E. Biesinger H. Iro (Hrsg.) HNO Praxis heute 27
E. Biesinger H. Iro (Hrsg.)
HNO Praxis heute Begründet von H. Ganz B...
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E. Biesinger H. Iro (Hrsg.) HNO Praxis heute 27
E. Biesinger H. Iro (Hrsg.)
HNO Praxis heute Begründet von H. Ganz Band 27 Schwindel Unter Mitarbeit von J. H. J. Allum, A. H. Clarke, A. Ernst, K.-F. Hamann, K. Helling, P. Henningsen, K. Janke, J. Langer, T. Lempert, W. Moshage, J. Ronel, B. Schick, L. E. Walther, A. Wienke
123
Dr. med. Eberhard Biesinger Maxplatz 5 83278 Traunstein
Prof. Dr. med. Heinrich Iro Universitäts-HNO-Klinik Waldstraße 1 91054 Erlangen
ISSN 0173-9859 ISBN-978-3-540-47443-2 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeit ungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literarturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Lars Rüttinger, Heidelberg Projektbetreuung: Ina Conrad, Dr. Lars Rüttinger, Heidelberg Lektorat: Frauke Bahle, Karlsruhe Design: deblik Berlin Titelbild: deblik Berlin SPIN: 11810421 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier 2111 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich hätte das Vorwort für den vorliegenden Band anders ausfallen sollen, aber nun müssen wir leider darauf hinweisen, dass dies die letzte Ausgabe der »HNO-Praxis heute« sein wird! Nachdem die Anzahl der Abonnenten laufend zurückgegangen ist, hat sich der Verlag entschlossen, diese von Herrn Kollegen Ganz mit viel Enthusiasmus begründete Buchreihe einzustellen. Nach nun mehr 27 erfolgreichen Bänden ist dies natürlich eine traurige Mitteilung! Wie das vorliegende Buch wiederum beweist, war diese Reihe hervorragend geeignet, um Themen unter pragmatischen Gesichtspunkten darzustellen, begreifbar zu machen und »trotz« hervorragendem wissenschaftlichem Hintergrundwissen verständlich darzustellen. Unter der Schirmherrschaft von Herrn Prof. Hamann aus München ist nun eine Übersicht über das Thema »Schwindel« entstanden, die in der Literatur Ihresgleichen sucht. Sie werden hier ganz praktische Hilfen für die Diagnostik und Therapie finden und in der Praxis umsetzen können. Endlich können Sie in Ruhe nachvollziehen, wie eine Canalolithiais zustande kommt und wie differenziert man sie behandelt, die modernen diagnostischen Verfahren kennen lernen, mit den Experten über den zervikalen Schwindel streiten, rechtliche Aspekte überdenken und über den Tellerrand in die Neurologie und Innere Medizin schauen! Das Thema »Schwindel« war uns ein besonderes Anliegen, da die Diagnostik und insbesondere auch die Therapie von Gleichgewichtsstörungen in der Praxis besonders gepflegt werden müssen damit die Hals-Nasen-OhrenärztInnen ihre Kompetenz für die verschiedenen Störungen des Gleichgewichtsinnes behalten und ausbauen können! Bleiben Sie also »am Ball« und genießen Sie hochaktuelle Information! In diesem Sinne müssen wir uns leider verabschieden. Traunstein/Erlangen im April 2007 Dr. Eberhard Biesinger Professor Dr.med. Heinrich Iro
VII
Inhaltsverzeichnis 1
Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel . . . . . . . . . .
3 1
K.-F. Hamann 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.3
2
Die Bedeutung des vestibulären Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegendes zur VestibularisDiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungen der Blickmotorik . Untersuchungen der Spinalmotorik Weitere Untersuchungsmethoden . Grundlegendes zur Therapie . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
K. Helling, A.H. Clarke
. .
2
. . . . . . .
. . . . . . .
3 4 5 6 6 7 7
Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung . . . . . . . . .
9
3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5
A.H. Clarke 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.5 2.6
Otolithenfunktion: Vernachlässigtes Element in Praxis und Klinik . . . . . . 23
Die Orientierung im Raum . . . . . . . . Das vestibuläre Labyrinth . . . . . . . . . Die vestibuläre Sinneszelle . . . . . . . . Die Sinnesrezeptoren der Bogengänge Die Sinnesrezeptoren der Otolithenorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der vestibulookuläre Reflex . . . . . . . . Der Zusammenhang des VOR mit anderen Arten der Augenbewegung . . Die vestibulospinalen Reflexe. . . . . . . Die zentralvestibulären Bahnen . . . . . Vestibuloautonome Regulation . . . . . Vestibuläre Kompensation. . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 10 12 13 14 15 15 15 17 19 19 20 21
4
Die Funktion der Otolithenorgane . . . Die Morphologie der Otolithenorgane Funktionsprüfungen der Otolithenorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der otolith-okuläre Reflex . . . . . . . . . Funktionsprüfung des Utrikulus . . . . . Funktionsprüfung des Sakkulus . . . . . Klinik der Otolithenorgane . . . . . . . . Funktionsstörungen des Sakkulus . . . Funktionsstörungen des Utrikulus . . . Tumarkin-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungskrankheit . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24 24 25 25 26 28 29 29 30 31 32 32 33
Der gutartige Lagerungsschwindel: Diagnostik und Therapie . . . . . . . . 37 K.-F. Hamann
4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2
Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsbefunde . . . . . . . . . Befall des hinteren vertikalen Bogengangs . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung des horizontalen Bogengangs . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung des vorderen vertikalen Bogengangs . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befreiungsmanöver für den hinteren vertikalen Bogengang nach Semont . Befreiungsmanöver für den hinteren vertikalen Bogengang nach Epley . . .
. . . .
39 39 40 40
. 40 . 41 . 41 . 41 . 42 . 42
VIII
Inhaltsverzeichnis
4.5.3
Befreiungsmanöver für den horizontalen Bogengang . . . . . . . Lagerungstraining nach Brandt und Daroff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . Beidseitige Canalolithiasis . . . . . . . Rezidive . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.5.4 4.5.5 4.5.6 4.6
. . 42 . . . . .
. . . . .
43 44 45 45 45
6.5.2 6.5.3 6.5.4 6.5.5
7 5
Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und praktische Relevanz . . . . . . . . . . . 47 J.H.J. Allum
5.1 5.2 5.3
5.4
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtung eines Defizits der Gleichgewichtskontrolle im Stehen . . . Beobachtung eines Defizits der Gleichgewichtskontrolle bei Gehbewegungen . . . . . . . . . . . . Der ältere sturzgefährdete Mensch . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48 49
53 56 58
Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen . . . . . . . . . 59
7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.3 7.3.1
7.4
L. E. Walther 6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6 6.4 6.5 6.5.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese beim Symptom Schwindel Vestibularisprüfungen . . . . . . . . . . Diagnostisches Konzept . . . . . . . . . Die Suche nach Spontannystagmus . Qualitative Untersuchungen und Screeningverfahren . . . . . . . . . . . . Provokationsnystagmus . . . . . . . . . Die thermische Prüfung . . . . . . . . . Diagnostik der Otolithenorgane . . . . Serologische Untersuchungen bei vestibulären Störungen . . . . . . . . . Therapie ausgewählter Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akuter isolierter Vestibularisausfall . .
. . . . .
60 60 62 62 63
. . . .
65 66 67 68
. 70 . 72 . 72
. . 73 . . . .
. . . .
74 74 75 76
Die chirurgische Behandlung von Gleichgewichtsstörungen . . . . 79 A. Ernst
7.3.2
6
Menière-Krankheit. . . . . . . . . . . . Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . Borreliose . . . . . . . . . . . . . . . . . Zoster oticus . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkrankungen des peripheren Gleichgewichtsorgans . . . . . . . . . . . Menière-Krankheit. . . . . . . . . . . . . . Endolymphhydrops . . . . . . . . . . . . . Erkrankungen der Bogengänge . . . . . Weitere Erkrankungen des peripheren Gleichgewichtsorgans . . . . . . . . . . . Erkrankungen des zentralen Anteils des Gleichgewichtssystems . . . . . . . . Neurovaskuläre Kompressionssyndrome des 8. Hirnnerven . . . . . . . Weitere Erkrankungen des zentralen Gleichgewichtssystems. . . . . . . . . . . Fazit für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80 80 80 81 81 83 83 83 84 85 85
Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen . . . . 87 B. Schick, H. Iro
8.1 8.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.4
Einleitung . . . . . . . . . . . . Das Wachstumsverhalten . . Therapieentscheidungen . . Konservatives Management Operative Therapie . . . . . . Radiochirurgie . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
88 88 89 89 90 94 95 96
IX Inhaltsverzeichnis
9
Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen. . . . . . 99 J. Ronel, P. Henningsen
9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3
9.4 9.5
10
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwindel als Folge psychischer Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positiv empfundener Schwindel . . . . Somatoforme Schwindelerkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . Schwindel als Symptom einer Angsterkrankung . . . . . . . . . . . . . Schwindel als Symptom einer depressiven Störung . . . . . . . . . . . Schwindel als Symptom einer dissoziativen Störung . . . . . . . . . . . Schwindel als Ursache psychischer Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärer somatoformer Schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phobischer Schwankschwindel. . . . . Akute Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen als Folge von organischen Schwindelerkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . Schwindel und psychische Beschwerden als komorbide Phänomene . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 100
10.6
Verlauf und Prognose der Neuronitis vestibularis – Auswertung der Erkrankungsfälle . . . . . . . . . . . . . 10.6.1 Material und Methoden . . . . . . . . 10.6.2 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6.3 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 101 . 101
. . . . . . . . .
117 118 118 119
. 102
11 . 102
Der sogenannte zervikale Schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 E. Biesinger
. 103 11.1 . 104 11.2 . 104 . 104 . 105
12
Die Hypothese: Das vestibulookulärzervikale Missmatch . . . . . . . . . . . . 122 Die Expertendiskussion . . . . . . . . . . 124 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Schwindel aus internistischer Sicht . 131 W. Moshage
. 105 . 106 . 106 . 107
Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . 109
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnosen . . . . . . . . . Klinischer Befund und Diagnostik . . Akutstadium . . . . . . . . . . . . . . . Kompensationsstadium . . . . . . . . Therapie der Neuronitis vestibularis. Akutstadium . . . . . . . . . . . . . . . Kompensationsstadium . . . . . . . .
. . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
12.1 12.2 12.2.1 12.2.2 12.3 12.3.1 12.3.2 12.4
J. Langer 10.1 10.2 10.3 10.4 10.4.1 10.4.2 10.5 10.5.1 10.5.2
. . . .
. . . . . . . . .
110 110 110 110 110 112 117 117 117
13
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . Internistische Erkrankungen mit möglicher Schwindelsymptomatik . . Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internistische Erkrankungen und deren Zusammenhang mit Schwindel Diagnostik und Therapie . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 132 . 132 . 132 . . . . . .
133 138 138 143 144 145
Schwindel aus neurologischer Sicht 147 T. Lempert
13.1 13.2 13.2.1 13.2.2 13.2.3
Migräneschwindel . . . . . . . . . . . Vaskuläre Schwindelsyndrome . . . Labyrinthischämie . . . . . . . . . . . Hirnstamm- und Kleinhirninfarkte . Zerebrale Mikroangiopathie . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
148 150 151 151 152
X
Inhaltsverzeichnis
13.2.4 Orthostatische Hypotonie und kardiale Arrhythmien . . . . . . . 13.3 Gangstörungen . . . . . . . . . . 13.4 Neurovaskuläre Kompression des Nervus vestibularis (Vestibularisparoxysmie). . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . 152 . . . . . 153
. . . . . 155 . . . . . 155
14.6 14.7
Strafrechtliche Haftung des Arztes . . . 164 Zusammenfassende Bewertung . . . . . 164 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
15
Physikalische Therapie des Schwindels . . . . . . . . . . . . . . . 167 K.-F. Hamann
14
Rechtliche Aspekte bei Schwindel . . 157 A. Wienke, K. Janke
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ärztliche Behandlung nach dem aktuellen und anerkannten medizinischen Standard . . . . . . . . . . 14.3 Schwindel als Gegenstand der ärztlichen Aufklärung . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Therapeutische Sicherungsaufklärung bei Schwindel. . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.2 Eingriffs- und Risikoaufklärung bei krankheitsbedingtem Schwindel . . . . 14.3.3 Eingriffs und Risikoaufklärung bei maßnahmebedingtem Schwindel . . . . 14.4 Überwachungs- und Mitteilungspflichten bei Schwindel . . . . . . . . . . 14.5 Zivilrechtliche Haftung des Arztes . . . . 14.1 14.2
15.1 15.2
159
15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5
159
15.3.6
158
158
160
15.4
Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . Indikationen zum vestibulären Habituationstraining . . . . . . . . . . . Trainingsprogramm . . . . . . . . . . . . Fixationsübungen . . . . . . . . . . . . . Folgebewegungen der Augen . . . . . Optokinetisches Training. . . . . . . . . Motorisches Lernen . . . . . . . . . . . . Habituationstraining bei bettlägrigen Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Habituationstraining bei Störungen des Sakkulus . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Empfehlungen . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 168 . . . . . .
168 170 171 172 172 173
. 174 . 175 . 175 . 176
160 161 162
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
XI
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Biomed. Ing. J. H. J. Allum
Dr. med. J. Langer
Universitätsspital Basel HNO-Klinik Hebelstrasse 10 CH-4031 Basel
Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Ameos Klinikum St. Salvator Halberstadt GmbH Gleimstraße 5 38820 Halberstadt
Prof. Dr.-Ing. A. H. Clarke Vestibular Research Lab Charité Medical School Campus Benjamin Franklin Hindenburgdamm 30 12200 Berlin
Prof. Dr. med. T. Lempert
Prof. Dr. med. A. Ernst
Prof. Dr. med. W. Moshage
Klinik für HNO-Heilkunde Unfallkrankenhaus Berlin Warener Straße 7 12683 Berlin
Abteilung für Kardiologie Klinikum Traunstein Cuno-Niggl-Straße 3 83278 Traunstein
Prof. Dr. med. K.-F. Hamann
Dr. med. J. Ronel
HNO-Klinik und Poliklinik Klinikum rechts der Isar der TU München Ismaninger Straße 22 81675 München
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar der TU München Langerstraße 3 81675 München
Abteilung für Neurologie Schlosspark-Klinik Heubnerweg 2 14059 Berlin
Dr. med. habil. K. Helling HNO-Klinik und Poliklinik Klinikum der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Langenbeckstraße 1 55101 Mainz
PD Dr. med. B. Schick HNO-Klinik Universitätsklinikum Erlangen Waldstraße 1 91054 Erlangen
Prof. Dr. med. P. Henningsen Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar der TU München Langerstraße 3 81675 München
K. Janke Bonner Straße 323 50968 Köln
PD Dr. med. L. E. Walther HNO-Praxis im Main-Taunus-Zentrum 65843 Sulzbach
Dr. A. Wienke Bonner Straße 323 50968 Köln
XIII
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände Audiologie und Pädaudiologie Ambulante Rehabilitation (Seidler) Audiometrie, topodiagnostische (Fleischer/Kießling) Auditive Wahrnehmung, Diagnostik (Berger) Auditive Perzeption, therapeutische Ansätze (Hesse) Der Schweregrad des Tinnitus (Goebel/Biesinger/Hiller/Greimel) Die Deutsche Tinnitus-Liga e.V. (Knör) Die Tinnitusambulanz an der HNO-Klinik (D‹Amelio et al.) Die Tinnitussprechstunde in der Praxis, integrierte Versorgung (Biesinger/Kypke) Frühförderung, hörgestörter Kinder (Kruse) Grenzen der ambulanten Tinnitustherapie und Einweisungsprozeduren (Hesse/Schaaf ) Hörgeräte (Niemeyer) Hörgeräte-Versorgung (Plath) Hörgeräte, knochenverankerte (Niehaus) Hörgeräteversorgung, aktuelle (von Wedel/Meister) Hörprüfung, im ersten Lebensjahr (Plath) Impedanzaudiometrie (Kießling) Lärmschwerhörigkeit, Begutachtung (Niemeyer) Medikamente für die Tinnitustherapie (Mazurek/Haupt/Gross) Moderne instrumentelle, akustische Therapie des Tinnitus (Wesendahl/ Borowsky/Winter) Ohrpassstück (Pawlata/Kubicke) Psychiatrische Komorbidität bei Tinnitus (Goebel/Fichter) Psychologisch fundierte Interventionen bei chronischem Tinnitus (Kröner-Herweg) Schwerhörigkeit durch Lärm (Niemeyer) Simulationsprüfung/objektive Audiometrie (Niemeyer) Stationäre Behandlung von Patienten mit dekompensiertem Tinnitus in einer »Tinnitusklinik« (Goebel) Strukturierte Tinnitusgruppentherapie beim chronisch-komplexem Tinnitus im Rahmen des Tinnitus-Care-Programms (Zenner/Zalaman) Tinnitus heute: ein Wahrnehmungsproblem? (Brehmer) Tinnitussensitivierung (-sensibilisierung) als neurophysiologisches Modell des sekundär zentralisierten Tinnitus (Zenner/Zalaman/Birbaumer) Zentrale Prozesse bei Tinnitus und ihre Bildgebung (Greimel/Biesinger)
Band 21 Band 1 Band 20 Band 21 Band 25 Band 25 Band 25 Band 25 Band 4 Band 25 Band 1 Band 16 Band 15 Band 21 Band 4 Band 2 Band 20 Band 25 Band 25 Band 22 Band 25 Band 25 Band 18 Band 4 Band 25 Band 25 Band 25 Band 25 Band 25
XIV
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Otologie Abstehende Ohren (Koch) Akustikusneurinom (Haid) Antibiotika, ototoxische (Federspil) Cochlea-Implantate (Burian) Cochlea-Implantate, Neues (Laszig/Marangos) Emissionen, otoakustische (Koch) Funktionsweise des Innenohres (Ruppersberg) Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und klinische Relevanz (Allum) Gleichgewichtsstörungen, chirurgische Behandlung (Ernst) Hereditäre Hörstörungen, Otosklerose (Keßler) Hirnabszess, otorhinogener (Pellant et al.) Hörgeräte, Implantation (Weber) Hörsturz (Wilhelm) Innenohrschwerhörigkeit, Pathophysiologie (Zenner) Innenohrschwerhörigkeit, Pharmakologie (Zenner) Kinetosen (Delb) Labyrinthäre Gleichgewichtsstörungen (Morgenstern) Lagerungsschwindel, gutartiger: Diagnostik und Therapie (K.-F- Hamann) Neuronitis vestibularis - Verlauf und Prognose (Langer) Menière, Diagnostik (Delb) Mikrochirurgie des Ohres in der Praxis (Ganz) Mittelohrcholesteatom (Steinbach) Ohrerkrankungen, bei LKG-Spalten (Steinhart) Ohrmuscheltrauma (Weerda) Ohroperationen, Nachbehandlung (Ganz) Ohrtrompete, Erkrankungen (Tiedemann) Ohrtrompete, offene (Münker) Otitis externa (Ganz) Otitis media, kindliche, Therapie (Federspil) Otitiskomplikationen, heute (Fleischer) Otolithenfunktion – vernachlässigtes Element in Klinik und Praxis (Helling, Clarke) Otosklerose, Chirurgie (Schrader/Jahnke) RetroX (Wesendahl) Schwerhörigkeit im Alter (Brusis) Seromukotympanon (Tolsdorff ) Symphonix Soundbridge System (Lenarz) TICA-Hörsystem, Vollimplantation (Zenner) Tinnitus (Lenarz) Trauma, und Hörstörungen (Kellerhals) Tumoren des äußeren Ohres (Koch/Kiefer) Tympanoplastik, Fortschritte (Helms) Tympanosklerose (Steinbach) Vestibuläre Störungen, Diagnostik und Therapie (Walther)
Band 12 Band 5 Band 2 Band 3 Band 18 Band 11 Band 16 Band 27 Band 27 Band 8 Band 19 Band 21 Band 7 Band 21 Band 21 Band 15 Band 8 Band 27 Band 27 Band 14 Band 1 Band 5 Band 17 Band 11 Band 14 Band 4 Band 12 Band 11 Band 4 Band 9 Band 27 Band 14 Band 21 Band 7 Band 13 Band 21 Band 21 Band 10 Band 2 Band 16 Band 12 Band 7 Band 27
XV Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Das vestibuläre System - eine Kurzbeschreibung (Clarke) Vestibularisdiagnostik (Haid) Vestibularisschwannome, aktuelles Management (Schick, Iro) Vertebragener Schwindel (Hülse) Der sog. „zervikale Schwindel“ (Biesinger) Zervikaler Schwindel (Mayer)
Band 27 Band 6 Band 27 Band 24 Band 27 Band 6
Rhinologie Aerodynamik der Nase (Mlynski) Allergie und Nase (Albegger) Entzündliche Erkrankungen der Nebenhöhlen, Komplikationen (Zenk/Constantinidis/Bozzato/Iro) Funktionsdiagnostik (Maranta/Gammert) Keilbeinhöhle, Erkrankungen (Knöbber) Nasenbluten (Koch/Bärmann) Die Nasennebenhöhlen als Fokus (Schick) Nasenpolypen (Ganz) Nasentropfen, Entwöhnung (Ganz) Nebenhöhlenchirurgie heute Teil I: Stirnhöhlenchirurgie (Federspil) Nebenhöhlenchirurgie, endonasale (Draf/Weber) Nebenhöhlenchirurgie, Komplikationen (Ganz) Papilloma inversum (Schuss) Riechstörungen – Ursachen, Diagnostik und Therapie (Hummel et al.) Rhinopathie, vasomotorische (Paulsen) Rhinopathie, vasomotorische – Aktueller Stand der Therapie (Winter) Rhinoplastik, korrektive (Krisch) Septumoperationen (Ganz) Sinusitis beim Kinde (Knöbber) Sinusitistherapie in der Praxis (Messerklinger) Sinusitistherapie heute (Ganz) Tumoren und tumorähnliche Läsionen der Nase und Nasennebenhöhlen (Berghaus/Bloching) Ultraschalldiagnostik, der Nebenhöhlen (Mann) Verletzungen, seitliches Mittelgesicht (Ganz) Verletzungen, zentrales Mittelgesicht (Ganz) Zysten und Zelen der Nebenhöhlen (Ganz)
Band 20 Band 1 Band 22 Band 15 Band 17 Band 14 Band 26 Band 5 Band 2 Band 8 Band 12 Band 3 Band 19 Band 24 Band 11 Band 24 Band 10 Band 2 Band 12 Band 1 Band 19 Band 16 Band 5 Band 9 Band 4 Band 8
Mundhöhle/Rachen Burning-mouth-Syndrom (Reiß/Reiß) Mundschleimhaut- und Zungenbrennen, Burning-mouth-Syndrom (Waldfahrer) Dysphagie, Diagnostik (Walther) Globusgefühl (V. Jahnke) Pharyngitis, chronische (Ganz) Präkanzerosen Mundhöhle/Lippen (Rupec)
Band 22 Band 24 Band 14 Band 6 Band 9 Band 8
XVI
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Schleimhauterkrankungen Mundhöhle (V. Jahnke) Schluckauf (Federspil/Zenk/Iro) Schnarchen, Schlafapnoe-Syndrom (Schäfer/Pirsig) Schwellungen im Parotisbereich (Schätzle) Sialorrhoe und Xerostomie (Zenk et al.) Sonographie Schilddrüse (Becker) Speicheldrüsentumoren (Haubrich) Speichelsteinkrankheit (Knöbber) Speichelsteine, Therapie (Zenk/Iro) Die Tonsille als Fokus (Reiß/Reiß) Tonsillektomie heute (Deitmer) Tonsillektomie und Immunologie (Haubrich/Botzenhardt) Tonsillitis (Wilhelm/Schätzle) Tumoren Mundhöhle und Mundrachen (Schedler/Schätzle) Verletzungen, Mundhöhle und Mundrachen (Ganz) Zysten und Fisteln des Halses (Chilla)
Band 3 Band 17 Band 10 Band 2 Band 24 Band 20 Band 4 Band 8 Band 17 Band 26 Band 20 Band 6 Band 9 Band 10 Band 5 Band 14
Laryngologie/Phoniatrie Akute Luftnot -- was tun? (Knöbber) Aphasien (Rosanowski/Eysholdt) Dysphonie -- die subjektive Seite der (Rosanowski/Hoppe) Elektromyographie (Šram) Halsweichteilschwellungen (Knöbber) Kehlkopf und Trachea, Verletzungen (Ganz) Kehlkopf und untere Luftwege, Endoskopie (Roessler/Grossenbacher) Kehlkopfkarzinom (Steinhart) Kontaktgranulom (Barth) Laryngitis, chronische (Oeken/Behrendt/Görisch) Laryngotrachealstenosen (Gammert) Luft- und Speisewegsfremdkörper (Skerik) Lähmungen, Kehlkopf- (Barth) Musculus cricothyreoideus, Pathologie (Kruse) Phonochirurgie (Eysholdt) Recurrensparese, beidseitige (Iro) Rehabilitation von Kehlkopflosen (Plath) Schilddrüse und HNO-Arzt (Chilla) Singstimme, Erkrankungen (Barth) Sprachentwicklung, Störungen (Barth) Sprachentwicklung und ihre Störungen (Berger) Stimmlippenknötchen (Martin) Stimmstörungen, funktionell-psychogene (Brodnitz) Stimmstörungen, hyper- und hypofunktionelle (Kruse) Stottern und Poltern (Johannsen/Schulze) Tumoren, gutartige, des Kehlkopfes (Knecht/Meyer-Breiting)
Band 7 Band 15 Band 24 Band 15 Band 11 Band 11 Band 11 Band 19 Band 5 Band 9 Band 4 Band 7 Band 7 Band 5 Band 18 Band 19 Band 8 Band 10 Band 14 Band 12 Band 16 Band 6 Band 5 Band 2 Band 13 Band 17
XVII Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Regionale plastische Chirurgie Regionale Lappenplastiken (Staindl) Wundheilung, Narbenbildung, Narbenkorrektur (Staindl)
Band 13 Band 9
Spezielle Tumorkapitel Adenoid-zystisches Karzinom (Wilke) Basaliome (Gammert) Diagnose kein Tumor (Ganz) Lippentumoren, maligne (Schedler/Federspil) Lymphome, maligne (Chilla) Melanom, malignes (Rosemann) Nasenrachentumoren, maligne (Schedler/Schätzle) Tumorschmerzen (Knöbber)
Band 6 Band 5 Band 6 Band 8 Band 15 Band 3 Band 13 Band 15
Allgemeine Themen/Randgebiete Aids-Manifestationen (Weidauer) Akupunktur im HNO-Gebiet (Ganz/Gleditsch/Majer/Pildner) Alles nur Einbildung? Über die Wirkung von »Placebos« (Greimel) Alternative Medizin (Friese) Antibiotikatherapie (Limbert/Klesel) Antibiotikatherapie, lokale (Ganz) Atopisches Kind (Fölster-Holst/Christophers) Autoimmunerkrankungen (Starek/Bystron) B-Bild-Sonographie (Ganz) Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde (Rohrbach/Laskawi) Computerassistierte Chirurgie (Plinkert/Federspil) Computergestützte Navigation (Heermann/Majdani/Lenarz) CT, Leistungsfähigkeit im HNO-Bereich (Elies) Dopplersonographie (Zenk/Iro) Duraläsionen (Oberascher) Endoskopie, an Ohr, Nase und Nebenhöhlen (Hörmann) Epithesen und Hörgeräte, knochenverankerte (Kurt/Federspil) Fibrinkleber im HNO-Bereich (Moritsch) Der Fokus aus dermatologischer Sicht (Hertl) Der Fokus aus rheumatologischer Sicht (Dechant) Der Fokus im HNO-Bereich aus internistisch-onkologischer Sicht (Gramatzki) Der Fokus in der Pädiatrie (Guggenbichler) Fokusproblem (Knöbber) Geruchs- und Geschmacksstörungen (Herberhold) Grenzprobleme zur Stomatologie I: Allgemeines (Muška) II: Parodontopathien (Strott) III: Odontogene Abszesse (Austermann)
Band 10 Band 3 Band 25 Band 18 Band 1 Band 7 Band 20 Band 20 Band 10 Band 24 Band 22 Band 22 Band 6 Band 17 Band 20 Band 12 Band 14 Band 11 Band 26 Band 26 Band 26 Band 26 Band 19 Band 13 Band 7 Band 10 Band 12
XVIII
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
IV: Kiefergelenkserkrankungen (Strott) V: Okklusionsstörungen (Austermann/Umstadt) Herderkrankungen aus mund-, kiefer- und gesichtschirurgischer Sicht (Keßler) HNO-Onkologie, Lebensqualität (Greimel, Greimel) HWS-Distorsionen (Badke) HWS-Heilmittelverordnung (van den Berg) HWS-orthopädische Probleme (Wimmer) HWS-Physiotherapie (Belzl) HWS-Röntgenbild und HNO-ärztliche Diagnostik (Biesinger) HWS-Traumen (Ernst) HWS-Weichteildistorsion, Akutdiagnostik (Ernst et al.) Idiopathische periphere Fazialisparese (Bell-Parese) (Streppel/Eckel/Stennert) Implantologie, an Kopf und Hals (Beleites/Rechenbach) Innervation des Kopf-Halsbereichs (Neuhuber) Kernspintomographie im HNO-Bereich (Grevers/Vogl) Knotenschieber, der (Schweckendiek) Kopfschmerz (Knöbber) Kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) – Eine interdisziplinäre Herausforderung (Lechner) Labor, des HNO-Arztes (Allner) Laseranwendungen in der HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie (Rudert/Werner) Laserchirurgie (Höfler/Burian) Literatursuche heute (Reiß/Reiß) Lokalanästhesie, therapeutische (Gross) Mykosen im HNO-Bereich (Stammberger/Jakse) Nahrungsmittelallergien (Thiel) Nahrungsmittelallergien (Rakoski) O2-Therapie, hyperbare (Muth) Piercing (Waldfahrer/Freitag/Iro) Pseudomonasinfektionen (Ganz) Quantenmedizin, und HNO (Pichler) Rechtliche Aspekte bei der Abrechnung von Sonderleistungen (Wienke) Schwindel aus internistischer Sicht (Moshage) Schwindel aus neurologischer Sicht (Lempert) Schwindel, grundsätzliche Überlegungen (Hamann) Schwindel, physikalische Therapie (Hamann) Schwindelerkrankungen, psychische Faktoren (Ronel, Henningsen) Schwindel, rechtliche Aspekte (Wienke, Janke) Sportverletzungen im HNO-Bereich (Loch) Störungen der Halswirbelsäule, funktionelle (Biesinger) Strahlentherapie bei gutartigen Erkrankungen (Micke/Büntzel) Syndrome und HNO (Ganz) Tauchsport und Fliegen (Moser/Wolf )
Band 3 Band 18 Band 26 Band 22 Band 23 Band 23 Band 23 Band 23 Band 23 Band 18 Band 23 Band 16 Band 12 Band 23 Band 11 Band 2 Band 13 Band 24 Band 1 Band 16 Band 4 Band 19 Band 1 Band 7 Band 6 Band 22 Band 20 Band 18 Band 3 Band 17 Band 25 Band 27 Band 27 Band 27 Band 27 Band 27 Band 27 Band 3 Band 9 Band 23 Band 18 Band 9
XIX Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Tränenwegserkrankungen (Schätzle/Wilhelm) Umweltschäden, der oberen Luftwege (Winkler) Viruserkrankungen I: Herpes und Zoster (Rabenau/Doerr) II: Epstein-Barr-Infektionen (Schuster) III: Hirnnervenlähmungen (Ganz) IV: Schutzimpfungen (Quast) V: Virustatika (Estler) Vorgehen und Behandlungsmaßnahmen bei psychiatrischer Komorbidität (Seling) Wert Medizinischer Neuerungen (Ganz)
Band 3 Band 12 Band 15 Band 15 Band 15 Band 15 Band 17 Band 25 Band 17
1 Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel K.-F. Hamann
1.1
Die Bedeutung des vestibulären Systems
1.2
Grundlegendes zur Vestibularis-Diagnostik – 3
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4
Anamnese – 4 Untersuchungen der Blickmotorik – 5 Untersuchungen der Spinalmotorik – 6 Weitere Untersuchungsmethoden – 7
1.3
Grundlegendes zur Therapie – 7 Literatur
–7
–2
1
2
Kapitel 1 · Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel
1.1
Die Bedeutung des vestibulären Systems
Das vestibuläre System ist eines der ältesten, wenn nicht das älteste Sinnessystem überhaupt. Dennoch tritt seine Funktion beim Gesunden kaum ins Bewusstsein, da die meisten seiner Leistungen unbewusst ablaufen. Erst bei Störungen meldet es sich sehr eindrucksvoll, nämlich als Schwindelgefühl. Schwindel zählt zu den am häufigsten geklagten Beschwerdebildern des Menschen überhaupt. Der allgemein gehaltene Begriff »Schwindel« umfasst zunächst alle mit einem Unlustgefühl einhergehenden Störungen der Orientierung im Raum. Ziel der ärztlichen Untersuchung ist es, die dem Schwindel zugrunde liegende Störung zu erkennen, sie möglichst exakt zu definieren, die erkrankten Strukturen zu lokalisieren, den Schweregrad der Schwindelbeschwerden zu bestimmen und schließlich die geeignete Behandlung zu indizieren. Für den Schwindelkranken stellen sich für das Alltagsleben in der heutigen Zeit größere Probleme als in der Vergangenheit. Moderne Fortbewegungsmittel wie Fahrrad, Auto, Schiff und Flugzeug stellen höhere Anforderungen an das Gleichgewichts- und Orientierungssystem des Menschen als früher. Auch in der modernen Arbeitswelt wird ein gut funktionierendes Gleichgewichts- und Orientierungsystem benötigt. Arbeiten in großer Höhe, an sich schnell bewegenden Maschinen und auch an Computerbildschirmen verlangen eine perfekte Regulation von Blickmotorik und Spinalmotorik. Der hohe Stellenwert des Sportes in der Gegenwart hat dazu geführt, dass vom modernen Menschen erwartet wird, sich ausreichend sportlich zu betätigen. Aber fast jede Sportart setzt ein gut funktionierendes Gleichgewichtssystem voraus, sodass sich auch daraus Ansprüche an ein intaktes vestibuläres System ergeben. Ganz wichtige Aspekte für die Bedeutung des vestibulären Systems ergeben sich aus der Tatsa-
che, dass die individuelle Lebenszeit immer länger wird. Denn auch im vestibulären System finden physiologische Alterungsvorgänge statt [10], die zu Einschränkungen der vestibulären Leistungen führen können, die aber prophylaktisch abgefangen werden sollten. Bekanntlich bedeuten vermehrte Stürze nicht nur orthopädische Probleme, sondern sind auch ein Indikator für die Lebenserwartung. Denn mit der Zunahme von Stürzen sinkt die Lebenserwartung [17]. Zu diesen sich aus den physiologischen Vorgängen ableitenden Problemen kommen die eigentlichen krankheitsbedingten Störungen des Orientierungs- und Gleichgewichtssystems hinzu. Der diagnostische Standard für eine Funktionsanalyse des vestibulären Systems ist sehr hoch, die Zuordnung der Befunde zu bestimmten Krankheitsbildern immer noch schwierig, denn die Ätiologie vieler vestibulärer Krankheitsbilder ist nach wie vor unklar. Für alle Themen, die in diesem Buch abgehandelt werden, gilt, dass die Voraussetzungen für das Verständnis der Ätiologie, für eine vernünftige Diagnostik und auch für rational begründete Therapiemaßnahmen in einer Berücksichtigung der aktuell gültigen Kenntnisse der Physiologie und der Pathophysiologie des vestibulären Systems liegen. Das vestibuläre System hat eine große Aufgabe zu bewältigen, nämlich ein Beschleunigungssignal, den eigentlichen vom vestibulären Rezeptor aufgenommenen Reiz, für ein stationäres Ziel, z. B. für die Blickfixation oder den ruhigen Stand umzuwandeln [11]. Dies entspricht im mathematischen Sinne einer zweifachen Integration, nämlich zunächst die Umwandlung des Beschleunigungssignals in ein Geschwindigkeitssignal, was bereits bei der Umwandlung der mechanischen Energie in elektrische Signale erfolgt. Schließlich findet die Umwandlung des Geschwindigkeitssignals in ein Positionssignal statt, was zu einer Ruheposition des Auges bei bewegtem Kopf führt. Die vom Vestibularapparat mit seinen für Drehbewegungen zuständigen Bogengangsrezep-
3 1.2 · Grundlegendes zur Vestibularis-Diagnostik
1
Grundlegendes zur Vestibularis-Diagnostik
toren und mit dem für Linearbewegungen zuständigen Otolithenapparat aufgenommenen Informationen werden über den Vestibularnerv zunächst in die Vestibulariskerne geleitet, wo bereits eine Integration der verschiedenen vestibulären Informationen untereinander, aber auch mit den nichtvestibulären Sinnesinformationen stattfindet. Hier spielt sich ein für das normale Funktionieren des vestibulären Systems entscheidender Vorgang ab, nämlich der Abgleich zwischen Informationen aus dem Vestibulariskerngebiet der rechten und der linken Seite. Erst ein ausgeglichenes Tonusgleichgewicht zwischen den Vestibulariskerngebieten beider Seiten führt zu einem normalen Funktionieren des vestibulären Systems [11]. Nach der Integration der verschiedenen Informationen aus den Teilorganen des Vestibularapparates sowie aus anderen Sinnesorganen im Vestibulariskerngebiet erfolgt die Weiterleitung dieses Integrationsergebnisses zu den eigentlichen Zielorganen (. Abb. 1.1). Dies ist für die bewusste Orientierung im Raum der parieto-temporale Kortex, für den Anteil des vestibulären Systems an der Okulomotorik das Gebiet der okulomotorischen Kerne und für den Anteil des vestibulären Systems an der Spinalmotorik die Vorderhornzellen im Rückenmark.
