssen, daß Hartmann korrekt Noten schreiben konnte und mit ihnen konkretere Vorstellungen als nur die ganz allgemeine einer Aufführung durch drei Stimmen verband. Daß jedoch eine solche stattgefunden hat, ist in 23 24 25
26
Kirnbauer [Anm. 8], S. 85f. Ebd., S. 53. Es besteht Wasserzeichenidentität mit einigen Blättern aus dem ›Fundamentum organisandi‹. Margaret Bent, Trent 93 and Trent 90: Johannes Wiser at work, in: I codici musicali trentini a cento anni dalla loro riscoperta. Atti del Convegno Laurence Feiniger, la musicologia come missione. Trento, 6.–7. settembre 1985, hg. von Nino Pirrotta und Danielo Curti, Trient 1986, S. 84–110, hier S. 94. Trient 1986, S. 84–110, hier S. 94. Paul Zumthor, La poe´sie et la voix dans la civilisation me´die´vale, Paris 1984, S. 52.
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seinem Umkreis jedoch weder ante- noch postskriptiv wahrscheinlich. Was Humanisten in Nürnberg sangen, steht nicht in diesem Liederbuch. Wir haben seine Verfertigung vielmehr im Zusammenhang mit seiner polyhistorischen Bücherleidenschaft zu sehen. Seit 1456, also etwa zwei Jahre vor Anlage des Liederbuches, schrieb er Handschriften und Bücher verschiedenster Provenienz ab – darunter, allerdings erst im Jahre 1493, Musiktraktate von Guido von Arezzo aus einer Bamberger Handschrift von 1100.27 Hartmann reproduzierte Text- und Musikteile unterschiedlich genau: im Text gestaltete er das Schriftbild freier, löste Abbreviaturen auf, integrierte allerdings Marginalien nicht. Mit den Noten kannte er sich offensichtlich nicht so gut aus. Die Neumen malte er also, wieder einschließlich der Korrekturen, ebenso getreu ab wie die in die Handschrift eingezeichneten Schaubilder; allerdings nähert er gelegentlich die alten Neumenformen der modernen Notenschrift an, ein Zeichen, daß er diese immerhin beherrschte. Eine derartige Thesaurierung von Musik ohne performative Konnexionen ist im 15. Jahrhundert nicht einmalig. Auch die bereits erwähnten Triestiner Codices aus der Zeit zwischen 1430–1450 und 1452–1473 mit Sätzen ebenfalls von Binchois, Dufay und Ockeghem sind keine Gebrauchshandschriften, sondern Sammelobjekte des Bischofs Johann von Hinderbach.28 Selbst die wichtigste europäische Quelle der spätmittelalterlichen Instrumentalmusik, das Buxheimer Orgelbuch, wurde nicht für Aufführungen aufgezeichnet.29 Was besagen diese Beobachtungen zum Liederbuch? Es ist Teil enzyklopädischen Thesaurierungseifers wie die meisten der anderen Handschriften Schedels auch, Hausrat eines Humanisten. Die Aufführung ist zwar durch die Noten mitgedacht, bleibt aber virtuell, wurde auch nicht lesend im Kopf realisiert. Etwas anderes ist es mit den Nachträgen durch seine Freunde, die nur die Texte aufgezeichnet haben. Hier ist – auf den ersten Blick paradoxerweise – am ehesten eine Verbindung zur Aufführung herzustellen.30 Dort gibt es Textkonkordanzen mit gleichzeitigen deutschen Quellen, v. a. dem Glogauer und auch dem Lochamer Liederbuch; einige der Lieder sind nur in späteren deutschen Drucken überliefert. Es handelt sich um einstimmige oder Tenorlieder in einfacher Polyphonie, die – wie das gesamte Nürnberger Repertoire – leicht zu singen waren.31 So handelt es sich um Gebrauchs- und Verbrauchsmusik, die keine lange Lebensdauer hatte. 27 28 29 30
31
Vgl. die ausführliche Diskussion bei Kirnbauer [Anm. 8], S. 112–125. Guido Adler/Oswald Koller, Thematischer Katalog der sechs Trienter Codices, 2 Bde., Wien 1960. Vgl. Bernhold Schmid, Trienter Codices, LexMA, Bd. 8, Sp. 990f. Die reinen Textaufzeichnungen beginnen mit Nr. 127 (noch von Schedels Hand), die Nachträge von anderen Händen: Nr. 135, 142, 144–148, 150. Vgl. Kirnbauer [Anm. 8], S. 226f. und Katalog S. 276–283. Vgl. Martin Staehelin, The Consitution of the Fifteenth Century German Tenor Lied. Drafting the History of a Musical Genre, in: Music in the German Renaissance. Sources, Styles and Contexts, hg. von John Kmetz, Cambridge 1994, S. 174–181; Das
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Da Musik besser im Gedächtnis bleibt als Text, war das Singen aus reinen Textbüchern oder -blättern ganz üblich. Folglich kommen die Aufzeichnungen, die mitunter mit Initialen versehen sind, vermutlich aus einer lebendigen Musizierpraxis. Ob sie auch aus demSchedel-Liederbuch gesungen wurden, bleibe dahingestellt. Gebrauchsspuren gibt es, wie gesagt, nicht und Hartmann deponierte sein Büchlein in seiner Bibliothek in der Abteilung ›Libri a paucis legendi‹ – ›Bücher, die nur von wenigen gelesen werden sollen‹, denn es blieb am Rande seines humanistischen Sammelgebiets. Er konnte es nicht neben die Texte von Petrarca stellen, denn die – zu der Zeit noch seltenen – Petrarca-Vertonungen konnte er kaum kennen, ebensowenig wie die orphischen Hymnen, die Ficino zu seiner Lyra gesungen haben soll. Bevor ich zu dem nächsten Autor komme, ein Seitenblick in die Schulstube, in den Lateinunterricht. Dort wurden lateinische Texte gesungen. Die Metrik über gemeinsames Singen von Schlüsseltexten wie Vergils ›Aeneis‹ oder Oden von Horaz zu vermitteln, war mittelalterliches Erbe, denn es existieren alte partiell neumierte Handschriften.32 Konrad Celtis belebte diese Praxis neu nach italienischem Vorbild im Jahre 1507 in seinen ›Melopoiae‹] mit einfachen mehrstimmiger Melodien von seinem Schüler Petrus Tritonius. Aber auch renommierte Tonsetzer wie Paul Hofhaimer (1459–1537) und Ludwig Senfl (ca. 1486–1542/43) kamen dem Bedürfnis durch die Neukomposition lateinischer Oden v. a. von Horaz, aber auch Texten von anderen Schulautoren nach. Seit etwa 1520 war das mehrstimmige Singen von Oden im Schulunterricht verbreitet, es hielt sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die Vertonungen waren dem Zweck angepaßt. Es handelte sich um akkordische Sätze mit lediglich zwei Notenwerten, lang und kurz, um die lateinischen Metren darzustellen, reine Gebrauchsmusik. Doch daran lernten die angehenden Lateiner nicht nur die richtige Metrik, sondern auch das Singen nach Noten. Die Lateinschüler sangen außer den Oden auch die Chöre der lateinischen Schauspielautoren wie Plautus und Terenz. Das aber, was sie sangen, ist weder musikalisch komplex wie die Frankoflamen, noch wortausdeutend im Sinne der Florentiner Camerata noch eingängig wie ein Liederbuchlied. Allerdings scheinen auch die Schlußkompositionen außerhalb des Unterrichts gesungen worden zu sein. Die Zwickauer Ratschulbibliothek33 verwahrt vier Stimmbücher (datiert 1531) mit ca. dreißig syllabisch vertonten lateinischen Schultexten zu Beginn (Vergil, Catull, Horaz), darauf folgen Liederbuchlieder, von denen lediglich die
32
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deutsche Tenorlied. Mehrstimmige Lieder in deutschen Quellen 1450–1580, 3 Bde., hg. von Norbert Böker-Heil [u. a.] Kassel 1979–1986. Vgl. Karl-Günther Hartmann, Die humanistische Odenkomposition in Deutschland. Vorgeschichte und Voraussetzungen, Erlangen 1978. Horazvertonungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Eine Anthologie, hg. von Joachim Draheim und Guenther Wille, Amsterdam 1985. Mertens [Anm. 7], Abbildung S. 19: Schulstube mit Notentafel. Titelholzschnitt zu ›Latinum ideoma Magistri Pauli Nianis‹. Signatur LXXVIII, 2.
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Textanfänge gegeben, die also als bekannt vorausgesetzt werden. Es ist hier ein Zeugnis geselligen Musizierens der Lateinschüler überliefert. Mein zweites Beispiel, Hartmanns Fachkollege, der Basler Stadtarzt Felix Platter, ist in seinen Lebensumständen gut bekannt durch seine Autobiographie.34 Wir erfahren aus ihr Einiges über sein Verhältnis zur Musik, anderes können wir erschließen. Schon mit acht Jahren lernte er von dem Lehrer der Studenten, die Tischgänger bei seinem Vater waren, das Lautenspiel und betrieb es anscheinend Zeit seines Lebens mit Hingabe und Fertigkeit. Er erzählt, daß er sich in jungen Jahren eine Fiedel baute und die Musik in seines Vater Haus sehr gern hörte: man spielte Maultrommel, Hackbrett, Laute und Geige. Er betrieb sein Lautenstudium so gründlich, daß er als Student in Montpellier l’Allemand du lut genannt wurde; er spielte bei Banketten und bei den Ständchen, die die Studenten brachten. Die Beherrschung eines Saiteninstruments gehörte um die Mitte des 16. Jahrhunderts anscheinend zu den Künsten, die für einen Angehörigen der Bildungsschicht schicklich waren. So nahm der Leipziger Student Christoph Kreß in den Jahren 1556–1559 auf Kosten seines Vaters hochbezahlten Instrumentalunterricht.35 Doch scheint das Spielen vor anderen und für andere nicht unumstritten gewesen zu sein. Im Jahre 1537 untersagte ein Kölner Kaufmann seinem Sohn das Instrumentenspiel mit dem Argument, er solle darauf aus sein, daß ein anderer ihm spiele und nicht er für andere.36 Das scheint eine gängige Redewendung gewesen zu sein, denn der Landschreiber Dr. Peter Gebwiler in Rötteln hielt Felix das gleiche vor: er solle lernen, daß man ihm und nicht er anderen die Laute schlagen müsse, worauf er antwortete, es mache mehr Spaß, wenn man beides bekäme. Platter erlernte ebenfalls das Spiel auf dem Clavichord: zuerst bei einem Tischgänger seines Vaters, dann bei seinem späteren Mitstudenten Thomas Schoepflin. Auch auf der Harfe übte er sich und fing, als er wohlhabend wurde, an, Instrumente zu sammeln: er hinterließ eine umfangreiche Kollektion von u.a. drei Spinetten, einem Orgelpositiv, sechs Lauten, zwei Mandoren, eine Zither, sieben Gamben, zehn Flöten und ein Trumscheit und noch weitere Instrumente, insgesamt zweiundvierzig. Damit hätte man ein ganzes Ensemble ausstatten können, und es ist mehr als unwahrscheinlich, daß diese Instrumente alle zum häuslichen Musizieren beschafft wurden.37
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Felix Platter, Tagebuch (Lebensbeschreibung). 1536–1567, hg. von Valentin Lötscher, Basel [usw.] 1976 (Basler Chroniken 10). Die Instrumente zählten allerdings nicht zu den Objekten von Platters Kunst- und Raritätenkabinett. Vgl. Elisabeth Landolt, Materialien zu Felix Platter als Sammler und Kunstfreund, Basler Zeitschrift f. Geschichte u. Altertumskunde 72 (1972), S. 245–306. Pietzsch [Anm. 12], S. 71–73. Ebd., S. 112.
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Es war eine kostspielige Liebhaberei – auf zweihundert Kronen schätzt Platter selbst seine Aufwendungen – die einen enzyklopädischen Sammlungsanspruch erhob, ähnlich wie Hartmann Schedel mit seinen Büchern. Musiziert hat Platter also selbst, aber ungern gesungen. Er sagt von sich selbst, daß er sich geschämt habe, vor Leuten singend den Mund aufzureißen, außer wenn er in lustiger Stimmung war und, anders als der genannte Christoph Kreß aus Leipzig, nahm er auch nicht eigens zusätzlichen Gesangunterricht. Wohl aber hat er Gesang stets gern gehört bis in sein Alter. Wir dürfen annehmen, daß er Sänger und auch Sängerinnen auf seiner Laute oder auch dem Clavichord bzw. der Harfe begleitet hat. Eine solche Aufführungspraxis vielstimmiger Musik war ganz üblich, wie schriftliche Quellen und Abbildungen belegen. Daß Felix Platter dabei, in welcher Weise auch immer, mitgewirkt hat, ist durch eine Textsammlung wahrscheinlich zu machen, die er angelegt hat: Es handelt sich um metrisch genaue Übersetzungen von Texten fremdsprachlicher französischer und italienischer Kompositionen der in Italien wirkenden rankoflamen der jüngeren Generation, also um Philippe Verdelot, Jacques Arcadelt und Orlandus Lassus, weiterhin um neue Texte zu meist anonymen Melodien französischer Provenienz sowie um die Neutextierung deutscher Tenorlieder mit Übersetzungen französischer Gedichte, also um Modernisierungen. Insgesamt handelt es sich um siebenundsechzig Stücke. Das Bedürfnis nach Textierungen der Madrigale ergab sich nicht zuletzt aus ihrem neuen Verhältnis zum vertonten Text. Im Unterschied zu den älteren Komponisten, die eher den allgemeinen Stimmungsgehalt wiederzugeben suchten, aber wegen ihres pauschalen Umgangs mit dem Wort von den Verfechtern des neuen Sologesangs kritisiert wurden, begann mit Philippe Verdelot (›Primo libro‹ 1533) und Jacques Arcadelt (1539) eine neue Phase einer engeren Wort-Ton-Verbindung. Eine rein instrumentale Aufführung, wie wir sie für die Stücke aus Schedels Liederbuch noch annehmen können, verkürzt also das Werk um eine mittlerweile entscheidende Dimension. Insgesamt dreiundvierzig Chansons und fünfzehn Madrigale. In dem Gedichtband ›Sammlung allerhand meist lächerlicher Gedichte‹ finden sich neben diesen Verdeutschungen, die zur Identifikation jeweils den Textmarker in der Originalsprache aufweisen, auch elf einfachere deutsche Tenorlieder und Madrigale von Hofhaimer, Senfl und anderen, darunter Isaacs berühmtes Innsbruck-Lied. Daß es sich um Texte für die musikalische Performanz handelt, ist deutlich durch eine ausführliche ›Aufführungsanweisung‹ einer Chanson, sie soll als Trinklied abwechselnd von Trinker und Gesellschaft gesungen werden, wobei der Chor in der letzten Strophe die beiden ersten Silben so lange wiederholt, bis der Solosänger ausgetrunken hat.38 38
Vgl. Lebensbeschreibung [Anm. 34], S. 264.
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Da Platter selbst dank seines Studiums in Montpellier Französisch konnte, hätte er ja die Originaltexte singen können, da er aber nicht gern sang, sondern lieber begleitete, schuf er die Übersetzungen wahrscheinlich für andere, so den Goldschmied Jacob Hagenbach, mit dem er zusammen musiziert hat. In diesem Zusammenhang berichtet er von einem Ständchen, bei dem er abwechselnd Laute und Harfe spielte, sein Lautenlehrer Thiebold Schönauer Laute, Theodor Bempelford (ein Korrektor) die Gambe und der genannte Jakob Hagenbach die Flöte.39 Von Hagenbach sind vier Liedersammlungen in Stimmbüchern aus der Zeit von 1531–1560 erhalten, die bezeugen, daß er selbst gesungen hat. Sie verweisen, da sie vierundzwanzig der von Felix Platter verdeutschten Kompositionen enthalten, darauf, daß letzterer mit ihm zusammen nicht nur Instrumentalmusik aufgeführt hat. Daß erfahrene Sänger, wenn sie ihre Stimme konnten, aus notenlosen Handschriften oder Blättern sangen, habe ich bereits erwähnt. Alle Indizien sprechen also dafür, daß Felix Platters Gedichte eine lebendige musikalische Praxis in seinem Freundeskreis reflektieren, wir hier also etwas haben, das Humanisten sangen. Felix Platter sang selbst, wie wir wissen, nicht so gern. Aber er hatte besondere Präferenzen beim Zuhören. Ihm gefiel Vokalmusik am besten, wo nit ze fil kunst darby gewest und er hörte sie lieber von einzigen personen,40 d. h. er mochte Vokalpolyphonie nicht, sondern lieber Sologesang, vermutlich mit Lautenbegleitung. Die Chansons und Madrigale, zu denen er deutsche Texte verfaßte, waren auch in dieser Form aufzuführen. Von Verdelots erstem Madrigalbuch erschien beispielsweise drei Jahre später eine Bearbeitung für Solostimme und Laute. Allerdings meint Platter wohl andere Musik, wenn er sagt, er habe besonders gern gehört wan ich etwan mer, sunderlich in der iugendt gehört hatt. Das wären also nicht allzu neue Sachen, sondern vermutlich traditionelle Tenorlieder, das, was am Schluß seiner Sammlung steht. Die Verdeutschungen der ›modernen‹ Stücke waren dagegen Freundschaftsdienste für andere, damit sie Musik aufführen konnten, die ihm nicht einmal besonders gefiel. Doch er konnte Französisch und die anderen nicht, so daß sie diese besondere Kompetenz abschöpften. Wie blicken hier also in ein Geflecht von Freundschaft, Geselligkeit und Musik auf verschiedenen Niveaus, dessen Bedeutung für die Basler Gesellschaft angesichts des Umfangs an überlieferten musikalischen Materialien hoch gewesen sein muß. Ein Zeugnis der sprachgebundenen Gattungs- und Geltungsdifferenzierung ist der sog. Viersprachendruck von Orlando di Lasso aus dem Jahre 1573: lateinisch die geistliche und staatsrepräsentative Motette, französisch die erotische Chanson, italienisch das moderne Madrigale auf Ariost-Strophen und deutsch die textlich derben Lieder. Eine deutsche Fassung aller Texte erschienen im Jahre 1582.41 39 40 41
Vgl. ebd., S. 302. Vgl. ebd., S. 308. Zur Neutextierung vgl. Martin Staehelin, Zur Begründung der Kontrafakturpraxis
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Die musikalischen Quellen in Basel in der Platter-Zeit fließen reichlich, wir haben etwa fünfzig Handschriften aus dem Besitz wohlhabender Basler Bürger wie den Amerbach, Iselin und Leibfried.42 Vor allem Bonifacius Amerbach war ein großer Musikliebhaber, wie wir nicht nur aus den Handschriften, sondern auch aus dem Briefwechsel mit Zasius wissen. Und von dem späteren Juraprofessor Ludwig Iselin gibt es ein Lautenbuch. Ich habe Platter ausgewählt nicht nur wegen der Selbstzeugnisse, sondern auch wegen der Eigenart der Überlieferung: die textlose Musikhandschrift als Zeugnis für Aufführungen im Gegensatz zur rein archivalischen Handschrift mit Noten bei Hartmann Schedel. Grundsätzlich ist daraus zu lernen, daß Noten ebensowenig unbefragt für eine unmittelbare Performanz sprechen – dazu zählen auch die Oswald-Handschriften43 − wie notenlose für Aufführungsferne. In jedem Fall ist die Eigenart der Überlieferung im persönlichen und allgemeinkulturellen Kontext zu berücksichtigen. Mediale und kultursoziologische Aspekte sind anscheinend wichtiger für die Eigenart der Überlieferung als die sprachlichen und musikalischen Dimensionen. Die Rezeption der modernen italienischen Villanellen und Kanzonetten beginnt erst in den 1570er Jahren, sie ging an Platter vorbei. Bei diesen ist dann auch mehr als nur das Ziel der Singbarkeit der deutschen Texte angestrebt, die gesungene deutsche Liebeslyrik erhält nun eine eigene textliche Qualität.44 Die deutsche Tradition des Liederbuchliedes des 16. Jahrhunderts wird kombiniert mit neuen italienischen Petrarkismen, bleibt jedoch der Rahmen für die Orientierung am transalpinen Modell. Damit ist dann auch der Weg frei für eine prinzipielle Gestalteinheit von Musik und Sprache, wie sie diesem Ideal entspricht. Als Ergebnis meiner Fallstudie läßt sich festhalten: Musik hatte für die deutschen Humanisten nicht die Dignität der literarischen und philosophischen Studien, sie war private Liebhaberei einer Bildungsschicht. Diese orientierte sich zuerst eher an der französischen als an der italienischen Musikkultur, was sicher nicht vorrangig mit der Hochzeit Kaiser Maximilians mit Maria von Burgund zusammengebracht werden kann, sondern schon für Oswald von Wolkenstein
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43
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in deutschen Musikhandschriften des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, in: Florilegium musicologicum, Festschrift Hellmut Federhofer, hg. von Christoph Mahling, Tutzing 1988, S. 389–396. Vgl. John Kmetz, Die Handschriften der Universitätsbibliothek Basel. Katalog der Musikhandschriften des 16. Jahrhunderts. Quellenkritische und historische Untersuchung, Basel 1988; ders., The 16th Century Basel Songbooks. Origins, contents and contexts, Bern 1995. Vgl. Volker Mertens, Liebesdichtung und Dichterliebe. Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter, Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen [u. a.], Tübingen 1998, S. 200–210. Vgl. Gert Hübner, Christoph von Schallenberg und die deutsche Liebeslyrik am Ende des 16. Jahrhunderts, Daphnis 31 (2002), S. 127–186.
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gilt. Italienische Tanzmusik wird dann Anfang des 16. Jahrhunderts geschätzt, wie wir aus Briefen von Willibald Pirckheimer und Lorenz Behaim wissen.45 Die von Celtis initiierten Vertonungen lateinischer Schulautoren geben der Musik nur einen untergeordneten Stellenwert. Die Oden von Hofhaimer, Senfl und Gallus als Vorläufer des von der Florentiner Camerata propagierten neuen Wort-Ton-Verhältnisses anzusehen, ist problematisch, da bei jenen die didaktische und nicht die affektive Dimension dominierte. Humanismus und Musik – die Beobachtung dieser Beziehung zeigt deutlich, daß wir es mit dem, was wir auch im engeren Sinn ›Humanismus‹ nennen, sich um die Summe nur mäßig koordinierter Teilphänomene handelt. Denn auch in Italien errang die Musik erst spät ihre hohe Bedeutung im wissenschaftlich-kulturellen System, vorbereitet durch die Komposition ›humanistischer‹ Texte von Petrarca und Ariost in der Zeit von 1540 bis 1560, weitergeführt durch Giaches de Wert, der Dante und Tasso vertonte, und vollendet durch die Camerata, die die Tragödie erneuerte. In Deutschland blieb nicht zuletzt aus Mangel an geeigneten Texten eine entsprechende Entwicklung aus, die ›erste deutsche Oper‹ von 1627 war eine Totgeburt, was vermutlich nicht zum wenigsten auch an ihrer stilistischen Unentschiedenheit zwischen Deklamation und Divertissement lag. Deutsche Humanisten waren Sammler, auch von Musik, aber nicht unbedingt Musikliebhaber. Das blieb wohl eher die Ausnahme. Das Schedel-Liederbuch ist zwar Zeugnis eines enzyklopädischen Sammeleifers, hat aber doch nach seiner Neuentdeckung Ende des 19. Jahrhunderts (1880/82) auch eine performative Wirkung entfaltet. Nicht nur, daß Arnold Schönberg einige Lieder daraus für das ›Volksliederbuch‹ neu gesetzt hat (Nr. 12, 26, 45), mehrere Lieder sind über andere gedruckte Quellen auch schon im 19. Jahrhundert bekannt geworden, wie ›Es ist ein Schnee gefallen‹. Das bei Schedel ohne Noten aufgezeichnete deutsche Tenorlied ist in den ›Grasliedlein‹ (um 1530) und bei Caspar Othmayr in Nürnberg 1549 gedruckt worden und von dort in Uhlands Volkslieder eingegangen. Im Jahre 1817 schickte Johann Wolfgang von Goethe ein Gedicht ›März‹ an Carl Zelter und verwendete die ersten beiden Zeilen als Beginn. Zelter komponierte das Lied, es blieb allerdings unpubliziert, das Autograph liegt in Berlin in der Staatsbibliothek.46 Die Vorlage taucht dann im ›Zupfgeigenhansl‹ auf. Nur hier werfe ich auch einen ganz kurzen Blick auf den Text. Die 1. Strophe lautet in den gedruckten Liederbüchern: Es ist ein Schnee gefallen / wann es ist noch nicht Zeit: / [...] / der weg war mir verschneit. Bei Schedel lauten die beiden letzten Verse: Man wirft mich mit dem ballen, / der weg ist mir verschneit. Nicht nur der Reim gefallen:ballen weist diese Fassung als ursprünglich aus, sondern auch das Bild. Der Schneeball ist ein Zeichen der Zurückweisung. 45 46
Briefwechsel Behaim-Pirckheimer, Bd. 1, hg. von Ernst Reicke, München 1940, S. 371f. Berlin, SBB-PK, Mus. ms. autogr. Zelter 21,4; Titel ›Märzschnee‹.
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Das ist eine gelehrte Reminiszenz an ein lateinisches Epigramm, das vom 9. bis zum 15. Jahrhundert überliefert ist und Petronius zugeschrieben wird. Es beginnt Me nive candida petiit modo Iulia [...] (»Mit weißglühendem Schnee bewarf mich jüngst Julia«). Es kommt in unserem Liederbuchlied nicht, wie in einem Lied von Christoph von Schallenberg vom Ende des 16. Jahrhunderts, zu einer erotischen Schneeballschlacht nach dem lateinischen Modell, aber wir haben es auch hier vermutlich mit einer gelehrten – humanistischen – Reminiszenz zu tun. Auch in den Liederbuchliedern lassen sich also gelehrte Anspielungen finden. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die Träger der Liederbücher rekrutierten sich aus den städtischen Bildungsschichten, die zumeist Lateinunterricht genossen hatte und als Produzenten und Tradenten, vor allem aber als Musizierende, das Liederbuchlied seit der Mitte des 15. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts zu einer höchst produktiven Gattung machten.47
47
Vgl. jetzt die Beiträge der Bamberger Tagung vom 28./29. November 2003: Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert, hg. von Gert Hübner (Chloe Bd. 37), Amsterdam [usw.] 2005.
Timothy McFarland
Schulautoren und Kulturtourismus im Reisebrief Konrads von Querfurt Zum Umgang mit der Antike in der staufischen Führungselite – mit einem Blick auf Wolfram von Eschenbach, ›Parzival‹, 656,14–19 Quacumque enim ingredimur, in aliqua historia vestigium ponimus. Cicero, De finibus, V, 2
I Als Kanzler von Kaiser Heinrich VI. und Reichslegat für Italien und Sizilien reiste Konrad von Querfurt, erwählter Bischof von Hildesheim, um die Jahreswende 1195–1196 in den Süden, um die allgemeinen Regierungsgeschäfte im neu eroberten normannischen Königreich wahrzunehmen und um sich mit den Vorbereitungen für den bevorstehenden Kreuzzug, vor allem in den Hafenstädten von Apulien und Sizilien, zu beschäftigen.1 Im September 1197, noch vor dem unerwarteten Tod des Kaisers, brach er nach Palästina auf, wo er maßgeblich an der Führung des Kreuzzugs und an der Gründung des Deutschen Ordens beteiligt war. In dem in Italien verbrachten Zeitraum von ungefähr 18 Monaten, mit intensiver politischer Tätigkeit erfüllt, sind zwei Dokumente von ungewöhnlichem kulturhistorischem Interesse entstanden bzw. zu Ende geführt worden. Das erste Dokument ist der Brief über seine Reise, den Kanzler Konrad im Sommer 1196 an seinen Domprobst Hartbert richtete und der in der Chronik 1
Zu Konrad von Querfurt: Gerhard Bach, Konrad von Querfurt, Kanzler Heinrichs VI., Bischof von Hildesheim und Würzburg, Hildesheim 1988 (Studien zur Geschichte und Kunst im Bistum Hildesheim 1); Alfred Wendehorst, Konrad I. von Querfurt (1198–1202), in: Das Bistum Würzburg, Teil 1. Die Bischofsreihe bis 1254, Berlin/New York 1962 (Germania Sacra, Neue Folge 1), S. 183–200; Hans Goetting, Konrad I. (1195–1199, † 1202), in: Das Bistum Hildesheim, Teil 3; Die Hildesheimer Bischöfe von 815 bis 1221 (1227), Berlin/New York 1984 (Germania Sacra, Neue Folge 20), S. 457–477. Zur historischen Situation immer noch grundlegend Theodor Toeche, Kaiser Heinrich VI., Leipzig 1867 und Eduard Winkelmann, Philipp von Schwaben und Otto IV. von Braunschweig, 1. Bd., König Philipp von Schwaben 1197–1208, Leipzig 1873, zuletzt Peter Csendes, Heinrich VI., Darmstadt1993 und ders., Philipp von Schwaben. Ein Staufer im Kampf um die Macht, Darmstadt 2003.
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Arnolds von Lübeck überliefert ist.2 Der Adressat Hartbert von Dahlum wird 1179 und 1180 als Subdiakon in Hildesheim erwähnt und wurde vor 1189 zum Domkantor gewählt. Die Vermutung, daß er Konrads Lehrer in der Hildesheimer Domschule war, wird durch die Formulierung olim apud vos in scolis im Brief (193,5) nahegelegt. Dadurch bekäme der Brief mit seinen offensichtlich aus dem Gedächtnis geholten Autorenzitaten zum Teil den Charakter einer Berichterstattung an den alten Lehrer über Aktualität und Wert der damals studierten Texte. Seit spätestens 1193 war Hartbert Domprobst in Hildesheim; 1199 wurde er Konrads Nachfolger als Bischof.3 Im Hofkreis Kaiser Ottos IV., dessen Anhänger Hartbert von 1208 bis zu seinem Tod im Jahre 1216 war, hätte er Gelegenheit gehabt, mit Arnold von Lübeck zusammenzukommen und ihm den Brief Konrads zu überlassen oder mitzuteilen. Es ist wahrscheinlich, daß – nach vorherrschendem Brauch – der Brief zum öffentlichen Vortrag und vielleicht auch zur mündlichen Übersetzung in die Volkssprache bestimmt war; einen privaten Charakter hat er wohl nicht gehabt.4 Das intendierte Publikum müssen wir im Kreis um Hartbert im Hildesheimer Domkapitel und wohl auch weiter im norddeutschen Klerus und Adel suchen. Es ist durchaus möglich, daß der am welfischen Hof, in Braunschweig und Lübeck tätige Abt, Dichter und Chronist Arnold von Lübeck zu diesem Publikum gehörte.5 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Arnold, der der Sache des welfischen Kaisertums 2
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4
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Nicht überliefert ist er in der Chronik Alberts von Stade, wie zu lesen bei F. J. Worstbrock, Vergil (P. Vergilius Maro), 2VL 10, Sp. 247–284, hier Sp. 275. Den Brief zitiere ich mit Angabe von Seite und Zeile nach der Ausgabe von Arnold von Lübeck: Arnoldi Chronica Slavorum, hg. von J. M. Lappenberg, MGH SS 21, Hannover 1869, S. 100–250, der Brief Konrads S. 193–196. Deutsche Übersetzungen des Briefes befinden sich bei Bach, Konrad [Anm. 1], S. 84–91 und in: Die Chronik Arnolds von Lübeck, übersetzt von J. C. M. Laurent (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 13. Jhdt., 3. Bd.), Berlin 1853, S. 183–192. Für die Übersetzungen in diesem Beitrag ist der Verf. verantwortlich. Er hat die älteren Versionen herangezogen. Zur Chronik allgemein siehe Dieter Berg, Arnold von Lübeck, II. Werke 1., ›Chronica‹, 2 VL I, Sp. 473–474 und Bernd Ulrich Hucker, Die Chronik Arnolds von Lübeck als ›Historia Regum‹, DA 44 (1988), S. 98–119. Zu Hartbert siehe Hans Goetting, Hartbert (1199–1216), in: Das Bistum Hildesheim, Teil 3, Die Hildesheimer Bischöfe von 815 bis 1221 (1227), Berlin/New York 1984 (Germania Sacra, Neue Folge 20), S. 477–509, bes. 478–479. Rolf Köhn, Latein und Volkssprache. Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Korrespondenz des lateinischen Mittelalters, in: Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongreßakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen, 1984, hg. von Jörg O. Fichte [u. a.], Berlin/New York 1986, S. 340–356. Zu dem hier implizierten Publikumsbegriff und seinen Kommunikationsmöglichkeiten vgl. Peter Johanek, Literatur und Hof, GRM 67 (1986), S. 209–218, hier S. 214–215 und Eckart Conrad Lutz, Literatur der Höfe – Literatur der Führungsgruppen. Zu einer anderen Akzentuierung, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, hg. von Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S. 29–51, hier S. 45–51.
Schulautoren und Kulturtourismus im Reisebrief Konrads von Querfurt
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diente, seine Chronik nach dem Datierungsvorschlag Huckers 1210 verfaßte und den Brief Konrads dabei übernahm, gerade zu der Zeit als Otto IV. sich nach seiner Kaiserkrönung auch die staufischen Ansprüche auf Sizilien zu eigen machte und in die Terra di Lavoro einfiel. Im fünften Buch der Chronik, das u.a. die Sizilienfeldzüge und das Kreuzzugsvorhaben Heinrichs VI. behandelt, erscheint der Brief Konrads im sinnvollen Kontext.6 Seine Echtheit ist, soweit ich sehe, nie angezweifelt worden. Bevor wir uns mit dem Inhalt näher beschäftigen, lohnt es sich, einen Blick auf das zweite Werk zu werfen, das in Konrads Umkreis zu diesem Zeitpunkt entstanden ist, nämlich auf die bekannte, große illustrierte Bilderchronik Peters von Eboli, den ›Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis‹.7 Im letzten panegyrisch gehaltenen Teil dieses Werkes, im Liber Tercius (Bll. 139–147) tritt Konrad von Querfurt sowohl im Text wie auch im Bild mehrfach auf, am bekanntesten wohl im Widmungsbild (139r), wo er als Auftraggeber den Autor mit seinem Buch dem inthronisierten Kaiser präsentiert. Deutliche Unterschiede bestehen zwischen diesem letzten Teil des Werkes und dem eher erzählerischen früheren Teilen der Verschronik (Bll. 95 bis 138), wo die historische Figur der Kaiserin Konstanze und der bewegte Verlauf der historischen Ereignisse zwischen 1189 und 1194 im Mittelpunkt stehen. Daß diese Unterschiede nicht zufälliger Natur sind, ist bestätigt worden durch die eingehende kodikologische Untersuchung der letzten Herausgeber Kölzer und Stähli in bezug auf die Herstellung der unikalen Handschrift (Berner Burgerbibliothek Codex 120 II), die das Autorenexemplar und wohl auch das Widmungsexemplar gewesen ist.8 Nach ihrer Hypothese hat das Werk gewissermaßen einen ›Mäzenatenwechsel‹ erlebt; denkbar ist es, daß der Kanzler dem poetisch wie medizinisch gut gebildeten Kleriker Peter im Sommer 1196 im Verlauf seiner Reise in den Süden in oder bei Salerno begegnete und ihn veranlaßte, seine schon großenteils fertige Dichtung mit einem dem Kanzler wie dem siegreichen Kaiser huldigenden dritten Buch abzurunden und abzuschließen, damit sie dem Kaiser überreicht werden könnte, wie es auf Bl. 139r im Bilde dargestellt wird. »Selten hat sich der Auftraggeber einer Handschrift in dieser Bedeutung und Größe und in solcher Häufigkeit zur Darstellung gebracht wie Kanzler Konrad im Codex des Petrus de Ebulo.«9 6 7
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Hucker, Chronik [Anm. 2], S. 105 und (zur Datierung) S. 111–115. Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis. Codex 120 II der Burgerbibliothek Bern. Eine Bilderchronik der Stauferzeit, hg. von Theo Kölzer und Marlis Stähli, Textrevision und Übersetzung von Gereon Becht-Jördens, Sigmaringen 1994. Marlis Stähli, Petrus de Ebulos »Unvollendete« – Eine Handschrift mit Rätseln, in: Petrus [Anm. 7], S. 247–274, hier S. 255–256; Theo Kölzer, Autor und Abfassungszeit des Werkes, in: Petrus [Anm. 7], S. 11–13. Stähli [Anm. 8], S. 256. Der Kanzler erscheint viermal abgebildet (Bll. 139r, 142r, 145r, 147r; er war wahrscheinlich auch auf dem beschädigten Bl. 144r abgebildet).
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Diese Entstehungsbedingugen helfen uns, die bekannten lobenden Verse Peters über Konrad richtig einzuschätzen: Hic Corradus adest, iuris servator et equi; Scribens edictum, certa tributa legens. Cancellos reserans, mundi signacula solvens, Colligit Italicas, alter Homerus, opes. Nulla fames auri, sitis illi nulla metalli; Res nova, quam loquimur: mens sua numen habet. (Bl. 141v; V. 1551–60; S. 229.) (›Hier ist Konrad anwesend, der Wahrer des Rechts und der Gerechtigkeit, / er schreibt das Edikt, sammelt die festgesetzten Tribute, / schließt die Kanzlei auf, öffnet die Siegel der Welt, / sammelt die Schätze Italiens, ein zweiter Homer. / Er hat keinen Hunger nach Gold, keinen Durst nach Edelmetall; / Etwas Unerhörtes ist es, was wir sagen: sein Geist hat etwas Göttliches.‹)
Vor allem der vielzitierte Vers 1554: Colligit Italicas alter Homerus opes ist mit dem Reisebrief dafür verantwortlich, daß Konrad den Ruf eines Humanisten genießt. Die Bezeichnung als zweiter Homer hat dazu geführt, daß man in erster Linie an kulturelle Schätze gedacht hat, aber der Sinn ist keineswegs klar, und von einer Sammlertätigkeit Konrads ist sonst nichts bezeugt. Diese Zeilen stehen einem Bildblatt gegenüber [142r], das den Kanzler Konrad bei der Ausübung seines Amtes im Säulenhof des kaiserlichen Palastes darstellt, wo er die Goldtribute Arabiens und Indiens empfängt.10 Unter den Bogengängen des Säulenhofs stehen die Namen aller Länder, die der kaiserlichen Autorität Heinrichs VI. unterstellt sind; der im gegenüberliegenden Text genannte Markward von Annweiler steht auch mit gezücktem Schwert zum Schutze der neuen Weltordnung bereit. Obwohl man zunächst an den normannischen Säulenhof im Palast zu Palermo denkt, ist der von Petrus evozierte Palast wohl eher ein fiktives Gebilde, das mit seinen von keinem anderen Zeugen genannten freskengeschmückten Innenräumen wohl eher als idealsymbolischer staufischer Herrschersitz zu begreifen ist.11 Diese Auffassung wird durch die Anwesenheit der Quelle Arethusa gestützt, die auf demselben Bild ihren Platz im Schloßhof zwischen Konrad und Markward hat und nicht an ihrem vertrauten Standort am Meeresufer von Syrakus, wo Konrad von Querfurt sie gesehen hat. Durch ihre Lokalisierung am staufischen Kaiserhof dokumentiert die Arethusa-Quelle, daß das Land Sizilien mit seinem reichen Erbe an antiker Kultur nun wieder zum römischen Reiche gehört. Was Konrad in seinem Brief von der Pegasus- und Musenquelle behauptet, gilt auch hier: fons iste est in nostro imperio. Peter von Eboli bedient sich auch sonst der antiken Dichtung 10 11
Petrus [Anm. 7], S. 231. Vgl. Auch Text und Kommentar dazu, S. 228–230. Petrus [Anm. 7], S. 230. Zu den Fresken vgl. ebd., S. 232–235 (Bl. 142v, 142r); Joachim Bumke, Höfische Kultur, München 1986, S. 648–650; Csendes, Heinrich VI. [Anm.1], S. 206.
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und Mythologie im panegyrischen Schlußteil seiner Verschronik. Bei der Evozierung des Goldenen Zeitalters, das mit der Geburt des künftigen Kaisers Friedrich II. anbricht, adaptiert er bekanntlich die vierte Ekloge Vergils, und in der bildlichen Darstellung des goldenen Zeitalters trinken die Tiere in friedlicher Eintracht aus einer Quelle, die in der Darstellung dem Bild der Arethusa sehr ähnelt.12 Auch im Reisebrief Konrads wird die antike Dichtung und Mythologie in Beziehung zur aktuellen Politik der 1190er Jahre gesetzt, wenn auch auf ganz andere Art und Weise, wie das in der Verschronik Peters von Eboli geschieht.
II Im Einleitungsabschnitt seines Reisebriefs (193,1–12) stellt Konrad mit großer Deutlichkeit klar, worum es ihm geht. Infolge der Eroberung Siziliens durch Heinrich VI. hat sich das Reich so weit ausgedehnt, daß es jetzt nicht mehr notwendig ist, das deutsche Herrschaftgebiet zu verlassen, um das mit eigenen Augen zu sehen, was man bisher nur vom Hörensagen, d.h. im Schulstudium der antiken Schriftsteller, kannte: terminos imperii non oportet egredi, Teutonici orbem dominii non est transeundum, ut ea videatis, circa que poete multa consumpserunt tempora (193,10–12). Der sich anschließende Brieftext bringt also in der Hauptsache eine Liste von Ortsnamen, die auf unterschiedliche Weise beschrieben und kommentiert werden. Obwohl wir annehmen, daß der Brief die Stationen seiner Reise im allgemeinen nachzeichnet, ist es wahrscheinlich, daß wichtige aber von ihm im Text nicht erwähnte Städte, wie etwa Bari oder Capua, doch zu seinen Reisezielen gehörten. Mit Hilfe der in Italien zu dieser Zeit ausgestellten Urkunden läßt sich die Reise zeitlich auf die Zeit von Januar bis Juli 1196 festlegen.13 Der im Brief nachgezeichnete Reiseweg führt von der PoEbene, wo zwei Urkunden am 20. Januar 1196 von Konrad in Borgo San Donnino zwischen Piacenza und Parma ausgestellt wurden, an die Adriaküste und von dort über Pesaro und Fano nach Süden bis in die Terra di Bari. Der genaue Reiseweg von Apulien durch die Berge zur italienischen Westküste ist unklar. In Neapel und Capua läßt er auf Befehl des Kaisers die Stadtmauern schleifen. In Maiori zwischen Amalfi und Salerno stellt er am 30. Juni 1196 eine Urkunde aus. Er fährt die kalabrische Küste entlang nach Sizilien, wo ihn die Hafenstädte der Ostküste (Messina, Taormina und Syrakus) besonders interessieren. In der zweiten Julihälfte hält er sich wieder in Apulien auf.
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Siehe Petrus [Anm. 7], S. 226–227 (Bl. 141r). Zum folgenden siehe Bach, Konrad [Anm. 1], S. 22–33; Goetting, Konrad I. [Anm. 1], S. 462–464.
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Die kulturgeschichtliche Bedeutung seiner Mitteilungen ist wesentlich größer als ihr biographischer Quellenwert. Wegen des fast ausschließlichen Interesses der bisherigen Forschung an den Anekdoten, die den Zauberer Vergil betreffen, soll im folgenden zuerst versucht werden, einige der unterschiedlichen Informationsschichten ein wenig systematischer zu erfassen. Dabei sollen in erster Linie die Literaturkenntnisse Konrads und zweitens seine Vorstellungen von der Kulturgeographie der antiken Welt kurz besprochen werden, bevor wir uns den Vergillegenden und der damit zusammenhängenden Frage nach dem ›Zauberer‹ oder ›Magus‹ Vergil zuwenden. Um einen ersten Überblick zu ermöglichen, werden die im Reisebrief erwähnten Orte in der folgenden Liste aufgeführt.14 1. Mantua und Cremona (193,13f.): Zitat: Vergil, ›Eklogen‹, 9, 28 2. Modena (193,15–16): Zitat: Lucan, ›Pharsalia‹, 1,41 3. Rubikon, wo Cäsar den Fluß überschritt (193,17–25): Zitat: Lucan, ›Pharsalia‹, 1,213 4. Pesaro, wo das Gold der Soldaten gewogen wurde (193,25–27) 5. Fano, mit den Tempeln der römischen Soldaten (193,27–30) 6. Sulmona (193,30–194,1) (i) Die Geburtsstadt Ovids (193,30–35): Zitat: Ovid, ›Tristia ex Ponto‹, 4, 10, 3 (ii) Die in Bäume verwandelten Schwestern Phaetons (193,35–194,1): Vgl. Ovid, ›Metamorphosen‹, II, 340–66. 7. Chieti (?) (Thetis), wo Thetis, die Mutter des Achilles, wohnte (194,1–2) 8. Cannae, das Schlachtfeld, wo Hannibal die Römer besiegte (193,3–5) 9. Giovinazzo, die Geburtsstadt Jupiters (193,5–6) 10. Die Berge der griechischen Mythologie (194,6–13): (i) Die Quelle des Pegasus (Helikon), Wohnsitz der Musen (194,6–10): Vgl. Ovid, ›Metamorphosen‹, V, 250–272. (ii) Parnassus: Deukalion und seine Gemahlin (194,10–12): Vgl. Ovid, ›Metamorphosen‹, I, 316–321, 348–415. (iii) Olympus (194,12–13) 11. Gaeta (Cajanum), das das Haus des Janus war (194,13f.) 12. Punto di campanella (Capud Minerve) (194,14f.) 13. Capo palinuro, wo Palinurus ertrank (194,15–19): Zitat: Vergil, ›Aeneis‹, 5, 871 14. Neapel und die Werke Vergils (194,19–35) (i) Das Bild der Stadt in der gläsernen Ampulle (194,19–26)
14
Die von Konrad aufgeführten Orte werden in moderner Schreibweise und in Kapitälchen, mit kurzen Inhaltshinweisen und mit Seiten- und Zeilenangaben gebracht. Auch angegeben sind die Stellenzitate der lateinischen Dichter im Brieftext und die erschlossenen Anspielungen auf Ovids ›Metamorphosen‹.
Schulautoren und Kulturtourismus im Reisebrief Konrads von Querfurt
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(ii) Das eherne Pferd (194,26–30) (iii) Die eherne Fliege (194,30–32) (iv) Die Gebeine Vergils (194,32–35) 15. Baia (194,36–195,3) (i) Die Bäder Vergils (194,36–195,1) (ii) Das Haus und Bad der Sybille (195,1–2) (iii) Der Palast, aus dem Helena von Paris geraubt wurde (195,2f.) 16 Chiros (?), wo Thetis ihren Sohn Achilles versteckte (195,3–5) 17. Die Meerenge von Messina (Scylla und Charybdis) (195,5–7) 18. Taormina: Daedalus, das Haus des Minotaurus; Icarus (195,8–14): Vgl. Ovid, ›Metamorphosen‹, VIII, 155–235 19. Ætna (195,14–32): (i) Die Schmiede des Vulkanus (195,14–21) (ii) Der locus amenus in der Nähe des Ætna: Ceres, Proserpina, und Pluto (195, 21–24): Vgl. Ovid, ›Metamorphosen‹, V, 385–408 (iii) Die Legende der hl. Agatha (195,24–32) 20. Syrakus (195,32–40) (i) Zitat: Vergil, ›Eklogen‹, 6,1–2 (ii) Arethusa und Alpheus (195,36–40): Vgl. Ovid, ›Metamorphosen‹, V, 577–641 21. Die drei Vorgebirge Siziliens: Pelorum, Pachinnum, Lilibeum (195,40–42) 22. Capri (Caprea, Mitilena): Die Sarazenen und die Pauluslegende (Apostelgeschichte, 28) (196,1–17) 23. Nachtrag: Neapel und Umgebung: (196,18–43): (i) Vergil, das eiserne Tor und die eingeschlossenen Schlangen (196,18–21) (ii) Vergils Fleischbank (196,21–23) (iii) Vesuv: Vergils eherner Bogenschütze (196,24–28) (iv) Ischia (Iscla): Die Feuer- und Schwefelinsel; Abstieg in die Unterwelt (196,29–36) (v) Monte Barbaro: Die Stadt im Berg (196,37–43)
Einen aufschlußreichen Einblick in die literarische Bildung eines politisch aktiven Mitglieds der klerikalen Elite Deutschlands am Ende des 12. Jahrhunderts bieten die Zitate der lateinischen Dichter und andere Anspielungen, vor allem auf Ovid, in Konrads Reisebrief. Daß die sechs wörtlich angeführten Textstellen15 nicht ganz fehlerfrei sind, spricht dafür, daß sie hier aus dem Gedächtnis zitiert werden. Alle sechs Zitate enthalten die Namen der von Konrad besuchten Orte; daß Lucans ›Pharsalia‹ und die Eklogen Vergils jeweils zweimal zitiert werden und Vergils ›Aeneis‹ und Ovid nur einmal, hängt wohl mit dem Zufall des Reiseweges zusammen und ist nicht als Indiz der relativen Beliebtheit der Texte oder Autoren zu werten. Dem Plan des Briefes entsprechend dienen sie dazu, Hartbert zu demonstrieren, daß die in der Domschule studierten Texte im 15
Siehe 1, 2, 3, 6(i), 13, 20(i) in der oben angeführten Liste.
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Kopf des reisenden Kanzlers noch präsent sind. Zwei Beispiele sollen als Illustration dienen: Erstens erwähnt die neunte Ekloge Vergils Mantua und Cremona im Zusammenhang der Enteignungen nach dem römischen Bürgerkrieg im Jahre 41 v. Chr. Das ist im Kontext des Reisebriefs unerheblich, aber als Städtenamen hatten sie wohl für Deutsche, die die lombardischen Kriege Barbarossas bewußt miterlebt hatten, eine eigene Resonanz. Zweitens macht Konrads Kommentar zur Überschreitung des Rubikon durch Julius Cäsar deutlich, daß er die politische Tragweite des weltgeschichtlich folgenschweren Augenblicks überhaupt nicht begriffen hat, denn für ihn sind Furcht und Zögern Cäsars nur durch das angeschwollene Wasserniveau zu erklären (Nr. 3: 193,17–25). Es ist aber möglich, daß die Lucanstelle, die er hier zitiert, ihn irregeführt hat, denn an der betreffenden Stelle in der ›Pharsalia‹ (I, 217–219) ist auch vom angeschwollenen Wasserniveau des winterlichen Flusses als Hindernis die Rede; erst nachdem Cäsar das gegenüberliegende Ufer erreicht hat, hebt er die politische Bedeutung seiner Tat hervor (I, 225–227). Für viele Figuren der antiken Geschichte oder Mythologie, die von Konrad erwähnt werden, hat sich bisher keine eindeutige literarische Quelle ergeben.16 Beiläufig oder nur flüchtig genannte Namen wie Thetis und Achill (7, 16), Scylla und Charybdis (17), auch Paris und Helena (15(iii)) waren aus vielen literarischen Quellen und auch sonst gut bekannt. Aber für sechs Einträge legt ein Vergleich der Formulierung Konrads mit der entsprechenden Episode in den ›Metamorphosen‹ den Schluß nahe, daß die Behandlung durch Ovid die Darstellung im Reisebrief anregte und daß eine klare Anspielung auf die ovidianische Gestaltung vorliegt.17 Zwar werden viele dieser Episoden bei Ovid recht breit erzählt,18 und Konrad bringt nur eine kurze Zusammenfassung, die aber oft den Kern der Sache trifft. Nach seiner Beschreibung der merkwürdigen Bäume in der Nähe von Sulmona (6(ii); 193,35–37) setzt Konrad hinzu: In quas asserunt – si credere dignum est – sorores Phetontis post lacrimosas fratris exequias miseratione superum transformatos (193,37–194,1 – »Man versicherte uns – wenn es glaubwürdig ist – die Schwestern des Phaeton seien nach dem tränenreichen Begräbnis des Bruders durch das Mitgefühl der Überirdischen in diese Bäume verwandelt worden.«) Ebenso knapp berichtet Konrad von Deukalion auf Parnassus (10(ii)): Ibidem non longe Parnasus mons occurrit, in quo Deucalion cum sua coniuge dampnum humani generis iactu lapidis post diluvium reparavit. (194,10–12 – »Nicht weit von hier ist der Berg Parnassus, auf dem Deukalion mit seiner Gemahlin den Untergang des Menschengeschlechts durch 16
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Die beiden mit Thetis und Achilles assozierten Ortsnamen, Thetis (7 = Chieti?) und Chiros (16, wahrscheinlich von Skyros abgeleitet) sind nicht mit Sicherheit zu identifizieren. Es existiert bisher kein Stellenkommentar zum Reisebrief. Siehe 6(ii), 10(i), 10(ii), 18, 19(ii), 20(ii) in der oben angeführten Liste. Zum Beispiel umfaßt die Geschichte der Arethusa bei Ovid ca. 60 Verse, und die von Dädalus und Ikarus ca. 80 Verse.
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das Werfen von Steinen nach der Sintflut abgewendet hat.«) Gelegentlich erinnert sich der Briefschreiber fehlerhaft, so wenn er von der Arethusa (20(ii)) erzählt, que primo raptum Proserpine matri sollicite per ordinem reseravit (195,36–37 – »die zuerst der besorgten Mutter, wie es sich gehörte, den Raub der Proserpina offenbart hat.«) Bei Ovid (›Metamorphosen‹, V, 482–508) ist es der Liebhaber der Arethusa, der Fluß Alpheus, der vom Raub der Proserpina erzählt, und nicht die Arethusa selbst, aber auch hier hat Konrad einen wichtigen Grundzug der ovidianischen Erzählmethode durch Augenzeugenberichte erfaßt. Indem die ›Metamorphosen‹ in der aetas ovidiana des zwölften Jahrhunderts als die Hauptquelle für die antike Mythologie galten, soll es nicht überraschen, daß Konrads Kenntnisse dieser Gestalten so eng mit der erinnerten Ovid-Lektüre verknüpft sind. Aber ungewöhnlich ist es, daß die Rezeption von Ovid (wie auch von Vergil und Lucan) sich auf diese Weise bei einem Menschen dokumentiert, der, obwohl klerikal gebildet und zweifellos ein Mitglied der klerikalen Führungsgruppe, selbst kein Dichter oder Schriftsteller war, wie es die meisten uns bekannten Rezipienten der lateinischen Dichtung in dieser Epoche waren.19 Läßt sich die durch den Reisebrief belegte literarische Bildung Konrads mit einiger Sicherheit in erster Linie auf seine Hildesheimer Schule zurückführen, so muß andererseits die Frage nach den Quellen seiner Angaben zur Lokalisierung der antiken Kultur und zur Erklärung einiger Ortsnamen letzten Endes offen bleiben. Am auffälligsten stellt sich das Problem bei den drei Städtenamen Pesaro (4), Giovinazzo (9) und Taormina (18). Zur Erklärung des Namens der heutigen Stadt Pesaro schreibt Konrad: Pesaurium, quod a pensando aurum ab antiquis dictum est, eo quod Romanis militibus [...] ibi aurum ponderaretur et distribuerentur (193,25–27 – »Pesaurium, das von den Alten nach dem Abwägen des Goldes so genannt wurde, da dort den römischen Soldaten [...] Gold gewogen und verteilt wurde.«) Aber diese von Konrad gebotene Etymologie findet keine Stütze in den lateinischen Formen Pesaurium und pondere/pensum; sie wird offensichtlich von den volkssprachlichen, d. h. italienischen Formen Pesaro und pesare abgeleitet. Auch im Falle der apulischen Hafenstadt Giovinazzo fällt es schwer, im lateinischen Ortsnamen Jovinianum die Geburtsstätte Jupiters zu sehen; hier betont Konrad selbst die Bedeutung des volkssprachlichen Namens, der ihm die Möglichkeit bietet, die Geburt Jupiters von Kreta weg in die Terra di Bari zu verlegen: Preterivimus Iovinianum civitatem, que 19
Zur Ovidrezeption bei den Dichtern im 12. Jahrhundert siehe Franco Munari, Ovid im Mittelalter, Zürich/Stuttgart 1960, S. 9–22; Renate Kistler, Heinrich von Veldeke und Ovid, Tübingen 1993 (Hermaea, N. F. 71), S. 4–14; Hartmut Kugler, Ovidius Naso, P., 2VL 7, Sp. 247–273; Manfred Kern, Ovidius, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. von Manfred Kern und Alfred Ebenbauer unter Mitarbeit von Silvia Krämer-Seifert, Berlin/New York 2003, S. 447–452.
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quasi Iovis natio nuncupatur, eo quod Iupiter ibi natus fuerit (194,5–6 – »Wir gingen an Jovinianum vorbei, das seinen Namen von Jovis natio [= Giovinazzo] ableitet, weil Jupiter dort geboren worden sein soll«). Am kühnsten aber gestattet die gebotene Etymologie des Namens Taormina, in der vermuteten Ableitung von tauri menia (»die Mauern des Stiers«), die Verlegung der bekannten Geschichten vom Minotaurus, von Dädalus und Ikarus ebenfalls von Kreta weg nach Sizilien: Unde adhuc locus Taurominum vocatur, a Minotauro, vel quasi tauri menia, a cuius semine Pasiphe genuit Minotaurum [...] (195,9–11 – »Daher wird der Ort noch heute Taurominum genannt, nach dem Minotaurus, d.h. nach den Mauern des Stiers, von dessen Samen Pasiphae den Minotaurus gebar [...]«). Es läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, woher Konrad diese Erklärungen hat; schriftliche Quellen dafür sind bisher nicht bekannt. Doch ist es sehr wahrscheinlich, daß sie aus dem italienischen Sprachraum und nicht aus der deutschen Domschule stammen. Bei den Erklärungen der Ortsnamen Giovinazzo und Taormina kommt das deutliche Bestreben hinzu, Ereignisse und Figuren der antiken Mythologie von Griechenland, in diesen beiden Fällen von Kreta, nach Süditalien zu versetzen, und sie dort mit neuen Lokalitäten zu identifizieren. Diese Tendenz zieht sich wie ein Leitfaden durch den Brief. Zwar gibt es auf der einen Seite die Personen und Ereignisse der antiken Mythologie, die Konrad mit Recht in Italien lokalisiert. Dazu gehören der vergilische Steuermann Palinurus, der am Capo Palinuro ertrank (13), Scylla und Charybdis an der Meerenge von Messina (17) und die sizilianischen Schauplätze der ovidianischen Geschichten von Proserpina (19(ii)) und von Arethusa (20(ii)). Aber andererseits lassen sich die zahlreichen Gegenbeispiele von Ortsnamen anführen, bei denen Konrad die übliche Geographie mißachtet und viele Figuren und sogar wichtige Schauplätze der antiken Mythologie von Griechenland nach Italien verpflanzt. Am deutlichsten tritt diese Tendenz auf der Reise durch die Berge zwischen Apulien und Neapel hervor, wo Konrad in rascher Folge drei bedeutende Berge der griechischen Mythologie im südlichen Appeninbereich sieht (10(i)–(iii): 194, 6–13). Es sind die Berge Parnassus, Olympus und Helikon: dieser letzte wird nicht mit Namen genannt, sondern als »Quelle des Pegasus und Wohnsitz der Musen« beschrieben (Pegaseum fontem Musarum [...] domicilium – 194,7). Zusätzlich zu diesen Bergen und zum schon erwähnten kretischen Labyrinth in Taormina und dem Geburtsort Jupiters in Giovinazzo, umfaßt die Gruppe der nach Italien versetzten Figuren noch die Schwestern Phaetons (6(ii)), die zweimal angeführte Thetis (7, 16), und Helena, die angeblich aus ihrem Hause in Baia bei Neapel von Paris entführt wurde (15(iii)). Es ist durchaus denkbar, daß in Süditalien zu dieser Zeit verbreitete örtliche Überlieferungen zu den Lokalitäten der griechischen Mythologie in Umlauf waren, wie das Beispiel des Namens Giovinazzo nahelegt. Zwar wissen wir nichts davon, aber auch wenn das der Fall wäre, sollten wir uns hüten, den Kanzler Konrad für einen naiven und leichtgläubigen Reisenden zu halten, der
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alles nacherzählt, was ihm zugetragen wird. Daß in seinem Brief diese Figuren und Schauplätze der Mythologie von Griechenland nach Süditalien verlegt sind, dient einem anderen Zweck. Nachdem er den Berg Helikon als »die Pegasusquelle, Wohnsitz der Musen« in seinem Brief eingeführt hat, bringt er folgende programmatische Bemerkung: de quo nunc sine precio potare possetis et haurire, si vobis placeret, ad cuius gustum poete longis quondam studiis et laboribus pervenerunt. Nunc ergo ad illum fontem gustandum ultra Sauromatas aut ad extremos Indos non oportet peregrinari, fons iste est in nostro imperio. (194,7–10 – »Von ihr könnt ihr jetzt trinken und schöpfen ohne Schwierigkeit, wenn es Euch gefiele, zu deren Genuß die Dichter einst erst nach langen Studien und Bemühungen gelangten. Es ist also nicht mehr notwendig, über die Sauromaten hinaus oder zu den entferntesten Indern zu reisen, um von der Quelle zu kosten, denn diese Quelle befindet sich in unserem Reich.«) Mit direktem Bezug auf die Quelle der poetischen Inspiration führt Konrad hier mit hyperbolischem Nachdruck das weiter aus, was er in den oben zitierten Sätzen der einleitenden Präambel an den Domprobst Hartbert schrieb, nämlich daß es nicht mehr nötig sei, die Grenzen des deutschen Reiches zu überschreiten oder die Sphäre der deutschen Herrschaft zu verlassen, um das zu sehen, worauf die Dichter so viel Zeit verwendet haben. Aber am Anfang des Briefes kann der Rezipient noch nicht wissen, daß die Umbennung der Appeninberge, die neue Etymologie von Taormina und vieles andere auch den Eindruck vermitteln sollte, daß die Schauplätze der Mythologie der antiken Welt zum großen Teil nun im Herrschaftsbereich des staufischen Kaisers liegen. In den zuletzt besprochenen Stellen wird dem intendierten deutschen Publikum des Briefes in skizzierter Form ein Konzept vorgelegt, das der Propagierung der staufischen Reichsidee in der veränderten politischen Situation nach der Eroberung Siziliens im Jahre 1194 Rechnung trägt. Für den kulturell interessierten Kanzler Konrad bieten sich für das Reich neue Legitimierungsmöglichkeiten unter Zuhilfenahme der antiken Mythologie, allgemein nach ovidianischem Muster. Zu diesem Konzept gehört die geographische Vereinnahmung dieser Mythologie und ihre Lokalisierung, so gut es geht, innerhalb der von Heinrich VI. ausgedehnten Reichsgrenzen. Was für Peter von Eboli der neue Standort der Quelle Arethusa im Säulenhof des staufischen Schlosses bedeutet, ist für Konrad von Querfurt die Lokalisierung der Pegasus-Quelle im Appeningebirge: fons iste est in nostro imperio.
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III Der lateinische Epiker Peter von Eboli bringt auf dem ersten Blatt seiner Chronik (95r) Bilder seiner drei großen Vorbilder Vergil, Lucan und Ovid, und er zitiert dort die Anfangszeilen ihrer bekanntesten Epen. Auch Konrad von Querfurt kennt diese Werke, und obwohl er selber kein Epiker ist, kann er aus ihnen zitieren oder auf sie anspielen. Aber Konrad weiß auch mehr und ganz anderes von Vergil zu berichten als das, was im Versepos des Historikers vorkommt. Peter von Eboli war zwar in der Nähe von Neapel beheimatet, die Stadt spielt eine wichtige Rolle in seiner Chronik, und ihre erfolglose Belagerung durch Kaiser Heinrich VI. im Jahre 1191 wird von ihm ausführlich behandelt (Bll. 108v–114r). Er aber erwähnt überhaupt nicht, was für Konrad sehr wichtig ist: daß Neapel selbst das kunstvolle Werk Vergils sei (194,19 – operosum opus Virgilii Neapolim), und daß der große philosophus(194,20) viele Wunderwerke mit den Mitteln seiner magischen Kunst (194,22 – magica arte) und seiner Zauberformeln (magicis incantationibus 194,26) zum Schutze und Wohlergehen seiner Stadt erfunden und ausgeführt habe. Die magische Kunst des ›Philosophen‹ wird positiv und lobend beschrieben; bei Konrad ist weder von Dämonenbeschwörung noch von Astrologie expressis verbis die Rede. Konrad erwähnt acht der um diese Zeit insgesamt elf bezeugten Wunderwerke Vergils (14(i)−(iv); 15(i); 23(i)−(iii)). Damit zählt sein Brief zu den vier frühen Hauptzeugen für die Gestalt des neapolitanischen Zauberers Vergil, der gerade um die Jahre 1210–1218 definitiv in die schriftliche Überlieferung eingeht.20 Der zeitlich früheste von ihnen, Johannes von Salisbury, erwähnt nur eine Anekdote im ›Policraticus‹.21 Neben Konrad von Querfurt, dessen im Jahre 1196 verfaßter Brief erst um 1210 in der Chronik Arnolds überliefert wird, 20
21
Für die vergleichende Aufstellung des Materials sind immer noch grundlegend die klassischen Studien von Domenico Comparetti, Virgilio nel medio evo, Livorno 1872, zitiert hier nach der neueren Ausgabe von Giorgio Pasquali, 2 Bde., Florenz 1937–1941, hier Bd. 2, S. 22–29 (deutsche Übersetzung von Hans Dütschke, Virgil im Mittelalter, Leipzig 1875) und von John Webster Spargo, Virgil the Necromancer. Studies in Virgilian Legends, Cambridge MA 1934, S. 7–18, 322–323. Noch vor Comparetti wurde das Material zusammengestellt von K. L. Roth Über den Zauberer Virgilius, Germania 4 (1859), S. 257–298, bes. S. 257–267. Für die neuere Forschung vgl. F. J. Worstbrock, Vergil (P. Vergilius Maro) [Anm.2], Sp. 274–276; Manfred Kern, Vergilius, Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters [Anm.19], S. 662–669. Siehe auch Leander Petzoldt, Virgilius Magus. Der Zauberer Virgil in der literarischen Tradition des Mittelalters, in: Hören, Sagen, Lesen, Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift für Rudolf Schenda zum 65. Geburtstag, hg. von Ursula Brunold-Bigler und Hermann Bausinger, Bern [usw.] 1995, S. 549–568, hier S. 558–564. John of Salisbury (Ioannis Saresberiensis Policraticus I-IV, hg. von K. S. B. KeatsRohan, Tournout 1993, I, 4, S. 34) erzählt von der bronzenen Fliege Vergils, die alle Fliegen aus der Stadt Neapel vertrieb, im Kontext seiner Polemik gegen die Jagd.
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bringen die beiden anderen Hauptquellen, Gervasius von Tilbury und Alexander Neckam, jeweils mehrere Beispiele in ihren enzyklopädischen Kompilationen, die gleichfalls zwischen etwa 1210 und 1220 fertiggestellt wurden.22 Konrad und Gervasius von Tilbury waren beide nach ihren eigenen Aussagen in Neapel, und sie geben zu verstehen, daß sie ihre Kenntnisse der Vergilwunder dort, am Ort ihrer vermeintlichen Erfindung durch den Magus, erworben haben. Aus diesem Grunde waren sie die wichtigsten Zeugen für K. L. Roth (1859) wie auch für Domenico Comparetti, der in seiner großen Studie ›Virgilio nel medio evo‹ (1872) den Standpunkt vertrat, daß diese Anekdoten in Neapel ihren Ursprung hatten, wo sie als Produkte des lebendigen neapolitanischen Volksgeistes in mündlicher Form verbreitet waren. Diese Ansicht Comparettis hat sich aber nicht durchgesetzt, und wurde schon früh als romantisches Vorurteil abgetan.23 Die communis opinio der Forschung hat bis vor kurzem dazu tendiert, diese elf Wunderwerke als literarische Fiktionen zu sehen, als Erfindungen der nordeuropäischen, in erster Linie englischen Kleriker, die sie zuerst literarisch verarbeiteten und allgemein bekannt machten.24 Auffallend sind sowohl die vielen gemeinsamen Elemente und Berührungspunkte in den Berichten der drei Hauptzeugen Konrad, Gervasius und Alexander Neckam wie auch die bemerkenswerte Gleichzeitigkeit des Erscheinens der drei Texte, etwa in den Jahren 1210–1217 (wobei die um 1210 geschriebene Chronik Arnolds von Lübeck als Veröffentlichungsform von Konrads Brief hier einzuordnen ist). Für die Erforschung des Literarisierungsprozesses des legendenhaften Vergilmaterials wäre also nach Schwerpunkten der literarischen Interessenbildung um diese Zeit zu fragen, die eventuell, um nur eine Möglichkeit zu nennen, im Bereich der welfisch-anglonormannischen klerikalen Hofkultur um Otto IV. und Wilhelm von Lüneburg zu lokalisieren wäre.25 Trotzdem ist es unbefriedigend, vor allem in Hinblick auf Konrad von Querfurt selbst, die alleinige Verantwortung für die Erfindung der Wunderwerke des 22
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25
Gervase of Tilbury, Otia imperialia: Recreation for an Emperor, hg. und ins Englische übersetzt von S. E. Banks und J. W. Binns, Oxford 2002. Zu den Vergillegenden siehe S. xxvi, lxii, 576–585, 802–804. Alexander Neckham, De naturis rerum libri duo: with the poem of the same author, De laudibus divinae sapientiae, hg. von Thomas Wright, London 1863 (Rerum britannicarum medii aevi scriptores 34), hier cap. 174, De locis in quibus artes floruerunt liberales, S. 309–310. Zur Diskussion von Comparettis ›pregiudizio romantico‹ und zu ihrer Rezeption in der Forschung siehe Pasquali in Comparetti [Anm. 20], S. xxi-xxxii. Siehe Pasquali [Anm. 23]; auch Karl Büchner, P. Vergilius Maro, Pauly-Wissowa II, 16, Sp. 1479–1480 und L. Rossi, Vergil im Mittelalter, II: Romanische Literaturen, LexMA VIII, Sp. 1527. In der neueren Forschung ist man wieder eher geneigt, an die ›sichtbare Existenz‹ (Petzoldt) der neapolitanischen Bildwerke, an die sich die Sagen knüpften, zu glauben, vgl. Banks und Binns [Anm. 22], S. lxii, und Petzoldt [Anm. 22], S. 561. Siehe dazu zuletzt Bernd Ulrich Hucker, Otto IV. Der wiederentdeckte Kaiser, Frankfurt a. M./Leipzig 2003, S. 325–329.
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Zauberers Vergil den nordeuropäischen Klerikern zuzuschreiben. Es ist nicht notwendig, zwischen den zwei Alternativen von mündlicher neapolitanischer Volkskultur einerseits und nordeuropäischer Klerikerkultur andererseits wählen zu müssen. Es gibt keine Anhaltspunkte für die These, daß der vielbeschäftigte staufische Hofbeamte Konrad Kontakte mit englischen Gelehrtenkreisen pflegte. Andererseits ist nicht daran zu zweifeln, daß er im Verlauf seiner gut bezeugten Reise nach Süditalien und Sizilien im Jahre 1196 sich für einige Zeit in Neapel und Umgebung aufhielt. Für die oben besprochenen ›gelehrten‹ Erklärungen von Ortsnamen und mythologischen Stätten in Süditalien kommt weniger der neapolitanische Volksmund als Quelle in Betracht als der neapolitanische, vielleicht der süditalienische Klerus, worunter sich Menschen befanden wie die beiden von Gervasius genannten Gewährsleute, Kardinal Johannes von Neapel und Erzdiakon Johannes Pignatelli.26 Die Unterschiedlichkeit der Textsorten ist in der bisherigen Diskussion dieser Quellen wenig beachtet worden. Bei Gervasius von Tilbury wie bei Alexander Neckam handelt es sich um ehrgeizige gelehrte Kompilationen mit enzyklopädischem Charakter, in denen die Memorabilien und Merkwürdigkeiten unter den jeweils geltenden Ordnungsprinzipien aufgezählt und eingeordnet werden. Das gleiche Material ist in Konrads Reisebrief auf ganz andere Weise kontextualisiert. Sofort nach Erwähnung seiner Ankunft in Neapel berichtet Konrad von fünf Wunderwerken Vergils (194,19–195,1: 14[i−iv]–15[i]), und gegen Ende des Briefs trägt er drei weitere nach (196,18–28: 23[i−iii]). Dazwischen zählt er die letzten beschriebenen Stationen seiner Reise auf, die ihn an die Westküste Süditaliens und an die Ostküste Siziliens entlang von Neapel bis Syrakus geführt hat. Es fällt auf, in wie hohem Maße diese Einträge das Bild einer gefährlichen und bedrohlichen Landschaft zeichnen. Das gilt sowohl für den Reisenden selbst wie auch für die berichteten mythologischen Ereignisse. An der Meerenge von Messina hat Konrad große Angst: Scillam et Caribdim non sine timore magno transivimus, quem numquam alicui contigit sani corporis homini sine formidine locum pertransire (195,5–7 – »An Scylla und Charybdis kamen wir nicht ohne große Angst vorbei, denn hier ohne Schrecken zu passieren, ist noch keinem gesundem Menschen gelungen«). Am locus amoenus an den Hängen des Ätna weiß er von dem großen Spalt in der Erde zu berichten, von grauenvoller Finsternis erfüllt (195,22f.: Est ibidem scissura terre non minima, quam horrendarum occupat obscuritas tenebrarum), wo Pluto hervorgesprungen sein sollte, um Proserpina zu rauben. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Teil des Textes der unheimliche Motivbereich des Unterirdischen und des Höhlenhaften, der vornehmlich aber keineswegs ausschließlich mit den Vulkanlandschaften um Vesuv und Ætna und mit den phlegräischen Feldern bei Neapel assoziert ist. In 26
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den letzten Abschnitten des Reisebriefs, noch vor der abschließenden Beschreibung der unterirdischen Stadt im Monte Barbaro (23 (v) – 196,37–43), evoziert Konrad die Feuer- und Schwefelinsel Ischia oder Iscla, von der behauptet wird, daß der von Aeneas selbst benutzte Eingang in die Unterwelt dort sei. Dort sei auch noch heute, so behaupten sie, der ›Ort der Strafen‹ (196,33 – loca penalia) und dort verkehren die Seelen der Verdammten in der Gestalt von schwarzen Vögeln (23[iv], 196,29–36). Ohne Befangenheit schreibt der erwählte Bischof von Hildesheim an sein Domkapitel über die Verquickung antiker und christlicher Vorstellungen von der Unterwelt im Volksglauben. Das gleiche gilt für seine Behandlung der zwei Heiligenlegenden (19(iii), 22). In der einen legt Konrad auf Grund der biblischen Episode vom Schlangenwunder des heiligen Paulus auf Malta (Act. 28, 1–6) dar, warum die Sarazenen, die auf Capri wohnen, nun gegen Giftschlangen gefeit sind (196,1–17). In der anderen wird erzählt, wie sizilianische Sarazenen mit Hilfe der Schleier der heiligen Agathe den gefährlichen Ausbrüchen des Vulkans Ätna Einhalt geboten (195,24–32). Von christlichen Heiligen erwirkte Wunder kommen hier der nichtchristlichen Bevölkerung zugute. Gerade hat Konrad den Berg Ætna als Schmiede der Götter bezeichnet, wo die Blitze Jupiters hergestellt wurden (19[i], 195,14–21), und nun bewirkt die magische Macht der Reliquie die Verbannung der bedrohlichen Schmiede des Gottes Vulkanus vom sizilianischen Festland auf eine der Küste vorgelagerte Insel, wo sie sich noch befindet, wie das einfache Volk noch glaubt: Unde idem scopulus vulgo Vulcanus appellatur, eo quod faber Iovis Vulcanus credatur a simplicibus se ab Ethna ad eundem scopulum contulisse (195,31–32). Auf solche Weise wird die Ablösung der antiken Mythogie durch das volkstümliche Christentum in der synkretistischen Kultur des mittelalterlichen Siziliens von Konrad dargestellt. Im Gesamtbild ergibt sich aus seinem Brief die stilisierte Darstellung einer Landschaft, die seit der Antike wegen ihrer gefährlichen Nähe zur Unterwelt berüchtigt war, und einer Kultur, wo die Menschen in einer unheimlichen Umgebung leben, durch Naturgewalten und Plagen bedroht. In dieser Welt haben die Heiligen die Funktion, mit ihren magischen Kräften das ihnen anvertraute Volk zu schützen, und hier beschützt auch Vergil, einem Stadtheiligen ähnlich, sein Neapel gegen Fliegen (14(iii)), Schlangen (23(i)), faules Fleisch (23(ii)) und Vesuvausbrüche (23(iii)), aber auch gegen jede feindliche Einnahme der Stadt (14(i)). Bei den späteren schriflichen Quellen und auch bei dem früheren Johannes von Salisbury fehlt bei der Auflistung der vergilschen Merkwürdigkeiten ein solches Gesamtbild, wie wir es hier zu skizzieren versucht haben, völlig. Nur bei Gervasius von Tilbury kann auch von einer gewissen Kontextualisierung gesprochen werden. Er erzählt verstreut im Werk vieles, was auf seinen Aufenthalt im Königreich Sizilien, wahrscheinlich im königlichen Dienst in den 1180er Jahren, zurückgeht, aber auch bei ihm ergibt sich nicht die Art von Gesamtbild,
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das sich aus dem Texttyp Reisebrief ergibt.27 Es läßt sich heute wohl nicht mehr bestimmen, wie viel von dem, was Konrad hier mitteilt, auf schriftliche oder mündliche Quellen, auf eigene Beobachtungen oder gar auf eigene Erfindung zurückgeht. Es kann aber kaum bezweifelt werden, daß der Brief ein Nebenergebnis der Reise war, die Konrad in der ersten Hälfte des Jahres 1196 unternahm, und sein Inhalt hängt, auf welche Weise auch immer, mit den damals und dort erworbenen Kenntnissen zusammen.
IV In ihren Beschreibungen der Wunderwerke Vergils begnügen sich Konrad und Gervasius nicht damit, das zu berichten und weiterzugeben, was ihnen gezeigt und erklärt worden ist. Sie gehen darüber hinaus in ihrem wohlwollenden Interesse daran und in ihrem offensichtlich überzeugten Glauben an die Wirksamkeit der Vergilschen Magie. Im Falle Konrads manifestiert sich das am deutlichsten in der Episode der Zerstörung der Stadtmauern von Neapel, die der Kanzler selber auf Befehl Heinrichs VI. ausführen ließ, um eine Wiederholung der Situation vom Jahre 1191 zu verhindern, als die Stadt dem Kaiser erfolreich Widerstand leistete. Konrad berichtet: Non profuit civibus illius civitatis eiusdem ymago, in ampulla vitrea magica arte ab eodem Virgilio inclusa, artissimum habente orificium, in cuius integritate tantam habebant fiduciam, ut eadem ampulla integra permanente nullum posset pati civitas detrimentum. Quam ampullam sicut et civitatem in nostra habemus potestate et muros destruximus, ampulla integra permanente. Sed forte, quia ampulla modicum fissa est, civitati nocuit. (194,21–26) (›Den Bürgern dieser Stadt nützte nicht das Bild, das von Vergil in einer gläsernen Ampulle mit magischer Kunst eingeschlossen war und einen sehr engen Zugang hatte. Die Einwohner setzten auf ihre Unversehrtheit ein so großes Vertrauen, dahingehend, daß die Stadt keinen Schaden erleiden könne, so lange diese Flasche unbeschädigt bleibe. Wir haben diese Ampulle und ebenso die Stadt in unserer Hand. Die Mauern haben wir abreißen lassen. Die Flasche blieb unzerstört. Aber vielleicht schadete die Ampulle der Stadt, weil sie einen kleinen Sprung hatte.‹)
Es ist dem Kanzler also ein Bedürfnis, die andauernde Wirksamkeit des Wunderwerkes auch dort in Schutz zu nehmen, wo sie durch seine eigene militärische Tätigkeit in Frage gestellt worden ist. Nicht ausgesprochen, aber aus dem hier Zitierten zu schließen, wäre seine Überzeugung, daß der erfolgreiche Widerstand der Stadt Neapel im Jahre 1191 dem damals noch unversehrten Zustand des Stadtmodells in der Ampulle zu verdanken sei.
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Gervase, Otia [Anm. 22], S. xxviii−xxix und Register unter ›Sicily‹.
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Noch deutlicher als bei Konrad wird dieser Glaube an die Wirksamkeit der Vergilschen Magie von Gervasius von Tilbury ausgesprochen, am deutlichsten am Ende seiner Geschichte vom englischen Gelehrten, der mit Erlaubnis des sizilianischen Königs Roger II. (also vor 1154) das Grab Vergils öffnet und die antike Handschrift der ars notaria dort entdeckt und mitnimmt: Foditur locus, et effoditur post longos labores tumulus, in quo inuenitur continuum corpus Virgilii, et ad capud liber in quo ars notaria erat inscripta, cum aliis studii eius caracteribus. Leuatur puluis cum ossibus, et liber a magistro extrahitur. [...] Asportato ergo libro solo, magister abiit, et nos quedam ex ipso libro per uenerabilem Johannem Neapolitanum cardinalem, tempore pape Alexandri, excerpta uidimus, et probari uerissima rerum experientia fecimus.28 (›Die Stätte wurde ausgegraben, und nach langwierigen Arbeiten wurde das Grab freigelegt, und in ihm wurde der unversehrte Leichnam von Vergil gefunden, und zu seinem Haupt ein Buch, worin die ars notaria niedergeschrieben war, zusammen mit anderen Zeichen, seine Kunst betreffend. Der Staub mit dem Gebeine wurde entfernt, und der Meister nahm das Buch zu sich. [...] Der Meister ging also fort, und nahm nur das Buch mit, und zur Zeit von Papst Alexander sahen wir einige Auszüge aus demselben Buch, die dem ehrwürdigen Kardinal Johannes von Neapel zu verdanken sind, und wir haben ihre Wahrheit durch die unfehlbarsten Experimente geprüft und nachgewiesen.‹)
Indem Gervasius eine unverblümte Neugierde an den Tag legt und den Wunsch bekundet, ein bekanntes Werk der magischen Literatur kennenzulernen und auszuprobieren,29 geht er weiter als Konrad, der die Wirksamkeit des Stadtmodells in der gläsernen Ampulle bespricht, als ob es eine Heiligenreliquie wie die Schleier der heiligen Agathe wäre. Aber beide Episoden belegen deutlich eine Aufgeschlossenheit gegenüber der magischen Kunst, die sich auf die unvergleichliche auctoritas des Dichters Vergil beruft und auf diese Weise eine gewisse ›humanistische‹ Legitimierung anstrebt. Wie verbreitet diese Haltung gegenüber der weißen Magie in den Jahrzehnten um 1200 war, kann hier nicht erörtert werden. Es ist zu betonen, daß es sich immerhin um die Zeugnisse von zwei reisenden Mitgliedern der klerikal gebildeten Führungsschicht handelt, die sich 1190 bzw. 1196 in Neapel aufhielten, und deren Berichte erstaunliche Ähnlichkeiten aufweisen. Es entzieht sich unserer Kenntnis, ob andere gelehrte Menschen in ihren Kreisen auch so dachten. Der Kleriker, Arzt und Vergilkenner Peter von Eboli, der Neapel gerade in 28
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Gervase, Otia [Anm. 22], S. 802–805. Besonders auffallend an dieser Episode bei Gervasius ist die motivliche Verwandtschaft mit der Vergil- und Magnetbergepisode im Reinfried von Braunschweig (hg. von Karl Bartsch, Tübingen 1871 [StLV 109]), V. 21314–21713. Dazu jetzt Peter Strohschneider, Sternenschrift. Textkonzepte höfischen Erzählens, Wolfram-Studien 19 (2006), S. 33–58, hier S. 37–47. Lynn Thorndike, A History of Magic and Medical Science, 2. Bd., London 1923, S. 279–289, beschreibt den wichtigen Text der weißen Magie, der im Spätmittelalter als die ars notoria oder notaria bekannt war, und der den Anspruch erhob, auf eine göttliche Offenbarung an Salomo zurückzugehen.
