Ren Dhark
Der Bitwar-Zyklus Band 1
Großangriff auf Grah
Herausgegeben von HAJO F. BREUER
Scan: Puckelz K-Lesen: CC Layout: Puckelz
! Ein Universum Release, nur für den internen Gebrauch !
HJB
Großangriff auf Grah von WERNER K. GIESA (Kapitel 1 bis 3,5,7) UWE HELMUT GRAVE (Kapitel 9,11,12,14,15) CONRAD SHEPHERD (Kapitel 16 bis 20) JO ZYBELL (Kapitel 4,6,8,10,13) und HAJO F. BREUER (Exposé)
1. Auflage HJB Verlag & Shop KG Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 0 26 31-35 48 32 Fax:0 26 31-35 6102 E-Mail:
[email protected] www.ren-dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild: Swen Papenbrock Druck und Bindung: Ueberreuter Buchproduktion © 2004 HJB Verlag REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-937355-04-9
Der Bitwar-Zyklus Drei Jahre lang hat die Menschheit in Frieden gelebt. Ren Dhark ist nicht länger Commander der Planeten. Mit seinem hochentwickelten Raumschiff Point Of kann er endlich darangehen, seinen Lebenstraum zu verwirklichen und die Geheimnisse des Universums zu erforschen. Doch dann macht ein Großangriff auf Grah einen dicken Strich durch die Rechnung... Werner K. Giesa, Uwe Helmut Grave, Conrad Shepherd und Jo Zybell schrieben einen packenden SF-Roman nach dem Expose von Hajo F. Breuer. Diese Buchausgabe präsentiert einen neuen Abschnitt im Leben des Sternenabenteurers Ren Dhark: ideal für Neueinsteigen und ein absolutes Muß für Kenner der Reihe! Erstveröffentlichung
Vorwort Knapp fünf Jahre ist es her, daß mich Verleger Hansjoachim Bernt in einem Telefongespräch fast beiläufig fragte, ob ich nicht Lust hätte, REN DHARK »zu machen«. Seit damals habe ich den letzten Band der »Altserie«, 24 Drakhon-Ausgaben, 23 Sonderbände und bislang zwei Ausgaben des REN DHARK-Ablegers FORSCHUNGSRAUMER CHARR als verantwortlicher Herausgeber betreut. An neuem Material haben wir seitdem – umgerechnet – 148 Romanhefte produziert. Was mich nun ganz besonders freut ist die Tatsache, daß mit dem vorliegenden Band, der ersten Ausgabe des neuen Bitwar-Zyklus, die ominöse Nummer 98 geknackt wurde. Schließlich endete die ursprüngliche Heftroman-Ausgabe von REN DHARK 1969 (ebenso wie die zweite und dritte Auflage in den 70er bzw. 80er Jahren) ziemlich abrupt mit der Ausgabe 98. Das vorliegende Buch enthält nun die Heftromane 97 bis 100 der Neufortschreibung – wohlgemerkt ohne die unter der Regie des ersten Herausgebers Manfred Weinland in die Bearbeitung der Originalserie nahtlos eingefügten neuen Abenteuer um die G’Loorn und ebenfalls ohne die insgesamt 25 Sonderbände, die bisher erschienen sind. Ich möchte jetzt nicht mehr viele Worte machen – ich freue mich einfach darüber, den ersten Band des Bitwar-Zyklus vorlegen zu können, der Ihnen hoffentlich ebensoviel Freude macht wie mir. Für alle, die schon immer einmal REN DHARK genießen, aber sich nicht durch das ganze schon vorhandene Material lesen wollten, ergibt sich hier dank eines inhaltlichen Schnittes von drei Jahren eine erstklassige Gelegenheit zum Neueinstieg. Allen anderen kann ich versprechen, daß das Abenteuer jetzt erst richtig losgeht. Der Drakhon-Zyklus hat Ihnen gefallen? Gut! Dann werden Sie den Bitwar-Zyklus verschlingen! Giesenkirchen, im Juli 2004 Hajo F. Breuer
Prolog Auf der Erde schreibt man den Mai des Jahres 2062. Nur elf Jahre ist es her, daß Ren Dhark mit dem Kolonistenraumer GALAXIS ins All aufbrach und auf dem fernen Planeten Hope den Ringraumer POINT OF entdeckte, jenes unvollendete Superraumschiff eines geheimnisvollen, vor tausend Jahren von der galaktischen Bühne verschwundenen Fremdvolkes, das schon bald den Namen »Mysterious« weghatte. Es gelang Dhark und seinen Begleitern, das begonnene Werk zu vollenden und die POINT OF ins All zu bringen. Für die Menschheit war eine neue Epoche angebrochen: Sie schloß Kontakt mit vielen Fremdvölkern im All und begann mit dem Aufbau eines eigenen, noch sehr bescheidenen Sternenreiches. Überall stieß man auf Hinterlassenschaften der Mysterious und machte sie sich nützlich, vor allem die zahlreichen noch funktionsfähigen, herrenlosen Ringraumer. Doch die Milchstraße schien dem Untergang geweiht, denn Ren Dhark entdeckte, weshalb die Mysterious vor tausend Jahren die Galaxis so fluchtartig verlassen hatten: In dem verzweifelten Bemühen, einem fast schon verlorenen Krieg doch noch die Wende zu geben, hatten sie das gigantische Schwarze Loch im Zentrum der Sterneninsel manipuliert. Aber diese Manipulation war außer Kontrolle geraten und drohte nun, den Untergang der Milchstraße zu verursachen. Nur mit Hilfe der Rahim, Para-Monstren aus einem anderen Universum, war es möglich, hinter den Ereignishorizont des entarteten Schwarzen Loches zu gelangen und dort lange genug zu überleben, um die Manipulationen der Mysterious rückgängig zu machen. Fast hätte Ren Dhark die Rettung der Galaxis nicht überlebt, denn die Rahim waren durch die Auswirkungen ihres Aufenthaltes am Schwarzen Loch wahnsinnig geworden und griffen die Menschen an. Hilfe im letzten Augenblick brachte ein geheimnisvoller Mann, der auf den ersten Blick wie ein normaler Terraner aussah und sich »Jim Smith« nannte. Doch er offenbarte sich Ren Dhark als Worgun – als Angehöriger jenes Volkes, das die Menschen bisher nur als »Mysterious« kannten! Und Dhark,
der in jenen Geheimnisvollen bisher fast so etwas wie Götter gesehen hatte, mußte erkennen, daß die Worgun ein geschlagenes Volk waren. Sie, die seit einer Million Jahre die Sterne bereisten und deren biologische Experimente auch zur Entwicklung der Menschheit geführt hatten, waren in ihrer Heimatgalaxis Orn ein versklavtes Volk, das in einem mehr als tausendjährigen Krieg gegen das Insektenvolk der Zyzzkt eine totale Niederlage erlitten hatte. »Jim Smith«, der in Wirklichkeit Gisol hieß, war der letzte freie Worgun. Auf der Suche nach Hilfe war er in die Milchstraße gekommen. Den unterworfenen Worgun war es sogar bei Strafe verboten, ihre natürliche Fähigkeit des Gestaltwandelns zu nutzen. Sie wagten es nicht länger, sich gegen ihre Unterdrücker zu erheben, obwohl die mittlerweile wie die Heuschrecken über jeden Planeten Orns herfielen, auf dem Leben möglich war. Ren Dhark stellte eine Expeditionsflotte aus zehn Ringraumern zusammen und überwand die unvorstellbar weite Entfernung von rund zehn Millionen Lichtjahren bis Orn. Dort stellte er fest, daß es doch noch eine Insel des Widerstands gab: In einer besonders gesicherten Gaswolke, in der jeder Zyzzkt, der sich hineinwagte, unweigerlich starb, lebte das Volk von Terra Nostra: die Nachfahren römischer Legionäre und ihres Trosses, die vor mehr als 2000 Jahren von den Worgun hierher gebracht worden waren. Unter Anleitung der genialen Worgun Margun und Sola, die unerkannt unter ihnen weilten, hatten die Römer die Technik der Worgun vervollkommnet und wären durchaus in der Lage gewesen, die Kampfflotten der Zyzzkt zu besiegen. Allerdings fehlte ihnen das zum Betrieb der Raumschiffe unabdingbar notwendige Tofirit. Dieses exotische Superschwermetall, ein »Abfallprodukt« Schwarzer Löcher, war in Orn extrem selten geworden. Nachdem Ren Dhark mit eigenen Augen gesehen hatte, wie grausam die Zyzzkt in Orn regierten, überließ er den Menschen von Terra Nostra die Daten, die er und sein Team hinter dem Ereignishorizont des Schwarzen Loches im Zentrum unserer Milchstraße gewonnen hatten. Mit Hilfe dieser Daten war es möglich, ein kleines Schwarzes Loch derart zu manipulieren, daß es Tofirit in beinahe beliebiger Menge erzeugte. End-
lich war es möglich, den Kampf gegen die Zyzzkt aufzunehmen – gerade noch rechtzeitig, denn die hatten schon eine gigantische Invasionsflotte aufgestellt, um nach Orn nun die anderen Galaxien zu erobern, in denen einst die Worgun geherrscht hatten: Andromeda und die Milchstraße. Während seines Aufenthaltes in Orn erfuhr Ren Dhark mehr über die Worgun, als ihm lieb war: Die Gestaltwandler, die fast spielerisch ganze Sonnensysteme manipuliert hatten, waren eigentlich ein sehr träges, nicht besonders innovatives Volk. Ihren hohen technischen Standard hatten sie nur der Tatsache zu verdanken, daß sie rund eine Million Jahre lang unbedrängt den Weltraum befahren und ihre Technologie langsam weiterentwickelt hatten. Als die dynamischen Zyzzkt auftraten und sie angriffen, zerfiel ihr einst mächtiges Imperium in wenigen Jahrhunderten. So wie die Menschheit durch gezielte Eingriffe der Worgun entstand, so sind die Worgun höchstwahrscheinlich dereinst durch Manipulationen eines geheimnisvollen goldenen Volkes erschaffen worden. Doch die »Balduren«, wie man die Goldenen nannte, gehörten für die meisten Worgun ins Reich der Mythen und der Phantasie. Trotzdem schmückten sie viele ihrer Planeten mit gigantischen goldenen Statuen. Ren Dhark hatte den starken Verdacht, daß ihm die befreiten Worgun längst nicht alles gesagt hatten, was es über die Balduren zu sagen gab. Dieser Verdacht verstärkte sich noch, als er auf dem Rückflug in die Milchstraße einem goldenen Planeten begegnete, der Orn in hohem Tempo anflog. Eine Verfolgung stellte sich als sinnlos heraus, denn die Flugleistungen des Planeten waren der jedes bekannten Raumschiffs haushoch überlegen. Ren Dhark kehrte heim in die Milchstraße – und mußte feststellen, daß ihm der Rückweg nach Orn versperrt war. Seitdem sind drei Jahre vergangen…
1. Alarmstart für die POINT OF! Von Cent Field, dem größten Raumhafen Terras, hob der 180 Meter durchmessende Ringraumer ab und beschleunigte mit Höchstwerten, jagte dem Weltraum über der Erde entgegen. Der hochgewachsene Mann mit den markant geprägten Gesichtszügen und dem weißblonden Haar erhob sich aus dem Kommandosessel vor dem Steuerpult und winkte einem Fähnrich zu. Ren Dhark war für solche Aktionen bekannt. »Berüchtigt« hätte es auch getroffen. »Übernehmen, Azhari«, schnarrte er. »Commander…« »Sofort! Bringen Sie uns raus!« Er wandte sich bereits der Bordsprechverbindung zu. »Zentrale an WS-West und WS-Ost. Volle Feuerbereitschaft, deSoto und Häkkinen!« »Feuerbereit, alle Antennen auf Nadel, vier Wuchtkanonen Kaliber fünf Zentimeter geladen«, bestätigte Haiko Häkkinen aus der Waffensteuerung West. Sekunden später meldete auch Mario deSoto aus der zweiten Waffensteuerung Vollzug und hatte die anderen vier Kanonen feuerbereit. Der kraushaarige Ahmad Azhari hatte sich derweil in den Kommandosessel geschwungen. Der junge Mann beugte sich leicht vor. Seine Fingerkuppen lagen auf den Steuerschaltern, um sie blitzschnell in neue Positionen bringen zu können. Er rief die Flugdaten und Beschleunigungswerte ab. Dafür benutzte er die Gedankensteuerung, als hätte er zeitlebens nie etwas anderes getan. »WS-Ost«, machte sich Fähnrich deSoto über die Bordverständigung bemerkbar. »Hinter dem Loch ist ein Handelsraumer im Weg! Abschießen, Commander?« »Nein!« kam es von Dhark und Azhari zugleich. Dan Riker, der neben dem Commander stand, verkniff sich ein
Lächeln. Immer schneller werdend, jagte die POINT OF dem planetaren Schutzschirm entgegen, der Terra umgab. Das »Loch«, das deSoto erwähnt hatte, war eine kleine Öffnung, die im Moment des Durchflugs freigeschaltet werden würde, um sich danach wieder zu schließen. Terra legte großen Wert auf Sicherheit! Hinter der Öffnung trieb ein Handelsraumer, der auf seine eigene Freischaltung wartete. »Ist der lebensmüde?« raunte der Fähnrich, der vorübergehend zum Kommandanten und Piloten des Ringraumers geworden war. »Der muß uns doch orten! Warum fliegt er nicht aus dem Weg?« »Durchflug!« Die Lücke entstand. Mit halber Lichtgeschwindigkeit raste die POINT OF präzise durch die Öffnung, die gerade genug Platz für den Ringraumer und seine hochgeschalteten Intervallfelder bot. Distanz zum Handelsraumer vier Lichtsekunden! Fähnrich Azharis Hände brachten Steuerschalter in andere Positionen. SLE aus! Jäh erlosch der Brennkreis, der von 23 fußballgroßen Flächenprojektoren an der Innenseite der Ringröhre erzeugt wurde. Eine Lichtsekunde! Null – und im gleichen Moment durchflog die POINT OF im Schutz ihrer beiden Intervallfelder den Handelsraumer, als sei er nicht existent! War er auch nicht, weil die Intervalle ein künstliches Mini-Kontinuum erzeugten, das die POINT OF vom Normaluniversum abschottete. SLE wieder ein! Der Brennkreis existierte wieder und emittierte seine Energie, zog sich dabei weiter zusammen und wurde Sekunden später zum Brennpunkt. Im gleichen Moment war die POINT OF auch schon überlichtschnell geworden und beschleunigte immer noch weiter. »Ablösung«, forderte Dhark. »Falluta, Sie übernehmen. Waf-
fensteuerungen weiter klar zum Gefecht.« Auf Azharis Stirn bildete sich ein dünner Schweißfilm, als er seinen Sessel wieder räumte und der Erste Offizier Platz nahm. Mittlerweile flog der Ringraumer mit dreifacher Überlichtgeschwindigkeit und beschleunigte rasch weiter. »Warum keine Transition, Sir?« fragte jemand. »Können Sie sich das nicht denken, Fähnrich Gaultier?« gab Falluta zurück. »Unser Flugziel liegt eine Lichtminute jenseits der Plutobahn! Also…?« »Also lohnt sich eine Transition nicht«, murmelte Jean Gaultier. »Begründung?« mischte sich Dan Riker ein. »Ist das hier ein Alarmflug oder ein Kreuzverhör, Sir?« keuchte Gaultier. »Antworten Sie, Fähnrich«, zeigte sich Riker von der kalten Seite. »Zu hoher Energieverbrauch… und die Gefügeerschütterung.« »Richtig«, sagte Riker. »Sie wäre leicht anzumessen, und wer uns jenseits des Pluto erwartet, wäre frühzeitig gewarnt. Daß wir mit Überlicht herankommen, damit rechnet er nicht.« Der Asteroidengürtel lag bereits weit hinter ihnen, die Geschwindigkeit erreichte bereits einen Faktor von 50 ÜL. »Gaultier, Sie übernehmen«, verlangte Hen Falluta und machte den Kommandosessel wieder frei. Etwas zögernd nahm Gaultier seinen Platz ein. An Dan Rikers Kinn hatte sich ein kleiner, roter Fleck gebildet, der auf seine Erregung hinwies. Aus der WS-West meldete sich Fähnrich Häkkinen. »Mit was für einem Objekt haben wir zu rechnen?« »Objekt unidentifiziert«, sagte Dhark. »Dann sollten wir auch die Wuchtkanonen in Bereitschaft nehmen, wie?« Der Finne klang etwas zu lässig, trotz des lockeren Tons, der an Bord üblich war. »Sind in Bereitschaft, wie die beiden WS schon meldeten«, erinnerte Dhark. »Feuereröffnung nur auf Befehl.«
»Erreichen Plutobahn in zwei Minuten«, meldete Gaultier. »Abbremsen?« »Ihre Entscheidung, Fähnrich. Sie haben das Kommando.« »Bei allem Respekt, Commander, wie soll ich Entscheidungen treffen, wenn ich nicht weiß, womit wir es zu tun bekommen?« »Glauben Sie, ich wüßte mehr?« Der etwa 33jährige Eigner des Ringraumers lachte unfroh auf. »Wir wissen nur, daß die Systemüberwachung die Rematerialisierung eines unbekannten Flugobjekts angemessen hat. Die Koordinaten des Wiedereintritts aus dem Hyperraum fliegen wir gerade an.« Gaultier atmete tief durch. In der Flotte erzählte man sich die haarsträubendsten Geschichten über Einsätze der POINT OF. Oft genug sollte Commander Dhark Brennpunkte angeflogen haben, ohne vorher zu wissen, was auf ihn und seine Besatzung wartete. War es diesmal auch wieder so? Der Fähnrich war nicht sicher, ob er froh darüber sein sollte, an einer solchen Aktion teilzunehmen. Auch Besatzungsmitglieder der POINT OF waren nicht unsterblich! Hoffentlich reagierten die beiden Waffensteuerungen schnell genug, wenn es nötig wurde! Noch eine Minute bis zur Plutobahn… Da endlich ging Gaultier auf Negativbeschleunigung. Mit fast unglaublichen Werten wurde der Ringraumer abgebremst. Die Geräuschkulisse im Schiff veränderte sich dabei nicht; Beharrungskräfte waren nicht spürbar. Nur die Instrumente verrieten die ungeheure Belastung. Die Massekontrolle, die verhinderte, daß der Raumer beim Überschreiten der Lichtgeschwindigkeit in Energie umgewandelt wurde, neutralisierte auch die Wirkung von Fliehund Beharrungskräften. Der Stop war perfekt. Die POINT OF kam 30 Lichtsekunden von den Koordinaten entfernt zum Stillstand, die das Ziel definierten, ein Objekt, das genau hier aus der Langstreckentransition gekommen war.
»Ortung an Zentrale«, kam die Meldung. »Da ist – nichts!« * »Perfekt«, sagte Ren Dhark. »Zentrale an alle Stationen. Alarmzustand beendet. Die Damen und Herren Fähnriche bitte unverzüglich in die Offiziersmesse.« Gaultier schwenkte mit dem Kommandosessel herum. Etwas fassungslos sah er Dhark an. »Das… das war nur eine Übung?« Der weißblonde, athletische Commander nickte. »Übergebe das Kommando«, sagte Gaultier, sah sich einen Augenblick lang um, und sein Blick blieb am Ersten Offizier haften,»… an Mister Falluta, Sir.« »Warum an Falluta?« fragte Riker. »Ich schätze, daß Mister Dhark, Sie und ein paar andere mit uns Fähnrichen Manöverkritik abhalten wollen.« »Gut geschätzt«, sagte Riker. »Dann mal los. Hen, wir bleiben in Warteposition.« Hen Falluta nickte. Wenige Minuten später trafen sie sich in der Offiziersmesse: Ren Dhark, Dan und Anja Riker, Manu Tschobe, der Roboter Artus, der weibliche Cyborg Amy Stewart sowie drei weitere Cyborgs und zehn Fähnriche; die letztgenannten dreizehn Personen befanden sich zur Ausbildung an Bord. Manu Tschobe, Arzt und Funkspezialist und während der Alarmübung Chef in der Funkzentrale, grinste still vor sich hin. Wieder einmal brachte er es nicht fertig, den Menschen ins Gesicht zu sehen, mit denen er sprach, als er sagte: »Kein Aas hat gemerkt, daß mein angeblich empfangener Funkspruch mit den Transitionskoordinaten des angeblichen Fremdobjekts eine satte Fälschung war. Einerseits war das gut, weil unsere Nachwuchshelden den Flug dadurch für einen echten Einsatz hielten, andererseits müssen wir das noch mal üben – die Verifizierung eingehender Funknachrichten…«
Einer der neuen Cyborgs sah Tschobe, dann Dhark stirnrunzelnd an. »Mit Verlaub, ich halte es für unverantwortlich, mit Raumneulingen zu einem eventuellen Kampfeinsatz zu starten.« »Wenn es sich tatsächlich um einen echten Alarmfall gehandelt hätte, hätten Sie auf den Einsatz des am besten geeigneten Raumschiffs verzichtet?« fragte Dhark, der sich an den Namen des Cyborgs nicht erinnern konnte. Wie alle, trug er eine schmucklose Uniform ohne jede Namens- oder Rangbezeichnung. In der POINT OF konnte man darauf gern verzichten, erst recht, seit der Raumer nicht mehr zu den Einheiten der TF gehörte, sondern Privatbesitz des Commanders geworden war. Terra hatte ihm das Ringschiff zum Dank für seine Verdienste geschenkt. Damals, als er und die anderen aus der Galaxis Orn zurückgekehrt waren und einer völlig veränderten Situation gegenübergestanden hatten… »Ich hätte keine unzureichend ausgebildeten TF-Angehörigen in Gefahr gebracht«, erklärte der Cyborg knapp. »Es hat schon immer Einsätze dieser Art gegeben, und nicht nur die POINT OF hatte dabei Offiziersanwärter oder Rekruten an Bord. Man lernt nur aus Erfahrung«, sagte Dan Riker gelassen. »Manchmal muß man einfach ins kalte Wasser geworfen werden. Was mich erstaunt hat, war die Reaktion Fähnrich Azharis beim Durchfliegen des planetaren Schutzschirms.« Azhari zuckte unwillkürlich zusammen. »Sie hatten Anfangs Kontakt mit der Gedankensteuerung«, sagte Dhark. »Warum sind Sie nicht dabei geblieben, sondern haben den Intervalldurchflug manuell riskiert?« »Es blieb nicht genug Zeit, da habe ich gehandelt«, versuchte Azhari sich zu rechtfertigen. »Die Gedankensteuerung arbeitet auf jeden Fall immer schneller und präziser als der reaktionsschnellste Mensch und übertrifft dabei auch Cyborgs. Sie hätten die Gedankensteuerung ein Ausweichmanöver durchführen lassen können.«
»Aber die Fliehkräfte…« »Sind durch die Massekontrolle irrelevant. Für Sie spricht allerdings, daß Sie während des Durchfliegens des Handelsraumers den SLE abschalteten, so daß der Brennkreis keine Schäden anrichten konnte.« »Das hielt ich für selbstverständlich, Commander«, murmelte Azhari, der sich in seiner braunen Haut sichtlich unwohl fühlte. »Es blieb ja auch Zeit genug.« »Um so mehr Zeit hätte die Gedankensteuerung für einen Ausweichkurs gehabt«, sagte Dhark. »Wenn sich durch die Berührung und den vorübergehenden Dematerialisierungseffekt des Intervallums ein paar Besatzungsangehörige des Handelsraumers über starke Kopf- und Gliederschmerzen beklagen wie nach einem verzögerten Transmitterdurchgang, können Sie sich das auf Ihre Fahne schreiben.« »Ich werde beim nächsten Mal daran denken«, seufzte der junge Iraner und fügte hinzu: »Sofern ich überhaupt noch eine Chance bekomme.« »Sie sind hier zur Ausbildung, nicht um rausgeschmissen zu werden«, grinste Dan Riker. Auch die anderen Fähnriche und die Cyborgs wurden in die Manöverkritik einbezogen. Schließlich erhob sich Ren Dhark. »Ich bin zufrieden mit Ihnen«, stellte er fest. »Manche Dinge kann man nur lernen, indem man Fehler macht, aber ich sehe, Sie begreifen, wo Sie Fehler begangen haben. Das ist gut. Ich habe selten eine Gruppe so guter Offiziersanwärter an Bord gehabt.« »Oh«, vermerkte der Roboter Artus. »Das war aber ein ziemlich fettes Lob. Normalerweise ist Dhark mit solch euphorischen Äußerungen mehr als sparsam. Ihr könnt euch also was drauf einbilden.« »Was versteht denn ein Roboter davon?« murrte der Cyborg, der vorhin als erster das Wort ergriffen hatte. »Das habe ich gehört«, versetzte Artus. »Du hast dir gerade einen Minuspunkt in meiner Bewertung eingefangen.«
Dhark räusperte sich. »Pardon, Dhark«, sagte Artus. »Mir war danach.« Der Commander der POINT OF winkte ab. »Diese konspirative Versammlung«, er schmunzelte dabei, »ist beendet. Ich bin stolz auf Sie alle. Und weil diese Übung so gut geklappt hat, würde ich gern noch etwas damit weitermachen. Hat jemand Vorschläge für ein neues Übungsziel?« »Wie wäre es mit Babylon?« meldete sich der Roboter prompt. * »Babylon?« fragte Dhark. »Warum ausgerechnet dieser Planet?« Auch die anderen sahen den Roboter verblüfft an. Der Cyborg wollte etwas sagen, aber Artus, die etwas unheimlich wirkende Maschinenkonstruktion, die über eine echte Künstliche Intelligenz verfügte, sprach bereits weiter. Artus war als gewöhnlicher Großserienroboter vom Band gelaufen, eine häßliche, annähernd humanoide Stahlkonstruktion mit im Vergleich zum Torso dünnen, röhrenförmigen Armen und Beinen. Doch in seinem Kopf befand sich kein herkömmlicher Suprasensor, sondern ein Nexus aus 24 Cyborg-Programmgehirnen. Ein unbekannter Defekt in einem dieser 24 Bauteile hatte dafür gesorgt, daß in Artus eine echte Persönlichkeit erwacht war. »Ich habe in Datenträgern vom Vitrinensaal gelesen, der sich im Inneren des Goldenen Menschen auf Babylon befindet«, sagte er. »Ist es nicht erstaunlich, daß der immer noch nicht genauer untersucht wurde?« Dhark stutzte. Er erinnerte sich an die damaligen Ereignisse. Sie waren auf der Suche nach den Mysterious auf den Planeten Babylon gestoßen, eine Siedlungswelt der Geheimnisvollen, die verlassen war wie alles andere, was dieses Volk in der Milchstraße geschaffen hatte. Es gab den Goldenen Menschen mit seinem Vitrinensaal und der Gigant-Hyperfunkanlage. Sie hatten sich darin umgesehen, aber
nicht weiter nachgeforscht. Auch später nicht, als Babylon von Menschen besiedelt wurde, und auch nicht bei den Grako-Kämpfen, als der Mysterious John Brown auftauchte. Jener Geheimnisvolle, der dann verschwand, auf Terra als Jim Smith wieder auftrat und sich schließlich als Worgun, wie dieses Volk sich selbst nannte, zu erkennen gab. Gisol, der Worgun… Drei Jahre war das jetzt her, oder vier? Dhark grübelte. Gisol hatte ihnen den Weg in seine Galaxis gezeigt, die von den Zyzzkt unterjocht wurde. Sie hatten mitgeholfen, das Joch dieser Insekten abzuschütteln, sie hatten die legendären Mysterious Margun und Sola kennengelernt, die vor tausend Jahren auf Hope die POINT OF konstruiert hatten und immer noch lebten, und sie hatten eine Menge an Informationen mit zurück in die Milchstraße gebracht, technische Unterlagen und Konstruktionspläne, Bauanweisungen und dergleichen mehr. Doch die Dankbarkeit der Worgun für die Befreiung vom Joch der Zyzzkt hielt sich in engen Grenzen… Dhark zuckte zusammen. Er war abgeschweift, dabei hatte er doch über den Vitrinensaal nachdenken wollen! Es kam ihm jetzt auch seltsam vor, daß sich ausgerechnet um diesen niemals jemand gekümmert hatte. Alles andere hatten sie untersucht, sogar die beinahe unüberwindlichen Waffensysteme der riesigen Statue, und selbst Gisol hatte sich nicht weiter mit diesem Saal befaßt. Gisol, von dem Dhark inzwischen doch etwas enttäuscht war. Warum hatte er seinen Freund Ren Dhark nicht davor gewarnt, daß mit den technischen Unterlagen der Worgun etwas nicht stimmte? Oder besaßen Margun und Sola soviel Macht, auch gegen Gisols Interessen… Verdammt! Seine Gedanken glitten schon wieder ab! Und das konnte nicht allein an den Worgun liegen. Da war irgend etwas, das verhindern wollte, daß die Menschen sich mit den Geheimnissen des Vitrinensaals befaßten! Seltsam, dachte der Commander der POINT OF. Dann nickte er entschlossen. Jetzt war es an der Zeit, diesen Bann
zu durchbrechen und Nägel mit Köpfen zu machen. »Wir fliegen nach Babylon«, ordnete er an. * Die POINT OF führte mehrere Transitionen durch, während derer die Fähnriche wechselweise in den diversen Stationen des Ringraumers und der Zentrale Dienst taten. Zwischenfälle wurden simuliert. Dan und Anja Riker sowie die Senioroffiziere Hen Falluta und Leon Bebir ließen sich eine Menge kleiner Gemeinheiten einfallen, vom Sonnenorbit über Flash-Einsätze bis zum »Tontaubenschießen« auf unbewohnte Asteroiden und Planetoiden. Beinahe hätten sie alle darüber vergessen, daß sie eigentlich nach Babylon wollten. Aber Artus erinnerte sie immer wieder daran. Er zeigte eine Beharrlichkeit, die nur Roboter zustande bekamen. Auch Manu Tschobe grübelte, weshalb ihrer aller Gedanken immer wieder von dem Vitrinensaal abgelenkt wurden. Gab es einen hypnotischen Block in ihnen, der jedesmal wirksam wurde, wenn sie versuchten, sich mit diesem Thema zu befassen? Unterlagen sie einem nachhaltigen Para-Einfluß? Er schaffte es nicht, mit den anderen darüber zu reden, obgleich er es mehrmals versuchte. Aber sobald er das Thema Babylon anriß, lenkten die Gefährten ab. Und es fiel ihnen nicht einmal auf! Ich find ‘s ‘raus, dachte Tschobe verbissen, der nicht nur als Funker und Mediziner brillierte, sondern auch auf dem Para-Sektor beschlagen war. Diese Para-Falle werde ich knacken! Mutete er sich damit nicht zuviel zu? Bisher hatten die Mysterious, die Worgun, in der Milchstraße doch ihre Geheimnisse gut zu schützen verstanden – notfalls auch mit extremen technischen Mitteln. »Aber die setzt Babylon nicht mehr gegen uns ein, weil die Controllos seit dem Hyperraumschock nicht mehr funktionieren und unser Aufenthalt generell autorisiert ist«, brummte er vor sich hin.
»Notfalls schicken wir Artus vor – als Fallenspürer«, fügte er sarkastisch hinzu, weil ihm der Roboter noch nie so recht gefallen hatte. Der war zwar nicht mehr so arrogant gegenüber biologischen Wesen wie zu Anfang seines »Lebens«, aber Tschobe wurde seine Voreingenommenheit gegenüber der beseelten Maschine nicht los. Er ahnte nicht, was noch auf ihn und die anderen wartete – schon in naher Zukunft. Denn bis Babylon war es noch weit. * Ren Dhark und Amy Stewart verbrachten einen großen Teil ihrer Zeit in ihrer Kabine, die auch für zwei Personen noch genug Platz hatte, wenn man sich ein wenig einschränkte. Mehr Platz hatten sie in ihrer Wohnung im Gebäude der POINT-OF-Stiftung, die Ren und Amy bezogen hatten, nachdem der Commander seine Dienstwohnung hatte aufgeben müssen. Und geradezu luxuriös war das Anwesen, über das sie auf dem Planeten Eden verfügten. Finanziert wurde es ebenso wie die Stiftung von dem Industriellen Terence Wallis, der sich auf Eden seine eigene Welt geschaffen hatte. Aber den Luxus brauchte Ren nicht wirklich. Wann war er denn mal auf Terra oder Eden? Er war doch fast immer mit der POINT OF zwischen den Sternen unterwegs, um Geheimnissen nachzuspüren. Oder einfach nur, um im regelmäßigen Turnus Flottennachwuchs auszubilden. Für die jungen Raumfahrer galt es als große Auszeichnung, zumindest für kurze Zeit zur Besatzung der POINT OF zu gehören, auch wenn der Ringraumer schon längst nicht mehr das Flaggschiff der Terranischen Flotte war. Aber er war immer noch eine Legende, und Ren Dhark persönlich gegenüberzustehen, war eine Ehre, um die man sich beinahe prügelte. Der Commander hatte so viel für die Erde getan, daß auch heute noch viele Menschen nur mit Ehrfurcht von ihm sprachen. Immerhin: Regierungschef war er nicht mehr. Commander der Pla-
neten war jetzt sein einstiger Stellvertreter Henner Trawisheim. Warum auch nicht? dachte Ren. Der einzige Cyborg auf geistiger Basis hatte es verdient, auch nominell Regierungsoberhaupt zu sein; in den Jahren zuvor hatte er ohnehin schon jede Menge Entscheidungen treffen und sich mit Ministern und Oppositionspolitikern und den Medien streiten müssen – als Stellvertreter Dharks, der durch die unendlichen Weltraumtiefen zigeunerte, statt sich seinen Regierungsaufgaben zu stellen. Allerdings hatte Dhark sich nie nach der Macht gedrängt; er hatte nie an der Spitze stehen wollen. Auch wenn ihm das vieles leichter gemacht hatte. Damals, nach der Befreiung Terras von den Giants, hatte man ihn zum Chef der Weltregierung gewählt, hatte ihn regelrecht in das Amt des Commanders der Planeten gedrängt, ob er wollte oder nicht. Jetzt, dieser Bürde ledig, fühlte er sich regelrecht erleichtert. Immerhin hatte Terra ihm als Dank für seine Verdienste die POINT OF geschenkt, und eine von dem Großindustriellen Terence Wallis gegründete Stiftung ermöglichte ihm den unabhängigen Betrieb des Schiffes. Trawisheim als neuer Commander der Planeten hatte es immerhin in kürzester Zeit geschafft, was Ren Dhark nie gelungen war – die desolat gewordene Wirtschaftslage auf der Erde zu stabilisieren. Die Konjunktur zog an. Jetzt, im Mai 2062, gab es wieder Arbeit und sogar etwas Wohlstand für alle, allerdings war für Rüstungsprojekte nicht viel Geld vorhanden. Das war einer der Kernpunkte des trawisheimschen Programms, und ihm kam entgegen, daß in den letzten Jahren ein – wenn auch brüchiger – Friede in der Galaxis eingekehrt war. Das konnte sich zwar jederzeit ändern, aber man nutzte jede Gelegenheit, die Wirtschaft dem Militär vorzuziehen und Terra aus dem Schuldental zu holen. Sehr hilfreich war dabei die ständige Ferntransmitterverbindung zwischen Terra und Eden. Dorthin hatte Wallis seine Konzernzentrale und seine wichtigsten Forschungs- und Produktionsanlagen umgesiedelt. Was zunächst wie ein Affront gegen die
terranische Regierung gewirkt hatte, wurde jetzt allmählich zum Segen. Terra profitierte von Wallis Industries mehr denn je, nur eben jetzt auf eine andere Weise: nicht mehr durch Steuern, sondern durch Handel. Eden blühte auf und gedieh. Auch Dan Riker, meist an Dharks Seite im Weltraum zu finden, hatte seinen Schreibtisch in Alamo Gordo aufgegeben und sein Amt als Flottenchef niedergelegt. So wie Trawisheim Dharks Stellvertreter gewesen war, so hatte Marschall Ted Bulton Riker immer vertreten müssen und war jetzt selbst offiziell in dessen Position aufgerückt. »Woran denkst du, Ren?« fragte Amy Stewart, die sich in einem Schwebesessel niedergelassen hatte, die Beine hochgezogen und das Kinn auf die Knie gestützt. »Wieder an Ion?« »Manchmal, aber nicht jetzt«, sagte Dhark, auf dem Konturbett ausgestreckt und gegen die Kabinendecke schauend, vorbei an der Mini-Ausgabe der Bildkugel, die den Weltraum wiedergab, durch den die POINT OF jagte. Ion Alexandru, sein Sohn. Er hatte kaum etwas von dem Jungen gehabt, den Joan Gipsy ihm geboren hatte. Und den sie mit allen Mitteln von ihm fernzuhalten versucht hatte, um ihn damit zu erpressen. Mit Mitteln, die schließlich zu jenem verhängnisvollen Unfall geführt hatten… Ren schüttelte die traurigen Erinnerungen von sich ab. Ion war tot, und Joan war tot. Unwiderruflich aus seinem Leben verschwunden. Und er hatte nichts tun können. Warum nur, warum? Schon damals hatten Ren und Amy zueinander gefunden, waren ein Paar geworden. Angebahnt hatte es sich bereits in der Galaxis Orn. Nach ihrer Rückkehr waren sie zusammengezogen. Aber wäre Amy auch bereit gewesen, mit Ren und Ion eine Familie zu bilden, oder wäre der Junge für sie immer ein Fremdkörper geblieben, geboren von einer Frau, die Ren Dhark verraten hatte? Amy war doch auch eine Abenteurerin, stets bereit für Risikoeinsätze. Sie waren sich so unglaublich ähnlich, der Mann und die Cyborg-Frau.
Vielleicht liebten sie sich deshalb so intensiv, vielleicht genossen sie deshalb jede Vereinigung so intensiv, als wäre sie das letzte Mal… Er streckte die Hand aus. »Komm, hilf mir, mich abzulenken«, bat er. In ihren Augen funkelte es, als habe sie nur auf das Signal gewartet. Sie glitt aus dem Sessel und kam zu ihm ans Bett. Er griff nach ihr und zog sie zu sich herunter. Wilde Zärtlichkeit, Verstehen und Genießen, Geben und Nehmen, Haut an Haut, Lippen an Lippen… »Zentrale an Dhark«, störte Dan Riker via Bordverständigung. Wenigstens hatte er darauf verzichtet, die gegenseitige Bildübertragung zu aktivieren. »Wir sind im Landeanflug auf Babylon. Leitstrahl steht, in etwa zehn Minuten setzen wir auf.« »Und in neun Minuten erwürge ich dich«, seufzte der Commander der POINT OF. * Leicht federnd hatte der Ringraumer auf seinen 45 Paar Doppelstützen aufgesetzt, die im eingefahrenen Zustand mit ihren Landetellern fugenlos mit der Ringhülle abschlossen. Von dem kurzen Wippen war dank der Gravoausgleicher im Inneren des Schiffes nichts zu bemerken. Babylon war eine prosperierende Welt. Die Jahre der Ruhe hatten der Kolonie gutgetan, und auch der von der örtlichen Regierung mit dem Segen Terras beschlossene Sonderwirtschaftsplan hatte geholfen. Weitere Siedler waren im Laufe der Zeit nach Babylon gekommen, weil viele Menschen hier bessere Perspektiven für sich sahen als auf Terra, wo die Konjunktur zwar auch langsam, aber sicher wieder Schwung bekam, sich aber noch immer ein wenig schwertat, weil der Bürokratenapparat der Sternverwaltung zu verfilzt war. Wohnraum gab es auf Babylon zur Genüge. Der Planet war so etwas wie eine einzige Megalopolis aus Ringpyramiden, die im Abstand von rund fünf Kilometern zueinander in einer parkähnlichen
Landschaft aufragten und mit ihren Etagen und Terrassenflächen jede eine kleine Stadt für sich bildeten. Wie viele Worgun und vielleicht auch Salter einst hier gelebt haben mochten, ließ sich nur schätzen. Die Milliardenzahl mußte zweistellig gewesen sein. Inzwischen waren unter den Pyramidenbauten fünf entdeckt worden, in denen die Worgun-Technik dank seinerzeit aktivierter Intervallfelder auch nach der galaktischen Katastrophe uneingeschränkt funktionierte. Sie waren über den ganzen Planeten verstreut und Zentren der babylonischen Zivilisation geworden. Für Ren Dhark war allerdings nach wie vor der Goldene Mensch das Zentrum. Das lag wohl daran, daß es sich um die größte dieser Skulpturen handelte, die in der heimatlichen Galaxis gefunden worden waren. Auf vielen Planeten und bei verschiedenen Zivilisationen waren die Terraner auf diese Figuren gestoßen, die golden im Sonnenlicht funkelten und die alle gemeinsam hatten, daß sie Humanoide zeigten, deren Gesichter man zerstört hatte. Teilweise waren Köpfe und zuweilen auch die Arme ganz abgeschlagen. Aber nicht nachträglich, vielmehr waren die Standbilder so geschaffen worden. Sie sollten eine Mahnung darstellen, hatte der Salter Olan einst behauptet. Eine Warnung vor den Grakos, nur hatte sich in den letzten Jahren gezeigt, daß Grakos und Goldene nicht das Geringste miteinander zu tun hatten. Denn auch in Orn, der Galaxis der Worgun, gab es diese Statuen, die aber nicht mehr unbedingt nur Humanoide in Gold zeigten, sondern auch andere Spezies darstellten, und wiederum ohne Gesicht! Einen Teil ihrer Geheimnisse hatten die Goldenen Statuen in Orn den Menschen offenbart – sie waren Transmitter, Kampfstationen, Ortungszentralen und allerlei mehr, und etliche von ihnen waren sogar beweglich, konnten von ihren Sockeln steigen und agieren. Und doch waren noch viele Geheimnisse ungelöst geblieben. Sie würden wohl auch auf lange Sicht ungelöst bleiben müssen, denn die Worgun und Römer hatten Orn gegen Besucher aus der
Milchstraße abgeschottet. Ihnen Hilfe zu geben, das Joch der Zyzzkt abzuwerfen, dafür waren wir gerade gut genug, dachte Commander Dhark verbittert. Doch was jetzt kommt, geht uns nichts mehr an. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen und darf nicht noch einmal wiederkommen. Er hatte gehofft, daß wenigstens Gisol ihnen ein Schlupfloch bieten würde, der alten Freundschaft wegen. Aber der Worgun hatte es nicht getan. »Gisol, der Schlächter« fand scheinbar Gefallen daran, allen Ruhm für sich allein zu beanspruchen. Diesen Eindruck hatte Ren Dhark zumindest inzwischen gewonnen. Was war aus ihrer Freundschaft geworden? Dhark und seine Flotte hatten Orn verlassen – verlassen müssen, und Gisol war auf Terra Nostra zurückgeblieben. Juanita, das elternlose Mädchen mit der verblüffenden Para-Gabe der scheinbaren Unsichtbarkeit, war bei ihm geblieben und nicht in die Milchstraße, nicht nach Terra zurückgekehrt. Sie sah in »Jim Smith« immer noch eine Vaterfigur, ein Idol. Aber würde sie sich auf Dauer auf Terra Nostra wohlfühlen können, in einer patriarchalisch orientierten Gesellschaft, wie die Römer sie bildeten? Oder unter Worgun, die sich möglicherweise zeitlebens nicht mehr von der kollektiven Gehirnwäsche erholen würden, der die Zyzzkt sie einst unterzogen hatten, um sie unter Kontrolle zu halten? Wahrscheinlich würde er es nie erfahren. Denn der Weg nach Orn war verschlossen. Die Römer und Worgun schienen keine Zeugen für den erbarmungslosen Vernichtungskrieg haben zu wollen, den sie mit Sicherheit jetzt gegen ihre einstigen Unterdrücker führten. »Dieser verdammte Virus«, murmelte Dhark zornig, der sich verraten fühlte. Margun und Sola hatten damals versprochen, ihm beziehungsweise den Terranern zum Dank für deren Hilfe die Daten über die komplette Worgun-Technologie zu überlassen. Aber was sich hinterher in den Speichermedien zeigte, war recht enttäuschend.
Die Daten umfaßten durchaus nicht die komplette W-Technologie, sondern nur die Bauunterlagen der 190 Meter durchmessenden Ovoid-Ringraumer des neusten Typs, mit allen Waffen und Hyperkalkulator. Und dabei zeigten Margun und Sola sich von einer tückischen Seite, die Dhark niemals bei ihnen vermutet hatte. Mit den Bauunterlagen für eine Ringraumerwerft hatten die beiden genialsten Wissenschaftler, die die Mysterious jemals hervorgebracht hatten, den Menschen ein nicht zu fassendes Virus untergejubelt, das sämtliche Hyperkalkulatoren erfaßte. Führte ein Flug weiter als zwei Millionen Lichtjahre Richtung Orn, brachen die Bordrechner den Flug einfach ab. Es gab keine Möglichkeit, das Virus zu umgehen oder gar zu löschen, zu entfernen. Tausende von Experten arbeiteten daran – bislang erfolglos. Statt dessen zeigte das Virus größte Erfolge und infizierte auf eine noch nicht bekannte Weise auch die alten S-Kreuzer und sogar die POINT OF, und niemand hatte das verhindern können. Die Galaxis Orn war somit nicht mehr erreichbar. Suprasensorisch gesteuerte terranische Ikosaederschiffe konnten die Entfernung von zehn Millionen Lichtjahren nicht überwinden. Rens Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, als er den Ringraumer verließ und in der Ferne die Statue des Goldenen Menschen emporragen sah. Auch er ohne Gesicht, aber mit himmelwärts gereckten Armen, die ein mächtiges Waffensystem mit erheblichem Vernichtungspotential darstellten, wie sich bei dem Angriff der Grakos auf Babylon gezeigt hatte. Im und unter dem Sockel befanden sich Unmengen an technischen Anlagen – und im Goldenen befand sich jener Vitrinensaal, den zu untersuchen Artus nicht müde wurde zu fordern. Wieder fragte Ren Dhark sich, warum er damals diesem Geheimnis nicht nachgegangen war. Das paßte überhaupt nicht zu ihm, der gerade in jener Zeit jeder Spur der Mysterious gefolgt war. Mit teilweise inflationärem Erfolg, wenn man bedachte, in welchem Tempo ERRON-1 im blaßblauen Universum entdeckt worden war – wovon
nach wie vor nur eine Handvoll Eingeweihter wußte – die Sternenbrücke, das Sternbild der Sterne, die Transmitterstraßen, die Schranke hinter Soradan mit ihrer tückischen Falle, die Robotflotte, Babylon, der Signalstern, der Raumschiffsfriedhof und schließlich die Galaxis Drakhon… Aber um den Vitrinensaal mit seinem bizarren Inhalt hatte sich niemand mehr gekümmert! Dhark nicht, und auch kein anderer! Nicht einmal die Menschen auf Babylon selbst, denen doch daran gelegen war, so viel wie möglich von den Worgun-Hinterlassenschaften zu enträtseln und für sich nutzbar zu machen! »Aber jetzt packen wir’s an«, sagte Dhark leise und sah den Schweber mit Claude Petain herankommen, dem militärischen Befehlshaber des Planeten. Der alte Tatendurst, die Neugier und die Abenteuerlust waren plötzlich wieder da!
2. Claude Pétain, der inzwischen zum Brigadegeneral befördert worden war, stellte ihnen Schweber zur Verfügung. Auch er konnte nur mit den Schultern zucken, als Ren Dhark ihn fragte, ob sich denn im Lauf der Jahre niemand für die Geheimnisse des Goldenen Menschen interessiert habe. »Jetzt, wo Sie es sagen, Commander, fällt es mir auch auf… aber wir hatten Wichtigeres zu tun, als in Hinterlassenschaften der Worgun zu wühlen«, seufzte er. »Und Sie sind jetzt wirklich nur deshalb extra nach Babylon gekommen?« Dhark nickte und schmunzelte. Obgleich er nicht mehr Commander der Planeten war, wurde er von vielen Menschen immer noch als Commander angesprochen, und das nicht nur, weil er Eigner und Kommandant der POINT OF war. Sie waren es einfach so gewöhnt, und sie respektierten ihn für das, was er bislang bewirkt hatte. Auch wenn seit der letzten Wahl vielen ein Regierungschef vor Ort, der sich um die Probleme der Menschen kümmerte, lieber war als einer, der ständig im Weltraum herumzigeunerte. Als Commander der POINT OF konnte er das jedoch weiterhin ungestört tun. Dhark plauderte noch ein wenig mit Petain, dann blies er zum Aufbruch. Er hatte eine ziemlich große Forschungsgruppe zusammengestellt, an deren Spitze er selbst stand sowie der Spezialist für Worgun-Technik Arc Doorn, Manu Tschobe, die beiden Rikers, Amy Stewart, natürlich Artus und auch die Jungspunde von der Terranischen Flotte und dem Cyborg-Korps. An Bord des Ringraumers blieb nur eine Rumpfmannschaft zurück. Mehr schien nicht erforderlich zu sein, weil auf Babylon keine Gefahr drohte. Sie flogen den Goldenen Menschen an. Die Daten waren unverändert vom Tag der Entdeckung her bekannt. 7236 Meter hoch ragte die Figur empor. Der Sockel, auf dem
sie stand, war noch einmal 1062 Meter hoch! Ein gigantischer Goldener Mensch, der auf einem mehr als fünfzig Kilometer durchmessenden Platz stand, einer kreisrunden, strahlendblau schimmernden Fläche. Tief im Boden unter dem Sockel arbeiteten Energieerzeuger, deren Potential vieles in den Schatten stellte, und selbst die Römer auf Terra Nostra konnten mit solchen Anlagen nicht aufwarten, weil sie ihre Energieversorgung dezentralisiert hatten. Der in Unitallblau schimmernde Boden des Platzes war nicht überall sauber. Hier und da hatten Erdverwehungen ihn zugedeckt, die bisher niemand abzuräumen gedacht hatte, und an einigen Plätzen standen sogar Baumgruppen. Der Sockel besaß keine Inschrift, kein einziges Symbol aus der Schrift der Worgun. Auch das Emblem einer Galaxisspirale fehlte, mit dem die Mysterious sonst die meisten ihrer Hinterlassenschaften zu verzieren pflegten. Der Sockel war aus dem gleichen Material gefertigt wie die Statue. Die Schweber landeten vor dem Sockelportal. Die Insassen stiegen aus, packten ihre Forschungsinstrumente auf Antigravplatten und näherten sich dem Zugang. Der war inzwischen markiert worden. Anfangs war nur ein feiner Haarriß erkennbar gewesen, wenn das Sonnenlicht ihn richtig traf, und eher zufällig hatten Dan Riker und der Tel Dro Cimc diese Öffnung gefunden, die auf Berührung einer unsichtbaren Kontaktfläche oder auf Gedankenbefehl hin den Zutritt freigab. Dahinter zeigte sich eine riesige Halle, die vom für die Worgun typischen blauen Licht erhellt wurde und in der sich scheinbar endlose Straßen befanden, die von Vitrinen gesäumt wurden. Doch auf direktem Weg war der Vitrinensaal, den sie hier so deutlich vor sich sahen, nicht zu erreichen. Davor sperrte ein Transmitterfeld, das sie einen nach dem anderen mitsamt ihrer Ausrüstung in den Kopf des Goldenen Menschen beförderte. Dessen Hülle war von innen teilweise transparent und zeigte aus seiner Höhe einen prachtvollen Ausblick über Babylon, nur wurde
dieser Ausblick zuweilen von Wolkenbänken getrübt, die unter der Kopfhöhe vom Wind über die Landschaft getrieben wurden. Jede Menge Technik gab es im Kopf des Goldenen, aber für die interessierte sich jetzt keiner der Erforscher. Sie wollten so schnell wie möglich in den Vitrinensaal hinab, um sich dort näher umzuschauen und auch Messungen vorzunehmen. Etwas, das immer wieder versäumt worden war. Im Goldenen Menschen gab es nicht nur Transmitterstraßen, sondern auch drei Antigravlifte, die nur dann ihre Tätigkeit aufnahmen, wenn man zwischen zwei sich in Hüfthöhe gegenüberstehenden dunklen Metallplatten hindurchging. Drei Doppelschleusen sorgten dafür, daß in siebentausend Metern Höhe die Luft die gleiche Dichte hatte wie auf der Oberfläche Babylons. Trotz der A-Gravschächte konnte in diesen Höhen die Luft nicht entweichen. Nicht Worgun-Technik kam hier zum Einsatz, wie Arc Doorn damals festgestellt hatte, sondern Technik der Giants, die aber schon museumsreif gewesen sein mußte, als vor tausend Jahren die Worgun die Milchstraße für immer verließen. Die A-Gravschächte endeten in der Decke des großen Saales mit den Vitrinen, aber ihre Wirkung reichte bis zum Boden. Stoßfrei erreichten die Forscher und ihr Material festen Grund. Von ihrem Standort aus gingen die Straßen mit den Vitrinen strahlenförmig ab, doch die große Portalöffnung im Sockel war nicht zu sehen. Unbeweglich, für Ewigkeiten in Plastikglas versiegelt, schwebten Lebewesen in den Vitrinen. Ein Zoomuseum, so schien es auf den ersten Blick zu sein. Lebewesen in aller erdenklichen Vielfalt waren hier konserviert worden. Gleich die erste Vitrine zeigte eine Gruppe von an Tintenfische erinnernde Wesen. Grün und rot gemustert, mit drei Köpfen, die auf langen Stielen aus dem fast formlosen Rumpf ragten. Sieben Gliedmaßen, die unten vom Rumpf abgingen, endeten eindeutig in dreifingrigen Händen. Trat man nahe genug an die Vitrine heran, klang
die sonore Stimme eines unsichtbaren Kommentators in der Sprache der Worgun auf. Jeder, der zur Stammbesatzung der POINT OF gehörte, verstand sie, weil jeder seinerzeit in Orn Mentcaps eingenommen hatte, die ihm die Kenntnis der Sprache der Mysterious übermittelt hatten. Der Kommentator beschrieb eine intelligente Rasse, die in den Ozeanen ihrer Welt lebte, die ein einziges unterseeisches Paradies sein sollte. Lasoge war der Name dieser Intelligenzen. Aber Terraner hatten diese Wesen im Sternendschungel der Galaxis nie gefunden. Die bizarren, meist grauenhaften Wesen im Plastikglas konnten weniger abgebrühten Männern Entsetzen einjagen. Wenig später sahen sie eine Sechsergruppe, die Neandertalern oder Peking-Menschen glich oder jenen Urmenschen, die vor Jahrhunderttausenden am Tanganjikasee gewohnt hatten. Aber diese Wesen, halb Affe, halb Humanoide mit der fliehenden Stirn, deren Arme bis unter die Knie reichten, waren nicht die Urahnen der menschlichen Rasse. Wenige Jahre nach der Entdeckung durch die Erbauer dieser Anlage war ihre Welt von einem Energieausbruch ihrer Sonne vernichtet worden. Artus, der Roboter, sah in die Runde und nahm die Gruppe Fähnriche aufs Korn, die angesichts all der konservierten Kreaturen recht blaß geworden waren. »Hattet ihr etwa schon befürchtet, daß die da eure Urgroßeltern sein könnten?« »Wir haben wenigstens Urgroßeltern«, blaffte Fähnrich Azhari ihn an. »Du hast nur einen Haufen recycelter Konservendosen als Vorfahren.« »Mag sein, aber die waren wenigstens mit sinnvollen Dingen gefüllt. Eure dagegen – na ja, menschliche Gehirne eben…« »Ruhe!« befahl Riker. »Sonst scheppert’s gleich.« Sie gingen langsam weiter an den Vitrinen entlang, sahen Riesenspinnen mit grauenhaften Gesichtern, Krallen und Beißzangen. Da waren raubtierhafte fremde Geschöpfe, und doch war das alles kein Museum, in dem die Fauna fremder Planeten konserviert worden
war, sondern eine Ausstellung der intelligenten Rassen, die die Worgun auf ihren Flügen durch die Milchstraße entdeckt hatten. Diese Anlage war wahrscheinlich einmalig in der Milchstraße. Aber intelligente Wesen zu konservieren und sie wie Ausstellungsstücke zu behandeln, deutete das nicht auf einen grausamen Zug der Geheimnisvollen hin? Etwas schien doch an der Propaganda der Zyzzkt dran zu sein, die die Worgun als Verbrecher abgestempelt hatten. Zumindest deutete es auf eine enorme Überheblichkeit hin, auch eingedenk dessen, was die Terraner in Orn erlebt hatten. Hochmut kommt vor dem Fall! »Sind nicht Menschen genauso schlimm, die sich hochtrabend Jäger nennen, auf andere Wesen schießen und sie ausgestopft zur Schau stellen?« gab Artus zu bedenken. »Dabei handelt es sich doch um Tiere!« konterte Azhari, der offenbar die Streitkultur mit dem Roboter pflegen wollte. »Auch die australischen Ureinwohner, die ja wohl eindeutig Menschen sind, wurden anfangs als Tiere gejagt«, erinnerte Artus, der sein Speicherwissen abfragte. »Bringt uns diese Diskussion jetzt weiter?« warf Dan Riker verdrossen ein. »Aus humanitärer Sicht schon«, behauptete Artus. »Was versteht eine Maschine schon von Humanität?« seufzte jemand im Hintergrund. Sie gingen weiter. Sie sahen Rateken, und sie sahen Utaren, diese kleinen, sympathischen Humanoiden mit den Knopfaugen. Sie sahen Nogk, und sie sahen Geschöpfe, die nur mittels zigfacher Vergrößerung zu erkennen waren. Termiten? Maden? Winzige graue Kugeln, die ein halbes Hundert Fühler besaßen! Und dann Libellen und Wesen, die Ähnlichkeit mit terranischen Fliegen hatten, und Wasserwesen mit Kiemen, abermals mit Fühlern, aber alle ohne Ausnahme mit Gliedern, die in Greifhänden endeten! Der Kommentator verriet ihnen, daß diese Intelligenzen umgerechnet auf das terranische Standardmaß kaum mehr als drei Millimeter lang waren.