1.2
. Abb. 1.1. Schematische Darstellung der Verschaltung von Vestibularapparat, Auge und Propriozeptoren in den Vestibulariskernen und ihrer Funktionen beim Gesunden.
. Abb. 1.2. Schematische Darstellung der Entstehung pathologischer Zeichen bei einer Störung im Vestibularapparat, symbolisiert durch Kursivschrift.
Diese Grundtatsachen müssen für Diagnostik und Therapie vestibulärer Erkrankungen berücksichtigt werden. Denn daraus ergibt sich die Leitlinie für das diagnostische Untersuchungsprogramm. Es umfasst die Analyse der Schwindelbeschwerden nach qualitativen und zeitlichen Gesichtspunkten, aus denen bereits wichtige Rückschlüsse auf die Art der Störung und die ihr zugrunde liegende Erkrankung gezogen werden können. Dabei ist darauf zu achten, dass die vestibulären Rezeptoren Sensoren für Kopfbewegungen sind, also ein vestibulär verursachter Schwindel Scheinbewegungen des Kopfes widerspiegelt. Scheinbewegungen des Kopfes auf andere Organe zu beziehen, wie etwa die Halswirbelsäule, entbehren also einer logischen Grundlage. Zum anderen gehören okulomotorische Tests und vestibulospinale Prüfungen zum vollständigen Untersuchungsprogramm bei Schwindelbeschwerden (. Abb. 1.2). Gewisse Besonderheiten des vestibulären Systems machen die Beschäftigung mit ihm so reizvoll. So ist die Beurteilung und Messung seiner Leistungen nicht einfach, da es keine einzige
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1
Kapitel 1 · Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel
Funktion gibt, die das vestibuläre System allein erfüllt. Wenn es also immer nur in Kooperation mit anderen Sinnessystemen arbeitet, ist es äußerst schwierig, den vestibulären Anteil selektiv zu untersuchen. Aufgabe der Vestibularisdiagnostik ist es daher, den vestibulären Anteil an bestimmten Leistungen herauszulesen, den Ort der Störung zu lokalisieren, die Befunde bestimmten Krankheitsbildern zuzuordnen und die Ausprägung der Störung graduell einzuschätzen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten Methoden zum Einsatz kommen, die auf gesicherten und unumstrittenen Kenntnissen über die Physiologie und Pathophysiologie des vestibulären Systems beruhen. Die Befunde müssen auch von anderen Untersuchern reproduzierbar und nachprüfbar sein. Viele strittige Ansichten und Fehlentwicklungen in der Neurootologie sind wohl darauf zurückzuführen, dass Grundtatsachen der Vestibularisphysiologie nicht allgemein bekannt sind oder nicht zur Kenntnis genommen werden. Dies widerspricht der Tradition der Deutschen HalsNasen-Ohren-Heilkunde, die bedeutende Entwicklungen der Neurootologie maßgeblich beeinflusst hat (Bárány, Frenzel, Mittermaier, Stenger u. a.). Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass sich vermehrt Neurologen mit der weiteren Erforschung des vestibulären Systems beschäftigen (Jung, Kornhuber, Brandt u. a.). Die Hals-NasenOhren-Heilkunde muss erkennen, dass von Nachbardisziplinen sehr wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden, die auch für unser Fach wichtig sind. Darüber hinaus sollte sich der nationale Standard am internationalen Niveau orientieren. Auch wenn es schwerfällt, alte und liebgewordene Vorstellungen zu verlassen, so sollte dies ohne Zögern dennoch geschehen, wenn sich neue, allgemein anerkannte Erkenntnisse aufdrängen. Als Beispiel mag der gutartige Lagerungsschwindel dienen. Dieses Krankheitsbild war 1921 erstmalig von Bárány [1] beschrieben worden,
aber erst grundlegende Erkenntnisse von Schuknecht im Jahr 1969 führten zu einem Verständnis dieser Erkrankung [20]. Dies war gefolgt von einer Umsetzung dieser Erkenntnis in eine rationale Therapie durch Brandt und Daroff [2], die ein Lagerungstraining empfahlen. Die Cupulolithiasishypothese wurde durch die Canalolithiasishypothese ergänzt, Beobachtung von frei flottierenden Partikeln in den Bogengängen von Lagerungsschwindelpatienten lagen vor [18] und somit bestanden also klare pathophysiologische Vorstellungen. Dennoch haben sich diese Erkenntnisse in Deutschland nur zögerlich durchgesetzt. Trotz evidenter, reproduzierbarer Befunde wurde lange an anderen nur schlecht begründeten Vorstellungen über diese Schwindelart festgehalten. Der vorliegende Band will dazu beitragen, gesicherte Kenntnisse der Neurootologie verständlich darzustellen und auf Irrwege hinweisen, um damit jedem mit der Schwindeldiagnostik befassten Arzt eine solide Grundlage für seine Arbeit zu geben. Die Vestibularisdiagnostik muss sich darauf ausrichten, die Leistungen, an deren Erfüllung das vestibuläre System beteiligt ist, zu prüfen und ihre Störungen zu erkennen. Dazu gehören die bewusste Orientierung im Raum, die Blickmotorik und die Spinalmotorik (. Abb. 1.1 u. 1.2).
1.2.1 Anamnese Die Erfassung von Störungen der bewussten Orientierung im Raum stützt sich hauptsächlich auf die gezielte Befragung, eine detaillierte »Schwindelanamnese« [6], kann aber auch quantifizierbare Parameter wie die subjektive Vertikale [3, 12] oder die Geradeausprojektion [9] mit einbeziehen. Die Erfragung der Schwindelqualität sollte immer berücksichtigen, dass die vestibulären Rezeptoren Sensoren für Kopfbewegungen darstellen, die Bogengänge für Drehbewegungen, den Otolithenapparat für geradlinige Bewegungen.
5 1.2 · Grundlegendes zur Vestibularis-Diagnostik
Angaben zur Richtung der Scheinbewegungen, beispielsweise ein Drehschwindel oder ein Liftgefühl, geben Hinweise auf den Ort der Störung im vestibulären System. Die Erfragung der zeitlichen Parameter ermöglicht bereits eine Zuordnung zu Diagnosen dank der heute vorhandenen Kenntnisse der Pathophysiologie von bestimmten Erkrankungen. So lässt sich der lange Zeitverlauf der Schwindelbeschwerden über Tage nach einer akuten vestibulären Läsion wie der Neuritis vestibularis leicht dadurch erklären, dass eben die Kompensationsvorgänge einen über Tage anhaltenden Zeitraum benötigen [11]. Die Dauer der Menièreschen Anfälle im Bereich von Minuten bis Stunden findet ihre Erklärung in der Modellvorstellung von Schuknecht [21]. Er nimmt an, dass sich durch die Bildung des Endolymphhydrops die Reissner-Membran so dehnt, dass sie schließlich platzt. Die daraufhin stattfindende Vermischung von Perilymphe und Endolymphe führt zu einer Kaliumintoxikation am Rezeptor mit den Symptomen des MenièreAnfalls. Da aber der Überdruck aus dem Endolymphraum entwichen ist, finden die Lefzen der Reissner-Membran zueinander und bilden eine Narbe, die Schuknecht morphologisch an Felsenbeinpräparaten nachgewiesen hat. Damit können sich Endolymphe und Perilymphe wieder entmischen, der Anfall findet ein Ende [21]. Auch die kurzen, nur im Sekundenbereich und immer nur in Abhängigkeit von Kopfbewegungen stattfindenden Schwindelattacken beim gutartigen Lagerungsschwindel finden ihre pathophysiologische Erklärung in der Canalolithiasishypothese (7 Kap. 4, [15]).
1.2.2 Untersuchungen
der Blickmotorik Der Hauptteil der vestibulären Diagnostik stützt sich auf die Analyse okulomotorischer Reaktionen [14]. Der Grund liegt darin, dass dies rein
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reflektorische Vorgänge sind, die also von der Willkür nicht zu beeinflussen sind. Die Verschaltung des vestibulären Systems mit den äußeren Augenmuskeln erlaubt über die Beobachtung und die Registrierung von Augenbewegungen Rückschlüsse auf das Funktionieren des vestibulären Systems. Zum einen lässt sich das zentrale Tonusungleichgewicht anhand eines Spontannystagmus oder eines durch Provokationsmaßnahmen induzierten latenten Spontannystagmus beurteilen. Zum anderen kann über die experimentellen Prüfungen eine Funktionsbestimmung der vestibulären Rezeptoren vorgenommen werden. Für einige Phänomene wie den thermisch induzierten Nystagmus [19], den rotatorisch ausgelösten und optokinetisch ausgelösten Nystagmus gibt es zwar Werte, die an Gesunden gewonnen wurden und so mit den Werten von Patienten verglichen werden können. Sie stellen aber keine Normwerte im eigentlichen Sinne dar. Für das vestibuläre System ist weniger die quantitative Situation einer Seite ausschlaggebend, als vielmehr der Seitenvergleich. Es muss noch einmal betont werden, dass das vestibuläre System zwar 2 getrennte Rezeptorenapparate besitzt, deren Informationen aber sich bereits im Hirnstamm, in den Vestibulariskernen, treffen. Sein Funktionieren hängt aber entscheidend von einem intakten Tonusgleichgewicht ab, weniger von der Leistung der einzelnen Rezeptoren. Jede Läsionen, die zu einer Störung des Tonusgleichgewichts führt, bedeutet auch das Auftreten des klinisch wichtigsten Symptoms einer vestibulären Störung, nämlich eines pathologischen Spontannystagmus. Daher besteht die wichtigste Untersuchung der Blickmotorik im Fahnden nach einem Spontannystagmus bzw. im Aufdecken eines latent vorhandenen Spontannystagmus [14]. Der Spontannystagmus ist Ausdruck eines zentral-vestibulären Ungleichgewichts, das aufgrund seiner neuronalen Tonusdifferenz eine langsame Augendeviation induziert, die dann zentral mit einer schnellen Augenbewegung rückgestellt wird. Aus dieser Abfolge von langsamen und schnellen Augenbe-
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Kapitel 1 · Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel
wegungen ergibt sich der typische Spontannystagmus. Die Richtung des Nystagmus lässt zunächst keine sichere Zuordnung zur Seite der Erkrankung zu. Es handelt sich zwar in den meisten Fällen um einen Ausfallnystagmus, der zur gesunden Seite hin schlägt, aber auch ein Irritationsnystagmus, der ins kranke Ohr schlägt, oder ein Erholungsnystagmus, der ebenfalls zum ehemals erkrankten Ohr hin schlägt, kommen vor. Zur Provokation latent vorhandener Spontannystagmen sind alle Methoden geeignet, die unspezifisch zu einer »arousal«, zu einer Weckreaktion führen. Dazu zählen grundsätzlich alle vestibulären Prüfungen selbst, die einen latenten Spontannystagmus aktivieren können, aber auch so unspezifische Maßnahmen wie Kopfschütteln, das Zufügen von Schmerz, unspezifische Lagerungen des Kopfes und ähnliches. Die thermische Prüfung gibt seitengetrennt Auskunft über die Erregbarkeit des peripheren Rezeptorenapparates, genau genommen des horizontalen Bogengangs [19]. Die thermische Prüfung steht immer noch im Vordergrund der Schwindeldiagnostik des HNO-Arztes, da er ja der Spezialist für das Innenohr und damit für den peripheren Vestibularapparat ist. Andere Methoden wie der Kopf-Impuls-Test [7] können die Aussage der thermischen Prüfung unterstützen, erlauben aber keine quantitative Beurteilung der Seitendifferenz. Ein weiterer Ansatz, eine peripher-vestibuläre Seitendifferenz aufzudecken, besteht in der Anwendung von Vibrationsreizen. Es konnte gezeigt werden, dass ein vibrationsinduzierter Nystagmus eine sehr hohe Korrelation mit den Ergebnissen der thermischen Prüfung hat [13]. Er schlägt zur Seite der höheren Erregbarkeit, bei einem Ausfall also zur intakten Seite. Die rotatorische Prüfung prüft zwangsläufig beide peripheren Vestibularapparate, erlaubt auf diese Weise eine Beurteilung der zentralen Integration der aus beiden Teilen der Peripherie einlaufenden Informationen. Auch hier erfolgt die Beurteilung anhand des Seitenvergleichs. Die
Antworten sollten, gleiche Reizintensität vorausgesetzt, bei Rechts- und Linksdrehung symmetrisch sein. Abweichungen mit einer pathologischen Seitendifferenz weisen auf ein zentrales Tonusungleichgewicht hin. Naturgemäß ist die Durchführung der rotatorischen Prüfung an das Vorhandensein eines Drehstuhls, also eines erheblichen apparativen Aufwandes geknüpft. In Zentren, die sich speziell mit Schwindeldiagnostik beschäftigen, steht im Allgemeinen ein solcher motorbetriebener Drehstuhl zur Verfügung.
1.2.3 Untersuchungen
der Spinalmotorik Die vestibulospinalen Prüfungen, also die Untersuchung des Stehens und des Gehens, sind in den Hintergrund der neurootologischen Untersuchung getreten. Dies mag daran liegen, dass die einfachen vestibulospinalen Prüfungen wie der Romberg-Stehversuch und der Unterberger-Tretversuch nur subjektiv zu beurteilen sind, andererseits vom Patienten verfälscht werden können. Andere Untersuchungen der Spinalmotorik, also Körperhaltung und Körperbewegungen, sind meist aufwändig und an Apparate gebunden. So ist es möglich, mit der Posturographie den Körperkraftschwerpunkt zu messen [5]. Andere Registrierungen von Körperhaltung und Körperbewegungen können über Beschleunigungsaufnehmer oder Winkelmesser erfolgen [5]. Da die Aufrechterhaltung von Körperhaltung und die Durchführung glatter Körperbewegungen nur in geringem Maße vom vestibulären System abhängen und auch die Kompensation nach vestibulären Störungen schneller verläuft, haben diese genannten Untersuchungsverfahren nur eine geringe Bedeutung im Vergleich zur »Schwindelanamnese« und den Untersuchungsmethoden der Okulomotorik. Einzig die Methode der Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale [16] hat in den letzten Jahren eine größere Bedeutung ge-
7 Literatur
wonnen, da es sich um ein objektives Messverfahren für die Funktion des Sacculus handelt und einen Reflex prüft, der im engeren Sinne zu den vestibulospinalen Reflexen (engl.=vestibulo-collic reflexes) zu zählen ist.
1.2.4 Weitere Untersuchungs-
methoden In den letzten Jahren sind mehrere Methoden entwickelt worden, die eine selektive Diagnostik einzelner Rezeptoren im peripheren Vestibularapparat erlauben. So gestattet die Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale (VEMP) eine seitengetrennte, selektive Beurteilung der Sakkulusfunktion [16]. Mit der Bestimmung der visuellen subjektiven Vertikalen erfolgt eine Prüfung der Otolithenbahn [3], vorrangig natürlich des Utriculus. Auch wird versucht, durch veränderte Kopfpositionen die verschiedenen vertikalen Bogengänge selektiv zu prüfen. Hier handelt es sich um teilweise standardisierte Methoden, die zu einer Differenzialdiagnostik des peripheren Vestibularapparates beitragen, teilweise sind die Methoden noch in der Erforschung.
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Ätiologie und Pathophysiologie ergeben haben, die schließlich zu einem äußerst wirksamen Behandlungskonzept geführt haben [4, 15]. Dagegen stagniert die Entwicklung der medikamentösen Behandlung. Die »Antivertiginosa«, sich meist von Antihistaminika herleitende sedierende Substanzen, werden immer noch zur Dämpfung des Schwindelgefühls eingesetzt. Obwohl inzwischen einige chemische Transmitter im vestibulären System erkannt worden sind, hat dies noch nicht zu einer Entwicklung spezifischer Therapeutika geführt. Die durch die H1-Antihistaminika und auch durch andere dämpfende Substanzen eintretende Sedierung erreicht zwar kurzfristig das therapeutische Ziel einer Schwindelunterdrückung, wird aber erkauft durch eine Verzögerung der vorgegebenen zentralen Kompensationsvorgänge [23]. Daher sind in den letzten 80 Jahren Substanzen in den Vordergrund gerückt, bei denen erkannt worden war, dass sie zur Kompensationsförderung nach vestibulären Läsionen beitragen. Dies gilt für den Ginkgospezialextrakt EGb 761 [8] und auch für Betahistin [22].
Literatur 1.3
Grundlegendes zur Therapie
Die Behandlung kann sich beim aktuellen Wissensstand nur selten auf eine bekannte Ätiologie stützen, vielmehr basiert sie auf allgemeinen Mechanismen vestibulärer Erholungsvorgänge, die aus Tierexperimenten und aus klinischen Beobachtungen erkannt worden sind [11], letztlich aber unspezifisch im Sinne eines Habituationstrainings angewandt werden. Diese Einschränkung relativiert sich allerdings, da sich diese Therapie als sehr erfolgreich erwiesen hat (7 Kap. 15). Als eine Ausnahme kann das Krankheitsbild des gutartigen paroxysmalen Lagerungsschwindels (BPPV) gelten, für den die Forschungsergebnisse der letzten Jahre eine schlüssige Theorie zur
1. Bárány R (1921) Diagnose von Krankheitserscheinungen im Bereiche des Otolithenapparates. Acta Otolaryngol 2: 334–337 2. Brandt T, Daroff RB (1980) Physical therapy for benign paroxysmal positional vertigo. Arch Otolaryngol 106: 484–485 3. Brandt T, Dieterich M (1994) Vestibular syndromes in the roll plane: topographic diagnosis from brainstem to cortex. Ann Neurol 36: 337–347 4. Brandt T, Steddin S, Daroff RB (1994) Therapy for benign paroxysmal positioning vertigo, revisited. Neurology 44: 796–800 5. Ernst A, Allum JHJ (2001) Posturographische Verfahren in der vestibulären Diagnostik. In: Westhofen M (Hrsg) Vestibuläre Untersuchungsmethoden, PVV Science Publications, Ratingen, 112–120 6. Frenzel H (1982) Spontan- und Provokationsnystagmus. Springer, Heidelberg, Berlin, New York
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1
Kapitel 1 · Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel
7. Halmagyi GM, Curthoys IS (1988) A clinical sign of canal paresis. Arch Neurol 45: 737–738 8. Hamann KF (1985) Physikalische Therapie des vestibulären Schwindels in Verbindung mit Ginkgo-biloba-Extrakt. Therapiewoche 35: 4586–4590 9. Hamann KF, Hopf J, Metzler R, Silberhorn A (1987) Die Abhängigkeit der Rechts-Links-Erkennung von der Funktion des Vestibularapparates. Arch Oto Rhino Larnygol, Suppl. II: 115 10. Hamann KF (1989) Zerebrovaskuläre Erkrankungen und vestibuläres System. In: Böhme G (Hrsg) Sinnesorgane und zerebrovaskuläre Erkrankungen. Thieme, Stuttgart 11. Hamann KF (1994) Physiologie und Pathophysiologie des vestibulären Systems. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Thieme, Stuttgart, 260–297 12. Hamann KF (1998) Differentialdiagnose zwischen Erkrankungen der Bogengänge und des Otolithenapparates. In: Stoll W (Hrsg) Differentialdiagnose Schwindel. Springer, Heidelberg 13. Hamann KF, Schuster EM (1999) Vibration-induced nystagmus – a sign of unilateral vestibular deficit 61: 74– 79 14. Hamann KF (2001) Spontannystagmus (SPN) – Provokationsnystagmus. In: Westhofen M (Hrsg) Vestibuläre Untersuchungsmethoden. PVV Science Publications, Ratingen 14–18 15. Hamann KF (2006) Benign paroxysmal positioning vertigo: a disease explainable by inner ear mechanics. ORL 68: 329–333 16. Hamann KF, Haarfeldt R (2006) Vestibulär evozierte myogene Potenziale. HNO 54: 415–428 17. Overstall PW, Exton-Smith AN, Imms FJ, Johnson AL (1977) Falls in the elderly related to postural imbalance. Brit Med J I: 261 18. Parnes LS, McClure JA (1992) Free-floating endolymph particles. Laryngoscope 102: 988–992 19. Scherer H, Helling K (2001) Thermische Prüfung. In: Westhofen M (Hrsg) Vestibuläre Untersuchungsmethoden, PVV Science Publications, Ratingen, 63–69 20. Schuknecht H (1969) Cupulolithiasis. Arch Otolaryngol 90: 765–778 21. Schuknecht HF (1993) Pathology of the ear, 2nd ed. Lea & Febiger, Philadelphia 22. Tighilet B, Leonard J, Lacour M (1995) Betahistine dihydrochloride treatment facilitates vestibular compensation in the cat. J Vest Res 5: 53–66 23. Zee DS (1982) Perspectives on the pharmacotherapy of vertigo. Arch Otolaryngol 111: 609–612
2 Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung A.H. Clarke
2.1
Die Orientierung im Raum – 10
2.2
Das vestibuläre Labyrinth – 10
2.2.1 Die vestibuläre Sinneszelle – 12 2.2.2 Die Sinnesrezeptoren der Bogengänge – 13 2.2.3 Die Sinnesrezeptoren der Otolithenorgane – 14
2.3
Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems
– 15
2.3.1 Der vestibulookuläre Reflex – 15 2.3.2 Der Zusammenhang des VOR mit anderen Arten der Augenbewegung 2.3.3 Die vestibulospinalen Reflexe – 17
2.4
Die zentralvestibulären Bahnen – 19
2.5
Vestibuloautonome Regulation – 19
2.6
Vestibuläre Kompensation – 20 Literatur
– 21
– 15
2
10
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
2.1
Die Orientierung im Raum
Bevor die einzelnen Funktionsweisen der vestibulären Rezeptoren und der zentralen Verschaltungen behandelt werden, soll ihre essenzielle Rolle bei der Orientierung im Raum sowie ihre Interaktion mit dem sensorisch-motorischen Komplex verdeutlicht werden. Dies hilft auch dem Verständnis für das breite Spektrum von Schwindelbeschwerden, wie sie im klinischen Alltag vorkommen. An der räumlichen Orientierung sind die peripheren Organe, die vestibulären Nuklei im Hirnstamm, der Thalamus, der Hippocampus sowie der vestibuläre Kortex beteiligt. Die Tatsache, dass die uns bekannte Anordnung des Labyrinths schon vor über 150 Millionen Jahren bei den Sauriern ausgebildet war, deutet auf die existenzielle Relevanz des Labyrinths als Bestandteil des sensorisch-motorischen Systems hin (. Abb. 2.1). Der Begriff »Orientierung im Raum« bezeichnet hier die Koordination zwischen den Eigenbewegungen eines Individuums und den Bewegungen der unmittelbaren Umwelt. Während Bewegungen in der Umwelt weitgehend über das visuelle System vermittelt werden, werden Eigenbewegungen (z. B. Gehen, Laufen, Tanzen) durch
die Integration vestibulärer und propriozeptiver Informationen erfasst. Ein wichtiges Bindeglied zwischen Innen- und Außenwelt ist die Information über die Richtung der Erdanziehungskraft, die primär von den im Vestibularapparat befindlichen Otolithenorganen kontinuierlich ermittelt wird. Hinzu kommen aber auch afferente Informationen, die vermutlich von der viszeralen Propriozeption stammen (Mittelstaedt 1996). So wird eine interne Repräsentation der Vertikalität oder Gravitätsreferenz gebildet, die essenziell für das effiziente Funktionieren des gesamten sensorisch-motorischen Komplexes ist (Clarke 2002). Es wird postuliert, dass ein internes Modell der Newton’schen Gesetze der Bewegung im Gehirn existiert (McIntyre et al. 2001). Bedingt durch die Entwicklungsgeschichte unter irdischen Schwerkraftbedingungen stellt die Erdanziehungskraft bei allen Tierarten die zentrale Bezugsgröße für das räumliche Empfinden dar. Bei der Entstehung der Kinetosen wird die Inkonsistenz – der sog. Sinneskonflikt – zwischen der visuellen Wahrnehmung und der erwarteten Richtung der Schwerkraft als hauptverantwortlich verstanden (Bles et al. 1998). Neben einer akkuraten Gravitätsreferenz ist die korrekte Erfassung und sinnvolle Integration von vestibulären, visuellen und propriozeptiven Informationen für die Beibehaltung der Orientierung essenziell. Die an dem vestibulären System beteiligten Strukturen sind in . Abb. 2.1 dargestellt. Eine Läsion im peripheren oder zentralen vestibulären System führt zu einer unstimmigen Sinnesintegration. Es entsteht Schwindel mit der entsprechenden vegetativen Begleitsymptomatik.
2.2
. Abb. 2.1. An der räumlichen Orientierung beteiligte Strukturen
Das vestibuläre Labyrinth
Die spezifische Funktion der peripheren Vestibularorgane ist, jede Bewegung des Kopfes in ein neuronales Signal umzusetzen (. Abb. 2.2). Entsprechend der 3 Dimensionen des Raumes sorgt das periphere Organ für die Umsetzung von
11 2.2 · Das vestibuläre Labyrinth
2
. Abb. 2.2. Das peripher-vestibuläre System. a MRTSchnitt in Höhe des Kleinhirnbrückenwinkels (mit freundlicher Genehmigung von F. Wuyts, Antwerpen), b Übersicht
a
b
Dreh- und Linearbeschleunigungsreizen in primäre Sinnesafferenzen. Die Anatomie und Physiologie kann aus zahlreichen Handbüchern (z. B. Hamann, 1994; Scherer 1996) entnommen werden. Im Folgenden werden die wichtigsten Details zusammengefasst. Der MRT-Schnitt in Höhe des Kleinhirnbrückenwinkels (. Abb. 2.2 a) zeigt die nahezu sym-
metrisch gelagerten Labyrinthe. Die Rotation des Kopfes um jede beliebige Achse wird durch die annähernd orthogonale Anordnung der 3 Bogengangspaare vollständig erfasst. Hinzu kommt, dass nahezu alle Kopfbewegungen mit einer Linearbeschleunigung einhergehen, und zwar entweder durch Neigung des Kopfes zur Richtung der Schwerkraft oder durch Translation des
12
2
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
Kopfes. Diese Linearbeschleunigungen werden durch die Maculae des Utrikulus und des Sakkulus, in afferente Signale umgesetzt. In der Embryonalphase beginnt die Entwicklung des Vestibularapparats in der dritten Woche. Am lateralen Teil des Rhombenzephalon entsteht die Ohrplakode aus einer Verdickung des Ektoderms. In den folgenden Tagen senkt sich die Ohrplakode und wandelt sich in die Ohrgrube um, bis sich das Ohrbläschen schließlich bis zum Ende der vierten Woche entwickelt hat. Das Ohrbläschen liegt im Mesoderm und bildet später das Felsenbein. Das Bläschen verlängert und teilt sich in den dorsalen utrikulären und den ventralen sakkulären Anteil. Aus dem utrikulären Anteil entwickeln sich Bogengänge und Utrikulus. Aus dem sakkulären Anteil entstehen Sakkulus und Ductus cochlearis. In der dritten Woche beginnt auch die Entwicklung der Sinnesepithelien der Cristae und der Maculae. Die vestibulären Kerne formen sich in etwa der sechsten Woche und projizieren zu den Endorganen. Insgesamt ist die Ent-
a . Abb. 2.3. Die vestibulären Haarbündel. a Schematische Darstellung, b Depolarisierung der Haarzelle durch Auslenkung der Sinneshaare und nachfolgende Erhöhung der neuronalen Entladungsrate (nach Howard u. Hudspeth
wicklung des Labyrinths innerhalb von 10–14 Wochen abgeschlossen.
2.2.1 Die vestibuläre Sinneszelle Den labyrinthären Sinnesrezeptoren – Crista und Macula – ist die vestibuläre Haarzelle gemeinsam. Ihre Funktion besteht darin, die Rotations- bzw. Translationsreize in primäre Afferenzen umzusetzen. Diese Umsetzung von Kopfbewegungen in ein neurales Signal erfolgt nach dem Prinzip der mechanischen Abscherung ihrer Sinneshaare. Die schematische Darstellung (. Abb. 2.3 a) zeigt den Querschnitt des Haarbündels entlang der Symmetrieachse (d. h. die Ausrichtung der treppenförmigen Stereozilien in Richtung Kinozilium). Die Spitzen der einzelnen Stereozilien, die mit kaliumreicher Endolymphe umgeben sind, sind mit sog. »tip links« verbunden. Bei einer Auslenkung des Haarbündels öffnen sich die Ionenkanäle und Kaliumionen treten vermehrt in den
b 1988 reprinted with permission, from the Annual Review of Biophysics and Biomolecular Structure, Vol. 17 © 1988 by Annual Reviews www.annualreviews.org)
13 2.2 · Das vestibuläre Labyrinth
Zellkörper ein. Dies führt zu einer Depolarisierung der Zelle und schließlich zu einer Erhöhung der Entladungsrate an den afferenten Nervenfasern (. Abb. 2.3 b) entsprechend der Richtung der Beschleunigung. Im menschlichen Labyrinth sind 2 Haarzelltypen vorhanden – die flaschenförmigen Typ-IZellen und die zylinderförmigen Typ-II-Zellen (Wilson u. Melvill Jones 1979). An die flaschenförmigen Typ-I-Zellen lagern sich kelchförmige Nervenendigungen an. Die Typ-II-Zellen sind primäre Rezeptorzellen, die keine eigenen Axone besitzen. Ihre Afferenzen stammen aus dem Ganglion vestibulare und bilden den N. vestibularis. Die efferenten Nervenfasern, die vermutlich die Empfindlichkeit des Rezeptors modulieren, setzen bei der Typ-II-Zelle direkt am Soma und bei der Typ-I-Zelle an der sie umgebenden afferenten Nervenendigung an. Ein funktioneller Unterschied ist daran zu erkennen, dass die von Typ-IZellen stammenden Nervenfasern mit unregelmäßigen, die von Typ-II-Zellen stammenden Fasern hingegen mit regelmäßigen Entladungsraten feuern. Jedes Haarbündel besteht aus 30–100 Stereozilien und einem einzelnen, exzentrisch positionierten Kinozilium (. Abb. 2.3 a). Dabei sind die Stereozilien und das Kinozilium auf der apikalen Membran in Form eines Hexagons äquidistant verteilt. Weiterhin wächst die Länge der Stereozilien in Richtung des Kinoziliums monoton in Form einer Treppe an, wobei die Stereozilien innerhalb jeder Reihe des Hexagons gleich lang sind (Shotwell et al. 1981). Hinzu kommt, dass die Eigenschaften der Haarzellen durch Veränderung der Kalziumionenkonzentration moduliert werden. Durch kontraktile Proteine kann z. B. die Festigkeit der Stereozilien aktiv verändert werden (Orman u. Flock 1983). Es wird vermutet, dass dadurch die Empfindlichkeit der Transduktion moduliert wird. Bei der Transduktion an den Sinneszellen sind mehrere Neurotransmitter aktiv. Es werden überwiegend die exzitatorische Aminosäure Glutamat
2
und die inhibitorische Aminosäure g-Aminobuttersäure (GABA) an den Synapsen zwischen den Haarzellen und den afferenten Fasern des N. vestibularis gefunden (Devau et al. 2000). An den Synapsen der efferenten Fasern mit den Haarzellen wird Acetylcholin (ACh) freigesetzt. Schließlich wurden auch Neuropeptide, vorwiegend »calcitonin gene-related peptide« (CGRP), im peripheren System festgestellt. Ihre genaue Funktion ist noch nicht bekannt, aber ein modulierender Einfluss auf die afferenten Signale wird vermutet (Darlington u. Smith 1996). Es gibt auch zunehmend Hinweise auf Interaktionen zwischen endokrinem und vestibulärem System (Seemungal et al. 2001). Jüngste Berichte zeigen, dass neben den Neurotransmittern auch Steroide eine Rolle im vestibulären System spielen. In einer experimentellen Studie am Menschen konnte bei induziertem Vertigo sowohl eine erhöhte Menge an Steroiden im Serum als auch eine Reduktion der Neurotransmitter festgestellt werden (Dagilas et al. 2005). Ein Überblick über die Rolle der Neurotransmitter im vestibulären System, insbesondere bei der vestibulären Kompensation, geben z. B. Flohr et al. (1995).
2.2.2 Die Sinnesrezeptoren
der Bogengänge In den Ampullen der Bogengänge befinden sich die Cristae ampullares. Die Zilien der Sinneszellen ragen in die gelatineartige Cupula hinein. Beim Menschen schätzt man, dass die Crista 3 000–4 000 Sinneszellen besitzt. Neuere Studien zeigen, dass ein komplexer Ionentransport zwischen den Epithelzellen im Bereich der Crista ampullaris stattfindet (Villegas et al. 2001). Da die Cupula dieselbe spezifische Dichte wie die sie umgebende Endolymphe besitzt, bleibt sie gegenüber Linearbeschleunigungen oder der Erdanziehungskraft neutral. Da sie wie eine Membran den ampullären Raum effektiv schließt (Helling et
14
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
2.2.3 Die Sinnesrezeptoren
der Otolithenorgane
2
. Abb. 2.4. Das Sinnesepithel in den Ampullen der Bogengänge. Die sich zwischen der Ampullenwand und der Crista befindliche Cupula wird durch die Endolymphbewegung verschoben und somit die Zilien der Sinneszellen in der einen oder der anderen Richtung abgeschert (aus Wersall DJ & Bagger-Sjoback D 1974)
al. 2000), führt jede durch Drehbeschleunigung verursachte Endolymphverschiebung entlang des Bogenganges zu ihrer Auslenkung. Somit wird das Haarbündel abgeschert und eine Modulation der afferenten Entladungsrate bewirkt (. Abb. 2.4).
. Abb. 2.5. Die Struktur der Macula des Utrikulus und seiner Membran. Die Macula lässt sich grundsätzlich in 2 Bereiche einteilen: die Striola und die Extrastriola. Die Polarisation der Haarzellen sowie die Prädominanz der Typ-I-
Die Sinnesrezeptoren der Maculae utriculi und sacculi befinden sich jeweils auf einem Epithel mit einer Fläche von weniger als 1 mm2, jedoch mit 10 000–12 000 Sinneszellen. Aus den Maculae ragen die Zilien in die ebenfalls gallertartige Otolithenmembran hinein (. Abb. 2.5). Da die Otolithenmembran eine 2,71-mal höhere spezifische Dichte als die sie umgebende Endolymphe besitzt, verschiebt sich bei einer auf den Kopf bzw. das Labyrinth wirkenden Linearbeschleunigung die gesamte Otolithenmembran gegenüber dem Sinnesepithel. Die Sinneszellen der Maculae weisen eine markante Polarisationstopologie auf, sodass sie effektiv wie ein omnidirektionaler Beschleunigungssensor agieren. Diejenigen Sinneszellen der Otolithenorgane, deren Polarisationsachse parallel zur Richtung der Linearbeschleunigung bzw. Erdanziehungskraft ausgerichtet sind, werden maximal angeregt. Bei jeder linearen Beschleunigung des Kopfes ändert sich entsprechend die Entladungsrate. Bei einer anhaltenden Beschleunigung – in der Regel durch Neigung des Kopfes zur Schwerkraft – bleibt die Tonusänderung der Entladungsrate erhalten (z. B. Fernández u. Goldberg 1976).
Zellen im Bereich der Striola sind zu erkennen. Die komplexe Innervierung der Sinneszellen ist angedeutet (aus Sans 2001)
15 2.3 · Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems
2.3
Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems
In der Regel werden 2 Hauptfunktionen des vestibulären Systems beschrieben, die Stabilisierung des Blickfelds mittels des vestibulookulären Reflexes und die Aufrechterhaltung der Körperhaltung über die vestibulospinalen Bahnen.