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diesen Jahren gut kannte, erwähnt die Wunderwerke überhaupt nicht, obwohl er bei seiner Schilderung der Belagerung von Neapel Gelegenheit dazu gehabt hätte.
V Nicht alle Schriftsteller, die auf der Liste der frühen Texte und Autoren stehen, die den Magus Vergil erwähnen, stehen diesem Phänomen positiv gegenüber. Das einzige Beispiel eines volkssprachlichen Textes unter diesen frühen Zeugen ist Wolframs ›Parzival‹.30 Das bezieht sich auf die bekannte Stelle im 13. Buch, wo der Magus von Neapel als Vorfahre oder Verwandter des Zauberers Clinschor im Bericht der alten Königin Arnive an Gawan angeführt wird: sıˆn lant heizt Terre de Laˆbuˆr: von des naˆchkomn er ist erborn, der ouch vil wunders het erkorn, von Naˆpels Virgıˆlius. Clinschor des neve warp alsus. Caˆps was sıˆn houbetstat. (Parzival, 656,14–19)31
Dem Leser der Studien von Comparetti und Spargo kann es leicht entgehen, daß es hier um etwas anderes geht als bei Konrad oder Gervasius. Der ›Parzival‹ gehört zwar zu den Texten, die den frühen Literarisierungsprozess der Motive spiegeln, aber auf eigene Weise. Er berichtet nichts Genaueres von Vergils Wunderwerken; stattdessen bietet er einen frühen Reflex auf das Material und er scheint auf Kenntnisse anzuspielen, die als bekannt vorausgesetzt werden. An einer markanten Stelle in der Erzählung wird der Name Vergil fast beiläufig, ohne jede narrative Notwendigkeit und ohne jeden Quellenbezug, von Wolfram eingeführt. Wie bei den anderen intertextuellen Verweisen im späteren Teil des ›Parzival‹-Romans (z. B. in der Einführung vom Priester Johannes [822,23–27] oder in der Übernahme der Schwanrittersage [824,1–826,30]), so auch in diesem Fall, können wir nicht mit Sicherheit sagen, was der primäre Rezipientenkreis des Gralromans vom Magier Vergil schon wußte. Deswegen sollen nun, im Hinblick auf diese Frage und auf den Reisebrief Konrads, zwei Aspekte dieser Stelle diskutiert werden: erstens die Bedeutung der genauen geographischen Bezeichnung der Heimat Vergils und Clinschors und zweitens die Assoziation von Vergil mit dem eindeutig negativ gezeichneten Nekromanten Clinschor.32 30 31
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Comparetti [Anm. 20], S. 22–29; Spargo [Anm. 20], S. 15. Text zitiert nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival, hg. von Karl Lachmann, revidiert u. kommmentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt 1994 (Bibliothek des Mittelalters, 8/1–2). Zu Clinschor und Vergil siehe Susan Tuchel, Macht ohne Minne. Zu Konstruktion
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Der römische Dichter Vergil dürfte Wolfram aus den vielen Nennungen bei Heinrich von Veldeke als Eneas-auctoritas bekannt gewesen sein. Aber Wolframs Vergil, »der auch viele Wunderwerke schuf«, wird nicht ausdrücklich an dieser Stelle als Dichter bezeichnet, und bei Veldeke wird Vergil weder speziell mit Neapel noch mit solchen ›Wunderwerken‹ in Beziehung gebracht. Genau genommen können wir also aus dieser einen Nennung des Namens Vergil im Text von ›Parzival‹ nicht schließen, daß Wolfram den Zauberer und Vorfahren Clinschors mit dem römischen Dichter identifizierte. Andererseits kann es keinen Zweifel darüber geben, daß Wolfram an den gleichen Vergil dachte, der bei Konrad von Querfurt vorkommt. Das wird durch die bemerkenswert feste Lokalisierung der Herkunft des Zauberers Clinschor in Vergils historischer Landschaft unterstrichen. Die in Arnives Bericht genannten Namen – Neapel (656,17), Capua (656,19), die Terra di Lavoro (656,14), Sizilien (656,25) und Caltabellotta (657,13) – bezeichnen Städte, Burgen und Territorien, die den Mitgliedern der staufischen Führungselite am Ende des 12. Jahrhunderts gut bekannt und von großer politischer Aktualität waren. Schon dadurch unterscheiden sie sich von den nicht genau festlegbaren, eher andeutungsreichen, fabulösen aventiure-Handlungsräumen der Parzival- und Gawanbücher im allgemeinen, wie etwa Pelrapeire, Schampfanzun oder Kanvoleis. Mit den realen italienischen Ortsnamen sind eher vergleichbar die flüchtig erwähnten, aber realen Ortschaften in Friaul und in der windischen Mark, die in Trevrizents Ritterleben eine Rolle spielten (›Parzival‹, 496,15–21),33 aber auch die deutschen, meist fränkischen, Burg- oder Stadtnamen wie Wertheim, Abenberg, Trüdingen und Dollnstein, von denen man vermutet, daß sie in den meisten Fällen mit Wolframs Gönnerschaftsverhältnissen zusammenhängen.34 Im folgenden gehe ich etwas näher auf die gemeinsamen Erfahrungen von Konrad von Querfurt und den bei Wolfram genannten oder angedeuteten Mitgliedern der adligen Führungselite ein. Uwe Meves hat unsere Aufmerksamkeit auf die Beziehungen gelenkt, die zwischen Mitgliedern des fränkischen Adels bestanden und die sich in vielen Fällen aus der Zahl der Urkunden erschließen lassen, bei denen sie gemeinsam als Zeugen auftraten, vor allem am staufischen Hofe. Es ergibt sich daraus, daß
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und Genealogie des Zauberers Clinschor im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 231 (1994), S. 241–257, hier S. 251–254; Timothy McFarland, Clinschor. Wolfram’s Adaptation of the ›Conte du Graal‹: the Schastel marveile Episode, in: Chre´tien de Troyes and the German Middle Ages, hg. von Martin H. Jones und Roy Wisbey, Cambridge 1993, S. 277–294, hier S. 293. Fritz Peter Knapp, Baiern und die Steiermark in Wolframs ›Parzival‹, PBB 110 (1988), S. 6–28. Siehe die Zusammenfassung des Materials zum sog. fränkischen Gönnerkreis Wolframs bei Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, Stuttgart 82004 (Sammlung Metzler 36), S. 15–19.
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Rupert von Durne, der Herr der Burg Wildenberg, und Graf Poppo von Wertheim zu den wichtigsten Mitgliedern des Vertrautenkreises um Heinrich VI. zählten. Sie gehörten zu einem Personenkreis, der nach Peter Johanek »die staufische Herrschaft in dieser Region mittrug, demnach auch zum Personenverband Stauferhof zu zählen ist.«35 Konrad von Querfurt, seit 1194 schon als Kanzler eine zentrale Figur des kaiserlichen Hofes, war nach seiner Erwählung 1198 und seiner endgültigen Bestätigung im Jahre 1200 bis zu seiner Ermordung im Jahre 1202 Bischof von Würzburg und Herzog, eine wichtige Figur in der Regionalpolitik Mainfrankens. Mit Rupert von Durne und mit dem Grafen Poppo von Wertheim hatte Konrad als Territorialnachbar und als Bischof zu tun, und er hatte auch mit ihnen vorher am Hofe Heinrichs VI. gemeinsam geurkundet.36 Rupert von Durne und Poppo von Wertheim waren im Gefolge Heinrichs VI. beim Romzug zur Kaiserkrönung und bei der mißlungenen Belagerung von Neapel im Jahre 1191. Rupert von Durne war wie Kanzler Konrad bei der Krönung Heinrichs VI. in Palermo am 25. Dezember 1194 anwesend, zu einer Zeit, als die Burg Caltabellotta im Mittelpunkt des politischen Geschehens stand.37 Nicht nur für Konrad von Querfurt also, sondern auch für Rupert von Durne und für Poppo von Wertheim, um nur zwei Mitglieder des mainfränkischen Adels um 1200 zu nennen, gehörten die von Wolfram angeführten ClinschorStätten in Italien genau so zum Raum der eigenen Erfahrung wie Wildenberg oder Abenberg. Auch aus diesem Grunde ist es wohl unmöglich, eine einzelne schriftliche oder mündliche Quelle für Wolframs Kenntnis der Vergilsage zu bestimmen. Es ist möglich, wenn auch unwahrscheinlich, daß der 1196 nach Hildesheim gesandte Reisebrief in Konrads fränkischer Umgebung in diesen Jahren in irgendwelcher Form in Umlauf war. Es ist ebenfalls gerade noch möglich, aber aus zeitlichen Gründen sehr unwahrscheinlich, daß die beiden Texte, die die Vergilsage erst in den Jahren nach der Kaiserkrönung Ottos IV. verbreiteten, Arnolds Chronik und die ›Otia imperialia‹ des Gervasius, für Wolfram in der Abfassungszeit der späteren Gawanbücher, wohl in den Jahren 35
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Uwe Meves, Die Herren von Durne und die höfische Literatur zur Zeit ihrer Amorbacher Vogteiherrschaft, in: Die Abtei Amorbach im Odenwald. Neue Beiträge zur Gechichte und Kultur des Klosters und seines Herrschaftsgebietes, hg. von Friedrich Oswald und Wilhelm Störmer, Sigmaringen 1984, S. 113–143, hier S. 115– 121; Johanek [Anm. 5], S. 215. Siehe auch Wilhelm Störmer, Staufische Reichslandpolitik und hochadelige Herrschaftsbildung im Mainviereck, in: FS Friedrich Hausmann, Graz 1977, S. 505–529. Meves [Anm. 35], S. 120–121. Csendes, Heinrich VI. [Anm. 1], S. 81, 104; Meves [Anm. 35], S. 120–121. Zum Kreis um Heinrich VI. siehe ferner Ingeborg Seltmann, Heinrich VI. Herrschaftspraxis und Umgebung, Erlangen 1983 (Erlanger Studien 43), zum engsten Beraterkreis Heinrichs VI., S. 117–119; zu Rupert von Durne, S. 125–129; zu Poppo von Wertheim, S. 162.
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nach 1204, zur Verfügung standen. Es ist also Meves beizustimmen, wenn er eine mündliche Quelle für die wahrscheinlichste hält, wobei sowohl Rupert von Durne wie auch Konrad von Querfurt selbst, oder auch Leute aus ihrer Umgebung, in Frage kommen.38 Nach vorherrschender Meinung ist die Komposition der späteren Gawanbücher in die Jahre 1205–1210 zu setzen, zu einer Zeit also, als Konrad von Querfurt schon tot war und als Wolfram sich mindestens zeitweise in der Umgebung des Landgrafen Hermann von Thüringen aufhielt. Hermann, der an den Italienreisen 1191 und 1194–95 nicht teilnahm, gehörte mit Konrad von Querfurt zu den führenden Persönlichkeiten des Kreuzzugs von 1197–1198.39 Im September 1201, »vor oder nach dem Bamberger Hoftage führt Konrad in verdächtiger Häufigkeit Gespräche mit dem Landgrafen Hermann von Thüringen, die König Philipp – gewiß mit Recht – als antistaufische Konspiration deutet.«40 Auf die Nachricht von der Ermordung Konrads im Dezember 1202 reagierte Hermann mit Bestürzung und wollte an die Unschuld Philipps nicht glauben.41 Dem Abfall Konrads von Philipp, der sich kurz vor seinem Tode und vielleicht unter Druck von Innozenz III. vollzog, folgte Hermanns eigener Parteiwechsel im folgenden Jahr 1203.42 Zusammenfassend dürfen wir sagen, daß Konrads außerordentlich ereignisreiche Karriere ihn nicht nur mit den Großen in Kirche und Reich zusammenführte, sondern auch gerade mit den Mitgliedern des deutschen Adels, auf die im ›Parzival‹ angespielt wird. Andererseits dürfte es klar sein, daß einige der wichtigeren von Wolframs ersten Zuhörern oder Lesern Neapel und Sizilien aus eigener Erfahrung kannten und daß andere unter ihnen, wie z. B. Landgraf Hermann, Konrad von Querfurt und andere deutsche Italienreisende der 1190er Jahre gut kannten. Es ist bemerkenswert, daß die beiden frühen Zeugnisse zum Magier Vergil im deutschsprachigem Raum von zwei Autoren stammen, deren Lebenskreise sich mindestens zeitweise berührten und die, bei aller Achtung der Unterschiede im Rang und in ihren Tätigkeitsfeldern, im gewissen Sinne eine gemeinsame Bekanntschaft hatten. An der zitierten ›Parzival‹-Stelle ist vor allem die Assoziation von Vergil mit dem eindeutig negativ gezeichneten Zauberer Clinschor wichtig, der durch seine Beherrschung der schwarzen Magie den Menschen Leid zufügt. Das steht in Gegensatz zu dem von Konrad (und den anderen frühen Berichterstattern) be38 39 40
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Meves [Anm. 35], S. 120. Csendes, Philipp von Schwaben [Anm. 1], S. 77, Anm. 47. Wendehorst [Anm. 1], S. 192–193, nach dem Zeugnis der ›Reinhardsbrunner Chronik‹ (Chronica Reinhardsbrunnensis, hg. von O. Holder-Egger, MGH SS 30, Hannover 1896, S. 490–656, hier S. 565). Auch nach der ›Reinhardsbrunner Chronik‹ [Anm. 42], S. 566. Vgl. auch Wendehorst [Anm. 1], S. 193–194, und Bach [Anm. 1], S. 79. Winkelmann, König Philipp von Schwaben [Anm. 1], S. 267–271, zum Abfall Konrads von Philipp und zu seiner Ermordung; siehe auch Bach [Anm. 1], S. 75–79.
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tonten positiven, menschenfreundlichen Charakter von Vergils Magie. Die Vertreterin der weißen Magie in ›Parzival‹ ist die gelehrte Cundrie la surziere, die mit der Sternkunde (›Parzival‹, 782,1–30) und mit der Heilkunst (›Parzival‹, 579,23–30) vertraut ist und ihre Kenntnisse zum Wohlergehen der Menschen einsetzt. Ihre Tätigkeit wird von Wolfram positiv dargestellt und von der nekromantischen Magie Clinschors (›Parzival‹, 617,11–16) strikt getrennt. Arnive behauptet zwar nicht, daß Clinschors schwarze Kunst, die er sich in der östlichen Stadt Persida angeeignet hat (›Parzival‹, 657,27–658,2), mit der Magie Vergils gleichzusetzen sei, aber die verwandtschaftliche Beziehung zwischen beiden Zauberern und die Erwähnung von Vergil überhaupt legen eine solche Identifizierung nahe. Im Hinblick auf diesen deutlichen Gegensatz stellt sich die Frage, warum Wolfram sich vom positiven Vergilbild der anderen Zeugen distanzierte und was er mit dieser Assoziation Vergils mit Clinschor beabsichtigte. Indem Wolfram die damals wichtige Unterscheidung zwischen der Nekromantik und der heilsamen und schützenden Magie verwischt, scheint er den teufelsbündlerischen Magier Vergil der spätmittelalterlichen Tradition, wie er zum Beispiel bei Jansen Enikel um 1280 in Erscheinung tritt, anzudeuten und vorwegzunehmen.43 Was Wolfram mit dieser Nennung von Vergil im negativen Kontext beabsichtigte und wie die Stelle zu kommentieren sei, ist nicht leicht zu bestimmen. Aber die Fragen lassen sich etwas präziser fassen, wenn wir es für wahrscheinlich halten, daß Wolfram und das ›Parzival‹-Publikum der ersten Jahre mit der Gestalt des Zauberers Vergil über Konrad oder über andere Informanten vertraut waren. Wenn zwei Möglichkeiten hier zur Diskussion gestellt werden, so liegt der Unterschied zwischen beiden in der positiven oder negativen Konnotation, die man der Vergilanspielung beimessen möchte. Erstens ist es möglich, daß Wolfram diese »mythische Spitze«44 und Genealogie, mit denen er seinen Clinschor ausstattete, durchaus als Hinweis auf eine menschenfreundliche Tradition der Magie verstanden wissen wollte, die in des Zauberers süditalienischer Heimat von seinem Verwandten praktiziert wurde. Nachdem Clinschor die Schmach der Kastration erlitten hat, vermag er seine Rachegelüste und seinen Haß auf die Menschen mit den Mitteln der in Persida studierten schwarzen Kunst in die Tat umzusetzen. Wie sein Vorfahr Vergil stellt er erstaunliche »Wunderwerke« her, nur dienen diese nicht dem Wohle, sondern dem Unheil und den Leiden der Menschen. Durch Clinschors Wen43
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Spargo [Anm. 20], S. 23, Tuchel [Anm. 32], S. 253–257; Petzoldt [Anm. 22], S. 552–556. Die Rolle Vergils bei der Vermittlung von ›Zabulons Buch‹ an Klingsor im ›Wartburgkrieg‹ gehört in die gleiche Tradition wie die oben zitierte Stelle von Gervasius; hier sind Klingsor und Vergil noch keine vollwertigen Teufelsbündler. Vgl. Burghart Wachinger, Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, München 1973 (MTU 42), S. 31–32. Wolfgang Mohr, König Artus und die Tafelrunde, in: Wolfgang Mohr, Wolfram von Eschenbach. Aufsätze, Göppingen 1976 (GAG 275), S. 170–222, hier S. 202.
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dung zur Nekromantik wird das Erbe seines Vorfahren pervertiert, seine Abtrünnigkeit unterstrichen und der Grad seiner Apostasie verdeutlicht. Zweitens soll aber andererseits die Bedeutung der Unterscheidung zwischen guter und böser Magie für die Interpretation dieser Stelle nicht überschätzt werden. Die Clinschordarstellung im ›Parzival‹ nimmt eindeutig gegen die Nekromantik Stellung, aber auch gegen die magische Kunst, die solche Wunderwerke schafft und einsetzt – mit magica arte und mit magicis incantationibus, wie es in Konrads Brief (194,22; 194,26) heißt. (Die Heilkunst und die Astrologie, wie sie Cundrie praktiziert, werden im Zusammenhang mit Clinschor nicht erwähnt und stehen hier nicht zur Debatte.) So weit die Quellenlage ein Urteil darüber erlaubt, war in Wolframs weiterer Umgebung in der Adelsgesellschaft Frankens und Thüringens um 1200 die hochprofilierte Figur Konrads von Querfurt das hervorragende Beispiel eines Klerikers, der seine Aufgeschlossenheit gegenüber der Magie durch die Berufung auf den Namen des großen »Philosophen« Vergil (Reisebrief 194,20) legitimieren wollte. Alle Schlußfolgerungen darüber, wie Wolfram auf die Person Konrads reagierte, müssen Spekulation bleiben. Aber man darf trotzdem die Möglichkeit in Erwägung ziehen, daß Wolfram hier an die an der Magie interessierten Kleriker seiner eigenen Zeit mit Mißbilligung dachte,45 und auch daß diese ›Parzival‹Stelle als ein für die Zeitgenossen verständlicher halbversteckter Hinweis auf Konrad von Querfurt zu lesen sei. Es ist immerhin möglich, aber doch recht unwahrscheinlich, daß Wolfram das Werk des Gervasius von Tilbury kannte. Wenn wir der oben zitierten Aussage von Gervasius in bezug auf die Entdeckung der ars notaria im Grabe Vergils, et probari uerissima rerum experientia fecimus Glauben schenken, war Gervasius tatsächlich nach eigenem Zeugnis ein phaffe der wol zouber las (›Parzival‹, 66,4). Das kann man von Konrad von Querfurt streng genommen nicht behaupten; die Gebeine und Werke Vergils haben für ihn eher den Rang wundertätiger Reliquien, deren Kräfte und Auswirkungen er mit Bewunderung und Erstaunen erlebte. Von der ars notaria oder anderen Texten spricht er nicht, und die Quellen zu seinem Leben und zu seiner politischen Tätigkeit bieten keine Anhaltspunkte für solche Interessen.46 In den zwei aktiven Jahren seiner Würzburger Amtszeit (1200–1202) hielt sich Konrad viel in Würzburg auf; als tatkräftiger Territorialpolitiker und erst recht durch seinen Seitenwechsel im Thronstreit kurz vor Philipps Ermordung machte er sich Feinde unter der staufisch gesinnten Ministerialität und im Adel. Ob Wolfram und andere Zeitgenossen Konrads »schillernden Charakter«47 so negativ wie die Mehrzahl der neuzeitlichen Geschichtsschreiber beurteilten, läßt sich allerdings kaum entscheiden.48 45 46 47 48
McFarland [Anm. 32], S. 293–294. Wendehorst 1962 [Anm. 1], S. 196–200. Alfred Wendehorst, Konrad I von Querfurt, NDB 12 (1980), S. 504–505. Typisch für die früh etablierte negative Beurteilung ist die z. T. überholte, aber sehr
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VI Es dürfte klar sein, daß jeder Versuch, den Reisebrief Konrads von Querfurt als Zeugnis eines mittelalterlichen Humanismus einzuordnen, problematisch ist. Am entschiedensten wollte Spargo Konrad als geistiger Vorläufer der Renaissance sehen.49 Einige Jahre vorher wertete Ernst Kantorowicz Konrads Reisebrief als Beweisstück für die Beflügelung der bisher nördlich beschränkten Phantasie der Deutschen der Stauferzeit durch die Begegnung mit Antike und Mittelmeer.50 Aber Konrad Burdach setzte sich nicht durch mit seinem Versuch (1902), den Kanzler Konrad, der nach dem Zeugnis der ›Magdeburger Schöppenchronik‹ der Organisator des Magdeburger Weihnachtsfestes von 1199 war, zum wichtigsten Anreger, wenn nicht gar zur Hauptquelle für das politische Denken Walthers von der Vogelweide zu machen.51 Unter den frühen kritischen Stimmen war Ferdinand Gregorovius, der es »höchst ergötzlich« fand, den Brief als Zeugnis von der »erhitzten Einbildung« Konrads zu lesen.52 Für Pasquali, der zwischen 1937 und 1941 Comparettis Standardwerk neu herausgab, war Konrad von Querfurt nichts anderes als ein Lügner und Prahler.53 Angesichts der Vielfalt dieser eher impressionistisch anmutenden Urteile ist es vielleicht interessanter, uns die Knotenpunkte klerikaler oder laienkultureller Kommunikation noch einmal zu vergegenwärtigen, auf die Konrads Reisebrief ein erhellendes Licht wirft und die wir nach drei Zentren seines Wirkens abkürzend mit Hildesheim, Neapel und Würzburg bezeichnen können. Als Bischof von Hildesheim schrieb Konrad 1196 an seinen Domprobst und ehemaligen Lehrer Hartbert; nach 14 weiteren Jahren findet dieser Brief Aufnahme in die Chronik Arnolds von Lübeck. Sein Weg führte wohl über die klerikalen Kreise, die in der Umgebung des welfischen Hofes aktiv waren. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß Gervasius von Tilbury 1214 den Hildesheimer Kanoniker Johannes Markus bat, seine ›Otia imperialia‹ dem Kaiser Otto IV. zu überreichen.54 In Neapel oder in seiner Umgebung im Jahre 1196
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lesenswerte Charakteristik von Heinrich Fr. Otto Abel, König Philipp der Hohenstaufe, Berlin 1852, S. 158–163. Spargo [Anm. 20], S. 322: »If Conrad had lived in the sixteenth instead of the twelfth century, his name would now be a byword.« Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927, S. 24–25, 76, 311. Konrad Burdach, Der mythische und der geschichtliche Walther, Neudruck in: Walther von der Vogelweide, hg. von Siegfried Beyschlag (WdF 112), Darmstadt 1971, S. 14–83, hier S. 43–53. Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 4. Bd., Stuttgart 1862, S. 632–633. Pasquali in Comparetti [Anm. 20], S. xxii−xxiii: »egli e` testimonio pochissimo credibile, e` con ogni verosimiglianza un bugiardo e un millentatore.« Gervase, Otia [Anm. 22], S. xl, 824–827.
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kommt Konrad einerseits mit dem hochgelehrten Peter von Eboli zusammen und spielt als Gönner bei der Fertigstellung seiner Verschronik eine entscheidende Rolle. Andererseits interessiert ihn, auf ganz anderem Niveau, die Lokalüberlieferung zur antiken Mythologie und vor allem das Sagenmaterial um den Zauberer Vergil. Es handelt sich hier weitgehend um den gleichen Stoff, von dem Gervasius von Tilbury später behaupten wird, daß er ihn in Neapel im Jahre 1190 zum Teil durch den Erzdiakon Johannes Pignatelli vermittelt bekam. Wir wissen nicht, ob Konrad auch mit Pignatelli zusammenkam, können es aber nicht ausschließen. Unklar bleibt auch, ob Konrad jemals Kontakt mit Gervasius oder mit anderen englischen Klerikern hatte und auch ob Gervasius tiefere Beziehungen zum sächsischen Kreis um Otto IV. unterhielt oder jemals in Sachsen war. Damit bleiben die Konturen des deutsch-englischen Klerikerkreises, der vielfach für den Literarisierungsprozess des Vergilmaterials verantwortlich gehalten wird, im Dunklen. Schließlich stehen, in der dritten für uns wichtigen Kommunikationsgemeinschaft, Konrads Beziehungen zu Mitgliedern des Laienadels im Umkreis des staufischen Hofes im Mittelpunkt. Unter Heinrich VI. wie später in den Jahren des Thronstreits hat Konrad als Kanzler und zuletzt in Würzburg mit Adligen und Fürsten zu tun, die auch im ›Parzival‹ erwähnt werden. Das ermöglicht eine nuancierte Kontextualisierung der Rezeption des ›Zauberer Vergil‹-Motivs in Deutschland und bietet ein Beispiel für die Beziehungen zwischen adligen Gönnern, Dichter und Publikum um 1200, von denen wir leider immer noch zu wenig wissen.55
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Ich möchte an dieser Stelle Carlotta Dionisotti für hilfreiche Gespräche und bereitwillig erteilte Auskünfte zur alt- und mittellateinischen Philologie herzlich danken.
Ricarda Bauschke
Johann von Neumarkt: ›Hieronymus-Briefe‹ Probleme von Epochengrenzen und Epochenschwellen am Beispiel des Prager Frühhumanismus Für Stefan Hartung (†)
August Buck vertritt in bezug auf den Begriff ›Humanismus‹ und dessen Verwendungsmöglichkeit als Epochenbezeichnung eine prominente Position, die oft positiv aufgenommen worden ist, zugleich aber eine Reihe von Problemen birgt.1 Seinen Überlegungen zufolge gibt es zwar nur eine Epoche, die als solche ›Humanismus‹ zu nennen wäre, nämlich die Periode, die einen umfassenden Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit markiert und seit Jacob Burckhardt als ›Renaissance‹ bezeichnet wird;2 es bliebe jedoch legitim, auch für andere historische Abschnitte von ›Humanismus‹ zu sprechen:3 Vielmehr meinen wir mit Humanismus im weiteren Sinn jeden Rückgriff, den der abendländische Geist auf seinen in der Antike liegenden Ursprung vollzieht, in der Absicht, dadurch an Weite und Tiefe zu gewinnen. Dieser Humanismus [...] ist ein Charakteristikum aller Epochen der abendländischen Geistesgeschichte, also auch des Mittelalters.
Einerseits unterscheidet August Buck also zwischen dem die Neuzeit inaugurierenden ›Humanismus‹ als Bildungsbewegung, welche den epochalen Wandel begründet, und einem allgemeiner verstandenen Humanismusbegriff als Stichwort für nahezu jede Form der Antikerezeption, andererseits leistet er aber dennoch einer Sinnentleerung der Epochenbezeichnung Vorschub; denn auch wenn er das Gegenteil behauptet: jede Verwendung des Schlagwortes ›Humanismus‹ für Phänomene mittelalterlicher Kultur suggeriert unwillkürlich, es würden in diesen kulturellen Äußerungen Konstituenten des Renaissance-Humanismus aktualisiert. In der Wahrnehmung des Historikers bleibt ›Humanismus‹ oder ›humanistisch‹ letztlich doch immer eine Reflexionskategorie, die eben nicht eine allgemeiner gefaßte humanistische Tendenz evoziert, sondern speziell 1 2
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August Buck, Gab es einen Humanismus im Mittelalter?, RF 75 (1963), S. 213–239. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, durchgesehen von Walter Goetz, Stuttgart 101976 (Körners Taschenausgabe 53). Zur Definition von ›Renaissance‹ vgl. Klaus W. Hempfer, Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ›Wende‹, in: Renaissance: Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur − Philosophie − Bildende Kunst, hg. von K. W. H., Stuttgart 1993 (Text und Kontext 10), S. 9–46. Buck [Anm. 1], Zitat S. 239.
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den rinascimento aufruft. − Die Frage, die sich in der Folge unmittelbar stellt, ist nun nicht etwa, ob es angemessen scheint, den Humanismusbegriff im Sinne von August Buck auszudehnen, sondern es bleibt vielmehr zu prüfen, ob ein weiter Humanismusbegriff für literaturhistorische Kategorisierungen praktikabel ist. Im konkreten Fall scheint seine Applikation auf Perioden außerhalb der Renaissance eher Nachteile als Vorzüge zu bringen. Die Schwierigkeiten, eine Epochengrenze zwischen Mittelalter und Renaissance zu ziehen,4 lassen sich an einem prägnanten Beispiel vorführen: dem Sonderfall des Prager Hofkanzlers Johann von Neumarkt. Die Art von Johanns literarischen Aktivitäten auf der einen Seite und seine Schaffenszeit auf der anderen führen mitten in die Problematik hinein, wie weit oder eng der Terminus ›Humanismus‹ bzw. ›humanistisch‹ gefaßt werden sollte, um als aussagekräftige Charakterisierung von Person und Werk zu fungieren. Johann von Neumarkt,5 um 1315 geboren, ist seit 1347 als Notar Karls IV. nachweisbar; er tritt als Secretarius und Hofkaplan auf und erscheint 1351 auch als Kanzler der Königin. 1352 wird er Protonotar. Seit Ende 1353 bis 1374, also über 20 Jahre (mit einer kleinen Unterbrechung 1364/65) bekleidet Johann schließlich das Amt des Hofkanzlers in Prag. Seine kirchliche Karriere verläuft aufgrund der Protektion durch Karl IV. ebenso geradlinig: über Pfründen in Neumarkt (1348/49), am Domkapitel in Breslau (1349), am Heilig-Kreuz-Stift Breslau (1351) und am Kollegiatsstift Glogau (1351)6 bis hin zu verschiedenen Bischofsämtern. Das Episkopat in Naumburg (Ernennung 16. 2. 1352) tritt Johann wegen Widerstands des Kapitels nicht an, er wird Bischof in Leitomischl (ab 9. 10. 1353) und später in Olmütz (Ernennung 23. 8. 1364); der Wechsel nach Breslau findet nicht mehr statt, da Johann noch im Jahr seiner Wahl zum dortigen Bischof verstirbt, und zwar am 24. Dezember 1380. Von Interesse für die hier aufgeworfene Epochenproblematik ist Johann von Neumarkt, weil er als Person des 14. Jahrhunderts zu früh datiert, um im Sinne eines chronologischen Epochenbegriffs7 als ›humanistisch‹ bzw. ›frühhumani4
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Siehe dazu Karlheinz Stierle, Renaissance − Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck, München 1987 (Poetik und Hermeneutik 12), S. 453–492. Grundlegende Informationen zu den Lebensstationen und dem literarischen Werk Johanns bietet noch immer die Monographie von Joseph Klapper, Johann von Neumarkt. Bischof und Hofkanzler. Religiöse Frührenaissance in Böhmen zur Zeit Kaiser Karls IV., Leipzig 1964 (Erfurter Theologische Studien 17). Einen schnellen Überblick ermöglicht Werner Höver, Johann von Neumarkt, 2VL IV, Sp. 686–695. Die nachfolgenden Daten und Fakten folgen der Zusammenstellung durch Höver. Für das Jahr 1353 kommt eventuell auch eine Pfründe in Prag in Frage, vgl. Höver [Anm. 5], Sp. 686. Zu den theoretischen Implikationen von chronologischem, strukturellem und peri-
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stisch‹8 zu gelten, seine Kontakte zu italienischen Frühhumanisten jedoch, durch die er mit den neuen kulturellen Strömungen in Verbindung kommt, ihn im Spiegel der Forschung zu einem deutschen Frühsthumanisten haben werden lassen. Obwohl die Positionen von Konrad Burdach, der in bezug auf den Prager Hofkanzler von ›Frühhumanismus‹ spricht,9 und Josef Klapper, der für Johann eine ›religiöse Frührenaissance‹ reklamiert,10 durch Werner Höver in Frage gestellt11 und von Benedikt Konrad Vollmann grundsätzlich revidiert worden sind,12 entfaltet die Humanismusorientierte Perspektive auf Johann, wie etwa Max Wehrli sie artikuliert, noch immer eine große Wirkungsmacht:13 Ohne die Pionierarbeit Johanns von Neumarkt wäre auch das einsame Gipfelwerk der böhmischen »Frührenaissance« und Wunder der spätmittelalterlichen Prosa überhaupt nicht denkbar: des Johannes von Tepl ›Streitgespräch des Ackermanns mit dem Tod‹.
Johann erscheint als Humanist erster Stunde, der nach italienischem Vorbild eine neue Gedankenwelt und ›moderne‹ Ausdrucksmöglichkeiten nach Böhmen zu übertragen sucht. Tatsächlich lassen sich enge Linien zwischen Johann und den Italienern ziehen. Im Gefolge Karls IV., an dessen Reisen Johann als Hofkanzler teilnimmt, gelangt er zweimal nach Italien: 1354/55 und 1368/69.14 Zudem unterhält Jo-
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petischem Epochenbegriff vgl. Burkhart Steinwachs, Was leisten (literarische) Epochenbegriffe? Forderungen und Folgerungen, in: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer, unter Mitarbeit von Friederike Hassauer u. a., Frankfurt a. M. 1985, S. 312–323. Siehe z. B. die zeitliche Abgrenzung durch Eckhard Bernstein, mit der er sein Handbuch zum deutschen Frühhumanismus beginnt: »Unter Frühhumanismus soll hier die Epoche etwa zwischen 1450 und 1480 verstanden werden.« − Eckhard Bernstein, Die Literatur des deutschen Frühhumanismus, Stuttgart 1978 (Sammlung Metzler 168), Zitat S. 1. Konrad Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation, Halle 1893, S. 85–87 u. 105– 107. Über Burdachs Positionsnahme handelt auch Arthur Hübner, Deutsches Mittelalter und italienische Renaissance, Zeitschrift für Deutschkunde 51 (1937), S. 225–239; wieder in: A. H., Kleine Schriften zur deutschen Philologie, hg. von Hermann Kunisch/Ulrich Pretzel, Berlin 1940, S. 198–210; wieder in: Der Ackermann aus Böhmen des Johannes von Tepl und seine Zeit, hg. von Ernst Schwarz, Darmstadt 1968 (WdF 143), S. 368–386, hier S. 370. Klapper [Anm. 5]. Höver [Anm. 5], bes. Sp. 693. Benedikt Konrad Vollmann, Johann von Neumarkt: Lateinischer und deutscher Stil, in: Mediävistische Komparatistik. Fs. für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller in Verbindung mit Susanne Köbele/Bruno Quast, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 151–162. Max Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1980, 21984 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1), Zitat S. 839. Die Italienreisen bespricht ausführlich Klapper [Anm. 5]. Das Referat der folgenden Daten und Fakten folgt Klapper und Höver [Anm. 5].
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hann Beziehungen zu zwei zentralen Figuren der italienischen Frührenaissance: Cola di Rienzo und Francesco Petrarca. Beide hat Johann persönlich kennengelernt, mit beiden hat er einen Briefwechsel geführt. Dem römischen Revolutionär Cola di Rienzo begegnet Johann zwischen 1350 und 1352 während dessen Exilhaft in Prag und auf Schloß Raudnitz; mit Petrarca kommt er 1354 in Mantua, also im Rahmen seines ersten Italienaufenthalts, zusammen. Vor allem Petrarca muß Johann nachhaltig beeinflußt haben, aber auch die Briefmuster Colas di Rienzo nimmt sich der Prager Hofkanzler zum Vorbild. Obwohl der epochale Neuansatz des deutschen Humanismus üblicherweise erst auf die Mitte des 15. Jahrhunderts datiert wird,15 zeigen gerade im Bereich der Briefliteratur die Aktivitäten Johanns deutliche Parallelen zu Konstituenten humanistischer Praxis.16 Wird der Brief zu einer der bevorzugten Diskursformen des späteren Humanismus, so hat bereits Johann die Sprache der Kanzlei Karls IV. reformiert und Mustersammlungen von Briefen und Urkunden in Formelbüchern zusammengestellt. Stilistisch orientiert sich Johann ganz eindeutig an Petrarca, wenn er sich um besondere Fülle des sprachlichen Ausdrucks, eine kunstvolle Mehrgliederigkeit der Satzperioden, den Gebrauch von seltenen Bildern antiker Tradition, Dunkelheit der Rede, rhythmische Wortreihen und kunstreiche Satzschlüsse bemüht; und den für Petrarca wesentlichen Stilmustern Cicero und Augustinus folgt auch Johann von Neumarkt.17 Nun muß, wie Vollmann gezeigt hat,18 das Latein Johanns nicht unbedingt auf die Latinität des deutschen Frühhumanismus vorausweisen − es gibt eine europäische Kanzleitradition, die den ornamentalen Variationsstil kennt; doch bleibt zu konstatieren, daß der Prager Hofkanzler sich gerade mit der Vielfalt der von ihm verwendeten neuen Ausdrucksmöglichkeiten um einen i n n o v a t i v e n Stil bemüht − und genau dieses Anliegen Johanns hat Petrarca als solches erkannt und entsprechend gewürdigt. In einem Brief findet der Italiener anerkennende Worte für Johanns Sprachkunst,19 und er hebt die stilistischen Ambitionen als echtes Novum hervor.20 Eine weitere Gemeinsamkeit mit Petrarca liegt in Johanns Verehrung des Kirchenvaters Augustinus. Seine Förderung der Augustinereremiten geht so 15 16 17 18 19
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Siehe oben, Anm. 8. Hierüber (auch kritisch) Vollmann [Anm. 12], zum Briefwechsel mit Cola di Rienzo bes. S. 152f. Hierüber Klapper [Anm. 5], S. 16. Vgl. auch Hermann Henne, Literarische Prosa im 14. Jahrhundert − Stilübung und Kunst-Stück, ZfdPh 97 (1978), S. 321–336. Vollmann [Anm. 12]. Tu quidem, etsi procul ab orbe Romano genitus, Romano tamen innutritus eloquio, latine michi clarissimum iubar uocis et perualidos neruos refers. Zitiert nach: Petrarcas Briefwechsel mit deutschen Zeitgenossen, hg. von Paul Piur/Konrad Burdach, Berlin 1933 (Vom Mittelalter zur Reformation 7), S. 24,10–12. Die Würdigung Johanns durch Petrarca interpretiert ausführlicher Vollmann [Anm. 12], bes. S. 154f.
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weit, daß Johann 1356 ein Augustinereremitenkloster in Leitomischl gründet.21 Auch literarisch schlägt sich die Bewunderung für den Kirchenvater nieder: von seiner ersten Italienreise bringt Johann ein lateinisches Exemplar der ›Soliloquia anime ad deum‹ mit, die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts als Werk des Augustinus angesehen werden. Zwischen 1358 und 1363 fertigt er im Auftrag Karls IV. eine deutsche Übertragung an, das ›Buch der Liebkosung‹.22 Mit derartiger Übersetzungsliteratur weist Johann bereits auf die literarische Praxis des deutschen Frühhumanismus voraus. Ob es gleichwohl sinnvoll scheint, mit dem Prager Hofkanzler bereits den Beginn einer Vorrenaissance einzuläuten, soll nun exemplarisch an einem Werk Johanns diskutiert werden, den sog. ›Hieronymus-Briefen‹.23 Die allgemeineren Überlegungen zur Epochenproblematik lassen sich in einem zweiten Schritt daran anknüpfen. Dem Kirchenlehrer Hieronymus24 wird speziell durch die Humanisten eine besondere Bewunderung entgegengebracht. Sie schätzen das literarische Werk, vor allem die Revision und Neuübersetzung des Bibeltextes: es ist Hieronymus, der durch die Auswertung der verschiedenen Quellen den im Mittelalter verbindlichen Einheitstext der ›Vulgata‹ herstellt. Neben der Arbeit am Bibeltext sind dem Kirchenlehrer exegetische Hilfsmittel zu verdanken: eine Übertragung der die Bibel auslegenden Werke des Origines und eigene Kommentare des Alten und in weiten Teilen auch des Neuen Testaments, die von reichem archäologisch-historischem Wissen zeugen. Die Wertschätzung der Humanisten beruht dabei primär auf dem philologischen Impetus, den die Arbeiten des Hieronymus zeigen; Erasmus von Rotterdam lobt zudem den lebendigen, von tiefer Religiosität getragenen Stil.25 Bezeichnenderweise wird nun im Italien des 21 22
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In diesem Kloster liegt Johann begraben, vgl. Höver [Anm. 5], Sp. 696. Den Augustinuskult behandelt Klapper [Anm. 5], bes. S. 20f. Siehe hierzu Klapper [Anm. 5], S. 20f. Ausgabe von Anton Sattler, Die pseudoaugustinischen Soliloquien in der Übersetzung des Johann von Neumarkt, Programm Graz 1900–1904. Schriften Johanns von Neumarkt, hg. von Joseph Klapper, Zweiter Teil: Hieronymus. Die unechten Briefe des Eusebius, Augustin, Cyrill zum Lobe des Heiligen, Berlin 1932 (Vom Mittelalter zur Reformation 6,2). Grundlegende Informationen zu Leben und Werk bieten zusammenfassend (mit weiterführenden Literaturangaben) Kurt Ruh, Hieronymus, Sophronius Eusebius, 2VL III, Sp. 1221–1233; Karl Suso Frank, Hieronymus, LexMA V, Sp. 2–4. Die referierten Daten und Fakten orientieren sich an Ruh und Frank. In der Ikonographie konkurrieren zwei Hieronymus-Typen: der Büßer in der Steinwüste und der Gelehrte in der Schreibstube, wobei auch letzterer als Einsiedlertypus (Mönch) gestaltet sein kann; für beide Typen erscheint neben Vanitassymbolen (Kreuz mit Corpus, Totenschädel) als wichtigstes Attribut der Löwe. Die bildungsorientierte humanistische Perspektive richtet sich vor allem auf die Darstellung des Heiligen in der Studierstube. Vgl. Renate Miehe, Hieronymus, Lexikon der christlichen Ikonographie VI, Sp. 519–529; Christiane Wiebel, Askese und Endlichkeitsdemut: iko-
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14. Jahrhunderts in dem Zeitraum der Hieronymuskult neu entfacht, in dem sich auch eine erste humanistische Bildungsbewegung abzeichnet. Es ist die Zeit, in der Petrarca sich vom finsteren Mittelalter distanziert und eine neue Bewertung der Antike versucht.26 Offenbar bietet dabei die Gestalt des Hieronymus als Prototyp eines Schriftgelehrten besonderes Identifikationspotential für die Humanisten. Vor allem durch den italienischen Dekretalisten Johannes Andreae erhält die Hieronymusverehrung neue Impulse, an welche die spätere Renaissance dann anknüpfen kann: der Kanoniker Joannes stellt in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts aus den Schriften des Kirchenlehrers ein Werk mit dem Titel ›Hieronymianus‹ zusammen, das weite Verbreitung findet.27 Johann von Neumarkt muß wiederum während seiner Italienaufenthalte mit dem neu aufgekeimten Hieronymuskult in Verbindung gekommen sein. Josef Klapper vermutet sogar, daß der Prager Hofkanzler ein Exemplar des ›Hieronymianus‹ mit über die Alpen gebracht hat; immerhin ist das Werk handschriftlich unter anderem in Breslau, Krakau und Olmütz vorhanden.28 In jedem Fall aber ist Johann während seiner zweiten Italienreise an ein Exemplar der sogenannten ›Hieronymus-Briefe‹ gekommen. Für Karl IV. − so die Widmung − stellt Johann 1370/71 eine Redaktion des lateinischen Textes der Briefe her;29 zwischen 1371 und 1375 verfaßt er eine deutsche Übersetzung, die er der Markgräfin Elisabeth von Mähren zueignet.30 Die lateinischen ›Hieronymus-Briefe‹ werden, ähnlich wie die Augustinus zugeschriebenen ›Soliloquia anime ad deum‹, zu Johanns Zeit für authentisch gehalten, sind jedoch wohl erst im Mittelalter entstanden; in der Forschung existieren Datierungsversuche, die vom 7. bis in das 13. Jahrhundert reichen.31 Das Werk besteht aus drei Episteln, welche Zeitgenossen des Hieronymus geschrieben haben sollen: sein Schüler Eusebius, der große Augustinus und Cyrillus, Bischof von Jerusalem. Alle drei bezeugen Leben und Wirken des Heiligen und ergänzen sich inhaltlich. Eine echte Hieronymus-Vita fehlt allerdings. Biographische Informationen über Herkunft und Ausbildung des Kirchenlehrers sparen die Briefe aus. Die Eremitenepisode in der Wüste von Chalkis und sogar die
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nologische Studien zum Bild des heiligen Hieronymus, Weinheim 1988 (Acta Humanoria). Siehe hierzu Th. E. Mommsen, Petrarch’s Conception of the Dark Ages, Speculum 17 (1942), deutsche Übersetzung (von W. Küster) in: Zu Begriff und Problem der Renaissance, hg. von August Buck, Darmstadt 1969 (WdF 204), S. 151–179. Vgl. Hartmut Zapp, Joannes Andreae, LexMA V, Sp. 555, sowie die Ausführungen von Klapper [Anm. 5], bes. S. 29–33. Klapper [Anm. 5], hier S. 33. Epistola Johannis Episcopi ad Carolum imperatorem (Klapper [Anm. 23], S. 3–5). Widmung an Elisabeth (Klapper [Anm. 23], S. 6–9). Zu den drei lateinischen Hieronymus-Briefen siehe Erika Bauer, ›HieronymusBriefe‹, 2VL III, Sp. 1233–1238.
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philologische Leistung der Bibelübertragung erscheinen nicht besonders exponiert, sondern es wird auf sie als ohnehin evidente Wissensmenge Bezug genommen. Stattdessen vermitteln die Briefe wesentliche Konstituenten des christlichen Glaubens, die am konkreten Exempel des Hieronymus demonstriert werden. Der Heilige selbst ist, besonders im Cyrillus-Brief, dabei zum Teil nur ein mittelbarer Anknüpfungspunkt. Im Zentrum des Eusebius-Briefes, der die Brieffolge einleitet, steht die ausführliche Schilderung von Hieronymus’ Todesstunde im Kreis seiner Jünger. In zahlreichen Abschiedsworten erläutert der Sterbende anläßlich seines nahen Endes die christliche Lehre und ermahnt seine Schüler, ihr bedingungslos zu folgen. Grundlegende Themen werden angesprochen, die gerade zur Zeit Johanns von Neumarkt virulent sind und im 15. und 16. Jahrhundert dann zum Teil widersprüchlich diskutiert werden. Neben eher lebenspraktischen Aspekten, etwa der Vorbildfunktion der Priester mit Kritik an deren Unkeuschheit (Eus., dt. Kap. IX, S. 28ff.; dt. Kap. LIV−LVI, S. 120–126), der Aufforderung zur Gottesfurcht (Eus., dt. Kap. XIXf., S. 49–52), der Propaganda von Armut (Eus., dt. Kap. XXVII, S. 65ff.; dt. Kap. LI, S. 115ff.), Demut (Eus., dt. Kap. XXIX, S. 70f.) und Geduld (Eus., dt. Kap. XIII, S. 36f.; dt. Kap. XLV, S. 104ff.) oder dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit (Eus., dt. Kap. XLVI, S. 106ff.) nimmt Hieronymus zu den Mysterien des christlichen Glaubens Stellung: der Trinität (Eus., dt. Kap. LXXXVII, S. 183; dt. Kap. LXXXVIII, S. 186), der Doppelnatur Jesu Christi (Eus., dt. Kap. LXXXVIIf., S. 182–186), der jungfräulichen Geburt (Eus., dt. Kap. LXXXVII, S. 184), der Auferstehung und Himmelfahrt (Eus., dt. Kap. LXXXIX, S. 186ff.), dem Jüngsten Gericht (Eus., dt. Kap. LXXXIX, S. 186ff.), den paradiesischen Freuden (Eus., dt. Kap. LXVIII, S. 147f.), dem Erlösungswerk und dessen Bedeutung für die einzelne Seele (Eus., dt. Kap. LXIV, S. 139f.; dt. Kap. LXXXII, S. 173f.) usw. Sehr breiten Raum erhält die Frage nach der Inkarnation Christi in der Hostie (Eus., dt. Kap. XCI−XCVII, S. 190–203). Die Problematisierung des Wunders der Wandlung ist dabei rein rhetorischer Natur; es wird noch die traditionelle dogmatische Position vertreten. Die Erläuterungen des sterbenden Hieronymus, welche der Eusebius-Brief zitiert, erhalten nicht zuletzt dadurch den Charakter von Predigten, daß in ihnen mit biblischen Beispielfiguren − Moses (Eus., dt. Kap. LXXIII, S. 157f.; dt. Kap. LXXXVII, S. 182), Susanna (Eus., dt. Kap. LXIII, S. 138) − oder Gleichnissen argumentiert wird: Kamel und Nadelöhr (Eus., dt. Kap. XXXIII, S. 77–80), Wölfe und Schafe (Eus., dt. Kap. XXVI, S. 62ff.), Törichte und Kluge Jungfrauen (Eus., dt. Kap. XXI, S. 52ff.), Samaritergleichnis (Eus., dt. Kap. LXXXIII, S. 175f.). Auch auf zentrale christliche Gebote wird in der Darstellung Bezug genommen: ›Liebe deinen Nächsten‹ (Eus., dt. Kap. LVIII, S. 128ff.), ›Du sollst nicht lügen‹ (Eus., dt. Kap. LXI, S. 133ff.), ›Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen‹ (Eus., dt. Kap. LXII, S. 135ff.). Durch den gesamten Brief zieht sich wie ein roter Faden dabei
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die Vorstellung vom Leben als Gefängnis, aus dem der tröstende Tod erlöst (z. B. Eus., dt. Kap. LXX, S. 151f.); angesichts des eigenen Todes erinnert Hieronymus immer wieder an die vanitas alles Weltlichen (z. B. Eus., dt. Kap. XXXVII, S. 87ff.; dt. Kap. L, S. 114f.), so daß die unterweisenden Passagen durch das permanente memento mori besonderen Nachdruck erhalten. In weiten Teilen rückt das Hieronymus-Thema dabei ganz in den Hintergrund; es erscheint rein funktionalisiert hin auf die selbstzweckhafte Vermittlung christlichen Gedankenguts. Im Augustinus-Brief ist dies anders. Die überschwengliche Lobpreisung des Heiligen wird an den Bericht einer Vision geknüpft, welche die eigentliche Rechtfertigung des Hieronymuskultes bietet. Augustinus erscheint die Seele des Verstorbenen; sie erhält im Jenseits einen Rang, der Johannes dem Täufer und den zwölf Aposteln ebenbürtig ist (Aug., dt. Kap. XVI, S. 272ff.). Allein die Märtyrerkrone fehlt Hieronymus (Aug., dt. Kap. XIX, S. 277ff.), doch der ebenfalls in der Vision auftretende Johannes Baptista streitet eine Gradation explizit ab, indem er die Gleichheit aller Heiligen erläutert (Aug., dt. Kap. XX, S. 280f.; dt. Kap. XXIII, S. 284f.). Innerhalb der Briefargumentation erfüllt der Visionsbericht die Funktion, die Verbreitung des Hieronymuslobes unter den Menschen als göttlichen Auftrag auszuweisen; damit erhält der Kult um den Heiligen eine gleichsam göttliche Legitimation. Das Lob des Hieronymus dient dabei letztlich nur der Lobpreisung Gottes selbst. Der dritte, dem Bischof von Jerusalem Cyrillus zugeschriebene Brief erzählt in aneinandergereihten Episoden von Wundern, die auf dem Wirken des Heiligen beruhen. Die Exempelfiguren haben jeweils in ihrer Not Hieronymus angerufen und erhalten daraufhin seinen Beistand. So werden etwa die Errettung Alexandrinischer Kaufleute aus einem Mörderwald und die Bekehrung der 300 Raubmörder geschildert (Cyr., dt. Kap. XL−XLV, S. 370–380) oder die Vernichtung eines simonistischen Frauenklosters, wobei Hieronymus die einzige demütige Klosterfrau vorwarnt und vor der Zerstörung schützt (Cyr., dt. Kap. LI−LVI, S. 391–401). Breiten Raum nimmt die Erzählung ein, wie Silvanus, der Bischof von Nazareth, das Ansehen des Hieronymus gegen Anfeindungen durch Ungläubige verteidigt, der Versuchung des Teufels widersteht und dabei den Spott der Menschen demütig erträgt (Cyr., dt. Kap. XXVII−XXXIX, S. 343–369). Die Koppelung anderer Heiliger an die Figur des Hieronymus soll den Kult um den Kirchenlehrer rechtfertigen und seine Verehrung befördern. Obwohl gerade der Cyrillus-Brief mit seinen anekdotenhaften Passagen dem Geschmack von Johanns weltlichem Publikum wohl am meisten entgegenkommt, enthält auch er allgemeinere, den Glauben insgesamt betreffende Überlegungen. Im Rahmen der Eusebius-Geschichte, mit welcher der Cyrillus-Brief beginnt, werden Höllenpein, Fegefeuer und himmlische Freuden (Cyr., dt. Kap. XIVff., S. 316–322) ihrem Wesen nach beschrieben und dabei auch die Vorstellung vom Einzelgericht für jeden Menschen unmittelbar nach dessen Tod angedeutet (Cyr., dt. Kap. XXIf., S. 330–333).
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Alle drei Briefe sind in Kapitel untergliedert, wobei Johann in seiner deutschen Übertragung an einigen Stellen Veränderungen gegenüber der lateinischen Vorlage vornimmt: er setzt zusätzliche Einschnitte und exponiert ihm zentral erscheinende Passagen, indem er sie an den Beginn eines neuen Abschnittes stellt. Auf diese Weise rückt zum Beispiel die Ernennung des Eusebius zum Nachfolger des Hieronymus in den Vordergrund (Eus., dt. Kap. LXXIV, S. 158). − Auffällig ist die unterschiedliche Länge der einzelnen Briefe: mit 119 bzw. 114 deutschen Kapiteln wiegen die Episteln des Eusebius und des Cyrillus in etwa gleich; der in ihrer Mitte stehende Augustinus-Brief ist mit nur 25 deutschen Abschnitten wesentlich kürzer. Er bildet Achse und Zentrum des Gesamtwerkes. Gerade durch seine Kürze tritt gleichwohl die Aussageintention des Briefes, nämlich die explizite Propagierung des Hieronymuskultes, prägnant hervor; und offenbar ist genau dies beabsichtigt, denn im Text selbst weist Augustinus mehrfach − zum Teil entschuldigend − auf seine brevitas hin.32 Insgesamt suggeriert die Brieffolge eine chronologische Struktur: Eusebius adressiert sein Schreiben zwar an Damasus und Theodinus (Dem erwirdigen uater Damasus, dem bischoff cardinalen, vnd Theodonien, dem romischen fursten, embite ich Eusebius [...]; Eus., dt. Kap. I, S. 10), doch erwähnt Augustinus den Eusebiusbrief, als ob er ihn selbst erhalten hätte (als der erwirdig vater Ewsebius mir schreibt; Aug., dt. Kap. II, S. 249). Augustinus wiederum wendet sich mit seinem Schreiben an Cyrillus (Erwirdiger vater, bischoff czu Jerusalem, Cyrille, dunckt dic [...]; Aug., dt. Kap. I, S. 246), worauf der Cyrillus-Brief antwortet (Dem erwirdigen mann Augustino, vnder allen bischofen dem grosten, enbiet ich, Cirillus, bischof czu Jerusalem, der minst aus allen bristern, sulchen meinen grusz, das du, Augustine, uolgen mugest und uolgen wollest den fusztriten des erwirdigen Jeronimus; Cyr., dt. Kap. I, S. 293). Zusätzlich sind die Schreiben insofern miteinander verzahnt, als in allen drei Briefen auf die Autoren der jeweils anderen durch deren Namensnennung Bezug genommen wird.33 Es entsteht dadurch ein epischer Rahmen, in welchem die Epistelreihe eine reale Kommunikationssituation widerzuspiegeln scheint. Zum anderen erfahren die Briefe eine Authentisierung durch Hieronymus selbst, indem nämlich der Sterbende sich an Eusebius wendet und diesen bittet, Augustinus und Cyrillus über seinen Tod zu informieren (Eus., dt. Kap. LXXVIII, S. 165f.): 32
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Vgl. z. B. Aug., dt. Kap. XXV, S. 287: [...] und wo ich czu kurcz gerett hab das wirdig lob eines sulchen groszen mannes, des solt du beschuldigen mein vnuernunft und auch di kurcz dicz brifes. Dornach wendet sant Cyrillus sein awgen gen dem hymel [...] (Eus., dt. Kap. CIII, S. 215); [...] der mir mein erwirdiger vater Eusebius etwe vil geschriben hat mit seinen brifen (Aug., dt. Kap. V, S. 254); [...] vnd als dir selber wol kunt ist, Cyrille (Aug., dt. Kap. II, S. 249); Wann der erwirdig uater Eusebius uon Cremaron, sant Jeronimus iunger [...] (Cyr., dt. Kap. II, S. 294f.); Augustine, liber uater, auf di red das [...] Cyr., dt. Kap. LXXI, S. 429).
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Ein grosz frewd vnd einen sunderleichen trost hab ich von barmherczickeit vnsers herren, das bei euch bleibt der gelart, tugentleich man Augustinus, der bischoff, der in der warheit mit aller tugent volkumenheit geczirt ist, der mit hilf gots ewrn gelawben sterken wirt. Davon, wann du im schreiben wirdst, so bit in von meinen wegen [...].
Den Eindruck, der Schriftwechsel bilde mimetisch eine Korrespondenzwirklichkeit ab, verstärkt Johann von Neumarkt noch in der deutschen Übersetzung. Gegenüber der lateinischen Vorlage ergänzt er mehrfach namentliche Anreden der Adressaten. Augustinus wendet sich direkt an Cyrillus, Erwirdiger vater Cyrille (Aug., dt. Kap. V, S. 253), wo die lateinische Version die Namensnennung ausspart: venerabilis pater (Aug., lat. Kap. V, S. 253); Cyrillus schreibt − ohne Vorbild der lateinischen Fassung − allerlibster uater Augustine (Cyr., dt. Kap. VI, S. 302) oder merck, mein uater Augustine (Cyr., dt. Kap. III, S. 298). Im Eusebius-Brief findet sich dieses Phänomen verschachtelt wieder. Den größten Raum nimmt dort die Rede des sterbenden Hieronymus ein, welche wörtlich zitiert wird. Indem die Jünger im deutschen Text weitaus öfter mit Titulierungen wie z. B. vil liben kint angesprochen werden als in der lateinischen Fassung mit filij karissimi bzw. entsprechenden Anreden,34 macht Johann die Gesprächssituation präsenter; und wenn die lateinischen Pronomina ille, ipse, hic u.a. in den deutschen Briefen durch etwa vil liber vater sant Jeronimus ersetzt werden,35 dient auch dies der Vereindeutigung der Redesituation für ein Laienpublikum. Trotz der langen Erläuterungsteile, die selbstzweckhaften Charakter besitzen, wird dem Leser dadurch das Gesagte als Zitat des Hieronymus vermittelt. Auf die leichtere Rezipierbarkeit der Briefe durch ein weltliches Publikum zielen auch die deutsche Widmung des Werkes sowie die gegenüber der lateinischen Version zum Teil stark erweiterten deutschen Incipits zu den einzelnen Briefen. In der lateinischen Version stellt Johann sich, wenn er Karl IV. das Werk zueignet, in eine Reihe mit den drei im Text sprechenden Briefautoren Eusebius, Augustinus und Cyrillus. Dieser Aspekt findet sich in der deutschen Fassung gleich gedoppelt wieder. In der Vorrede für die Markgräfin funktionalisiert Johann die Reihenbildung, um bescheidenheitstopisch seine eigene In34
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Siehe u. a.: Quis ex vobis est cupiens videre dies bonos (Eus., lat. Kap. XIII, S. 52)/ Herczen liben kint, ist ymant vnter euch, der begirig sei, gute tag czu sehen (Eus., dt. Kap. XXI, S. 52); Non vitupero predicacionem in facientibus ea, que predicant (Eus., lat. Kap. XIV, S. 59)/ Liben bruder, ich straf nicht di prediger des gotleichen worts, ist das sach das sie selber auch das thun, was si den lewten sagen (Eus., dt. Kap. XXIV, S. 59). Vgl. z. B.: Hic vere fuit ille israhelita (Eus., lat. Kap. II, S. 17)/ Diser vnser uater Jeronimus ist der warhaftig israhel (Eus., dt. Kap. IV, S. 17); Finitis his verbis vir sanctissimus (Eus., lat. Kap. LXV, S. 166)/ Do der heilig man sant Jeronimus sulche wort geendet hett (Eus., dt. Kap. LXXVIII, S. 166). Gleiches ist auch für Eusebius der Fall: Ecce constituo te super societatem istam (Eus., lat. Kap. LXII, S. 161f.)/ Allerlibster sun Eusebius, ich secz dich hewt uber diser gesellschaft deiner vnd meiner bruder (Eus., dt. Kap. LXXV, S. 161f.).
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kompetenz angesichts der renommierten Vorbilder Augustinus, Eusebius und Cyrillus, die sich bereits im Lobpreis des Hieronymus versucht haben, demutsvoll zu behaupten (dt. Vorrede, S. 6–9); in der Schlußrede verknüpft Johann die Erwähnung von Cyrillus und Augustinus mit seiner Aufforderung, die Leser mögen bei Hieronymus für sein eigenes Seelenheil beten (dt. Schlußschrift, S. 512ff.). Die Evokation der produktiven und rezeptiven Koordinaten umschließt wie ein Rahmen die drei Brieftexte, um die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu sichern. Johann spielt dafür sogar auf verschiedene Ebenen der Wahrnehmung an (dt. Schlußschrift, S. 513): [...] und anruf alleweg euch alle beid, frawen und man, di dicz gegenwertiges deutsches buch meines armen getichtes sehen, lesen oder horen werden [...]
Auch der deutsche Vorspann zum Augustinus-Brief zielt besonders auf das Laienpublikum (Gewonleich ist rittern vnd knehten vnd auch kawflewten uber mer czu faren; Aug., dt. Vor., S. 242). Johann benutzt die Allegorie vom Leben als Seefahrt,36 wobei der Mensch durch das Heilswerk Gottes aus der Seenot erlöst werde (Aus sulchs meres sturm, aws so groszen banden, aws sulchen noten hat dich dein herr vnd dein schepfer gefurt; Aug., dt. Vor., S. 243f.).37 Als Beispielfiguren treten Ritter und Kaufleute wohl nicht nur deshalb auf, weil sie in der faktischen Lebenswelt tatsächlich das Meer überqueren, sondern auch, weil sie den potentiellen Leserkreis der ›Hieronymus-Briefe‹ widerspiegeln. Bereits Augustinus formuliert die Allegorie von Meerfahrt als Lebensweg und Schiff als Seele;38 es zeugt also von der besonderen Bildung Johanns (gerade im Bereich der Patristik), wenn er speziell dem Augustinus-Brief das Seefahrtsmotiv voranstellt. Da auch der ›Augustinist‹39 Petrarca, wie Joachim Küpper gezeigt hat,40 die Allegorie vom Leben als Schiffsreise literarisch verarbeitet und auf die 36
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Die Allegorie vom Leben als Schiffsreise findet in christlicher Zeit eine starke Verbreitung, siehe hierüber Hugo Rahner, Antenna crucis, in: Ders., Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 237–564. Auch im Eusebius-Brief (dort allerdings nicht in der Vorrede) gestaltet Johann die Vorstellung vom Leben als unsicherer Seefahrt (Eus., dt. Kap. XVIII, S. 46ff.): Ein guter mensch forcht alleweg, das in dise böse werlt icht czu vall bring, wann er alleweg in forhten ist vnd besorgt tegleichen, das icht sein schif seins totleichen leibs auf dem mer diser werlt dertrinck mit schaden seiner sel. (S. 47); Waffen des leids vnd des vngelvcks uber Adams kinder, di auf disem groszen mer der leidigen werlt swymmen in so gar starcker vnd so gar vnczelleicher anfehtung der bozen geist! (S. 48). Siehe auch Anm. 38. navigantes sunt animae in ligno saeculum transeuntes (Sermo 63,1), zitiert nach PL XXXVIII, Sp. 424. − Im Eusebius-Brief erscheint dagegen bei Johann der Körper als Schiff, dessen Seenot (d. h. die Anfechtungen durch alles Weltliche) die Seele gefährden könnte, vgl. das Zitat in Anm. 37. Zu Petrarcas Augustinismus siehe (mit kritischer Forschungsdiskussion) Joachim Küpper, Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Francesco Petrarca, ›Secretum‹), Poetica 23 (1991), S. 425–475. Joachim Küpper, Schiffsreise und Seelenflug. Zur Refunktionalisierung christlicher Bilderwelten in Petrarcas ›Canzoniere‹, RF 105, Heft 3/4 (1993), S. 256–281.
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Ricarda Bauschke
Gefährdung der Einzelseele mit Hilfe des Seenotmotivs anspielt,41 könnte hierin eventuell eine weitere Verbindungslinie von Johann zu Petrarca gezogen werden. Die sprachliche Kompetenz des Prager Hofkanzlers zeigt sich nicht zuletzt in dem deutschen Prosastil, den er für die Übertragung der lateinischen Brieftexte entwickelt.42 Johann gestaltet ineinander verschachtelte Relativsätze, er kennt konsekutive Satzfolgen, kausale und temporale Nebensätze, die er alle komplex miteinander verbinden kann. Kapitel VI des Augustinusbriefes mit seinem langen zweiten Satz bietet hierfür ein deutliches Beispiel und wird darum vollständig zitiert:43 Doch, auf di red das sulchs vnsers heiligen vaters Jeronimus ere nicht verborgen sei, so mein ich dir czu sagen, was mir von gnaden gots widerfaren sei in dem tag seins tods. Wann in dem selben tag vnd auf di selben stund, als der heilig sant Jeronimus des vnreinigen, vnbederben gewands diser totlichkeit berawbt ward vnd mit dem gewand himelischer frewden ewicleich gecleitt, do sasz ich in meiner czellen czu Ypponen vnd ward ynnicleich betrachten, wi grosz der seligen selen erwirdickeit vnd frewd weren in gegenwurtickeit des allemechtigen gots, vnd meint ich durch bet willen meins liben frewndes Seuerus, der sand Merteins bischofs czu Turon schuler gewesen ist, etwe vil czu schreiben vnd hett yczunt czu handen genumen papir, horn vnd veder in meynung, sant Jeronimo czu schreiben, auf di red das er mich vnterweiset, was er dovon weste, wann mir wol kunt was, das mich so swerer frag nimant so lewterleich vnterweisen mocht aws allen den, di lebendig sein auf aller diser erden.
Trotz der variationsreichen Syntax bleibt der Stil klar und leicht verständlich. Dieses Phänomen zielt, ebenso wie der scheinbar persönliche Impetus der Diktion, auf eine nicht nur faktische, sondern auch gefühlsmäßige Vermittlung des Inhaltes. Johann bietet seinen Lesern damit eine emotionale Identifikation an, welche der Propagierung des Hieronymuskultes sicher förderlich gewesen ist. Nach dieser summarischen Betrachtung stellt sich die Frage, welche Merkmale der ›Hieronymus-Briefe‹ als ›humanistisch‹ und welche als ›mittelalterlich‹ zu gelten haben. Was die philosophischen Aspekte anbelangt, leitet Johann von Neumarkt keinesfalls einen wirklichen Paradigmenwechsel ein. Die ein Jahrhundert später existentiell werdenden Fragen nach dem Verhältnis von Schicksal und Willensfreiheit, nach der Würde des Menschen, nach der Unsterblichkeit der Seele usw. diskutiert Johann nicht.44 Seine Augustinus-Rezeption ist eine 41
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Sonett 189: Passa la nave mia colma d’oblio/ per aspro mare, a mezza notte il verno,/ enfra Scilla et Caribdi (V.1–3). Zitiert nach: Petrarca, Canzoniere, hg. von Gianfranco Contini, Turin 1964. − Für die Naturgewalt des Meeres wählt Johann die Formulierungen des meres sturm vnd sein tobige vnbescheidenheit (Aug., dt. Vor., S. 242) bzw. uber den grawsamen flusz dises tobendigen meres (Aug., dt. Vor., S. 244). Siehe Vollmann [Anm. 12]; Henne [Anm. 17]. Aug., dt. Kap. VI, S. 255–257. Zu diesen inhaltlichen Implikationen des Renaissance-Humanismus vgl. grundlegend
Johann von Neumarkt: ›Hieronymus-Briefe‹
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grundsätzlich unkritische, mittelalterliche. Auf die antike Rhetorik greift der Prager Hofkanzler nicht um ihrer selbst willen zurück, sondern er verwendet sie schulmäßig immer dann, wenn sie ihm zur Vermittlung der christlichen Lehre brauchbar scheint. Johann nimmt damit den für das Mittelalter typischen zweckbezogenen Rückgriff auf die Antike als ›Steinbruch‹ vor.45 Auffällig bleibt jedoch, daß die ›Hieronymus-Briefe‹ in gewisser Weise die drei humanistischen Gattungen aktualisieren: Rede, Dialog, Traktat. Die langen Reden des sterbenden Hieronymus, welche den Eusebius-Brief dominieren, erhalten bisweilen traktathaften Charakter. Als Grundstruktur des Textes fungiert die im Humanismus gepflegte Kommunikationsform persönlicher Korrespondenz − vielleicht ist Johann gerade die Übertragung der Hieronymus-Briefe im Kontext der neu auflebenden Diskursform ›Brief‹ attraktiv erschienen. Ein dialogisches Moment tritt durch die Verzahnung der Schreiben untereinander hinzu.46 Es bleibt allerdings einzuräumen, daß ›Rede‹, ›Traktat‹ und ›Dialog‹ in der Renaissance grundsätzlich anders ausgestaltet werden, was besonders das Beispiel des Dialoges verdeutlicht: Diese Gattung dient der Pluralisierung von Meinungen, welche jeweils nicht wahr, sondern nur möglich sein müssen.47 Von einer Heterogenität der Positionen48 ist bei Johann von Neumarkt jedoch nichts zu merken. Die einzelnen Briefautoren zielen jeweils auf die eine christliche Wahrheit; daß verschiedene Personen sie vertreten, soll die christliche Lehre nur untermauern. Über die ›Hieronymus-Briefe‹ hinaus betrachtet bleibt als mögliches Signal für den Anbruch einer neuen Epoche noch das Selbstverständnis Johanns. Wie
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die Publikationen von Paul Oskar Kristeller, zusammengestellt in den Bänden Humanismus und Renaissance I. Die antiken und mittelalterlichen Quellen (1973); Humanismus und Renaissance II. Philosophie, Bildung und Kunst (1975), hg. von Eckhard Kessler. Übersetzungen aus dem Englischen von Renate Schweyen-Ott, München (UTB 914/915). Richard Newald spricht in diesem Zusammenhang von einer ›Atomisierung‹ der Antike: Richard Newald, Nachleben des antiken Geistes im Abendland bis zum Beginn des Humanismus. Eine Überschau, Tübingen 1960, hier S. 285. Die Möglichkeit, den Briefwechsel als ›Dialog‹ zu verstehen, perspektiviert Helene Harth, Poggio Bracciolini und die Brieftheorie des 15. Jahrhunderts: Zur Gattungsform des humanistischen Briefs, in: Der Brief im Zeitalter der Renaissance, hg. von Franz Josef Worstbrock, Weinheim 1983 (Acta Humanoria 9), S. 81–99. Zu Formen und Funktionen des Dialogs in der Renaissance siehe den Band: Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis, hg. von Klaus W. Hempfer, Stuttgart 2004 (Text und Kontext 21). Darin die Beiträge Bernd Häsner, Der Dialog: Strukturelemente einer Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung, S. 13–66; Klaus W. Hempfer, Die Poetik des Dialogs im Cinquecento und die neuere Dialogtheorie: zum historischen Fundament aktueller Theorie, S. 67–116. Daß Pluralität und Pluralisierungsprozesse als konstituierende Merkmale der Renaissance gelten, zeigt in aller Deutlichkeit der Sammelband: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania, hg. von Wolf-Dietrich Stempel/Karlheinz Stierle, München 1987 (Romanistisches Kolloquium 4).
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Ricarda Bauschke
Petrarca, der im ›finsteren‹ Mittelalter auf die strahlende Antike zurückblickt und das Licht der Neuzeit bereits am Horizont zu erkennen glaubt,49 ist sich auch Johann bewußt, daß er − in seinem Fall mit dem deutschen Prosastil − etwas Neuartiges begründet (s.o.). Allerdings muß die Selbstwahrnehmung als Epochensignal50 dem kritischen Blick des alle Perioden überschauenden Historikers standhalten, und so wird selbst Petrarca trotz seiner Weitsicht eben doch eher noch dem Mittelalter zugeordnet;51 und Johann von Neumarkt ist weit davon entfernt, ein deutscher Petrarca zu sein. Es bleiben also nur einzelne Tendenzen, die Johann aus dem Mittelalter herausführen: seine Rezeption italienischer Vorbilder, seine Übersetzungsliteratur und die damit verbundene Arbeit an der deutschen Sprache, seine Bemühungen um die Textsorte ›Brief‹ sowie das Interesse an Hieronymus. Sicher hat Johann mit den ›Hieronymus-Briefen‹ dazu beigetragen, den Kult um den späteren Lieblingsheiligen der Humanisten im deutschsprachigen Raum schon im 14. Jahrhundert zu befördern. All diese einzelnen Aspekte genügen jedoch in ihrer Summe nicht, um den Prager Hofkanzler bereits als Frühsthumanisten auszuweisen oder etwa den Beginn der deutschen Vorrenaissance allein Johanns wegen vorzudatieren. Dennoch zeigt der Fall Johanns von Neumarkt insgesamt, daß normative Epochenkonzepte problematisch bleiben. Epochaler Wandel findet nie abrupt statt; es sind stets einzelne diskursive Praktiken,52 die sich ändern und weitere Umwälzungen nach sich ziehen. In diesem Sinne antizipiert auch der Prager Hofkanzler humanistische Phänomene. Darum macht gerade das Beispiel Johanns ebenso deutlich, daß in der Literaturgeschichtsschreibung Epochengrenzen notwendig sind, solange sie nicht Norm werden, sondern Orientierungskoordinaten bleiben. Nur vor einem Epochenkonzept, das Mittelalter und Humanismus sauber trennt, lassen sich die Eigenarten Johanns und seine Sonderrolle überhaupt als solche beschreiben. Nicht zuletzt aus diesem Grund scheint, um die Eingangsüberlegungen wieder aufzugreifen, ein enger Humanismusbegriff sinnvoll. Die humanistischen 49 50
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Vgl. oben, Mommsen [Anm. 26]; siehe auch Stierle [Anm. 4]. Das Bewußtsein, eine neue Epoche einzuleiten, ist allen Humanisten gemeinsam; vgl. zu diesem Selbstverständnis der Epoche als konstituierendem Merkmal von ›Humanismus‹ zusammenfassend Walter Rüegg, Humanismus, A. Allgemein und Italien, LexMA V, Sp. 186–193. Die Vorstellung des Petrarca medievale vertritt z. B. Wilhelm Theodor Elwert, Die italienische Literatur des Mittelalters. Dante, Petrarca, Boccaccio, München 1980 (UTB 1035), Kap. IV: Petrarca, S. 162–203. Die Begriffsverwendung erfolgt in Anlehnung an Michel Foucault – M. F., L’arche´ologie du savoir, Paris 1969, dt.: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973 u. ö.; M. F., Les mots et les choses. Une arche´ologie des sciences humaines, Paris 1966, dt.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971 u. ö.
Johann von Neumarkt: ›Hieronymus-Briefe‹
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Tendenzen Johanns sind nämlich nicht ›humanistisch‹ im Sinne eines weiten Konzepts von ›Humanismus‹, sondern im Sinne des Renaissance-Humanismus. Wird der Begriff also aufgeweicht und auf das Mittelalter ausgedehnt, geht Johann von Neumarkt die vorausweisende Dimension seines Werkes verloren.
Michael Stolz
Altitudo contemplationis humanae ›Conversio‹ bei Francesco Petrarca und Heinrich Seuse
Der vornehmlich an amerikanischen Universitäten am Paradigma der Renaissance entwickelte ›New historicism‹ hat den Blick für diskursive Austauschbewegungen geschärft.1 Im vorliegenden Beitrag geht es um die Zirkulation diskursiver Formationen und Versatzstücke in zwei Texten des 14. Jahrhunderts. Der eine von beiden, Petrarcas Brief von der Besteigung des Mont Ventoux, wird gemeinhin als ›frühhumanistisch‹ bezeichnet. Die im folgenden vorgenommene Konfrontation mit der nur um wenige Jahre jüngeren ›Vita‹ Heinrich Seuses soll es ermöglichen, diese Etikettierung kritisch zu hinterfragen. Beim Vergleich der beiden Texte scheint es angemessener, anstelle von ›frühhumanistischen‹ Bestrebungen von der Konstitution eines vormodernen Bewußtseins zu sprechen, dessen Profil sich in der Literatur des 14. Jahrhunderts deutlich abzuzeichnen beginnt. Als eines der Paradigmen dieses vormodernen Bewußtseins kann die Rezeption des ›Conversio‹-Schemas dienen, das Augustinus im achten Buch seiner ›Confessiones‹ entwickelt hat und das sowohl in Petrarcas Brief als auch in Seuses ›Vita‹ eine Rolle spielt. Beide Autoren eignen sich dieses Schema im Rahmen einer literarischen ›Imitatio‹ des Augustinischen Modells an.2 Dabei ist 1
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Grundlegend Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford 1988; dt. Übers. von Robin Cackett unter dem Titel: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin 1990. Hier wird für das England der Shakespeare-Zeit »ein subtiles, schwer faßbares Ensemble von Tauschprozessen, ein Netzwerk von Wechselgeschäften, ein Gedränge konkurrierender Repräsentationen« rekonstruiert (deutsche Ausgabe, S. 12). Zum Aufweis der »Zirkulation und Transformation von Text- und Motivfragmenten aus verschiedenen Bereichen« beispielsweise auch Anton Kaes, New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?, in: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt u.a., hg. von Moritz Bassler, Tübingen/Basel 22001 (11995) (UTB für Wissenschaft. UniTaschenbücher 2265), S. 251–267, hier S. 258 (in diesem Band auch weitere einschlägige Beiträge). Eine Sicht auf die Renaissance »als Bewegung, die mit anderen Bewegungen und auch mit anderen Kulturen koexistierte und interagierte in einem Prozeß ständigen kulturellen Austausches« entwickelt (u.a. mit Berufung auf Kulturwissenschaftler wie Aby Warburg und Edgar Wind) Peter Burke, Die italienische Renaissance und die Herausforderung der Postmoderne, in: Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen, hg. von Gerhart Schröder/Helga Breuninger, Frankfurt a. M./New York 2001, S. 27–38, hier S. 31. Vgl. zum Begriff der literarischen ›Imitatio‹ N[icola] Kaminski, Imitatio. 1. I[mita-
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Michael Stolz
die ›Imitatio‹ als literarische Technik verbunden mit dem Gedanken einer religiösen ›Imitatio‹, einer geistlichen Nachfolge, die im Rahmen des ›Conversio‹Schemas ihrerseits thematisiert werden kann: Die ›Konvertiten‹ folgen Vorbildern, die sich letztlich auf Christus zurückführen lassen (›Imitatio Christi‹), und werden damit ihrerseits zu Vorbildern für andere.3 Generell läßt sich sagen, daß der Umgang mit den Schriften des Augustinus eine Art ›Seismographen‹ für die intellektuelle Situation des 14. Jahrhunderts abgibt: Auf Augustinus beriefen sich zu dieser Zeit nach wie vor diejenigen Theologen und Philosophen, die Gott eine uneingeschränkte Macht über die irdischen Geschicke zusprachen.4 Im Zuge der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts war dieses Bild aber bereits brüchig geworden. Die Schriften dominikanischer und besonders franziskanischer Gelehrter bezeugen eine beachtenswerte Aufspaltung der Zuständigkeit Gottes: Die »Frage des wahren Seins der Welt [wird] in den Bereich der göttlichen Geheimnisse, der arcana Dei, verwiesen«.5 Hieraus aber entsteht für den Menschen eine »Domäne, die
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tio] auctorum, Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4 (1998), Sp. 235–285. Speziell zu Petrarca August Buck (Hg.), Petrarcas Humanismus. Eine Einleitung, in: Petrarca, hg. von August Buck, Darmstadt 1976 (Wege der Forschung 353), S. 1–24, hier S. 16; Dina De Rentiis, Sul ruolo di Petrarca nella storia dell’imitatio auctorum, in: Dynamique d’une expansion culturelle. Pe´trarque en Europe, XIVe−XXe sie`cle. Actes du XXVIe congre`s international du CEFI, Turin et Chambe´ry, 11–15 de´cembre 1995. A la me´moire de Franco Simone, hg. von Pierre Blanc, Paris 2001 (Bibliothe`que Franco Simone 30), S. 63–74. Im Zusammenhang mit Seuse wird das Konzept literarischer ›Imitatio‹ implizit thematisiert bei Paul Michel, Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes. Persuasive Strategien bei der Verwendung von Bibelzitaten im Dienste einer pastoralen Aufgabe, in: Das ›einig ein‹. Studien zu Theorie und Sprache der deutschen Mystik, hg. von Alois M[aria] Haas und Heinrich Stirnimann, Freiburg (Schweiz) 1980 (Dokimion 6), S. 281–367, hier S. 361, 364, und Alois [Maria] Haas, Seuse lesen, in: Mystik, hg. von Christoph Cormeau, Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), Sonderheft, S. 245–272, hier S. 247, 270f. Vgl. zum Begriff der religiösen ›Imitatio‹ Karl Suso Frank, Nachfolge Jesu II. Alte Kirche und Mittelalter, TRE 23 (1994), S. 686–691. Für eine enge Beziehung zwischen literarischer und religiöser ›Imitatio‹ plädiert Dina De Rentiis, Die Zeit der Nachfolge. Zur Interdependenz von imitatio Christi und imitatio auctorum im 12.–16. Jahrhundert, Tübingen 1996 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 273). Vgl. auch dies., Imitatio. 2. I[mitatio] morum, Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4 (1998), Sp. 285–303, bes. Sp. 294–300, und dies., Sul ruolo di Petrarca [Anm. 2]. Vgl. allgemein E´tienne Gilson, La Philosophie au Moyen Age. Des origines patristiques a` la fin du XIVe sie`cle, 2. verb. Aufl., Paris 21952 (11944) (Bibliothe`que historique), S. 586–588. Mit Blick auf Petrarca Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 22000 (11986), S. 557–560, und besonders Joachim Küpper, Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Überlegungen zum ›Secretum‹), Poetica 23 (1991), S. 425–475, Nachdruck in: ders., Petrarca. Das Schweigen der Veritas und die Worte des Dichters, Berlin/New York 2002, hier S. 17. Ebd., S. 18.