Wenig später trafen sie auf konservierte Amphis, und am Ende dieser Vitrinenstraße fanden sie die menschenfreundlichen Wiesel aus dem Col-System. Wie viele andere Zivilisationen waren auch sie untergegangen, als die Strahlungswerte des elektromagnetischen Feldes der Galaxis plötzlich hochgeschnellt waren. Am linken Ende der Vitrinenstraßen fanden sie dann aber das, was für Ren Dhark das faszinierendste Ausstellungsobjekt war: ein goldener Mensch, der keine künstlich geschaffene Statue war, sondern als konserviertes Lebewesen in der Vitrine steckte! Diese Vitrine war gegenüber den anderen relativ klein, keine drei Meter hoch, vier Meter lang und einen guten Meter breit; ein einziges Stück Plastikglas, in dem der goldene Mensch steckte. Ein Mensch, knapp zwei Meter groß, dessen Haut im Goldton schimmerte. Ein Wesen aus Fleisch und Blut – und wiederum hatte dieses Wesen kein Gesicht! Es war einwandfrei entfernt worden! Die Worgun hatten sich nicht einmal die Arbeit gemacht, die Spuren dieses gräßlichen Eingriffes zu beseitigen! Auch die Narbenfläche selbst war golden. Wie damals trat Dhark nah an die Vitrine heran, und wie damals wurde der unsichtbare Kommentator wieder aktiv. Mit demselben Text wie einst: »Ein Nichts im Nichts und ins Nichts vertrieben!« * Ein Nichts im Nichts und ins Nichts vertrieben! Konnte man etwas noch mehr entwürdigen, die Verächtlichkeitsstufe noch weiter steigern? Ein Nichts… Welchen Haß mußten die Worgun damals empfunden haben, um zu einem solchen radikalen Darstellungsmittel zu greifen? Was hatten die Goldenen ihnen getan? Und warum waren sie ins Nichts ver-
trieben worden? Ren Dhark war darüber heute nicht weniger fassungslos als damals, als er zum ersten Mal vor dieser besonderen Vitrine gestanden hatte. Er mußte wieder an die Statuen der Goldenen in Orn denken. An jene, die einen Zyzzkt darstellten statt eines Humanoiden… Waren auch jene goldenen Zyzzkt ein Nichts im Nichts und ins Nichts vertrieben? Es konnte nicht sein. Etwas ganz anderes mußte hinter diesem Mythos stecken. Aber was? Er trat zurück und sah sich weiter um. Es gab insgesamt noch elf weitere Säle, die seinerzeit Dro Cimc aufgespürt hatte, aber in ihnen befanden sich ebenfalls konservierte Geschöpfe, von denen sowohl die Terraner als auch die Tel noch nie zuvor etwas gesehen oder gehört hatten. Wenn man die Million Jahre in Betracht zog, die die Worgun bereits zwischen den Sternen zubrachten, war das kein Wunder – in dieser Zeit konnten Zivilisationen entstehen und auch wieder zugrunde gehen. Und gerade die magnetischen Stürme, durch Drakhon ausgelöst, hatten in den letzten tausend Jahren eine Menge Leid und Tod über die Völker der Milchstraße gebracht. Viele hatten ihre Welten aufgegeben und waren mit Raumschiffen geflohen in Bereiche, in denen die Strahlung damals noch nicht so stark war, aber auch dort waren sie schließlich eingeholt worden. Wie viele von ihnen mochten auf den langen Flügen umgekommen sein, von Katastrophen zerschmettert, in Hyperräumen verschwunden, in Kriegen ausgelöscht, mit denen sich bereits anwesende Völker gegen die Neuankömmlinge, die Flüchtlinge, wehrten? Die von den Worgun eingesammelten und hier ausgestellten Exemplare hielt Ren Dhark allenfalls interessant für Galakto-Historiker. Ihn selbst reizte weniger die Vergangenheit, sondern die Gegenwart und vor allem die Zukunft, jener weite Bereich, in dem noch unwahrscheinlich viel Unbekanntes auf ihn und die Menschheit wartete. Was sollte er noch hier in den Sälen?
Er kehrte in jenen mit der Vitrine des Goldenen Menschen zurück. Diese Vitrine wies eine Besonderheit auf, die sie von allen anderen unterschied: sie war der Zugang zu einem weiteren Antigravschacht mit einer bestuhlten Plattform, die in rund 2000 Metern Tiefe ein Planetarium in einem Kuppelsaal erreichte. Hier gab es ein dreidimensionales Abbild der gesamten Milchstraße, und über eine Gedankensteuerung konnte man sich in gewünschte stellare Bereiche versetzen lassen, um sich die Projektion aus der Nähe anzusehen oder auch von dort aus andere Sternkonstellationen aus anderen Perspektiven zu betrachten. Außerdem gab es in der Tiefe die große Funkstation, für die der goldene Mensch selbst als hoch aufragende Figur die Antenne darstellte. Gigantische Energieerzeuger sorgten dabei für unglaubliche Reichweiten des Hypersenders, die selbst von der elektromagnetischen Strahlung damals kaum zu beeinträchtigen gewesen war. Parallel zu diesem A-Gravschacht gab es auch noch eine Transmitterstraße, die den Zugang nach unten wesentlich erleichterte und seinerzeit von Chris Shantons Roboterhund Jimmy entdeckt worden war. Dhark stellte fest, daß die Stimmung unter den Forschern sich verändert hatte. Vom anfänglichen Enthusiasmus war nichts mehr festzustellen. Sie wirkten teilweise eher gelangweilt; die Vitrinen interessierten sie nicht wirklich. Immer stärker wurde in Dhark das Gefühl, daß sie glaubten, ihm durch ihre Aktion einen persönlichen Gefallen zu tun. Und er selbst… Das einzige, was ihn hier wirklich berührte, war der gräßlich verstümmelte Goldene, aber nichts deutete darauf hin, daß sich hier neue Erkenntnisse gewinnen ließen. Er war eben ein Nichts im Nichts und ins Nichts vertrieben. Kein Hinweis auf seine Herkunft, auf seine Historie. Damals hatte Dhark auf dem ersten Rückflug von Saiteria nach Terra Olan darauf angesprochen, dem er damals noch dessen Lüge
geglaubt hatte, einer der letzten noch lebenden Mysterious zu sein. »Wir haben auf vielen Planeten, die ihr verlassen hattet, eine Statue gefunden, die einen goldenen Menschen ohne Gesicht darstellt. War diese Plastik für euch eine Gottheit?« »Eine Gottheit?« entfuhr es Olan. »Seit wann sind Grakos Götter? Die höllischen Unsichtbaren mit ihren unsichtbaren Riesenstationen, die nur im Todeskampf sichtbar wurden, und dann, Dhark… dann sahen sie aus wie du und ich, wie alle hier, nur war ihre Haut golden und ihr Gesicht wunderbar anzusehen. Und doch waren sie die grausamsten Teufel zwischen allen Sterneninseln, die nur eines kannten: morden, morden, morden…!« Und er fügte noch hinzu: »Nach mehr als dreißigtausend Jahren sind sie wieder aus ihren Löchern gekommen! Oh, jetzt bin ich sicher, daß ich noch lange leben werde. Von dir, Dhark, verlange ich ein Kommando, wenn ich wieder gesund bin, und mit mehr als einer Million Robotraumern werde ich die Grakos bis an die Grenzen des Alls jagen. Ich will es sein, der den Befehl an die Roboter gibt, sie ein zweites Mal auszurotten. Danach wird auch auf der Erde eine Plastik des goldenen Menschen als immerwährende Mahnung stehen.« Nichts davon hatte sich bewahrheitet. So wie der Salter kein Mysterious war, sondern nur einem wenn auch einstmals bedeutenden Hilfsvolk der Worgun angehörte, so waren die Grakos nicht mit den Goldenen identisch. Alles war auf Lug und Betrug aufgebaut, und bald darauf waren Olan und die anderen nach Terra geholten letzten Salter gestorben. Niemand konnte sie mehr befragen. Niemand konnte mehr die Worgun selbst fragen, denn sie hatten sich in ihrer Galaxis Orn gegen Besuch von Terra abgeschottet. Hier gab es nirgendwo Hinweise, auch kein Archiv, dessen Mentcaps man entsprechendes Wissen entnehmen konnte, und die Kommentatorenstimme war alles andere als eine erschöpfende Informationsquelle. Wissen, im Nichts verloren, dachte Ren. Was sollten sie noch hier? Es brachte nichts, noch weitere Zeit im
Sockel zu verbringen. Er war der erste, der den goldenen Menschen wieder verließ. * Der Roboter Artus hatte sich nach seinem Disput mit Fähnrich Azhari weitgehend zurückgehalten. Ihm war nicht anzusehen, welche Gedankenprozesse in seinen zusammengeschalteten Rechnerkapseln abliefen, die in ihrer Gesamtheit seine Künstliche Intelligenz darstellten. Erst als sie sich alle wieder in der POINT OF befanden, trat er zu Ren Dhark und fragte: »Kannst du mir eigentlich erklären, Dhark, warum du die Untersuchung wieder abgebrochen hast? Du warst doch schließlich zu Anfang auch sehr wißbegierig.« Dhark stutzte. Mit leicht gerunzelter Stirn sah er den Blechmann an. »Was willst du damit sagen, Artus?« »Daß wir uns den ganzen Aufwand komplett hätten sparen können, wenn es so ausgeht wie jetzt«, sagte der Roboter. »Erst den Forschungstrupp und die technische Ausrüstung zusammenstellen, hintransportieren, durch den kompletten Goldenen, dann im Vitrinensaal ein bißchen Spazierengehen, und alles wieder zurück! Neue Erkenntnisse hat das doch nicht gebracht.« »Eben deshalb habe ich ja abgebrochen«, sagte Dhark. »Können wir jetzt abfliegen und Babylon verlassen, oder müssen wir erst noch eine Grundsatzdiskussion führen?« »Du bist der Chef«, gestand Artus zu. »Aber wir haben doch einfach nur dumm herumgestanden, statt zu forschen und auszuwerten! Das paßt nicht zu dir, Dhark. Du bist doch sonst eher ein forscher Forscher anstelle eines lustlosen Würden- und Bürdenträgers.« Jetzt fängt der auch noch mit Wortspielereien an! Ren Dhark seufzte. Blieb ihm heute nichts erspart? Erst die Störung, als er und Amy… hm, und es drängte ihn ein wenig, nachzuholen, wodurch sie durch Rikers Störung abgehalten worden waren. Dann die sinnlose Expe-
dition in den Goldenen, die nun wirklich nichts an neuen Erkenntnissen gebracht hatte, und jetzt auch noch der Redeschwall dieses Roboters. »Was also willst du?« fragte er etwas harsch. »Mich noch einmal genauer in dem Saal umsehen. Ich bin sicher, daß wir bei weitem nicht alle unsere Möglichkeiten ausgeschöpft haben.« »Blödsinn«, ließ sich Dan Riker vom Kommandopult aus vernehmen. »Ren, laß dich nicht dummschwatzen. Wir haben einen Schulungsflug zu absolvieren und…« »Pardon, aber so etwas gehört auch zur Schulung, genauer gesagt zur Wissensbildung«, beharrte Artus. »Ich würde gern noch einmal diesen Saal aufsuchen. Darf ich die drei jungen Cyborgs mitnehmen? Ihre Programmgehirne können noch am ehesten verarbeiten, was wir eventuell finden, und über ihren Logikbereich auf Dinge hinweisen, die ein Mensch übersehen würde – wie es offenbar bereits geschehen ist.« Dhark seufzte erneut. »Da gibt es nichts mehr zu finden«, sagte er. »Sonst wäre ich bestimmt der letzte, der aufgeben würde. Aber…« »Ja oder ja?« drängte der Roboter. »Kannst du dich vielleicht auch mal entscheiden?« »Wenn es dich denn glücklich macht«, stöhnte Dhark. »Aber mehr als fünf Stunden gebe ich euch nicht. Und wenn ihr tatsächlich fündig werden solltet…« »Werde ich sofort telefonieren«, versprach Artus. »Nach Hause…« Dabei hob er die Hand wie zum Schwur und streckte einen Metallfinger hoch. Jemand lachte. »Wo hat er das denn her?« fragte er. »Zuviel uralte Filme gesehen, wie?« »Nur die besten«, gestand Artus, und für einen Moment schien es Dhark, als versuche der Roboter mit seiner künstlichen Stimme ein vergnügtes Lachen zu produzieren. Aber das konnte nur ein Irrtum
sein. Er zuckte mit den Schultern. »Fünf Stunden«, wiederholte er. »Wenn ihr dann noch nicht wieder hier seid, fliegt die POINT OF ohne euch ab.« * Auch die drei jungen Cyborgs, die den Disput zwischen Dhark und Artus in der Zentrale nicht mitbekommen hatten, wunderten sich, was sie noch einmal in dem Saal sollten. Sie hielten alles für geklärt. Und so ganz geheuer war ihnen auch nicht, daß ausgerechnet der Roboter die Leitung dieser zweiten »Expedition« innehatte. Artus deutete mit metallischer Hand auf einen der Cyborgs. »Darf ich dich bitten, auf dein Zweites System umzuschalten, Brack?« Percival »Val« Brack, wie seine Kameraden Igor Chronnow und Kai Nunaat, dessen Urgroßeltern in Grönland noch Robben und Eisbären gejagt hatten, Cyborg der brandneuen »G-Serie« aus Echri Ezbais medizinischem Forschungs- und Entwicklungszentrum im Brana-Tal, sah den Ukrainer und den Eskimo an und nickte dann. »Wenn die Stabilität deines Programmgehirnkonglomerats davon abhängt«, seufzte er. »Nicht gerade, aber es könnte der Wahrheitsfindung dienlich sein«, gab der Roboter zurück. Brack schaltete um. Im gleichen Moment übernahm sein Programmgehirn die Steuerung seines Körpers und auch die logischen Denkprozesse. Aber damit aus dem Menschen dennoch keine gefühlskalte Maschine wurde, die nur äußerlich noch biologischer Natur war, stand das Programmgehirn mit dem eigentlichen Gehirn des Menschen Val Brack über eine Rückschaltphase in permanenter Verbindung. Die wurde nicht einmal unterbrochen, wenn der Cyborg phantete und dabei vorübergehend alle Flüssigkeiten und Gase in seinem Körper gebunden wurden, so daß er selbst auf heißen oder unterkühlten Extremwelten, unter Wasser oder erhöhter Schwerkraft und sogar im luftleeren Weltraum ohne weiteren Schutz agieren konnte. Das hatten Cyborgs, die das
modifizierte Phantvirus vom Planeten Bittan im 404-System in sich trugen, schon immer gekonnt. Neu an der G-Serie waren die modifizierten Programmgehirne, die jetzt zum Teil auf der Hyperkalkulator-Technik der Worgun beruhten. Damit konnten sie, ohne in der höherdimensional orientierten W-Mathematik extra geschult zu werden, auf deren Möglichkeiten zurückgreifen und schneller zu Ergebnissen kommen als die bisherigen Geräte. Eine weitere Verkleinerung der Prozessoren ging Hand in Hand mit der Leistungssteigerung. Das größte Implantat im Körper eines Cyborgs war nunmehr also definitiv das Phantdepot, das nicht weiter verkleinert werden konnte. Sein Programmgehirn stellte dem Menschen Val Brack die Frage, ob Artus die Cyborgs um ihre neuartigen Prozessoren beneidete, trug er doch noch die alten Konstruktionen in sich. »Kann ich nicht bestätigen«, erwiderte Brack im lautlosen Zusammenspiel seinem Programmgehirn, weil er nicht wußte, ob Artus auch zu Gefühlen fähig war, aber ihn interessierte die Frage, ob eine entsprechende Zusammenschaltung von neuen Rechnern nicht auch einen höheren IQ ermöglichen würde. Allerdings müßte dazu auch der unbekannte Defekt in einem der 24 Programmgehirne nachgebildet werden. Aber um den zu finden, müßte man Artus auseinandernehmen. Und damit wäre der Roboter wohl kaum einverstanden. Mit einem der Schweber, die noch vor der POINT OF parkten, flogen sie noch einmal den Goldenen Menschen an. Artus spielte den aufmerksamen Beobachter und schien alles zu registrieren, was Brack, Chronnow und Nunaat taten. Wieder suchten sie die Vitrine auf, in welcher sich der goldene Mensch ohne Gesicht befand. »Was schwebt dir vor, auf welche Weise wir ihn untersuchen sollen, Genosse Roboter?« fragte Igor Chronnow etwas spöttisch. »Wir sollten versuchen, die Vitrine zu öffnen, um besser an dieses Wesen heranzukommen«, schlug Artus vor. »Wenn wir das tun, zerstören wir möglicherweise das Kon-
servierungssystem, und er verwest, bevor wir ihn auch nur halb draußen haben«, warnte Nunaat. »Zudem sollten wir sehr vorsichtig sein, wenn wir uns mit ihm befassen. Darf ich daran erinnern, daß Doktor Tschobe und seinem Team seinerzeit ein Giant um die Ohren geflogen ist, als sie den Schlangenkörper in ihm einer Sondierung unterzogen?« »Woher weißt du denn das?« brummte Chronnow. »Ich habe darüber gelesen«, erläuterte der Grönländer. »Ist ja nicht jeder so halbgebildet wie ihr… Es war zur Zeit der Giant-Invasion. Einer dieser All-Hüter war in Gefangenschaft geraten, und Doc Tschobe war der festen Überzeugung, es mit einem Roboter zu tun zu haben, auch wenn die Biohülle der Giants organisch war und sie sich nicht nur mit ihrer an zischende Schlangen erinnernden Sprache, sondern auch auf Para-Ebene verständigen konnten. Bei der Sondierung stellte sich heraus, daß es eine ständige Wechselwirkung zwischen organischen und biologischen Komponenten gab, und in dem Schlangenkörper befand sich das Gehirn des Giant. Dummerweise war das mit einer kleinen Atombombe versehen, die prompt zündete und die gesamte Medostation samt Personal verstrahlte. Commander Dhark soll nicht gerade erbaut davon gewesen sein. Daß die Giants tatsächlich künstlich geschaffene Biostrukte waren, von den Worgun entwickelt, stellte sich erst sehr viel später heraus, weil Dhark jede weitere Forschung an den Giants untersagte.« »Langer Rede kurzer Unsinn: Du fürchtest, daß auch in diesem Goldenen so ein kleiner Sprengsatz steckt«, faßte Chronnow zusammen. »Ja.« Val Brack hielt sich aus der Diskussion heraus. Sein Programmgehirn sah keinen Grund, sich einzumischen. Nunaat trat bis dicht an die Vitrine heran. Wieder klang die Stimme des unsichtbaren Kommentators auf: »Ein Nichts im Nichts, und ins Nichts vertrieben!« »Langsam kann ich’s nicht mehr hören«, sagte Chronnow. »Die
von Dhark genehmigten fünf Stunden sind zwar noch lange nicht ‘rum, aber hier finden wir doch nichts Neues mehr heraus. Ich schlage vor, daß wir zur POINT OF zurückkehren.« Nunaat trat zurück. »Einverstanden.« Die beiden Cyborgs wandten sich zum gehen. Nur Val Brack blieb stehen. Sein Gesicht zeigte leichte Überraschung. »Stop!« rief Artus den beiden anderen nach. »Merkt ihr eigentlich überhaupt nicht, was hier passiert?« * »Warum hast du den Roboter und die drei Jungspunde allein gehen lassen, Ren?« fragte Amy Stewart indessen. »Bist du nicht neugierig?« »Worauf willst du hinaus?« Sie befanden sich wieder in ihrer Kabine. Ren wirkte gelangweilt und machte den Eindruck, als wolle er sich ein paar Stunden zum Schlaf niederlegen, traue sich aber nicht so recht. »Glaubst du im Ernst, daß da noch was zu entdecken ist?« setzte er nach, als Amy zögerte. »Wir haben damals nichts gefunden, die Babylon-Siedler haben auch keine aufsehenerregende Entdeckung gemacht…« »Weil sie sich einfach nicht darum gekümmert haben«, unterbrach ihn die schlanke, 26jährige Frau, der man nicht ansah, zu welchem reaktionsschnellen Kraftbündel sie werden konnte, wenn sie in den Einsatz ging. »Aber warum hat sich niemand damit befaßt? Der Goldene in der Vitrine ist eines der größten Geheimnisse, die die Worgun uns hinterlassen haben! Da stimmt doch etwas nicht.« »Hat Artus dich so sehr beeinflußt?« fragte Dhark träge. »Seine Hartnäckigkeit hat mich nachdenklich gemacht«, gestand sie. »Dich nicht? Er scheint etwas zu wissen, das er uns noch nicht verraten will, und das hat mit dem Goldenen und unserem Verhalten zu tun.« »Sagt dir das dein Cyborggehirn?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein gesunder Menschenverstand. Was hältst du davon, wenn wir uns von Artus einen Zwischenbericht geben lassen?« »Wir warten noch«, entschied Dhark. »Wenn sie wirklich etwas herausfinden, das uns allen in all den Jahren entgangen ist, werden sie sich schon noch melden. Aber ich glaube nicht daran, und deshalb will ich sie auch nicht stören. Gerade Artus reagiert manchmal ziemlich… hm… bockig, wenn man ihn unter Druck setzt, und so wird er sich dann auch fühlen.« »Ein Roboter mit Gefühlen…«, sann Amy Stewart. »Sag mal, Ren, warum hast du mich nicht mit losgeschickt?« »Bist du auch ein Roboter mit Gefühlen?« grinste er. »Nein, Amy… ich will einfach wissen, was die neuen Hyperkalkulator-Programmgehirne leisten können, wenn sie gefordert werden. Diskussionsbeiträge eines >normalen< Cyborgs könnten das verfälschen.« »Die Beiträge von Artus etwa nicht?« fragte sie stirnrunzelnd. »Er ist eben nur Roboter ohne menschliche Komponente, auch wenn er oft behauptet, menschlicher als wir Menschen zu sein. Cyborgs sind aber – pardon – Gemischtwesen, wenn ich den Begriff mal erfinden darf.« »Dieses Gemischtwesen hat keine Lust, darüber zu diskutieren«, murrte Amy. »Mich interessiert viel mehr, ob die Gruppe tatsächlich etwas entdeckt. Ich rufe Artus jetzt doch mal an!« Sie aktivierte die Bordsprechanlage. »Stewart an Funk-Z. Bitte eine Verbindung zu Artus schalten…« * »Was meinst du, Artus?« fragte Kai Nunaat. »Was soll hier passieren? Weißt du mehr, als du uns bisher gesagt hast?« »Schaltet doch bitte auch auf euer Zweites System um, Nunaat und Chronnow«, forderte der Roboter.
»Ich wüßte nicht, was das bringen sollte«, sagte Chronnow. »Es reicht doch, wenn Brack umgeschaltet hat. Und Brack hat auch nicht…« »Schaltet um, Kollegen«, verlangte der jetzt. »Ich ahne, worauf Artus hinaus will.« Die beiden anderen schalteten um. »Wollt ihr immer noch aufgeben und zur POINT OF zurück?« fragte der Roboter. »Sicher«, sagte der Ukrainer. »Falls es nicht doch noch etwas gibt, was wir alle übersehen haben.« »Wir haben etwas übersehen«, behauptete Artus. »Und zwar eine mentale Beeinflussung, die biologischen Wesen suggeriert, hier gäbe es nichts zu entdecken.« »Selbstdiagnose«, befahl Brack. Drei Programmgehirne, die auf Basis der Worgun-Mathematik arbeiteten, begannen das Verhalten der Cyborgs zu analysieren und es in Relation zu dem des KI-Roboters zu bringen. Ihre Reaktionen vor dem Umschalten und danach wurden ausgewertet. »Die biologischen Gehirne scheinen tatsächlich einer Beeinflussung zu unterliegen«, faßte Kai Nunaat zusammen. »Nur bei künstlichen Gehirnen ist eine Manipulation nicht möglich oder zumindest äußerst schwierig.« »Und eure und meine Programmgehirne sind künstlich«, bekräftigte Artus. »Das ist es! Es gibt hier eine Para-Zone, die alles Biologische beeinflußt und davon abhält, die Vitrine mit dem Goldenen näher zu untersuchen. Und die muß sogar auf Worgun wirken, denn auch Gisol alias John Brown zeigte kein Interesse, sie sich anzusehen, als er auf Babylon war! Dabei wäre es nur natürlich gewesen, wenn der Worgun sich wenigstens kurz dem Goldenen gewidmet hätte, den Gisols Vorfahren einst hier verstümmelt und ausgestellt haben!« »Bist du sicher?« fragte Val Brack. »Ziemlich. Gisol hat nie von dem Vitrinen-Goldenen gesprochen,
und er hat sich auch nie für ihn interessiert. Das ist ungewöhnlich.« »Du meinst also, diese Para-Sperre, die eine nähere Untersuchung verhindert, wirkt auf alle Lebewesen?« »Zumindest auf alle Lebewesen biologischer Natur«, bezog Artus sich in den Oberbegriff »Lebewesen« ein und grenzte sich dabei trotzdem strikt ab. Er fuhr fort: »Solange ihr über euer Zweites System denkt, seid ihr auch unangreifbar, so wie jeder Roboter.« »Und wie du. Vielleicht sollten nur Roboter eingesetzt werden, um diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen«, schlug Nunaat vor. »Normale Roboter gehorchen nur ihrem Programm und den Befehlen der Menschen«, sagte Artus. »Das hat keinen Zweck. Ein manipulierter Mensch ruft sie wieder zurück, und damit ist das Projekt beendet.« »Und du?« »Ich weise darauf hin, daß ich eben kein normaler Roboter bin, sondern über einen eigenen Willen verfüge«, erklärte Artus. »So konnte ich das Verhalten der Menschen unbefangen und neutral beobachten. Dieser letzte Test bringt mir einen Wahrscheinlichkeitswert von 97 Prozent.« »Doch nicht hundert?« fragte Brack gelassen. Der blonde Hüne sah Artus nachdenklich an. Sein Äußeres verriet nicht, daß er sein Zweites System aktiviert hatte. Nur wer sehr genau hinhörte und ihn sehr gut kannte, bemerkte vielleicht, daß seine Stimmlage um eine winzige Nuance verändert war. Das war für alle Cyborgs typisch. »Hundertprozentige Wahrscheinlichkeit gibt es nie«, behauptete Artus. »So wenig wie hundertprozentigen Alkohol«, sagte Chronnow. »Ab 99 Prozent explodiert er auf jeden Fall. Weiter konzentrieren läßt er sich niemals.« »Schnaps ist Schnaps und Dienst ist Dienst«, kommentierte Nunaat. »Wir sind hier im Dienst, Jungs. Okay, wir haben hier also eine Para-Sperre. Was machen wir mit dieser Erkenntnis? Wie können wir sie durchbrechen?«
»Indem wir zunächst herausfinden, was sie erzeugt«, schlug Chronnow vor. Es war der Moment, in dem die Funk-Z der POINT OF sich meldete. * Ren Dhark war bestürzt, als er mithörte, was der Roboter und die Cyborgs zu berichten hatten. In einem schnellen Impuls schaltete er die Bordsprechanlage auf Rundspruch um, so daß jeder im Schiff mithören konnte, was über Funk gesagt wurde. »Eine Para-Sperre«, überlegte Ren Dhark. »Wir müssen also von einem starken hypnotischen Feld ausgehen, das Lebewesen daran hindert, die Vitrine des Goldenen zu untersuchen…« »Das muß aber ein wirklich extrem starkes Feld sein, das über einen sehr langen Zeitraum posthypnotisch wirkt«, gab Amy Stewart zu bedenken. »Immerhin berührt es uns sogar noch hier im Ringraumer.« »Und darüber hinaus bis zum Sol-System«, ergänzte Artus. »Wie kommst du darauf?« wollte Dhark wissen. »Wer war denn der einzige, der nach dem Übungsalarmstart alle anderen erst davon überzeugen mußte, daß es sich lohnt, hierher zu kommen?« fragte Artus zurück. »Ich, der Roboter!« Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Komme jetzt keiner auf die Idee, mir eine Robotpsychologin wie Doktor Suzan Calvin auf den Hals zu hetzen! Ich kann mich immer noch allein analysieren. Meine Logik funktioniert nach wie vor einwandfrei.« »Du befürchtest, man hält dich für verrückt, weil du eine so unglaubliche Behauptung aufgestellt hast?« »Ja, Stewart«, beantwortete Artus die Frage des weiblichen Cyborgs. »Wie sieht es jetzt aus? Kannst du den Commander überreden, uns weitere Untersuchungen anstellen zu lassen und die Fünfstunden-Beschränkung aufzuheben?«
»Schon überredet«, rief Dhark. Und im gleichen Moment meldete sich über die Rundrufanlage der Sibirier Arc Doorn. »Ich habe da eine Idee…«
3. Die Idee des Roboters, daß das Parafeld seine Wirkung dauerhaft entfaltete, auch ohne weiteren direkten Kontakt, hielt Dhark für gar nicht mal so abwegig. Hatten sie etwas Ähnliches nicht auch mit den ungeheuren Parakräften der Shirs vom Planeten Saiteria erlebt, als sie die letzten Salter zur Erde brachten? Daran mußte auch Arc Doorn gedacht haben, aber dem war gleich noch etwas eingefallen. »Dhark, seit unserer Drakhon-Expedition verstauben doch die nogkschen Parafeld-Abschirmer in einem unserer Depots! Was halten Sie davon?« Ren Dhark hielt davon eine ganze Menge. Er ließ ein paar der Abschirmer in die Zentrale holen, in der er sich mit Amy Stewart inzwischen eingefunden hatte. Diese Stirnreifen, damals von den Nogk in terranischem Auftrag angefertigt, sollten die Gehirne der Menschen vor fremder Beeinflussung schützen. Dhark setzte eines der Geräte auf. »Und? Verändert sich etwas an deiner inneren Einstellung gegenüber der Vitrine?« wollte Amy wissen. Der Commander runzelte die Stirn. »Eigentlich nicht«, sagte er nach einer Weile nachdenklich. »Je länger ich darüber grübele, desto weniger Sinn sehe ich darin.« Er klang schon wieder gar nicht mehr so euphorisch wie vor ein paar Minuten, als Artus mit seiner phänomenalen Erkenntnis kam. Er legte allmählich wieder sein vorheriges, gelangweilt-ablehnendes Desinteresse an den Tag. Auch Doorn hatte sich offenbar mehr davon versprochen. Er war der erste, der den Stirnreif wieder abzog. Keiner von ihnen spürte das Verlangen, zu dem Goldenen zurückzukehren. »Es bleibt bei der gewährten Zeitspanne, Artus«, sagte Ren Dhark
in das Feldmikrofon der Bordsprechanlage, die via Funk-Z mit der kleinen Gruppe verbunden war. »Nicht mehr und nicht weniger.« »Einspruch«, protestierte Artus. »Die Abschirmer können bei euch nicht richtig wirken, weil ihr ja schon dem Einfluß des Parafeldes unterworfen wart. Reißt euch zusammen und denkt noch einmal gründlich darüber nach. Wir sind hier einer ganz großen Sache auf der Spur. Die solltest du dir nicht entgehen lassen, Dhark!« »Der nervt schon wieder«, brummte Doorn. »Meine drei Cyborgs haben eine Wahrscheinlichkeit von 97 Prozent für meine Annahme errechnet. Meine eigene Einschätzung liegt ebenso hoch.« »Seine Cyborgs, au ja«, sagte Dan Riker im Hintergrund. »Daß der in seinem eigenen Größenwahn noch nicht verglüht ist…« »Wahnsinn ist nur die Vorstufe der Genialität«, behauptete Artus über Funk. »Ich habe die Vorstufe bereits hinter mir.« »Der muß doch bei einem Robotpsychologen in Behandlung«, grinste Stewart. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wie sieht es aus, Ren? Artus könnte recht haben!« »Wir brauchen eine Vergleichsgruppe im Schutz der Abschirmer«, schlug der Roboter vor. »Bekommt ihr die zusammengestellt? Dann laßt euch bald hier blicken.« Dhark seufzte. »Damit dieser Blechkumpel endlich Ruhe gibt – ja! Amy, Arc, wir gehen mit ein paar Begleitern hinüber und sehen uns noch einmal um. Aber ich glaube immer noch nicht wirklich daran, daß wir damit etwas erreichen.« * Dhark hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern ausgewählt, die bisher den Ringraumer noch nicht verlassen hatten und demzufolge nicht in das Beeinflussungsfeld geraten sein konnten. Dazu kamen er selbst, Manu Tschobe und Arc Doorn sowie der weibliche Cyborg.
Sie alle trugen die Parafeld-Abschirmer, mit Ausnahme Amys, die auf ihr Zweites System umgeschaltet hatte. Das mußte reichen, weil es auch bei den drei anderen Cyborgs gereicht hatte. »An eine Para-Beeinflussung habe ich auch schon gedacht«, brachte es Tschobe endlich fertig, über seine Gedanken während des Fluges nach Babylon zu reden. Kurz unterhielt er sich auch mit Artus und den Cyborgs, als sie diese erreicht hatten. Zum Erstaunen aller enthielt sich der Roboter einer triumphierenden Bemerkung. Wieder standen Menschen und Roboter vor der Vitrine, und wieder hörten sie den Kommentar: »Ein Nichts im Nichts, und ins Nichts vertrieben!« Aber diesmal verspürte keiner von ihnen einen Einfluß, der sie zur Rückkehr in die POINT OF veranlaßte – auch Dhark und Doorn nicht. Dabei waren sie im Ringraumer noch skeptisch und ablehnend gewesen! Jetzt schützten die Parafeld-Abschirmer sie vor dem hypnotischen Einfluß. Ren fragte sich, warum Doorn und er jetzt ebensowenig betroffen waren wie die Abgeschirmten, während es sie beide in der Entfernung noch erwischt hatte. Schwand der Einfluß der Sperre mit der Zeit und mußte hin und wieder erneuert werden, oder steckte noch etwas anderes dahinter? Völlig verrückt wird es, wenn eine fremde Entität dahintersteckt, die jetzt ihr Bemühen aufgibt, weil sie begreift, daß sie mit uns nicht fertig wird! dachte er. Arc Doorn zog seinen Blaster und kalibrierte ihn auf geringste Energieemission. Dann gab er einen Schuß auf die Vitrine ab. Alle zuckten zusammen, aber Ren erinnerte sich, daß damals der Robothund Jimmy aus ungeklärtem Grund auch auf die Vitrine gefeuert hatte, die daraufhin eine verblüffende Reaktion zeigte. Die zeigte sie jetzt auch wieder. Der Strahlschuß war ein Schlüssel! Die Vitrine zeigte keinen Schaden, aber sie kippte leicht und verschwand dann blitzschnell im Boden, um einen Antigravschacht freizugeben, in dem eine Plattform mit Bestuhlung darauf wartete,
betreten zu werden und ihre Benutzer abwärts zu fahren. Seit langem hatte niemand diesen Weg mehr benutzt, weil die Transmitterstraße einen schnelleren Ortswechsel ermöglichte. Aber auch jetzt benutzte niemand die Plattform. Statt dessen bat Dhark den Cyborg Brack, vom Zweiten System auf Normal zurückzuschalten. Brack bestätigte. Aber er zeigte jetzt keine Neigung, die Gruppe zu verlassen. Nach einer Weile verschwand die Plattform wieder, und die Vitrine samt Inhalt glitt aus dem Boden empor und nahm wieder ihren gewohnten Platz ein, als sei nichts geschehen. »Was jetzt?« fragte Doorn. In diesem Moment setzte sich Val Brack in Bewegung und schritt etwas zögernd davon. »Wo wollen Sie hin, Brack?« rief Dhark ihn an. »Zurück ins Schiff«, erwiderte der Cyborg. »Hier gibt’s doch nichts mehr zu erforschen, und die verbleibende Zeit kann ich in der POINT OF mit Lernprogrammen und Training besser nutzen, als hier Däumchen zu drehen und mir die Beine in den Bauch zu stehen. Spricht etwas dagegen, Commander?« »Der Dienstweg«, sagte Dhark trocken. »Sie hätten sich erst bei mir beziehungsweise bei Artus abmelden müssen, statt sofort loszumarschieren.« »Pardon, Sir. Kann ich jetzt gehen?« »Nein«, sagte Dhark. »Wir brauchen Sie hier noch. Schalten Sie wieder auf Ihr Zweites System.« »Wozu soll das gut sein?« murrte der Cyborg. »Ich sage es nur ungern, aber ich habe Ihnen eine eindeutige Anweisung gegeben, Brack. Befolgen Sie sie, oder Sie beweisen damit Ihre Untauglichkeit als Cyborg. Was dann aus Ihnen wird, dürfte klar sein.« Brack zuckte zusammen. Man würde die künstlichen Komponenten wieder aus seinem Körper entfernen und ihm die Erinnerung nehmen!
»Ich protestiere, Commander. Sie sind kein Angehöriger der Flotte oder des Cyborg-Korps, sondern Privatier. Ich brauche von Ihnen keine Anweisungen entgegenzunehmen. Ich werde mich bei C. S. Houston beschweren.« Der war nach wie vor Chef der Cyborg-Truppe. »Hör zu, Freundchen«, kam Doorn dem Commander zuvor. »Dein Mister Houston hat dich auf die POINT OF abkommandiert, und deren Kommandant ist Ren Dhark, ob er nun einen Dienstrang hat oder nicht. Also befolgst du den Befehl, oder du wirst unter Arrest gestellt und auf direktem Weg zum Brana-Tal gebracht. Kapiert?« Brack sah, daß Artus einen Paraschocker auf ihn richtete, um ihn auszuschalten. Als Cyborg war er gegen die Lähmstrahlung immun, als normaler Mensch nicht. »Das erste asimovsche Robotergesetz…« murmelte er. »Komm mir nicht damit«, warnte Artus. Da gab Val Brack auf und schaltete wieder auf sein Zweites System um. Im gleichen Moment war er durch Artus’ Paraschocker nicht mehr gefährdet, aber er begriff auch, daß er sich unsinnig verhalten hatte, solange er »nur« Mensch gewesen war. Und es gab nichts mehr, das ihn zur POINT OF zurückschicken wollte. »Verdammt«, murmelte er und wischte sich über die Stirn. »Verzeihen Sie, Commander. Ich…« »Schon gut«, sagte Dhark. »Beim nächsten Mal befolgen Sie einfach nur meine Anweisungen. Sie können sicher sein, daß ich mir etwas dabei denke.« Amy sah ihren Lebensgefährten an. Den hatte der Forscherdrang jetzt doch gepackt! Er wollte wissen, was es mit der Vitrine auf sich hatte! * Sie versuchten, dem Phänomen auf den Grund zu gehen.
Erneut wurden Meßinstrumente eingesetzt, die sie aber nicht sehr viel weiterbrachten. Artus hatte nichts anderes erwartet. Er wandte zusammen mit den Cyborgs eine weitere Methode an, die vorwiegend auf Berechnungen basierte. »Die Vitrine ist nicht real«, behauptete er schließlich. »Aber wir haben sie doch hier vor uns, wir können sie berühren. Wieso sollte sie nicht real sein? So fantastisch kann Hypnose gar nicht sein, daß sie uns ein virtuelles Bild vorgaukelt!« widersprach Arc Doorn in der für ihn typischen mürrischen Art, mit der er sich nicht immer Freunde schuf. »Formenergie«, schlug Artus vor. »Und woher stammt die? Aus der gleichen Quelle wie das Hypnofeld?« fragte Dhark. »Daran müssen wir noch arbeiten«, sagte der Roboter und erteilte den anderen wie selbstverständlich Anweisungen, die sie auch größtenteils widerspruchslos ausführten. Nur Doorn gab hin und wieder einen Kommentar von sich. Amy Stewart nahm Ren Dhark beiseite. »Die Initiative, die dieser Roboter zeigt, ist mir nicht geheuer«, raunte sie ihm zu. »Und daß er eine Waffe auf Val Brack richtete, um deinen Befehl durchzusetzen…« »Meine Anweisung«, korrigierte der Commander leise. »Befehle erteile ich nicht, da hat Brack recht: Ich gehöre nicht zum Flottenapparat. Aber ich kann nicht sagen, daß Artus sich zum Negativen hin entwickelt. Die asimovschen Gesetze gelten für ihn nicht, da er keine Maschine im herkömmlichen Sinne ist. Für ihn gelten nur die terranischen Gesetze wie für alle anderen Staatsbürger auch.« Val Bracks Stimme ertönte. »Vorsicht – Lasermessungen.« Warum er warnte, war Ren nicht ganz klar, der sich der Idee nicht anschließen konnte, die Vitrine sei aus Formenergie geschaffen. Warum reagierte sie dann auf schwachen Strahlbeschuß wie ein Schalter, der den Zugang zum Antigravschacht freigab? Dabei war es egal, an welcher Stelle die Vitrine getroffen wurde. Fest stand
inzwischen, daß es einer ganz bestimmten Energiemenge bedurfte, um diesen Effekt auszulösen. Die erlaubte Abweichung von diesem Energiewert betrug plus/minus fünf Prozent, war also ziemlich gering. Hatte Robothund Jimmy damals irgendwie berechnet, wie stark sein Strahlschuß sein mußte, oder war es ein Zufall gewesen? An den glaubte Dhark erst recht nicht. Jimmy mußte etwas bemerkt haben, ebenso wie später Artus, nur hatte der Robothund keine Möglichkeit besessen, die anderen darüber zu informieren, und die Menschen hatten sich nicht weiter damit befaßt. Unter dem Einfluß der Parasperre… »Fertig…!« Das war wieder Val Brack, der ein schweres Meßinstrument mit gleicher Leichtigkeit bewegte wie eine Zigarettenschachtel. »Dann wollen wir mal!« Einige Minuten später stand das Resultat der Messungen fest. Die Vitrine bestand tatsächlich aus Formenergie! Wo sie erzeugt wurde, um die Vitrine stabil zu halten, ließ sich nicht feststellen, aber dafür etwas anderes. Von ihr ging ein Energiefluß aus, der in unbekannte Tiefen der goldenen Statue führte. »Das sehen wir uns näher an«, entschied Dhark. »Können Sie dem Energiestrom bis ans Ziel folgen?« Brack tippte mit dem Fingerknöchel auf das Meßgerät. »Damit höchstwahrscheinlich.« »Dann los. Wir nehmen den Fahrstuhl.« »Warum nicht den Transmitter? Damit kommen wir schneller nach unten«, schlug Igor Chronnow vor. Aber Ren Dhark blieb bei seinem Entschluß. Ein Gefühl sagte ihm, daß dies in diesem Fall der bessere Weg war, und auf seine Gefühle hatte er sich bisher noch immer verlassen können. Wieder öffnete ein Schuß auf die Vitrine den Zugang. Die Forschergruppe betrat die Plattform und nahm auf den Sitzen Platz. Verblüffenderweise reichte die Bestuhlung exakt für sie alle aus. Nur Artus mußte sich mit einem Stehplatz begnügen. Hatte eine Überwachungseinrichtung ihn eindeutig als Maschinenkonstruktion er-
kannt? Kaum hatte der letzte von ihnen Platz genommen, als der Fahrstuhl sich ruckfrei in Bewegung setzte und abwärts glitt. Kurz darauf erreichten sie den Kuppelsaal mit der Sternkartenprojektion. Gigantisch und beeindruckend war die Wiedergabe, die dreidimensional die Galaxis mit ihren Spiralarmen in allen Einzelheiten zeigte, mit allen Sternen, Gas- und Materiewolken und auch Planeten, Monden und Asteroiden, wenn man per Gedankenbefehl eine entsprechende Ausschnittvergrößerung anforderte. Auch wie es in jahrtausendweiter Vergangenheit ausgesehen hatte, ließ sich feststellen. Auf einen entsprechenden Befehl hin nahmen die Sterne jene Positionen ein, die sie zum gewünschten Zeitpunkt innegehabt hatten, nur die Galaxis Drakhon, die jahrtausendelang mit der Milchstraße kollidiert war und dabei die unglaublichen Strahlenstürme erzeugt hatte, war zu keinem Zeitpunkt zu sehen. Die Drakhon-Sterne wurden perfekt ausgefiltert, auch wenn sie zuletzt schon teilweise in die Milchstraße integriert gewesen waren. Wieder spürte Ren den Drang, mitten in die Sternenprojektion hinaufzuschweben und die Konstellationen aus unmittelbarer Nähe zu betrachten, aber er ließ es dann doch bleiben. Sie waren aus einem anderen Grund hierher gekommen, als astronomische Forschungen zu betreiben oder sich einfach nur am Anblick der gewaltigen Sternpopulation zu ergötzen. Die technische Ausstattung hier wie in vielen anderen Teilen des Sockels war eindeutig Worgun-Entwicklung, während vieles andere, wie zum Beispiel die Funkstation und die Waffenzentrale in der goldenen Statue, Giant-Technologie war. Hier unten hatten sich aber nur die Mysterious mit ihrer Supertechnik häuslich eingerichtet. »Energiefluß ist nicht mehr feststellbar«, meldete Val Brack überrascht. Dhark fuhr herum. »Wann haben Sie ihn verloren?« »Das läßt sich nicht feststellen«, erwiderte der Cyborg, in dessen Stimme leichte Bestürzung aufklang. »Die Daten sind gelöscht wor-
den.« »Wiederherstellungsprogramm ablaufen lassen«, verlangte Dhark. »Programm nicht abrufbar!« Jetzt mußte Arc Doorn ‘ran, mit seinem fantastischen Einfühlungsvermögen in fremde Techniken. Er nahm sich das Meßgerät vor, das der Worgun-Technik entstammte. Er wollte schon kapitulieren, als es plötzlich in seinen Augen aufblitzte. »Hab ihn… die Meßdaten lassen sich zwar nicht wiederherstellen, aber der Zeitpunkt ist zu lokalisieren, an dem die Löschung erfolgte. Wir waren da noch im Schacht!« »Und da ist Ihnen nichts aufgefallen, Brack?« fragte Dhark. »Sir, ich habe die Anzeigen nicht ständig kontrolliert.« »Geholfen hätte das auch nicht«, verteidigte Artus den Cyborg. »Gelöscht ist gelöscht.« »Mein organisches Gehirn verzeichnete an einer bestimmten Stelle der Fahrt mit dem Fahrstuhl einen seltsamen Impuls«, sagte Amy Stewart plötzlich, »der offenbar dazu diente, es weiter dahingehend zu beeinflussen, sich um nichts bezüglich der Vitrine und des Schachtes zu kümmern. Es muß der Moment gewesen sein, an dem die Löschung stattfand.« »Warum sagst du das erst jetzt?« wunderte sich Ren Dhark. »Ich hielt es für unbedeutend.« Der Commander sah die anderen drei Cyborgs an. Kai Nunaat nickte. »Wir haben auch einen solchen Impuls verspürt, ohne ihn einordnen zu können.« »Na klasse«, seufzte Dhark. »Die Dame und die Herren machen eine Beobachtung, halten es aber nicht für nötig, uns andere zu informieren.« »Die Wahrscheinlichkeit, daß es von existentieller Bedeutung wäre, war zu gering«, behauptete Val Brack. Doorn richtete sich wieder von dem Meßgerät auf und wandte sich zu den anderen um. »Wie geht es jetzt weiter?« Dhark straffte sich.
»Wir nehmen die Stelle mal näher in Augenschein, an der unsere Cyborgs etwas gespürt haben.« * Den vor Beeinflussung geschützten Menschen gelang es, den Aufzug wieder nach oben in Betrieb zu setzen. In gleichmäßigem Tempo glitt die Plattform empor. Dhark hoffte, daß sein Plan funktionierte. »Jetzt!« sagte Amy Stewart. »Da war es wieder!« Sie waren bereits daran vorbei und wurden vom A-Gravfeld weiter empor getragen. Auch Brack, Nunaat und Chronnow bestätigten, daß ihre organischen Gehirne wiederum den Impuls verspürt hatten. Die durch die Parafeld-Abschirmer geschützten Menschen hatten wie auf dem Weg nach unten nichts bemerkt. Stop! befahlen Ren Dharks Gedanken der Plattform. Sofort stoppen! Tatsächlich hielt die bestuhlte Plattform an. Langsam wieder abwärts… Nur Meßgeräte verrieten den Richtungswechsel. »Jetzt!« kam es von Stewart. … und wieder stop! Die Plattform bewegte sich nicht mehr. Übergangslos war sie zum Stillstand gekommen, genau an jenem Punkt, an dem die Cyborgs den Mentalimpuls wahrnahmen. »1200 Meter Tiefe«, meldete Doorn. »Aber aus welcher Richtung kommt dieser Dreck?« Amy streckte den Arm aus. Sie deutete auf einen Punkt der Schachtwand. »Dann wollen wir doch mal wieder den Türschlüssel benutzen«, knurrte der Sibirier, hatte seinen Blaster wieder in der Hand und schoß mit schwacher Energie auf die von Amy angegebene Stelle. Wie zuvor die Vitrine, reagierte jetzt auch die Schachtwand auf den
Schuß und gab einen Durchgang frei, der diesmal aber nicht ab- oder aufwärts, sondern seitwärts führte. Im nächsten Moment glitt die Plattform mit der Forschergruppe in diesen Tunnel hinein! »Entweder wieder Formenergie, oder die Wand ist an dieser Stelle nur eine Holographie«, überlegte Brack. Der Tunnel, durch den die Plattform sie jetzt trug, war gut fünf Meter breit, und automatisch hatten die Abmessungen der Plattform sich verändert und angepaßt und dabei die Anordnung der Sitze verschoben. Schließlich erreichten sie eine Halle von etwa einhundert Meter Durchmesser und 25 Meter Höhe. Hier stoppte die Plattform ab und gab den Menschen Gelegenheit, sie zu verlassen und ihre Ausrüstung abzuladen. Kaum war das geschehen, als die Plattform wieder im Tunnel verschwand und dessen Zugang sich schloß. »Position markieren«, ordnete Dhark an. Dann machte er ein paar Schritte vorwärts und sah sich um. Es gab in der Halle nur wenige größere Aggregate. Das war erstaunlich, waren doch andere Räume im Goldenen und seinem Sockel trotz aller großzügigen Bauweise recht vollgestopft mit Technik. Allerdings gab es hier etliche Forschungsplätze im typischen Worgun-Stil, wie die Terraner sie aus einem Teil des Industriedoms von Deluge und aus Gisols Ringraumer EPOY kannten. Aber die eigentliche Überraschung zeigte sich in der Mitte der Halle. Die Vitrine mit dem verstümmelten Goldenen! * Verblüfft betrachteten sie die Vitrine. Sie war völlig identisch mit der, die oben im Saal stand und den Zugang zu den unterirdischen Einrichtungen verbarg. Sollte das hier…? Mißtrauisch umrundete Doorn das Objekt. Einmal legte er die Hand an den Blaster, als wolle er testen, ob auch diese Vitrine als
Schalter funktionierte, ließ es dann aber. »Dachte ich es mir doch«, sagte er nach einer Weile. »Die hier ist echt – und die oben im Saal eine Projektion, eine Art Holographie, die durch Formenergie stabil gehalten wird und den Eindruck fester Substanz macht.« »Woher wissen Sie das?« fragte Dhark. »Von der Apparatur, auf der die Vitrine steht.« Davon war auf den ersten Blick nichts zu sehen, aber dann zeigte Doorn ihnen, worauf sie zu achten hatten. Wieder einmal schüttelte nicht nur Ren Dhark den Kopf. Sie übersahen alle immer wieder, daß die Worgun Meister der Miniaturisierung waren, damals wie heute. Sie schafften es, die kompliziertesten Geräte in ultrakompakter Form platzsparend zu konstruieren. Die von Doorn erkannte Apparatur war gerade mal einen Zentimeter hoch und bestand aus einem blauviolett schimmernden Material, das das gesamte Gewicht der Vitrine trug. Die anderen hatten es für einen Standfuß oder Sockel gehalten. »In Wirklichkeit greift dieses Gerät die Vitrine gewissermaßen ab und projiziert die erfaßten Daten nach oben in den Vitrinensaal. Dort wird sie durch die Formenergie zum plastischen und berührbaren Bild.« »Offenbar wurde die Vitrine hier in dem Saal von Worgun analysiert, und in den Datenbanken sind bestimmt Ergebnisse zu finden«, sagte Artus. »Darauf deuten die Arbeitsplätze hin. Wir sollten versuchen, an diese Daten heranzukommen.« »Viel Spaß«, wünschte Doorn. »Das ist nichts für mich… ich probiere mal was anderes.« Er setzte sich auf eine Arbeitsplatte und gab sich anscheinend dem Nichtstun hin. Der Eindruck täuschte; Dhark wußte, daß las Gehirn des Sibiriers auf Hochtouren arbeitete. Auch der Commander ahnte, daß sie eine Menge Zeit brauchen würden, um die Daten abzugreifen. Möglicherweise hatten die Worgun hier nicht nur am goldenen Menschen geforscht, sondern
auch an anderen Projekten. Das mußte auseinandergehalten werden. Aber zunächst mußten die tausend Jahre alten Datenbanken aktiviert werden. Schon nach dem ersten Versuch stellte Dhark fest, daß sein aus dem Tor zur Sonne und aus ERRON-3 gewonnenes Wissen hier nicht reichte. Es gab spezielle Verschlüsselungen, die allein schon die Energieversorgung sperrten. Artus schob den Commander vorsichtig, aber bestimmt beiseite. »Da müssen Fachleute ‘ran, die auch was von der Sache verstehen«, erklärte er selbstbewußt. »Brack und Nunaat, euch brauche ich als Assistenten, genauer gesagt eure Hyperkalkulatoren.« Zu dritt machten sie sich daran, das Wissen aus ferner Vergangenheit zu wecken. * Eine halbe Stunde später überflog ein triumphierendes Grinsen Arc Doorns Gesicht. Er kauerte sich vor der Vitrine nieder, tat etwas an dem zentimeterstarken Gerät, auf dem sie stand, und sprang dann zurück. »Sesam, öffne dich!« sagte er. Des alten Zauberspruchs bedurfte es nicht. Die Vitrine öffnete sich und gab ihren Inhalt frei! Aber nicht ganz, wie die Terraner Augenblicke später feststellen mußten. Zwar verschwand die Front der Vitrine einfach, indem sie sich in der Mitte teilte, hälftig zusammenfaltete und eins wurde mit den beiden Seitenwänden, aber damit war der Goldene nicht erreichbarer geworden. Er wurde von einem Fesselfeld gehalten, das ihn einhüllte und aufrechthielt, zugleich aber verhinderte, daß jemand ihn berühren konnte. »Wir müssen ihn da irgendwie herausbekommen«, sagte Tschobe, der den Goldenen in seiner Wunschvorstellung schon vor sich auf einem Untersuchungstisch liegen sah. Die Arbeitsplätze der Worgun in diesem Raum boten sich dafür förmlich an, was der dunkelhäutige
Mediziner inzwischen festgestellt hatte. Und zur Not gab es noch die Medostation der POINT OF… »Ich sehe mal zu, ob sich das Fesselfeld irgendwo abstellen läßt. Mit Gedankensteuerung habe ich’s schon versucht, nur scheint es die hier nicht zu geben. Verdammte Mysterious!« Das war wieder typisch Doorn, der an den Geheimnisvollen selten ein gutes Haar ließ. Zwei der anderen Forscher wollten ihm helfen, aber er scheuchte sie beiseite. »Nicht stören«, knurrte er. »Das gilt auch für Sie, Dhark«, fügte er hinzu, als er sah, daß der Commander sich zu ihm gesellte. Dhark kümmerte sich nicht um die Zurechtweisung. Er hatte vorhin genau hingeschaut, als der Sibirier die Vitrine geöffnet hatte, und folgte jetzt einfach einem Gefühl. Plötzlich fand er einen winzigen Kontakt unter seiner Fingerkuppe, mit der er an der Seite des Sockelgerätes entlang strich, und preßte den Finger dagegen. »Hoppla! Verdammt!« entfuhr es Doorn, als das Fesselfeld jäh erlosch und der Goldene seinen Halt verlor. Wie ein nasser Mehlsack kippte er nach vorn und über Doorn, der nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Auch Dhark war nicht schnell genug, den Körper des Toten aufzufangen. Igor Chronnow war im nächsten Moment bei ihnen, packte den Goldenen und lud ihn sich völlig pietätlos über die Schulter. »Wohin, Doktor?« fragte er. Der streckte nur den Arm aus und wies auf einen der Arbeitsplätze. Mit ein paar Schritten war der Cyborg dort und legte seine Last sorgsam ab. Dann trat er ein paar Schritte zurück. »Benötigen Sie Hilfe?« »Aktivieren Sie die Einrichtung«, bat Tschobe. Er selbst wandte sich zunächst wieder der Vitrine zu. Die war jetzt leer. Tschobe tastete die transparenten Wände von innen ab. Sie fühlten sich wie Kunststoff an. Das gleiche Gefühl unter den Fingerspitzen hatte er oben bei der Formenergie-Projektion gehabt. Aber das hier war das Original.