2.3.1 Der vestibulookuläre Reflex Die Verschaltung der peripheren Organe mit den vestibulären und okulomotorischen Nuklei bildet die Bahn des vestibulookulären Reflexes (VOR), wie in . Abb. 2.6 dargestellt. Der klassische Bogengangsreflex ist die durch Kopfdrehung ausgelöste kompensatorische Augenbewegung. Dies bewirkt, dass während sämtlicher natürlicher Bewegungsmuster die gezielte Blickrichtung erhalten und das visuelle Bild stabil bleibt. So erhöht sich z. B. bei einer Rechtsdrehung des Kopfes in der Ebene der horizontalen Bogengänge die Entladungsrate des rechten horizontalen Bogengangs. Diese afferente Information wird über ein Neuron im Nucleus vestibularis an ein Effektorneuron im linken Nucleus abducens und an ein Effektorneuron im rechten Nucleus oculomotorius übertragen. Die Kontraktion des linken M. rectus lateralis sowie des rechten M. rectus medialis führt letzlich zu einer kompensatorischen Bewegung der Augen nach links. Durch die dreidimensionale Anordnung der Bogengänge funktioniert dieser Mechanismus bei Kopfdrehungen um jede erdenkliche Achse. Die Leistung des VOR wird mit den Parametern Verstärkungsfaktor (engl.=gain) und Phase beschrieben. Der »Gain-Faktor« ist das Verhältnis der Augen- zur Kopfgeschwindigkeit. Die Phase entspricht der zeitlichen Verzögerung des Auges relativ zum Kopf. Im idealen Fall sollte der »GainFaktor« 1 betragen. Beim horizontalen und vertikalen VOR wird dies annähernd erreicht. Beim
2
torsionalen VOR, d. h. ausgelöst durch Drehen bzw. Rollen des Kopfes von einer Seite zur anderen, ist der »Gain-Faktor« wesentlich kleiner (etwa 0,2–0,3). Beim Kippen des Kopfes aus der aufrechten Haltung zur Seite oder nach vorn oder hinten werden auch die Otolithenorgane durch die Schwerkraft stimuliert und der otolith-okuläre Reflex (OOR) wird ausgelöst. Während einer Bewegung ergänzen sich VOR und OOR. Jedoch ist bei statischer Neigung des Kopfes ausschließlich die otolith-okuläre Komponente – das statische Augengegenrollen – zu beobachten. Diese Reaktion wird durch eine otolithenvermittelte Tonusveränderung der extraokulären Muskeln realisiert. Der »Gain-Faktor« bei statischem Augengegenrollen beträgt etwa 0,1.
2.3.2 Der Zusammenhang des VOR
mit anderen Arten der Augenbewegung Der VOR dient prinzipiell dazu, das Blickfeld während natürlicher Bewegungen des Kopfes zu stabilisieren. Das Blickfolgesystem (engl.=smooth pursuit, . Abb. 2.7) generiert glatte, konjugierte Augenbewegungen, um langsam sich bewegende Objekte visuell zu verfolgen. Währenddessen bleibt das Objekt foveal fixiert. Im gesunden Zustand kann ein sich bewegendes Ziel mit Geschwindigkeiten bis etwa 50 Grad/s glatt gefolgt werden. Da der Kopf ständig in Bewegung ist, arbeiten Blickfolge und vestibuläres System eng zusammen. Bei langsamen Kopfbewegungen wird der VOR auch vom optokinetischen System unterstützt, das auf die relative Bewegung der Umwelt auf der Retina anspricht. Dementsprechend werden die visuellen Informationen über kortikale sowie subkortikale Bahnen zum Kleinhirn und den Gleichgewichtskernen vermittelt. Ein optokinetischer Nystagmus kann sowohl durch Stimulation der gesamten peripheren Retina als auch
16
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
2
. Abb. 2.6. Der vestibulookuläre Reflex: Der zugrunde liegende 3-Neuronen-Bogen vom horizontalen Bogengang (durchzogene Linie) besteht aus einer Haarzelle, d. h. einem pseudobipolaren afferenten Neuron vom Scarpa-Ganglion, einem Zwischenneuron im Nucleus vestibu-
laris medialis und einem Effektorneuron im Nucleus abducens (nach Niewenhuys et al. 1998). Die Bahnen vom anterioren und vom posterioren Bogengang sind mit gestrichelten Linien angedeutet
durch den fovealen Bereich ausgelöst werden. So wird die periphere Reizung mit den subkortikalen, reflexartigen Bahnen, die foveale Reizung mit den komplexeren Bahnen vom Kortex assoziiert. Blickfolge- und optokinetische Bewegungen werden zum Teil über dieselben Bahnen zum
Kortex, zu den vestibulären Nuklei und zu den okulomotorischen Nuklei gesteuert. Die visuellen Informationen über das Zielobjekt werden von der Retina zum visuellen Kortex und dann über den Nukleus des optischen Trakts und das Kleinhirn zu den vestibulären Nuklei übertragen. Dort
17 2.3 · Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems
2
dreht werden. Diese binokulären Aspekte sind für die Differenzialdiagnostik von Gleichgewichtsstörungen, insbesondere zur Erklärung von Phänomenen wie Oszillopsie, interessant. Eine umfangreiche Abhandlung über die Physiologie und Pathologie von Augenbewegungen bieten Leigh und Zee (2006).
2.3.3 Die vestibulospinalen Reflexe
. Abb. 2.7. Die 5 Arten der Augenbewegung und die Lokalität ihrer Generierung (schematische Darstellung)
werden die Informationen mit den vestibulären Afferenzen integriert. Das Resultat wird wiederum an die okulomotorischen Nuklei übermittelt, um die Augen auf das Zielobjekt zu richten. Die Leistung des Blickfolge- und optokinetischen Systems lässt mit dem Alter nach, wird aber auch durch Läsionen im Hirnstamm und Kleinhirn beeinträchtigt. Um die Blickrichtung bewusst zu ändern, werden willkürliche Sakkaden eingesetzt. Sie werden in den frontalen Augenfeldern generiert. Die schnellen Phasen des vestibulären oder optokinetischen Nystagmus gelten hingegen als unwillkürliche Sakkaden, die das Auge zurück zu einer neutralen Position bringen. Wichtige Eigenschaften der Sakkaden sind die hohe Geschwindigkeit (200–600 Grad/s), Konjugiertheit und Zielgenauigkeit (keine Hypo- oder Hypermetrie). Ein oft vernachlässigter Aspekt des vestibulookulomotorischen Systems ist die Rolle der vestibulären Informationen bei der Steuerung von Vergenzbewegungen. Bei großer Distanz des visuellen Ziels spielt dies eine geringere Rolle und der »VOR-Gain« beträgt 1. Bei einer Kopfrotation oder Translation während der Fixierung eines nahen Objektes (d. h. Entfernung =Wert des Patienten ist größer als der normale Wertebereich, 3–4 0,5–4 3 cm) in 90% in den Tumor inkorporiert, sodass der Aspekt eines Hörerhalts in derartigen Situationen keinen Einfluss auf das Managementkonzept nimmt. Die Frage des möglichen Hörerhalts stellt sich daher insbesondere bei Tumoren mit einem Durchmesser von weniger als 3 cm. In einer Literaturzusammenstellung wurde bei mikrochirurgischer Tumorresektion die Erfahrung eines Hörerhalts (Gardner/Robertson Klasse I–II) bei Wahl eines transtemporalen Vorgehens von durchschnittlich 50% und bei einem retrosigmoidalen Zugang von durchschnittlich 31% berichtet [16]. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der retrosigmoidale Zugang in aller Regel bei größeren Tumoren zur Anwendung kommt. Ein durchschnittlicher Hörerhalt von 48% findet sich bei Anwendung des retrosigmoidalen Zugangs bei ausschließlich intrakanalikulären Vestibularisschwannomen [16]. In Einzelfällen ist auch eine Hörverbesserung nach mikrochirurgischer Tumorresektion zu beobachten (. Abb. 8.1–8.4). Als häufigste postoperative Komplikation nach einer mikrochirurgischen Tumorresektion
92
Kapitel 8 · Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen
. Abb. 8.1. Axiale kernspintomographische Darstellung eines Akustikusneurinoms auf der linken Seite nach Kontrastmittelgabe mit intrameataler und geringer extrameataler Tumorausdehnung bei einem 54-jährigen Patienten
8
a . Abb. 8.2. Die präoperativen Untersuchungsbefunde zeigen eine Einschränkungen des Hörvermögens. a Tonaudiometrische Untersuchung, b sprachaudiometrische Untersuchung
b
wird die Liquorrhoe mit einer Häufigkeit von 10–15% berichtet. Als weitere Komplikationen sind eine Meningitis, Ödeme oder Kontusionen von Hirngewebe, intrakranielle Hämatome, eine Hemiparese, ein Hydrocephalus und Wundinfektionen zu beobachten [14]. Diese möglichen Komplikationen werden als ein Argument gegen die mikrochirurgische Therapieoption benannt,
sind aber abgesehen von einer postoperativen Liquorrhoe selten. Untersuchungen zur Lebensqualität nach Vestibularisschwannomresektionen zeigen, dass ein Teil der Patienten keine Beeinträchtigungen angibt, während ein anderer Teil der Patienten unterschiedliche Einschränkungen benennt. In einer Gesamtgruppe von 386 Patienten gaben 231 Pa-
93 8.3 · Therapieentscheidungen
8
a . Abb. 8.3. Erweiterte transtemporale Freilegung des inneren Gehörgangs. Es zeigt sich der betont im inneren Gehörgang lokalisierte rötliche Tumor
tienten (59,8%) keine wesentliche Einschränkung an, während 155 Patienten (40,2%) Einschränkungen in Form von Hörverlust (10,4%), Gleichgewichtsstörungen (10,1%), Funktionsstörungen des N. facialis (9,6%), Tinnitus (5,2%), Kopfschmerzen (3,1%) und ein trockenes Auge (1,8%) als das am stärksten beeinträchtigende Symptom berichteten [19]. Wenngleich der Hörverlust als häufigste Einschränkung benannt wird, ist zu beachten, dass beim Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen die Gesichtsnervenlähmung und ein trockenes Auge die am stärksten belastenden Beeinträchtigungen nach einer Operation sind [20]. Längerfristige Arbeitsunfähigkeiten aufgrund der genannten Einschränkungen sind möglich und werden als ein Nachteil des chirurgischen Therapiekonzeptes angesehen. Eine Abnahme der Lebensqualität in den verschiedenen Teilbereichen wird nach mikrochirurgischen Tumorresektionen berichtet, wobei der Einfluss des Lebensalters, der Tumorgröße und der Tumorlokalisation in der Literatur unterschiedlich bewertet werden.
b . Abb. 8.4. Postoperative Untersuchungsbefunde nach vollständiger mikrochirurgischer Tumorresektion bei uneingeschränkter N.-facialis-Funktion. Verbesserung des Hörvermögens a in der tonaudiometrischen Untersuchung, b in der sprachaudiometrischen Untersuchung
94
Kapitel 8 · Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen
Tufarelli und Mitarbeiter (2006) fanden bei 386 Patienten eine geringere Lebensqualität in allen Teilbereichen des SF36 Erhebungsbogens im Vergleich zur Kontrollgruppe. Darüber hinaus wurden ein Alter jenseits des 45. Lebensjahres, das weibliche Geschlecht und eine extrameatale Tumorlokalisation als Parameter bestimmt, die mit einer ungünstigeren postoperativen Lebensqualität assoziiert waren [19].
8.3.3 Radiochirurgie
8
Die Radiochirurgie des Vestibularisschwannoms erfolgt mit multiplen Kobaltquellen (»gamma knife«) oder mithilfe von Linearbeschleunigern. Grundsätzlich kann eine Radiochirurgie als Primärtherapie, nach einer bewussten subtotalen Tumorresektion oder bei einem Tumorrezidiv zur Anwendung kommen. Die primären Ziele der Radiochirurgie sind die langfristige Tumorkontrolle und der Erhalt des Hörvermögens [21]. In der Mehrzahl kam die Radiochirurgie bisher bei Patienten zur Anwendung, bei denen aufgrund des Alters, des Allgemeinzustandes oder auf eigenen Wunsch keine mikrochirurgische Tumorresektion erfolgte. Diese Aspekte sind dahingehend zu berücksichtigen, dass eine Vielzahl von Erfahrungen der Radiochirurgie an einem spezifischen Patientengut gewonnen wurde und ein direkter Vergleich von mikrochirurgischen und radiochirurgischen Behandlungen des Vestibularisschwannoms mit Einschränkungen erfolgen muss. Tumorkontrollraten bei radiochirurgischer Behandlung liegen in der Literatur bei Nachbeobachtungszeiträumen von 2–12 Jahren zwischen 86 und 100% [9]. Es sollte aber beachtet werden, dass die durch die Radiochirurgie erreichbaren Tumorkontrollraten von der Tumorgröße abhängig sind. Die Beobachtung von Tumorkontrollraten von 89% bei einer Tumorgröße von 2 cm, von 86% bei einer Tumorgröße von 2–3 cm und von 33% bei Tumorgrößen von über 3 cm unterstreichen den unterschiedlichen Stel-
lenwert der Radiochirurgie bei verschiedenen Tumorgrößen [22]. Wenngleich für das kleine Vestibularisschwannom exzellente Tumorkontrollraten vergleichbar der mikrochirurgischen Tumorresektion genannt werden [9], stellt sich die interessante Frage, welche der Tumoren aufgrund der Radiochirurgie und nicht vor dem Hintergrund der spezifischen Tumorbiologie (d. h. des besonderen Wachstumsverhaltens von Vestibularisschwannomen) kein weiteres Wachstum zeigten. Unbekannt bleibt bei der Anwendung der Radiochirurgie das Wachstumspotenzial des jeweiligen Vestibularisschwannoms ohne die Wahl einer spezifischen Therapie, sodass die für die Radiochirurgie benannten Tumorkontrollraten ein Mischbild aus den durch die Radiochirurgie erzielten Wachstumskontrollen und ein bereits therapieunabhängiges fehlendes Wachstumspotenzial des Tumors bedeuten. Ferner sind die erst in der Zukunft verfügbaren Erfahrungen in der Langzeitkontrolle nach Radiochirurgie in der Dimension von Jahrzehnten zu erwarten, um den Stellenwert der Radiochirurgie insbesondere bei jüngeren Patienten dann bestimmen zu können. Eine besondere Situation ergibt sich, wenn eine Radiochirurgie ausgeführt wurde und in den Verlaufskontrollen ein weiteres Tumorwachstum zu beobachten ist. Bei nicht erreichter langfristiger Tumorkontrolle durch die Radiochirurgie ist die mikrochirurgische Tumorresektion grundsätzlich möglich. Sie ist in dieser Situation aber mit deutlich höheren Risiken verbunden. Die durch die Radiochirurgie induzierten Veränderungen in den Tumor-Nerven-Kontaktregionen erschweren die Identifikation der Hirnnerven sowie die Dissektion des Tumors von den Nerven mit einer deutlichen Zunahme des Risikos postoperativer Funktionsstörungen [23, 24]. Als Komplikationen nach einer radiochirurgischen Behandlung eines Vestibularisschwannoms sind ein Hörverlust, Einschränkungen der Gesichtsnervenfunktion, Gleichgewichtsstörungen mit unzureichender zentralvestibulärer
95 8.4 · Zusammenfassung
Kompensation, Kopfschmerzen, Dsyarthrie, Dysphagie, zystische Nekrosen, ein Hydrocephalus und die Induktion einer malignen Entartung berichtet worden [9, 25]. Das Risiko einer potenziellen Malignominduktion wird auf 1:1 000 geschätzt [26]. Schaller (2003) betont, dass der radiobiologische Effekt auf das umgebende Gewebe verzögert auftritt und im Langzeitverlauf Fazialisparesen in 10–32%, Hypästhesien des Gesichts in 19–34% und der Verlust eines funktionellen Gehörs in bis zu 50% nach einer Radiochirurgie in der Literatur genannt wurden. Die Entwicklung des funktionellen Hörverlustes nach Radiochirurgie wird dementsprechend über einen Zeitraum von etwa 2 Jahren berichtet. Das Auftreten der genannten neurologischen Komplikationen nach der Radiochirurgie ist unter anderem von der Strahlendosis und der Tumorgröße abhängig [27], sodass durch eine Reduktion der Strahlendosis auch eine Reduktion der Komplikationsrate erwartet wird. Dementsprechend wurden bereits geringe Einschränkungen der Gesichtsnervenfunktion (0–23%) bei Anwendung der Radiochirurgie mit einer geringen Strahlendosis beschrieben [25]. Insbesondere das intrakanalikuläre Tumorvolumen und die in dieser Lokalisation applizierte Strahlendosis werden als wichtige Determinanten eines Hörerhalts nach Radiochirurgie von Vestibularisschwannomen angesehen [21]. Aktuell wird bei der Anwendung von 12 Gy eine hohe Rate an langfristiger Tumorkontrolle mit einer geringen Rate an Hirnnervenfunktionseinschränkungen erwartet. Die Raten permanenter Fazialisparesen durch reduzierte Strahlendosen und verbesserte Planungsmöglichkeiten liegen übereinstimmend in aktuellen Mitteilungen unter 5% und werden zumeist in Bereichen zwischen 1 und 3% angegeben [14]. Hinsichtlich des Erhalts des Hörvermögens nach Radiochirurgie mit geringeren Strahlendosen finden sich sehr unterschiedliche Angaben. Während einerseits Mitteilungen eines Hörerhalts in 81–93% der Literatur zu entnehmen sind [14], weisen andere
8
Autoren auch unter Berücksichtigung der Weiterentwicklungen der Radiochirurgie auf die unverändert hohe Gefahr eines Hörverlustes von 50– 70% hin [21]. Nur wenige Daten liegen zur Analyse der Lebensqualität nach einer radiochirurgischen Behandlung eines Vestibularisschwannoms vor. Im Vergleich zum konservativen Managementkonzept wurde von der tendenziellen Beobachtung einer verminderten Lebensqualität nach einer Radiochirurgie eines Vestibularisschwannoms berichtet [28], sodass auch dieser Aspekt zu berücksichtigen ist.
8.4
Zusammenfassung
Trotz der Vielzahl von Berichten ist ein Vergleich der 3 grundsätzlichen Therapieoptionen unverändert schwierig. Während die großen Vestibularisschwannome (>3 cm) primär einer chirurgischen Therapie bedürfen, stellt sich insbesondere für das kleine Vestibularisschwannom die immanente Frage nach der für den jeweiligen Patienten geeignetesten Therapieoption. Für jede der 3 verfügbaren Optionen im Managementkonzept des Vestibularisschwannoms treten Protagonisten auf, die die Überlegenheit einer einzelnen Vorgehensweise vertreten. Da einerseits jede der 3 Therapieoptionen Vorzüge und Nachteile aufweist und andererseits unbeantwortete Fragen bestehen, ist eine umfassende Aufklärung des Patienten bezüglich der bestehenden Optionen von großer Bedeutung. Die Kontrolle des Tumorwachstums, die mikrochirurgische Tumorresektion und die Radiochirurgie haben einen festen Stellenwert im aktuellen Managementkonzept des Vestibularisschwannoms. Der Patient muss entscheiden, ob er in dem Bewusstsein des Vorhandenseins eines Hirnnerventumors Kontrolluntersuchungen zustimmen kann. Bei grundsätzlich zunächst fehlender Einschränkung der Lebensqualität bei der Wahl des konservativen Therapieansatzes trägt der Patient
96
8
Kapitel 8 · Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen
das immanente Risiko einer Hörverschlechterung. Bereits Rutherford und King (2005) haben bei dem Vergleich des mikrochirurgischen und radiochirurgischen Vorgehens darauf hingewiesen, dass zum Entscheidungszeitpunkt ein Vergleich der jeweils berichteten besten Erfahrungen erfolgen muss. Während für die mikrochirurgische Resektion des Vestibularisschwannoms eine vollständige Tumorresektion in 97%, keine oder eine nur geringe Einschränkung der N.-facialis-Funktion in 95% und der Erhalt eines audiologisch sinnvollen Hörvermögens in 50% angegeben wird, benennen die besten radiochirurgischen Erfahrungsberichte eine Tumorkontrolle in 90%, keine Einschränkung der N.-facialis-Funktion in 98% und den Erhalt eines audiologisch sinnvollen Hörvermögens in 75% [14]. Wenn auf dem Boden dieser Datenlage dem Patienten zu einem mikrochirurgischen oder radiochirurgischen Vorgehen geraten wird, so müssen die genannten Funktionserhalte konkret am jeweiligen Ort der Behandlung erreicht werden. Der hohe Anspruch an die zuvor genannten Behandlungserfolge wird die Bildung von operativen und radiochirurgischen Zentren in der Zukunft weiter fördern. Auf die Notwendigkeit einer individuellen Therapieentscheidung, die die Grundlage des aktuellen Managementkonzepts bei Vestibularisschwannomen bildet, wurde eingehend hingewiesen. Wenn ein konservatives Management im Sinne einer Verlaufskontrolle des Tumors nicht infrage kommt oder von dem Patienten abgelehnt wird, ist zu prüfen, ob aufgrund des Alters des Patienten (>65 Jahre) und/oder der vorliegenden Begleiterkrankungen mit erhöhtem Operationsrisiko eine radiochirurgische Behandlung zu empfehlen ist. Sind sowohl eine mikrochirurgische als auch radiochirurgische Behandlung ohne Einschränkungen grundsätzlich anwendbar, so stehen für die Arzt-Patienten-Beziehung die Gedanken des Hörerhalts, der Morbidität, der Lebensqualität, bei einem Versagen der Radiochirurgie die erhöhten Risiken eines Funktions-
defizits durch die Tumorresektion und die Gefahr der malignen Entartung des Tumors nach einer Radiochirurgie im Mittelpunkt der Überlegungen. Bei noch unzureichender Datenlage hat an dieser Stelle eine individuelle Therapieentscheidung zu erfolgen.
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9 Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen J. Ronel, P. Henningsen
9.1
Einleitung
– 100
9.2
Schwindel als Folge psychischer Einflüsse
9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5
Positiv empfundener Schwindel – 101 Somatoforme Schwindelerkrankungen – 102 Schwindel als Symptom einer Angsterkrankung – 102 Schwindel als Symptom einer depressiven Störung – 103 Schwindel als Symptom einer dissoziativen Störung – 104
9.3
Schwindel als Ursache psychischer Symptomatik
– 101
– 104
9.3.1 Sekundärer somatoformer Schwindel – 104 9.3.2 Phobischer Schwankschwindel – 105 9.3.3 Akute Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen als Folge von organischen Schwindelerkrankungen – 105
9.4
Schwindel und psychische Beschwerden als komorbide Phänomene – 106
9.5
Fazit
– 106
Literatur
– 107
100
Kapitel 9 · Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen
Maria: I feel dizzy, I feel sunny, I feel dizzy and funny and fine And so pretty, Miss America can just resign! Auszug aus dem Libretto der Westside Story von Leonard Bernstein und Stephen Sondheim (Songtexte). Scotty: I have acrophobia, which gives me vertigo, and I get dizzy. What a moment to find out I had it. Midge: You‘ve got it, and there‘s no losing it. And there‘s no one to blame.
9
Dialog aus dem Film Vertigo von Alfred Hitchcock (© Universal, 1958), in welchem der männliche Protagonist Scotty seiner Freundin Midge versucht zu erklären, warum er Madeleine nicht vor einem Sturz aus einem Turm retten konnte.
9.1
Einleitung
Vor mehr als 100 Jahren schrieb Sigmund Freud (1856–1939) über das Symptom des Schwindels als eine mögliche »klinische Symptomatologie der Angstneurose« [1]: »Eine hervorragende Stellung in der Symptomengruppe der Angstneurose nimmt der »Schwindel« ein, der in seinen leichtesten Formen besser als »Taumel« zu bezeichnen ist, in schwererer Ausbildung als »Schwindelanfall« mit oder ohne Angst zu den folgenschwersten Symptomen der Neurose gehört. Der Schwindel der Angstneurose ist weder ein Drehschwindel, noch lässt er, wie der MenièrescheSchwindel, einzelne Ebenen und Richtungen hervorheben. Er gehört dem lokomotorischen oder koordinatorischen Schwindel an wie der Schwindel bei Augenmuskellähmungen; er besteht in einem spezifischen Missbehagen, begleitet von den Empfindungen, dass der Boden wogt, die Beine versin-
ken, dass es unmöglich ist, sich weiter aufrecht zu halten, und dabei sind die Beine bleischwer, zittern oder knicken ein. Zum Hinstürzen führt dieser Schwindel nie. Dagegen möchte ich behaupten, dass ein solcher Schwindelanfall auch durch einen Anfall von tiefer Ohnmacht vertreten werden kann. Andere ohnmachtartige Zustände bei der Angstneurose scheinen von einem Herzkollaps abzuhängen. Der Schwindelanfall ist nicht selten von der schlimmsten Art der Angst begleitet, häufig mit Herz- und Atembeschwerden kombiniert. Höhenschwindel, Berg- und Abgrundschwindel finden sich nach meinen Beobachtungen gleichfalls bei der Angstneurose häufig vor; auch weiß ich nicht, ob man noch berechtigt ist, nebenher einen vertigo a stomacho laeso [Schwindel gastrischen Ursprungs] anzuerkennen.« Wesentliche Sätze Freuds haben bis heute ihre Gültigkeit behalten. Ob der Schwindel – wie bei Freud – als körperlicher Ausdruck eines unerträglichen und nicht zu bewältigenden seelischen Konfliktes zu sehen ist oder eher als funktionelle Störung im Sinne einer unspezifischen körperlichen Reaktion auf eine psychosoziale Belastungssituation, ist eine häufig diskutierte Grundfrage möglicher, sich ergänzender Konzepte psychosomatischer Denkweisen. Das seit den 70er-Jahren zunehmend diskutierte »bio-psychosoziale Modell« eines integrierten Medizinverständnisses [2] sollte auch in der Erforschung, Diagnostik und Behandlung von Schwindelerkrankungen Anwendung finden. Den Patienten im Gesamtzusammenhang als dynamisches Produkt seiner Beschwerden, seiner inneren Welt und der ihn beeinflussenden Umwelt wahrzunehmen, ist allerdings nicht neu und wurde außer von Freud auch bereits von Ärzten wie Paracelsus oder Robert Koch angeregt [3]. Der Schwindel stellt nach dem Kopfschmerz das zweithäufigste Leitsymptom in der neurologischen Praxis dar [4]. Psychische Störungen stehen offenbar grundsätzlich mit Schwindelsymptomen in enger Verwandtschaft [5]. In einer portugiesischen Untersuchung konnte anhand
101 9.2 · Schwindel als Folge psychischer Einflüsse
einer Symptom-Checkliste gezeigt werden, dass etwa 60% aller dort untersuchten Schwindelpatienten unter verschieden ausgeprägten Angststörungen litten, bei 50% lagen Zwangsstörungen vor, 40% fielen mit Somatisierungstendenzen auf und bei 30% waren depressive Symptome zu erheben [6]. Wie bei vielen psychosomatischen Erkrankungen lassen sich auch beim Schwindel drei unterschiedliche psychosomatische Zusammenhänge benennen: 4 Schwindel als Folge psychischer Einflüsse, 4 Schwindel als Ursache psychischer Symptomatik, 4 Schwindel und psychische Beschwerden als komorbide Phänomene.
. Abb. 9.1. »Rotating Snakes«. Auch optische Illusionen vermögen – nachvollziehbar bei längerer Betrachtung –
9.2
9
Schwindel als Folge psychischer Einflüsse
9.2.1 Positiv empfundener Schwindel Das glückliche Gefühl der Maria aus Bernsteins Westside-Story, das als musikalischer Auftakt diesem Beitrag vorangestellt wurde, ist ein nicht zu gering zu schätzender Bestandteil in der Symptomatologie des Schwindels. Der Schwindel als Metapher für einen inneren Zustand des Glücks unterscheidet sich allerdings von einer bewussten Reizung der Labyrinthe, die als »lustvolles, berauschendes Gefühl« erlebt und durch Achterbahnfahrten, Tanzen und andere Beschleunigungsbewegungen nicht nur bei Kindern ausgelöst werden kann [7]. Auch durch Alkohol oder Drogen kann ein vergleich-
Schwindel hervorzurufen (© Akiyoshi Kitaoka, Department of Psychology, Ritsumeikan University, Kyoto, Japan)
102
Kapitel 9 · Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen
barer Effekt erzielt werden, der ebenfalls auf eine labyrinthäre Störung zurückzuführen ist, wenngleich die hier geschilderten Phänomene meist nicht Anlass zur ärztlichen Vorstellung geben.
9.2.2 Somatoforme Schwindel-
erkrankungen
9
Als somatoformer Schwindel kann eine Gruppe von Erkrankungen definiert werden, die sich durch unterschiedlichste Schwindelsymptome manifestieren können, wobei keine objektivierbaren organpathologischen Befunde nachweisbar sind [8]. Ein Patient in einer HNO-ärztlichen Praxis kann unter Dauerdrehschwindel oder Attackenschwindel leiden. Die Beschwerden werden häufig als Zustände des Schwankens, der Haltlosigkeit und des Rausches geschildert und unterscheiden sich somit nicht von organischen Schwindelerkrankungen, daher werden Schwindelerkrankungen – seien sie organisch oder psychisch bedingt – allgemein als »subjektive Störungen der Orientierung des Körpers im Raum« definiert [9]. Schaaf unterscheidet den monosymptomatischen Schwindel von Syndromen, die mit verschiedenartigen vegetativen Beschwerden wie Schweißausbrüchen, Mundtrockenheit, Herzrasen, Engegefühl, Atemnot, Brechreiz oder Leeregefühl im Kopf einhergehen können [10]. Zusätzlich können zugrunde liegende psychische Beschwerden hinzukommen, die je nach psychopathologischer Ausprägung für die Ätiologie der somatoformen Schwindelerkrankung wegweisend sind und auf die weiter unten eingegangen wird. Die Symptome werden vom Patienten als real, nicht eingebildet und als sehr belastend wahrgenommen [11] und können durch individuelle Reize und Situationen hervorgerufen werden, teils ohne dass den Patienten bewusst ist, warum diese Situationen als Auslöser fungieren. Die verschiedenen Schwindelsymptome können beim
somatoformen Schwindel alle Qualitäten annehmen, die auch beim organisch bedingten Schwindel auftreten können. Eine genaue Diagnose ist somit nur mithilfe von Zusatzuntersuchungen einschließlich fachspezifischer psychiatrisch-psychosomatischer Diagnostik zu erheben [12]. Voraussetzung für die Diagnosestellung einer somatoformen Schwindelerkrankung im HNOärztlichen Bereich ist eine ausgiebige Diagnostik. Bereits bei der Anamneseerhebung sollte ein Augenmerk auf mögliche psychosoziale Zusammenhänge gerichtet werden. Eine gegebenenfalls interdisziplinäre Untersuchung in Zusammenarbeit mit Internisten und Neurologen ist die Basis der Diagnosestellung. Abhängig von der jeweiligen Indikation sollten sich spezielle Untersuchungsmethoden anschließen. Prüfung auf Blickrichtungs- und Spontannystagmus, Untersuchungen der Blickmotorik, Lage- und Lagerungsprüfungen, Erfassung der vestibulospinalen Reflexe (Romberg-, Unterberger-Versuch), kalorische Untersuchung der Vestibularorgane, Einholung audiometrischer und radiologischer Befunde (cCT, cMRT) sollten bedarfsgerecht Anwendung finden [13]. Bei einer Vielzahl von Patienten mit chronischem Schwindel wird eine psychogene Ätiologie angenommen – einige Autoren gehen von 30–50% aus [14], wobei bei den meisten dieser Patienten die Beschwerden deutlich länger anhalten und chronifizieren als bei Patienten mit organischen Schwindelerkrankungen [15]. Grundsätzlich kann der Schwindel durch verschiedene zugrunde liegende psychopathologische Mechanismen und Erkrankungen geprägt und ausgelöst werden.
9.2.3 Schwindel als Symptom einer
Angsterkrankung Angststörungen stellen die häufigsten psychopathologischen Ursachen einer somatoformen Schwindelerkrankung dar [16]. Paroxysmale
103 9.2 · Schwindel als Folge psychischer Einflüsse
Schwindelattacken können Ausdruck einer Panikstörung sein, die meist plötzlich und unerwartet auftritt und für einige Sekunden bis hin zu mehreren Stunden von vegetativen Beschwerden begleitet sein kann. Das Spektrum der Symptomatik umfasst neben unterschiedlichen Schwindelsensationen auf der somatischen Ebene oftmals sehr bedrohlich erlebte Zustände wie Palpitationen, Tachykardien, hypertensive Entgleisungen, Kaltschweißigkeit, Atemnot (teils bis zu Erstickungsängsten), Globusgefühl, Brechreiz und Durchfälle. Bei einer Panikstörung können zudem auch Symptome einer Hyperventilationsattacke auftreten, die mit Parästhesien und in ausgeprägten Fällen auch mit Pfötchenstellung der Hände (Hyperventilationstetanie) oder parasynkopalen Zuständen einhergehen können [12]. Somatoformen Patienten ist jedoch nicht bewusst, dass die Beschwerden durch Ängste ausgelöst werden, sondern erleben die Angstsymptome als Folge der körperlichen Beschwerden. Meist können zugrunde liegende unbewusste Konfliktfelder nur im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung erkannt und bearbeitet werden (wobei auch eine psychopharmakologische Therapie in einer akuten Krise indiziert sein kann). Auf der psychischen Ebene können die Patienten die Angst als Panik erleben, in schweren Fällen exazerbiert die Symptomatik bis hin zu Todesängsten. Auch hypochondrische Störungen können eine Rolle spielen, wenn Patienten davon überzeugt sind, an einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt zu leiden. Oftmals kommt es bei diesen Patienten zur Alarmierung eines Notarztes. Patienten berichten gelegentlich auch von Einschlaf- oder Durchschlafstörungen und haben das Gefühl, durch den Schwindel zu erwachen. Wie auch bei anderen Angststörungen (z. B. der Herzangstneurose) kann sich ein Circulus vitiosus manifestieren, der die Symptomatik noch weiter verstärkt: Die Angst vor der Angst kann das Alltagsleben der Patienten in schweren Fällen so massiv beeinflussen, dass relevante Einschränkungen in sozialen Funktionen die Folge sein
9
kann. Ähnlich wie bei der Herzangstneurose wird inzwischen auch ein »vestibulärer Typus der Angststörung« diskutiert [17]. Auch phobische Störungen können somatoformen Schwindelerkrankungen zugrunde liegen. So klagen Patienten über Schwindel, der z. B. durch große Menschenmengen, U-Bahnen, Fahrstühle, Wendeltreppen und große Höhen ausgelöst werden kann. In der Ätiologie des Höhenschwindels allerdings können psychische und physiologische Faktoren kofaktoriell eine Rolle spielen. So ist das psychophysikalische Phänomen des Entfernungsschwindels bekannt, bei dem es aufgrund der Unfähigkeit des Auges, eine Zweipunktunterscheidung in weiter Entfernung vorzunehmen, zu Höhenschindel kommen kann [18]. Spezifische soziale Umstände, die mit innerer psychischer Anspannung verbunden sind wie Gespräche mit Vorgesetzten oder auch Kennenlernszenarien mit potenziellen Partnern können von Schwindelsymptomen begleitet sein. Typische Phobien, die Schwindel auslösen können, sind die Agoraphobie und die Soziophobie. Eine eindeutige Trennung von nicht psychisch bedingtem Schwindel und somatoformem Schwindel, der durch Angst verursacht wird, ist allerdings nicht immer ganz einfach und meist nicht allein über psychometrische Testverfahren herauszufinden. So lassen sich bei Angstpatienten häufig Auffälligkeiten in vestibulären Funktionsprüfungen feststellen [19], während auch in Untersuchungen bei organisch bedingten Schwindelpatienten erhöhte Werte in Angstskalen zu erheben sind [20]. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit psychosomatischen oder psychiatrischen Kollegen ist auch hier ein weiterführender Ansatz.
9.2.4 Schwindel als Symptom einer
depressiven Störung Weitaus seltener aber gleichwohl von Bedeutung sind depressive Störungen als Auslöser von Schwindelsymptomen, wobei ähnlich wie bei Angstpa-
104
9
Kapitel 9 · Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen
tienten die Beschwerden meist als Folge des Schwindels und nicht als dessen Ursache von den Patienten gewertet werden. Angelehnt an die Kategorisierung im ICD (Kap. F32–F34) können neben melancholischer Stimmungslage, Antriebs- und Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen sowie Appetit- und Libidostörungen in seltenen Fällen auch Suizidalität erfasst werden. Oftmals nehmen die Patienten die Beschwerden nicht als psychische Symptomatik wahr, sodass die Diagnostik meist nur durch eine fachärztlich psychiatrische oder psychosomatische Vorstellung möglich ist. Hierbei ist das Konzept der »larvierten Depression« [21] nützlich. Dietrich und EckhardtHenn [8, 12] weisen darauf hin, dass bei älteren Patienten häufig eine depressive Ätiologie des Schwindels übersehen wird und oftmals fälschlicherweise ein demenzieller Prozess oder eine vaskuläre Erkrankung angenommen wird. Die Autorinnen empfehlen neben einer tiefenpsychologisch orientierten psychotherapeutischen Behandlung den Einsatz von Serotoninwiederaufnahme-Hemmern (z. B. Fluoxetin, Paroxetin oder Citalopram), wobei darauf hingewiesen werden muss, dass verschiedene Antidepressiva als Nebenwirkung ebenfalls Schwindel hervorrufen können [22].