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substantiell eine Domäne des nescio«, des Nichtwissens, ist; zugleich erwächst dem Menschen ein Spielraum für innerweltliche Erfahrung, »die deshalb dynamisch sein kann, weil sie nicht mehr wahr sein muß«.6 So unterscheidet etwa der franziskanische Theologe Duns Scotus († 1308) in seinem Kommentar der Sentenzen des Petrus Lombardus (Lectura I,39) zwei Ursachen für weltliche Geschicke: eine prima causa und eine secunda causa. Die erste Ursache beinhaltet die unabänderlichen Begriffe von Zeit und Raum, die allein Gott vorbehalten sind. Aus dieser Erstursache erwächst eine zweite Ursache, welche die Verkettung der kontingent-zufälligen und veränderlichen Ereignisse in der Welt bestimmt. Über die Abhängigkeit der Zweitursache von der Erstursache ist Gott kraft seines Willens mittelbar verantwortlich für die weltlichen Geschicke.7 Bei dem Franziskaner-Theologen Wilhelm von Ockham († um 1349) werden diese Begriffe von Ursache und Wirkung problematisch. Er stellt sie nicht grundsätzlich in Abrede, hinterfragt sie aber kritisch. Die Zweitursache wird dabei von der Erstursache zwar nicht radikal entkoppelt, sie gewinnt aber zunehmend an Eigenständigkeit. Denkbar wird eine Welt, in der sich die irdischen Vorkommnisse durch Kontingenz ereignen und nicht mehr notwendig die »Repräsentanten des Allerhöchsten« (Gottes) darstellen müssen.8 Das tatsächliche Leben erscheint als eine Summe kontingenter Fakten, was Ockham in seinem Sentenzen-Kommentar auf die provozierende Formel bringt: [Deus] ad nihil faciendum obligatur – ›Gott wird zum Nichtstun verpflichtet‹.9 Aus dieser Formel erwächst ein neues Weltverständnis, da die irdischen Gegebenheiten nun als nicht ein für alle Mal durch die göttliche Allmacht vorgegeben verstanden, sondern als dem Zufall und Wandel unterliegend erfahren werden. Es entsteht ein neues Wissenschaftsverständnis, das den etablierten Autoritäten mißtraut und sich zunehmend an der Kategorie der Erfahrung ori6 7
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Ebd., S. 18f. Vgl. Johannes Duns Scotus, Contingency and Freedom. Lectura I 39. Introduction, Translation and Commentary by A. Vos Jaczn, H. Veldhuis, A.H. Looman-Graaskamp, E. Dekker, N. W. Den Bok, Dordrecht [usw.] 1994 (The New Synthese Historical Library 42), § 32–37, S. 88–94 und § 43f., S. 104–106. Dazu Johann Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechtes, Zeitschrift für öffentliches Recht 10 (1931), S. 28–81, 321–379, hier S. 349f.; Wolfgang Pross, Le pe´che´ et la constitution du sujet a` la Renaissance, Rue Descartes. Colle`ge international de philosophie 27 (2000): Dispositifs du sujet a` la Renaissance, S. 79–116, S. 86f. Vgl. Flasch, Das philosophische Denken [Anm. 4], S. 514f. (Zitat S. 515). Guillelmi de Ockham, Opera philosophica et theologica ad fidem codicum manuscriptorum edita, Bd. 5: Quaestiones in librum secundum sententiarum (reportatio), hg. von Gedeon Ga´l/Rega Wood, St. Bonaventure, N.Y. 1981, Liber 2, Quaestiones 3–4, S. 59. Dazu Küpper, Das Schweigen der Veritas [Anm. 4], S. 18. Vgl. auch Sauter, Die philosophischen Grundlagen [Anm. 7], S. 350; Gilson, La Philosophie au Moyen Age [Anm. 4], S. 638–656; Flasch, Das philosophische Denken [Anm. 4], S. 507f.; Pross, Le pe´che´ [Anm. 7], S. 86.
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entiert. Es entsteht aber auch ein neuer Begriff des individuellen Ich, das seinen Standort in der Welt finden muß. Nachdem die göttlichen Geheimnisse letztlich unzugänglich sind, wird – bildlich gesprochen – die vertikale Verbindung zu Gott problematisch. Zugleich besteht im Hinblick auf die horizontale Verbindung zur Umwelt und zu den Mitmenschen ein neuer Deutungsbedarf. Die nachfolgenden Überlegungen zur Augustinus-Rezeption des 14. Jahrhunderts setzen an diesem kritischen Punkt an. Es ist auffällig, daß eine produktive Auseinandersetzung mit den neuen Lehren Ockhams genau bei jenen Theologen stattfindet, die sich dem augustinischen Erbe verpflichtet fühlen, so etwa bei Gregor von Rimini († 1358), dem Inhaber des augustinischen Lehrstuhls an der Pariser Sorbonne und späteren General des Augustiner-Ordens.10 Im Gegensatz zu diesem lateinischsprachigen Gelehrten sollen dagegen mit Petrarca und Seuse zwei Autoren zu Wort kommen, die auch durch Werke in der Volkssprache hervorgetreten sind. Sowohl in Petrarcas Ventoux-Brief als auch in Seuses ›Vita‹ kommt eine innere Umkehr zu Darstellung, die zu einer Standortbestimmung des dargestellten Ich geradezu herausfordert. Die ›Conversio‹ veranlaßt das Ich, sich nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber seiner Umwelt neu zu definieren. Im Rekurs auf Augustins ›Confessiones‹ und deren Integration in jeweils eigenständige Deutungen kreuzen sich bei Petrarca und Seuse diskursive Felder, deren Eigenart näher zu bestimmen ist. Die Ausgangsszene, Augustins am Ende des achten Buchs der ›Confessiones‹ (von 396/98) geschilderte Bekehrung, ist berühmt: Gequält von inneren Konflikten, in denen sich das beschriebene Ich selbst zum Gegner geworden ist (VIII, 11, 27f.), erfährt Augustinus seine Bekehrung zum christlichen Glauben. Sie erfolgt, als er in einem Mailänder Garten die Stimme eines Kindes aus dem Nachbarhaus vernimmt: tolle lege, tolle lege – ›nimm und greif zu‹, ›nimm und lies‹ (VIII, 12, 29).11 Die im Kinderspiel artikulierten Worte deutet Augustinus 10 11
Vgl. Gilson, La Philosophie au Moyen Age [Anm. 4], S. 657, 661f.; Küpper, Das Schweigen der Veritas [Anm. 4], S. 18, Anm. 56. Lateinische Zitate hier und im folgenden nach S. Aureli Augustini Confessionum libri XIII, hg. von Martin Skutella, verbessert von H. Juergens und W. Schaub, Stuttgart/Leipzig 1996 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Deutsche Übersetzung in Anlehnung an Aurelius Augustinus, ›Bekenntnisse‹. Mit einer Einleitung von Kurt Flasch, übersetzt, mit Anmerkungen versehen und hg. von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 1989 (RUB 2792). – Vgl. zur Szene Pierre Courcelle, Recherches sur les Confessions de Saint Augustin, nouvelle e´dition augmente´e et illustre´e, Paris 1968, S. 188–202. Zur ›Conversio‹ bei Augustin und deren Rezeption Alois M[aria] Haas, Streiflichter auf die Struktur der Bekehrung im Geiste Augustins, in: Unterwegs zur Einheit. Festschrift für Heinrich Stirnimann, hg. von Johannes Brantschen und Pietro Selvatico, Freiburg (Schweiz) [usw.] 1980, S. 225–240; Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 21994 (11980) (RUB 9962), S. 43–52 (mit wichtigen Darlegungen zu biographischen, psychologischen und gesellschaftlich-historischen Hintergründen der Bekehrung).
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als göttlichen Befehl, ein Buch aufzuschlagen und die erste Stelle zu lesen, auf die sein Blick falle. Er folgt damit, wie es heißt, dem Vorbild des Mönchsvaters Antonius, der bei seiner Bekehrung das Evangelium aufgeschlagen und eine Stelle bei Matthäus gelesen habe: »Geh, verkaufe alles, was du hast [...]. Dann komm und folge mir nach« (Mt 19,21). Gemäß diesem Beispiel fällt Augustins Blick auf eine Stelle im Römerbrief, wo Paulus sagt, daß das Heil der Christen »nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Unzucht und im Bett, nicht in Streit und Neid« liege; die Aufforderung des Apostels lautet vielmehr: »zieht den Herrn Jesus Christus an und sorgt euch nicht um das Fleisch und seine Begierden« (Rm 13,13f.). Nach der Lektüre des Satzes sei, so der heilige Augustinus, »das Licht der Gewißheit in [s]ein Herz« geströmt. Er teilt die Bekehrung seinem Gefährten Alypius mit, der sich ihm sogleich anschließt (VIII, 12, 29f.). Damit ist jenes Paradigma einer Bekehrung festgelegt, an dem sich auch die Autoren des 14. Jahrhunderts ausrichten werden. Zentrale Bestandteile sind: – die Beispielhandlung eines Vorgängers (hier des Mönchsvaters Antonius), – das die Bekehrung auslösende Lektüreerlebnis (hier einer Stelle in Paulus’ Römerbrief) und schließlich – die religiöse ›Imitatio‹ der Bekehrung durch einen Gefährten (hier durch Alypius). An diesem Muster orientiert sich Petrarca in der Beschreibung seines Bekehrungserlebnisses auf dem Mont Ventoux in der Provence.12 Die ›Conversio‹ erbringt hier keine Wende vom Heidentum zum Christentum, vielmehr zielt sie auf eine von Augustinischem Christentum geprägte Haltung, auf die sich das Ich nach einem Anflug innerweltlicher Schaulust zurückzieht. Die lateinische, in der Briefsammlung ›Familiarium rerum‹ enthaltene Epistel (IV,1)13 ist an Petrarcas Beichtvater, den Augustinermönch und Pariser Professor Francesco Dionigi de Robertis von Borgo San Sepolcro adressiert. Petrarca will den auf den 26. April 1336 datierten Brief noch am Abend nach der Bergbesteigung im provencalischen Malauce`ne abgefaßt haben. Es handelt sich freilich um ein kunstvoll durchkomponiertes Stück Literatur, dessen Konstruktcharakter heute unbestritten ist. Der wohl erst um 1353 fertiggestellte Brief ist also nicht so sehr 12
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Zur Übernahme des Musters grundsätzlich Pierre Courcelle, Les Confessions de Saint Augustin dans la tradition litte´raire. Ante´ce´dents et Posterite´, Paris 1963 (E´tudes augustiniennes), S. 339–342. In Petrarcas ›Secretum‹ (entstanden zwischen 1347 und 1353) tritt Augustinus als Gesprächspartner des Dichters auf. Vgl. ebd., S. 342, und bes. Küpper, Das Schweigen der Veritas [Anm. 4]. Zitiert im folgenden nach der Ausgabe: Franceso Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Kurt Steinmann, Stuttgart 1995 (RUB 887). Sie basiert auf der Edition: Francesco Petrarca, Le Familiari. Edizione critica per cura di Vittorio Rossi, Bd. 1: Introduzione e libri I−IV, Florenz 2 1968 (11933) (Edizione nazionale delle opere di Francesco Petrarca 10), S. 153–161.
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ein frühes Zeugnis des alpinen Tourismus; er dokumentiert vielmehr jenes Spannungsverhältnis gegenüber Gott und der Welt, von dem eingangs die Rede war.14 14
Die literarische Konstruktion des Ventoux-Briefs wurde ausführlich nachgewiesen von Giuseppe Billanovich, Petrarca e il Ventoso, Italia medioevale e umanistica 9 (1966), S. 389–401; dt. Übers. von Elisabeth Piras-Rüegg: Petrarca und der Ventoux, in: Petrarca, hg. von August Buck [Anm. 2], S. 444–463, bes. S. 459–463 (Datierung auf etwa 1353, als Petrarca im 50. Lebensjahr war). – Gegenüber Billanovichs Spätdatierung ist aber auch ein textgenetischer Ansatz erwägenswert: Manches spricht dafür, daß der Brief in einem ersten Entwurf um 1336 entstand, jedoch erst in einer um 1353 abgeschlossenen Überarbeitungsphase jene Gestalt gewann, in der er weithin bekannt wurde. Für das ebenfalls 1353 vollendete ›Secretum‹ ist ein solcher längerwährender Entstehungsprozeß erwiesen (vgl. oben, Anm. 12). In diese Richtung argumentiert auch Bortolo Martinelli, Petrarca e l’epistola del Ventoso. I diversi tempi della scrittura, Rivista di Letteratura Italiana 19 (2001), S. 9–57. Ähnlich im Zusammenhang mit der Entstehung des Briefs ›Posteritati‹ Francisco Rico, Il nucleo della ›Posteritati‹ (e le autobiografie di Petrarca), in: Motivi e forme delle ›Familiari‹ di Francesco Petrarca. [Atti del congresso] Gargano del Garda (2–5 ottobre 2002), hg. von Claudia Berra, Milano 2003 (Quaderni di Acme 57), S. 1–19, bes. S. 12, 19. – Seit Billanovich ist eine umfangreiche Forschungsliteratur zum Ventoux-Brief erschienen, die im folgenden nur auszugsweise genannt werden kann: Als einen der »großen, unentschieden zwischen den Epochen [sc.: Mittelalter und Neuzeit] oszillierenden Augenblicke« deutet die (fiktive) Bergbesteigung bekanntlich Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, erweiterte und überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt a. M. 21973 (11966) (Die Legitimität der Neuzeit 3), S. 142. Eine Revision dieses Ansatzes versucht nun Karlheinz Stierle, Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München/Wien 2003, der – ähnlich wie Küpper, Das Schweigen der Veritas [Anm. 4] – darauf hinweist, »wie sehr Petrarca mit den nominalistischen Bewegungen seiner Zeit verknüpft ist« (S. 17; eine Auseinandersetzung mit Küppers Thesen ebd., S. 393–396; eine Analyse des VentouxBriefs mit einem Überblick auch zu älterer Forschung u.a. bei Jacob Burckhardt, Ernst Cassirer und Joachim Ritter ebd., S. 318–343). Bereits in einer älteren Arbeit hat Stierle den Brief in der Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrung positioniert; vgl. ders., Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrung, Krefeld 1979 (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln 29). Dazu kritisch Bernhard König, Petrarcas Landschaften. Philologische Bemerkungen zu einer neuen Deutung, Romanische Forschungen 92 (1980), S. 251– 282. Mit der Tradition des Augustinismus, aber auch antiken Einflußsphären (u. a. Livius, Seneca) beschäftigen sich die Beiträge von Jill Robbins, Petrarch Reading Augustine: ›The Ascent of Mont Ventoux‹, Philological Quarterly 64 (1985), S. 533– 553; Andreas Kablitz, Petrarcas Augustinismus und die Ecriture der VentouxEpistel, Poetica 26 (1994), S. 31–69; Jens Pfeiffer, Petrarca und der Mont Ventoux (Zu ›Familiares‹ IV,1), GRM NF 47 (1997), S. 1–24. Die bereits bei Augustinus angelegten Ansätze zu einer Theorie der memoria und imaginatio betonen Michael O’Connell, Authority and the Truth of Experience in Petrarch’s ›Ascent of Mont Ventoux‹, Philological Quarterly 62 (1983), S. 507–520, und Albert Russel Ascoli, Petrarch’s Middle Age: Memory, Imagination, History, and the ›Ascent of Mont Ventoux‹, Stanford Italian Review 10 (1991), S. 5–43. Als einen Markstein in der Geschichte der Individualität interpretiert den Ventoux-Brief Walter Haug,
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Im ersten Satz bekennt das sich im Brief artikulierende Ich,15 es habe den Berg aus dem bloßen Drang, dessen außergewöhnliche Höhe zu sehen, bestiegen (sola videndi insignem loci altitudinem cupiditate ductus; 1, S. 4). Die Unternehmung sei durch die Lektüre einer Textstelle des römischen Geschichtsschreibers Livius ›zufällig‹ (forte) angeregt worden, der Philipps von Makedonien Besteigung des Bergs Haemus beschrieben habe (2, S. 4). Nach reiflicher Überlegung hat sich Petrarca den eigenen Bruder [Gherardo ] als Begleiter auserwählt (3–5, S. 6–8). Diesem, später in ein Kartäuserkloster eingetretenen Gefährten fällt im Brief die Rolle zu, den Gipfel auf direktem Weg zu erklimmen, während Petrarcas Aufstieg nur über Umwege und abgelegene Talgründe erfolgt – ein Sinnbild für die geradlinige Lebensführung Gherardos, die Petrarca mit seinem eigenen von Rückschlägen und Verfehlungen gezeichneten Lebensweg kontrastiert.16 An diesem Detail zeigt sich, daß die Bergbesteigung eine allegorische Sinndimension besitzt, die den spirituellen Weg der Seele zu Gott
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Francesco Petrarca – Nicolaus Cusanus – Thüring von Ringoltingen. Drei Probestücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert, in: Individualität, hg. von Manfred Frank/Anselm Haverkamp, München 1988 (Poetik und Hermeneutik 13), S. 291–324, Nachdruck in: ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelaters. Studienausgabe, Tübingen 1997, S. 332–361; in Konfrontation mit zwei Texten des 15. Jahrhunderts arbeitet Haug die »fingierte Unmittelbarkeit« (S. 348) und »narrative Montage« (S. 360) als besondere Eigenarten des Briefs heraus und betont, daß dabei »im Rückgriff auf Traditionelles die Erfahrung dieses Traditionellen zum biographischen Thema« gemacht werde (S. 360). Allegorische Deutungen der Bergbesteigung versuchen mit unterschiedlichen Ansätzen Ruth und Dieter Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, in: Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, hg. von Heinz-Dieter Weber, Konstanz 1989 (Konstanzer Bibliothek 13), S. 53–95, und dies., Petrarca und der Mont Ventoux, Merkur 46 (1992), S. 290–307; sowie Viktor Lau, Allegorien des Sehens, Auslegung des geschichtlichen Seins und skeptische Narrativität. Francesco Petrarca: ›Die Besteigung des Mont Ventoux‹, Scientia poetica 3 (1999), S. 1–19. Die Interaktion von Bericht und Reflexion (einschließlich allegorischer Verfahren) analysiert Enrico Straub, Bericht und Reflexion in Petrarcas Ventoux-Epistel (Familiares IV,1), in: Italien und die Romania in Humanismus und Renaissance. Festschrift für Erich Loos zum 70. Geburtstag, hg. von Klaus W. Hempfer/Enrico Straub, Wiesbaden 1983, S. 270–288. Da es sich um ein literarisch konstruiertes Ich handelt, kann dieses selbstverständlich nicht mit Petrarca als biographisch fassbarer Person gleichgesetzt werden. Der ständige Verweis auf diese Problematik würde jedoch die folgenden Ausführungen stilistisch erschweren. Mitunter wird deshalb für das Ich des Briefs stillschweigend der Name Petrarca eingesetzt. Gherardo war »nach einem wilden Jugendleben und nach dem Tod seiner Geliebten ins Kloster eingetreten« und hatte dort »seit 1343 den Heilsweg der Weltaskese zu Gott beschritten« (Groh, Petrarca und der Mont Ventoux [Anm. 14], S. 297). Die ›Conversio‹ des Bruders fand also erst nach den im Ventoux-Brief berichteten Ereignissen statt, was die These der verspäteten Entstehung zusätzlich stützt; vgl. Billanovich, Petrarca und der Ventoux [Anm. 14], S. 456. Zur (allegorischen) Deutbarkeit der Bruder-Figur zuletzt Lau, Allegorien des Sehens [Anm. 14], S. 4 mit Anm. 7.
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beschreibt. Im (fiktiven) Dialog mit dem Adressaten Francesco Dionigi entwirft Petrarca den Gegensatz zwischen dem Verharren in den »Talkesseln der Sünden« (in convallibus peccatorum) und dem Aufstieg zum »Gipfel seligen Lebens« (beate vite culmen; 14, S. 14). Auf dem Gipfel angelangt, gibt sich Petrarca dem Eindruck eines überwältigenden Panoramas hin. Der Betrachter steht einem Betäubten gleich da: stupenti similis steti (17, S. 16). Das im Schauen erfahrene Staunen drückt sich durch wiederholte Tempuswechsel ins Präsens aus, die das Geschehen noch in der Gegenwärtigkeit des Briefschreibens präsent halten: respicio (17, S. 16), dirigo [. ..] oculorum radios (18, S. 16). Selbst die Wolken liegen zu Petrarcas Füßen: nubes erant sub pedibus (17, S. 16). Sein Blick schweift gegen sein Geburtsland Italien, wo er in Bologna einst die Rechte studiert hat (19, S. 18). Später blickt er weiter nach Westen in Richtung der Pyrenäen, wo die Berge der Provinz von Lyon, die Küstenabschnitte bei Marseille und Aigues-Mortes zu sehen sind; die Rhone liegt direkt unter seinen Augen: sub oculis (25, S. 22).17 Das Panorama wird durch den Beschauer als ambivalent erfahren, denn einerseits findet er »an Irdischem Geschmack« (terrenum aliquid saperem), andererseits erhebt er seine »Seele – nach dem Beispiel des Körpers – zu Höherem« (exemplo corporis animum ad altiora subveherem; 26, S. 22). In diesem zwiespältigen Moment greift Petrarca zu Augustins ›Confessiones‹, die er stets – auch bei der Besteigung des Mont Ventoux – in einer Taschenausgabe bei sich getragen haben will (26, S. 22) und schlägt nun abermals »zufällig« (forte) eine bestimmte Textstelle auf (27, S. 22).18 Noch der Briefschreiber ruft »Gott zum Zeugen an« (Deum testor ipsumque qui aderat), daß sein Blick zuerst auf einen Satz im zehnten Buch gefallen sei: Et eunt homines admirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et occeani ambitum et giros siderum, et relinquunt se ipsos (27, S. 24, nach Augustins ›Confessiones‹ X, 8, 15). (»Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.«)
Die Lektüre ruft bei dem Lesenden eine ähnlich betroffene Reaktion hervor wie das geschaute Panorama: »Ich war betäubt« (obstupui) gesteht der Briefschreiber im Echo auf die zuvor artikulierte Bestürztheit (stupenti similis steti) ein (28, S. 24). Der faszinierte Blick auf die zu Füßen liegende Landschaft weicht dem Eingeständnis, daß »nichts bewundernswert sei, außer der Seele« (nichil preter animum esse mirabile; 28, S. 24).19 17
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Daß es sich nicht um eine realistische Landschaftsbeschreibung handelt, wurde in der Forschung wiederholt hervorgehoben; vgl. zuletzt Martinelli, Petrarca e l’epistola del Ventoso [Anm. 14], S. 9, Anm. 1. Die hier ausführlicher als im Zusammenhang mit Livius betonte ›Zufälligkeit‹ gehört zum Ritual einer apertio libri. Vgl. Martinelli, Petrarca e l’epistola del Ventoso [Anm. 14], S. 24, 30 u. ö.
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Im Hinblick auf die gewonnene Erkenntnis leugnet Petrarca dabei jene ›Zufälligkeit‹, die er der Auffindung der Textstelle zugebilligt hat: Er kann nicht glauben, daß sich dies »zufällig so gefügt haben solle« (nec opinari poteram id fortuito contigisse) und ist überzeugt, daß das, was er bei Augustinus gelesen habe, für ihn und keinen anderen gesagt worden sei (30, S. 24). Im Abstand weniger Zeilen wird hier also ein Wechsel in der Sichtweise des ›Zufälligen‹ manifest: Die Auffindung der Textstelle erfolgt – wie bei Livius – ›zufällig‹, während diese ›Zufälligkeit‹ der aus der Augustinus-Lektüre gewonnenen Erkenntnis gerade abgesprochen wird: neben die Kontingenz tritt ein (aus neuplatonischen Traditionen gewonnenes) Prinzip der Providentia.20 Die veränderte Sichtweise scheint damit gerade jene Spannungen zu reflektieren, welche der Augustinismus des 14. Jahrhunderts hinsichtlich der Kontingenz weltlicher Geschicke artikuliert: Kontingenz herrscht im Bereich der secunda causa, doch bleibt diese – mehr oder weniger mittelbar – an die prima causa göttlicher Bestimmung rückgekoppelt.21 Im Spannungsfeld dieser Kontingenz-Auffassung steht auch die von Petrarca vollzogene ›Conversio‹, die sich dabei eng an die im achten Buch der ›Confessiones‹ geschilderte Bekehrungsszene anlehnt. Petrarca betont, daß Augustinus einst ebenso verfahren sei (idem de se ipso suspicatus olim esset Augustinus): auch er habe die zufällig aufgeschlagene Stelle des Römerbriefs auf sich bezogen; das bei Augustinus angeführte Zitat wird im Ventoux-Brief wörtlich wiederholt (30, S. 24). Ebenso sei es zuvor schon dem Mönchsvater Antonius mit dem Vers aus dem Matthäus-Evangelium ergangen (31, S. 24–26). Der konsequente Rückgriff auf die Bekehrung des Augustinus führt bei Petrarca zu einer Umkehr von Außen nach Innen. Die Außenschau auf die zu Füßen liegende Landschaft wird fortan nicht mehr thematsiert. An ihre Stelle tritt der Blick in die eigene Seele. Petrarca richtet die ›inneren Augen‹ auf sich selbst: in me ipsum interiores oculos reflexi (29, S. 24). Und wenig später tadelt er an den Menschen das Ansinnen, daß sie »außerhalb suchen, was im Inneren zu finden war« (quod intus inveniri poterat, querentes extrinsecus; 32, S. 26). Diese Wendung nach Innen ist bei der Interpretation des Briefs nur dann angemessen verstehbar, wenn man den Kontext jenes Zitats berücksichtigt, das 19
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Nach Seneca, Ad Lucilium epistulae morales, I,8,5 (hg. von L[eighton] D[urham] Reynolds, Oxford 1965, S. 15). Vgl. Billanovich, Petrarca und der Ventoux [Anm. 14], S. 452; danach die jüngere Forschungsliteratur, z.B. Kablitz, Petrarcas Augustinismus [Anm. 14], S. 55; Pfeiffer, Petrarca und der Mont Ventoux [Anm. 14], S. 5. Vgl. zur Problematik auch Lau, Allegorien des Sehens [Anm. 14], S. 11f. Für Martinelli, Petrarca e l’epistola del Ventoso [Anm. 14], S. 30–32, ist u.a. dieser Wechsel ein Anzeichen dafür, daß die im folgenden zu besprechenden Abschnitte 30 bis 34 erst im Zuge einer um 1353 anzusetzenden Redaktion in den Brief eingefügt wurden. Für ein anregendes Gespräch über diesen Sachverhalt danke ich Herrn Prof. Dr. Peter Strohschneider (Universität München).
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Petrarca aus dem zehnten Buch der ›Confessiones‹ anführt: »Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge [...] – und verlassen dabei sich selbst.« (X, 8, 15). Die gegenüber der Bekehrung selbst um zwei Bücher nach hinten verschobene Stelle findet sich bei Augustinus innerhalb von Ausführungen zur Wirkungsweise des Gedächtnisses.22 Augustinus sagt dort, daß er »in Stufen aufsteigen (wolle) zu dem, der ihn gemacht« habe (gradibus ascendens ad eum, qui fecit me) und dabei die Räume seines Gedächtnisses durchmesse (X, 8, 12). Bereits in der antiken Rhetorik wird das Gedächtnis mit räumlichen Metaphern belegt.23 Augustinus schließt hier an und spricht von den Schatzhäusern (thesauri; X, 8, 12, X, 8, 14), Feldern (campi; X, 8, 12, X, 17, 26), den Hallen (praetoria; X, 8, 12; aula, X, 8, 14), Grotten und Höhlen (antra et cavernae, X, 17, 26) des Gedächtnisses. Diese seien, so Augustinus in Anlehnung an die antike Tradition, mit »unzähligen Bildern« (innumerabiles imagines) gefüllt, die seine »Sinne aus sinnlich wahrnehmbaren Dingen zusammengetragen« hätten (de cuiuscemodi rebus sensis invectae; X, 8, 12). In seinem ›Inneren‹ aber, in dieser riesigen »Halle seines Gedächtnisses« (in aula ingenti memoriae meae), begegne er sich selbst (ibi mihi et ipse occurro; X, 8, 14). Es geht Augustinus um die im Gedächtnis gespeicherten Bilder, wenn er sagt, daß die Menschen hingingen, um Naturphänomene wie die ›Höhen der Berge‹, die ›Fluten des Meeres‹ oder die ›Kreisbahnen der Gestirne‹ zu bestaunen. Während er rede, so Augustinus, seien ihm »aus dem Schatzhaus [s]eines Gedächtnisses die Bilder all der Dinge gegenwärtig«, die er ausspreche (praesto sunt imagines omnium quae dico ex eodem thesauro memoriae; X, 8, 14). Der Satz Et eunt homines admirari [...], den Petrarca in seinem Ventoux-Brief zitieren wird, ist also zunächst nichts anderes als eine in Augustins Ausführungen eingeflochtene direkte Rede. Augustinus bezieht sich darauf, wenn er sagt, daß er diese Naturphänomene, während er sie ausgesprochen habe, nicht mit eigenen Augen, sondern als Bilder in seinem Gedächtnis betrachte. Durch die Speicherung der Bilder, so Augustinus, sähe er diese »in so ungeheuren Räumen, als sähe er sie draußen« (viderem spatiis tam ingentibus, quasi foris viderem; X, 8, 15). Aus dem Zusammenhang der ›Confessiones‹ gelöst, erscheint der Satz im Ventoux-Brief dagegen als Kritik an jener cupiditas videndi, die Petrarca als Motivation seiner Bergbesteigung anführt.24 Und es ist nur konsequent, wenn Petrarca die redu22
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Vgl. zum Abschnitt auch Janet Coleman, Ancient and Medieval Memories. Studies in the reconstruction of the past, Cambridge [usw.] 1992, S. 90–97; zur Einarbeitung in Petrarcas Ventoux-Brief Martinelli, Petrarca e l’epistola del Ventoso [Anm. 14], S. 24–27. Vgl. Harry Caplan, Memoria. Treasure-House of Eloquence, in: ders., Of Eloquence. Studies in Ancient and Mediaeval Rhetoric, hg. von Anne King/Helen North, Ithaca/London 1970, S.196–246. Vgl. dazu auch Robbins, Petrarch Reading Augustine [Anm. 14], S. 543: »Augustine
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zierte Sinndimension des aus dem Kontext gelösten Satzes in der Weise nutzt, daß er nach der Lektüre dieses Satzes seine inneren Augen auf sich selbst richtet. Er wendet sich damit nach der äußeren Schau des Bergpanoramas auf seine Art jenen Innenräumen zu, die Augustinus im zehnten Buch der ›Confessiones‹ anhand der Wirkungsweise des Gedächtnisses beschreibt. Macht man sich bewußt, daß der bei Petrarca zitierte Satz aus einer Abhandlung über das Gedächtnis stammt, so zeigt sich, daß diese Thematik auch dem Ventoux-Brief eingeschrieben ist. Wie Petrarca ausdrücklich betont, »rief er sich ins Gedächtnis zurück« (recolens; 29, S. 24), daß auch die Bekehrung des Augustinus anhand der Lektüre einer Textstelle bei Paulus erfolgte, die er eigens für sich geschrieben dachte. Selbst der Rundblick auf dem Mont Ventoux führt Petrarca dazu, daß er sich »von der Betrachtung des Raums« (cogitatio [...] a locis) übergehend »zu jener der Zeit« (ad tempora) seiner vergangenen Erlebnisse, etwa des Studiums in Bologna, aber auch seiner begangenen Verfehlungen erinnert (19, S. 18).25 Schließlich läßt sich auch die Aufzeichnung des Briefs als ein solches Erinnerungswerk ansehen. Denn es gibt gute Gründe für die Annahme, daß Petrarca den Brief in der Gestalt, die in die Sammlung ›Familiares‹ Eingang fand, nicht am selben Tag nach der erschöpfenden Bergbesteigung verfaßte, sondern diese vielmehr später aus dem Gedächtnis und unter der Verfügbarkeit einer reich ausgestatteten Bibliothek herstellte.26 Eines der Hauptargumente für diese Vermutung ist die Tatsache, daß Petrarca gemäß der (wohl fiktiven) Datierung des Briefs jenes Alter von 33 Jahren hatte, das auch Augustinus – seinerseits in Anlehnung an die 33 Lebensjahre Christi – für seine Bekehrung in Anspruch nimmt.27 Die in Augustins ›Confessiones‹ beschriebene Wirkung des Gedächtnisses erweist sich damit auch für Petrarcas Ventoux-Brief als grundlegend. Das Gedächtnis kontrastiert dabei mit jener Augenlust (cupiditas videndi), von der am Beginn der Epistel die Rede ist.28 Beide Oppositionsfelder konstituieren sich
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makes a meta-discursive leap: he turns away from the referential value of these words [...], and speaks about speaking. Petrarch, in stopping where he stops, literalizes Augustine’s words precisely where Augustine turns away from their referential value«; ferner ebd., S. 548: »Petrarch [...] takes Augustine’s text as a discourse about seeing instead of as a discourse about words«. Ähnlich betont Stierle, Francesco Petrarca [Anm. 14], S. 338, daß Petrarca »absichtlich den Kontext ausblenden« will. Letzteres ebenfalls mit einem Zitat aus den ›Confessiones‹, in dem sich Petrarca die ›Niederträchtigkeiten‹ und ›Verderbnisse‹ seiner Seele ins Gedächtnis zurückruft: Recordari volo transactas feditates meas et carnales corruptiones anime mee, non quod eas amem, sed ut amem te, Deus meus (20, S. 18, nach ›Confessiones‹ II, 1, 1). Einzelne Nachweise bei Billanovich, Petrarca und der Ventoux [Anm. 14]; mit dem Ansatz der Einfügung von Abschnitt 30 bis 34 im Zuge einer späteren Redaktion Martinelli, Petrarca e l’epistola del Ventoso [Anm. 14]. Dazu neben Billanovich, Petrarca und der Ventoux [Anm. 14], S. 454–456, auch Groh, Petrarca und der Mont Ventoux [Anm. 14], S. 292; Steinmann im Nachwort zur Ausgabe [Anm. 13], S. 46f. Vgl. auch Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde [Anm. 14], S. 143;
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von Anfang an über Lektüre-Prozesse, die in Zusammenhang mit der Wiederkehr wichtiger Leitbegriffe vorgeführt werden: Sowohl die Livius- wie auch die Augustinus-Lektüre erfolgt ›zufällig‹ (2 und 27). Beide Lektüren lösen Staunen aus, jene des Livius im Hinblick auf das geschaute Panorama (stupenti similis steti, 17), jene des Augustinus hinsichtlich der gewonnenen Erkenntnis über die Fragwürdigkeit des veräußerlichten Sehens (obstupui, 28). Dabei liegt die eigentliche Pointe der Epistel in jener Dynamik von Innenwelt und Außenwelt, die Petrarca vor dem Hintergrund der beiden LektüreVorgänge entwirft. Bei Augustinus wird das Gedächtnis stets nur als Ort des Rückzugs beschrieben, als ein ›Innenraum‹, aus dem das Ich im Zustand der Gottfindung nicht heraustreten kann: memoriae recessus (X, 8, 13), secreti atque ineffabiles sinus eius (ebd.), penetrale (X, 8, 15), intus in memoria (ebd.) lauten die entsprechenden Wendungen.29 Petrarca dagegen stößt, angeregt durch Livius, aus diesem Innenraum zu einer Betrachtung der sinnlich wahrnehmbaren Welt vor. Das im Ventoux-Brief beschriebene Ich setzt sich der cupiditas videndi aus und leitet gerade aus der nach Außen gerichteten Schaulust die Erinnerung an Vergangenes – etwa die Studienjahre in Italien – ab. Zuletzt erfolgt zwar der Rückzug auf die Augustinische Innenschau, aber Petrarca ist, als er sich auf diesen Standpunkt zurückzieht, ein anderer als der bekehrte Augustinus, da er die wechselnde Perspektive von Innen und Außen zugelassen und anhand des beschriebenen Ich eindrucksvoll geschildert hat.30 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, daß das Gedächtnis von Augustinus letztlich mit der rationalen Seele, ja mit dem Ich, gleichgesetzt wird: animus [est] [...] ipsa memoria, heißt es an einer Stelle (X, 14, 21).31 Was bei
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und Pfeiffer, Petrarca und der Mont Ventoux [Anm. 14], S. 4: »›Curiositas‹ versus ›Memoria‹ lautet der Gegensatz«. Von einem ›Kontrast‹ ist nach wie vor auszugehen, auch wenn mit Stierle, Francesco Petrarca [Anm. 14], S. 16f., 320f., Blumenbergs Ansatz, daß sich im Ventoux-Brief »die memoria gegen die curiositas durch(setze)« (S. 143) zu relativieren ist. Das lateinische Wort penetrale bezeichnet das ›Inner(st)e‹ eines Heiligtums (Tempel, Hauskapelle). Der (nicht gänzlich gesicherte) etymologische Zusammenhang mit penetrare evoziert das ›Eindringen‹ in einen (sakralen) Raum, während das ›Ausgreifen‹ aus diesem Raum nicht thematisiert wird. Vgl. auch Thesaurus Linguae Latinae 10,1, Fasz. 7, Stuttgart/Leipzig 1992, Sp. 1061f. – Den Zustand einer der Bekehrung vorausgehenden Gottferne umschreibt Augustinus damit, daß Gott bei ihm war, während er nicht bei Gott war: mecum eras, et tecum non eram (X, 27, 38). Dieser Zustand wird auch anhand des Gegensatzes von Innen und Außen beschrieben: et ecce intus eras et ego foris (ebd.). In diesem Sinne auch Stierle, Francesco Petrarca [Anm. 14], S. 340: »Der auf dem Berg aufgebrochene Konflikt zwischen voluptas oculorum und Hinwendung zur Heilssorge und zu den Bewegungen des eigenen Inneren wird nicht zur Entscheidung gebracht, er verharrt in schwebender Unentschiedenheit. [...] Das Entscheidende liegt bei Petrarca nicht in der Entscheidung, sondern in der Durcharbeitung und dramatischen Verdichtung einer Erfahrung des Bewußtseins.« Ähnlich: magna vis est memoriae [...] et hoc animus est, et hoc ego ipse sum (X, 17, 26). Vgl. auch Küpper, Das Schweigen der Veritas [Anm. 4], S. 21, Anm. 68.
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Augustinus über das Gedächtnis gesagt wird, kann mithin für die Seele ganz allgemein gelten. Von diesem weiten Gedächtnisbegriff her ist auch die Aneignung des Augustinischen Gedankenguts bei Petrarca besser verständlich. Während sich bei Augustinus Gedächtnis und Seele auf die ihnen eigenen Kräfte zurückziehen, unternimmt Petrarca jenen Vorstoß, bei dem Gedächtnis und Seele aus ihrer Innenwelt heraustreten.32 Für ein solches Wagnis findet Petrarca in seinem Brief eine Metapher, die er gezielt mit der bloß materiellen Größe des Mont Ventoux kontrastiert. Auf dem Rückweg erscheint ihm der Berggipfel (cacumen montis) kaum eine Elle hoch im Vergleich zur ›Höhe menschlicher Betrachtung‹: et vix unius cubiti altitudo visa est pre altitudine contemplationis humane (33, S. 26). Mit der hier auf Bildebene zum Ausdruck kommenden vertikalen Dimension korrespondiert auf der Bedeutungsebene eine horizontale Dimension. Denn es ist der Versuch, die Öffnung der Innenwelt auf ein Außen zu denken, aus der sich diese altitudo letztlich konstituiert. Die sich auf ein Außen öffnende ›Höhe menschlicher Betrachtung‹ dürfte damit das eigentliche Anliegen des Ventoux-Briefs darstellen. Während die Bewegung des Aufstiegs bei Augustinus zu Gott (›Confessiones‹ X, 8, 12: gradibus ascendens ad eum, qui fecit me) und in den ›Innenraum‹ des Selbst führt, erweist sich die altitudo contemplationis humanae als eine Erkenntnisstufe, auf der es dem Menschen anheimgestellt ist, die gegenläufigen Bewegungen innerer und äußerer Erfahrungen selbstverantwortlich zu ertragen.33
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In seiner Studie über die Geschichte der perspektivischen Wahrnehmung faßt Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. Fundamente und Manifestationen der aperspektivischen Welt, Stuttgart 21966 (11949/53), Petrarcas Erlebnis auf dem Mont Ventoux gleichermaßen als »Einbruch des Raumes in [die] Seele« wie als »Ausbruch des Raumes aus [der] Seele« (Bd. 1, S. 21). Er folgert: »die alte Welt, die in dem Worte Augustins, daß die Zeit in der Seele sei, ihre bündigste Formulierung fand, jene alte Welt, in der nichts außerhalb der Seele Liegendes wunderbar und des Anschauens für wert befunden wurde, sie beginnt zu zerbrechen«. Petrarca wird damit für Gebser zum Kronzeugen einer ›perspektivischen Welt‹, deren Auflösung in einen Aperspektivismus der Autor für die eigene Gegenwart diagnostiziert. Damit wendet sich diese Deutung zugleich gegen Kablitz, Petrarcas Augustinismus [Anm. 14], S. 68, wonach der Ventoux-Brief, im Sinne eines »radikalisierten Augustinismus [...] den Menschen in die gottverlassene Natur seiner selbst einschließt und [...] seine Sündhaftigkeit und Fehlbarkeit zur unabwendbaren conditio humana erklärt«. Für Augustinus ist das Einlassen auf das Gedächtnis ja nicht nur ein Einlassen auf sich selbst (vgl. ›Confessiones‹ X, 8, 14), sondern auch ein Einlassen auf Gott (›Confessiones‹ X, 8, 12: ascendens ad eum, qui fecit me). Auch Petrarca gesteht dem Gedächtnis und der Seele dieses sich Einlassen auf Gott zu. Vgl. im Ventoux-Brief, 20, S. 18, das Zitat aus ›Confessiones‹ II,1,1 (recordari volo [...] feditates [...] et [...] corruptiones anime mee, [...] ut amem te, deus meus; dazu oben, Anm. 25), ferner 32, S. 26 (Bezug der nobilitas animi auf den göttlichen Ursprung). Er gelangt über diese Stufe jedoch durch den Erkenntnisgrad der altitudo contemplationis humanae, die sich gleichermaßen auf innere und äußere Erfahrung bezieht, hinaus.
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Petrarcas um die Dynamisierung von Außenwelt und Innenwelt bereicherte ›Conversio‹ folgt damit nur sehr bedingt dem von Augustinus vorgegebenen Paradigma. Diese begrenzte Gefolgschaft gilt im übrigen auch für den Ablauf der Bekehrung, bei der nun Augustinus als Konvertit und Autor zum Referenzpunkt wird: – auch Petrarca beruft sich auf die Beispielhandlung eines Vorgängers (hier nun nicht des Mönchsvaters Antonius, sondern eben des Augustinus); – auch für Petrarca löst ein Lektüreerlebnis die Bekehrung aus (hier nun aber nicht ein Vers des Evangeliums, sondern eben ein Satz aus den ›Confessiones‹); – ausgeblendet bleibt jedoch die religiöse ›Imitatio‹ der Bekehrung, die bei Augustinus durch Alypius realisiert ist und die Petrarca etwa in der Gestalt des Bruders Gherardo hätte umsetzen können.34 Genau dieser Aspekt spielt nun aber bei jener ›Conversio‹ eine Rolle, die in der ›Vita‹ Heinrich Seuses geschildert wird. Die Komponente der religiösen ›Imitatio‹ durch eine Drittfigur tritt hier zu einer verdeckten Bezugnahme auf Augustinus hinzu, die – ähnlich wie bei Petrarca – eine Dynamisierung des bei Augustinus beschriebenen Innenraums erkennen läßt. Berücksichtigt man die mutmaßliche Entstehungszeit des Ventoux-Briefs und der ›Vita‹, so zeigt sich, daß beide nur wenige Jahre auseinander liegen. Die reale Abfassungszeit von Petrarcas Epistel dürfte auf etwa 1353, jene der ›Vita‹ auf etwa 1360 zu datieren sein. Der Dominikaner Heinrich Seuse hat an Studienstätten seines Ordens in Konstanz, Straßburg und Köln eine profunde philosophische und theologische Ausbildung erhalten. In der sogenannten ›Vita‹ schildert er den mystischen Läuterungsweg eines Mönchs, den er ›Diener der ewigen Weisheit‹ nennt.35 Geistige Entwicklung und Geschicke dieses ›Dieners‹ sind nach Seuses eigenem Leben modelliert, doch unterliegt die Gesamtkonzeption der ›Vita‹ spezifisch literarischen Gestaltungsmustern.36 Auch in diesem in zwei große Teile gegliederten 34
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Vgl. auch Robbins, Petrarch Reading Augustine [Anm. 14], S. 540–542, 547f. – Zu pauschal bleibt m.E. das Urteil von Stierle, Francesco Petrarca [Anm. 14], S. 340: »Von einer Bekehrung Petrarcas kann ebensowenig die Rede sein wie von einer rhetorischen Anverwandlung Augustinus’.« Ausgabe (im folgenden zitiert): Seuses Leben, in: Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 7–195. Eine jüngere Gesamtdarstellung bietet Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, S. 445–468 (mit Verweis auf einschlägige Forschungsliteratur). Das Profil der historischen Gestalt Seuses muß – methodisch nicht unproblematisch – über weite Strecken aus den Äußerungen der ›Vita‹ erschlossen werden. Wichtige Informationen bieten: Alois M[aria] Haas/K[urt] Ruh, Seuse, Heinrich OP, 2VL VIII, Sp. 1109–1129; Arno Borst, Heinrich Seuse. Dominikaner in Konstanz, in: ders., Mönche am Bodensee 610–1525, Sigmaringen 31991 (11978) (Bodensee-Biblio-
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Text wird die für das 14. Jahrhundert drängende Frage gestellt, wie sich das Ich im Bezug zu Gott und der eigenen Umwelt positionieren soll. Die im ersten Teil (Kap. 20) beschriebene ›Conversio‹ gestaltet sich als Abkehr von einer asketischen Lebensführung, die durch extreme Bußleistungen und Selbstquälereien gekennzeichnet war. Zu den selbst gewählten Martern gehörten Geißelungen, Schweigen, das Anlegen eines härenen Hemdes, Wärmeentzug im Winter, Eß- und Trinkverzicht, Vernachlässigung der Körperpflege, eine Tür als Nachtlager und vieles mehr. In seinem vierzigsten Lebensjahr (der biblischen Zahl der Buße und des Fastens)37 vermag der ›Diener‹ aus physischer Entkräftung diese Martyrien nicht mehr länger zu praktizieren und verfällt in tiefe Traurigkeit. Eines Morgens sitzt er in seiner Klosterzelle und hört eine innere Stimme, die o o ihm zuruft: tu uf der celle venster, und lug und lern! (S. 58, Z. 5).38 Als er das Fenster öffnet und in den Kreuzgang blickt, sieht er einen Hund, der ein vero o schlissen fusstuch (die Fußbekleidung der Armen) im Maul trägt und es im Spiel zerreißt. Die Stimme bedeutet dem ›Diener‹, daß es ihm selbst ebenso im Munde o seiner Mitbrüder ergehen werde: reht also wirst du in diner bruder munde (S. 58,
37 38
thek 5), S. 246–263; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3 [Anm. 35], bes. S. 417–420. Den literarischen Konstruktcharakter der ›Vita‹ betonen Jeffrey F. Hamburger, Medieval Self-Fashioning. Authorship, Authority, and Autobiography in Seuse’s ›Exemplar‹, in: Christ among the Medieval Dominicans. Representations of Christ in the Texts and Images of the Order of Preachers, hg. von Kent Emery Jr./Joseph Wawrykow, Notre Dame (Indiana) 1998 (Notre Dame Conferences in Medieval Studies 7), S. 430–461, auch in: ders., The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, S. 233–278 und 534–546 (der Titel des Beitrags spielt an auf Stephen Greenblatt, Renaissance SelfFashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1980, vgl. Hamburger, S. 277 mit Anm. 151); sowie Stephanie Altrock/Hans-Joachim Ziegeler, Vom diener der ewigen wisheit zum Autor Heinrich Seuse. Autorschaft und Medienwandel in den illustrierten Handschriften und Drucken von Heinrich Seuses ›Exemplar‹, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, hg. von Ursula Peters, Stuttgart/ Weimar 2001, S. 150–181. – Im Anschluss an einschlägige Textstellen (bis riter!, S. 55, Z. 25; ich bin ein aventu´rer, S. 149, Z. 11) wurde wiederholt auf Modelle der (geistlichen) Ritterfahrt und des Aventiure-Romans, aber auch der Väter- und Mönchstradition verwiesen, so besonders bei Maria Bindschedler, Seuses Begriff der Ritterschaft, in: Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag 1366–1966, hg. von Ephrem M. Filthaut, Köln 1966, S. 233–239, Nachdruck in dies., Mittelalter und Moderne. Gesammelte Schriften zur Literatur, zur Feier des 65. Geburtstages hg. von Andre´ Schnyder, Bern/Stuttgart 1985, S. 170–177; und Anne-Marie Holenstein-Hasler, Studien zur Vita Heinrich Seuses, Freiburg (Schweiz) 1968 (Sonderdruck aus: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 62 [1968]). Vgl. auch Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3 [Anm. 35], S. 447–449, 466–468. Vgl. Martin Klöckener, Österliche Bußzeit, LThK 7 (1998), Sp. 1174–1176. Die in der Forschungsliteratur viel behandelte Szene wird ausführlich besprochen bei Paul Michel, Heinrich Seuse [Anm. 2], S. 360–364, und Alois [Maria] Haas, Seuse lesen [Anm. 2], S. 270f. (jeweils mit weiterer Literatur).
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Z. 10f.). Der ›Diener‹ faßt daraufhin den Entschluß, sich künftig »stillschweigend von der Umwelt – und nicht mehr von sich selber – schlecht behandeln zu lassen«.39 Er nimmt das Fußtuch an sich und behält es über viele Jahre. Immer dann, wenn er von der Entscheidung, die Leiden nunmehr »von außen auf (sich) zukommen« zu lassen,40 abkommen will, nimmt er das Fußtuch hervor, um sich neu auf seinen Entschluß zu besinnen.41 Stilistische Mittel wie die direkte Rede der zum ›Diener‹ sprechenden Stimme oder die offenkundige Raumregie lassen die Szene als authentisches Erlebnis erscheinen. Doch sind die intertextuellen Signale auch hier offenkundig. Die o Formel lug und lern ist eine zu deutliche Anspielung auf das Augustinische tolle lege, als daß sie überhört werden könnte. Das Homoioteleuton (der gleichklingende Ausklang) der lateinischen Imperative weicht in der deutschen Entspreo chung einem Homoioprophoron (einer Alliteration): aus tolle lege wird lug und lern. Aufschlußreich für die eingangs skizzierte Fragestellung ist dabei die Semantik des deutschsprachigen Äquivalents, denn aus dem bloßen Lesen und Auflesen bei Augustinus wird in Seuses Aneignung ein Schauen und Lernen. Der Blick fällt nicht auf ein Buch, sondern wird durch das Fenster hinaus auf ein Geschehen gelenkt, das sich außerhalb der Zelle abspielt. Hier ist also jene Inszenierung des nach außen gerichteten Sehens wiederzufinden, die – allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen – auch in Petrarcas Ventoux-Brief begegnet. Was der ›Diener‹ beim Blick aus dem Fenster ›sieht und lernt‹, ist dann freilich ebenfalls von der literarischen Tradition vorgegeben: Die Fußtuchszene folgt einem Muster, das sich in den Lebensbeschreibungen der Mönchsväter, den sog. ›Vitae patrum‹ aus dem sechsten Jahrhundert, findet. Im ›Väterbuch‹, einer deutschsprachigen Übersetzung des späten 13. Jhs., heißt es, der Mönchsvater Moyses sei von seinen Brüdern gebeten worden, das er sie eteswas lerte.42 Moyses habe deshalb seinen Jünger Zacharias angewiesen, seinen Mantel nie39 40 41 42
Haas, Seuse lesen [Anm. 2], S. 271. Ebd. Vgl. unten, S. 290. Der Veter Buoch nach einer Breslauer Handschrift, hg. von Hermann Palm, Stuttgart 1863 (Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart 77), § 15, S. 4, Z. 21. Die lateinische Fassung findet sich in ›De vitis patrum‹, liber VII, caput IX, 2, PL 73, Sp. 1032f. Der Fund stammt von Louise Gnädinger, Das Altväterzitat im Predigtwerk Johannes Taulers, in: Unterwegs zur Einheit [wie Anm. 11], S. 253–267, hier, S. 258, Anm. 22; Michel, Heinrich Seuse [Anm. 2], S. 363. Zum Einfluß des ›Väterbuchs‹ auch Werner Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ›Vita‹ Heinrich Seuses, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. von Johannes Janota [u. a.], Tübingen 1992, S. 407–421 (zur Stelle S. 414); und Ulla Williams, Vatter ler mich. Zur Funktion von Verba und Dicta im Schrifttum der deutschen Mystik, in: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 2.–4. Oktober 1991, hg. von Rüdiger Blumrich/Philipp Kaiser, Wiesbaden 1994 (Wissensliteratur im Mittelalter 17), S. 173–188.
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derzulegen, darauf zu treten und ihn unter den Füßen (vnder den vuzen) zu zerknittern. Die Lehre des Moyses lautet, daß nur der ein wahrer Mönch sei, der sich auf dieselbe Weise zertreten lasse: Swer sich also nicht zvtreten lat, der mac ein munich nich sin.43 Seuses Rekurs auf Augustinus verfestigt sich durch diese Orientierung am Beispiel der Mönchsväter. Wie Augustinus – und nach ihm Petrarca – auf Antonius verweisen, so bezieht sich Seuse ganz offensichtlich auf das Vorbild des Moyses. Die in der ›Vita‹ geschilderte Bekehrungsszene wird damit ihrerseits als literarisches Gebilde erkennbar. Über den im ›Väterbuch‹ greifbaren Intertext läßt sich auch hier das in Augustins ›Confessiones‹ vorliegende Bekehrungsschema nachvollziehen. Allerdings sind die oben skizzierten Bestandteile von Beispielhandlung, Lektüreerlebnis und religiöser ›Imitatio‹ zum Teil nur implizit präsent: – implizit präsent ist die Beispielhandlung des Vorgängers Moyses in der Fußtuchszene; – implizit präsent ist das Lektüreerlebnis in der an die Imperative der ›Cono fessiones‹ gemahnenden Formel lug und lern; – explizit präsent ist in der ›Vita‹ dagegen der Bestandteil der religiösen ›Imitatio‹, den Seuse am Beispiel der Tösser Klosterfrau Elsbeth Stagel ausführlich darstellt.44 Diese ›geistliche Tochter‹ des ›Dieners der ewigen Weisheit‹ spielt im zweiten Teil der ›Vita‹ eine bedeutende Rolle. An ihr beschreibt Seuse den Stufenweg vom anfangenden über den fortschreitenden zum vollkommenen Menschen.45 Dieser ist so angelegt, daß der ›Diener‹ seiner ›geistlichen Tochter‹ vorausgeht; aber der Weg des ›Dieners‹ selbst offenbart sich den Lesern der ›Vita‹ recht eigentlich erst in den Spiegelungen, die er im Weg der ›geistlichen Tochter‹ findet. In der Beziehung zur ›geistlichen Tochter‹ spielt auch das Fußtuch eine wichtige Rolle. Der ›Diener‹ erwähnt es in einem Brief, der im sogenannten ›Briefbüchlein‹, einer Sammlung von Pastoralbriefen aus dem Kontext der Klosterseelsorge (cura monialium), enthalten ist.46 Der ›Diener› bekennt dort gegenüber 43 44
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Der Veter Buoch [Anm. 42], Z. 24f. Dazu Hamburger, Medieval Self-Fashioning [Anm. 36], S. 243, 246, 263–268; Altrock/Ziegeler, Vom diener der ewigen wisheit [Anm. 36], S. 163. Mit dem wichtigen Aspekt der (fiktiven bzw. realen) Ko-Autorschaft Elsbeth Stagels an der ›Vita‹ befassen sich Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988 (Hermaea NF 56), S. 135–142; Susanne Bürkle, Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen/Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38), S. 237–246. Dazu Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3 [Anm. 35], S. 445f. Es handelt sich um eine Auswahl der im ›Großen Briefbuch‹ enthaltenen Episteln, die
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Elsbeten der Staglin ze Tozz (S. 367, Z. 4), daß er bereits erwogen habe, das Tuch seiner Korrespondentin zu senden, daß er es aber nicht über sich bringe, den lieb gewordenen Gegenstand aus der Hand zu geben: Ich wolte dir han o o gesendet daz fusstuch, daz ich dem hund nam und mir es ze einem bilder han behalten, so ist es mir als lieb, daz ich es nit von mir mag gelan (S. 368, Z. 27–29). In der Fassung des ›Großen Briefbuchs‹, wo die Adressatin Elsbeth Stagel nicht ausdrücklich genannt wird, geht der Verfasser ausführlicher auf den Gebrauch des Fußtuchs ein. Dabei wird auch das Betrachten mit ›inneren‹ und o o ›äußeren‹ Augen thematisiert: Und nam daz fustuch und leite es in min keppelin o v nebent minen stul, da ich es dick mit ussern und mit innern ogen an siche, wie e min hovertig hertze doch nie dar umb teti, als es billich solti.47 Das dem Hund entwendete Fußtuch wird auf diese Weise zum eigentlichen Erinnerungszeichen. Seuse benutzt es in seinen deutschen Schriften mehrmals als Symbol für die Unterwerfung gegenüber anderen Menschen.48 Im Brief an Elsbeth Stagel schreibt der ›Diener‹, er habe das Fußtuch ze einem bilder – d.h. als Vorbild, als Sinnbild der anzustrebenden Unterwerfung – behalten (S. 368, Z. 28). In der Bekehrungsszene steht zu lesen, der ›Diener‹ habe das Fußtuch aufbewahrt, damit er sich künftig darin selbst erkenne: daz er sich selb dar inne erkandi (S. 58, Z. 15f.). Das Fußtuch als Erinnerungszeichen, als Bild und als Mittel zur Selbsterkenntnis, läßt Anklänge an jene Ausführungen erkennen, die Augustinus zur Wirkungsweise des Gedächtnisses macht. Es scheint damit legitim, Augustins Gedächtnisbegriff in die Interpretation der Fußtuchszene einzubeziehen. Legt man die Vorstellung des Raums oder Innenraums zugrunde, mit welcher Augustinus das Gedächtnis faßt, so läßt sich von daher auch die Mönchszelle deuten, in der Seuse das Bekehrungserlebnis ansiedelt. Im Horizont der mittels der o Formel lug und lern implizit präsenten ›Confessiones‹ läßt sich die Zelle als Sinnbild des Gedächtnisses, ja als Sinnbild der Seele selbst verstehen. Diese Seele, die bislang den Körper in willentlich eingegangenen Kasteiungen gequält hat, tritt durch das geöffnete Fenster in Kontakt zur Außenwelt. Der Blick auf den im Kreuzgang spielenden Hund eröffnet dem ›Diener‹ eine neue Dimension seiner selbst, denn das Fußtuch bedeutet ihm, die Umwelt fortan, wenn auch in passiv-leidender Weise, ›von außen‹ auf sich zukommen zu lassen. Zu betonen ist, daß dieser Externalisierungsvorgang zwar die Öffnung des Ich auf ein ›Außen‹ zuläßt, dabei aber auf den engen Radius des Klosters
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sich alle durch einen predigtnahen Stil auszeichnen. Vgl. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3 [Anm. 35], S. 469–471. Der Brief ist ediert in: Heinrich Seuse, Deutsche Schriften [Anm. 35], Briefbüchlein, S. 360–401, hier Brief Nr. 3, S. 367f. (die längere Fassung in der Sammlung des ›Großen Briefbuchs‹, ebd., S. 405– 494, hier Nr. 12, S. 439–444). Ebd., S. 443, Z. 17–19. Vgl. ebd., S. 363, Z. 21–25, S. 421, Z. 21–24. Nachweise bei Michel, Heinrich Seuse [Anm. 2], S. 362; Haas, Seuse lesen [Anm. 2], S. 271.
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reduziert bleibt. Kurz nach der Fußtuchszene faßt der ›Diener‹ den Entschluß, daz er bleib in seinem kloster me denn X jar abgescheiden von aller der welt (S. 59, Z. 30f.). Die Blickweite seiner Augen beschränkt sich auf eine geringe Entfernung (ein kurzes zil), deren Maß auffälligerweise in Wiederholung der e Fußmetapher angegeben wird: daz zil waren fu´nf fusse (S. 60, Z. 3f.). Noch im selben Kapitel wird berichtet, der ›Diener‹ habe eine Kapelle, in die er sich regelmäßig zum Gebet einschloß, mit den Bildern der Mönchsväter und ihrer Sprüche ausmalen lassen – dies in der Absicht, daß ihm sein Gefängnis um so heller werde: daz im sin gevangnu´st dest lichter wurdi (S. 60, Z. 10).49 Der Maler, der die Bilder bereits mit einem Kohlestift entworfen habe, sei an den Augen erkrankt, so daß er nicht mehr habe weiterarbeiten können: do ward er siech an den ogen, daz er nu´t me gesah us ze strichen (S. 60, Z. 16f.). Der ›Diener‹ habe daraufhin die Zeichnungen mit der Hand berührt und die Hand auf die Augen des Malers gelegt, der dadurch geheilt worden sei. Im Horizont des in den ›Confessiones‹ entwickelten Gedächtnis- und Bildbegriffs läßt sich der Vorfall so verstehen, daß der ›Diener‹ seine Seele für den Austausch mit der Umwelt öffnet: Der Maler kommt von außen, um die Bilder in der Kapelle (d.h.: der Seele des ›Dieners‹) anzubringen und der ›Diener‹ antwortet darauf in der Weise, daß er – aus dem Inneren seiner Seele heraustretend – die Augen des Malers – ihrerseits Öffnungen zu dessen Seele – heilt.50 Bei Seuse findet damit eine deutlich erkennbare Dynamisierung jener auf sich selbst bezogenen Innenwelt statt, die Augustinus in den ›Confessiones‹ beschreibt. Die Räume der Kapelle und der Zelle stehen für jene Wechselbewegung des Rückzugs und der Öffnung nach Außen, die für den spirituellen Weg des ›Dieners‹ charakteristisch ist. Die Kapelle, die ein fremder Maler mit Bildern ausstattet, die Zelle, von der sich ein Fenster zur Außenwelt öffnet, garantieren einen Austausch mit der Umwelt, der den in sich abgeschlossenen Status der Seele, wie er von Augustinus vorgezeichnet wird, durchbricht.51 Der ›Diener der ewigen Weisheit‹ beschreitet diesen Weg mit äußerster Konsequenz, indem er auch Leiden und Demütigungen von außen auf sich zukommen läßt. 49
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Vgl. dazu auch Jeffrey F. Hamburger, The Use of Images in the Pastoral Care of Nuns. The Case of Henry Suso and the Dominicans, Art Bulletin 71 (1989), S. 20–46; Nachdruck in ders.: The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, S. 197–232, 522–534, hier S. 207–215; Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis [Anm. 42], S. 412. Vgl. zur Vorstellung der Augen als ›Fenster‹ (oder ›Türen‹) der Seele Gudrun Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter, München 1985 (Münstersche Mittelalterschriften 35,1/2), Bd. 2, S. 884–891; Horst Wenzel, Hören und Sehen – Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 48f. u. ö. Die künstlerische Gestaltung des ›geöffneten Fensters‹ kann als eine Inszenierung frühneuzeitlicher Weltaneignung gelten, wie Gerhart von Graevenitz, Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes ›West-östlichen Divan‹, Stuttgart/Weimar 1994, S. 4–7, am Bildmotiv der finestra aperta in früher Druckgraphik zeigt. Vgl. auch Lau, Allegorien des Sehens [Anm. 14], S. 18.
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Wie bereits erwähnt, bleiben die von Seuse beschriebenen Vorgänge auf den Aktionsradius innerhalb der Klostermauern beschränkt. In diesem vergleichsweise eng gesteckten Rahmen aber scheint Seuses Arbeit an der Augustinischen Vorgabe kreativer – ja man möchte sagen: ›radikaler‹ – als jene Petrarcas, der sich zuletzt wieder auf den Augustinischen Standpunkt zurückzieht. Der altitudo contemplationis humanae, welcher sich Petrarca aussetzt, entsprechen bei Seuse Metaphern des Aufstiegs, die das Durchlaufen der Reifestadien vom anfangenden zum fortschreitenden und vollkommenen Menschen beschreiben: ›Aufwärtssteigen‹ (trite kechlich ufwert, S. 190, Z. 6), ›Aufwärts-‹, o aber auch ›in die Ferne-Sehen‹ (lug u´ber dich und umb dich in du´ vier ende der welt, S. 172, Z. 8f.) und schließlich die Metapher vom wilden gebirge des u´bere gotlichen wa (S. 188, Z. 20) sind wiederholt gebrauchte sprachliche Bilder. Sie kommen vor allem gegen Ende der ›Vita‹ zur Anwendung, wo es um das speculieren (S. 172, Z. 6; S. 173, Z. 9f.), die Betrachtung Gottes im Spiegel der Schöpfung, geht. Letztlich wird damit ebenfalls der interaktive Bezug des ›Dieners‹ zur Außenwelt beschrieben. Ähnlich wie bei Petrarca prägt sich die vertikale Ausrichtung der Bildspender (wie ›Aufwärtssteigen‹, ›Aufwärtssehen‹) auf der Bedeutungsebene in eine horizontale Ausrichtung um. Die Semantik der Metaphern zielt hier wie dort auf eine Dynamik von Innerlichkeit und Entäußerung. Was sich an diesem Metapherngebrauch zeigt, ist ein diskursiver Austausch sprachlicher Bilder, die Seuse mit Petrarca teilt. Umgekehrt ist aber auch zu beobachten, daß in Petrarcas Ventoux-Brief Metaphern eingelassen sind, die bei näherer Betrachtung einen Bezug zu Seuses Leidensmystik erkennen lassen. Kommt man von der Fußtuchszene in Seuses ›Vita‹ her, horcht man auf, wenn Petrarca die altitudo contemplationis humane mit der nur körperhaften Aufstiegsbewegung kontrastiert und dabei betont, daß zu der ›Höhe menschlicher Betrachtung‹ auch die Bereitschaft zum willentlichen Ertragen äußerlicher Leiden gehört: que crux, quis carcer, quis equuleus deberet terrere animum appropinquantem Deo, turgidumque cacumen insolentie et mortalia fata calcantem? (33, S. 26–28). (»Welches Kreuz, welcher Kerker, welche Folter sollte die Seele erschrecken, die sich Gott nähert und dabei den aufgeblasenen Gipfel der Überheblichkeit und die sterblichen Geschicke mit Füßen tritt.«)52 52
Auf diese Zeilen dürfte sich Billanovichs Einwand gegenüber jenen Forschern beziehen, welche die literarische Machart von Petrarcas Brief nicht erkannt hatten: »O Ihr Ahnungslosen, die Ihr einst auf Grund dieses Briefs Petrarca zuerst als Naturentdecker gepriesen und dann, enttäuscht, ihm vorgeworfen habt, er sei von mittelalterlichem Mystizismus angekränkelt gewesen!« (Billanovich, Petrarca und der Ventoux [Anm. 14], S. 462). Der Kritik an den ›realistischen‹ Interpreten zum Trotz wird dem Ventoux-Brief hier eine ›mystische‹ Dimension zuerkannt.
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Die lautliche Anklänge aufweisenden Metaphern cacumen (‹Gipfel‹) und calcare (‹mit Füßen treten‹) zielen hier auf eine Geringschätzung, die sich gleichermaßen gegen die menschliche Überheblichkeit wie die menschliche Sterblichkeit richtet. Sie beschreiben damit einen Grad von Selbstvergewisserung, der mit jener Seelenhaltung erreicht ist, die den ›Pfad‹ (semita; 34, S. 29) zu Gott beschreitet, sich dabei aber auf jene Dynamik von Innen- und Außenwelt einläßt, der sich sowohl Petrarca wie Seuse in ihren Bekehrungserlebnissen ausgesetzt haben. Daß es dabei nicht allein um christliche Gotteserkenntnis, sondern – im antiken Sinne – um eine dem Menschen anheim gegebene Erkenntnis der Wirkursachen geht, demonstriert Petrarca mit einer eindringlichen Wiederholung der Fußmetapher. Gemäß einem Zitat aus Vergils ›Georgica‹ bindet er menschliches Glück an die Erkenntnis der Ursachen und daran, daß sich der Mensch seine Angst vor der eigenen Endlichkeit unter die Füße zwingt: Felix qui potuit rerum cognoscere causas Atque metus omnes et inexorabile fatum Subiecit pedibus strepitumque Acherontis avari (34, S. 28). (»Glücklich, wer die Ursachen der Dinge zu erkennen vermochte und wer alle Ängste und das unerbittliche Schicksal sich unter die Füße zwang und des gierigen Acheron Tosen.«)53
In einem Nachsatz bezieht Petrarca dieses Besiegen der Angst auf den stoischen Gedanken der Befreiung von irdischen Leidenschaften. Er gebraucht dabei seinerseits die Fußmetapher, wenn er (im Plural der ersten Person) die Leser seines Briefs dazu aufruft, sich zu bemühen, nicht ein höher gelegenes Stück Erde, sondern die von irdischen Trieben übersteigerten Begierden zu bezwingen: non ut altiorem terram, sed ut elatos terrenis impulsibus appetitus sub pedibus haberemus (34, S. 28). Auffällig ist, wie innerhalb des Briefs dieselben Begriffe verwendet werden, um einmal physische, dann geistige Prozesse zu veranschaulichen: Der hier negierten körperlichen Erreichbarkeit einer altior terra steht die zuvor evozierte altitudo contemplationis humane gegenüber; die geistige Bezwingung der ›exaltierten‹ Begierden sub pedibus greift wörtlich eine bereits im Zusammenhang mit dem Bergpanorama gebrauchte Wendung auf und relativiert damit den der 53
Nach ›Georgica‹ 2,490–492 (hg. von R[oger] A[ubrey] B[askerville] Mynors, Oxford 1990 (11969), S. 51f.; dort in Vers 491 die Singularform metus omnis). Vers 490 wird (bezogen auf Jupiter) auch zitiert in Augustins ›De civitate Dei‹ VII,9 (hg. von Bernhard Dombart/Alfons Kalb, Bd. 1, 21981 [11928] [Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana], S. 285). Die Verse 491f. fanden sich auch in Petrarcas Brief ›Familiares‹ IV,2, wurden in einer späteren Fassung aber getilgt. Ob in diesem Zusammenhang eine Übernahme von ›Familiares‹ IV,2 nach IV,1 (Ventoux-Brief) erfolgte, ist umstritten. Vgl. Billanovich, Petrarca und der Ventoux [Anm. 14], S. 461, und Martinelli, Petrarca e l’epistola del Ventoso [Anm. 14], S. 19, Anm. 24. 2
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›Conversio‹ vorausliegenden Blick auf die »Wolken [...] unter den Füßen« (nubes [. ..] sub pedibus; 17, S. 16).54 Die dreifache Staffelung der Fußmetapher, deren Mittelpunkt das Vergil-Zitat darstellt, dient am Ende des Ventoux-Briefs dazu, die Einlassung auf die dem Menschen aufgegebenen Existenzbedingungen zu veranschaulichen. In der anhaltenden Evokation einer vertikalen Spannung zwischen ›Oben‹ und ›Unten‹ vergegenwärtigt sie das Bezwingen der Sorge um die eigene Sterblichkeit und das eigene Schicksal, aber auch den Sieg über irdische Leidenschaften: mortalia fata calcare – inexorabile fatum subicere pedibus – elatos [. ..] appetitus sub pedibus habere. Der im Vergil-Zitat enthaltene Verweis auf die Erkenntnis der Ursachen (rerum cognoscere causas) bleibt dabei im Kontext des Briefs eigenwillig ambivalent. Das Objekt causas könnte als grammatisches Pluraletantum so verstanden werden, daß Petrarca jenen Hiat, den die Philosophen des 14. Jahrhunderts zwischen Erst- und Zweitursache ansetzen, rückgängig machen will, indem sein Erkenntnisstreben direkt auf die Erstursache(n) zielt. Die Pluralform causas läßt aber auch eine andere Lesart zu: Sie kann darauf hindeuten, daß Petrarca die Ursachen der Dinge erkennen will, indem er sich deren Pluralität, mithin der zunehmenden Entkoppelung von Erst- und Zweitursache stellt. Das Bezwingen der ›Angst‹ und des ›unerbittlichen Schicksals‹ könnte in diesem Zusammenhang anzeigen, daß Petrarca gerade nach einer Bewältigung jener Kontingenzerfahrung strebt, die sich aus dem Hiat von Erst- und Zweitursache ergibt. Die Vergil-Verse dienten dann dazu, dem Menschen im Annehmen seiner irdischsterblichen Existenz Eigenverantwortung nicht nur zuzubilligen, sondern zuzumessen. Es hat den Anschein, daß für Petrarca die in der Dynamik von Innen und Außen erreichte altitudo contemplationis humane ohne diese Einlassung auf das eigene Geschick nicht auskommt. Hier aber ergeben sich Bezüge zu Seuse, der sich in der ›Vita‹ unter ganz anderen Voraussetzungen auf die leidvolle Erfahrung der dem Menschen bestimmten Existenzbedingungen einläßt. Das Fußtuch, das in Seuses ›Vita‹ symo bolisch für den ›Diener‹ steht (reht also wirst du in diner bruder munde), bezeichnet dabei ein selbstverantwortetes sich Ausliefern an die Welt. Im Zusammenhang mit dieser Einlassung können bei Seuse ebenfalls zitathafte Verfahren eine Rolle spielen: So zitiert und erläutert der ›Diener‹ gegenüber der ›geistlichen Tochter‹ einen Satz zeitgenössischer Häretiker,55 der besagt, dass der vollkommene (gerechte) Mensch keine ›Hindernisse‹ scheuen darf: dem gerehten ist enkein mitel ze schu´hen (S. 157, Z. 8f.). Das im Zitat erwähnte mitel (›Hindernis zum Heil‹) deutet Seuse als ›Sünde‹. Demnach wird in den Satz für eine Hingabe an die Sünde plädiert, was Petrarca im ›Bezwingen der 54 55
Vgl. oben, S. 280. Bihlmeyer verweist in seiner Ausgabe [Anm. 35], S. 157, auf die Begharden und Brüder vom freien Geist. Vgl. zu letzteren Robert E. Lerner, The Heresy of the Free Spirit in the Later Middle Ages, Berkeley [usw.] 1972.
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Begierden‹ gerade ablehnt. Auch der ›Diener‹ weist die Aussage des Satzes zurück, dies mit der Begründung, dass der Mensch nur in dem einvaltigen u´berweslichen grunde – im Sinne von ›causa‹, nämlich bei Gott (der u´berweslichen gotes vernu´nftkeit) – gerecht sei (S. 157, Z. 22–24). Dort aber sei der Mensch nicht in seiner leiblich-sterblichen Gestalt, er sei nu´t der lipliche mensch, wan es ist kein liplichkeit in der gotheit (S. 157, Z. 24f.). Im unvollkommenen Zustand seiner Geschöpflichkeit (in siner gebresthaftigen geschafenheit) hingegen müsse der Mensch ellu´ schedlichu´ mitel meiden (S. 157, Z. 28, – S. 158, Z. 1). Seuse stellt sich mit diesem Urteil jener Differenz von ›prima causa‹ und ›secunda causa‹, die in der Philosophie des 14. Jahrhunderts entdeckt wird. Im Satz der Häretiker zitiert er eine Weltsicht herbei, die angesichts einer zunehmenden Kontingenzerfahrung alles, selbst die Sünde, zuläßt. In der Auslegung des ›Dieners‹ aber verweist er jenen Zustand des gereht-Seins, der auch die Sünde nicht scheut, auf eine übergeschöpfliche Sphäre, die dem Menschen in seiner leiblichen Existenz unzugänglich ist. Zugleich bekundet Seuse mit dieser Deutung ein Akzeptieren der Existenzbedingungen in der materiellen Welt, das mit Petrarcas Ausführungen zu den mortalia fata vergleichbar ist. Während aber das Ich des Ventoux-Briefs bemüht ist, sich das Fatum ›unter die Füße zu zwingen‹, läßt sich jenes der ›Vita‹ so weit darauf ein, daß es sich selbst gleich einem ›Fußtuch‹ von seiner Umwelt behandeln läßt. In dieser Bereitschaft zur Selbstpreisgabe des Ich erscheint der Dominikaner in der Tat ›radikaler‹ als der italienische Literat und Gelehrte. Beide Autoren aber stimmen darin überein, daß sie vergleichbare Motivbestände und Metaphern (wie jene des Gebirges, des Sehens, der Füße) verwenden, um die Erfahrung eines In-derWelt-Seins auf je eigene Weise zu artikulieren. Daß Seuse und Petrarca über ein gemeinsames Instrumentarium literarischer Gestaltungsmittel verfügen, wird im übrigen durch weitere Befunde bestätigt: So gibt Seuse in der ›Vita‹ kurz vor der Fußtuchszene den Hinweis, daß der ›Diener‹ seine extremen Bußübungen bis zum vierzigsten Lebensjahr (unz uf sin vierzegst jar; S. 52, Z. 8) fortgesetzt hat. Den im Ventoux-Brief (gemäß der Datierung) als Dreiundreißigjährigen auftretenden Petrarca aber führt die anläßlich des Panoramas getätigte Rückschau auf das eigene Leben zu der Einsicht, im vierzigsten Lebensjahr getrost dem Tod entgegengehen zu können (quadragesimo etatis anno mortem oppetere), wenn es ihm nur gelänge, sich der Tugend anzunähern (ad virtutem accedere; 23, S. 20). In beiden Fällen markiert dabei die Erwähnung des vierzigsten Lebensjahrs eine kritische Phase der Todesnähe, deren Bedrohlichkeit durch die anschließende ›Conversio‹ und die dabei gewonnene Neuorientierung des Ich überwunden wird.56 56
Vgl. zur Symbolik der Zahl vierzig oben, S. 287 mit Anm. 37. Daß die Zeit um das vierzigste Lebensjahr einen Wendepunkt anzeigt, wird auch in mittelalterlichen Konzeptionen der Lebensalter deutlich. Vgl. Elizabeth Sears, The Ages of Man. Medieval Interpretations of the Life Cycle, Princeton (N.J.) 1986, S. 47 u. ö.
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In ihrer Anlage läßt sich die in beiden Texten dargestellte ›Conversio‹ als literarische ›Imitatio‹ des von Augustinus vorgegebenen Modells ansehen. Der ›Imitatio‹ als literarischer Technik aber entspricht jene religiöse ›Imitatio‹, die auf Textebene beschrieben wird: Bei Seuse ist sie – in der asketischen Tradition der ›Altväter‹ – eine Imitatio Christi, die sich über die Figur des ›Dieners‹ hinweg in der ›Imitatio‹ durch die ›geistliche Tochter‹ fortsetzt.57 Petrarcas ›Conversio‹ hingegen findet innerhalb des im Brief dargestellten Geschehens keine Nachfolge. Auf die Bekehrung folgt hier vielmehr eine durch den Briefschreiber selbst angestellte »Imitatio antiquitatis«,58 wie das gegen Ende des Briefs angeführte Vergil-Zitat belegt. Beide Autoren bedienen sich also mittels einer literarischen ›Imitatio‹ des Augustinischen ›Conversio‹-Schemas, gestalten dann aber die religiöse ›Imitatio‹ auf Textebene in je unterschiedlicher Weise aus. Die hierbei zu beobachtenden Strukturanalogien mitsamt den zugehörigen Motiv- und Metaphernzirkulationen sind nicht im Sinne einer intertextuellen Abhängigkeit zu verstehen. Der beiden gemeinsame Bezugspunkt ergibt sich vielmehr aus der jeweils eigenständigen Verarbeitung des in Augustins ›Confessiones‹ vorgeprägten ›Conversio‹-Modells. Auf dieser Basis spielen sich die Austauschbewegungen literarischer Darstellungsverfahren ab, in denen sich, zeittypisch für die intellektuelle Situation des 14. Jahrhunderts, ein mentaler Habitus spiegelt, der zunehmend vom Wissen um die eigene Ausgesetztheit an die irdische Kontingenz geprägt ist. Die Vertreter des ›New Historicism‹ sprechen im Zusammenhang solcher ›Tauschprozesse‹ oder ›Verhandlungen‹ (negotiations) von der ›sozialen Energie‹ (social energy), die in Kunstwerken ihre sprachlichen und sinnlich wahrnehmbaren Spuren hinterläßt und die bei den (zeitgenössischen) Rezipienten kollektive physische und mentale Empfindungen hervorrufen kann.59 In Abwandlung dieser These könnte man von der ›mentalen‹ Energie sprechen, die sich bei Seuse und Petrarca im ›Verhandeln‹ des Augustinischen ›Conversio‹-Schemas Ausdruck verschafft. Sowohl Seuses ›Vita‹ als auch Petrarcas Ventoux-Brief antworten auf die eingangs skizzierte Frage, wie sich der Mensch in einer als kontingent erfahrenen Welt positionieren soll. Das von Augustinus übernommene ›Conversio‹-Modell gestattet es, diese Frage überhaupt zu formulieren. Die zwischen beiden Texten zirkulierenden Motive und Metaphern aber dienen als literarische Vehikel, die Frage zu beantworten.60 Sie bringen eine Befindlichkeit zum Ausdruck, die sich 57 58 59 60
Vgl. Hamburger, Medieval Self-Fashioning [Anm. 36], S. 263–268. Vgl. Haug, Francesco Petrarca [Anm. 14], S. 360. Vgl. Greenblatt, Verhandlungen mit Shakespeare [Anm. 1], S. 12. Noch ehe im Rahmen des ›New Historicism‹ Zirkulationsbewegungen in heterogenen Textbereichen beschrieben wurden, zeigte Haug, Francesco Petrarca [Anm. 14], in Beschränkung auf Petrarcas Ventoux-Brief das »Spiel mit Einzelzitaten« und die
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von den Augustinischen Vorgaben einer auf Gott zentrierten Verinnerlichung zunehmend löst. Vormodern ist diese Befindlichkeit insofern, als Petrarca wie Seuse ein Bestreben bekunden, aus einer auf innerseelische Prozesse beschränkten Erfahrung aus- und aufzubrechen in eine Dynamik der dem Menschen aufgegeben Weltaneignung. Der italienische Frühhumanist und der deutsche Mystiker verdienen es, im Zusammenhang gesehen zu werden.