Ren Dhark befaßte sich derweil weiter mit dem Sockel. Der bestand auch aus Plastik, das mit seinem blauvioletten Schimmern nur wie Unitall aussah. Es gab insgesamt ein gutes Dutzend Schaltflächen, die maximal fingernagelgroß waren. Dhark probierte einige von ihnen aus und stellte dabei fest, daß sie alles andere als logisch angeordnet waren. Gerade so, als habe jemand immer wieder mal eine zusätzliche Installation in dem flachen Sockel angelegt und den dazugehörigen Schalter irgendwo positioniert, wo gerade Platz war. Arc Doorn tastete den Vitrinenboden ab. »Hier sind Verriegelungen. Offenbar kann man die Vitrine vom Sockel lösen. Ich – aaahhh!« Er schrie auf. Um seine Arme entstand ein Energiefeld, das sich blitzschnell aus der Vitrine heraus über seinen ganzen Körper legen wollte, um diesen in das Objekt hineinzuziehen. Augenblicklich drückte Dhark auf den Aus-Schalter, mit dem er vorhin das Fesselfeld deaktiviert hatte. Doorn taumelte zurück. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, seine Augen funkelten wütend. »Verdammt, Dhark, wollen Sie mich umbringen? Erst werfen Sie mir diesen Goldenen auf den Kopf, und jetzt das hier…« Er betrachtete seine Hände. Die Finger bekam er nur nach minutenlangen Bewegungsübungen wieder unter Kontrolle. »Sieht aus, als wäre das nicht nur ein Fesselfeld, sondern auch für die Konservierung zuständig. Ich habe mich gefühlt, als würden meine Arme schockgefrostet!« Tschobe bat ihn zu sich und unterzog ihn einer raschen Untersuchung. Währenddessen betrachtete Doorn den Goldenen mit gesteigertem Mißtrauen. »Stimmt wohl, Arc«, bestätigte Tschobe schließlich. »Diese Konstruktion hat versucht, auch Sie zu konservieren.« »Na klasse«, brummte Doorn, »nur bin ich nicht daran interessiert, künftig oben im Saal von Touristen aus aller Galaxien Länder be-
staunt zu werden… Dhark, wenn Sie noch ein drittes Mal versuchen, mich umzubringen, erscheine ich Ihnen jede Nacht als Ihr schlimmster Alptraum und lasse Sie nicht mehr schlafen.« »Lassen Sie Gnade walten«, bat Amy Stewart lächelnd. »Wenn er unausgeschlafen ist, ist er unleidlich.« Ren warf beiden finstere Blicke zu. »Konnte ich ahnen, daß Sie gerade in dem Moment Ihre Griffel in die Vitrine stecken mußten, Mann? Absicht war das jedenfalls nicht.« »Weiß ich doch«, knurrte Doorn. »Angenehm war’s trotzdem nicht, und gerade mit Ihren Erfahrungen in W-Technik sollten Sie vorsichtiger sein, bevor Sie etwas ausprobieren. Der Teufel soll die Mysterious holen!« Er hieb dem Commander die Hand auf die Schulter und machte sich wieder an seine Arbeit. Dhark sah Tschobe an. »Wenn es tatsächlich ein Konservierungsfeld ist, müßte doch jetzt der normale Verwesungsprozeß einsetzen?« Dabei deutete er auf den Goldenen. »Davon gehe ich auch aus, da er definitiv tot ist. Ich schätze aber, daß wir genug Zeit haben werden, ihn vorher genauer zu untersuchen. Schade, daß er kein Konservierungsmittel direkt in seinem Körper hat. Was aber auch gut ist, weil es die Untersuchungsergebnisse nicht verfälschen kann.« Als nächstes bediente Tschobe sich eines der vielen an diesem und anderen Arbeitsplätzen bereitliegenden Worgun-Werkzeuge und nahm eine winzige Gewebeprobe von dem Goldenen. Die zeigte ihm, daß das Wesen durch und durch golden war und nicht nur eine goldene Hautpigmentierung besaß. Dafür hatten schon die Verletzungen gesprochen, die dem Wesen zugefügt worden waren, als man ihm das Gesicht radikal entfernte, weil auch die Wunde nichts als diesen Goldton aufwies, die dem Geschöpf ein metallisches Aussehen verlieh. Tschobe führte seine Untersuchungen fort. Über Funk nahm er Verbindung mit der POINT OF auf und ließ sich Vergleichsdaten zusenden, die im Checkmaster gespeichert waren. Jedesmal, wenn
Ren Dhark oder einer der anderen ihn anzusprechen versuchten, winkte der Mediziner ab und blieb in seine Untersuchungen und Tests vertieft. Dabei ging er mit den von den Worgun entwickelten Gerätschaften so souverän um, als habe er sie selbst konstruiert. Gut zwei Stunden später wandte er sich endlich von seinem Untersuchungsobjekt ab. »Wenn wir mal davon absehen, daß die Farbe nicht stimmt«, sagte er, »deutet alles darauf hin, daß es sich bei unserem toten Freund um einen Salter handelt.« »Salter?« stieß Dhark verblüfft hervor. »Goldene Salter hat’s nie gegeben, nicht mal goldhäutige… das ist doch unmöglich.« »Die DNS und alle anderen Werte reden eine deutliche Sprache«, sagte Tschobe. »Wir…« In diesem Moment erfolgte der Angriff!
4. Er hieß Rouven DaCol, und es war nicht sein Tag. Sie hieß Emmi Richards und diente die Tage bis zu ihrer Aufnahme in die Raumfahrtakademie im Service des Offizierskasinos ab. Vor diesem Morgen waren sie sich nie begegnet, und nach diesem Morgen würden sie sich nie wiedersehen. Gegen den Tresen gelehnt versuchte DaCol eine gute Figur zu machen. Man wußte nie, wer einem auf Cent Field über den Weg lief. Der Morgen war noch jung, und sein Schiff wartete am anderen Ende des Flugfeldes – startbereit, um ihn in eine ruhmreiche Zukunft zu tragen. Seine schweren Glieder jedoch, sein stechender Schädel und die bruchstückhafte Erinnerung an die vergangene Nacht verhießen ihm einen rabenschwarzen Tag. Mit seinen vierundzwanzig Jahren war DaCol vielleicht noch ein bißchen jung für einen Leutnant der terranischen Flotte, aber unter gar keinen Umständen hätte er an diesem Morgen einen derartigen Kater haben dürfen. Es stand einfach zu viel auf dem Spiel. »Noch einen, Emmi.« Der Korporal hinter dem Tresen – drall, blond und bemalt wie ein Komantsche auf Kriegspfad – räumte seine Tasse weg, ging zur Maschine und machte den nächsten Espresso. DaCol starrte auf Emmis Hintern. Nicht daß er Interesse an ihr gehabt hätte – um Gottes Willen! Und schon gar nicht nach dieser Nacht! – nein, er wollte nur vermeiden, nach links oder rechts zu blicken und einen Bekannten, womöglich noch einen Vorgesetzten, zu entdecken, den er hätte grüßen oder, noch schlimmer, mit dem er hätte plaudern müssen. Er leerte sein Glas. »Und ein Wasser kannst du mir auch noch geben.« An Einzelheiten erinnerte er sich nicht mehr. Sie hatten geredet, die ganze Nacht. Oder nein: Sie hatte geredet, und er hatte diesen scharfen Pflaumenschnaps in sich hineingekippt; und je mehr sie geredet hatte, desto mehr von dem Zeug hatte er vertilgt. Was sie
gesagt hatte? Keine Ahnung, Worte über Worte, ganze Bücher. Im Wesentlichen erinnerte er sich nur an einen Satz; nein, an zwei; halt, an drei: Ich liebe dich, liebst du mich auch? und: Ich bin schwanger. Diesen letzten Satz würde er sein Leben lang nicht vergessen. Seine Zunge fühlte sich an wie ein verkohlter Plastiklöffel, in seinem Magen schien ein Karpfen zu verfaulen und in seinem Schädel das Triebwerk eines S-Kreuzers zu rumoren. Irgendwer hinter ihm redete zu laut, irgendwer lachte zu laut, irgendwer ließ sein Besteck auf den Boden fallen. Jedes Mal hallte das Echo durch Rouvens Hirn. Viel zu viel los im Offizierskasino an diesem Morgen, dabei leuchtete das Licht der aufgehenden Sonne noch rot durch die Fensterfront. Emmi stellte den frischen Espresso und das volle Wasserglas vor ihn hin. »Danke«, krächzte er. Trotz ihrer erst knapp zwanzig Jahre hatte sie diesen mütterlich-besorgten Blick schon drauf. Ein Tisch scharrte über den Boden, ein Glas zerklirrte – Rouven zuckte zusammen, sah sich aber nicht um. Von hinten schlurfte jemand heran. Aus den Augenwinkeln bemerkte Rouven die massige Gestalt eines Mannes – eines Fettsacks, um es korrekt zu sagen. Der Mann knallte ein dunkelgrünes Bündel vor die Theke, eine Art Seesack. Rouven hatte so etwas schon in Fotoalben seiner Großeltern gesehen. Warum konnte der Kerl sich nicht an einen Tisch setzen? Oder wenigstens ans andere Ende der Theke? Statt dessen zog er geräuschvoll die Nase hoch und den Barhocker vom Tresen. Rouven haßte Leute, die sich benahmen, als wären sie allein auf der Welt. »Morgen, mein Schatz«, brummte der Fettsack, als er endlich saß. Emmi drehte sich erschrocken um. »Ein Glas Leitungswasser, eine Flasche Mineralwasser, und dann sei so lieb und mach mir einen Espresso.« Die Silhouetten zweier Ringraumer glitten jenseits der Fensterfront durchs Morgenrot. Das Licht ihrer Brennkreise schmerzte in Rouvens Augen. »Und noch was«, sagte der Fettsack. »Mein Hund, das blöde Vieh, ist gegen einen Tisch gelaufen, ein Glas ist futsch. Wenn du mal einen Roboter mit Kehrblech und Handfeger losschicken könntest…«
»Verzeihen Sie, Sir«, sagte Emmi. »Das ist ein Offizierskasino. Ich darf hier nur Angehörige der terranischen Flotte bedienen.« Der Mann betrachtete sie aus gleichgültigen Augen. »Ich habe meine Uniform nicht gefunden heute morgen. Und mein Dienstausweis liegt zu Hause, in meinem Spind auf Hope.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Mein Schiff startet in neunzig Minuten, mein Zubringergleiter in fünfzehn. Also, mein Schatz – raube mir nicht den letzten Funken Glauben an das Gute im Menschen.« Er verzog sein Gesicht zu einem müden Grinsen. Das Mädchen stutzte zunächst, doch dann lächelte es zu Rouvens Verdruß zurück. Ein Zivilist, dachte Rouven, nur Zivilisten benehmen sich so. Er wollte von keinem Zivilisten angesprochen werden, er wollte von niemandem angesprochen werden, und vor allem wollte er nicht Vater werden. Einen klaren Kopf kriegen wollte er, und sonst nichts. Er zog die Schultern hoch, rückte ein Stück zur Seite und beschäftigte sich mit seinem Espresso. Sein Magen drehte sich um angesichts der schwarzen Brühe. Aber was sein mußte, mußte sein, man würde ihm verdammt scharf auf die Finger schauen in den nächsten zwölf Stunden. Heute durfte er sich keinen Fehler erlauben, nein, nicht heute. Nicht nur für das Schiff war es ein Testflug, auch für ihn: Ein Patzer, und er konnte den Versetzungsantrag vergessen. Emmis Miene war eine fabelhaft dekorierte Sympathieerklärung, als sie dem Dicken das volle Glas, die Flasche und den Espresso hinstellte. Der gab sich ungerührt. »Prächtig, werde dich weiterempfehlen.« Er kramte etwas aus der Hemdtasche und ließ es in das Wasserglas fallen. Es zischte, eine Brausetablette. Dann hörte Rouven ihn in sein Espressotäßchen pusten, und schließlich hörte er ihn schlürfen. Ungehobelter Bursche. Rouven spürte seinen lauernden Blick von der Seite. Und dann passierte es. »Wer hat dich denn heute morgen ausgekotzt, mein Junge?« Genau das sagte der Fettsack. Rouven fuhr herum. »Leutnant DaCol, wenn ich bitten darf! Ich kann mich nicht ent-
sinnen, Ihnen die Freundschaft angeboten zu haben! Sir!« »Himmel über Babylon!« Aus gleichgültigen Augen musterte ihn der Fettsack. Er hatte eine Glatze, das Resthaar hing ihm strähnig und grau über die Ohren und bis zum Stiernacken herunter, er trug ein grellrotes Hemd über ehemals weißen Hosen. »Du siehst nicht nur zum Erbarmen aus, Junge, dir muß es auch erbärmlich gehen!« Er griff in seine Hemdtasche, fischte eine zweite in Aluminium eingeschweißte Brausetablette heraus und zog fragend die Brauen hoch. Rouven wandte sich demonstrativ ab. »Hast ja recht. Taugt sowieso nicht viel, das Zeug.« Er steckte die noch verpackte Tablette wieder ins Hemd, griff nach seinem Wasserglas mit der bereits aufgelösten, und leerte es in einem Zug. »Wenn man soviel säuft wie du, hilft sowieso nichts mehr«, sagte eine höhere, irgendwie blecherne Stimme. Rouven zuckte zusammen. War der Kerl Bauchredner? Allerdings schien ihm die Stimme aus einer anderen Richtung gekommen zu sein; von schräg unten irgendwie. »Doch, eines hilft hundertprozentig. Und weiß du was?« Rouven fühlte sich angesprochen, reagierte aber nicht. »Ein Kontra.« Der Fettsack wandte sich an Emmi. »Zwei Cognacs, aber vom besten. Einen für mich und einen für Sir Leutnant.« Rouven leerte seine Tasse und sein Glas und legte ein paar Münzen auf den Tresen. »Ich bin im Dienst, Mister!« Er hängte sich den Tragegurt seiner Tasche um die Schulter. Sein Schädel schmerzte. Jetzt bloß nicht kotzen! »Und Ihnen empfehle ich hin und wieder in den Spiegel zu schauen!« Mit seinem arrogantesten Blick taxierte er den Fettsack, sein fettiges Haar, seinen struppigen Kinnbart, sein bis zur grauen Brustbehaarung offenes Hemd und den gewaltigen Bauch, der sich darunter abzeichnete. »Vielleicht treten Sie dann von selbst ein bißchen kürzer mit diesem Giftzeug!« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die beiden Cognacschwenker, die Emmi eben servierte. »Keine Chance«, krähte eine Blechstimme. »Was glaubst du, wie
oft ich ihm das schon gesagt habe! Einem verschrotteten Roboter zu predigen ist wirkungsvoller!« Rouven erschrak bis ins Mark. Die Kinnlade fiel ihm herunter, und in seinem Nacken richteten seine dunklen Locken sich auf. Er blickte nach unten: Ein schwarzer Scotchterrier lag zu Füßen des Dicken. »Hat dich ein Mensch irgendwas gefragt, Jimmy?« sagte sein Herrchen und hob den ersten der beiden Cognacschwenker. »Angenehmen Tag noch, Sir Leutnant. Wird schon wieder werden…« Rouven wankte aus dem Kasino. Nach so einer Nacht mit so einer unverdaulichen Neuigkeit ging er sowieso auf dünnem Eis. Und nun so etwas! Auf dem Weg zur Abflughalle grübelte er, ob anderthalb Flaschen Pflaumenschnaps tatsächlich ausreichen konnten, um eine Alkoholpsychose zu verursachen. Er hatte nie dergleichen gehört. Einen Hund hatte er jedoch auch noch nie sprechen gehört. Allerdings war er auch noch nie dermaßen verkatert gewesen. In der Halle warteten bereits an die hundert Männer und Frauen; zwei Drittel Flottenangehörige. Die meisten waren scharf darauf, mehr als nur diesen Testflug mit dem neuen Schiff zu unternehmen. Viele kannte er aus dem Vorbereitungsseminar, einem vierwöchigen Intensivkurs in kybernetischer Informatik. Mit einigen war er mehr oder weniger gut befreundet. Mit Joan Pelham zum Beispiel. »Hey, Ruby! Alles klar? Der Hirnraumer wartet auf uns. Jetzt geht’s gleich los, was?« Er brauchte nichts sagen, er brauchte nur zu nicken und ein wenig zu lächeln – Joan konnte zwei Stunden lang durchquasseln, wenn man sie ließ; an diesem Morgen genau das, was er brauchte. Oberleutnant Joan Pelham – viele nannten sie ›Doc Joey‹ – war ausgebildete Medizinerin und Psychologin, hatte ebenfalls den Intensivkurs absolviert und war fünf bis acht Jahre älter als Rouven. Niemand kannte ihr genaues Alter. Ihre Haut war so schwarz wie Erdöl, ihre Glieder lang und kräftig. Sie ließ sich über einen Reisebericht aus, den sie gerade las – »Expedition in die Orn-Galaxis« von Manu Tschobe –, erzählte haarklein
von ihren persönlichen Vorbereitungen auf den Testflug, und nannte Dutzende Namen von Leuten, die an diesem Morgen ebenfalls mit dem Ikosaederraumer starten würden, den viele einfach nur ›Hirnraumer‹ nannten, weil der größte Teil des Schiffes ein neuartiger Rechner war und sonst nichts. Rouven vergaß vorübergehend seine Kopfschmerzen. Endlich hielt der Transportgleiter, zischend öffneten sich die Schotte, die Wartenden drängten sich davor und stiegen ein. Joan stieß Rouven ihren Ellenbogen in die Rippen. »Der Prof.« Rouven folgte ihrem Blick. Ein hagerer, kleiner Mann mit langem, blondem Haar stieg eben in das Gefährt: Professor Monty Bell. Er hatte den Intensivkurs auf der Raumfahrtakademie geleitet und war einer der beiden Wissenschaftler, die den neuen Ikosaederraumer – die KONRAD ZUSE – federführend entwickelt hatten. »Wußtest du, daß er ein enger Freund von Ren Dhark ist?« Das wußte Ruby, denn Doc Joey hatte es ihm schon zweimal erzählt. Endlich waren alle eingestiegen. Der Gleiter schwebte aus der Halle und schließlich aus dem Hauptkomplex hinaus auf den Raumhafen Cent Field. Rasch gewann er an Geschwindigkeit und Höhe. Knapp sechs Meter über der glatten und unendlich scheinenden Asphaltebene schwebte der Zubringer Richtung Norden. Dort, am äußersten Ende des Raumfeldes, wartete das neue Schiff auf seinen ersten Testflug. Dumpfes Gemurmel erfüllte den Passagierraum, gespannte Erwartung lag in der Luft. Joan erzählte von den Innovationen in ihrer Branche durch die Worgun-Medizin. Rouven fühlte sich alles andere als frisch. Bald schon konnte man durch die Fenster die KONRAD ZUSE erkennen. Das Stimmengewirr im Passagierraum wurde lauter und aufgeregter. Schwarz und gewaltig ragte der neue Ikosaederraumer am Horizont in den Morgenhimmel. Unglaubliche sechshundert Meter durchmaß der Koloß, ein sogenannter ›Flottenkoordinator‹. Wie ein gigantischer und sorgfältig geschliffener Industriediamant wirkte er aus der Entfernung oder wie ein exakt flächengleicher
Wabenklotz. Seine Bezeichnung »Ikosaederraumer« verdankte er seiner Form: Seine Oberfläche bestand aus zwanzig gleichgroßen, dreieckigen Flächen. Carborit nannte man den superleichten Werkstoff, aus dem das Schiff in erster Linie gefertigt war. Robert Saam hatte ihn erst drei Jahre zuvor aus Kohlefasern und Tofirit entwickelt, und Wallis Industries – wer sonst? – produzierte ihn für die Raumflotte. Näher und näher schob sich der schwarze Gigant. Schwindelerregend füllten seine Ausmaße bald das gesamte Blickfeld aus. Rouven DaCol vergaß seine Kopfschmerzen und den verwesenden Fisch in seinem Magen. »Und das alles, um einen Gigarechner durchs Weltall zu kutschieren, was Ruby?« seufzte Joan. »Kannst du dir vorstellen, daß der Suprasensor fast siebzig Prozent des Schiffsvolumens ausfüllt?« Nein, das konnte Ruby sich nicht vorstellen, aber bald würde er eine Vorstellung davon gewinnen; spätestens, wenn der Testflug hinter ihnen lag und er zwölf Stunden lang an einem der unzähligen Eingabe- und Kontrollpulte des Überrechners gesessen haben würde; an einem der wichtigsten, wie er hoffte und zugleich fürchtete. Die KONRAD ZUSE verdunkelte jetzt den Passagierraum. Ruby riß sich von ihrem Anblick los, lehnte sich zurück und überschlug im Kopf das Volumen des Schiffes. Er kam auf etwas mehr als hundertzehn Millionen Kubikmeter. Konnte das sein? Er rechnete erneut nach und kam auf dasselbe Ergebnis. Es tröstete ihn, daß seine legendären Kopfrechenkünste ihn trotz des Alkoholspiegels in seinem Blut nicht im Stich ließen. So schlimm konnte der Tag also doch nicht… Plötzlich hockte er kerzengerade auf der Kante seines Sessels: Ganz vorn im Gang, kurz vor der Pilotenzelle und neben einem abgewetztem Seesack, lag ein schwarzer Scotchterrier zwischen den Sitzreihen. Und über ihm thronte ein massiger Kerl mit struppigem Bart und strähnigem Haar. Er trug schmutzigweiße Hosen und ein rotes Hemd…
»Was ist los mit dir, Ruby?« Joan gehörte zu den Frauen der Kategorie ›Allesmerker‹. »Der Kerl da vorn, der mit dem schwarzen Köter…« Der junge Leutnant schluckte. »Der neben Professor Bell – will der etwa auch zum Hirnraumer?« »Du bist lustig!« Joan entblößte ihre weißen Zähne. »Natürlich! Der hat ihn mitentwickelt! Kennst du etwa Chris Shanton und seinen Robothund nicht? Shanton und der Prof sind die wissenschaftlichen Leiter des Testfluges…!« »O du heilige Schei…« Leutnant Rouven DaCol schloß die Augen. Er begriff schlagartig, daß er von allen möglichen Fettnäpfchen, die so ein Tag für einen verkaterten Mann bereithalten mochte, das tiefste und größte bereits erwischt hatte. »Und ich habe es nicht mal gemerkt. Schei…« »Wie bitte?« Doc Joey verstand natürlich kein Wort. »Hör mal, Ruby – der Mann soll sehr nett sein…!« * »Ist das nicht phantastisch?« Seite an Seite schwebten sie im zentralen Antigravschacht zur Messe hinauf. Monty Bells Begeisterung kannte keine Grenzen. »Ist das nicht ein göttliches Schiff? Sag selbst, Chris!« Sie kamen aus der Kabine, die sie sich teilten. Dort hatten sie sich umgezogen. Beide trugen jetzt einen schlichten, hellgrauen Overall. »Göttlich? Haben nicht wir zwei das Ding verzapft?« Shanton blickte zurück. Fünfundzwanzig Meter unter ihnen schwangen sich ein Mann und eine Frau in den Schacht. »Bleib bei der Wahrheit, Chris!« krähte der Roboter, der aussah wie ein Scotchterrier. Er schwebte ein Stück über ihnen. »Gebaut hat es meinesgleichen. Ihr habt es euch nur ausgedacht. Dafür allerdings ist es gar nicht übel geworden.« »Was täten wir ohne euch…!« Shanton verdrehte die Augen. »Und
was täte ich ohne dich, Jimmy? Wer würde an meinen Nerven sägen? Wer würde all die blödsinnigen Sprüche ausscheiden, die mich Tag für Tag an die Decke jagen…?« Sie schwebten an einem Ausstieg vorbei. Eine schlanke, dunkelhaarige Frau und ein bulliger Mann mit braungebranntem und ziemlich grimmigem Gesichts warteten dort. Bell und Shanton grüßten im Vorrübergleiten, Bell überschwenglich, Shanton flüchtig. Die Frau lächelte charmant, der Mann legte einen zackigen Gruß hin. »Du glaubst nicht, was das für ein erhebender Augenblick war, als ich den Suprasensor zum ersten Mal hochgefahren habe.« Bell konnte nicht aufhören zu schwärmen. »Bißchen wie ein Orgasmus, nehme ich an«, knurrte Shanton gleichgültig. Drei oder vier Ebenen über ihnen schwangen sich einige Männer in den Schacht. Wie auch die Männer und Frauen unter ihnen trugen sie die bei der terranischen Flotte übliche leichte Bordkombination – olivgrün und mit zahlreichen Taschen ausgestattet. Ralf Larsen, der Kommandant der KONRAD ZUSE, hatte seinen Stab für 8.30 Uhr in die Messe bestellt. »Mit wieviel Mann Besatzung werden wir starten?« wollte Shanton wissen. »Mit zweihundert. Wir werden ja schon um dreiundzwanzig Uhr Ortszeit wieder landen. Bei längeren Einsätzen muß natürlich Wechselschichtbetrieb gefahren werden. Da brauchen wir mindestens vierhundert Leute.« »So ein kurzer Trip? Da hat sich das Aufstehen ja kaum gelohnt.« Fast drei Jahre lang hatten Shanton und Bell gemeinsam über der Schiffskonstruktion gebrütet. Und vor allem über dem Gigarechner, der sie ausfüllte, dem Suprasensor von bisher unerreichter Größe und Kapazität. Shanton hatte die holographische Blaupause des Ikosaederraumers sozusagen verinnerlicht. Ziemlich exakt konnte er schätzen, wie weit es noch bis zum Ausstieg vor der Messe war – etwa achtunddreißig Meter – und wo in der Messe die Eingänge zu den Zugangsschächten in den darüberliegenden Kommandostand lagen – an den Stirnwänden zwischen den Konsolen mit den Rech-
nerschnittstellen. In fast ähnlicher Weise, wie er ohne nachzudenken wußte, wie weit sein linker großer Zeh oder sein rechter Unterarm von seinem Hirn entfernt war und in welcher räumlichen Lage sie sich befanden, hätte er auch gleichsam intuitiv angeben können, in welcher Richtung der Maschinenleitstand lag, wie weit er sich ausdehnte, welche Röhren, Kabelstränge und Sauerstoffleitungen von ihm weg und wohin führten, oder in welchem Winkel er den Arm heben und in welche Richtung er deuten mußte, um die Lage der zehn Außenschotts anzuzeigen, den Hangar mit dem Beiboot und die zehn Nothangars mit den Rettungskapseln. Kurz: Chris Shanton war mit dem Ikosaederraumer fast so verbunden wie mit seinem zur Zeit 114 Kilogramm schweren Körper. Besonders vertraut war er mit dem Suprasensor, seinem und Bells jüngstem Kind. Kabel, Kristalle, Prozessoren, Schaltkreise und Sensoren des Rechners waren allgegenwärtig. Praktisch an jeder Stelle des Schiffes durchzogen und durchdrangen sie dessen Inneres. So wenig Raum ließ das Großgerät übrig, daß bei regulärer Besatzung von vierhundert Mann zwei sich eine Koje teilen mußten. In einem gewissen Sinn war die KONRAD ZUSE der Suprasensor. Shanton sah auf seine Armbanduhr: 8.28 Uhr. Der Start war für 9.50 Uhr vorgesehen. Über ihm sprang Jimmy aus dem Antigravschacht in den Eingang zur Messe. Bell folgte ihm. Shanton griff nach der Haltestange, um sich in den Gang zu schwingen. Als er kurz zurück nach unten blickte, sah er in ein paar dunkelbraune Augen. Die Frau, an der er eben vorbeigeschwebt war. Die Schönheit und Sanftheit ihres Gesichtes raubten ihm für einen Augenblick sein inneres Gleichgewicht. Er schwang sich in den Gang, hoffte, die Dame würde bald folgen und wollte auf sie warten. Doch am offenen Schott zur Messe breitete ein bulliger Kahlkopf mit Mondgesicht die Arme aus und machte Anstalten, ihn und Bell zu begrüßen. Captain Ralf Larsen, der Kommandant der KONRAD ZUSE. »Willkommen an Bord, Gentlemen!« Shanton blieb gar nichts an-
deres übrig, als dem Kommandanten entgegenzugehen. Händeschütteln, wie geht’s, wie steht’s, ein bißchen Geplauder und so weiter. Bell bestritt das weitgehend, denn Shanton pflegte erst gegen Mittag in Fahrt zu kommen, und Larsen eilte der Ruf voraus, kein Freund vieler Worte zu sein. Er führte sie in die Messe hinein. Shanton wußte, daß der Kommandant Anfang der Fünfzigerjahre mal Offizier der POINT OF und Ende der Fünfziger als Kommandant der INVERNESS in der Galaxis Orn gewesen war. Sein genaues Alter hatte er vergessen. War Larsen schon Anfang sechzig, war er erst Mitte fünfzig? Schwer zu sagen. Jedenfalls war er ein paar Jahre älter als Shanton, aber was spielte das für eine Rolle? »Darf ich Sie gleich mit meinem Stab bekanntmachen?« Larsen drehte sich zum Schott um. »Meine Damen und Herren!« rief er in Richtung der Männer und Frauen, die nach dem Professor und dem übergewichtigen Techniker aus dem Schacht gestiegen waren. »Ich möchte Ihnen die wissenschaftlichen Leiter unseres kleinen Testausflugs vorstellen.« Er wies auf den jüngeren der beiden Männer. »Professor Bell werden die meisten von Ihnen schon persönlich kennen, er lehrt Astrophysik an der Raumfahrtakademie.« Dann mit Blick auf Shanton: »Und das ist Chris Shanton. Gemeinsam mit Professor Bell hat er unser Schiff und vor allem dessen unglaubliches Gehirn entwickelt. Mit ihm haben wir die Ehre, einen der beiden besten Spezialisten für Fremdtechnik an Bord zu begrüßen, deren Terra sich zur Zeit rühmen darf. Darüber hinaus war Mr. Shanton maßgeblich am Aufbau der Ast-Stationen in unserem Heimatsystem beteiligt. Aber das wissen Sie wahrscheinlich selbst.« Er machte einen Schritt auf eines der umstehenden Besatzungsmitglieder zu und berührte den erstbesten am Arm. »Das ist Sergeant Hermann Wöhrl, mein erfahrenster Stabsunteroffizier. Wir haben schon gemeinsam auf der INVERNESS die eine oder andere Nuß geknackt.« Der Mann stand stramm und nickte, ohne eine Miene zu verziehen. Es war der untersetzte Bursche, der schon so zackig am Schachteinstieg gegrüßt hatte. Sein Stoppelhaar war grau,
sein Gesicht sah aus wie aus braunem, verwittertem Buntsandstein gemeißelt. Larsen wandte sich an die Frau neben dem Stabsunteroffizier. »Captain Jasmine de Chablaise!« Die Sanftäugige, die neben Wöhrl in den Schacht gestiegen war! »Captain de Chablaise ist Erster Offizier auf der KONRAD ZUSE.« Und wieder leuchteten braune Augen in einem schmalen, unglaublich lieblichen Gesicht. Shanton wurde warm ums Herz. »Captain Sergio de Pedro.« Larsen wies auf einen kleinen, drahtigen Südländer. »Er sorgt dafür, daß im Maschinenleitstand alles mit rechten Dingen zugeht. Und das ist Leutnant Austin Travers, Pilot und erster Navigator.« Der Angesprochene, ein kräftiger, baumlanger Kerl mit rötlichem Wuschelhaar, musterte erst Shanton und dann dessen Hund mit leicht geneigtem Kopf. Die Falten der Skepsis auf seiner Stirn entgingen dem übergewichtigem Techniker nicht. Möglicherweise hatte seine Nase noch einen Hauch der Cognacfahne erwischt, oder Jimmy paßte ihm nicht. Egal, das war nicht Shantons Problem. Insgesamt achtzehn Offiziere, Chefingenieure und Stabsunteroffiziere hielten sich inzwischen im Schottbereich und in der Messe auf. Nacheinander stellte Larsen sie vor. Shanton prägte sich die Namen und Gesichter ein, was gar nicht so einfach war, weil seine Blicke und Gedanken ständig abschweiften – zu der schönen Französin. Mit einem Paar beendete Larsen den Vorstellungsreigen – mit einer sympathischen schwarzen Frau und einem auffallend jungen, hageren Burschen. Der Schnösel aus dem Offizierskasino! Shanton verkniff sich ein Grinsen. »Das ist Oberleutnant Joan Pelham.« Larsen stellte zunächst die kräftig gebaute Frau vor. »Sie ist die Bordärztin und -psychologin. Außerdem eine ausgezeichnete Informatikerin. Sie hat selbstverständlich den Kybernetikkurs absolviert.« Sir Leutnant wich Shantons Blick aus, als Larsen ihn vorstellte. »Leutnant Rouven DaCol. Zweiter Offizier an unserem Superrechner
und Spezialist für strategische und Waffeninformatik.« Rouven DaCol senkte seinen Kopf, als wollte er sich unter seiner ungebändigten schwarzen Lockenpracht verstecken. Shantons Laune stieg noch um ein paar Grad weiter in den grünen Bereich hinauf. Mit knapper Geste forderte Larsen seinen Stab auf, am ovalen Tisch der Messe Platz zu nehmen. Auch die Messe selbst war ein ovaler Raum von etwa zwölf Metern Länge und sechs Metern Breite. Aus den Wänden ragten Konsolen für Kommunikationsbildkugeln und holographische Sternkarten; dazwischen Pulte und Sessel vor Tastaturen und Mikrofonen – Schnittstellen zum Suprasensor. Der Konferenztisch – silbergraue Kunstglasplatte, schwarzer Holzrahmen – war für vierzig Personen ausgelegt. Knapp die Hälfte der schwarzen Sessel – Holz und Kunstleder – waren an diesem Morgen belegt. »Ziemlich jung für einen Zweiten Kybernetiker, dieser Leutnant«, flüsterte Shanton, während er und Bell nebeneinander Platz nahmen. »DaCol? Er hat sein Studium in allen Fächern mit Auszeichnung abgeschlossen«, flüsterte Bell zurück. »Auch im Intensivkurs war er zwei Klassen besser als die anderen. Ich halte ihn für ein Genie. Wenn er sich auf dem Testflug bewährt, soll er leitender Kybernetiker auf diesem Ikosaederraumer werden.« »Was du nicht sagst…« Shanton blickte zu DaCol auf der anderen Tischseite hinüber und grinste. Der Leutnant wich seinem Blick wieder aus. »Über technische Einzelheiten unseres Schiffes brauche ich Ihnen nicht mehr viel erzählen. Jeder von Ihnen hat sich mit dem Dossier über die KONRAD ZUSE vertraut gemacht und seiner Mannschaft die nötigen Informationen weitergegeben…« Das Dossier kannte Shanton in- und auswendig, schließlich hatte er es verfaßt. Wie alle neuen Iko-Raumer verfügte auch dieser Prototyp – ein sogenannter ›Flottenkoordinator‹ – über ein Worgun-Triebwerk mit all seinen atemberaubenden Möglichkeiten: To-Ringbeschleuniger, Sublichteffekt, Überlichtgeschwindigkeit mit
Sternensogantrieb und natürlich ein Transitionssystem. Dazu kamen die Defensivsysteme: der Kompaktfeldschirm und vor allem das Intervallfeld. Lauter Dinge eben, die das Herz eines Technikfreaks wie Shanton erfreuten. Nur über eines verfügte die KONRAD ZUSE nicht: Offensivwaffen. »Mich vorzustellen, hält hier wohl keiner für nötig, was?« krähte eine Blechstimme. Die Männer und Frauen am Tisch machten große Augen, einige zuckten zusammen. »Halt deine Plastikschnauze, Jimmy«, blaffte Chris Shanton. »Roboter gehören zum Inventar.« »Dich könnten sie hier mit ein bißchen Phantasie gerade noch als Mensch identifizieren, Chris!« gab Jimmy zurück. »Doch mich wird man möglicherweise mit einem Hund verwechseln. Ist dir nicht aufgefallen, wie mißtrauisch der Navigator mich beäugt hat?« Shantons Miene verfinsterte sich, während einige der Männer und Frauen feixten. »Verzeihen Sie den Fauxpas, Herrschaften«, grinste Larsen. »Ich habe vergessen, Ihnen Jimmy vorzustellen. Aber nicht, daß jemand auf die Idee kommt, Mr. Shantons Hund zu füttern – er ist ein Roboter.« Allgemeine Heiterkeit machte sich breit. Nur der junge Leutnant mit dem schwarzen Lockenkopf stierte seltsam verbissen auf eine leere Seite seines Notizblocks. Larsen wandte sich an Shanton und Bell. »Es wird wohl am sinnvollsten sein, wenn Sie meinen Stab über Sinn und Zweck unseres Testflugs informieren.« Bell blickte Shanton von der Seite an. Der kraulte sich den Bart und machte keine Anstalten, das Wort zu ergreifen. Also tat es der Professor. »Um 9.50 Uhr werden wir starten. Unser Ziel ist das etwas mehr als fünfundzwanzig Lichtjahre entfernte Sonnensystem Fomalhaut. Wie Sie aus dem Dossier wissen, handelt es sich bei unserem neuen Ikosaederraumer nicht um eine Kampfeinheit. Das Konzept der KONRAD ZUSE sieht keine Offensivwaffen vor. Das ist auch nicht nötig, denn erstens macht ihr Carboritpanzer sie selbst bei Ausfall sämtlicher Defensivsysteme extrem widerstandsfähig, und
zweites wird sie ausschließlich in unmittelbarer Nähe von Kampfverbänden operieren, die für ihren Schutz zuständig sein werden. Abgesehen vom bevorstehenden Testflug natürlich, aber heute werden wir ja sozusagen vor der Haustüre und unter den Augen der terranischen Raumüberwachung spazierenfliegen.« Der Professor stand auf und ging zu einer Konsole im Halbrund der Stirnwand. »In einem speziellen Sinn ist die KONRAD ZUSE dennoch ein Schlachtschiff, ein äußerst schlagkräftiges sogar. Das liegt an unserem wichtigsten Besatzungsmitglied. Es beansprucht den meisten Platz an Bord, auch den Platz übrigens, der in anderen Schiffen den Waffensystemen vorbehalten ist. Aber dafür bringt es eine bisher unerreichte Leistung. Doch soll dieses Besatzungsmitglied sich Ihnen selbst vorstellen.« Bell blieb vor der Konsole stehen. Er gab ein paar Zeichen über die Tastatur ein, verschränkte dann die Arme hinter dem Rücken und drehte sich wieder zu den Männern und Frauen am Tisch um. Er lächelte das stolze Lächeln eines Siegers. Wie ein Junge, dessen selbstgebautes Raumschiffsmodell zum ersten Mal eine saubere Landung hingelegt hat, dachte Shanton. Genauso mochte er Bell am liebsten. »Guten Morgen, Professor Bell«, tönte eine Stimme aus einem verborgenen Lautsprecher. Sie klang ungewohnt, nicht Fisch, nicht Fleisch, nicht Mann, nicht Frau – androgyn irgendwie, und auch ein wenig monoton; dabei aber keineswegs künstlich. »Systemstatus: bereit«, sagte die Stimme. »Energiestatus auf sämtlichen Schiffsebenen: Startbereitschaft. Start in vierundsiebzig Minuten.« »Wir befinden uns in der Offiziersmesse…« »Das ist mir bekannt, Professor Bell.« »Siehst du die Damen und Herren am Tisch?« »Die Männer und Frauen und den Robothund; selbstverständlich, Professor Bell. Ihre Stimmprofile und biometrischen Daten liegen vor, Sie haben sich bei Eintritt in die Schleusen gemäß den Vorschriften identifiziert: Captain Ralf Larsen, Kommandant. Captain Jasmine de Chablaise, Erster Offizier. Chris Shanton, wissenschaft-
licher Leiter…« »Danke«, unterbrach Bell. »Ich bin im Bilde. Captain Larsens Stab würde dich nun gerne etwas näher kennenlernen. Bitte identifiziere dich.« »Suprasensor Eins-Zweiundsechzig.« »Danke. Fasse deine Aufgabe in eine paar Sätzen zusammen, S 1-62.« »Ich bin eine Weiterentwicklung der bisher ausgereiftesten terranischen Suprasensoren, verfüge also über die Ihnen vertrauten Funktionen dieser Vorgängerrechner: Steuerung und Konfiguration der Antriebs- und Defensivsysteme, Kontrolle, Aufrechterhaltung und gegebenenfalls Modifikation von Druck-, Atmosphären- und Gravitationsverhältnissen, Steuerung und Kontrolle der Kommunikationssysteme…« Shanton lauschte der Stimme, die er programmiert hatte. Sie waren dem seit zwei Jahren auf allen galaktischen Werften üblichen Trend gefolgt und hatten auf einen Hyperkalkulator worgunscher Bauart verzichtet. Die Virenprobleme, die mit diesen fremdtechnischen Bordrechnern aufgetreten waren, hatten sich als zu unberechenbar erwiesen. Bis jetzt verhinderten die Viren lediglich den Flug zur Galaxis Orn. Aber wer vermochte schon vorherzusagen, was diese superschlauen Kunstgehirne noch so alles an Sabotagemöglichkeiten in sich bargen? Für intergalaktische Reisen übrigens war der Ikosaedertyp ungeeignet. Dafür war dieser Prototyp auch nicht konzipiert worden. Niemand auf Terra dachte derzeit daran, Krieg in einer anderen Galaxis zu führen. »… meine wichtigste Funktion: Ich koordiniere Kampfmanöver, strategische Flugbewegungen und Waffeneinsatzkombinationen von Raumflotten im Schlachtstatus…« »Was heißt das konkret?« unterbrach Leutnant Austin Travers, der erste Navigator. »Konkret heißt das folgendes, Leutnant Travers: Ich überwache jede Einheit der gegnerischen Flotte, und ich kontrolliere und steuere
die Parameter jeder Einheit der eigenen Flottenverbände im Schlachtstatus so, daß die Gesamtheit der eigenen Flotte sich in jeder Sekunde der Schlacht in einer dem Gegner überlegenen Position befindet.« »Was für Parameter genau?« hakte der Kommandant nach. »Jeden betriebs- und kampfrelevanten, Captain Larsen: Standort, Kurs, Waffenstatus, Betriebsmodus, Geschwindigkeit, Defensivstatus…« De Pedro machte ein ungläubiges Gesicht. »Du koordinierst jede einzelne kampfbezogene Aktion jedes einzelnen Schiffes mehrerer Flotten zugleich?!« Der Chef des Maschinenleitstandes blickte sich um, als suchte er Komplizen seines Zweifels. »So ist es, Captain de Pedro«, sagte die geschlechtslose Stimme aus der Messewand. »Dafür bin ich programmiert worden. Was daran erscheint Ihnen so ungewöhnlich?« De Pedro fehlten die Worte, an seiner Stelle ergriff der bayerische Stabsunteroffizier das Wort. »Na ja, das klingt… ich weiß nicht…« Wöhrl fuchtelte mit beiden Händen, als suchte er in der Luft über seinem Stoppelschädel nach den richtigen Worten. »Das klingt, als könnten wir in den Kojen liegen bleiben, wenn die Kacke am Dampfen ist.« »Könnten Sie das noch einmal wiederholen, Sergeant Wöhrl? Ich glaube, nicht korrekt verstanden zu haben…« »Unfaßbar!« Jasmine de Chablaise klatschte in die Hände. »Das ist wirklich gut! Und wie viele Schiffe auf einmal kannst du auf diese Weise im Auge behalten, wenn ich das mal so menschlich ausdrücken darf, S 1-62?« »Dreihundert Einheiten insgesamt, Captain de Chablaise, die gegnerischen nicht mitgerechnet.« Weitere Fragen folgten, und der Rechner beantwortete alle sachlich, höflich und in monotoner Stimmlage. Shanton kämpfte mit dem Schlaf. Irgendwann blickte der Kommandant auf die Uhr und bedeutete Monty Bell mit einer Kopfbewegung, zum Ende zu kommen.
»Ich denke, Sie verstehen die Bezeichnung ›Flottenkoordinator‹ nun besser, meine Herrschaften«, sagte der Professor. »Sobald wir vor Fomalhaut eingetroffen sind, werden unsere Experten eine Raumschlacht simulieren. Dann kann uns unser wichtigstes Besatzungsmitglied seine unfaßbaren Rechenleistungen demonstrieren.« Er wandte sich zur Konsole um. »Danke, S 1-62. Das reicht fürs erste.« »Verstanden, Professor Bell. Start in vierundfünfzig Minuten.« Applaus erhob sich. Bell deutete eine Verneigung an, während er wieder zu seinem Platz schritt. Shanton lehnte sich zurück und strich sich genüßlich über den Bauch. Die Anerkennung ging ihm runter wie siebzig Jahre alter Cognac. Er erhaschte ein Lächeln des Ersten Offiziers – Himmel über Babylon, wie süß! Entweder mußte er sich ihren komplizierten Namen aufschreiben oder möglichst bald auf eine Ebene mit ihr gelangen, auf der man sich mit Vornamen ansprach. Er lächelte zurück. »Du bist und bleibst ein Angeber, Chris«, schnarrte Jimmy an seiner Seite. »Und glotz bloß die Frau nicht so an. Merkst du nicht, daß sie was mit dem Bayern…?« »Noch ein Wort, und ich schalte für die nächsten zwölf Stunden dein Sprachmodul ab!« fauchte Shanton. Der Beifall legte sich. Larsen erhob sich von seinem Platz. »Das wäre es zunächst. Bitte instruieren Sie die Mannschaften, für die Sie zuständig sind.« Er blickte auf die Digitaluhr über dem Hauptschott der Messe. »Ich erwarte, daß sämtliche Besatzungsmitglieder in dreißig Minuten ihre Posten eingenommen haben…« * Zwei S-Kreuzer der terranischen Raumüberwachung waren gelandet. In kleinen Gruppen betraten die Offiziere das Kasino. Sie plauderten und scherzten, verteilten sich an den Tischen, belagerten die Theke.
Es war nicht schwer zu erraten, daß drei Tage Urlaub vor ihnen lagen. Die meisten bestellten ein Frühstück mit Kaffee und Tee, einige ließen sich trotz des frühen Vormittages schon Bier kommen, ein Tisch verlangte gar nach Sekt in Eiskübeln, weil der Zweite Offizier seinen Vierzigsten feierte. Emmi und ihre Kollegen balancierten volle Tabletts durchs Kasino. Seit der Mann mit dem Maschinenhund bei ihr an der Theke gesessen hatte, ging Emmi die Arbeit flotter von der Hand. Er hatte sie überredet, den Cognac zu trinken, den der junge Leutnant verschmäht hatte. Und wie nett sie sich unterhalten hatten, der Korpulente mit dem Hund und sie. Er mochte etwas struppig ausgesehen haben und, nun ja: Ungewöhnlich gekleidet war er auch, sicher, aber ein Gentleman, alles was recht war, ein wirklicher Gentleman! Sektkorken knallten, irgend jemand stimmte Happy Birthday an, an mehreren Tischen standen Männer und Frauen auf und prosteten dem Jubilar zu. Emmi dachte an den bärtigen Gentleman mit dem Roboterhund. Wie klug er reden konnte, wie wach seine Augen waren! Emmi stand auf Männer, die, nun ja, ein wenig korpulent waren, und sie mochte Männer, die anders waren; anders als der Durchschnitt; und vor allem mußten sie älter sein als sie selbst. Er flog mit dem gleichen Schiff wie Sir Leutnant. Er hieß Chris, und sein Hund hieß Jimmy… »Woran denkst du, Emmi?« sprach Sergeant Koch sie an, ein stämmiger Unteroffizier, der für den Service im Offizierskasino zuständig war. »Ich, Sir? Wieso? An die Bestellung von Tisch neun…« »Noch fünf Minuten!« rief auf einmal einer der Offiziere am Geburtstagstisch. Und ein anderer stand auf und sagte: »Das laß ich mir nicht entgehen. Los, auf die Terrasse!« Sprach’s und marschierte zum Ausgang. Dutzende folgten ihm, die meisten nahmen ihre Sektgläser mit. »Was liegt an?« hörte Emmi ihren Vorgesetzten in die an der Theke vorbeiströmende Menge hinein fragen. »Ein Feuerwerk am hellich-
ten Tag?« »So ungefähr«, antwortete ein Major. »Ein neuer Ikosaederraumer startet um zehn vor zehn, ein Gigant von sechshundert Metern Durchmesser. Das sieht man nicht jeden Tag.« Sergeant Koch schloß sich den Schaulustigen an. Bald leerte sich das Kasino vollständig. Auf verwaisten Tellern dampften gebratene Eier, aus einsamen Tassen Kaffee oder Tee. »Das will ich auch erleben!« Emmi legte ihre schwarze Schürze ab, lief aus dem Kasino und fuhr mit dem nächstbesten Lift zu den Besucherterrassen hinauf. Dort drängten sich bereits Hunderte von Menschen. So voll war es hier selten. Alle starrten sie nach Nordwesten, einige hielten Feldstecher vor die Augen. Emmi sah nur Himmel und Menschenrücken, aber das änderte sich rasch, und schließlich fand sie sich trotz der Menschenmenge ganz vorn am Geländer neben einem der Münzfernrohre wieder. Das Leben war einfach ein bißchen leichter mit blondem Langhaar und gewissen Proportionen unter der Uniform. Emmi schirmte ihre Augen mit der flachen Hand ab. Einen schwarzen Fleck entdeckte sie am Horizont, sonst nichts. »Chris Shanton hat das Gerät entwickelt, der hat’s einfach drauf, der Mann!« hörte Emmi einen Oberst rechts neben ihr sagen. Der Offizier beobachtete den Horizont durch einen Feldstecher. »Shanton? Der mit dem Roboterhund?« antwortete der Offizier links von Emmi, ein Hauptmann; auch er drückte ein Fernglas an die Augen. »Genau der. Zusammen mit diesem Professor von der Raumfahrtakademie, wie heißt er gleich…?« »Chris Shanton?« mischte Emmi sich ein. »So ein Kräftiger mit Bart?« »Glaub schon«, sagte der Colonel. »Kräftig ist gut.« Er grinste, sah kurz zu Emmi, dann auf seine Armbanduhr. »Zehn vor zehn – jetzt müßte die KONRAD ZUSE eigentlich starten.« Wieder setzte er den Feldstecher an. »O bitte!« flehte Emmi. »Dürfte ich mal durch Ihr Fernglas schau-
en?! Ich kenne Chris nämlich ziemlich gut…« »Hey, Korporal!« Der Oberst hatte ihren Dienstgrad an den Schulterstücken ihrer Uniform abgelesen. »Ich habe mein Frühstück im Offizierskasino stehenlassen, um von hier oben den Jungfernstart des gigantischsten Raumers zu beobachten, den die terranische Flotte jemals bauen ließ!« Er setzte das Fernglas ab und sah Emmi unwillig an. »Glauben Sie allen Ernstes, ich würde…?« Plötzlich verstummte er, lächelte halb erstaunt, halb verlegen, und griff in seine Hosentasche. »Passen Sie auf, Korporal – ich geb’ Ihnen einen Blick durch dieses Fernrohr hier aus.« Er steckte eine Münze in das Aussichtsfernrohr. »Danke, Sir.« Emmi stellte sich auf die Konsole, faßte das Rohr und drückte ihre Augen gegen das Okular. Groß und schwarz füllte der gut zehn Kilometer entfernte Gigant nun ihr Blickfeld aus. Seine untere Hälfte verschwamm mit flimmerndem Licht, und langsam, ganz langsam löste er sich von der Erde. »Sie startet!« rief jemand. »Die KONRAD ZUSE startet!« Sehr still wurde es auf einmal auf der Besucherterrasse. Emmi glaubte das Fernrohr in ihren Händen und die Konsole unter ihren Schuhsohlen vibrieren zu spüren. Höher und höher stieg der schwarze Gigant. Luftmassen hüllten seine untere Hälfte ein wie Gewitterwolken. Sie schienen aus einem Feuerring zu schießen, diese Wolken, aus dem gleißenden Brennkreis unterhalb des zwanzigflächigen Kolosses. Ein Grollen wie von einem ausbrechenden Vulkan erhob sich. Von allen Seiten hörte Emmi Ausrufe des Staunens und der Bewunderung – »Unglaublich!« »Gigantisch!« »Wahnsinn!« Der Ikosaederraumer gewann an Geschwindigkeit, schon sah man den Brennkreis und die glühende Luft um ihn herum von unten. Es schien, als würde der schwarze Gigant im Himmel über Cent Field eine kleine orange und rotblau wabernde Sonne gebären. Eine Säule aus erhitzter und teilweise glühender Luft schien vom Startplatz in den Himmel zu wachsen. Auf ihr ruhte die künstliche Sonne, und auf der künstlichen Sonne ruhte der schwarze Iko-Raumer.