Gefühl, dass der Boden unter ihren Füßen wegfallen würde und dass sie wie gelähmt sei und nur noch schwankend und mit großer Mühe kleinere Erledigungen zu Fuß bewerkstelligen könne. Die Beschwerden hätten 3 Monate zuvor begonnen und seien HNO-ärztlich ohne weiterführende Befunde abgeklärt worden. Erst nach einem längeren Gespräch wurde der Patientin und dem psychosomatischen Untersucher klar, dass es einen engen zeitlichen Zusammenhang mit einer offenbar bedrohlichen Erkrankung der Mutter der Patientin gab. In der weiteren Anamnese wurde deutlich, dass die Patientin als erst 12-Jährige ihre damals jung verwitwete Mutter immer von der Arbeit abholen musste, um dann auf der gemeinsamen Rückfahrt das Steuer des Autos während einer Brückenüberfahrt zu übernehmen, da die Mutter dieses aus Angst nicht konnte. Wir konnten die Patientin in eine niederfrequente tiefenpsychologische Psychotherapie weitervermitteln. Erfreulicherweise besserten sich die Beschwerden der Patientin.
9.3
Schwindel als Ursache psychischer Symptomatik
9.3.1 Sekundärer somatoformer
Schwindel 9.2.5 Schwindel als Symptom einer
dissoziativen Störung Anders als bei vom Patienten bewusst erlebter Angst oder Depression als auslösendem Mechanismus, führt beim dissoziativen Schwindel ein meist unbewusster und nicht lösbarer Konflikt zur Ausbildung von Schwindel, was in der psychoanalytisch-psychodynamischen Tradition als Konversionssymptom zu verstehen ist. Im Allgemeinen ist eine psychopharmakologische Therapie bei dissoziativen Störungen aus unserer Sicht nicht indiziert. Eine 35-jährige Patientin, die sich in unserer Poliklinik vorgestellt hatte, berichtete über das
Dietrich und Eckhardt-Henn trennen primäre von sekundären somatoformen Schwindelerkrankungen [8, 12]. Bei ersteren handelt es sich um psychosomatische Erkrankungen, die ohne organisches Korrelat und Grunderkrankungen auftreten. Sekundäre somatoforme Schwindelzustände sind durch organische Schwindelerkrankungen ausgelöst und werden immer wieder als deren Residualzustände verkannt. Die organische Läsion dient für prädisponierte Patienten als Modell für die nachfolgende Symptombildung. Die vom Arzt erfassbaren Befunde oder bekannten Organdiagnosen können die Ausprägung der Symptomatik allerdings nicht hinreichend erklären. So ist häu-
105 9.3 · Schwindel als Ursache psychischer Symptomatik
fig im längerfristigen Verlauf einer organisch bekannten Erkrankung eine Veränderung der Symptomatik und der Schwindelqualität zu beobachten. Es kann beispielsweise vom Drehschwindel zum Schwankschwindel oder diffusen Benommenheitsschwindel kommen, was mit der anfangs diagnostizierten Erkrankung zunächst nicht in Einklang zu bringen ist. Die somatoforme Ursache der Beschwerden wird im klinischen Alltag häufig verkannt oder bagatellisiert. Es entstehen Verlegenheitsdiagnosen, die in der Folge für die Patienten unter Umständen kontraindizierte Behandlungen nach sich ziehen, wie beispielsweise die langwierige Einnahme von Antiverginosa oder Rheologika und in seltenen Fällen sogar invasive operative Maßnahmen. Beim sekundären somatoformen Schwindel stehen lerntheoretische und psychodynamische Erklärungsmodelle zur Verfügung. Aus lerntheoretischer Sicht besteht ein konditionierter Zusammenhang zwischen einer Schwindelsensation und einer kognitiv katastrophierenden Bewertung im Sinne einer drohenden schwerwiegenden Erkrankung. Eine Angstreaktion entsteht und steigert sich wie in einem Teufelskreis durch einen Anstieg verschiedener Funktionen des autonomen Nervensystems oder durch hinzukommende körperliche Erscheinungen, die beispielsweise durch Hyperventilation ausgelöst werden, zu Panikattacken und Todesangst. Psychodynamisch wird angenommen, dass eine primär nicht pathologische, subjektive Missempfindung auf einen akuten inneren Konflikt oder eine psychische Belastungssituation treffen und es so zur Symptomausbildung kommt. Die Ausbildung somatischer Affektäquivalente als Versuch, innerpsychische Konflikte abzuwehren, führt zur psychosomatischen Dekompensation [8, 12].
9
erkrankungen überhaupt, stellt der phobische Schwankschwindel (engl.=phobic postural vertigo) dar, der meist in der Folge organischer Schwindelerkrankungen auftreten kann [23]. Der phobische Schwankschwindel ist durch Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, dem Gefühl von anfallsartiger körperlicher Instabilität sowie Angst und Panik charakterisierbar, wobei die Schwindelsensationen durch spezifische phobische Auslösesituationen (Brücken, Wendeltreppen, soziale Belastungssituationen) hervorgerufen werden. Oftmals spielen auch vegetative Symptome, Zwanghaftigkeit und depressive Symptome eine klinische Rolle. Die Patienten entwickeln häufig ein ausgeklügeltes Vermeidungsverhalten bezüglich dieser phobischen Auslösesituationen [24]. Patienten mit phobischem Schwankschwindel stellen eine Gruppe von Patienten dar, die immer wieder in HNO-Ambulanzen und Praxen Hilfe suchen, wobei die psychogene Komponente den Patienten nur zu einem geringen Teil bewusst und aufgrund der vorangegangenen organischen Erkrankung nicht selbstverständlich zu diagnostizieren ist [25]. Durch Aufklärungsarbeit sowie verhaltenstherapeutische Psychotherapie sind gute Behandlungserfolge zu erzielen, was in einer aktuelleren Untersuchung belegt werden konnte [26]. Bezüglich der Variabilität der Symptomatik konnte in einer weiteren Arbeit interessanterweise gezeigt werden, dass Patienten mit phobischem Schwankschwindel bei anspruchsvollen und schwierigen Gleichgewichtsübungen signifikant bessere Balancefähigkeiten aufwiesen als bei deutlich einfacheren Übungen [27].
9.3.3 Akute Belastungsreaktionen
und Anpassungsstörungen als Folge von organischen Schwindelerkrankungen
9.3.2 Phobischer Schwankschwindel Eine nicht seltene Sonderform des sekundären somatoformen Schwindels und der Schwindel-
Ähnlich wie bei anderen Erkrankungen können chronisch verlaufende organische Schwindelerkrankungen in manchen Fällen zu psychischen
106
9
Kapitel 9 · Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen
Störungen im Sinne von akuten Belastungsreaktionen (ICD 10 F43.0) und Anpassungsstörungen (ICD 10 F43.2) führen [28]. Die Patienten erleben eine nur schwer zu behandelnde Erkrankung als belastendes und bedrohliches Lebensereignis, das nicht zu bewältigen zu sein scheint. Die Symptomatik einer akuten Belastungsreaktion ist häufig mit Bewusstseinseinschränkungen, Desorientiertheit, vegetativen Reaktionen sowie einem sozialen Rückzug verbunden, wobei auch Benommenheitsgefühle hervorgerufen werden. Insofern können Symptome einer akuten Belastungsreaktion den organisch bedingten Schwindel sekundär verstärken. Anpassungsstörungen können bei organischen Schwindelerkrankungen ebenfalls eine Rolle spielen und sind zusätzlich durch depressive oder ängstliche Symptome sowie eine innere Spannung gekennzeichnet. Eine Anpassungsstörung kann beispielsweise durch eine schwere Verlaufsform einer Menière-Krankheit ausgelöst werden. Die Patienten erleiden hierdurch eine anhaltende emotionale Beeinträchtigung, wodurch soziale Funktionen und Leistungen im Alltag deutlich behindert sein können. Unterstützende psychotherapeutische Verfahren sowie Selbsthilfegruppen und Entspannungsübungen können hilfreich sein und verbessern die Prognose.
9.4
Schwindel und psychische Beschwerden als komorbide Phänomene
Es existieren nur wenige Untersuchungen zur Komorbidität von Schwindel und psychischen Beschwerden, wobei ein gleichzeitiges und unabhängiges Auftreten beider Entitäten oft schwer zu belegen ist. In einer neueren Untersuchung wurden gesunde Probanden mit verschiedenen Patientengruppen verglichen: Die einzelnen Patientengruppen litten unter benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel, vestibulärer Neuritis, Menière-Krankheit, vestibulärer Migräne,
Angst, Depression und somatoformen Störungen. Verschiedene vestibuläre Prüfungen wurden angewandt, zusätzlich erfolgte eine psychosomatische Diagnostik. Es war auffällig, dass lediglich die Patientengruppen mit benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel und der vestibulären Neuritis pathologische Messwerte bezüglich der vestibulären Untersuchungen zeigten. Die Gruppen mit Menière-Krankheit, der vestibulären Migräne sowie mit psychischen Beschwerden waren bezüglich der HNO-Untersuchungen unauffällig, zeigten aber signifikant höhere Werte in einzelnen psychometrischen Testverfahren. Die Autoren schlussfolgerten, dass speziell hinsichtlich der Angstsymptome eine Unabhängigkeit von den HNO-Diagnosen besteht und dass bei diesen Patienten von präexistenten psychopathologischen Faktoren auszugehen ist [29].
9.5
Fazit
Goethe (1749–1832) schrieb 1814 autobiographisch über seine Erlebnisse am Strassburger Münster [30]: »Ich befand mich in einem Gesundheitszustand, der mich bei allem, was ich unternehmen wollte und sollte, hinreichend förderte; nur war mir noch eine gewisse Reizbarkeit übrig geblieben, die mich nicht immer im Gleichgewicht ließ […] Besonders aber ängstigte mich ein Schwindel, der mich jedesmal befiel, wenn ich von einer Höhe herunterblickte. Allen diesen Mängeln suchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Weise […] Ich erstieg ganz allein den höchsten Gipfel des Münsterturms und saß in dem sogenannten Hals, unter dem Knopf oder der Krone, wie man‘s nennt, wohl eine Viertelstunde lang, bis ich es wagte, wieder heraus in die freie Luft zu treten, wo man auf einer Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte haben wird, ohne sich sonderlich anhalten zu können, stehend das unendliche Land vor sich sieht, indessen die nächsten Umgebungen und Zier-
107 Literatur
raten die Kirche und alles, worauf und worüber man steht, verbergen […] Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward, und ich habe nachher bei Bergreisen und geologischen Studien, bei großen Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um die Wette über die freiliegenden Balken und über die Gesimse des Gebäudes herlief, ja in Rom, wo man eben dergleichen Wagestücke ausüben muss, um bedeutende Kunstwerke näher zu sehen, von jenen Vorübungen großen Vorteil gezogen.« Goethe ergriff offenbar eher verhaltenstherapeutische Maßnahmen zur Bekämpfung des psychogenen Schwindels. In einem medizingeschichtlichen Aufsatz von Jagella über das kulturhistorisch weit verbreitete Phänomen des »bürgerlichen Schwindels« wird diskutiert, dass zum Verständnis der Ursachen des »Münsterschwindels« Goethes auch psychoanalytische Herangehensweisen hilfreich sein könnten [31]. In der HNO-ärztlichen Versorgung gilt es, ein Augenmerk auf psychische Faktoren bei Schwindelsymptomen zu richten, da die meisten Patienten – ungleich Goethe – über innere Ursachen oder gar eine selbstständige Heilung meist nicht zu berichten wissen. Eine Integration des Wissens über psychosomatische Zusammenhänge in der alltäglichen klinischen Arbeit kann
. Abb. 9.2. Manchmal genügt eine falsche Perspektive, um Schwindel auszulösen. Das Haus in San Francisco ist am Hang gebaut, das Bild wurde lediglich gedreht (»Green Street Dizziness«, © Cyre Mia, Brüssel, Belgien)
9
viele langwierige und unbefriedigende Krankheitsverläufe bei Schwindelpatienten positiv beeinflussen.
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Kapitel 9 · Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen
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10 Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose J. Langer
10.1 Einleitung
– 110
10.2 Pathogenese – 110 10.3 Differenzialdiagnosen – 110 10.4 Klinischer Befund und Diagnostik
– 110
10.4.1 Akutstadium – 110 10.4.2 Kompensationsstadium – 112
10.5 Therapie der Neuronitis vestibularis
– 117
10.5.1 Akutstadium – 117 10.5.2 Kompensationsstadium – 117
10.6 Verlauf und Prognose der Neuronitis vestibularis – Auswertung der Erkrankungsfälle – 117 10.6.1 Material und Methoden 10.6.2 Ergebnisse – 118 10.6.3 Diskussion – 119
Literatur
– 120
– 118
110
10.1
10
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
Einleitung
Die Neuronitis vestibularis, auch Neuropathia vestibularis oder akuter einseitiger Vestibularisausfall genannt, gehört in das Krankheitsspektrum jedes HNO-Arztes und jeder HNO-Klinik. Die Patienten klagen im Akutstadium über starke vegetative Symptome wie Schwindel, Übelkeit und Erbrechen, Herzrasen. Diese Symptome führen häufig zur stationären Einweisung der Patienten. Dabei muss nicht zwingend ein HNO-Arzt als erstbehandelnder Arzt infrage kommen. Während die vegetativen Beschwerden rein subjektiver Art sind, findet man regelmäßig die folgenden objektiven Befunde: 4 Spontannystagmus in das gesunde Ohr mit teilweise deutlicher rotatorischer Komponente, 4 Fallneigung beim Romberg-Stehversuch zur erkrankten Seite, 4 Verstärkung der Beschwerden durch Provokation, 4 normales, nicht akut eingeschränktes Hörvermögen auf der erkrankten Seite. Jeder Patient empfindet die Beeinträchtigung durch die Erkrankung unterschiedlich. Während einige Patienten bereits bei kleinsten Kopfbewegungen mit massiven Übelkeitsattacken kämpfen, gibt es auch Patienten, die sich selbst im Akutstadium einer Neuronitis vestibularis nur minimal beeinträchtigt fühlen.
10.2
Pathogenese
Die Pathogenese der Neuronitis vestibularis ist ähnlich der Entstehung des akuten Hörsturzes nicht ausreichend geklärt. Neben einer vaskulären Ursache werden vor allem virale Ursachen vermutet. Die Verwendung des Begriffes Neuronitis beruht auf der Tatsache, dass verschiedene virale, aber auch bakterielle Erreger die Krankheit auslösen sollen. Als auslösende Erreger seien z. B. In-
fluenzaviren, RS-Viren, Coxsackie- und Adenoviren genannt. Der spezielle Erregernachweis gestaltet sich jedoch oft sehr schwierig oder gelingt gar nicht. Durch (infektbedingte) Störungen der Mikrozirkulation im vestibulären Innenohranteil kommt es zur Auslösung der Erkrankung. Laut einigen Autoren tritt eine Neuronitis vestibularis oft nach Infekten auf und es gibt eine gewisse Häufung der Erkrankung in den sogenannten Erkältungsmonaten. Auch am eigenen Patientengut war diese Tendenz ebenfalls nachweisbar. So findet sich in einer Auswertung der Neuronitis-vestibularis-Erkrankungen über einen Zeitraum von 6 Jahren eine gewisse jahreszeitliche Schwankung: Die meisten Erkrankungen finden sich im Herbst (September bis November, N=124), gefolgt vom Winter (Dezember bis Februar, N=102; . Abb. 10.1).
10.3
Differenzialdiagnosen
Die Neuronitis vestibularis gehört zur Gruppe der peripher-vestibulären Schwindel. Von dieser Erkrankung zu unterscheiden sind dabei: 4 Menière-Krankheit, 4 benigner paroxysmaler Lagerungsnystagmus, 4 entzündliche Veränderungen mit Beeinträchtigung der Funktion des Labyrinthes (Labyrinthitis, chronische Mittelohrentzündungen), 4 traumatische Schädigungen (Felsenbeinfrakturen), 4 Rundfenstermembranrupturen mit plötzlich einsetzendem Schwindel, aber auch mit Hörverlust, 4 zervikal bedingter Schwindel.
10.4
Klinischer Befund und Diagnostik
10.4.1 Akutstadium Der HNO-Status der akut erkrankten Patienten stellt sich regelhaft unauffällig dar. Der bereits er-
111 10.4 · Klinischer Befund und Diagnostik
10
. Abb. 10.1. Jahreszeitliche Verteilung der Neuronitis vestibularis (HNO-Klinikum AMEOS, Klinikum St. Salvator, Halberstadt, 07/1998–06/2006)
wähnte Spontannystagmus in das gesunde Ohr ist ein erster richtungsweisender Befund. Zur ersten Einschätzung der Erkrankten sind eine FrenzelBrille und zumindest eine Stimmgabel (z. B. a1) unabdingbare Hilfsmittel. Mit einer Frenzelbrille zur Beurteilung eines Spontannystagmus kann bereits in der Notaufnahme eine Zuordnung der Patienten in die »richtige« Fachabteilung erfolgen. Die Anamnese der Patienten stellt auch im Fall der Neuronitis vestibularis ein wichtiges Instrument dar. Die Patienten berichten oft über ein akut einsetzendes Schwindelereignis, typischerweise mit Drehschwindel zu einer (der gesunden) Seite. Dabei versuchen die Erkrankten Veränderungen der Körperlage zu vermeiden und halten die Augen geschlossen. Oft kann bereits durch die geschlossenen Lider ein Nystagmus wahrgenommen werden. Im Akutstadium sollten differenzialdiagnostisch neurologische Erkrankungen in Erwägung gezogen und ausgeschlossen werden. Bei vorliegenden Zusatzerkrankungen, die mit
einem Risiko zu zerebralen Durchblutungsstörungen (Blutung, Apoplex) einhergehen könnten, sollte gegebenenfalls interdisziplinär über die Durchführung einer zerebralen Computertomographie (cCT) entschieden werden. Zwar bestehen Unterschiede in der Nystagmusform zwischen peripher und zentral bedingtem Nystagmus, diese können jedoch im Akutfall verschwimmen. Wichtig
Grundsätzlich gilt, dass ein Nystagmus, der peripher-vestibulär verursacht wird, seine Schlagrichtung bei Änderung der Blickrichtung nicht ändert, wohingegen der zentral generierte Nystagmus blickrichtungsabhängig ist.
Zur Differenzierung zwischen peripherem und zentralem Nystagmus kann der Versuch der Fixationssuppression herangezogen werden. Dabei
112
10
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
wird geprüft, ob der Spontannystagmus bei Fixation auf einen bestimmten Punkt seine Frequenz verringert oder vollständig verschwindet. Das kann als Zeichen für einen peripheren Nystagmus gewertet werden. Bewährt hat sich dabei der Einsatz der Videonystagmographie (VNG). Hier besteht die Möglichkeit, die Fixation durch Einschalten einer kleinen LED in der VNG-Brille zu prüfen. Der Romberg-Stehversuch und der Unterberger-Tretversuch sind die wichtigsten vestibulospinalen Tests. Durch sie kann ohne Hilfsmittel relativ leicht eine peripher-vestibuläre Störung diagnostiziert werden. Typischerweise fallen Neuronitis vestibularis-Patienten beim Stehversuch nach Romberg zur erkrankten Seite. Sollte der Krankheitsbeginn bereits einige Tage zurückliegen, kann diese Fallneigung bereits wieder verschwunden sein. Hier stellt der »verschärfte RombergTest« eine Möglichkeit zur Demaskierung des Vestibularisausfalles dar. Die Prüfung erfolgt wie beim Romberg-Test mit geschlossenen Augen und den Armen in Vorhalte, die Füße stehen hier jedoch nicht neben-, sondern voreinander. Der Unterberger-Tretversuch eignet sich erst nach einer gewissen Stabilisierung der Patienten zur Diagnostik. Als pathologisch werden hier Drehungen von mehr als 40–70 Grad zur erkrankten Seite gewertet. Neben der Statokinetik kann jetzt bei stabilisiertem Allgemeinzustand die thermische Prüfung der Vestibularorgane zur Verifizierung des Ausfalls des Vestibularorgans erfolgen. In den letzten Jahren hat die Videonystagmographie (VNG) dabei die Elektronystagmographie (ENG) und die Computernystagmographie (CNG) weitestgehend abgelöst. Der Einsatz der Videonystagmographie zeichnet sich durch die wesentliche Vereinfachung der Untersuchung aus. Auf eine Kalibrierung kann meist verzichtet werden und die Anforderungen an die Räumlichkeiten sind wesentlich geringer, da auf eine Verdunkelung gegebenenfalls verzichtet werden kann. Bei der Aufzeichnung der thermischen Prüfung findet sich regelmäßig ein Spontannystag-
mus zur gesunden Seite. Bei thermischer Reizung der erkrankten Seite fehlt eine erkennbare Änderung des vorbestehenden Spontannystagmus. Bei Prüfung der gesunden Seite kommt es hingegen zu Änderungen der aufgezeigten Nystagmen im Vergleich zum Spontannystagmus (. Abb. 10.2 u. 10.3). In . Abb. 10.2 wird ein Spontannystagmus nach rechts mit einer Schlagzahl von 69/30 Sekunden als Hinweis auf eine Läsion des linken Vestibularorgans aufgezeichnet. Das bestätigt sich bei der Warmspülung des rechten Ohrs (rechts/ warm). Hier wird der vorbestehende Rechtsnystagmus auf eine Schlagzahl von 90/30 Sekunden verstärkt, wohingegen bei den Spülungen des linken Ohrs (links/warm und links/kalt) mit Schlagzahlen von 70 und 73/30 Sekunden keine Änderungen des Spontannystagmus gefunden werden. Auch bei der letzten Spülung (rechts/kalt) kann keine relevante Änderung des Spontannystagmus aufgezeichnet werden (75/30 Sekunden). Dieses Phänomen kann als Hinweis für ein akutes Ereignis gewertet werden. Alternativ kann zur Auswertung der Seitendifferenz in Abhängigkeit der verwendeten VNG-Software die Geschwindigkeit der langsamen Nystagmusphase (SPV) genutzt werden. 4 Wochen nach einem Akutereignis einer Neuronitis vestibularis können dann eindeutige Befunde bei der thermischen Gleichgewichtsprüfung gefunden werden (. Abb. 10.3). Während bei der kalorischen Prüfung des linken Vestibularorgans (links/warm und links/kalt) keine Reaktionen zu verzeichnen sind, findet sich auf der rechten Seite (rechts/warm und rechts/kalt) eine regelrechte Antwort auf die thermische Reizung.
10.4.2 Kompensationsstadium Im weiteren Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer deutlichen Reduktion der vegetativen Beschwerden. Zu diesem Zeitpunkt verlangsamt der Spontannystagmus seine Frequenz und ver-
113 10.4 · Klinischer Befund und Diagnostik
. Abb. 10.2. Beispiel einer VNG-Aufzeichnung bei akuter Neuronitis vestibularis links
10
114
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
10
. Abb. 10.3. VNG-Aufzeichnung 4 Wochen nach akuter Neuronitis vestibularis links
115 10.4 · Klinischer Befund und Diagnostik
schwindet letztendlich. Zu diesem Zeitpunkt kann es unter Umständen auch zur Umkehrung des Spontannystagmus in das erkrankte Ohr kommen. Dieses Phänomen kann als mögliche Erholung des ausgefallenen Vestibularorgans angesehen werden. Zur weiterführenden Diagnostik einer evtl. bereits einsetzenden zentralen Kompensation der Neuronitis vestibularis eignet sich der rotatorische Test (Drehstopp- und Drehpendeltest). Dabei werden die Patienten um die Körperlängsachse gedreht. Durch diese Reizung werden beide Vestibularorgane gleichzeitig erregt. Im Fall einer Neuronitis vestibularis mit fehlender zentraler Kompensation stellt sich im Vergleich der Rechts- und Linksdrehung eine deutliche Seitendifferenz dar (. Abb. 10.4 u. 10.5). Auch bei der rotatorischen Prüfung im akuten Stadium einer Neuronitis vestibularis links kann
10
ein deutlicher Spontannystagmus nach rechts gesehen werden (. Abb. 10.4). In der postrotatorischen Phase nach Rechtsbeschleunigung und -drehung (Drehstopp rechts) kann nur ein ca. 5 Sekunden andauerndes Verschwinden des vorbestehenden Spontannystagmus aufgezeichnet werden. Die fehlende zentrale Kompensation stellt sich in den beiden rechten Diagrammen dar. Während die Rechtsnystagmen sowohl im Drehpendeltest (oberes Diagramm), als auch im Drehstopptest (unteres Diagramm) nachweisbar sind, fehlen im Akutstadium die Linksnystagmen vollständig. Bereits 4 Wochen nach akuter Neuronitis vestibularis links kann eine beginnende zentrale Kompensation in der rotatorischen Prüfung nachgewiesen werden (. Abb. 10.5). Im Drehpendeltest (rechtes oberes Diagramm) kann noch eine deutliche (pathologische) Seitendifferenz (SD) nachgewiesen werden: SD der maximalen
. Abb. 10.4. Aufzeichnung bei akuter Neuronitis vestibularis links in der rotatorischen Prüfung
116
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
10 . Abb. 10.5. Aufzeichnung 4 Wochen nach akuter Neuronitis vestibularis links in der rotatorischen Prüfung. Beginnender Ausgleich in der Drehstoppuntersuchung,
noch deutliche (pathologische) Seitendifferenz im Drehpendeltest
SPV (maximale Geschwindigkeit der langsamen Nystagmusphase – slow phase velocity in Grad/ Sekunde) von 20%, SD der kumulierten Augenposition (Summation der Nystagmusamplituden) von 56%. Im Drehstopptest (rechtes unteres Diagramm) stellt sich hingegen nur noch eine geringe Seitendifferenz der maximalen SPV von 4% dar. Es zeigt sich deutlich, dass die Drehpendeluntersuchung aufgrund der geringeren Reizintensität wesentlich sensibler auf pathologische Seitendifferenzen reagiert als der Drehstopptest mit deutlich überschwelligen Reizen. Bei zentraler Kompensation oder Erholung des peripheren Vestibularorgans kommt es zur Angleichung der Nystagmusantworten und zu einem symmetrischen Ergebnis der rotatorischen Prüfung. Der Drehstopp- und Drehpendeltest
stellt somit eine Möglichkeit zur Abschätzung der zentralen Kompensation einer peripher-vestibulären Störung dar. Als diagnostisches Mittel zur Differenzierung der ausgefallenen Anteile des Vestibularorgans haben sich die vestibulär evozierten myogenen Potenziale (VEMP) erwiesen. Durch den Einsatz von Tonbursts mit hohem Schalldruck (>90 dB) werden dabei neben den cochleären auch Sakkulusstrukturen stimuliert. Das konnte in tierexperimentellen Untersuchungen nachgewiesen werden. Die akustische Stimulation führt zu Reaktionen im Bereich der Halsmuskulatur. Die Ableitung der Potenziale erfolgt daher über dem M. sternocleidomastoideus. Durch den Einsatz der vestibulär evozierten myogenen Potenziale kann eine Sakkulusfunktionsstörung nachgewiesen werden.
117 10.6 · Verlauf und Prognose der Neuronitis vestibularis
10.5
Therapie der Neuronitis vestibularis
10.5.1 Akutstadium Die Therapie zu Beginn der Erkrankung sollte sich auf die Ruhigstellung des Patienten konzentrieren. Gegen die von den Patienten verspürte Übelkeit und gegebenenfalls das Erbrechen können Antiemetika/Antivertiginosa eingesetzt werden, z. B. Dimenhydrinat (Vomex) oder Betahistidinmesilat (Aequamen). Gegebenenfalls kommt die Substitution von Flüssigkeiten (Infusion) infrage. Der Einsatz von Antivertiginosa sollte auf die ersten 2–3 Tage der Behandlung beschränkt sein, da sonst eine zentrale Kompensation des Schwindels beeinträchtigt werden kann. Die medikamentöse Behandlung der Neuronitis vestibularis umfasst in erster Linie den Einsatz von Glukokortikoiden. Den Glukokortikoiden wird neben einer antientzündlichen Wirkung ein positiver Effekt als Antiemetikum und auf die zentrale Kompensation nachgesagt. Auch der Einsatz von Rheologika wird beschrieben, erlangt aber in letzter Zeit keine große Bedeutung mehr. Der Einsatz von Virustatika (Vaciclovir), gegebenenfalls in Kombination mit Glukokortikoiden, wird zur Zeit noch in klinischen Studien untersucht. Die erste Phase der Behandlung der Neuronitis vestibularis muss so kurz wie möglich gehalten werden. Eine zu Beginn der Erkrankung sinnvolle Bettruhe sollte nicht länger als 2, maximal 3 Tage dauern. Hier muss man im Einzelfall Rücksicht auf die allgemeine Konstitution und das Alter der Patienten nehmen. Wichtig
Als Grundregel gilt jedoch, je länger man nicht gegen den Schwindel ankämpft, desto länger wird der Schwindel andauern.
An diese Phase der Ruhigstellung des Erkrankten schließt sich schnell ein vestibuläres Kompensa-
10
tionstraining an. Dieses stellt neben der medikamentösen Behandlung mit Glukokortikoiden und gegebenenfalls Rheologika einen zweiten wichtigen Pfeiler der Behandlung der Neuronitis vestibularis dar. Hierbei wird das Gleichgewichtssystem gezielt mit Schwindel auslösenden Situationen konfrontiert. Dadurch wird durch die wiederholte Reizung eine schnellere Erholung des Vestibularsystems erzielt. Der Einsatz des Gleichgewichtstrainings hat dabei an den einzelnen Patienten und den aktuellen Krankheitszustand angepasst zu erfolgen. Begonnen werden kann dabei mit Fixationsübungen bei gleichzeitiger Kopfdrehung oder dem visuellen Verfolgen von sich bewegenden Gegenständen. Später können dann Übungen im Sitzen, Stehen und beim Gehen folgen. Auch dabei soll ein Gegenstand fixiert werden.
10.5.2 Kompensationsstadium Die Dauer und der Übergang zwischen Akut- und Kompensationsstadium sind individuell sehr verschieden. Die medikamentöse intravenöse Therapie erstreckt sich in der Regel über einen Zeitraum von 7–10 Tagen. Daran schließt sich gegebenenfalls eine Fortführung einer Therapie mit oralen Rheologika über einen längeren Zeitraum an. Wichtig erscheint jedoch die Fortführung der Gleichgewichtsübungen, adaptiert an den Allgemeinzustand. Auch Monate nach einer akuten Erkrankung können Schwindelattacken bei schneller Kopfbewegung persistieren.
10.6
Verlauf und Prognose der Neuronitis vestibularis – Auswertung der Erkrankungsfälle
Zum klinischen Befund, den diagnostischen Notwendigkeiten und der Therapie der Neuronitis vestibularis wurde Bezug genommen. Interes-
118
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
sant scheint jedoch die Frage, wie oft es zu einer zentralen Kompensation einer akuten Vestibulopathie kommt oder ob sich das erkrankte Vestibularorgan erholt. Angaben in der Literatur über eine Restitution der akuten Vestibulopathie sind rar. Um diese Frage klären zu können, führten wir über einen Zeitraum von 3 Jahren eine Auswertung der Fälle durch, die mit einer akuten Neuronitis vestibularis stationär behandelt wurden. Ziel der Untersuchung war es, den Verlauf der Erkrankung zu verfolgen, um Aussagen über die Dauer der vestibulären Symptomatik und ihren Verlauf hinsichtlich Restitution oder zentraler Kompensation treffen zu können.
10.6.1 Material und Methoden
10
Neben der routinemäßigen audiologischen Diagnostik während der stationären Behandlung führten wir im Akutstadium eine Videonystagmographie und einen rotatorischen Test zur Beurteilung der zentralen Kompensation der peripher-vestibulären Störung durch. Der Ausfall eines Vestibularorgans wurde bei einer maximum slow-phase velocity (mSPV) von ≤ 3°/Sekunden auf der betroffenen Seite angenommen. Von einer
fehlenden zentralen Kompensation wurde bei einer Seitendifferenz von ≥ 30% zu ungunsten der betroffenen Seite ausgegangen. Die im Akutstadium durchgeführte thermische Prüfung der Gleichgewichtsorgane und Drehstopp-/Drehpendeltests wurden dazu nach 4 und 12 Wochen wiederholt. Es wurden 57 Patienten in die Untersuchungen einbezogen.
10.6.2 Ergebnisse Das Durchschnittsalter der Patienten lag bei 48,4 Jahren (16–83 Jahre). Zwei Drittel der Patienten waren männlich (N= 38), nur 19 Patientinnen wurden behandelt. Das Durchschnittsalter der Frauen lag mit 43,4 Jahren deutlich unter dem der männlichen Patienten (50,9 Jahre). Nach 12 Wochen konnte bei 30 Patienten (53%) eine vollständige Erholung des zunächst akut geschädigten Vestibularorgans gefunden werden (22 Männer und 8 Frauen). Bei immerhin 27 Patienten (48%) fand sich auch 12 Wochen nach Behandlung der akuten Neuronitis vestibularis ein fortbestehender Vestibularisausfall mit einer Unerregbarkeit des betroffenen Vestibularorgans (. Abb. 10.6).
. Abb. 10.6. Verlauf der Neuronitis vestibularis
119 10.6 · Verlauf und Prognose der Neuronitis vestibularis
Von diesen 27 Patienten mit fortbestehendem peripherem Vestibularisausfall 12 Wochen nach Behandlung der Neuronitis vestibularis waren 59% männlich (N=16), Frauen waren in 11 Fällen in dieser Gruppe vertreten. Es erfolgte eine weitere Unterteilung dieser Gruppe in Patienten mit zentraler Kompensation und Patienten ohne zentrale Kompensation des einseitigen Ausfalls des Vestibularorgans. Dabei konnte in 15 Fällen eine zentrale Kompensation im Drehstopp-/Drehpendeltest nachgewiesen werden – 6-mal bei männlichen und 9-mal bei weiblichen Patienten. Bei weiteren 12 Patienten (21% des Gesamtkollektivs) konnte auch nach einem Vierteljahr nach Akuttherapie eines Vestibularisausfalls keine zentrale Erholung gesehen werden. Diese Gruppe stellt erfahrungsgemäß das größte Problempotenzial dar. Auffällig erscheint, dass 10 der 12 Patienten männlich waren (83%), nur 2 Patientinnen fanden sich in dieser Gruppe. Während das Durchschnittsalter der männlichen Patienten ohne zentrale Kompensation 51,6 Jahre betrug, lag das Durchschnittsalter der Frauen dieser Gruppe bei 29 Jahren (. Abb. 10.7).
10.6.3 Diskussion Die Behandlung der Neuronitis vestibularis geht über die akute Phase der Erkrankung hinaus und
. Abb. 10.7. Fortbestehender Vestibularisausfall nach 12 Wochen
10
bedarf der weiteren Betreuung der Patienten über einen längeren Zeitraum. Auch mehr als 12 Wochen nach dem Akutereignis stellen sich Patienten mit fortbestehenden vegetativen Beschwerden vor. Eine Aussage hinsichtlich der Prognose der Erkrankung erscheint nur bedingt möglich. Das Alter der Patienten hat keinen Einfluss auf den Verlauf der Neuronitis vestibularis. Weibliche Patienten scheinen insgesamt im Vorteil zu sein. Nur ein Drittel unserer behandelten Patienten waren Frauen. Das widerspricht teilweise den Literaturangaben, hier wird ein höherer Anteil an weiblichen Patienten beschrieben. Während 10 männliche Patienten nach 12 Wochen noch keine zentrale Erholung aufwiesen (26% der behandelten männlichen Patienten), waren nur 2 Frauen betroffen (11% der behandelten weiblichen Patienten). Bei der Auswertung der Erkrankungsfälle fand sich eine gewisse Häufung in den Herbstund Wintermonaten. Das unterstützt die Hypothese, dass die Neuronitis vestibularis oft mit Infekten einhergeht und durch Infektionserreger ausgelöst wird. Den Patienten ist bereits während der stationären Therapie deutlich zu machen, dass eine aktive Teilnahme am öffentlichen Verkehr erst nach einer vollständigen Erholung des Vestibularorgans oder nach einer zentralen Kompensation möglich ist. Aus diesem Grund sollten die Pa-
120
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
tienten regelmäßig nachkontrolliert werden, bis der Nachweis der Restitution oder Kompensation erbracht werden kann. Die Patienten sind darüber zu informieren, dass eine Arbeitsunfähigkeit bei exponierten Berufen (Dachdecker, Kraftfahrer etc.) auch länger als 12 Wochen bestehen bleiben kann. Im untersuchten Patientengut betrifft das immerhin 21% der Erkrankten.