»Kombinatorik der Metaphern und Deutungsmuster« auf, deren Anwendung im sprachlich-literarischen Bereich er als »Versuch einer integrierenden Neudeutung über die christlich-antiken Diskrepanzen hinweg« auffaßte (S. 349).
Gerd Dicke
Homo facetus Vom Mittelalter eines humanistischen Ideals
I. De urbanis et facetis. [...] Nos eum quaerimus [...], qui e iocis suavibusque e dictis oblectationem tantum quaerat ac recreationem post labores, qui et salem habeat in dicendo et quae ipse dicit tanquam illo condiat, qui leporem admisceat, qui verba apta idonea concinnata iocisque accomodata usurpet, vultumque illis adiungat ubi opus est ac gestum, qui fabellis narrandis recitandisque iocosis ac ludicris rebus et curas sedet et deliniat molestias, qui non discedat urbanitatis e finibus aut e cive in rusticum atque agrestem transeat ex ingenuo in servum aut servo persimilem, ni forte res ipsa ita tulerit; qui minime volens offendat dictis, nisi lacessitus, idque tamen urbane; qui et temporis et loci et audientium et sui ipsius et quam gerit personae et aetatis et negociorum [...], in singulis ut retineat modum, ne et verba profundat et iocos; qui denique summo id studio videat, ne, cum alios in risum provocat, ipse ab astantibus risui habeatur trivioque dignior iudicetur quam honestorum atque ingenuorum hominum audientia ac concessu [...].1
Als der humanistische Dichter und Philosoph Giovanni Pontano – vormals Sekretär des Königs von Neapel und Leiter der dortigen, noch heute nach ihm benannten Accademia Pontaniana – 1499 in seinem Traktat ›De sermone‹ den 1
Ioannis Ioviani Pontani de sermone libri sex, hg. von S. Lupi/A. Risicato, Lucca 1954 (Thesaurus mundi, Bibliotheca scriptorum latinorum mediae et recentioris aetatis), S. 17f.: »Von den Weltgewandten und Fazeten. [...] Wir meinen den [...], der mit Scherzen und anmutigen Aussprüchen nach der Arbeit Zerstreuung und Erholung sucht, der seinen Äußerungen Witz verleiht und sie gleichsam damit würzt, der Liebenswürdigkeit einmischt, der seine passenden und treffenden, gefälligen und angemessenen Worte mit Scherzen ausstattet, der – wo nötig – eine Miene und Gesten mit ihnen verbindet, wie sie beim Erzählen von Geschichten und bei Äußerung scherzhafter und kurzweiliger Dinge am Platze sind, und so die Sorgen beschwichtigt und den Ärger besänftigt, der die Grenzen des feinen Benimms nicht verläßt und nicht aus dem Zivilisierten ins Bäurische oder Rohe und aus dem Aristokratischen ins Knechtische oder dem Sklaven Ähnliche verfällt und die Sache selbst dementsprechend verbreitet, der am wenigsten durch das Gesagte kränken will, es sei denn, er wird gereizt und vergilt es dann auf witzige Art; der sowohl auf Zeit und Ort und Zuhörer Rücksicht nimmt als auch auf seine eigene Person und welche Rolle ihm zukommt sowie auf sein Alter und seine Tätigkeit [...] und der insbesondere das rechte Maß einhält, daß seine Worte und Scherze nicht ausufern; der überhaupt sehr darauf Acht hat, daß nicht etwa er, wenn er andere zum Lachen bringt, von den Anwesenden selbst verlacht wird und man ihn nicht geeigneter für die Gasse hält als für einen Zuhörerkreis und eine Versammlung würdiger und angesehener Männer.«
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idealtypischen vir facetus modellierte und seinen wort- und weltgewandten Witz zur Tugend der facetudo, der witzig-charmanten Konversationstüchtigkeit und Unterhaltungsgabe erhob,2 standen im Italien der Renaissance lang schon sämtliche Spielarten des Fazeten hoch im Kurs. Um 1345 hatte Petrarca in seinen ›Rerum memorandarum libri‹ de facetiis ac salibus illustrium (»über Witze und den Humor berühmter Leute«) gehandelt und im Rekurs auf Cicero die allenfalls stichelnden und als ›Würze‹ geselliger Gespräche willkommenen facetias von den beißenden und verletzenden und daher unfazeten iocos abgegrenzt.3 Im Anschluß gab er zunächst antike römische (romana) und griechische (externa) und dann zeitgenössiche lateinische (moderna) Proben für beide Genera und erhob die antike Witzfertigkeit und ihr sprachliches Niveau so bereits im Arrangement zum Maßstab für die Gegenwart. Da dabei das Mittelalter ausgespart blieb, schien es den Zeitgenossen vorbehalten, die antike Tradition fortzusetzen und es an Witz, Scharfsinn und Beredtheit mit ihr aufzunehmen. In gleicher Weise berief sich Poggio Bracciolini auf die klügsten und gelehrtesten antiken Vorfahren (nostros maiores, prudentissimos ac doctissimos viros) und ihre Wertschätzung von facetiis, iocis et fabulis, als er um 1450 daranging, unter Mithilfe manches vir admodum facetus die lachwürdigen Geschichten und schlagfertigen dicta faceta zusammenzutragen, mit denen man im bugiale, der Plausch- und Lästerrunde der vatikanischen Kuriensekretäre, vom Ernst der Arbeit ausruhte, aber auch Aggressionen ein Ventil gab.4 Es war Poggios ›Liber facetiarum‹, der der Kurzerzählung von witzigen Äußerungen oder Taten den Gattungsstatus der Fazetie eintrug und der das Vorbild zu zahlreichen weiteren Sammlungen5 sowie zum narrativen Wiedergebrauch in geselliger Konversation abgab. Wer mit geschliffenen, prägnanten und wenn nötig gesalzenen Witzworten zu Lachen geben konnte, demonstrierte geistige, sprachliche 2 3
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Vgl. ebd., III,2, S. 84f.: Facetudinem virtutem esse. Francesco Petrarca, Rerum memorandarum libri, hg. von Giuseppe Billanovich, Florenz 1943, lib. II,37–84, hier S. 68; vgl. Marcus Tullius Cicero, De oratore. Über den Redner, Lat./Dt., übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 21991 (RUB 6884), lib. II,216–289; zu den antiken Grundlagen des facetus-Begriffes: Quintino Cataudella, La facezia in Grecia e a Roma, Florenz 1971. Poggio Bracciolini, Facezie, con un saggio di Eugenio Garin, introduzione, traduzione e note di Marcello Ciccuto, testo latino a fronte, Mailand 1983 (I classici della Biblioteca Universale Rizzoli), hier S. 108 u. 406; deutsch: Die Facezien des Florentiners Poggio, übers. von Hanns Floerke, Hanau 1967, hier S. 19 u. 317. Einführend zur Gattung: Face´tie et litte´rature face´tieuse a´ l’e´poque de la Renaissance. Actes du colloque de Goutelas 1977, Re´forme, Humanisme, Renaissance 4 (1978), Nume´ro spe´cial; Werner Röcke, Lizenzen des Witzes: Institutionen und Funktionsweisen der Fazetie im Spätmittelalter, in: Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von W. R./Helga Neumann, Paderborn [usw.] 1999, S. 79–101. Vgl. etwa Barbara C. Bowen, Renaissance Collections of facetiae, 1344–1528: A New Listing, Renaissance Quarterly 39 (1986), S. 1–15 u. 263–275.
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und gesellschaftliche Gewandtheit, Situationsbeherrschung und ein gewinnendes Wesen, und eben diese Kombination aus sozialer Kompetenz, Souveränität und Wohlgelittenheit machten es insbesondere für den Herrscher erstrebenswert, ein homo facetus zu sein oder zumindest dafür zu gelten. So stilisierte bereits – übrigens in deutlicher Anlehnung an die Herrscherpanegyrik Suetons und Macrobius’ für Kaiser Augustus – Pontanus’ Mentor und Amtsvorgänger Antonio Beccadelli, genannt Panormita, König Alfons von Neapel zu einem auch auf eigene Kosten mitlachenden vir admodum facetus & urbanus.6 Daß in der Sammlung seiner dicta die denkwürdigen apophthegmatischen gegenüber den witzigen deutlich überwiegen, tat ihrer fazeten Mustergültigkeit keinen Abbruch – noch 1508 machte der Straßburger Literat Johann Adelphus Muling die Anekdoten um den neapolitanischen rex facetus zur Hauptquelle seiner ›Margarita facetiarum‹.7 Geradezu einen »Kult des treffenden Ausspruchs« registriert Piotr Salwa im Florenz der Medicis, die etwa in den Angelo Poliziano zugeschriebenen ›Detti piacevoli‹ mit zahlreichen ihrer »gelungensten oder scharfsinnigsten Aussprüche« in Szene gesetzt sind.8 Niccolo` Valori, der frühe Biograph Lorenzos de Medici, rühmt dessen piacevole e comica urbanita´ und sein giocoso parlare und gibt manche Proben der faceti motti und risposte argute des Magnifico, während Niccolo` Machiavelli diverse fazete Bonmots von Lorenzos Großvater Cosimo de Medici sogar in seine ›Geschichte von Florenz‹ aufnahm und dies mit dem Hinweis rechtfertigte, ein so außerordentlicher Mann verdiene es, auf diese ungewohnte Weise gelobt zu werden. 9
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Antonio Beccadelli, De dictis et factis Alphonsi regis Aragonum (entstanden um 1455, gedruckt 1485), zit. nach Barbara C. Bowen, Roman Jokes and the Renaissance Prince, 1455–1528, Illinois Classical Studies 9 (1984), S. 134–148, hier S. 140; deutsch: Antonio Beccadelli, Aus dem Leben König Alfonsos I., in: Alfonso I., Ferrante I. von Neapel. Schriften von Antonio Beccadelli, Tristano Caracciolo, Camillo Porzio übers. und eingel. von Hermann Hefele, Jena 1912 (Das Zeitalter der Renaissance, Ausgew. Quellen zur Geschichte der ital. Kultur, Ser. I, Bd. 4), S. 17–97. Eine moderne Ausgabe fehlt; instruktiv zur ›Margarita‹ immer noch Konrad Vollert, Zur Geschichte der lateinischen Fazetiensammlungen des XV. und XVI. Jahrhunderts, Berlin 1912 (Palaestra 113), S. 82–101. Piotr Salwa, Lorenzo il Magnifico und die Fazetie, in: Lorenzo der Prächtige und die Kultur im Florenz des 15. Jahrhunderts, hg. von Horst Heintze [u. a.], Berlin 1995 (Historische Forschungen 54), S. 87–99, hier S. 88 u. 95. Vgl. Angelo Poliziano, Detti piacevoli, hg. von Tiziano Zanato, Rom 1983 (Bibliotheca biographica, Sezione artistico-letteraria); deutsch: Angelo Polizianos Tagebuch (1477–1479) mit vierhundert Schwänken und Schnurren aus den Tagen Lorenzos des Großmächtigen und seiner Vorfahren, hg. von Albert Wesselski, Jena 1929. Niccolo` Valori, Vita di Lorenzo il Magnifico, Palermo 1992 (Italia 12), hier S. 36; Niccolo` Machiavelli, Geschichte von Florenz, übertr. von Alfred von Reumont, Zürich 1986, hier S. 432; vgl. zum Beispiel: Als wenige Stunden vor seinem [Cosimos] Tode seine Gattin ihn fragte, weshalb er die Augen geschlossen halte, erwiderte er: um sie daran zu gewöhnen (S. 430).
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Nicht zuletzt dieser Prestigewert machte die fazete Diktion und Haltung schließlich zu einem maßgeblichen Lernziel aristokratischer Verhaltensunterweisung. Während Pontano seinen Traktat ›De sermone‹ dazu als rhetorica docens anlegte, bot Baldesar Castiglione in seinem 1516 vollendeten ›Libro del Cortegiano‹ eine rhetorica utens in Konversationsform. Und wie ioci et facetiae im zweiten Buch von Ciceros ›De oratore‹ Gegenstand und Demonstrationsobjekt der dortigen Gespräche waren, so machte die höfische Konversationsrunde im zweiten Buch des ›Cortegiano‹ das esser faceto nicht nur zum Thema, ihre Teilnehmer führten das Fazetsein gesprächsweise zugleich auch selbst vor.10 Vielleicht nicht zufällig trat dabei mit Bernardo Bibbiena ein Kardinal »als Prototyp des ›uomo faceto‹«11 in Erscheinung, denn erst 1510 hatte der römische Humanist Paolo Cortesi,in seinem Papst Julius II. gewidmeten Traktat ›De cardinalatu‹ eine Hofhaltungslehre des idealen Kardinals vorgelegt, die seiner angeratenen Witzfertigkeit in Konversationen durch Beigabe von gut zwei Dutzend facetie et ioci aufhalf.12 Der ihnen beigemessene Wert ist kaum zu überschätzen, denn in deutlicher Reminiszenz an Cicero sieht Cortesi es für die überhaupt menschlichste Eigenheit an, sich am Witz der Fazetien zu ergötzen (nihil est [...] tam proprium hominis quam facetiarum dicacitate delectari), weshalb sich aus dem Munde eines hohen Amtsinhabers auch nichts rascher verbreite als eine witzige und intelligente Äußerung (nihilque tam celeriter excipitur, quam quod facete considerateque a senatore emittitur).13
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Baldessar Castiglione, Il libro del Cortegiano, hg. von Walter Barberis, Turin 1998 (Bibliotheca Einaudi 40), II, 41–93, hier S. 181; deutsch: Der Hofmann des Grafen Baldesar Castiglione, übers., eingel. und erläutert von Albert Wesselski, 2 Bde., München/Leipzig 1907. Vgl. zur dortigen Unterhaltung über die Frage come abbiamo ad usar le facezie (S. 179) vor allem: Robert Grudin, Renaissance Laughter: The Jests in Castiglione’s Il Cortegiano, Neophilologus 58 (1974), S. 199–204; Manfred Hinz, Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992 (Romanistische Abhandlungen 6), S. 191–205; Franziska Meier, Das Lachen des Hofmanns, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 56 (2002), S. 801–808. So Hinz [Anm. 10], S. 191, vgl. zur Entfaltung des vir facetus-Ideals bei Pontano und Castiglione ebd., S. 196–200 sowie Ernst Walser, Die Theorie des Witzes und der Novelle nach dem ›de sermone‹ des Jovianus Pontanus. Ein gesellschaftliches Ideal vom Ende des 15. Jahrhunderts, Diss. Zürich, Straßburg 1908, S. 77–97. Vgl. Barbara Bowen, Paolo Cortesi’s Laughing Cardinal, in: Renaissance Studies in Honor of Craig Hugh Smyth, Vol. 1: History, Literature, Music, hg. von Andrew Morrogh [u. a.], Florenz 1985, S. 251–259, hier S. 252. Eine moderne Ausgabe fehlt; ich zitiere nach den Auszügen bei Giulio Ferroni, La teoria classicistica della facezia da Pontano a Castiglione, Sigma 13 (1980), S. 69–96, hier S. 82, Anm. 16; vgl. Cicero, De oratore [Anm. 3], I,32: quid esse potest in otio aut iucundius aut magis proprium humanitatis quam sermo facetus? – »was kann in Mußestunden angenehmer und bezeichnender für die menschliche Gesittung sein als eine kultivierte, elegante Unterhaltung?«
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Zahllose lateinische und volkssprachliche Sammlungen des 15. und 16. Jahrhunderts belegen den Verbreitungserfolg der Fazetie und kaum weniger häufig empfohlen und bezeugt, ist ihr Austausch in geselliger Unterhaltung.14 Dagegen bliebe das Ideal des homo facetus über die italienische Renaissance hinaus erst noch weiter zu verfolgen. Daß es eine ähnlich breite europäische Wirkung entfaltet haben dürfte, machen aber schon die wenigen punktuellen Belege aus verschiedensten Kontexten wahrscheinlich, die hier nur Platz finden können. So wird Peter Aegid, Widmungsempfänger und Mittelsmann der ›Utopia‹ des Thomas Morus, wie folgt in diese eingeführt: est enim optimus & literatissimus, ad haec animo in omnes candido, in amicos uero tam propenso pectore, amore, fide, adfectu tam syncero, ut uix unum [...] usquam inuenias, quem illi sentias omnibus amicitiae numeris esse conferendum. Rara illi modestia, nemini longius abest fucus, nulli simplicitas inest prudentior, porro sermone tam lepidus, & tam innoxie facetus, ut patriae desyderium, ac laris domestici [...] magna ex parte mihi dulcissima consuetudine sua, & mellitissima confabulatione leuauerit.15
Sämtliche dieser Attribute finden sich in Thomas Stapletons ›Vita Thomae Mori‹ (1588) auch dem Autor der ›Utopia‹ selbst beigelegt, und da vor allem – so der Biograph – seine Redeweise den Menschen kennzeichne (sermo enim indicat hominem), behält er dem homo facetus Morus ein ganzes Kapitel für seine scharfsinnigen und witzigen Aussprüche und Entgegnungen vor (Cap. XIII. Acute & facete dicta vel responsa), offenbare sich in ihnen doch klarstens der treffliche Witz dieses Menschen (ex quibus facetissimum hominis ingenium [...] luculenter apparebit).16 14
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Vgl. zu den Sammlungen neben Bowen, Collections [Anm. 5] und Vollert [Anm. 7] demnächst die Erlanger Dissertation von Klaus Kipf, Rezeption und Transformation humanistischer Fazetiensammlungen im deutschen Sprachraum bis ca. 1600; zur fazeten Konversation Gerd Dicke, Fazetieren. Ein Konversationstyp der italienischen Renaissance und seine deutsche Rezeption im 15. und 16. Jahrhundert, in: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001, hg. von Eckart Conrad Lutz [u. a.], Tübingen 2005, S. 155–188. Thomas More, Utopia, hg. von Edward Surtz/Jack H. Hexter, New Haven/London 1974 (Th. M., Complete Works 4), S. 47; deutsch: Thomas Morus, Utopia, übers. von Gerhard Ritter, Stuttgart 1997 (RUB 513), S. 16: »Denn er ist ein vortrefflicher Mensch und zugleich ein fein gebildeter Kopf, überdies von lauterster Gesinnung gegen alle Menschen, gegen seine Freunde aber von einer Herzlichkeit, Liebe, Treue, aufrichtigen Zuneigung, daß es schwer ist, irgendwo einen [...] zu finden, den man mit ihm in allen Dingen der Freundschaft vergleichen möchte. Eine seltene Bescheidenheit ziert ihn; keiner ist weiter entfernt von Verstellung, keiner so gescheit zugleich und so anspruchslos. So leicht, gewandt und harmlos witzig ist seine Unterhaltungsgabe, daß mir sein liebgewordener Umgang und die entzückende Plauderei mit ihm zum guten Teil über die Sehnsucht nach der Heimat und dem häuslichen Herde [...] hinweghalf.« Thomas Stapleton, Vita Thomae Mori, Frankfurt a. M. 1689, Unveränderter Nachdruck Frankfurt a. M. 1964, hier S. 42 u. 45f.
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In einer in zwei Varianten überlieferten Tischrede zeigt sich Martin Luther mit dem Ideal des homo facetus ebenso vertraut wie mit seinem Gegenbild. Was ihn liebens- und lobenswert macht, ist in denkbar konziser Form in allen Kategorien und Leitvokabeln absolviert, die die Tradition des Diskurses seit Cicero ausgeprägt hat: Nr. 2965 a. Diligendus est, qui sua humana facetia laetificare potest melancholicos; in qua arte excellit Christoff Groß, homo admodum facetus. Nr. 2965 b. Quamvis christianus sermone cautus esse debet, ne quem offendat, attamen recreationis gratia inter amicos festivus sermo conceditur. Lepidus, facetus, festivus sunt eadem, et est virtus. Dicax, qui est immodicus in facetiis, qui aspergit nigrum salem, machet es bisweilen tölpisch; scurrra, qui dicit aut facit obscoena, illepida, iniusta. Ideo Christophorus de Gross homo facetus, cuius conversatio placida fuit inter amicos; er kan allerley melancholicos frolich machen urbanitate facetissima. Est enim eloquens, facetus et expertus.17
Den diversen Reflexen des hier skizzierten Typus’ und seiner ars und virtus in den volkssprachlichen Fazetien- und Schwanksammlungen des späten 15. und des 16. Jahrhunderts kann und muß hier nicht nachgegangen sein. Konversationell entfaltet liegt das fazete Verhaltensideal im Deutschen spätestens in Laurenz Kratzers ›Cortegiano‹-Übersetzung vor, die der Münchner Hof 1565 anfertigen ließ. Sie vermittelt dem Hofmann und jedem, der an seiner Konversationsero e tüchtigung teilhaben will, das esser faceto als die für gute gesprach besonders e e o e wichtige kunst des schwanckig sein. Dazu soll er die gemut der zuhorer / mit e lustigen / wolgefelligen schwancken vnd thaten / erlustigen vnd erquicken / dieo e e selben mit bescheidenheit / zu einem fest und gelachter verfugen / auff das man e sein nicht bald verdrossen / sonder jhe lenger je lieber gehoret werde. 18 17
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D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Tischreden, Bd. 3, Weimar 1914, S. 122; 2965a: »Liebenswert ist, wer die Melancholiker durch seinen menschlichen Witz erheitern kann; in welcher Kunst Christoph Groß, ein ungemein witziger Mensch, sich besonders auszeichnete.« – 2965b: »Wiewohl sich der Christ beim Reden in acht nehmen muß, niemanden zu kränken, wird ihm zur Erholung unter Freunden doch ein heiteres Gespräch zugestanden. Und sind sie zugleich geistreich, witzig und fröhlich, ist es eine Tugend. Der Witzbold aber, der in Fazetien maßlos ist und etwa schwarzen Humor einfließen läßt, verhält sich zuweilen tölpelhaft; ein Narr ist, wer Obszönes, Geschmackloses oder Unrechtes redet oder tut. Ein homo facetus ist daher Christoph (von) Groß, dessen Konversation im Freundeskreis angenehm war; er kann manchen Melancholiker durch seine geistreiche und sehr launige Art fröhlich machen. Er ist nämlich beredt, witzig und beschlagen.« Wie Luther in der Tischrede dann auf die seinerseits fazeteste Art auf Kosten des Wittenberger Amtmanns Groß zu lachen gibt, habe ich andernorts (Dicke [Anm. 14], S. 180f.) dargelegt. Hofman / In Welsch der Cortegiano / genandt / Ein schön vnderricht / wie sich ein ieglicher / was stands der sey / verhalten soll / damit er ein volkomenlicher Hofman genandt werde. [...] in Teütscher sprach transferiert durch Laurentzen Kratzer [...]. München: Adam Berg, 1566, in: Bibliotheca Palatina, Druckschriften, hg. von Leonard E. Boyle/Elmar Mittler, Mikrofiche F2961–63, München o. J., hier Bl. 161r–v.
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So distinguiert, wie vom humanistischen Ideal erwünscht, hat sich die von Gerhard Wolf an der ›Zimmerischen Chronik‹ nachgezeichnete (land)adlige Konversations- und Lachpraxis zwar kaum dargestellt, doch gibt sich die Wirkung des facetus-Ideals auch in ihr zu erkennen, wenn »die Fähigkeit zur intelligenten Unterhaltung [...] einen hohen Stellenwert« beansprucht und der ein weltman genannt wird, der »mit kühlem Verstand und Witz« zu reagieren weiß.19 Froben von Zimmern kannte Boccaccios ›Decamerone‹ und Castigliones ›Cortegiano‹, auch schildert er manche von ihm so genannte facetia. Ein fatzman heißt in der ›Zimmerischen Chronik‹, wer anderen durch allerdings zumeist eher geckenhaft-possenreißerische denn feinsinnige Wort- oder Tatwitze zu Lachen gibt und mitlachen kann, wo über ihn gelacht wird.20 Es ist lexikologisch strittig, ob das im 15. Jahrhundert aufkommende Verb fatzen etymologische Anleihe beim lateinischen facetus nahm,21 und so steht auch dahin, ob das in deutschen Schwanksammlungen des 16. Jahrhunderts häufige Nomen fatzman eine Lehnbildung zum vir facetus darstellt. Letzterem würde sie kaum gefallen haben.
II. Der historischen Einordnung und Bewertung des skizzierten Ideals durch die Forschung hat Jacob Burckhardt den Tenor vorgegeben. Zwar sah er den »Witz als Waffe« etwa »in theologischen Streitigkeiten schon hie und da unter dem Einfluß antiker Rhetorik und Epistolographie« im lateinischen Mittelalter präsent, »aber ein selbständiges Element des Lebens konnte der Witz doch erst werden, als sein regelmäßiges Opfer, das ausgebildete Individuum mit persönlichen Ansprüchen, vorhanden war.« Als »modern« galt Burckhardt vor allem der höhnisch-spöttische Witz, den er als »Korrektiv [...] des höher entwickelten Individualismus« verstand und der ihm nach antikem Vorbild gesammelt – »Plutarch (Apophthegmata usw.)« – erst wieder in Petrarcas ›Rerum memorandarum libri‹ begegnete.22 Diese Deutungsperspektive bestimmte in der Folge 19
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Gerhard Wolf, das die herren was zu lachen hetten. Lachgemeinschaften im südwestdeutschen Adel?, in: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von Werner Röcke/Hans Rudolf Velten, Berlin/New York 2005 (Trends in Medieval Philology 4), S. 145–169, hier S. 168f. Belege bei Dicke [Anm. 14], S. 168; vgl. auch das Wort- und Namensregister in Bd. 4 der Ausgabe: Zimmerische Chronik, nach der von Karl Barack bes. 2. Aufl. neu hg. von Paul Herrmann, 4 Bde., Meersburg/Leipzig 1932. Siehe dazu unten, S. 330 mit Anm. 106. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, hg. von Konrad Hoffmann, Stuttgart 111988 (Kröners Taschenausgabe 53), hier S. 114f.
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auch die des facetus-Ideals, das vor allem in der diskursiven und konzeptuellen Entfaltung Pontanos diverse Interpreten fand. So sah Ernst Walser im homo facetus die »eigentliche Schöpfung« Pontanos: den »völlig n e u e n Typus eines Mannes, der in idealer Weise die Erholung von den Mühen und Sorgen des Lebens durch Geist und Witz verkörpert.«23 Die von Pontano benannten antiken Grundlagen (Aristoteles, Cicero, Quintilian u. a.) galten Walser nurmehr als Versatzstücke einer »Rückwärtskonstruktion« zum Ausweis antiker Gelehrsamkeit (S. 78). Was der facetus in der von Pontano facetudo genannten Tugend verkörpere, nehme vielmehr »von italienischer Gentilezza den Ausgangspunkt« und vereinige antike festivitas, comitas, urbanitas, lepiditas und salsitas in eigener und zeittypischer Schnittmenge zu einem »charakteristische[n] Kulturideal vom Ende des Quattrocento« (ebd.). Von heiterem und gefälligem Wesen, in Auftritt und Benimm aristokratischweltmännisch, in allem moderat und bescheiden, wohlwollend, dezent, taktvoll, gebildet und geistreich, humorvoll und witzig sowie sprachlich brilliant – »der facete Mann [...] ist die Idealfigur, wie sie Pontan als Inbegriff der schönen und geistvollen Geselligkeit zeichnet. Wir glauben in ihr eines jener feinen und edlen Bilder zu erkennen, welche die italienische Renaissance schuf. Durch selbständiges Erfassen und Weiterführen antiker Vorbilder, die sie mit einem neuen Kulturideal verschmilzt [...], gelangt sie zu einer harmonischen Entwicklung des Individuums« (S. 82f.). Ähnlich, wenngleich mit anderer Akzentsetzung, urteilte Sergio Lupi: »Pontano eleva la statua ideale dell’uomo nuovo, il ›vir facetus‹, che non solo non ha precedenti nel mondo classico ma revela anche un volto ignoto all’Umanesimo.«24 In fazeter Diktion manifestierten sich die ästhetischen Valenzen des sermo quotidianus, die Fazetie etwa Poggios sei Ausdruck eines rhetorisch unverbildeten und doch kunstvollen Sprachgebrauchs, »che rappresenta il momento autonomo dell’estetica, per scoprire un inedito attegiamento o tono dell’anima che [...] costituisca la vera essenza del vir facetus« (S. 401). Was den faceto in Lupis Verständnis Pontanos allein ausmacht, sind seine natürlichen Gaben, seine Anmut, Eleganz und Heiterkeit, sein Esprit und Sprachwitz: »e´ il vir facetus [...] immagine di una perfezione che solo puo´ attingersi se alle doti naturali, istinti, passioni, attitudini« (S. 414). Allerdings bleibt für diese allzu geniezeitlich grundierte Lesung die von Cicero bis Castiglione und Pontano (etwa in Kap. III,20 und IV,2) im Sinne eines Sowohl-als-auch beantwortete Frage auf der Strecke, ob das Fazetsein natürliche Gabe oder ars, also ingeniös oder erlernbar sei. Reduziert man es wie Lupi auf ersteres, mag man darin ein »nuovo ideale di umanita´« (S. 405) erkennen und im vir facetus »infatti un tipo umano interamente nuovo, non assimilabile a precedenti modelli« (S. 407). 23 24
Walser [Anm. 11], S. 77 (Sperrung dort); Nachweis der folgenden Zitate im Text. Sergio Lupi, Il ›De sermone‹ di Gioviano Pontano, Filologia romanza 8 (1955), S. 366–417, hier S. 400; Nachweis der folgenden Zitate im Text.
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Eben diesen von Lupi ignorierten Aspekt, »that there is an art of wit, that humor can be taught«, stellt Georg Luck in Pontanos Traktat heraus.25 Er interpretiert die facetudo als ein Renaissance-spezifisches »new social and aesthetic ideal« (S. 118), wobei sich der Neuheitswert dieser Tugend wesentlich aus ihrem sozialen Moment begründe. Wer über sie verfüge, verstehe es, von seiner comitas und urbanitas zur Erheiterung und Entspannung seiner Mitmenschen Gebrauch zu machen: »it is this ›goodness‹ or ›kindness‹ of the vir facetus that justifies his role as a social ideal. His wit is not just an exuberant outpouring of his temperament or mood; it is controlled by ratio and directed by a sense of measure (mensura). His facetudo is both an aestetic and moral quality« (S. 120). Und wiewohl Castiglione in seiner Höflingslehre Cicero offenbar mehr verdanke als Pontano, sei dessen Traktat, dem eigentlich der Titel ›De viro faceto‹ zukäme (S. 119), »an important step in the formation of the ideal courtier« (S. 121). Ähnlich ist Heinz-Günther Schmitz der Auffassung, daß Pontanos »homo facetus [...] in seiner Konzeption dem ›Cortegiano‹ Castigliones entspricht«, während Giulio Ferroni zu recht einwendet, das in den dortigen Konversationen beredete esser faceto sei keine »›virtu´‹ di cosı´ vasta portata come la facetudo pontaniana, ma una delle tante tecniche che il cortigiano deve mettere in opera per presentarsi ›grato‹ e ›piacevole‹.«26 Einig sind sich alle Interpreten freilich in der Neuheitsqualität der skizzierten Wertvorstellung, mag sie dem einen auch eher als Reformulierung antiken Gedankenguts, dem anderen dagegen als Neukonzeption auf dessen Basis gelten. Und in jedem Fall gilt ihnen der homo facetus als renaissancetypische Idealgestalt und Ausfluß eines Menschenbildes, dem sich Individualität vor allem im Sprach- und Verhaltensstil eines Menschen bekundet. In vielem kann sich diese Einschätzung fraglos auf das Selbstverständnis und den Erneuerungsanspruch der Renaissance-Autoren selbst berufen, wie er sich zumal in Pontanos terminologischer Neuprägung facetudo gerade auch als Anspruch auf Konzeptualisierung und systematische rhetorische und sozialethische Verortung des noch eher vorbegrifflichen antiken Attributs facetus kenntlich macht. Eine Frage bleibt unter den italienischen Autoren jedoch ebenso ausgeklammert wie von ihren heutigen Interpreten – die nämlich, ob der im Quattro- und Cinquecento wiedergeborene oder neubelebte homo facetus in den vorangegangenen Jahrhunderten denn überhaupt ›gestorben‹ oder doch zumindest leblos und vergessen war. »Mit heißem Mühen hat der Italiener die heilige Flamme antiker Gedanken und Ideale, die unter tausendjähriger Asche erloschen schien, wieder angefacht.«27 Man könnte diese Schlußapotheose der 1908 gedruckten Disser25 26
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Georg Luck, Vir facetus: A Renaissance Ideal, Studies in Philology 55 (1958), S. 107– 121, hier S. 116. Heinz-Günter Schmitz, Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der Ars Iocandi im 16. Jahrhundert, Hildesheim/New York 1972 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken, Reihe B, 2), S. 68; Ferroni [Anm. 13], S. 82. Walser [Anm. 11], S. 105.
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tation Walsers über Pontanos ›De sermone‹ und sein facetudo-Ideal als zeitgebunden klischeehafte abtun, würden die zitierten Ausrufungen des vir facetus zum »uomo nuovo« (Lupi) und der Fazetheit zum »new ideal« der Renaissance (Luck) in den jüngeren Arbeiten nicht ebenfalls für die Supposition stehen, im Mittelalter sei Vergleichbares nicht zu erwarten. Wie jedoch nahezu zeitgleich Peter Ganz und Stephen Jaeger gezeigt haben, ist facetus bereits im 12. Jahrhundert häufig belegt und nimmt die facetia im Mittelalter vor allem »eine zentrale Stellung [...] im Vokabular höfischen Verhaltens« ein: »Ihre Geschichte von der Antike bis in die Renaissance zu verfassen, wäre daher eine lohnenswerte Aufgabe.«28 Gegenüber den bisherigen Ansätzen der Renaissanceforschung hätte ein solches Vorgehen in der Tat den Vorzug, sich Innovationen, Rückwendungen und Neuansätze vor dem Hintergrund von Traditionen und Kontinuitäten abzeichnen zu lassen. Allerdings wäre die Aufgabe auch eine von monographischem Ausmaß, da gerade die mittellateinische Wortfamilie facetia/facessia/facetus/facetiari eine komplexe historische Semantik aufweist. Wollte Jaegers ›Geschichte‹ ihren wesentlichen Bedeutungsaspekten gerecht werden, müßte sie zugleich als Geschichte einer rednerischen und stilistischen Kompetenz wie eines Gattungsbegriffs geschrieben werden, als Geschichte auch einer höfischen Tugend, einer Sitten- und Verhaltenslehre, einer herrscherlichen Attitüde und nicht zuletzt eines monastischen Feindbilds. Hier kann in der Folge nur der Versuch gemacht sein, die Konturen mittelalterlicher Fazetheit zu umreißen und einige Spuren weiterzuverfolgen, durch die Jaeger in den ›Origins of Courtliness‹ die Richtungen gewiesen hat. Vor dem Hintergrund des skizzierten humanistischen Ideals stehen dabei die Fragen im Vordergrund, was im lateinischen Mittelalter einen homo oder vir facetus auszeichnete und wie ein solcher in der Volkssprache genannt wurde und angesehen war.
III. Ludo autem et ioco uti illo quidem licet, sed sicut somno et quietibus ceteris tum, cum gravibus seriisque rebus satis fecerimus. Ipsumque genus iocandi non profusum nec immodestum, sed ingenuum et facetum esse debet. Ut enim pueris non omnem ludendi licentiam damus, sed eam, quae ab honestatis actionibus non sit aliena, sic in ipso ioco aliquod probi ingenii lumen eluceat. Duplex omnino est iocandi genus, unum inliberale, petulans, flagitiosum, obscenum, alterum elegans, urbanum, ingeniosum, facetum.29 28
C. Stephen Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter, Berlin 2001 (Philolog. Studien und Quellen 167), hier S. 226; vgl. auch Peter Ganz, curialis/hövesch, in: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200, hg. von Gert Kaiser/Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 39–55, hier S. 46.
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Galt den Autoren der Renaissance der Abschnitt ‹De ioco et facetiis‹ in Ciceros ›De oratore‹ als locus classicus über den fazeten Witz, so den Kirchenvätern und frühmittelalterlichen Theologen diese Passage aus Ciceros ›De officiis‹. Sie ging in diverse Florilegien ein30 und wurde immer wieder zitiert und diskutiert, wo man das biblisch negativ vorbelastete Scherzen und Lachen theologisch zu bewerten hatte und dazu auch das ethische Urteil der antiken Klassiker einholte. Dabei nahm man dankend Anleihe bei ihren Distinktionen und Begriffen, deutete und wertete sie aber nach christlichem Verständnis um. So ist die Wirkung der Differenzierungen Ciceros im genus iocandi selbst noch bei jenen Kirchenvätern erkennbar, die das Lachen ganz generell und die unterschiedslos auch sämtliche Formen des Lachenerregenden ablehnten, wobei die ausdrücklichen Erwähnungen gerade des fazeten Witzes wohl markieren sollten, daß man auch für diese nach Cicero ›edelste‹ Form keine Ausnahme mache. Wie könne man denn – fragt etwa Johannes Chrysostomus im Kontext einer unerbittlichen Verurteilung des Scherzens – lachend dasitzen und urbanas facetias zum Besten geben, wenn man im Dermaleinst doch die Verurteilung aller Verfehlungen zu erwarten habe?31 Und auch Rufinus von Aquileia nennt in seiner lateinischen Übersetzung der ›Instituta monachorum‹ Basilius’ des Großen sehr genau beim Namen, was die Mönche im Gespräch in jedem Fall meiden müssen: die fazeten Witze nicht anders als die possenhaften.32 Zu einer gemäßigteren sittlichen Be29
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Marcus Tullius Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Lat./Dt., übers., kommentiert und hg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 22003 (RUB 1889), lib. I,103– 104: »Zwar darf man jenes Spiel und jenen Scherz genießen, aber wie Schlaf und sonstige Entspannung erst dann, wenn wir bedeutsamen und ernsten Aufgaben Genüge getan haben. Und die Art selbst des Scherzens darf nicht ausgelassen und maßlos sein, sondern vornehm und witzig. Wie wir nämlich Knaben nicht jede Freiheit zum Spielen geben, sondern nur eine solche, die Handlungen der Ehrenhaftigkeit nicht fremd ist, so sollte im Scherz selbst irgendein Licht einer rechtschaffenen Gesinnung aufleuchten. Es gibt im allgemeinen zwei Arten des Scherzens, die eine eines freien Mannes unwürdig, herausfordernd, widerlich und schmierig, die andere fein, vornehm, geistreich und witzig.« Vgl. etwa die Beda Venerabilis zugeschriebenen ›Sententiae ex Cicerone collectae‹, PL 90, Sp. 1053–1090, hier Sp. 1059B−C. Johannes Chrysostomus, 6. Homilie über Matthäus in lateinischer Übersetzung: Tot tantorumque facinorum rationem redditurus, sedes ridens, urbanas facetias proferens [...]?, hier zit. nach Joachim Suchomski, ›Delectatio‹ und ›utilitas‹. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur, Bern/München 1975 (Bibliotheca Germanica 18), hier S. 274, Anm. 187, vgl. ebd., S. 23–65 auch den vorzüglichen Überblick über ›Die sittliche Begründung von Scherz und Witz‹ in der Theologie des 4.–13. Jahrhunderts; zudem: Gerhard Schmitz, ... quod rident homines, plorandum est. Der ›Unwert‹ des Lachens in monastisch geprägten Vorstellungen der Spätantike und des frühen Mittelalters, in: Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. Festschrift für Eberhard Naujoks, hg. von Franz Quarthal/Wilfried Setzler, Sigmaringen 1980, S. 3–15. Vitandae sunt [...] omnes omnino in sermone facetiae, et scurrilis dicacitas, hier zit. nach: S. Benedicti Regula cum commentariis, PL 66, Sp. 215–932, hier Sp. 367A.
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urteilung gelangt Hieronymus in seinen Auslegungen des Epheserbriefes, ohne doch im geistlichen Bereich größere Toleranz walten zu lassen.33 Zwar differenziert er Paulus’ Begrifflichkeit (Eph 5,4) im Geleit Ciceros und räumt ein, daß dem Iocosen in seiner intelligenten und stilvollen Spielart durchaus menschliche Dignität zukomme, aber im Endeffekt bleibt es für geistliche Leute einerlei, ob sie einem fazeten oder grobschlächtigen Witz ausgesetzt werden, da die prinzipielle Verwerflichkeit der laetitia saecularis nicht von ihren Erzeugungsweisen abhängt. Deutlicher noch tritt die ambivalente Haltung bei Ambrosius zu Tage, der Cicero in aller Breite zitiert und den urbanen und fazeten Scherzen durchaus zugesteht, joca honesta ac suavia zu sein, sie aber noch im gleichen Satz als mit dem kirchlichen Gesetz unvereinbar ablehnt.34 Immerhin haben die von Cicero als elegant, urban, ingeniös und fazet befürworteten Scherze damit schon in der patristischen interpretatio christiana sittliche Anerkennungsfähigkeit zumindest im laikalen Bereich erlangt und wurde das Fazete so zugleich als Ausdruck und Maßstab geistiger und sprachlicher Gewandtheit ins Mittelalter weitertradiert. Überdies war die Aversion gegen das Fazete in der theologischen Lehre gewiß stärker ausgeprägt als in der geistlichen Lebensführung. Der heilige Sidonius Apollinaris etwa, im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts Bischof von Clermont-Ferrand und »einer der letzten Vertreter spätantiker chr[istlicher] Bildung in Gallien«,35 setzt facetus in seinen Briefen häufig in den Superlativ, sei es, um einen Adressaten aufrichtig für sein geistreiches Scherzen zu bewundern (iocaris ut qui facetissime) oder sei es als Probe eigenen Witzes in Form eines ironischen Lobs, etwa durch die Anrede vir facetissime für jemanden, der deplaciert gelacht hat, oder zur Rühmung eines Zeitgenossen, der die urbanitas besitzt, auf’s Fazeteste Unsinn zu schwätzen (urbanitas, qua te ineptire facetissime allegas).36 33
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S. Eusebii Hieronymi Commentariorum in Epistolam ad Ephesos libri tres, PL 26, Sp.467–590, hier Sp. 552A: Inter stultiloquium autem et scurillitatem hoc interest, quod stultiloquium nihil in se sapiens et corde hominis dignum habet. Scurrilitas vero de prudenti mente descendit, et consulto appetit quaedam vel urbana verba, vel rustica, vel turpia, vel faceta, [...] ut risum moveat audientibus. Verum et haec a sanctis viris penitus propellenda [...]. – »Unter albernem Gerede aber und Possenreißerei besteht der Unterschied, daß Albernheiten nichts Geistvolles und eines Menschen Würdiges an sich haben. Possenreißerei dagegen entspringt einem klugen Verstand und strebt mit Absicht nach einem gewissen Sprachstil, einem entweder geschliffenen oder ungehobelten, entweder schmählichen oder witzigen, [...] um die Zuhörer zum Lachen zu bringen. All dies aber ist von geistlichen Leuten gänzlich zu vertreiben [...].« Vgl. zur Problemgeschichte jetzt auch: Jacques Le Goff, Das Lachen im Mittelalter, Stuttgart 2004, S. 49–54. S. Ambrosii De Officis Ministrorum libri tres, PL 16, Sp. 23–184, hier Sp. 54B: Nam licet interdum honesta joca ac suavia sint, tamen ab ecclesiastica abhorrent regula. – »Denn wenn es auch zuweilen ehrenwerte und reizvolle Scherze sein mögen, laufen sie doch der kirchlichen Regel zuwider.« Elisabeth Grünbeck, Sidonius Apollinaris, LexMA VII, Sp. 1834f., hier Sp. 1834. Vgl. Gai Sollii Apollinaris Sidonii Epistulae et Carmina, hg. von Christian Luetjohann, Berlin 1887 (MGH, SS Auct. antiquiss. 8), hier S. 68, 81 u. 86.
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Martin von Braga – auch er ein heiliggesprochener Bischof – erweist den theologischen Reserven gegen den sermo facetus in seiner ›Formula honestae vitae‹ (um 570/80) im Grunde nurmehr oberflächliche Reverenz, indem er mahnt, nützliche Gespräche den fazeten und leutseligen vorzuziehen (sermones utiles magis quam facetos et affabiles ama). Denn in der Folge konzediert er nicht nur die Daseinsberechtigung moderater ioci im Rahmen von Muße und geselliger Entspannung, er formuliert auch einen Comment des Scherzens und Lachens, der entweder an der oben zitierten Passage aus Ciceros ›De officiis‹ oder an Senecas verlorener Schrift gleichen Titels orientiert ist: Miscebis interdum seriis iocos sed temperatos et sine detrimento dignitatis ac verecundiae. [...] Odibilem quoque hominem facit risus aut superbus et clarus aut malignus et furtivus aut alienis malis evocatus. Si ergo tempus iocos exigit, in his quoque cum dignitate sapientiae gere, ut te nec gravet quisquam tamquam asperum nec contemnat tamquam vilem. Non erit tibi scurrilitas sed grata urbanitas. Sales tui sine dente sint, ioci sine vilitate, risus sine cachinno.37
Martins Traktat über die vier Kardinaltugenden ist in der Scholastik häufig Seneca zugeschrieben worden. Das hat seinen Grund auch darin, daß er das sittlich gebotene Verhalten – wie hier im Umgang mit Scherzen und Lachen – nicht aus der Heiligen Schrift, sondern naturali humanae intelligentiae lege herleitet, aus »den natürlichen Gesetzen des menschlichen Verstandes«, wie Suchomski übersetzt.38 In der Tat: Für Martin sind die heidnischen »antiken Tugendideale in ihrer ursprünglichen Form annehmbar«; er argumentiert humanistisch: Der Witz muß die Grenzen humaner Dignität respektieren, er darf nicht verletzen und kein hochmütiges und abschätziges Verlachen provozieren, und das ist genau, was von Cicero bis zu Pontano und Castiglione den sermo facetus auszeichnet. Und auch bei Martin von Braga wird er von zwei Attributen ergänzt, die in der Tradition des Diskurses eine fast obligate Verbindung eingehen: affabilis – freundlich, leutselig – und das mit facetus häufig paarformelartig kombinierte und zuweilen synonyme urbanus – »heiter und witzig in der Sprache und mit von guter Erziehung zeugenden Sitten«.39 37
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Martini Episcopi Bracarensis Opera omnia, hg. von Claude W. Barlow, New Haven/London 1950, S. 243: »Manchmal wirst du ernsten Inhalten auch Scherzhaftes beimischen, aber maßvoll und ohne Würde und Anstand zu verletzen. [...] Verhasst macht einen Menschen auch hochmütiges und schallendes Gelächter, ebenso wie böswilliges und verstohlenes, oder durch das Pech anderer hervorgerufenes. Wenn also die Situation Scherze verlangt, halte dich auch hierbei an die Würde der Weisheit, damit dich weder jemand wie einen ungehobelten Kerl belästigt noch wie einen Nichtswürdigen verachtet. Gunst wirst du nicht durch Possenreißerei, sondern durch weltmännisches Benehmen erlangen. Deine Scherze seien frei von Bissigkeit, die Witze ohne Niedertracht, das Lachen frei von lautem Schall.« Vgl. zur Quellenfrage Suchomski [Anm. 31], S. 269, Anm. 129, zur Versifikation der ›Formula‹ durch Hildebert von Lavardin, der Martins ›Scherzlehre‹ in der Aussage unverändert belassen hat, ebd., S. 42f. Ebd., S. 38, dort auch das Folgezitat. So Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 200; vgl. zur affabilitas ebd., S. 166–168 u. 209f.,
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Peter von Celle, von 1180–83 Bischof von Chartres, macht sich die oben zitierten Worte Martins von Braga in einem Brief an seinen Amtsvorgänger und Freund Johannes von Salisbury zu eigen: »Du hast dem Ernsten auch Scherze beigemischt, doch maßvoll und ohne Würde und Anstand zu verletzen. Deine Scherze sind ohne Bissigkeit, deine Witze ohne Niedertracht.«40 Gut sechshundert Jahre liegen zwischen der ›Formula‹ Martins und diesen Zeilen an einen vir facetus des 12. Jahrhunderts, sechshundert Jahre der Bewahrung und Bewährung einer Wertvorstellung, die auch in der Folge so viel nicht an Geltung verlor, wie die Rede vom ›Renaissance-Ideal‹ glauben machen könnte. Und keinen geringen Anteil an solcher Kontinuität hatte auch der Briefempfänger Johannes von Salisbury. Sein ›Policraticus‹ (1156–59) lehrt im Rahmen eines Kapitels über das rechte Verhalten beim convivium, das sich an Macrobius und weitere antike Quellen anlehnt, auch die Anstandsregeln für eine unterhaltsame, zwischen Ernst und Heiterkeit ausgewogene Konversation, wobei das Hauptinteresse dem rechten Gebrauch der Witze (scomata) gilt, über wen und was man sie machen darf und wo ihre Grenzen liegen. Wohl in etwa zeitgleich mit Johannes’ Fürstenspiegel hatte sich auch das mutmaßlich von Wilhelm von Conches verfaßte ›Moralium dogma philosophorum‹ dieser Frage angenommen, das wohl den jungen Heinrich von Anjou-Plantagenet – den späteren König Heinrich II. von England - mit antiker Tugendlehre versehen sollte. Dabei wurde auf deren christliche Adaptation weitgehend verzichtet, jedenfalls erhielt der weltliche Fürst Ciceros Unterweisung über die ›anständigen‹ Formen des Scherzens (elegans, urbanum, ingeniosum, facetum) hier im nicht weiter theologisch kommentierten originalen Wortlaut.41 Dagegen bemühte sich Johannes im ›Policraticus‹, der Thomas Beckett, dem Kanzler Heinrichs II., gewidmet war, um eine christliche Überhöhung der antiken Tugenden. Für das gesittete Scherzen brachte dies freilich besondere Schwierigkeiten mit sich, war doch mit einem biblischen Vorbild für kurzweilige Äußerungsformen von ciuilitas uel fascetia kaum aufzuwarten. Dennoch weiß der Autor im Neuen Testament jemanden, der die entsprechenden Tugendattribute verdient, weil er in
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zur urbanitas: Henri Ble´ry, Rusticite´ et urbanite´ romaines, Paris 1910; Edwin S. Ramage, Urbanitas. Ancient Sophistication and Refinement, Norman/Okla. 1973 (Univ. of Cincinnati Classical Studies 3); Michael Richter, Urbanitas – rusticitas. Linguistic Aspects of a Medieval Dichotomy, in: The Church in Town and Countryside. Papers Read at the 17th Summer Meeting and the 18th Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society, hg. von Derek Baker, Oxford 1979 (Studies in Church History 16), S. 149–157; Thomas Zotz, Urbanitas. Zur Bedeutung und Funktion einer antiken Wertvorstellung innerhalb der höfischen Kultur des hohen Mittelalters, in: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, hg. von Josef Fleckenstein, Göttingen 1990, S. 392–451. Petri Cellensis Epistolae, PL 202, Sp. 405–636, hier Sp. 515A: Miscuisti [...] jocos seriis, sed temperatos et sine detrimento dignationis et verecundiae. Sales tui sine dente sunt, joci sine vilitate. Vgl. dazu auch Suchomski [Anm. 31], S. 44–46. Vgl. dazu Suchomski [Anm. 31], S. 40f., sowie Zotz [Anm. 39], S. 406.
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rechter Bewirtung (rerum copia sine luxu) wie in der Erzeugung angenehmer Stimmung (iocunditas sine lasciuia) bei einem convivium Maßstäbe gesetzt hat: der liberalissimus et ciuilissimus aut facetissimus paterfamilias, qui de quinque panibus satiauit quinque milia conuiuarum.42 Und daß dieses facetus nicht nur im (späteren) allgemeineren Sinne als ›fein‹, ›gesittet‹, ›kultiviert‹ zu verstehen ist, sondern die Gabe meint, durch kurzweilige Beiträge zur Unterhaltung und Freude der Tischgenossen beizutragen, zeigt die Begründung: siquidem et inter comedendum Dominus parabolas aut uerba uitae frequenter auditoribus miscet. 43 Die verba vitae sind Anleihe aus dem Johannes-Evangelium (6,68), nur daß ihnen dort noch ein aeternae folgt (»Worte ewigen Lebens«), das Johannes von Salisbury in seinem Vergleichszusammenhang entspannter Unterhaltung bei Tisch doch lieber unterdrückte. Christus als Vorbild des homo facetus – war das bewußt auf das Gegenbild abgestellt, mit dem man vom rigoristischen geistlichen Standpunkt aus alles Fazete perhorreszierte? Jedenfalls hatte Petrus Damiani, bis 1067 Kardinalbischof von Ostia, insbesondere den Ordensklerus zur imitatio Christi gerade auch in der Redeführung ermahnt und dazu die Fazetheit eines Cicero als abschreckendes Beispiel bemüht: Scurrilia quaeque, urbanitatis sales, facetia leporesque verborum a labiis tuis tanquam gentilitatis quoddam praeputium circumcide. Piscatorum namque sumus discipuli, non oratorum, ut ex ore Christiani non latinitas Tullii, sed simplicitas resonet Christi.44
Entsprechend gewagt war Johannes’ von Salisbury Versuch, aus dem Leben Jesu ein Imitabile für die ciuilitas uel fascetia in Geselligkeiten zu konstruieren. Vor allem aber belegt er die Verlegenheit, Scherzen und Lachen theologisch zu rechtfertigen und mit christlicher Ethik in Einklang zu bringen. Erst Thomas von Aquin standen die dazu nötigen Argumente und Begriffe (wie etwa der aristotelische der eutrapelia, der Ernst-Heiterkeit) zu Gebote. Im Rekurs auf die oben angeführte Cicero-Stelle lehnt auch er die unwürdigen Spielarten der Scherze und Witze ab, zitiert zur Bestimmung des statthaften genus iocandi aber die joca honesta ac suavia des Kirchenvaters Ambrosius herbei, in denen sich 42
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Ioannis Saresberiensis episcopi Carnotensis Policratici sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII, hg. von Clemens C. I. Webb, Bd. 2, Oxford 1909, S. 287 u. 281: »[...] der äußerst freigebige und überaus umgängliche und fazete Gastgeber, der mit fünf Broten fünftausend Tischgenossen gesättigt hat.« Ebd., S. 282: »[...] weil der Herr ja während des Essens häufig Gleichnisse und Worte des Lebens eingestreut hat.« Die Briefe des Petrus Damiani, hg. von Kurt Reindel, Tl. 3, München 1989 (MGH, Epp. Kaiserzeit IV,3), S. 452: »Alles Possenhafte, die feinsinnigen Witze, das Fazete und die Anmut der Worte schneide von deinen Lippen ab wie die Heiden ein gewisses Präputium. Denn wir sind die Schüler von Fischern, nicht von Rednern, sodaß aus dem Mund eines Christenmenschen nicht das geschliffene Latein Ciceros ertönen soll, sondern die schlichte Sprache Christi.«
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auch der Christ bei rechter Beachtung des Situationsaptums betätigen dürfe. Sie entsprechen nach Thomas’ Verständnis dem von Cicero ingenuum et facetum genannten genus, das zwar für die kirchliche Lehre tabu bleibt, ihm mit geistlicher Lebensweise aber vereinbar scheint.45 Produktive Wirkung hat das besagte Kapitel der ›Summa theologica‹ etwa im wenig bekannten ›Speculum virtutum moralium‹ des Benediktinerabts Engelbert von Admont entfaltet, einem um 1309 entstandenen Fürstenspiegel für die Söhne Herzog Albrechts I. von Österreich.46 Sein Teil X behandelt die Tugenden, »die den Menschen [...] dafür unterrichten, mit anderen freundlich und gefällig zu verkehren und zu konversieren«.47 Und dazu heißt es hier abermals im Rekurs auf die oben zitierte und Engelbert wohl nicht nur aus Thomas’ ›Summa‹, sondern auch ›aus erster Hand‹ bekannte Cicero-Passage: Est autem duplex genus vel modus iocandi secundum Tullium. Unus modus est ingenuus & urbanus; alius ineptus & lascivus.48 Nur als Vokabel, nicht der Sache nach, ist hier der bei Cicero explizit erwähnte und bei Engelbert im urbanus mitgemeinte modus facetus auf der Strecke geblieben. Empfohlen und in vielfältiger Weise reguliert ist solcher Scherzgebrauch – ganz in der Tradition des ›Moralium dogma philosophorum‹ wie auch des ›Policraticus‹ – vor allem zu Unterhaltungen und Gesprächen (placidus in colloquiis & sermonibus) von Fürsten und Adligen (in Principibus & in Nobilibus) – weit vor und freilich in anderer Form als in Castigliones ›Cortegiano‹, aber doch den gleichen Wertvorstellungen und ständischen Verhaltensstandards verpflichtet.
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S. Thomae Aquinatis Summa theologica, hg. von Charles Rene´ Billuart/Laurentius De Rubeis, Bd. 4, Turin 1932, pars II,2, quaest. 168, art. 2, hier S. 209; vgl. die Nachzeichnung der subtilen Argumentation bei Suchomski [Anm. 31], S. 55–61. Engelberti Abbatis Admontensis Speculum virtutum ad Albertum et Ottonem Duces Austriae, hg. von Bernhard Pez, Regensburg 1724 (Bibliotheca ascetica antiquonova, Bd. 3). Ebd., S. 305, in der Übersetzung von Fritz Peter Knapp (Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik, in: Exempel und Exempelsammlungen, hg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1991 [Fortuna vitrea 2], S. 1–22, hier S. 9), der die in der Tat »einmalige Bedeutung« des noch kaum zur Kenntnis genommenen ›Speculum‹ »für die Geschichte der mittelalterlichen Literaturtheorie« hervorgehoben hat (S. 8, Anm. 25). Sehe ich recht, liefert Engelbert im Rekurs auf das mendacium iocosum bei Thomas von Aquin übrigens die vermutlich älteste Definition des fiktiven Erzählwitzes moderner Prägung, denn Fazetien, wie Poggio sie sammelte, wollen ja als narrative Wiedergaben tatsächlich ereigneter witziger Bemerkungen gelten: Mendacium iocosum est, quod fit causa commovendi laetitiam et risum, cum nulli obsit, sed audientes solum delectet. Et tale mendacium est tolerabile (S. 331, vgl. Knapp, S. 9, Anm. 29) – »Eine scherzhafte Lüge ist eine, die nur erzählt wird, um Heiterkeit und Lachen zu erregen, da sie keinem schadet, sondern die Zuhörer nur erfreut. Und eine solche Lüge kann toleriert werden.« Engelbert von Admont [Anm. 46], S. 335; die folgenden Zitate ebd., S. 337.
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Sofern er die Regel seines Ordens befolgte, dürfte der Benediktiner Engelbert jedoch nur theoretische Kenntnis über das Scherzen in Geselligkeiten besessen haben. Denn die theologische Unbedenklichkeit, die Thomas von Aquin dem moderaten Scherzgebrauch auch geistlicher Leute bescheinigt hatte, dispensierte ja nicht von den Ordensregeln, die ihn den Benediktinern in jeder Form verboten: Joca et facetiae monacho vitanda sunt. 49 Wie schon an den oben zitierten Reserven des Petrus Damiani zu sehen, entzündete sich die an zahlreichen Belegen über Jahrhunderte ablesbare monastische Abneigung gegen das Fazete ganz vorrangig an seiner sprachlichen Erscheinungsform, die im geistlichen Schrifttum als eitel und affektiert, aufgeblasen und frivol, oft auch als provozierend oder unaufrichtig galt und in jeder Hinsicht zum Gegenbegriff der mönchisch gebotenen Rede- und Verhaltensweise gestempelt wurde: Valerian von Cimiez, ›Homiliae‹ (um 450): Cavendum est ergo, dilectissimi, ne scenico sermone alter alterum laedat, et theatralibus verbi verecundiam fratri laesae aestimationis incutiat. Solet igitur nimia oris facetia excitare motus animorum, et [...] reciprocum parare convicium.50 Petrus Damiani, ›Epistolae‹ (um 1060–72): non iam calleat [frater] urbana vel captiosa verba proferre, non rhetoricos colores in usus tinnule declamationis assumere, non denique per sales atque facetias risum cuilibet extorquere.51 Bernhard von Clairvaux, ›De consideratione‹ (1148–53): Verbum scurrile quod faceti urbanive nomine colorant, non sufficit peregrinari ab ore: procul et ab aure relegandum. Foede ad cachinnos moveris, foedius moves.52 49
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Vgl. die Kommentare zur Benediktsregel [Anm. 32,], Sp. 366–368, sowie zur ›Concordia regularum‹ Benedikts von Aniane, PL 103, hier Sp. 990D: »Ein Mönch muß Scherze und Fazetien meiden.« Vgl. zu weiteren Ordensregeln Le Goff [Anm. 33], S. 55–61. S. Valeriani Episcopi Cemeliensis Homiliae XX, PL 52, Sp. 694–756, hier Sp. 711A: »Zu meiden ist daher, liebste Mitbrüder, daß einer den anderen in öffentlicher Rede verletzt und durch aufgeblasene Worte die Wertschätzung des in seiner Achtung gekränkten Bruders beschädigt. Denn gewöhnlich ruft die allzu fazete Äußerung Erregung und [...] eine schmähende Entgegnung hervor.« Petrus Damiani, Briefe [Anm. 44], Tl. 4, München 1993 (MGH, Epp. Kaiserzeit IV,4), S. 37: »Des weiteren soll sich der Bruder nicht darin auskennen, elegante oder effektheischende Worte zu finden [und] rhetorischen Schmuck zum Zweck wortklingelnder Vorträge zu verwenden, und auch nicht darin, allen möglichen Leuten mit Witzen und Fazetien ein Lachen abzuringen.« Bernhard von Clairvaux, De Consideratione ad Eugenium papam, in: S. Bernardi Opera, hg. von J. Leclerq [u. a.], Bd. 3, Rom 1963, S. 379–493, hier S. 430; deutsch: Bernhard von Clairvaux, Was ein Papst erwägen muss, übertr. von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 1985 (Christliche Meister 26), S. 64.»Es genügt nicht, Deinem Mund alles Possenreißen zu untersagen, das von den Leuten als Scherzhaftigkeit oder Weltläufigkeit gefärbt wird, Du sollst auch Deine Ohren davor verschließen. Schmachvoll wäre es, wenn man Dich zu schallendem Gelächter brächte, noch schmählicher, wenn Du es selber verursachtest.«
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›Appendix ad Hugonis Opera mystica‹ (12. Jhd. ?): Sed, proh dolor! ad tantum detrimentum est devolutus rigor ordinis, [...] ut apud plurimos ii qui abhorrent proferre faceta verba vel risum moventia, vel qui nolunt crispare cachinnum, hypocritae judicentur, et quia non rident, derideantur. Verum apud eos quisquis in semetipso resolutus, risu, joco semetipsum effundit, is facetus, curialis ac boni solatii frater nominatur.53
Der frater facetus als Feindbild! Vor allem das Ordensschrifttum des 11. und 12. Jahrhunderts zielt geradezu programmatisch auf die Peiorisierung des Fazeten. Und indem sie seine sprachlichen Qualitäten als bloße Bemäntelung von Vergnügungsbedürfnis ausgaben und das verbum scurrile mit dem verbum facetum gleichsetzten, legten es Petrus Damiani54 und Bernhard von Clairvaux deutlich auf die Konfrontation mit den theologischen Zeitgenossen an, die sich mit Cicero um eine Differenzierung auf dem Feld des Iocosen bemühten. Selbst der frater facetus war dabei an warnender Wirkung noch zu übertreffen – durch eine femina faceta aus Florenz, der späteren Hauptstadt des Fazeten: Matronam quamdam Florentinam, Vaggiam nomine [...] a daemone captam, cum Florentiae sospitatem non inveniret, clam quam potuit [...] hoc S. Mariae monasterium petiisse vidimus. Hanc talis occupaverat daemon; interdum [...] jocari, facetias, risu dignas urbanitates de se dare, et praesentibus voluptati pariter et admirationi existere.55
In solcher Verteufelung und als monastischer Inbegriff für verweltlichte Lebensweise eignete sich der Vorwurf, ein facetus zu sein oder sich mit facetias abzugeben, immer wieder auch zur Schmähung und Herabsetzung geistlicher Leute, zumal untereinander. Schon Jaeger zitiert Lanfrancs von Bec Invektive gegen Berengar von Tours, er »zöge es vor, ein bäuerischer, einfältig Glaubender aus dem gewöhnlichen Volk zu sein«, statt wie Berengar ein curialis atque facetus haereticus, »ein höfischer und fazeter Ketzer«, wobei facetus hier wohl die theatralische Art und affektierte Redeweise anprangert, die man dem benediktinischen Theologen nachsagte.56 So besehen hätte es Lanfranc womöglich nicht 53
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Appendix ad Hugonis Opera mystica, Sermones centum, PL 177, Sp. 899–1210, hier Sp. 1046B: »Welcher Schmerz! In so große Verderbnis ist die Strenge des Ordens gestürzt, [...] daß die, die vor der Verwendung fazeter oder zum Lachen reizender Worte zurückschrecken und die sich nicht in schallendem Gelächter kringeln wollen, bei den meisten als Heuchler gelten und verspottet werden, weil sie selbst nicht lachen. Wer hingegen selbst völlig aufgelöst ist und sich im Lachen und Scherzen ergießt, den nennt man einen fazeten, höflichen und angenehmen Bruder.« Vgl. das Zitat oben S. 113. Hieronymi Radiolensi Miracula S. Joannis Gualberti, PL 146, Sp. 811–960, hier Sp. 878D–879A: »Wir haben gesehen, daß eine verheiratete Frau aus Florenz namens Vaggia [...], die von einem Dämon besessen war, so heimlich sie konnte [...] dieses Kloster der Hl. Maria [in Vallombrosa] aufsuchte, da sie in Florenz keine Heilung fand. Diese hatte der Dämon befallen, bisweilen [...] zu scherzen, Witze und zum Lachen reizende Proben feiner Bildung von sich zu geben und den Anwesenden zum Vergnügen wie zur Bewunderung zu gereichen.« Lanfranc von Bec, De corpore et sanguine domini, hier zit. nach Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 215, der die Bemerkung ausführlich interpretiert.
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gefallen, in der englischen Bischofsgeschichte Wilhelms von Malmesbury wiederholt für seine eigene Italica facetia gerühmt zu werden, womit hier ganz ohne vernichtenden Unterton der ironische Witz und die Schlagfertigkeit des Abts von Le Bec und späteren Erzbischofs von Canterbury gemeint waren.57 Höchst polemisch und mit einer gemeinen Spitze stellte dagegen Otto von Freising Peter Abaelard als jemanden vor, der »von Jugend an dem Studium der Wissenschaften und anderen Scherzen [? facetiis]« zugeneigt war, arrogant und präpotent auftrat und in Paris neben der Philosophie auch manches trieb, was die Menschen belustigte.58 Und der Zisterzienser He´linand von Froidmont berichtet von Verleumdungen seines Ordensoberen Bernhard von Clairvaux durch den Kanoniker Stephan von Alinerra, der nicht nur ein übler Geizhals, Faulpelz und Vielfraß sei, sondern auch höchst beschlagen in allen Arten lateinischer und französischer Witze (exercitatissimus in omni genere facetiarum utriusque linguae, Latinae et Gallicae). Wen wundert es da, daß dieser Stephan bald darauf starb – aus Rache für den Heiligen Bernhard, wie He´linand vermutet (credo in ultionem sancti Bernardi)?59 Die aus dem klösterlichen Bereich stammenden Verdikte gegen die verschiedenen Äußerungsformen des Fazeten bezeugen zum einen die Geltung, die ihm jenseits der Klostermauern offenbar zukam, und zum anderen die im frater facetus beschworene Sorge, man könne auch innerhalb der Klausur dafür empfänglich sein. Eher harmlos blieben die Folgen solcher Begehrlichkeit im Fall des Abts Wulfrann von Prüm, zu dem 1083 zwei bischöfliche Gesandte mit dem Auftrag kamen, ihm bestimmte Prümer Besitzrechte abzuhandeln. Um sich Wulfrann gewogen zu machen, ködern sie ihn mit kurzweiligen Geschichten (facetiis), die den Abt so sehr fesseln, daß er eine ganze Woche an ihren Lippen hängt. Dabei zahlt es sich aus, daß sich einer der beiden Unterhändler an den Höfen auskennt (curiis fuerat assuetus) und daher mit höfischen Witzen (palatinis salibus) aufwarten kann, während sich der andere auf historische Erzählungen (defloratos veterum annalium [...] eventus) versteht. Wie die dann seitenlangen Kostproben zeigen, waren diese ›Annalen‹ ausnahmslos antike, denn die Geschichten (vom Knaben Papirius, von Alexander vor Diogenes etc.) stammen vor allem aus Cicero, Valerius Maximus und Macrobius. Durch diese und dergleichen ›Witze‹ geneigter gemacht (hiis et hujusmodi salibus [...] pronior factus), willigt der Abt schließlich in das Anliegen der Gesandten ein.60 57
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Vgl. Willelmi Malmesbiriensis monachi De gestis pontificum anglorum libri quinque, hg. von N. E. S. A. Hamilton, London 1870 (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores, Rolls Series 52) S. 38 u. 150; siehe auch unten S. 325. Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. Imperatoris, hg. von Georg Waitz, Hannover/Leipzig 31912 (MGH, SS rer. Germ. 46), S. 68f.: Petrus iste [Abailardus] [...] litterarum studiis aliisque facetiis ab ineunte etate deditus fuit, sed tam arrogans suoque tantum ingenio confidens, ut vix ad audiendos magistros ab altitudine mentis suae humiliatus descenderet. [...] Inde magistrum induens Parisius venit, plurimum in inventionum subtilitate non solum ad phylosophiam necessariarum, sed et pro commovendis ad iocos hominum animis utilium valens. Helinandi Frigidi Montis monachi Chronicon, PL 212, Sp. 481–1082, hier Sp. 1038B−D.
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Die hier diplomatisch eingesetzten facetiae sind als Bestandteil einer höfischen, auf kurzweilige Unterhaltung ausgerichteten Erzählkultur eingeführt, die auf den Abt (Joca et facetiae monacho vitanda sunt!) den Reiz des Verbotenen ausübt. Vor den aufgewiesenen Hintergründen versteht es sich, daß das Adjektiv facetus in der mittelalterlichen Klosterchronistik nicht zu den Lobestopoi von Äbten und Konventualen zählt. Wohl aber kann man in den ›Gesta abbatum Fontanellensium‹ aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts in wörtlicher Anlehnung an Martin von Braga gerühmt finden, daß sich Abt Benedikt in dieser Hinsicht nichts hat zu Schulden kommen lassen: sermones eius utiles magis quam faceti esse noverant; a verbis quoque turpibus per omnia abstinebat, sciens, quia licentia eorum impudentiam nutrit.61 Hier und bis ins 11. Jahrhundert überwiegt unter den Bedeutungsaspekten von facetus noch deutlich der der iocosen Rede, den Isidor von Sevilla in seinem Interpretament der ›Etymologiae‹ im übrigen ganz hinter den der scherzhaften Aktion zurücktreten ließ, weil er die etymologische Herkunft von facere wahrscheinlich machen wollte.62 Zunehmend und hier und da auch bereits in den zitierten monastischen Vorbehalten rückt dann aber ein Adjektiv in die unmittelbare Wortnachbarschaft zu facetus, das dann auch semantisch eine enge Verbindung zu ihm eingeht: curialis – höfisch. Ob dabei die sprachliche elegantia und weltläufige Gewandtheit des Ausdrucks oder das Feinsinnige des witzigen Gedankens die semantische Verbindung zur Feinheit und Distinguiertheit höfischer Stil- und Ausdrucksformen herstellte, ist wortgeschichtlich kaum zu ermitteln. Nicht zu übersehen ist aber, daß im 12. Jahrhundert das »Substantiv facetia in Konkurrenz mit curialitas [stand], wenn es darum ging, den gesamten 60 61
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Chronicon S. Huberti Andaginensis, hg. von Ludwig C. Bethmann/Wilhelm Wattenbach, Hannover 1848 (MGH, SS 8), S. 565–630, hier S. 598–600. Gesta Abbatum Fontanellensium, hg. von Samuel Loewenfeld, Hannover 1886 (MGH, SS rer. Germ. 28), S. 51: »er war für seine mehr förderliche als fazete Redeweise bekannt; auch enthielt er sich durchweg schimpflicher Worte, weil er wußte, daß ihre Duldung Verachtenswertes fördert«; vgl. die oben (S. 311) zitierte Mahnung Martins von Braga: sermones utiles magis quam facetos [...] ama. Ab etwa der Mitte des 15. Jahrhunderts und wohl unter dem Einfluß des humanistischen facetus-Ideals ist das Epitheton dann vereinzelt im Abtlob anzutreffen: so heißt Abt Wilhelm im ›Chronicon Beccense usque ad annum 1457‹ vir magnae prudentiae et probitas, modestus, facetus, mitis et dilectus (PL 150, hier Sp. 671D) und der 1480 gestorbene Abt Jacob im ›Chronicon Corbeiense‹ mitissimus atque perhumanus [...] in communiis et coenis facetus, et in jocis cavillator jucundissimus (PL 156, hier Sp. 1120C). Isidori hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX, hg. von Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911, S. 95: Facetus, qui jocos et lusus gestis et factis conmendat, a faciendo dictus. «Facetus [wird genannt], wer mit Gesten [?] und Taten [?] Scherzhaftes und Spielereien zum besten gibt, so bezeichnet nach dem Akt des Handelns.« Zu einer anderen mittelalterlichen Etymologie siehe unten S. 321 mit Anm. 72. Heutige etymologische Herleitungen sehen die Wurzel dagegen in fax (Fakkel) zur Bezeichnung des in der Rede Glänzenden, Aufblitzenden; vgl. A. Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, Heidelberg 41965, S. 438f.
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Code der Verfeinerung und zunehmenden Kultiviertheit der Sitten zu beschreiben.«63 Da die auf die Redeweise bezüglichen Bedeutungsaspekte erhalten bleiben, handelt es sich um keine Bedeutungsverschiebung, sondern um eine für die Begriffsgeschichte des Höfischen wichtige Bedeutungsergänzung und -erweiterung, die in der antiken wie in der ›humanistischen‹ Semantik von facetus übrigens keine direkte Entsprechung findet. Eine Mode, eine Bauweise, ein Anstandsgebot, Manieren bei Tisch, ganz allgemein ein höherer Grad an Kultiviertheit und auch die Damen bei Hofe – all das kann im 12. Jahrhundert facetus genannt oder der facetia zugeordnet werden : –
die Regel der Templer (von 1128) bestimmt, daß sich jeder Ordensritter zu tonsurieren hat, da üppige Haartracht als Unsitte der Fazetheit (faceciae vicium) gilt;
–
Abt Suger von St. Denis unterscheidet (um 1145) wehrhafte Häuser von eleganten (facete);
–
König Sven hat Saxo Grammaticus (um 1186) zufolge bei seiner Reformierung der Hofsitten auch verfeinerte Formen des Essens und Trinkens (edendi bibendique facetias) eingeführt;
–
Adam, Prämonstratenser im schottischen Kloster Dryburgh, ermahnt (um 1180) seine Seele, sie solle im Refektorium enthaltsam sein und sich zu betragen wissen (O anima mea,[...] esto [...] in refectorio sobria et faceta);
–
Geoffrey von Monmouth (um 1130–36) berichtet, König Artus habe in seinem Haus eine allseits nachgeahmte Feinheit der Sitten (facetiam in domo sua) gepflegt, sodaß England andere Reiche an Kultiviertheit seiner Einwohner übertraf (facetia incolarum cetera regna excellebat); auch seien die feinen verheirateten Damen (facetae etiam mulieres) bei Hofe alle ähnlich gekleidet gewesen und hätten die Liebe eines jeden Mannes verschmäht, der sich nicht wenigstens dreimal in Kämpfen bewährt habe.64
Wie an diesen Beispielen ablesbar, fungieren facetus und facetia im 12. Jahrhundert als eine Art Bezeichnungspassepartout für die verschiedensten Äußerungsformen höfischer Kultiviertheit und Etikette, ohne dabei moralische oder ethische Bedeutungsimplikationen erkennen zu lassen. Als Ausfluß solchen Wortgebrauchs müssen auch die Betitelungen dreier Verstraktate gelten, durch die Facetus »so etwas wie eine Genrebezeichnung wurde«.65 Was sie als Fazetheit vermitteln, stellt ab auf die Demotisierung der 63 64
65
Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 228. La Re´gle du Temple, hg. von Henri de Cruzon, Paris 1886, S. 36; Abt Suger von Saint-Denis, Ausgewählte Schriften, hg. von Andreas Speer [u. a.], Darmstadt 2000, S. 296; Saxonis Gesta Danorum, hg. von Jörgen Olrik/Hans Ræder, Bd. I, Kopenhagen 1931, S. 387; Adami Praemonstratensis de instructione animae libri duo, PL 198, Sp. 19–90, hier Sp. 71A; Geoffroy de Monmouth, Historia regum Britanniae, in: La Le´gende arthurienne. E´tudes et documents, hg. von Edmond Faral, Tl. 1, Bd. 3, Paris 1929 (Bibl. de l’E´cole des Hautes E´tudes 257), S. 238 u. 246. So Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 230; einführend zu den drei ›Facetus‹-Traktaten:
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höfisch verfeinerten Sitten, auf die Höflichkeit für jedermann. Der anonyme ›Facetus cum nihil utilius‹, überliefert ab dem 13. Jahrhundert, umreißt seinen Gegenstand und Adressatenkreis im Hexameter Hic quoque cum fructu parit hortulus undique flores, / ex quali indocti possunt excerpere mores. 66 Vermittelt werden Regeln für die Lebensführung und den mitmenschlichen Umgang, das Betragen bei Tisch und in Gesprächen sowie einige Elementartugenden und Glaubensgebote, die dem Text auch die Titel ›Moralista‹ und ›Liber morum et virtutum‹ eingetragen haben. Die mores, die der in etwa gleich alte ›Facetus de moribus et vita‹67 lehrt, zielen auf rechte Kleidung, auf den angemessenen Auftritt eines iudex, medicus oder senex und vor allem – mit Anleihen bei Ovids ›Ars amatoria‹ und die ›Remedia amoris‹ – auf den Umgang unter Liebenden und mit der Liebe. Dagegen vermittelt der ebenfalls antik gebildete, aber nicht genauer identifizierbare Reinerus Alemannicus in seinem ›Phagifacetus‹68 aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts als facetia mense einen Verhaltenscomment, der neben den eigentlichen Essmanieren auch dem Umgang mit der Tischgesellschaft, dem gebotenen Gestimmtsein und dem Tischgespräch gilt – Facetten einer Fazetheit, die noch am ehesten in Bezug zum humanistischen Umgangsideal zu setzen sind. Insgesamt haben die drei als Schultexte breit überlieferten ›Facetus‹-Traktate einen homo facetus im Blick, der rollen- und standeskonform aufzutreten und sich in allem höflich und mustergültig zu gerieren weiß. Seine Hauptgabe ist die Angepaßtheit. Dieser facetus fällt nicht auf, weil er nichts Auffallendes hat. Er ist nur ein Namensvetter, kaum ein Verwandter des vir facetus der Renaissance. Und doch hat letzterer – wie gleich zu sehen – mittelalterliche Vorfahren. Alle bisher erörterten Bedeutungsaspekte des mittellateinischen facetus und seiner lexikalischen Derivate erfaßt beeindruckend differenziert der aus über zweihundert Handschriften bekannte ›Liber derivationum‹ des Huguccio von Pisa: Item a facio haec faceta, ae id est fabula, et facetus, a, um, id est curialis, urbanus, proprie de doctrina et in factis, sive qui iocos et ludos gestis et factis commendat, et comparatur unde haec facetia, id est curialitas, urbanitas, elegantia, suavitas et proprie in factis. quod autem dicitur facetus, quasi favens coetui, ethica est.69
66
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Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte, München/Zürich (MTU 90), S. 245–249 u. 297–299. Zit. nach: Carl Schroeder, Der deutsche Facetus, Berlin 1911 (Palaestra 86), hier S. 14: »Auch dieser kleine Garten, aus dem die Ungelehrten Sittsames ernten können, bringt überall Blüten und Frucht hervor«; zu cum fructu bietet der Apparat auch die Lesart facetiae –»Blüten der Fazetheit«. A. Morel-Fatio, Me´langes de litte´rature catalane. III: Le livre de courtoisie, Romania 15 (1886), S. 192–235, hier S. 224–235. Hugo Lemcke, Reineri Phagifacetus sive de facetias comedendi libellus addita versione Sebastiani Brantii, Stettin 1880; der Text kursiert auch unter den Titeln ›Thesmophagia‹ und ›Novus Facetus‹.
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Die ältere Forschung hat Huguccios Wörterbuch noch »um 1192« entstanden geglaubt und in seinem substantivischen facetus-Lemma die erste Bezeugung eines der so betitelten Verstraktate gesehen.70 Sie wurden daher noch ins 12. Jahrhundert datiert, obwohl die Überlieferung erst im 13. einsetzt. Mittlerweile gelten die Traktate eher als jünger, die ›Derivationes‹ dagegen als ein Frühwerk des in den 1140er Jahren geborenen Huguccio.71 Facetus, wie er es in zeittypisch assoziativer Etymologie aus favens coetui herleitet und recht sibyllinisch mit ›ethischer‹ Bedeutung versieht, muß deshalb nicht den oben umrissenen facetus-Begriff der Sitten- und Höflichkeitslehren meinen. Dürfte man diese ›Zusammenkunft-fördernde‹ Qualität vor dem Hintergrund der mit ihr verbundenen ›Bildung‹, ›Feinheit‹ und ›Liebenswürdigkeit‹72 und dem Sinn für Witz und Spiel auch als eine ›der Geselligkeit zuträgliche‹ Tugend verstehen, so sind bereits bei Huguccio, um 1175–1180, alle wesentlichen Eigenschaften beisammen, die auch den in der Renaissance gemeinten homo facetus auszeichnen. Im Vorangegangen war aus zumeist scholastischen Texten diskursiver und präzeptiver Art der semantische und konzeptuelle Gehalt des mittellateinischen facetus zu rekonstruieren und es waren zeitgenössische Urteile über die – je nach Standpunkt – damit bezeichnete Tugend oder Unsitte einzuholen. Im folgenden soll von einigen facetus genannten Menschen des Mittelalters die Rede sein und deutlich werden, was ihnen dieses Attribut eintrug.