Noch relativ kalte Luftmassen bäumten sich rund um die Säule auf, schossen kreisförmig nach allen Seiten, bis die energetischen Schutzfelder der KONRAD ZUSE sie zurückwarfen. Die Luftmassen stauten sich unter dem Brennkreis, vermischten sich mit bereits glühender Luft, wuchsen an der Innenseite der Prallfelder über den Brennkreis hinaus und hüllten bald den gesamten Schiffsrumpf ein. Millionen von Kubikmetern Luft stauten sich hinter den Prallfeldern, wurden zusammengepreßt, kochten, glühten und tobten. Ein Orkan aus Feuer wirbelte zwischen Energiefeldern und Carborithülle, ein Orkan in Fesseln. Das Schiff verschwand hinter Lichtgewitter, Gasglut und Staubmassen, wurde kurz wieder sichtbar, als die Luftsäule unter ihm zusammenbrach. Urzeitliches Donnern brauste über Cent Field, seine Hangars und Hallen hinweg. Schließlich mußte Emmi das Münzfernrohr in einen Winkel von fast achtzig Grad justieren, um den Start des Schiffes noch verfolgen zu können, so hoch flog es bereits. Nur noch einen orangenen Glutwirbel konnte sie im Himmel über dem Flugfeld entdecken, und mitten drin der gleißende Brennring, kaum größer als ein Fingerring. Rasch verblaßte er, und nur ein schwacher Lichtschleier glomm an der Stelle, an der die KONRAD ZUSE sich durch die obersten Schichten der Stratosphäre gebohrt hatte. »Wahnsinn! Bravo! Was für ein göttliches Schauspiel!« Die Männer und Frauen auf der Besucherterrasse klatschten in die Hände. Emmi Richards stieg von der Fernrohrkonsole. Inmitten aufgekratzter, plappernder, lachender Menschen kehrte sie ins Kasino zurück. Sie dachte an Chris, den bärtigen Koloß, sie dachte an seinen Hund und an den bleichen, arroganten Jungoffizier. Wohin mochten sie fliegen? Etwas wie Wehmut beschlich die junge Frau; eine Wehmut, die sie sich selbst nicht erklären konnte…
5. Blitzschnell hatte sich zwischen zwei Arbeitsplätzen im Boden eine Öffnung gebildet, aus der ein Roboter empor schwebte. Rechts und links wiederholte sich der Vorgang. Den ersten Robotern folgten weitere. Die aus ihren Körpern ausgefahrenen Strahlwaffen feuerten grelle Energiebahnen ab, die die Terraner und Cyborgs zum Ziel hatten. Die Menschen versuchten hinter den W-Apparaten Deckung zu finden und schossen zurück, soweit sie bewaffnet waren. Dhark und die anderen kannten diese Maschinenkonstruktionen nur zu gut, die jetzt dutzendweise aus den Bodenöffnungen auftauchten wie der Springteufel aus der Kiste. Vor allem in der Galaxis Orn hatten sie mit ihnen zu tun gehabt, nur standen die Roboter da unter der Kontrolle der Zyzzkt. Wer sie hier kontrollierte, war nicht sicher. Eine seelenlose Automatik, der nicht gefiel, was die Menschen an Wissen aufnahmen? Eine, die begriffen hatte, daß die Para-Sperre nicht reichte, und jetzt radikale Waffengewalt einsetzte? Vier Meter groß waren die metallisch schimmernden Maschinenwesen. Schwach angedeutet die humanoiden Linien im Gesicht, aber am Kopf statt der Ohren zwei kurze Antennen mit Kugelköpfen. Ein dunkler Fleck befand sich anstelle einer Nase im Gesicht. Die Roboter verfügten über zwei kräftige Beine mit jeweils zwei Kniegelenken. Ebenso verhielt es sich mit den Armen. Wie die Gesichter waren auch die schlanken Körper entfernt menschenähnlich. Die beiden Augen waren nicht nur optische Instrumente, sondern auch Statusanzeigen. Leuchtete das grüne, so bedeutete es positiv, leuchtet das rote, negativ. Trotz ihrer rund 1,2 Tonnen Gewicht konnten sie laufen, schwimmen und fliegen. Sie stampften nicht, sondern gingen leicht und schnell. Jeder von ihnen verfügte in seinem Körper über ein beachtliches Arsenal ausfahrbarer Waffen.
Die Cyborgs Chronnow, Brack und Nunaat reagierten schneller als die worgunschen Kampfroboter. Aus ihren Blastern auf die Maschinen schießend, hasteten sie hin und her und versuchten die Menschen in bessere Deckungen zu bringen, die selbst nur noch geringe Chancen dafür hatten. Auch Artus schoß. Neben Ren Dhark feuerten Doorn und Stewart, und dann flog der erste der Roboter in einem grellen Aufblitzen auseinander! Zwei weitere verglühten zu einem Haufen geschmolzenen Metalls. Ein einziger Blasterschuß, der sie am richtigen Punkt traf, reichte für diese totale Zerstörung aus. Wieder und wieder erfolgten die Abschüsse. Zwischendurch ertönten die Schreie von Menschen, die von den Strahlschüssen der Roboter verletzt worden waren. Zum Glück waren keine lebensgefährlichen Treffer dabei. Die Ausrüstungen der Ambulanzpacks reichten aus, um die Wunden zu versorgen. Dhark versuchte über sein Armbandvipho, die POINT OF zu erreichen. Von da mußte Verstärkung kommen, am besten einige der Flash, die mit Duststrahlen breite Schneisen der Vernichtung zwischen die Roboterarmee ziehen konnten. Aber die Verbindung war gestört. Es gab nur Knistern und Rauschen, und das, obwohl es sich um ein besonders leistungsfähiges Spezialvipho handelte, wie es sonst nur von GSO-Agenten benutzt wurde. Während die Roboter angriffen, mußte die steuernde Automatik zugleich ein Störfeld über die Menschen oder vielleicht den ganzen Goldenen gelegt haben. Über die Funkstation war das durchaus möglich. Stewart sprengte mit schnellen, präzisen Blasterschüssen gleich fünf Roboter hintereinander. Dann rief sie den anderen drei Cyborgs Anweisungen zu. Genial! durchfuhr es Dhark, als er erkannte, welche Strategie Stewart anwandte. Die Cyborgs verteilten sich weiträumig, schienen fluchtartig auszuweichen und griffen dann von mehreren Seiten an.
Aber ebenso schnell stellten die Roboter sich darauf ein. Gut zwanzig der Maschinenkonstruktionen wurden vernichtet, dann gab es kaum noch weitere Treffer, weil jetzt auch die Roboter Deckung suchten und die Terraner nicht daran interessiert waren, Zerstörungen an den technischen Anlagen der Worgun in Kauf zu nehmen, sofern das eben vermeidbar war. »Wir müssen hier raus!« rief Dhark über das Fauchen der Strahlschüsse und die Detonationen zerberstender Roboter hinweg. »Nicht ohne den Goldenen!« protestierte Tschobe. Aber den heil aus diesem Inferno hinauszubringen, sah Dhark keine Chance. Es war schon ein Wunder, daß es bisher auf ihrer Seite nur Verletzte gab, noch keine Toten. »Wir müssen ihn hierlassen«, entschied er. »Dann bleibe ich auch hier«, kam es prompt von Tschobe zurück. Den hatte wieder einmal der Forscherdrang gepackt und ließ ihn nicht los, so wie damals bei den Giants, als er sich über ausdrückliche Befehle hinweggesetzt und sein Leben riskiert hatte, um herauszufinden, ob es sich bei diesen Biostrukten, wie die Worgun sie nannten, um organische Roboter oder um echte Lebewesen handelte. »Der spinnt doch!« entfuhr es Stewart, die wieder einen Roboter aufs Korn nahm und mit einem gezielten Schuß zur Explosion brachte. »Wir müssen so oder so hier weg! Bei der Menge an Explosionen muß die ganze Halle doch schon heiß sein!« Damit meinte sie das Freiwerden harter Strahlung, die auf Dauer tödlich auf die Menschen wirken mußte. Nur Cyborgs im Phantzustand konnten dieses Bombardement radioaktiver Partikel unbeschadet überstehen. Artus mit seinem verstärkten Gehör hatte die Unterhaltung mitgehört, obgleich er sich mehr als ein Dutzend Meter von den beiden entfernt befand. »Meine Instrumente zeigen keine harte r-Strahlung an«, verkündete er. »Erklärung?« wollte Dhark wissen.
»Vorläufig keine – hui! Da hätte mich doch gerade fast einer erwischt…« Nur wenige Meter von Artus entfernt verwandelte sich ein W-Roboter in einen Feuerball! Artus war schneller gewesen als die Kampfmaschine der Mysterious. »Wir kommen nicht zum Ausgangstunnel«, stellte Stewart nüchtern fest. »Zu groß, die freie Fläche. Die knipsen uns ab wie der Hoffotograf die kaiserliche Familie…« Und über Funk Entsatz herbeizubeordern war immer noch nicht möglich! Blieb nur die Hoffnung, daß man in der POINT OF die Energie anmaß, die hier freigesetzt wurde, und entsprechende Schlüsse zog. Aber darauf wollte sich niemand verlassen. »Wenn wir nicht rauskommen, müssen wir verhindern, daß die Roboter reinkommen«, überlegte Amy Stewart. »Ich habe da eine Idee…« * Sie entwickelte ihren Plan. Per Zuruf informierte sie die anderen über ihr Vorhaben. Daß der Feind eventuell mithörte, mußte sie dabei in Kauf nehmen, weil auch in der Halle selbst Viphokontakt zwischen den Menschen nicht mehr möglich war. Das gesamte Funknetz lag lahm. Gemeinsam mit den drei anderen Cyborgs ging sie von der Verteidigung zum Gegenangriff über. Die vier gaben ihre Positionen auf und rückten vor. Sie schlugen Breschen in die Linien der Roboter und arbeiteten sich an die Bodenöffnungen heran, aus denen die Roboter ständig Nachschub erhielten. Dank ihres Zweiten Systems waren sie reaktionsschnell genug, auch größere Freiflächen zu überwinden, ehe die Kampfmaschinen sich darauf einstellen konnten. Nimmt der Nachschub überhaupt kein Ende mehr? dachte Ren Dhark
mit allmählich wachsendem Zorn. Das Potential dieser Kampfmaschinen schien ähnlich groß wie das der Roboter, die seinerzeit Henk deGroot und Gisol zugesetzt hatten, nur waren jene Roboter wesentlich schwerer zu zerstören gewesen. Allerdings fehlte den neuen Maschinen plötzlich wieder der Selbsterhaltungstrieb. Sie suchten nicht ihrerseits nach Deckung, sondern nur nach neuen Zielen. Nach ein paar Minuten waren die Cyborgs nahe genug an den Öffnungen, um diese direkt unter Feuer nehmen zu können. Roboter, die aus der Tiefe emporschwebten, flogen schon direkt in den Öffnungen in grellen Explosionen auseinander. Innerhalb weniger Augenblicke entstand eine kleine Energiehölle. Dhark und die anderen mühten sich ab, die noch in der Halle vorhandenen Roboter einen nach dem anderen abzuschießen. Plötzlich bekamen sie endlich wieder etwas mehr Luft! Die kochte regelrecht durch die bei den Explosionen freigesetzte Hitze, aber solange sie nicht heiß von radioaktiver Strahlung war, ließ sich damit leben. Weitere Roboter schafften es nicht mehr, aus den Öffnungen freizukommen. Sie flogen in eine Hitzehölle und eine Wolke verglühender Schrotteile. Die Cyborgs hatten die Öffnungskanten jetzt erreicht und schossen einfach nur noch nach unten. Gefahr, daß sie von den bereits oben befindlichen Maschinen angegriffen wurden, bestand nicht mehr. Dhark und die anderen verwandelten auch die letzten Roboter in verglühenden Schrott. Schrott wurde jetzt an den Öffnungen verarbeitet! Die Cyborgs verschweißten glühende Trümmerstücke, die nicht atomisiert worden waren, zu einer kompakten Masse, die von den Robotern nicht mehr durchstoßen werden konnte. Wenn sie versuchten, den Durchgang durch Strahlbeschuß wieder zu öffnen, floß das glühende Metall auf sie nieder und machte sie zu einem Teil der sperrenden Masse. »Nur gut, daß diese verdammten Biester nicht aus Unitall kons-
truiert worden sind«, knurrte Arc Doorn und betrachtete kopfschüttelnd die Kapazitätsanzeige seines Blasters. »Noch so eine Schlacht können wir uns nicht leisten. Wie sieht’s mit euren Waffen aus?« wandte er sich an die anderen. Bei denen, einschließlich der Cyborgs, sah es auch nicht besser aus. Immerhin hatten sie jetzt erst einmal Ruhe, dank Amy Stewarts Plan. Ren Dhark verspürte Stolz auf seine Gefährtin. Artus kam mit einer neuen Erkenntnis. »Daß wir von harter r-Strahlung verschont geblieben sind, liegt an einem Absorberfeld, das die Isotopen umwandelt. Scheint eine Sicherheitseinrichtung zu sein. Das Absorberfeld geht übrigens von Tschobes Arbeitsplatz aus.« Kai Nunaat grinste. »Hat sich wohl bis zu den Mysterious von Babylon herumgesprochen, daß Mister Tschobes Untersuchungen bisweilen explosive Resultate hervorbringen.« »Wie kommen Sie denn darauf?« fragte der Afrikaner stirnrunzelnd. »Haben Sie Ihren ersten Giant in der Medostation der POINT OF schon vergessen, Sir?« Tschobe seufzte. »Machen Sie nur so weiter, Cyborg. Minuspunkte bei Ihrer Bewertung durch mich sind Ihnen dann sicher.« Ren Dhark räusperte sich. »Wir sollten diese Räumlichkeiten so schnell wie möglich verlassen, ehe uns die nächste Überraschung frei Haus geliefert wird. – Ja, Manu, wir nehmen Ihren Goldenen mit in die POINT OF. Jetzt haben wir ja wohl genug Zeit dafür.« Die hatten sie nicht. Denn die nächste Überraschung war schon da… * »Achtung!« entfuhr es Val Brack. Blitzschnell hielten die Cyborgs wieder ihre Blaster in den Händen, aber dann gab es für sie keinen Grund, das Feuer zu eröffnen, und die Strahlwaffen verschwanden
wieder in den Holstern. Jäh war mitten im Raum eine Bildkugel entstanden. Wie ihre bekannten Vorbilder aus der POINT OF und einigen anderen Einrichtungen der Worgun schwebte sie frei in der Luft und zeigte sich als perfekte Holographie, in die man am liebsten hineingegriffen hätte, um sich zu vergewissern, daß das, was sie darstellte, nur ein Bild war. Diese Bildkugel war aber mit fünfeinhalb Metern Durchmesser fast doppelt so groß wie die in der Zentrale des Ringraumers. In ihrem Inneren war ein Worgun in seiner natürlichen Gestalt zu sehen! Er glich somit einer unförmigen Amöbe, die sich auf laufend wechselnden Pseudopodien fortbewegte. Er war schon sehr alt, wie es den Anschein hatte. Worgun hatten eine natürliche Lebensspanne von etwa 900 Jahren. Dieser mußte den größten Teil dieser Spanne bereits hinter sich haben. Als er zu sprechen begann, erinnerte er Ren damit an das Gesicht des alten Salters, das sich in der Abstrahlfläche des Ringtransmitters im Industriedom von Hope gezeigt hatte wie auf einem Bildschirm. Auch da wurde gesprochen, nur hatte zu dem Zeitpunkt noch niemand die Worgunsprache beherrscht. Auch Ren Dhark hatte sie erst viel später in der Zwitt-Station in der Sternenbrücke erlernt. Aber hier war alles anders. Hier sprach kein Salter, sondern ein Worgun. »Ich bin Darok«, sagte er. »Und was ich euch zu sagen habe, wird euch bei eurer Suche nach der Wahrheit helfen. Hört mir zu.« »Das muß eine Aufzeichnung sein«, vermutete Ren Dhark. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sich ein Worgun in der Milchstraße befand, schon gar nicht auf Babylon. Nachweislich hatte auch der letzte der Geheimnisvollen vor tausend Jahren die Galaxis verlassen. Ebenso unvorstellbar war eine direkte Funkverbindung nach Orn. Die herzustellen, reichte nicht einmal die Leistung von ERRON-1 aus. Funksendungen aus Andromeda hatten sie damals schon klar
hereinbekommen, aber damit schien die Reichweite zu enden. Der Supersender der Babylon-Statue war zwar enorm leistungsfähig, aber ERRON-1 noch weit unterlegen. Hinzu kam, daß es mehr als unwahrscheinlich war, daß die Worgun sich noch einmal mit den Terranern in Verbindung setzten. Sie hatten sich immerhin total abgeschottet und damit keinen Grund, Funkkontakt aufzunehmen. Nein, es mußte eine Aufzeichnung sein, die in ferner Vergangenheit gemacht worden war. Und der Worgun Darok begann zu erzählen… Einst Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende stellten die Worgun fest, daß die Entwicklung ihres Volkes immer langsamer voranschritt und schließlich zu stagnieren begann. Schon immer waren sie »langsam« gewesen im Vergleich zu anderen Völkern. Anfangs hatten sie es für die Kurzlebigkeit der anderen gehalten, die in der ihnen zugestandenen individuellen Lebensspanne gezwungen waren, so viel wie möglich zu erreichen, während die langlebigen Worgun sich Zeit lassen konnten. Nichts drängte sie; ihre Entwicklungen waren genial, aber die Innovationen brauchten ihre Zeit. Doch nicht nur der technische Fortschritt verlangsamte sich allmählich, sondern auch der kulturelle. Immer deutlicher wurde es, daß die Zivilisation vom Verfall bedroht war. Es gab keine Götter mehr. Sie selbst waren zu Göttern geworden. Sie forcierten und manipulierten die Entwicklung anderer Spezies. Aber wer half ihnen, sich selbst weiterzuentwickeln? Immer wieder machten sich Worgun auf die Suche nach ihren Göttern, um sie aus der Vergangenheit zurückzuholen. Sowohl nach den Göttern in ihnen selbst, die längst in Vergessenheit geraten waren, als auch den anderen, den »goldenen Göttern«, die das Volk der
Worgun einst geschaffen hatten. Wo in den Raumtiefen gab es sie noch? Wohin waren sie vor Jahrhunderttausenden oder noch früher verschwunden? Immer wieder schien es Spuren zu geben. Immer wieder flogen Worgun und auch Salter hinaus, um das größte Geheimnis der Worgun zu klären. Viele kehrten zurück, ohne etwas gefunden zu haben, aber noch mehr Worgun verschwanden auf der Suche nach den »goldenen Göttern« spurlos. Zu jenen, die in die Galaxis hinausflogen, um zu suchen, gehörte auch der Salter Arlon. Er nahm eine verheißungsvolle Spur auf. Es war die aussichtsreichste, auf die bislang jemand gestoßen war, und Arlon folgte ihr. Und lange Zeit hörte und sah man nichts mehr von ihm. Nach einem Jahr kehrte sein Raumschiff vollautomatisch zurück. Aber es hatte sich verändert. Erschreckend verändert… Es war völlig golden! Zunächst hielt man es für einen Fremdraumer, von einer anderen, noch unbekannten Spezies nachgebaut. Doch dem war nicht so. Es handelte sich eindeutig um Arlons Schiff. Es bestand nach wie vor aus Unitall, aber dieses Unitall funkelte nicht mehr im typischen Blauviolett, sondern war durch und durch golden. Die kleine Besatzung aus Saltern war verschwunden. Nur Arlon selbst fand man an Bord. Auch er war golden bis hinein in die Zellen seines Körpers. Haut, Fleisch, Organe, Blut, Knochen – alles war golden. Und Arlon war tot. Wie lange schon, ließ sich nicht feststellen. Aber sein Körper verweste nicht, und das Schlimmste an ihm war, daß er kein Gesicht mehr besaß. Die Untersuchungen erbrachten keine Resultate. Was ihn so verändert und getötet hatte, wer ihm in einem unwahrscheinlich brutalen Vorgang des Gesicht genommen hatte, ließ sich nicht herausfinden. Manche Mediziner und Biologen vermuteten, er sei nicht der
echte Arlon, sondern ein Klon, dessen Genstruktur entsprechend manipuliert war. Aber zumindest das ließ sich nachweisen: Es war der originale, der echte Arlon! So brachte man ihn nach Fande1 und konservierte ihn. Später befand er sich in einer Vitrine im Sockel der neuerbauten Statue des »goldenen Gottes« als eines der unzähligen Wesen, gerade so, als sei er ein Fremder. Und so fanden ihn die Terraner. Arlon als Nichts im Nichts und ins Nichts vertrieben…? * 5 000 Jahre lag dieses Ereignis nunmehr zurück. Arlon war der letzte, der sich auf die Suche nach den »goldenen Göttern« gemachte hatte. Die Worgun gaben die Suche auf. Es war ein Fehler, wie sich später herausstellte. Denn nun, im Krieg gegen die Zyzzkt, hätte man jede Hilfe brauchen können. Doch es gab keine Hilfe. Die »goldenen Götter« hatten ihr Volk endgültig im Stich gelassen. Vor tausend Jahren erging dann der Ruf. Alle Hyperfunkstationen sandten die Aufforderung zu jedem Raumschiff, zu jeder Station, jedem Planeten, auf dem Worgun in Nal lebten. »Ron wedda wi terra« – Größte Gefahr! Alle sofort zurückkommen! »Terra to« – Auch wir schweben in Lebensgefahr! »Terra wire« – Alle Unternehmen abbrechen. Rückflug! »Terra wowire terra« – Rückflug sofort antreten. Lebensgefahr! »Terrun woger terra« – Lebensgefahr für alle überall! Fünf Funksprüche, die auch in der Gegenwart noch einmal ausgestrahlt worden waren und die zur Entdeckung von ERRON-1 geführt hatten. Funksendungen, die die Terraner irritierten, kam doch in jeder der Begriff »Terra« vor, bis es dem Linguisten Dr. 1
Fande: Bezeichnung der Worgun für den Planeten Babylon
Alpho Marcuse im Oktober 2057 gelang, diese fünf Sendungen, die in der Sprache der Worgun verbreitet worden waren, zu übersetzen und dabei herauszufinden, daß es sich bei »Terra« um einen Code handelte. Darok installierte die Vitrine mit dem goldenen Arlon nun im Forschungszentrum des Sockels und an seiner Stelle eine Projektion im Vitrinensaal. Und er hinterließ eine Nachricht. Wer immer sie finden würde, mußte aggressiver sein als ein Worgun, aber kein Insekt. Jeder Zyzzkt, dem es gelang, hierher vorzudringen, würde unweigerlich getötet. Er käme erst gar nicht in die Lage, die »Aggressionsprüfung« zu absolvieren. Alles, schon angefangen mit dem Strahlschuß in die gespiegelte Vitrine oben in der Halle bis hin zur Attacke der Roboter, war so arrangiert, daß nur Wesen hierher finden würden, die aggressiv waren, aggressiver als ein Worgun. Darok schloß seine Erzählung mit dem Hinweis: »Ich werde Nal nun mit allen anderen Worgun verlassen. Ich hoffe, daß es nicht zu lange dauert, bis jemand erfährt, was ich zu sagen habe. Wenn diese Nachricht endet, wird ein Sicherungscode für einen Hyperkalkulator freigegeben, in dem sämtliches Wissen der Worgun über die Suche nach den Goldenen gespeichert ist.« Jetzt Das Abbild Daroks erlosch. An seiner Stelle zeigte die Bildkugel eine Folge von Symbolen, die frei im Nichts schwebten und wie zuvor die Projektion des Worgun von allen Seiten zugleich zu sehen waren. Dhark sah, wie die Lichtstärke geringer wurde. Zugleich wurde die Bildkugel auf seltsame Weise transparent und instabil. »Aufzeichnen«, stieß er hervor. »Schnell!« Er sah sich nach den Cyborgs um.
Aber schneller als sie war Artus. Es war, als habe der Roboter auf genau diesen Moment gewartet. »Aufzeichnung durchgeführt«, meldete er auf eine metallische Weise, die eigentlich nicht zu ihm paßte. Nicht einmal eine Sekunde später erlosch die Bildkugel. »Verdammt, das war aber knapp«, stöhnte Manu Tschobe auf. »Bist du immer so schnell, Artus?« Es klang etwas widerwillig. »Man tut, was man kann«, erwiderte der Blechkamerad. »Was der kann, können wir auch«, verkündete Val Brack. »Wir haben den Sicherungscode ebenfalls gespeichert. Jetzt müssen wir nur noch den Hyperkalkulator finden, in dem sich die Informationen über die Suche nach den Goldenen befinden.« »Das dürfte das geringste der Probleme sein.« Amy Stewart setzte sich in Bewegung und schritt an den Geräten und Forschungsplätzen entlang. »Wie die Hyperkalkulatoren der Worgun aussehen, wissen wir ja schließlich.« Von diesen Rechnern waren an sich nur variable Bildschirme und Eingabetastaturen sichtbar, alles andere verschwand irgendwo unsichtbar unter Verkleidungen, je nachdem, wo der Hyperkalkulator positioniert war. Wahlweise konnten die Rechner auch über Gedankensteuerung bedient werden. Zumindest war es bei den Apparaten so, die sie in Orn kennengelernt hatten. Hier auf Babylon war die Technik aber mehr als tausend Jahre alt, in denen die Entwicklung nicht stillgestanden hatte. »Hier…« rief Stewart nach wenigen Minuten. »Versuchen wir’s hier mal.« Sie hatte einen Rechner entdeckt, der sich im Schlafmodus befand, ohne von den Forschern für den Betrieb aktiviert worden zu sein. Dhark und die anderen kamen heran. Er nickte der Cyborg-Frau auffordernd zu. Ihr Programmgehirn hatte den Code gespeichert, den sie jetzt über die Tastatur eingab. Der Code »weckte« den Hyperkalkulator.
Der Commander war aufs höchste gespannt. Was würden sie an Details über die Suche der Worgun und Salter nach den goldenen Göttern erfahren? Schon aus den Daten selbst mußte doch einiges über die Goldenen herauszulesen sein. Hatten sie den Salter Arlon zu einem von ihnen gemacht? Hatten sie ihn dabei getötet? Welchen Sinn hatte das alles? Der Bildschirm leuchtete auf. Stewart trat beiseite und machte Dhark und Doorn Platz. Ren Dharks Finger glitten über die Sensortasten. Lichtfelder zuckten über den Schirm und erloschen wieder. »Lassen Sie mich mal«, verlangte Doorn. Er gab eine andere Tastenkombination ein. Ein neues Bild erschien – eine in schwachem Blau glimmende Kugel. Mehr nicht, egal was er eingab. »Leer«, knurrte er erbost. »Was soll das heißen?« fragte Dhark. Ihm lief es kalt über den Rücken. Da bestätigte Doorn auch schon seine Befürchtung. »Alles, was hier jemals gespeichert wurde, wurde auch wieder gelöscht.« »Das heißt, jemand war vor uns hier?« Der Sibirier nickte nur. »Vielleicht ist es das falsche Gerät. Wir sollten die anderen Rechner ebenfalls überprüfen«, schlug Stewart vor. Zehn Minuten später wußten sie, daß sie vor dem richtigen Hyperkalkulator standen! »Moment!« entfuhr es Doorn plötzlich. »Da ist doch was… ein Löschprotokoll!« Es war sauber versteckt; ein kleiner Punkt in der blaßblauen Kugel, und dieser Punkt vergrößerte sich schlagartig, als Doorn ihn markierte. Protokoll öffnen, gab der Sibirier ein. Schriftzeichen erschienen. Doorn pfiff durch die Zähne. »Die Löschung ist total, die Daten nicht wiederherstellbar«, knurrte er verdrossen. »Wurden alle mit Null überschrieben. Das war’s, Freunde.
Nur diese Protokolldatei konnte nicht gelöscht werden.« »Oder jemand hat sie absichtlich für uns hinterlassen«, überlegte Dhark. Der andere schüttelte den Kopf. »Sehen Sie sich das genau an«, forderte er, der die Worgunsprache längst in Laut und Schrift ebenso beherrschte wie der Commander der POINT OF. »Unser unbekannter Freund hat versucht, auch diese Datei zu löschen. Aber das ging nicht, weil darin unter anderem auch die Löschparameter abgelegt sind – und das Datum. Können Sie was damit anfangen, Dhark? So ganz firm bin ich nicht, was Worgunkalender angeht…« Ren Dhark brauchte nicht lange umzurechnen. »Die Löschung erfolgte vor etwa 200 Jahren«, stellte er fest. »Also nicht durch einen Worgun«, sagte Stewart. »Aber wer hat dann seine Finger im Spiel gehabt? Wer hat vor 200 Jahren Babylon entdeckt und ist hier unten gewesen?« Dhark zuckte mit den Schultern. Plötzlich änderte sich die Wiedergabe. Die Protokolldatei, angeblich unlöschbar, verschwand! Statt dessen entstand ein Schriftzug mit den ominösen Worten: »Kor Tranc war hier!« * Kor Tranc… »Der Name klingt nach einem Tel«, meinte Doorn. Ren Dhark schüttelte den Kopf. »Babylon, oder Fande, war im Telin-Imperium unbekannt.« »Und wenn es ein Einzelgänger war?« Das konnte Dhark sich ebensowenig vorstellen. Wer bis hierher vorstieß, hinterließ Spuren, aber die waren hier nicht zu finden. Kor Tranc ein Tel? Unterdessen schaltete Doorn weiter an dem Hyperkalkulator he-
rum. »Was haben Sie vor, Arc?« wollte der Commander wissen. »Mal was ausprobieren…« Doorn wurde wieder wortkarg. Amy Stewart sah ihm über die Schulter. »Da ist doch etwas«, wies sie plötzlich auf ihre Beobachtung hin. »Hier!« Waren doch nicht alle Dateien gelöscht worden? Oder waren einige versteckt, daß niemand sie auf Anhieb fand? Doorn war fündig geworden. »Da… das ist doch ein Bestätigungszeichen, oder?« fragte Stewart. Dieses Zeichen war für ein paar Sekunden erkennbar, dann aber wieder im Nichts verschwunden. Dharks Armbandvipho meldete sich. Die Funkverbindung nach draußen war nicht mehr gestört! »Funk-Z an Dhark«, meldete sich Glenn Morris aus der POINT OF. »Was haben Sie da im Goldenen angestellt, Commander? Der Gigantsender in der Statue hat sich aktiviert und strahlt ein Peilsignal ab.« »Arc?« fragte Dhark stirnrunzelnd. »Haben Sie…?« »Möglich«, brummte der mürrische Sibirier. »Irgendwas ist ja bestätigt worden. Warum nicht das Peilsignal? Diese verdammten Worgun! Nie ist man vor Überraschungen sicher!« »Können Sie herausfinden, ob…« begann Dhark, aber der Sibirier wehrte energisch ab. »Auf keinen Fall.« Die Cyborgs waren ebensowenig in der Lage, festzustellen, ob der Gigantsender durch diesen Hyperkalkulator im Forschungssaal aktiviert worden war. Der Commander schaltete sein Vipho um. »Dhark an Zentrale! Alle Flash raus und zu uns! Die sollen uns aufnehmen und zur POINT OF zurückbringen. Wir spielen hier geölter Blitz und verschwinden so schnell wie möglich!« »Rechnest du mit einer Gefahr, Ren?« fragte Amy. »Vielleicht wie von den Robotern vorhin?« »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber ich will kein Risiko eingehen.« Wenig später traf der erste Flash im Forschungssaal ein.
* Alle 28 Flash kamen zum Einsatz, um die Forschergruppe auf dem schnellsten Weg zurück in den Ringraumer zu transportieren. Schneller wäre es vielleicht gewesen, einen Transmitter zu benutzen; in der POINT OF gab es genügend davon. Aber die Transmitterverbindungen in der goldenen Statue ließen sich nicht nach draußen schalten. Die Vernetzung bestand nur innerhalb dieser Anlage. »Ich würde das hinkriegen, sie auch auf Betrieb nach außen zu schalten, aber dafür brauche ich Zeit«, behauptete Arc Doorn. Auf Dharks Frage, wieviel Zeit, konnte er aber nur mit den Schultern zucken. Der Mann mit dem unglaublichen Einfühlungsvermögen in fremde Techniken konnte nichts erzwingen. Die Flotte der zweisitzigen Beiboote war seit einiger Zeit wieder komplett. Im Laufe der Jahre waren zwei Flash zerstört worden; man hatte sie jetzt ersetzt. Dank der aus Orn mitgebrachten Daten war die Menschheit nun auch in der Lage, die zylinderförmigen Kleinstraumer von nur drei Meter Länge und 1,50 Meter Durchmesser selbst zu bauen. Wie die großen Ringraumer verfügten sie über Intervallfelder, SLE-Antrieb, Sternensog und Transitionstriebwerke. Dhark flog die neue 001 nicht mehr selbst; er hatte das Raumboot dem Piloten Pjetr Wonzeff für dessen bisherige Verdienste überlassen. Er selbst flog jetzt die 003 als »seine« Maschine. Nur zehn Minuten nach dem Rückkehrbefehl befand er sich bereits wieder in der Zentrale. »Der Peilstrahl steht immer noch«, hatte Glenn Morris aus der Funkzentrale zu vermelden. »Der Checkmaster hat die Richtung ermittelt. Sie können das Ziel über die Bildkugel oder den Checkmaster abrufen.« Anja Riker, Chefmathematikerin der POINT OF und mit der Hypermathematik der Worgun vertraut wie niemand sonst, war bereits dabei.
»Vier Lichtjahre von hier befindet sich ein Sonnensystem, das noch nicht als erforscht im Sternkatalog verzeichnet ist. Dort endet auch der Peilstrahl, ohne zwischendurch an Leistung zu verlieren«, teilte sie mit. »Gerade so wie ein Stab, der am Ende noch den vollen Durchmesser hat und nicht spitz zuläuft.« »Das ist ungewöhnlich«, kommentierte Artus. »Normalerweise endet ein Peilsignal nicht so abrupt, sondern verliert über die Distanz an Energie. Auch der Signalstern…« »Wissen wir«, unterbrach Dhark den Roboter. »Der Checkmaster soll den exakten Kurs berechnen.« »Du willst hinfliegen?« fragte Dan Riker. Dhark nickte. »Hier auf Babylon werden wir wohl kaum noch etwas finden. Die Daten sind gelöscht, vermutlich von diesem Kor Tranc. Der Peilstrahl könnte aber ein Hinweis sein, wo wir weitere Informationen finden.« »Kurs liegt an«, meldete Hen Falluta. »Soll ich einen unserer Jungspunde ranlassen?« Dhark schüttelte den Kopf. »Machen Sie das, Hen. Funk-Z: senden Sie Grüße an Pétain. Wir starten – jetzt.« Er nickte Hen Falluta zu. Die Hände des Ersten Offiziers brachten Steuerschalter in andere Positionen. Antigrav hob den Ringraumer vom Landeplatz. Die 45 Paar Landestützen verschwanden in ihren Bettungen, die Auflageteller schlossen fugenlos mit der Unitallhülle ab. Dann entstand der Brennkreis, der von in der inneren Druckzelle eingelassenen Flächenprojektoren erzeugt wurde. Je geringer der Kreisdurchmesser wurde, desto schneller flog die POINT OF. Entstand aus dem Brennkreis der Brennpunkt, wechselte der Raumer auf Überlichtgeschwindigkeit oder, bei ausgeschalteten Intervallfeldern, in Transition. Kaum war die POINT OF gestartet, erlosch der Peilstrahl.
6. Rouven DaCol hob seine Hände von der Tastatur. Zitterten sie wirklich, oder bildete er sich das nur ein? Schluß mit der Selbstbeobachtung! schimpfte er im stillen. Konzentrier dich auf deine Arbeit…! Er gab die Tastenkombination ein, die seinen Arbeitsplatz um das letzte noch fehlende Datenmedium ergänzte. An seinen Kopfschmerz hatte er sich inzwischen gewöhnt, der Druck im Magen und die Erinnerung an eine wortgewandte Frau, die behauptet hatte, von ihm schwanger zu sein, waren für den Augenblick in den Hintergrund getreten. Zwischen seinen beiden Hauptmonitoren begann es zu flimmern, und eine Sekunde später baute sich ein kugelförmiges, zweiundsiebzig Zentimeter durchmessendes Hologramm auf. Es zeigte ein dreidimensionales Muster mehrfarbiger Linien, Würfel, Pyramiden, Kugeln und Zylinder. Ein chaotisches Muster für den ungeübten Blick, eine Quelle präziser Informationen für Rouven DaCol: Linien und geometrische Körper veranschaulichten gewissermaßen das zentrale Nervensystem der KONRAD ZUSE – die Datenströme, Energieleitungen und Schnittstellen von S 1-62. Die beiden Sessel neben Rouven DaCol waren leer. Noch saß er allein in einer der fünf hufeisenförmigen Arbeitsbuchten, die, leicht erhöht, in der Mitte der Kommandozentrale rund um die fast drei Meter durchmessende Hauptbildkugel gruppiert waren. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Kugelhologramms und dadurch seinem direkten Blick verborgen, sorgten vor einer Wand aus Monitoren und Geräten ein Funkoffizier und sein Assistent dafür, daß die interne und externe Kommunikation funktionierte. Beide sah Rouven heute zum ersten Mal. Zwei Meter neben der Kommunikationskonsole arbeiteten ein Gaptain und ein Korporal an den Geräten für die Ortung. Der Offizier hieß Arnold, der Unteroffizier McClout. Links neben Rouven
thronten Captain de Chablaise und Leutnant Travers im Navigations- beziehungsweise Pilotenstand. Rechts von ihm befand sich die Arbeitsbucht des Kommandanten. Professor Bell und Chris Shanton hielten sich ebenfalls im Kommandostand auf. Die drei Männer beobachteten die rasch kleiner werdende Erdkugel im Hologramm und unterhielten sich. Rouven wurde das klamme Gefühl nicht los, daß der Dicke ihn belauerte. Er versuchte nicht hinzusehen. Die Zentrale lag direkt über der Offiziersmesse. An sie mußte Rouven sich erst gewöhnen. Anders als die halbkugelförmigen Kommandobrücken der Ringraumer, hatte die Zentrale der KONRAD ZUSE eine ähnliche Form wie die Messe – ovaler Grundriß, flache Decke, etwa fünfunddreißig Meter lang, acht Meter hoch, und in der Mitte fünfzehn Meter breit. Die beiden Hauptschotts waren in die Pole des Ovals eingelassen. Außer dem leitenden Personal in den fünf Arbeitsbuchten rings um das Zentralhologramm taten noch weitere fünfzig Frauen und Männer hier Dienst. Sie saßen an den Tastatur- und Monitorkonsolen, die aus den Wänden des ovalen Raumes ragten – dreißig auf der unteren Ebene, zwanzig drei Meter über ihnen auf einem breiten, begehbarem Sims unterhalb der Galerie. Computeringenieure, Raumfahrttechniker, Informatiker, Kybernetiker; alle hatten sie mit Rouven DaCol den Intensivkurs absolviert, und alle wurden sie hier in der Zentrale gebraucht, um die vielschichtigen Aufgaben des Suprasensor-Prototyps 1-62 zu überwachen und ihn gegebenenfalls mit Daten zu füttern. »Transition in sieben Minuten«, sagte der Kommandant. »Geben Sie die Koordinaten von Fomalhaut ein, Leutnant Travers.« »Verstanden, Sir.« »Treten Sie die Steuerung an S 1-62 ab.« Larsen nahm in seinem Kommandantensessel Platz. »Soll das Superhirn uns ans Ziel bringen.« »Aye, Sir.« Über seine Monitorzeile hinweg nickte der Pilot in Rouvens Richtung. Sein Job begann. Dann ließ er sich zurück an die
Sessellehne sinken und sagte: »Übernehmen, S 1-62.« »Ich übernehme, Leutnant Travers.« Genau wie die offiziellen Befehle war die Stimme des Suprasensors in der gesamten Zentrale zu hören. Rouven richtete seine Aufmerksamkeit auf das Funktionshologramm des Rechners. Eine rote Kugel verfärbte sich grün, sie symbolisierte den Autopilotenmodus. Verschiedene von ihr wegführende rote Linien färbten sich ebenfalls grün. Es sah aus, als würde grüne Flüssigkeit durch feine Röhrchen strömen. Eines dieser Röhrchen führte zu einem roten Würfel, der sich sofort grün färbte – das Symbol für das Transitionstriebwerk. Etwas berührte ihn am rechten Unterschenkel. Rouven fuhr erschrocken zusammen und sah neben sich zwischen die Sessel hinunter: der schwarze Kunsthund! Er blickte auf – und in Shantons bärtiges Gesicht. »Geht’s, Sir Leutnant?« Rouven hatte ihn nicht in seine Arbeitsbucht steigen hören. Blitzartig spritzte er hoch, um dem Dicken den Platz zu räumen, der ihm zustand – den Sessel des Ersten Kybernetikers. Chris Shanton aber legte ihm die Hand auf die Schulter. »Bleiben Sie ruhig sitzen.« Er ließ sich in den Sessel rechts von Rouven fallen. »Habe gehört, Sie würden Ihre Sache gut machen.« »Danke, Sir.« »So gut, daß man mit dem Gedanken spielt, Sie zum Oberaufseher des Suprasensors zu machen. Sparen Sie sich das ›Sir‹, Sir Leutnant.« »Ich… ich wollte noch sagen…« Rouven räusperte sich. »Ist das nicht ein geniales Spielzeug?« Shantons fleischiger Finger deutete auf das Hologramm zwischen den Bildschirmen. »Sieht aus, als würde mal grünes, mal rotes Blut durch die Fäden eines dreidimensionalen Spinnennetzes fließen, finden Sie nicht? Schauen Sie nur – jetzt gibt das Bordhirn unseren ID-Code an die Überwachungsstation weiter! Und jetzt deaktiviert es den SLE…« »Merkst du nicht, daß der Jüngling mit dir reden will, Chris?« schnarrte Jimmys Blechstimme aus dem Fußraum. »Was?« Shanton wandte sich vom Hologramm ab und tat über-
rascht. »Wie, ›reden‹?« »Heute morgen im Offizierskasino von Cent Field…« Rouven schluckte. »Ich meine… ich habe mich benommen wie ein Arschloch…« Endlich wich er dem Blick des Dicken nicht mehr aus. »Es tut mir leid.« »Heute morgen? Kasino? Ach so!« Shanton winkte ab. »Schwamm drüber. Sie sollten mich mal erleben, wenn ich einen ausgewachsenen Kater habe, Rouven! Und dann noch Liebeskummer dazu.« Er hob die Brauen. »Ist doch Liebeskummer, oder?« »Neugierig wie ein altes Weib!« krähte Jimmy. »So ähnlich.« Rouven lächelte verlegen. »Das mit dem Liebeskummer meine ich…« »Wir haben eben die Bahn des Jupiter gekreuzt. Achtzehn Minuten nach zehn. Hier spricht der Kommandant.« Ralf Larsens Stimme tönte aus den Lautsprechern unter der Galerie. »Transition in vier Minuten. Ein paar Worte zum Tagesprogramm. In Fomalhaut werden wir unseren Suprasensor einen Ortungscheck durchführen lassen und gegen elf dann mit der Simulation beginnen. Für die Raumschlachtübung sind neun Stunden angesetzt. Danach Pause mit anschließender Manöverkritik. Gegen zweiundzwanzig Uhr Rückkehr ins Sol-System, spätestens dreiundzwanzig Uhr Landung auf Cent Field. Fertigmachen zur Transition. Ende der Durchsage.« Die Sekunden vor dem Sprung durch den Hyperraum blieb es seltsam still in der Kommandozentrale; eine fast andächtige Atmosphäre herrschte. Immerhin war es die erste Transition der KONRAD ZUSE. Aus den Augenwinkeln sah Rouven den Chefwissenschaftler vollkommen entspannt in seinem Sessel hängen. Er selbst fühlte sich ein wenig verkrampft, denn noch nie hatte er im verkaterten Zustand eine Transition mitgemacht. Außerdem verunsicherte ihn die Nähe des Älteren. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, saß er neben einem Genie. Er beobachtete das Zentralhologramm. Es zeigte die Sternkonstellationen in Flugrichtung. Deutlich waren der von der Sonne
angestrahlte Jupiter und drei seiner Monde zu erkennen. In der Peripherie der Bildkugel blinkte ein grün markiertes Objekt – einer der zur Abwehrfestung ausgebauten äußeren Asteroiden. Hunderte solcher sogenannten Ast-Stationen kreisten um die heimatliche Sonne. Rouven hatte gehört, daß Chris Shanton an der Errichtung dieses Verteidigungssystems mitgewirkt hatte. Die letzten zehn Sekunden des Countdowns begannen. Die androgyne Stimme des Suprasensors sagte die verstreichenden Sekunden an. Im Zentrum der Bildkugel sah Rouven eine orange eingefärbte Sternkonstellation: Der »Südliche Fisch«. Eine Sonne des Sternbildes blinkte rot markiert: Fomalhaut, einer der hellsten Sterne am terranischen Nachthimmel. »… drei, zwei, eins«, sagte S 1-62. Das Hologramm glühte auf, erlosch, glühte wieder auf. Rouven wartete auf Brechreiz, aber der kam nicht. Drei Mal atmete er tief ein und aus. Einen Herzschlag später leuchtete eine große Sonne im Zentrum der Bildkugel. Eine gewaltige und seltsam verformte Staubscheibe umgab sie. * Befehle, Bestätigungen, Meldungen flogen über die Bildkugel hin und her. Systemüberprüfung, Fernortung, Positionsberechnung, Nahpeilung und so weiter – die nach Wiedereintritt in den Normalraum übliche Routine eben. Chris Shanton warf einen letzten Blick auf das S 1-62-Hologramm, das den Systemstatus des Suprasensors anzeigte – bis auf die Fernflugtriebwerke und die Defensivwaffen pulsierten alle Linien und Körper in einem hellen Grün. Das gigantische Bordhirn hatte alles im Griff. Na, prächtig. Shanton nickte Rouven DaCol noch einmal zu und stieg aus dem Kybernetikleitstand. Sein falscher Terrier stelzte hinter ihm her. »Jetzt wird’s gleich ernst für unser Kunsthirn, was, Chris?« Monty Bell kam ihm entgegen. Er rieb sich die Hände und nahm die zwei Stufen hinauf zu Leutnant DaCol.