Literatur
10
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11 Der sogenannte zervikale Schwindel E. Biesinger
11.1 Die Hypothese: Das vestibulookulär-zervikale Missmatch 11.2 Die Expertendiskussion Literatur
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– 122
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Kapitel 11 · Der sogenannte zervikale Schwindel
Eine Hypothese, gestellt von Dr. Biesinger und eine Expertendiskussion zwischen Professor Dr. Hamann, München Rechts der Isar und Dr. Hölzl, HNO Charité Mitte, Berlin. Zaungast: Professor Dr. Albegger, Salzburg Moderator: Dr. Biesinger
11.1 Die Hypothese: Das vestibu-
lookulär-zervikale Missmatch
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Die Existenz oder Möglichkeit, dass bei gesunden vestibulären und okulären Reflexen ein vertebragener Schwindel existiert, ist sehr umstritten. Ungeachtet der verschiedenen Expertenmeinungen ist in der Klinik feststellbar, dass bei verschiedenen subjektiven Schwindelformen durch die Behandlung an der Halswirbelsäule mit dem Ziel der Beseitigung funktioneller Störungen der Kopfgelenke eine Beschwerdefreiheit eintritt. Auf der anderen Seite ist es auch tägliche Erfahrung, dass Manipulationen an der Halswirbelsäule, Massagetechniken etc. zu Schwindel führen. Der in der manuellen Diagnostik der Halswirbelsäule erfahrene Therapeut stellt in diesen Fällen häufig eine Asymmetrie des Muskeltonus und der Gelenkstellung im Bereich der Kopfgelenke fest. Das postulierte Missmatch besteht nun darin, dass eine Rotationsstellung des Atlas nicht konform geht mit den Meldungen aus den okulären und vestibulären Systemen (. Abb. 11.1). Das heißt, die Halswirbelsäule meldet »eine Rotationsstellung des Kopfes«, was von den anderen vestibulären Systemen nicht bestätigt wird. Ein solches Missmatch führt typischerweise zum Schwindel. Eine Rotationsstellung des Atlas als Ursache dieser Meldung lässt sich auch im Röntgenbild feststellen: In der anterior-posterior-Aufnahme (. Abb. 11.2 u. 11.3) stellt sich der Dens des Axis neben den Kondylen normalerweise mittelständig dar. Der Abstand von den Kondylen des Atlas ist beidseits symmetrisch, ebenso die Gelenkflächen zwischen Atlas und C2 (. Abb. 11.3, Abb. 11.4).
. Abb. 11.1. Die 3 vestibulären Systeme im Missmatch: Augen und Vestibularorgane melden »gerade«, die Halswirbelsäule meldet eine Drehung
. Abb. 11.2. Röntgenaufnahme (a.-p.): Die Darstellung der Atlaskondylen auf dem Röntgenfilm zeigt gleichgroße Kondylen mit symmetrischem Abstand vom Dens axis
123 11.1 · Die Hypothese: das verstibulookulär-zervikale Missmatch
. Abb. 11.3. Schematische Darstellung der Situation bei der a.-p. Aufnahme bei nicht gedrehtem Atlas
11
. Abb. 11.5. Schematische Darstellung des gedrehten Atlas im Röntgenbild a.-p.: der zur Röntgenröhre hin gedrehte Condylus des Atlas wird auf dem Röntgenfilm größer dargestellt, es besteht außerdem ein unterschiedlicher Abstand zum Dens axis und eine Asymmetrie der Gelenkflächen
Bei einer Atlasrotation (. Abb. 11.5, . Abb. 11.6) werden im Röntgenbild (. Abb. 11.7) die
. Abb. 11.4. Röntgenaufnahme (a.-p.): Die Darstellung der Atlaskondylen auf dem Röntgenfilm zeigt gleichgroße Kondylen mit symmetrischem Abstand vom Dens axis
Kondylen des Atlas verschieden groß im Röntgenbild dargestellt. Es kommt zu einer deutlichen Asymmetrie in der Stellung der Atlaskondylen zum Dens-Axis und auch zu einer unterschiedlich großen Darstellung der Gelenkflächen zwischen den Atlaskondylen und den Axisschultern. Ein solche Rotationsstellung, verbunden mit einem asymmetrischen Muskeltonus und damit einer seitendifferenten afferenten Meldung in die vestibulären Kerngebiete wird als Grundlage für das Vorhandensein eines vertebragenen Schwindels postuliert.
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Kapitel 11 · Der sogenannte zervikale Schwindel
. Abb. 11.6. Schematische Darstellung des gedrehten Atlas im Röntgenbild (a.-p.): Der zur Röntgenröhre hin gedrehte Condylus des Atlas wird auf dem Röntgenfilm größer dargestellt, es besteht außerdem ein unterschiedlicher Abstand zum Dens axis und eine Asymmetrie der Gelenkflächen
11.2 Die Expertendiskussion
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. Abb. 11.7. Rotationsstellung des Atlas mit der Darstellung unterschiedlich großer Atlaskondylen und verschiedenen Abständen der Kondylen zum mittelständigen Dens Axis und verschieden großen Gelenkabständen der Kondylen zu den Axisschultern
Dr. Biesinger: Das vestibuläre System besteht aus den Bogengängen, d. h. aus dem peripher-vestibulären Organ, das mit dem optokinetischen Apparat und dem propriorezeptiven System kooperiert. Sind wir uns da einig, kann ich das so im Raum stehen lassen? – Allgemeine Zustimmung – Jetzt habe ich Ihnen ein Röntgenbild geschickt, in dem wir eine Rotationsstellung des Atlas sehen und zum Schwindel kommt es ja immer dann, wenn im gesamten System die Meldungen nicht konkordant sind, das heißt: Die Augen melden etwas anderes als das vestibuläre System. Meine Hypothese war jetzt: Wenn aus der Halswirbelsäule die Meldung kommt »der Kopf steht rotiert« und dies nicht mit den Meldungen aus dem optischen und vestibulären System übereinstimmt, haben wir damit ein klassisches Missmatch und damit die Voraussetzung für Schwindel. Prof. Hamann: Ja, das ist grundsätzlich richtig. Wir müssen aber bei dieser Betrachtungsweise berücksichtigen, dass es eine Dominanz innerhalb dieser 3 von Ihnen genannten Sinnesorgane und Sinnessysteme gibt und solange 2 von den genannten, nämlich Auge und Gleichgewichtsorgan, dasselbe melden, wird die Information des dritten Organs, in dem Fall der Propriozeptoren,
125 11.2 · Die Expertendiskussion
missachtet oder zumindest so klein gehalten oder so gut kompensiert, dass es eben trotzdem zu einem adäquaten Raumeindruck führt und nicht zu Schwindel. Dr. Biesinger: Worauf beruht Ihre Behauptung, dass diese Dominanz besteht? Prof. Hamann: Auf neurophysiologischen Daten und einfach darauf, dass Patienten mit dieser Stellung an der Halswirbelsäule alle Schwindel haben müssten, wenn Ihre Hypothese stimmt. Das ist nicht der Fall. Dr. Hölzl: Also, ich finde diese vorgegebene Hypothese sehr spannend. Ich denke allerdings, dass die Hypothese, die Dr. Biesinger aufgestellt hat einen Fehler hat: Sie sprechen über eine strukturelle Normvariante. Ich denke, dass eine Stellungsanomalie des Atlas eine Normvariante ist. Unsere Patienten kommen mit einem anderen Beschwerdebild. Man muss hier grundsätzlich unterscheiden zwischen strukturellen Problemen, die sehen wir im Röntgen, oder im MRT. Aber wovon wir reden, das sind Funktionsstörungen. Diese Funktionsstörungen können wir nicht bildmorphologisch darstellen. Im Übrigen ist das auch meines Erachtens eigentlich unser Problem von Seiten der Befürworter dieses Krankheitsbildes, dass wir nämlich die relevante Störung bisher nur tasten und eben nicht objektivieren können. Zu den Einschätzungen von Herrn Prof. Hamann habe ich folgende Meinung: Gut, wenn wir die vestibuläre Hierarchie gemeinsam akzeptieren. Die skizzierte vestibuläre Hierarchie funktioniert so beim Gesunden. Die Sache wird komplexer, wenn nicht übereinstimmende Sinnesinformationen die Kompensationsmöglichkeiten des vestibulären Gefüges übersteigen. Dann kommt krankheitsbedingt diese Hierarchie durcheinander. Welche Rolle nimmt dann der zervikale Faktor ein? Hier denke ich z. B. an Vestibularisausfälle, die nicht kompensieren. Dr. Biesinger: Die dargestellte Rotationsstellung kann auch aufgrund funktioneller Asymmetrien bestehen und ist nicht immer eine Normvariante. Hierüber entscheidet die funktionelle,
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segmentale Untersuchung. Dabei stellt sich heraus, ob es eine Normvariante oder eine Funktionsstörung ist, meistens ist Letzteres der Fall! Prof. Hamann: Wir sehen die Problematik der nicht kompensierten Vestibulariserkrankungen sehr genau, auch wir erreichen mit den üblichen Rehabilitationsmaßnahmen physikalischer Art, wie auch Herr Dr. Biesinger sie durchführt, nie Heilung in 100% der Fälle – anders als beim Lagerungsschwindel. Wir haben eine Erfolgsquote von 90–92%, insofern ist das schon ein Unterschied. Wir haben uns natürlich Gedanken gemacht, woran das liegt, dass manche Menschen nicht ausreichend kompensieren. Unsere Erklärung ist die, dass die Kompensation von verschiedenen Faktoren abhängt. Ein ganz wesentlicher Faktor ist das Alter. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die zusätzliche Einnahme von Medikamenten, die der Kompensation entgegen wirken, vor allen Dingen eben Medikamente mit sedierender Begleitwirkung. Ein Dritter, wichtiger Faktor ist das zusätzliche Vorhandensein von anderen Störungen besonders im ZNS. Dies gilt für Strukturen, die wir für die Kompensation brauchen, die aber aus irgendwelchen Gründen selbst erkrankt sind. Dann fällt natürlich die Kompensation schwer. In dem Zusammenhang – und das betone ich immer wieder – da halte ich auch die Halswirbelsäule mit ihren Rezeptoren für einen ganz wesentlichen Faktor. Ich erinnere mich schon an Fälle, die vermutlich wegen zusätzlicher vertebragener Krankheiten nicht ausreichend kompensieren konnten. Meine Hypothese ist ja die, dass die Halswirbelsäule alleine nicht die Ursache sein kann für das Auftreten von Schwindelbeschwerden. Wir brauchen sie aber für die Kompensation. Bei den von uns benutzten Rehabilitationsmaßnahmen wird sie ganz gezielt integriert. Wenn an der Halswirbelsäule zusätzlich eine Störung vorliegt, hemmt, unterdrückt sie oder macht sie eine Kompensation unmöglich. Dr. Hölzl: Also das ist für mich schon einmal ein sehr großes Feld, wo wir uns glücklich treffen.
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Kapitel 11 · Der sogenannte zervikale Schwindel
Dr. Biesinger: Jetzt behaupten viele niedergelassene Kolleginnen und Kollegen mit Erfahrung in der manuellen Therapie, dass sie »ihren HWSSchwindel« zu 80% durch die Behandlung an der Halswirbelsäule beseitigen können. Was sind das dann für Schwindelformen? Prof. Hamann: Also, diese Zahl ist aus meiner Sicht überhaupt nicht nachvollziehbar, denn es ist ja nun nicht so, dass wir als Kliniker nur ausgesuchte Patienten bekommen, sondern wir haben auch eine öffentliche Ambulanz, wo wir in der selben Situation sind wie der niedergelassene HNO-Kollege. Deswegen kann ich diese Zahl überhaupt nicht nachvollziehen. Für mich heißt das, dass die Diagnostik falsch war und ich kann den niedergelassenen Kollegen und Kolleginnen nur raten, doch erst einmal eine saubere konventionelle Vestibularisdiagnostik durchzuführen. Mir sind mehrere Fälle geläufig, bei denen mit der bloßen Vermutung eines zervikogenen Schwindels angefangen wurde zu therapieren, ohne überhaupt die konventionelle Vestibularisdiagnostik durchzuführen Es wurde nicht einmal eine kalorische Prüfung durchgeführt! Dr. Biesinger: Was erwarten Sie vom niedergelassenen HNO-Arzt an »normaler« Vestibularisdiagnostik? Prof. Hamann: Er sollte nach einem Spontannystagmus fahnden, nach einem Provokationsnystagmus unter der Frenzel-Brille, er sollte den Kopfimpulstest machen, er sollte die geführten Augenbewegungen durchführen lassen und grobklinisch die Auslösbarkeit des optokinetischen Nystagmus. Die Frage, die ja einem niedergelassenen HNO-Arzt gestellt wird ist: »Wie steht‘s mit dem peripheren Vestibularorgan?« Deshalb sollte er, MUSS er, eine thermische Reizung durchführen, außerdem die spezifischen Lagerungsprüfungen zum Aufdecken eines gutartigen Lagerungsschwindels. Dann hat er seine Pflicht erfüllt. Aber das, meine ich, ist die unbedingte Voraussetzung und wenn er da einen pathologischen Befund erhoben hat, dann sollte er auch diese Störung einem Krankheitsbild zuordnen und erst
einmal entsprechend behandeln. Wenn er keine pathologischen Ergebnisse gefunden hat, dann muss man eben überlegen, ob irgendetwas anderes dahinter steckt, wobei ich dann natürlich zunächst an eine psychische, eine phobische Störung denke. Dr. Biesinger: Herr Dr. Hölzl, wie sieht die Vestibularisdiagnostik in der Charité aus? Dr. Hölzl: Die Vestibularisdiagnostik in der Charité ist in ihren Grundzügen genau vergleichbar, wie Prof. Hamann das angesprochen hat. Ich denke, wir haben natürlich noch die Möglichkeit der Otolithenfunktionsüberprüfung in dem Forschungslabor von Herrn Prof. Clarke. Zusätzlich machen wir auch noch eine funktionelle, manualtherapeutische Untersuchung der Halswirbelsäule und die uns zur Verfügung stehenden Funktionstests. Dr. Biesinger: Jetzt gibt es ja immer die Diskussion um diesen Halsdrehtest, Herr Dr. Hölzl, vielleicht erklären sie ihn ganz kurz und die Wertigkeit und dann sollten Sie beide darüber diskutieren. Dr. Hölzl: Die Kurzbeschreibung ist, dass bei einem fixierten Kopf eine Auslenkung des Rumpfes durchgeführt wird, hierzu gab es apparative Bemühungen, dass man also genaue Geschwindigkeiten, genaue Gradzahlen apparativ untersucht hat und vorwiegend auf horizontale Nystagmen geachtet hat. Wenn ich also den Rumpf drehe, ohne die Bogengänge zu aktivieren und dabei einen Nystagmus auslösen kann, ist dies ein Hinweis auf einen zervikookulären Reflex. Ich habe Patienten untersucht mit diesem herkömmlich traditionellen Halsdrehtest und konnte mich auch persönlich davon überzeugen, wie sich ein horizontaler Nystagmus durch die Rotation des Rumpfes umdrehen ließ. Ich persönlich kann das nicht anders erklären als durch einen propriozeptiven Input in das vestibulookuläre System auf Hirnstammniveau. Dabei müssen wir den Test an die zervikale Bewegungsgrenze des Patienten heranführen und ihn in dieser Stresssituation halten. Dort entwi-
127 11.2 · Die Expertendiskussion
ckeln sich die Nystagmen pathologischer Art mit einer Latenz von bis zu 20 Sekunden. Eventuell müssen wir den Halsdrehtest ausweiten und in anderen Gelenkstellungen halten. Damit würde zwar das vestibuläre System mitgereizt, aber wenn wir in Endstellung die Bewegung anhalten, kommen von dort ja keine Einflüsse mehr – außer es liegt ein paroxysmaler Lagerungsschwindel vor. Dr. Biesinger: Prof. Hamann, was sagen Sie zum Halsdrehtest? Prof. Hamann: Ja, ich erinnere mich noch gut und das ist noch gar nicht so lange her, dass der Nachweis eines Zervikalnystagmus in eben diesem Halsdrehtest als dem einzig letztlich beweisende Argument und Symptom für einen zervikogenen Schwindel angesehen wurde, nachzulesen in Herrn Prof. Hülses Monografie. Das ist aber nicht mehr haltbar seit den Arbeiten von Holtmann – und es war auch schon vorher eigentlich bekannt, dass man dieses Phänomen auch bei Gesunden findet. In dem Moment, wo ein Test bei Gesunden positiv ausfällt, ist er natürlich nicht mehr als pathognomonisch zu werten. Gut, wenn jetzt ein anderer Nystagmus, der auch durch den Halsdrehtest ausgelöst wird allerdings mit einer Latenz von 20 Sekunden, als Kriterium herangezogen wird, ist dies nicht nerval. 20 Sekunden sind im Nervensystem eine Ewigkeit, wenn man bedenkt, dass sich das normalerweise alles im Millisekundenbereich abspielt. Es tritt doch dann eher die Vermutung auf, dass es sich hier um vaskuläre Phänomene handelt und da möchte ich anmerken, dass es über eine Abklemmung von Gefäßen tatsächlich zum Auftreten von Nystagmen, aber auch von Schwindel kommen kann. Allerdings muss man sagen, sind das auch sehr seltene Fälle. Also: Eine Latenzzeit von 20 Sekunden spricht eindeutig gegen eine nervale Verursachung, eher für eine vaskuläre Genese und damit habe ich keine Probleme. Dr. Hölzl: Dem kann ich nicht zustimmen, Herr Hamann, das ist widerlegt. Ich kann nicht stehen lassen, dass dieses Phänomen vaskulär sein muss. Dafür ist eine massive Störung der A. verte-
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bralis zu selten. Es gibt auch hinreichend Untersuchungen, dass das Durchblutungsverhalten in dieser Rotationsstellung keinen Einfluss nimmt und es ist ja schon überraschend, dass dieser Zervikalnystagmus nach einer Manualtherapie nicht mehr nachweisbar ist. Das wäre nicht vereinbar mit einer vaskulären Hypothese. Zweitens ist diese Verzögerung nicht wie ein Reflex der Patella zu sehen, das wäre natürlich eine Ewigkeit. Hingegen liegt bei den zervikalen Afferenzen ein komplexes Geflecht aus exzitatorischen und inhibitorischen Bahnen – hier vor allen Dingen das Kleinhirn – vor, die einer zentralen Neuromodulation unterliegen. Wir kennen diese Leistung des ZNS, wenn wir beispielsweise von einem Boot heruntersteigen und wieder festen Boden unter den Füßen haben. Da brauchen ungeübte Seefahrer auch ein paar Stunden, bis das »Nachschwanken« – als Ausdruck einer vestibulären Kompensation eines nicht mehr vorhandenen Schwankens – abklingt. Im übrigen auch eine Frage des Trainings. Prof. Hamann: Wie gesagt, wenn man bedenkt, dass gerade der vestibulookuläre Reflex der schnellste Reflex ist, den der Mensch überhaupt hat, dann ist das also, selbst wenn man noch eine kleine Schleife über den Hirnstamm mit einbaut, nicht nerval. Wenn Sie sagen, dass ein Zervikalnystagmus sich nach einer Manipulation nicht mehr nachweisen lässt, so zweifle ich nicht an der Beobachtung, nur an der Erklärung. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass dieser berühmte Ruck an der Wirbelsäule in Wirklichkeit womöglich ein Befreiungsmanöver war. Man hatte einfach einen Lagerungsnystagmus, einen Lagerungsschwindel! Den hatte man damals noch nicht genauer einordnen können. Eine solche Vermutung darf ich ja äußern, aber ich zweifle nicht an Ihrer Beobachtung. Dr. Biesinger: Herr Dr. Hölzl, jetzt müssen sie aber streng widersprechen, weil Herr Prof. Hamann postuliert, dass nach einem chiropraktischen Manöver oder Impuls die Symptomfreiheit deshalb eingetreten ist, weil ein benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel zugrunde lag.
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Kapitel 11 · Der sogenannte zervikale Schwindel
Dr. Hölzl: Hier ist natürlich Widerspruch einzulegen. Dies entspricht nicht meiner klinischen Untersuchungspraxis. Selbstverständlich schließe ich einen benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel vorher aus. Im Übrigen bedeutet eine Manualtherapie an den Kopfgelenken nicht zwingend, dass sie aus den oben genannten Gründen zur sofortigen Befreiung der Schwindelbeschwerden führt, sondern dass sich eben auch aufgrund der dominanten zentralvestibulären Kompetenz dieses Reflexsystem erst wieder auf die neue – normale – afferente Situation einstellen muss. Dr. Biesinger: Gut, aber als niedergelassener Arzt würde man sich eine wissenschaftliche Untersuchung wünschen, derart, dass ein benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel ausgeschlossen wird, Sie einen Ihrer Meinung nach positiven Halsdrehtest reproduzierbar vorfinden, den Patienten an der Halswirbelsäule behandeln und die Erfolge und Befunde nachuntersuchen. Gibt es solche Untersuchungen, haben Sie das durchgeführt oder ist es nur eine klinische Beobachtung in Einzelfällen? Dr. Hölzl: Ich persönlich habe mein Kollektiv noch nicht nach wissenschaftlichen Kriterien standardisiert und direkt durch manualtherapeutische Eingriffe kontrolliert, weil ich das für den derzeitigen Stand der Argumentation für nicht stichhaltig genug gehalten habe. Ich möchte einen therapeutischen Weg verfolgen, der unter wissenschaftlichen Kriterien die Behandlungsergebnisse dokumentiert. Hierzu möchte ich den Einfluss messen, der durch eine kontrollierte und präzise Ausschaltung der zervikalen Afferenzen im HNO Bereich entsteht. Zur Ausschaltung der propriozeptiven Afferenzen aus der subokzipitalen Muskulatur benutzen wir zur Zeit eine CT-kontrollierte Injektion von Bupivacain oder Botulinustoxin. Ich habe mir gedacht, dass das für die Argumentation objektiver ist, als eine manualtherapeutische Intervention, deren Ergebnisse schon vielfach aufgearbeitet worden sind.
Prof. Hamann: Was den Verlauf des Behandlungerfolgs angeht, habe ich da ein Problem: Entweder ist es eine schnelle Sache, ähnlich wie beim Lagerungsschwindel, oder es ist ein anderes Prinzip, das wirksam wird. Dr. Hölzl: Also, ich habe zusammen mit Prof. Hülse ein Kollektiv von ca. 100 Patienten mit Schwindelbeschwerden nach manualtherapeutischer Intervention untersucht. Alle waren neurootologisch unauffällig Diese Patienten hatten eine Therapiezufriedenheit von ca. 80%, aber der Beginn der Therapieeffektivität lag im Durchschnitt bei 2,1 Tagen und das entspricht auch den Verläufen, die ich aus meiner eigenen Sprechstunde hier habe. Und das ist für mich kein Widerspruch. Prof. Hamann: Gut, es ist nur merkwürdig und dies ist ein Punkt, den wir noch gar nicht besprochen haben, ob nicht all diese Phänomene, die ja bis jetzt, noch nicht greifbar, fassbar, objektivierbar sind, ob die nicht auch rein psychischer Natur sein können. Früher war es ja offensichtlich so, dass man mit dem berühmten Ruck sofort einen Erfolg erreichen konnte. Das ist offensichtlich heute nach ihren Aussagen, Herr Hölzl, nicht mehr der Fall. Da hat es also schon einmal, was den Zeitverlauf angeht, doch einen deutlichen »Schwenk« gegeben. Damals hatte ich kritisch gesagt: »Nanu, wie soll denn das so schnell gehen?« Diese Erkenntnisse mit der Kompensation und Missmatch-Theorie, das gibt es seit 30 Jahren, das war alles im Grunde nicht neu. Man hat das Gefühl, man nimmt zu neuen Erklärungen Zuflucht, wenn eine Erklärungsmöglichkeit nun wirklich definitiv ausgeschieden ist. Deshalb kann ich auch damit nicht viel anfangen und möchte doch einmal auch den psychischen Faktor ins Spiel bringen, ob das nicht auch einfach der Erfolg des Therapeuten sein kann?! Dr. Hölzl: Dieser Vorwurf entspricht nicht meinem klinischen Eindruck. Man muss allerdings den Vorwurf akzeptieren, dass von Seiten der manualmedizinischen Gesellschaften zu wenig Arbeit geleistet wurde, um die praktischen
129 11.2 · Die Expertendiskussion
Erfahrungen – insbesondere im HNO-Bereich – auch wissenschaftlich zu untermauern. Das ist ja auch die Motivation für meine Arbeit. Mir werden gelegentlich sogar aus der psychiatrischen Sprechstunde Patienten mit Schwindel vorgestellt, die vorher schon bei HNO-Ärzten waren und die dann nach manualtherapeutischer Behandlung beschwerdefrei sind! Prof. Hamann: Ihre Absichten kann man nur unterstützen, dass da einmal Ordnung rein gebracht wird, das Ganze wirklich wissenschaftlich nachprüfbar! Ein Vorschlag wäre schon einmal, dass ein und derselbe Patient von verschiedenen Manualtherapeuten und zwar im Sinne eines einfachen Blindverfahrens untersucht würde, denn, das sagen sie selbst, manualtherapeutische Untersuchungen sind etwas Subjektives. Daraus könnte man feststellen, ob die verschiedenen Manualtherapeuten übereinstimmende Befunde erheben können. Das würde dazu beitragen, dass tatsächlich etwas Überprüfbares zu diagnostizieren ist. Dr. Hölzl: Das ist sicherlich ein guter Vorschlag und eine von vielen Aufgaben, die zu tun sind. Ich denke aber, dass dies kein spezifisches Problem der Manualtherapie ist. Trotz allem denke ich, wird die Qualität eines Tastbefundes in der Medizin deutlich unterschätzt. Er ist schnell und effektiv. Prof. Albegger: Gibt es auch Fälle, die durch Manualtherapie verschlechtert worden sind? Dr. Hölzl: Die gibt es zweifellos, ich habe auch in meinem eigenen Patientengut Patienten, die durch meine Behandlung verschlechtert worden sind. Prof. Albegger: Weshalb? Dr. Hölzl: Ich kann es nicht ganz sicher sagen, wo das Problem liegt, aber es ist so, dass der Patient durch die Manipulation am Kopfgelenk eine Verschlechterung seiner Schwindel- wie auch der weiteren kraniozervikalen Symptomatik erfahren hat. Man kann diesen negativen Effekt nicht immer vorhersehen. Eventuell ist der propriozeptive Reiz zu groß und ich habe ihn noch weiter in das Missmatch gebracht.
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Dr. Biesinger: Wir sehen regelmäßig, dass Patienten, die da oben kräftig massiert worden sind, danach schwindelig sind. Herr Kollege Sauer aus München hatte hierfür den Begriff des »Postmassagesyndroms« geprägt. Prof. Hamann: Ich sehe etwa im Jahr mindestens 10 Patienten, die durch eine Massage der Halsmuskulatur überhaupt erst Schwindelbeschwerden bekommen haben, wobei ich nicht weiß, warum. Das spricht im Grunde genommen gegen meine Hypothese, das ist mir völlig klar, aber es ist erst einmal ein Phänomen. Und wenn die Patienten mich fragen: »Massieren an der Halswirbelsäule?« Ich rate jedes Mal ab. Herr Hölzl: Aber ich meine, das ist ja klinische Realität! Ich möchte deshalb den Vorschlag machen: Lassen sie uns doch zusammen einige solche Patienten anschauen und diskutieren, ob wir an den Modellvorstellungen ein bisschen hier oder da korrigieren können. Prof. Albegger: Was Massage ist, muss man ja auch noch definieren, ich weiß ja auch nicht, was die machen! Wenn Ihre Patienten berichten »Ich bin massiert worden«, wissen wir nicht genau, was wirklich gemacht wurde. Wenn dann der Patient sagt, es ist schlechter geworden, würde ich gerne durch eine Untersuchungsmethode objektivieren, was sich verschlechtert hat. Dr. Hölzl: Aus meiner Sicht steht der Palpationsbefund bei diesen Patienten im Vordergrund. Ich muss mir Klarheit darüber verschaffen, wie die Kopfgelenke funktionieren, welche Freiheitsgrade eingeschränkt sind. Zweitens möchte ich diese zervikalen Strukturen provozieren durch diesen modifizierten Halsdrehtest und ich möchte schauen, welche Nystagmen lassen sich in welcher Kopfposition provozieren. Und dann würde ich Herrn Prof. Hamann anbieten, dass ich nach München komme und diese Patienten mit einer Lokalanästhesie der Wurzel C2/3 beidseits behandle. Ferner würde ich den Patienten nach seinem Beschwerdeverlauf befragen und auf einer visuellen Analogskala dokumentieren, dann die Kon-
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Kapitel 11 · Der sogenannte zervikale Schwindel
trolluntersuchungsbatterie wieder durchführen und die Befunde mit Herrn Prof. Hamann diskutieren. Prof. Hamann: Eine Frage ist noch, ob das, was die Patienten Schwindel nennen, nicht nur ein anderer Ausdruck ist für Schmerz. Meines Wissens ist Massage von den Ärzten in der physikalischen Medizin genau definiert. Eine Vermutung ist, dass tatsächlich durch die überstarke Beanspruchung oder das »Kneten« der Muskulatur im Grunde genommen Nozizeptoren im übertriebenen Maße erregt werden. Vielleicht kann der Patient dann nicht zwischen Schmerz und Schwindel unterscheiden und drückt sich nicht korrekt aus. Jedenfalls ist es immer ein unsystematischer Schwindel. Dr. Hölzl: Auf jeden Fall, da würde ich auch nicht widersprechen. Prof. Hamann: Das Problem ist, ich sehe diese Patienten nicht lange, es fehlen mir bis jetzt einfach die Langzeitverläufe. Vielleicht kann ich diese Patienten einmal eine längere Zeit beobachten. Ich sag noch einmal, ich nehme das Phänomen zur Kenntnis und räume auch ein, dass ich keine befriedigende Erklärung habe. Im Übrigen bin ich ja auch der Meinung, dass die Halswirbelsäule zum HNO-Arzt gehört, aber wegen der Schmerzen, nicht wegen des Schwindels. Dr. Biesinger: OK, dann kommen wir zum Schluss. Abschließend möchte ich Sie 2 Dinge fragen: Herr Prof. Hamann, was würden sie für diagnostische Tools fordern, um an einen zervikalen Schwindel glauben zu können? Was setzen sie voraus? Und was würden Sie, damit verbunden, Herrn Dr. Hölzl empfehlen, wissenschaftlich weiterhin zu untersuchen? Prof. Hamann: Also, glauben kann ich es ja sofort, aber Sie wollen mich ja überzeugen. Was mich überzeugen würde, wären objektivierbare, also reproduzierbare Untersuchungsergebnisse, allein um schon die Diagnose zu stellen. Auch die therapeutischen Verfahren müsen derselben Objektivität gehorchen. Dadurch ergäbe sich ein objektivierbares Phänomen, das durch eine defi-
nierte Behandlung mit demselben Tool – selbst wenn es Manipulationen sind oder aber Injektionen –zu einem objektivierbaren Ergebnis führt. Das würde mich überzeugen. Dr. Biesinger: Und wissenschaftlich gesehen? Wir überblicken ja jetzt zig Jahre Vestibularisforschung – wo würden Sie ansetzen, um diese Phänomene auszutüfteln? Prof. Hamann: Also, die Frage überfordert mich jetzt. Vielleicht Muskelableitungen, Tiefenableitungen im unterschiedlichen Muskeltonus. Das Schönste wäre ein Nystagmus für uns, aber es muss ja nicht unbedingt Spontan- oder Provokationsnystagmus sein, es können ja auch andere okulomotorische Reaktionen sein. Wenn ich jetzt einen dynamischen Test fände, der irgendeine reflektorische okulomotorische Reaktion bringt und dann beeinflussbar wäre, auch experimentell, das würde mich überzeugen. Dr. Biesinger: Also, daran müssen wir arbeiten. Vielen Dank meine Herren.
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12 Schwindel aus internistischer Sicht W. Moshage
12.1 Einführung – 132 12.2 Internistische Erkrankungen mit möglicher Schwindelsymptomatik – 132 12.2.1 Übersicht – 132 12.2.2 Internistische Erkrankungen und deren Zusammenhang mit Schwindel
12.3 Diagnostik und Therapie – 138 12.3.1 Diagnostik – 138 12.3.2 Therapie – 143
12.4 Zusammenfassung – 144 Literatur
– 145
– 133
132
12.1
12
Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
Einführung
Schwindel als möglicher Ausdruck einer zugrunde liegenden internistischen Erkrankung ist in der internistischen Praxis ein sehr häufiges, unspezifisches und oft schwer objektivierbares Symptom. Andererseits findet sich aber nur bei einem geringen Anteil von Patienten mit Schwindelsymptomatik tatsächlich primär eine internistische Ursache [4, 7]. Typischerweise handelt es sich bei Schwindel mit einer internistischen Erkrankung als Ursache meist nicht um einen Dauer-, Dreh- oder einen Lagerungsschwindel, sondern es wird ein unspezifisches, anfallsartiges Schwindelgefühl geschildert, oft in Kombination mit anderen Symptomen (z. B. Übelkeit, Schwächegefühl, Schweißausbruch, Angstgefühl, Unsicherheit auf den Beinen, Benommenheit, Leere im Kopf, Herzrasen) bis hin zu präsynkopalen oder synkopalen Zuständen. Grundsätzlich kann offenbar praktisch jede Ursache, die zu einer Störung der zerebralen Perfusion und den entsprechenden Gleichgewichtszentren und -organen führt, Schwindel auslösen. Beispielhaft können die arterielle Hypotonie, eine hypertensive Krise, eine Bradykardie sowie tachykarde Herzrhythmusstörungen ein Schwindelgefühl auslösen. Damit ist das Spektrum internistischer Ursachen für einen Schwindel extrem breit und die Abklärung oft mühsam. Häufig kann auch nach intensivierter Diagnostik keine eindeutige Ursache gefunden werden [4, 15]. Wissenschaftliche Untersuchungen gezielt zu dieser Fragestellung finden sich in der Literatur zudem nur spärlich. Auch wenn ein Zusammenhang zwischen Schwindel und dem Auftreten eines plötzlichen Herztodes nicht eindeutig gesichert ist [4], muss trotzdem bei länger anhaltenden oder häufiger auftretenden Schwindelepisoden unbedingt eine internistisch-kardiologische Abklärung erfolgen, um schwerwiegende Ursachen, die mit einer hohen Letalität verbunden sein können und die in der Regel heute gut therapierbar sind, nicht zu übersehen.
Wegweisend für das weitere diagnostische Vorgehen ist immer eine sorgfältige Anamneseerhebung, gefolgt von einer körperlichen Untersuchung und einer apparativen Basisdiagnostik. Nur wenn sich dadurch Anhaltspunkte für eine zugrunde liegende internistische Erkrankung erhärten, ist eine weiterführende Diagnostik mit Spezialuntersuchungen angezeigt. Unproblematisch ist die internistische Diagnostik bei permanenter Schwindelsymptomatik. Hier kann während der Symptomatik relativ einfach eine Reihe von möglichen Ursachen ausgeschlossenen bzw. eine wahrscheinliche Diagnose gestellt werden. Grundsätzlich gilt, dass eine Diagnostik umso schwieriger wird, je seltener ein Schwindel auftritt und je kürzer er anhält, da im symptomfreien Intervall das pathologische Korrelat meist nicht nachweisbar ist.
12.2
Internistische Erkrankungen mit möglicher Schwindelsymptomatik
12.2.1 Übersicht Selbstverständlich führt nicht jede internistische Grunderkrankung, bei der grundsätzlich Schwindel auftreten kann, auch tatsächlich zur Schwindelsymptomatik. Damit ist auch der kausale Zusammenhang zwischen Schwindelsymptomatik und Erkrankung nur dann zu beweisen, wenn die Symptomatik nach kausaler Therapie verschwindet. Die für Schwindel aus internistischer Sicht wichtigsten Ursachen sind: 4 orthostatische Dysregulation, vasovagale Reaktion, 4 arterielle Hypertonie, arterielle Hypotonie, 4 Herzrhythmusstörungen, hypersensitives Karotissinussyndrom, 4 kardiale Erkrankungen: 4 Vitien (Aortenklappenstenose, hypertroph-obstruktive Kardiomyopathie, Mitralklappenstenose), Myxom, Endokardi-
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tis, Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion unterschiedlichster Genese (koronare Herzkrankheit, hypertensive Herzerkrankung, Kardiomyopathie), Lungenembolie; Stoffwechselstörungen, Störungen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts, Infektionen: 4 Diabetes mellitus (Hyper- und Hypoglykämie), Hypo- und Hyperkaliämie, Hypooder Hyperthyreose, Exsikkose, Hyponatriämie, Anämie, Leber-, Niereninsuffizienz, Hyperventilation, Infektion, Sepsis; Gefäßerkrankungen: 4 Arteriosklerose (zerebrale Mikroperfusion, Stenosen an den hirnversorgenden Arterien, Subclavian-Steal-Syndrom, Vertebralisstenose), 4 Vaskulitis (Kollagenose, Arteriitis temporalis, Takayasu-Syndrom, Mesaortitis luetica); Medikamente, Drogen, Tumore (Herz, Hirn, Metastasen), Schwangerschaft.