IV. »Die Ausdrücke facetia und facetus kommen in unserem Zeitraum überaus häufig vor, nie allerdings tauchen sie im Tugendkatalog eines Bischofs auf. Zwar dürfte so mancher Bischof ein vir facetus gewesen sein, aber Teil des Kanons bischöflicher Eigenschaften war diese Tugend mit Sicherheit nicht, wäre der Bischof noch so weltlich gewesen.«73 69
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Zit. nach Schroeder [Anm. 66], S. 8: »Ebenfalls von facio (›ich mache‹) leitet sich unser facet[i]a, ae (›die Fazetie‹) ab, das heißt ›Geschichte‹, und facetus, a, um, das heißt ›höfisch‹, ›gebildet/geistreich‹ [und man sagt es] insbesondere von Kenntnissen und bei Taten, oder [heißt auch] der, der mit Gesten [?] und Taten [?] Scherzhaftes und Späße zum besten gibt, und woraus auch unser facetia abgeleitet wird, das heißt ›höfisches Wesen‹, ›Bildung‹, ›Feinheit‹, ›Liebenswürdigkeit‹ und [man sagt es] insbesondere bei Taten. Was aber facetus genannt wird, ›die Zusammenkunft begünstigend‹ sozusagen, hat eine ethische Qualität.« Huguccios erste etymologische Ableitung (a facio) nimmt in Teilen wörtliche Anleihe bei der Isidors, vgl. oben Anm. 62. Vgl. Schroeder [Anm. 66], S. 8 und Joseph Morawski, Le Facet en franc¸oys. Edition critique des cinq traductions des deux ›Facetus‹ latins avec introduction, notes et glossaire, Posen 1923 (Socie´te´ scientifique de Poznan´, Bd. II,1), S. X−XII. Vgl. Henkel [Anm. 65] und Rudolf Weigand, Huguccio, LexMA V, Sp. 181f. Vgl. zur Synthese von Urbanität, Bildung und humanitas im antiken Denken Ramage [Anm. 39], S. 53–56 und Zotz [Anm. 39], S. 409f. Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 223f.
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Stephen Jaegers Eindruck täuscht. Der homo facetus ist nicht nur in keinem Stand häufiger anzutreffen, er ist als Bischof vielfach auch ausdrücklich als facetus gerühmt, wobei im Einzelfall natürlich zu prüfen ist, welche Facette des komplexen Begriffs durch das Epitheton beleuchtet ist. Jaeger läßt die Vokabel jedenfalls zu sehr im curialis monastischer Lesart aufgehen, die sie als Synonym von laetitia saecularis ausgibt und in dieser Vereinseitigung für die löbliche bischöfliche Memorialpflege in der Tat untauglich macht. Aber die diskreditierenden Qualitäten des durchaus ambivalenten Attributs sind offenbar so ausgeprägt nicht, daß es sich zu einem Topos der Kritik am episcopus curialis 74 entwickelt hätte. Kritisch beäugt wird hier und da die Empfänglichkeit eines Bischofs für Fazetien, wobei sich durch die schärfste Mißbilligung wieder der vom eigenen Bischofsamt zurückgetretene Petrus Damiani hervortat, was er nicht zuletzt mit dem Ekel vor der Selbstpräsentation seines Standes begründete: ecce sales, ecce facecia[s], lepores, urbanitates, dicacitates [...] omnesque verborum inanium pestes insolenter erumpunt, quae nos, non iam sacerdotes, sed potius oratores, ac rhetores, sive, quod inhonestum est scurras ostendunt.75
Durchaus kritisch stand auch Adam von Bremen (1075/76) der Begeisterung seines Bischofs Adalbert für ein unterhaltsames convivium gegenüber, bei dem er sich weniger an Speisen und Getränken als an faceciis, Geschichten von Königen oder geistreichen Sentenzen delektierte.76 Die damit verbundenen Risiken schärfte wiederum der risuphobe Petrus Damiani ein, indem er von einem Bischof und seiner Gesellschaft berichtete: Cumque [...] contubernales assisterent, et ille securus, hilaris ac iocundus faceta cum eis et urbana verba misceret, subito repentinus dolor in eius verticem tanquam gladius irruit, eumque: Morior, morior exclamare coegit [...] ac spiritum protinus exhalavit.77 74
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Vgl. zu diesem und den Konventionen seiner kritischen oder idealisierenden Darstellung ebd., S. 45–82; ders., The Courtier Bishop in Vitae from the Tenth to the Twelfth Century, Speculum 58 (1983), S. 291–325; Ders., The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Mediaeval Europe 950–1200, Philadelphia 1994 (Middle Ages series), S. 44–46. Petrus Damiani, Briefe [Anm. 44], Tl. 2, München 1988 (MGH, Epp. Kaiserzeit IV,2), S. 186: »siehe die Scherze, sieh die Fazetien, die Witze, die Geistreicheleien, die bissigen Bemerkungen, das ganze Verderben der hohlen Redereien, die sie massenhaft ausschütten [und] die uns nicht länger als Priester, sondern vielmehr als Redner und Rhetoren, oder, was schändlich ist, als Possenreißer erscheinen lassen.« Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte, hg. von Bernhard Schmeidler, Hannover/Leipzig 31917 (MGH, SS rer. Germ. 2), S. 182: Recumbens autem non tam cibis aut poculis quam faceciis oblectabatur aut regum hystoriis aut raris philosophorum sentenciis. Petrus Damiani, Briefe [Anm. 44], Tl. 2, München 1989 (MGH, Epp. Kaiserzeit IV,3), S. 122: »Als nun [...] die Tischgenossen hinzutraten, und jener unbeschwert, heiter und scherzend einige witzige und geistreiche Worte mit ihnen wechselte, stach ihm auf einmal ein plötzlicher Schmerz wie ein Schwert in den Kopf und ließ ihn ›Ich sterbe, ich sterbe!‹ schreien [...] und unmittelbar danach hauchte er die Seele aus.«
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Ebenfalls nur zu einem abschreckenden Beispiel taugt der Eichstätter Bischof Megingaud, den bereits Jaeger als tumbes Opfer eines Streichs seines Würzburger Amtskollegen vorgeführt hat.78 Nach Auskunft der Eichstätter Bischofschronik des Anonymus Haserensis (um 1065) war er mäßig gebildet (mediocriter litteratus), streng und cholerisch (seuerus et iracundus) und hatte eine kurze Messe lieber als ein kurzes Essen (malebat missam breuem quam mensam) – ein epicurus episcopus.79 Zwar besaß Megingaud Sprachwitz, denn aus Abneigung gegen das Fasten empfahl er einem Vastolff, sich in Ezzolf umzubenennen, doch war er für das Prädikat facetus auch deshalb völlig ungeeignet, weil er die höfische Benimmregel als fazetes Getue (inanes facetias) abtat, nicht bis unmittelbar vor die Tür des königlichen Gemaches zu reiten. – Knapp dreißig Jahre nach Megingaud wird 1042 Gebhard I. Bischof von Eichstätt und schreitet voller Eifer von Tugend hinauf zu Tugend (de uirtute in uirtutem certatim ascendit). Als ihm Kaiser Heinrich eine gewisse Verwandschaft zum Königshaus beilegt, wendet Gebhard – ut erat facetissimus, wie es seiner überaus vornehmen Art entsprach – bescheiden und in der gegenüber dem Kaiser einzig statthaften Form des Widerspruchs ein, eine so hohe Würde könne seine Abstammung nun doch nicht beanspruchen. 1055 wurde aus Gebhard Papst Viktor II. Ob homo facetus oder nicht, ist hier und andernorts geradezu zum Indikator für die Eignung zum Bischofsamt gemacht. Wilhelm von Malmesbury berichtet (um 1140) von einer im späten 9. Jahrhundert veranstalteten Wahl in Lindisfarne, bei der sich die Parteien auf keinen neuen Bischof einigen konnten. Da trat der Novize Eadmund vor die Wählenden consuetaque usus facetia: »Me«, inquit »accipite, et episcopum facite.« Illi omnes, quasi divinitus accensis spiritibus, rapuerunt ex ore illius verbum, [...] monachum fecerunt, et [...] in episcopum sibi postulaverunt.80
Es ist die markante Äußerung zur rechten Gelegenheit und es ist vor allem die Prägnanz und das Geschliffene der mit Parallelismus und Homöoteleuton aufwartenden Formulierung, die hier Eadmunds facetia bekundet und die der Versammlung als Ausweis seines intellektuellen Formats genügt. Wortgewandtheit und vor allem ein hohes schriftsprachliches Stilniveau tragen Bischöfen daher auch nicht selten das Attribut facetus ein und haben an ihrer Erinnerungswürdigkeit einigen Anteil: 78 79
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Jaeger, Enstehung [Anm. 28], S. 203f. Stefan Weinfurter, Die Geschichte der Eichstätter Bischöfe des Anonymus Haserensis. Edition – Übersetzung – Kommentar, Regensburg 1987 (Eichstätter Studien NF 24), hier S. 49f. u. 53; vgl. zum Folgenden S. 54 u. 61f. Wilhelm von Malmesbury [Anm. 57], S. 270: »[...] und sagte mit gewohnter Fazetheit: ›Nehmt und macht mich zum Bischof.‹ Sie alle aber – als ob ihre Seelen durch göttliche Eingebung entflammt worden wären – nahmen das Wort aus seinem Munde begeistert auf, [...] machten ihn zum Mönch und [...] forderten ihn für sich als Bischof.«
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Hermann von Reichenau, ›Chronicon‹ (um 1050): 708 [...] Aldhelmus episcopus, vir doctus et eloquens, prosa metroque facetus, obiit.81 Anselm von Lüttich, ›Gesta episcoporum‹ (1056): De Stephano episcopo. [...] idem vitam sancti Lamberti simpliciter antiquitus dictatam urbani sermonis expolivit facetiis [...].82 Sigebert von Gembloux, ›Liber de scriptoribus ecclesiasticis‹ (um 1112): Ratherius [...] bis pulsus ab episcopatu Veronensi, scripsit librum in quo faceta satis urbanitate deplorat aerumnas suas [...].83
Aber auch die äußere Erscheinung, die Bildung, das Auftreten und Wesen und eben Glanz und Esprit seiner Rede machen den bischöflichen vir facetus aus: Suger von St. Denis, ›Vita Ludovici regis VI, qui grossus dictus‹ (um 1137): Singulariter et solus Treverensis archiepiscopus, vir elegans et jocundus, eloquentie et sapientie copiosus, gallicano coturno exercitatus, facete peroravit [...].84 Ordericus Vitalis, ›Historia ecclesiastica‹ (um 1142): Iuo filius Willelmi Belesmensis Sagiensem episcopatum regebat. [...] Hic erat litterarum peritus, et corpore decorus, sagax et facundus, facetus, multumque iocundus.85
Treffen im hohen geistlichen Amt dazu noch Witz, Ironie und Schlagfertigkeit des Inhabers zusammen, so braucht es nicht erst bis in die Renaissance und das vatikanische Bugiale des ›Gattungsstifters‹ Poggio, damit aus einem dictum oder factum facetum und der Erzählung davon die Gattung der Fazetie hervorgeht:
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Hermanni Augiensis Chronicon, hg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover 1844 (MGH, SS 5), S. 67–133, hier S. 97: »708 [...] starb Bischof Aldhelmus [von Canterbury], ein gelehrter und beredter Mann, elegant in Prosa wie Dichtung.« Herigeri et Anselmi Gesta episcoporum Tungrensium, Traiectensium et Leodiensium, hg. von Rudolf Koepke, Hannover 1846 (MGH, SS 7), S. 134–234, hier S. 200: »Von Bischof Stephan. [...] Selbiger hat die Vita des Hl. Lambertus, die in alter Zeit in schlichter Gestalt abgefaßt worden war, mit eleganter Diktion in eine geschliffene Form gebracht.« Sigeberti Liber de Scriptoribus ecclesiasticis, PL 160, Sp. 547–588, hier Sp. 574B: »Rather [...], der zweimal aus dem Amt des Bischofs von Verona vertrieben wurde, schrieb ein Buch, in dem er in geschliffener und eleganter Diktion seine Mühsal beklagt.« Suger, Vie de Louis VI le Gros, hg. von Henri Waquet, Paris 1929 (Les Classiques de l’histoire de France au Moyen Age), S. 56: »Einzig und allein der Erzbischof von Trier [Bruno von Brettheim], ein distinguierter und angenehmer Mann, von großer Redegewandtheit und Weisheit [und] bewandert in der französischen Sprache, erhob auf elegante Weise das Wort [...].« The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis, hg. von Marjorie Chibnall, Bd. 2, Oxford 1969 (Oxford Medieval Texts), S. 46: »Ivo, Sohn des Wilhelm von Belleˆme, hatte das Bischofsamt von Se´es inne. [...] Er war in den Wissenschaften bewandert und von ansehnlicher Gestalt, scharfsinnig und redegewandt, witzig und sehr beliebt.« Chibnall (S. 47) übersetzt: »[...] witty and never at a loss for a jest.«
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Wilhelm von Malmesbury, ›De gestis pontificum anglorum‹ (um 1130): Herfastus jam Willelmi [...] postea regis capellanus, ad famosum gimnasium magna [...] pompa pervenit. Tum Lanfrancus ex prima collocutione intelligens quam prope nichil sciret, abecedarium ipsi expediendum apposuit, ferotiam hominis Italica facetia eludens.86 Ebd.: Hujus tempore venit Angliam Johannes Scottus, vir perspicacis ingenii et multae facundiae, qui dudum relicta patria Frantiam ad Karolum Calvum transierat. A quo magna dignatione susceptus, familiarium partium habebatur. Transigebatque cum eo tam seria quam joca, individuusque comes [...] erat. Multae facetiae ingenuique leporis, quorum exempla hodieque constant, ut sunt ista: Assederat ad mensam contra regem, ad aliam tabulae partem. Procedentibus poculis, consumptisque ferculis, Karolus [...] cum vidisset Johannem quiddam fecisse quod Gallicanam comitatem offenderet, urbane increpuit et dixit: »Quid distat inter sottum et Scottum?« Retulit ille sollenne convitium in auctorem, et respondit: »Tabula tantum.« Quid hoc dicto facetius? [...] Item, cum regi convivanti minister patinam obtulisset, quae duos pisces pregrandes, adjecto uno minusculo, contineret, dedit ille magistro, ut accumbentibus duobus juxta se clericis departiretur. Erant illi giganteae molis, ipse perexilis corporis. Tum, qui semper aliquid honesti inveniebat ut letitiam convivantium excitaret, retentis sibi duobus majoribus, unum minorem duobus distribuit. Arguenti iniquitatem partitionis regi: »Immo«, inquit »bene feci et aeque. Nam hic est unus parvus«, de se dicens, »et duos grandes«, pisces tangens. Itemque ad eos conversus: »Hic sunt duo magni«, clericos innuens; »et unus exiguus«, piscem nichilominus tangens.87 86
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Wilhelm von Malmesbury [Anm. 57], S. 150: »Herfast, nunmehr Hofkaplan des [...] späteren Königs Wilhelm, kam mit großem Gepränge [...] zu dem berühmten Gymnasium [der Abtei Le Bec]. Lanfranc aber, der gleich beim ersten Wortwechsel erkannt hatte, daß er so gut wie keine Bildung besaß, ließ ihm ein ABC-Lehrbuch zur Durcharbeitung vorlegen und verspottete so mit italischem Witz die Rohheit dieses Menschen.« Ebd., S. 392f.: »Zu dessen [König Alfreds] Zeiten kam Johannes Scottus [Eriugena] nach England, ein Mann von scharfsinnigem Geist und großer Beredsamkeit, der vorher seine Heimat verlassen hatte und hinüber ins Frankenreich zu Karl dem Kahlen gegangen war. Von diesem wurde er mit großer Wertschätzung aufgenommen, fand Aufnahme in den Kreis seiner Vertrauten und betrieb mit ihm ernste Dinge ebenso wie scherzhafte; und überhaupt war er [ihm] ein unzertrennlicher Begleiter von großem Witz und geistreichem Humor; Beispiele hiervon sind noch heute bekannt, wie etwa die folgenden: Er hatte bei Tisch dem König gegenüber am anderen Ende der Tafel Platz genommen. Nachdem einige Becher geleert und alle Gänge verzehrt waren, sah Karl [...], daß Johannes etwas tat, was gegen die französische Heiterkeit/Höflichkeit [?] verstieß, und fuhr ihn mit den Worten witzig an: ›Was [für ein Unterschied be]steht zwischen einem Dummkopf [sottus] und einem Schotten?‹ Da gab jener die Schmähung wie immer an den Urheber zurück und entgegnete: ›nur ein Tisch!‹ Gibt es einen witzigeren Ausspruch? [...] Ferner: nachdem ein Diener dem gastgebenden König eine Schüssel serviert hatte, die zwei sehr große Fische und daneben einen recht kleinen enthielt, gab jener sie dem Magister, daß er sie mit zwei neben ihm sitzenden Geistlichen teile. Jene waren von riesenhafter Statur, er selbst von schmächtiger Gestalt. Da er sich immer etwas Rechtes einfallen ließ, um die Heiterkeit seiner Tischgenossen zu erregen, hielt er die zwei größeren [Fische] für sich zurück und teilte den beiden den einen kleineren zu. Dem König, der an der ungerechten Aufteilung Anstoß nahm, erwiderte er: ›Im Gegenteil, das habe ich gut und gerecht gemacht. Denn hier haben wir einen Kleinen‹, womit er sich meinte, ›und hier
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Das Beispiel des so scharfsinnigen wie beredten, heiteren wie geselligen, witzigen und schlagfertigen, dazu in vorbildlicher Weise um die laetitia der Tischgenossen bemühten homo facetissimus Johannes Scotus lehrt überdies, was man sich an Herrscherkritik leisten konnte, wenn man sie fazet zu äußern wußte. Tabula tantum – zwei Worte, die genügen, um den König, als er selbst einmal fazet sein wollte, seinen Meister finden zu lassen. Für die Herrscherdarstellung hatte er zumindest den Profit davon, als heiter und großmütig zu gelten. Der homo facetus darf vom Ätzenden des sal italicum Gebrauch machen, ihm ist die Lizenz zur Scharfzüngigkeit eingeräumt, zumal wenn sie provoziert wird: facetus, heißt es in einem Kommentar zu Hugo von Folieto vermutlich auf antiker Formulierungsgrundlage, id est acerrimus ad provocandum, et respondendum serio, joco, maledictis. 88 Geselligkeit und Witz nehmen ihre sozialregulativen und entlastenden Funktionen ja auch dadurch wahr, daß sie ständische Hierarchien spielerisch und auf kurze Zeit befristet suspendieren und Aggressionen unter dem Schutz von Ironie und Lachen ein Ventil öffnen. Schon Seneca nannte Sokrates einen vir facetus [...], derisor omnium, maxime potentium,89 und wenn der so Gelobte darin im Mittelalter auch nicht viele Nachfolger hatte, gibt es doch den ein oder anderen, der wie Graf Friedrich von Arnsberg oder die Bischöfe Absalon von Roskyld und Wolbodo von Lüttich fazete Kritik am Herrscher übte.90 Wo sie aber hinter seinem Rücken und doch öffentlich erfolgte, schützte Fazetheit nicht vor herrscherlicher Vergeltung. So klagte Heinrich II. von England einen gewissen Lukas von Barra auf einem Gerichtstag in Rouen an: indecentes de me cantilenas facetus coraula composuit, ad iniuriam mei palam cantauit, maliuolosque michi hostes ad cachinnos ita sepe prouocauit. 91 Bevor er aber dafür geblendet werden konnte, brachte Lukas sich um – sehr zur Trauer aller, die seine Aufrichtigkeit und seine Fazetien kannten (qui probitates eius atque facetias nouerant).
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zwei große‹, wobei er die Fische berührte. Und dann zu ihnen gewendet: ›hier haben wir zwei große‹, wobei er den Klerikern zunickte, ›und hier einen kleinen‹, wobei er den kleinen Fisch anfaßte. – Ein knappes Jahrhundert nach Wilhelm von Malmesbury berichtet Gerald von Wales die sottus/scottus-Frage als die Karls des Großen an seinen Hofschulleiter, den Schotten Alkuin, der freilich die gleiche Antwort parat hatte – tale facetum, wie Gerald kommentiert (vgl. Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 225). Excerptionum allegoricarum libri XXIV, PL 177, Sp. 191–284, hier Sp. 248C: »facetus, das bedeutet äußerst scharf im Bezug auf das Provozieren und das Replizieren im Ernst, im Spaß oder durch Schmähung.« De beneficiis V.6.6. Vgl. zu Friedrich Ganz [Anm. 28], S. 52 und Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 224, zu Absalon ebd. S. 225, zu Wolbod Reiners von Lüttich ›Vita Sancti Wolbodonis Leodiensis Episcopi‹, PL 204, Sp. 197–212, hier Sp. 204D–205A. Orderic Vitalis [Anm. 85], Bd. 6, Oxford 1978, S. 354: »unanständige Lieder hat dieser fazete Fiedler auf mich gedichtet, zu meinem Schaden öffentlich gesungen, und mir übel gesonnene Feinde dadurch zu schallendem Gelächter bewegt.«
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Es bleibt noch, nach der Fazetheit des Herrschers selbst zu fragen. Dem fazet verspotteten Heinrich II. legt Gerald von Wales die Attribute affabilis, flexibilis et facetus sowie urbanus bei, wobei sich das flexibilis (›nachgiebig‹) angesichts des Umgangs mit Lukas von Barra rasch als ebenfalls topisch zu erkennen gibt.92 Allerdings gehören Nachsicht und die einen facettissimus auszeichnende witzige Entgegnung von Spott und Sticheleien zum herrscherlichen Verhaltenscodex auch nur, wenn diese gutmeinend sind und von Freunden stammen.93 Insgesamt ist die Herrscherpanegyrik im Gebrauch des Attributs jedoch sparsam und läßt vielfach offen, worin sich die Fazetheit des Potentaten bekundet und welches ›Register‹ des facetus-Begriffs jeweils gezogen ist. Zumeist ist von facetia die Rede und damit wohl die höfische Kultiviertheit und Vornehmheit gemeint: Liutprand von Cremona, ›Liber antapodoseos‹ (um 961–970): Post regiam autem dignitatem duos peperit, unum [...] vocavit Heinricum, facetia satis ornatum, consiliis providum, vultus nitore gratiosum [...].94 Gottfried von Winchester, ›Epigrammata historica‹ (um 1100): De rege Gilielmo. Regnum, forma, genus, cor, dextra, facetia, virtus, / Non donant vitam, rex Gilielme, tibi.95
Daß der Regent bei jedem geeigneten Anlaß hilaritas und iucunditas, Heiterkeit und Liebenswürdigkeit, an den Tag legen sollte, hat Jaeger an zahlreichen Belegen veranschaulicht, die verbaler Fazetheit jedoch kaum je Erwähnung tun.96 In jedem Fall wäre für den von Le Goff behaupteten »topos [...] des rex facetus, des spaßhaften Königs« eine größere Belegdichte erforderlich. Die aber läßt sich bei alleinigem Verweis auf das oben erwähnte Lob Heinrichs II. allenfalls suggerieren:
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Gerald von Wales, Expugnatio hibernica, hier zit. nach Zotz [Anm. 39], S. 421; vgl. zu den übrigen Topoi oben S. 311f. mit Anm. 39. So bei Landolfus Sagax (Landolfi sagacis Addimenta ad Pauli Historiam romanam, hg. von Hans Droysen, Berlin 1879 [MGH, SS Auct. antiquiss. 2], S. 225–376, hier S. 306) angelehnt an Suetons Lob Kaiser Vespasians: ferebat patienter amicorum motus contumeliis eorum, ut erat facetissimus, iocularibus respondens.« Anwürfe von Freunden ertrug er sehr geduldig und beantwortete ihre Beschimpfungen – wie es seiner witzigen Art entsprach – mit Scherzen.« Die Werke Liudprands von Cremona, hg. von Joseph Becker, Hannover/Leipzig 3 1915 (MGH, SS rer. Germ. 41), S. 113: »Nach Erlangung der Königswürde aber wurden [Otto I.] zwei Söhne geboren, den einen [...] nannte er Heinrich. Ihn zierte große Kultiviertheit, in seinen Plänen besaß er Weitsicht, durch seine Ausstrahlung war er gefällig [...].« Godefridi Prioris Epigrammata Historica, in: The Anglo-Latin Satirical Poets and Epigrammatists of the Twelfth Century, hg. von Thomas Wright (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores, Rolls Series 59,2), Bd. 2, London 1872, S. 149: »Über König Wilhelm [den Eroberer]. Königtum, Schönheit, Adel, Herz, Hand, Kultiviertheit und Tugend besaßest du, / Leben aber schenkte man dir, König Wilhelm, nicht.« Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 232–238.
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Es ist im Kontext des Hofes, daß wir eine Funktion des Königs finden, die praktisch obligatorisch ist – das Witze reißen. Der rex facetus erscheint in zahlreichen Texten, zumeist in englischen Chroniken aus dem 12. Jahrhundert. Das erste Modell des rex facetus war Heinrich II., von dem viel Geistreiches aufgezeichnet wurde, dazu die Gelegenheiten, bei denen er über dies oder jenes lachte. [...] Betrachtet man bestimmte Texte genauer, bekommt man den Eindruck, daß in den Händen des Königs das Lachen eine Methode war, mit der er die Gesellschaft um ihn herum strukturierte. Er machte nicht über jeden gleichermaßen oder auf die gleiche Art und Weise seine Witze.97
In der Tat: der gesellige, joviale und lachende Herrscher begegnet allerorten, denn zum einen haben laetitia und hilaritas bei Hofe einen Stammplatz und zum anderen – Jan-Dirk Müller hat das ausgeführt – zeigt »Unfähigkeit zu lachen [...] den Gewaltherrscher an«.98 Die Panegyrik muß dem Herrscher daher ›Lachkompetenz‹ bescheinigen und sie tut dies in der Regel über die Topoi der hilaritas, iucunditas oder venustas. Schon seltener begegnet aber der selbst zu Lachen gebende König, und zum Beleg seiner ›praktisch obligatorischen Funktion des Witzereißens‹ müßte man aus englischen Chroniken etwa Wilhelms von Malmesbury joci plenus für Kaiser Heinrich III. oder sein facetiarum pro tempore plenus für Heinrich I. von England99 entsprechend übertreiben. In ähnlichem Ruf der Chronisten stand übrigens auch Rudolf von Habsburg, über den der Humanist Johannes Cuspinian daher einen – nie gefundenen – libellulus de facetiis in Umlauf glaubte.100 Belege oder konkretere Beispiele ist Le Goff jedenfalls schuldig geblieben, leider auch für die angedeutete Strukturierungsmethode. Für Heinrich II. dachte er vielleicht an einen oft zitierten Streich, den er Thomas Beckett spielte,101 und in der anglonormannischen Chronistik womöglich an: 97
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Jacques Le Goff, Lachen im Mittelalter, in: Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute, hg. von Jan Bremmer/Herman Roodenburg, Darmstadt 1999, S. 43–56, hier S. 48; erneut (und erneut ohne Belege) in Le Goff [Anm. 33], S. 21f. Jan-Dirk Müller, Lachen – Spiel – Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Lichtensten, DVjs 58 (1984), S. 38–73, hier S. 49. Vgl. Willelmi Malmesbiriensis monachi De gestis regum anglorum libri quinque, hg. von William Stubbs, 2 Bde., London 1887–89 (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores, Rolls Series 90,1–2), hier Bd. 1, S. 231 u. Bd. 2, S. 488. – Immerhin könnte Le Goff sich auf eine entsprechende antike Tradition der Herrscherpanegyrik berufen, vgl. dazu etwa: Asko Timonen, A Jesting Emperor in Roman Biography – with an Epilogue about ›Uncle Joe‹ and the Marvellous ›Suomi‹ Submachine Gun, in: Laughter down the Centuries, hg. von Siegfried Jäkel/Asko Timonen, Bd. 1, Turku 1994 (Annales Univ. Turkuensis, Ser. B. Bd. 208), S. 121–131. Vgl. dazu Willi Treichler, Mittelalterliche Erzählungen und Anekdoten um Rudolf von Habsburg, Bern/Frankfurt a. M. 1971 (Geist und Werk der Zeiten 26), S. 33f.; Erich Kleinschmidt, Herrscherdarstellung. Zur Disposition mittelalterlichen Aussageverhaltens untersucht an Texten über Rudolf I. von Habsburg, Bern/München 1974 (Bibl. Germanica 17). Vgl. Jaeger, Envy [Anm. 74], S. 300f.
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Wilhelm von Jumie`ges, ›Gesta Normannorum ducum‹ (um 1060): Praefata vero mulier [Mabilia de Monte Gummeri] erat corpore parva, multumque loquax, ad malum satis prompta et sagax atque faceta, nimiumque crudelis et audax.102 Wilhelm von Malmesbury, ›De gestis regum anglorum‹ (um 1135): Intus et in triclinio cum privatis, omni lenitate accommodus, multa joco [Guilelmus Rufus] transigebat; facetissimus quoque de aliquo suo perperam facto cavillator, ut invidiam facti dilueret et ad sales transferret.103 Ordericus Vitalis, ›Historia ecclesiastica‹ (um 1142): Guillelmus Pictauensium dux [...] audax fuit et probus nimiumque iocundus, facetos etiam histriones facetiis superans multiplicibus.104
In der Herrscherdarstellung kann facetus also auch weniger löbliche Attribute zu Nachbarn haben und – siehe die normannische Fürstin Mabel – üblen Leumund stiften. So gehören denn auch der für seinen Zynismus und seine laxe Moral viel geschmähte Wilhelm II. der Rote und der von Ordericus gemeinte Trobador Wilhelm IX. von Aquitanien – laut Wilhelm von Malmesbury ein totius pudicitiae ac sanctitatis inimicus – zu den übelst beleumundeten Fürsten im von Le Goff angesprochenen Quellbereich. Um Verbrämung bereinigt, heißt das Lob für Wilhelm Rufus ja doch auch, er sei beim Aufschneiden witzig gewesen. In seinem anderen Hauptwerk, der ›Chronik der englischen Bischöfe‹, hatte Wilhelm von Malmesbury für dergleichen ein Dictum geprägt, das den ironischen Charakter solchen Lobs vollends offenbart: in proprias laudes facetiari odiosa jactantia est. 105 Und in ganz ähnlich ironischem Tenor bescheinigt Ordericus dem aquitanischen Wilhelm, er habe in facetiis selbst professionelle Gecken überboten. Vielleicht auch, um solcher Fama zu entgehen, haben Fürsten aus dem Lachen- und Witzemachen späterhin ein Hofamt gemacht. In Kontexten wie den obigen präsentiert sich der rex facetus daher eher als Negativbeispiel, während die Grenze zur positiven Beispielfigur von Cicero bis Castiglione über das rechte Maß verläuft. 102
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Willelmi Calculi Gemmeticensis monachi Historiae Northmannorum libri octo, PL 149, Sp. 779–910, hier Sp. 856D: »Die besagte Dame [Mabel von Montgomery] war von kleiner Statur und sehr geschwätzig, zu Üblem stets bereit, gewieft und witzig und überaus schonungslos und dreist.« Wilhelm von Malmesbury [Anm. 99], Bd. 2, S. 367; Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 224 paraphrasiert: »Zu Hause und bei Tisch in Gesellschaft seiner Freunde verwandelte sich sein [Wilhelms des Roten] rauhes Wesen; er legte große Milde an den Tag und ließ viele scherzhafte Bemerkungen einfließen. Auf äußerst humorige und urbane Weise erzählte er locker von der ein oder anderen Ruhmestat, die er vollbracht hatte, und nahm dadurch, daß er aus seinen Taten eine scheinbar leichte, nicht so ernst zu nehmende Angelegenheit machte, jedem möglichen Neid den Wind aus den Segeln.« Orderic Vitalis [Anm. 85], Bd. 5, Oxford 1975, S. 324: »Graf Wilhelm von Poitiers war wagemutig, tüchtig und allzu leutselig: sogar witzige Spielleute übertraf er mit [seinen] vielfältigen Fazetien.« Wilhelm von Malmesbury [Anm. 57], S. 65: »sich selbst witzig zu loben, ist eine verachtenswerte Prahlerei.«
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V. faceto, face´tieux, facetious sind in die italienische, französische und englische Volkssprache eingegangen und werden in gängigen Wörterbüchern mit ›spaßhaft, witzig‹, ›immer zu Späßen aufgelegt‹ und ›scherzhaft, drollig, witzig, spaßig‹ übersetzt. Was sich in diesen fremdsprachigen Lemmata und ihrem Gebrauch vom dargestellten konzeptuellen Gehalt des lateinischen facetus erhalten hat, wäre zu prüfen. In der deutschen Volkssprache fehlt ein entsprechendes Lehnwort, abgesehen vielleicht von der vergleichsweise kurzen Verwendungsgeschichte des schon erwähnten, im späten 15. Jahrhundert aufkommenden fatzen, das aber – wenn überhaupt von facetus abstammend – im Gefolge der Fazetiensammlungen vermutlich eher die Renaissance-Vokabel beerbt hat und sie semantisch auf ›necken‹, ›foppen‹, ›sticheln‹ hin verschiebt bzw. einengt.106 Durch die ab der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts einsetzenden deutschen Bearbeitungen des ›Facetus cum nihil utilius‹ wird facetus im Mittel- und Frühneuhochdeutschen allein als Name (Sententiae magistri Faceti o. ä.) oder Werktitel (hye geyt facetus uß) ein Begriff.107 Wo man für letzteren ein deutsches Äquivalent vorzieht, findet sich zum Beispiel Ein büchlin heist der höfelich (4) und für das Explicit [...] iste facetiae codex (26) des Urtexts Hye hat ein endt diczt püchlein / Von hübschen sitten und tugend rein (119). Als Übersetzungsäquivalente für das adverbiale facete (17) überwiegen myt hovescheyt (256), höffleich (159) oder hübeschlich (50) und damit genau die Interpretamente, die auch in spätmittelalterlichen Vokabularien sowohl facetus als auch curialis und das ebenfalls nicht ins Deutsche gelangte urbanus glossieren: höfisch / höflich / hübsch.108 Damit fließen die in der Tat »zentralen ethisch-gesellschaftlichen Begriffe höfischen Betragens«109 in ein lexikalisches Sammelbecken, in dem ihre lateinische Differenzierung und ihr konzeptueller Gehalt auf- und größtenteils auch untergingen. Die durch den Schulbetrieb beträchtliche Verbreitung der ›Facetus‹-Traktate hat das Verständnis des lateinischen Begriffs fraglos in der Weise beschränkt und dominiert, die sich in den Vokabularen bezeugt. Ihrem Gegenstand nach waren diese ›Knigges‹ ihrer Zeit eben auch schon originalsprachlich keine, die die hier 106
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»FATZEN, cavillari, illudere, vexare« setzt das Deutsche Wörterbuch (Bd. 3, Sp. 1363– 67, hier Sp. 1363) an: »dunkler abkunft, da es sich kaum von facetus [...] herleiten läßt«; fatzwort wird (Sp. 1367) mit nugae, jocus aber eben auch mit facetiae glossiert. Hermann Pauls Deutsches Wörterbuch (Tübingen 91992, S. 264) führt dagegen frnhd. fatzen ›höhnen, necken‹ auf frnhd. Fatz, lat. facetia ›Witz‹ zurück. Alle Zitate nach Schroeder [Anm. 66], S. 4, die folgenden Verweise im Text sind Seitenangaben zu dieser Ausgabe. Vgl. Klaus Grubmüller, höfisch – höflich – hübsch im Spätmittelalter. Beobachtungen an Vokabularien I, in: wortes anst. verbi gratia. Donum natalicum Gilbert A. R. de Smet, Leiden 1986, S. 169–181. Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 356.
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ins lateinische Mittelalter zurückverfolgte Wertvorstellung ins Deutsche hätten vermitteln können. Ein übriges taten die in vielen Glossaren nachwirkenden Etymologien Isidors und Huguccios,110 die Fazetheit von facere abhängig sahen und sie – wie die ›Facetus‹-Traktate – an Taten und Werken identifizierbar machen wollten, statt an Jovialität, Charme, Witz und ihrem sprachlichen Auftritt, die ihre konzeptuell vorrangigen Formen sind. In den Vokabularen heißt es daher: facetia – hoescheyt, id est curialitas et proprie in factis oder hoifscheyt [...] in den wercke; facetus – hovesch, hoesch, id est curialis et proprie de doctrina et in factis.111 Nur sehr spärlich sind so auch die Reflexe der zeitgenössischen lexikographischen Einsicht, daß facetus dazu noch eine sprachlich-intellektuelle e Qualität bezeichnet: FACETUS- Houelicher. Versus: Require in Lepidus. [...] LEPIDUS- Redegeber. Versus: Est verbis lepidus aliquis factisque facetus. 112 Mit dem außerhalb der Vokabulare aber kaum je faßbaren redegeber, mit höfisch samt seinen Derivaten und mit schimpfrede als Pendant zu facetia als Erzählung von einer witzigen Äußerung ist im wesentlichen das dürftige Erbe benannt, das der homo facetus im deutschen Mittelalter lexikalisch hinterlassen hat – wenn man sein Nachleben semasiologisch betrachtet. Und onomasiologisch besehen? Kennt man den homo facetus im Deutschen vielleicht durchaus dem Typus und der Sache nach, aber unter anderem Namen und belegt mit lexikalisch womöglich autochthon deutschen Attributen? Gibt es literarische Zeugnisse der volkssprachlichen Wahrnehmung und diskursiven oder narrativen Entfaltung der umrissenen Wertvorstellung? Jaeger schlägt vor, etwa den Verwendungen von mhd. gämelıˆche nachzugehen, weil er den Eindruck hat, diese Vokabel, mit der Hartmann von Aue im ›Iwein‹ Lunetes groben Streich gegen den Helden belegt (v. 2217), decke »sich genau mit facetia-bzw. facete in der Bedeutung von ›spaßeshalber verborgenen wahren Absichten‹«.113 Allerdings ist dies eine von Jaeger mehrfach insinuierte Bedeutung der Lexeme, für die die lateinischen Belege fehlen, ist doch in den beiden mit der ›Iwein‹-Episode verglichenen ›lateinischen Streichen‹ – wie auch Jaeger einräumt – von facetia oder facetus keine Rede. Gleichwohl: wenn im ›Nibelungenlied‹ (Str. 1673) nach geselligem Mahl der Nibelungen in Bechelaren viel gämelıˆcher sprüche die Runde machen und wenn in den ›Marienlegenden aus dem Alten Passional‹ ein bischof saz und az, der zu ähnlich heiterer Runde einen gemelichere erwartet,114 dann ist mit gemelıˆche ein mhd. Lexem im Blick, 110 111 112
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Vgl. oben S. 318 mit Anm. 62 und S. 320f. Zit. nach: Lexikon Latinitatis Nederlandicae Medii Aevi, hg. von Olga Weijers/Marijke Gumbert-Hepp, Bd. 4, Leiden 1990, S. 1963f. Die Vokabulare von Fritsche Closener und Jakob Twinger von Königshofen. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe, hg. von Klaus Kirchert/Dorothea Klein, Bd. 1, Tübingen 1995 (TTG 40), S. 525 u. 799. Jaeger, Entstehung [Anm. 28], S. 227; vgl. zum Folgenden ebd., S. 203f. u. 226f. Marienlegenden aus dem Alten Passional, hg. von Hans Georg Richert, Tübingen 1965 (ATB 64), vgl. V. 242–252, S. 140.
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dessen semantische Komponentenanalyse in Teilen sehr wohl deckungsgleich mit facetus ist. Gleiches gilt für das von Zotz anvisierte fıˆn (etwa in Peter Suchenwirts Formulierung mit witze sprechen das ist fıˆn), »worin wir die Nachwirkung von urbanus / facetus / elegans zu erkennen glauben.«115 Auch mhd. redegebe und redespæhe weist solche Nachwirkungen und semantischen Überlappungen zu facetus und urbanus auf. Und gewiß dürfte etwa in der höfischen Epik und in der Chronistik und Panegyrik der ein oder andere homo facetus dingfest zu machen sein,116 nur daß er eben so nicht genannt ist, weil der volkssprachliche Begriff fehlt, der bereits im lateinischen Mittelalter das humanistische Ideal von ihm bezeichnet. Ein homo facetus zu sein, ist im Deutschen keine eigener Verwortung für wert befundene Tugend. Zu seiner Identifizierung mag daher abschließend nochmals ein kurzer Steckbrief hilfreich sein, wie eingangs verfaßt von Giovanni Pontano, aber nicht nur für seine Zeit gültig: Qualis esse debeat vir facetus. Erit igitur facetus is, quem nunc instituimus, in iocando suavis et hilaris, vultu placido et ad refocillandum composito, in respondendo gratus ac concinnus, voce nec languida nec subrustica, virili tamen et laeta, in motu urbanus quique nec rus indicet nec nimias urbis delicias, a scurillitate abhorrebit uti a scopulo, oscenitatem ad parasitos et mimos relegabit, salibus ita utetur ac mordacibus dictis ut, nisi provocatus ac lacessitus, nec remordeat nec revellicet; ita tamen ut nunquam ab honesto recedat ab eaque animi compositione, quae ingenui hominis est propria.117
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Vgl. Zotz [Anm. 39], S. 440f. Vgl. zum Beispiel – freilich bereits unter Einfluß des Renaissancebegriffs – die in der ›Zimmerischen Chronik‹ [Anm. 20, Bd. 4, S. 254f.] geschilderte Reaktion des löblich[en] kaiser[s] Maximilian, der ganz humanus und freuntlich gewest und der wol schimpf versteen künden, auf die Entgegnungen eines guete[n] fatzman. Pontano, De sermone [Anm. 1], S. 177: Wie ein fazeter Mann geartet sein soll. Der in der Folge von uns unterwiesene facetus wird also beim Scherzen angenehm und erheiternd sein, einen gefälligen und aufheiternden Gesichtsausdruck haben, in seinen Erwiderungen angenehm und gewandt sein, in seiner Stimme weder weichlich noch roh, doch mannhaft und heiter, in seinen Bewegungen wird er als Mann von Welt weder Bäurisches noch übertriebene städtische Affektiertheit an sich bemerken lassen, von Possen wird er Abstand halten wie vor einem Abgrund, Unflätiges Gecken und Mimen überlassen; mit Witzen und bissigen Bemerkungen hält er es so, dass er, solange er nicht provoziert und gereizt wird, auch nicht zurückbeißt und -stichelt. In jedem Fall wird er es so einrichten, dass er niemals die Grenzen des Schicklichen und der Contenance überschreitet, die sich ein edler Mensch zu eigen macht.
Silvia Reuvekamp
Heinrich Bebels ›Proverbia Germanica‹ (1508) Zum Verhältnis von Latinität und nationalem Selbstbewußtsein im deutschen Humanismus1 I. Unter dem Titel ›Proverbia Germanica‹ wird im Jahre 1508 erstmals eine Sammlung von rund 600 zu einem größeren Teil kommentierten Sprichwörten bei Johannes Grüninger in Straßburg gedruckt, die der Tübinger Rhetorikprofessor Heinrich Bebel wohl bereits einige Jahre zuvor zusammengestellt hat.2 Im Kontext der Sprichwortliteratur nehmen die ›Proverbia Germanica‹ eine Sonderstellung ein, insbesondere in ihrer Programmatik, geläufige deutsche Sprichwörter ausschließlich in lateinischer Übersetzung wiederzugeben. Formuliert wird dieses Programm schon im Untertitel der Sammlung in Verbindung mit der Autornennung: PROVERBIA GERMANICA COLLECTA ATQUE IN LATINUM TRADUCTA PER HENRICUM BEBELIUM.3 Mit dieser Programmatik grenzt Bebel seine Sammlung einerseits in der Beschränkung auf die lateinische Sprache von den zweisprachigen spätmittelalterlichen Sammlungen volkssprachiger Sprichwörter ab,4 profiliert sich in der Wahl des Gegenstandes 1 2
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Die Vortragsform ist beibehalten. Die Anmerkungen beschränken sich auf die grundlegenden weiterführenden Hinweise. Bereits in einem auf 1505 datierten Brief an Benedikt Farner erwähnt Bebel die ›Adagia Germanica‹ im Rahmen einer Aufzählung druckfertig vorliegender Schriften. Vgl. Heinrich Bebel, Proverbia Germanica, bearbeitet von Wilhelm H. D. Suringar, Leiden 1879 (Reprografischer Nachdruck Hildesheim 1969), S. XXIII. Weitere Auflagen folgen 1509 ebenfalls bei Grüninger, 1512 und 1514 bei Mathias Schürer in Straßburg sowie 1541 und 1554 in Paris. Dabei erscheinen die ›Proverbia‹ nie eigenständig, sondern immer im Verbund größerer Werkausgaben. Zitiert wird hier und im folgenden nach der Ausgabe von Suringar [Anm. 2], die auf der von Bebel selbst verbesserten Ausgabe von 1514 beruht. Abweichungen zur ersten Auflage von 1508 werden dabei eigens vermerkt. Ausführlich besprochen werden die Veränderungen, die Bebel in der Ausgabe von 1514 vornimmt, von Suringar, ebd., S. XLI-XLIV. Es handelt sich im wesentlichen um Korrekturen der griechischen Zitate sowie Verbesserungen von Druckfehlern. Nur gelegentlich werden auch weniger treffende lateinische Begriffe ausgetauscht oder Kommentare erweitert. Auf einen Originalscan der Ausgabe von 1508 (Heinrich Bebel, Haec Bebeliana opuscula nova, Straßburg: Grüninger 1508) kann über die Homepage eines von Dieter Mertens geleiteten Sonderforschungsprojekts der Universität Freiburg zugegriffen werden (http://www.geschichte.uni-freiburg.de /heinrich-bebel). Über die mittelalterliche Sammlungstradition deutscher Sprichwörter informiert Manfred Eikelmann, Sprichwörtersammlungen (deutsche), 2VL IX, Sp. 162–179.
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aber andererseits ebenso gegenüber dem neuen, humanistischen Interesse am antiken Sprichwort. Vor allem konzeptionell lassen die ›Proverbia Germanica‹ deutliche Anklänge an die noch in den Anfängen stehende humanistische Parömiologie erkennen, welche zur Zeit Bebels vor allem durch die ersten Sammlungen antiker Sprichwörter, den 1498 erschienenen ›Libellus Proverbiorum‹ des Polydorus Vergil und die ›Collectanea‹, die erste Ausgabe von Erasmus’ ›Adagia‹ im Jahre 1500, repräsentiert wird. Daneben sind der humanistischen Sprichwortliteratur aber auch mit Kommentaren versehene Zusammenstellungen von Sprichwörtern in Reden und Briefen italienischer Humanisten wie Beroaldo und Polizian zuzurechnen.5 In diesen Kontext stellt Bebel sich schon mit der in programmatischen Positionen wie dem Auftakt und den Kopfzeilen der Sammlung alternativ zum Titel ›Proverbia Germanica‹ verwendeten Bezeichnung ›Adagia Germanica‹.6 Neben der Titulierung weisen aber vor allem der Artikelaufbau und die Kommentierung der Sprichwörter die ›Proverbia Germanica‹ als humanistische Sammlung aus: Dem lateinischen Sprichworttext folgt zunächst, eingeleitet durch Formeln wie hoc est oder id est, eine erläuternde, die Bildlichkeit reduzierende Paraphrase der Sprichwortbedeutung. Im Anschluß daran wird die übliche Verwendungsweise des Mikrotextes, eingeleitet durch Formeln wie solet dicitur in eos, beschrieben, bevor die Gültigkeit des Sprichworts durch lateinische oder griechische Autoritätenzitate abgesichert wird. Die griechischen Zitate dabei mit einer lateinischen Übersetzung zu versehen, ist schon bei den italienischen Humanisten eine gängige Technik.7 Mit der beschriebenen Sonderstellung korrespondiert die wirkungsgeschichtliche Vereinzelung der Sammlung. Zwar haben die ›Proverbia Germanica‹ unmittelbar auf die nachfolgende Sammlungstradition gewirkt, doch beschränkt sich diese Rezeption ausschließlich auf das sprichwörtliche Material. Die Konzeption Bebels hat demgegenüber offensichtlich keinen Vorbildcharakter gee habt: So übernimmt Sebastian Franck unter der Überschrift Sprichworter Henrici Bebelij zwar den größten Teil der Sprichwörter der ›Proverbia Germanica‹, 5
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Zu Genese und Entwicklung der frühen humanistischen Sprichwortliteratur vgl. Felix Heinimann, Zu den Anfängen der humanistischen Paroemiologie, in: Catalepton. Festschrift für Bernhard Wyss zum 80. Geburtstag, hg. von Christoph Schäublin, Basel 1985, S. 158–182. Zur Verwendung von adagium bei Erasmus vgl. Claudie Balavoine, Les principes de la pare´miographie e´rasmienne, in: Richesse du proverbe. Etudes re´unis par Francois Suard/Claude Buridant, Vol. 2: Typologie et fonctions, Lille 1984, S. 9–23, hier S. 22, Anm. 32. Andreas Bässler führt den Gebrauch von adagium bei Polydor Vergil und Erasmus auf Perottis ›Cornucopiae‹ als möglicher gemeinsamer Quelle zurück; Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschen Literatur um 1500, Berlin/New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 27 [261]), S. 36. Vgl. z. B. Philippo Beroaldo, Symbola moraliter explicata, Bologna 1503.
Heinrich Bebels ›Proverbia Germanica‹
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doch gibt er die Texte durchgängig und beinahe ausschließlich in deutscher Entsprechung wieder und tilgt Bebels Kommentierung zugunsten christlich ausdeutender Ausführungen.8 Auch Tunnicius schöpft aus dem Fundus der ›Proverbia Germanica‹, knüpft aber konzeptionell in der Anführung volkssprachiger Sprichwörter mit lateinischer Interlinearglossierung unmittelbar an das Modell seiner Hauptquelle, den spätmittelalterlichen ›Proverbia Communia‹, an.9 Obwohl die ›Proverbia Germanica‹ zu einem sehr frühen Zeitpunkt deutsche Sprichwörter in lateinischer Sprache zusammenstellen und damit eine spezifische und viele Fragen eröffnende Konstellation innerhalb des facettenreichen Spektrums humanistischer Zweisprachigkeit repräsentieren, fand die Sammlung in der Forschung bisher wenig Beachtung, und so stehen bis heute in aller Regel eher die ›Facetien‹ im Zentrum des literaturwissenschaftlichen Interesses am Werk Heinrich Bebels. Der entscheidende Grund für diese Vernachlässigung liegt wohl nicht zuletzt in der beschriebenen, literaturgeschichtlich isolierten Stellung der ›Proverbia‹. Lange Zeit wurde die Forschung vom Bild des Sprichwörter und Volkslieder sammelnden Humanisten bestimmt, der auch als poeta laureatus in der Beschäftigung mit dem Sprichwort den Bezug zu den eigenen bäuerlichen Wurzeln gepflegt habe.10 Erst in jüngerer Zeit gibt es erste Ansätze dazu, die ›Proverbia‹ im Zusammenhang mit den historisch-politischen Schriften Bebels als Ausdruck der kulturpatriotischen Ideologie des Autors zu sehen. Nahe gelegt wird ein solcher Bezug zunächst vor allem durch die Programmatik, die im Titel des Widmungsschreibens De laudibus atque philosophia Germanorum veterum aufscheint.11 Es fehlt allerdings bisher eine eingehende 8
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Sebastian Franck, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. 11: Sprichwörter, Text-Redaktion Peter Klaus Knauer, Bern [usw.] 1993 (Berliner Ausgaben), S. 124–201. Vgl. Antonius Tunnicius, In germanorum paroemias monosticha cum germanica interpretatione, Deventer: Theodor de Borne 1513. Vgl. u. a. Gustav Bebermeyer, Tübinger Dichterhumanisten. Bebel / Frischlin / Flayder. Nachdruck der Ausgabe von 1927, Hildesheim 1967, S. 36, bzw. Elfriede Moser-Rath, Heinrich Bebel, Enzyklopädie des Märchens II, Sp. 6–15, hier Sp. 8. Gegen das ›Klischee‹ von der Volksverbundenheit Bebels geht Klaus Graf an, indem er nachdrücklich auf die literarische Überhöhung der vermeintlich volkstümlichen Schriften hinweist. Die Entstehungsgeschichte der ›Proverbia‹ wird allerdings auch hier vor dem Hintergrund der bäuerlichen Herkunft Bebels beschrieben: »Die ländliche Albheimat dient Bebel nicht nur als privates Rückzugsgebiet. Hier sind noch Spuren der ursprünglichen ›Einfachheit‹ zu finden, vor allem in der Lebensweisheit der Sprichwörter, die Bebel als mündlich tradierte ›Philosophie‹ der Germanen gilt«; Klaus Graf, Heinrich Bebel, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk, hg. von Stephan Füssel, Berlin 1993, S. 281–295, hier S. 282. Entsprechend beschränken sich die meisten neueren Untersuchungen zum Nationsbewußtsein Bebels, die auch die ›Proverbia‹ in den Blick nehmen, auf eine Analyse dieses Widmungsschreibens. So beschreibt Albert Schirrmeister, ausgehend vom Widmungsschreiben, die Funktion der Sammlung als Versuch einer in der europäi-
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Analyse der Gesamtkonzeption der Sammlung, die nicht nur eine Verortung im Gesamtwerk Bebels und im Kontext humanistischer Bemühung um das Sprichwort ermöglicht, sondern darüber hinaus einer Positionsbestimmung der Sammlung im zeitgenössischen Diskurs um die Stiftung einer nationalen Identität erst Vorschub leisten könnte. Ziel einer solchen Analyse müßte es sein, aus einem besseren Verständnis des Zusammenspiels von Widmungsschreiben, Prinzipien der Textauswahl und Kommentierungstechnik die nationalpathetische Absicht Bebels und seine philologische Arbeitstechnik konzis beschreiben zu können. Dazu sollen die folgenden Überlegungen einen ersten Beitrag leisten.
II. Der Forschungsstand zu Bebels Auswahlkriterien und Kommentierung ist bis heute durch die im wesentlichen quellenkundlich orientierten Studien markiert, die Wilhelm Suringar im Kontext seiner Edition der ›Proverbia Germanica‹ vor mehr als hundert Jahren angestellt hat. Mit den spätmittelalterlichen ›Proverbia Metrica‹ des Fabri de Werdea und den anonym überlieferten ›Proverbia Communia‹ hat Suringar die beiden Hauptquellen der ›Proverbia Germanica‹ bestimmt und damit einen genetischen Zusammenhang zwischen der humanistischen Sammlung Bebels und der spätmittelalterlichen Sammlungstradition aufgedeckt.12 Zu den Kommentaren der ›Proverbia Germanica‹ äußert sich Suringar nur am Rande: Die im Deutschen geläufigen Sprichwörter seien von geringem Erklärungsbedarf; entsprechend fänden sich nur sporadisch Erläuterungen, die sich zudem meist in einer umschreibenden Wiederholung des Sprichworttextes erschöpften.13 Unmittelbar an diesen Forschungsstand anknüpfend, nimmt auch die neuere Forschung die Kommentierung der Sprichwörter in den ›Proverbia Germanica‹ nicht wahr: So konstatierte Andreas Bäss-
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schen Konkurrenz gründenden Konstruktion einer gemeinsamen ethnischen Geschichte der Deutschen (Nationale Autor- und Heterostereotypen um 1500. Frankreich und Deutschland in den Schriften Heinrich Bebels, Recherches Germaniques 25 [1995], S. 13–41, hier S. 24). Vgl. Proverbia Germanica [Anm. 2], S XXVII-XXIX. Die humanistischen Sammlungen von Polydorus Vergil und Erasmus habe Bebel demgegenüber wohl weder gekannt noch benutzt. Dieses Urteil stützt sich einerseits auf den Umstand, daß kein direkter Quellenbezug zu diesen Texten zu erkennen sei und sich die Sammlung Bebels andererseits in ihrer Absicht, volkssprachiges und nicht antikes Sprichwortgut zu verzeichnen, kategorial von den humanistischen Sammlungen unterscheide. Auch eine Einflußnahme der humanistischen Sprichwortliteratur im weiteren Sinne schließt Suringar [Anm. 2] aus. Vgl. ebd., S. XXII, XXIX.
Heinrich Bebels ›Proverbia Germanica‹
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ler erst jüngst, daß der Kommentar bei Bebel beinahe gänzlich fehle, was sich schon durch den hohen Bekanntheitsgrad der deutschen Sprichwörter erkläre.14 Schon die Tatsache, daß Bebel mehr als 270 der insgesamt 550 Sprichwörter kommentiert und dabei trotz der drucktechnischen Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, in einer relativ hohen Frequenz griechische Zitate einbezieht, zeugt von der besonderen Bedeutung der Kommentare für die Funktion der Sammlung und läßt eine Vernachlässigung durch die Forschung unhaltbar erscheinen. Außerdem übersehen Suringar und seine Nachfolger, daß die frühe humanistische Sprichwortliteratur im Umfang der Kommentierung durchaus der Konzeption Bebels vergleichbar ist. So finden sich größere Sprichwortessays und ganze Konkordanzen griechischer und lateinischer Parallelbelege erst in den späteren Ausgaben der ›Adagia‹.15 Für ein neues Verständnis der Gesamtkonzeption der ›Proverbia Germanica‹ scheint es also unerläßlich, zunächst im Bereich der Textauswahl wie der Kommentierungstechnik neu anzusetzen. Den von Suringar hergestellten Quellenbezügen der ›Proverbia Germanica‹ zu den ›Proverbia Communia‹ und den ›Proverbia Metrica‹ ist grundsätzlich zuzustimmen. Tatsächlich entnimmt Bebel den weitaus größten Teil seiner Sprichwörter diesen beiden spätmittelalterlichen Sammlungen. Der direkte Bezug zu den ›Proverbia communia‹ zeigt sich vor allem in wörtlichen Zitaten des lateinischen Quellentextes in den Kommentaren.16 Die Nähe zu den ›Proverbia Metrica‹ wird demgegenüber vor allem in Bebels Kommentierung einzelner Sprichwörter deutlich. Diese weist immer wieder markante Übereinstimmungen zu den Paraphrasen auf, die Fabri dem lateinischen Sprichworttext an die Seite stellt. Besonders deutlich wird dies dort, wo Fabris Verständnis der eigentlichen Verwendungsgeschichte eines Sprichworts entgegensteht: So fungiert das Sprichwort »Willige Pferde soll man nicht mit Sporen antreiben« in seiner ursprünglichen Verwendungstradition als Mahnung, in politisch brisanten Zusammenhängen Ratschläge mit gebührender Vorsicht und Zurückhaltung vorzubringen. Angewendet wird es dabei ausschließlich auf solche Ratgeber, die vom Wohlwollen ihres Herrn abhängig sind.17 Die antike Ver14
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Während Erasmus in Konkordanzen gleicher oder verwandter sprichwörtlicher Zitate in einem komparatistischen Verfahren die Bedeutung eines Sprichwortes für den betrachteten Zusammenhang erst gewinnen müsse, reiche in den ›Proverbia Germanica‹ die Kenntnis der einheimischen, lediglich ins Lateinische übersetzten Sprichwörter aus, um die angeführten antiken Belege zu verstehen; vgl. Bässler [Anm. 6], S. 36. Zur Entwicklung der ›Adagia‹ in den Ausgaben von 1500 bis 1533 vgl. Margaret Mann Philips, The ›Adages‹ of Erasmus. A Study with Translations, Cambridge 1964, S. 3–168. Eine Auflistung solcher wörtlichen Übernahmen findet sich in der Ausgabe von Suringar [Anm. 2], S. XXXIII, Anm. 2. In den zwischen der Mitte des 2. Jahrhunderts und dem 4. Jahrhundert entstandenen ›Historiae Alexandri Magni‹ wird von einem Gastmahl berichtet, bei dem König Bessus über das Schicksal seines Königreiches beraten läßt, das von Alexander dem Gro-
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wendungsweise bleibt auch im mittelalterlichen Gebrauch Bezugspunkt für das Verständnis des Sprichworts. Das zeigt nicht nur die frühmittelalterliche Sammlungsüberlieferung,18 sondern auch die Kontextualisierung des Sprichworts in Hartmanns ›Iwein‹.19 Bebel bezieht das Sprichwort demgegenüber wie Fabri auf den angemessenen Umgang mit Freunden: Man sage es oft zu denen, die ihre Freunde unaufhörlich mit Bitten bedrängen oder mehr als es sich schicke, Beistand oder Geld von ihnen verlangen: Equos voluntarios, hoc est, sua sponte currentes, non nimium urgendos esse. Hoc saepe dici audivi in eos qui amicos suos nimium fatigant precibus, vel plus quam decet ab eis auxilium, pecuniam et similia extorquent (›Proverbia Germanica‹, Nr. 223).
Diese Verlagerung der Sprichwortverwendung in einen neuen Anwendungsbereich findet sich vor Bebel bereits in den ›Proverbia Metrica‹. Hier heißt es im
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ßen nach der Überschreitung des Kaukasus belagert wird. Entgegen der allgemeinen Stimmung rät Kobares, ein Gefolgsmann des Königs, sich Alexander zu ergeben und darauf zu hoffen, von diesem als Verwalter des Reiches eingesetzt zu werden. Seinen rhetorisch geschickt vorgetragenen Argumenten verleiht Kobares Nachdruck, indem er abschließend mit dem Sprichwort vom willigen Pferd, daß man nicht antreiben braucht, begründet, warum er nicht mit weiteren Ausführungen in den König dringen will: Wenn dieser bereit sei, die Klugheit seines Ratschlags zu erkennen, benötige er keine weiteren Ausführungen, wenn er sich dem Ratschlag allerdings verschließe, sei jede weitere Rede unnütz: [...] Consilium habes fidele: quod diutius exequi supervacuum est. Nobilis equus umbra quoque virgae regitur, ignavus ne calcari quidem concitari potest; Q. Curtius Rufus, Historiae Alexandri Magni. Macedonis Libri qui supersunt, hg. von Theodor Vogel, Leipzig 1904, 7,4,18. Zur weiteren Überlieferung des Mikrotextes vgl. die Lemmata Pferd 4.2. »Das willige Pferd braucht keine Sporen« und Pferd 5.1. »Man soll das (gute) Pferd nicht überfordern« im Thesaurus Proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, begründet von Samuel Singer, hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin/New York 1995– 2001, Bd. IX, S. 100–102. Vgl. die analoge Formulierung des Sprichworts in der frühmittelalterlichen ›Fecunda Ratis‹ des Egbert von Lüttich: In urige sonipes terretur nobilis umbra; Pellere uix potes ignauum, dum calcibus urges; Egbert von Lüttich, Fecuna ratis. Zum ersten Mal hg., auf ihre Quellen zurückgeführt und erklärt von Ernst Voigt, Halle a. d. Saale 1889, 1,639. Vgl. Hartmann von Aue, Iwein, hg. von Georg Friedrich Benecke/Karl Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff, Berlin 71968, V. 2395–2397. Auch hier steht der Mikrotext im Zusammenhang einer politisch brisanten Beratungsszene. Allerdings lehnt sich Hartmann – wie bereits vor ihm Chre´tien – in seinem mehrdeutigen Erzählerkommentar gleichzeitig an die in der lateinischen Liebeskasuistik gängige ironische Verkehrung des Sprichworts an, wie sie wohl von Ovid geprägt wurde. Vgl. Publilius Ovidus Naso, Liebeskunst. Lateinisch-deutsch. Ars armatoria libri tres. Nach der Übersetzung Wilhelm Hertzbergs bearbeitet von Franz Burger, München 401964 (Tusculum-Bücherei), 2,725–731. Vgl. dazu ausführlicher: Silvia Reuvekamp, Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans, Berlin/New York 2007, S. 77–79.
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deutschen Text: Eyn gut pferd sol man nicht vberreyten: / Also eyn gutten fruend sol man nuetzen zcu zceyten.20 Bebel knüpft in der Kommentierung des Sprichworts also offensichtlich, die antike und mittelalterliche Verwendungstradition abblendend, an seine Vorlage an. Ein besonders enger Bezug Bebels zu Fabri wird deutlich, wenn man erkennt, daß mit wenigen Ausnahmen alle Belege, die Bebel als Sprichwörter seiner schwäbischen Heimat ausgibt und von denen man in der Forschung gemeinhin angenommen hat, Bebel hätte sie direkt dem Volksmund entlehnt, in Formulierung oder Kommentierung erkennen lassen, daß sie den ›Proverbia Metrica‹ des aus der gleichen Gegend stammenden Fabri entnommen sind. Der offensichtliche Quellenbezug der ›Proverbia Germanica‹ erübrigt eine genauere Analyse der die Sammlung konstituierenden Textauswahl allerdings nicht. Dies schon deswegen nicht, weil Bebel nicht alle Sprichwörter seiner Vorlagen übernimmt und über diese hinaus weitere Texte einbezieht. Vor allem gilt es, das auf den ersten Blick allzu einleuchtende Bild, Bebel habe über die ›Proverbia Communia‹ auf die Sprichwörter zugegriffen, die zur Entstehungszeit volkssprachiges Allgemeingut gewesen seien, kritisch zu hinterfragen. Bebels Quelle verzeichnet nämlich nicht wie der Titel ›Proverbia Communia‹ nahelegt, ausschließlich weit verbreitete und im Volksmund beheimatete Sprichwörter, sondern enthält ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher Sprichworttypen mit ganz unterschiedlichem Verbreitungsgrad: Neben biblischen oder antiken Sprichwörtern mit entsprechend dichter mittellateinischer Überlieferung und Aufnahme in die Volkssprache stehen nur ganz sporadisch überlieferte Sprichwörter; gut ein Drittel der 800 Belege läßt sich schließlich vor den ›Proverbia Communia‹ überhaupt nicht nachweisen.21 Die alphabetische Anordnung der Sammlung ermöglichte wohl eine Erweiterung des Materials durch Zudichtungen: So werden gerade Stichworte, zu denen es eine größere Anzahl an verbreiteten Sprichwörtern gibt, durch neue Texte ergänzt.22
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Johannes Fabri de Werdea (von Donauwörth), Proverbia metrica et vulgariter rytmisata, Leipzig: Martin Landsberg, um 1493. Vgl. zur Sammlungskonzeption der ›Proverbia Communia‹ maßgeblich die Einleitung zur Ausgabe von Richard Jente, passim; Proverbia Communia. A Fifteenth Century Collection of Dutch Proverbs together with the Low German Version, ed. with Commentary by Richard Jente, Indiana 1947 (Indiana University Publications, Folklore Series 4). Nachdruck mit einem Vorwort von Wolfgang Mieder, Hildesheim/New York o. J. (Volkskundliche Quellen, Reihe VII). So wird beispielsweise zwischen die weit verbreiteten Sprichwörter »Nicht alle schlafen, die schnarchen« (Proverbia Communia [Anm. 21], Nr. 790) und »Nicht alle sind heilig, die zur Kirche gehen« (vgl. ebd., Nr. 792) mit »Nicht alle sind krank, die stöhnen« (vgl. ebd., Nr. 791) ein analog konzipierter Text geschaltet, der allerdings vor den ›Proverbia Communia‹ nicht belegt ist, also wohl kaum im Volksmund verbreitet war.
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Die Auswahl Bebels aus diesem heterogenen Quellenmaterial wirkt auf den ersten Blick rein assoziativ: So folgt er über ganze Passagen der alphabetischen Ordnung seiner Vorlage, verläßt diese aber immer wieder, um thematisch, stilistisch oder in der Bildlichkeit verwandte Sprichwörter in Gruppen zusammenzustellen.23 In diese Anordnung übernimmt Bebel alle in den ›Proverbia Communia‹ repräsentierten Sprichworttypen. Er konzentriert sich also nicht auf solche Belege, die über eine längere deutschsprachige Tradition verfügen. Ganz im Gegenteil scheint ein besonderes Interesse gerade an den sporadisch überlieferten Texten und an den Zudichtungen der Vorlage zu bestehen. So meidet er diese nicht nur keineswegs, sondern verleiht ihnen im Rahmen der Kommentierung besonderes Gewicht. Weit verbreitete Sprichwörter antiker oder biblischer Herkunft, die schon in den ›Collectanea‹, erst recht aber in späteren Ausgaben der ›Adagia‹ mit einer größeren Anzahl an Parallelbelegen versehen werden, kommentiert Bebel demgegenüber nicht. Mit diesem Befund korrespondiert das Profil der Sprichwörter, die Bebel über den Bestand der ›Proverbia Communia‹ hinaus in seine Sammlung aufnimmt. Auch hierbei handelt es sich zum größeren Teil um Texte, die über keine breitere Verwendungstradition verfügen; in konsequenter Weiterführung erfindet auch Bebel Sprichwörter. Offensichtlich wird dies dort, wo er seine Zudichtungen in Einleitungsformeln wie Aliud Heinrici Bebelij kenntlich macht.24 In den meisten Fällen offenbart Bebel den geringen oder gar fehlenden Bekanntheitsgrad seiner Sprichwörter jedoch nicht, sondern dichtet ihnen im Kommentar eine Text- und Anwendungsgeschichte an. Ein Beispiel für dieses Verfahren bietet Bebels Kommentierung des Sprichworts Raro meliora subsectura, (»Selten folgt Besseres [bzw. ein Besserer] nach«, ›Proverbia Germanica‹, Nr. 274), das vor den ›Proverbia Germanica‹ nur an zwei Stellen nachweisbar ist. Im deutschsprachigen Bereich ist die Wendung nur in Folz’ Fastnachtsspiel ›Ein spil von konig Salomon und Markolffo‹ überliefert: Als Salomon Markolf wegen dessen verbalen Ausfällen gegenüber den Frauen tadelt, wird der König selbst von einer der Anwesenden bezichtigt, sich an ihren Rechten vergangen zu haben, wenn er erlaube, daß Männer bis zu sieben Frauen haben dürften. Salomons Versuch, sich zu verteidigen, wird durch die erneute Polemik der Frau unterbrochen, die ihm vorwirft, die Ungerechtigkeiten seiner Ahnen übertroffen zu haben. Entlang dieser Verwendungsweise 23
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Als Beispiel für eine solche Gruppenbildung vgl. z. B. Proverbia Germanica [Anm. 2], Nr. 6 und 7. Herausgestellt wird die Zusammengehörigkeit der Lemmata durch Überleitungen wie aliud, consimile oder econtrario. Dabei dient die Auflösung der alphabetischen Anordnung der Vorlage offenbar der ›Lesbarkeit‹ des Textes, der – anders als seine spätmittelalterlichen Vorgänger – nicht als reines Nachschlagewerk oder Kompendium für den Lateinunterricht gedacht war. Gerade in solchen konzeptionellen Eingriffen wird die Zugehörigkeit der Sammlung zur humanistischen Sprichwortliteratur deutlich. Vgl. z. B. Proverbia Germanica [Anm. 2], Nr. 383–386.
Heinrich Bebels ›Proverbia Germanica‹
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kommentiert auch Bebel seinen Eintrag: dicimus de praefectis et dominis, quorum successores maiori ex parte deteriores sunt, et crudeliores praecessoribus (»Wir sagen dies über Befehlshaber und Herren, deren Nachfolger noch schlechter oder schrecklicher sind als ihre Vorgänger«, ›Proverbia Germanica‹, Nr. 274). Die Einleitungsfloskel dicimus suggeriert dabei die Geläufigkeit des Mikrotextes, der in Wirklichkeit nur in vereinzelten literarischen Belegen nachweisbar ist. Bebels Absicht, diesem im Kommentar eine Anwendungsgeschichte zu verleihen und ihn damit gleichsam als gebräuchlich zu autorisieren, dokumentiert sich dann noch weiter in der von Bebel selbst verbesserten Auflage der ›Proverbia Germanica‹ von 1514.25 Hier führt er das Sprichwort nämlich auf einen Ausspruch Aesops zurück, der in seiner Weisheit gesagt habe, daß sich die Leute häufig ihren ersten Herren zurückwünschten, wenn sie die Erfahrung des nachfolgenden gemacht hätten: Proinde Aesopus prudenter, ut alia omnia, dicit: Το τε µα λιστα τουÁ ς προτε ρους δεσπο τας οιë οιÆ χε ται ποθουÄ σιν, οÏÇ ταν τωÄ ν δευτε ρων λα βωσι πειÄραν, id est, Tunc maxime priores heros, seu dominos, famuli desiderant, quando secundorum ceperint experientiam (›Proverbia Germanica‹, Nr. 274). Auf diesem Weg stellt Bebel einen Bezug zur Fabel ›Die Königswahl der Frösche‹ her, in der erzählt wird, wie Jupiter den zuvor demokratisch organisierten Fröschen einen Holzblock sendet, als sie einen König von ihm erbitten. Weil sie sich damit nicht zufrieden geben wollen, schickt er ihnen einen Storch (bzw. eine Wasserschlange), und alle Frösche werden gefressen.26 Konstruiert ist die von Bebel hergestellte Verbindung insofern, als das Sprichwort kein einziges Mal, also weder in der antiken noch in der mittelalterlichen Tradition gemeinsam mit der Fabel von der Königswahl der Frösche überliefert ist. Ausgelegt wird diese nämlich üblicherweise in eine ganz andere Richtung, nämlich dahingehend, daß es unsinnig ist, sich freiwillig unter eine Herrschaft zu begeben. Als Epimythion findet sich das Sprichwort dagegen in einer sinnverwandten, aber deutlich weniger bekannten Fabel aus der Sammlung des Odo von Cherington: Vnde solet dici: Selde cumet se betere, hoc est: Raro succedit melior.27 Die Fabel erzählt, wie sich die Mönche eines Klosters den Tod ihres strengen Abtes herbeiwünschen, bis sie einer von ihnen vor den möglichen Konsequenzen ihres Ansinnens warnt: Er habe erlebt, daß einem schlechten Herrn noch ein weitaus schlechterer folgen könne. Daß das Epimythion dieser Fabel Bebel als Vorlage gedient haben könnte, legt die sprachliche Nähe der lateinischen Formulierungen des Mikrotextes nahe. Hinzu kommt, daß diese 25 26
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Zu Bebels Überarbeitung der Sammlung in der Ausgabe von 1514 vgl. oben Anm. 3. Zur mittelalterlichen Überlieferung der Fabel vgl. Gerd Dicke/Klaus Grubmüller, Die Fabeln des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen, München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 60), S. 174–180, Nr. 162 (»Frösche bitten um einen König«). Die Narrationes des Odo de Ciringtinia I, Jahrbuch für romanische und englische Literatur 9 (1868), S. 129–154, hier Nr. 1, S. 129.
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Geschichte in Odos Fabelsammlung in unmittelbarer Nachbarschaft zur ›Königswahl der Frösche‹ steht. Bebel wählt für seinen Kommentar also gezielt einen prominenteren Bezugstext, um den noch weitgehend unbekannten Mikrotext in einer Tradition zu kontextualisieren, auf deren Vertrautheit er rechnen kann. Offensichtlich geht es ihm – anders als Erasmus – gerade nicht darum, in einer Konkordanz von Parallelbelegen die Textgeschichte seiner Sprichwörter abzubilden. So dient Aesop nicht als Gewährsmann für das Sprichwort und dessen Formulierungstradition. Der zitierte Ausspruch stützt lediglich den im Kommentar mit dem Sprichwort verbundenen Erfahrungswert. Über eine ganz ähnliche Funktion verfügen lateinische und griechische Autoritätenzitate auch in der Kommentierung der von Bebel erfundenen Sprichwörter. Der Eintrag: Damnosum volunt esse nostri, virginis pauperis et indotatae formam et pulchritudinem, quippe quae a multis petatur citra legitimam Venerem (»Bei uns sagt man, für eine arme und mittellose Jungfrau sei Wohlgestalt und Schönheit ein Schaden«, ›Proverbia Germanica‹, Nr. 242) ist in der Zuspitzung auf die Keuschheit von armen Mädchen vor Bebel nicht belegt. Authentizität verleiht dieser seinem Text nun zunächst, indem er ihn in der Einleitungsformel volunt esse nostri als geläufigen Ausspruch ausgibt. Zusätzlich zitiert er mit Ovid die beiden ältesten greifbaren Belege des sinnverwandten und weit verbreiteten Sprichworts »Keuschheit und Schönheit liegen im Widerstreit«28 und zeigt damit gleichsam an, wie er das neu formulierte Sprichwort verwendet wissen will: sicut dicit Ovidus: Foedera servasset, si non formosa fuisset. et alibi: Lis est cum forma magna pudicitiae (›Proverbia Germanica‹, Nr. 242).
III. Insgesamt legen Textauswahl und Kommentierungstechnik der ›Proverbia Germanica‹ nahe, daß es offensichtlich ein wichtiges Anliegen Bebels war, noch unbekannte Sprichwörter vorzustellen und ihren Gebrauch anzuregen. Mag dieser Befund zunächst vor dem Hintergrund der Behauptung des Autors, die Sprichwörter der Deutschen zu sammeln und in die lateinische Sprache zu übertragen, erstaunen, steht dieses Anliegen in deutlicher Synergie mit dem im Widmungsschreiben entfalteten kulturtheoretischen Programm, vor allem mit den in diesem Zusammenhang angestellten funktionalen Überlegungen Bebels: Nach eigenen Angaben will er der lateinischen Sprache Sprichwörter schenken, um zu verdeutlichen, daß sich die Deutschen trotz ihrer Schriftlosigkeit mit der 28
Zur weiteren Tradition dieses Sprichworts vgl. das Lemma schön 8.1. (»Schönheit und Keuschheit finden sich selten vereint«) im Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi [Anm. 17], Bd. X, S. 224–226.
Heinrich Bebels ›Proverbia Germanica‹
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eigenen Lebensphilosophie beschäftigt hätten, und um die Gegenwartssprache wieder reicher an diesen Elementen zu machen: Ut igitur intelligatur, maiores nostros suam etiam philosophiam tractasse ut oratio nostra vel nostris adagiis optimis et verissimis [...] copiosior aliquando reddatur, pauca haec quae vides [...] Latinitati donavimus (›Proverbia Germanica‹, S. 6). (»Damit deshalb einsichtig wird, daß unsere Vorfahren sich auch mit ihrer Philosophie beschäftigt haben, um unsere Sprache / Rede irgendwann einmal sogar wieder reicher zu machen an unseren sehr guten und wahren Sprichwörtern [...], haben wir diese wenigen der lateinischen Sprache geschenkt.«)
Den entscheidenden Wert von Sprichwörtern sieht Bebel in ihrer stilistischen Einfachheit, denn hier dienten die Wörter den Sachen und nicht die Sachen den Wörtern: in proverbiis et verba rebus, non res verbis servire oportere (›Proverbia Germanica‹, S. 7), d. h. sie bieten kein schriftliterarisch überformtes und damit entfremdetes Wissen, sondern bündeln Erfahrungswissen, das in engem Bezug zur menschlichen Lebenspraxis steht. Damit unterscheiden sich die von Weisen geschaffenen, im mündlichen Gebrauch aber von Eltern zu Kind weitergegebenen Sprichwörter grundlegend von der Philosophie und Gesetzgebung anderer Völker, die durch das Abrücken in einen isolierten, gelehrten Diskurs die Verbindlichkeit für die Menschen verloren hätten. So erklärt Bebel letztlich, warum vor allem die Griechen und Römer trotz der Weisheit ihrer Philosophen und Gesetzgeber lasterhaft und ausschweifend gelebt hätten, die Deutschen sich demgegenüber aber auch ohne solche Regelwerke durch besonders gute Sitten und ein außergewöhnliches Gerechtigkeitsgefühl ausgezeichnet hätten. Das Fehlen schriftlicher Überlieferung versteht Bebel letztlich also – auch wenn er einräumt, daß es sich hierbei um einen Makel handelt – als Zeichen für die natürliche Überlegenheit der Deutschen über die Griechen und Römer, da Werte und Lebensregeln in der schriftlosen Gesellschaft in Form von Sentenzen und Sprichwörtern verinnerlicht worden seien. Die Sprache insbesondere auch durch Verbreitung unbekannter und Erfindung neuer Sprichwörter wieder mit diesen Elementen anzureichern, bedeutet insofern, an die einstige Überlegenheit der Deutschen anzuknüpfen. Wie Celtis propagiert Bebel also einen nationalen Humanismus in lateinischer Sprache. Doch versucht er zu zeigen, daß die Humanisierung der Menschen nicht an erster Stelle durch das Studium der klassisch-lateinischen Literatur zu erreichen ist, sondern auch Inhalte des eigenen kulturellen Hintergrundes dazu geeignet sind. In engem Zusammenhang mit Bebels kulturpatriotischen Schriften sind auch die ›Proverbia Germanica‹ aus einem zeitkritischen Impetus heraus auf das Ziel bezogen, das ruhmvolle Herkommen der Deutschen zur Maxime der politischen und gesellschaftlichen Praxis der Gegenwart werden zu lassen. In seiner Innsbrucker Rede, die Bebel anläßlich seiner Dichterkrönung im Jahre 1501 gehalten hat und die in den Drucken im Umfeld der ›Proverbia‹ überliefert ist, stilisiert Bebel sich als Bote der ehrfurchterregenden, aber heruntergekomme-
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nen Mutter Germania an den König. Es sei sein Auftrag, diesem von ihrem beklagenswerten Zustand zu berichten und ihn zu neuen Taten zum Ruhme Deutschlands anzufeuern.29 Die erratische Position der ›Proverbia Germanica‹ im Kontext der spätmittelalterlichen wie humanistischen Sprichwortliteratur korrespondiert insofern mit Bebels dezidiertem, aber singulären Sammlungsinteresse. An diese ersten Überlegungen zur Gesamtkonzeption der ›Proverbia Germanica‹, zu ihrer Stellung im Kontext der Sprichwortliteratur und zu ihrer Stellung im humanistischen Diskurs um die Stiftung einer nationalen Identität schließt sich eine ganze Reihe weiterführender Fragestellungen an.30 Insbesondere gälte es, das Autorbewußtsein Bebels, der mit den ›Proverbia Germanica‹ für sich in Anspruch nimmt, deutsches Kulturgut nicht nur zu bewahren oder in Erinnerung zu rufen, sondern erst zu stiften, mit Blick auf das Gesamtwerk zu perspektivieren. Dies erscheint um so wichtiger, als die ›Proverbia Germanica‹ nie selbständig, sondern immer in größeren Werkausgaben wechselnder Anordnung gedruckt wurden. Dabei scheinen schon auf den ersten Blick enge Bezüge zwischen der Programmatik der ›Proverbia‹ und den umstehenden Texten auf: Neben der erwähnten Innsbrucker Rede steht die Sammlung im direkten Umfeld einer kurzen Abhandlung mit dem Titel ›Germani sunt Indigine‹, in der Bebel die Ureinwohnerschaft der Deutschen postuliert, sich also gegen eine vermeintliche Abstammung von den Trojanern wendet.31 Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die nicht nur textgeschichtlich indizierte Symbiose der ›Proverbia Germanica‹ mit Bebels ›Facetien‹. Denn es werden nicht nur 40 Sprichwörter der Sammlung dort aufgenommen und damit gleichsam in ihrem literarischen Gebrauch vorgeführt. Außerdem pointiert Bebel in drei seiner Werkausgaben das beiden Texten eigene spannungsreiche Ver29
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31
Vgl. dazu Dieter Mertens: »Bebelius . . . patriam Sueviam . . . restituit«. Der Poeta laureatus zwischen Reich und Territorium, Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983), S. 145–173, hier S. 148. Eine eingehende Analyse von Konzeption und Material der ›Proverbia Germanica‹ könnte neue Aufschlüsse über Prozesse der ›Diffusion‹ des Humanismus liefern. Erste Beobachtungen legen nahe, daß Bebel die Texte vorangegangener humanistischer Parömiologen deutlich besser kannte, als in der Forschung bisher angenommen (vgl. oben Anm. 12). Die immer noch offenen Fragen zur Ausbreitung des Humanismus pointiert Johannes Helmrath, Diffusion des Humanismus. Zur Einführung, in: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hg. von Johannes Helmrath [u. a.], Göttingen 2002 (Frühe Neuzeit 1), S. 9–29. Vgl. dazu u. a. Albert Schirrmeister [Anm. 11], S. 19–24; Dieter Mertens, Die Instrumentalisierung der »Germania« des Tacitus durch die deutschen Humanisten, in: Zur Geschichte der Gleichung »germanisch-deutsch«. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hg. von Heinrich Beck [u. a.], Berlin/New York 2004 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 34), S. 37–101, hier insbesondere S. 81–101.