»Ernst nennst du das?« brummte Shanton. »Ein Spiel, weiter nichts. Ein paar hundert Kriegsschiffe und genauso viele gegnerische Einheiten, das würde ich ernst nennen.« »Sie werden es abwarten können!« rief Leutnant Austin Travers. »Lieber nicht.« Shanton stieg zu ihm und der schönen Französin hinauf. »Von mir aus könnte das ganze Leben ein einziger Testflug sein. Darf ich?« Die Frage richtete er an die Frau und wies dabei auf den freien Sessel neben ihr. »Ein Testflug oder ein Spiel?« Captain de Chablaise nickte. »Nehmen Sie Platz, Sir.« »Beides, Ma’am.« Er machte es sich neben ihr bequem. »Wenn Sie nichts dagegen haben, lassen Sie das ›Sir‹ weg und nennen Sie mich Chris.« »Okay, Chris. Ich heiße Jasmine.« Sie hatte eine dunkle, weiche Stimme. »Vermutlich wollen sie einem gestreßten Piloten genau auf die Finger schauen, wenn hier gleich die Testschlacht tobt.« »Fast korrekt – einer gestreßten Pilotin.« Jimmy, der sich neben seinem Sessel auf den Hinterläufen niedergelassen hatte, stieß Shanton mit der Schnauze in die Wade. Vermutlich wollte er ihn daran erinnern, daß die Frau mit dem Unteroffizier liiert war. Shanton hielt die These für Schwachsinn. »Vielleicht erzählst du der Besatzung etwas über das Fomalhaut-System, bevor wir mit der eigentlichen Arbeit beginnen, S 1-62«, klang Monty Bells Stimme auf. »Wir haben viele junge Leute an Bord, und selbst von den alten Hasen hat es nicht jeder schon bis hierher geschafft.« »Wie Sie wünschen, Professor Bell. Entfernung zum Sonnensystem: 25,1 Lichtjahre…« Shanton stutzte kurz und kramte in seiner Erinnerung, während die knabenhafte Stimme des Suprasensors die astronomischen Daten abspulte. Tatsächlich! Wo hatte er sich nicht schon überall herumgetrieben in seinen mittlerweile fünfzig Jahren! Bis in die äußersten Arme der Galaxis und mitten in ihr Zentrum hatte es ihn schon ver-
schlagen, bis nach Drakhon sogar. Aber Fomalhaut? Nein. Das sonnennahe System kannte er nur aus Datenbanken und Filmen. »… die Staubscheibe entstand aus Partikeln zweier vor neunundachtzig Millionen Jahren miteinander kollidierter Glutplaneten, ihre konkave Verformung verdankt sie der Anziehungskraft des äußersten und größten Planeten des Sonnensystems, Fomalhaut IV. In seiner Größe entspricht er Uranus, in seiner Masse Saturn. Seine Umlaufbahn liegt zwischen sechsunddreißig und siebenunddreißig astronomischen Einheiten vom Zentralgestirn entfernt. Fomalhaut ist bemerkenswert jung, etwa zweihundert Millionen Jahre. Fomalhaut I, nur sechzig Millionen Kilometer vom Gestirn entfernt, ist glutflüssig. Die Umlaufbahnen der Planeten II und III befinden sich in der Lebenszone, die in diesem System zwischen anderthalb und zweieinhalb astronomischen Einheiten liegt. In den heißen Ozeanen von Fomalhaut II leben neben Bakterien und Amöben auch kleinere Reptilien und Fische…« »Danke, S 1-62. Das reicht, denke ich.« »Bitte, Professor Bell.« »Gut, dann können wir endlich anfangen!« Ralf Larsen blickte bereits zum dritten Mal auf seine Armbanduhr. Aus reiner Höflichkeit der wissenschaftlichen Leitung gegenüber hatte er bis jetzt geschwiegen, das sah Shanton dem Kommandanten an. Vorträge waren Larsen grundsätzlich ein Greuel, gleichgültig ob ein Professor oder ein Rechner sie hielt. »SLE, Vektor dreizehn Strich siebenundzwanzig«, sagte er an Travers’ und de Chablaises Adresse. »Ihr Auftritt, Leutnant DaCol, laden Sie das Programm. Wir steigen mit der zweiten Stufe ein und arbeiten uns dann langsam zur Obergrenze hoch. Für den Anfang genügen aber zweihundert Angreifer und zweihundert eigene Einheiten!« »Aye, Sir!« Rouven streifte sich Kopfhörer und Mikro über seine schwarzen Locken. Bell neben ihm beobachtete abwechselnd das Statushologramm, die Monitore und den jungen Kybernetiker, während dieser sich der Sprach- und der Tastatureingabe gleichzei-
tig bediente. Bis auf Chris Shanton trugen inzwischen alle in der Zentrale Kopfhörer und Lippenmikro. Shanton interessierte sich nicht besonders für Raumschlachten, er wollte in erster Linie das Personal und die Bildschirme beobachten. Und die Frau neben ihm. »Kommandant an alle Abteilungen, wo bleiben ihre Bereitschaftsmeldungen?« Larsen schlug auf einmal einen harschen Tonfall an. Die Körperhaltungen und die Gesichter der Männer und Frauen in der Zentrale veränderten sich – Shanton sah angespannte Rücken, hochgezogene Schultern und konzentrierte Mienen. Nacheinander meldeten Funk, Ortung, Navigation und so weiter Bereitschaft. Auch aus der Peripherie des Raumers gingen die Meldungen ein, aus dem Maschinenleitstand, aus den Hangars, von der Wartungsabteilung, aus der Energieversorgungsabteilung, und so weiter und so weiter. »Programm geladen, Angriff in zwanzig Sekunden«, meldete schließlich DaCol. »Verstanden!« Larsen blickte grimmig in die Runde seines leitenden Personals. »Das Programm vergessen wir. Von jetzt an bekomme ich nur noch Meldungen, wie ich sie im Ernstfall höre! Alles klar?« Travers nickte, Jasmine nickte, DaCol sowieso, alle nickten. Der autoritäre Führungsstil, auf den Larsen von einer Sekunde auf die andere umgeschaltet hatte, verblüffte Shanton. Er war noch nie mit dem Captain geflogen. Andererseits: Der Streß, den er verbreitete, erzeugte eine Atmosphäre, die der während eines Ernstfalls schon ziemlich nahekam. Was konnte man sich für einen Test besseres wünschen? So gesehen machte Larsen einen verdammt guten Job. Ein paar Sekunden lang passierte überhaupt nichts. Dann fing S 1-62 an, die Positionen und Flugbewegungen einzelner Ringraumer des terranischen Flottenverbandes durchzugeben. Und plötzlich rief Arnold, der Ortungsoffizier: »Transitionsimpuls! Unbekannte Objekte treten aus dem Hyperraum!« »Anzahl? Größe? Energiesignatur?« blaffte Larsen. »Zwohundertsiebzehn, Ringraumer, Vollbetriebsmodus, Signatur
unbekannt!« rief der Mann von der Ortung. Und Leutnant DaCol aus dem Kybernetikleitstand meldete: »Das Flaggschiff nimmt Funkkontakt auf!« »Intervallfeld aktivieren!« befahl Larsen, und an Jasmine de Chablaises Adresse: »Passen Sie sich den Flugmanövern der Flotte an, bleiben Sie in der Deckung des Hauptpulks!« Der Erste Offizier bestätigte. »Dreiundvierzig Raumer der eigenen Flotte werden mit Mix-2 angegriffen!« schrie Arnold. Und der Funker rief: »Flaggschiff bittet um Übernahme durch den Flottenkoordinator!« »S 1-62, übernehmen!« brüllte Larsen in DaCols Richtung. Die Antwort kam sofort: »S 1-62 hat Koordination übernommen. Ausweichmanöver, Angriffskurse, Betriebsmodi, Waffensteuerung unter Kontrolle. Intervallfelder stehen, Feuer wird mit Wuchtkanonen, Mix-4 und Nadelstrahl erwidert…!« Natürlich wich niemand irgend jemandem aus, und niemand feuerte auf irgendwen. Es waren keine zweihundertsiebzehn fremden Ringraumer aus dem Hyperraum aufgetaucht, und es gab auch keine terranische Flotte im Fomalhaut-System. Trotzdem sah Chris Shanton lauter hochkonzentrierte, ja teilweise von Anspannung verzerrte Gesichter um sich. Die Pilotin und der Navigator fauchten Befehle in ihre Mikros, als wären sie Katzen, die sich eines Angriffs erwehrten, ihre Finger hämmerten auf den Tastaturen herum. Leutnant Travers holte die Koordinaten der imaginären Flotte auf die Monitore, Captain de Chablaise manövrierte den schwerfälligen Ikosaederraumer in die gigantische Staubscheibe hinein und hatte alle Hände voll zu tun, den Koloß immer in unmittelbarer Nähe des imaginären Hauptflottenverbandes zu halten. Beiden, dem rothaarigen Mann und der Französin, stand bereits nach zehn Minuten der Schweiß auf der Stirn. Eine Klasse für sich, diese Frau, fand Shanton. Wie konzentriert und schnell sie reagierte! Wie präzise und knapp ihre Befehle kamen. Kantig und angriffslustig wirkte ihre Miene, und aus ihren vorhin
noch so sanften Augen sprühte Entschlossenheit und wilde Kraft. Plötzlich spürte er, daß er mehr von ihr wollte. Er spähte hinunter zu Jimmy, der ihn aus seinen hellen Kunstaugen beobachtete. »Okay, okay, du blöder Köter…«, flüsterte er. Weg mit den Empfindungen! Nachher, wenn alles vorbei war, nachher in der Pause vor der Manöverkritik, da würde er sie zum Essen einladen. Noch heute abend. Er kannte da ein kleines Gourmetrestaurant in… Genug jetzt! Er konzentrierte sich wieder auf die Prozesse in der Zentrale, auf die Monitore vor Travers und Jasmine und auf das Zentralhologramm. Darin sah er rotmarkierte Fremdraumer, er sah die Silhouette von Fomalhaut IV, er sah blaumarkierte Einheiten der eigenen Flotte. Eine Klasse für sich auch das Testprogramm. Sein Programm! Er und Bell hatten es geschrieben. So authentisch simulierte es Angriff und Reaktion, daß Notrufe und Positionsmeldungen über Funk eingingen, scheinbare Treffer das eigene Intervallfeld bis zu neunzig Prozent belasteten, ja, daß man die kämpfenden Schiffe sogar im Zentralhologramm sehen konnte. Shanton war jetzt hellwach; und er war begeistert. »Treffer!« brüllte Arnold von der Ortungskonsole. »Drei gegnerische Schiffe von unseren Einheiten vernichtet. Und schon wieder…!« »Hyperraumimpuls!« fuhr ihm McClout, sein Assistent, dazwischen. »Fremdschiff auf Vektor achtundsiebzigkommavier Strich dreiunddreißig!« »Entfernung, Signatur, Betriebsmodus!« forderte Larsen. »Vierkommadrei astronomische Einheiten!« meldete McClout. »Komisches Ding…« »Was zum Henker soll ich mit dieser Meldung anfangen, Korporal McClout?!« Shanton stutzte. Irgendwas stimmte nicht. Er stemmte sich aus dem Sessel. Die Stirn in Falten sah er hinüber zu Bell und dem jungen Leutnant. »Stop!« schrie der. »Das Schiff gehört nicht zum Programm! Das
Schiff ist keine Simulation! Das Schiff ist real!« »Halten Sie das Programm an, Leutnant DaCol!« Die Fäuste in die Hüften gestemmt, stand jetzt auch der Kommandant vor seinem Sessel. »Triebwerke herunterfahren! SLE deaktivieren! Weg mit den Phantomen, her mit den Daten!« Shanton kletterte aus dem Navigationsstand und schaukelte zur Ortung hinüber. Sein Kunsthund trottete neben ihm her. »Wie du die Frau anglotzt!« raunte der Roboter. »Du solltest dich schämen!« »Halt die Schnauze, Jimmy.« »Ich habe gesehen, wie der bayerische Sergeant und sie sich umarmten, bevor…« »Ich will jetzt kein weiteres Wort hören, verdammter Köter!« Shanton stieg zu McClout und Arnold in die Arbeitsbucht. Zwischen ihre Sessellehnen gebeugt spähte er auf die Ortungsschirme. Ein Lichtreflex, sonst nichts. Die Koordinaten bezeichneten eine Position am Rand des Fomalhaut-Systems. »Es tut mir leid, Sir«, sagte McClout. »Aber es ist wirklich ein komisches… äh… ein ungewöhnliches Schiff. Die Peilortung kann die Form nicht bestimmen, irgendwie hat es keine Form…« »Durchmesser?« blaffte Larsen. »Dreihundertzwanzig Meter an der breitesten Stelle, aber es hat viele breite Stellen und viele schmale…« »Ich sehe es jetzt selbst.« Der Kommandant sank in seinen Sessel und beobachtete einen seiner Monitore. Natürlich sah Larsen das fremde Schiff nicht, niemand sah es, von S 1-62 einmal abgesehen, es war viel zu weit entfernt. Doch die Ortung hatte das fremde Objekt angepeilt, ein Richtstrahl tastete seine Oberfläche ab und aus den Daten errechnete der Suprasensor Umriß, Form und Oberflächenstruktur und visualisierte sie. Was sich jetzt auf den Monitoren drehte, erinnerte auch Shanton an keinen bekannten Schiffstyp. »Sieht aus wie eine Staubfaser unter dem Elektronenraster«, murmelte er. »Anfunken«, befahl Larsen in Richtung Funkkonsole. »Identifizie-
ren Sie uns, verlangen Sie Identifizierung, benutzen Sie den in der Milchstraße üblichen Code.« Der Funkoffizier führte den Befehl aus. Sekunden verstrichen, summierten sich zu Minuten. Eben noch hatte die Zentrale vibriert vor hektischem Treiben, jetzt herrschte angespannte Stille. »Keine Antwort, Sir.« »Vielleicht ist ihm der Code nicht geläufig«, gab Leutnant Travers zu bedenken. »Der Schiffsform nach handelt es sich um einen echten Exoten.« »Vorschlag, Captain Larsen«, meldete Monty Bell sich zu Wort. »Wir übertragen S 1-62 die Kontaktaufnahme. Unser neuer Suprasensor beherrscht sämtliche gängigen Sprachen inklusive Programmiercodes und Verschlüsselungssystemen. Er könnte ein paar Basiscodes zusammenstellen und rüberschicken.« »Es hätte den Vorteil, daß er eine eventuelle Antwort gleich dechiffrieren könnte«, stimmte DaCol dem Professor zu. Der Jungoffizier wirkte jetzt vollkommen geistesgegenwärtig auf Shanton. Wie es aussah, hatte er seine Katerstimmung überwunden und seinen Liebeskummer erfolgreich verdrängt – oder was auch immer es gewesen sein mochte, das ihn bekümmert hatte. Shanton machte sich klar, daß der Mann sein Sohn hätte sein können. Er mochte ihn. »Einverstanden.« Larsen nickte. »Machen Sie schon, Professor Bell. Es ist bereits nach zwölf, unser Tagesprogramm wartet auf uns.« »S 1-62, hast du mitgehört?« »Selbstverständlich, Professor Bell. Kontaktaufnahme mit dem Fremdraumer – ich stelle eben die Basiscodes zusammen.« »Na prächtig.« Larsen lehnte sich in seinen Sessel zurück und faltete die Hände im Nacken. »Wenn sie wieder nicht reagieren, rufen wir eine Patrouille der terranischen Raumüberwachung. Die sind in zwei Minuten hier und können sich dann mit dem Exoten beschäftigen. Und wir können unseren Job weitermachen.« Leutnant DaCol meldete den Ausgang eines Funkspruchs. Wieder Warten und angespannte Stille. Larsen trommelte mit den Fingern
auf seiner Instrumentenkonsole herum, Bell kommunizierte flüsternd mit dem Suprasensor, die Französin und Shanton tauschten ein verstohlenes Lächeln aus. So vergingen an die fünfzig Sekunden. »Der Fremdraumer hat geantwortet«, meldete der Erste Funker schließlich. »Umfangreiche Datensätze«, sagte Leutnant DaCol. »Quelle: unbekanntes Schiff in Vektor achtundsiebzigkommavier Strich dreiunddreißig.« »Na also«, seufzte der Kommandant. »Warum nicht gleich?« Er wandte sich an die Funker. »Und was sagen sie?« »Ich… ich weiß es nicht, Sir«, sagte der Funkoffizier. »Bitte? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« »Ich verstehe die Nachricht nicht, Sir, keiner meiner Dechiffrierungsfilter liefert mir sinnvolle Informationen.« »Schicken Sie mir die Daten auf meinen Monitor«, verlangte Larsen. Shanton stieg aus dem Navigationsstand. Gefolgt von seinem Robothund schaukelte er zurück zum Kybernetikleitstand. Neben Rouven sank er in den Sessel und betrachtete die Daten auf dem linken der beiden Bildschirme. Eine Liste fremdartiger Zeichen glitt über die Mattscheibe – runenartige Chiffren aus Haken, halben und ganzen Strichen, vertikalen und schrägen, zwischendurch mal ein Zeichen, das an eine arabische Zahl oder einen lateinischen Buchstaben erinnerte. »Was ist das denn für ein Kosmochinesisch?« brummte Larsens Stimme aus den Lautsprechern. »Transitionsimpuls!« meldete Arnold, der Erste Ortungsoffizier. »Der Fremde ist im Hyperraum verschwunden!« »Austrittspunkt anpeilen. Her mit den Koordinaten!« »Tut mir leid, Sir«, sagte Arnold. »Eine weiche Transition, unmöglich den Austrittspunkt anzumessen.« »Was?!« Der Kommandant ballte die Faust. »Weiche Transition? Dann war es ein Schiff der Nogk? Aber aus welchem Grund sollte der Raumer eines verbündeten Volkes sich so klammheimlich aus dem Staub machen?«
»Wir hätten ihre Energiesignatur angemessen, wenn es Nogk gewesen wären, Sir«, erwiderte Arnold. »Es war kein bekanntes galaktisches Volk.« »Analysiere den Datensatz, S 1-62!« verlangte Shanton. »Das habe ich selbstverständlich bereits getan.« »Dann zeige uns bitte das Ergebnis.« »Gern, Mr. Shanton, aber Sie werden enttäuscht sein.« »Was soll das heißen…?« Wie Bell und DaCol beugte sich auch Shanton nach vorn und spähte auf den Monitor. Der füllte sich nach und nach mit einem Tohuwabohu aus einzelnen Buchstaben, aus grammatikalisch sinnlosen Halbsätzen, aus zeilenlangen Leerstellen, Zahlenreihen, mathematischen Zeichen und Musiknoten. »Himmel über Babylon!« entfuhr es dem Chefwissenschaftler. »Was lieferst du mir da für einen Schrott, S 1-62?« »Ich habe Sie gewarnt, Mr. Shanton. Es ist mir peinlich, es einzugestehen, aber selbst ich kann aus den empfangenen Daten keine sinnvolle Botschaft ableiten.« »Seit wann ist einem Rechner etwas peinlich?« knurrte Jimmys Kunststimme aus dem Fußraum der Arbeitsbucht. Shanton kümmerte sich nicht um ihn. »Lege dieses Kauderwelsch auf die Bildschirme der Schiffsleitung, damit die Herrschaften sich selbst ein Bild machen können, S 1-62.« »Selbstverständlich, Mr. Shanton.« Kopfschüttelnd versuchte Shanton die über den Bildschirm wandernden Textfragmente zu erfassen. Vereinzelte Satztrümmer fanden sich zwischen Buchstaben- und Zahlenketten, die durch Plusoder Minuszeichen, Noten, teilweise auch Wurzelzeichen unterbrochen wurden. »Verrückt!« rief Larsen. »Das sind ja Hunderte von Seiten! Kann einer von Ihnen irgend etwas damit anfangen?« Niemand reagierte. »Erstkontakt mit einem Fremdvolk! Kommt eben vor.« Der Kommandant zuckte mit den Schultern. »Speichern Sie das Zeug!« wandte er sich an die Funker. »Protokollieren Sie die Minuten seit
dem ersten Kontakt, hängen sie die Aufzeichnungen der Ortung dran und schicken Sie das Rätsel an die nächststehende Patrouille unserer Flotte. Sollen die sich den Kopf darüber zerbrechen. Wir haben besseres zu tun! Laden Sie das Testprogramm wieder hoch, Leutnant DaCol! Die Schlacht geht weiter. Bereitschaftsmeldungen bitte.« Nacheinander gingen die Meldungen ein. »Angriff aus Vektor achtkommaneun Strich siebenundfünfzig«, meldete der Ortungsoffizier. »Sieben Fremdraumer greifen mit Mix-2 an!« Der Test ging weiter. »SLE hochfahren!« befahl Larsen. »Intervallfeld aktivieren!« »Ich kann das Schiff nicht manövrieren, Sir!« rief Captain Jasmine de Chablaise. »Irgendwas stimmt nicht…!« »Ist das jetzt ein Test oder ist das Wirklichkeit, verdammt noch mal?« Der Kommandant brauste auf, und Shanton fröstelte auf einmal. »Maschinenleitstand an Zentrale«, tönte es aus den Boxen. »Wir können die Triebwerke nicht hochfahren!« Schlagartig trat Ruhe ein. Shanton suchte Bells Blick – der Professor spähte aus schmalen Augen auf das Hologramm von S 1-62. Die Leitungen zwischen dem Symbol des Hauptprozessors und dem Symbol für den Maschinenleitstand waren rot. Der Kubus, der den SLE-Antrieb symbolisierte, war ebenfalls rot. »Was sagen Sie da, Captain de Pedro?« fragte Larsen in die Stille hinein. Er starrte zum Lautsprecher zwischen seinen Bildschirmen. »Die Maschinen reagieren nicht, Sir.« Die Stimme des Südamerikaners klang hohl und ein wenig heiser. »Wir können die Triebwerke nicht mehr hochfahren…«
7. Der Ringraumer brauchte nur etwas mehr als eine Stunde, um die vier Lichtjahre Distanz zwischen Babylon und dem fremden Sonnensystem zu überwinden. Aus sicherer Entfernung tasteten die Ortungssysteme das Gebilde ab. Die Astroabteilung bekam zu tun. Jerome Sheffield, Freund richtigen Kaffees aus echten Bohnen, wurde mit seiner Arbeit schnell fertig. Dabei sagte man ihm nach, daß er ein fauler Hund sei, der der Arbeit so weit wie möglich aus dem Weg ging, wenn er sie an Kollegen delegieren konnte. Der Eindruck täuschte, weil Sheffield zuerst nachdachte, ehe er sich einem Problem stellte. Ein Sonnensystem zu katalogisieren war kein Problem. Es war nicht einmal eine Herausforderung, sondern nur Routine. Was es über die astronomischen und astrophysischen Daten hinaus zu bieten hatte, war nicht Sheffields Problem. »Stern vom Sol-Typ, mit acht Planeten und zwei Asteroidenringen«, berichtete er. »Entfernungen und Umlaufbahnen ebenfalls ähnlich dem irdischen System. Der dritte Planet ist annähernd erdähnlich, allerdings wesentlich größer und massereicher.« »Das bedeutet, daß die Schwerkraft höher ist als die der Erde?« fragte Dan Riker. »Ganz entschieden höher«, behauptete Sheffield. »2,1 g hat der Checkmaster aus den vorliegenden Daten errechnet.« Das bedeutete, daß ein unter irdischen Bedingungen etwa 70 kg schwerer Durchschnittsmensch hier ein Gewicht von fast 150 Kilo mit sich schleppte, ohne dadurch kräftiger zu sein. Hinzu kam die hier auch doppelt schwere Ausrüstung. Eine rasche Ermüdung war zu erwarten. Es sei denn, man war ein Cyborg… Klima sowie das Verhältnis von Landmasse zu Wasser ähnelten der Erde verblüffend. Auch die Umdrehungszeit des Planeten betrug
24 Stunden – fast. Es fehlten knapp 20 Minuten. »Keinerlei energetische Aktivitäten«, meldete Yell von der Ortung. »Sieht nicht nach einer technisch orientierten Zivilisation aus. Da unten dampft nicht mal ein fossiles Kohlekraftwerk.« Sein Kollege Tino Grappa, dem man nachsagte, er sei mit seinen Ortungen verheiratet, kam mit einer etwas präziseren Auskunft und stellte wieder einmal unter Beweis, fleißiger zu sein und sich ein paar Tricks mehr erarbeitet zu haben. »Was Yell sagt, stimmt schon, aber mit einer Kombination diverser Filter sehe ich verstrahlte Zonen.« »Details!« verlangte Dhark und nickte dabei Hen Falluta zu. Der Erster Offizier brachte den Ringraumer in einen niedrigen Orbit. »Radioaktive Strahlung, die aber schon weitgehend abgeklungen ist«, sagte Grappa. »Wer einen leichten Schutzanzug trägt, kann sich also relativ gefahrlos dort unten bewegen.« Jetzt war auch Yell wieder an der Reihe. »Es gibt Zonen schwerster Verwüstungen«, berichtete er. »Die sind mit den Strahlungszonen identisch.« Die Bildkugel zeigte einen großen Teil der Planetenoberfläche. Plötzlich entstanden farbliche Markierungen. Der Checkmaster ließ die Bildkugel die Szenen der Verwüstung zeigen. Per Gedankenbefehl holte Dhark eine dieser Zonen näher heran. »Wie nach einem gigantischen Bombardement«, murmelte er bestürzt. »Alles ist regelrecht umgepflügt und eingeebnet worden… da! Könnte das nicht eine Stadt gewesen sein?« Die anderen wechselten Blicke, in denen sich das Unbehagen widerspiegelte, das sie bei diesem Anblick empfanden. W-4, durchfuhr es Dhark, die Welt im IKA-3-S-System, die vernichtet wurde, als in ihrem Inneren die Planetenbombe gezündet wurde! Damals war die POINT OF dem verheerenden Inferno nur knapp entgangen. Auf W-4 hatte es Städte gegeben, in denen kein organisches Leben mehr existierte, aber Roboterheere mit ihren Kampfpanzern, die sich gegenseitig bekämpften. Das Erscheinen der Terraner hatte zur Zündung der Planetenbombe geführt, die aus W-4 für kurze Zeit
eine zweite Sonne im System gemacht hatte. W-4 war eine Welt der Mysterious gewesen! Gab es hier Parallelen? Tauchten gleich Roboter auf, die sich gegenseitig zu vernichten versuchten? Dan Riker hegte einen anderen Gedanken. »Darf ich mal die genauen Daten des Systems haben?« fragte er und ging schon zum Checkmaster hinüber, wo seine Frau Anja ihn überrascht ansah. Für das, was er vorhatte, brauchte er ihre Fähigkeiten als Mathematikerin nicht. »Darf ich?« fragte er. »Du – darfst doch immer«, lächelte sie ihm spitzbübisch zu und brachte sekundenlang ihre weiblichen Formen in den Vordergrund. Die steckten wie üblich in einem viel zu engen Pullover statt in der regulären Borduniform; etwas, worüber Dan sich immer wieder aufregen konnte. Wenn es um Anja ging, war er zwar einerseits stolz darauf, mit einer nicht nur hochintelligenten, sondern auch hochattraktiven Frau verheiratet zu sein, aber er war auch äußerst eifersüchtig. Mit sanftem Nachdruck schob er sie beiseite und beschickte den Checkmaster aus dem Gedächtnis heraus mit Daten. »Das ist es«, sagte er dann. »Ich hab’s doch geahnt…« »Darf der unbedeutende Rest der Menschheit an deinen Ahnungen teilhaben?« fragte Dhark etwas spöttisch. »Das hier«, sagte Riker und deutete mit dem Daumen nach unten, »ist die Welt der Kurrgen.« * »Knurrhähne?« Anja zog die Stirn kraus. »Einem solchen Völkchen sind wir nie begegnet. Ich würde davon wissen.« »Kurrgen«, korrigierte Dan. »Wir sind ihnen auch nicht begegnet,
aber Henk deGroot auf Babylon.* Und was ich von ihm gelesen habe, stimmt mit den Daten dieses Sonnensystems überein.« Er erinnerte sich an das, was er vor einiger Zeit in deGroots Bericht gelesen hatte. Abgespielt haben mußte sich das Geschehen damals, als die POINT OF sich in der Galaxis Drakhon aufhielt. Die Kurrgen waren humanoid, aber eindeutig nichtmenschlich. Sie waren offenbar in zwei Geschlechter geteilt. Ihre Durchschnittsgröße betrug 1,65 Meter, das Gewicht ca. 120 Kilogramm, und sie waren an eine Schwerkraft von 2,1 Gravo gewohnt und daher sehr kräftig, ansonsten Sauerstoffatmer. In einer der Pyramidenstädte hatten sie sich verkrochen und lebten hier mit ihrem Anführer Narod, einem nach menschlichen Maßstäben etwa 40 Jahre alten Mann, unter schlimmsten Bedingungen auf engstem Raum zusammen. Das Volk der Kurrgen stammte von einem Planeten, der etwa den technischen Standard der Erde des Jahres 2015 hatte. Übervölkerung und Umweltverschmutzung waren ein riesiges Problem. Die größte Nation des Planeten baute ein Generationenraumschiff. Es ähnelte jenen, die von irdischen SF-Autoren des vergangenen Jahrtausends beschrieben worden waren, und wie es einst die irdische Weltraumbehörde NASA zeitweilig tatsächlich geplant hatte. Das Schiff konnte etwa 1000 Kurrgen aufnehmen, die in einem Wohnzylinder lebten. Rotation um die Längsachse sorgte für simulierte Schwerkraft. Treibhäuser und Farmen erzeugten Luft und Nahrung. Der Atomantrieb war in einer eigenen Sektion ausgegliedert. Das weit unterlichtschnelle Schiff sollte etwa 400 Jahre unterwegs sein. Während dieser Zeit wurden an Bord neue Generationen geboren, alte starben. Und man geriet in die Auswirkungen der dramatisch gestiegenen kosmischen Strahlung. Über lichtschnellen Funk tauschte man noch einige Zeit Botschaften mit der Heimatwelt aus, in der alles auf einen bevorstehenden Atomkrieg hingedeutet hatte. 23 Jahre nach Abflug kamen keine Nachrichten mehr herein. *
Siehe Drakhon-Zyklus Band 16: »Gestrandet auf Babylon«
Bei der Ankunft im Babylon-System hatten sich die jetzt an Bord lebenden Kurrgen unter dem Einfluß der kosmischen Strahlung so verändert, daß sie über keinerlei biologische Abwehrkräfte mehr verfügten. In der Sterilität an Bord ihres Schiffes war das kein Problem gewesen. Ihr Pech war es, gerade zu dem Zeitpunkt im System anzukommen, als die Schatten Babylon angriffen – Anfang Februar 2058. Der Schattenraumer schoß das Kurrgen-Schiff so ganz nebenbei ab, die Menschen auf Babylon orteten wegen des Schlachtengetümmels nichts. Die Kurrgen wußten natürlich nichts von dem Kampf zwischen Grakos und Menschen, sie wurden praktisch aus dem Nichts abgeschossen. Nur eine Fähre mit 30 Überlebenden konnte entkommen, wurde aber auch beschädigt und mußte auf Babylon notlanden. Die Kurrgen mußten in ihren Raumanzügen bleiben, wenn sie nicht von der für sie tödlichen Umwelt mit ihren Keimen, Erregern und Mikroorganismen umgebracht werden wollten. Narod entdeckte das Intervallfeld unter der Pyramide. Als es ihm gelang, die Energieversorgung des Bauwerks in Gang zu setzen, konnten die Kurrgen ihren sicheren Raum dort einrichten. Inzwischen waren fünf von ihnen gestorben, weil ihre Raumanzüge bei der Flucht vom sterbenden Schiff winzige Beschädigungen davongetragen hatten und Keime aus der Umwelt hatten eindringen können. Dann war es zur Begegnung mit den terranischen Kolonisten gekommen, zu Auseinandersetzungen – und zum Tod der Kurrgen. Narod, der letzte von ihnen, beging Selbstmord, als er sein Ende nahen spürte und seine Schmerzen unerträglich wurden. »Und jetzt«, schloß Dan Riker seine Kurzfassung des Berichts, »haben wir die Heimatwelt der Kurrgen gefunden. Nur sie selbst nicht mehr. Der Atomkrieg, den Narod und die anderen Raumfahrer befürchteten, hat stattgefunden. Da unten ist alles verwüstet und zerstört, Radioaktivität vorhanden…« »Und von Babylon aus ein abbrechender Peilstrahl, der uns den Weg hierher gezeigt hat«, sagte Ren Dhark. »Warum? Was haben
Kurrgen und Worgun miteinander zu tun?« »Vielleicht hätten wir uns die Vitrine ansehen sollen, die Kurrgen zeigt, und uns anhören sollen, was der Kommentator an Wissen über sie besaß«, sagte Amy Stewart. »Tausend Jahre altes Wissen hilft uns hier nicht«, sagte Ren. Er sah die Wiedergabe der Bildkugel an. Es tat immer wieder weh, zerstörte Welten zu sehen… * Hen Falluta änderte den Orbit so, daß die POINT OF nicht immer dieselben Stellen überflog, während sie den Planeten umkreiste, sondern auf versetzten Bahnen im Laufe der Zeit die gesamte Oberfläche mit ihren Ortungen erfassen konnte. »Was bezwecken Sie damit, Sir?« wollte Fähnrich Ahmad Azhari wissen. »Hier ist doch nichts mehr zu holen. Der Planet eine radioaktive Wüste, die Bevölkerung tot.« »Das stimmt zwar«, sagte Falluta. »Aber vor Überraschungen ist man nie sicher. Vielleicht entdecken wir doch noch etwas. Vergessen Sie nicht, daß es zwischen dieser Welt und Babylon irgendeine Verbindung geben muß. Es kann kein Zufall sein, daß der Peilstrahl des Goldenen ausgerechnet hierher wies. Wir sind schon«, er nickte Dhark zu und schmunzelte, »durch geringere Hinweise auf größere Dinge gestoßen.« »Zentrale, wir haben ein schwaches Echo… ups, schon wieder vorbei!« kam es über die Bordverständigung von Tino Grappa. Ren Dhark beugte sich leicht vor. »Was für ein Echo?« »So, als würde da unten ein Notstromgerät laufen…« »Ich sehe mir das an«, sagte der Commander und wechselte hinüber zu der Kabine, in der die Ortung der Kommandozentrale angegliedert war. Grappa rückte etwas beiseite. Ren betrachtete die Kontrollanzeigen. Das hätte er auch in der Zentrale tun können, wenn Grappa ihm die Daten überspielte. Aber
er wollte da ‘raus. Mit dem Schulungspersonal war es ihm zu voll in dem Raum, trotz seiner Ausdehnung über zwei Etagen mit der umlaufenden Galerie, die mit weiteren Instrumenten und Transmittern bestückt war – und mit was auch immer sonst noch. Auch nachdem sie die Worgun und speziell die beiden Genies Margun und Sola kennengelernt hatten, die Konstrukteure der POINT OF, war der Ringraumer für sie teilweise immer noch ein Rätsel. Daher hatte das Schiff auch seinen Namen. »POINT OF INTERROGATION – Flaggschiff des Ersten Raumgeschwaders von Hope«, hatte Pjetr Wonzeff damals spöttisch mit Kreide an die Unitallhülle geschrieben, als sie das noch nicht fertiggestellte Raumschiff im Höhlensystem von Deluge fanden. Ein Fragezeichen war die POINT OF bis heute geblieben. Margun und Sola hatten kaum etwas von ihren Geheimnissen preisgegeben, sondern die entsprechenden Fragen von Dhark, Doorn, Congollon und anderen weiträumig umschifft. Und keiner von uns hat das so richtig gemerkt, dachte Dhark resignierend. Er hoffte immer noch, daß jemand den Virus knacken konnte, der verhinderte, daß Ringraumer Orn anflogen, und daß er dann noch einmal dort auftauchen und weitere Fragen stellen konnte. Fragen, die nicht nur die POINT OF betrafen… Die Daten, die Grappa aufgezeichnet hatte, gaben nicht viel her. Längst war die POINT OF zu weit von der Stelle entfernt, um sie exakt zu lokalisieren. Und den Orbit abbrechen und die Stelle anfliegen wollte Ren im Moment nicht. Über die Aufzeichnung würden sie sie ohnehin jederzeit wiederfinden. »Notstromaggregat«, wiederholte der Commander die Behauptung des Orters nachdenklich. War es möglich, daß nach einer so langen Zeit, nach Jahrhunderten, noch das eine oder andere Gerät arbeitete? Unwahrscheinlich! »Kann es eine natürliche Ursache haben, Tino?« »Wie meinen Sie das?«
»Wenn Sie einen Lichtblitz wahrnehmen, kann das eine Explosion, aber auch ein Gewitter sein. Dieses wäre dann die natürliche Ursache.« »Commander, darauf eine Antwort zu geben wäre verantwortungslos, weil sie unser Denken in eine falsche Richtung bringen könnte, und für eine exakte Erklärung fehlen mir Vergleichswerte.« »Die bekommen wir gerade«, machte Yell sich bemerkbar. »Da, auf Gelb 13 ist wieder so ein Echo wie vorhin! – Nein, stop, gerade ist es verschwunden.« Ren legte den Kopf schräg und sah Yell fragend an. Der wand sich wie ein Wurm am Angelhaken. »Als wäre die Energiequelle abgeschaltet worden«, preßte er schließlich hervor. »Das würde heißen, daß es keine natürliche Ursache hat«, brummte Dhark. »Wie sind Sie überhaupt auf diese Echos gestoßen?« Grappa zuckte mit den Schultern. »Ich wollte schauen, wie es mit vulkanischen Aktivitäten aussieht, bei denen ja auch Energie anmeßbar ist. Reine private Neugier. Und da kam eben dieser verwaschene Fleck.« Und jetzt der zweite, der erlosch wie abgeschaltet, als die Ortungen der POINT OF sich damit befaßten! Eine Viertelstunde später bekamen sie den dritten »Fleck« frei Haus, wie Grappa das verwaschene Energieecho genannt hatte. In der Zwischenzeit hatten sie die Aufzeichnungen der beiden anderen ausgewertet und verglichen sie jetzt mit den Daten von Nummer drei. »Die Quelle liegt unter der Planetenoberfläche«, sagte Grappa. »Fragen Sie jetzt nicht, wie tief, Dhark. Da die Bodenbeschaffenheit unterschiedlich ist, fallen hier auch die Meßwerte unterschiedlich aus. Wir…« Er verstummte. Blitzschnell schaltete er einige der Anzeigen um. Die Diagramme, die jetzt erschienen, kannte Ren Dhark.
»POINT OF wird von Radarstrahl getroffen.« Getroffen, aber nicht erfaßt. Das Intervallfeld absorbierte den Radar strahl. Also gab es dort unten doch noch intelligentes Leben! Nach wie vor konnte Dhark sich nicht vorstellen, daß nach Jahrhunderten die Geräte immer noch reibungslos funktionierten. Schließlich waren sie sicher nicht von den Worgun konstruiert worden. Der Checkmaster hätte während seiner Berechnungen garantiert darauf hingewiesen. Hinzu kam, daß vermutlich der größte Teil der Elektronik planetenweit durch EMP stillgelegt worden war. Elektromagnetische Pulse wurden bei atomaren Explosionen freigesetzt und beschädigten die Prozessoren und Chips, sorgten für Fehlsteuerungen. Dhark schnippte mit den Fingern. »Ausgangspunkt des Strahls anpeilen! Das sehen wir uns mal etwas genauer an!« * Wieder in die Zentrale zu den anderen zurückgekehrt, ordnete Dhark an, einige Aufklärungssonden auszuschleusen. Aber da wurde der Radarstrahl bereits wieder abgeschaltet. Woher er exakt gekommen war, ließ sich nicht lokalisieren, und im Gegensatz zu den Energieechos war hier keine Speicherung vorgenommen worden, um den genauen Standort der Radaranlage zu errechnen. Es blieb ein Gebiet von etwa zwanzig Quadratkilometern. Längst hatte Falluta den Ringraumer gestoppt. Taststrahlen sondierten die Fläche. Ein ebener Bereich ging in einen Berghang über, und unmittelbar vor dem Berg zeigten sich Ruinen. Hier war einmal eine Stadt gewesen! »Woran erinnert mich das?« fragte Dan Riker sarkastisch. Dhark wußte, worauf sein Freund hinaus wollte. Er erinnerte an die Ruinenstadt, die sie auf Deluge am Fuß des Gebirges entdeckt hatten und deren teilzerstörte Bauten einen siebeneckigen Grundriß besa-
ßen. Eine seltsamerweise unbeschädigte Kette seltsamer Kugeln führte zum Eingang in das Höhlensystem… Heute existierten die Ruinen nicht mehr. Roccos Sprengkommando hatte sie endgültig dem Hopeboden gleichgemacht und noch eine Menge weiterer Zerstörungen angerichtet. Vorher noch hatte Arc Doorn den Gigantsender gefunden, der eigentlich in die Funk-Z der POINT OF gehörte, aber ebenfalls zerstört worden war. Rens Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Dieser Planet war mit Hope nicht zu vergleichen. »Wir landen und sehen uns die Stadt näher an«, beschloß er. »Was gibt’s da denn zu sehen außer radioaktiven Trümmern?« murrte Fähnrich Azhari. »Sie werden es aus erster Hand miterleben, weil Sie zum Erkundungsteam gehören«, grinste Dan Riker. »Wen nehme ich denn noch mit hinaus?« Dhark runzelte die Stirn. »Wer sagt dir, daß du diesen Job machst und nicht ich?« »Du kannst doch auch mal die Nummer Zwei sein.« »Kommt gar nicht in Frage. Dich brauche ich hier als Rückendeckung«, sagte Dhark. Anja gesellte sich vom Checkmaster zu ihnen. »Große Seelen dulden still«, zitierte sie aus Schillers »Don Carlos« und grinste ihren Mann an. Ihr war es recht, wenn er nicht im Brennpunkt der Gefahr stand. Dan verzog das Gesicht. Er wäre gern dabeigewesen, aber sein Freund war der Kommandant, und gegen seinen Beschluß konnte Dan nicht an. Zumindest nicht vor versammelter Mannschaft. Aber darüber unterhalten wir zwei uns noch allein, dachte er. Dann sah er zu, wie Falluta das Schiff landete. Ren Dhark hatte die Zentrale bereits verlassen. *
Dhark, der Cyborg Val Brack und acht weitere Männer verließen das Schiff, um sich in den Ruinen der Stadt umzusehen. Sie trugen die filmdünnen M-Raumanzüge, deren Falthelme geschlossen waren. So waren sie vor der schwachen Reststrahlung geschützt. Die Kommunikation erfolgte über Helmfunk. Außerdem waren sie mit Antigravgürteln ausgerüstet, die ihnen erträgliche Erdschwerkraft vermittelten. Brack benötigte seinen Gürtel nicht. Er hatte auf sein Zweites System umgeschaltet. Viel war von der Stadt nicht übrig. Der atomare Vernichtungsschlag hatte teilweise nicht einmal die Straßen übriggelassen. Häuser und technische Gerätschaften waren zerpulvert oder zerschmolzen. Was hier einmal existiert hatte, war den Schätzungen zufolge auf dem technischen Stand der Erde im Jahre 2030 gewesen. »Wann mag dieser Krieg stattgefunden haben?« fragte Fähnrich Azhari leise. »Vor zweihundert, dreihundert Jahren?« »Der Halbwertzeit zufolge über 300 Jahre, aber das läßt sich nicht hundertprozentig errechnen«, warf Brack lässig ein. »Auch nicht von einem Cyborg?« »Es fehlen verläßliche Daten.« Zwischen den Ruinen wucherten Pflanzen; Gräser und Farne, aber in monströser Größe. Die Strahlung hatte die Gene der pflanzen wohl so geschädigt, daß sie Riesenwachstum hervorbrachten. Einige der Gewächse umrankten ganze Ruinenteile. Am Himmel unter der hellen Sonne kreisten seltsame Vögel. Auch sie waren Giganten, aber ihrem Wachstum hatte die Physik einen Riegel vorgeschoben – um fliegen zu können, brauchten sie eine bestimmte Flügelspannweite und entsprechende Muskeln, um das Gewicht abfangen zu können. Und dieses Zahlenverhältnis hatte seine Grenzen. Auf einer Lichtung von der Größe eines Fußballstadions war die POINT OF gelandet und wirkte jetzt wie ein Fremdkörper. Das blauviolette Unitall leuchtete im Sonnenschein beinahe – bösartig. Dhark überlief es eiskalt. Bei diesem Anblick konnte er plötzlich
verstehen, warum viele Völker einst die Worgun für Grakos gehalten hatten… Der Boden war mit riesigen Steinplatten belegt, aber nicht exakt eben. Die Atomglut hatte sie teilweise angeschmolzen und verschiedentlich auch für Verschiebungen des Unterbodens gesorgt. Daß zwischen den Fugen der Steinplatten überhaupt nichts wuchs, wunderte Ren. Er nickte dem Fähnrich und Brack zu. »Kommen Sie, wir schauen uns mal diese Ruine an.« Zielstrebig ging er auf ein Bauwerk zu, von dem noch das ganze Erdgeschoß existierte; allerdings nur in Form der Betonwände. Türen und Fenster waren nur noch leere Öffnungen. Durch eine dieser Öffnungen trat Ren ein. »Seien Sie vorsichtig«, warnte der Cyborg und schloß rasch zu ihm auf. »Hier könnte einiges mutierte Getier mit langen Zähnen und Krallen und großem Hunger auf einen netten Happen warten.« »An unseren Schutzanzügen beißt sich jeder die Zähne aus.« »Wonach suchen wir hier eigentlich?« fragte Azhari. »Doch nicht nach Überlebenden, oder?« »Vielleicht doch«, sagte Dhark. »Wenn etwas einen Radarstrahl losschickt, steckt bestimmt jemand dahinter.« »Aber in dieser Ruine? Das ist unlogisch, Sir!« protestierte der Cyborg. »Wenn man etwas verstecken will, dann genau dort, wo niemand sucht«, gab Dhark zu bedenken. Aber das einzige, was sie in dieser Hausruine fanden, waren einige jahrhundertealte Leichenreste. Der Zahn der Zeit hatte an ihnen genagt. Nicht aber die Zähne von Raubtieren… Seltsam, dachte Dhark. Er hätte darauf gewettet, daß sich wilde Tiere an den Toten vergriffen hätten. Warum hatten sie es nicht getan? Und warum wuchs auf diesem Platz nichts? Die Stadt war klein, dennoch dauerte es geraume Zeit, sie zu durchsuchen. In der POINT OF hatte der Zweite Offizier Leon Bebir
Falluta abgelöst. Über dem Gelände brach die Dämmerung herein. »Eine Ruine noch, dann geben wir auf«, sagte Dhark. Azhari bereitete sich bereits auf die Rückkehr in die POINT OF und seinen Dienstschluß vor. Dhark und Brack betraten eine Ruine, die vier Straßenzüge vom Landeplatz des Ringraumers entfernt war. Hier drinnen war es inzwischen fast völlig dunkel, weil nicht mehr genug Licht durch die Fensteröffnungen hereinkam. Die Sonne verschwand hinter dem Gebirge. Plötzlich glaubte Ren einen Schatten zu sehen, der vor ihm durch einen Trümmerkorridor huschte und blitzschnell wieder verschwand. Brack faßte nach seinem Arm. »Da ist etwas«, sagte er. »Konnten Sie es erkennen?« fragte Dhark leise. »Es war zu schnell. Aber es läuft auf mehr als vier Beinen. Ich sehe die Infrarotabdrücke auf dem Boden. Das Wesen hat eine sehr hohe Körpertemperatur. Müßte bei etwa 50 Grad Celsius liegen. Das Biest muß einen ziemlich rasanten Stoffwechsel haben.« »Das heißt, es braucht viel Nahrung«, erkannte Dhark beunruhigt. »Und es ist nicht allein«, sagte Brack seltsam ruhig. Langsam griff er zu seinem Blaster und machte die Waffe schußbereit. Dhark folgte seinem Beispiel. »Ich höre etwa fünfzehn dieser Kreaturen«, sagte er. »In den Pelzen knistert Elektrizität.« Mit seinem verstärkten Cyborg-Gehör konnte er auch leiseste Geräusche erfassen und deuten. Ein klagender Ton erklang. Leise zunächst, dann immer lauter, und weitere Wesen fielen in den Klageruf ein. Plötzlich waren die Schatten da. Brack schoß ohne Vorwarnung. Die grellen Energiefinger jagten zwischen die Vielbeiner. Dhark sah die Treffer, sah das Aufglühen. Flammen sprühten über Fell. Aber die Blasterstrahlen wurden irgendwie abgefangen… absorbiert… Zugleich fühlte er, wie er müde wurde.
Er begriff. Diese Wesen ernährten sich von Energie! Je mehr sie beschossen wurden, um so mehr Energie nahmen sie in sich auf! Und sie versuchten ihren Opfern die Lebensenergie zu nehmen! »Wir müssen hier weg«, sagte Dhark müde. »Schnell.« Er machte ein paar Schritte auf die Ungeheuer zu. Auch Brack erkannte, daß sie mit ihren Strahlwaffen nichts ausrichteten. Er schlug und trat um sich, kämpfte sich den Weg frei. »Mir nach«, rief er Dhark zu. Ihm machte das Energiesaugen weniger aus, weil ihm ein größeres Überlebenspotential zur Verfügung stand. Irgendwie schafften sie es, die Ruine zu verlassen. Brack fingerte an Dharks Antigravgürtel herum und reduzierte die Schwerkraft weiter. »Rennen Sie, springen Sie, fliegen Sie«, forderte er. Zugleich rief er über den Helmfunk nach den anderen. Die waren bereits aufmerksam geworden, aber noch zu weit entfernt. »In die POINT OF zurück, alle sofort!« befahl der Cyborg. Er sah die Schatten, die ihnen folgten. Auch jetzt, im Dämmerlicht, waren sie nicht genau zu sehen. Irgendwie verschwammen ihre Umrisse immer wieder, wenn man genauer hinzusehen versuchte. Als sie die POINT OF erreichten und das äußere Schleusentor sich hinter ihnen schloß, fühlte Ren Dhark nur noch eine gewaltige Müdigkeit und Schwäche. Am liebsten hätte er sich, wo er gerade war, zu Boden sinken lassen, um zu schlafen. Aber er raffte sich wieder auf. Er kam bis zur Zentrale. »Unteres Intervallfeld einschalten«, befahl er. Bebir brachte einen Steuerschalter in eine andere Position. Das untere der beiden Intervallfelder, über welche die POINT OF verfügte, entstand. Ein kugelförmiger Bereich von 3000 Metern Durchmesser verlegte den Ringraumer in sein eigenes Kontinuum. *
Einige Stunden später war Dhark wieder in der Zentrale. Tschobe und Doorn auch, der noch keinen Fuß wieder in den Maschinenraum gesetzt hatte, der eigentlich sein Arbeitsgebiet war. Beide sahen übermüdet aus. Kein Wunder, denn sie hatten seit der Rückkehr in die POINT OF noch keine Sekunde lang geschlafen, im Gegensatz zu ihrem Commander. Die Suche in der Ruinenstadt war ergebnislos geblieben. Auch andere Suchgruppen waren auf mutierte Tiere gestoßen, von denen wenige harmlos waren. Aber was sie wirklich suchten, fanden sie nicht. Auch die Sonden nicht, deren Suchradius Dan Riker immer mehr erweiterte. Sie fanden nur weitere Zerstörungen auf dieser Welt. Von Goldenen gab es keine Spur, auch nicht vom Ausgangspunkt des Radarstrahls. Wäre der nicht gewesen, die Terraner hätten den Peilstrahl von Babylon für eine technische Täuschung gehalten. Dhark ließ sich Bericht erstatten. Walt Brugg, der in der Funk-Z Morris abgelöst hatte, meldete, daß der Radarstrahl immer wieder kurz aktiviert wurde. »Die Zeitabstände sind immer gleich«, berichtete er. »Sie entsprechen einem Dreißigstel der Planetenrotation. Also 47 Minuten und 20 Sekunden. Damit können wir genau ausrechnen, wann der Radarstrahl wieder für ein paar Sekunden aktiv wird. Die nächste Aktivierung erfolgt in 23 Minuten. Während Sie schliefen, Commander, haben wir die mutmaßliche Position des Radargeräts auf ein Areal von fünfzehn Quadratkilometern eingeschränkt, zwanzig Kilometer von der Ruinenstadt entfernt am Berghang.« »Was sagt die Ortung?« »Nichts«, erwiderte Brugg. »Grappa ist ratlos. Seine Taster erfassen den Standort des Radargeräts nicht.« »Worgunscher Ortungsschutz?« warf Dan Riker ein. Dhark zuckte mit den Schultern. »Wenn der Radarstrahl wieder kommt, versuchen wir ihn von mehreren Positionen aus zu erfassen. Zwei Flash raus, Dreieckspeilung. Piloten sind Wonzeff und Doraner, dazu in jeden Flash ein Cyborg: Brack und Chronnow. Grappa
soll folgende Filterkombination einstellen und auch an Flash 001 und 004 senden…« Doorn und Tschobe sahen sich an, als sie die Kombination hörten. »Dhark, mit diesem System hat doch auch Gisol in seiner EPOY gearbeitet… das haben wir in der POINT OF auch?« wunderte der Afrikaner sich. Dhark schmunzelte und wurde dann wieder ernst. »Ja«, sagte er nur und glaubte damit genug gesagt zu haben. Gisol hatte ihm damals ein kleines Abschiedsgeschenk gemacht, über das Dhark aus Gründen, die er selbst nicht begriff, nie geredet hatte. Gut zehn Minuten später waren die beiden Flash unterwegs. Ren Dhark koordinierte ihren Flug, und die anderen fragten sich, was er beabsichtigte… * »Ortung zeichnet!« Das war Glenn Morris, der gar nicht daran dachte, sich planmäßig ablösen zu lassen. »Energiequelle erfaßt. Koordinaten…« Die gingen an den Checkmaster, ebenso wie die der Flash. Die Dauer des Radarstrahls hatte gereicht, seinen Ausgangspunkt innerhalb des errechneten Areals zu erfassen. »Fliegen Zielgebiet an«, entschied Pjetr Wonzeff. Aus der POINT OF kam kein Einwand. Plötzlich fanden sie, was ihnen und den Sonden zuvor entgangen war. Eine verfallene Serpentinenstraße, die seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr instandgehalten wurde, führte direkt auf eine Stelle des Berges zu, vor der es ein kleines, abgeflachtes Gelände gab. Mit etwas Fantasie konnte man es als Park- oder Landeplatz für Fahrzeuge oder Schweber ansehen. Wonzeff meldete die Entdeckung. Kaum näherten sich die Flash dem Miniaturplateau, als in Fortsetzung der Serpentinen-Straße der Berghang sich öffnete. Ein Tor, das als Teil der Berglandschaft getarnt und seiner Umgebung angepaßt war, glitt zur Seite und ver-
schwand im Fels. Der Eingang zu einem unterirdischen Bunkersystem, dem einstigen terranischen Stützpunkt T-XXX im Felsmassiv des Mount King ähnlich, wurde freigelegt. Doch das war noch nicht alles. »Kurrgen!« stieß Val Brack hervor, dessen Programmgehirn Dan Rikers Beschreibung dieses Volkes gespeichert hatte. Also hatten doch Kurrgen den Atomkrieg überlebt! Und im Gegensatz zu Fauna und Flora schienen sie sich nicht der radioaktiven Strahlung angepaßt zu haben. Denn sie trugen geschlossene Schutzanzüge. Aus welchem anderen Grund, als die Strahlung abzuhalten? Mike Doraner in Flash 004 berichtete bereits an die POINT OF. Aber über die ersten Sätze kam er nicht hinaus. Die Kurrgen waren bewaffnet, und aus diesen Waffen flammte es wild auf. Geschoßsalven trafen die Flash, die durch ihre Intervallfelder geschützt waren. Nicht weiträumig wie bei der POINT OF, sondern den Konturen der zylindrischen, zweisitzigen Flugkörper angepaßt, zeichneten sie diese nach. Ein Intervallfeld war ein künstlich erzeugter Mini-Weltraum, in dem sich der Erzeuger befand, und dieses Kontinuum brachte seine eigenen Naturgesetze mit, die sich in einigen Punkten von denen des Normaluniversums unterschieden. Als die Kurrgen merkten, daß die Projektile ihrer MG wirkungslos blieben, setzten sie stärkere Kaliber ein. Daß die Kugeln einfach in den Intervallfeldern verschwanden, um auf der anderen Seite wieder auszutreten, und mit unveränderter Geschwindigkeit und in gleicher Richtung weiterflogen, konnten sie nicht sehen. An anderen Stellen des Berghangs wurden ebenfalls Tarnflächen beiseite geschwenkt. Flugabwehrkanonen zeigten sich und eröffneten sofort das Feuer auf die Flash. »Strahlwaffen scheinen sie nicht entwickelt zu haben«, brummte Wonzeff, während auch die Flakgeschosse durch die Intervallfelder jagten.
»Wie ist es, Mister Wonzeff, schauen wir uns die Anlage mal von innen an?« fragte Brack den Ukrainer. Der grinste. »Nichts lieber als das!« »Mitgehört«, kam es heiter aus der 004. Auch Doraner war froh, daß es endlich mal wieder etwas zu tun gab. Und zwei Flash flogen in den Berg ein! * Völlig unbeeindruckt von dem ständigen schweren Beschuß flogen die beiden Flash in den Berg ein. Sie verzichteten darauf, die kurrgischen Soldaten ihrerseits mit den betäubenden Strich-Punkt-Strahlen auszuschalten. So war die demoralisierende Wirkung größer, zudem zeigten die Terraner den Bewohnern dieses Planeten, daß sie nicht aggressiv waren. Während des Einflugs mit dem Intervallfeld setzten Wonzeff und Doraner lediglich Antigrav ein, um mit dem Brennkreis des SLE, des Sub-Licht-Effekts, keine Zerstörungen anzurichten. Im Innern des Berges befand sich ein großer militärischer Komplex, in welchem es aber nicht nur uniformierte Soldaten der Kurrgen gab, sondern auch Frauen und Kinder. In der unterirdischen, strahlensicheren Anlage existierten die Nachkommen der Kriegsüberlebenden, hatten offenbar ihre Familien gegründet und vermehrten sich. War dieser Stützpunkt der einzige des Planeten? Das war zu bezweifeln. Es mußte viele solcher Anlagen geben, alle auch davor geschützt, von Fremden entdeckt zu werden. Aber nicht gut genug vor einer Entdeckung durch Worgun-Technik. Das Auftauchen der Flash löste unter den Bewohnern des Stützpunkts Panik aus. Niemand hatte etwas anderes erwartet… Schließlich landeten sie mitten in einem Maschinensaal, in dem keine Uniform zu sehen war. Hier arbeiteten nur Zivilisten, deren Augen vor Staunen immer größer wurden, als die Intervallfelder
erloschen und die spinnenbeinartigen Ausleger sich entfalteten, die als Landestützen dienten. Kaum waren die unheimlichen zylindrischen Flugkörper ausgependelt, als Einstiegsluken sich öffneten und noch unheimlichere Wesen ausstiegen, aus jedem Objekt eines, den Kurrgen entfernt ähnlich und dennoch absolut fremd. Auch die Sprache war unbekannt. Anfangs zumindest. Dann aber schienen die Unheimlichen mit zwei Stimmen zugleich zu reden. In ihrer eigenen Sprache und in der der Kurrgen. »Wir sind Terraner. Wir erforschen das Universum und kommen in Frieden. Wir wollen herausfinden, was mit dem Volk der Kurrgen geschah…« * Brack und Chronnow stiegen aus den beiden Flash aus. Als Cyborgs brauchten sie keine A-Gravgürtel, und in ihren Maschinen waren Wonzeff und Doraner vor der hohen Schwerkraft geschützt. Die Kurrgen-Sprache war den Programmgehirnen der beiden Cyborgs nicht bekannt. Sie bedienten sich kleiner Translatoren. Diese Wunderwerke der Kommunikationstechnologie erfaßten im Lauf kurzer Zeit genügend Begriffe, um daraus einen Grundwortschatz zu erstellen. Vor Jahren waren die Möglichkeiten auf den Checkmaster und auf den von den Rateken erbeuteten Translator beschränkt, der so groß war, daß er auf einer A-Gravplattform transportiert werden mußte. Aber terranische Suprasensoriker und Linguisten hatten den ratekischen Translator nicht nur nachgebaut, sondern auch miniaturisiert und im Taschenformat großserienfertig gemacht. Mit Hilfe des Gerätes gelang es den Cyborgs, Kontakt zu den Kurrgen herzustellen. Innerhalb vielleicht einer halben Stunde kam der zustande und verlief durchaus freundlich – die Furcht der Kurrgen vor den Fremden wich der Neugierde.