Die Diagnosen stellen nicht die Grunderkrankung dar, diese muss soweit möglich abgeklärt werden. Die Reihenfolge ist weitgehend willkürlich gewählt. Detaillierte Daten, wie häufig diese Erkrankungen zu Schwindel führen bzw. wie häufig diese Erkrankungen als Ursache für eine Schwindelsymptomatik zugrunde liegen, existieren nicht. Zerebrovaskuläre Erkrankungen wurden in einer umfangreichen Literaturrecherche in lediglich 5% aller Fälle mit Schwindel als ursächlich gefunden [4]. Klinisch am häufigsten werden als internistische Ursachen einer Schwindelsymptomatik die orthostatische Dysregulation, die insbesondere bei älteren Patienten und bei Diabetikern auftritt [3, 16], vasovagale Reaktionen, Hyperventilation [3] und multisensorische Defizite [3] diagnostiziert.
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12.2.2 Internistische Erkrankungen
und deren Zusammenhang mit Schwindel Orthostatische Dysregulation und vasovagale Reaktion Beim Aufrichten aus dem Liegen kommt es normalerweise beim Menschen durch reflektorische und humorale Mechanismen zu einer kompensatorischen Gegenreaktion mit Gefäßkontraktion, die verhindert, dass der Blutdruck durch Volumenverlust in die unteren Extremitäten zu stark abfällt. Zudem tritt eine Herzfrequenzsteigerung mit konsekutiver Erhöhung des Herzzeitvolumens ein. Durch diese Mechanismen wird normalerweise eine ausreichende zerebrale Perfusion aufrechterhalten. Bei der orthostaseinduzierten Dysregulation kommt es bei schnellem Lagewechsel und nicht ausreichender oder fehlender humoraler und neuronaler Gegenregulation zu einer passageren orthostatischen Hypotonie mit zerebraler Minderperfusion, die sich als Schwindel, Bewusstseinstrübung und Bewusstseinsverlust darstellen kann. Gerade dieser zeitliche Zusammenhang mit einem raschen Lagewechsel muss anamnestisch unbedingt beachtet werden, weil damit eine häufige Schwindelursache sehr wahrscheinlich wird. Das Gleiche gilt auch für das zeitliche Zusammentreffen von Schwindel und Ereignissen mit einer möglichen Aktivierung des parasympathischen Nervensystems (Vagus). Bei vasovagalen Reaktionen kommt es ebenfalls zu einem Blutdruckund/oder Frequenzabfall (oder inadäquatem Anstieg) mit entsprechender Beeinträchtigung der zerebralen Durchblutung. Zu derartigen Ereignissen gehören Miktion als sehr häufige Ursache [14], Defäkation, Husten oder Erbrechen sowie emotionale Belastungen wie Angst, starke Schmerzen und medizinische Eingriffe (z. B. Venenpunktion). Gehäuft werden derartige orthostatische Dysregulationen und vasovagale Reaktionen bei jungen Frauen, älteren Personen und Diabetikern beobachtet. Gerade bei letzteren spielt offenbar
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Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
auch eine autonome Neuropathie eine wesentliche Rolle [16].
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Arterielle Hypertonie, arterielle Hypotonie Sowohl die arterielle Hypertonie als auch die arterielle Hypotonie können klinisch zu einer Schwindelsymptomatik führen. Besonders typisch für eine ausgeprägte Schwindelsymptomatik sind hypertensive Krisen. Dabei kann die Diagnosestellung, wenn eine Blutdruckmessung während der Symptomatik möglich ist, sehr einfach sein. Gerade bei sehr stark schwankenden Blutdruckwerten können sowohl die Diagnostik als auch eine optimierte antihypertensive Therapie mit Vermeidung von hypotonen Phasen im Einzelfall aber auch recht komplex sein. Sehr problematisch wird dies gerade bei älteren Personen mit arterieller Hypertonie im Liegen, aber persistierendem, ausgeprägtem Blutdruckabfall im Stehen. Hilfreich sind dabei sowohl für die Diagnostik als auch für eine optimierte Therapieplanung Blutdruckselbstmessungen der Patienten nach Schulung mit Dokumentation oder automatisierte 24Stunden-Langzeitblutdruckmessungen. Herzrhythmusstörungen, hypersensitives Karotissinussyndrom Insgesamt werden Herzrhythmusstörungen als tatsächliche Ursache für eine Schwindelsymptomatik nur sehr selten gefunden [7]. Allerdings können andererseits maligne Herzrhythmusstörungen die Prognose der Patienten wesentlich beeinflussen. Bradykarde wie tachykarde Herzrhythmusstörungen, die in Ruhe oder unter körperlicher Belastung hämodyanisch aktiv sind, können zum klinischen Symptom Schwindel führen. Ein klinischer Verdacht auf Herzrhythmusstörungen als Ursache für Schwindel besteht dann, wenn der Patient im direkten zeitlichen Zusammenhang mit einer Schwindelsymptomatik über Pulsunterbrechungen bis hin zu längeren Pausen bzw. über Palpitationen, Pulsunregelmäßigkeiten oder Herzrasen berichtet.
In solchen Fällen muss unbedingt versucht werden, diese Rhythmusstörungen zu objektivieren. Am einfachsten kann dies durch eine EKGRegistrierung während eines Schwindelanfalls erfolgen. Gelingt dies aufgrund der Kürze oder der Seltenheit der Ereignisse nicht, können 24Stunden-EKG-Registrierungen, bei sehr seltenen Ereignissen Event-Recorder weiterhelfen. Praktisch alle denkbaren Reizbildungs- und Erregungsleitungsstörungen des Herzens sind als Ursache für eine internistische Ursache von Schwindel möglich. Das Syndrom des kranken Sinusknoten (Sick-Sinus-Syndrom, SSS) ist typischerweise durch einen Wechsel von bradykarden und tachykarden Phasen charakterisiert (. Abb. 12.1). Durch eine degenerative Dysfunktion des Sinusknotens kommt es einerseits zu SA-Blockierungen unterschiedlichen Schweregrades bzw. zu Sinusarresten, andererseits zu atrialen Tachykardien, Vorhofflattern oder zum Vorhofflimmern. Typisch ist ein inadäquater Pulsanstieg unter Belastung. Degenerativ mitbetroffen im Sinne einer binodalen Erkrankung kann der AV-Knoten sein, der aber auch singulär degenerativ, durch kardiale (Ischämie, Endomyokarditis) oder zahlreiche extrakardiale Ursachen (Medikamente, Elektrolytstörung, Borellien) pathologische Erregungsleitungsstörungen aufweisen kann. Diese äußern sich durch AV-Blockierungen unterschiedlichen Schweregrades. Links- oder Rechtsschenkelblock als Störungen der intraventrikulären Erregungsleitung der Tawara-Schenkel können ebenfalls multifaktoriell verursacht sein und stellen jeder für sich alleine kein Problem dar. Erst ein alternierender Wechsel beider Blockbilder oder ein zusätzlicher höhergradiger AV-Block kann zur Asystolie oder Bradykardie mit der klinischen Symptomatik Schwindel und Synkope führen. Bei Trägern eines Herzschrittmachersystems ist immer eine Dysfunktion des Systems auszuschließen. An tachykarden Herzrhythmusstörungen ist an erster Stelle das tachykarde Vorhofflimmern zu nennen. Vorhofflimmern ist die häufigste Herz-
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. Abb. 12.1. 73-jährige Patientin mit Schwindelsymptomatik bei Sick-Sinus-Syndrom (SSS). Im Ruhe-EKG und im Langzeit-EKG häufige höhergradige SA-Blockierungen bzw. Sinusarrest mit Pause bis 20 Sekunden. Abgebildet sind die bipolaren Extremitätenableitungen I, II und III nach Einthoven und die unipolaren Extremitätenableitun-
gen aVR, aVL und aVF nach Goldberger. Unter Belastung inadäquater Herzfrequenzanstieg. Keine bradykardisierende Medikation. Vollständiges Verschwinden der klinischen Symptomatik nach Implantation eines sequenziellen Herzschrittmachersystems (DDD)
rhythmusstörung überhaupt. Es kann paroxysmal, persistierend oder permanent auftreten. Gerade bei zusätzlichen akzessorischen Leitungsbahnen mit kurzer Refraktärzeit können extrem hohe Herzfrequenzen (»FBI-Syndrom«) bis hin zum Kammerflimmern auftreten. Eine weitere häufige tachykarde Herzrhythmusstörung im Vorhofbereich stellt das Vorhofflattern dar. Kreisende Erregungen zwischen Vorhöfen und Ventrikeln mit Tachykardien kommen durch AV-Knoten-Reentry oder akzessorische Leitungsbahnen beim Wolff-Parkinson-WhiteSyndrom zustande. Davon zu differenzieren sind ventrikuläre Tachykardien als idiopathische Ta-
chykardien, häufig aus dem rechtsventrikulären Ausflusstrakt, oder als Ausdruck einer myokardialen Grunderkrankung mit besonders schlechter Prognose. Zu beachten bleibt, dass Herzrhythmusstörungen selbst allerdings immer nur als Symptom einer kardialen aber auch extrakardialen Erkrankung (häufig: Elektrolytstörung, Hypo- oder Hyperthyreose, Medikamente, Infektionen bis hin zur Sepsis) zu sehen sind. Eine weiterführende internistisch-kardiologische Diagnostik bei Herzrhythmusstörungen ist unverzichtbar, eine kausale Therapie muss die jeweilige Grunderkrankung berücksichtigen.
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Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
Eine spezielle Form einer reflektorischen bradykarden Herzrhythmusstörung, die mit einer Schwindelsymptomatik bis hin zur Synkope einhergehen kann, ist das hypersensitive Karotissinussyndrom (HCSS). Im Bereich der Karotisgabel liegen beiderseits Rezeptoren, die für Blutdruck und Herzfrequenzregulation verantwortlich sind. Normalerweise führt ein Druck auf den Karotissinus lediglich zu einem geringen Abfall des Blutdrucks bzw. der Herzfrequenz. Beim hypersensitiven Karotissinussyndrom führt bereits ein leichter Druck auf eine Halsseite, wie er beispielsweise beim Rasieren oder Kopfwenden beim Rückwärtsfahren auftritt, zu einer ausgeprägten Bradykardie, Asystolie, zu AV-Blockierungen oder zu einem Blutdruckabfall. Allerdings ist nicht jeder Patient mit einem pathologischen Karotissinusreflex symptomatisch. Die Diagnose muss deshalb sehr zurückhaltend und in genauer Kenntnis der Anamnese gestellt werden.
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Kardiale Erkrankungen, Lungenembolie Bei einer Vielzahl von Erkrankungen des Herzens ist Schwindel als alleinige oder ergänzende klinische Symptomatik denkbar. Gemeinsam ist all diesen Erkrankungen, dass es in Ruhe oder unter körperlicher Belastung zu einer hämodynamischen Beeinträchtigung der zerebralen Perfusion durch Abnahme des arteriellen Mitteldruckes oder/und des Herzzeitvolumens kommen kann. Offenbar spielt jedoch auch eine inadäquate Vasodilatation aufgrund einer paradoxen Baroreflexaktivierung durch pathologische Druckverhältnisse in unterschiedlichen Abschnitten des Kreislaufsystems eine wesentliche Rolle. Grundsätzlich kann eine Schwindelsymptomatik bis hin zu Synkopen bei jedem Vitium cordis auftreten. Besonders typisch sind jedoch als Ursache Obstruktionen des linksventrikulären Ausflusstraktes, wie sie bei der Aortenklappenstenose, der hypertroph-obstruktiven Kardiomyopathie und der asymmetrischen Septumhypertrophie bei hypertensiver Herzerkrankung zu finden sind. Selten tritt eine Schwindelsympto-
. Abb. 12.2. 69-jährige Patientin mit Schwindel aufgrund eines Vorhofmyxoms. Die kernspintomographische Bildgebung zeigt eine inhomogene Raumforderung, die typisch für ein Myxom im Bereich des linken Vorhofs ist. Die klinische Symptomatik verschwindet nach operativer Entfernung des Tumors vollständig
matik bei höhergradigen Mitralklappenstenosen auf. Eine sehr seltene Ursache mit einer intrakardialen Obstruktion stellen Herztumore wie das Vorhofmyxom (. Abb. 12.2) dar, das durch seine Mobilität typischerweise im Vorhofbereich den Bluteinstrom über die Mitralklappe in den linken Ventrikel passager erheblich behindern kann. In ähnlicher Weise kann es bei einer Lungenembolie durch den plötzlich zunehmenden pulmonalvaskulären Widerstand bei gleichzeitiger Aktivierung rechtskardialer Barorezeptoren und Freisetzung vasoaktiver Mediatoren zu einer Gefäßdilatation mit Abfall des mittleren arteriellen Blutdruckes und gleichzeitig des Herzzeitvolumens kommen. Jede Form der klinisch manifesten oder asymptomatischen Herzinsuffizienz kann alleine durch ein niedriges Herzzeitvolumen in Ruhe, inadäquaten Anstieg des Cardiac output unter Belastung, verstärkt durch Herzrhythmusstörungen oder durch eine medikamentöse Therapie mit bradykardisierender Wirkung bzw. mit Verschiebungen im Flüssigkeits- oder Elektrolythaushalt zu Schwindel führen. Dabei ist die Symptomatik primär unabhängig von der Genese der Herzinsuffizienz, die jedoch aufgrund der ansonsten sehr schlechten Prognose der Patienten unbedingt
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kardiologisch kausal abgeklärt und optimiert therapiert werden muss. Eine Zwitterstellung nimmt die Endokarditis bzw. Endomyokarditis ein, die einerseits über hämodynamisch wirksame Herzklappenfehler, Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen (AV-Knotenbeteiligung, ventrikuläre Rhythmusstörungen), andererseits über septische Embolien mit den Effekten einer systemischen Infektion zum Schwindel führen kann.
Stoffwechselstörungen, Störungen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts, Infektionen Stoffwechselstörungen und Störungen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushaltes stellen eine sehr breite, aber typisch internistische Palette an Differenzialdiagnosen für Schwindel dar. Dabei können Organerkrankungen mit entsprechendem Anfall an toxischen Stoffwechselprodukten, Medikamenteneffekte, Störungen der autonomen Gefäßregulation, Gefäßveränderungen im Sinne einer Mikro- oder Makroangiopathie mit entsprechenden Organmanifestationen auch am Herzen bis hin zu konsekutiven Herzrhythmusstörungen in der Kausalität zusammenspielen. Ganz ähnlich ist der Zusammenhang bei systemischen Infektionen unterschiedlichster Genese bis hin zur (beginnenden) Sepsis zu sehen: Freisetzung von vasoaktiven Mediatoren und Beeinträchtigung der Mikrozirkulation bis hin zur infektiösen Organbeteiligung (Herz, Lunge, Niere, Gehirn) können neben zahlreichen anderen Symptomen Schwindel auslösen. Der Diabetes mellitus stellt die klassische Erkrankung in diesem Zusammenhang dar [6]. Hyper- und Hypoglykämie, Therapieeffekte durch Medikamente, Insulintherapie (Laktatazidose, Ketoazidose, Hypogykämien) und die zahlreichen Sekundärschäden einschließlich der autonomen Neuropathie können für sich alleine oder in Kombination Schwindel auslösen [16]. Ähnliches gilt für Störungen der Schilddrüsenfunktion. Hypothyreosen können Hypotonien verursachen, aber auch durch myxomatöse Einla-
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gerungen in zahlreiche Organsysteme über einen ganz anderen Mechanismus als die Hyperthyreose (toxische Schädigung) trotzdem zu demselben Ergebnis führen, nämlich zur Herzinsuffizienz und zu Herzrhythmusstörungen mit Schwindel. Speziell bei akuter, seltener bei chronischer Niereninsuffizienz, aber auch bei Leberinsuffizienz können durch toxische Stoffwechselprodukte und Verschiebungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt Schwindelgefühle auftreten. Auf ähnliche Mechanismen ist eine Schwindelsymptomatik bei Exsikkose, Hyponatriämie und Hyperventilation zurückzuführen [3]. Bei Hypound Hyperkaliämie ist immer das Risiko von tachy- oder bradykarden Herzrhythmusstörungen zu beachten und zu überprüfen. Eine Anämie mit sämtlichen bekannten und abzuklärenden Ursachen verursacht Schwindel in erster Linie durch eine Hypoxie aufgrund eines reduzierten O2-Transportes. Eine mögliche systemische Infektion oder gar eine beginnende Sepsis stellen unabhängig von einer möglicherweise begleitend auftretenden Schwindelsymptomatik eine Indikation zur internistischen Abklärung und Einleitung einer adäquaten Therapie dar.
Gefäßerkrankungen Arteriosklerotisch bedingte Mikro- und Makroangiopathien können durch direkte Störung der zerebralen Perfusion Schwindel auslösen. Typischerweise findet sich ein solcher bei ein- oder doppelseitigem Verschluss der A. vertebralis bzw. bei einer proximalen Stenose oder einem Verschluss der A. subclavia mit retrogradem Blutfluss der A. vertebralis insbesondere bei muskulärer Aktivität der entsprechenden oberen Extremität mit konsekutiver zerebellärer Minderperfusion (Subclavian-Steal-Syndrom). Sehr viel seltener sind entzündliche Veränderungen der Arterien im Sinne einer Vaskulitis. Im Rahmen von Systemerkrankungen (z. B. Kollagenosen), aber auch als eigenständiger entzündlicher Prozess, sind in erster Linie mittelgroße und kleinere Arteriolen und Arterien betroffen.
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Diagnostik und Therapie erfolgen im Rahmen der Grunderkrankung. Bei der Arteriitis temporalis, die ein-, aber auch doppelseitig auftreten kann, stehen Kopfschmerzen, im weiteren Verlauf auch Sehstörungen bis hin zur Erblindung im Vordergrund. Möglich ist aber ebenso eine begleitende klinische Symptomatik in Form von Schwindel. Die Diagnose muss so rasch wie möglich gestellt werden. Klinisch imponiert die betroffene A. temporalis meist durch Schwellung und Druckschmerz. Die Diagnose kann sonographisch bestätigt und histologisch gesichert werden. Eine sehr seltene Erkrankung im europäischen Raum stellt die Vaskulitis der Aorta, meist des Aortenbogens im Sinne einer Takayasu-Aortitis dar. Stenosierungen insbesondere am Abgang der supraaortalen Gefäße, aber auch mögliche aneurysmatische Erweiterungen sämtlicher Abschnitte der Aorta und des Aortenbogens mit relativer Aortenklappeninsuffizienz sind typische Merkmale. Abzugrenzen von diesem Krankheitsbild ist eigentlich nur die ebenfalls in Europa inzwischen extrem seltene Mesaortitis luetica, die besonders im Bereich der Aorta ascendens zu monströsen und bizarr geformten Aneurysmata führen kann.
Tumore Die seltenen primär kardialen Tumore (s. kardiale Erkrankungen), primäre Hirntumore und zerebrale Metastasen der unterschiedlichsten Primärtumore dürfen als Ursachen für Schwindel im Grenzbereich Innere Medizin/Neurologie nicht außer Acht gelassen werden. Medikamente, Drogen Bei Anwendung einer Vielzahl von Medikamenten kann eine Schwindelsymptomatik auftreten. Dies gilt insbesondere für zentral wirkende Medikamente (z. B. Antikonvulsiva, Antiemetika, Antidepressiva, Parkinson-Medikamente, Barbiturate, Opiate, Tranquilizer, Schlafmittel), aber auch für vasoaktive Substanzen wie Antihypertensiva und Nitrate [14] sowie Diuretika (durch Verschiebungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt). Beachtet werden
muss, dass zahlreiche Medikamente zu brady- oder tachykarden Rhythmusstörungen führen können. Zu den Bradykardien auslösenden Medikamenten zählen in erster Linie ß-Blocker, Kalziumantagonisten vom Verapamil-Typ und Digitalis. Der Beachtung einer möglichen medikamentösen Auslösung von tachykarden Herzrhythmusstörungen kommt eine ganz besonders wichtige Bedeutung zu, handelt es sich dabei doch häufig um ventrikuläre Tachykardien oder Torsade-dePointes-Tachykardien mit hohem Mortalitätsrisiko und schlechter Prognose. Es muss bekannt sein, dass zahlreiche Medikamentengruppen zu einer Verlängerung der myokardialen Repolarisation (QT-Zeit) führen können mit dem potenziellen Risiko für Torsade-de-Pointes-Tachykardien. Zu diesen Medikamenten gehören insbesondere Antiarrhythmika (z. B. Chinidin, Sotalol), Psychopharmaka (z. B. tri- und tetrazyklische Antidepressiva, Serotoninantagonisten), Antibiotika (Makrolide) und Chemotherapeutika (z. B. Anthrazykline). Daneben können Drogen jeder Art einschließlich Alkohol und Nikotin zu schwindelartigen Symptomen führen.
12.3
Diagnostik und Therapie
12.3.1 Diagnostik Leitlinien zur Diagnostik und Therapie für das Symptom Schwindel als Ausdruck einer internistischen Erkrankung existieren nicht. Allerdings kann sich das diagnostische Vorgehen im Grundsatz an den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von Synkopen der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie 2001, mit dem Update 2004 [13] und dem ergänzenden Kommentar des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz und Kreislaufforschung e. V. [11] orientieren. Eine gezielte Anamnese, eine kompetente körperliche Untersuchung und eine apparative Basisdiagnostik erlauben, ähnlich wie bei der Diagnostik von Synkopen [9], in nahezu 50% eine wahrscheinliche Diagnose [15]. Dieses einfache diag-
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nostische Vorgehen soll klären, ob es anamnestische oder klinische Zeichen gibt, die eine internistische Diagnose wahrscheinlich machen, oder ob eine organische Herzerkrankung vorliegt. Neben der kausalen Beseitigung der Symptomatik ist vor allem eine prognostische Differenzierung in Patienten mit guter Prognose und solchen mit hohem Risiko für ein schwerwiegendes kardiales Ereignis bis hin zum plötzlichen Herztod vordringlich. Insofern kommt der Diagnostik und Therapie von möglichen Herzerkrankungen die höchste Bedeutung zu. Häufig ist die Ursache für eine Schwindelsymptomatik multifaktoriell [7]. Trotz intensivierter diagnostischer Bemühen bleibt, ähnlich wie bei der Abklärung von Synkopen mit ca. 25% [9], bei mindestens 10% aller Patienten mit Schwindel die Ursache unklar [4,15],
Anamnese Eine sorgfältige und gezielte Anamneseerhebung kann häufig bereits richtungsweisende Informationen zur Kausalität einer internistischen Ursache für Schwindel liefern [12]. Die optimal erhobene Anamnese erlaubt es häufig bereits, auf (unnötige und teuere) Spezialuntersuchungen verzichten zu können. Schwindel aus internistischer Ursache wird im Gegensatz zum otogenen oder zerebellärem Schwindel sowie zum benignem Lagerungsschwindel typischerweise nicht als Dauer-, Dreh- oder Lagerungsschwindel, sondern als anfallsweise, sehr unspezifische Symptomatik geschildert, verbunden mit Übelkeit, Schwächegefühl, Schweißausbruch, Angstgefühl, Unsicherheit auf den Beinen, Benommenheit, Leere im Kopf, Herzrasen bis hin zu präsynkopalen oder synkopalen Zuständen. Wichtig
Neben einer möglichst genauen Charakterisierung einschließlich der Dauer und Häufigkeit der Symptomatik muss gezielt nach Situationen gefragt werden, in denen der Schwindel auftritt [10].
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In erster Linie ist bei der Anamneseerhebung gezielt zu suchen nach: 4 Lagewechsel- und Positionsabhängigkeit (als Hinweis auf orthostatische Genese; Kopfdrehen, Halsdruck bzw. Halseinengung als Hinweis auf hypersensitives Karotissinussyndrom), 4 situative Abhängigkeit mit möglichem Vagusreiz (z. B. posturaler Schwindel), 4 Herzrasen und Palpitationen (als Hinweis auf Herzrhythmusstörungen), 4 Dyspnoe (Herzinsuffizienz, Lungenembolie, Hyperventilation), 4 Angina pectoris (Aortenklappenstenose, hypertrophe Kardiomyopathie, koronare Herzerkrankung). Selbstverständlich ist die Frage nach bekannten Grunderkrankungen, insbesondere nach kardialen Grunderkrankungen, nach der Medikation, aber auch nach Synkopen. Zur Beurteilung des Blutdruckverhaltens können dokumentierte Blutdruckselbstmessungen des Patienten zu unterschiedlichen Tageszeiten hilfreich sein. Dies gilt insbesondere bei stark schwankenden Blutdruckwerten.
Körperliche Untersuchung Neben einer internistischen Untersuchung müssen auch bei unspezifischer Schwindelsymptomatik gegebenenfalls konsiliarische Untersuchungen aus den Bereichen Neurologie, HNO und Orthopädie herangezogen werden. Selbstverständlich sind jedoch auch im Rahmen einer internistischen Befunderhebung auf einen Nystagmus zu achten und orientierende Gleichgewichtsprüfungen durchzuführen [12]. Die internistische Untersuchung konzentriert sich neben dem Basisbefund auf: 4 Anzeichen einer kardialen Dekompensation (Beinödeme, Halsvenenstauung, Stauungsleber), 4 Zeichen einer Exsikkose, 4 Blutdruckmessung an beiden Oberarmen im Liegen und im Stehen (arterielle Hypertonie,
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Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
Hypotonie, orthostatische Dysregulation, bei Seitendifferenz Hinweis für Gefäßstenosen bis hin zum Subclavian-Steal-Syndrom), 4 Pulsunregelmäßigkeiten (Arrhythmien, Brady- oder Tachykardien), 4 Anomalien der Herztöne und pathologische Herzgeräusche (Herzinsuffizienz, Aortenklappenstenose, HOCM, Endokarditis). Zusätzlich ist ein Palpieren der peripheren Pulse (Arm-, Bein- und Fußpulse) inklusive der Aa. temporales (bei Druckschmerz Hinweis für Arteriitis) unverzichtbar. Sollten sich Auffälligkeiten ergeben, ist eine gezielte weiterführende apparative Spezialdiagnostik erforderlich.
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Labordiagnostik Einen Basislabordiagnostik ist bei jeder internistischen Abklärung einer erstmals aufgetretenen Schwindelsymptomatik notwendig. Dazu gehören mindestens ein kleines Blutbild (Anämie?), Schilddrüsenhormone (TSH), Elektrolyte, Glukose, Kreatinin und Blutsenkungsgeschwindigkeit bzw. C-reaktives Protein als unspezifische Entzündungsmarker. Eine weiterführende Labordiagnostik ist nur bei klinischen Anhaltspunkten und gezielt sinnvoll. Bei Frauen im gebärfähigen Alter darf eine bislang nicht bekannte Schwangerschaft nicht übersehen werden. In Einzelfällen kann ein Urinscreening auf Drogen oder Medikamente notwendig sein. Apparative Basisdiagnostik (EKG) Die einzige unverzichtbare internistische apparative Diagnostik stellt das 12-Kanal-Ruhe-EKG dar. Tagsüber bestehende Sinusbradykardien unter 40/Minute, wiederholte sinuatriale Blockierungen oder Sinuspausen als Hinweis auf ein mögliches Sick-Sinus-Syndrom, höhergradige AV-Blockierungen (AV-Block Grad 2 Mobitz, Grad 3), alternierender Links- und Rechtsschenkelblock, paroxysmale supräventrikuläre oder ventrikuläre Tachykardien oder eine Schrittmacherfehlfunktion mit Pausen können Hinweise
auf eine schwerwiegende Herzrhythmusstörung als Ursache der Schwindelsymptomatik sein, insbesondere dann, wenn zeitgleich eine klinische Symptomatik vorliegt. Zudem können indirekte Hinweise auf potenzielle Herzrhythmusstörung wie Präexzitation, QT-Verlängerung, Repolarisationsstörung beispielsweise im Sinne eines Brugada-Syndroms, Narben nach Myokardinfarkt etc. diagnostiziert werden. Derartige Veränderungen müssen auch bei passagerer Symptomfreiheit während der EKG-Registrierung weiter abgeklärt werden. Umgekehrt schließt selbstverständlich ein weitgehend normales Ruhe-EKG schwerwiegende Herzrhythmusstörungen als Ursache einer Schwindelsymptomatik dann nicht aus, wenn zum Zeitpunkt der EKG-Registrierung keine klinische Symptomatik vorliegt. Deshalb sollte, einen entsprechenden Verdacht vorausgesetzt, stets versucht werden, während eines Schwindelanfalls ein EKG zu registrieren.
Weiterführende Diagnostik, Spezialdiagnostik Eine weiterführende Diagnostik zur Schwindelabklärung muss sich immer an anamnestischen Hinweisen oder auffallenden Untersuchungsbefunden orientieren. Jede einzelne Spezialuntersuchung muss gezielt eingesetzt und fachkundig bewertet werden. Keinesfalls sollte eine aufwendige Diagnostik unkritisch nur mit dem Ziel einer möglichen Komplettierung der Basisdiagnostik erfolgen [4, 1]. In der Regel werden vor dem Einsatz einer invasiven Diagnostik nichtinvasive Verfahren zur Untermauerung einer Verdachtsdiagnose angewandt. Gerade bei der Abklärung einer (meist relativ unspezifischen) Schwindelsymptomatik sollten mögliche pathologische Untersuchungsbefunde nur dann als wahrscheinlich ursächlich für die Symptomatik gewertet werden, wenn die entsprechende Symptomatik im direkten zeitlichen Zusammenhang mit dem pathologischen Untersuchungsergebnis tatsächlich auftritt.
141 12.3 · Diagnostik und Therapie
24-Stunden-Langzeit-EKG. Bei begründetem
Verdacht auf hämodynamisch wirksame Herzrhythmusstörungen können Langzeit-EKG-Registrierungen durchgeführt werden. Diese sind jedoch nur dann Erfolg versprechend, wenn die klinische Symptomatik häufiger (nahezu täglich) auftritt. Wie beim Ruhe-EKG ist auch hier ein kausaler Zusammenhang zwischen Schwindel und Herzrhythmusstörung nur dann wahrscheinlich, wenn die klinische Symptomatik im direkten zeitlichen Zusammenhang mit der elektrokardiographisch dokumentierten Rhythmusstörung nachgewiesen werden kann. Beispielsweise können asymptomatische Bradykardien insbesondere während der Nacht mit Pausen unter 2,5 Sekunden nicht als kausale Ursache gewertet werden. Da auch hier bei passager fehlender Symptomatik eine einmalige normale Registrierung schwerwiegende Herzrhythmusstörungen nicht ausschließt, muss gegebenenfalls eine Wiederholung der Untersuchung erfolgen. Bewiesen werden kann ein Zusammenhang zwischen klinischer Symptomatik und nachgewiesener Herzrhythmusstörung letztlich nur dadurch eindeutig, dass nach kausaler Therapie (Herzschrittmacher bei bradykarder Rhythmusstörung entsprechend den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie [8], Ablation bei tachykarden Herzrhythmusstörungen, medikamentöse Therapie) die Symptomatik vollständig verschwindet.
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trierung auf den Thorax im Herzbereich aufsetzen und aktivieren. Nur falls die klinische Symptomatik so schwerwiegend ist, dass dieser Vorgang vom Patienten nicht geleistet werden kann, muss auf implantierbare Event-Recorder zurückgegriffen werden, die nach dem Ereignis vom Patienten oder von Angehörigen deaktiviert bzw. fixiert werden müssen. Elektrophysiologische Untersuchung. Sollte in
der Basisdiagnostik ein hochgradiger Verdacht auf tachykarde Herzrhythmusstörungen (mit sehr seltener Ereignisrate) geäußert werden, ist eine elektrophysiologische Untersuchung indiziert. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Patient im Zusammenhang mit seltenem Schwindel von anfallsweisem Herzrasen mit »on-off-Symptomatik« berichtet. Mittels programmierter Stimulation können dabei neben potenziellen Reizbildungsoder Erregungsleitungsstörungen vor allem tachykarde Herzrhythmusstörungen auf Vorhof- und Ventrikelebene ausgelöst und im günstigen Fall durch Katheterablation kausal therapiert werden. Am häufigsten werden dabei Vorhofflattern, AV-Tachykardien bei AV-Knoten-Reentry bzw. akzessorischen Leistungsbahnen sowie idiopathische ventrikuläre Tachykardien bzw. monomorphe ventrikuläre Tachykardien bei strukturellen Myokarderkrankungen gefunden. Kammerflimmern und polymorphe ventrikuläre Tachykardien, die durch die Stimulation ausgelöst werden können, sind als unspezifisch zu bewerten.
Event-Recorder. Wenn bei begründetem Ver-
dacht auf schwerwiegende Herzrhythmusstörungen wegen der Seltenheit der klinischen Symptomatik (alle 2–3 Wochen oder seltener) die Durchführung eines oder mehrerer LangzeitEKG-Registrierungen erfolglos ist, kann versucht werden, Herzrhythmusstörungen mittels EventRecorder nachzuweisen. In der Regel werden zur Abklärung einer Schwindelsymptomatik keine implantierbaren, sondern externe Event-Recorder eingesetzt. Im Falle eines klinischen Ereignisses muss der Patient dabei das Gerät zur Regis-
Fahrradergometrisches Belastungs-EKG. Bei kli-
nisch nicht eindeutiger Angina-pectoris-Symptomatik, Schwindel in Zusammenhang mit körperlicher Anstrengung und farbduplexsonographischem Ausschluss eines hämodynamisch wirksamen Vitium cordis ist die standardisierte Durchführung einer fahrradergometrischen Belastungsuntersuchung mit kontinuierlicher EKGRegistrierung indiziert. Die Untersuchung kann belastungsinduzierbare Herzrhythmusstörungen (inadäquater Frequenzanstieg beim Sick-Sinus-
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Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
Syndrom, Brady- oder Tachykardien) und inadäquates Blutdruckverhalten (arterielle Hypertonie, Blutdruckabfall unter Belastung) als Korrelat einer Schwindelsymptomatik sowie ischämietypische EKG-Veränderungen nachweisen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Sensitivität und Spezifität für die Diagnostik einer koronaren Herzerkrankung (KHK) relativ gering sind (1-Gefäß-KHK Sensitivität ca. 50%, 3-GefäßKHK Sensitivität 75%, Spezifität 75%). Schellong-Test. Der Schellong-Test dient als rela-
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tiv einfaches diagnostisches Verfahren zur Identifikation von orthostaseinduzierter Dysregulation mit orthostatischer Hypotonie, die sich klinisch infolge einer akuten Verminderung des venösen Rückstroms des Blutes zum Herzen und einer fehlenden humoralen und neuronalen Gegenregulation als Schwindel, Bewusstseinstrübung und Bewusstseinsverlust darstellen kann. Der Patient wird dabei abrupt aus einer liegenden in eine stehende Position gebracht. Sowohl vor dem Aufstehen als auch während der Standzeit werden minütlich Puls und Blutdruck registriert. Normalerweise führt die Lageänderung lediglich zu einem kurzzeitigen systolischen Blutdruckabfall (220/Minute) Schwindel und Synkopen auslösen. Die Ausbeute des 24-Stunden-EKG zur Aufdeckung symptomatischer Arrhythmien liegt bei nur 4% [17], sodass bei starkem Verdacht wiederholte Ableitungen erforderlich sein können. Die orthostatische Hypotonie ist oft gut behandelbar [18]. Zu den Therapieoptionen gehören: 4 Reduktion auslösender Pharmaka, 4 reichlich Salz und Flüssigkeit, 4 Schlafen mit um 30 Grad erhöhtem Oberkörper, 4 individuell angepasste Stützstrümpfe (die allerdings oft schlecht toleriert werden). Falls diese Maßnahmen nicht ausreichen, kann pharmakologisch behandelt werden. Die beste Evidenz durch kontrollierte Studien liegt für den α-Rezeptoragonisten Midodrin vor (3-mal 2,5 mg täglich, steigern bis maximal 3-mal 10 mg, letzte Dosis am Nachmittag). Häufig wird auch das Mineralokortikoid Fludrokortison eingesetzt (0,1 mg täglich, steigern bis maximal 3-mal 0,2 mg; Cave: Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten).