Heinrich Bebels ›Proverbia Germanica‹
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hältnis von lateinischem Stilideal und volkstümlich grobianischem Gegenstand, indem er das Widmungsschreiben der ›Proverbia‹ den ›Facetien‹ voranstellt. Im Zusammenschluß der eigentlich eigenständig konzipierten Texte werden beide Gattungen gemeinsam in ihrer vermeintlich deutschen Ausprägung dem literarischen Gebrauch wie dem kolloquialen Gespräch unter Humanisten anempfohlen.
Cora Dietl
Schauspieler und Schwankheld Faszination und Schrecken des Trügerischen
Mimus est enim generis humani tota vita tentationis; quia dictum est, Universa vanitas omnis homo vivens (»Das ganze diesseitige Leben der Menschen ist nämlich ein Schauspiel; es heißt nämlich: ›Jeder lebende Mensch ist nur ein Hauch‹« [Ps 38,6]).1
Das alte Bild des theatrum mundi, in Platos ›Nomoi‹ (644d-e) durch die Beschreibung der Menschen als Marionetten der Götter bereits vorgeprägt, bei Seneca in den ›Epistolae morales ad Lucilium‹ (80,7) ausformuliert, bei Augustin, wie hier zitiert, an biblische Aussagen zur Eitelkeit des Diesseits geknüpft, bei Johannes von Salisbury im ›Policraticus‹ allegorisch ausgestaltet, hatte in Antike und Mittelalter vielfältige Deutungen gefunden, bis es in der Renaissance eine neue Aktualität erfuhr.2 Mit der Lösung aus dem heraldischen Denken des Mittelalters läßt sich im Humanismus eine Konzentration auf das Individuum beobachten, welche sogleich eine Problematisierung des Subjektbegriffs mit sich bringt. Hans Belting hat dies sehr anschaulich an der Entwicklung der Portraitkunst vom Mittelalter zum Humanismus vorgeführt: Auf die Seite oder auf die Rückseite des Portraits tritt nun vermehrt nicht mehr das Familienwappen, sondern der Totenschädel (als Reduktion des Scheins auf seinen »wahren« Kern) oder aber die Maske, die persona in der ursprünglichen Bedeutung des Worts.3 Das Individuum scheint sich in der Welt nicht mehr primär über die Familie und die Genealogie zu bestimmen – die übersteigerten genealogischen Rechtfertigungsversuche des Hochadels, wie z. B. Maximilians I., stellen eine Gegenbewegung hierzu dar –, sondern über die Rolle, welche es in der Gesellschaft und in der Welt spielt: in einer Welt, welche nun nicht selten den Vergleich mit einer Theaterbühne erfährt.4 1 2
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Augustinus, Enarratio in Psalmum 127, PL 37, Sp. 1686. Zur Begriffsgeschichte vgl. Bernhard Greiner, Welttheater, 3RL III, S. 827–830; Jose´ M. Gonza´lez Garca´, Zwischen Literatur, Philosophie und Soziologie: Die Metapher des ›Theatrum mundi‹, in: Philosophie in Literatur, hg. von Christiane Schildknecht /Dieter Teichert, Frankfurt 1996, S. 87–108, hier S. 88–92. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 3 2006 (Bild und Text), S. 134f. Eine Textsammlung und Grundlegendes zur Metapher des theatrum mundi in der Frühen Neuzeit bietet Helmar Schramm, Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996 (LiteraturForschung 1).
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Cora Dietl
1. Das Welttheater als conditio humana. Erasmus von Rotterdam Frau Stultitia, die sonst ungern Gesehene, stets Bemäntelte und unter klugem Schein Verdeckte, tritt in Erasmus’ von Rotterdam ›Lob der Torheit‹ in persona 5 vor das imaginierte Publikum und öffnet ihm die Augen für diese Welt: Porro mortalium vita omnis quid aliud est, quam fabula quaepiam, in qua alii aliis obtecti personis procedunt, aguntque suas quisque partes, donec choragus educat e proscenio? (»Was aber ist das menschliche Leben schon anderes als ein Schauspiel, in dem die einen vor den anderen in Masken auftreten und ihre Rolle spielen, bis der Regisseur sie von der Bühne abruft?« ›Lob der Torheit‹, § 29)6
Alles sei Blendwerk, das Leben sei ein Schauspiel, jeder Mensch trage Masken, erklärt sie, und exemplifiziert dies an einer Vielzahl von Beispielen. Die meisten Menschen aber scheinen dies nicht wahrzunehmen. Während Erasmus im ›Enchiridion‹ von einer tatsächlichen Täuschung und einem Unwissen der Menschen ausgeht, welche den Schein für Sein halten, inanes rerum imagines pro verissimis rebus admirantur,7 erklärt Stultitia im ›Lob der Torheit‹, § 29, die Menschen ignorierten den Trug; modo fateantur illi vicissim hoc esse, vitae fabulam agere (»Sie sollen ihrerseits doch wenigstens zugeben, daß dem so sei, daß man nämlich das Schauspiel des Lebens aufführe!«). Zugleich aber gesteht sie ein, daß ein Entfernen der Masken, eine Desillusionierung, nicht problemlos möglich sei: Si quis histrionibus in scena fabulam agentibus personas detrahere conetur, ac spectatoribus veras nativasque facies ostendere, nonne is fabulam omnem pervertit, dignusque habeatur, quem omnes e theatro velut lymphatum saxis eiiciant? Exorietur autem repente nova rerum species, ut qui modo mulier, nunc vir: qui modo iuvenis, mox senex: qui paulo ante Rex, subito Dama: qui modo Deus, repente homunculus appareat. Verum eum errorem tollere, est fabulam omnem perturbare. Illud ipsum figmentum et fucus est, quod spectatorum oculos detinet [...]. Adumbrata quidem omnia, sed haec fabula non aliter agitur. (»Wenn einer versuchen wollte, Schauspielern auf der Bühne die Masken herunterzureißen und den Zuschauern die wirklichen, natürlichen Gesichter zu zeigen, würde er nicht das ganze Stück verderben und man es angemessen finden, daß alle ihn wie 5
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Ich verwende hier absichtlich den doppeldeutigen Begriff der Person/Maske/Rolle, da bis zuletzt unklar bleibt, ob Stultitia nicht doch nur eine Maske sei – die des impliziten Autors. Vgl. Barbara Könneker, Satire im 16. Jahrhundert. Epoche – Werk – Wirkung, München 1991 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 96. Erasmus von Rotterdam, Morias Enkomion sive Laus Stultitiae, hg. von Wendelin Schmidt-Dengler, Darmstadt 1975 (Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften II). Erasmus von Rotterdam, Enchiridion militis Christiani, hg. von Werner Welzig, Darmstadt 1968 (Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften I), Bd. 1, S. 55–375, hier S. 246.
Schauspieler und Schwankheld
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einen Besessenen mit Steinen aus dem Theater verjagten? Alles hätte plötzlich ein neues Gesicht: Wer eben noch Frau war, wäre jetzt ein Mann, wer eben noch Jüngling war, gleich Greis, wer kurz vorher ein König war, wäre schlagartig ein Sklave, wer eben noch Gott war, erschiene plötzlich als Menschlein. Wahrlich, diese Illusion zu beseitigen heißt das ganze Stück zu verderben. Dieser Trug und Schein ist doch, was die Augen der Zuschauer in Bann hält. [...] Alles ist Blendwerk, aber dieses Stück läßt sich nicht anders spielen.« ›Lob der Torheit‹, § 29)
Eine Demaskierung, eine klare Einsicht in die Welt, würde nicht etwa zu einem wahreren Spiel führen, sondern das Spiel des Lebens zerstören. Ob hinter den Masken erneut Masken hervortreten würden, die letztlich auf ein Nichts verwiesen,8 oder aber eine Wahrheit, von denen die Menschen nichts wissen wollen, da sie sich nicht den Regeln des Spiels fügt, ist letztlich irrelevant. Sicher steht: Das Schauspiel gehört unabdingbar zum menschlichen Dasein, haec fabula non aliter agitur. Die verborgene Wahrheit finden zu wollen, ist daher in Stultitias Augen eine ähnliche Narrheit wie den Schein, der doch zur conditio humana gehört, zu leugnen. Aut si quid sciri potest, id non raro officit etiam vitae iucunditati. Postremo sic sculptus est hominis animus, ut longe magis fucis, quam veris capiatur. (»Wo aber eine Erkenntnis möglich ist, stört diese häufig die Annehmlichkeit des Lebens. Der Geist des Menschen ist nun einmal so angelegt, daß der Schein ihn weit mehr fesselt als die Wahrheit.« ›Lob der Torheit‹, § 45)
Wenn Stultitia hierfür das Beispiel der Predigten heranzieht, deren ernster Inhalt weniger interessiere als die Predigtmärlein, wird deutlich, wo die Wahrheit zu suchen sei: in der Transzendenz. Sie gehört nicht der Welt der Menschen an; einen Abtritt von der Bühne und ein Verlassen des Schauspiels, welches nicht zugleich ein Scheiden aus dem Leben und dem Menschlichen bedeuten würde, gibt es nicht. Was jenseits des Scheins ist, ist außerhalb des Bühnenraums zu suchen, nämlich im Zuschauerraum. Die Wahrheit findet sich bei den göttlichen Beobachtern des menschlichen Theaters, für welche das menschliche Leben nichts weiter ist als eine unterhaltsame Komödie. Aus göttlicher Perspektive wird die vanitas des Erdendaseins augenfällig: Deum immortalem! quod theatrum est illud, quam varius stultorum tumultus (»Bei Gott! Was für ein Theater ist das, welch buntes Durcheinander von Narren!«; ›Lob der Torheit‹, § 48). Nicht nur das Unwissen aber, nicht nur die Blendung durch den Schein des Schauspiels, verlachen die wissenden Götter, sondern vor allem auch ein vermeintliches Meistern des Trugs. Quorum utrique tum demum egregiam de se voluptatem Diis spectatoribus praebent, cum ab iis ipsis, quos captant, arte deluduntur.
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Nicola Kaminski, Stultitia als Sophistin. Satire ohne Norm im ›Lob der Torheit‹ des Erasmus von Rotterdam, DVjS 68 (1994), S. 22–44, hier S. 30.
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(»Sie [die Menschen] bereiten den zuschauenden Göttern einen ganz besonderen Genuß, wenn sie von genau denen, die sie überlisten, kunstvoll getäuscht werden.« ›Lob der Torheit‹, § 48)
List und Gegenlist, d.h. der listige Schlagaustausch, der für den Schwank konstitutiv ist,9 entblößt in bestmöglicher Weise die Ausgeliefertheit des Menschen an die Scheinhaftigkeit seiner Welt. Wer den anderen betrügt, meint, der Scheinwelt nicht mehr unterworfen zu sein, muß aber letztlich erfahren, daß es ein Entkommen aus dem Trugspiel nicht gibt. Stultitia erklärt, ipsa nonnumquam in Deorum poeticorum ordinibus considere soleo (»gelegentlich setzte auch ich mich in die Reihen der dichterischen Götter«, ›Lob der Torheit‹, § 48). Ist es Torheit, sich bis zu den Göttern erheben zu wollen, kann nur stultitia sich dorthin versteigen, und wird sie dann, wie jener Betrüger, der betrogen wird, ein bitteres Erwachen erleben? Oder spricht hier durch die personifizierte Torheit nun doch der Dichter, der in der momentanen Erhebung zu den dei poetici die Rolle und Aufgabe der (menschlichen) Dichtkunst sieht, nämlich gelegentlich die Welt von ›oben‹ zu beleuchten, die Scheinwelt und das Rollenspiel als solche aufzudecken? Liegt gerade in der philosophischen Weltbetrachtung die Bedeutung der Literatur? Erasmus läßt seine Leser wohl absichtlich im Ungewissen, ob der Versuch der Dichtung – und damit auch sein eigener Versuch –, den trügerischen Charakter der Welt aufzudecken, quasi-göttliche Weisheit oder aber Torheit bedeute, ob Literatur Wirklichkeitsstrukturen aufzeigen oder aber diese nur vortäuschen und die Menschen weiter narren könne, indem sie mit inhaltslosen Zeichen auf ein Nichts verweise.10 Elementare Erkenntniskritik spricht aus diesem Werk des Erasmus, der bereits in den ›Antibarbari‹ das sokratische Nichtwissen gegen die dialektischlogische Welterschließung der Scholastiker, speziell der Skotisten gestellt hatte und in seinen späteren Werken Sokrates immer wieder neu rezipierte.11 Der menschliche Geist ist seiner Auffassung nach unendlich weit vom göttlichen Wissen entfernt; er ist in der Scheinwelt der Immanenz gefangen, allein die Transzendez verbürgt ihm Wahrheit. Wo diese sich aber dem Menschen eröffnet, sprengt sie alle vorgegebenen Strukturen und zerstört das diesseitige Leben, das sich gerade als Scheinwelt konstituiert. Literatur kann – oder gibt es zumindest vor, sie könne – über die Grenzen der Immanenz hinausweisen und das Spiel als solches kenntlich machen. Zugleich aber ist sie Teil des Trugspiels. 9
10 11
Grundlegend dazu: Hermann Bausinger, Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen, Fabula 9 (1967), S. 118–136. Bausingers Darstellung ist in der heutigen Schwankforschung zwar nicht unumstritten, hinter die Minimaldefinition von Schwank als Schlagaustausch kommt man aber nicht zurück. Kaminski [Anm. 8], S. 38f. Christine Christ-von Wedel, Das Nichtwissen bei Erasmus von Rotterdam. Zum philosophischen und theologischen Erkennen in der geistigen Entwicklung eines christlichen Humanisten, Basel/Frankfurt 1981 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 142), hier S. 66 u. ö.
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Polypi mentem obtine, »mach es wie der Polyp«, lesen wir in den ›Adagia‹ des Erasmus (I,i,93).12 Der Kluge möge sich jeder Lebenslage anpassen und jeweils geschickt die Rolle wechseln. Dieser Rat scheint die Konsequenz aus dem im ›Lob der Torheit‹ beschriebenen Bild des theatrum mundi zu ziehen: Wo alles Trug und Rollenspiel ist, gilt es, die Rollen zum eigenen Vorteil zu wählen. Es ist dies allerdings ein Rat, der sich allein auf die Immanenz bezieht und den Menschen im besten Fall zu einem positiven Helden in der göttlichen Schwank-Komödie macht. Auf beiden Seiten des (in diesseitiger Perspektive immer noch am vorteilhaftesten) Polypen-Daseins lauert ferner die Gefahr von offensichtlichen Narrheiten: Ein Zuviel an Anpassungsfähigkeit münde in Unstetigkeit, welche die Heilige Schrift in Sir 27,12 mit den Worten stultum perinde atque lunam immutari verwerfe (›Adagia‹, I,i,93, Z. 328); ein Zuwenig aber bedeute eine weltfremde Prinzipienverhaftetheit und Inflexibilität.
2. Rollenspiel und Bankrott der Wissenschaften: Agrippa von Nettesheim Ein krasseres Bild von seiner Zeit, dem aktuellen Bankrott der Wissenschaften und dem allgegenwärtigen Trugspiel zeichnet rund 20 Jahre später – zu einer Zeit, als der antike Skeptizismus in Deutschland breiter rezipiert und diskutiert wird – Agrippa von Nettesheime in seiner provokanten (und auch von Erasmus wegen ihrer Radikalität sanft kritisierten)13 Schrift ›De incertitudine et vanitate scientiarum‹.14 Eine Vielfalt widersprüchlicher Theorien nehme den (von Menschen gesetzten) Wissenschaften jede Sicherheit (Kap. I), ja, die Ambiguität alles Wissens beginne bereits in der Sprache, die sich keineswegs immer eindeutiger Begriffe bediene, und das z. T. absichtlich (Kap. III). Nichts letztlich sei sicher – außer den Glaubenswahrheiten –, und deshalb herrsche überall Gaukelei und Betrug vor. Die Schauspielerei, histrionica saltatio, die Cicero dafür bewundert habe, daß sie ein gleich breites Spektrum von Ausdrucksmöglichkeiten für ein und denselben Sachverhalt biete wie die Rhetorik, ist für Agrippa Ausdruck und Gipfel der Unverläßlichkeit der Welt, der Beliebigkeit der Zuordnung von Zeichen und Sinn, von Schein und Sein. Richtig sei es gewesen, die Histrionen aus dem Staat zu vertreiben und auch das Betrachten von Schauspielen zu verbieten. Nullum 12 13
14
Opera omnia Desiderii Erasmi Roterdami, Bd. II,1, hg. von M. L. van Poll-van Lisdonk [u. a.], Amsterdam 1993, S. 198–202. Agrippa von Nettesheim, Über die Fragwürdigkeit, ja Nichtigkeit der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, mit einem Nachwort hg. von Siegfried Wollgast, übers. und mit Anm. vers. von Gerhard Güpner, Berlin 1993: Nachwort des Herausgebers, S. 273–311, hier S. 285. Agrippa von Nettesheim, De incertitudine et vanitate scientiarum declamatio invectiva denuo ab auctore recognita, [S.l.], [ca.1530] (Exemplar UB Tübingen, Aa 881).
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denique nomen olim fuit infamius, quam histrionicum (»schließlich gab es einst kein schlimmeres Schimpfwort als ›Histrione‹«; ›De incertitudine‹, Kap. XX, d8r), erkärt Agrippa, wobei bei ihm weniger die moralisch-sexuelle Unsittlichkeit, die den Histrionen im römischen Kaiserreich nachgesagt wurde und die mit dem Begriff histrio verknüpft war,15 eine Rolle spielt, als der Charakter des Betrügers und Blenders – eben jenes Polypenwesen, welches Erasmus dem Klugen (allerdings unter Hinweis auf das rechte Maß) rät, jene Schwankheldrolle, welche in der Darstellung der Stultitia den Göttern das größte Vergnügen bereitet, für die es aber in der Immanenz keine sinnvolle Alternative gibt. In jedem Stand vermag Agrippa die von ihm verachtete Gaukelei und Schauspielerei nachzuweisen; besonders scharf verurteilt er die Bettelmönche, [...] qui malificia religionis specie, diuorum (ut aiunt) reliquias conferentes, aut infidiosa sanctiate pieteatem prae se ferentes, cum multis confictorum miraculorum appendicibus, diuorum iras comminantes, indulgentias, et dispensationes pollicentes, eleemosyarum praetextu uenantur diuitias: atque prouincias peragrantes, ab incautis rusticis, ac crudelibus mulierculis superstitione attonitis, ouem agnum hoedum uitulum, porcum, pernas, uinum, oleum, butyrum, triticum, legunima, lac, caseus, oua, gallinas, lanam, linum, etiam pecunias corradentes, uniuersam regionem depraedantur. (»[...] die unter religiösen Vorwänden Betrug üben: Sie tragen, wie sie behaupten, Reliquien von Heiligen umher, geben sich wunder wie heilig, verkünden erfundene Mirakelberichte und drohen mit Gottes Zorn; sie versprechen Ablaß und Dispens und jagen unter dem Vorwand von Almosen nach Reichtümern; sie ziehen durchs Land und erschnorren von unvorsichtigen Bauern und von den mit schnödem Aberglauben leicht zu verängstigenden Weiblein bald hier ein Schaf, bald dort ein Lamm, Böckchen, Kalb oder Schwein, ein paar Schinken, Wein, Öl, Butter, Weizen, Hülsenfrüchte, Milch, Käse, Eier, Hühner, Wolle, Leinen und auch Geld und plündern so die ganze Gegend aus.« – ›De incertitudine‹, Kap. LXV, o4r)
Das theatrum mundi ist bei Agrippa deutlicher und erbarmungsloser als bei Erasmus zu einem Theater der Täuschungen geworden, das kein Maßhalten mehr kennt. Die Vielschichtigkeit der Welt, die Unsicherheit jedes Wissens und jeder Bezeichnung bietet unendliche Möglichkeiten für Täuschung und Betrug; Opfer ist der Leichtgläubige, der das Spiel mit den Masken nicht durchschaut. Besonders gravierend ist der Betrug dort, wo er Transzendentes berührt. Die Reliquie, in welcher das Heilige in das Diesseits hereinragt, und die Wundererzählung, welche auf Transzendentes verweist,16 werden hier durch ein Konterfei und eine Fiktion ersetzt und dienen als Medium des Betrugs – und das in der 15
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Hartmut Leppin, Histrionen. Untersuchungen zur sozialen Stellung von Bühnenkünstlern im Westen des Römischen Reiches zur Zeit der Republik und des Principats, Bonn 1992 (Antiquitas I,41), S. 135f. Zum Zusammenspiel von Immanenz und Transzendenz bei Reliquie und Legende vgl. Peter Strohschneider, Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ›Alexius‹ in: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, hg. von Gert Melville/Hans Vorländer, Köln [usw.] 2002, S. 109–147, hier S. 112f.
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Hand des Priesters, der seinerseits die Verbindung zur Transzendenz, zum einzig sicheren Wahren, herstellen sollte. Nicht mehr nur die Immanenz ist vom Schatten des Betrugs und der Gaukelei überzogen, sondern auch die einst Sicherheit verbürgende Achse zum Transzendenten ist gebrochen. Es geht nicht mehr darum, daß der Mensch die transzendente Wahrheit in seiner Welt nicht akzeptieren wollte, sondern er kann nicht mehr drauf vertrauen, daß sie tatsächlich eine solche sei. Das Beispiel des betrügerischen Bettelmönchs, welches Agrippa hier zeichnet, spielt nicht nur auf aktuelle religiöse Mißstände wie Ablaßhandel und überzogenen Reliquienkult an, sondern bietet auch ein altes literarisches Motiv. Der Stricker hatte es in seinem ›Pfaffen Amis‹ im Kirchweihschwank verarbeitet; dort treibt Amis mit einem Schädel, der angeblich das Haupt St. Brendans sei und täglich Wunder wirke, bei den naiven Frauen des Dorfes Geld ein.17 Im ›Ulenspiegel‹ ist dieser Schwank wiederaufgenommen,18 und daher dürfte er auch Agrippa bekannt gewesen sein.19 Indem er aber ein literarisches Motiv als ein Beispiel für den Zustand der Welt beschreibt, reiht sich der Verfasser von ›De incertitudine‹ selbst in die Reihe derer ein, die einen fiktiven Schein als ein Seiendes ausgeben.
3. Der Schwankroman – Modegattung in einer trügerischen Welt Die durch den Stricker begründete literarische Gattung des Schwankromans erfreute sich zur Zeit des Renaissance-Humanismus äußerster Beliebtheit – auch in höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Maximilian I. hatte, wie aus seinem ›Gedenkbüechel‹ hervorgeht, vor, die Schwankbücher ›Neidhart Fuchs‹, ›Pfarrer vom Kalenberg‹ und ›Pfaffe Amis‹ neu herausgeben zu lassen,20 und als Konrad Celtis 1505 Augustinus Moravus ein Lobgedicht auf die Schutzgötter Österreichs zuschickte, entgegnete dieser erstaunt: Hoc unum miror inter Heroas illos Neythardum etiam et sacerdotem Calvi Montis te connumerasse atque duos histriones et ludiones notissimos in apotheosim ac sanctorum cathalogum retulisse. Non fuit satis ethnicos illos poetas scortis et arsenocetis coelum replevisse, nisi tu mimos etiam et histriones adiiceres. 17 18 19 20
Der Stricker, Der Pfaffe Amis, hg., übers. u. komm. von Michael Schilling, Stuttgart 1994, V. 350–490. Schwank Nr. 31, abgedruckt ebd., S. 150–152. Von großer Bekanntheit ist auch die Erzählung vom Reliquienschwindel des Fra Cipolla in Boccaccios ›Decamerone‹ VI,10. Die kay. Mt. will die puecher auf ein news dannen richten: Nydthart, pfarrer am Kalenberg und pfaf Amis und Dietrich von Bern, zit. nach: Eckehard Simon, Neidharte and Neidhartianer. Notes on the History of a Song Corpus, PBB 94 (1972), S. 153–197.
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(»Allein wundert mich, daß du unter diese Heroen Neidhart und sogar den Pfarrer vom Kalenberg gezählt hast und so zwei berüchtigte Histrionen und Possenreißer in die Apotheose und den Katalog der Heiligen einbezogen hast. Schlimm genug wäre es gewesen, den Himmel mit jenen lasziven volkssprachlichen Schunddichtern zu füllen, du hättest nicht auch noch Mimen und Histrionen hinzufügen müssen.«)21
Als mimos, histriones, ludiones bezeichnet Moravus die Schwankhelden; ein Theaterwortschatz soll Figuren der Erzählliteratur beschreiben. Das Schauspielerische an ihnen kann sich nur auf ihre Betrügereien, auf das Vorgaukeln falscher Tatsachen beziehen, welches den Kern der Schwankerzählungen ausmacht. Augustinus Moravus kritisiert damit die Mode, gerade den Betrug literarisch zu überhöhen. Er sieht wie Agrippa im Schwankhelden eine Negativfigur. Gattungsintern erfährt der Schwankheld eine andere Wertung. Er ist der Gerissene, der ambige Wortbedeutungen, zweideutige Situationen und das Nicht-Wissen oder Anders-Verstehen seines Gegenübers ausnutzen kann. Als der Meister der verschiedenen Verständnisebenen ist er ein Paradebeispiel der Weltbewältigung in der Immanenz und daher eine Sympathiefigur – unabhängig von der ethischen Qualität seiner Handlungen. Der Schwankroman versetzt den Leser eben in jene Beobachtersituation, welche Erasmus für die Götter beschrieben hat, die amüsiert beobachten, wie sich die Menschen durch die verschiedenen Verständnisebenen der Welt laborieren und meinen, die anderen betrügen zu können, dabei aber selbst betrogen sind. Eine Freude des Besserwissens entsteht im Leser. Diese Freude aber setzt ein Bewußtsein von der Dunkelheit und Mißverständlichkeit der Welt voraus; erst wenn Trug und Schein einen festen Sitz im Leben haben, kann die Beobachtung eben dieses verworrenen Lebens aus erhabener Position genossen und kann das Individuum, das der Regellosigkeit der Welt in der Immanenz zu trotzen versucht, bewundert werden. Die lateinische Fazetie, welche mit der Poggio-Rezeption und speziell mit Heinrich Bebels ›Libri facetiarum iucundissimi‹ zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Deutschland Fuß faßt, konzentriert sich weitergehend als der volkssprachliche Schwank auf Sprachwitze und schärft dabei das Bewußtsein davon, daß das sprachliche System, welches gerade der Verständigung dienen und Sicherheit schaffen sollte, dieser Aufgabe nicht gewachsen ist und den Keim der Mißverständnisse in sich trägt. Besonders augenfällig werden die Mängel des menschlichen Kommunikationssystems in den mischsprachig formulierten Fazetien wie z. B. Bebels I,44, I,78 oder III,123,22 bei denen der Witz durch die beigegebene Übersetzung ostentativ destruiert wird – wodurch eine neue Pointe entsteht.
21 22
Brief des Augustinus Moravus an Celtis, Ofen, 24. 2. 1505. Der Briefwechsel des Konrad Celtis, hg. von Hans Rupprich, München 1934, S. 581f., Nr. 325. Heinrich Bebel, Facetien. Drei Bücher, hg. von Gustav Bebermeyer, Leipzig 1931.
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Das Bewußtsein einer gestörten (verbalen und nonverbalen) Kommunikation und einer verlorenen Sicherheit liegt, dies sei zusammenfassend festgehalten, dem Schwank und der Fazetie zugrunde, und erst dieses verleiht dem Schwank seinen Sinn als Abbildung der Welt. Es ist eine Welt, die jener entspricht, welche einige humanistische Autoren mit der Metapher des theatrum mundi umreißen, eine Welt der Täuschungen und des Rollenspiels, des Histrionentums. Die Neigung der Humanisten, die Scheinhaftigkeit der Welt mit Theaterwortschatz zu beschreiben, läßt sich schwerlich von der neuen intensiven Beschäftigung der Gelehrten mit dem römischen Theater trennen, welche mit der Wiederentdeckung des Terenz-Kommentars Donats 1433 einsetzt23 und in der Inauguralrede Peter Luders in Heidelberg 1456 eine frühe programmatische Manifestation findet.24 Erasmus, der, wie Beatus Rhenanus bezeugt, bereits im Kindesalter mit Terenz vertraut war,25 spielt in seinem ›Lob der Torheit‹ unmittelbar auf die römische Komödie an, indem er das Werk mit einer (auch von den Abschlußfloskeln der Fastnachtsspiele beeinflußten) Variante des üblichen Excipit der Palliata enden läßt: Quare valete, plaudite, vivite, bibite, Moriae celeberrimi Mystae (»Daher lebt wohl, applaudiert, lebt, trinkt, ihr ehrenwerten Jünger der Torheit!«; ›Lob der Torheit‹, § 68). Wenn aber der Betrüger als histrio und Schwankheld, wenn das irdische Weltgeschehen als Schauspiel und als Schwank erscheint, dann erstaunt es wenig, daß auch das neue weltliche Theater sich inhaltlich zu großen Teilen aus Schwankstoffen speist. Dies gilt nicht nur für das volkssprachliche Theater, sondern auch für die neulateinische Komödie, die sich gegenüber dem volkssprachlichen Spiel durch einen höheren Reflexionsgrad auszeichnet und zugleich auf ein anderes Publikum, eine Gruppe der ›Eingeweihten‹ zielt, die als Dichter und Gelehrte selbst nonnumquam in Deorum poeticorum ordinibus considere sole[nt].
4. Der Schwankheld auf der Humanistenbühne: Johannes Reuchlin Die sicherlich bedeutendste Gestalt in der frühen Geschichte der neulateinischen Komödie in Deutschland ist Johannes Reuchlin – einer der Humanistenfreunde, für welchen Erasmus besondere Hochschätzung empfand.26 Ihn feier23
24 25
26
Max Hermann, Terenz in Deutschland bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts. Ein Überblick, Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 3 (1893), S. 1–28, hier S. 9. Vgl. dazu: Wilfried Barner, studia toto amplectenda pectore. Zu Peter Luders Programmrede von Jahre 1465, Chloe 6 (1989), S. 227–251. Daniel Kinney, Erasmus and the Latin Comedians, in: Actes du Colloque International E´rasme (Tours 1986), hg. von Jacques Chomarat [u. a.], Genf 1990 (Travaux d’Humanisme et Renaissance 239), S. 57–69, hier S. 59. Vgl. Erasmus von Rotterdam, Apotheosis Capnionis, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterdami, Bd. I,3, hg. von L. E. Halkin [u. a.], Amsterdam 1972, S. 267–273.
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ten die Zeitgenossen als prim[us] apud germanos comoediae scriptor[] uel scaenicorum ludorum inductor[] (»ersten Komödienschriftsteller oder Begründer des Theaterspiels in Deutschland«).27 Der gelernte Jurist hatte als geheimer Rat und Beisitzer des Hofgerichts im Dienst Graf Eberhards des Älteren von Württemberg gestanden. Nach Eberhards Tod 1496 mußte er Württemberg fluchtartig verlassen. Im Jahr 1488 nämlich hatte Reuchlin die Verhaftung des ehemaligen Augustinermönchs Konrad Holzinger veranlaßt; dieser hatte das Kloster verlassen, nachdem Eberhard der Ältere die Observanz eingeführt hatte, und hatte auf der Seite Eberhards des Jüngeren mehrfach gegen den Grafen und dessen Kirchenpolitik intrigiert. Er hatte ein Dominikanerinnenkloster überfallen, zudem hatte er sich der Anmaßung von Titeln, des mehrfachen Eidbruchs und des Besitzes von verbotenen Büchern zur Schwarzkunst schuldig gemacht. Mit dem Regierungsantritt Eberhards des Jüngeren 1496 stieg Holzinger als sein Rat zu einer der mächtigsten Postitionen in Württemberg auf. Reuchlin floh nach Heidelberg, an den Hof Johanns von Dalberg und fand Aufnahme in den dortigen Humanistenkreis, die sog. Sodalitas litteraria Rhenana. Im Sommer 1496 verfaßte der novus poeta, wie sich Reuchlin selbst nannte, um seinen Wandel vom Juristen zum Poeten zu markieren, ein erstes Gedicht in jambischem Versmaß, welches großen Beifall bei den Gelehrten im Umkreis Dalbergs fand: ein Spottgedicht auf den betrunkenen Schürzenjäger Heinrich von Bünau, ein Mitglied der sodalitas.28 Noch im selben Jahr schrieb er seine erste Komödie, die zur Aufführung im Rahmen der ludi februi, d. h. gleichsam als gelehrtes Fastnachtspiel, im eng umgrenzten Kreis der mit der Universität zwar verbundenen, nicht aber auf deren didaktischen und repräsentativen Auftrag verpflichteten sodalitas geplant war: ›Sergius vel capitis caput‹.29 Dalberg allerdings untersagte die Aufführung, da ihm das Spiel allzu provokant erschien. Heute noch steht es sehr im Schatten der Komödie, welche Reuchlin 1497 rasch nachgeschoben hat, der seinerzeit enorm erfolgreichen ›Scaenica progymnasmata‹ (›Henno‹).30
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28 29 30
Ioannis Revchlin Phorcensis scænica progymnasmata, hoc est ludicra præexercitamenta. cum explanatione Iacobi Spiegel Selestani, Tübingen: Thomas Anshelm, 1512 (Exemplar UB Tübingen, DK II 110.g.4), B1v. Hugo Holstein, Johann Reuchlins Komödien. Ein Beitrag zur Geschichte des lateinischen Schuldramas, Halle 1888, S. 5. Ed. ebd., S. 108–126. Rhein bezeichnet den ›Sergius‹ als »nur ein Vorspiel« zum ›Henno‹: Stefan Rhein, Johannes Reuchlin, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600). Ihr Leben und Werk, hg. von Stephan Füssel, Berlin 1993, S. 138–155, hier S. 149; GlodnyWiercinski und Roloff lassen in ihren Darstellungen des Komödienautors Reuchlin den ›Sergius‹ ganz aus: Dorothea Glodny-Wiercinski, Johannes Reuchlin – ’novus poeta’?, GRM 21 (1971), S. 145–152; Hans-Gert Roloff, Sozialkritik und Komödie. Reuchlin als Komödienautor, in: Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit, hg. von Stefan Rhein, Sigmaringen 1998 (Pforzheimer Reuchlinschriften 5), S. 187–203.
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Im Zentrum der Handlung stehen die sich als sodales und histriones bezeichnenden Freunde Helvo (›Prasser‹), Salax (›Buhler‹), Aristophorus (›Oberfresser‹) und Lixa (›Marketender‹ oder aber ›Wortverdreher‹?). Die durch das jambische Versmaß unterstrichene Assoziation mit Reuchlins Spottgedicht läßt die Figuren auf der Bühne sogleich als ein Spiegelbild der zuschauenden sodalitas erscheinen, und ihre Selbstbezeichnung als histriones verweist nicht nur auf ihr Lotterleben, sondern auch auf ihre aktuelle Rolle als Schauspieler. Maskierte und Demaskierte scheinen hier eins zu sein; die Grenzen zwischen BühnenSchein und Sein verschwimmen, und damit ist die im Frühhumanismus gängige Anforderung an die Komödie, daß sie speculum der Welt und der Sitten sei, bestens umgesetzt. Zu Helvo, der im Anfangsmonolog sein lasterhaftes Leben preist, kommen die Freunde und bringen einen Gast, Buttubatta (›Ramsch‹). Dieser behauptet, in seinem Beutel einen Schatz zu tragen. Auf heftiges Drängen der Freunde hin zeigt er schließlich diesen vor: einen halb verwesten Menschenkopf. Die Freunde raten ihm – das übliche Schwankmotiv –, ihn als ›Reliquie‹ zu präparieren, um dann mit ihm und einer erfundenen Geschichte den einfachen Leuten das Geld aus der Tasche zu locken. Ein Pharisäer, die Gegenfigur zum histrio, hat das Geschehen beobachtet und fragt im zentralen zweiten Akt kritisch nach. Helvo verteidigt die Herrichtung der larva für die scena ludicra (›Sergius‹:, V. 236). Das geplante Betrugspiel wird damit zur Komödie – zum Spiegel dessen, was aktuell auf der Bühne zu sehen ist, und die falsche Reliquie zur Maske, zur Wahrheit verhüllenden Requisite in einem Theaterspiel, das sich im theatrum mundi abspielen soll. Der Pharisäer geht auf Helvos Spiel mit den verschiedenen Wirklichkeitsebenen ein und bezeichnet nun seinerseits den aktuellen Vorgang als einen poetisch-schauspielerischen und lästert über das Treiben der Schauspieler und Poeten – was eine aggressiv die Poesie verteidigende Reaktion der Freunde provoziert. Rerum omnium poesis est exordium / Et ante caelum et ante mundum prae omnibus (»Die Dichtung ist Ursprung aller Dinge, sie war vor dem Himmel und vor der Erde da, vor allem«; ›Sergius‹, V. 156f.), erklärt Lixa, und setzt letztlich Sprache und Poesie in eins als Urgrund der Schöpfung. – Mit einem solchen Universalanspruch der Dichtung steht Lixa nicht allein; Konrad Celtis, der mit der Heidelberger sodalitas in enger Verbindung stand, vertrat ebenfalls ein solches Dichtungsverständnis und verlieh ihm auch bildlichen Ausdruck, in dem von ihm bei Burkmair in Auftrag gegebenen ›Allegorischen Reichsadler‹, welcher die sieben Schöpfungstage neben die Musen (als den Gipfel der Wissenschaften) stellt.31 31
Peter Luh, Der Allegorische Reichsadler von Conrad Celtis und Hans Burgkmair. Ein Werbeblatt für das Collegium poetarum et mathematicorum in Wien, Frankfurt a. M. [usw.] 2002 (Europäische Hochschulschriften XXVIII,390); zum Dichter als Schöpfer v. a. S. 16–20.
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Die zentrale Position des Streitgesprächs um die larva und um den Wert der Literatur im zweiten von drei Akten verdeutlicht, daß es im ›Sergius‹ nicht nur um die Dramatisierung eines Schwanks geht, sondern daß die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache, Literatur, Theater und Wirklichkeit das eigentliche Thema des Spiels ist – nicht der Reliquienmißbrauch, nicht die korrupte Geistlichkeit und auch nicht die Günstlingsherrschaft am Hof, wie die Forschung es gerne sehen möchte.32 − Ist nicht jedes Sprechen eine Gaukelei? Ist nicht jeder, der sich der Sprache bedient, und so vor allem der Poetenkreis, in dem die Komödie aufgeführt werden sollte, ein histrio, ein Schauspieler, ein Lügner und Betrüger? Ist nicht, wie es das Schwankschema vorsieht, jeder zu bewundern, der die Vielschichtigkeit der Sprache und der Realität zu meistern vermag? Reuchlin ist in der Behandlung dieser Fragen freier als diejenigen unter seinen Dichterkollegen, welche für den Rhetorikunterricht und für Repräsentationszwecke der Universität schreiben. Jacob Wimpheling zum Beispiel greift in seinem 1480 anläßlich einer Graduierungsfeier vor der Universitäts- aber auch Stadtöffentlichkeit Heidelbergs vorgetragenen ›Stylpho‹ zu sehr offenen Formen der Bildungswerbung. Anders als er kann Reuchlin, der für einen geschlossenen Zuschauerkreis schreibt, in welchem von vornherein Einigkeit über die gemeinsame Wertschätzung der studia humaniora besteht und in welchem das identitätsstiftende Bildungs- und Dichtungsverständnis nur verfestigt werden muß, eine grundlegende Sprach- und Erkenntniskritik üben – um dann der Sprache und Dichtung gerade in der Kritik ihren epistemologisch bedeutsamen Platz zuzuweisen. Damit gelingt ihm ein sehr tiefgreifendes Dichtungslob. Im dritten und letzten Akt bringen Aristophorus, Salax und Buttubatta den präparierten Schädel. Die Freunde nehmen nun eine Rolle in dem von ihnen selbst entworfenen Spiel ein, und zwar die Rolle der künftigen Opfer ihres Trugs; sie heucheln deren Naivität und erweisen der ›Reliquie‹, dem angeblich Heiligen, das in die vom Schauspiel geprägte Immanenz hereinrage, Reverenz. 32
Ivo Braak, Gattungsgeschichte deutschsprachiger Dichtung in Stichworten, Bd. Ia: Dramatik; Antike bis Romantik, Kiel 21981 (Hirt’s Stichwortbücher), S. 96; Udo Friedrich, Johannes Reuchlin am Heidelberger Hof: poeta – orator – paedagogus, in: Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit, hg. von Stefan Rhein, Sigmaringen 1998 (Pforzheimer Reuchlinschriften 5), S. 163–185, hier S. 166; Rhein [Anm. 30], S. 149. Nur gelegentlich findet man das Lob der Poesie im Stück überhaupt erwähnt, neben anderen Inhalten und Intentionen der Komödie, vgl. Wilhelm Creizenach, Geschichte des neueren Dramas, Bd. II: Renaissance und Reformation, Halle 21918, S. 43; Wolfgang F. Michael, Das deutsche Drama des Mittelalters, Berlin 1971 (Grundriß der Germanischen Philologie 20), S. 267f.; Hans-Gert Roloff, Neulateinisches Drama, 2RL II, S. 645–678, hier S. 652; Hans Rupprich, Johannes Reuchlin und seine Bedeutung im europäischen Humanismus, in: Johannes Reuchlin (1455– 1522), hg. von Hermann Kling/Stefan Rhein, Paderborn 1994 (Pforzheimer Reuchlinschriften 4), S. 10–24, hier S. 19. Auf die hier mit der Verteidigung der Poesie verbundene epistemologische Fragestellung wird in der Forschung nicht verwiesen.
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Jetzt wollen sie mehr über den Schädel erfahren; Buttubatta soll seine Lügengeschichte entfalten, wie sie zur Regie des geplanten Streichs gehört. Er tut es und bezeichnet den Schädel als Caput omnium mortalium dignissimum (»das würdigste aller Menschenhäupter«; ›Sergius‹, V. 289, 293) und capitis caput (V. 244), als den eigentlichen Herrscher im Land, der principem regit trahitque quo cupit (»den Fürsten lenkt und dahin zieht, wohin er möchte«; ›Sergius‹, V. 325). Endlich wird er konkreter und erklärt, es sei der Schädel des Sergius, der ein Freund und Förderer lasterhaften Lebens gewesen sei. Freudig begrüßen dies die sodales, die sich selbst als Freunde eines solchen Lebens sehen. Sie bemerken dabei nicht, daß sie aus der Rolle der naiven Weibchen im Kirchensprengel, die sie sich als künftige Opfer des Trugs erhofften, herausschlüpfen und nun selbst zu Opfern werden, indem sie den fiktiven Charakter der so gut zu ihnen passenden Geschichte zu vergessen beginnen. Sie scheint den Verblendeten, da sie deren ›eigentliches‹ Wesen hinter der Rolle berührt, nun tatsächlich als eine Legende, die aus der trügerischen Schauspielwelt auf eine Wahrheit im Transzendenten verweise. Buttubatta fährt fort, der Apostat Sergius habe nach seinem Austritt aus dem Kloster und seinem Übertritt zum Islam seine ehemaligen Glaubensgenossen elend verfolgt und hasse nun alle Gläubigen. In seiner Darstellung verwendet Buttubatta häufig Präsensformen; wie bei einer echten Reliquie verwischen sich die Trennlinien zwischen der vergangenen ›Wundertätigkeit‹ des ›Heiligen‹ und der gegenwärtigen Wirkkraft der ›Reliquie‹. Zugleich verlieren sich die Grenzen zwischen Lüge und Wahrheit. Die Gestalt des Sergius ist bereits in der hochmittelalterlichen Literatur bekannt; Petrus Venerabilis beschreibt ihn als einen Mönch, der als Nestorianer aus der Kirche ausgestoßen war und auf Weisung Satans zu Mohammet ging, um diesem als Ratgeber zu dienen.33 In der Frühen Neuzeit findet diese Beschreibung verschiedene Variationen, bleibt in ihrem Kern aber konstant. Beim Publikum des Spiels und auch beim Publikum im Spiel, nämlich den Freunden, kann dieses Wissen vorausgesetzt werden. Es ist ein Wissen, das als historisch verbürgt gilt und so dem Illusionären des aktuellen Lebens enthoben zu sein scheint. Die Fiktion also trifft sich mit als ›wahr‹ Bekanntem; in diesem Moment ist das Fiktions- und Theaterbewußtsein der Freunde endgültig verloren, die Lüge greift. Die Freunde sind nun ganz mit der Rolle der betrogenen Opfer verschmolzen. Sie reagieren entsetzt, schämen sich ihrer früheren Verehrung der ›Reliquie‹, die ja gerade das Heilige negiert, und verfluchen den Schädel wie den, der ihn herbei gebracht hat. Buttubatta erwidert befriedigt: Factum bene est, calvuntur hac calvaria, Quicunque spem locant in hanc calvam cavam. Egi meum officium, sodales optumi. Ludos leves meo cavillo callide Vobis videntibus attuli. Id licuit mihi. 33
Petri Venerabilis Epistolarum Libri Sex, lib. IV, ep. XVII, PL 189, Sp. 321–344, Sp. 341.
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(»Es ist wohl getan. Durch diesen Schädel werden alle die getäuscht, die ihre Hoffnung in diesen hohlen Schädel setzen. Ich habe meine Aufgabe erfüllt, beste Freunde. Ich habe euch durch meine gewitzte Neckerei ein leichtes Spiel vor Augen gebracht. Das stand mir an.« – ›Sergius‹, V. 483–487)
Während er diese Worte spricht, tritt Buttubatta aus seiner Rolle heraus und verwandelt sich in den Verfasser, der zu seinen sodales spricht. Das Spiel, welches Buttubatta mit den histriones getrieben hat, die, obgleich Meister im Spiel mit den verschiedenen Wirklichkeitsebenen, ihrem eigenen Trug zum Opfer gefallen sind und der larva durch ihr Für-Wahr-Halten der Lügengeschichte große Macht verliehen haben, verschmilzt mit dem Schauspiel, welches den sodales vor Augen führen soll, wie wenig sie selbst gegen Täuschungen gefeit sind. Wer in diesem Leben eine Rolle übernimmt, hat die dieser Rolle zugeschriebene Macht nicht von sich aus, sondern erst dadurch, daß die anderen diese Rolle für wahr halten. – Im Epilog endlich wird Licht auf die hier angedeutete andere Wirklichkeitsebene geworfen, nämlich auf die politische Wirklichkeit der Zeit: Si quis cupit prudenter omne negotium Gerere, ut rei privatae et id quod plus erit Etiam rei communitas publicae Bene commodet, frugaliter cadat et quadret, Is meminerit quae hac dicta sunt comoedia, Cum capite vano nil agat, nil consulat, Vbi nec est sapientia aut constans fides, Praesertim ubi iam peieravit denuo, Nam peius est unquam, nihil periurio. (»Wenn jemand alle Aufgaben klug erfüllen will, so daß er privatem und – was noch wichtiger ist – öffentlichem Interesse wohl zu Nutzen sei, Frucht und Mehrung bringe, der bedenke, was diese Komödie erzählt hat. Man wird nichts bewegen und keinen Rat geben können mit einem hohlen Kopf, dem es an Weisheit und beständigem Glauben mangelt, und vor allem der schon mehrfach Meineide geleistet hat, denn es gibt nichts Übleres als den Meineid.« – ›Sergius‹, V. 488–496)
Daß diese Verse, welche zunächst wie eine typische Bildungswerbung im Dienste einer Fürstenuniversität klingen, nicht nur eine allgemeine Lehre bieten wollen, sondern unmittelbar auf eine Person hin gedeutet werden möchten, belegt ein Zeugnis von Reuchlins Verwandtem Philipp Melanchthon: Comoediam scripsit, Capitis caput, plenam nigri salis et acerbitatis adversus monachum, qui eius vitae insidiatus erat. (»Er schrieb eine Komödie, ›Capitis caput‹, voll schwarzen Salzes und voll Bitterkeit gegen einen Mönch, der ihm nach dem Leben getrachtet hatte«).34 Hinter der Gestalt des Sergius verbirgt sich (darin ist sich die Forschung seit Holstein einig) Konrad Holzinger. Er ist der hohle Kopf, der den Fürsten 34
Philipp Melanchthon, De Capnione Phorcensi (1552), in: Corpus Reformatorum, hg. von Karl Gottlieb Bretschneider, Bd. 11, Halle 1843, Sp. 999–1010, Sp. 1004.
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regiert, der Meineide leistet und damit nicht nur einfach lügt, sondern auch den letzten Rest von verbürgter Wahrheit in der ambigen Welt böswillig aufgibt, um andere zu täuschen. Er aber kann nur Macht besitzen, wenn man sie ihm gibt, wenn ein Fürst seinem Blendwerk aufsitzt, wenn ein Staat ihn in der Rolle, die er sich selbst wählt, akzeptiert. Im Spiegel der Freunde sollen sich die Zuschauer nicht nur in ihrer Rolle als sodalitas litteraria in Heidelberg sehen, sondern auch in ihrer Rolle als Träger politischer Verantwortung. Jeder ist auf der Bühne der Welt und eben auch auf der Bühne der Reichspolitik ein histrio und spielt eine Rolle, jeder versucht mit den Wirklichkeitsebenen zu spielen, um zu betrügen – und wird letztlich selbst betrogen. Die Lösung, welche Reuchlin für diese Weltsituation findet, liegt in der Literatur. In ihr gründet der poeta novus seine neue Existenz. Die Literatur soll das Spiel zwischen Sein und Schein sichtbar halten, sie soll zeigen, wie sehr die Autorität ungerechter Machthaber auf Trug aufgebaut ist. Wird der Literatur und speziell dem Theater oft vorgeworfen, eine Trugwelt zu entwerfen und dem Rezipienten Unwahres vorzugaukeln, so findet sie hier ihre Rechtfertigung gerade darin, daß sie das Gaukelspiel als solches sichtbar macht, und, indem sie ihr eigenes Wesen offenbart, die Welt deutet. Ein Zugeständnis, daß das Spiel dieser Welt nicht anders gespielt werden könne, findet sich bei Reuchlin nicht; seine Literatur will wachrütteln und Reformen, eine Rückkehr zur Wahrhaftigkeit, vorbereiten. Für Reuchlin ist Literatur nicht nur philosophische Weltbetrachtung, sie ist auch ein Instrument der Politik. Diese Ansicht zeichnet generell den süddeutschen Frühhumanismus aus, der zu weiten Teilen seinen Bezugspunkt in der Politik Maximilians I. findet.35
5. Humanistischer und mittelalterlicher Schwankheld Allein das Schauspielerische und allein das Trugmotiv selbst machen einen Schwankhelden noch nicht zu einem humanistischen Schwankhelden. Der Pfaffe Amis verkleidet sich für seine Streiche, und er gaukelt seinen Opfern einen Schein als ein Sein vor. Dennoch bleibt er ein mittelalterlicher Schwankheld – auch wenn sich Maximilian und der ›Erzhumanist‹ Konrad Celtis für ihn begeistern und auch wenn einer seiner Schwänke – in reichlicher Umwandlung freilich – den Weg auf die Humanistenbühne gefunden hat.
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Zum politischen Drama des süddeutschen Frühhumanismus vgl. Cora Dietl, Die Dramen Jacob Lochers und die frühe Humanistenbühne im süddeutschen Raum, Berlin 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 37), bes. Kap. 8.
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Amis nützt das allgemeine Trugspiel der Menschen so aus, daß er finanziellen Nutzen daraus zieht, ohne daß dabei der Trug aufgedeckt würde (›Pfaffe Amis‹, V. 462). Das Besondere an Reuchlins Reliquienschwank ist, daß die Beteiligten sich ausdrücklich selbst als histriones, Schauspieler und Betrüger, bezeichnen, daß sie selbst das Betrugspiel aushecken und dann doch diesem Betrug zum Opfer fallen – der wiederum keinem anderen Zweck dient, als sich selbst aufzudecken. Nicht der Held, der aus einer korrupten Welt unbemerkt Nutzen zieht, steht hier im Zentrum, sondern Titelheld ist eine larva, eine erdichtete Maske, die einerseits Medium des Betrugs ist, andererseits ernüchterndes ›wahres‹ Vorbild des Verrats, der provokativ an die Stelle der Transzendenz gesetzt ist. Mit anderen Worten bedeutet dies: Das Betrügerische als solches, welches selbst das Wissen um die Scheinhaftigkeit der Welt besiegt, und die Rolle der Dichtung und der Sprache im Kosmos des Betrugs bilden den Kern des ›Sergius‹. Der von den Göttern beobachtete listige Schlagaustausch der homunculi auf der Erde, welche die Illusion nicht durchschauen noch sie gar aufdecken wollen und sich allein ihrer eigenen angeblichen Überlegenheit erfreuen, ist ein – wenn man so will – mittelalterlicher Schwank; seine humanistische Qualität erhält er erst dadurch, daß er aus dem Blickwinkel der Stultitia geschildert wird, die sich zwischen die ›dichterischen Götter‹ setzt und dabei ihrem Leser zugleich die Augen öffnet und sich selbst und die literarische Darstellung problematisiert. Typisch für den Umgang des Humanismus mit Schwank- und Schauspielmotiven sind die Schachtelung von Spiel im Spiel, von Betrug im Betrug, das Spiel zwischen Täuschung und Bewußtheit des Trugs, die Spiegelfunktion der Bühnenwelt, die Brüchigkeit der Wirklichkeitsebenen und vor allem die Reflexion und Kritik der Sprache und der Literatur innerhalb dieser Welt der Täuschungen. Der mittelalterliche Schwankheld ist Ausdruck und Nutznießer des allgemeinen Untergangs höfischer oder moralischer Werte – dies wird im Prolog des ›Pfaffen Amis‹ besonders deutlich. Der humanistische Schwank aber lebt aus dem allgemeinen Untergang von greifbaren Wirklichkeitsstrukturen und aus dem Bewußtsein von der großen Bedeutung und gleichzeitig dem Ungenügen der Sprache als grundmenschlichem Kommunikationsmittel. Literarisch wird er gerade durch die Konzentration auf die Kommunikationsproblematik, welche die Literatur unmittelbar selbst angeht, interessant, und deshalb, darf man vermuten, erfährt die Schwankliteratur im Humanismus besondere Popularität. Das humanistische Neulatein als das nach Ansicht der Humanisten bestmögliche Ausdrucksmittel spielt selbstverständlich eine Rolle – aber nur e i n e Rolle in der Frage nach Wert und Leistung sprachlich-literarischer Kommunikation. Wichtiger noch als die Sprache selbst erscheint das neue Verständnis von Sprache und Dichtung als dem Urgrund der Schöpfung und d.h. dem Urgrund des Menschlichen, welches gerade durch seinen Sprach- und Schöpfungscharakter unabdingbar ambig und vom göttlichen Wissen unendlich weit entfernt ist, während Dichtung und
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Sprache zugleich die Erkenntnis des eigenen Nichtwissens und der Täuschungen ermöglichen, welche wiederum Grundlage jeder Erkenntnis und jedes verantwortungsbewußten politischen Lebens sind.36
36
Ich danke Herrn Prof. Dr. Manfred Eikelmann für wichtige Anregungen und Kritik.
Annette Volfing
Ich hab gemacht vnd geben ein wirtschafft on eßnn vnd trincken Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana Das ›Ehebüchlein‹ Albrechts von Eyb, erstmalig erschienen 1472, ist ein Werk, das auf höchst eigenwillige Weise mittelalterliche und humanistische Ansätze miteinander vereint.1 Der Text, den man auch als cento 2 oder ›Blütenlese‹3 autoritativer Quellen charakterisieren könnte, besticht nicht nur durch die Art und Weise, in der verschiedenen Traditionen angehörendes Material zusammen verarbeitet wird – biblische exempla erscheinen mit Vertretern des klassischen Altertums, christliche Glaubenslehre mit Bruchstücken heidnischer Philosophie, memento mori Betrachtungen mit Ernährungsanweisungen, traditionelle Hagiographie mit neuen Übersetzungen von Novellen italienischer Humanisten – sondern auch durch die Funktionalisierung dieses völlig unterschiedlichen Materials in einem kohärenten literarischen Programm. Allein eine Verknüpfung klassischer und christlicher exempla innerhalb einer strukturierten, auf sich selbst bezugnehmenden Anthologie ist selbstverständlich nicht zwangsläufig humanistisch. Sowohl Stephans von Bourbon (13. Jh.) Traktat über die sieben Gaben des Heiligen Geistes und der aus dem 14. Jahrhundert stammende ›Fasciculus morum‹ über die sieben Todsünden, um nur zwei Beispiele anzuführen, weisen genau dieses Merkmal auf.4 Während jedoch in früheren Kompilationen 1
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Aus dem Ehebüchlein wird nach der Facsimile Ausgabe zitiert: Albrecht von Eyb, Ob einem manne sey zunemen ein eelichs weyb oder nicht. Mit einer Einleitung zum Neudruck von Helmut Weinacht, Darmstadt 1990 (Texte zur Forschung 36). Einseitige Versuche früherer Kritiker, Albrecht von Eyb entweder als Humanisten (Max Hermann, Albrecht von Eyb und die Frühzeit des deutschen Humanismus, Berlin 1893) oder als mittelalterlichen christlichen Moralisten darzustellen (z. B. Joseph Anthony Hiller, Albrecht von Eyb, Medieval Moralist Washington D. C. 1939), werden von Edith Feistner, Form und Funktion der Quaestio bei Albrecht von Eyb. Ein Beitrag zur Rhetorik des Ehediskurses in der Frühen Neuzeit, GRM 45 (1995), S. 268–278, hier S. 268, diskutiert. Zu Albrechts Quellen, s. Weihnacht, S. XIV−XIX, und Feistner. Hermann [Anm. 1], S. 332. Feistner [Anm. 1], S. 268. Stephani de Borbone Tractatus de diversis materiis praedicabilibus, hg. von Jacques Berling und Jean-Luc Eichenlaub, Brepols 2002 (CCM 124); Fasciculus Morum. A Fourteenth-Century Preacher’s Handbook, hg. und übersetzt von Siegfried Wenzel, University Park/London 1989. Interne Querverweise (um aufzuzeigen, wie dasselbe exemplum benutzt werden kann, um verschiedene Argumentationen zu verfolgen) sind im ›Fasciculus Morum‹ besonders verbreitet.
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klassisches Material grundsätzlich immer christianisiert und dem vorrangigen homiletischen Zweck unterworfen wird, so ist dies im ›Ehebüchlein‹ gewiß nicht der Fall. Selbst wenn auch christliche Werte und Glaubenslehre deutlich für das ›Ehebüchlein‹ relevant sind, bilden sie trotzdem nicht seine Raison d’Etre. Das ›Ehebüchlein‹ ist vorgeblich ein Handbuch mit dem relativ begrenzten und vor allem praktischen Auftrag, die Einrichtung der Ehe zu rechtfertigen und einen Katalog von sexuellen, sozialen und diätetischen Richtlinien vorzulegen. Als solches steht es zum einen in der patristisch beeinflußten Tradition der Ehedebatte (und der damit verwandten Erörterung der Vorzüge und Schwächen des weiblichen Geschlechts),5 und zum anderen in der im Wesentlichen säkularen Tradition der Medizin- und Ernährungsliteratur.6 Das ›Ehebüchlein‹ unterscheidet sich also von älteren Exempelsammlungen insofern, als es eine selbstbewußte literarische Herangehensweise bei der Präsentation des Materials an den Tag legt. Es wird ausdrücklich erwartet, daß die Leserschaft der Auseinandersetzung mit den verschiedenen exempla und den in sie eingebetteten und das Leitargument unterstreichenden Erzählungen ästhetischen und sogar sinnlichen Genuß abgewinnt. Das Wesen der Literatur und der literarischen Rezeption wird so zum selbständigen Thema des Werkes, gleichrangig mit den Hochzeitsthemen Sexualität, Essen, Trinken und sozialer Interaktion. In diesem Kontext bietet die aus dem 14. Jahrhundert stammende ›Mensa philosophica‹, mit ihrer »diätetisch begründeten Gesprächs- und Erzählkultur«,7 eine wichtige Parallele.8 In Übereinstimmung mit der Tradition, daß Geschichten im wahrsten Sinne des Wortes als Medizin bezeichnet werden könnten, da sie den Geist entspannen und Melancholie vertreiben, verbindet die ›Mensa philosophica‹ Ratschläge zur Ernährung, Regeln für gute Tischmanieren, und unterhaltsame fazetienartige Geschichten, die dazu vorgesehen sind, bei Tisch erzählt zu werden.9 Während das ›Ehebüchlein‹ auf den ersten Blick 5
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Für einen Überblick über diese Traditionen im Verlauf des Mittelalters, s. Alcuin Blamires, Woman Defamed and Woman Defended. An Anthology of Medieval Texts, Oxford 1992; ders., The Case for Women in Medieval Culture, Oxford 1997. Vgl. Burghart Wachinger, Erzählen für Gesundheit. Diätik und Literatur im Mittelalter, Heidelberg 2001 (Philosophisch-Historische Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 23). Es sollte darauf hingewiesen werden, daß zwischen diesem Genre und der homiletischen Literatur Überschneidungen bestehen. Bei der Diskussion von gula verurteilt Fasciculus Morum 6.2 (S. 630–631) schlechte Tischmanieren wie das gierige Ansichreissen des Essens, das Greifen nach dem Becher mit zitternden Händen, das Anstarren des Weines und das Herunterschlucken der Speisen ohne vorheriges kauen. Burghart Wachinger, Erzählen für Gesundheit. Diätik und Literatur im Mittelalter, Heidelberg 2001 (Philosophisch-Historische Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 23), S. 22. Mensa philosophica. Faksimile und Kommentar, hg. von Erwin Rauner und Burghart Wachinger, Tübingen 1995 (Fortuna Vitrea 13). Die Entwicklung dieses Gemeinplatzes wird bei Wachinger [Anm. 7] erörtert.
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einen größeren Gehalt an offensichtlich christlichem Material aufweist als die ›Mensa philosophica‹, ist in beiden eine vergleichbare Bewertung vom Nutzen des Geschichtenerzählens deutlich, und zwar dermaßen, daß man auch auf das ›Ehebüchlein‹ Wachingers Charakterisierung der ›Mensa philosophica‹ anwenden kann, der sagt, sie beinhalte: Erzählungen, die zuvor moraldidaktischen Zwecken dienten [...] [und die] durch Kombination mit naturwissenschaftlichen-diätetischen Materialien einem neuen Programm unterstellt worden sind, der Kunst der gepflegten relaxatio (Entsprannung) oder refocillatio (Wiederbelebung, eigentlich Wiedererwärmung, da die Melancholie kalt macht), wobei sie insbesondere Studenten und Gelehrte anspricht. 10
Ein unverkennbares Merkmal des literarischen Programmes des ›Ehebüchleins‹ ist die Metapher des Hochzeitsfestes, zu dem die Leser geladen sind, und das für den Text selbst steht. Obwohl diese Metapher, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht, einfach als Variante auf die gerade angesprochene allgemeinere Assoziation von Diät und Erzählkultur angesehen werden könnte, ist sie letztendlich auch von der patristischen und mittelalterlichen Exegese der Erzählung von der Hochzeit zu Kana abhängig, und trägt so eine spezifisch christliche Dimension bei. Jedoch ähnlich wie bei Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹, dem auch gelegentlich humanistische Elemente zugesprochen werden, steht die christliche Exegese im Dienste überwiegend weltlicher, dichterischer Absichten.11 Wie aufgezeigt werden wird, zeigt sich das Novum in Albrechts Herangehensweise darin, wie er topoi vereinigt, die für gewöhnlich isoliert auftreten (Literatur als Speise und Trank; literarische Adaptation als wunderbare Verwandlung) und sie so anwendet, daß sich der Text auf sich selbst bezieht und mit seinem Thema identisch wird (ein Text über einen Festschmaus »ist« ein Festschmaus). Obgleich auch die ›Mensa philosophica‹ thematisch einen gewissen Selbstbezug aufweist (das Werk handelt von Themen, die im weiteren Sinne mit Gesundheit zu tun haben und beinhaltet Geschichten, die gesund machen), wird dieser Aspekt nicht in einem Grade entwickelt oder artikuliert, den man mit Albrechts souveränem und selbste bewußtem Versprechen vergleichen könnte, er werde seinen Lesern ein frolich e hochzeyt mit einen kostenlichen male (1a−b, S. 5–6) ausrichten.
10 11
Wachinger [Anm. 7], S. 22. Gottfried von Straßburg, Tristan, Nach dem Text von Friedrich Ranke, neu hg., ins Nhd. übers., mit einem Stellenkommentar u. einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Bd. 1–3, Stuttgart 31984 (RUB 4471–73). Vgl. C. Stephen Jaeger, Medieval Humanism in Gottfried von Straßburg’s Tristan und Isolde, Heidelberg 1977 (Germanische Bibliothek, 3. Reihe, Untersuchungen und Einzeldarstellugen); Christoph Huber, Gottfried von Straßburg, Tristan (Klassiker-Lektüren 3), Berlin 2000, S. 37–46 (für den Prolog), S. 61–65 (für den Literaturexkurs).
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Das ›Ehebüchlein‹ ist in seinem Aufbau dreiteilig und weist eine logische Ideenabfolge auf.12 Der erste Teil widmet sich der Frage, ob ein Mann heiraten sollte, und wie Feistner gezeigt hat, neigt das hier angeführte Material eher zum säkularen als zum Religiösen, schöpft er doch hauptsächlich aus klassischen oder humanistischen Quellen.13 Als sollte betont werden, daß die Frage nicht aufgrund rein ethischer oder praktischer Betrachtungen entschieden werden könne, sorgt Albrecht dafür, daß sich die dargelegten Vor- und Nachteile gegenseitig aufheben, so daß es zu keiner klaren Schlußfolgerung kommt. Die Fülle des Materials bringt den Leser nicht weiter als das erste hier angeführte exemplum, in dem Sokrates einem jungen Mann sagt, daß, egal ob er heirate oder nicht, er seine Entscheidung bereuen würde (1a, S. 5). Die Patt-Situation wird erst im zweiten Teil aufgelöst, in dem Albrecht eine religiöse Perspektive einfließen läßt, die ihn in die Lage versetzt, ein klares Urteil zugunsten der Ehe zu fällen: Auf einen Schöpfungsbericht folgt ein Hinweis auf die drei traditionellen bona matrimonii: bonum proles (das Zeugen von Kindern); bonum fidei (Moralität, insbesondere die Eindämmung sexueller Begierde) und bonum sacramenti (die Ehe als ein Symbol für Christi Beziehung zur Kirche).14 Der dritte und letzte Teil fährt damit fort, praktische, weltliche Lebensweisheit mit einer unverkennbar christlichen Perspektive zu vereinigen. Nach einer Erörterung zum Thema Tischregeln beim Hochzeitsmahl (Wie die male vnd wirtschaft sein zuhalten – 1a, S. 3), kommt der Text schließlich zur kranckheit vnd widerwerttigkeit der menschlichen natur (1a, S. 3). Dieses Kapitel beginnt mit dem Allgemeinplatz, daß nach den Genüssen des Hochzeitsfestes die Belastungen und das tägliche Einerlei der Ehe unweigerlich eine heftige Enttäuschung darstellen und geht allmählich in eine Reflexion über den Wankelmut des irdischen Schicksals und die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz über, indem es topoi des Stoizismus und der memento mori Literatur miteinander vereint.15 12
13 14 15
Albrecht von Eybs früheres lateinisches Traktat ›An viro sapienti uxor sit ducenda‹ (1458/60) folgt einem etwas anderen dreiteiligem Aufbau (Teil eins führt Argumente gegen die Ehe an, Teil zwei für die Ehe, Teil drei liefert die Synthese mit einer Entscheidung für die Ehe). Vgl. Feistner [Anm. 1], S. 270. Ebd., S. 270–271. Ebd., S. 271. So wie das Kapitel über die Tischregeln als Darstellung eines Hochzeitmahles gilt, so gilt dieses Kapitel als Darstellung des Hochzeitstanzes: Ich hab gemacht vnd geben ein wirtschaft on eßen vnd trincken So will ich auch machen ein tantz on saytenspil e vnd frolicheit vnd will alhie geben zuuerstien das ellende die armut die erparmunt die kranckkeit vnd widerwertigkeit der menschlichen natur (44a, S. 91). Während der Zusammenhang zwischen Tanz und den Belastungen des Alltags hier problematisch erscheinen mag, findet sich ein verbindendes Element in der Vorstellung, daß Tanz aus geordneter, harmonischer und vor allem kontrastierender Bewegung besteht. Auch das menschliche Leben wird charakterisiert durch die Gegensätze von Freuden und Sorgen – und, wie Albrecht mit Bezug auf Quintus Metellus (50b–51a, S. 104–105) argumentiert, ein Leben, in dem alle Wünsche in Erfüllung gehen, sei nicht besonders erstrebenswert.
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Die Komplexität des Werkes wird durch die Einschiebung von drei längeren, potentiell selbständigen Erzählungen in den Rahmendiskurs erhöht. Zwei von diesen treten gegen Ende des zweiten Teils auf und tragen so implizit zur Rechtfertigung der Ehe aus religiösen Gründen bei. Die erste ist Boccaccios Novelle von Gwiscardus und Sigismunda (›Decamerone‹ IV/1), von Albrecht nach der lateinischen Version von Aretinus übersetzt.16 Sigismundas Vater ist nicht gewillt sie zu verheiraten, weder mit Gwiscardus, den sie liebt, noch mit einem anderen. Als er die Liebesbeziehung zwischen den beiden entdeckt, tötet er Gwiscardus und setzt Sigismunda nach traditioneller Art sein Herz zur Speise vor, worauf diese sich vergiftet. Die beiden Liebenden werden zusammen begraben, und der Vater hat Muße, sein unvernünftiges Verhalten zu bereuen. Die Geschichte wird unter dem Titel Das man frawen vnd iunckfrawen zu rechter zeit menner geben soll präsentiert und kommt zur Schlußfolgerung, daß durch die ee werden vermiden vnlawtter fremde begire vnd ander schwer sunde der e vnkeuscheit (39a, S. 81). Es ist natürlich nicht auszuschließen, daß ein Leser auch nach Lektüre einer allein stehenden Version dieser Geschichte (wie z. B. der von Niklas von Wyle),17 zu einer ähnlichen Schlußfolgerung gelangen würde, doch der übergreifende Zusammenhang des ›Ehebüchleins‹ stellt eine direkte Aufforderung an den Leser dar, sich auf den Gegensatz zwischen Ehe und Unzucht zu konzentrieren und nicht, wie im Original, auf das Recht der einzelnen Frau auf erotische Selbstbestimmung.18 Direkt im Anschluß daran schildert die zweite Erzählung wie Marina, eine sonst tugendhafte junge Frau, anläßlich einer mehrjährigen Geschäftsreise ihres Ehemannes entdeckt, daß sie ihre sexuelle Frustration nicht meistern kann.19 Ihr Ehemann hatte diese Eventualität bereits in Betracht gezogen hatte und hatte ihr gewissermaßen die Erlaubnis erteilt, sich einen Liebhaber zu nehmen, unter der Voraussetzung, daß dieser weise und diskret sei. Dementsprechend bietet sie sich einem jungen Arzt an, bei dem sie diese Qualitäten wahrzunehmen glaubt. Der Arzt erscheint von dem Angebot hoch erfreut, erklärt jedoch, daß wegen eines Gelübdes, daß er erst kürzlich vor der Jungfrau Maria abgelegt hätte, sie beide 30 Tage lang fasten müssten, bevor sie ihre Liaison ausleben könnten. In Wirklichkeit weiß der junge Arzt, daß 30 Tage Nahrungsentzug Marinas lustvollem Begehren ein Ende setzen werden. In der Tat begreift Marina nach Ablauf dieser Zeit seine Strategie und dankt ihm dafür, daß er ihr eine wertvolle Lektion über den Zusammenhang zwischen Ernährung und ehelicher Keusch16
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Für eine Diskussion von Albrechts von Eyb Adaptation dieses Materials siehe Franz Josef Worstbrock, Niklas von Wyle, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450–1600), hg. von Stephan Füssel, Berlin 1993, S. 35–50, hier S. 47. Nr. 2, Translationen von Niclas von Wyle, hg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1861, Nachdruck 1967 (BLVS 57). Vgl. Worstbrock [Anm. 16], S. 47. Vgl. Max Hermann, Die lateinische Marina, DVjs 3 (1890), 1–27.
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heit vermittelt habe. Die Überschrift – Wie sich ein fraw halten solle Jn abwesen irs mannes (33b, S. 70) – weist einige Elemente von Zweideutigkeit auf, da Marinas Verhalten, oder zumindest ihre Intentionen, nicht unbedingt immer als vorbildhaft angesehen werden können. Auf der anderen Seite läßt sich jedoch sagen, daß sie mit ihrer Keuschheit intakt aus dieser Episode hervorgeht, weil sie sich genauestens an die Anweisungen ihres Ehemannes gehalten hat. Die allem zugrunde liegende Prämisse ist, daß die Ehe ein akzeptables Ventil für sexuelle Energien darstellt, und daß, wo spezielle Umstände eheliche Beziehungen unmöglich machen, extremere Maßnahmen (wie z. B. längeres Hungern) angebracht sind, um diese Impulse unter Kontrolle zu bringen.20 Die letzte Erzählung, die ›Albanuslegende‹, befindet sich ganz am Ende des dritten Teils.21 Es handelt sich hier um eine dem ›Gregorius‹ ähnelnde InzestGeschichte, die vorgeblich dazu dient aufzuzeigen, Das kein sunder verzweyfelnn solle (52b, S. 108). Albanus, Produkt des Inzestes zwischen Vater und Tochter, wird als kleines Kind ausgesetzt, in Unwissenheit seiner Situation großgezogen, und schließlich seiner Mutter versprochen und mit ihr vermählt. Als die Verwandschaftsverhältnisse endlich ans Licht kommen, unternehmen Albanus, seine Mutter und sein Vater/Großvater eine siebenjährige Buße in den Wäldern und haben schon fast ihre Schuld gesühnt, als die Eltern erneut die Lust überkommt und sie ihrem Laster ein letztes mal frönen. Sie werden von Albanus entdeckt, der sie in einem Moment moralischer Entrüstung tötet. Er verbringt daraufhin noch einmal sieben Jahre damit, für diese Morde Buße zu tun und erlangt Vergebung. Nach seinem Tode geschehen Wunder, die seinen Heiligenstatus attestieren. Obgleich diese Erzählung von einigen Kritikern als ein unbefriedigendes und unorganisches ›Anhängsel‹ betrachtet wird, kann die im vorliegenden Gesamtzusammenhang als eine Inbetrachtnahme des schlimmsten Falles einer Ehe verstanden werden: Es geht nicht nur darum, daß auch die schockierendste Sünde noch Vergebung findet, sondern darum, daß selbst die verhängnisvollste und unangebrachteste Ehe kein Hinderungsgrund für Erlösung ist – sie könnte sogar ein Sprungbrett zur Erlangung von Heiligkeit darstellen. Freilich würde man kaum eine so ausschließlich eheorientierte Interpretation für eine selbständige Version der Albanus-Legende in Betracht ziehen.
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Während Moralisten traditionell die gegenseitige Verbindung von gula und luxuria (z. B. ›Fasciculus Morum‹ 6.2 (S. 630–631) betonen, sollte vermerkt werden, das an Marinas ursprünglicher Diät an sich nichts auszusetzen war. Sie ist kein Genußmensch im herkömmlichen Sinn und wäre ihr Ehemann nicht weggegangen, hätte es kein Problem gegeben. Die Notwendigkeit der reduzierten Nahrungsaufnahme ergibt sich aus der speziellen Situation, in der sie sich befindet. Vgl. Karin Morvay, Die Albanuslegende. Deutsche Fassungen und ihre Beziehungen zur lateinischen Überlieferung, München 1977 (Medium Aevum 32), S. 126–150.
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Die Beziehung zwischen den Erzählungen und dem Rahmendiskurs ist ambivalent und spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab. Die übergreifende Diskussion von Ehe liefert angeblich dem Leser ein eindeutiges Indiz dafür, wie die Geschichten gelesen werden sollten, und es fehlt nicht an konkreten Anknüpfungspunkten zwischen den Erzählungen und den Lehrinhalten. Die ersten beiden Erzählungen liefern z. B. zusätzliches Anschauungsmaterial zu den aus der Ehe resultierenden bona fidei. Darüberhinaus ist es auch bemerkenswert, daß in einem Werk, das nicht nur ein großes Interesse an Tischmanieren und Festmählern (sowohl buchstäblich als auch metaphorisch verstanden), sondern auch am Verdauungsprozeß und dem Einfluß der Ernährung auf die vier Temperamente an den Tag legt, das Motiv des Essens (buchstäblich) ein entscheidenes Merkmal der ersten beiden Geschichten ist, die dann wiederum (metaphorisch) vom Leser genossen werden.22 Dennoch sind die drei Erzählungen nicht von eindeutiger Aussage und die Interpretationsansätze erschöpfen sich nicht durch den einfachen Hinweis auf die Thematik des Rahmendiskurses. Im Gegenteil besitzen die Erzählungen ein irritierendes Übermaß an Bedeutungsmöglichkeiten, das einen festeren Rahmen zersprengen würde; nur ist der Rahmen im ›Ehebüchlein‹ so elastisch konzipiert, daß er diesen autonomen und gewissermaßen eigenwilligen Erzähleinheiten ohne Belastung Platz bieten kann. Das Ästhetische und Spielerische gewinnt schließlich Priorität vor dem Programmatisch-didaktischen und es ließe sich argumentieren, daß das eigentlich Humanistische am Werk eben in dieser Elastizität liegt, die sich grundlegend von der Methodik mittelalterlicher didaktischer Sammlungen unterscheidet. Das lockere Verhältnis zwischen Erzählungen und Rahmendiskurs geht schon aus der Inhaltsangabe hervor. Wenn Albrechts Erzähler/Kompilator behauptet: 22
In der Beschreibung (in Teil I) davon, wie weise Gott den menschlichen Körper geschaffen hat, beginnt Albrecht mit dem Magen und beschreibt detailliert wie Nahrung verdaut wird: Des ersten mit dem magen den er in mittel des menschen das er sey ein vas vnd ein nemer der speys hat gesaczt die selben zu kochen vnd waich zu machen e e vnd furpas zu solchen saft vnd feuchtigkeit der speis dem ganczen leichnam vnd allen gelidernn zu narung vnd auffenthalten mit zu taillen wann der irdisch leichnam muß e genert werden mit safte vnd feuchtigkeit die do kumen von essen vnd trincken [...] wenn das essen vnd getranck werden genumen in den leib vnd durch die hitze gee kochet in dem magen so außteylet sich derslbe safft in alle glider vnd macht feucht vnd e erneret den menschen vnd dringt auch in die plasen die do ist dunne vnd subtil die e e e furbaß von ir sendet die uberflußigkeit in gestalt des harms vnd will also von den vnd anndern inwendigen glidern des menschenn nit verner schreiben vnd das sendnn in die e schule der naturlichen meistern vnd gelerten bewerten ertzten (25a-b, S.53–54). Die Geschichte von Marina und dem Arzt macht direkt anschaulich, daß die Ernährung einen grossen Einfluß auf das Gleichgewicht der vier Temperamente und so auf das e Verhalten hat: Do sie nun sechßvndzweintzig tag gevastet het do ward ir die naturlich e hitz entweichen vnd die hubsche gestalt des leibs vnd entgien aller lust vnd begire der e vnkeuscheit ward krank vnd leget sich in das pett (37b, S. 78).
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Jm anndern teyl will ich antworten auff die frag vnd beschliesen das einem manne sey e ein weyb zunemen vnd do bey etzlich hubsch hystorien erzelen (1a, S. 5),
ist es möglich, das do bey so zu lesen, daß die Geschichten ein relativ selbständiges Extra und weniger einen integralen Teil einer Rechtfertigung der Ehe darstellen, als vielmehr eine kleine Leckerei für den Leser. Die korrespondierende Stelle in Teil III, wo Albrecht zum ersten Mal die dichterische Metapher des literarischen Gastmahls in den Text einbringt, läßt die Funktion von hystorien ebenfalls offen: e
e
Jm dritten vnd letzten teyle will ich ein frolich hochzeyt mit einem kostenlichen male e vnd wirtschafft machen als dann gewonlich ist so ein man ein weyb genomen hat vnd e mit ettlichen hupschen leren vnd hystorien beschliesen. (1a−1b, S. 5–6)
Auf jeden Fall zeigt die Tatsache, daß Teil III etliche hystorien beinhalten soll, daß der Terminus nicht ausschließlich für längere Erzählungen (wovon es nur eine gibt) reserviert ist, und daß Albrecht nicht formal zwischen den vielen kurzen Anekdoten und den drei gerade skizzierten Geschichten unterscheidet, um den letzteren eine größere Prominenz in seiner Konzeption der literarischen wirtschafft einzuräumen. Während die Metapher der literarischen wirtschafft auf das gesamte Werk zutrifft, ist es am engsten verknüpft mit den Tischregeln, die am Anfang des dritten Teiles dargelegt werden.23 Hier ist die Übereinstimmung von Text und Thema am auffälligsten, weil die literarische Diskussion darüber, wie man eine Hochzeit feiert, als eigenständige Hochzeitsfeier dargestellt wird. Die Tischregeln bilden auf der wörtlichen Ebene einen Leitfaden für das Hochzeitsmahl und betreffen sowohl die Ernährung als auch die soziale Interaktion. Albrechts Mißbilligung exzessiven Essens und Trinkens beruht nicht auf Asketentum oder auf einem Beharren auf der Sündhaftigkeit von gula, sondern auf einem praktischen Verständnis der Auswirkungen der vier Temperamente: 23
Man könnte geltend machen, daß sich diese Metapher nur auf die Tischregeln, die sich im ersten Abschnitt von Teil III finden, bezieht, und daß der Rest von Teil III (die Beschreibung von menschlicher kranckeit und die ›Albanuslegende‹) separat sind, da die Überleitung von den Tischregeln zur alltäglichen Drangsal als Übergang von Essen zu Tanzen dargestellt wird [vgl. Anm. 15]. Auf der anderen Seite ließe sich argumentieren, daß Tanzen und Essen Elemente des Hochzeitsfestes ausmachen und daß die wirtschafts-Metapher auf den gesamten Teil III zutrifft, impliziert sowohl am Beginn des Gesamtwerkes (wie bereits zitiert) und am Beginn des Teil III: So nun ein e man hat genumen ein weyb ist ein froliche hochzeyt mit einem kosperlichen male vnd e wirtschaftt zumachen das dann das dritt vnd letzte teyl dises puchleins wesen soll (40b, S. 84). Schließlich ließe sich auch sagen, daß die wirtschafts-Metapher, obwohl zweifelsfrei am engsten mit dem ersten Abschnitt von Teil III verknüpft, nichtsdestoweniger Relevanz für den gesamten Text besitzt. Das wissenschaftliche Interesse an diätetischen Fragen und dem Verdauungsprozeß bildet so eine grundlegende Verbindung zwischen den Tischregeln, zwei der längeren Erzählungen und den Schöpfungsbericht am Anfang von Teil II [Vgl. Anm. 22].