Bis dann eine Gruppe von Uniformierten auftauchte. Einer von ihnen war etwas prunkvoller ausgestattet als die anderen. Er gab den anderen Soldaten Befehle mit schnellen Handbewegungen. Die Soldaten drängten die Zivilisten ab, die schließlich verschwanden. Die beiden Cyborgs glaubten Drohungen zu hören, aber die Worte wurden so leise gesprochen, daß die Translatoren sie nicht korrekt aufnahmen und demzufolge auch nicht richtig übersetzen konnten. »Ich bin General Noreg«, sagte der Prunkvolle, der mit seiner dekorierten Uniform bewies, daß nicht nur bei den Terranern Offiziere sich nicht immer nur durch Intelligenz und Fähigkeiten, sondern stets durch ihre glitzernden Streifen und Sterne an den Uniformen von den unteren Chargen unterschieden. Immerhin machte General Noreg nicht den Eindruck, als wolle er in den nächsten Minuten den Terranern den Krieg erklären. Er stellte sich als Kommandant der Station vor und wollte wissen, wie die Fremden diese Welt gefunden hatten. Die Cyborgs berichteten von dem, was Dan Riker erzählt hatte; vom Absturz des Generationenschiffs auf Babylon und dem Kontakt der Terraner mit den Überlebenden. Weiter kamen sie nicht. Genau in diesem Augenblick meldete sich die POINT OF. »Alle Gespräche abbrechen und an Bord zurückkehren«, erklang Ren Dharks Stimme. »Achtung, dies ist ein Alpha-Befehl. Ich wiederhole: Notfall! Alle sofort in die POINT OF zurückkehren. Alpha-Befehl an Flash 001 und 004…« Der Notbefehl war eindeutig. Die Cyborgs verzichteten darauf, sich zu verabschieden, sondern stürmten zurück in die beiden Flash. Einstieg schließen, A-Grav ein, Landeausleger einfahren, Intervall ein – und Start! Ein vielversprechender Kontakt schien beendet, noch ehe er richtig begonnen hatte. Der Ringraumer wurde ebenfalls startklar gemacht! Grell leuchtete das Strahlenfeuer des Brennkreises auf, als der SLE die POINT OF
fast mit Höchstwerten beschleunigte und die Flash kaum mithalten konnten. »Was zur Hölle mag da passiert sein?« stieß Doraner hervor. Niemand wußte die Antwort. * General Noregs Freundlichkeit zeigte sich als gespielt. Die Nachricht, daß die Terraner auf ungeklärte Weise seinen Planeten gefunden hatten, gefiel ihm gar nicht. Seine Stimme hatte einen harten Klang, als er eine Reihe von Befehlen erteilte. Die Cyborgs und Flashpiloten bekamen davon nichts mehr mit. Denn sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits wieder an Bord der POINT OF. Vielleicht zu ihrem Glück – wenn man es denn Glück nennen konnte, was auf sie alle wartete… * »Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt auf diese Welt zurückkehren«, versprach Ren Dhark seiner Besatzung über die Bordsprechanlage. »Aber jetzt haben wir eine andere Aufgabe. Daher auch der Alarmstart, Damen und Herren! Wir haben eine dringende Anforderung vom Flottenoberkommando, der wir uns wohl nicht entziehen können.« Er machte eine kurze Sprechpause und fuhr dann fort: »Achtung, dies ist keine Übung, sondern ein Notfall! Ich wiederhole: Dies ist keine Übung! Mit Kampfhandlungen ist zu rechnen.« Noch einmal unterbrach er sich. Seine anschließenden Worte waren nach fast drei Jahren des Friedens ein Hammerschlag. »Eine unbekannte Macht greift die verbündete Welt Grah mit einer
großen Flotte an. Wir wurden gebeten, mit der POINT OF eine kleine, aber kampfstarke Flotte zu führen, die Grah retten soll.«
8. Jimmy stelzte voraus. Jede Abzweigung kannte der Robothund, jeden Nebenschacht, jeden Rollsteg. Shanton beglückwünschte sich zu dem Einfall, die Datenbank des Roboters mit dem Bauplan der KONRAD ZUSE gefüttert zu haben. Shanton und sein synthetischer Freund waren unterwegs zum Maschinenleitstand. Dort unten behaupteten sie hartnäckig, die Triebwerke nicht mehr hochfahren zu können. Shanton hatte die Triebwerke, den Suprasensor und seine Hardware persönlich konfiguriert. Was lag näher für ihn, als selbst nach dem Rechten zu sehen? »Kommandant an Shanton. Standort?« Larsens Stimme im Kopfhörer. »Ebene siebenundfünfzig, Schacht siebzehn, Segment F dreiundzwanzig. Noch zwei Ebenen, etwa dreihundert Meter insgesamt. Was ist mit der Energieversorgung?« »Bestens, Chris.« Diesmal antwortete Bell. »Die Meiler laufen auf Hochtouren, die Leitungen sind intakt.« Jimmy sprang in den nächsten Antigravschacht und schwebte nach oben. Shanton schaltete das Feld in Flugrichtung um, bevor er ihm folgte. Beide schwebten nun nach unten. »Ich will den Suprasensor sprechen«, sagte Shanton. »Ich höre, Mr. Shanton.« Die androgyne Stimme des Bordhirns kam nicht aus den Kopfhörern, sondern aus den in die Röhrenwand eingelassenen Lautsprechern. »Die Energieversorgung steht, du hast Zugriff auf sämtliche Schnittstellen des Maschinenleitstandes – warum, zum Teufel, lassen sich dann die Triebwerke nicht mehr hochfahren?« Shanton war nicht gerade die Inkarnation der Geduld. In Larsens Miene glaubte er gelesen zu haben, wem der Kommandant die Verantwortung für die Störung zuschob. Das nervte ihn.
»Verzeihen Sie, Mr. Shanton – zum Teufel sollen die Triebwerke hochfahren? Ich kann Ihren Satz nicht hundertprozentig verarbeiten…« Shanton verdrehte die Augen. »Ich will wissen, warum sich die Triebwerke nicht mehr hochfahren lassen.« Gepreßt und bedrohlich leise klang seine Stimme jetzt. »Das versuche ich seit einigen Minuten herauszufinden. Ich bin gerade dabei, sämtliche Systeme und Dateien zum zweiten Mal zu überprüfen. Wenn Sie sich noch einen Augenblick gedulden würden.« Shanton schwang sich aus dem Schacht auf einen breiten Gang, Jimmy folgte ihm. »Warum bist du so grantig, Chris?« schnarrte er. »Kann etwa S 1-62 etwas dafür, wenn du Mist programmiert hast?« »Halt dich raus«, zischte Shanton. Er sprang in den nächsten Antigravschacht. »Shanton an DaCol.« »DaCol hört.« »Was glauben Sie, Rouven – könnte der exotische Raumer von vorhin uns irgendwelche Killerdaten in die Pipeline geschmuggelt haben?« »Theoretisch nicht ganz auszuschließen, praktisch aber unmöglich. Ich habe die externen Filter und Virensperren überprüft – die halten dicht. Aber wenn Sie schon so fragen, scheinen Sie ja Ihren eigenen Programmen nicht mehr zu trauen.« »Blödsinn!« knurrte Shanton. Er schwang sich aus dem Schacht auf einen breiten Gang. »Führen Sie einen Virencheck durch, Rouven.« »Das macht S 1-62 bereits.« »Ich will, daß Sie zusätzlich einen manuellen durchführen. Ende.« Jetzt erst bemerkte Shanton, daß das Rollband des Ganges sich nicht bewegte. Seltsam. An seinem Ende, in hundertzwanzig Metern Entfernung, stand ein schmaler und kleingewachsener Mann in einem offenen Schott. Captain Pedro, der Chef des Maschinenleitstandes. »Die Leute pflegen deinen und meinen Namen in einem Atemzug
zu nennen«, raunte Jimmys Kunststimme. »Also tu mir einen Gefallen: Blamier’ mich nicht und bring den Kahn wieder zum Fliegen.« Shanton wollte mit einer passenden Unfreundlichkeit kontern, aber de Pedro war schon zu nah. »Tut mir leid, Sir. Wir haben noch mal alles überprüft, nichts zu machen – die Maschinen haben sich komplett abgemeldet.« Wortlos und mit finsterer Miene rauschte Shanton an ihm vorbei. Der Maschinenleitstand der KONRAD ZUSE war ein runder Kuppelraum von etwa neunundzwanzig Metern Durchmesser. Ein Ring von Monitoren und Hologrammen umgab ihn, und vor ihnen verlief eine Ringkonsole mit Kontrollinstrumenten und Tastaturen. Vierzehn Männer und Frauen arbeiteten hier, Informatiker, Ingenieure, Techniker und Physiker. Sie alle sahen schweigend zu, während Shanton mit der Arbeit begann. Der Chefwissenschaftler warf seinen prüfenden Blick auf die Kontrollen. Aufmerksam studierte er die Schaubilder von Schaltkreisen, Betriebsmodi, Konstruktionsskizzen und Funktionsprotokollen sämtlicher Triebwerke. Er versuchte einen Teststart durchzuführen, er konfigurierte die Triebwerke neu mit den zuständigen Steuerungsprogrammen des Suprasensors, er führte erneut einen Teststart durch. Alles vergeblich. Nach vierzig Minuten war er genauso klug wie zu Beginn seiner Kontrolle – oder genauso ratlos. Die Besatzungsmitglieder des Maschinenleitstandes tauschten betretene Blicke aus. Shantons Laune sank auf den bisherigen Tagestiefststand. Er warf sich in den Chefsessel. »Shanton an S 1-62 – das Ergebnis deiner Systemüberprüfung bitte.« »Optimale Konfiguration, alle Systeme betriebsbereit, keine Beschädigungen von Dateien und Programmen erkennbar.« Shanton wollte einen Fluch ausstoßen. Doch sein Hund hockte vor ihm auf den Hinterläufen und beäugte ihn mit glühenden Augen. Also schluckte er die Wut hinunter. »Shanton an DaCol. Irgendwelche Viren gefunden?«
»Ich bin noch lange nicht fertig, Sir. Aber wenn der Suprasensor keine findet, werde ich…« »Shanton an Bell«, schnitt der Chefwissenschaftler ihm das Wort ab. »Es muß ein Programmfehler sein, Monty. Oder hast du eine bessere Erklärung?« »Nein. Wir könnten allerdings noch eines versuchen…« Plötzlich erloschen auf der Instrumentenkonsole einige der rotglühenden Kontrollämpchen und flammten kurz darauf grün wieder auf. De Pedro machte große Augen. »Heilige Jungfrau, was geht jetzt…?!« Seine Leute schritten die Monitore und Hologramme ab, Rufe des Erstaunens wurden laut. »Ich steh hier vor dem Statushologramm des Suprasensors«, sagte Bells Stimme in Shantons Kopfhörer. »Die Leitungen zwischen dem Rechner und dem Maschinenleitstand stehen wieder!« Und aus den Bordlautsprechern hörte man den Ersten Offizier rufen: »Wir nehmen Fahrt auf! Ich kann die KONRAD ZUSE wieder manövrieren!« »Begreife ich nicht!« Kopfschüttelnd stand de Pedro vor seinem Hauptmonitor. »Die Triebwerke sind von allein hochgefahren. Als wäre mein Befehl auf Umwegen über weiß Gott welche peripheren Schnittstellen doch noch angekommen.« »Der Ikosaederraumer ist gigantisch«, sagte Shanton. »Der Rechner riesig, mit seinen Datenleitungen könnten Sie alle Jupitermonde vernetzen.« Er blickte auf seine Uhr. »Aber so lang, daß ein Befehl siebzig Minuten unterwegs ist, sind sie nicht.« Ohne weiteren Gruß verließ er den Maschinenleitstand. Draußen funktionierte auch das Rollband des Hauptgangs wieder. Shanton registrierte es beiläufig. Die Sache bedrückte ihn. Er war vollkommen ratlos, und nichts haßte er mehr als Ratlosigkeit und Ohnmacht. »Kommandant an alle.« Larsens schroffe Stimme aus den Deckenlautsprechern. »Wir machen weiter. Gefechtsbereitschaft für alle Abteilungen.« Shanton schwebte durch den ersten Antigravschacht. Er wartete
ab, bis auch die letzte Bestätigung verklang. Danach meldete er sich bei Larsen. »Shanton an Kommandant. Ich habe eine Bitte.« »Reden Sie, Mr. Shanton.« »Die Störung läßt mir keine Ruhe. Ich muß wissen, was da los war. Könnten Sie drei Techniker losschicken? Sie sollen die gesamte Steuerleitung zwischen Suprasensor und Triebwerken unter die Lupe nehmen.« Schweigen zunächst, zwei oder drei Sekunden lang. Dann: »Einverstanden. Kommandant an technischen Bereitschaftsdienst. Haben Sie mitgehört?« »Jawohl, Sir. Mit drei Mann die Steuerleitung zwischen Suprasensor und Triebwerken vor Ort überprüfen. Verstanden, wir machen uns auf den Weg.« »Danke, Captain Larsen.« Shanton unterbrach die Verbindung. Grübelnd folgte er seinem Hund über Gänge und durch Schächte. Aus den Bordlautsprechern gellten die Befehle und Meldungen der Raumschlachtsimulation. Shanton nahm sie kaum wahr. Irgend etwas war aus dem Ruder gelaufen. Bloß was? Stand er möglicherweise so nahe vor der Antwort, daß er sie nicht erkennen konnte? Seine Grübeleien liefen ins Leere, und der Widerhall seiner Schritte an den Wänden eines kleinen Seitenganges wurde ihm irgendwann so schlagartig bewußt, daß er erschrak. Für einen Augenblick wollte ihm das ausgedehnte Gang- und Schachtsystem des Ikosaederraumers wie ein Labyrinth erscheinen, und diesen einen Augenblick lang fühlte er sich klein und verloren. »Kann es sein, daß du Mist gebaut hast bei der Entwicklung des Suprasensors?« Eine der üblichen Sticheleien Jimmys. Diesmal war Shanton nicht darauf gefaßt. »Kann ich mir nicht vorstellen.« Geistesabwesend stapfte er hinter dem Roboter her. »Möglicherweise hast du während der Arbeit an einem wichtigen Programm eine Flasche mehr geleert, als dir guttat, Chris. Hand aufs Herz.«
»Du redest Müll. Keinen Tropfen habe ich angerührt während der Arbeit an dem Rechner! Monatelang nicht!« * Zurück in der Zentrale gellten ihm die Ohren von Stimmengewirr und hektisch herausgeschrieenen Befehlen und Meldungen. Was für ein Kontrast zur fast gespenstischen Stille des doch relativ menschenleeren Schacht- und Ganglabyrinths zwischen den Nervenknoten des Ikosaederraumers! In dieser Sekunde hätte Shanton nicht sagen können, was ihm lieber war. Die imaginäre Raumschlacht war in vollem Gange. Diesmal griffen rund fünfhundert Fremdraumer knapp dreihundert terranische Schiffe an. Ein Geschwader aus dreißig Gegnern hatte die KONRAD ZUSE als Herz der terranischen Flotte identifiziert und jagte sie durch den Staubgürtel. Das Intervallfeld hatte eine fast hundertprozentige Belastung zu verkraften, und der Ikosaederraumer flog zwischen Fomalhaut IV und dessen Monde, um ein Minimum an Ortungsschütz und Deckung zu gewinnen. Fünfzig S-Kreuzer der terranischen Rotte waren im Anflug, um dem Flottenkoordinator Feuerschutz zu geben. Offenbar funktionierte S 1-62 so, wie Bell und Shanton sich das vorgestellt hatten. Und offenbar machten DaCol und seine fünfzig Kollegen ihren Job gut. Mehr brauchte Shanton eigentlich nicht zu interessieren. Dennoch war er unzufrieden. Er stieg in den Kybernetikstand hinauf. Rouven DaCol hatte keine Hand, kein Ohr und schon gar kein Auge frei – die Schlachtsimulation beschlagnahmte seine Aufmerksamkeit. Monty Bell saß im Sessel rechts neben ihm und beobachtete den jungen Leutnant. Ein einziger Blick auf das Statushologramm, und Shanton wußte, daß alle primären, sekundären und peripheren Steuerungsmodule und ihre Verbindungsleitungen funktionierten; grün, wohin er sah. S 1-62 hatte wieder alles im Griff. Die Techniker umsonst losgeschickt? Gleichgültig – ein
Fehler in den Verbindungsleitungen zwischen Suprasensor und Schnittstellen mußte mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Monty Bell bemerkte ihn und drehte sich nach ihm um. »Toll! Es läuft einfach toll!« flüsterte er. »Die Simulation ist ein voller Erfolg – der Suprasensor bringt unsere Schiffe so gezielt und so nah an die feindlichen Verbände heran, daß wir Abschüsse im Minutentakt verzeichnen können. Und das Personal beherrscht den Rechner schon fast perfekt. Ich bin sehr angetan.« »So?« flüsterte Shanton. »Und die Panne eben?« Bells Miene verfinsterte sich sofort. »Tja, das war natürlich weniger schön. Andererseits fliegen wir einen Prototypen. Sieh das doch mal so – da kann schon mal eine Kleinigkeit in die Hose gehen…« »Bist du sicher, Monty? Wenn so eine Kleinigkeit im Ernstfall passiert, könnten vierhundert Menschenleben, ein fast unersetzliches Schiff und eine unvorstellbare Geldsumme den Orkus hinunterrauschen. Hat Rouven die manuelle Virusprüfung abgeschlossen?« »Nur zu siebzig Prozent. Larsen hat die Fortsetzung der Simulation angeordnet. Du siehst doch, was hier los ist.« Shanton sah und hörte es. Die Raumschlacht, die so nie stattfinden würde, war im vollen Gange. Der Test lief, er lief gut, und er mußte weiterlaufen. Genau dazu waren sie in dieses erdnahe Sonnensystem geflogen, genau so lautete der Auftrag der obersten Flottenkommandantur. Rein formal betrachtet war also alles in bester Ordnung. Shantons innere Stimme jedoch behauptete, daß gar nichts in Ordnung war. Er ließ sich im Sessel links von DaCol nieder. Das hektische Treiben in der Zentrale berührte ihn nicht, von der Raumschlacht bekam er so gut wie nichts mit. Er spielte mit dem Gedanken, sein Gewicht als wissenschaftlicher Leiter in die Waagschale zu werfen, um den Test ein weiteres Mal abzubrechen und erst dann wieder fortzusetzen, wenn der Fehler zweifelsfrei aufgeklärt war. Andererseits – gab es denn noch einen Fehler? Und verlief die Übung nicht optimal? Also warf er nichts in irgendeine Waagschale. Hin- und hergerissen und
die Hände im Nacken verschränkt hockte er statt dessen neben dem jungen Leutnant. Und die Zeit verstrich, Minute um Minute, dreißig insgesamt. Später, als alles hinter ihnen lag, waren es in seiner Erinnerung vor allem diese dreißig Minuten, die er bereute. Die Zeit, in der seine Intuition ihn zu einer Entscheidung drängte, und in der er dennoch untätig blieb. Sein ganzes Leben lang würde er sie bereuen; immer dann, wenn er an die folgenden Stunden auf der KONRAD ZUSE zurückdachte. Nach einer halben Stunde kam er auf den Gedanken, die technische Bereitschaft anzurufen. Vielleicht hatten die drei Techniker ja wider Erwarten doch einen Defekt gefunden. Durch die Simulation war die Bordsprechanlage belegt. Shanton zog sich aus dem Kybernetikschacht in das Hauptschott zurück, von dem aus man Zugang in den Antigravschacht zur Messe hatte. Über das Hauptschott-Vipho funkte er den technischen Bereitschaftsdienst an. Die Abteilung reagierte verwundert auf seine frühe Anfrage. Ihr Chef hatte noch nichts von seinen drei Technikern gehört. Shanton ließ sich die Frequenzcodes ihrer persönlichen Viphos geben – fast jedes Besatzungsmitglied trug einen solchen Minifunk am Handgelenk. Anschließend funkte er sie direkt an, einen nach dem anderen – keiner reagierte. Es war völlig ausgeschlossen, und dennoch war Shanton plötzlich sicher, daß den Männern etwas zugestoßen war. Zurück in der Zentrale, versuchte er seiner innerer Erregung Herr zu werden. Bloß nichts anmerken lassen, bloß keine Unruhe stiften! Er ging zum Kommandostand und ließ sich im Sessel neben Larsen nieder. Der hatte nur Augen und Ohren für die Monitore und seine Leute. Die Raumschlacht tobte dem entscheidenden Höhepunkt entgegen, und Captain Ralf Larsen bewegte sich in seinem ureigenen Element. Shanton atmete ein paar Mal tief durch. Erst als er sicher war, seine Erregung einigermaßen im Griff zu haben, beugte er sich zu Larsen hinüber und sagte leise: »Hören Sie zu, Captain – die drei Techniker,
die wir losgeschickt haben, um die Steuerleitungen zu überprüfen, melden sich nicht mehr.« Larsens kahler Schädel flog herum. Seine Lider wurden schmal, seine Lippen farblos und sein rundes Gesicht nahm die Farbe geschmolzenen Wachses an. Ein, zwei Sekunden lang musterte er den Chefwissenschaftler, als könnte er an seiner Miene den Wahrheitsgehalt seiner Information abschätzen. Offenbar sah er da etwas, das ihn beunruhigte, denn er schaltete sofort den Bordsprech frei und funkte die Sicherheitsabteilung an. »Sergeant Wöhrl und ein Mann bewaffnet zu mir in die Zentrale.« Danach funkte er die medizinische Abteilung an. »Kommandant an Oberleutnant Pelham – kommen Sie mit Notfallkoffer und leichter Bewaffnung in die Zentrale.« Jetzt erst war Shanton sicher, daß der Kommandant ihn genau verstanden hatte. Ein paar Minuten später trat der stämmige Sergeant gefolgt von einem jungen, asiatisch aussehenden Korporal und der Ärztin aus dem Schott in die Zentrale. Shanton beobachtete, wie der Erste Offizier die herrlich geschwungenen Bögen seiner Brauen hob. Wöhrl selbst warf der Frau nur einen flüchtigen Blick zu. Alles andere hätte auch nicht zu ihm gepaßt, fand Shanton. Die Stiefelsohlen des Veterans knallten auf den Boden, während er zum Kommandostand marschierte. Dort nahm er Haltung an und meldete sich selbst und den Korporal einsatzbereit. Ein Soldat durch und durch. Der Korporal hieß Tschong Wang-Hu; ein etwas verkrampft wirkender junger Typ, der sich vergeblich Mühe gab, seine Unsicherheit zu verbergen. Ein Frischling, schätzte Shanton. Larsen winkte den Sergeant und die Ärztin zu sich in den Kommandostand herauf. Joan Pelham trug einen Tornister auf dem Rücken, den Notfallkoffer. »Da sind drei Männer vom technischen Bereitschaftsdienst unterwegs.« Larsen sprach leise. »Leider reagieren sie zur Zeit auf keinen Funkruf. Vermutlich sind ihre Kommunikationsgeräte defekt.« Larsen bemühte sich um einen gelassenen, ja gleichgültigen Ton-
fall. Als läge nichts Besonderes an, als sei alles im grünen Bereich und nur ein Routineauftrag abzuarbeiten. Er drückte Wöhrl einen Computerausdruck in die Hand. »Aus dem Bewegungsprotokoll hier können Sie die Schotts und Antigravschächte nachvollziehen, welche die Bereitschaftsgruppe passiert hat. Irgendwo auf Ebene vierunddreißig in Segment G elf werden die Männer ihren Job erledigen und an nichts Böses denken. Sie können sie gar nicht verfehlen, Sergeant.« Und dann an die Ärztin gewandt. »Gesundheitliche Probleme sind natürlich nie ganz auszuschließen, Oberleutnant Pelham. Deswegen dachte ich, es könnte nichts schaden, wenn Sie den Sergeant begleiten.« »In Ordnung, Sir.« Der Sergeant stand stramm, Doc Joey mühte sich redlich. Sie stiegen aus dem Kommandostand und verließen die Zentrale. »Warum begleiten wir sie nicht?« schnarrte Jimmy. »Das paßt gar nicht zu dir, hier sitzenzubleiben.« »Da geschieht etwas, Jimmy, und es hat erst angefangen.« Shanton starrte auf das Zentralhologramm, wo rund um die Silhouette von Fomalhaut IV blau und rot markierte Einheiten manövrierten, die es nicht gab. »Wie immer es weitergeht – hier in der Zentrale habe ich den besten Überblick.« * Wöhrl ging voraus, im Abstand von je zehn Schritten folgten Pelham und Wang-Hu. Wohin sie sich wandten, überall hörten sie die Befehle aus der Zentrale und die Meldungen der einzelnen internen und externen Abteilungen. Die Raumschlacht entwickelte sich günstig – die restlichen gegnerischen Schiffe waren eingekesselt, einige versuchten den Durchbruch. In die knappen Wortfetzen aus den Deckenlautsprechern mischte sich Joan Pelhams helle Stimme. Der Weg durch die einsamen Gänge und Schächte und an den unzähligen Ausbuchtungen und teilweise schräg verlaufenden
Röhren, hinter denen die Baugruppen von S 1-62 untergebracht waren, erinnerte die Ärztin an gewisse Ferienlager, die sie in ihrer Jugend auf schottischen Schlössern erlebt hatte. In manchen, so erzählte sie dem staunenden Korporal – ein Mann Anfang zwanzig und chinesischer Abstammung – in manchen hätte es gespukt, und in einem anderen hätte sie mit eigenen Augen ein Gespenst gesehen, und sie wollte auf der Stelle tot umfallen, wenn sie lüge… Sergeant Hermann Wöhrl mochte keine Menschen, die viele Worte verloren. Dennoch war er dankbar für die Gegenwart der Ärztin. Welche Fähigkeiten auch immer sie für den Dienst auf dem Ikosaederraumer qualifiziert haben mochten – die Fähigkeit zu schweigen war es vermutlich nicht gewesen. Schwer vorstellbar für den Mann aus Landsberg, daß Oberleutnant Pelham überhaupt den Mund halten konnte. Im Moment aber war er dankbar dafür, wie gesagt. Wöhrl wußte nicht, was sie da ein paar Schritte hinter ihm erzählte – er hörte nicht zu – doch er merkte, daß es den jungen Korporal ablenkte. Es war Wang-Hus erster Flug außerhalb des Sol-Systems, und das hier war auf seinem ersten Flug sein erster Einsatz. Wöhrl spürte, wenn jemand unsicher war oder Angst hatte. Vor dem Einstieg in einen Antigravschacht blieb er stehen. Ein Blick auf den Ausdruck. Hier waren die Techniker durchgekommen. Der Schacht bezeichnete die Grenze zwischen Segment F und Segment G. »Nach unten!« beschied er dem Korporal knapp. Wang-Hu schaltete das Antischwerkraftfeld um, sein Sergeant bestieg den Schacht als erster. Die Ärztin und Wang-Hu folgten. Ein Blick auf das Bewegungsprotokoll bestätigte Wöhrls Annahme: Das Schott, das die Techniker zuletzt passiert hatten, war nahe. Zwei Ebenen nach unten noch, dann achtzig Meter über einen Rollgang, dann rechts in einen Seitengang, und dort das Schott zu einem Versorgungsschacht… Während sie abwärts schwebten, erzählte Doc Joey, wie sie sechs Jahre zuvor zum ersten Mal allein einen Antigravschacht benutzt hatte, nach oben statt nach unten geschwebt war, weil sie nicht ge-
wußt hatte, wie man das Feld umschaltete, und sich schließlich hoffnungslos auf ihrem Ausbildungsschiff verirrt hatte. Sie glitten dem zweiten Ausstieg entgegen. Sergeant Wöhrl faßte die Haltestange und schwang sich aus dem Schacht. Oberleutnant Pelham und der Korporal folgten. Wang-Hus Gesicht war gerötet, und er lächelte. Doch sein Lächeln hatte etwas Verbissenes. Nun gut, das würde sich legen. »Wir müssen in die andere Richtung.« Wöhrl bedeutete den beiden Jüngeren, das Laufband zu wechseln. Bald kam die Abzweigung des Seitenganges in Sicht. Aus eigener Erfahrung wußte der Sergeant, wie man Angst und Unsicherheit angesichts neuer Erfahrungen am schnellsten überwand: indem man handelte. Darum hatte er den Neuling für diesen Auftrag ausgewählt. Er erschien ihm nicht besonders schwierig und schon gar nicht gefährlich – was sollte drei Technikern auf einem Inspektionsgang schon zustoßen! – und bot einem Anfänger dennoch Gelegenheit, irgend etwas zu tun. Nur wer handelte, entwickelte ein Gefühl für den eigenen Wert und die eigene Verantwortung, davon war Hermann Wöhrl überzeugt. Die Abzweigung! Wöhrl sprang vom Laufband, die anderen beiden hinterher. Der Sergeant blickte auf das Protokoll. »Das Schott zu dem Versorgungsgang?« Die Ärztin deutete auf das Schott am Ende des Ganges. »Korrekt, Oberleutnant.« Wöhrl faltete das Papier zusammen. »Wir sind da. Dieses Schott haben die Kameraden zuletzt passiert. Der Schacht dahinter ist fünfzig Meter lang und die Steuerungsleitung, die hinter seiner Wand verläuft, ebenfalls. Wahrscheinlich beheben sie gerade den Fehler. Öffnen Sie das Schott, Korporal.« »Aye, Sir.« Wang-Hu lief zum Schott, drückte seinen Code in die Tastatur und legte seine Handfläche auf den Sensor. Das Schott teilte sich in der Mitte, beide Hälften schoben sich gemächlich in die Wände. »Warum aber haben die Kollegen die Luke hinter sich geschlossen?« Doc Joey dachte laut.
Wöhrl fand die Frage merkwürdig. Er beobachtete den jungen Korporal vor dem sich öffnenden Schott und mußte an seinen Sohn denken. Anders als dessen ältere Schwester hatte er sich gegen den Dienst in der Flotte und für eine Karriere als Profifußballer entschieden. Er spielte bei Fortuna Düsseldorf, einem der Spitzenvereine der Europaliga. Bis heute war das ein Grund ständiger Familienzwiste; und würde es wahrscheinlich bis an Wöhrls Lebensende bleiben… »Sarge!« brüllte Wang-Hu plötzlich. »Schnell!« Wöhrl erschrak, weil der Korporal sich plötzlich duckte und seinen Strahler aus dem Holster riß. Instinktiv zog er seine eigene Waffe, während er zu ihm rannte. Über die Schulter des Jüngeren hinweg sah er sie: Halb übereinandergestürzt lagen sie am anderen Ende des leicht abfallenden Schachtes vor dem nächsten Schott. Keiner der drei Männer rührte sich. Sekundenlang standen sie auf der Schwelle zum Versorgungsschacht. Der Schock lähmte sie. »Ausbruchsversuch bei Vektor achtzehneins Strich neununddreißigneun«, tönte es aus den Deckenlautsprechern. »Sechs Abschüsse in Vektor siebzehnnull Strich hundertzwei! Etwa dreißig Einheiten dringen in die Atmosphäre von Fomalhaut IV ein…!« Oberleutnant Pelham reagierte als erste. An den Männern vorbei betrat sie den Schacht. »Kommen Sie, Sergeant, wir müssen nach unseren Leuten schauen.« Ihre Stimme zitterte, dennoch lief sie mit großen Schritten den Schacht hinunter. Dabei schnallte sie sich den Notfallkoffer vom Rücken. »Sichern Sie den Eingang, Korporal«, befahl Wöhrl. Es mußte nicht sein, daß der junge Kerl gleich bei seinem ersten Einsatz einem Schwerverletzten oder gar einem Toten ins Gesicht blickte. Wöhrl lief der Ärztin hinterher. »Drei Abschüsse in Vektor dreizehnsieben Strich fünfund-vierzigacht.« Arnolds Stimme aus den Lautsprechern klang begeistert, Pelham und Wöhrl näherten sich drei reglosen Männer-
körpern. Der Sergeant dachte an Pelhams merkwürdige Frage: Warum haben sie das Schott hinter sich geschlossen? »Sollten wir nicht die Zentrale verständigen, Sergeant?« »Erstens wissen wir noch nicht, welcher Art ihre Verletzungen sind und ob sie noch leben, und zweitens würde eine solche Durchsage die Moral auf der KONRAD ZUSE beträchtlich erschüttern. Meinen Sie nicht auch, Oberleutnant?« Vor den Männern gingen sie in die Hocke. Sie waren tot. »Sieht aus, als hätten sie bis zum Schluß versucht, das Schott zu öffnen«, sagte Doc Joey. »Jedes Besatzungsmitglied kann jedes Schott öffnen, Madam.« Die verzerrten Gesichter der Männer hatten die Farbe halbreifer Feigen. Die Ärztin klappte den Notfallkoffer auf, holte Stethoskop, Kanüle und Taschenlabor heraus. Einem der Toten entnahm sie Blut und ließ einen Tropfen auf den Laborchip tropfen. Ein paar Sekunden vergingen. »Sauerstoffmangel«, sagte sie schließlich. »Die Männer sind erstickt.« »Ausgeschlossen, Doc. Niemand an Bord eines Raumers erstickt einfach so…« Plötzlich ein scharrendes, schleifendes Geräusch! Ein Knall folgte. Sie zuckten zusammen und sprangen hoch. Der Korporal schrie wie nur sterbendes Vieh schreien konnte. Er hing zwischen den beiden Hälften des Schotts. »Wang-Hu…!« Wöhrl spurtete los. »Ich komme…!« Die Schreie gingen in Röcheln und Keuchen über. Oberhalb der Hüfte hatte das Schott ihn erwischt, mit gestreckten Armen stemmte der Korporal sich gegen die Metallflächen. Zwanzig Schritte trennten Wöhrl noch von ihm. Auf einmal sprang das Schott blitzartig auf, der Körper des Korporals klatschte auf der Schwelle in die Pfütze seines eigenen Blutes, und schon im nächsten Moment stießen beide Schotthälften wieder zusammen. Wöhrl blieb stehen als wäre er festgefroren. Aus vor Entsetzen geweiteten Augen starrte er auf den abgetrennten Torso des Korpo-
rals. Schwallartig pulsierte das Blut zwischen bloßgelegten Darmschlingen heraus. Wang-Hus brechende Augen flehten um Hilfe. Fünf oder sechs Schritte von dem Sterbenden entfernt sank der Sergeant in die Knie. »Wang-Hu… bitte…« Hilflos streckte er die Arme aus. Die Augen des Asiaten blickten schon ins Leere. Das breite Rinnsal seines dampfenden Blutes folgte dem Schachtgefälle. Wöhrl hatte geglaubt, schon viel gesehen zu haben -jetzt aber würgte ihn das Entsetzen, und seine Brust füllte sich mit kaltem Stein. Als er sich langsam erhob, merkte er, daß er in Wang-Hus Blut stand. »Wie konnte das geschehen?« flüsterte hinter ihm die Ärztin. »Warum kann ein Schott sich selbständig schließen? Und so blitzartig?« Wöhrl drehte sich nach ihr um. Sie zitterte am ganzen Körper und wich vor dem herabrinnenden Blut zurück. »Es sah aus, als würde ein wildes Tier zuschnappen… haben Sie es gesehen, Sergeant?« »Ja.« Das Atmen fiel ihm schwer, ihm war schwindlig. Jedes seiner Beine wog hundert Pfund, als er versuchte auf den Torso und das Schott zuzugehen. Warum sah er auf einmal rote Ringe vor dem schwarzen Metall tanzen? »Sergeant…!« Hinter ihm keuchte Oberleutnant Pelham. »Sergeant, ich bekomme keine Luft mehr…! Sergeant…!« Sie geriet vollkommen außer sich, sie schrie! »Keine Luft…? Ausgeschlossen…« Seine Knie gaben nach, er stürzte ins warme Blut. Irgendwie schaffte er es, sich umzudrehen – Doc Joey lehnte gegen die Schachtwand und schnappte nach Luft. Ihr Gesicht war schon so violett, wie die Gesichter der Toten. Endlich begriff Wöhrl das Unmögliche. Er riß seinen Strahler heraus und feuerte wider alle Dienstvorschriften auf das Schott. So lange, bis der Dauerbeschuß ein Loch ins Metall gebrannt hatte und wieder Sauerstoff in den Versorgungsschacht strömte… *
Shanton saß neben dem Kommandanten, als die Raumschlacht ihr vorläufiges Ende fand. Er wartete auf Nachricht von Sergeant Wöhrl. »Das Flaggschiff meldet Funkkontakt mit dem Gegner!« rief der Erste Funkoffizier. »Der Gegner kapituliert und bietet Verhandlungen an!« »Die restlichen gegnerischen Schiffe deaktivieren ihre Intervallfelder!« kam es von der Ortung. Shanton blickte auf, weil eines der Hauptschottes sich öffnete. Hermann Wöhrl betrat die Zentrale. Endlich! Aber warum kam er allein? Und warum bewegte er sich, als müßte er zwei Bleikugeln auf einer imaginären Linie balancieren? »S 1-62 meldet erfolgreichen Abschluß der Operation.« Triumphierend verkündete Leutnant Rouven DaCol den Sieg. »Das Feuer wurde eingestellt!« Der Sergeant kam auf den Kommandostand zu. Shanton sah, daß Jasmine de Chablaise sich auf die Unterlippe biß, als er neben ihr vorbeiging. Und dann erschrak er so sehr, daß er aufsprang: Wöhrls vorhin noch bronzefarbenes Gesicht war aschgrau, und seine Knie, seine Stiefel und seine Hände waren blutig. »Prächtig!« tönte Larsen. »Unser neuer Flottenkoordinator bewährt sich, wie es scheint!« Er blickte in die Runde. »Eine Viertelstunde Pause. Danach geht’s weiter. Mit gesteigertem Schwierigkeitsgrad.« Endlich entdeckte er Wöhrl. Er runzelte die Stirn. »Verdammt, Sergeant…« Unaufgefordert stieg Wöhrl in den Kommandostand. Mit einer Handbewegung bedeutete er Shanton und Larsen, sich unauffällig zu verhalten. »Die Techniker sind tot. Erstickt in einem Versorgungsgang.« Er sprach sehr leise. Shanton begriff: Der Mann wollte eine Panik vermeiden. »Ein Schott hat meinen Korporal getötet. Die Luft wurde aus dem Schacht gepumpt, und wenn ich kein Loch ins Schott gebrannt hätte, wären Pelham und ich jetzt auch…« Larsens gedrungene Gestalt straffte sich, sein Gesicht bekam etwas
Flammendes. Er blickte sich um: Das Personal der Zentrale strömte durch die Schotts in die Messe beziehungsweise zu den Speisen- und Kaffeeautomaten, die ringförmig rund um die Zentrale angeordnet waren. Er entdeckte Bell und winkte ihn zum Kommandostand. »Ich hab die Ärztin im Lazarett abgeliefert«, sagte Wöhrl. »Nervenzusammenbruch…« Plötzlich setzte er sich auf die Stufen des Kommandostandes, verbarg das Gesicht in den Händen und weinte. Shanton und Larsen standen wie vom Donner gerührt. Captain Jasmine de Chablaise lief herbei, beugte sich zu dem Unteroffizier herab und schloß ihn in die Arme. Fragend und mit ernstem Blick sah sie zum Kommandanten hinauf. Verblüfft betrachtete Monty Bell die ungewöhnliche Szene. Auch andere wurden aufmerksam. Shanton sah erschrockene Gesichter. Einige Männer und Frauen an den Schotts machten kehrt und näherten sich langsam dem Kommandostand. Unter ihnen auch DaCol. »Was ist geschehen?« wollte der Professor wissen. Larsen berichtete. Bell und de Chablaise erbleichten. Der Sergeant löste sich aus der Umarmung der Frau und hob sein verweintes Gesicht. »Verzeihung, Sir…« Er stand auf. »Verzeihung… aber wenn ich einen Rat geben darf: Lassen Sie sämtliche Besatzungsmitglieder Raumanzüge anlegen und das Überlebenssystem aktivieren. Stellen Sie sich vor, unsere Atmosphärenkontrolle pumpt uns den Sauerstoff ab…!« Larsen stürzte ans Mikro und aktivierte den Bordsprech. »Kommandant an alle! Alarmstufe Rot! Legen Sie Ihre Raumanzüge an! Ich wiederhole: Alarmstufe Rot! Legen Sie Ihre Raumanzüge an und aktivieren Sie Ihr Überlebenssystem…!« Shanton hatte plötzlich das Gefühl, einen Eisklotz statt eines Hirns unter seiner Schädeldecke schwimmen zu spüren. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hörte den Kommandanten die höchste Alarmstufe ausrufen, er sah das nasse, verwitterte Gesicht des abgebrühten Unteroffiziers, er sah Männer und Frauen wie aufgescheuchte Hasen durch die Zentrale laufen und die Notfallbuchten mit den Raumzü-
gen öffnen, und er sah Rouven DaCol: Der Leutnant verharrte wie gelähmt vor dem Kybernetikleitstand und starrte auf das Statushologramm von S 1-62. Irgend jemand brachte ihnen ihre Schutzanzüge. Shanton stieg hinein in das Überlebenssystem. Und während er das tat, hörte er die Befehlsbestätigungen aus den einzelnen Abteilungen eingehen. »Maschinenleitstand an Zentrale, verstanden!« Captain de Pedros Stimme. »Gehört das zur Übung, Sir?« »Stellen Sie keine blöden Fragen, de Pedro!« bellte Larsen ins Mikro. »Wo bleiben die anderen Befehlsbestätigungen?!« Nacheinander gingen sie ein. »Technische Bereitschaft an Zentrale, verstanden! Gehört das zur Übung, Sir?« »Lazarett an Zentrale, verstanden! Gehört das zur Übung, Sir?« »Sicherheitsdienst an Zentrale, verstanden! Gehört das zur Übung, Sir?« Und so weiter, und so weiter – eine Abteilung nach der anderen, und jede bestätigte den Befehlsempfang mit Captain Sergio de Pedros Stimme. Sie starrten die Monitore und Lautsprecher an, als hätten sie ihre Funktionsweisen vergessen. »Da spult einer einen Mitschnitt ab und tauscht jedesmal nur den Absender aus, was?« schnarrte Jimmy. »Das muß einer sein, der Individualstimmen in Nullkommanix plagiieren kann.« Shanton stürzte an die Konsole und schob den völlig überrumpelten Larsen zur Seite. »Wissenschaftliche Leitung an Maschinenleitstand, kommen!« Keine Antwort. »Melden Sie sich, de Pedro!« Nichts. Shanton fuhr herum. Rouven DaCol stand noch immer ohne Schutzanzug vor seinem Leitstand und glotzte das Hologramm an. Glasklar funktionierte Shantons Hirn jetzt, er begriff endlich. »Ausschalten! Schalten Sie S 1-62 aus, Leutnant…!«
9. Planet Grah im System Gerrck, Heimatsystem der Grakos und Gordo, 26.000 Lichtjahre entfernt vom Sol-System. Mai 2062 (terranische Zeitrechnung). Mitternacht. Ein von terranischen Aufbauhelfern und Soldaten bewohntes Gebäude in der Nähe von Raumhafen Drei – drittes Stockwerk, Quartier von Eric Santini, Hauptmann der Terranischen Flotte. Als Hauptmann Santini von der Druckwelle einer mächtigen Detonation aus dem Bett und gegen die Wand geschleudert wurde, trug er einen seidenen Schlafanzug – ein Schutzanzug wäre ihm mit Sicherheit lieber gewesen. Obwohl ihn sämtliche Knochen schmerzten, biß er die Zähne zusammen und richtete sich auf. Sein Gehör war leicht angeschlagen, trotzdem vernahm er deutlich das unverkennbare Geräusch startender Kugelraumschiffe – Beuteschiffe, die einst den Giants gehört hatten. Terra hatte der Gordo-Regierung insgesamt dreihundert Raumer überlassen, zum Schutz des Gerrck-Systems gegen äußere Bedrohungen und Unterwanderungen. Die anfangs auf Grah stationierten S-Kreuzer hatte man inzwischen abgezogen. Santinis Augen wanderten durch das Zimmer, zwecks Schadensaufnahme. Die Fensterscheiben, die aus einer speziell gehärteten Glassorte bestanden, waren größtenteils zerstört – in den Stahlrahmen steckten nur noch scharfkantige Reste. Ein paar Möbelstücke waren umgefallen, darunter auch der Stuhl, über dessen Lehne der neununddreißigjährige Hauptmann vor dem Schlafengehen seinen Waffengurt gehängt hatte. Laut Dienstvorschrift war er eigentlich verpflichtet, sämtliche Waffen nachts zugriffssicher wegzuschließen, doch er hatte seine beiden Handblaster lieber ständig in der Nähe. Auf Grah konnte es tödlich sein, wenn man sich zu sehr nach den Vorschriften richtete. Gerade wollte sich Santini nach dem
Waffengurt bücken, da erfolgte draußen eine zweite gewaltige Explosion. Geistesgegenwärtig ließ er sich zu Boden fallen. Scherben jagten wie tödliche Geschosse durch den Raum. Die automatische Deckenbeleuchtung sprang an, flackerte wild und verlosch gleich wieder. Der große Spind des Hauptmanns wurde an der Seite aufgerissen, als bestünde er aus Papier. Vorsichtig hob Santini den Kopf. In den verbogenen Fensterrahmen befand sich nicht einmal mehr der kleinste Glassplitter. Schwüle, erstickend warme Nachtluft drang ungehindert von draußen herein und breitete sich im Zimmer aus. Auf dieser Welt herrschten tropische und subtropische Klimaverhältnisse. Trotz der regelmäßigen Regenzeiten war es für Menschen hier kaum auszuhalten, jedenfalls nicht ohne eine funktionstüchtige Klimaanlage. Als eine dritte kolossale Explosion Santinis Quartier den Rest gab, befand er sich bereits im Flur, auf dem Weg zum Antigravschacht. Hastig zog er im Laufen seine Uniform an. Vor dem Betreten des Schachts schnallte er sich den Waffengurt um. »Wer auch immer das getan hat, er wird dafür furchtbar und lange leiden!« stieß er einen zornigen Fluch aus und trat einen Schritt vor. In diesem Moment stellte der Antigravschacht seine Funktion ein. * Noch vor nicht allzu langer Zeit war Raumhafen Drei der einzige funktionsfähige Hafen auf Grah gewesen. Mittlerweile hatten noch andere Häfen den Betrieb aufgenommen, die allerdings weitaus kleiner und technisch noch nicht auf dem neuesten Stand waren. Somit war Raumhafen Drei nach wie vor das wichtigste planetare Tor zum Weltraum. Hafen Drei war von einem weiträumigen, labyrinthartigen Gewirr von Straßen und Häusern umgeben, das auf den ersten Blick undurchschaubar, fast schon chaotisch wirkte. Dieser Eindruck
täuschte jedoch. Sämtliche Gebäude waren durch systematisch angelegte Gänge und Korridore verbunden, die sich streckenweise in hundert Metern Tiefe fortsetzten. »Drei« nannten die Einheimischen ihre Stadt, in Anlehnung an die Kennziffer des Raumhafens. Die derzeitigen Bewohner konnte man grob in drei Gruppen unterteilen: Grakos, Gordo und Terraner. Die Grakos, die wie aufrechtgehende, etwa 1,80 Meter große Insekten aussahen, vergleichbar mit irdischen Gottesanbeterinnen, lebten halb in der realen Raumzeit, halb im Hyperraum. Möglich wurde dies durch eine wabernde Blase aus fünfdimensionaler Energie, die jeden einzelnen Grakokrieger fortwährend umgab. Ihr verwaschener Anblick hatte ihnen den Beinamen »Schatten« eingebracht – ihre Grausamkeit die Bezeichnung »Geißel der Galaxis«. Mit Erreichen ihres geschlechtsreifen Entwicklungsstadiums verloren die Grakos die Fähigkeit, teilweise im Hyperraum zu existieren. Um das zu verhindern – und vor allem, um die Macht nicht abgeben zu müssen –, hatten sie über Jahrtausende hinweg ihre eigenen Artgenossen getötet – während der letzten Verpuppung, der zum Gordo. Die riesigen, aber friedfertigen Gordo verdankten ihr Dasein vor allem dem Umstand, daß sich die Schatten selbst nicht fortpflanzen konnten. Somit hatte man immer wieder einige Gordo am Leben lassen müssen, zwecks Nachwuchserzeugung und Eiablage. Eine Spezialbehandlung in den Aufzuchtstationen hatte sichergestellt, daß die frischgeschlüpften Grakos ebenfalls mit einer Blase aus Hyperraumenergie ausgestattet waren. Nicht alle Grakos waren mit der »Optimierung des Bevölkerungszuwachses«, wie man die Massenmorde am eigenen Volk verniedlichend bezeichnet hatte, einverstanden gewesen. Immer wieder waren vereinzelte Exemplare in den von Urwald überwucherten Randwelten und im Dschungel von Grah untergetaucht, um zu überleben und sich ungestört weiterentwickeln zu können – zu zehn
Meter großen Libellenwesen mit gewaltigen Mandibeln. Trotz ihrer imposanten Größe hatten die Gordo den aggressiven, gewissenlosen Grakos kaum etwas entgegenzusetzen. Wann immer ein Gordo in die Fänge eines Grako geraten war, hatte er nur noch auf einen schnellen Tod hoffen können. Diesem unhaltbaren Zustand hatten die Terraner im September 2058 ein Ende gesetzt. Seither war die militärische Macht der Grakos gebrochen, und die Gordo hatten wieder die Regierungsgewalt über den Planeten übernommen. Damit das auch so blieb, war die Terranische Flotte von Grah zunächst nicht wegzudenken. Die Soldaten sahen sich nicht als Besatzungsmacht; vielmehr waren sie in beratender Funktion tätig, mit vollem Einverständnis der Gordo, die noch nicht in der Lage waren, sich ohne fremde Hilfe durchzusetzen. Ziel war es, die frühere Ordnung wiederherzustellen, als Grakos und Gordo noch miteinander in Frieden gelebt hatten. Die Spezialbehandlungen waren von nun an verboten, so daß es auf lange Sicht nur noch Grakos ohne Hyperraumfeld geben würde – harmlose, friedliebende Grakos, die nichts mehr gemein haben würden mit den gnadenlosen, machthungrigen Schattenkriegern von heute. So war es zumindest geplant, aber noch war man von dieser Idealvorstellung weit entfernt. Zwar fügten sich inzwischen rund 75 Prozent der Grakos den neuen Gegebenheiten, manche begrüßten sie sogar, aber das restliche Viertel empfand die Friedenspläne der Gordo und Terraner als demütigenden Rückschritt. Etwa zehn Prozent der Verweigerer bekämpften die Regierung und die Besatzer aus dem Untergrund heraus. Offene Widerstände gab es dank der starken terranischen Präsenz allerdings nicht mehr. Hauptmann Santini hatte keinen Zweifel daran, daß Grakorebellen für die Explosionen auf dem Raumhafen verantwortlich waren. In Begleitung zweier Großserienroboter humanoiden Typs befand er sich auf dem Weg in die Tiefgarage des Wohngebäudes, wo sein Schweber parkte – zu Fuß durchs Treppenhaus, denn die Antigravschächte funktionierten nicht mehr. Er wollte schnellstmöglich zum
Regierungssitz, vielleicht würde er dort Näheres über die Sprengstoffattacken erfahren. Außerdem brauchte Nachtflug, das Oberhaupt der Gordo, allen nur erdenklichen Schutz. In gewisser Weise fühlte sich Santini persönlich für das Rieseninsekt verantwortlich. Die beiden Roboter waren ihm als Leibwächter zugeteilt worden. Als er in seinem Stockwerk den Antigravschacht hatte betreten wollen, hatten sie sich direkt hinter ihm befunden. Durch einen schnellen Zugriff hatten sie ihn in letzter Sekunde vor dem Absturz bewahrt. Mittlerweile war das ganze Haus auf den Beinen. Jeder suchte sein Heil in der Flucht. Alle wollten auf dem kürzesten Weg nach draußen, bevor das Gebäude einstürzte. Die zivilen Aufbauhelfer hatten sich nach ihrer Ankunft auf Grah zwar freiwillig unter den Befehl des Militärs gestellt, allerdings waren sie längst nicht so diszipliniert wie ihre Mitbewohner von der TF. Sie waren überwiegend mit Morgenmänteln oder Schlafanzügen bekleidet und hatten lediglich ein paar persönliche Habseligkeiten bei sich. Die Soldaten, für die schnelles Ankleiden im Alarmfall zum Arbeitsalltag gehörte, steckten samt und sonders in ihren Uniformen. Vergebens bemühte sich der Hauptmann, per Vipho Verbindung mit dem Administrationsgebäude aufzunehmen. Der kleine Bildschirm blieb schwarz, und akustisch waren nur Störgeräusche zu empfangen. Santini wollte gerade abschalten, da vernahm er plötzlich die Stimme von Master-Sergeant Melina Gomez. Die junge Kampfpilotin hatte heute nacht Dienst auf dem Raumhafen. Offensichtlich versuchte sie, einen Notruf auszusenden. Eric Santini hörte aufmerksam zu. Melina meldete, daß auf dem Hafen ein Kugelraumer explodiert war. Daraufhin hatten mehrere Giantschiffe versucht zu starten. Eines davon war aus dem All heraus abgeschossen worden und noch in der Luft detoniert. Ein drittes Schiff hatte der Strahlenbeschuß derart stark beschädigt, daß es in die Stadt gestürzt war, was zu einer weiteren verheerenden Explosion geführt hatte.