13.3 Gangstörungen Gerade ältere Patienten klagen oft über einen nicht drehenden Dauerschwindel. Auf Nachfrage stellt sich dann meist heraus, dass sie im Stehen und Gehen unsicher sind, während es ihnen im Sitzen und Liegen gut geht. Ursächlich finden sich einerseits das altersgemäße Nachlassen der vestibulären, somatosensiblen und visuellen Funktionen, andrerseits spezifische Erkrankungen, die zur Beeinträchtigung der sensorischen und moto-
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rischen Funktionen und damit zu Gleichgewichtsstörungen führen. Zu den häufigsten gehören: 4 Katarakte, 4 Retinopathien, 4 Glaukom, 4 Polyneuropathie, 4 zervikale Myelopathie, 4 Parkinson-Syndrom, 4 zerebrale Mikroangiopathie, 4 Normaldruckhydrozephalus, 4 zerebelläre Degenerationen, 4 Cox- und Gonarthrose sowie Gelenkersatz, manchmal auch noch schlechtes Schuhwerk. Oft ist es erst die Kombination der Störungen, die das Ausmaß der Beeinträchtigung erklärt. Mangelndes Training und eine sekundäre Fallangst können das Problem weiter verstärken. Neben der Behandlung der Grunderkrankung kommt es darauf an, durch Balanceübungen und Gangschulung die Funktionsreserven des Gleichgewichts zu mobilisieren und ängstliches Vermeiden zu überwinden. Die neurologischen Erkrankungen, die zur Gangunsicherheit führen, lassen sich oft schon klinisch erfassen. Polyneuropathie. Leitsymptom ist die langsam zunehmende, meist schmerzlose Taubheit der Füße, gelegentlich mit Atrophien und Paresen der Unterschenkel und Füße. So wie der Neurologe seine Stimmgabel gelegentlich ans Patientenohr hält, um Hörstörungen zu erfassen, kann der HNO-Arzt seine Stimmgabel auf die Knöchel seiner Schwindelpatienten setzen, denn Abschwächung oder Verlust des Vibrationsempfindens sind oft die ersten Zeichen einer Polyneuropathie. Später folgen andere Sinnesqualitäten, Verlust der Achillessehnenreflexe und Paresen. Auch ein Schwanken im Romberg-Versuch nach Augenschluss wird recht früh beobachtet. Mehr als 50% der Neuropathien werden nach wie vor durch Diabetes oder erhöhten Alkoholkonsum verursacht. Weitere häufige Varianten sind hereditäre, metabolische, immunvermittelte, paraneoplastische,
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Kapitel 13 · Schwindel aus neurologischer Sicht
medikamentös-toxische und durch VitaminMangel induzierte Neuropathien [19]. Zervikale Myelopathie. Die Einengung des Spinalkanals durch degenerative Wirbelveränderungen kann bis zur Kompression des Rückenmarks führen. Am stärksten sind die Halswirbel 4–7 betroffen. Dementsprechend kommt es auf Segmenthöhe zunächst zu einer Taubheit und Ungeschicklichkeit der Hände mit Atrophie der kleinen Handmuskeln. Später entwickelt sich eine Standunsicherheit mit positivem Romberg-Versuch durch Kompression der sensiblen Hinterstrangbahnen und eine Paraspastik durch Beteiligung der Pyramidenbahnen. Die Diagnose wird mittels MRT gesichert, bei rasch fortschreitenden Paresen wird der Spinalkanal operativ dekomprimiert [20]. Parkinson-Krankheit. Neben der klassischen
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Trias aus Ruhetremor, Akinese und Rigor gehört die gestörte Gleichgewichtsregulation zu den Kardinalssymptomen der Parkinson-Krankheit [21]. Einzelne Patienten klagen früh im Krankheitsverlauf über Schwindel, manchmal bevor die Diagnose gestellt wird. Weitere Frühsymptome sind Muskelschmerzen, eine Veränderung der Handschrift und gelegentlich Heiserkeit. In der Untersuchung fällt die verarmte Mimik auf, ein erschwertes Aufstehen aus dem Sitzen, eine verlangsamte Diadochokinese, ein einseitig vermindertes Mitschwingen des Arms beim Laufen oder ein Ruhetremor. Erst im Verlauf tritt der typische kleinschrittige Gang mit Starthemmung auf. Mit den heute verfügbaren Medikamenten lassen sich die Symptome über viele Jahre um etwa 60–80% verbessern. Eine ausgeprägte Instabilität im Frühstadium lässt an seltenere Varianten des Parkinson-Syndroms wie die Multisystem-Atrophie oder die progressive supranukleäre Blicklähmung denken. Normaldruckhydrozephalus. Leitsymptom ist
die Trias von Gangunsicherheit, Gedächtnisstö-
rungen und Dranginkontinenz, ähnlich wie bei der zerebralen Mikroangiopathie (s. o.). Der Gang dieser Patienten ist kleinschrittig wie bei der Parkinson-Krankheit, jedoch breitbasiger und unsicherer, was vor allem beim Wenden auffällt. Im fortgeschrittenen Stadium kleben die Füße geradezu am Boden. Die Demenz ist eher mild ausgeprägt. Ursache der Erkrankung ist ein hochnormaler Liquordruck mit episodischen Drucksteigerungen, der zur Aufweitung der Seitenventrikel und Druck auf die benachbarten Faserbahnen führt. MRT oder CT zeigen die Aufweitung der inneren Liquorräume. Nach einer probatorischen Liquorpunktion bessert sich das Gangbild oft innerhalb von 1–2 Tagen. Bei eindeutigem Erfolg wird die Indikation zur ventrikuloperitonealen Shuntanlage gestellt, die meist zu einer anhaltenden Besserung führt [22]. Kleinhirnerkrankungen. Im Vordergrund steht die Gangataxie mit spontan verbreiterter Basis, die vor allem im Seiltänzergang zu einer sichtbaren Unsicherheit führt. Begleitend können andere Kleinhirnsymptome hinzutreten: Zeigeataxie, Dysarthrie, gestörte Blickfolge, Blickrichtungsnystagmus und Downbeat-Nystagmus in Primärposition. Der Verlauf lässt Schlüsse auf die Ätiologie zu: Eine akute Entwicklung spricht für eine vaskuläre oder entzündliche Ursache, ein subakuter Verlauf für eine medikamentös-toxische, karzinomatöse oder paraneoplastische Genese und eine langsame Progredienz für eine hereditäre oder sporadische neurodegenerative Erkrankung [23]. Ein MRT des Kopfes ist immer erforderlich. Die häufigsten für das Kleinhirn toxischen Medikamente sind Antiepileptika und Lithium. Bilaterale Vestibulopathie (Dandy-Syndrom).
Leitsymptome der bilateralen Vestibulopathie sind die Gangunsicherheit (v. a. im Dunkeln) und Oszillopsien bei Kopfbewegungen, also Scheinbewegungen der visuellen Umwelt infolge des gestörten vestibulookulären Reflexes. Drehschwin-
155 Literatur
del fehlt typischerweise, wenn beide Gleichgewichtsorgane oder -nerven simultan betroffen sind und so auch kein Aktivitätsunterschied zwischen rechtem und linkem Vestibulariskern auftritt. Weitaus am häufigsten sind die idiopathischen und die Gentamicin-induzierten Fälle, meist nach intensivmedizinischer Behandlung einer Endokarditis oder Sepsis. Seltener sind bilaterale Vestibulopathien bei kongenitalen Fehlbildungen, nach Meningitiden, bei Otolues und autoimmunen Innenohrerkrankungen, nach Gabe von Cisplatin, bei bilateraler Menière-Krankheit und bilateralen Akustikusneurinomen sowie als Zusatzsymptom bei degenerativen Kleinhirnerkrankungen [24, 25]. Die Diagnose wird durch die beidseitige hochgradige kalorische Untererregbarkeit oder Unerregbarkeit gesichert.
13.4 Neurovaskuläre Kompression
des Nervus vestibularis (Vestibularisparoxysmie) Wie bei der Trigeminusneuralgie kann auch ein Gefäß-Nerven-Kontakt am achten Hirnnerven zu kurzen Paroxysmen führen, die sich mit sekundenlangem Drehschwindel, Lagerungsschwindel oder einer Kippillusion bemerkbar machen, gelegentlich begleitet von Tinnitus oder einer Hörminderung [26]. Meist treten täglich mehrere Attacken auf. Im Intervall sind diese Patienten in der Regel klinisch unauffällig. Eine einseitige kalorische Untererregbarkeit, Hörminderung oder verlängerte Interpeak-Latenz I–III in der BERA (brainstem evoked response audiometry) kommt gelegentlich vor, ist jedoch unspezifisch. Das MRT ist wenig hilfreich, da etwa 30% der Gesunden asymptomatische Gefäß-Nerven-Kontakte aufweisen [27]. Die meisten Patienten werden mit Carbamazepin in niedriger Dosierung oder mit Gabapentin beschwerdefrei. Zur operativen Dekompression [28] wird man sich angesichts der diagnostischen Unsicherheit nur selten entschließen.
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Danksagung Herrn PD Dr. Karl-Titus Hoffmann von der radiologischen Klinik der Charité danke ich herzlich für die MRT-Bilder.
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13
Kapitel 13 · Schwindel aus neurologischer Sicht
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14 Rechtliche Aspekte bei Schwindel A. Wienke, K. Janke
14.1 Einleitung – 158 14.2 Ärztliche Behandlung nach dem aktuellen und anerkannten medizinischen Standard – 158 14.3 Schwindel als Gegenstand der ärztlichen Aufklärung
– 159
14.3.1 Therapeutische Sicherungsaufklärung bei Schwindel – 159 14.3.2 Eingriffs- und Risikoaufklärung bei krankheitsbedingtem Schwindel – 160 14.3.3 Eingriffs und Risikoaufklärung bei maßnahmebedingtem Schwindel – 160
14.4 Überwachungs- und Mitteilungspflichten bei Schwindel – 161 14.5 Zivilrechtliche Haftung des Arztes – 162 14.6 Strafrechtliche Haftung des Arztes – 164 14.7 Zusammenfassende Bewertung Literatur
– 165
– 164
158
14.1
14
Kapitel 14 · Rechtliche Aspekte bei Schwindel
Einleitung
Zur Beantwortung von Rechtsfragen im Zusammenhang mit Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes sind ohne jeden Zweifel zunächst die allgemeinen medizinrechtlichen Erkenntnisse und grundlegenden Entscheidungen der Rechtsprechung maßgebend. Eine Vielzahl der medizinrechtlichen Grundaussagen gilt daher für die unterschiedlichen medizinischen Sachverhalte gleichermaßen, während in Teilbereichen eine spezifische Betrachtung des jeweiligen medizinischen Tatbestandes erforderlich ist, die wiederum eine rechtliche Differenzierung nach sich ziehen kann. So ist gerade bei der hier im Vordergrund stehenden Erkrankung die Unterscheidung zwischen dem Schwindel als Symptom einer Krankheit und dem Schwindel als Folge einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme des Arztes Anknüpfungspunkt für unterschiedliche rechtliche Einordnungen im Rahmen der ärztlichen Aufklärungspflicht. Eine solche Differenzierung ist demgegenüber bei den rechtlichen Anforderungen an eine dem medizinisch-wissenschaftlichen Standard entsprechende Behandlung nicht erforderlich. Ein zentrales Problem im Zusammenhang mit der Schwindelsymptomatik stellt die Fahruntüchtigkeit des Patienten und die damit einhergehenden verkehrsmedizinischen Aufklärungs- und Hinweispflichten des Arztes dar. Dadurch ist eine sehr umfassende und auch praktisch bedeutsame Problematik in den Bereich der rechtlichen Betrachtung des Schwindels einzubeziehen.
14.2
Ärztliche Behandlung nach dem aktuellen und anerkannten medizinischen Standard
Der Arzt muss die Behandlung seiner Patienten stets an dem aktuellen und allgemein anerkannten
Standard der medizinischen Wissenschaft ausrichten; dies gilt für diagnostische, therapeutische, prophylaktische und rehabilitative Maßnahmen gleichermaßen. Der Standard gibt dabei lediglich einen Rahmen vor, in dem sich der Arzt zulässigerweise bewegen und seine Therapiefreiheit ausüben kann (sog. Handlungskorridor). Im Einzelfall kann aber auch gerade das Abweichen von dem Standard geboten sein, wenn dies aus medizinischer Sicht im Einzelfall notwendig ist. Zur Konkretisierung des medizinischen Standards erarbeiten und veröffentlichen die medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften aktuelle und wissenschaftlich konsentierte Empfehlungen (sog. Leitlinien), an denen sich der Arzt neben anderen zugänglichen Erkenntnisquellen (Lehrbücher, Fachzeitschriften etc.) orientieren kann. Unterschreitet der Arzt in nicht vertretbarem Maße, also pflichtwidrig, einen medizinischen Standard oder weicht er in einer sonst unzulässigen Weise davon ab, liegt ein Behandlungsfehler vor. Da der medizinische Standard zugleich den rechtlichen Sorgfaltsmaßstab bestimmt, sind bei einem Behandlungsfehler auch die Voraussetzungen einer Sorgfaltspflichtverletzung im Rechtssinne erfüllt, sodass bei Verschulden eine Haftung des Arztes begründet ist. Diese von der Rechtsordnung vorgegebenen und von der Rechtsprechung in vielen Einzelfällen fortentwickelten Grundsätze gelten in gleicher Weise auch für die Behandlung von und Maßnahmen bei Schwindelerkrankungen. Die zu beachtenden Standards beziehen sich immer auf die zugrunde liegende Krankheit, deren Diagnostik und Therapie. Der Schwindel ist dabei einmal Bestandteil der Krankheit, so etwa bei vestibulären Läsionen, und einmal Bestandteil der Therapie, wie es etwa bei einer medikamentösen Tumortherapie auch in der HNO-Heilkunde denkbar sein könnte.
159 14.3 · Schwindel als Gegenstand der ärztlichen Aufklärung
Wichtig
Bei der Behandlung eines pathologischen Schwindels sind die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (www.hno.org) und die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (www.dgn. org) zu beachten.
Bei medikamentösen Behandlungen oder sonstigen Therapien, die Schwindel verursachen können, sind die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften des jeweils zugrunde liegenden Gebiets heranzuziehen. Soweit der Schwindel z. B. durch anästhesiologische Maßnahmen hervorgerufen wird, sind die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (www.dgai.de) oder fachspezifische Leitlinien zur Anästhesie im jeweiligen Fachbereich zu beachten.
14.3
Schwindel als Gegenstand der ärztlichen Aufklärung
Die ärztliche Aufklärungspflicht untergliedert sich in 2 Teilbereiche: 4 die therapeutische Sicherungsaufklärung, 4 die Eingriffs- und Risikoaufklärung. Die therapeutische Sicherungsaufklärung ist die ärztliche Beratung über ein krankheits- oder therapiegerechtes Verhalten zur Sicherstellung des Behandlungserfolges und zur Vermeidung möglicher Selbstgefährdungen des Patienten. Dagegen dient die Eingriffs- und Risikoaufklärung der Unterrichtung des Patienten über das Risiko des beabsichtigten ärztlichen Vorgehens (z. B. Operation, Arzneimitteltherapie).
14
14.3.1 Therapeutische Sicherungs-
aufklärung bei Schwindel Soweit der Schwindel durch eine Krankheit, etwa durch Vestibularisschädigungen, verursacht wird, ist im Rahmen der therapeutischen Sicherungsaufklärung über die Umstände der zugrunde liegenden Erkrankung aufzuklären. Der Arzt ist im gesundheitlichen Interesse des Patienten verpflichtet, ihn über alle Umstände aufzuklären und zu beraten, die in Zusammenhang mit der Erkrankung des Patienten stehen. Dies umfasst die Diagnose, die Symptome, die Auswirkungen und auch die Dauer. Bei einer Schwindel verursachenden Krankheit ist insbesondere auf die Folgeprobleme der mangelnden Fahrtüchtigkeit und Arbeitsfähigkeit hinzuweisen (z. B. bei Arbeiten an Maschinen, im Baugewerbe, im Gerüstbau, bei Kranführern, Schiffsführern etc.). Inwieweit ein Patient mit Schwindelbeschwerden aus medizinischer Sicht fahrtüchtig oder arbeitsfähig ist, muss von der Art der zugrunde liegenden Krankheit abhängig gemacht werden (Hamann 2002). In rechtlicher Hinsicht ist die Verordnung über die Zulassung von Personen im Straßenverkehr (Fahrerlaubnisverordnung, FeV) heranzuziehen. Nach deren Nr. 2.3 der Anlage 4 fehlt die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sämtlicher Klassen in allen Fällen der Störung des Gleichgewichts, unabhängig davon, ob diese ständig oder anfallsweise auftritt. Sobald das Risiko einer Einschränkung der Fahrtüchtigkeit oder Arbeitsfähigkeit besteht, ist der Patient darüber zu informieren. Der Arzt ist auch dazu verpflichtet, sich bei dem Patienten danach zu erkundigen, ob dieser eine Fahrerlaubnis besitzt und gegenwärtig ein Kraftfahrzeug führt oder einen Beruf ausübt, bei dem es mit Schwindelerkrankungen zu Gefährdungen kommen kann. Wenn dies zutrifft, muss der Arzt unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Patienten den nachteiligen Einfluss auf die Fahrtauglichkeit und Arbeitsfähigkeit im Einzelnen darlegen und den Patient darauf hinweisen, dass
160
Kapitel 14 · Rechtliche Aspekte bei Schwindel
sein Leiden vorübergehend oder dauerhaft das Führen eines Kraftfahrzeugs verbietet oder bestimmte Arzneimittel vor Fahrtantritt eingenommen werden müssen oder er arbeitsunfähig ist. Dazu gehören auch Warnhinweise über die besondere Gefährlichkeit der Kombination von Medikamenten mit Alkohol und Drogen. Unterlässt der behandelnde Arzt dies, verletzt er seine therapeutische Aufklärungs- und Sorgfaltspflicht. Gleiches gilt für den Fall, in dem der Schwindel nicht durch eine Grunderkrankung, sondern durch das Verabreichen eines Arzneimittels hervorgerufen wird. Der Arzt muss im Rahmen der therapeutischen Aufklärung auch über die Dosis, mögliche Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen eines Medikaments aufklären. Als Nebenwirkung ist dann auch auf eine Schwindel verursachende Wirkung des jeweiligen Medikamentes hinzuweisen.
14.3.3 Eingriffs und Risikoauf-
14.3.2 Eingriffs- und Risikoauf-
Der für das Arzthaftungsrecht zuständige 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat im März 2005 die Aufklärungsverpflichtungen der verantwortlichen Ärzte für den Bereich der Arzneimitteltherapie ausgedehnt (BGH, 15.3.2005, VI ZR 289/03). In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte eine Gynäkologin einer 29-jährigen Patientin ein Antikonzeptionsmittel zur Regulierung der Menstruationsbeschwerden verordnet. Der Ärztin war bekannt, dass es sich bei der Patientin um eine starke Raucherin handelte. Drei Monat nach Beginn der Medikation erlitt die Patientin einen Mediapartialinfarkt (Hirninfarkt, Schlaganfall), der durch die Wechselwirkung zwischen dem Antikonzeptionsmittel und dem von der Patientin während der Einnahme zugeführten Nikotin verursacht worden war. Die Gebrauchsinformation des Präparats enthielt den Warnhinweis, dass bei Raucherinnen, die östrogen-gestagenhaltige Arzneimittel anwenden, ein erhöhtes Risiko besteht, an zum Teil schwerwiegenden Folgen von Gefäßveränderungen (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall) zu er-
klärung bei krankheitsbedingtem Schwindel
14
Bei einem krankheitsbedingten Schwindel ist bei der Eingriffs- und Risikoaufklärung über die verschiedenartigen Schwindeltherapien und deren Risiken aufzuklären. Hier gilt der Grundsatz, dass dem Patient ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des geplanten Eingriffs und des konkreten Risikospektrum zu vermitteln ist, damit der Patient sein Selbstbestimmungsrecht ausüben kann. Nur der informierte Patient kann wirksam in einen ärztlichen Eingriff einwilligen, sodass bei Verletzung der Aufklärungspflicht in diesen Fällen nicht bloß ein Behandlungsfehler vorliegt, sondern vielmehr die Einwilligung des Patienten unwirksam und somit der ärztliche Eingriff rechtswidrig ist.
klärung bei maßnahmebedingtem Schwindel Sind die Schwindelgefühle des Patienten auf eine Maßnahme des Arztes zurückzuführen, so etwa bei einer Anästhesie, dann gelten die soeben genannten Grundsätze gleichermaßen. Besonderheiten ergeben sich dann, wenn der Schwindel die Folge einer Arzneimitteltherapie ist. Wichtig
Grundsätzlich ist über die Wirkung von Medikamenten im Rahmen der therapeutischen Sicherungsaufklärung zu informieren, da die Verordnung von Arzneimitteln in der Regel keinen selbstständigen ärztlichen Eingriff darstellt, sondern nur eine bestimmte Therapie des Arztes begleitet.
161 14.4 · Überwachungs- und Mitteilungspflichten bei Schwindel
kranken. Dieses Risiko nehme mit zunehmendem Alter und steigendem Zigarettenkonsum zu. Frauen, die älter als 30 Jahre sind, sollten deshalb nicht rauchen, wenn sie östrogen-gestagenhaltige Arzneimittel einnehmen. Nach dieser Entscheidung ist eine Medikation dann als ärztlicher Eingriff einzuordnen und unterfällt damit der Eingriffs- und Risikoaufklärung, wenn es sich um aggressive bzw. nicht ungefährliche Arzneimittel handelt. Welche Arzneimittel als »aggressiv bzw. nicht ungefährlich» einzustufen sind, hängt von den mit ihnen verbundenen Risiken ab. Wichtig
Haftet der Medikation ein spezifisches Risiko an, das bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet, so ist diese als Eingriff zu werten und über die Risiken im Rahmen der Risiko- und Eingriffsaufklärung hinzuweisen. Nicht entscheidend ist, wie oft das Risiko zu einer Komplikation führt.
Nach Auffassung des BGH ist es zur Erfüllung der Aufklärungspflicht nicht ausreichend, dass der Arzt auf die Gebrauchsinformationen des Pharmaherstellers hinweist. Der Arzt muss vielmehr die Nutzen-Risiko-Bilanz seiner Medikationsentscheidung auf den einzelnen Behandlungsfall bezogen individuell erläutern. Die Packungsbeilage des Pharmaherstellers kann dies naturgemäß nicht leisten, das sie nur das allgemeine Arzneimittelmodell und sein generelles Nutzen-Risiko-Profil erklärt. Ein alleiniger Verweis auf die Packungsbeilage des Pharmaherstellers reicht daher nicht aus. Medikamente, die Schwindel hervorrufen, dürften in der Regel nicht als aggressiv bzw. als ungefährlich einzustufen sein, da nur ein Schwindel von gewisser Intensität und Dauer die Lebensführung des Patienten beeinflussen kann. Allerdings ist es sinnvoll, tendenziell bei allen Medikationen auf die Nebenwirkungen und Risiken hin-
14
zuweisen, da nur solche Medikamente aus der Aufklärungspflicht herausfallen, die keinerlei negative Folgen auf die Gesundheit des Patienten haben können. Ratsam ist es auch, die Packungsbeilage als Ergänzung der ärztlichen Aufklärung anzusehen. Das Verhältnis zwischen ärztlicher Aufklärung und Packungsbeilage sollte daher durch ein wechselseitiges Zusammenspiel gekennzeichnet sein: Der Arzt führt eine Grundaufklärung durch, in der er die wesentlichen individuellen patientenbezogenen Aspekte und Risiken der Behandlung darstellt, und darf den Patienten anschließend zur weitergehenden Aufklärung und Information auf die Packungsbeilage verweisen. Insofern ergänzt und vervollständigt der pharmazeutische Unternehmer durch die Angaben in der Packungsbeilage die Aufklärung des Arztes. Bei besonderen Risikopatienten, insbesondere Berufskraftfahrern etc., bei denen auch schon leichtere Schwindelattacken schwerwiegende Konsequenzen haben können (Herabsetzen der Konzentration), muss der Arzt den Patienten ohne Zweifel auf mögliche Arzneimittelrisiken hinweisen.
14.4
Überwachungs- und Mitteilungspflichten bei Schwindel
Demgegenüber besteht grundsätzlich keine Verpflichtung des Arztes, ein von ihm aus therapeutischer Sicht einmal ausgesprochenes Fahrverbot auch zu überwachen, da er nur eine Hinweis- und Beratungspflicht schuldet. Es ist nicht Aufgabe des Arztes, die Einhaltung der notwendigen Ratschläge und Verhaltensanweisungen bei seinen Patienten zu überwachen. Ausnahmsweise besteht eine solche Überwachungspflicht aber in den Fällen, in denen der Arzt aus den Gründen der sogenannten »Ingerenz» zur Gefahrenabwehr verpflichtet ist. Dies ist der Fall, wenn der Arzt die Fahruntüchtigkeit des
162
14
Kapitel 14 · Rechtliche Aspekte bei Schwindel
Patienten nicht nur feststellt, wie etwa beim krankheitsbedingten Schwindel, sondern durch bestimmte therapeutische oder diagnostische Maßnahmen selbst hervorgerufen hat, so beim maßnahmebedingten Schwindel. Kann der Arzt den Patienten in diesen Fällen nicht durch Aufklärung und Mahnung dazu bewegen, auf die Führung seines Kraftfahrzeugs bis zur Wiederherstellung seiner Fahrtauglichkeit zu verzichten, besteht eine Überwachungspflicht. Eine solche kann sich auch dann ergeben, wenn dem behandelnden Arzt durch eigene Erkenntnisse oder von dritter Seite, etwa durch Angehörige, bekannt wird, dass sein Patient die Hinweise und Verhaltensanweisungen, z. B. auch ein Fahrverbot, nicht befolgt. In schwerwiegenden Fällen ist der Arzt sogar verpflichtet, die Polizei oder andere zuständige Behörden (Ordnungsamt, Straßenverkehrsamt) über die Gefährdung des oder durch den Patienten zu informieren. Hier ist regelmäßig eine Abwägung im Einzelfall erforderlich. Hält der Arzt zur Abwendung einer akuten Gefährdung des Patienten oder Dritter eine Mitteilung der Polizei für geboten, ist er hieran auch nicht durch seine ärztliche Schweigepflicht gehindert. Dieses Individualinteresse des Patienten muss dann vor anderen höherwertigen Interessen (Selbst- oder Drittgefährdung) zurückstehen.
14.5
Zivilrechtliche Haftung des Arztes
In zivilrechtlicher Hinsicht haftet ein Arzt sowohl für Behandlungs- als auch Aufklärungsfehler. Haftungsgrundlagen sind dabei entweder der Arztvertrag in Verbindung mit § 280 Abs. 1 BGB (vertragliche Haftung) oder das Recht der unerlaubten Handlung nach den §§ 823 ff BGB (deliktische Haftung). Im zivilgerichtlichen Verfahren muss grundsätzlich jede Partei das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der für sie günstigen Rechtsnorm darlegen und beweisen.
Der Patient trägt also die Beweislast für alle belastenden Umstände und der Arzt die Beweislast für alle entlastenden Umstände eines bestimmten Behandlungsgeschehens. Sowohl bei der vertraglichen als auch deliktischen Haftung ist Ersatz für materielle und auch immaterielle Schäden (Schmerzensgeld) zu leisten (§ 253 BGB). Ein Behandlungsfehler liegt bei einem fehlerhaften ärztlichen Eingriff und bei der Verletzung der therapeutischen Sicherungsaufklärung vor. In diesem Bereich obliegt die Darlegungs- und Beweislast für den Behandlungsfehler, den Schaden, das Verschulden und die Kausalität grundsätzlich dem Patienten. Nur unter bestimmten Umständen, etwa wenn der Behandlungsfehler als grob eingestuft wird, kommen dem Patienten Beweiserleichterungen zugute. Liegt der Aufklärungsfehler allerdings im Bereich der Eingriffs- und Risikoaufklärung, so ist dieser nicht als bloßer Behandlungsfehler einzuordnen, sondern hat die Unwirksamkeit der Einwilligung des Patienten zur Folge. Die Darlegungs- und Beweislast für die Einwilligung und somit auch die Aufklärung des Patienten trägt daher der Arzt. Welche Bedeutung die Beweislast im Arzthaftungsprozess haben kann, lässt sich an der oben genannten Entscheidung des BGH zur Aufklärungspflicht bei Arzneimitteln veranschaulichen. Generell ist schon im Rahmen der therapeutischen Aufklärung über die Nebenwirkungen von Medikamenten aufzuklären. Für eine fehlende oder fehlerhafte Aufklärung war die klagende Patientin beweisbelastet. Den Beweis konnte sie jedoch nicht führen, sodass ein Verstoß gegen die therapeutische Sicherungspflicht nicht festgestellt werden konnte. Da aber auch aufgrund der schwerwiegenden möglichen Folgen der Medikation im Rahmen der Eingriffs- und Risikoaufklärung auf die Nebenwirkungen hinzuweisen war, verlagerte sich die Beweislast für eine ordnungsgemäße Aufklä-
163 14.5 · Zivilrechtliche Haftung des Arztes
rung auf die beklagte Ärztin. In diesem Zusammenhang wurden dann erst die Anforderungen an die Aufklärung bei Pharmakotherapien und die Bedeutung des Beipackzettels erörtert und die Haftung der Ärztin begründet. Ein anderer wichtiger Aspekt der Aufklärungsverpflichtung bezieht sich auf die fehlende Fahrtüchtigkeit bei Gleichgewichtsstörungen des Patienten bzw. bei entsprechender Medikation. Ein im Gesamtzusammenhang typischer Sachverhalt, der die haftungsrechtliche Relevanz der Aufklärungs- und Informationsverpflichtungen verdeutlicht, lag einer Entscheidung des Landgerichts Koblenz aus dem Jahre 1972 (NJW 1972, 2223) zugrunde: Ein Arzt hatte ein hoch dosiertes Penicillinpräparat verabreicht, ohne den Patienten auf mögliche Nebenwirkungen der Injektion und damit verbundenen Gefahren für eine Teilnahme am Kraftfahrzeugverkehr hinzuweisen. Der Patient geriet auf seinem Heimweg mit dem Auto von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Baum. Im Prozess konnte der geschädigte Patient nachweisen, dass der Unfall allein auf eine allergische Sofortreaktion und eine damit einhergehende plötzliche Bewusstseinsstörung durch das Penicillin zurückzuführen war. Der Arzt wurde zum Ersatz der durch den Verkehrsunfall entstandenen materiellen und immateriellen Schäden verurteilt. Dieser Fall zeigt, dass der behandelnde Arzt bei jedem Patienten stets sorgfältig abwägen muss, ob eine Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit oder der Arbeitsfähigkeit in Erwägung gezogen werden muss. Wichtig
Besteht auch nur die Gefahr, dass ein Patient einen Schwindelanfall erleiden könnte bzw. ist die Gefahr nicht vollkommen atypisch oder unvorhersehbar, sollte ein Fahrverbot oder Arbeitsverbot ausgesprochen werden, um einer eventuellen Haftung vorzubeugen.
14
Der Ausspruch eines solchen Verbotes sollte zu Beweiszwecken regelmäßig in den Krankenunterlagen dokumentiert werden. Ein weiterer einprägsamer Fall aus der Rechtsprechung des BGH verdeutlicht die Tragweite möglicher Überwachungspflichten fahruntauglicher Patienten (NJW 2003, 2309): Bei einer ambulanten Behandlung wurde der Patient vor einem Eingriff sediert, wodurch seine Tauglichkeit für den Straßenverkehr für einen längeren Zeitraum erkennbar eingeschränkt war. Der Patient war daher auch zuvor darüber belehrt worden, dass er nach der Behandlung kein Kraftfahrzeug führen dürfe, war aber dennoch mit eigenem Pkw und ohne Begleitperson zur Untersuchung erschienen. Nach Durchführung des Eingriffs verblieb der Patient zunächst im Behandlungszimmer und hielt sich anschließend auf dem Flur vor den Dienst- und Behandlungsräumen auf, wo der Arzt mehrfach Blick- und Gesprächkontakt mit ihm hatte. Ohne nach einer Abschlussuntersuchung durch den verantwortlichen Arzt nach Hause entlassen worden zu sein, entfernte sich der Patient aus dem Krankenhaus und fuhr mit seinem Kraftfahrzeug fort. Aus ungeklärter Ursache geriet er auf die Gegenfahrbahn und stieß mit einem Lastzug zusammen. Der Patient verstarb noch an der Unfallstelle. Der Bundesgerichtshof hat die Haftung des Arztes damit begründet, dass derjenige, der Gefahrenquellen schaffe oder verstärke, auch die notwendigen Vorkehrungen zum Schutz des Gefährdeten, hier des Patienten, treffen müsse. Die Sedierung des Patienten vor dem Eingriff habe eine besondere Überwachungspflicht des Arztes auch nach dem Eingriff erfordert, zumal ihm bekannt gewesen sei, dass die verwendeten Medikamente zu einer vorübergehenden Gedächtnisstörung führen und der Patient sich möglicherweise nicht mehr an die vorherige Belehrung und das Fahrverbot erinnern konnte. Der Bundesgerichtshof hat die Unterbringung des Patienten auf dem Flur ohne die Möglichkeit
164
Kapitel 14 · Rechtliche Aspekte bei Schwindel
einer ständigen Beobachtung als nicht ausreichend erachtet, um den Patienten daran zu hindern, sich gegebenenfalls unbemerkt zu entfernen und die Gefahr eines selbstgefährdenden Verhaltens auszuschließen. Ein Mitverschulden des Patienten wurde ausgeschlossen, da die Verhütung des entstandenen Schadens allein dem Arzt oblegen habe. Auch wenn diese sehr restriktive Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der medizinischen und auch in der medizinrechtlichen Literatur heftig kritisiert worden ist, wird man die grundlegenden Anforderungen, die der BGH in dieser Entscheidung aufgestellt hat, zukünftig zu berücksichtigen haben. Der Sorgfaltsmaßstab wird nämlich ganz entscheidend durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geprägt, sodass auch andere (Unter-)Gerichte sich hieran ausrichten.
14.6
14
Strafrechtliche Haftung des Arztes
Neben den zivilrechtlichen Auswirkungen etwaiger Behandlungs- oder Aufklärungsfehler können diese auch strafrechtlich relevant werden, insbesondere im Bereich der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte und im Bereich der Straßenverkehrsdelikte. Führt der Arzt eine Schwindel- oder Pharmakotherapie nicht entsprechend der medizinischwissenschaftlichen Anforderungen durch und verursacht dadurch schuldhaft einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Patienten, so unterliegt er der Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung oder fahrlässiger Tötung nach §§ 222, 229 des Strafgesetzbuches (StGB).
Die tatbestandsmäßige Körperverletzung ist somit nicht durch eine Einwilligung des Patienten gerechtfertigt, sodass eine Strafbarkeit des Arztes wegen fahrlässiger Körperverletzung in diesen Fällen schon allein aufgrund der Eigenmacht des Arztes in Betracht kommt. Aber auch die Verletzung der oben genannten Aufklärungs- oder Beratungspflichten über verkehrsmedizinische und berufsbedingte Aspekte einer Therapie kann die Strafbarkeit des Arztes aufgrund seiner Garantenstellung begründen, wenn infolge der unterbliebenen oder fehlerhaften Information der Patient einen Unfall mit tödlichen oder Verletzungsfolgen erlitten oder verursacht hat. Erforderlich ist jedoch stets der Kausalitätsnachweis zwischen der unterlassenen oder unzureichenden Aufklärung des Patienten einerseits und den Schadensfolgen andererseits. Dieser Nachweis dürfte sich in der Praxis schwierig gestalten, was auch der Grund dafür sein könnte, dass bisher kaum einschlägige Gerichtsentscheidungen oder Strafverfahren im vorliegenden Zusammenhang bekannt geworden sind. Gleiches gilt für eine grundsätzlich in Betracht zu ziehende Strafbarkeit des Arztes wegen einer Beihilfe durch Unterlassen zu den Straßenverkehrsdelikten der §§ 315 c I Nr. 1, 316 StGB (Gefährdung des Straßenverkehrs bei Fahruntüchtigkeit infolge körperlicher Mängel und des Genusses berauschender Mittel, Trunkenheit im Verkehr/ Fahruntüchtigkeit infolge des Genusses berauschender Mittel). Dabei dürfte es jedoch regelmäßig auch an dem für die Beihilfe erforderlichen Vorsatz des Patienten, der sich regelmäßig für fahrtüchtig hält, als auch an dem Vorsatz des Arztes in Bezug auf die Haupttat fehlen.
Wichtig
Verletzt der Arzt seine Pflicht zur Aufklärung über den medizinischen Eingriff und dessen Risiken, so führt dies zu der Mangelhaftigkeit und somit Unwirksamkeit der Einwilligung des Patienten in die ärztliche Maßnahme.
14.7
Zusammenfassende Bewertung
Rechtsfragen im Zusammenhang mit Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes sind regelmäßig mit den allgemeinen medizinrechtlichen Er-
165 Literatur
kenntnissen und den grundlegenden Entscheidungen der Rechtsprechung zu beantworten. Die Besonderheiten der Erkrankungen und ihrer Auswirkungen auf die Patienten führen aber dazu, dass die behandelnden Ärzte zusätzliche rechtlich relevante Gesichtspunkte, insbesondere im Bereich der therapeutischen Aufklärung der Patienten, bedenken müssen. Die Anforderungen der Rechtsprechung hierbei sind hoch, sodass viele Ärzte hierauf nur mit Unverständnis reagieren werden, zumal die rechtlichen und wirtschaftlichen Einflüsse auf ärztliches Handeln in den letzten Jahren ohnehin immer größer geworden sind. Aus rechtlicher Sicht sei dennoch allen Ärzten geraten, nach Möglichkeit alles zu tun, um diesen strengen Anforderungen gerecht zu werden.