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e
Die selbigen vnmessigen mussen sein feucht vnd hitzig plaich vnd vngestalt schwitznn e e zittern vnd schmeckenn So die messigen sein drucknn durre starck hubscher gestalt vnd wolrichende (42b, S. 88).
Was die Freuden des Fleisches angeht, empfiehlt er einen Mittelweg zwischen den Stoikern und den Epikuräern (40b, S. 84), und scheint letztendlich mehr daran interessiert, wie Menschen miteinander umgehen, als daran, was und wiee viel sie essen und trinken: Also söll ein wirtschafft die loblich sein will nit allein mit wollust der speys vnd des leibs (42a, S. 87). Als wollte er auf ein Argument zurückgreifen, daß er in Teil I gebracht hatte, nämlich, daß der Mund und die Zunge ebenso für die Sprache geschaffen wurden wie für das Essen und Trinken (25a-b, S. 53–54), betont er die Wichtigkeit höflicher Konversation – wann gee e neme zymliche wortt nit mynder erfreun die leute der wirtschafft dann die sueßigkeit des weins (41a, S. 85) – und liefert eine Vielzahl genauer Anweisungen und Beobachtungen dazu, wie man diese erreichen könnte. So werden z.B. ernste und erhabene Gesprächsthemen empfohlen, und es wird darauf hingewiesen, daß ein jeder Gast an der Möglichkeit Gefallen fände, sich über ein ihm vertrautes Thema zu äußern (42a, S. 87). Albrechts Mißfallen erregen vor allem grobe oder undankbare Kommentare, die sich an den Gastgeber richten. Übertrieben wählerische Esser werden aufs Korn genommen – So sprechen etlich ander als Vgolinus schreibt Jch wolt lieber essen ayer dann ponen. so wolt ich lieber essen mandeln dann kichernn vnd ich lieber vonn eim kitze dann von einem schweinlein so wolt ich lieber essen eins hunes dann einer schwalben vnd ich lieber ein rephun dann enten so wolt ich lieber essen visch dann linsen (42b, S. 88) –
genauso wie diejenigen, die es sich zur Gewohnheit machen, die Üppigkeit des Festes zu kritisieren, während sie gleichzeitig alles verschlingen, was ihnen angeboten wird: e
So sprechen auch etlich als Plautus schreibt was hat not gethan so kostenlich zuleben e souil essen vnd sollichnn wein zugeben Jch maine es sey vnsinnig gewest er hat fur e zehnn gesatzt daran sich dreyssig liessen benugen das man in zu lieb hat berait das straffen vnd schenden sie vnd essen doch dasselbe vnd spricht ir keiner des essens ist e zu uil hayß die vische die rephuner das gestoen das gepraten das gepachen auffheben e sunder sie begeren des alles eylen daruber vnd essen das (42a-b S. 87–88).
Auf metaphorischer Ebene jedoch können all diese Betrachtungen über die Feinheiten des geselligen Beisammenseins auch als Ausdruck einer gewissen Erwartungshaltung dem Publikum gegenüber verstanden werden, wie es das literarische Bankett, zu dem der Text einlädt, höfisch und höflich aufnehmen soll. Insbesondere ist die eben zitierte Passage mit ihrem Angriff auf Gäste, die sich darin gefallen, sich über Dinge zu beschweren, die in Wirklichkeit ganz nach ihrem Geschmack sind, vergleichbar mit einer Stelle im Prolog zu Gottfrieds ›Tristan‹, wo der Erzähler auf ähnliche Weise das Verhalten scheinheiliger Leser angreift:
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Annette Volfing Ich hoere es velschen harte vil, daz man doch gerne haben wil: daˆ ist des lützelen ze vil, daˆ wil man, des man niene wil. Ez zimet dem man ze lobene wol, des er iedoch bedürfen sol, und laˆze ez ime gevallen wol, die wıˆle ez ime gevallen sol. (Tristan, V. 9–16)24
Unmißverständliche Metaphern für das geschriebene Wort als Speise und/oder Trank, welche die Leser sich einverleiben, werden in der Bibel häufig benutzt. Besonders markante Beispiele bieten die zwei essbaren Bücher, die bei Hesekiel (2,9–3,3) und in der Offenbarung des Johannes (10) vorkommen, wie auch das paulinische Bild von den Christen, die nach dem Wasser Milch erlangen in dem Maße, in dem sich ihr Verständnis vertieft (1 Kor 3,2; 1 Petr. 2,2; Hebr 5,12).25 Metaphern wie diese werden zum Gemeinplatz in der religiösen Literatur der Patristik und des Mittelalters mit der beliebten etymologischen Verbindung zwischen sapor und sapientia, die Teil desselben metaphorischen Komplexes bildet.26 Wo Nahrungsmetaphern in der weltlichen Literatur auftauchen, erhalten sie sich häufig einen Widerhall ihres ursprünglich religiösen Kontextes, welcher typischerweise von den weltlichen Autoren instrumentalisiert wird – zumeist nur, um sich für das eigene Werk ein wenig von der Pracht und der Autorität der Bibel auszuleihen, aber gelegentlich, wie im Fall des Prologs zu Gottfrieds ›Tristan‹, als Teil einer längerfristigen Strategie, religiöse Autorität zu untergraben.27 Manchmal wiederum werden Nahrungsmetaphern so gründlich säkularisiert, daß sie jede Verbindung zu ihren religiösen Anfängen verlieren. ›Der Höfling‹ des Strickers (der sowohl Aspekte von Gottfrieds ›Tristan‹ als auch des Minnesanges ironisch aufgreift) ist hierfür ein Beispiel.28 Hier wird einem Gastgeber, dem der längere Besuch eines parasitären Minnesängers von expansiver Sexualität bevorsteht, geraten, ihn lediglich mit den Artikeln zu verpflegen, die in dessen literarischer Ausbeute vorkommen, nämlich Blumen, Gras, Lindenbäume und plätschernde Bächlein, da nach dessen eigener Aussage 24
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Vgl. Lambertus Okken, Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Strassburg, Bd. 1, Amsterdam/Atlanta 21996 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 57), S. 18–19. Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 142–144. Z. B. Isidor von Sevilla, Etymologiarvm sive originvm libri XX, hg. von Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911, Nachdruck 1985, X.240. Diese Tradition erörtert Klaus Kirchert, Text und Textgewebe, in: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, hg. von Kurt Ruh, Tübingen 1985, S. 231–245, hier S. 232. Vgl. Huber [Anm. 11], S. 44. ›Der Höfling‹, in: Der Stricker, Erzählungen, Fablen, Reden, hg. und übersetzt von Otfried Ehrismann, Stuttgart 1996 (RUB 8797), S. 202–209.
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dies alles ist, was er zum Leben braucht. Der Witz besteht darin, daß hier der Gemeinplatz wörtlich genommen wird, man könne von Literatur oder den sich darin befindlichen Werten leben. ›Der Höfling‹ bietet einen interessanten Vergleich zum ›Ehebüchlein‹, nicht nur weil auch hier die Identifikation eines literarischen Textes mit dem eigenen Thema zum Ausdruck kommt (Minnesang wird mit den physischen Inhalten gleichgesetzt, die ihn ausmachen, und deshalb sollte jeder, der behauptet, von der Literatur gestärkt zu werden, glücklich sein, Grass und Blumen zu essen, anstatt geröstetes Fleisch), sondern auch, weil dieses Werk das Lob, von häuslichem und ehelichem ordo mit recht detaillierten Anweisungen zur Bewirtung von Gästen verbindet. Wie auch im ›Ehebüchlein‹ finden die Auswirkungen der Ernährung auf das Gleichgewicht der Temperamente der Tischgäste besondere Beachtung. Es wird argumentiert, daß ein sexbesessener Minnesänger bereits an einem solchen Überschuß an Heißblütigkeit leidet, daß er abgesehen von Gras, Blumen und Wasser nichts vertragen kann: ihm frischgeröstetes Fleisch vorzusetzen, würde ihn geradewegs ins Verderben, ja ins Höllenfeuer stürzen.29 Obwohl sie keine expliziten Nahrungsmetaphern beinhaltet, hat die Geschichte von der Hochzeit zu Kana (Joh 2, 6–10), die von der wunderbaren Verwandlung von Wasser zu Wein handelt, eine zentrale Funktion, wenn es darum geht, dem Leser die Idee zu vermitteln, daß man einen Text ›trinken‹ kann und darüber hinaus, daß Leser, die sich sachgemäß mit der Beschreibung einer Hochzeitsfeier auseinandersetzen, selbst unmittelbar daran teilhaben können. Gemäß einer exegetischen Tradition, die mit Augustin beginnt, wurde die Verwandlung von Wasser in Wein als die Entwicklung von wörtlichem zu allegorischem Verständnis der Bibel interpretiert. Dabei ging es nicht nur um diesen einen Text, sondern um die Bibel in ihrer Gesamtheit – und die interpretatorische Methode, die dem vierfachen Schriftsinn unterliegt, wurde dabei in einem Zirkelschluß gerechtfertigt. Die Vorstellung, daß der Wein nicht nur (im wörtlichen Sinne) für die historischen Gäste geschaffen wurde, sondern auch (im geistlichen Sinne) für alle späteren christlichen Leser, ist in Formulierungen wie der folgenden von Gregor implizit: Aqua nobis in vinum vertitur, quando sacra historia in spiritualem nobis intelligentiam commutatur.30 29
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›Der Höfling‹ 92–102: diu selbe hitze ist soˆ getaˆn: / si kumt von dem helleviure / und von des übelen tıˆvels stiure. / daˆ sol ein wirt merken bıˆ, / waz einem hövischære guot sıˆ: / sıˆt im ze heize doch geschiht, / soˆ meˆre im sıˆne hitze niht! / diu spıˆse, daˆ mit er mac genesen, / diu sol in kalter wıˆse wesen, / diu die hitze soˆ wol entrenne, / daz si in niht gar verbrenne. Beda, Liber Proverbiorum, PL 90, 1091 D; zitiert von Hans-Jörg Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends, München 1972 (Münstersche Mittelalterschriften 12), S. 145. Hervorhebung von mir.
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Im Deutschen wird dies zum ersten Mal von Otfried von Weißenburg ausgedrückt, der nicht nur die Vorstellung wiederholt, daß der Wein uns allen zugänglich ist – Thes wa´zares gisme´ken joh wir den se´ns intheken, thaz frowon lı´di thin fon themo he´ilegen wine.31 –
sondern auch die Metapher des Weines aufgreift, und sie über die geistliche Ebene der Interpretation im allgemeinen hinausgehend speziell auf seinen eigenen, volkssprachlichen Text anwendet: Firnim in the´sa uuıˆsuˆn, thaz ih thir za´lta bıˆ then su´n ni drunki thu ı´o in uuaˆr min alabe´ziron uuin.32
Indem er gewissermaßen seine eigene Fassung als die Quelle des Weines für den Leser präsentiert, kommt Otfried der Zueigenmachung der Rolle des freigebigen literarischen Gastgebers überraschend nahe, die Albrechts Erzähler bzw. Kompilator des ›Ehebüchleins‹ für sich in Anspruch nimmt. Im ›Ehebüchlein‹ wird die Hochzeit zu Kana zwar nur einmal ausdrücklich erwähnt. Dies geschieht in Teil II, wo Jesu Anwesenheit bei der Hochzeit traditionsgemäß als göttliche Billigung der Institution der Ehe aufgefaßt wird: darnach hat got der herr als er in menschlicher natur gewest ist selbs personlich die hochzeit geeret gebenedeyet vnd gewirdigt mit seinem goetlichen zaichen do er das wasser in natur des weines gewandelt hat (38b, S. 80).33
Das bedeutet, daß diese biblische Hochzeitsfeier, zusammen mit dem archetypischen klassischen Bankett und dem idealisierten arthurischen Fest, als Vorbilder des angemessenen Feierns gelten und deshalb implizit den Tischregeln im dritten Teil zugrunde liegen.34 Obwohl hier keine Bezüge zu Fragen biblischer 31
32 33
34
Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch, II.9.5–6, hg. von Oskar Erdmannn/ Ludwig Wolf, Tübingen 61973 (ATB 49). Hervorhebung von mir. Zu Otfrieds Verarbeitung der Hochzeit zu Kana, vgl. Xenja von Ertzdorff, Die Hochzeit zu Kana. Zur Bibelauslegung Otfrids von Weißenburg, PBB (Tüb) 86 (1964), S. 62–82; Friedrich Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, ZfdA 89 (1958–1959), S. 1–23, hier S. 20; Spitz [Anm. 30], S. 151–154; Hartmut Freytag, Liturgisches in Otfrieds Deutung der Hochzeit zu Kana, ZfdA 109 (1980), S. 33–48. Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch [Anm. 31], II.9.87–88. Hervorhebung von mir. Vgl. Albertus Magnus, der in einer Polemik gegen Häretiker, die die Institution der Ehe ablehnen, argumentiert, daß Jesus der Hochzeit von Kana beiwohnte ut nuptiarum approbator et sanctificator (›In Evangelium secundum Joannem‹, in: Opera omnia, hg. von Auguste Borgnet, Bd. 24, Paris 1889, S. 89–90). Zur Rolle des arthurischen Festes als Maßstab für spätere Beschreibungen von Gastmahlen in anderen Gattungen siehe Walter Haug, Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers ›Ring‹, in: Das Fest, hg. von Walter Haug/Rainer Warning, München 1989 (Poetik und Hermeneutik 14), S. 157– 179.
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Interpretation hergestellt werden, ist die exegetische Tradition, die sich an diese Bibelstelle knüpft, so gut bekannt, daß die bloße Erwähnung der Ereignisse in Verbindung mit der an exponierter Stelle stehenden wirtschafft-Metapher an anderer Stelle im Text, für die Leser ausreicht, um die gedankliche Verbindung selbst herzustellen. Es ist durchaus nicht unüblich, daß Autoren sich nur kurz und subtil auf diese Bibelsstelle beziehen und dennoch erwarten, daß die Leser die relevante exegetische Tradition auf das eigene Werk beziehen. Wittenwilers ›Ring‹, z.B. erwähnt das Wunder explizit erst in der allerletzten Zeile – Nach disem laid das ewig leben, Das well uns auch der selbig geben, Der wasser aus dem stain beschert Hat und auch ze wein bekert. (9696–9699)35 −
und doch hat Lutz überzeugend dargelegt, daß dieser Bezug den Schlüssel zur allegorischen Natur des Werkes darstellt.36 Obwohl beide Werke die Hochzeit von Kana als Bezugspunkt haben und ähnliche Themen ansprechen (z. B. Ehe, Ernährung und Tischmanieren), bieten sich der ›Ring‹ und das ›Ehebüchlein‹ eher zum Kontrast als zum Vergleich an.37 Ihre Erzähltechniken sind diametral entgegengesetzt: so ist im ersteren die Ehedebatte in eine lange Einzelerzählung eingebettet, während letztere verschiedene Erzählungen in eine einheitliche Abhandlung über die Ehe integriert. Die Abwesenheit einer fortgeführten Erzählungstruktur bedeutet, daß das ›Ehebüchlein‹ wohl kaum denselben dichterischen Sinn von der Hochzeit zu Kana ableitet wie der Ring: das ›Ehebüchlein‹ ist kein allegorischer Text im konventionellen Sinn, in dem vom Leser erwartet wird, einen Gedankensprung von sensus historicus zum sensus spiritualis zu machen – oder (für die Anhänger des Integumentum Modells) von fiktiver Verhüllung zu innerer moralischer Wahrheit.38 35 36
37 38
Heinrich Wittenwiler, Der Ring, hg. und übersetzt von Horst Brunner, Stuttgart 1991 (RUB 8749). Eckart Conradt Lutz, Spiritualis fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ›Ring‹, Sigmaringen 1990 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 32), hier besonders S. 350. Wie im ›Ehebüchlein‹ so dient die Hochzeit zu Kana auch im ›Ring‹ als eines der grundlegenden Modelle des Festes. Zweifelsohne soll das höfische Fest in erster Linie als Kontrast zur grotesken Bauernhochzeit dienen, aber die Tatsache, daß bei Bertschis Hochzeit der Wein ausgeht, regt den Leser dazu an, sich über die Unterschiede zwischen dieser Hochzeit und der sehr anders verlaufenden biblischen Variante Gedanken zu machen: Bei Bertschis Hochzeit ist Christus nicht präsent, weder im realen noch im im geistlichen Sinne. Vgl. Trude Ehlert, Doch so fülle dich nicht satt! Gesundheitslehre und Hochzeitsmahl in Wittenweilers Ring, ZfdPh 109 (1990), S. 68–85. Zum Unterschied zwischen Allegorie und Integumentum, siehe Hennig Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, besonders S. 169–198; Hartmut Freytag, Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten besonders des 11. und 12. Jahrhunderts, Bern 1982 (Bibliotheca Germanica 24),
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Wenn die Herstellung von Wein bei der Hochzeit zu Kana als eine Metapher für den Schreibprozeß verstanden wird, ist das Schlüsselelement weniger die verschwenderische Großzügigkeit, mit der der Wein angeboten wird, noch die wunderbare Weise, auf die der Wein hergestellt wird – sondern vielmehr die Tatsache, daß der Wein aus etwas anderem gewonnen wird. Exegeten befassen sich traditionell mit der Frage, warum Jesus es nicht vorgezogen hat, den Wein ex nihilo zu erschaffen (was er leicht hätte tun können), sondern darauf bestand, sechs Krüge mit Wasser füllen zu lassen, der dann in Wein verwandelt wurde. Die übliche Erklärung returniert auf das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Testament (es umfaßt so alle sechs Zeitalter der Welt) und zwischen wörtlicher und geistlicher Interpretationsebene.39 Wenn die Ereignisse dieser Bibelstelle auf Literatur im weiteren Sinne angewendet werden, zeigt sich jedoch, daß dieser Schwerpunkt auf Verwandlung (im Gegensatz zu Erschaffung) mit sich bringt, daß sie nur für bestimmte literarische Texte als Analogie verwenbar sind: Texte, die wie der ›Ring‹ mit kontrastierenden Interpretationsebenen arbeiten – oder Texte, die als Verwandlungen früherer Werke dargestellt werden können. Die Übersetzung von einer Sprache in die andere bildet einen, in diesem Sinn, offensichtlichen Fall literarischer Verwandlung. Ein Beispiel dieser Verbindung findet sich im Prolog zu Priester Wernhers ›Maria‹, wo der Erzähler die Übersetzung des apokryphen Evangeliums des pseudo-Matthäus vom Hebräischen in das Lateinische mit Bezug auf das Wunder der Hochzeit von Kana beschreibt: doh was div rede betw ˆ ngen in ebreisker zuˆnge untze an sant Jeronimum. der tet daz durh den gotes sun vnt durh zweir biscoffe rat, daz er daz liet gewıˆtert hat in die senften latine. daz wazzer wart da ze wıˆne, div milch verwandelt sich in daz ole, do er uns screib also wole. (148–157)40
Eine andere Spielart der literarischen Verwandlung ist die Konstruktion eines neuen, cento-artigen, literarischen Werkes durch die Zusammenstellung von bereits bestehenden literarischen Fragmenten und/oder kürzeren selbständigen Einheiten.
39 40
S. 15–17; Rita Copeland/Stephen Nelville, Allegory and Allegoresis, Rhetoric and Hermeneutics, Exemplaria 3 (1991), S. 159–187; Gertrud Grünkorn, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994 (Philologische Studien und Quellen 129), S. 49–66. Vgl. Spitz [Anm. 30], S. 143–144. Priester Wernher, Maria. Brückstücke und Umarbeitungen, hg. von Carl Wesle und Hans Fromm, Tübingen 21969 (ATB 26). Zitiert von Spitz [Anm. 30], S. 150.
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Im Falle des ›Ehebüchleins‹ sind diese Prozesse, d. h. der Übersetzung und der cento-artigen Neugestaltung, zentral für das literarische Unterfangen. Albrecht übersetzt nicht nur Material aus dem Lateinischen ins Deutsche, sondern re-kontextualisiert es auch in einer Weise, die dessen Sinn ändert. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß dieses Phänomen auf die längeren Erzählungen zutreffen könnte, doch das gleiche trifft auch auf die diskursiven Passagen zu, die mit zahlreichen kurzen Beispielen übersäht sind. Als Beispiel bietet sich ein Abschnitt an, der sich am Ende von Teil II befindet, zwischen den zwei längeren Erzählungen (Gwiscardus und Sigismunda; Marina) und dem eigentlichen Beginn der wirtschafft, der dem Lob der Frauen gewidmet ist. Die unmittelbare Quelle dieses Abschnitts (Lob der frawen) ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Katalog vortrefflicher Frauen, der von Nicolosa Sanuda kurze Zeit nach 1453 in Bologna zusammengestellt wurde (basierend auf einer langen Tradition, der unter anderem auch die Werke von Boccaccio und Christine de Pizan angehören) und der von Niklas von Wyle auch ins deutsche übertragen wurde.41 Während dieses Werk an sich interessant ist für seine Rühmung weiblicher Autorschaft und die Erfindung des geschriebenen Wortes als eine vor allem weibliche Kulturleistung, beruht seine Signifikanz für die aktuelle Diskussion auf der Tatsache, daß eine lateinische Passage, die die Praxis des cento-Schreibens rühmt, durch die umgestaltende Übersetzung ins Deutsche selbst als cento hervortritt. Es findet sich so eine gefällige Schlüssigkeit in Albrechts Betrachtung über die Natur literarischer Verwandlung. Die Verwandlung von Nicolosas Traktat wird zum einen durch gezielte Detailänderungen bewerkstelligt, zum anderen durch die Integration in den neuen Hochzeitskontext des ›Ehebüchleins‹. Was den Inhalt betrifft, so entfernt sich Albrecht sehr viel bereitwilliger von seiner Vorlage als Niklas von Wyle.42 Zur Erläuterung: Obwohl alle drei, Nicolosa, Niklas and Albrecht, die Diskussion mit dem Lob der weiblichen Kreativität anfangen, bestens veranschaulicht durch die Erfindung des Schreibens durch Isis (ägyptische Schrift) und durch Nicostrata (römische Schrift), gehen danach Nicolosa und Niklas von Wyle schnell zu anderen weiblichen Errungenschaften über, insbesondere der Erfindung des Webens durch Minerva und der Einführung der Ernte durch Ceres. Albrecht dagegen bleibt bei seinem eigentlichen Thema des Schreibens und verlegt die bei Nicolosa sehr viel später auftretenden Beispiele weiblicher Autorschaft (Sappho, Centona) und Rhetorik (Amesia) vor, um der Kraft und Reichweite der literarischen Sprache eine sehr viel substantiellere Passage widmen zu 41
42
Vivien Hacker, Die Konstruktion der weiblichen Natur als Domestizierung der Frau. Zu Aspekten der Weiblichkeit bei Nicolosa Sanuda, Niklas von Wyle und Albrecht von Eyb, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997, hg. von Alan Robertshaw /Gerhard Wolf, Tübingen 1999, S. 139–149. Hacker [Anm. 41], S. 146.
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Annette Volfing
können. Dennoch führt er noch weitere Beispiele für Autorschaft und (richterliche) Sprachgewalt an: Isis die fraw hat nit allein die ersten buchtaben in egypten sunder auch wie das erttrich zupawen sey vnd den gebrauch des flachs erfunden So hat Nicostrata die auch Carmentis geheißen ist die lateinischen buchstaben erfunden vnd dieselben zusammen e fugen gelert Cornelia hat vil lateinisch brieff vnnd Epistole geticht vnd geschriben die nach irem tode gebraucht worden sein Aspasia ist vast ein gelerte vnd wolredende fraw gewest also das sich Socrates nit geschamet hat etlich kunst von ir zulernen So o hat Centona vil geschrifft aus dem poeten virgilio auff die alten vnd neuen ee vnd auff e lob gotes gefuret vnd gewendet Amesia die do ein menlichen mut gehabt hat Gaia afrania Calphurnia vnd Tanaquill haven vor den gewaltigen zu Rome in vund auswendig der gericht geredet vnd gehandelt vnd manchen von schulde vnd vnschulden erledigt (39b, S. 82)43
Darüberhinaus besitzt Albrechts ›Lob der frawen‹, selbst wenn sich seine Übersetzung allem Anschein nach genau an die Vorlage hält, eine einzigartige dichterische Tiefgründigkeit, die sich aus der Nebeneinanderstellung dieses Materials mit den anderen Komponenten des Ehebüchleins ergibt. Vornehmlich die hier zugrundeliegende Metapher des literarischen Hochzeitsfestes regt zur Reflexion über die Vorgänge des Schreibens, Kompilierens und Übersetzens in einer Weise an, die nicht nur dem programmatischen Lob des ethischen und aesthetischen Potentials des geschriebenen Wortes Resonanz verleiht – e
e
Wann wir lesen . das nichtz grosers . nichtz wirdigers vnd nichtz nuczers dem menschlichen geschlecht dann kunst der geschrifft geben ist . durch die kunst werd o wir vnderweist gen vnns vnd anderen recht zuthun ein gemeinen nutz zufudern vnd e ein andechtiges seligs leben zufuren vnd mag keiner recht weys gesein der sollicher o e kunst der geschriffte vnkundig vnd lere ist [...]. So ist das offenlich das alle erkannte nuß gotlicher vnd menschlicher dingen vnd alle weyßheit in der kunst der geschrifft ist begriffen (39a-b, S. 81–82) –
sondern auch den Errungenschaften individueller vorbildlicher Persönlichkeiten, wofür Centona ein typisches Beispiel abgibt. Centona ist ein anderer Name für die christliche Dichterin Faltonia Betitia Proba (4. Jh.), die ein cento des Vergil schuf, d. h. eine Neubearbeitung seiner Verse, die einen Schöpfungsbericht und ein Leben Jesu zum Inhalt hatte.44 Während die literarischen Leistun43
44
Das ›Lob der frawen‹ endet auch mit einem Tribut an ein zeitgenössisches Vorbild an literarischer und linguistischer Kompetenz, namentlich Barbara von Montua, die nicht e nur für ihre Tugend im allgemeinen und ihr Wissen der poeten vnd naturlichen meir stern (40 , S. 83) gelobt wird, sondern im besonderen dafür, daß sie vier Sprachen beherrschte und sich problemlos zwischen diesen hin und her wechseln konnte. Während eine solche Mehrsprachigkeit offensichtlich den Zugang zu einer größeren Vielfalt literarischer Texte ermöglichte, darf man vielleicht davon ausgehen, daß Barbara auch ein gewisses Verständnis vom Vorgang des Übersetzens als Verwandlung und Neu-Erschaffung hatte und so Albrechts Würdigung zu schätzen wußte. Zu Probas Werk siehe Filippo Ermini, Il centone di Proba e la poesia centonaria latina, Rom 1909. Proba/Centona wird von Isidor von Sevilla erwähnt, Etymologi-
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gen von Albrecht von Eyb und Centona/Proba sich offensichtlich in vieler Hinsicht unterscheiden, unterstreicht die Beschreibung des ›Ehebüchleins‹ als cento die Tatsache, daß in beiden Fällen bereits existierende literarische Korpora durch die Auferlegung einer neuen Bedeutung und eines neuen Kontextes »verwandelt« werden – und daß es daher triftige Gründe gibt, diesen Vorgang mit den wunderbaren Geschehenissen der Hochzeit zu Kana zu vergleichen.45 Es sollte festgestellt werden, daß in beiden Fällen der resultierende »Wein«, wenn er auch im allgemeinen der christlichen Glaubens- und Sittenlehre folgt, auf keinen Fall im hermeneutischen Sinne des Wortes, wie es hier diskutiert wurde, spiritualis ist. Ein Leben Jesu ist an sich historialis zu verstehen, selbst wenn es aus den Hexametern des Vergils konstruiert wurde, wie eben auch der Hochzeitsaspekt in Albrechts Material nicht ausreicht, eine »innere« oder »geistliche« Bedeutungsebene zu postulieren. De facto haben darüber hinaus in beiden Fällen intellektuelle und dichterische Erwägungen Priorität vor der vordergründig christlichen Botschaft. In einem eigenwilligen Unterfangen wie dem, durch eine Wiederaufbereitung Vergils ein Leben Jesu zu produzieren, wird sich die Aufmerksamkeit der Leserschaft zwangsläufig mehr auf die Kunstfertigkeit richten, mit der das Problem gelöst wird als auf den neuen Inhalt an sich. Ganz ähnlich basiert im Falle des ›Ehebüchleins‹ der Genuß, der dem Hochzeitsgast geboten wird, nicht in erster Linie auf der Würdigung der moralischen Rechtschaffenheit der jeweiligen dargebotenen Belehrung. Vielmehr handelt es sich in erster Linie um einen ästethischen Genuß, der sich aus dem kunstvollen Verflechten verschiedener Arten von Diskurs ergibt, aus dem Reichtum und der Vielfalt des Anschauungsmaterials und vor allen Dingen aus der Bildung und Gewandheit des literarischen Gastgebers, der die Rollen des Erzählers, des Kompilators und des Übersetzers in sich vereint.
45
arvm libri XX [Anm. 26], I.39.26, und in größerer Ausführlichkeit sowohl von Boccaccio (vgl. De claris mulieribus. Deutsch übersetzt von Stainhöwel, hg. von Karl Drescher, Tübingen 1895 (BLVS 205), Kap. 92, S. 290–292) als auch von Christine de Pizan (Le Livre de la Cite´ des Dames; vgl. The Book of the City of Ladies, übersetzt von Earl Jeffrey Richards, London 1982, I.29.1, S. 65–67; Alfred Jeanroy, Boaccace et Christine de Pisan, De claris mulieribus, principale source du Livre de la Cite´ des Dames, Romania 48 [1922], S. 92–105). Vgl. Hermann [Anm. 1], S. 332.
Sebastian Coxon
Gelächter und Gesundheit Humanistische Thematik im ›Quacksalber‹ des Hans Folz?
Der programmatische Wert von Witz und Lachen in der italienischen Renaissance und im nordeuropäischen Humanismus läßt sich mehreren Texten des 15. und 16. Jahrhunderts entnehmen. Neue gesellschaftliche Vorbilder werden etwa von Giovanus Pontanus (›De sermone‹ [1499]) oder, im ausgeprägt höfischen Kontext, von Baldesar Castiglione (›Il libro del cortegiano‹ [1528]) unter dem Begriff des vir facetus formuliert.1 Die Frage nach der Bedeutung des Lachens in der Poetik wird wieder ernsthaft und nach antikem Muster behandelt;2 und auf dem Gebiet literarischer Praxis werden Sammlungen komischer Anekdoten, die zumeist witzige Redegewandtheit (das facetum dictum) veranschaulichen, nach den höchsten Ansprüchen lateinischer Stilkunst kompiliert, so etwa von Poggio Bracciolini (›Facetiae‹ [Erstdruck 1470]) und später in Deutschland von Heinrich Bebel (›Facetiae‹ [1508/1512]).3 Die idealogische Bedeutung witzigen, zur Entspannung dienenden Tischgesprächs schlägt sich ferner in den Kolloquien des Erasmus nieder: vor allem in seinem ›Convivium fabulosum‹ (1524), wo Polymythus und seine Freunde Bonmots und komische Erzählungen untereinander austauschen.4 1 2
3
4
Georg Luck, Vir facetus. Renaissance Ideal, Studies in Philology 55 (1958), S. 107– 121. Il riso nelle poetiche rinascimentali, hg. von Enrico Musacchio/Sandro Cordeschi, Bologne 1985 (Universale Il Portolano 21). Vgl. auch Andreas Kablitz, Lachen und Komik als Gegenstand frühneuzeitlicher Theoriebildung, in: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart, hg. von Lothar Fietz [u.a.], Tübingen 1996, S. 123–153. Barbara C. Bowen, Renaissance Collections of facetiae, 1344–1490. A New Listing, Renaissance Quarterly 39 (1986), S. 1–15, 263–275; Wilfried Barner, Überlegungen zur Funktionsgeschichte der Fazetien, in: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 8), S. 287–310; Gerd Dicke, Fazetieren. Ein Konversationstyp der italienischen Renaissance und seine deutsche Rezeption im 15. und 16. Jahrhundert, in: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001, hg. von Eckart Conrad Lutz [u. a.], Tübingen 2005, S. 155–188. Vgl. Burghart Wachinger, Convivium fabulosum. Erzählen bei Tisch im 15. und 16. Jahrhundert, besonders in der Mensa philosophica und bei Erasmus und Luther, in: Haug/Wachinger [Anm. 3], S. 256–286.
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Sebastian Coxon
Der intellektuellen Aufwertung von Komik und Witz aufseiten der Humanisten lag die Überzeugung zugrunde, daß körperliches Gelächter gesundheitsfördernd wirke. Man berief sich in diesem Zusammenhang auf keine geringer Autorität als die des Hippokrates, dem die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wieder entdeckte wichtigste schriftliche Quelle zum lachenden Philosophen Demokrit – Pseudo-Hippokratischer Brief Nr. 17 – zugeschrieben wurde.5 Zum ersten Mal seit der Antike wurde nun auch das Lachen als physiologisches Phänomen ausdrücklich diskutiert;6 und gegen Ende des 16. Jahrhunderts hat die medizinische Schule von Montpellier, an der natürlich auch Rabelais tätig war, eine ausführliche Abhandlung über dieses Thema hervorgebracht: Laurent Jouberts ›Traite´ du ris‹ (1579).7 Auffällig dabei ist, wie im medizinischen Umfeld die unmittelbare Heilkraft des körperlichen Lachens hervorgehoben wird. So führt Joubert im dritten Buch des ›Traite´ du ris‹, unter der Überschrift Quel bien apporte le Ris, e si quelque malade peut guerir a` force de rire (Kapitel 14), drei Anekdoten auf, in denen Schwerkranke durch plötzliches Auflachen über die Possen zahmer Affen geheilt werden.8 Ein Jahrzehnt später werden auch mehrere ähnlicher Fälle von Johann Fischart im Vorwort zu seiner Rabelais-Übersetzung (›Geschichtsklitterung‹) aufgelistet, das eine Art medizinische Würdigung des Lachens in typisch derben Tönen schnell umreißt: Dann wißt ir nit von jenem Philosopho, der sich ab eins Affen Bossen gesund lacht, alß er sahe ihne sein Doctor Häublin und Überparetlin vom Nagel ziehen, und es so ordenlich wie der best Dorff Calmäuser auffsetzen? und gewiß es sicht lächerlich, ich habs versucht. Ja, ich kenn noch einen, dem sein Melancholisch Kranckheit vergieng, da man ihm nur das Bachkanten Verßlin recitiert. In veteri cacabo medico faciente cacabo. Unnd der groß Spottvogel Erasmus, hat über den Episteln obscurorum virorum also gelacht, daß er ein sorgfältig geschwär, welchs man ihm sonst mit gefahr auffschlagen müssen, hat auffgelacht: unnd wie mancher kan durch wagendes schüttelens lachen einen ungeraden, Magenrumpeligen, Därmspenstigen und Bauchhängstigen Furtz vertreiben. (16,8–22)9
5
6
7
8 9
Vgl. Thomas Rütten, Demokrit – Lachender Philosoph und sanguinischer Melancholiker. Eine pseudohippokratische Geschichte, Leiden/New York 1992 (Mnemosyne 118). Grundlegend dazu: Heinz-Günter Schmitz, Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der Ars Iocandi im 16. Jahrhundert, Hildesheim/New York 1972 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken B:2), S. 91–183. Ursula Link-Heer, Physiologie und Affektenlehre des Lachens im Zeitalter Rabelais’. Der medico-philosophische ›Traite´ du ris‹ (1579) von Laurent Joubert, in: Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Werner Röcke/Helga Neumann, Paderborn 1999, S. 251–282. Vgl. auch Alison Williams, Sick Humour, Healthy Laughter. The Use of Medicine in Rabelais’s Jokes, MLR 101 (2006), S. 671–681. Text zitiert nach einem Erstdruck: Oxford, Bodley, Byw. U 9.4, S. 332ff. Text zitiert nach: Johann Fischart. Geschichtklitterung (Gargantua). Text der Ausgabe letzter Hand von 1590, hg. von Ute Nyssen, Düsseldorf 1963.
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Mit dem Beispiel des sich gesund lachenden Erasmus wird die humanistische Auffassung heilkräftigen Gelächters auf die Spitze getrieben. Dennoch darf nicht vergessen werden, wie weitverbreitet dieses Motiv schon im Strom der spätmittelalterlichen Überlieferung von Kleintexten und Kurzerzählungen war. Spätestens seit der Mitte des 13. Jahrhunderts taucht es im Zusammenhang des Fabliau- oder Exemplum-Typs des ›Arzt wider Willen‹ auf, wo ein unflätiger Bauer dazu gezwungen wird, eine bedauernswerte Prinzessin ärztlich zu behandeln, und sie tatsächlich durch sein tölpelhaftes Auftreten zu heilen vermag.10 Auf dem Gebiet literarischer Komik – d.h. Texte oder Textausschnitte, die in erster Linie Rezepientengelächter hervorrufen wollen11 – haben humanistische Denker und Schriftsteller offensichtlich nicht gezögert, auf mittelalterlichen (zuweilen auch volkssprachigen) Erzählstoff zurückzugreifen.12 Was bei diesem Prozeß am interessantesten erscheint, sind nicht die Quellen oder Vermittlungswege spezifischer Motive, sondern die Unterschiede in der jeweiligen Gestaltung und Funktionalisierung solchen literarischen Rohstoffes. Besonders schwierig zu entziffern in dieser Hinsicht sind diejenigen volkssprachigen Varianten eines Erzählmotivs (wie des heilenden Gelächters), die erst im späten Mittelalter entstanden und bei denen ›fremde‹ Einflüsse aus humanistischen Kreisen nicht unbedingt auszuschließen sind. Ein Beispiel dafür ist der ›Quacksalber‹ von Hans Folz, der im Nürnberg des späten 15. Jahrhunderts, einer Zeit reger humanistischer Betätigung also, komponiert wurde13 und eine hervorragende literarische Inszenierung heilkräftigen Gelächters beinhaltet. Folz (1435/40–1513), der von der Mediävistik als zutiefst reaktionär eingestuft wird, hat die neue Technologie des Buchdrucks immerhin der mittelalterlichen literarischen Tradition des Schwankmäres dienstbar gemacht.14 Unter seinen schwankhaften Reimpaardichtungen ist der ›Quacksalber‹ sicherlich eine der anspruchsvollsten. Inwiefern die thematische Zusammenstellung von Gelächter und Gesundheit im ›Quacksalber‹ textintern erklärt werden kann, und ob sich 10
11 12
13
14
Lateinische Bearbeitungen dieser Geschichte befinden sich etwa bei Jacques de Vitry und in der ›Compilatio singularis exemplorum‹ (Ende des 13. Jahrhunderts); volkssprachige Fassungen reichen von ›Le Vilain mire‹ (um 1250) und – im deutschsprachigen Bereich – Gerhards von Minden ›Bauern als Arzt‹ (spätes 13. Jahrhundert) bis in die Frühe Neuzeit (vgl. ›Le Me´decin malgre´ lui‹ von Molie`re [1666]); vgl. Christine Shojaei Kawan, Lachen. Zum Lachen bringen, EdM 8 (1996), Sp. 700–707. Vgl. Andreas Kablitz, Komik, komisch, 3RL II, S 289–294. Wahrscheinlich machen läßt sich das sogar für Erasmus; vgl. Marcel Bataillon, Erasme conteur, folklore et invention narrative, in: Me´langes de langue et de litte´rature me´die´vales offerts a` Pierre Le Gentil, Paris 1973, S. 85–104. Der Text wird lediglich in einem Nachdruck von Hans Stuchs (Nürnberg, 1520) überliefert. Vgl. Hans Folz. Die Reimpaarsprüche, hg. von Hanns Fischer, München 1961 (Mtu 1), S. XX. Alle Folz-Texte werden im folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. Zum Folz als Drucker vgl. Ursula Rautenberg, Das Werk als Ware. Der Nürnberger Kleindrucker Hans Folz, Iasl 24 (1999), S. 1–40.
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humanistisch gefärbte Vorstellungen dabei bemerkbar machen, soll in einer Reihe von näheren Textanalysen erschlossen werden.
I. Der schalkhafte Ich-Erzähler Ein junger Wundarzt fährt zum ersten Mal aus und kommt zu einem Dorf. Dort vermag er eine reiche Bäuerin zu überzeugen, daß er das Bauchweh ihres Kleinkindes gelindert habe. Die dankbare Mutter weist ihn daraufhin zu einem schwerkranken Bauern, den er unwillkürlich heilt. Auf dem Jahrmarkt in einer gewstat praktiziert er seine Medizin auf eigenartige Weise weiter, indem er einer Krämerin durch ein Abführmittel wieder zu ihrem verlorenen Esel verhilft. Schließlich begegnet er einem an erbgrint leidenden Edelmann, der ihn auf sein Schloß schickt. Nach einem Streitgespräch mit dem Pförtner erzwingt sich der Quacksalber listig den Eintritt. Ähnlich geht es auch innerhalb der Burg zu, wenn der Gast Suppe, Wein und Schlafplatz (im Ehebett!) für sich kauft, um nach jeweiligem Genuß Koch, Kellermeister und Schloßherrin geschickt um ihren Lohn zu prellen. Am nächsten Morgen, nach nochmaliger Auseinandersetzung mit Koch und Kellermeister, will der Quacksalber möglichst schnell entkommen, trifft jedoch bald wieder auf den Schloßherrn, dem er eine äußerst unappetitliche Salbe auf den Kopf appliziert. Bis zum nächsten Tag solle der arme Patient sein Kopfpflaster unangetastet lassen. Erst als sich seine Frau über den furchtbaren Gestank aufregt, wird dieser schändliche Betrug entdeckt, und das ganze Ausmaß des schwankhaften Verhaltens des längst verschwundenen Arztes tritt allmählich zutage.
Ungewöhnlich an diesem Schwankmäre wirkt erstens die Perspektive des IchErzählers, die, während sie für Minnereden charakteristisch ist, nur in einer sehr beschränkten Anzahl von spätmittelalterlichen Mären durchgehend verwendet wird.15 In diesen Texten geht es mit wenigen Ausnahmen um minne und zwar zumeist um die sexuelle Erniedrigung des (männlichen) Ich-Erzählers als Liebesnarren: sei es, daß er zugunsten eines Nebenbuhlers verschmäht wird;16 sei es, daß er sich nach Geschlechtsverkehr die Hohnworte seiner Liebhaberin gefallen lassen muß.17 Ansätze zu einer thematischen Umorientierung liegen anscheinend im sehr 15
16
17
Vgl. die grundlegende Diskussion dieses kleinen Märenkorpus bei Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen, München 1985 (Mtu 87), S. 75–94. Diese Erzählhaltung läßt sich auch in mehreren von Hanns Fischers »Grenzfällen« wie ›Die Werbung im Stall‹ von Hans Folz belegen; vgl. Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage besorgt von Johannes Janota, Tübingen 1983, S. 72–77; Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter, S. 495–509. Vgl. etwa ›Liebesabenteuer in Konstanz‹: ich saß also in meiner zech. / mir ward vor ängsten tun der graus: / si was hin in des pfarrers haus / und lag im pfarrhof über nacht. / der teufel hett des schimpfs gelacht (V. 112–116). Text zitiert nach: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. von Hanns Fischer, München 1966 (MTU 12), S. 384–387. Vgl. etwa Hans Rosenplüt, ›Der Barbier‹: do fieng die frau an und ward lachen, / si
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fragmentarischen ›Landstreicher im Hurenhaus‹ vor,18 wo ein mittelloser IchErzähler einen (unehrlichen) Weg aus seiner Notlage finden kann: ich cham hindan mit gutem fug, / silbers und golds hett ich genug; / das hett ich mit der hurn verdient ([Fragment B] V. 2ff.). Erst recht aber im ›Quacksalber‹ des Hans Folz wird ein schalkhafter Ich-Erzähler greifbar, der darüber berichtet, wie er einmal seine verschiedenen Gegenspieler, einem wahren Schwankhelden gleich, sowohl um des materiellen Lohns willen als auch aus reiner Schadenfreude zu betrügen wußte. Dabei spielt das Sexuelle in den Abenteuern dieses Quacksalbers fast keine Rolle. Ein einziges Mal schläft der Ich-Erzähler mit einer Frau, in der Übernachtungsszene auf dem Schloß, und bekennt dabei komisch-ängstlich seine Erleichterung, daß seine Gastgeberin ihn nicht verführen wollte: Got danck yr noch, ich schlieff mit ru, / Das sye mir nye keyn wort redt zu (V. 171f.). Dagegen sind Derbheiten bzw. Obszönitäten skatologischer Natur durchaus vorhanden. Insofern paßt sich Folz’ Text einem ungeschriebenen Gesetz der spätmittelalterlichen deutschen Schwankliteratur an, nach dem sich Sexuelles und Skatologisches eher ausschließen.19 Warum gerade fäkale Komik im ›Quacksalber‹ so privilegiert ist, müßte noch erörtert werden. Die Literarizität dieser Erzählung zeigt sich ferner in ihrer strengen Struktur und motivischen Dichte. Die in den ersten drei Episoden durch List und Zufall erworbenen Gegenstände von Löffel (V. 26), Becher (V. 46) und Beutel (V. 81) werden in der umständlicheren vierten Episode, dem Betrug eines Edelmannes mitsamt seinem Haushalt, vom Quacksalber wieder instrumentalisiert, um in der vorübergehenden Abwesenheit des Schloßherrn Suppe, Wein und Eintritt ins eheliche Schlafgemach zu erwerben. Diesen Handlungsrahmen füllt Folz gleichzeitig mit einer Reihe bekannter Motive aus Exempel-Tradition und spätmittelalterlicher komischer Literatur aus, die eigenständig aufgearbeitet und erweitert werden.20 Als zum Beispiel der Erzähler sich der Burg des Edelmannes nähert, entpuppt er sich als ein zweiter Markolf:
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sprach: »maister, ir seind erloschen, / eur flegel der hat außgetroschen. / die kunst habt ir nit wol gelert, / wann irs gar übel haben bewert. / der euch die kunst gelernet hat, / dem laufend nach, stecht in zu tod.« ([Fassung I] V. 106–112). Text zitiert nach: Fischer [Anm. 16], S. 144–61. Vgl. auch Hans Folz, ›Werbung im Stall‹: In dem der schimpff sich endet doch. / Do sprach sie: »du hastz wol geschickt. / Mich hat ein floch offt wirß gezwickt, / Wan du mich hast auf diser fart. / Zum negsten mü dich nit so hart.« / Mit schant ich mich von danen macht (V. 190–195). ›Der Landstreicher im Hurenhaus‹ gehört zu den Erzählungen der wichtigen Kaufringer-Handschrift Cgm 270 (auf 1464 datiert), die vermutlich im späteren 16. Jahrhundert verstümmelt worden sind; vgl. Fischer [Anm. 15], S. 276. Der Text wird zitiert nach: Fischer [Anm. 16], S. 421f. Vgl. Kyra Heidemann, Grob und teutsch mit nammen beschryben. Überlegungen zum Anstößigen in der Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts, in: Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und früher Neuzeit, hg. von Hans-Jürgen Bachorski, Trier 1991 (LIR- 1), S. 415–426. Vgl. die Auflistungen bei Fritz Langensiepen, Tradition und Vermittlung. Literaturgeschichtliche und didaktische Untersuchungen zu Hans Folz, Berlin 1980 (Philologische Studien und Quellen 102), S. 31; Ziegeler [Anm. 15], S. 90f.
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Sebastian Coxon Und als ich zu der purg mich lenckt Und neben einer stawden ging, Ich ein schloffenden hasen fing. Den pracht ich mit mir pys anß thor Und klopfft. man fragt: »wer ist dovor?« Ich sprach: »einer, der heraussen ist.« Er sprach: »sag, wer du daussen pist.« Ich sprach: »einr, der gern wer hineyn.« Er sprach: »du magst ein esel sein.« Ich sprach: »dein muter ein eselin. Ich was nit ungern pey yr in.« Dan der pfortner und jeger peyd Machten kürczlichen ein beschyed: Der jeger solt die hund ablan, Pyß der pfortner het auffgethan. Und als das thor geöffnet wart, Die hund an mich schnel an der fart. Behend liß ich meyn hasen varn: Die hund hynnach an alles sparn. Die zwen wurden mich eylens fragen, Wem doch die hund nach theten jagen. Ich sprach: »dem, das yn lawffet vor.« Sye sprachen: »was ist dan yr spor?« Ich sprach: »das, dem sie lauffen noch.« (V. 96–119)
Dieser Passus lehnt sich an den sogenannten Hasen- oder Hundeschwank an, der zum Kern des Erzählteils des ›Dialogus Salomonis et Marcolfi‹ gehörte und mit unterschiedlicher Detailfreude in dessen volkssprachlichen Bearbeitungen, wie etwa der von Marcus Ayrer in Nürnberg gedruckten Prosa-Übersetzung von 1487, wiedergegeben wurde.21 Folz läßt seinen Erzähler die Listigkeit Markolfs sogar überbieten, denn der Quacksalber fängt seinen Hasen in der Wildnis und weicht den Fragen seiner feindlich gesinnten Gesprächspartner mit meh21
Michael Curschmann, Marcolfus deutsch. Mit einem Faksimile des Prosa-Drucks von M. Ayrer (1487), in: Haug/Wachinger [Anm. 3], S. 151–255, hier S. 160. Vgl. ›Dialogus Salomonis et Marcolfi‹ cap. IX: Insequenti autem die Marcolfus de lectulo suo surgens cogitabat, quomodo in curiam regis intrare posset, sic ut eum canes regis non comederent. Et abiens emit leporem viuum et posuit sub veste sua, sicque reuersus est ad curiam regis. Quem cum serui Salomonis uidissent, canes regis super eum eiecerunt. Marcolfus vero leporem emisit. Protinus canes Marcolfum relinquentes leporem insecuti sunt. Et sic Marcolfus peruenit ad regem. Cumque rex uidisset eum, dixit ei: »Quis te huc intromisit?« Marcolfus: »Calliditas, non misericordia.« (31,14–32,3). Text zitiert nach: Salomon et Marcolfus. Kritischer Text mit Einleitung, Anmerkungen, Übersicht über die Sprüche, Namen- und Wörterverzeichnis, hg. von Walter Benary, Heidelberg 1914 (Sammlung mittellateinischer Texte 8). Gerade den Hundeschwank hat Folz als einen von mehreren wohl unspielbaren Markolfstreichen aus seinem ›Spiel von Salomon und dem Bauern Markolf‹ ausgelassen; vgl. Sabine Griese, Salomon und Markolf. Ein literarischer Komplex im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Studien zu Überlieferung und Interpretation, Tübingen 1999 (Hermaea NF 81), S. 239–256, hier S. 247.
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reren absurden und zum Teil auch grobbeleidigenden Äußerungen hartnäckig aus. Daß der Edelmann selbst den Quacksalber auf sein Schloß eingeladen hat, scheint hier und im folgenden belanglos zu sein. Die Akzente verschieben sich jetzt auf den provozierenden Auftritt des Ich-Erzählers, der sich in einer Reihe antagonistischer Begegnungen behaupten muß, da jedes Mitglied dieses Haushalts in der kurzen Abwesenheit des Edelmannes auf eigenen Gewinn aus ist.22 Wie schon angedeutet, tragen die verschiedenen Typen der hier eingesetzten literarischen Komik zur Konstruktion einer außerordentlichen Erzähler-Figur bei. In Szenen, die etwa von Sprachkomik beherrscht werden, inszeniert sich der Ich-Erzähler als überlegener Schelm ohnegleichen. Im obenzitierten Gespräch vor dem Schloßtor gelingt es dem Quacksalber in gut Markolfischer Art, Torhüter und Jäger mit seinen Scheinantworten wiederholt zu frustrieren.23 Wortkomik spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Erniedrigung des zurückkehrenden Edelmannes, dessen ›ärztliche‹ Behandlung die unwahrscheinliche Vorbedingung einschließt, daß der Patient bis zum Abend nur ich weyß zwar wol (V. 239) sagen darf.24 Aufgrund dieser wiederholten Äußerung (V. 253, 256, 264) glauben alle Mitglieder des Haushaltes, daß ihr Herr über ihre 22
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Vgl. die erste Episode (V. 93–193) am Hof des Herzogs von Österreich in Philipp Frankfurters ›Pfarrer vom Kalenberg‹, wo ein habgieriger Torhüter vom Schwankhelden hereingelegt wird. Text zitiert nach: Die Geschichte des Pfarrers vom Kalenberg, hg. von Viktor Dollmayr, Halle 1906 (NDL 212–214). Der Hasenschwank in der von Ayrer gedruckten volkssprachlichen Fassung des ›Dialogus‹ weist ein analoges komisches Gespräch auf: vnd do er also ward ausgetriben do gedacht er wie er in des künigs hof wider mocht kumen das in die hundt nit zu rissen. Vnd marcolfus ging hin vnd kaufft ein lebendigen hasen vnd verparg den unter sein cleidt vnd ging wider zu hof vnd do in des künigs diener sahen do hetzten sy die hundt alle an in vnd meinten die hundt solten in zureissen. Do liess marcolfus den hasen lauffen vnd zuhant verliessen in die hundt vnd liefen dem hasen nach also kam marcolfus wider für den künig. Do in der künig sah do sprach er was iagen dy hunt. marcolf sprach daz das sy fleucht. Salo. was ist daz daz sy fleucht. marcol. daz daz sy iagen (›Frag vnd antwort Salomonis und Marcolfi‹, 434–444). Text zitiert nach: Curschmann [Anm. 21], S. 240–255. Folz hat Dialoge böswilligen Mißverstehens in seinen Schwankmären mehrmals gestaltet, deren sprachliche Komik allerdings etwas anders funktioniert; vgl. ›Der witzige Landstreicher‹: Der prister: »Bescheyd mich doch: was prichet dir?« / Der freyheit: »Was ist von cleydung gancz an mir?« / Der herr: »So sag aber: was ligt dir an? / Laß hörn, kanstu mich noch verstan.« / Der freyheit: »Mein herr, das ich euch recht bescheyd: / Es ist ein alltes nidercleyd, / Darob ein pös zurissens hembd, / Dem zwor die lews nie woren frembd.« / Der herr: »Kurcz ab, sag mir: wo pistu kranck?« / Der freyheit »Mein herr, allhie auf diser panck / Pin ich am krencksten, süllt ir glauben« (V. 31–41). Vgl. die erste Konstantinopel-Episode im ›Pfaffen Amis‹ des Strickers (V. 1547–2042), in der Amis einen kahlen Maurer für einen Bischof ausgeben kann: »ir dürfet anders kunnet niht,« / sprach der phaffe Amis, / »wan daz ir tuot einen wis: / sprechet ein wort als ich iu sage. / swaz man dise zwene tage/mit iu rede oder tuo, / da entuot anders niht zuo / wan daz ir sprechet: ›es ist war‹ [...]« (V. 1676–1683). Text zitiert nach: Des Strickers Pfaffe Amis, hg. von K. Kamihara, Göppingen 1978 (GAG 233).
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Vergehen und Schande schon Bescheid weiß, und geraten in eine Panik, die den Edelmann staunen läßt (Der herr dacht: »was narnweyß ist das?« V. 261), die die chaotischen Zustände auf dem Schloß verschlimmert und damit die Entdekkung des schändlichen Pflasters auf seinem Kopf aufschiebt. Nach Bergson wäre der Schloßherr in dieser Szenenfolge als typisches, komisches Opfer einzustufen, das, seiner Menschlichkeit größtenteils beraubt, sich ›mechanisch‹ oder als Marionette bewegt.25 Die sprachliche Kontrolle, die der Quacksalber in diesem Abenteuer zuletzt ausübt, bezeichnet eine fast totale Dominanz über Andere. In jenen Episoden andererseits, wo der Ich-Erzähler als tölpelhafter Arzt auftritt, ist die Komik eher zweischneidig. So geht der Quacksalber einfach davon aus, daß die um ihren verlorenen Esel schreiende Krämerin schreckliches Bauchweh habe, und gibt ihr ohne weiteres ein Purgativmittel. Daß sie als unmittelbare Folge davon ihr Tier in einem ruhigen Winkel tatsächlich findet und dem Arzt herzlich dafür dankt, läßt beide sodann als lächerlich und unverständig erscheinen.26 Gewiß soll Folz’ Quacksalber-Figur vor dem Hintergrund spätmittelalterlicher satirischer Tradition gesehen werden.27 Medizinische Satire wurde etwa im Nürnberg des späten 15. und 16. Jahrhunderts im Rahmen der Fastnachtspieltradition durch die sogenannten Arztspiele vermittelt, in denen fragwürdige Ärzte ihre scheußlichen Medikamente an Bauern vermitteln, welche immer auch ein mit Kot gefülltes Harnglas zur Urinanalyse mitbringen.28 Trotz des ubiquitären Motivs der Harnschau (V. 29–34) machen dennoch die gravierenden Unterschiede auf der Handlungsebene im ›Quacksalber‹ deutlich, daß sich Folz hier um einen anderen Typus des komischen Arztes bemüht hat. Kennzeichnend dafür sind nun die skatologischen Streiche des Ich-Erzählers, der sich auch nicht davor zurückscheut, mit seinen eigenen Exkrementen schalkhaft zu Werke zu gehen, wie bei der Behandlung der Grindsalbe des Edelmannes: Seyn hawbt enplöst er und lyß sehen Seyns grindes flader und den test. Ich lacht heymlich und dacht zulest: 25 26
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Henri Bergson, Le rire. Essai sur la signification du comique, Paris 1899/1900, S. 59ff. Ich kam zu ir und podt ir heyl./Sye dancket mir und sprach zustunden,/Wie sye irn esel schon het funden/Durch mein purgaczen, die sie aß./Doch dacht ich mir: »was mer seind das?«/Dan sie schenckt mir ein pewtel rot/Und pat mich darpey ser durch got,/Das ich sie die purgacz wolt lern,/Wan ir mer stück verloren wern./Das thet ich und wart ir zu willen (V. 76–85). Werner Röcke, Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter, München 1987 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 6), S. 244. Vgl. Carl I. Hammer (Jr), The Doctor in the Late Medieval »Arztspiel«, GLL 24 (1970–1971), S. 244–256.
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»Was wolstu sunder salb zu kauffen? Es hort der dreck auff den misthauffen.« Ich nam sein haub, die er aufftrug, Und schüt ym drein des drecks gleich gnug Und knüpfft ymß reyn umb seyn kopff, Das nit abging ein eyniger dropff. (V. 242–250)
Nur wenige Schwankmären weisen ähnliche Stellen fäkaler Komik auf.29 Es ist, als ob Folz seinen Quacksalber mit Zügen eines Schalksnarren ausgestattet hätte, dessen Status als Außenseiter in spätmittelalterlicher Kunst (und Realität?) nicht zuletzt durch drastische Körpergestik und die freie Instrumentalisierung des Fäkalen bestätigt wurde.30 Damit wird eine enorme Ambiguisierung des Ich-Erzählers erreicht, der Rezipientengelächter sowohl auf Andere (die Opfer seiner Streiche) als auch auf sich selbst lenkt. In skatologischer Hinsicht bietet sich als Vergleichstext natürlich der ›Ulenspiegel‹ an, der ja eine Fülle solcher Inszenierungen enthält.31 Anders als in diesem späteren Schwankroman jedoch läßt sich im ›Quacksalber‹ die Freude am Skatologisch-Obszönen nur in der spezifischen Figurenkonstellation von Arzt und Patienten feststellen. Das heißt: obwohl die auf den Ich-Erzähler bezogene Komik in diesem Text mehrmals bis zum Äußersten getrieben wird, wird sie schließlich von der medizinischen Thematik wieder aufgefangen.
II. Gelächter und Gesundheit Die eigenartige Selbstinszenierung des Ich-Erzählers konstituiert sich weiter darin, daß innerhalb der Erzählwelt über den Quacksalber, und zwar auf gesundheitsbefördernde Weise, heftig gelacht wird: In seinem zweiten Abenteuer (V. 29–52) hält der Quacksalber ein vom Bauern eben gefülltes Harnglas dem Tageslicht entgegen und glaubt, etwas Unmögliches darin zu erkennen. Seine Diagnose (Das er ein karn mit mist hat gefressen [V. 34]) will er nur 29
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Erwähnenswerte Texte in diesem Zusammenhang sind Heinz des Kellners ›Konni‹ und ›Zweierlei Bettzeug‹ des sogenannten Schweizer Anonymus. Vgl. auch Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, S. 239f. u. 243. Vgl. Hans Rudolf Velten, Komische Körper. Hofnarren und die Dramaturgie des Lachens im späten Mittelalter, Zeitschrift für Germanistik NF 9 (2001), S. 292–317, hier S. 310ff. Die erste Episode im ›Quacksalber‹ (Das kindt ich auß der wigen nam/Und scheyß behendlich unter es [V. 14f.]) hat wahrscheinlich als Motivquelle für Historie 16 des Straßburger Eulenspiegelbuchs gedient; vgl. Jürgen Schulz-Grobert, Das Straßburger Eulenspiegelbuch. Studien zu entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen der ältesten Drucküberlieferung, Tübingen 1999 (Hermaea NF 83), S. 239f.
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der Frau seines Patienten verraten. Als sie ihn aber über die optische Täuschung aufklärt (Get dan mit mir zu dysem fenster./Ein karn mit myst ym hoff dort stat [V. 40f.]), bekommt der Bauer selber den törichten Fehler des Quacksalbers mit und wird – schemagemäß – von einem derartig starken Lachanfall (V. 43) ergriffen, daß ym im hals ein gschwer auffprast, / Daran er solt ersticket sein. (V. 44f.)
Motivgeschichtlich gesehen wird diese Situation heilkräftigen Gelächters aus mehreren weitverbreiteten Motiv- und Erzählvarianten (›Arzt wider Willen‹; ›Entlarvung eines Quacksalbers‹) zusammengesetzt, von denen zwei ausschlaggebend sind: heftiges Lachen als Heilmittel gegen ein gefährliches Halsgeschwür (wie Fischart ein Jahrhundert später von Erasmus zu berichten weiß); und alberne Diagnose in der Form der widersinnigen Harnschau. Unserer Episode am nächsten scheint einerseits also eine Erzählung aus der ›Mensa philosophica‹ (Erstdruck um 1480, aber möglicherweise schon zum Teil um 1350 entstanden),32 in der ein kranker Bischof durch die lächerliche Diagnose einer Frau geheilt wird: Post longum tempus contigit episcopum per apostema in gutture infirmari: que ad illum veniens cum circa lectum non nisi cussinos inveniret dixit: O domine nimis commedistis de cussinis: audiens hoc episcopus fuit provocatus ad risum: ex quo apostema gutturis fuit ruptum et sanies per os erupit et sanatus est. (IV, 44d, 22–27)33 [»Lange danach erkrankte der Bischof an einem Halsgeschwür. Die Frau kam zu ihm, und da sie um sein Bett herum nichts außer Kissen liegen sach, sagte sie: »Ach, mein Herr, Ihr habt zu viele Kissen gegessen.« Als er dies hörte, brach der Bischof in Gelächter aus, wodurch das Halsgeschwür aufplatzte. Eiteriges Blut floss ihm aus dem Mund, und er war geheilt.«]
Im Vergleich damit ist aber der Grund, aus dem der kranke Bauer im ›Quacksalber‹ lacht, wesentlich derber. In der Tat entspricht er dem komischen Höhepunkt einer lateinisch-deutschen Fassung des ›Arzt wider Willen‹, die in einer Sammelhandschrift (Bamberg, Msc. Theol. 186) aus der ersten Hälfte des 15. Jahr32 33
Mensa philosophica, hg. von Erwin Rauner/Burghart Wachinger, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 13), S. 207. Unter Nr. 44 (De medicis) im vierten Buch der ›Mensa philosophica‹ werden insgesamt vier Anekdoten (a−d) aufgelistet, von denen auch ›b‹ von einer komischen Fehldiagnose handelt: diesmal wird ein Patient beschuldigt, einen Esel aufgegessen zu haben. Vgl. auch Fazetie Nr. 109 bei Poggio Bracciolini: Semel ad rusticanum inopem hominem accessit, cui cum valetudinem pristinam se e vestigio restituturum promisisset si normam suam servaret, data nescio qua potione, abscessit, postridie reversurus. Cum rediisset, graviori morbo aeger afflictabatur. Hic homo stultus ac rudis causam nesciens, cum huc atque illuc deflexisset oculos nullasque eiusmodi reliquias vidisset, aestuans animo, tandem sub lectulo aselli clitellam conspexit. Tum clamare coepit e vestigio tandem se percipere cur deterius se haberet aeger: magnum excessum esse ab eo factum, quo mirabatur illum minime mortuum esse; assinum quippe aegrum comedisse asserebat, existimans sellam decocti asini, velut os carnis reliquias videri. In stultitia sua deprehensus homo ridiculus multos ad risum excitavit. Textzitat nach: Poggio Bracciolioni, Facezie, hg. von Stefano Pittaluga, Italien [sic] 1995, S. 118ff.
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hunderts überliefert ist: Tunc medicus respondit: Solt er aber nit kranck seyn? Es laden iij myst in seynem pauch auff eynen wagen! Quia per vitrum solummodo apparuit sibi.34 Grundprinzip aller der hier aufgeführten Erzählungen ist, daß der ›Arzt‹ seinen medizinischen Erfolg unwillkürlich erzielt.35 Die Harnschau-Mistkarren-Variante, die natürlich dem bäuerlichen Milieu völlig angebracht ist, hat sich Folz deswegen wohl auch angeboten, da sie den ›niederen‹ Grundton seines Märes nochmals verstärkt. Die thematische Bedeutung, die Folz dem Moment heftigen Gelächters in dieser Szene beimißt, wird allerdings erst an einem späteren Punkt im Handlungsverlauf klar, als sich der Edelmann und seine Frau die bösen Erfahrungen ihrer Diener schließlich erzählen lassen: Yeder wardt auff sein eydt gefragt, Das er die lawter warheyt sagt, Was sye mit mir begunnen heten; Welchs sie mit grossen forchten theten, Wan sie maynten, er wests vor gar, Des er als sprach: »ich weyß wol zwar.« Darumb liessen sye nicht dohinden. Do kunten herr noch fraw erwinden, Sye lachten meiner krumen sinn, In möcht der arß sein auffgekinn (V. 303–312)
Der Schloßherr und seine Frau überwinden ihre eigene Schmach, indem sie andere Opfer des Quacksalbers finden, die sie gründlich auslachen können. Dieses ›herrschaftliche‹ Gelächter stellt gleichzeitig ein Mittel dar, innerhalb des gestörten Haushaltes wieder Ordnung zu stiften. Das Ausmaß ihres Lachens wird durch einen groben metaphorischen Ausdruck angedeutet, der als Funktion der grundlegenden medizinischen Komik dieses Textes wohl auf Entleerung und Reinigung als Heilprozesse anspielen soll.36 Damit wird den lächer34
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Text zitiert nach: Volker Wendland, Ostermärchen und Ostergelächter. Brauchtümliche Kanzelrhetorik und ihre kulturkritische Würdigung seit dem ausgehenden Mittelalter, Frankfurt a. M. 1980 (Europäische Hochschulschriften I,306), S. 145f. In Erzählung Nr. 357 des ›Schimpf und Ernst‹ von Johannes Pauli (1519) hat sich gerade dieser Aspekt grundlegend geändert. Hier verkleidet sich ein kluger Arzt als stumpfsinniger Bauer, um seinen Patienten absichtlich ins Lachen zu bringen: Der o Buer stalt sich zu dem Fenster und besahe den Harn und sprach: »Juncker, mich wundert nit, das ir kranck sein. Ir haben ein Karren mit Mist und zwei Pferd und ein Knecht mit einer yßnen Kablen in dem Leib stecken.« [...] Und von der groben Ußo e legung fieng der Juncker an zu lachen von gantzem hertzen und kunt nit me uffhoren und ward gesunt. Text zitiert nach: Johannes Pauli. Schimpf und Ernst, hg. von Johannes Bolte, 2 Bde., Berlin 1924 (Alte Erzähler 1–2), Bd. 1, S. 215f. Daß V. 311f. auf eine gängige idiomatische Redewendung anspielen, suggeriert etwa die Erzählerbemerkung in der Arzt-Szene im ›Ring‹ Heinrich Wittenwilers, als Chrippenchra sich über Mätzli amüsiert: Der ward do lachent, daz er fartzet (V. 2116); Text zitiert nach: Heinrich Wittenwiler. Der Ring, hg. von Horst Brunner, Stuttgart 1999 (RUB 8749). Folz verwendet eine Extremform dieses Ausdrucks, die aber im breiteren thematischen Zusammenhang des Textes umfunktionalisiert wird.
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lichen Possen des Quacksalbers eine beinahe purgative Kraft zugeschrieben. In anderen Worten: Die Rehabilitation des adligen Ehepaares in dieser Szene bietet ein geistiges Gegenstück zur körperlichen Heilung des Bauern, die ebenfalls durch einen heftigen Lachanfall angesichts der Narrheit des Ich-Erzählers verursacht wird. Das heißt nichts anderes, als daß Folz das Lachen sowohl unter physiologischen als auch ›psychologischen‹ Gesichtspunkten aufgefaßt hat, und dieses ausgeprägt medizinische Verständnis sowie seine Bereitschaft ihm über komplementär angelegte narrative Inszenierungen literarischen Ausdruck zu geben, rückt den volkssprachigen Dichter wieder in die Nähe der neueren kulturgeschichtlichen Entwicklungen seines Zeitalters. Das Motiv des heilkräftigen Gelächters kann zwar in mehreren mittelalterlichen Kleintexten vor Folz belegt werden, aber in keinem von diesen wird das Lachen in solchem Maße thematisiert. Charakteristisch für diese Thematisierung im ›Quacksalber‹ ist es sogar, daß sie sich auch auf eine poetologische Ebene erstreckt.
III. Der signierte Text Entgegen seiner allgemeinen Praxis verzichtet Folz auf ein moralisierendes Schlußwort zu diesem Schwankmäre.37 Vielmehr scheint er darauf bedacht zu sein, die problematische Allwissenheit seines Ich-Erzählers zu begründen,38 vor allem im Bezug auf die Geschehnisse auf der Burg des Edelmannes, bevor die Autorschaft des Textes bekanntgegeben wird: Als mir die meydt hernach verjach, Do sie mich auff eym jarmarck sach. Von der ich dan erfragen thet, Wie sich all sach verloffen het. Von dyser erczney yecz nit mer: Spricht sich Hans Folcz barwierer. (V. 313–318)
So formelhaft die Verfassersignatur im letzten Vers auch sei,39 übt sie eine weitere literarische Funktion im unmittelbaren Kontext dieser spezifischen Ich37
38 39
Der Schluß des ›Witzigen Landstreichers‹ zeigt etwa, wie unverblümt Folz seinen derb-komischen Erzählungen eine Moral abzuringen vermag: Pey disem freyheit wellt verstan / All eygenwillig, falsch persan, / Die mit dem glauben fil welln schimpffen, / Das man mitnicht in sol gelimpffen / Sunder alls dötlich feindt verschmeen. / Wan sie gar leicht ein samen sehen / In einfeltiger menschen hercz, / Das leyb und sel dort pringet schmercz. / Hüt euch vor aller falschen ler: / Spricht Hans Folcz zu Nürmberg barwirer (V. 169–178). Ziegeler [Anm. 15], S. 88–92. Vgl. Sebastian Coxon, Risus auctoris? Zur Verfassersignatur in spätmittelalterlichen Schwankmären, in: Vir ingenio mirandus. Studies presented to John L. Flood, 2 Bde., Göppingen 2003 (GAG 710/1–2), Bd. 1, S. 243–261, hier S. 249–253.
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Erzählung aus. Denn mit der Aufrechterhaltung der außerliterarischen beruflichen Identität des Autors als barwierer, was unter anderem Tätigkeit auf dem Gebiet der Wundarznei voraussetzt, wird augenzwinkernd mit der Möglichkeit gespielt, daß im ›Quacksalber‹ autobiographische Elemente enthalten sind. Für die zeitgenössischen Rezipienten schwang dieser Unterton vielleicht sogar ab dem ersten Vers mit: Hort, do ich eyns von erst außzoch. Das hing wohl von der jeweiligen Kenntnis der Autorschaft des Märes ab. Gut vorstellbar wäre beispielsweise eine erste öffentliche Aufführungssituation, in der Folz selbst seine neue Erzählung einem Publikum vorlas, um gleich danach die davon in der eigenen Offizin hergestellten Drucke zum Kauf anzubieten.40 Daß Folz den von uns hier vermuteten Erzählgestus,41 er möchte seinen Nürnberger Mitbürgern einige echte Erlebnisse aus seiner frühen Wanderungszeit mitteilen, nicht ernstgenommen haben wollte, ist natürlich unzweifelhaft. In der auffälligen Aneignung spätmittelalterlicher komischer Motivik entlarvt sich der Text selbst als Fiktion und läßt sich daher als ein schöner Kunstgriff seitens eines etablierten volkssprachigen Handwerkdichters auffassen, der seine souveräne Beherrschung einer altbekannten Form literarischer Komik – des Schwankmäres – demonstrieren will. Immerhin ist es eher unwahrscheinlich, daß Folz dabei keinen Ansporn von außen erfuhr. Aus heutiger Sicht stellt diese Erzählung einerseits eine parodistische Realisierung des spätmittelalterlichen Phänomens schriftlicher Selbstzeugnisse wie etwa Familienchroniken oder selbstbezogener Einträge in Hausbücher und Stadtchroniken dar.42 Andererseits übt sie einen besonderen Reiz als laienhafte Antwort auf die gelehrte Idee einer wesentlichen Verbindung zwischen Medizin, Ethik und Literatur bzw. der Dichtkunst aus. Ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde diese Idee im deutschsprachigen Raum in einer immer größer werdenden Anzahl von Humanisten verkörpert, die sowohl die artes humanitatis als auch Medizin studierten und als tätige Ärzte ersten Ranges zugleich prominente Schriftsteller wurden. Im ›Quacksalber‹ dagegen werden die zwei sich ergänzenden Rollen von Arzt und Dichter durchgehend problematisiert, indem Folz seine eigene literarische Vorrangigkeit durch die Komik beweist, die er auf Kosten von sich selbst als lächerlich schlechtem Handwerksgesellen zu stiften weiß.43 Im Epilog schließlich läßt es sich mit Si40 41 42
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Freundliche Mitteilung von Horst Brunner (Würzburg). Vgl. aber auch Ziegeler [Anm. 16], S. 91. Einen Überblick über dieses Phänomen bietet folgender Sammelband: Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Klaus Arnold [u. a.], Bochum 1999 (Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit 1). Schön wäre es, wenn man den ›Quacksalber‹ für eine parodistische Nachahmung jener Anekdoten halten könnte, die in den (lateinischen) Wundarzneibüchern universitätsgebildeter Ärtzte des Mittelalters vorkommen und zumeist in der ersten Person von den eigenen Erfolgen (und den Mißerfolgen anderer Ärzte) berichten; vgl. Nancy G.
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cherheit nicht mehr entscheiden, was im vorletzten Vers mit erczney gemeint ist: des Autors ›Erzählung über Arznei‹, die ehemalige ›ärztliche Praxis‹ des Autors, die hier scherzhaft aufgesagt wird, oder die ›Erzählung als Arznei‹, die das Publikum selbst auf gesundheitsbefördernde Weise unterhalten soll.
IV. Schluß Aus weitverbreiteter mittelalterlicher Motivik zusammengebaut stellt der ›Quacksalber‹ gleichzeitig ein raffiniertes Spiel mit der Erzählform des Schwankmäres dar. Dazu gehört ein medizinisches Interesse an körperlichem Lachen, das geradezu humanistisch anmutet. Außertextliche Verbindungslinien zwischen dem Barbierer Hans Folz und dem Humanismus im spätmittelalterlichen Nürnberg lassen sich aber kaum mehr ziehen. Am konkretesten werden sie rezeptionsgeschichtlich greifbar, denn mindestens vier der heute in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrten Folz-Drucke (›Christ und Jude‹ [1479]; ›Das Römische Reich‹ [1480]; ›Die drei Studenten‹ [1480]; ›Pestregimen in Versen‹ [1482]) haben einmal zur imponierenden Bibliothek des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel (1440–1516) gehört.44 Zwar ist es nicht unwahrscheinlich, daß Schedel die derbe Schwankerzählung ›Die drei Studenten‹45 mitsamt anderen Folzschen Werken aus dem Nachlaß seines Schwiegervaters Anton Hallers (gest. 1497) erworben hat, der bekanntlich engeren Kontakt zu Folz pflegte.46 Aus dem entsprechenden Eintrag (Libri vulgares in lingua Theotonica) in einem eigenhändig geschriebenen Bibliothekskatalog (München, Bsb, Clm 263, fol. 126r–149v [um 1498]; fol. 151r–160r [um 1507]) geht jedoch hervor, daß Schedel neben geistlicher, historiographischer und heldenepischer Dichtung auch schwankhafte Unterhaltungsliteratur47 in der Volkssprache schätzte.48 In Nürnberg zur Zeit des Hans Folz und Hartmann
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Siraisi, Medieval and Early Renaissance Medicine. An Introduction to Knowledge and Practice, Chicago/London 1990, S. 170ff. Das hieße wohl aber die humanistischen Neigungen des Hans Folz strapazieren. Hanns Fischer, Hans Folz. Altes und Neues zur Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, ZfdA 95 (1966), S. 212–236, hier S. 220f. Vgl. vor allem die Szene (V. 358–393), in der der zweite Bonner Student sich Ercztische kleider (V. 359) anlegt, um nach obligatorischer Harnanalyse seine erschrockene Kontrahentin für schwanger erklären zu können. Fischer [Anm. 44], S. 219f. Vgl. Markus Fauser, Unterhaltung, 3RL III, S. 728ff. Centonovella von hundert lustiger fabel, durch Bocacium gemacht; getruckt. Ein puch der weißheit, mit figurem mangerley trestlich außgelegt und in beispil. Marcolfus. Der pfarrer vom Kalenberg. Der Neithart und Dietrich von Bernn und Hildebrant etc. (fol. 149r); zitiert nach: Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, hg. von Paul Ruf, Bd. 3, München 1932 (Mittelalterliche Bibliothekskata-
Gelächter und Gesundheit
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Schedel scheinen also die Interessen von Humanisten und weniger gebildeten volkssprachigen Dichtern auf dem Gebiet literarischer Komik ganz und gar nicht unvereinbar. Daher kann mindestens im Prinzip mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß Folz, als führender Produzent komischer Reimpaardichtung, humanistisch gefärbte Vorstellungen von Wert und Bedeutung des Lachens (auf welche Art auch immer) zur Kenntnis nahm. Wie dem auch sei, für die literaturgeschichtliche Einordnung des Folz ist es bedeutsam, daß Spott, Scherz und Lachen in mehreren seiner Schwankmären ausdrücklich dargestellt beziehungsweise diskutiert werden. Die ethischen Folgen des Scherzens werden auf Erzählerebene vor allem im Bezug auf Frauenverhalten erläutert: Gespotig weib und fürwicz meid / Komen fast selbs zu schanden beyd (›Die drei Studenten‹ [V. 505f.]); oder Dan pey diser materig wist, / Das nit leichtlich zu scherczen ist / Mit frawen (›Der Köhler als gedungener Liebhaber‹ [V. 127ff.]). Dieselbe Auffassung schlägt sich teilweise auch in der Erzählwelt einiger Folzscher Mären nieder, in denen eine illegitime Lachgemeinschaft von Frauen dargestellt wird, wie im ›Armen Bäcker‹.49 Für eine differenziertere narrative Gestaltung des Lachens spricht dagegen ein Text wie ›Die Hose des Buhlers‹, wo illegitimes weil falsches, an den Ehemann gerichtetes Frauengelächter zugleich die wesentliche Ambivalenz des Lachens als kommunikativer Ausdrucksform verdeutlicht.50 Szenen des bestrafenden Gelächters überwiegen in diesem Textkorpus, was bei der aggressiven Komik des Erzähltypus des Schwankmäres kaum verwunderlich ist. Das schließt aber andere Möglichkeiten keineswegs aus. Im ›Kuhdieb‹ wird kollektiver Spott auf Kosten eines einfältigen Bauern, der um Kuh, Mantel und Wein betrogen worden ist, dadurch entschärft, daß dieser über sich selbst zu lachen vermag, d.h. sich mit dem Urteil seiner gesellschaftlichen Umwelt in der Trinkstube einverstanden zeigt.51 In diesem Zusammenhang entpuppt sich die literarische Be-
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loge: Deutschland und die Schweiz 3/3), S. 833f. Der Eintrag führt auch mehrere Werke auf, die weiteren Folzschen Reimpaardichtungen bzw. deren Drucktiteln (vgl. Fischer [Anm. 13], S. XVI−XXXV) ziemlich genau zu entsprechen scheinen: Confectpuch. Von der juden messias und sust vil spruch mit reimen, mit eim tractetlein von der pestilenz etc. Damit wäre unter anderem ein zweites Schwankmäre (›Der falsche Messias‹) mit studentischem Protagonisten in Schedels Sammlung einzuordnen. In der Abwesenheit ihres Ehemannes spielt eine adlige Frau dem armen Bäcker einen derben Streich, worüber sie sich auch später köstlich amüsiert: Die fraw von im hin heymen kort, / Waz fro, daz sie in het bedort / Und begunt sein ser doheim zu lachen / Und vor den meiden ein schimpff drauß machen (V. 43–46). Hier gelingt es einer Frau zusammen mit zwei Dienerinnen, ihren argwöhnigen Herrn durch schellendes Gelächter zu überzeugen, daß die unbekannte Hose, im Ehebett eben entdeckt, harmloser Gegenstand einer lustigen Wette unter den drei Weibern ist: Er batt sy all für in stan dar, / Ir klayder auffzulauchen gar. / Die fraw die weret sich ain wenig, / Doch woltt sy im sein underthänig / Und stältt sich zu den mayden hin. / Da wurden sy aufflauchen in. / Darzu sy also seer lachten, / Das sy den man gantz frölich machten (V. 89–96). Erst schaczt der paur gestoln sein ku / Und seins mantels entfrempt darzu, / Und must
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handlung des Gelächters im ›Quacksalber‹ als einem breiteren Folzschen Programm zugehörig, nach dem unterschiedliche Aspekte menschlichen Lachens, innere wie äußere, physiologische wie soziale, erzählerisch eruiert werden. Auch wenn diskursive Methode und ethischer Bezugsrahmen bei Folz völlig anders sind, hat er also einen thematischen Schwerpunkt mit den unterschiedlichsten humanistischen Kreisen im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts gemeinsam.
die kandel auch bezaln / Und groß gespöt han von yn alln, / Das er der poßheit selbs must lachen (V. 95–99). Dafür wird der Bauer anschließend auf narrativer Ebene quasi belohnt, wenn ihm seine Frau, als er nach Hause zurückgekehrt ist, keine Vorwürfe macht, sondern ihn mit einer sprichwörtlichen Weisheit tröstet: Vil pesser hab verlorn dan eer (V. 129).