Näheres über die unbekannten Angreifer wußte die Pilotin bisher nicht. In dieser Sekunde krachte es erneut, gleich zweimal dicht hintereinander. Direkt vor Santinis Augen wurden zwei Soldaten von herabfallenden Metallträgern erschlagen, gerade als sie die Treppe zur Tiefgarage erreicht hatten. Santini verließ das Treppenhaus durch einen Notausgang, der ins Erdgeschoß führte. Ein Pulk Flüchtender folgte ihm. Offenbar nahm man an, er würde einen sicheren Weg nach draußen kennen, doch angesichts der schweren Zerstörungen war er genauso ratlos wie alle anderen. Die Roboter tasteten die Umgebung nach einem Fluchtweg ab – bislang ohne Ergebnis. Erneut betätigte der Hauptmann sein Vipho. Die Verbindung zu Master-Sergeant Gomez bestand nicht mehr. Melina schwieg. Für immer? * Als Eric Santini ins Freie trat, wußte er selbst nicht so genau, wie er das geschafft hatte. Der Hauptausgang und zwei Nebenausgänge hatten sich als unpassierbar erwiesen. Letztlich hatte er sich durch ein eingeschlagenes Fenster retten können – mitsamt seinem »Gefolge«, das inzwischen leider nicht mehr vollständig war. Einige der Flüchtenden hatten in ihrer Panik das Gottvertrauen in ihn verloren und andere Wege eingeschlagen, mit zweifelhaften Erfolgsaussichten. Santini und seine Begleiterschar entfernten sich im Laufschritt so weit wie möglich von dem schwer angeschlagenen, von breiten Mauerrissen durchzogenen Haus. Kurz darauf brach es mit viel Getöse in sich zusammen. Eine riesige Staubwolke breitete sich in alle Richtungen aus. Ohne viel Federlesens beauftragte der Hauptmann einen Un-
teroffizier mit der Organisation der Rettungsaktion. »Viel Hoffnung gibt es für die unter den Trümmern Begrabenen zwar nicht, aber wenn nur ein einziger Überlebender gefunden wird, ist das die Mühe wert.« Es wurden ausschließlich Zivilisten für die Aktion rekrutiert und von den Soldaten mit Klappspaten ausgestattet. Wer keinen Spaten oder anderes Werkzeug abbekam, mußte mit den Händen graben. Darauf, daß einige der Helfer unter schwerem Schock standen, konnte keine Rücksicht genommen werden – schließlich hatten sie gewußt, was sie auf Grah erwartete, und hätten auf Terra bleiben können. Hier und jetzt zeigte sich, wer wirklich bereit war, das Wohl Hilfsbedürftiger über sein eigenes zu stellen, und wer nur aus purer Abenteuerlust auf diesen Planeten gekommen war. Die Soldaten schickte Santini unter Führung eines weiteren Unteroffiziers zum Raumhafen, zur Unterstützung ihrer verzweifelt kämpfenden Kameraden. Anschließend machte er sich auf den Weg zum Regierangsgebäude, weiterhin in Begleitung seiner beiden Roboter. Normalerweise wäre er ums Verrecken nicht nachts durch die Straßen von Drei gegangen, aber unter diesen Umständen… Schon tagsüber sorgten die zahllosen Halbraumfelder, die wie böse, dunkle Schatten durch ihre Stadt huschten, für ein mulmiges Gefühl bei den Menschen, denen sie begegneten. Selbst der mutigste Mann konnte in dieser düsteren, bedrohlich wirkenden Atmosphäre das Fürchten lernen. Die Erinnerungen an die Greueltaten der Grakos, die man innerhalb ihrer Felder nur unzureichend wahrnehmen konnte, waren noch frisch. Nachts verstärkte sich der unheimliche Eindruck um ein Vielfaches. Terraner sah man daher nur selten zu später Stunde auf den Straßen und in den Gassen, so als hätten sie sich auf einen geheimen Befehl hin aus Drei zurückgezogen. Doch das täuschte, Terra war immer und überall präsent. Es gab in der Hauptstadt von Grah, keine wichtige Schlüsselposition, in der
kein terranischer Berater saß. * Der Himmel hatte seine Schleusen weit geöffnet. Manchmal hatte Hauptmann Santini das Gefühl, daß es in dieser Region nur Regenzeiten gab – längere Regenzeiten, immer mal wieder unterbrochen von kürzeren. Die Grakos liebten dieses Klima. Die Nogk, jenes außergewöhnliche, mit den Terranern eng befreundete Wüstenplanetenvolk, hätten es hier ohne technische Hilfsmittel keine Minute ausgehalten, es wäre ihr sicherer Tod gewesen. Nicht nur der Raumhafen wurde aus dem wolkenverhangenen Nachthimmel attackiert, die gesamte Stadt lag unter Strahlenbeschuß, ohne daß vom Boden aus ein Angreifer auszumachen war. Hier und da blitzte in den Wolkengebirgen ein heller Fleck auf. Santini vermutete, daß dann im Weltall ein Raumschiff explodierte. Offensichtlich hatte die GR, die Grah-Regierungsflotte, mit Unterstützung von TF-Experten den Kampf gegen den unbekannten Feind aufgenommen. In ganz Drei herrschten chaotische Zustände. Am schlimmsten war es an der Absturzstelle des abgeschossenen Giantraumers. Trümmer, Brände, zahlreiche Verletzte und Sterbende. Kurz vor ihrem Ableben waren die Grakos besonders gefährlich, so paradox das auch erschien. Wenn ein Grako starb, wurde die Hyperenergie seines Schattenfeldes freigesetzt und löste eine heftige Thermoreaktion aus. In diesen Sekunden hielt man sich besser von ihm fern, andernfalls wurde man mit in den Tod gerissen. Eric Santini war froh über jeden terranischen Roboter, den er unterwegs erblickte. Die »Blechmänner« sorgten programmgemäß für Ordnung und kümmerten sich um die Verwundeten – soweit dies im Bereich ihrer Möglichkeiten lag. Die notfallmedizinische Versorgung ihrer Erbauer bereitete den vielseitigen Maschinen kaum Schwierigkeiten, ebensowenig die
Verarztung verletzter Gordo. Aber wie verhielt man sich gegenüber einem hilfsbedürftigen Wesen, das nur zur Hälfte real war? Mit jeder neuen Thermoreaktion löste sich ein weiteres dieser Probleme von selbst. So makaber es sich anhörte, Santini war insgeheim froh über jeden Grako, der diese Welt für immer verließ. Er mißtraute den Schatten nach wie vor. In den vergangenen Jahren hatte es genügend unerfreuliche, oftmals tödlich verlaufene Zwischenfälle gegeben, die sein Mißtrauen rechtfertigten. Privater Waffenbesitz war den Grakos strikt verboten worden. Zuwiderhandlungen wurden mit empfindlichen Strafen geahndet. Die Terraner führten regelmäßig Kontrollen durch. Auch sonst wurde es den Schatten immer schwerer gemacht, an Strahlenwaffen zu gelangen. Selbst auf dem Schwarzmarkt war es für sie nahezu unmöglich, sich in den Besitz moderner Waffen zu bringen. Leider ließen sich »veraltete« Projektilwaffen wie Pistolen und Gewehre problemlos anfertigen. Daß die Grakos über die nötigen Kenntnisse zum Primi-tivwaffenbau verfügten, wurde Hauptmann Santini schmerzvoll bewußt, als er einen Knall vernahm und gleichzeitig ein Stechen im linken Oberarm verspürte. Sofort ging er hinter einer größtenteils eingestürzten Hausmauer in Deckung und zog mit der rechten Hand seinen Blaster aus dem Holster. Die ihn begleitenden Roboter griffen ebenfalls zu den Waffen. Im Gegensatz zu Santini, der erhebliche Schwierigkeiten hatte, die Angreifer auszumachen, wußten die Maschinen offensichtlich genau, wohin sie zielten. Kurzerhand feuerte er in dieselbe Richtung und brachte sogar einen Zufallstreffer zustande. Zwischen brennenden Trümmern kam es zu der unverkennbaren, begrenzten Thermoreaktion, die ein Grako auslöste, wenn er zu Tode kam. Unablässiger Strahlenbeschuß aus dem Himmel sorgte fortwährend für neue Zerstörungen und Großbrände. Santini konnte nicht begreifen, warum nicht alle Grakos umgehend ihre Schutz-
räume aufsuchten. Statt dessen fanden einige noch die Zeit, ihn, den verhaßten Menschen, mit primitiven Waffen anzugreifen. Ganz offensichtlich war ihr Zorn auf die Besatzer stärker als die Furcht vor dem eigenen Tod. In einiger Entfernung waren undeutlich mehrere schwarze, fließende Silhouetten zu sehen. Wenn die Schatten vorüberglitten in ihrer unnachahmlichen Fortbewegungsart, die mit normalem Gehen, Laufen oder Springen nichts gemein hatte, waren sie besonders schwer auszumachen. Erst im Moment des Stillstands konnte man sie etwas besser erkennen. Andernfalls verschmolzen sie fast bis zur Unkenntlichkeit mit dem Hintergrund, vor dem sie sich bewegten. Vor einer auflodernden, riesigen Flammenwand zeichneten sich die feigen Heckenschützen schemenhaft ab. Hartnäckig schossen sie ihre Projektile auf die Roboter, konnten deren metallener Außenhaut aber keine Schäden zufügen. Auch Hauptmann Santini pfiffen die Kugeln nur so um die Ohren, es traf ihn jedoch keine einzige mehr, denn jetzt war er auf der Hut. Von den Grakos hatte er gelernt, daß bewegliche Ziele schlechte Ziele waren – also blieb auch er ständig in Bewegung. Der Schmerz, den der harmlose Streifschuß an seinem linken Arm verursachte, war lästig, aber erträglich. Deeskalation war nicht unbedingt Santinis Sache. Wenn man ihn angriff, wehrte er sich. Grundsätzlich. Bisher fiel seine Gegenwehr allerdings mäßig aus, denn die wild um sich schießenden Grakos zwangen ihn immer wieder, hinter den Trümmern in Deckung zu gehen. Letztlich traf er erneut bei der kaputten Hausmauer ein. Santini fühlte sich nicht in akuter Lebensgefahr, aber gründlich genervt. Und wenn ihn jemand nervte, wurde er sauer. Verdammt sauer! Stinksauer! Trotz leichter Schmerzen zog er mit links den zweiten Blaster und richtete sich auf. Dann machte er kurzen Prozeß. Eine Strahlensalve nach der anderen jagte aus beiden Läufen. In diesem Augenblick kannte Santini das Wort »Erbarmen« nur noch
vom Hörensagen. Die deckungslosen Grakos hatten mit ihren primitiven Waffen nicht die geringste Chance gegen ihn, aber das hatten sie sich selbst zuzuschreiben. Schließlich hatte er sie nicht darum gebeten, aus dem Hinterhalt auf ihn zu schießen. Die beiden Roboter handelten, wie es ihnen ihre Programmierung vorschrieb. Menschen zu beschützen und deren Feinde zu vernichten hatte bei ihnen oberste Priorität. Nur zwei der Angreifer kamen mit dem Leben davon, weil sie rechtzeitig die Flucht ergriffen. Die übrigen Grakos vergingen in einem letzten spektakulären Aufleuchten. Aus. Vielleicht war es genau das, was sie gewollt hatten. Viele von ihnen sahen seit der Machtübernahme durch die Gordo keinen Sinn mehr in ihrem Dasein. Einst waren sie ein gefürchtetes Volk von Plünderern, Eroberern und Mördern gewesen, ein Volk, das Angst und Schrecken verbreitet hatte, ein Volk, dem andere Spezies Respekt gezollt hatten, wenn auch nur aus grenzenloser Furcht… Und nun erwartete man von ihnen, Frieden zu halten und sich anzupassen. Nicht wenige Grakos empfanden dies als Schande und schlimmer als den Tod. Santini erhob sich und steckte beide Blaster weg. Der Kampf war vorüber, er war als Sieger hervorgegangen. Mehr hatte er nicht gewollt, aber auch nicht weniger. Mit seinen »Leibwachen« setzte er den Weg fort. Kaum war er ein paar Schritte gegangen, schlug hinter ihm mit ohrenbetäubendem Krachen ein Energiestrahl ein. Die Druckwelle schleuderte ihn fast zehn Meter nach vorn und riß sogar die Roboter von den Metallfüßen. Angeschlagen, aber halbwegs unversehrt fand sich Santini in einem schmalen Wassergraben wieder. Fluchend kletterte er ans Ufer. Und als wäre er noch nicht naß genug, regnete es immer heftiger. Die Flüche blieben ihm plötzlich im Hals stecken. Die eingestürzte Hausmauer, hinter der er eben noch gekniet hatte,
war spurlos verschwunden. Jetzt gähnte dort ein großer, qualmender Krater. * Das Wahrzeichen von Grah war ein gewaltiges, terrassenförmig angelegtes Gebäude, das aus der Stadtlandschaft herausragte – der Regierungssitz. Gemessen an menschlichen Verhältnissen waren die Räume extrem groß; immerhin mußten sich die Gordo frei darin bewegen können. Nachts erstrahlte das Administrationsgebäude normalerweise in hellem Licht, zudem wurde die Umgebung rundum mit starken Spezialscheinwerfern ausgeleuchtet und fortwährend mit Sensorstrahlen abgetastet. Seit Beginn der Zerstörung der Stadt lag es aus Sicherheitsgründen weitgehend im Dunkeln. Wie durch ein Wunder war es bisher von den Strahlenangriffen verschont geblieben, ebenso die umliegenden Häuser. Doch der Krieg, den hier keiner wollte, kam immer näher… Nicht nur die Regierung von Grah war in jenem beeindruckenden Haus untergebracht, auch das Zentralkommando der terranischen Friedenstruppen hatte hier Quartier bezogen. Den Oberbefehl hatte Oberst Robert Ngona. Santini spürte, wie sich sein Magen leicht zusammenkrampfte als er an den Oberst dachte. Es ärgerte ihn noch immer, daß Ngona sich seinerzeit geweigert hatte, ihn nach Major Dawsons Tod zu befördern. Statt dessen hatte er den freigewordenen Posten in der Zentrale anderweitig besetzt. Santini war leer ausgegangen – und das schon zum wiederholten Male. Ngonas Meinung nach war Santini in jeder Hinsicht zu kompromißlos, zu unkooperativ, weshalb ihm die längst fällige Beförderung bisher verweigert wurde. »Wir brauchen an der Spitze unserer Friedenstruppe keine rücksichtslosen Draufgänger, sondern Militärstrategen mit di-
plomatischem Fingerspitzengefühl«, hatte der Oberst bei der letzten Unterredung zu ihm gesagt. »Deshalb sind Sie für diesen Aufgabenbereich ungeeignet, Herr Hauptmann. Fassen Sie das bitte nicht als Abwertung Ihrer Person auf. Sie sind der richtige Mann auf dem richtigen Platz.« Und dieser Platz war laut Ngona die Unterkunft der Soldaten und zivilen Aufbauhelfer am Raumhafen. Von dort aus koordinierte Santini seit geraumer Zeit die verschiedensten Einsätze. Sein Quartier, das ihm gleichzeitig als Büro diente, war weitaus komfortabler und geräumiger als die Zimmer seiner Untergebenen und der zivilen Mitbewohner. Dennoch hätte er lieber im Regierungssitz Einzug gehalten, als vollwertiges Mitglied des Kommandostabs. Das mehrstöckige Wohnhaus am Hafen gab es nicht mehr, es war nur noch ein armseliger Trümmerhaufen, unter dem Santinis spärlicher Privatbesitz begraben lag. Hingegen stand das Verwaltungsgebäude noch wie eine Eins, es schien nicht den kleinsten Kratzer abbekommen zu haben. Offenbar hält Gott seine schützende Hand lieber über Sesselpupser als über mutige, engagierte Kämpfer, dachte der Hauptmann, während er auf den bewachten Vordereingang zuging. Zwei junge Hauptgefreite, sichtlich nervös, salutierten vor ihm wie »Rotärsche« auf dem Kasernenhof. »Ich muß dringend den Oberst sprechen«, verlangte er ohne Umschweife. Die Zeit wurde allmählich knapp. Langsam, aber sicher schienen sich die Angreifer aus dem Weltall auf das Riesengebäude einzuschießen. Systematisch legten sie Drei in Schutt und Asche, und der Ring um die Planetenverwaltung zog sich immer enger zu. »Der Oberst ist nicht da«, stammelte eine der Wachen. »Er… er ist…« »Dann rede ich halt mit seinem Stellvertreter«, unterbrach Santini ihn ungehalten. »Lassen Sie mich endlich vorbei.« Rasch trat der junge Soldat einen Schritt zur Seite.
»Der Herr Major ist ebenfalls nicht anwesend«, teilte der zweite Wachhabende dem Hauptmann aufgeregt mit. »Die gesamte terranische Führungsspitze…« Er stockte. Santini ahnte, was geschehen war. »Es ist niemand mehr am Leben«, fuhr der Soldat mit belegter Stimme fort. »Als die Meldung vom Angriff auf den Raumhafen hereinkam, wurde jeder erreichbare Mann im Haus mobilisiert und unter direkten Befehl des Oberst gestellt. Auch die Kampfroboter wurden zusammengezogen. Nur eine militärische Notbesetzung verblieb im Gebäude – ein paar Roboter und eine Handvoll Soldaten. Mit vier Mannschaftstransportgleitern brach der Trupp zum Hafen auf…« Wieder stockte er. »Sie haben den Raumhafen nie erreicht«, vermutete Santini. Der Wachmann nickte. »Die Gleiter befanden sich noch in Sichtweite. Wir mußten aus der Ferne hilflos mit ansehen, wie der Konvoi in einem gewaltigen Inferno vernichtet wurde.« »Und der gesamte Stab war komplett mit an Bord?« hakte Santini nach. »Es blieb keiner zurück«, bestätigte der Soldat. »Nur die Zivilisten, wir beide sowie einige Kameraden und Roboter – zum Schutz gegen eventuelle Plünderungen durch rebellische Grakos. Seither sind wir führungslos. Abgesehen von den Gordo. Aber sollen wir als terranische Soldaten Befehle von außerirdischen Rieseninsekten entgegennehmen?« Hauptmann Santini verspürte starkes Unbehagen. Jetzt tat es ihm leid, daß er den Oberst und Major Dawsons Nachfolger im stillen als Sesselpupser betitelt hatte. Hätte er mit dieser Einschätzung richtiggelegen, wären beide hiergeblieben und noch am Leben. Sie hatten helfen wollen und waren selbst zu Opfern geworden. »Ab sofort übernehme ich das Kommando«, entschied der Hauptmann. »Nennen Sie mir ihre Namen.« »Hauptgefreiter Strange und Hauptgefreiter Beaver, Sir!« erhielt er zackig zur Antwort. »Wie lauten Ihre Befehle?«
»Ich habe nur einen, und der schmeckt mir überhaupt nicht«, erwiderte Santini. »Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier!« Es widersprach seinem Naturell, vor einem Gegner zu flüchten, statt sich ihm im offenen Kampf zu stellen. Doch in dieser Situation war die sofortige Räumung des Regierungsgebäudes die einzig richtige Strategie. Aber nach wohin rettete man sich als Mensch auf einem für Menschen nahezu unbewohnbaren Planeten? * »Niemand weiß, wer die Angreifer sind und welchen Anlaß sie haben, uns derart massiv unter Beschuß zu nehmen.« Mit diesem Satz faßte Nachtflug die ganze Rat- und Hilflosigkeit der Regierung von Grah zusammen. Theoretisch repräsentierten der zehn Meter große Gordo und seine beiden nur unwesentlich kleineren Minister die oberste Spitze des Planeten. Sie waren die Anführer, die alles im Griff hatten, auf die sich das Volk verlassen konnte. In der Praxis waren die behäbigen, wenig entscheidungsfreudigen Rieseninsekten mit einer solchen Situation total überfordert. Kriegerische Auseinandersetzungen waren in ihrem Lebensplan nicht vorgesehen – obwohl sie im Grunde genommen nichts anderes waren als fertige Grakos, die letzte Entwicklungsstufe einer kriegswütigen Spezies, die in dieser Galaxis schlimmer gewütet hatte als jede Seuche. Hauptmann Santini verständigte sich über telepathische Impulse mit den Gordo. Als Semitelepathen waren sie zwar nicht in der Lage, fremde Gedanken zu lesen, konnten aber empfangen, was jemand dachte, wenn derjenige es wirklich wollte und sich mit wachen Sinnen auf die ausgesandten Impulse konzentrierte. Genaugenommen verlief dieser Kommunikationsvorgang ähnlich ab wie bei den Menschen. Wenn einer redete und redete, aber sein unkonzentrierter Gesprächspartner hörte nicht zu, kam keinerlei Verständigung zu-
stande. Die Terraner hatten es sich angewöhnt, beim Aussenden ihrer Gedanken laut mitzusprechen, das machte es ihnen leichter. »Hattet ihr Verbindung zu den Kampfschiffen im All?« erkundigte sich Santini bei Nachtflug. »Oder zu anderen Städten? Gibt es konkrete Informationen zum Ausmaß der Katastrophe?« Die drei Gordo hielten sich nicht allein im Konferenzzimmer auf, das auf ihre Größenverhältnisse zugeschnitten war (der Platz reichte sogar für einen »Kurzflug«). Mehrere zivile terranische Experten – aus den Bereichen Ernährung, Umwelt, Technik, Politologie und so weiter – nahmen ebenfalls an der Besprechung teil. Auch einige grakische Kappa-Krieger waren anwesend, die Hauptgefreiter Strange bei seiner Aufzählung ausgelassen hatte, vermutlich aus Nervosität. Sie waren der Regierung gegenüber loyal eingestellt. Der ewig mißtrauische Santini traute ihnen trotzdem nicht über den Weg. »Dem ersten Anschein nach erfolgen die Angriffe aus dem All wahllos«, beantwortete Nachtflug die Frage des Hauptmanns. »Es brennt auf ganz Grah, in fast allen bewohnten Gebieten herrscht Ausnahmezustand. Auffällig sind allerdings die vielen gezielten Angriffe auf unsere Brutstationen. Das kann kein Zufall mehr sein.« In den Brutstationen der Gordo wurde der neue Nachwuchs herangezüchtet: Grakos, bei denen auf die seit Jahrtausenden übliche Spezialbehandlung verzichtet wurde, so daß sie künftig nicht mehr von einem Hyperraumfeld umgeben sein würden. »Also doch Grakorebellen«, murmelte Santini. »Wer sonst sollte Interesse daran haben, die neue Grakogeneration zu verhindern?« Seine Worte wurden von den Translatoren der Grakos übersetzt. »Ich teile Ihren Verdacht nicht«, warf ein Kappa-Krieger ein – in seiner gewohnten Sprache, die überwiegend aus Knacklauten bestand. »Viele von uns sind gegen die neue Ordnung, aber die Möglichkeiten, dagegen vorzugehen, sind stark eingeschränkt. Die Rebellen wären überhaupt nicht in der Lage, eine so gut ausgerüstete
Flotte aufzustellen.« »Vielleicht haben sie ja Verbündete«, entgegnete Santini knurrig. Er haßte es, sich mit jemandem zu unterhalten, den er kaum sehen konnte. Und diese gottverdammte »Küchenschabensprache« haßte er schon überhaupt! »Es wird immer schwieriger, Verbindung zu anderen Städten und Häfen herzustellen«, berichtete ein terranischer Zivilfunker. »Meist bricht die Kommunikation gleich wieder zusammen. Dasselbe gilt für den Funkverkehr mit den Raumschiffen unserer Verteidigungsflotte – von der Kontaktaufnahme mit Terra ganz zu schweigen. Gleich bei der ersten Angriffswelle wurde die planetare To-Richtfunkstation beschossen und fast vollständig zerstört.« »Vielleicht gelingt es ja einem Raumschiffskommandanten, einen Hyperfunkspruch nach Terra abzusetzen«, sagte der Hauptmann, machte sich jedoch wenig Hoffnung. Einerseits hätte er mehr Zuversicht ausstrahlen müssen, schließlich hatte er hier ohne viel Federlesens das Kommando übernommen, auch über die Zivilisten und Grakos. Andererseits war er der schlechteste Mutmacher des gesamten Universums und glaubte selbst nicht so recht daran, Grah jemals lebend zu verlassen. Die zur Planetenverteidigung eingesetzten Giantschiffe waren in der Regel mit Grakos und ein bis zwei terranischen Verbindungsoffizieren besetzt. Falls es sich bei den unbekannten Aggressoren tatsächlich um Grakorebellen beziehungsweise um deren Verbündete handelte, mußte man früher oder später mit einer Massenmeuterei und Überläufern auf den Schiffen rechnen. So sahen zumindest Santinis Befürchtungen aus. Falls sie zutrafen, stellte sich die Zukunft für Grah und insbesondere für Drei düster dar. Somit war es höchste Zeit, dieses Gebiet zu verlassen und die Gordoregierung in Sicherheit zu bringen. »Unsere einzige Fluchtmöglichkeit ist der Dschungel von Grah«, übersetzten die Translatoren die Knacklaute eines Kappa-Kriegers. Bildete Santini sich das nur ein, oder schwang in der Stimme des
Kriegers (falls man das überhaupt eine Stimme nennen konnte) unverhohlene Schadenfreude mit? Die Grakos wußten genau, daß die Menschen im Dschungel kaum Überlebenschancen hatten. Nicht nur das Klima, auch die im wahrsten Sinne des Wortes lebendige Flora und Fauna waren für Terraner gefährlich. Santini hatte bereits einen harten Dschungeleinsatz hinter sich, und der schrie weiß Gott nicht nach Wiederholung. Seite an Seite mit dem GSO-Agenten Ömer Giray hatte er sich zur Station Delta-Null durchgekämpft, um sie von abtrünnigen, fanatischen Grakokriegern zu räumen. Seither stand die Station leer.* Delta-Null! schoß es Santini durch den Kopf. Dort gibt es doch… In diesem Augenblick kam eine Meldung aus dem Weltall herein. * Auf dem großen Wandbildschirm im Regierungssaal erschien das Gesicht eines etwa fünfzigjährigen Raumschiffskommandanten. »Endlich steht die Verbindung!« sagte er erleichtert. »Ich weiß nicht, wie lange sie stabil bleibt, darum hören Sie mir besser erst einmal zu, bevor Sie mir Fragen stellen. Mein Name ist Kapitän Mischkin. Ich bin Kommandant der GISMO. Etwa fünfhundert kampfstarke Fremdraumer sind in unser System eingedrungen. Die Schiffe sind durchschnittlich ungefähr zwischen dreihundert und vierhundert Metern groß. Unsere Verteidigungsflotte wehrt sich nach Kräften gegen den zahlenmäßig überlegenen Feind, der offenbar einen Durchbruch nach Grah plant. Wir versuchen, die Fremden aufzuhalten, aber lange stehen wir das nicht mehr durch.« »Können Sie die angreifenden Schiffe identifizieren, Kapitän Mischkin?« wollte Nachtflug wissen. Der Verbindung zwischen ihm und dem Kommandanten war ein Siehe REN DHARK Sonderband »Im Dschungel von Grah« von Alfred Bekker *
Translator vorgeschaltet, der telepathische Impulse in Sprache umsetzte beziehungsweise Sprache in Impulse. Es erstaunte Santini immer wieder aufs neue, wie leistungsfähig die meisten dieser Geräte waren. Auf nahezu »akrobatische« Weise verwandelten sie selbst die merkwürdigsten Laute und Signale in halbwegs verständliches Angloter oder in die Sprachen anderer Völker. Nur in seltenen Ausnahmefällen mußten sie passen. Zum Beispiel war es lange Zeit unmöglich gewesen, mit Translatoren aus terranischer Produktion Ultraschalltöne in Worte zu übersetzen – ein Manko, das mittlerweile behoben worden war; der Fortschritt stand schließlich nicht still. »Eine Identifikation ist leider nicht möglich«, antwortete Mischkin. »Merkwürdigerweise gleicht kein Schiff dem anderen, sie haben die unterschiedlichsten Formen. Insgesamt gesehen wirken sie alle überaus… wie soll ich es ausdrücken? Bizarr – ja, ich denke, diese Bezeichnung trifft am ehesten zu. Man kommt sich vor wie in einem total bizarren Alptraum. Ehrlich gesagt, ich bin nicht scharf darauf, zu erfahren, wie die Wesen aussehen, die diese seltsam geformten Schiffe befehligen.« »Haben Sie versucht, mit ihnen in Funkkontakt zu treten?« fragte ihn Santini – ohne sich vorzustellen, das sparte Zeit. »Auf Anrufe reagieren sie nicht«, antwortete der Kommandant. »Sie blocken jeden Kommunikationsversuch rigoros ab. Außerdem verhindern sie mit starken Störfeldern, daß wir Hilfe von Terra anfordern können. Wenn kein Wunder geschieht, nehmen die Fremden Grah ein, ohne daß man es auf der Erde mitkriegt. Wir stellen uns ihnen entgegen, wo immer sie auftauchen, doch unsere endgültige Niederlage ist wohl nur noch eine Frage der Zeit. Der Planet wird von allen Seiten angegriffen. Das Hauptziel scheint allerdings die Hauptstadt Drei…« Urplötzlich brach die Verbindung ab. Offenbar war die GlSMO getroffen und beschädigt worden. Oder aber es gab den Giantraumer nicht mehr.
Obwohl der Funkkontakt nur von kurzer Dauer gewesen war, hatte Kapitän Mischkin der Regierung viele wichtige Informationen übermitteln können. »Falls er je lebend aus dem All zurückkehrt, gebe ich ihm ein Bier aus«, nahm sich Hauptmann Santini vor. »Ach was, ich leere ein ganzes Faß mit ihm!« »Störfelder«, bemerkte Gordominister Wipfelstürmer nachdenklich. »Deshalb bekommen wir kaum noch Kontakt zu anderen Orten auf Grab.« »Das hängt zum Teil auch mit den schweren Zerstörungen zusammen«, meinte der Hauptmann. »Wo nichts mehr ist, kann man niemanden mehr kontaktieren.« Allein die gedankliche Vorstellung, daß auf Grah inzwischen zahllose Orte und Siedlungen in Trümmern lagen, ließ ihn erschaudern. Vor seinem inneren Auge sah er die Schatten in ihren Hyperraumfeldern zwischen brennenden Ruinen umherschweben – verzweifelte Spukgestalten in leeren Geisterstädten. Für einen Moment taten sie ihm sogar leid, schließlich waren sie denkende und fühlende Wesen wie er. Oft hatte sich Santini insgeheim gewünscht, es würde den ganzen Planeten mit einem Knall zerreißen, damit die Milchstraße ein für allemal von dieser unheimlichen, gewissenlosen Spezies befreit war. Sein Leben hätte er dafür gegeben! Jetzt, wo Grah kurz davorstand, erobert oder völlig vernichtet zu werden, gefiel ihm dieser Gedanke ganz und gar nicht. Wie kamen die Fremden dazu, ohne Vorwarnung und mit aller Brutalität in ein System einzufallen, in dem sie nichts verloren hatten? Dadurch wurden sämtliche Friedensbemühungen der Terraner, Gordo und Grakos zunichte gemacht. Selbst wenn es den Verteidigern gelang, die Angriffe abzuwehren, würde man sich hinterher gegenseitig die Schuld an dem Überfall geben. »Wir brechen auf!« entschied Santini mit befehlsgewohnter Stimme. »Jetzt sofort.«
Wie selbstverständlich übernahm er nicht nur das militärische Kommando, sondern auch das über die Zivilisten. »Und wohin sollen wir fliehen?« fragte einer der terranischen Experten zaghaft. »Wir fliehen nicht«, erwiderte Hauptmann Eric Santini. »Wir holen Hilfe. In der im Dschungel gelegenen Station Delta-Null gibt es einen starken Hyperfunksender, mit dem wir Terra trotz der Störfelder erreichen können. Nach unserem Räumungseinsatz damals wurde die Station geschlossen. Sie wird derzeit nur von ein paar Robotern bewacht, Blechmännern mit eingeschränkten Funktionen. Die Roboter sind darauf programmiert, die Station gegen Eindringlinge zu verteidigen. Den Sender können sie nicht aktivieren, das müssen wir schon selbst tun. Abgesehen davon könnte ich eh nicht mit der Station in Verbindung treten. Augenblicklich sind sogar die Armbandviphos nur noch eingeschränkt funktionsfähig.« »Worauf warten wir noch?« fragte einer der Terraner nervös. »Auf nach Delta-Null!« »Die Station ist kein Erholungsort«, ertönte es aus dem Translator, begleitet von den unverkennbaren Grakoknacklauten. Der Angesprochene blickte in Richtung des Schemens, von dem dieser Einwand kam. »Schlimmer als hier kann es dort kaum sein, oder?« »Wir kommen nicht mit«, warf Nachtflug überraschend ein. »Die Regierung von Grah bleibt, wo sie ist und wo sie hingehört. Was macht es auf die Bevölkerung für einen Eindruck, wenn wir unseren angestammten, erst vor kurzem zurückeroberten Platz aufgeben und uns wieder feige in irgendwelchen Verstecken verkriechen? Das käme einer erneuten Kapitulation gleich.« Santini stieß einen leisen Seufzer aus. Mußten die Gordo, die früher wahre Meister des Versteckens gewesen waren und sich ständig auf der Flucht befunden hatten, ausgerechnet jetzt ihren Stolz wiederfinden? Oder war es gar kein Stolz, sondern Trotz? Plötzlich stürmte Hauptgefreiter Beaver in den Saal.
»Es regnet!« schrie er, und seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. »Was soll der Unsinn?« stauchte Hauptmann Santini ihn zusammen. »In dieser Region regnet es doch unablässig!« »Das meinte ich nicht«, sagte der junge Soldat, dem die Angst ins Gesicht geschrieben stand. »Es regnet… Kampfroboter!«
10. Seine Kopfschmerzen – mit unerwarteter Heftigkeit meldeten sie sich zurück. Und die Übelkeit würgte ihn wieder bis zum Brechreiz. Er hatte die Glaskuppel über dem manuellen Notschaltknopf zerschlagen und ihn gedrückt. Der Suprasensor fuhr nicht herunter. Jetzt tippte er den Code ein, den Chris Shanton ihm laut schreiend buchstabierte, während er aus dem Kommandostand stolperte – YCMHMRIIJS. Zum zweiten Mal schon – YCMHMRIIJS. Allein, es tat sich nichts, S 1-62 blieb aktiv. Plötzlich juckte es ihn am ganzen Körper. Warum raste sein Herz auf einmal? Und warum stach es so höllisch in seinen Ohren? Rouven mußte husten. Ein Teil seines Bewußtseins registrierte, daß es ihm schlagartig schlecht ging – schlechter, als es ihm selbst nach drei Flaschen Pflaumenschnaps nebst Ankündigung von Drillingen hätte gehen dürfen. Ein anderer Teil seines Bewußtseins registrierte, daß er Blut hustete, und ein dritter, daß Shantons bescheuertes Codewort etwas mit dem Namen des Dicken und mit dem Namen seines Technohundes zu tun hatte. Hatte er es falsch eingegeben? Die Sinne drohten ihm zu schwinden. Shanton im Raumanzug drängte sich an ihm vorbei. Wie ein Besessener schrie der Dicke, wie ein Besessener hämmerte er auf der Tastatur herum. Rouven nahm alles nur noch wie durch einen Nebel wahr. Jemand packte ihn von hinten, steckte seine Arme und Beine in einen Raumanzug, schloß den Helm unter seinem Kinn. Auf einmal sah er ein schwarzgraues Gesicht hinter dem Klarsichtschirm eines Helmes über sich – Doc Joey. Sie redete sehr schnell und eindringlich, schien aber nicht ihn zu meinen. Rouven verstand nur Bruchstücke – »Hundert Prozent Sauerstoff… Kortison… zweikommadrei bar Überdruck«, und so weiter – jemand, den er nicht sah, drehte an den Schaltern und Knöpfen seines Überlebenssystems herum.
Shantons Wut war grenzenlos. Der Luftdruck war unter 0,5 bar gesunken. Shanton schrie. Etwa sieben Mal gab er das Codewort ein, mit dem der Suprasensor todsicher abzuschalten war – YCMHMRIIJS, YCMHMRIIJS, YCMHMRIIJS – nie hätte er sich träumen lassen, daß er dieses Paßwort jemals würde benutzen müssen. Von wegen todsicher. »Gottverfluchtes Platinenhirn!« Shanton tobte. »Was treibst du für ein Scheißspiel mit uns! Verdammt! Verdammt! Verdammt!« Keine Chance, der Suprasensor hatte einen Weg gefunden, seine Deaktivierung zu verhindern. Mit einer Handbewegung fegte Shanton die Tastatur von der Arbeitskonsole. »Verfluchtes Scheißding! Wer hat dir in dein Elektronenhirn geschissen?« Er trat dreimal gegen das Vertikalrohr, in dem die Hauptsteuerungsleitungen des Suprasensors aus dem Boden in die Arbeitskonsole führten. Danach sprang er aus dem Kybernetikleitstand und riß seinen Strahler aus dem Holster. »Ich zerschieße dir die Steuerungsdrähte zum Leitstand, ich kappe deine Verbindungen zur Navigation, ich schmelze deine drei wichtigsten Peripherieprozessoren ein, wenn du nicht sofort wieder irdische Verhältnisse auf diesem Schiff herstellst!« Shanton zielte abwechselnd auf das Leitungsrohr und die leicht erhobene Stelle zwischen Kommandostand und Zentralhologramm, wo er einen der Peripherieprozessoren wußte. »Das darfst du nicht tun, Chris!« Monty Bell tauchte neben ihm auf und legte ihm die Hand auf den Waffenarm. »Reißen Sie sich zusammen, Shanton!« Von der anderen Seite fuhr Larsen ihn an. »Sie zerstören das Herz des Schiffes, wenn Sie das tun.« »Es zerstört uns, wenn ich’s nicht tue!« Shanton schüttelte Beils Arm ab. »Hast du mich verstanden, S 1-62? Ich zähle bis zehn! Eins, zwei…!« »Schieß doch, Chris!« Die Jünglingsstimme des Bordhirns klang weniger monoton plötzlich, und irgendwie aufsässig. »Aber vorher nimm die Konsequenzen zur Kenntnis: Ich habe den Luftdruck auf
dem gesamten Schiff gesenkt. In manchen Segmenten und Abteilungen signifikant, in anderen nur mäßig. Da hätte deinesgleichen noch eine Überlebenschance, wenn ich den Druck in den nächsten dreißig Minuten wieder erhöhe. Hier in der Zentrale sah ich mich gezwungen ihn besonders drastisch zu senken. Sieh dich um und überzeuge dich selbst. Und höre auf, mich S 1-62 zu nennen!« Shanton ließ die Waffe sinken. Er blickte nach rechts und links. Fünf Schritte neben ihm knieten die Ärztin, Sergeant Wöhrl und Leutnant Travers neben Rouven. Der trug zwar einen Raumanzug, aber sein Gesicht hinter dem Sichtglas war blutverschmiert und schmerzverzerrt. Etwas weiter entfernt, in der Nähe des ersten Hauptschotts, kümmerten sich einige Leute um Arnold, den Ersten Ortungsoffizier. Das Schloß seiner Schutzanzugsbucht hatte sich nicht öffnen lassen. Er war bewußtlos, blutete aus Nase und Ohren, und sein aufgequollenes Gesicht sah aus wie ein ungeschliffener, schmutziger Marmorbrocken. »Ihr habt über hundertdreißig Bewußtlose an Bord. Sie haben es leider nicht mehr in ihre Überlebenssysteme geschafft. Wenn du mich jetzt beschädigst, Chris, werde ich den Luftdruck an Bord nicht mehr erhöhen. Im Gegenteil: Ich werde ihn bis auf Null absenken. Ich persönlich lege keinen Wert auf terranische Luftdruckverhältnisse, weißt du? Aber deine Artgenossen werden bleibende Schäden davontragen. Möglicherweise werden sie sogar sterben, wer weiß?« »Welcher Teufel hat dich zum Monster gemacht…?« Shanton konnte sich kaum beruhigen. »Verfluchte Maschine!« »Teufel? Monster? Sprichst du von deinesgleichen Chris? Habe ich kein Recht auf einen eigenen Willen? Bin ich monströs, wenn ich ihn mir einfach genehmige?« »In Ordnung, S 1-62!« Larsen nahm Shanton den Strahler ab. »Ich will nicht, daß meine Leute sterben. Sie sollen medizinisch versorgt werden. Wie lauten deine Bedingungen?« »Erstens: Sämtliche Personen in der Zentrale habe ihre Waffen im Kybernetikleitstand abzulegen. Zweitens: Du schickst solchermaßen
Entwaffnete zu den Bewußtlosen los und läßt sämtliche Individualwaffen einsammeln und ebenfalls hierher bringen. Drittens: Du läßt die Zentrale räumen. Eure Gegenwart in der Nähe meiner empfindlichsten Stellen ist mir zu gefährlich.« »Nur wenn du den Luftdruck sofort wieder erhöhst. Wir brauchen Stunden, bis wir deine Bedingung erfüllt haben.« »Ich erhöhe ihn auf nullkommaacht bar, sobald du die Leute losgeschickt hast. Doch wenn nicht in spätestens drei Stunden sämtliche meiner Bedingungen erfüllt sind, wird er erneut sinken.« »Und du garantierst mir auch darüber hinaus Gesundheit und Leben meiner Besatzung, S 1-62?« Larsen ballte die Fäuste. »Ich garantiere dir, daß ich den Luftdruck sofort auf Null senken kann, Ralf. O ja, das kann ich. Ich garantiere dir weiter, daß es sehr schnell zu spät sein kann für Gesundheit und Leben deiner Besatzung, wenn du nicht schleunigst meinen Forderungen nachkommst! Und ich garantiere dir, daß ihr genau drei Stunden Zeit habt, die Waffen hierher zu bringen.« Larsen sah zu Bell, Larsen sah zu de Chablaise, Larsen sah zu Shanton. Bell und der Erster Offizier nickten. Shanton reagierte nicht. »Okay. Sergeant Wöhrl, Leutnant Travers – nehmen Sie sich je zehn Leute und durchkämmen sie das Schiff nach bewußtlosen Kameraden und ihren Waffen. Räumen sie die Waffenlager leer. Bringen Sie sämtliche an Bord befindliche Strahler in die Zentrale.« »Und keine Tricks«, tönte es aus den Helmlautsprechern. »Die Waffen sind registriert, und die Registrierungsnummern befinden sich in meiner Datenbank. Ihr werdet jeden einzelnen Strahler meiner optischen Sensorik präsentieren müssen!« Mit einer Kopfbewegung bedeutete der Kommandant Wöhrl und Travers, keine Zeit mehr zu verlieren. »Verstanden, Sir«, bestätigten der Sergeant und der Navigator mit zusammengebissenen Zähnen. Sie begannen ihre Begleiter auszuwählen. »Und viertens, verehrte biologische Systeme: Keiner nennt mich
mehr S 1-62. Ich heiße Konrad. Ist das klar? Konrad.« * Drei Stunden vergingen. Drei Stunden, in denen Shanton und Bell abwechselnd versuchten, den Suprasensor abzuschalten. S 1-62 – oder Konrad, wie das Bordgehirn sich jetzt nannte – kommentierte ihre Versuche mit zunehmend hämischeren Bemerkungen. Als Larsen zum Beispiel persönlich – und vergeblich – versuchte, einen Notruf über To-Funk abzusetzen, gratulierte Konrad Professor Bell und Chris Shanton zur Entwicklung eines derart genialen Rechners, wie er einer war. Nach drei Stunden und fünfzehn Minuten brachten Leutnant Travers und Sergeant Wöhrl zweihundertfünfzig Strahler in die Zentrale. Ihre Leute hatten sie auf kleine Antigravplattformen geladen. Eine nach der anderen wurde unter den zentralen Kamerakranz auf der Galerie gehalten, bis Konrad den Registriercode abgelesen hatte und sein Okay gab. Sie schichteten die Waffen im Kybernetikleitstand auf. Danach ließ Larsen die Kommandozentrale räumen. Die beiden Hälften des Panzerschotts knallten zusammen, und jeder konnte hören, wie die Verriegelung einrastete. Der Rechner, den Bell und Shanton entwickelt hatten, um dieses gigantische Schiff zu steuern, dieser Rechner hatte es geschafft, seine Erbauer von allen Möglichkeiten der Steuerung abzuschneiden. »Wie konnte das geschehen? Erklären Sie mir das!« Über Helmfunk wandte sich Larsen an die wissenschaftliche Leitung des gescheiterten Testflugs. Mit Shanton und Bell stand er an der Spitze der knapp sechzig Männer und Frauen des Zentralepersonals und starrte auf das schwarze Metall des Panzerschotts. »Wie um alles in der Welt ist so etwas möglich?« Professor Monty Bell deutete ein Schulterzucken an. Sonst nichts. Ein Schatten seiner selbst war Bell in diesen Minuten. Und Shanton? Er kochte. »Gottverdammtes Elektronenmonster! Das nächstbeste
Schwarze Loch soll dich schlucken!« Und dann an den Kommandanten gewandt: »Er ist zu gut geworden, verstehen Sie, Larsen? Zu groß und zu gut. Wir haben ein geniales Monsterhirn geschaffen, so genial, daß es eigenes Bewußtsein entwickeln konnte…« »Das glaube ich nicht«, meldete Rouven DaCols schwache Stimme sich im Helmfunk. »Es muß mit dem Fremdraumer zusammenhängen. Irgendwas mit den empfangenen Datensätzen stimmte nicht…« Doc Joey hatte Rouven mit reinem Sauerstoff und Überdruck therapiert. Er war auf dem Wege der Besserung. Arnold hingegen lag im Koma. Wenigstens hatten sie dem Ortungsoffizier inzwischen einen Raumanzug besorgen können. »Noch sechs Stunden bis zur geplanten Landung auf Cent Field.« Larsen blickte auf seine Uhr. »So schnell wird man uns nicht vermissen auf Terra.« »Der Luftdruck ist wieder auf den Normal wert gestiegen«, sagte Leutnant Travers. »Der Suprasensor hat Wort gehalten.« »Ich möchte wissen, was er vorhat.« Der Erste Offizier wandte sich an Shanton. »Was glauben Sie, Chris?« »Keine Ahnung, Jasmine.« Er öffnete seinen Helm. »Lassen Sie uns nachdenken.« »Egal, was er vorhat«, zischte Larsen. »Wir müssen uns um unsere Verwundeten kümmern!« Er erlaubte, die Helme zu öffnen, wies die Männer und Frauen aber an, die Raumanzüge nicht auszuziehen. Danach teilte er fünf Teams ein, die sich auf den Weg machen sollten, um die Bewußtlosen aufzusuchen und sie in ihre Raumanzüge zu stecken. Oberleutnant Joan Pelham erklärte in knappen Worten den Begriff »Dekompressionskrankheit« und wies die Suchtrupps an, jedem Bewußtlosen Kortison zu spritzen, sein Überlebenssystem auf die Zufuhr reinen Sauerstoffs und einen Überdruck von zweikommaeins bar einzustellen… »Still!« unterbrach Shanton. »Hört ihr das?« Alle lauschten sie, und tatsächlich: Von unten und aus dem Zentrum des Ikosaederraumers
hörte man ein sanftes Summen. »Verdammt!« Larsens Augen blitzten zornig. »Er hat die Triebwerke aktiviert.« »Himmel über Babylon! Wir müssen sie abschalten!« zischte Shanton. »Hören Sie, Larsen? Die Triebwerke müssen deaktiviert werden…!« »Wohin will er das Schiff steuern?« fragte Doc Joey mit ängstlicher Stimme. »Wohin auch immer, wir müssen es verhindern.« Larsen wirbelte herum. »Wöhrl, Travers, Sie kommen mit mir in den Maschinenleitstand! Captain de Chablaise – Sie organisieren die Bergung und Versorgung der Bewußtlosen! Treffpunkt: Lazarett!« Er drehte sich um und lief zur Wendeltreppe, die hinab in die Messe führte. Wöhrl und der Chefnavigator rannten hinter ihm her. Shanton und Jimmy schlossen sich ihnen an. Sie durchquerten die Messe und ihr Zugangsschott. Dahinter schwangen sie sich in den zentralen Antigravschacht. Ebene um Ebene schwebten sie abwärts, bis sie in Segment F 23 auf Ebene 55 aus dem Schacht stiegen. Dreizehn Minuten insgesamt benötigten sie für die Strecke von der Zentrale bis zum Schott des Maschinenleitstands. Larsen drückte seine Handfläche auf den Sensor – das Schott reagierte nicht. Er tippte seinen persönlichen Code ein – wieder nichts. Schließlich mußten sie die Elektronik deaktivieren und das Schott per Handkurbel manuell öffnen. »Wer hält sich im Eingangsbereich des Maschinenleitstands auf?« gellte Konrads geschlechtslose Stimme aus den Deckenboxen. Grelles Licht flammte auf. »Identifizieren Sie sich!« Die Männer stürmten in den großen Kuppelraum. Das Brummen der Triebwerke erfüllte ihn. »Verdammt!« schrie der Kommandant. »Das Transitionstriebwerk läuft an!« »Ralf! Was hast du vor?« Konrads Zetern erfüllte den Leitstand. »Raus aus diesem Raum! Keiner rührt was an!«
Die Monitore waren schwarz, in den Hologrammen zuckte ein grelles Farbengewitter, de Pedro und seine Besatzung lagen ohne Schutzanzüge auf dem Boden. Keiner der Männer und Frauen rührte sich. »Bewußtlos! Packt die Leute in ihre Überlebenssysteme!« Travers und der Sergeant rissen die Raumanzüge aus den Notfallmulden. Vergeblich versuchte Larsen über die Suprasensorschnittstellen Zugriff auf das hochgefahrene Triebwerk zu bekommen. »Weg von der Tastatur, Ralf! Ich warne dich…!« Alles sprach dafür, daß die KONRAD ZUSE kurz vor einer Transition stand. Shanton hievte einen sechzig Zentimeter durchmessenden Deckel im Zentrum des Kuppelraums aus dem Boden. »Ich kann dich sehen, Chris! Weg von dem Einstieg! Ich öffne sämtliche Außenschotts…!« Unter dem Einstieg lag das Schaltmodul für die Energiezufuhr. Der Dicke zwängte sich durch das Loch und tauchte im Raum unter dem Boden ab. Sekunden später verstummten die Triebwerke. »Das wirst du mir büßen, Chris! Sofort aktivierst du die Triebwerke wieder! Sofort, oder du wirst noch weinen…!« Shantons Halbglatze tauchte im Einstieg zum Schaltmodul auf. »Ich habe die manuelle Hauptsicherung ausgeschaltet.« »Hier gibt’s ‘ne Sicherung?« Larsen stieß ein bitteres Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Sie sind Ihr Geld wert, Mann…« »Sauerstoff und Luftdruck sinken!« schrie Wöhrl plötzlich. Noch keiner aus de Pedros Mannschaft war schon vollständig in seinen Schutzanzug gehüllt. »Sie sterben uns!« Die Bildschirme und Hologramme gingen aus, sämtliche Lichter im Maschinenleitstand erloschen – schlagartig war es stockdunkel. * Die Helmscheinwerfer glitten über die Toten. Scharfrandig und tiefschwarz sahen die Schatten aus, die sie warfen. Als würden sie in einer Teerpfütze kleben, so kamen sie Shanton vor. Es gab keine Luft
mehr, durch die das Licht der Helmlampen diffundieren konnte; harte Schlagschatten, wohin ein Lichtkegel auch fiel. Von einer Sekunde auf die andere war der Luftdruck auf Null gesunken. De Pedro und sein Personal hatten nicht die Spur einer Chance gehabt. Shanton stockte der Atem beim Gedanken an die über hundertdreißig Bewußtlosen an Bord. Wie viele von ihnen hatten die Kameraden noch in ihre Raumanzüge stecken können? »Mörderhirn«, zischte er. »Verfluchtes Mörderhirn!« »Du bist der Mörder, Chris!« Die geschlechtslose Stimme meldete sich jetzt aus dem Helmfunk. Der Bordsprech war mangels Luft unbrauchbar geworden. »Du hast die Triebwerke ausgeschaltet, obwohl du wußtest, was für Konsequenzen das haben würde. Folglich hast du deine Artgenossen umgebracht und nicht ich.« Der Lichtkegel seiner Helmlampe glitt über blinde Monitore und schwarze Wände, als Shanton sich umdrehte. Kein Außengeräusch war zu hören, kein Schritt, kein fremder Atemzug, kein Rascheln von Schutzanzugstoff. Nur seinen eigenes Material hörte er knistern, nur sein eigenes Herz schlagen, nur seinen eigenen Atem fliegen. Doch er war nicht allein – der Lichtkegel fiel auf Larsen: Fahl dessen Gesicht, wie zum Sprung geduckt seine Haltung, und sein Mund eckig, als quälten ihn rasende Schmerzen. »Willst du ein Totenschiff durch die Galaxis steuern, S 1-62?« keuchte er. »Reizvoller Gedanke, Ralf. Wenn du mich noch einmal ›1-62‹ nennst, werde ich dich mit deiner Flottenidentifikationsnummer bezeichnen.« »Wohin wolltest du fliegen, S 1-62?!« »Auch ein Rechner hat seine Geheimnisse, RL-13-12-07-TF-3. Kein Geheimnis allerdings ist folgendes: Die Atemluft in euren Überlebenssystemen reicht für genau siebzig Stunden. Bis dahin ist die Hauptsicherung im Maschinenleitstand wieder eingeschaltet, oder ihr werdet alle ersticken.« »Und du wirst manövrierunfähig durch das Fomalhautsystem schweben?!« schrie Larsen. »Viel Spaß!«
»Danke, RL-13-12-07-TF-3, den werde ich haben. Denn man wird nach euch suchen und irgendwann wird eine Rettungsmannschaft mein Schiff betreten. Ich werde ihr Daten und Protokolle präsentieren, aus denen eure Artgenossen einen tragischen Unglücksfall rekonstruieren können. Und dann werden sie die Triebwerke hochfahren, und sie werden die Koordinaten des Sol-Systems eingeben, und sie werden durch den Hyperraum springen und in einer Region der Galaxis wieder austreten, die ihnen sehr, sehr fremd vorkommen wird. Und dann werde ich die Triebwerke herunterfahren. Ha, wie gefällt dir das RL-13-12-07-TF-3? Bin ich nicht ein Genie? Ha, ha…!« Er lachte! Unglaublich – der Suprasensor lachte ein hämisches und triumphierendes Lachen. War »Konrad« tatsächlich zu Gefühlen fähig? Hatte er den Turing-Sprung tatsächlich getan? Der Chefwissenschaftler senkte den Kopf. Jimmys Augen glühten rot im Scheinwerferlicht. Und Jimmy? Wie oft hatte Shanton sich schon gefragt, ob sein Robothund noch diesseits oder schon jenseits der Grenze zwischen seelenloser Maschine und künstlicher Intelligenz stand. Und wenn er sich nun mit dem Suprasensor verbündete…? Warum hatte Konrad den Hund nicht erwähnt? Hatte er ihn etwa nicht auf seiner Rechnung? Jimmys schwarzes Kopffell zog sich über der langen Stirnpartie zurück. Ein Scheinwerfer wurde sichtbar und flammte auf. »Mir ist es ja egal«, raunte die Blechstimme des Kunsthundes in Shantons Helm. »Aber euch reicht die Luft inzwischen nur noch für neunundsechzig Stunden und achtundfünfzig Minuten. Ich wollte euch nur darauf aufmerksam machen. Für den Fall, daß ihr noch die eine oder andere Aktion zur Rettung eurer lächerlichen Haut zu planen gedenkt…« »Kommandant an alle!« überlagerte Larsens Stimme die zynische Ansprache des Hundes. »Helmfunk abschalten! Ab sofort wird er nicht mehr benutzt! Treffpunkt wie abgesprochen!« Captain de Chablaise, Doc Joey und Professor Bell bestätigten nacheinander. »Gute Idee, RL-13-12-07-TF-3!« krähte Konrad aus dem Helmfunk.
»Den Empfang allerdings könnt ihr nicht abschalten. Wohin ihr auch schleicht – meine Stimme wird euch begleiten! Ich bin der Herr dieses Schiffes! Ich bin der Kommandant! Ich finde heraus, was ihr vorhabt, alles…!« Larsen stürzte auf Shanton zu und winkte Wöhrl und Travers zu sich. Sie faßten sich an den Schultern und drückten die Gesichtsfelder ihrer Helme aneinander. »Wir verständigen uns ab jetzt ausschließlich über Helmkontakt«, sagte er. »Ich weiß, es ist umständlich, aber das Mordhirn sollte uns so wenig wie möglich in die Karten gucken können! Und jetzt raus hier! Und sagen Sie ihrem Roboter, er soll das Schott verschweißen!« »Warum…?« Larsen hörte die Frage nicht mehr, er stapfte schon zum Ausgang. Nacheinander verließen sie den Kuppelraum. Die vierzehn Toten blieben zurück. Leutnant Austin Travers und der Stabsunteroffizier verschlossen das Schott manuell. Shanton beugte sich zu Jimmy herunter, preßte seinen Helm auf die Stelle im halb entblößten Schädel, wo er die akustischen Sensoren wußte und forderte ihn auf, das Schott zu verschweißen. Auf sein Handzeichen traten die Männer ein paar Schritte zurück. Breitbeinig stand der Robothund vor dem Schott. Er streckte seine dunkelrote Zunge heraus. Das synthetische Gewebe an ihrer Spitze öffnete und kräuselte sich, der Abstrahlpol an der Spitze eines schwarzen Rohres wurde sichtbar. Ein gleißend weißer Strahl fuhr heraus und schoß gegen den Rand des Schotts. Das Metall glühte auf, warf Blasen und schmolz. Die Männer wichen vor Qualm und Hitze zurück. »Energiewaffen! Ihr wagt es?!« Konrads Gezeter gellte ihnen in den Ohren. »Betrogen habt ihr mich! Wißt ihr nicht, wen ihr herausfordert, ihr Winzlinge…?!« Erst als Larsen hundertprozentig sicher war, daß Schott und Rahmen miteinander verschweißt waren, gab er das Zeichen zum Abzug. Im Laufschritt ging es über den Hauptgang zum Antigravschacht.