Literatur Hamann KF (2002) Fahrtüchtigkeit bei vestibulären Läsionen. HNO 12: 1086–1088
14
15 Physikalische Therapie des Schwindels K.-F. Hamann
15.1 Vorbemerkungen
– 168
15.2 Indikationen zum vestibulären Habituationstraining 15.3 Trainingsprogramm – 170 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5 15.3.6
Fixationsübungen – 171 Folgebewegungen der Augen – 172 Optokinetisches Training – 172 Motorisches Lernen – 173 Habituationstraining bei bettlägrigen Patienten – 174 Habituationstraining bei Störungen des Sakkulus – 175
15.4 Allgemeine Empfehlungen Literatur
– 176
– 175
– 168
168
15.1
15
Kapitel 15 · Physikalische Therapie des Schwindels
Vorbemerkungen
Die ersten Vorschläge für ein physikalisches Übungsprogramm als Therapie für vestibulären Schwindel stammen von Cawthorne und Cooksey aus dem Jahre 1946 [3, 4]. Sie hatten für Patienten mit vestibulären Schäden, die auf Verletzungen zurückzuführen waren, ein physikalisches Übungsprogramm entworfen mit dem Ziel, vestibuläre Fehlfunktionen mit der noch vorhandenen Restfunktion und mithilfe anderer Sinnesorgane wie dem Auge, dem Muskel- und Gelenksinn zu kompensieren. Auch wenn damals die theoretischen Grundlagen für eine vestibuläre Physiotherapie noch fehlten und erst später durch Dix [5] ergänzt wurden, fand dieses Übungsprogramm im anglo-amerikanischen Sprachraum große Verbreitung. Es wurden von späteren Autoren vielfache Modifikationen vorgeschlagen, die letztlich aber auf den Grundlagen von Cawthorne und Cooksey basieren. In Frankreich erfuhren die Vorschläge von Cawthorne und Cooksey durch Sterkers und Semont [17] eine Erweiterung, in Deutschland erschienen erste Erfahrungsberichte und Empfehlungen zu einer physikalischen Therapie gegen den Schwindel sowohl von neurologischer Seite durch Brandt [1] als auch von otologischer Seite durch Hamann und Bockmeyer [6] zu Beginn der 80er-Jahre. In diesen Jahren wurden die Kenntnisse über die vestibulären Erholungsvorgänge, die vestibuläre Kompensation, erweitert. Schon früher war postuliert worden, dass ein Tonusgleichgewicht Voraussetzung für das störungsfreie Funktionieren des vestibulären Systems ist [9]. Dieses Tonusgleichgewicht konnte mit neurophysiologischen Parametern wie neuronaler Spontanaktivität, Verstärkungsfaktor oder Phasenverhalten definiert werden. Aus Tierversuchen ergab sich, dass kurz nach einer akuten einseitigen Ausschaltung eine starke Asymmetrie dieser Parameter in Höhe der Vestibulariskerne auftritt (. Abb. 15.1). Im Verlaufe
der Zeit kommt es zu einer mehr oder weniger kompletten Wiederangleichung in Höhe der Vestibulariskerne. Grundsätzlich ist es möglich, dass spontan zumindest für die statischen Parameter ein neues Tonusgleichgewicht erreicht wird, eine Angleichung auch für dynamische Parameter (. Abb. 15.1). Aus diesen Erkenntnissen ließ sich eine Rationale für den Einsatz von Trainingsprogrammen ableiten [8]. Dies führte dazu, dass die bis dahin bevorzugte pharmakologische Therapie gegen Schwindelbeschwerden, die aus heutiger Sicht gegenüber vestibulären Kompensationsvorgängen häufig kontraproduktiv ist, in den Hintergrund trat.
15.2
Indikationen zum vestibulären Habituationstraining
Hauptziel eines vestibulären Habituationstrainings ist es, einen an vestibulärem Schwindel leidenden Patienten an eine möglichst zufriedenstellende vestibuläre Kompensation, die spontan nicht immer ausreichend verläuft, heranzubringen. Daraus ergibt sich, dass die Hauptindikation für ein vestibuläres Habituationstraining jede einseitige, nicht genügend kompensierte, periphervestibuläre Unterfunktion ist. Man findet sie bei Krankheitsbildern wie der Neuritis vestibularis, Vestibularisausfällen nach Entfernen eines Vestibularisschwannoms oder nach Labyrinthektomie, Folgezuständen nach Schädel-Hirn-Traumen und nicht erholten Zosterinfektionen. Umstritten ist die Frage, ob auch bei der Menière-Krankheit, einer Erkrankung mit einem von sich aus fluktuierendem Verlauf, ein Habituationstraining empfohlen werden soll. Obwohl der eigentliche Krankheitsverlauf sicherlich nicht durch ein vestibuläres Habituationstraining beeinflusst werden kann, gibt es dennoch Gründe, dies zu empfehlen. Bestehen nämlich auch außerhalb der Anfälle Schwindelbeschwerden mit anhaltender Unsicherheit, kann ein nicht ausreichend kompensierter Zustand der peripheren
169 15.2 · Indikationen zum vestibulären Habituationstraining
a
b
15
c
. Abb. 15.1. Modellvorstellung zum Ablauf der vestibulären Kompensation. a Normalzustand: Das vestibuläre Tonusgleichgewicht wird garantiert durch symmetrische Eingänge des vestibulären (v), optischen (o) und des propriozeptiven Systems (p). Der Informationsabgleich erfolgt über die kommissuralen Bahnen zwischen beiden Vestibulariskerngebieten. b Eine akute vestibuläre Läsion führt zu einem Tonusungleichgewicht. Die kommissuralen Faserverbindungen zwischen beiden Vestibulariskernge-
bieten funktionieren weiter, die Seite der Läsion erhält jedoch keine vestibuläre Information. c Kompensierter Zustand: Durch eine vermehrte Informationsübertragung von der gesunden Seite und einen erhöhten Anteil der optischen und propriozeptiven Information kommt es dank der kommissuralen Faserverbindungen zu einem neuen Tonusgleichgewicht, allerdings auf einem niedrigeren Niveau
Schädigung angenommen werden, aus der sich die Indikation zum vestibulären Habituationstraining ergibt. Aber auch im beschwerdefreien Intervall der Menière-Krankheit ist die physikalische Therapie anzuraten, um das vestibuläre System zu stabilisieren. Dann trifft der nächste Anfall, der ja vorübergehend eine ausgeprägte periphervestibuläre Asymmetrie hervorruft, auf ein stabilisiertes, besser vorbereitetes, zentral-vestibuläres System. Noch einmal sei hervorgehoben, dass der Krankheitsverlauf der Menière-Krankheit bezüglich der Häufigkeit der Anfälle durch eine vestibuläre Übungsbehandlung nicht beeinflusst werden kann, wohl aber das Reaktionsverhalten des vestibulären Systems auf akute Irritationen. Bei den genannten Indikationen ist mit sehr guten Behandlungsergebnissen zu rechnen, vor allem wenn die zentral-vestibulären Strukturen, hauptsächlich im Vestibulariskerngebiet, intakt sind. Die Erfolgszahlen liegen bei über 90% [8, 18].
Die Ergebnisse einer Übungsbehandlung werden andererseits durch verschiedene Faktoren negativ beeinflusst. Dazu zählen vor allem beidseitige vestibuläre Läsionen, Begleiterkrankungen mit zusätzlichen zentralen Läsionen, das Alter und medikamentöse Einflüsse. Problematisch ist ein vestibuläres Habituationstraining vor allem in der Behandlung beidseitiger Läsionen. Während bei einer einseitigen Läsion auf die intakte Seite, die qualitativ die gleichen Informationen wie die vormals gesunde liefert, zurückgegriffen werden kann, ist dies bei einer bilateralen Vestibulopathie nicht möglich. Erwartungsgemäß sind daher die Ergebnisse eines vestibulären Habituationstrainings schlechter. In diesen Fällen ist es nur möglich, Ersatzsysteme wie das visuelle und das propriozeptive System zu verstärken und zu trainieren, damit sie Leistungen des komplett ausgefallenen vestibulären Systems übernehmen. Nach eigenen Erfahrungen ist nur in etwa 50% mit Erfolgen zu rechnen. Ein weiteres Problem stellen die Patienten dar, bei denen zentrale Läsionen vorliegen, die zu
170
15
Kapitel 15 · Physikalische Therapie des Schwindels
Schwindelbeschwerden geführt haben. Das ursprüngliche Konzept des vestibulären Habituationstrainings setzte voraus, dass die zentralen, für die Kompensation zuständigen Strukturen intakt sind. Nicht bekannt ist aber, welche Strukturen für eine erfolgreiche Kompensation unverzichtbar sind. Im Fall von geschädigten zentralen Strukturen muss zwangsläufig mit schlechteren Kompensationsleistungen gerechnet werden. Da das Gehirn aber mit seiner hohen Redundanz eine Mehrfachabsicherung verschiedener zentraler Strukturen vornimmt, ist es nicht erstaunlich, dass auch bei zentralen Läsionen dennoch gute Erfolge durch ein vestibuläres Habituationstraining zu erreichen sind. In einer an einem neurologischen Krankheitsgut durchgeführten Studie von Hörmann und Mitarbeitern [13] konnte gezeigt werden, dass bei Patienten mit definierten Läsionen im Hirnstamm- und Kleinhirnbereich gleichfalls deutliche Verbesserungen der Schwindelsymptomatik und der Gleichgewichtsstörungen zu erzielen waren. Daraus lässt sich folgern, dass auch bei zentral verursachten Schwindelbeschwerden ein Behandlungsversuch mit einem vestibulären Habituationstraining indiziert ist [2]. Bekanntlich verschlechtern sich die Kompensationsleistungen mit zunehmendem Lebensalter [20]. Während die plastischen Vorgänge in einem jungen Gehirn noch sehr ausgeprägt sind, lässt diese Fähigkeit mit zunehmendem Lebensalter nach. Dies wirkt sich auch auf vestibuläre Kompensationsvorgänge aus. Darum müssen diese Gesichtspunkte in der Prognose für ein vestibuläres Habituationstraining bei älteren Patienten bedacht werden. Da aber meist andere Behandlungsmöglichkeiten zur Behandlung vestibulärer Defizite nicht zur Verfügung stehen, sind auch vergleichsweise kleine Behandlungserfolge als bedeutend einzustufen. Daher stellt das hohe Lebensalter zunächst einmal keinen Grund dar, auf eine vestibuläre Übungsbehandlung von vornherein zu verzichten. Im Gegenteil sollte darauf geachtet werden, eine Verbesserung der allgemeinen
Motorik anzustreben, um die Flexibilität auch des älteren Menschen zu verbessern. Ein besonderes Augenmerk muss auf eine medikamentöse Begleittherapie gelegt werden. Es ist allgemein bekannt, dass sedierende und dämpfende Medikamente vestibuläre Kompensationsvorgänge hemmen und verlangsamen [16]. Wenn ein Patient ein Medikament einnehmen muss, das mit dämpfenden Begleitwirkungen verbunden ist, muss mit den Kollegen der benachbarten Disziplinen diskutiert werden, ob die dämpfende Begleitmedikationen im Zusammenhang mit einem vestibulären Habituationstraining unbedingt erforderlich sind. Auf keinen Fall sollten sedierende Antivertiginosa, die in der Akuttherapie von Schwindelbeschwerden durchaus ihren Stellenwert haben, im Zusammenhang mit einem vestibulären Habituationstraining eingesetzt werden. Sinnvoll erscheint es, aktivierende Substanzen zur Kompensationsförderung einzusetzen. Es gibt sowohl tierexperimentelle als auch klinische Beobachtungen darauf, dass unter Betahistin [19] und Ginkgo-Spezialextrakt [7] eine vestibuläre Kompensationsförderung stattfindet. Zu erwarten ist dies grundsätzlich auch von anderen vigilanzfördernden Pharmaka. Dies gilt auch für den mäßigen Genuss von Koffein in Form von Kaffee oder Tee.
15.3
Trainingsprogramm
Weltweit werden zahlreiche Trainingsprogramme im Sinne eines vestibulären Habituationstrainings eingesetzt, die sich alle mehr oder weniger auf die Vorschläge von Cawthorne und Cooksey beziehen. Die folgende Übersicht beschreibt zunächst ein Trainingsprogramm, das seit über 20 Jahren an der HNO-Klinik des Klinikums rechts der Isar eingesetzt wird [8]. Der Leitgedanke für das hier zusammengestellte Trainingsprogramm war und ist, möglichst gezielt auf die für die vestibuläre Kompensation wichtigen Mechanismen einzuwirken. Auch in dieses Programm gehen Vor-
171 15.3 · Trainingsprogramm
schläge von Cawthorne und Cooksey sowie von Sterkers und Semont ein.
15.3.1 Fixationsübungen Ziel der Fixationsübungen (»point de mire«) während konstanter Körperdrehungen ist es, die visuelle Fixationssupression zu fördern, den Organismus an starke vestibuläre Reize zu gewöhnen, ihn also zu habituieren, und neben dem visuellen System auch die in der tiefen Nackenmuskulatur gelegenen Propriorezeptoren für eine sensorische Substitution zu aktivieren. Für die Durchführung soll sich der Patient mit möglichst gleichmäßiger Geschwindigkeit auf einem Stuhl drehen (. Abb. 15.2). Dies kann auf einem motorbetriebenen Drehstuhl erfolgen, aber auch auf einem einfachen drehbaren Bürostuhl, mit dem sich der Patient selbst durch Abstoßen
15
mit den Füßen in Drehung versetzt. Während der Drehungen hat er die Aufgabe, einen gewählten Fixationspunkt, z. B. eine Türklinke, so lange wie möglich zu fixieren. In dem Moment, wo der Fixationspunkt das Blickfeld verlässt, muss das Blickziel durch eine ruckartige Kopfbewegung und mit den Augen wieder eingefangen werden. Zu empfehlen sind 10 Umdrehungen im Uhrzeigersinn und 10 Umdrehungen entgegen dem Uhrzeigersinn. Der Abstand zwischen dem Kopf des Patienten und dem Fixpunkt sollte 50 cm bis 1 m betragen. Durch das lange Fixieren während der Drehung auf einen Blickpunkt wird die visuelle Fixationssuppression gefördert. Dieses Phänomen, ein Beispiel synergistischer visuovestibulärer Interaktion, dient dazu, vestibulär ausgelöste Augenbewegungen durch das visuelle System zu unterdrücken. Auch wenn dieser Mechanismus nicht in allen Einzelheiten aufgeklärt ist, so ist
. Abb. 15.2. Fixationsübungen (»point de mire«). Der Patient dreht sich auf einem Drehstuhl und fixiert dabei so lange wie möglich einen Punkt
172
Kapitel 15 · Physikalische Therapie des Schwindels
doch sicher, dass er an einen intakten Flocculus gebunden ist, von dem hemmende Impulse auf die Vestibulariskerne ausgehen. Um die Habituierbarkeit des vestibulären Systems zu stimulieren werden starke Reize angewandt, wie sie bei den ruckartigen Kopfbewegungen entstehen[12, 15]. Bekanntlich enthalten die tiefen Nackenmuskeln eine sehr große Zahl von Muskelspindeln, die vorwiegend auf die Vestibulariskerne projizieren. Da einige von ihnen sogar beschleunigungssensibel reagieren, liefern sie eine den vestibulären Informationen kongruente Information [9]. Gerade bei gestörten vestibulären Rezeptoren sind sie teilweise als Ersatzorgane geeignet. Der bei den Fixationsübungen stattfindende Bewegungsablauf, die Bewegung zwischen Kopf und Rumpf, dient dazu, diesen Mechanismus zu fördern.
15.3.2 Folgebewegungen der Augen
15
Da bei der Blickfixation während Kopfbewegungen das visuelle und das vestibuläre System kooperieren, soll mit Blickfolgebewegungen der Anteil des visuellen Systems bei defizientem vestibulärem System gesteigert werden. Zunächst wird mit unbewegtem Kopf, also mit den Augen allein, ein sich sinusförmig bewegendes Pendel verfolgt (10 Pendelbewegungen, 0,2 Hz, ± 30 Grad). Im zweiten Teil dieser Übung folgen dann Auge und Kopf zusammen dem Blickziel, so wie es bei einer physiologischen Blickfolgebewegung stattfindet (. Abb. 15.3). Die eigentliche Aufgabe des vestibulookulären Reflexes besteht in der Möglichkeit, auch bei bewegtem Kopf ein Blickziel schnell zu fixieren und zu erkennen, was dem visuellen System allein nur mit erheblich großem Zeitaufwand möglich ist. Funktionelle Defizite am vestibulären Rezeptorenapparat führen zu einer Einschränkung dieser schnellen Blickfixation, was der Patient als Verschwommensehen, als Oszillopsien, bemerkt. Unabhängig von der angestrebten Restitution am
. Abb. 15.3. Folgebewegungen der Augen. Der Patient folgt zunächst nur mit den Augen, dann mit Augen und Kopf den Bewegungen eines Pendels
Vestibularapparat selbst soll mit dieser Übung der Verstärkungsfaktor des visuellen Systems erhöht werden. Wenn der Patient die Übung alleine durchführt, reicht es aus, ein selbstgebautes Pendel auszulenken und ihm zu folgen, wie es oben beschrieben ist.
15.3.3 Optokinetisches Training Beim Vorbeiführen von schnellen Blickzielen vor den Augen entsteht ein optokinetisch ausgelöster Nystagmus. Er trägt auch den Namen Eisenbahnnystagmus. Es ist bekannt, dass die Nervenbahn, die zur Auslösung eines optokinetischen Nystagmus dient, über die Vestibulariskerne, die prämotorische Neuronen darstellen, läuft [9]. Durch Auslösung eines optokinetischen Nystagmus lassen sich also die Neuronen der Vestibulariskerne, die ja auch die entscheidende Struktur für die vestibuläre Kompensation darstellen, aktivieren.
173 15.3 · Trainingsprogramm
Zur Auslösung eines optokinetischen Nystagmus benützt man einen Projektor, der über einen Motor eines sich drehenden Streifens Muster erzeugt und auf einen Rundhorizont wirft (60 Grad/ Sekunde, 10 Sekunden in jede Richtung). Eine Begleitperson kann sich durch Betrachten der Augen des Patienten leicht davon überzeugen, dass ein optokinetischer Nystagmus auftritt. Für die Ausführung dieser Übung mit einfacheren Mitteln benützt der Patient einen Wasserball, der ein Streifenmuster oder Spielfiguren trägt, keinesfalls einfarbig sein darf (. Abb. 15.4). An einem Faden aufgehängt, lässt sich der Ball in Drehungen versetzen, sodass beim Patienten ein optokinetisch ausgelöster Nystagmus auftritt. Der Abstand zwischen den Augen und dem Wasserball soll etwa 30 cm betragen, die Auslösbarkeit wird verbessert, wenn der Wasserball möglichst groß ist. Durch eine einseitige partielle oder komplette Läsion des Vestibularapparates kommt es zu einer Reduktion oder einem völligen Erlöschen der neuronalen Aktivität auf einer Seite des Vestibulariskerngebiets. Damit von der gesunden Seite her eine Modulation der neuronalen Tätigkeit erfolgen kann, ist eine bestimmte Ruheaktivität erforderlich. Diese Anregung der sonst stummen
. Abb. 15.4. Optokinetische Reizung. Beim Betrachten eines sich drehenden Balls mit Streifenmuster wird ein optokinetischer Nytagmus ausgelöst
15
oder stark reduziert feuernden Neuronen kann man mit optokinetischer Reizung erreichen. Somit dient die Auslösung eines optokinetischen Nystagmus der Anregung der für die vestibuläre Kompensation wichtigen vestibulären Kernneuronen.
15.3.4 Motorisches Lernen Für die Wiedererlangung einer koordinierten Spinalmotorik, also für die ruhige Körperhaltung und die Durchführung glatter Körperbewegungen, werden Grundprinzipien des motorischen Lernens eingesetzt. Motorisches Lernen erfolgt in den meisten Fällen über bewusste Vorgänge. Erst danach werden die so erzeugten motorischen Programme subkortikal abgespeichert, die dann bei Bedarf als geschlossenes motorisches Programm zur Verfügung stehen und abgerufen werden können. Jedem Mediziner sind diese Mechanismen geläufig. So lernt der junge Medizinstudent einen chirurgischen Knoten zunächst mit angespannter Aufmerksamkeit, vielleicht durch Nachahmen bei einem Kollegen oder nach einer Buchvorlage. Der routinierte Chirurg braucht sich bei Bedarf nicht mehr die einzelnen motorischen Schritte zu vergegenwärtigen. Ihm genügt es, dass er sich den Auftrag gibt, einen Knoten zu knüpfen, danach läuft das gesamte motorische Programm unwillkürlich richtig ab. Die Umsetzung dieser Überlegungen in eine Therapie von Standunsicherheit (Ataxie) setzt voraus, dass sich der Patient die einzelnen Bewegungsabläufe, die bei der Aufrechterhaltung der Körperhaltung stattfinden, bewusst macht. Da bei ruhigem Stehen möglichst wenig Bewegung auftreten soll, genügt es, sich die in diesem Zustand aktivierten Körpereigenfühler ins Bewusstsein zu rufen. Unter physiologischen Bedingungen ist es unmöglich, sich die beim ruhigen Stand benutzten Propriozeptoren bewusst zu machen. Dies gelingt erst durch einen Kunstgriff. Bringt man eine
174
Kapitel 15 · Physikalische Therapie des Schwindels
kleine Erschwernis ein, z. B. den Zehenspitzenstand, so wird es jedem Menschen möglich, die aktivierten Muskeln zu spüren. Wichtig ist, dass dabei der ruhige Stand erhalten bleibt, er kann sogar durch Abstützen an einer Hilfsperson gesichert werden. Als Hilfsmittel für die Durchführung dieses Trainingsteils benötigt man ein Kippbrett (40 × 60 cm, Höhe der Mittelachse 4 cm), das von einem Schreiner angefertigt werden kann (. Abb. 15.5). Denselben Zweck erfüllt ein Holzbrett, unter das als Achse ein gerolltes Handtuch gelegt wird. Entscheidend ist, dass mit dem Brett eine gekippte Position herbeigeführt werden kann, in der der Patient mit oder ohne Hilfe ruhig steht. Je nachdem, wie sich der Patient auf das Brett stellt, kann der Zehenspitzenstand, der Hackenstand und eine nach rechts oder links geneigte Position eingenommen werden. Der Patient soll jede der 4 Positionen so lange halten, bis er die in der jeweiligen Haltung be-
nutzten Muskeln verspürt. Dies äußert sich meist als ein Ziehen, in seltenen Fällen auch als ein leichter Schmerz. Keinesfalls soll versucht werden, dass Kippbrett durch Balancieren in einem instabilen Gleichgewicht in der Horizontalen zu halten. In diesem Zustand ist es schwer, wenn nicht gar unmöglich, sich die für diese komplizierte Aufgabe eingesetzten Regulationsmechanismen bewusst zu machen.
15.3.5 Habituationstraining
bei bettlägrigen Patienten Aus zahlreichen Untersuchungen ist bekannt, dass es bereits kurz nach einer vestibulären Läsion eine kritische Phase gibt, in der Kompensationsvorgänge besonders gut zu beeinflussen sind [14]. Daher sollte immer versucht werden, die Kompensationsförderung so früh wie möglich zu beginnen. Nicht selten ist der Patient wegen seiner
15
. Abb. 15.5. Motorisches Lernen. Der Patient stellt sich nacheinander im Zehenstand, Hackenstand, nach links geneigt und nach rechts geneigt auf ein Kippbrett
175 15.4 · Allgemeine Empfehlungen
heftigen Schwindelbeschwerden, dies gilt besonders für Patienten mit einer Neuritis vestibularis, noch nicht in der Lage, das ausführliche Habituationstraining durchzuführen. Daher empfehlen wir für bettlägrige Patienten ein Übungsprogramm, das ebenfalls auf die Vorschläge von Cawthorne und Cooksey zurückgeht: 1. Langsame Folgebewegungen der Augen: Ein an der Bettstange befestigtes Pendel, beispielsweise ein einfaches Netz mit einem Tennisball, wird in langsame Schwingungen gebracht, die dann mit Kopf und Augen verfolgt werden sollen. 2. Wurfübungen: In liegender oder sitzender Position im Bett wird ein Ball von einer Hand in die andere übergeben oder geworfen. Auf diese Weise wird bereits die zielgerichtete Körpermotorik und die visuelle Fixation trainiert. 3. Fixationsübungen: Der Patient wird aufgefordert, mit Kopf und Augen Bewegungen seiner ausgestreckten Arme zu folgen, die Hände sind dabei gefaltet.
15.3.6 Habituationstraining
bei Störungen des Sakkulus Seit einigen Jahren ist es möglich, durch Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale (VEMP), seitengetrennt und isoliert Störungen des Sakkulus zu diagnostizieren [10]. Daraus folgt, dass man versuchen muss, auch diese Störungen durch ein Habituationstraining im Sinne der Kompensationsförderung zu behandeln. Um Sakkulusstörungen durch ein Habituationstraining zu behandeln, schlagen wir eine gezielte Reizung des Sakkulus durch forcierte vertikale Bewegungen vor [11]. Wir empfehlen dazu das Springen auf einem Trampolin, 3-mal 5 Minuten täglich. Dabei ist es nicht entscheidend, dass der Patient eine hohe Sprungamplitude erreicht. Dies gilt besonders für ältere Menschen. Es kann sogar empfohlen werden, sich während des Sprin-
15
gens selbst an einer Wand festzuhalten, um nicht zu stürzen. Entscheidend ist, dass eine ausreichende Stimulation des Sakkulus in seiner bevorzugten Reizrichtung, also in der Vertikalen, erreicht wird. Noch einmal sei betont, dass sobald es der Zustand des Patienten zulässt, auf das ausführliche vestibuläre Habituationstraining übergegangen werden soll.
15.4
Allgemeine Empfehlungen
Am Schluss soll darauf hingewiesen werden, dass in der Behandlung von Schwindelzuständen heutzutage aktivierende Maßnahmen für sinnvoll und erfolgreich gehalten werden, sedierende Maßnahmen hingegen nur in der Akutphase von Schwindelbeschwerden. Daher muss die Begleitmedikation von Medikamenten mit sedierenden Komponenten sehr sorgfältig abgewogen werden. Dies gilt auch für Genussmittel wie Koffein und Alkohol. Während zum Genuss von Koffein in Form von Kaffee oder Tee in mäßigem Umfang geraten werden kann, muss von der Aufnahme größerer Alkoholmengen abgeraten werden. Bekanntlich führen hohe Blutalkoholkonzentrationen zu Müdigkeit und lösen selbst wiederum Schwindel aus. Gegen kleine Alkoholmengen bestehen keine Einwände. Im übrigen können alle Tätigkeiten und Sportarten empfohlen werden, die zu einer allgemeinen motorischen Aktivierung führen. Bestimmte Sportarten wie Tischtennisspielen, Tennisspielen und Radfahren fördern sogar gezielt auch vestibuläre Leistungen. Abgeraten werden muss natürlich von sturzgefährdeten Tätigkeiten oder Sportarten. Insgesamt kann aufgrund der heutigen Erfahrungen mit vestibulären Erkrankungen festgestellt werden, dass die Prognose im allgemeinen als sehr günstig einzustufen ist, wenn rationale Konzepte bei der Diagnostik, vor allem aber in der Therapie berücksichtigt werden.
176
Kapitel 15 · Physikalische Therapie des Schwindels
Literatur
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A Acetylcholin (ACh) 13 ACh, 7 Acetylcholin Aciclovir 76 Aequamen 117 AICA, 7 Kleinhirnarterie, anteriore inferiore Akustikusneurinom 84, 88 J-Aminobuttersäure (GABA) 13 Amoxicillin 75 Anämie 137 Aneurysma 62 Angstneurose 100 Angststörung 101, 102 Anpassungsstörung 105, 106 anti-Hallpike-Position 69 Antivertiginosa 7, 72 Arrhythmie, kardiale 152 Arteriitis temporalis 137 Ataxie 66 Atlas, Rotationsstellung 122 Attacke, transitorische ischämische (TIA) 151 Augenfolgebewegung 172 Augengegenrollung 65 AVOR, 7 Reflex, vestibulookulärer angularer
B Bahn, zentralvestibuläre 19 barbecue rotation 43 Basisdiagnostik, vestibuläre 62 Befreiungsmanöver – für den horizontalen Bogengang 42 – nach Epley 42 – nach Semont 42, 74 Belastungsreaktion, akute 106
Betahistidinmesilat 117 Betahistin 73 Bewegungskrankheit 32 Blickfolgesystem 15 Blickmotorik 5 Borreliose 70, 71, 74 BPLS, 7 Lagerungsschwindel, benigner paroxysmaler Brechzentrum 20
C calcitonin gene-related peptide (CGRP) 13 Canalolithiasis 4, 39 CGRP, 7 calcitonin gene-related peptide Cinnarizin 72 Coriolis-Effekt 32 Cristae ampullares 13 Cupulolithiasis 4, 38
E Echokardiographie, transösophageale 143 Eingriffsaufklärung 160 Elektrocochleographie 80 Endolymphhydrops 5, 80, 81 Endolymphsacktumor 83 Erkrankung, kardiale 136 Erythema migrans 71 Event-Recorder 141
F Felsenbeinfraktur 83 Fixationssuppression 111 Fixationsübung 171 Flunarizin 150
G D Dandy-Syndrom 154 Dehiszenzsyndrom 82 Demyelinisierung, vaskuläre 152 Depression, larvierte 104 Diabetes mellitus 133, 137 Diadochokinese 66 Dimenhydrinat 72, 117, 150 Diskordanz 20 Diuretika 73 Doxycyclin 74 Drehpendeltest 115 Drehstopptest 115 Drogen 138 Dysregulation, orthostatische 132, 133
GABA, 7 J-Aminobuttersäure Gain-Faktor 15 Gangstörung 153 Gefäßerkrankung 133, 137 Gefäßstenosen 62 Gentamicintherapie 73 Geradeausprojektion 4 Get-up-and-go-Test 56 Gleichgewichtskontrolle 49, 53 Gleichgewichtsprothese 56 Glukokortikoid 72, 117 Glutamat 13
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H Habituation 67 Habituationstraining, vestibuläres 168 Haftung, zivilrechtliche 162 Hallpike-Position 69 Halmagyi-Test 62 Halsdrehtest 126 Halspropriozeption 21 HCSS, 7 Karotissinussyndrom, hypersensitives Head-thrust-Test 26 Herpesvirus 71 Herzinsuffizienz 62 Herzrhythmusstörung 132, 134 Hirnstamminfarkt 151 Hyperthyreose 137 Hypertonie, arterielle 132, 134 Hypothyreose 137 Hypotonie – arterielle 132, 134 – orthostatische 152
Kinetose 19, 20 – Provokation 32 Kipptischuntersuchung 142 Kleinhirnarterie – anteriore inferiore (AICA) 151 – posteriore inferiore (PICA) 151 Kleinhirnerkrankung 154 Kleinhirninfarkt 151 Kompensation, vestibuläre 20 Kompensationsstadium 112 Kompression, neurovaskuläre des Nervus vestibularis 155 Kompressionssyndrom – makrovaskuläres 84 – mikrovaskuläres 83 Konversionssymptom 104 Koordinationsprüfung 65 Kopf-Impuls-Test 6, 21, 65 Kopfwendemanöver 142 Koronarangiographie 143
L I Immunoblot 71 Innenohrfenster, mobiles drittes 82 Intensitäts-Zeit-Verhältnis 61 Intentionstremor 66
K Kardio-CT 143 Kardio-NMR 143 Karotisdruckversuch 142 Karotissinussyndrom, hypersensitives (HCSS) 132, 134, 136
Labordiagnostik 140 Labyrinthanästhesie 73 Labyrinthdiagnostik 62 Labyrinthektomie 73, 80, 81 Labyrinthischämie 151 Labyrinthitis 83 Lagenystagmus – richtungsbestimmter 67 – richtungswechselnder 67 Lageprüfung 67 Lagerungsschwindel, benigner paroxysmaler (BPLS) 32, 66, 74 Lagerungstraining nach Brandt und Daroff 43 Lernen, motorisches 173 Lindsay-Hemenway-Syndrom 39
A–N
Linearbeschleunigung 12 Lungenembolie 136 LVOR, 7 Reflex, vestibulookulärer linearer LVST, 7 Tractus vestibulospinalis lateralis
M Macula 12 – Funktionsprüfung 65 Menière-Krankheit 73, 80, 150 Menièrscher Anfall 5 Metoprolol 150 Midodrin 153 Migräneschwindel 148 Mikroangiopathie, zerebrale 152 Missmatch, vestibulookulärzervikales 122 Mitteilungspflicht 161 MR-Angiographie 84 MVST, 7 Tractus vestibulospinalis medialis Myelopathie, zervikale 154 Myokardszintigraphie 143
N Nervus vestibularis – neurovaskuläre Kompression 155 Neurektomie 73, 80, 81 Neuronitis vestibularis 110 Neuropathia vestibularis 110 Neuropathie, autonome 134 Normaldruckhydrozephalus 154 Nystagmus, vibrationsinduzierter 6
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O Okklusion des hinteren Bogengangs 82 OOR, 7 Reflex, otolith-okulärer optokinetisches System 15 Oszillopsie 154 Otolithenmembran 14 Otolithenorgan 12
P PAN, 7 positional alcohol nystagmus Panikstörung 103 Parkinson-Krankheit 154 Paukenröhrchen 80 Perilymphfistel 83 PICA, see Kleinhirnarterie, posterior inferiore Pitch, anterior-posteriorer 50 Polarisationstopologie 14 Polyneuropathie 15 positional alcohol nystagmus (PAN) 67 Postmassagesyndrom 129 Posturographie 6, 18 Potenziale, vestibulär induzierte myogene (VEMP) 6, 28–30, 69, 116 Propranolol 150 Provokationsnystagmus 66 Prüfung, thermische 6, 67
R Radiochirurgie 89, 94 Reaktion, vasovagale 132, 133
Reflex – okulärer 24 – otolith-okulärer (OOR) 15, 24, 25 – – bei Translationsbeschleunigung 26 – vestibulookulärer (VOR) 15, 60 – – angularer (AVOR) 24 – – linearer (LVOR) 24, 26 – vestibulospinaler 17 – zervikookulärer 126 Regulation, vestibuloautonome 19 Regulationsstörung, hypotone 62 Repositionsmanöver nach Epley 74 Risikoaufklärung 160 Romberg-Stehversuch 6, 65 – verschärfter 112 Rotationsstellung des Atlas 122
S Sakkade 17 Sakkotomie 73 Sakkulus 12 – Funktionsprüfung 28 Sakkusexposition 80 Sceral-search-coil-Technik 26 Schellong-Test 142 Schleudertrauma 52 Schwankschwindel, phobischer 105 Schwindel 60 – dissoziativer 104 – episodischer 62 – provozierbarer 62 – somatoformer 102 – – sekundärer 104
– therapeutische Sicherungsaufklärung 159 – vaskuläre Syndrome 150 Sicherungsaufklärung, therapeutische 159 Sick-Sinus-Syndrom 134 Sinneskonflikttheorie 20, 32 Spontannystagmus 5, 63, 111 Starkreiz 68 Stoffwechselstörung 133, 137 Störung – depressive 103 – phobische 103 Stressechokardiographie 143 subjektive Vertikale 4 SVV, 7 Vertikale, visuelle subjektive System, optokinetisches 15
T Tandemgang 53, 55 Testverfahren – vestibulospinales 65 – zentrales 65 TIA, 7 transitorische ischämische Attacke Tonusgleichgewicht 5 Topiramat 150 Tractus vestibulospinalis – lateralis (LVST) 17 – medialis (MVST) 17 Training, optokinetisches 172 Trainingsprogramm 170 transitorische ischämische Attacke (TIA) 151 Triptan 150 Tullio-Phänomen 82 Tumarkin-Krise 31
181 Sachverzeichnis
U Überwachungspflicht 161 Unterberger-Tretversuch 6 Untersuchung, serologische 70 Utrikulus 12 – Funktionsprüfung 26
V Vaciclovir 117 Valaciclovir 72 Velocity Storage 32
VEMP, 7 Potenziale, vestibulär induzierte myogene Vergenzbewegung 17 Vertikale, visuelle subjektive (SVV) 4, 27 Vestibularis – Ausfall 72 – Paroxysmie 155 – Schwannom 88 Vestibulopathie, bilaterale 154 Videookulographie 26 Virostatika 72, 117 Vitamin D 57 Vitien 132 Vomex 117 VOR, 7 Reflex, vestibulookulärer
O–Z
Vorhofflattern 135 Vorhofflimmern 134
W wait and scan philosophy 89 Wendetest 68
Z Zentrifugieren, unilaterales 27 Zervikalnystagmus 127 Zoster oticus 62, 72, 75