John L. Flood
Das Bild des Poeta laureatus in Deutschland und England um 1500
Gerade auf einer von Göttinger Kollegen veranstalteten Tagung dürfte ein Referat über Poetae laureati nicht fehl am Platze sein, hat doch in Göttingen die Praxis, Dichter zu krönen, eine bemerkenswerte Geschichte. Denn obwohl diese Universität eine verhältnismäßig junge Gründung (1737) ist, stand ihren Prorektoren noch bis 1822 das Privileg zu, Dichter zu krönen.1 Es geht im folgenden jedoch nicht um die Weiterpflege alter Zöpfe an der Georgia Augusta, sondern um das Bild des gekrönten Dichters im 15. und 16. Jahrhundert in Deutschland wie in England. Mit ›Bild‹ ist zweierlei gemeint: einmal das Dichterbild im eigentlichen Sinn im frühen Buchdruck, aber auch das Bild im übertragenen Sinne: Welches Bild haben die Dichter von sich, und welches Bild haben sich die Zeitgenossen von dem gekrönten Dichter gemacht? Auf die lange Geschichte der Praxis der Dichterkrönung kann hier nicht eingegangen werden. Was das deutsche Mittelalter betrifft, so muß festgestellt werden, daß Hinweise auf Kenntnis der Praxis recht spärlich fließen. Kaiser Friedrich II. soll in den 1220er Jahren in Italien einen Dichter namens Bruder Pacificus gekrönt haben,2 und bekanntlich spielt auch schon Gottfried von Straßburg darauf an, wenn er – wohl unter Heranziehung seiner Kenntnisse der klassischen Literatur (Horaz, Ovid und Vergil) – meint, Hartmann von Aue verdiene den Lorbeerzweig.3 Wie dem auch sei, die einfluß- und folgenreichste (wenn auch nicht die erste)4 Dichterkrönung des späteren Mittelalters war zwei1
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Dazu s. Ernst Gundelach, Die Verfassung der Göttinger Universität, Göttingen 1955, S. 19–20; Wilhelm Ebel, Die Privilegien und ältesten Statuten der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1961, S. 29. Siehe Joseph B. Trapp, The Poet Laureate. Rome, renovatio and translatio imperii, in: Rome in the Renaissance. The City and the Myth, hg. von P. A. Ramsey, Binghamton NY 1982, S. 93–127, hier S. 97. Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von Friedrich Ranke, Berlin 71963, S. 58, V. 4634–7. Zu diesem Passus und zu anderen Zeugnissen von Dichterkrönungen im Mittelalter s. John L. Flood, ›Schapel und Lorzwi‹: Poetic Laurels between Antiquity and Renaissance, in: Blütezeit. Festschrift for Peter Johnson on his 70th Birthday, hg. von Mark Chinca, Joachim Heinzle und Christopher Young, Tübingen 2000, S. 395–407. Bereits 1315 wurde in Padua Albertino Mussato (1261–1329) gekrönt, was sicher Petrarca, der doch so gerne selber der erste gekrönte Dichter gewesen wäre, schmerzlich bewußt gewesen sein dürfte.
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fellos die von Francesco Petrarca (1304–1374), der sich im Jahre 1341 auf dem Kapitol in Rom unter Annahme der Titel civis romanus, magister, poeta et historicus zum Dichter krönen ließ.5 Die Wiederbelebung der Praxis ist also im Grunde eine humanistische Erscheinung. Die Dichterkrönung Petrarcas gab das Muster für Hunderte weiterer Dichterkrönungen in anderen Teilen Europas ab, vor allem in England (wo es heute noch einen offiziellen »Poet Laureate« gibt) und besonders im Heiligen Römischen Reich, wo verschiedene Kaiser entweder höchstpersönlich oder aber vertreten durch comites palatini oder Pfalzgrafen, wozu später viele Universitätsrektoren gehörten, von diesem Privileg ausgiebig Gebrauch machten. Die Kaiser erkannten bald, daß der Titel Poeta Laureatus Caesareus, Kaiserlich Gekrönter Dichter, eine wichtige Rolle spielen könnte: Er hatte nicht zuletzt eine Propagandafunktion und gereichte zu Ehre und Ruhm des Kaisers und des Reiches. Außerdem kostete er nichts – ja im Gegenteil, er brachte Geld ein, denn der Titel mußte meist bezahlt werden! Während Karl IV. (reg. 1346–1378) und Kaiser Sigismund (reg. 1411–1437) nur selten Dichter gekrönt haben, haben einige ihrer Nachfolger, etwa Friedrich III. (reg. 1440–1493) und besonders Maximilian I. (reg. 1493–1519) und Rudolf II. (reg. 1576–1612) häufig davon Gebrauch gemacht. Die erste Dichterkrönung auf deutschem Boden war die von Enea Silvio Piccolomini, dem nachmaligen Papst Pius II., dem Kaiser Friedrich III. im Juli 1442 in Frankfurt am Main den Lorbeerkranz aufsetzte. Friedrich ließ diese Ehre später in Italien regelmäßig auch anderen Italienern angedeihen – wie etwa schon die durchorganisierte Vorbereitung seiner eigenen Krönungsfeier zeigt, liebte er das Zerimoniell sehr, und man hat auch fast den Eindruck von ihm, daß er überall, wo er Station machte, Dichter krönte, so z. B. 1452 Jacobus Antonius Pandonus Porcelli, 1468 Niccolo` Perotti, Emilio Giovanni Stefano, Giovanni Aurispa und Ermolao Barbaro, und 1482/3, als er Pomponius Laetus sogar für die römische Akademie das Recht verlieh, Dichter zu krönen – von dieser Regelung profitierte als erster Publius Faustus Andrelinus; ihm folgten im Jahr darauf Aelius Lampridius Cerva und Laurentius Bonincontrius.6 Gerade das rief das Mißfallen des Konrad Celtis hervor. In seiner Ingolstädter Rede 1492 wetterte er:
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Dazu s. u. a. Carlo Godi, La ›Collatio Laureationis‹ del Petrarca, Italia medioevale e umanistica 13 (1970), S. 1–27. Petrarca wird häufig mit dem Lorbeer abgebildet, z. B. in Jean Jacques Boissard, Bibliotheca chalcographica, Heidelberg 1669, wiedergegeben in: Joachim Knape, Die ältesten deutschen Übersetzungen von Petrarcas ›Glücksbuch‹, Bamberg 1986 (Gratia, 15), S. 16. Dazu Godelieve Tournoy-Thoen, La laurea poetica del 1484 all ›Accademia Romana‹, Bulletin de l’Institut historique belge de Rome, 42 (1972), S. 211–35.
Das Bild des Poeta laureatus in Deutschland und England um 1500
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Nescioque prorsus, an sapientiae aut inconsiderationi nostrae dandum sit, quod nuper scriptorum insignia et comitem imperatorium laurum tanquam infelix omen nostri imperii Tarpeio colli ultro remisimus aliis concessa laureandi licentia, ut apud nos tandem nullus imperii honos maneret.7 (»Ich weiß gar nicht, ob es auf unsere Weisheit oder Gedankenlosigkeit zurückzuführen ist, daß wir neulich als unglückliches Omen unseres Reiches dem Kapitol die Insignien und das Privileg des kaiserlichen Lorbeers überlassen haben, mit dem Recht anderen den Lorbeer zu verleihen, so daß uns von der Ehre des Reichs nichts übriggeblieben ist.«)
Dieser Celtis war es bekanntlich, den Friedrich 1487 in Nürnberg als ersten Deutschen mit dem Lorbeer ausgezeichnet hatte. Im Hinblick auf Celtis’ Krönung zum Poeta laureatus ist interessant, daß bereits in den Jahren 1459–1465 der Dichter Michel Behaim (1420–nach 1472) sich des kaisers tichter nannte und auch von anderen so genannt wurde. Behaim, der einer Reihe von hochgestellten Gönnern (darunter Konrad von Weinsberg, dem Reichserbkämmerer Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach, dem Reichserzkämmerer Herzog Albrecht III. von Bayern-München, Albrecht VI. von Österreich, sowie Ladislaus, König von Ungarn) gedient hatte, war am Kaiserhof untergekommen.8 Ab 1463 nennt er sich des römischen kaiser teutscher poet und tichter, wobei das Wort poet auf einen gewissen Grad an Bildung hindeutet. Wie Friederike Niemeyer feststellt: »teutscher poet wirkt geradezu wie ein Gegenbegriff zum aufkommenden poeta laureatus für den gekrönten, humanistischen Dichter«.9 Dennoch, trotz dieser bemerkenswerten Formulierung, fehlt bei Behaim offenbar das Wesentlichste: die Dichterkrönung selbst. Kommen wir jetzt zum Bild. Enea Silvio Piccolomini wurde auf dem Reichstag in Frankfurt zum Dichter gekrönt. Auch später fanden Dichterkrönungen gelegentlich auf Reichstagen statt: Der festliche Rahmen solcher Anlässe bot ehrgeizigen Humanisten eine willkommene Gelegenheit, ihre Kunstfertigkeit und ihre Huldigung dem Monarchen gegenüber vor einem ausgesuchten Publikum öffentlich unter Beweis zu stellen. Der symbolische Stellenwert der Dichterkrönung Piccolominis im Herzen Deutschlands ist kaum zu überschätzen: Sie spielte eine große Rolle bei der Verpflanzung des Humanismus nach Deutsch7
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Hans Rupprich: Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und Universitäten (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe Humanismus und Renaissance 2), Leipzig 1925, Nachdr. Darmstadt 1964, S. 226–238, hier S. 230. Selbst nach seinem Ausscheiden aus dem kaiserlichen Dienst wird er – beispielsweise 1468 in den Rechnungsbüchern von Nördlingen und Augsburg – noch des kaisers tichter genannt. Die Belege verzeichnet Friederike Niemeyer, ›Ich, Michel Pehn‹. Zum Kunst- und Rollenverständnis des meisterlichen Berufsdichters Michel Beheim, Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos 59), S. 23, Anm. 13, auch S. 47–48, 53–57. Niemeyer [Anm. 8], S. 67.
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land, indem der Dichter einen neuen, am italienischen Humanismus geschulten Geist in die kaiserliche Umgebung einführte. Freilich: dem Kaiser, der sich dessen wohl kaum bewußt gewesen sein dürfte, bedeutete die Dichterkrönung wohl weniger als dem Ausgezeichneten selbst. Ihm war es eine billige Möglichkeit, Piccolomini zu belohnen. Als Dichter erfüllte Enea Silvio alle in ihn gesetzten Erwartungen, indem er eine Reihe von panegyrischen und historischen Werken verfaßte. Piccolomini selbst war die Dichterkrönung sehr wichtig: Francesco Pizzolpasso, dem Erzbischof von Mailand, schrieb er, dieser möge sich nicht verwundern, wenn er sich als poeta bezeichne, denn dies sei »des Kaisers Wille«.10 Dabei mag er als civis romanus, Bürger Roms, die Krönung im barbarischen Deutschland statt im kulturell höherstehenden Italien schon als eine gewisse Unzulänglichkeit betrachtet haben11 – als das Ereignis später von Bernardino Pinturicchio in den Fresken der Dombibliothek in Siena bildlich gefeiert wurde, stellte der Künstler den Krönungsakt im klassichen italienischen Rahmen dar.12 Folgenschwerer als die Dichterkrönung Piccolominis war die Ernennung des Konrad Celtis durch Friedrich III. zum ersten deutschen Poeta laureatus.13 Dieser Akt fand am 18. April 1487 in Nürnberg statt, als der Kaiser den gelehrten fränkischen Bauernsohn mit silbernem Lorbeerkranz und goldenem Ring auszeichnete. Der Lorbeer war nicht mit einem modernen Literaturpreis zu vergleichen, den ein verdienstvoller Autor mit grauen Haaren für sein Lebenswerk erhält. Er war vielmehr eine Art Förderpreis für junge Talente – Celtis war 28 Jahre alt –, von denen die Kaiser sich in propagandistischer oder diplomatischer Funktion etwas erhofften. Ohne die Anregung Friedrichs des Weisen, Kurfürsten von Sachsen, dem Celtis seine ›Ars versificatoria‹ (Leipzig 1486) gewidmet hatte, hätte ihn der Kaiser kaum selbst für diese Ehrung ausersehen, denn bis dahin hatte Celtis kaum etwas veröffentlicht.14 Celtis, der überzeugt war, daß 10
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Rudolf Wolkan, Der Briefwechsel des Aeneas Silvius Piccolomini, Abt. 1, Bd. 1, Wien 1909 (Fontes rerum Austriacarum, ser. II, Bd. 61), Brief 41: [...] si videtis me poetam subscriptum, non miremini, quoniam talem me cesar esse voluit (S. 120). Dennoch war Piccolomini großzügig genug, die humanistischen Bestrebungen deutscher Geistesgenossen wie des Nürnberger Juristen Gregor Heimburg und des Esslinger Stadtschreibers Niklas von Wyle anzuerkennen. Zu diesem Freskenzyklus s. Rosamond Joscelyne Mitchell, The Laurels and the Tiara: Pope Pius II 1458–1464, London 1962; P. Scarpellini, Pintoricchio alla Libreria Piccolomini, Mailand 1965; Christiane Esche, Die Libreria Piccolomini in Siena. Studien zu Bau und Ausstattung, Frankfurt am Main 1992 (Europäische Hochschulschriften, XXVIII,136), bes. S. 193 u. Tafel 26. Wir dürfen nicht übersehen, daß Adalbert Parmet, Rudolf von Langen, Leben und gesammelte Gedichte des ersten Münsterschen Humanisten, Münster 1869, S. 26f., auf eine handschriftliche Quelle aufmerksam machte, in der es heißt, Rudolf von Langen (c. 1438–1519) sei noch vor Celtis von Friedrich III. gekrönt worden: Langius ante Conradum Celten fuit laureatus poe¨ta, coronatus a Friderico imperatore [...]. Diese Angabe hat sich weder bestätigen noch widerlegen lassen. Außer der ›Ars versificatoria‹ hatte Celtis lediglich Editionen von zwei Dramen von
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begabte Dichter eigentlich nur in der Umgebung von Herrschern, wo Kunst und Wissenschaft gefördert werden, gedeihen könnten, pflegte sorgfältig seine Beziehungen zu Friedrich und dessen Nachfolger, Maximilian I. So wurde 1501 unter Maximilian in Wien ein ›Collegium poetarum et mathematicorum‹ unter Celtis’ Leitung ins Leben gerufen. Abb. 1 zeigt dessen Insignien: Zepter mit Reichsadler, Ring,15 Doktorhut, Siegel des Collegiums, Lorbeerkranz mit Reichsadler und, rechts und links davon, Apollo und Minerva. Gerade hier kommt die akademische Würde des Poeten klar zum Ausdruck, welche Petrarca begründet hatte, indem er eine geschickte Verbindung zwischen Dichterkrönung und Hochschulzerimoniell herstellte: die Dichterkrönung wurde in mancher Beziehung nach dem Modell des Zerimoniells der Doktorpromotion konzipiert. Bedeutsam und folgenreich waren die Worte oben im Bild: »Wir, der Kaiser, haben Konrad diesen Lorbeer gegeben als Kennzeichen der Dichter, damit er unsere Heldentaten besinge und verdienstvolle Dichter an unserer Stelle mit Lobe krönen möge.« Die Delegierung des kaiserlichen Krönungsprivilegs an Universitätsprofessoren hatte unvorhergesehene Folgen. Nachdem Maximilian das Krönungsrecht zunächst nur an die Universität Wien übertrug, war dem Ausufern der Praxis nicht mehr Einhalt zu gebieten: mit der Zeit erhielten weitere Universitäten im Reich das Krönungsprivileg (darunter Rostock, Wittenberg, Jena, Straßburg, Helmstedt, Altdorf, und – wie erwähnt – erst im 18. Jahrhundert auch noch Göttingen). Hinzu kamen die Pfalzgrafen, deren Zahl im Laufe der Jahre etwa fünftausend betrug, von denen mancher – z. B. Paul Schede Melissus, Johann Rist, Sigmund von Birken und Philipp von Zesen – eine ganze Reihe von Dichterkrönungen inszenierte. Kein Wunder also, daß sich nicht mehr feststellen läßt, wieviele Träger des stolzen Titels ›Kaiserlich Gekrönter Dichter‹ es eigentlich gegeben hat. Ich kenne derzeit ca. 1.360 aus dem Zeitraum 1355 bis 1804.16 In Abb. 2 ist der erste englische Holzschnitt eines Lorbeerkranzes zu sehen. Er begegnet schon 1502 in einer Londoner Ausgabe der ›Hystoryes of Troye‹ und wird 1515 und 1528 in den ›Cronycles of Englonde‹ wiederverwendet.17 Da
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Seneca veröffentlicht, die er im Februar 1487 Magnus von Anhalt gewidmet hatte – möglicherweise hat auch dieser Celtis’ Wunsch, zum Dichter gekrönt zu werden, mit unterstützt. Nach Johann Friedrich Heckel, De Poetarum Corona Libellus Historico-Philologicus, Zwickau 1672, S. 154, symbolisiert der Ring aus purem Gold die Verpflichtung des Dichters, Verse »aus keuscher und reiner Gesinnung« zu schreiben: Factus autem est annulus ille ex puro puto auro, quoniam unicuique Poe¨tae convenit, carmina sua casta ac pura mente scribere. Dazu siehe John L. Flood, Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook, 4 Bde., Berlin/New York 2006. Zu den hier verzeichneten 1345 gekrönten Dichtern kommen inzwischen weitere sechszehn (meist aus dem 17. Jahrhundert). Edward Hodnett, English Woodcuts 1480–1535, revised edition, Oxford 1973, S. 303, Nr. 1222, Abb. 86.
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das Bild keinen offenbaren Bezug zum Text hat, läßt sich schwer sagen, was es eigentlich darstellen soll, aber da der Gefeierte auf einem Thron sitzt und eine zentrale Position im Bild einnimmt, was seine Autorität unterstreicht, handelt es sich wohl eher um den Triumph eines Herrschers als um eine Dichterkrönung, die – wie schon bei Pinturicchio und bei der Krönung des Konrad Celtis (Abb. 3) – meist als eine Art Huldigungsszene dargestellt wird: Der Dichter kniet vor dem Kaiser, der ihm den Lorbeer aufs Haupt setzt. Eine ähnliche Vorstellung liegt auch dem viel späteren Bild des Weimarer Malers Friedrich Martersteig (1814–1899) zur Dichterkrönung Ulrichs von Hutten zugrunde.18 Zum Dichterbild gehört evtl. auch ein Buch, das übliche Requisit eines Autors, manchmal aber auch ein Katheder, das seine Rolle als Poeta doctus und Gelehrten unterstreicht. Hier wachsen verschiedene ikonographische Traditionen zusammen, die sich u. a. auf die Vorstellung des Grammatikers und des Schriftstellers bei Martianus Capella im 5. Jh., auf die Auctoritas eines Bischofs und auch auf Evangelistenbilder zurückführen lassen.19 Buch und Katheder, beides Requisiten des Hochschullehrers, finden sich häufig in Holzschnitten. Ein schönes Beispiel findet sich in Hieronymus Braunschweigs ›Liber de arte distillandi‹ (Straßburg: J. Grüninger, 1500) (Abb. 4), wo der Gelehrte ein besonders prachtvolles Katheder bestiegen hat.20 In Abb. 5 ist ein frühes englisches Beispiel aus dem ›Esopus cum commento‹ (London: Richard Pynson, 1.XII.1502) zu sehen.21 Interessant ist hier der Vergleich zwischen Pynsons ›Esopus‹ und dem Bild aus den ›Fabule hystoriate‹ des Aesop, übersetzt von A. Zucco, Venedig: A. de’ Zanni 1528 (Abb. 6): Pynson stellt Aesop oder vielleicht den Kommentator als Gelehrten dar, das italienische Schulbuch zeigt ihn als angesehenen klassichen Autor, als Lehrer, als Auctoritas mit Lorbeerkranz. Vergleichbar ist Abb. 7 aus dem ›Compotus manualis ad usum Oxoniensium‹ (Oxford: C. Kyrfoth 1519).22
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Friedrich Martersteig, ›Die Dichterkrönung Ulrichs von Hutten durch Kaiser Maximilian‹ (1860) (Köln, Wallraf-Richartz-Museum), abgebildet in: Julius Pflugk-Harttung, Im Morgenrot der Reformation, St. Louis (Haut-Rhin) 1924, gegenüber S. 496. Julie A. Smith, The poet laureate as university master: John Skelton’s woodcut portrait, in: Renaissance Rereadings. Intertext and Context, hg. von Maryanne Cline Horowitz, Anne J. Cruz und Wendy A. Furman, Urbana, Ill. 1988, S. 161–183. Zum Katheder s. Emil Reicke, Der Gelehrte in der deutschen Vergangenheit, Jena 1924; Florens Deuchler: Magister in Cathedra. Lehrer und Schüler im Mittelalter, in: Schülerfestgabe für Herbert von Einem, Bonn: Kunsthistorisches Institut der Univ. Bonn 1965, S. 63–69. Hodnett [Anm. 17], S. 349, Nr. 1509, Abb. 141. Nach Hodnett ist der Holzstock schon 1497 bei Pynson belegt. Ein ganz ähnliches Bild, doch von einem anderen Holzstock, findet sich in ›Thordynary of Crysten men‹ (London: Wynkyn de Worde, 1506) (Hodnett, S. 267, Nr. 925, Abb. 81). Nach Hodnett ist der Holzstock schon 1505 belegt. Hodnett [Anm. 17], S. 406, Nr. 2068, Abb. 204.
Das Bild des Poeta laureatus in Deutschland und England um 1500
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Wir wenden uns jetzt zwei englischen Poetae laureati zu. Abb. 8 zeigt die ›Editio de concinnitate grammatices et constructione‹ (London: Wynkyn de Worde, 1517) des Robert Whittinton aus Lichfield, »Meister der Grammatik, Protovates (›führender Dichter‹) Englands, gekrönt in der blühenden Universität Oxford«, wie es in der Überschrift heißt23 – ob der Oxforder Kollege hier nachdenkt, faustisch verzweifelt oder ein Nickerchen hält, mag dahingestellt bleiben. Während aber in diesem Bild der Lorbeer selbst nicht zu sehen ist, kommt er im Bilderschmuck in Werken des Dichters John Skelton (1450–1529), des ersten englischen Humanisten, der sowohl auf Latein als auch auf Englisch schrieb und den Erasmus als den »britischen Homer«24 bezeichnete, häufig vor. Das erste Bild (Abb. 9) findet sich auf der Rückseite des Titelblattes seiner Dichtung ›The Garlande of Laurell‹ (›Der Lorbeerkranz‹) (1523). Es zeigt den Dichter, Skelton Poeta, als Jüngling mit einem Lorbeerzweig in der rechten Hand. Darunter finden sich die Verse Eterno mansura die dum sidera fulgent Equora dumque tument hec laurea nostra virebit. Hinc nostrum celebre et nomen refertur ad astra. Vndique Skeltonis memorabitur alter adonis. (»Solange die Sterne leuchten im ewigwährenden Tag und solange die Meere wallen, wird unser Lorbeer grünen; unser berühmter Name wird im Himmel widerhallen, und überall wird man Skeltons als eines zweiten Adonis gedenken.«)
Nach dem griechischen Mythos entsprang dem Blut des verwundeten Adonis eine Blume. Der schöne Jüngling galt also als Sinnbild der vegetativen Erneuerung, und auch der Ruhm Skeltons, »des zweiten Adonis« mit dem grünen Lorbeerzweig, würde sich immer wieder erneuern.25 Der zweite Holzschnitt (Abb. 10), der sowohl in Skeltons ›Agaynste a comely coystrowne‹ ([London: John Rastell, um 1527]) als auch in seinen ›Dyuers Balettys and dyties solacyous‹ (London: John Rastell, [um 1528]) als Titelbild verwendet wird, zeigt ihn unverkennbar als Poeta laureatus mit dem Lorbeerkranz. Damit man beim flüchtigen Hinschauen dieses Attribut nicht übersieht, weist der beigegebene lateinische Spruch darauf hin: Arboris omne genus viridi concedite lauro, also 23
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Bei Robert Whittinton war es offenbar so, daß der Drucker Wynkyn de Worde Werbung für dessen Grammatikbücher machen wollte, weshalb er gern auf den Poetentitel hinwies und so die Verbindung zwischen Sprachlehrer und Dichter hervorhob. Dazu Smith [Anm. 19], S. 169. Grecia Meonio quantum debebat Homero Mantua Virgilio Tantum Skeltoni iam se debere fatetur Terra Britannia suo. Zit. nach William Nelson, John Skelton, Laureate, New York 1939, S. 57. Ausführlich zu diesem Holzschnitt, welcher einer Darstellung des Monats April im ›Uberrimum sphere mundi‹ des Johannes de Sacro Bosco (Paris: Guy Marchant, 1498) nachgeschnitten ist, wie auch zu den anderen Skelton-Holschnitten s. Mary C. Erler, Early woodcuts of John Skelton. The uses of convention, Bulletin of Research in the Humanities 87, 1 (1986–1987), S. 17–28.
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»Weichet, alle Baumarten, dem grünen Lorbeer« (der Satz stammt aus Skeltons ›The Garlande of Laurell‹). Wie eng Skelton mit dem Drucker John Rastell zusammengearbeitet hat, wissen wir nicht,26 aber wahrscheinlich hat der Dichter großen Wert auf Bild und Sinnspruch gelegt, wissen wir doch, daß er sehr stolz auf den Titel war: schließlich hatte er sich zwischen 1488 und 1493 dreimal zum Dichter krönen lassen, in Oxford, in Löwen und auch in Cambridge – Skelton bleibt bis heute der Einzige, der in Cambridge zum Dichter gekrönt wurde. Auch die Titel der beiden vorgenannten Drucke weisen ihn ausdrücklich als Laureat(e) aus,27 und auch späterhin wird Skelton häufig als Poet Laureat bezeichnet. Damit kommen wir zu der Frage nach der Einstellung der Dichter selbst zum Poetentitel. Diese war recht unterschiedlich. Einige waren sehr stolz darauf, andere verhielten sich eher gleichgültig. Natürlich hing viel davon ab, wie man zum Titel kam und was man sich davon versprach. Bereits Petrarca haftete mehr als ein Anflug von Eitelkeit an, und auch die deutschen und englischen Poeten waren nicht dagegen gefeit. Schon Konrad Celtis soll zunächst seine Briefe nach dem »Jahr des Lorbeers« (primus annus laureae) datiert haben.28 Nikolaus Mameranus (c. 1500–nach 1566) soll nie ohne Lorbeerkranz in der Öffentlichkeit erschienen sein.29 Johannes Posthius (1537–1597), Leibarzt des Würzburger Fürstbischofs, behauptete, als er sich den Titel von Kaiser Rudolf II. erbat, diese Auszeichnung sei ihm teurer als Gold: Si mea digna tamen videantur carmina Lauro, Auro laurus erit mi preciosa magis. 30 Der Wittenberger Lehrer Johann Seger (1582–1637) ließ einen Kupferstich von sich und dem gekreuzigten Christus machen mit einer Sprachblase mit den Worten: Domine Jesu, amas me?, worauf Jesus antwortet: Clarissime, pereximie, nec non doctissime Domine Magister Segere, Poeta laureate caesaree, & scholae Wittebergensis Rector dignissime, ego amo te.31 Noch später erfand Daniel Grüzmann (1640–1736) sich die Devise: »Mihi Deus Gaudium, Pax Christus, Lumen Spiritus« (d. h. M[agister] 26
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Doch dazu s. A. S. G. Edwards, Skelton’s English poems in print and manuscript, in: Sources, Exemplars, and Copy-Texts, hg. von William Marx, Lampeter 1999 (Trivium 31), S. 87–100, und die dort zitierte Literatur. Zur Datierung der Drucke s. Robert S. Kinsman, The printer and date of publication of Skelton’s ›Agaynste a Comely Coystrowne‹ and ›Dyuers Balettys‹, Huntington Library Quarterly 16 (1953), S. 203–210. Klaus Arnold, Poeta laureatus – Die Dichterkrönung Ulrichs von Hutten, in: Ulrich von Hutten, Ritter, Humanist, Publizist 1488 – 1523. Katalog der Ausstellung des Landes Hessen anlässlich des 500. Geburtstages, bearb. von Peter Laub, Kassel 1988, S. 237–247, hier S. 241. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Halle and Leipzig 1733–50, Bd. 19, Sp. 818. Klaus Karrer, Johannes Posthius. Verzeichnis der Briefe und Werke mit Regesten und Posthius-Biographie, Wiesbaden 1993 (Gratia 23), S. 73–74 und 178–180. Zedler [Anm. 29], Bd. 36, Sp. 1265.
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D[aniel] G[rüzmann] P[oeta] C[aesareus] L[aureatus] S[tolbergensis]), und schon Johannes Cuspinian, Landsmann und Kollege von Konrad Celtis am Wiener Collegium poetarum, der im Dezember 1493 auf der Beerdigung Kaiser Friedrichs III. gekrönt wurde, machte sich das Monogramm CMP: Cuspinianus Medicus Poeta zu eigen und verfaßte für sein eigenes Grab die Inschrift fui medicus tunque poeta simul.32 Heinrich Bebel bezeichnete sich als poeta laureatus et humanarum literarum doctor Tubingae 33 und Ulrich von Hutten setzte den Poeten-Titel auf die Titelseite fast aller seiner Publikationen (obwohl er offenbar noch stolzer auf die Bezeichnung eques Germanus, ›deutscher Ritter‹ war). Einigen galt der Erwerb des Poetentitels als Höhepunkt ihrer Laufbahn: Jacob Locher etwa, der sich als lorbeer- (oder efeu-?) bekränzten Gelehrten darstellen ließ (Abb. 11). Unterhalb der Worte Jacobi Locher philomusi poete laureati Epigramma in seiner Horaz-Edition 1498 findet sich ein Holzschnitt (Abb. 12), mit den neun Musen, mit Calliope auf der Kathedra Musarum, die das Haupt des Horatius Poeta Lyricus bekränzt.34 Man kann nicht umhin zu glauben, Locher habe sich selber damit abgebildet sehen wollen.35 In diesem Zusammenhang interessant ist auch das Titelbild in Sebastian Brants VergilAusgabe (Straßburg: J. Grüninger 1502), das zeigt, wie die bemerkenswert freibusige Calliope den Vergil bekränzt. Die Muse Calliope ist den Dichtern eine äußerst wichtige Gestalt – Skelton bezeichnet sie schlicht als Regent of poetes al, also »Regentin von allen Dichtern«, der er ja den hohen Titel Laureat verdanke.36 Wie mancher seiner deutschen Zeitgenossen war auch er äußerst stolz auf den Poetentitel, wie vor allem in seinem Gedicht ›The Garlande of Laurell‹ klar zum Ausdruck 32
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Dieter Mertens, Zur Sozialgeschichte und Funktion des poeta laureatus im Zeitalter Maximilians I., in: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, hg. von Rainer Christoph Schwinges, Berlin 1996 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beih. 18), S. 327–348, hier S. 340 und Anm. 48. Mertens [Anm. 32], S. 342. Die Rezeption von Horaz hatte besonders Konrad Celtis in Deutschland stark gefördert. Zum Thema s. verschiedene Beiträge in: Horaz und Celtis, hg. von Ulrike Auhagen u. a., Tübingen 2000. Anders als Locher, hat Riccardo Bartolini den Titel (wenigstens in seinen Büchern nicht) nie verwendet. Einige radikale Humanisten haben auf akademische Titel verzichtet. So soll Philipp Melanchthon den Pomp, mit dem die Promotionsfeiern verbunden waren, rundweg als kindisch und papistisch bezeichnet haben. Siehe Erich Kleineidam, Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, III: Die Zeit der Reformation und Gegenreformation 1521–1632, Leipzig 1983 (Erfurter theologische Studien 42), S. 33. Siehe das Gedicht ›Why were ye Calliope?‹ Calliope As ye many se, Regent is she Of poetes al, Which gave to me The high degre Laureat to be Of fame royall: Whose name enrolde With silke and golde I dare be bolde Thus for to were. (The Poetical Works of John Skelton, hg. von Alexander Dyce, London 1843, Bd. 1, S. 197, V. 1–11).
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kommt.37 Im Traum hört der Dichter, Skelton selbst, wie Fama, Königin des Ruhms, darüber klagt, daß Skelton faul geworden sei und daher seinen Platz an ihrem Hof schwerlich verdiene. Die Göttinen beschließen, alle Dichter Revue passieren zu lassen, und bald werden tausend Dichter vom lorbeergekrönten Phöbus herangeführt, darunter Homer, Cicero, Lucan, Vergil, Terenz, Seneca, Boethius, Boccaccio, Macrobius, Plutarch, Petrarca, Poggio Bracciolini, Properz, Vinzenz von Beauvais, und schließlich verschwinden auch noch die englischen Dichter Chaucer, Gower und Lydgate mit in den Pavillon der Pallas Athene. Unterdessen spaziert Skelton im Garten. Hier trifft er seine Gönnerin, die Gräfin von Surrey, mit ihren Jungfrauen an, die alle mit der Handarbeit beschäftigt sind, und zwar mit einem schönen Lorbeerkranz für Skelton selbst. Er belohnt sie mit einem Gedicht, setzt den Kranz auf und gesellt sich zu den anderen Dichtern, die erklären, im Vergleich zu Skeltons Kranz seien alle anderen unecht. Jetzt aber müssen seine Verdienste aus einem prachtvollen Buch38 vorgelesen werden. Das Urteil der versammelten Dichter ist schon vorwegzunehmen: Triumpha, triumpha! they cryid all aboute; Of trumpettis and clariouns the noyse went to Rome; The starry heuyn, me thought, shoke with the shouwte; The grownde gronid and tremblid, the noyse was so stowte: The Quene of Fame commaundid shett fast the boke. (V. 1506–10)
Und in diesem Augenblick erwacht Skelton aus seinem Traum. Skelton war der erste englische Dichter, der sich erdreisten konnte, 1600 Zeilen über sich selbst zu schreiben. ›The Garlande of Laurell‹ ist mit Recht »an amazing monument of self-glorification« genannt worden.39 Sein Ruhm, so meinte er, habe sogar Rom erreicht, d. h. das Kapitol, wo Petrarca zum Dichter gekrönt wurde. Skeltons Selbstvertrauen und seine Einschätzung der eigenen literarischen Bedeutung sind erstaunlich. Die Nachwelt hat seine Meinung nicht geteilt – 1737 hat Alexander Pope verächtlich gesagt, Skeltons Werk bestehe fast durchgehend aus »Schweinerei, Obszönität und skurrilen Ausdrücken«.40 37
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Der volle Titel lautet ›A ryght delectable tratyse vpon a goodly garlande or chapelet of laurell‹, bei Robert Fawkes (Fakes, Faques) in London erschienen. Die beste moderne Ausgabe besorgte Frank W. Brownlow, The Book of the Laurel, Newark, Delaware 1990. Die Beschreibung des Buches ist beachtenswert: The margent was illumyned all with golden railles / And byse, enpicturid with gressoppes and waspis, / With butterflyis and fresshe pecoke taylis, / Enflorid with flowris and slymy snaylis; / Enuyuid picturis well towched and quikly; / It wolde haue made a man hole that had he ryght sekely, / To beholde how it was garnysshed and bounde, / Encouerde ouer with golde of tissew fyne: / The claspis and bullyons were worth a thousande pounde: / With balassis and charbuncles the borders did shyne; / With aurum musicum euery other lyne / Was wrytin (V. 1157–68). Leslie John Lloyd, John Skelton. A Sketch of his Life and Writings, Oxford 1938, S. 127.
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Ein Vorteil, den sich Petrarca ausdachte, war, daß der Poeta das ius ubique docendi haben sollte, also das Recht ohne weitere Prüfung als Magister überall zu lehren. Damit wurde der Dichterlorbeer im akademischen Betrieb verankert. Das geht z.B. aus der am 2. November 1494 in Antwerpen ausgestellte Ernennungsurkunde Maximilians I. für den friesischen Dichter Jakob Canter (1459– 1529) deutlich hervor, wo es u. a. heißt: Maximilianus etc. Spectabili, nostro et Imperii Sacri fideli dilecto, Canteri Frisio, poete laureato, Graciam Regiam et omne bonum. [...] Recensentes itaque singularem animi tui virtutem preclaramque in poetica et oratoria facultate doctrinam ac tuam erga nos et Sacrum Romanum Imperium fidem et devotionem, animo deliberato, motu proprio et de plenitudine Regalis Potestatis Nostre certaque scientia te, Iacobum prenominatum, manibus nostris capiti tuo lauream imponentes laureatum poetam fecimus, creavimus et pronunciavimus atque harum litterarum vigore facimus, creamus et pronunciamus poeticisque ornamentis insignimus, ut aureo cingulo et annulo ceterisque ornatibus omnibus, quibus cuiuscumque alterius facultatis summi professores ac doctrine titulis insigniti utuntur et de iure, consuetudine ac auctoritate uti possunt, uti, frui et gaudere de cetero possis et debeas, tibique tamquam sufficienti et idoneo in poetica et oratoria arte scribendi, edendi, legendi, docendi, cathedram ascendendi et omnes alias actus poeticos et oratorios faciendi et exercendi auctoritatem et potestatem concedimus per presentes, volentes atque hoc Regali statuentes edicto, te ut ex nunc et in antea laureatum poetam haberi, reputari et dici et in sessionibus, stationibus ac processionibus, sicuti dignitas tua predicta expostulat, honorari et preferri, necnon omnibus et singulis honoribus, iuribus, prerogativis, preeminentiis et indultis, quibus ceteri poete et oratores quomodolibet de iure vel de consuetudine utuntur et fruuntur, uti et frui posse simul et gaudere, non obstantibus, in contrariam facientibus quibuscumque. [...] (»Wir, Maximilian etc., entbieten dem Vornehmen, Unserem und des Heiligen Reiches geschätzten Getreuen, Canter aus Friesland, dem gekrönten Dichter, Unsere Königliche Huld und wünschen ihm alles erdenklich Gute. [...] Indem Wir also die einzigartigen Fähigkeiten deines Geistes und deine außergewöhnliche Gelehrtheit in den Disziplinen Poetik und Rhetorik und deine Loyalität und Treue Uns und dem Heiligen Römischen Reich gegenüber berücksichtigen, haben Wir, nach reiflicher Überlegung, aus freien Stücken, im Vollbesitz Unserer Königlichen Macht und mit bestem Wissen, dich, vorgenannten Jakob, zum gekrönten Dichter erhoben, gekürt und erklärt, indem Wir dir eigenhändig den Dichterlorbeer aufs Haupt setzten, und erheben, küren und erklären dich kraft dieser Urkunde und zeichnen dich mit den Dichterinsignien aus, damit du den goldenen Gürtel, den goldenen Ring, und alle anderen Auszeichnungen, welche die Professoren jeder anderen Fakultät bzw. die mit akademischen Titeln Ausgezeichneten tragen und von Rechts, Gewohnheits und Obrigkeits wegen tragen dürfen, fortan tragen, verwenden und dich deren erfreuen darfst und sollst, und Wir verleihen dir mit vorliegender Urkunde als einem in den Disziplinen Poetik und Rhetorik in ausreichendem Maße gelehrten und verdienten Mann die Berechtigung und die Befugtheit, in den obgenannten Disziplinen als Verfasser und Herausgeber aufzutreten, Vorlesungen zu halten, zu lehren, einen Lehrstuhl anzunehmen und alle übrigen Handlungen, welche Dichter und Redner verrichten, auszuüben, 40
»[...] almost wholly of ribaldry, obscenity, and scurrilous language«. Zit. nach Nelson [Anm. 24], S. 4.
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und geben durch Königliches Edikt Unseren Willen kund, daß man dich von diesem Augenblick an und künftighin als einen gekrönten Dichter behandle, betrachte und so nenne und dir bei öffentlichen Gelegenheiten, Sitzungen, stehenden Zusammenkünften oder bei Prozessionen die Ehre und den Vorzug erweise, wie es deine vorgenannte Würde erfordert. [...]«)41
Entsprechend haben die Poeten ihre Rechte auch gern in Anspruch genommen. So hat Jakob Locher das Vorrecht für sich beansprucht, vor Lizentiaten der höheren Fakultäten wie vor dem Dekan der Philosophischen Fakultät in den Saal zu treten als auch das Recht, an Sonn- und Feiertagen Vorlesungen zu halten und seine Zuhörer unter Glockenklang zusammenzubringen.42 Die Frage, wer denn den Vorrang habe, gab immer wieder Anlaß zu Reibereien. Vom Schweizer Dichter Heinrich Loriti Glareanus (1488–1563), heißt es, er sei einmal auf einem Esel in den Saal geritten, weil die Universität Basel ihm, der keinen Doktortitel besaß, keinen besonderen Platz bei der akademischen Feierstunde zugewiesen habe. Er sagte, er wolle immer auf dem Esel sitzen, weil er nicht wisse, wo er sonst sitzen sollte. Des andern Tags wurde ihm ein Platz unter den Doktoren zugewiesen. In Wittenberg sorgte Kurfürst Friedrich der Weise schon frühzeitig für Ordnung: bereits 1508 heißt es in den neuen Statuten, daß bei Zusammenkünften der Universität die Mitglieder der höheren Fakultäten vom Magister der Theologie bis hin zum Baccalaureus in Medizin auf der rechten Seite des Saales, der Dekan der Philosophischen Fakultät, die Magistri in Artibus und die Poetae laureati auf der linken Seite zu sitzen hätten nam laurum magisterio comparamus.43 Die Wittenberger Regelung scheint sich auch an anderen deutschen Universitäten durchgesetzt zu haben. Von Heinrich Loriti wird auch erzählt, er habe einmal, als einige Italiener ihn sehen wollten, diese in vollem Ornat mit Lorbeer und Goldkette empfangen, ohne jedoch auch nur ein Wort mit ihnen zu reden. Als die Besucher sich über das unhöfliche Benehmen beklagten, ließ er ihnen ausrichten, sie hätten lediglich den Wunsch geäußert, ihn zu sehen; danach aber habe er sie dennoch mit seiner Gelehrsamkeit und mit viel Humor ergötzt.44 Solcher Possen wegen hat man ihn jedoch als »gelehrten Pickelhering« bezeichnet.45 Daher ist es kein Wunder, daß die Poeten oft als Narren betrachtet wurden. Schon der Titel der 41
42 43 44 45
Text und Übersetzung nach Karl A. E. Enenkel, Kulturoptimismus und Kulturpessimismus in der Renaissance. Studie zu Jacobus Canters ›Dyalogus de solitudine‹ mit kritischer Textausgabe und deutscher Übersetzung, Frankfurt a. M. 1995 (Frühneuzeit-Studien 3), S. 69–70. Mertens [Anm. 32], S. 338, zitiert hierzu Heinrich Schreiber, Heinrich Loriti Glareanus. Seine Freunde und seine Zeit, Freiburg 1837, S. 23f. Walter Friedensburg, Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Teil 1 (1502– 1611), Magdeburg 1926, S. 24f., Nr. 22. Siehe Johann Burkhard Menckenius, De Charlataneria Eruditorum declamationes duæ, Leipzig 1715, S. 98. So Christian Gottlieb Jöcher, Allgemeines Gelehrten-Lexicon, Leipzig 1750–51, Bd. 2, Sp. 1016.
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Satire ›Eccius dedolatus‹ (›Der abgehobelte Eck‹) (»Impressum in Vtopia« [Schlettstedt: Lazarus Schürer, 1520]), Willibald Pirckheimer zugeschrieben (doch unsicher),46 erschienen unter dem Pseudonym »Joannesfranciscus Cottalembergius Poeta Laureatus«, ist mit Narrendarstellungen umrahmt, was den Poeta schon in bedenkliche Nähe zum Narrentum bringt.47 Und als der Schlesier Christoph Pelargus (1565–1633), nachmaliger Rektor der Universität Frankfurt an der Oder, um 1600 den Dichterkranz von Pfalzgraf Bartholomäus Bilovius (1573–1615) angeboten bekam, schickte er das Diplom zurück mit den Worten: Non ego vel fatui nomen, vel vatis habebo Nec laudem cygni posco; Pelargus ero. (»Den Namen eines Narren, eines Poeten will ich nicht haben, auch das Lob eines Schwans begehre ich nicht; ich will ein Storch [= pelargus] sein.«)
In der Alten Pinakothek in München hängt ein Bild des holländischen Malers Jan Steen (1626–1679), das einen belorbeerten Poeten zeigt, der aus seinem Werk vorliest, und zwar steht daneben der Spruch Waerom draegt ’en sot syn teeken / Om dat hy te voren geck geleken. Der Hauch der Narrheit ist freilich nur ein Aspekt der Kritik an den Poeten; der Contemptus poetarum laureatorum ist ein umfangreiches Thema, das wir hier nur kurz anreißen können. 1522 zeigt der Titelholzschnitt (Abb. 13) von ›Grunnius sophista sive pelagus humanae miseriae‹, einem satirischen Dialog von Ottmar Nachtigall (Luscinius) (1487–1537) gegen die Gegner des Humanismus, einen belorbeerten Poeten, der ein mit Büchern beladenes Pferd führt, im Gespräch mit einem Schwein, das Narrenkappe und Talar trägt.48 Gesprächspartner sind der humanistische Poet Misobarbarus (also »Hasser des Barbari46 47
48
Siehe ADB, XXVI, S. 810. VD16 C5589, Exemplar in London BL: 3906.dd.10.(9). Zu den Narrendarstellungen der Zeit s. Nikolaus Henkel, Der Zeitgenosse als Narr. Literarische Personencharakteristik in Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ und Jakob Lochers ›Stultifera navis‹, in: Self-fashioning. Personen(selbst)darstellung, hg. von Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra, Frankfurt am Main 2003, S. 53–78. ›Grunnius sophista sive pelagus humanae miseriae‹ (Straßburg: J. Knobloch, Dezember 1522) (VD16 N25; London BL: 1079.c.1). Der Gegensatz zwischen dem gelehrten Poeten und dem ungelehrten Schwein erinnert an die Bemerkung des Curio in den ›Colloquia‹ des Erasmus: Equidem non grauabor dici Curio, modo ne addas animal illud monosyllabum, Veneri iuxta Minervae inuisum (»Ich habe nichts dagegen, Curio zu heißen, vorausgesetzt, daß du mir das einsilbige Tier [gemeint ist sus ›Sau‹; Curio+sus = Curiosus] nicht anhängst, das Venus und Minerva gleichermaßen verhassen«). (›Problema‹, in: Colloquia, hg. von L.-E. Halkin u. a. [Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, I,3], Amsterdam 1972, S. 713). Siehe auch Erasmus’ Adagia, I, 1, 40 (Sus Minervam) und I, 1, 41 (Sus cum Minerva certamen suscepit) (Adagiorum chilias prima, hg. M. L. van Poll-van de Lisdonk u. a. [Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, II,1], Amsterdam 1993, S. 154–156).
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schen«) und der Sophist Grunnius (lat. grunnire = ›grunzen wie ein Schwein‹). Obwohl die Dichterfigur im Holzschnitt vermutlich positiv zu bewerten ist, bringt der Text einen unumwunden negativen Hinweis auf den neumodischen Titel poeta laureatus: Quo magis miranda est, huius tempestatis dementia, quae contra ueterum morem, nihil tribuit studiis, & eruditioni, nisi inanes tytulos falsos que ab insolentissimis disciplinarum tyrannis, ut ne dicam hostibus quoque, magno aere merceris. Nam ut caetera literarum honestamenta, Baccalaureatus (ut vocant) Magisterii Doctoratus, et Licentiatus, isti dehonestant. Ita iam recens inuentum est et solenne, poetas (si modo ulli iam uiuunt Poetae) laureatos appellare. Si quidem parum honoratos putant qui, ut prisci illi, poetae tantum uocantur. Tametsi sordidulis huius modi uoculis, nimiumque affectatis, ac nouis, quibus se multi uiri egregie docti onerari magis sentiunt, quam honore affici. (Bl. 12r–v) (»Noch bemerkenswerter ist der Wahnwitz der heutigen Zeit verglichen mit der Praxis der Alten, daß dem Studium und der Gelehrsamkeit keine Ehre gebührt, läßt man die leeren, wertlosen Titel beiseite, die man für horrendes Geld von unverschämten Despoten, um nicht zu sagen Feinden der Gelehrsamkeit, kaufen kann. Damit entwerten sie die übrigen Auszeichnungen der schönen Literatur, den Bakkalaureus-, Doktor- und Lizenziatentitel. Ähnlich ist es mit dieser neuen Masche, regelmäßig Poetae laureati zu ernennen, wobei vorausgesetzt werden muß, daß es überhaupt Dichter gibt. Es ist, als würde man sie ungenügend ehren, würde man sie wie die früheren schlicht Poeta nennen. Dennoch hat das zur Folge, daß vielen hervorragenden Gelehrten dieser Titel eher Verlegenheit als Vorteil bringt.«)
Das ist im Grunde eine herbes Urteil im Hinblick darauf, daß Kaiser Maximilian, der die Dichterkrönungen so stark gefördert hatte, erst drei Jahre tot war, wie auch darauf, daß die häufigen Dichterkrönungen durch Universitäten damals noch nicht recht in Gang gekommen waren. Ottmar Nachtigall witterte offenbar schon, wohin das alles steuerte, und plädierte dafür, daß nur der Poeta heißen sollte, der den Titel wirklich verdiente. Fast neunzig Jahre später schrieb jemand in das Stammbuch eines Helmstedter Studenten: Non quem Rudolphus sed quem facit auctor Apollo Nobilis est vatesque etc.
Also, Dichter ist eigentlich nur der, den der Dichtergott Apoll dazu bestimmt, nicht der, den Kaiser Rudolf zum Dichter krönt.49 Entsprechend meinte auch Joachim Rachelius Lundinensis (1618–1669), genannt ›der deutsche Juvenal‹, in seiner Satire ›Der Poet‹: [...] ein Poe¨t muß seyn von solchen Gaben, Die nicht ein jederman, geschweig ein Weib, kan haben, Kunst-übung, steter Fleiß die machen einen Mann, Der endlich ein Poet mit Ehren heissen kan. Ja, wer nicht von Natur hiezu ist wie gebohren, Bey dem ist Kunst und Fleiß und Uebung auch verlohren. (V. 217–222) 49
Geschrieben zwischen 1604 und 1609. Zit. nach M. J. Husung, Kaiserlich gekrönte Dichter, Zeitschrift für Bücherfreunde, NF 10 (1918), S. 40–43, hier S. 41.
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Besonders die Pfalzgrafen (und diese meint wohl auch Nachtigall mit den »unverschämten Despoten«) kritisiert Rachelius dafür, daß sie viel zu großzügig beim Verleihen des Titels verfahren: O daß ihr mit dem Krantz’ auch plötzlich dabeneben Ihr Herren von der Pfaltz, Gelahrtheit köntet geben, Ich hett’ euch all mein Guth, ich hett’ euch all mein Geldt (Ihr wißt noch nicht wie viel), vorlängst schon zugestellt. Mag aber das nicht seyn, ist sonsten nichts zu fangen, Als mit den Tituln nur und grossen Briefen prangen, So taug der Handel nicht. (V. 421–427) 50
Der Geldsucht der Pfalzgrafen und eigentlich allen den von Nachtigall vorgebrachten Klagen begegnen wir wieder in einer Rede des Rostocker Professors Heinrich Jacob Sivers aus dem Jahre 1729 über das Thema ›De contemtu poetarum laureatorum, Woher es komme, daß gecrönte Poe¨ten wenig in der Welt aestimiret werden‹.51 Er bemängelt, daß vor allem im 17. Jahrhundert einfach zu viele Leute unverdient gekrönt worden seien: Nonne seculum, qvod nostrum antecedit, tam multos p[r]ocreavit, & ut per iocum loquar, cacavit poe¨tas, vt omni cum veritate dicatur, man könte gantze Colonien damit besetzen? Der leere Titel nütze einem so wenig wie ein Spiegel einem Blinden. Das Hauptproblem sei, daß die Poeten keine Pflichten zu erfüllen hätten. Bereits ein halbes Jahrhundert früher hatte Gottfried Wilhelm Sacer (selber Gekrönter Dichter!) in der Satire ›Reime dich, oder ich fresse dich‹ (1673) das Poetenunwesen persifliert. Angesprochen wird hier wieder eine Narrengestalt, der Wohleitele, Feistköpfige, Wohlausgeleerte, Wohlverierte, Wohlverpithschierte, insonders Hochgeöhrte Eselmännische Hans Wurst Poe¨ticae Laureae Candidate, dem lang und breit erklärt wird, wie er trotz mangelnder Bildung den Lorbeerkranz erstreben kann. Zunächst soll er wissen, daß er weder die Philosophie zu verstehen (»es ist das Philosophiren nur eine vergebliche Sinnenfolterung«, S. 15) noch die Klassiker zu kennen brauche (»Du bist ein Deutsches Bluth, und ein treuer Patriot deines Vaterlandes, vere Germanus, der mit keiner frembden Nation conspiriren wil. Uber diß ist nichts sonderlichs in den alten Poe¨ten anzutreffen.« [S. 19]). Die Satire wirft ein interessantes Licht auf zeitgenössische Praktiken, was das Abfassen von Gelegenheitsgedichten anbelangt: »Wen [= Wenn] heute oder morgen Cuntz Kluge ein Hochzeit-Gedichte 50
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Joachim Rachels Satyrische Gedichte, hg. von Karl Drescher, Halle 1903 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 200/202), S. 104–124. Praevius sermo de contemtu poetarum laureatorum, Woher es komme, daß gecrönte Poe¨ten wenig in der Welt aestimiret werden . . ., in: Henrici Jacobi Sivers, Lubecensis, Philosophiae Doctoris, Opuscula Academica Varno-Balthica, quibus variae dissertationes curiosi argumenti & alia scripta academica continentur . . ., Altona 1730, S. 125–135. Textabdruck und englische Übersetzung in Flood [Anm. 16], Bd. 1, S. ccxxviii−ccxxxii.
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irgend in Franckfurt oder Greyphswalde drücken läst, auff seines Schwagers Köste, und stilt den Anfang aus dem Opitz, das Mittel aus Risten, und das Ende aus dem Flemming, wer wil ihm dieses verdencken [...]« (S. 24). Und in diesem Ton weiter. Erst im Kapitel 49 kommt der Autor dazu zu erklären, wie man zum Lorbeerkranz kommt: Nim deinen Weg zu einem, der von höchsten Welt-Herrschafften das Recht empfangen hat, Sinnreiche und dieser Ehren würdige Tichter mit dem Lorbeerkrantze zu zieren. Dergleichen man C.P. [= Comes Palatinus] heisset. Wische die Scham von der Stirn, und ersuche einen solchen vornehmen Mann, daß er dir die Ehre eines laureirten Poetens wolle zukommen lassen, mache ein Carmen zu unsterblichem Preise der Poesie.
Sollte der Pfalzgraf seinem Wunsch zunächst nicht nachkommen wollen, so solle er ihn eben erneut darum bitten; schließlich sei auch Rom nicht an einem Tag erbaut worden. Wenn er auch dann nicht nachgebe, so solle er ein Jahr warten und es dann bei einem anderen Pfalzgrafen versuchen. Notfalls solle er sein Anliegen durch einen Freund vorbringen lassen, wobei nicht vergessen werden dürfe, daß das Geld eine Rolle spiele: »Pecuniae obediunt omnia, redest du mit Gold so erlangest du Hold« (S. 127). Das Wichtigste sei, sein poetisches Unvermögen nicht zu verraten, bis das Ziel erreicht sei (S. 129). Dann könne man sich des Titels brüsten: Hanß Wurst der ist ein Musen-Sohn Der Tichter tapffre Helden Held Zeige seinen Krantz der gantzen Welt Triumph! Hanß Wurst Triumph! Triumph! Frau Fama deine Ehre hegt Biß zu Herculis Seulen trägt Hanß Wurstens Sieges-Krantz ist da Victoria! Victoria! (S. 132)
Gerade diese Zeilen erinnern stark an die bereits vorhin zitierten Verse des John Skelton: Triumpha, triumpha! they cryid all aboute; Of trumpettis and clariouns the noyse went to Rome; The starry heuyn, me thought, shoke with the shouwte; The grownde gronid and tremblid, the noyse was so stowte: The Quene of Fame commaundid shett fast the boke. (V. 1506–10)
Anliegen vorstehender Ausführungen war nicht, irgendwelche Theorie anzubieten – denn grau ist bekanntlich alle Theorie, und grün des Dichters Lorbeerbaum –, sondern auf das interessante, doch weitgehend vergessene literarhistorische Phänomen der Dichterkrönung zu erinnern und zu zeigen, daß die Dichter, hüben wie drüben, eben auch Menschen sind.
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Die Insignien des Wiener Collegium poetarum et mathematicorum. Holzschnitt von Hans Burgkmair, in Konrad Celtis, ›Rhapsodia, laudes et victoria de Boemannis‹, 1505.
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Abb. 2
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Aus: ›Hystoryes of Troye‹, London: Wynkyn de Worde, 1502.
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Abb. 3
Friedrich III. krönt Celtis zum Dichter (1487).
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Abb. 4
Hieronymus Braunschweig, ›Liber de arte distillandi‹, Straßburg: J. Grüninger, 1500.
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Abb. 5
›Esopus cum commento‹, London: Richard Pynson, 1. XII .1502 (Hodnett [Anm. 16], S. 349, Nr. 1509, Abb. 141).
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Abb. 6
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Aesop, ›Fabule hystoriate‹, übers. von A. Zucco, Venedig: A. de’ Zanni 1528.
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Abb. 7
421
›Compotus manualis ad usum Oxoniensium‹, Oxford: C. Kyrfoth 1519 (Hodnett [Anm. 16], S. 406, Nr. 2068, Abb. 204).
422
Abb. 8
John L. Flood
Robert Whittinton, ›Editio de concinnitate grammatices et constructione‹, London: Wynkyn de Worde, 1517 (vgl. Hodnett [Anm. 16], S. 267, Nr. 926, Abb. 82).
Das Bild des Poeta laureatus in Deutschland und England um 1500
Abb. 9
John Skelton, ›The Garlande of Laurell‹, London: Robert Fawkes 1523.
423
424
Abb. 10
John L. Flood
John Skelton, ›Agaynste a comely coystrowne‹, London: John Rastell, um 1527 (vgl. auch Hodnett [Anm. 16], S. 434, Nr. 2287, Abb. 227).
Das Bild des Poeta laureatus in Deutschland und England um 1500
Abb. 11
Jakob Locher, ›Libri Philomusi. Panegyrici ad Regem Tragediam, de Thurcis et Suldano Dialogus de heresiarchis‹, Straßburg: J. Grüninger, 1497.
425
426
Abb. 12
John L. Flood
Q. Horatius Flaccus, ›Opera‹, hg. von Jakob Locher, Horaz, Straßburg: J. Grüninger 1498.
Das Bild des Poeta laureatus in Deutschland und England um 1500
Abb. 13
›Grunnius sophista sive pelagus humanae miseriae‹, Straßburg: J. Knobloch, Dezember 1522 (VD16 N25).
427
Namenregister
Abaelardus, Petrus 317 Absalon von Lund, Bischof von Roskilde und Erzbischof von Lund 326 Adalbert von Bremen 322 Adam Praemonstratensis 319 Adam von Bremen 322 Aegidius, Petrus 303 Aegidius Romanus 136 Aesop 341f., 404 Aesticampianus, Johannes 202 Agricola, Rudolf (d. J.) 35 Agrippa von Nettesheim 351–354 Alanus ab Insulis 128f., 159 Albert von Stade 232 Albertus Magnus 376 Albrecht Achilles, Markgraf von Brandenburg 401 Albrecht I., Herzog von Österreich 314 Albrecht III., Herzog von Bayern-München 401 Albrecht VI., Herzog von Österreich 401 Albrecht von Halberstadt 139–141 Alexander (der Große) 145, 193, 337f. Alexander de Villa Dei 59, 159 Alfons I., König von Neapel = Alfons V., König von Arago´n 301 Alkuin 326 Ambrosius von Mailand 310 Amerbach, Bonifacius 227 Amerbach, Johannes 202 Ammonius Alexandrinus 21 Ammonius, Levinus 200 Andrelinus, Publius Faustus 400 Angelus, Johannes 75 Angst, Wolfgang 202 Anna von Helmstadt 33 Anselm von Lüttich 324
Anton van Bergen 29, 36, 40f. Apel, Jakob (d. J.) 75 Apuleius Madaurensis, Lucius 34 Arcadelt, Jacques 225 Ariosto, Ludovico 226, 228 Aristoteles 136, 274, 306 Arnold von Lübeck 232, 242f., 250, 254 Augustinus, Aurelius 92, 125, 131, 160, 187, 260, 261f., 264–268, 273f., 276–278, 280–286, 288–291, 296, 347 Augustus → Octavianus, Gaius Julius Caesar Aurifaber, Johann 19 Aurispa, Giovanni 400 Aurogallus, Matthäus 7 Ayrer, Jacobus (d. Ä.) 150 Ayrer, Marcus 388f. Balthasar von Fach 201 Barbaro, Ermolao (d. Ä.) 400 Bartholomäus Coloniensis 202 Bartolini, Riccardo 407 Barzizza, Antonio 67 Basilius (der Große) von Caesarea 309 Bebel, Heinrich 85, 125, 202, 333–345, 354, 383, 407 Beccadelli, Antonio 301 Beckett, Thomas 312, 328 Behaim, Lorenz 228 Behaim, Michael 401 Bempelford, Theodor 226 Berengar von Tours 316 Bergmann von Olpe, Johann 60, 71 Bernhard von Clairvaux 315–317 Bernhard von Hirschfeld 45, 47 Beroaldo, Filippo 334 Bibbiena, Bernardo da 302 Biglia, Andreas 29
430
Namenregister
Bilovius, Bartholomaeus 411 Binchois, Gilles 216, 218, 220, 222 Birken, Sigmund von 403 Boccaccio, Giovanni 67, 99, 100f., 134, 305, 353, 369, 379, 381, 408 Boethius, Anicius Manlius Severinus 127, 129, 216f., 408 Boner, Hieronymus 137 Bonincontrius, Laurentius 400 Brant, Sebastian 56–58, 60–63, 68–74, 77f., 81, 86, 124, 126–130, 132, 134f., 202, 407 Brassicanus, Johannes 202 Braunschweig, Hieronymus 404 Bruno von Brettheim 324 Bucer, Martin 188 Bude´, Guillaume 59 Busch(e), Hermann von dem 201f. Caesar, Gaius Julius 113, 117–119, 238 Caesarius, Johannes 202, 205 Camerarius, Joachim 14, 89f. Camiola von Siena 99 Canter, Jacobus 409 Capito, Wolfgang 31 Carbach(ius), Nikolaus Fabri von 202 Carion, Johannes 186, 188 Castiglione, Baldassare 170, 302, 305–307, 311, 314, 329, 383 Catullus, Gaius Valerius 91, 127, 223 Causley, Charles 4 Celtis, Konrad 154, 223, 228, 343, 353f., 357, 361, 400–404, 406f., 415f. Cerva, Aelius Lampridius 400 Chaucer, Geoffrey 99, 100f., 408 Chre´tien de Troyes 338 Christine de Pizan 379, 381 Cicero, Marcus Tullius 6, 59, 125, 127, 129, 161, 231, 260, 300, 302, 304, 306f., 309–314, 316f., 329, 351, 408 Clichtoveus, Jodocus 29 Cola di Rienzo 260 Cordatus, Konrad 1 Cordier, Mathurin 59, 76f., 79, 81 Cortesi, Paolo 302 Corvinus, Christoph 75 Costurier, Pierre 212 Cranach, Lucas (d. Ä.) 186 Cratander, Andreas 30
Crocus, Richard 201 Cuspinianus, Johannes 201, 328, 407 Cyrillus, Bischof von Jerusalem 262–267 Damasus I., Papst 265 Dante Alighieri 71, 228 Dati, Agostino 67 Dedekind, Friedrich 162 Demokrit 384 Der Stricker 353, 361f., 374, 389 Dietenberger, Johann(es) 6 Diether VI., Freiherr von Dalberg 32–35, 48 Dionigi Roberti, Francesco 277, 280 Dolzig, Hans von 45, 47 Donatus, Aelius 355 Dürer, Albrecht 31, 51, 186 Dufay, Guillaume 216, 218, 222 Duns Scotus, Johannes 159, 275 Eberhard der Deutsche 60 Eberhard II., Herzog von Württemberg 356 Eberhard im Bart, Herzog von Württemberg 356 Eberhard von Be´thune 159 Eck, Johannes 6f., 12 Egbert von Lüttich 338 Elisabeth von Mähren 262, 266 Emser, Hieronymus 2f., 5–7, 13, 24 Engelbert von Admont 314f. Engeltrud von Florenz 99 Erasmus von Rotterdam 5–12, 14–30, 32, 35–42, 44–50, 57, 59f., 68, 74f., 77, 84, 92, 146f., 153, 157, 163f., 170, 175, 177, 179, 193, 199–206, 211f., 261, 334, 336f., 342, 348–352, 354f., 383–385, 392, 405, 411 Estienne, Robert 76 E´tienne de Alinerra 317 Etterlin, Petermann 186 Eusebius von Caesarea 132f., 187, 262f., 265–267 Eutrop 187 Eyb, Albrecht von 365–381 Fabri de Werdea, Johannes 336–339 Fabri, Felix 186f., 197 Farner, Benedikt 333 Felice da Prato 7, 21 Ferdinand I., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 183
Namenregister Ficino, Marsilio 125, 223 Fischart, Johann 92, 154–181, 384, 392 Fischer, Sebastian 183–197 Flacius Illyricus, Matthias 106 Flandrin, Michael 121 Fleming, Paul 49, 414 Folz, Hans 133, 340, 383, 385–391, 393–398 Forster, Johann 14 Franck, Sebastian 186, 334 Frankfurter, Philipp 389 Franz I., König von Frankreich 36, 38, 173 Freher, Marquard 113f. Friedrich II., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 235, 399 Friedrich III. (der Weise), Kurfürst von Sachsen 38f., 41, 43, 45, 47f., 49, 402, 410 Friedrich III., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 400–403, 407 Friedrich von Arnsberg 326 Friedrich, Freiherr von Dalberg 33f. Fries, Johannes 58, 76, 78, 81–87 Froben, Johann 32, 35, 38, 202 Froschauer, Christoph (d. J.) 21–23, 76 Frye, Walter 218 Fulgentius, Fabius Planciades 134 Gaguin, Robert 133 Gallus, Gaius Cornelius 228 Gebhard, Bischof von Eichstätt → Victor II., Papst Gebwiler, Peter 224 Geiler von Kaysersberg, Johann 20, 123–136 Gellius, Aulus 125 Geoffrey von Monmouth 319 Georg, Herzog von Sachsen 1f. Gerald von Wales 326f. Gerbellius, Nicolaus 202 Gerhard von Minden 385 Gerhard von Zütphen 207 Gerson, Johannes 124, 132, 135f. Gervasius von Tilbury 243–248, 250, 253–255 Gesner, Conrad 179 Getrud, Freifrau von Dalberg, geb. Greiffenclau zu Vollrads 33 Glarean, Heinrich Loriti 202, 410 Goethe, Johann Wolfgang von 228 Goldast, Melchior 105–121
431
Gottfried von Straßburg 367, 373f., 399 Gottfried von Winchester 327 Gottfried, Johannes 34 Gower, John 408 Gratius, Ortwinus 201, 203, 206, 208 Gregor I. (der Große), Papst 133 Gregor von Rimini 276 Gross, Christoph 304 Grüninger, Johann 333 Grüzmann, Daniel 406 Gryphius, Andreas 49 Guido von Arezzo 222 Hagenbach, Jacob 226 Haller, Anton 396 Hartbert von Dahlum 231f., 237, 241, 254 Hartmann von Aue 331, 338, 399 Hartmuth von Cronberg 19f. Heimburg, Gregor 402 Heinrich I., König von England 328 Heinrich II., Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 195 Heinrich II., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 102 Heinrich II., König von England 312, 326–328 Heinrich III., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 323, 328 Heinrich IV., Herzog von Schlesien-Breslau 111 Heinrich VI., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 231, 233–235, 241f., 246, 250, 255 Heinrich VIII., König von England 36, 38 Heinrich von Bünau 356 Heinrich von Frauenberg 120 Heinrich von Veldeke 249 Heinz der Kellner 391 Heis, Thomas 76 Helinand von Froidmont 317 Hermann I., Landgraf von Thüringen 251 Hermann von Reichenau 324 Hessus, Eobanus (Helius) 89–93, 95f., 99, 101–103, 201, 209 Hieronymus von Prag 193 Hieronymus, Sophronius Eusebius 125, 134, 204, 261–270, 310 Hippocrates 384 Hochstraten, Jakob von 201 Höltzel, Hieronymus 71
432
Namenregister
Hofhaimer, Paul 223, 225, 228 Holbein, Hans (d. J.) 186 Holzinger, Konrad 356, 360 Homer 90, 95, 145, 408 Horatius Flaccus, Quintus 127, 129, 133, 223, 399, 407, 423 Hugo von Folieto 326 Hugo von St. Viktor 68 Huguccio von Pisa 159, 320f., 331 Hus, Jan 193 Huter, Heinricus 67 Hutten, Ulrich von 32, 90, 154, 201–203, 404, 407 Huttichius, Johannes 202 Innozenz III., Papst 251 Isaac, Heinrich 225 Iselin, Ludwig 227 Isidor von Sevilla 133, 318, 321, 331, 380 Jacques de Vitry 216, 385 Joachim von Anhalt 45f. Johann Friedrich I., Herzog von Sachsen 39, 45, 183 Johann von Dalberg, Bischof von Worms 32–35, 356 Johann von Hinderbach 222 Johann von Neumarkt 255–271 Johanna, Päpstin 100 Johannes Andreae 262 Johannes von Bromyard 131 Johannes Chrysostomus 309 Johannes de Grocheo 216 Johannes de Muris 217 Johannes von Neapel 244 Johannes von Salisbury 242, 245, 312f., 347 Johannes Scotus Eriugena 325f. Jonas, Justus 17 Josephus, Flavius 125 Josquin des Pres 216 Joubert, Laurent 384 Jud, Leo 9, 17, 22f., 29, 41f. Julius II., Papst 36, 302 Juvenalis, Decimus Junius 127–129 Karl (der Große), Kaiser (Hl. Röm. Reich) 326 Karl I., König von Spanien 36
Karl IV., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 258–262, 266, 400 Karl V., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 29, 37f., 45–48, 183, 186, 194 Karl X. Gustav, König von Schweden 25 Karoch von Lichtenberg, Samuel 208 Königstein, Johann 202 Konrad IX. von Weinsberg 401 Konrad von Querfurt, Bischof von Hildesheim und Würzburg 231–255 Konstantin (der Große), Kaiser 187 Konstanze von Sizilien, Kaiserin (Hl. Röm. Reich) 99, 233 Kratzer, Laurenz 304 Kreß, Christoph 224f. Krumpach, Nikolaus 18, 20 Kunigunde, Kaiserin (Hl. Röm. Reich) 92, 102 Ladislaus V., König von Ungarn 401 Lambert von Lüttich 324 Landolfus Sagax 327 Lanfranc von Bec 316f., 325 Lang, Johannes 18–20 Langen, Rudolf von 402 Langschneyderius, Thomas 203 Lasso, Orlando di 225f. Laurinus, Marcus 29 Lazius, Wolfgang 114 Leibfried, Christoph 227 Leo X., Papst 15, 36, 38 Linck, Wenzeslaus 1 Lindener, Michael 199, 203, 207–209, 212f. Lipsius, Justus 117 Liutprand von Cremona 327 Livius, Titus 143, 278–281, 284 Locher, Jakob (gen. Philomusus) 127–130, 134f., 201, 407, 410, 422f. Lorichius, Gerhard 139 Lucanus, Marcus Annaeus 129, 236–239, 242, 408 Luder, Peter 355 Ludwig II., Herzog von Bayern 218 Ludwig V., Kurfürst von der Pfalz 33 Lukas von Barra 326f. Lukian von Samosata 31, 34 Luther, Martin 1–24, 39–43, 46–49, 89–93, 170, 175, 177, 193, 195, 304
Namenregister Lydgate, John 408 Lypsius, Martin 205 Machiavelli, Niccolo` 301 Macrobius, Ambrosius Theodosius 125, 301, 312, 317, 408 Magnus von Anhalt 403 Maibom, Heinrich 117 Mameranus, Nikolaus 406 Mancinelli, Antonio 73 Mantovano, Battista 125 Marchesinus, Johannes 159 Maria von Burgund 227 Markward von Annweiler 234 Martersteig, Friedrich 404 Martianus Capella 404 Martin von Braga 159, 311f., 318 Mathesius, Johann 20 Matthäus von Sion 211 Maximilian I., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 37, 144, 227, 347, 353, 361, 400, 403, 409, 412 Medici, Cosimo de’ 301 Medici, Lorenzo I. de’ 301 Megingaud, Bischof von Eichstätt 323 Mei, Girolamo 215 Melanchthon, Philipp 1f., 14, 19, 43, 47, 202, 217, 360, 407 Mellin de Saint-Gelais 172 Merula, Angelus 106 Metzger, Ambrosius 140 Meuseler, Kaspar 25f., 49 Meyer, Peter 201 Mönch von Salzburg 218 Monteverdi, Claudio 216 Moravus, Augustinus 353f. More, Thomas 11, 204f., 303 Mosellanus, Peter 201 Moter, Abraham 75, 77–79, 86 Mulich, Bartholomäus 68 Muling, Johannes Adelphus 301 Murner, Thomas 202 Mussato, Albertino 399 Mutian, Konrad 39, 202 Myconius, Oswaldus 22 Nachtigall, Ottmar 13, 20f., 411–413 Neckam, Alexander 243f. Negellin, Ulrich 67
433
Neidhart 203 Neuenahr, Hermann von (d. Ä.) 202 Nikolaus von Lyra 132 Ockeghem, Johannes 216, 218, 222 Octavianus, Gaius Julius Caesar 301 Odo von Cherington 341f. Oecolampadius, Johannes 188, 193 Olearius, Adam 25f., 49 Opitz, Martin 49, 74, 105f., 110–121, 215, 414 Ordericus Vitalis 324, 329 Origines 261 Osten, Alexander 201 Osten, Johann 201 Oswald von Wolkenstein 219, 227 Otfrid von Weißenburg 376 Other, Jakob = Otter, Jakob 126 Othmayr, Caspar 228 Otloh von St. Emmeram 58f. Ottheinrich, Kurfürst von der Pfalz 36 Otto IV., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 232f., 243, 250, 254f. Otto von Freising 187, 317 Ovidius Naso, Publius 89–93, 95–103, 127, 129, 134, 140–142, 149, 151, 209, 236–239, 242, 320, 338, 342, 399 Passavanti, Jacobo 160 Pauli, Johannes 126, 134, 393 Paumann, Conrad 218, 220 Pelargus, Christoph 411 Peris, Jacopo 215 Perotti, Niccolo` 133, 334, 400 Persius Flaccus, Aulus 127, 129 Peter von Celle 312 Peter von Eboli 233–235, 241f., 247, 255 Petrarca, Francesco 90, 125, 130–133, 135, 146, 153, 184, 223, 228, 260, 262, 267f., 270, 273, 276f., 279–286, 288f., 292–297, 300, 305, 399f., 400, 403, 406, 408f. Petrarca, Gherardo 279 Petronius Arbiter, Titus 229 Petrus Damiani 313, 315f., 322 Petrus Hispanus 207 Petrus Lombardus 275 Petrus Venerabilis 359 Peutinger, Konrad 202
434
Namenregister
Pfefferkorn, Johannes 201 Philipp II., König von Spanien 183 Philipp von Makedonien 279 Philipp von Schwaben 251, 253 Philipp, Bischof von Utrecht 41f. Philipp, Kurfürst von der Pfalz 36 Philomusus → Locher, Jakob Phrigio, Paul 202 Piccolomini, Enea Silvio 67, 125, 136, 400–402 Pico della Mirandola, Giovanni 125, 171 Pignatelli, Johannes 244, 255 Pinturicchio = Bernardino di Betto 402, 404 Pirckheimer, Willibald 13, 31f., 89, 184, 201, 218, 228, 411 Pius II., Papst → Piccolomini, Enea Silvio Pizzolpasso, Francesco 402 Planudes, Maximus 77 Platon 347 Platter, Felix 217, 224–227 Plautus, Titus Maccius 223, 373 Pleningen, Dietrich von 34–36, 140, 144 Plinius Secundus Maior, Gaius 125, 127, 129, 186f., 200, 212 Plutarch 31, 45f., 127, 137, 305, 408 Poggio Bracciolini, Gian Francesco 67, 132, 135, 193, 300, 306, 314, 324, 354, 383, 392, 408 Poliziano, Angelo 301, 334 Polydorus Vergilius 146, 153, 196f., 334, 336 Pompeius Magnus, Gnaeus 117 Pomponius Laetus, Julius 400 Pontano, Giovanni Gioviano 299, 301f., 306–308, 311, 332, 383 Pope, Alexander 408 Poppo II., Graf von Wertheim 250 Porcelli, Jacobus Antonius Pandonus 400 Posthius, Johannes 406 Proba, Faltonia Betita 380f. Propertius, Sextus 91, 129, 408 Pullois, Jean 219 Pynson, Richard 404 Quintilianus, Marcus Fabius 125, 127, 136, 306 Rab, Christoph → Corvinus, Christoph Rabelais, Franc¸ois 155–181, 208, 384
Rachelius Lundinensis, Joachim 412 Ransmayr, Christoph 89 Rastell, John 405f. Regiomontanus, Johannes 221 Reicher, Lienhard 29, 36, 48 Reinerus Alemannicus 320 Reinmar von Zweter 115 Rem, Lucas 192 Reuchlin, Johannes 20, 34f., 201–203, 205, 210, 355–358, 360–362 Rhenanus, Beatus 32, 124–126, 202, 355 Richard von Bury 132 Rist, Johann 26, 403, 414 Robertin, Robert 121 Roger II., König von Sizilien 247 Rosenplüt, Hans 220, 386 Rubeanus, Crotus 199, 201 Rudolf II., Kaiser (Hl. Röm. Reich) 400, 406, 412 Rudolf von Habsburg 328 Rufinus von Aquileia 309 Rupert von Durne 250
Sacer, Gottfried Wilhelm 413 Sachs, Hans 138, 141, 184 Sallustius Crispus, Gaius 144 Sanuda, Nicolosa 379 Sapidus, Johannes 202 Saum, Konrad 187 Saumaise, Claude 121 Saxo Grammaticus 319 Schaidenreisser, Simon Minervius 145f., 153 Schallenberg, Christoph von 229 Schede Melissus, Paul 403 Schedel, Hartmann 217–225, 227f., 396f. Schedel, Johannes 218 Schlauraff, Philipp 201f., 207 Schoepflin, Thomas 224 Schöffer, Johann 143 Schöfferlin, Bernhard 143f., 150 Schönauer, Thiebold 226 Schönberg, Arnold 228 Schott, Peter 125, 136 Schottel(ius), Justus Georg 55 Schürer, Lazarus 411 Schürer, Matthias 30, 40f., 333 Schütz, Heinrich 215
Namenregister Schumann, Valentin 18 Schwarzenberg, Johann von 92 Scultetus, Tobias 121 Seger, Johann 406 Seneca, Lucius Annaeus 125, 127, 129, 132, 159, 278, 311, 326, 347, 403, 408 Senfl, Ludwig 223, 225, 228 Seuse, Heinrich 273f., 276, 286, 288–297 Sibutus, Georg 201 Sidonius Apollinaris, Gaius Sollius 310 Sieder, Johann 34 Siegfried, Kaspar 75 Sigebert von Gembloux 324 Sigismund, Kaiser (Hl. Röm. Reich) 400 Silius Italicus, Tiberius Catius Asconius 83, 129 Sivers, Heinrich Jacob 413 Skelton, John 405–408, 414, 420f. Sokrates 187, 326, 350, 368 Spalatin, Georg 17, 25, 27–29, 38–50, 202 Spelman, Henry 114f. Spengler, Lazarus 93 Spiegel, Jakob 202 Stagel, Elsbeth 289f. Stapleton, Thomas 303 Stefano, Emilio Giovanni 400 Stephan von Alinerra → Etie´nne de Alinerra Stephan von Bourbon 365 Stephan von Dorpat 65f., 68 Stephanus Byzantinus 199 Stromer, Ulman 192 Stuchs, Hans 385 Stumpf, Johannes 186 Suchenwirt, Peter 332 Suetonius Tranquillus, Gaius 301, 327 Suger von St. Denis 319, 324 Sulpicius Verulanus, Johannes 159 Sven (II.?), König von Dänemark 319 Tannstetter Collimitius, Georg 201 Tasso, Torquato 228 Tatius Alpinus, Marcus 146 Terentius Afer, Publius 127, 132f., 179, 223, 355, 408 Theodoret von Kyros 187 Theodulus Italus 159 Thomas von Aquin 128, 133, 313–315 Thomas von Erfurt 159
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Tibullus, Albius 91 Trebellius, Hermann 201 Trithemius, Johannes 132 Tritonius, Petrus 223 Tucher, Endres 192 Tunnicius, Antonius 335 Tyndale, William 4, 10f., 16 Uhland, Ludwig 228 Vadian, Joachim 201, 211 Valerian von Cimiez 315 Valerius Maximus 131, 317 Valla, Lorenzo 6, 67, 84f. Valori, Niccolo` 301 Varnbüler, Ulrich (d. Ä.) 25, 28–38, 48–51 Varnbüler, Ulrich (d. J.) 32 Verdelot, Philippe 225f. Vereander, Paulus 202 Vergilius Maro, Publius 101, 128f., 209, 223, 235–239, 242–253, 255, 293f., 380f., 399, 407f. Vespasianus, Titus Flavius, Kaiser 327 Vicentino, Nicola 215 Victor II., Papst 323 Vigilius, Stephan 146 Vinzenz von Beauvais 187, 408 Vives, Juan Luis 164 Vock, Helwig 76 Volz, Paul 46 Vulcanius, Bonaventura 106 Warner, Marina 89 Wechel, Johannes 77 Weidmann, Konrad 202 Werder, Diederich von dem 26 Werner von Themar, Adam 34f. Priester Wernher 378 Wert, Giaches de 228 Whittinton, Robert 405 Wickram, Jörg (Georg) 137–142, 145–154 Widukind 116f. Wilhelm I. (der Eroberer), König von England 327 Wilhelm II. (der Rote), König von England 329 Wilhelm IX., Herzog von Aquitanien 329 Wilhelm von Conches 312
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Namenregister
Wilhelm von Jumie`ges 329 Wilhelm von Lüneburg 243 Wilhelm von Malmesbury 317, 323, 325f., 328f. Wilhelm von Ockham 275f. Wilhelm von Poitiers 329 Wimpheling, Jakob 20, 34, 124f., 135f., 202, 358 Wittenwiler, Heinrich 376f., 393 Wittich, Ivo 143 Wolbodo, Bischof von Lüttich 326 Wolf II., Freiherr von Dalberg 33 Wolff, Thomas (d. J.) 125
Wolfram von Eschenbach 248–253 Wulfrann von Prüm 317 Wyle, Niklas von 369, 379, 402 Wynkyn de Worde 404f.
Zasius, Ulrich 202 Zehender, Bartholomäus → Bartholomaeus Coloniensis Zelter, Carl Friedrich 228 Zesen, Philipp von 403 Zink, Burkhard 192 Zwingli, Huldrych 22, 193