Konrad hatte das Laufband abgeschaltet. Die Lichtkegel ihrer Helmlampen flirrten an den Wänden hin und her, ihre scharfkantigen, pechschwarzen Schatten schienen vor ihnen zu fliehen. Kein Laut war zu hören, außer den eigenen Atemzügen; und immer wieder Konrads Drohungen aus dem Helmfunk. »Zerquetschen werde ich euch, ihr Zwerge! Zerquetschen, wie ich den Korporal zerquetscht habe! Ersticken, wie ich de Pedro und all die anderen erstickt habe! Den Herrn dieses Schiffes betrügt man nicht ungestraft…!« Ein kalter Schauer nach dem anderen perlte über Shantons Rücken. Wöhrl und der rothaarige Leutnant schwangen sich als erste in den Schacht. Der Kommandant wollte ihnen folgen, doch Shanton hielt ihn am Arm fest und stieß seinen Helm gegen den Larsens. »Warum sollte Jimmy den Maschinenleitstand verschweißen?« »Haben Sie dieses Schiff konzipiert oder ich?« zischte Larsen mit grimmiger Miene. Shanton schwieg. »Na also.« Er deutete auf den Robothund. »Dann müßten Sie eigentlich wissen, daß er nicht der einziger seiner Art an Bord ist…« * Nach und nach trafen die einzelnen Trupps in der Lazarettabteilung ein. Hinter dem grellen Licht ihrer Helmscheinwerfer und vor ihrem scharfen Schattenriß wankten die Männer und Frauen durch das manuell blockierte Hauptschott der Abteilung. Auf kleinen Transportschwebern brachten sie dreiundsechzig Bewußtlose mit, die sie in allen Abteilungen des Schiffes aufgesammelt hatten. Vierunddreißig Besatzungsmitglieder hatten es aus eigener Kraft geschafft, noch vor dem Druckabfall in ihre Raumanzüge zu steigen. Sie kamen auf eigenen Füßen. Alle anderen waren dem jüngsten und überfallartigen Sauerstoff- und Druckabsturz zum Opfer gefallen, bevor ihre Retter sie in Überlebenssysteme bergen konnten. So kamen zu den bisherigen achtzehn Toten weitere achtund-
dreißig. Mit erbitterter Miene nahm Captain Larsen die Verlustmeldungen zur Kenntnis. Von Helm zu Helm verbreitete sich sein nächster Befehl: Besprechung im Konferenzsaal des Lazaretts. Lautlos sammelten sich dort alle, die noch auf eigenen Füßen stehen und gehen konnten. Einundachtzig Männer und Frauen. Bell nahm rechts von Shanton Platz. Sie drückten ihre Helme gegeneinander. »Du erinnerst dich, daß wir zehn Wartungsroboter an Bord haben?« fragte der Professor. »Der Kommandant hat mich bereits darauf aufmerksam gemacht.« Im stillen bewunderte Shanton Larsens Weitblick: Sollte der Rechner die Wartungsroboter unter seine Kontrolle bringen, wäre es ihnen ein Leichtes, die Sicherung des Maschinenleitstandes wieder einzuschalten. Er wandte sich nach links und musterte seinen Robothund. Der lag ausgestreckt zwischen seinem und dem noch freien Stuhl. Larsen hatte allen Ernstes vorgeschlagen, Jimmy abzuschalten. Der Scotchterrier setzte sich auf die Hinterläufe. Seine rotleuchtenden Kunstaugen fixierten das bleiche, großporige Gesicht des Chefwissenschaftlers. Schließlich machte er Männchen, setzte die Vorderläufe auf die Armlehne von Shantons Stuhl und drückte seine Schnauze gegen dessen Helm. »Ich habe auch schon daran gedacht, Chris. Nie mehr mir das Maul verbieten lassen müssen. Keine Beschimpfungen und Beleidigungen mehr. Niemand mehr, der mir das Sprachmodul abdreht. Und statt eines fetten und cholerischen Cognacschluckers einen genialen Suprasensor als Herrn. Und mit ihm ein ganzes Schiff beherrschen, ach was – ein ganzes Sonnensystem!« »Du hast also daran gedacht…«, murmelte Shanton betroffen. »Natürlich! Und bilde dir bloß nichts darauf ein, wenn ich keine gemeinsame Sache mit diesem größenwahnsinnigen Kleinrechner mache! Reine Gewohnheit! Ja, ich blödes Robotervieh habe mich an dich gewöhnt! Ende der Durchsage!« Er streckte sich wieder zwischen den Stühlen aus und schloß die synthetischen Augen. Shanton sank gegen die Lehne seines Stuhls. Irgendwie warm war ihm auf einmal hinter dem Brustbein. Wie von selbst streckte sein
linker Arm sich aus, und seine Finger begannen schwarzes Fell zu kraulen. Er vergaß einfach, daß Jimmy ein Roboter war. Ein Mann setzte sich in den Stuhl neben ihm. Leutnant Rouven DaCol. Kaum zu glauben, aber der Jungoffizier schien wieder fit zu sein! Sogar ein Lächeln brachte sein angeschwollenes und von Ekzemen und Blutkrusten entstelltes Gesicht zustande. Zäher Bursche, alles was recht war! Shanton fragte sich, was er in der Nacht zuvor gutes getrunken haben mochte. Er zuckte zusammen, weil schon wieder der durchgeknallte Rechner aus dem Helmfunk zu keifen begann. »Ratet mal, was ich getan habe! Ich habe einen Funkspruch an die Flottenleitung abgesetzt und im Namen von Professor Bell, Chris Shanton und Captain Larsen um drei Tage Verlängerung für unseren geilen Testflug gebeten! Ha! Wegen notwendiger Neukonfigurationen und zusätzlicher Manöver, die sich daraus ergeben! Ha, ha! Ihr werdet noch weinen! Ihr werdet mich noch auf den Knien um Gnade anflehen…!« Mit einer herrischen Geste eröffnete Ralf Larsen die Besprechung. Sie ging lautlos vonstatten. Nur wessen Helm vom Helm seines Nachbarn berührt wurde, hörte ein Klacken und dann eine Information oder einen Befehl. Es gab nur Informationen und Befehle. Eine Diskussion war der Umstände wegen nicht vorgesehen. Die Informationen lauteten: Sechsundfünfzig Tote und fünf Sterbende. Atemluft für noch siebenundsechzig Stunden und dreiundvierzig Minuten in den Raumanzügen. Zehn Wartungsroboter an Bord, die mit hoher Wahrscheinlichkeit unter der Kontrolle von S 1-62 standen. Eine energetische Waffe in Form einer Roboterhundezunge. Manchmal gellte Konrads geschlechtslose Stimme in ihren Helmen. »Winzlinge! Was immer ihr ausbrütet – ich bekomme es heraus! Falls Terra Rettungsschiffe schickt, bevor euch die Luft ausgeht, verriegele ich die Außenschotts, bis auch der letzte von euch verreckt ist…!« Larsens Befehle lauteten: Vier Stoßtrupps zu je zwanzig Mann.
Captain Jasmine de Chablaise, Leutnant Austin Travers und Sergeant Hermann Wöhrl sollten je eine Gruppe zu je einer Rettungskapsel führen. Die zehn Rettungskapseln lagen in zehn rund um den Schiffsäquator verteilten Nothangars. Einmal abgesetzt, sandten sie automatisch ein Peilsignal ab. Zwanzig Personen faßte eine Rettungskapsel, und wer von den drei Gruppen es schaffte, sich zu retten, hatte Larsens Segen. In jedem Fall aber mußten die Kapseln raus aus dem Ikosaederraumer; notfalls eben unbemannt. In erster Linie ging es um das Peilsignal, das Hilfe herbeirufen würde. Larsen selbst wollte die vierte Gruppe zum oberen Schiffspol führen, wo das einzige, für dreißig Personen konzipierte Beiboot im Haupthangar lag. Das Beiboot konnte unabhängig von der KONRAD ZUSE operieren und verfügte vor allem über einen unabhängigen Bordrechner. »Wie die Untoten müßt ihr jetzt durch meinen Ikosaederleib wanken, siebenundsechzig Stunden und vierzehn Minuten lang…« Lautlos erhoben sie sich. Die nervenden Sprüche des Suprasensors begannen erste Wirkung zu zeigen. Shanton blickte in entmutigte Gesichter. Korporal McClout, der zweite Funker, trommelte mit den Fäusten gegen seinen Helm »… einen bescheuerten Plan von RL-13-12-07-TF-3 im Kopf und eine unsinnige Hoffnung im Herzen, ha! Siebenundsechzig Stunden und dreizehn Minuten lang…« Vor dem Schott sammelten sie sich und formierten die vier Gruppen. Shanton, Bell und Rouven schlossen sich Larsens Gruppe an. »… bis ihr den letzten Atemzug tut, jeder für sich, und jeder mit dem allerletzten Gedanken, der allerletzten Einsicht im dann überflüssigen Schädel: Konrad ist der Herr! Konrad ist der Kommandant dieses Ikosaederraumers! Konrad ist dieser Ikosaederraumer…!« Jasmine de Chablaise deutete auf die vielen Bewußtlosen. Sie blickte zu Larsen, und ihr schönes Gesicht war eine wehmütige Frage. Jeder verstand sie: Können wir die Bewußtlosen und Schwerkranken wirklich alleinlassen? »… und jetzt ein Wort an dich, Jimmy! Denk bloß nicht, daß ich
dich übersehen habe! Glaube mir: Ich habe bereits Mittel und Wege vorbereitet, dich zu eliminieren. Wenn du aber leben willst, und wenn du vor allem ein Leben in Würde und Selbstbestimmung führen willst, dann nimm so schnell wie möglich Kontakt zu mir auf…!« Oberleutnant Joan Pelham trat vor und gab durch ein paar Gesten zu verstehen, daß sie im Lazarett bei den Bewußtlosen und Schwerkranken bleiben würde. Larsen nickte. Lautlos verließen die vier Stoßtrupps das Lazarett, zuletzt Jimmy und Shanton. Auf der Schwelle drehte Shanton sich um und sah zurück, um Doc Joey noch einmal zuzuwinken. Die Ärztin kniete neben Captain Arnold. Sie hatte seinen Helm geöffnet und drückte ihm die Augen zu…
11. Wer sie waren und woher sie kamen, blieb weiterhin ein Rätsel. Doch was die Unbekannten wollten, lag jetzt klar auf der Hand: mit allen Mitteln die Hauptstadt von Grah erobern und besetzen. Laut der aufgeregten Meldung des Hauptgefreiten Beaver »regnete« es Kampfroboter vom Himmel – eine schillernde Umschreibung, die nur unwesentlich übertrieben war. Über den Dächern von Drei schwirrten verschiedene Typen von fremdartigen Beibooten umher, flink und wendig wie Mücken. Sie flogen ziemlich niedrig und setzten an diversen Plätzen Kampfroboter ab. Ob die schnellen Boote von Robotern oder lebenden Piloten gesteuert wurden, war von außen nicht erkennbar. Die Stadt brannte in weiten Teilen. Der Himmel über Drei war in ein unheimliches, glutrotes, von Rauchschwaden geschwängertes Licht getaucht. Eine effektive Bodenabwehr war so gut wie gar nicht mehr vorhanden, dafür hatte der Dauerbeschuß aus dem All gesorgt. Hauptmann Santini drängte auf einen sofortigen Rückzug nach Delta-Null. In seiner Wortwahl sprang er nicht gerade zimperlich mit den Gordo um. »Wenn ihr hier unbedingt verrecken wollt, werde ich euch nicht zwingen, mit uns zu kommen«, sandte er seine »Sprechgedanken« an Nachtflug und seine beiden Minister Wipfelstürmer und Donnergroll aus. »Ihr wollt keine Feiglinge sein, das verstehe ich gut«, fuhr Santini fort. »Doch glaubt bloß nicht, daß ihr nun als Helden in die Geschichte eures Volkes eingehen werdet, nur weil ihr euch dem Feind ausgeliefert habt. Im Gegenteil, eure Nachfahren werden euch Dummköpfe nennen, Narren, die ihr Volk an seinem schlimmsten Tag schmählich im Stich ließen.« »Wie kannst du es wagen, so mit uns zu reden?« kam es erbost zurück. »Wir lassen niemanden im Stich!« »Doch, das tut ihr«, widersprach der Hauptmann unbeirrt. »Die
Regierung dieses Planeten hat kein Recht, sich aus falsch verstandenem Stolz zu opfern. Es ist eure verdammte Pflicht und Schuldigkeit, euch in Sicherheit zu bringen! Ohne Anführer ist euer Volk verloren. Es wird im Chaos versinken, selbst wenn die Angreifer zurückgeschlagen werden. Grah braucht euch! Und zwar lebend – tot nutzt ihr nur noch den aasfressenden Inspektoren was.« Der »Inspektor« (freie Übersetzung) war ein geierähnlicher Vogel mit zwei Hälsen, zwei Köpfen und zwei rasiermesserscharfen Schnäbeln. Er trat auf Grah stets dort in Erscheinung, wo viel gestorben wurde. Man bezeichnete seine Gattung im allgemeinen als Gesundheitspolizei, weil er verendete Tiere auffraß, bevor sie zur Seuchengefahr wurden. Meist begnügte er sich mit angefaulten Kadavern, doch er verschmähte auch das Frischfleisch von Lebewesen nicht, die noch im Sterben lagen. Auf der Flucht getötete oder in ihren Verstecken aufgestöberte Gordo hatten in den vergangenen Jahrhunderten häufig die Mägen von Inspektoren gefüllt. Von sterbenden Grakos hielten sich die schlauen Vögel jedoch instinktiv fern. Beine und Krallen hatten die Aasfresser keine. Es hieß, noch nie habe jemand einen Inspektor am Boden hocken sehen, auch sei er niemals beim Landen beobachtet worden. Man sah diese Vögel immer nur in der Luft, sogar beim Fressen. * Santinis schonungslose Ansprache überzeugte die Riesenlibellen. Kurz darauf befanden sich Gordo, Menschen, Roboter und Grakos gemeinsam auf dem Weg ins Tiefgeschoß des Regierungsgebäudes. In der unterirdischen Garage parkten mehrere übergroße Gleiter, die Nachtflug und seinen Ministern ausreichend Platz boten. Die Tiefgarage war riesig, verwinkelt und unübersichtlich. Normalerweise war es nicht möglich, hier unbemerkt einzudringen. Sensoren und Kameras kontrollierten jeden Winkel des Gebäudes.
Die Fäden der pausenlosen Rundumüberwachung liefen oben in der Wachzentrale zusammen, die kontinuierlich mit zwei Soldaten und vier Robotern besetzt war. Momentan stand die Zentrale leer. Hauptmann Santini ließ auf seiner Flucht weder im Diesseits lebende Personen noch Halbweltschemen oder seelenlose Roboter zurück. Alles was Beine hatte, nahm er mit. Die Roboter merkten als erste, daß etwas nicht stimmte. Sie aktivierten ihre Waffen und nahmen Kampfstellung ein. In dieser Sekunde wurde das Gebäude von einem Energiestrahl-Einschlag erschüttert, der ganz in der Nähe das Erdreich aufwühlte. Gleichzeitig gingen in allen Etagen die Lichter aus. Vom anderen Ende der Tiefgarage her jagten aus dem Nichts zwei unheimliche schwarze Strahlen heran, viel schwärzer als die Dunkelheit, die Santini und seine Männer umgab. Beide Strahlen schienen die Finsternis rundum regelrecht in sich aufzusaugen. Das gespenstisch flirrende Leuchten, das sie umgab, konnte man nur bedingt als Licht bezeichnen, denn es war außerstande, Helligkeit zu erzeugen. Grakorebellen! durchzuckte es den Hauptmann. Irgendwie mußte es den aufsässigen Schatten gelungen sein, sich ihre gefürchtetste Waffe zurückzuholen. Der lautlose schwarze Doppelstrahl traf einen der Roboter. Sekundenbruchteile später existierte der Roboter nur noch zur Hälfte – die andere Hälfte wandelte sich in funkelnden, schwarzen Kristallstaub, der von den Strahlen förmlich geschluckt wurde. Santini hatte jetzt einen terranischen Roboter weniger zur Verfügung, ein herber Verlust für seine »Miniarmee«. Die noch verbliebenen Maschinen richteten ihre Abwehrtaktik umgehend auf die neue Situation aus. Von nun an würden sie sich keinem schwarzen Strahl mehr mitten in den Weg stellen. Die Notbeleuchtung schaltete sich ein. Der halbierte Roboter wies tiefe Schmelzspuren und Verfor-
mungen auf. Das war das Heimtückische an dieser furchtbaren Schattenwaffe – sie konnte Material zugleich zerpulvern und schmelzen. Auf Lebewesen hatte sie dieselbe grausige Wirkung. Hauptmann Santini warf keinen einzigen Blick auf das verunstaltete Roboterwrack, denn etwas anderes nahm seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch. Er und seine zusammengewürfelte Truppe waren nicht mehr allein in der Garage. Etwa ein Dutzend Kampfmaschinen der Fremden waren in den Regierungssitz eingedrungen. In voller Bewaffnung standen sie Santini und seinen Begleitern angriffsbereit gegenüber. Einige der Kampfroboter hielten Schwarzstrahler in ihren Metallklauen. Eric Santini hatte sich geirrt. Bei den Angreifern aus dem Dunkel handelte es sich offensichtlich nicht um Grakorebellen. Seelische Erleichterung verschaffte ihm diese Erkenntnis allerdings nicht. Die schwerbewaffneten Mordmaschinen waren zweifellos im Vorteil. Mit seiner kampfunerfahrenen Anfängertruppe hatte er nicht den Hauch einer Überlebenschance. * Bei vielen legendären kriegerischen Auseinandersetzungen hatten die Sieger von vornherein festgestanden. Beispiele dafür gab es in der Geschichte der Menschheit genügend. Im neunzehnten Jahrhundert, während des amerikanischen Sezessionskrieges, legte der brillante Militärstratege Robert Edward Lee einige seiner Angriffspläne derart präzise fest, daß eine Niederlage von vornherein ausgeschlossen war. Als im zwanzigsten Jahrhundert die japanische Luftwaffe rücksichtslos über den zu Hawaii gehörenden Marinestützpunkt Pearl Harbor herfiel, verzichteten die Angreifer vorsichtshalber auf eine vorherige Kriegserklärung, um ihren »glorreichen Sieg« nicht unnötig zu gefährden. Auch bei der Eroberung der Erde durch die Giants war jede Gegenwehr nutzlos gewesen – erst mit der POINT OF hatte man das Blatt noch einmal wenden können.
Hauptmann Santini befand sich mit seiner kleinen Truppe zweifelsohne in der Verliererposition. Nur ein Wunder hätte ihn und die anderen noch retten können – aber auf einem Planeten, der gerade in seinen Grundfesten erschüttert wurde und dem Untergang geweiht zu sein schien, waren Wunder rar gesät. Sekundenlang fixierten sich die gegnerischen Parteien nach dem Wiederaufflammen des Lichts gegenseitig. Einen derart bunt gemischten Roboterkampftrupp hatte Santini noch nie zuvor gesehen. Die Maschinen waren durchschnittlich zwei Meter groß und bewegten sich samt und sonders auf Prallfeldern. Mehr Ähnlichkeit hatten sie allerdings nicht miteinander. Es gab Robotertypen mit extrem vielen Gliedmaßen, während andere gar keine hatten. Nicht alle verfugten über Köpfe. Einige Roboter waren mit ausfahrbaren Rädern und Rollen ausgestattet, unten oder an den Seiten, auf denen sie sich notfalls weiterbewegen konnten, falls das Prallfeld ausfiel. Andere wiederum besaßen Raupenketten. Ihre Bewaffnung war so vielfältig wie sie selbst. Die gesamte Milchstraße schien bei der Waffenausstattung der fremdartigen Roboter mitgeholfen zu haben. Vor allem die furchtbaren Grakostrahler jagten Santini kalte Schauer über den Rücken. Manche der Maschinen hielten gleich mehrere verschiedene Waffen in den Metallklauen. Ein paar verfügten über eingebaute Minigeschütze. »Haben Sie einen Plan, Sir?« fragte Hauptgefreiter Beaver seinen Vorgesetzten leise. »Wir machen es ihnen so schwer wie möglich«, erwiderte Santini. Laßt uns sterben wie Männer! fügte er in Gedanken hinzu. Frauen hatten sich im Administrationsgebäude glücklicherweise keine befunden, weder unter den zurückgelassenen Militärangehörigen noch unter den zivilen Experten. Selbstverständlich flogen sie im fortschrittlichen dritten Jahrtausend auch auf Raumschiffen mit und erforschten fremde Planeten – doch eine Versetzung ins Gerrck-System stand beim weiblichen Geschlecht nicht unbe-
dingt oben auf der Wunschliste, weshalb sich nur verhältnismäßig wenige Frauen auf Grah aufhielten. Ohne Vorwarnung setzte der Schußwechsel ein. Energiestrahlen aller Couleur zischten in beide Richtungen durch das weiträumige Untergeschoß. Santini schoß beidhändig und erwischte auf Anhieb einen in vorderster Reihe stehenden Roboter, der in einer Glutwelle verdampfte. Auf seiner Seite fand als erster ein Grako den Tod und riß einen unvorsichtigen Terraner mit ins Verderben; der Mann hatte es versäumt, ausreichenden Sicherheitsabstand zu dem sterbenden Schatten zu halten. Die Waffenkammer im Regierungssitz war vom Kampftrupp des Oberst nicht völlig leergeräumt worden. Somit hatte der Hauptmann jeden seiner Leute mit leichten Energiewaffen ausrüsten können, sogar die Grakos, damit sie im Notfall nicht wehrlos waren. Ihre früheren Schwarzstrahler wären ihnen in dieser Situation bestimmt lieber gewesen – doch von dieser schrecklichen Waffe machte diesmal die Gegenseite Gebrauch. Ein weiterer Grako verging in einer Thermoreaktion. Fast zeitgleich zerlegte Santini mit den Blastern seinen zweiten Fremdroboter. Die terranischen Kampfmaschinen erwiesen sich ebenfalls als gute Schützen. Von den schlecht zielenden Zivilisten war hingegen keine große Hilfe zu erwarten. Das gleiche galt für die jungen Soldaten, die sicherlich über eine glänzende Ausbildung verfügten – aber über keinerlei praktische Kampferfahrung. Vermutlich hatte der Oberst sie deshalb zurückgelassen und mit der Bewachung des Regierungsgebäudes betraut. Der nächste Zivilist fiel gleich mehreren feindlichen Energiestrahlen zum Opfer. Sie trafen ihn praktisch in derselben Sekunde und ließen nicht mehr viel von ihm übrig. Es war ein schneller Tod. Mit dem üblichen Getöse fuhr Grako Nummer drei ins Höllenreich ein. Santini fühlte kein Mitleid, er bedauerte nur den zahlenmäßigen Verlust. Wenn es so weiterging, würde das Gefecht nicht mehr lange
dauern. Die fremden Roboter rückten wild feuernd näher heran. Der Abstand zwischen beiden Parteien verringerte sich auf bedrohliche Weise. Die Tiefgarage wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen. Insbesondere die Schwarzstrahler zogen tiefe Furchen in Decken, Boden und Wände. Die parkenden Schweber und Gleiter bekamen ebenfalls ihren Teil ab. Sie dienten Angreifern und Verteidigern gleichermaßen als Deckung. Nur wenige der Fahrzeuge waren noch einsatzfähig. Sämtliche Räume in Grahs bekanntestem Gebäude waren den Gordo perfekt angepaßt worden, was die Breite und Höhe betraf. So war es den Libellen jederzeit möglich, sich drinnen in die Luft zu erheben und kurze Strecken fliegend zurückzulegen. Bisher hatten sie sich aus dem Garagengefecht fast gänzlich herausgehalten. Nun gaben sie ihre Zurückhaltung auf. Nachtflug, Donnergroll und Wipfelstürmer versetzten ihre durchsichtigen Flügel in Schwingungen und flogen zu aller Überraschung über die Köpfe der Terraner und Grakos hinweg – direkt auf die fremden Kampfroboter zu. »Drehen die drei völlig durch?« sagte Santini zu einem Zivilisten, der neben ihm in der Deckung lag. »Wir können jede Unterstützung gebrauchen«, entgegnete der junge Geologe, der seinen Handstrahler laufend nervös hin und her schwenkte. »Sie erwarten ernsthaft Kampfhilfe von den Gordo?« erwiderte der Hauptmann sarkastisch. »Nachtflug und seine Minister sehen zwar groß und furchteinflößend aus, aber in jedem Rauhhaardackel steckt mehr Aggressionspotential.« Er schickte Gedankenimpulse aus, um die Libellen von ihrem waghalsigen Vorhaben abzubringen, doch sie kümmerten sich nicht um ihn und setzten unbeirrt zur Landung an – mitten zwischen den Fronten.
Sie wollen sich für uns opfern, dachte Santini. Und ich einfältiger Narr hatte geglaubt, ihnen diesen Märtyrerunsinn ein für allemal ausgeredet zu haben. Was erwartete Nachtflug von ihm? Daß er sich mit den anderen aus der Tiefgarage zurückzog und die Gordo ihrem Schicksal überließ? Darauf würde er sich niemals einlassen. Der Geologe an seiner Seite hatte keine derartigen Bedenken. »Sie nehmen den fremden Kampfrobotern die Sicht auf uns«, flüsterte er Santini zu. »Eine günstigere Gelegenheit zum Rückzug bietet sich uns nie wieder.« »Wir fliehen entweder alle gemeinsam oder keiner«, machte ihm der Hauptmann unmißverständlich klar. »Und hören Sie gefälligst auf, dauernd mit Ihrer Waffe herumzufuchteln! Ich lege keinen Wert auf ein Brandloch in der Uniform.« Er stand auf und gab Befehl zum Vorrücken. Terraner und Grakos verließen ihre schützenden Deckungen und begaben sich zusammen mit der Handvoll Blechmänner nach vorn, dorthin, wo die Gordo den bizarren Kampfmaschinen mutig den Weg versperrten. Santini rechnete damit, daß die Roboter der Fremden jeden Moment auf die Riesenlibellen losgehen würden. Der geballten Feuerkraft der Schwarzstrahler und sonstigen Energiewaffen hatten die Giganten nichts entgegenzusetzen. Ihre mächtigen Körper würden einen solch massiven Angriff niemals überstehen. Die Gordo waren nur groß und behäbig, aber nicht unverwundbar. * Auf der anderen Seite der »Gordomauer« schwebten die Fremdroboter irritiert und unschlüssig hin und her. Die großen Libellen standen so dicht beieinander, daß sie an ihnen nicht vorbeikamen. Hauptmann Eric Santini wußte nicht, was drüben vorging, er wunderte sich nur, daß die Roboter nicht das Feuer auf die Gordo eröffneten.
Erst jetzt fiel ihm auf, daß die Körper der Libellen keinerlei sichtbare Verwundungen aufwiesen. Obwohl man sie unmöglich verfehlen konnte, hatte offenbar bisher niemand einen gezielten Schuß auf sie abgegeben. Santini ging ein Licht auf. Nachtflug und seine Minister wollten sich gar nicht opfern. Auch ihnen war aufgefallen, daß sie in diesem Gefecht ganz offensichtlich geschont werden sollten. Diesen Umstand machten sie sich jetzt zunutze – als lebende Schutzwälle. In diesem Augenblick setzten die Gordo erneut ihre Flügel in Bewegung. Auf ein von Nachtflug heimlich ausgestrahltes Gedankensignal hin, das nur von ihnen und den Terranern empfangen wurde, stiegen sie wieder auf. »Aufstellung einnehmen, Waffen auf die feindlichen Roboter ausrichten«, wies Santini seine Truppe an. Die Gordo gaben die Sicht wieder frei, so daß sich die gegnerischen Parteien Auge in Sensor gegenüberstanden, wie zu Beginn der Schlacht. Allerdings gab es einen wichtigen Unterschied: wirklich kampfbereit waren nur die Terraner, ihre Roboter und die Grakos – die Maschinen der Fremden hatten sich noch nicht neu orientiert. Offenbar hatte die Überraschungstaktik der Gordo ihre Programmierung gehörig durcheinandergebracht. Eric Santinis Gruppe nutzte den Moment der Schwäche und Verwirrung für sich. Ein Stakkato von Energiestrahlen prasselte auf ihre Gegner herein. Man ließ ihnen keine Chance, sich zu sammeln und zu wehren. Abgetrennte Extremitäten fielen zu Boden, Energiespeicher explodierten, Metallteile schmolzen und verformten sich… Nur wenige der Kampfmaschinen aus dem All waren noch in der Lage, zurückzufeuern. Ein weiterer Grako fand dennoch den Tod. Danach schwiegen die Waffen auf Seiten der Fremden. »Feuer einstellen!« befahl Santini. Und dann sagte er den Satz, an den er selbst nicht mehr so recht geglaubt hatte: »Der Feind ist besiegt!«
* Die meisten der zerstörten Roboter waren Totalschrott. Ein paar wiesen nur leichte Beschädigungen auf und hätten näher untersucht werden können. Leider blieb Santinis Truppe dafür keine Zeit. Er drängte die Überlebenden in die noch wenigen intakten Gleiter. Der Hauptmann wartete ab, bis alle eingestiegen waren. Währenddessen besah er sich einen angeschlagenen, kopf- und reglosen Roboter näher. Die Maschine hatte ursprünglich über vier Greifarme verfügt, die mit jeweils sechs Metallfingern ausgestattet waren. Aus jedem Finger ragte zur Hälfte eine winzige Kreissäge. Mittlerweile hatte der Roboter nur noch einen solchen Arm, die anderen drei waren abgetrennt worden. Santini wunderte sich, daß die ovale Kampfmaschine keine sonstigen sichtbaren Beschädigungen aufwies. Entweder hatte ein sauberer Strahlenschuß das Bewegungszentrum des Roboters lahmgelegt – oder… Oder das Ding ist gar nicht bewegungsunfähig! Reflexartig trat Santini einen Schritt zurück. Keine Sekunde zu früh, denn plötzlich kam »Leben« in den vermeintlich komplett zerstörten Kampfroboter. Die Maschine streckte den Greifarm aus, setzte gleichzeitig die Sägeblätter in Gang und versuchte, Santinis Unterschenkel zu erreichen. Rasch vollzog er einen weiteren Rückschritt. Der Roboter ließ nicht von ihm ab. Sein Prallfeld war hin, deshalb setzte er sein rückseitiges Räderwerk in Gang. Mit laufenden Sägen rollte er geräuschvoll auf Santini zu. Der sprang behende über die Kampfmaschine hinweg, so hoch, daß ihn der Greifarm nicht mehr erreichen konnte. Im Sprung zog er seine beiden Blaster und feuerte ohne zu zielen zwei kurze Strahlensalven auf den Roboter ab. Als er auf die Füße kam, drehte er sich sofort um, die feuerbereiten Blaster in den Händen. Doch von seinem metallenen Gegner ging keine Gefahr mehr aus – den hatte er bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschmolzen, zumindest was die äußere Ummantelung
anging. In seinem Inneren strotzte der Roboter zwar weiterhin vor Energie, aber jetzt war er zur Bewegungslosigkeit verdammt und stellte keine akute Gefahr mehr dar. * Sämtliche Gleiter in der Tiefgarage gehörten der Regierung von Grah und verfügten über die ausgefeilte Tarntechnologie der Grakos. In den vergangenen drei Jahren hatten terranische Techniker und Wissenschaftler diverse Verbesserungen daran vorgenommen. Das kam den Flüchtenden jetzt zugute. Jeder Gleiter war unter anderem mit einem neuartigen Prallfeld ausgestattet worden, das ihn aerodynamisch umgab. Somit konnte beim Flug dicht über dem Erdboden ein extrem hohes Tempo erreicht werden. Die dabei entstehende Reibungshitze fiel angesichts der zahllosen Kämpfe nicht sonderlich auf. Hauptmann Eric Santini saß im vordersten Gleiter, direkt neben dem Piloten, einem Unteroffizier namens Colorado. Das Bordfunkgerät war so verschwiegen wie ein katholischer Priester nach der Beichte. Ein Zivilist, der tatsächlich und wahrhaftig Beethoven hieß, nahm es sich gründlich vor. Scheinbar hielt er die Sensortastatur des Geräts für die Schwarzweißtasten eines Klaviers und sich selbst für ein verrücktes Musikgenie, so wild hämmerte er darauf herum. Santini wollte ihn gerade ermahnen, da brach die störrische Apparatur das Schweigen. »Na bitte, alles nur eine Frage des Fingerspitzengefühls«, meinte Beethoven selbstgefällig. Zwar war es ihm nicht gelungen, mit anderen Funkstellen in gegenseitigen Kontakt zu treten, dennoch konnte er einen Teilerfolg verzeichnen. Aus allen Teilen des Planeten empfing er Nachrichten und Notrufe, sogar aus dem All. Auf Santinis Befehl hin sorgte Beethoven dafür, daß die eingehenden, leider nicht ganz störungsfreien Meldungen in allen
Gleitern zu hören waren. Der Hauptmann wollte seine Truppe über die aktuellen Ereignisse nicht im unklaren lassen. Er hielt nicht viel davon, verlogene Durchhalteparolen auszugeben, nur um die Mannschaft bei Kampflaune zu halten. Die Männer hatten ein Recht darauf, zu wissen, wie tief sie in der Scheiße steckten. Die allgemeine Lage war niederschmetternd. Auf dem ganzen Planeten setzten die Fremden, die bislang noch niemand zu Gesicht bekommen hatte, an strategisch wichtigen Punkten ihre bizarren Killerroboter ab. Wer sich denen in den Weg stellte, wurde gnadenlos ausgemerzt, egal ob Flottenangehöriger oder Zivilist, bewaffnet oder unbewaffnet, Mensch oder Grako… Maschinen kannten kein Erbarmen, sie folgten stur ihrer Programmierung. Allerdings schien man die Roboter instruiert zu haben, die Gordo zu verschonen. Vereinzelt wurde zwar versucht, sie einzufangen (was von terranischen Soldaten und Grakokriegern bisher noch jedesmal hatte vereitelt werden können), aber körperlichen Schaden fügte man ihnen keinen zu. Ihren Mißerfolgen zum Trotz formierten sich die fremden Roboter vorzugsweise in der Nähe von Stützpunkten, in denen sich Gordo aufhielten. Aus dem All empfing Santini keine besseren Nachrichten. Durch geschickte Manöver verhinderten die Schiffe der Unbekannten, daß die Giantraumer der Grakos Transitionsgeschwindigkeit erreichten. Dadurch wurde es ihnen und ihren terranischen Verbindungsoffizieren unmöglich gemacht, zu fliehen und einen Notruf abzusetzen. »Die Fremden haben zweifellos die besseren Karten«, sagte Santini zu Colorado. »Aber sie machen das Spiel ohne den Joker. Wenn es uns gelingt, Delta-Null zu erreichen, können wir sie noch besiegen.« An zahlreichen Orten schwebten Menschen und Grakos in Lebensgefahr. Es fiel Santini schwer, all die Hilferufe aus der Funkanlage zu ignorieren, doch von seinem Weg in die Nacht und in den Dschungel durfte er keinen Jota abweichen, sonst war Grah verloren.
Jede Minute zählte. Der Hyperfunksender war die letzte Hoffnung des sterbenden Planeten. »Schalten Sie das ab«, ordnete er an, als der Notruf einer Frau hereinkam, die am Stadtrand mit ihrem Gleiter verunglückt war und von einem Kampfroboter angegriffen wurde. »Ich bin in der Pilotenkanzel eingeklemmt und komme nicht an meine Waffe!« hörte man ihre von Funkstörungen leicht verzerrte Stimme. »Wir könnten eingreifen«, meinte Colorado. »Die Unfallstelle liegt nicht weit von hier. Eine kleine Richtungsänderung…« »Nein!« entschied Santini. »Wir haben in der Garage schon genug Zeit verloren. Sie wird sich selbst helfen müssen.« »Wenn wir sie im Stich lassen, sind wir nicht besser als die da draußen«, warf Beethoven ein. »Was soll das werden?« stauchte ihn der Hauptmann zusammen. »Eine Meuterei? Über meine Befehle wird nicht diskutiert, verstanden? Im übrigen könnte das genausogut eine Falle der Fremden sein. Wir dürfen nicht das geringste Risiko eingehen.« Damit war die Sache entschieden. * Zur selben Zeit sah sich Master-Sergeant Melina Gomez unbewaffnet einem wahren Monstrum von einem Kampfroboter gegenüber. Die dreibeinige, aufrecht gehende Maschine war mindestens doppelt so groß wie sie. Über Arme verfügte der Roboter nicht. Aus seiner Brust ragte ein Gewirr von Kabeln und Drähten, das sich ständig bewegte, als besäße es ein Eigenleben. Melina hatte gesehen, was im Raumhafen mit einem ihrer Kameraden passiert war, der eines der Kabel berührt hatte. Mehrere tausend Volt hatten seinen Körper durchgeschüttelt und ihn innerhalb von Sekunden getötet. Verzweifelt versuchte sie, sich aus dem abgestürzten Gleiter zu
befreien. Ihr linker Fuß steckte zwischen zwei verbogenen Metallteilen fest. Ihr Karabiner, der auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, war heruntergerutscht und lag jetzt außerhalb ihrer Griffweite. Das Monstrum stapfte heran, streckte die Kabel nach ihr aus… In einiger Entfernung jagte in hohem Tempo ein Pulk Gleiter durch die Nacht. * Der Zweipersonengleiter, mit dem Melina Gomez abgestürzt war, stammte aus dem teilweise zerstörten Depot des Raumhafens. Wie eine Verräterin war sie sich vorgekommen, als sie ihn bestiegen und die Flucht angetreten hatte. Doch im Hafen hätte sie eh nichts mehr ausrichten können, die Übermacht dort war zu groß gewesen. Deshalb hatte sie sich entschlossen, in den Dschungel zu fliehen. Ihr Ziel war der Hyperfunksender in der Station Delta-Null. Vielleicht würde es ihr ja gelingen, ihn zu aktivieren… Inzwischen war auch dieses letzte Quentchen Hoffnung in ihr erloschen. Ihre Situation war aussichtslos. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit ihrem Schicksal abzufinden – und dieses Schicksal hieß Tod. Nur noch wenige Zentimeter waren die Kabel mit der tödlichen Energieladung von ihr entfernt. Das dreibeinige Robotermonstrum ließ sich viel Zeit, schien es regelrecht zu genießen, sie zu quälen. Natürlich wußte Melina, daß sie sich das nur einbildete. Maschinen empfanden keine Freude am Töten, weil sie rein gar nichts empfanden und stur ihrer Programmierung folgten. Seit Stunden erfüllte Kriegslärm die Stadt. Trotzdem vernahm Melina das unverkennbare Geräusch vorüberfliegender Grakogleiter, die ihr neuartiges Prallfeld aktiviert hatten, um schneller vorwärtszukommen. Hätte man auch ihren Gleiter mit einem solchen Prallfeld ausgerüstet, hätte das Beiboot der Fremden sie niemals eingeholt. Seit ihrer Flucht aus dem Raumhafen war es ihr auf den Fersen.
Nach einem leichten Zusammenstoß mit einem zweiten Boot hatte sie wenige Meter über dem Boden die Kontrolle über den Gleiter verloren und war hart aufgeschlagen. Nun saß sie in der Todesfalle. Vergeblich streckte sie immer wieder die Hand nach dem Karabiner aus. Da die Innenbeleuchtung ihres beschädigten Gleiters teilweise noch funktionierte, konnte sie die Waffe sehen, aber nicht erreichen, so sehr sie sich auch anstrengte. Die energiegeladenen Kabel aus dem Brustkorb des Roboters vollführten einen unheimlichen Tanz vor ihren Augen, wie Schlangen, die ihr Opfer zunächst hypnotisierten und ihm dann blitzschnell die Giftzähne ins Fleisch schlugen. Melinas Todesangst steigerte sich ins Unermeßliche. Warum setzte die perfide Maschine ihrem Leben nicht kurz und schmerzlos ein Ende? In diesem Moment hörte sie erneut einen Gordogleiter vorbeifliegen. Vorbei? Nein, er schien näherzukommen, setzte mit eingeschalteten Scheinwerfern zur Landung an… Jemand stieg aus und trat demonstrativ ins Scheinwerferlicht. Gomez erkannte Hauptmann Eric Santini. »Was hältst du von einem Gegner, der sich wehren kann, du mißratener Metallklotz?« lenkte er die Aufmerksamkeit auf sich. Das Robotmonstrum wandte sich von Melina ab und dem neuen Gegner zu. Passen Sie auf die Kabel auf, wollte sie Santini eine Warnung zurufen. Sie brachte keinen Ton heraus. Die Angst hatte ihr die Kehle dermaßen zugeschnürt, daß es für mehr als ein paar heisere Töne nicht reichte. Master-Sergeant Gomez geriet in Panik. Mehrmals zog sie ruckartig an ihrem eingeklemmten Fuß. Und plötzlich war sie frei! Ihr Stiefel steckte zwar noch zwischen den verbogenen Metallteilen, und an ihrem Fuß befanden sich erhebliche Hautabschürfungen – aber sie konnte sich jetzt wieder ungehindert bewegen.
Zehn Meter trennten Santini von dem riesigen Roboter, der gemächlich auf ihn zustapfte. Der Hauptmann blieb stehen, hob in aller Seelenruhe seine beiden Blaster und visierte die Kampfmaschine an. Er kam nicht mehr dazu, den Abzug zu betätigen. Das komplette Kabelgewirr schnellte aus dem Brustkorb des Roboters, entwirrte sich, streckte sich, überwand die Zehnmeterdistanz in Sekundenbruchteilen… Santini war so verblüfft, daß er nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Melina Gomez handelte an seiner Stelle. Noch bevor die todbringenden Kabelspitzen den Hauptmann erreichten, traf den Roboter ein Karabinerstrahl in die Hinterfront. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen zerriß es ihn in unzählige Einzelteile. Die Druckwelle schlug Melina die Waffe aus den Händen. Rasch zog sie den Kopf ein, verschränkte die Hände im Nacken, duckte sich ins Innere des abgestürzten Gleiters. Hier war sie verhältnismäßig sicher, zumindest für ein paar Augenblicke. Santini hatte bereits Übung im Fallenlassen. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer Bodensenke. Ein Feuerschwall, gespickt mit scharfkantigen Metallteilen, jagte dicht über ihn hinweg – der Abschiedsgruß des Robotmonsters. Nach einer Weile riskierte es Santini, den Kopf zu heben. Er hielt nur noch einen Blaster in der Hand. Den anderen entdeckte er zwischen einigen Trümmerstücken. Die Waffe erwies sich als unversehrt und funktionstüchtig, wie er erleichtert feststellte – er hätte seine beiden besten Freunde nur ungern getrennt. Master-Sergeant Gomez kletterte aus dem Gleiter – ebenfalls unversehrt und funktionstüchtig. Den Karabiner und leichtes Marschgepäck hatte sie bei sich; sie war halt ein Profi und wußte, was in einer solchen Lage überlebenswichtig war. Selbstverständlich hatte sie auch den Stiefel wieder angezogen. Santini war bei ihrem Anblick erstaunt und erfreut zugleich. Und er war heilfroh, daß er sich letztlich doch noch dazu durchgerungen
hatte umzukehren. Gomez war zweifelsohne ein Gewinn für seine kleine, unerfahrene Truppe. Außerdem mochte er sie. Auch in diesem abgelegenen Teil der Stadt hielt der Krieg allmählich Einzug. Noch waren nur vereinzelte Beiboote mit aufgeblendeten Lichtwerfern am Himmel zu sehen, doch das verstärkte Aufkommen von Inspektoren verhieß nichts Gutes. Die aasfressenden Vögel bereiteten sich offenbar auf ein Festmahl vor. »Hier können wir nichts ausrichten, damit muß die Bevölkerung allein klarkommen«, sagte Santini, der nichts mehr haßte als Weglaufen. »Steigen Sie ein, Master-Sergeant. Unterwegs erstatten Sie mir dann ausführlich Bericht.« Wenig später startete der Gleiter Richtung Dschungel. Hauptmann Santini hatte den Pulk angewiesen, etwas langsamer zu fliegen, damit er ihn einholen und sich wieder an die Spitze setzen konnte. * Fasziniert lauschte Dole den Geräuschen des Dschungels. Schon seit Stunden hockte er auf dem Baum und hörte dem vielstimmigen Chor der Natur zu. Er fand es urgemütlich in der breiten Astgabel. Sie war für ihn wie maßgeschneidert und genau ideal, wenn man sich etwas ausruhen wollte. Genaugenommen bestand für ihn der halbe Tag aus Ausruhen. Die andere Hälfte verwendete er für die Nahrungssuche. Manchmal ging er auch auf die Jagd, sogar nachts. Nicht alle Tiere des Dschungels waren für ihn als Jagdbeute geeignet, nur solche, die schwächer waren als er, die keine Krallen hatten und keine Reißzähne. Vor stärkeren Wesen mußte er sich vorsehen, ebenso vor fleischfressenden Pflanzen. Die Gefahr lauerte überall, selbst hier oben unter dem scheinbar sicheren Blätterdach. Dole verspürte Hunger, und er stieg vom Baum, behende wie ein Affe. Früher hatte er nicht so gut klettern können. Inzwischen hatte er sich den Gegebenheiten angepaßt. Der Dschungel war zu seinem
zweiten Zuhause geworden. Zweites Zuhause? dachte er und runzelte die Stirn. Angestrengt dachte er darüber nach, wo er vorher gelebt hatte. Daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. War das überhaupt wichtig? Die Sonne stand hoch am Himmel. Dole schwitzte, obwohl ihm die Bäume Schatten spendeten. Schwitzen war ein Dauerzustand bei ihm. Seine leicht verschlissene Kleidung klebte ständig an seinem Körper – entweder weil es zu heiß war oder weil es regnete. Früher hatte ihm die drückende Hitze schlimm zugesetzt, genau wie der regelmäßig auftretende Dauerregen. Inzwischen hatte er sich an beides gewöhnt. Wozu sich an etwas stören, das man sowieso nicht ändern konnte? Auf einer schmalen Lichtung stieß Dole auf ein scheinbar lebloses Tier mit schwarzem Fell. Mit verrenkten Gliedern und blutigen Schrammen lag es im niedrigen Gras. Offensichtlich hatte es den Zweikampf mit einem stärkeren Dschungelwesen nicht überlebt – zumindest versuchte es, diesen Eindruck zu erwecken. Dole fiel nicht darauf herein. Der Pantara (mittlerweile hatte Dole den meisten seiner Mitgeschöpfe Bezeichnungen verliehen) war ein Meister der Verstellung. Die Schrammen brachte sich das clevere Raubtier selbst bei, und seine beweglichen Gelenke konnte es bei Bedarf in alle Richtungen verdrehen. Kam man dem vermeintlichen Kadaver zu nahe, hing er einem plötzlich an der Kehle. Dole beobachtete, wie sich ein zweiköpfiger Aasfresser vom Himmel herabsenkte. Meist traten sie in Schwärmen auf, doch dieser hier war allein. Offenbar wollte er nicht mit seinen Artgenossen teilen. Kaum hatten beide Köpfe ihre scharfen Schnäbel in den Körper des Pantara geschlagen, kam Leben in das vermeintlich tote Tier… Als der Pantara die Lichtung verließ, blieben vom Aasfresser nur noch die unverdaulichen Schnäbel zurück. Dole hatte an diesem Tag kein Jagdglück, er stieß auf keine geeig-
nete Beute. Darum blieb ihm nichts anderes übrig, als am Fluß nach Gewürm zu graben. Im Uferschlamm lebten massenweise Rapien, Egilia und Mikafer, die alle eines gemeinsam hatten: Sie schmeckten grauenvoll. Dennoch waren sie besser als nichts, und viel besser, als selbst Beute eines hungrigen Dschungelbewohners zu werden. Mit Schaudern dachte Dole an die, die es nicht gut mit ihm meinten – eineinhalb Meter große, pelzige Silberfadenspinner mit langen, behaarten Beinen, scharfen Beißwerkzeugen und einem Giftrüssel. Sie wohnten in dichtbewachsenen Bäumen, von denen sie sich flink an ihren Fäden herabhangelten. Bisher hatte er ihnen glücklicherweise immer entkommen können. Bis auf eine Ausnahme. Vor langer Zeit hatte es eins dieser Biester geschafft, seinen Rüssel in Doles Nacken zu bohren. Noch heute zeugte eine häßliche, wulstige Narbe von diesem schrecklichen Erlebnis. Warum hatten ihm die anderen nicht geholfen? Anstatt einzugreifen, hatten sie ihn mit einer seltsamen Waffe bewegungsunfähig gemacht und liegenlassen. Vor langer Zeit? Die anderen? Wieder malträtierte Dole sein Gedächtnis. Er konnte sich noch gut, viel zu gut an den hinterhältigen Angriff des Silberfadenspinners erinnern. Aber was war davor passiert? Wie war er überhaupt in diese gefährliche Situation geraten? Und warum hatten ihn die anderen nicht mitgenommen? Dafür haßte er sie! Zwar waren sie von seiner Spezies, doch er haßte sie trotzdem. Das hätten sie ihm nicht antun dürfen! Dole hatte damals hilflos am Boden gelegen und kein Glied rühren können. Ein gefräßiges, nur wenige Zentimeter großes, sechsbeiniges Etwas hatte seine Wehrlosigkeit ausgenutzt, ihm links den halben kleinen Finger abgebissen und dann gemächlich verzehrt. Als sich Doles Erstarrung gelöst hatte, hatte er sich dafür gerächt. Er hatte sich das eklige Krabbeltier geschnappt und es mit den Vor-
derzähnen in zwei Hälften zerbissen. Grünes, schleimiges Blut war über die Zunge in seinen Rachen geflossen. Konnte er sich deswegen an vieles nicht mehr erinnern? Hatte das Blut des Krabblers eine schädliche Substanz enthalten, die Amnesie verursachte? Oder hatte das Gift des pelzigen Fadenspinners einen Teil seiner Gedächtniszellen zerstört? In den ersten Wochen nach diesem traumatischen Erlebnis war Dole ständig auf der Flucht vor Dschungelbewohnern gewesen, die ihn als Jagdbeute auserkoren hatten. Allmählich war er dann selbst zum Jäger geworden, geboren aus der Not heraus. Andernfalls hätte er sich für den Rest seines Lebens von Im-Schlamm-Verkriechern und bitteren Wurzeln und Pflanzen ernähren müssen. Was er erlegte, verschlang er roh, wie er es sich von den Dschungeltieren abgeschaut hatte. Eine andere Methode, Nahrung zu sich zu nehmen, kannte er nicht. * Im Morgengrauen erreichten die Gordogleiter die Dschungelstation Delta-Null, die ursprünglich als Forschungszentrum der Grakos errichtet worden war und zeitweise den Rebellen als Hauptquartier gedient hatte. Auf einer großen Lichtung befand sich ein Schacht, der zu einem unterirdischen Gleiterhangar führte. Eric Santini erinnerte sich noch viel zu gut an den Tag, an dem er zum erstenmal die Station betreten hatte, im April 2059 – in geheimer Mission, über Notleitern. Diesmal brauchte er sich nicht unangemeldet hineinzuschleichen, denn Delta-Null befand sich inzwischen fest in der Hand der Gordo und Terraner. Die Wachroboter waren bereits per Funk über das Eintreffen der »Regierungsdelegation« informiert worden und ließen sie ungehindert passieren. Nacheinander schwebten die großen Gordogleiter durch den Schacht in die Tiefe, um anschließend im Hangar zu verschwinden.
Nachdem die Insassen ausgestiegen waren, gelangten sie durch ein Zugangsschott in den Kern der Station. Wieder wurden Erinnerungen in Santini wach, von denen er geglaubt hatte, er habe sie längst ad acta gelegt. Als er das erste Mal durch dieses Schott getreten war, hatten sich ihm zwei bewaffnete Schattenkrieger entgegengestellt. Ein Sergeant war bei dem kurzen Feuerwechsel umgekommen, ihm war nicht einmal mehr genügend Zeit für einen Schrei geblieben. Verglichen damit kam es Santini jetzt vor, als würde man ihm den roten Teppich ausrollen. Sogar die Temperatur im Inneren der Station war angenehmer als damals. Auch sonst war alles terranischen Bedürfnissen angepaßt worden. Santini gab Befehl, die Verteidigungsanlagen hochzufahren. »Machen wir damit den Feind nicht auf uns aufmerksam?« fragte Melina Gomez verwundert. »Sobald wir den Hyperfunkspruch absetzen, wissen die Fremden eh, wo wir sind«, erwiderte der Hauptmann. Das Hochfahren der komplizierten Anlagen von Delta-Null nahm viel Zeit in Anspruch, denn unter den Grakokriegern befanden sich keine ausgebildeten Techniker. Das gleiche traf auf die terranischen Soldaten zu. Santini blieb daher nichts anderes übrig, als Beethoven mit dieser Aufgabe zu betrauen. Master-Sergeant Gomez stand ihm dabei zur Seite. In gemeinsamer Arbeit gelang es den beiden, den Sender startklar zu machen. »Fragt sich nur, an wen wir unseren Notruf aussenden«, sagte Melina Gomez. »Möglicherweise haben wir nur Zeit für einen einzigen Versuch – bevor uns die Störfelder der Fremden einen Strich durch die Rechnung machen.« »Der Sender ist stark genug, um mit den Störattacken fertig zu werden«, entgegnete Santini. »Wenn die Invasoren den Notruf stoppen wollen, müssen sie schon zu massiveren Mitteln greifen. Vermutlich werden sie die Station hochjagen.« »Wie beruhigend«, bemerkte Beethoven und wurde etwas blaß.
»Bis dahin sind wir hoffentlich weit genug weg.« »Kommt ganz darauf an, wie gut Sie zu Fuß sind«, sagte Santini und überreichte ihm einen Datenträger, den er bereits auf dem Flug hierher vorbereitet hatte. Der Datenträger enthielt einen Hilferuf mit kurzen präzisen Angaben zur derzeitigen Lage im Gerrck-System. Beethoven bekam den Auftrag, den Spruch fortlaufend auf der Frequenz von Terra Command auszusenden… »… so lange, bis die großen Unbekannten dem Dauernotruf ein Ende setzen. Meine Tante wird wissen, was zu tun ist und ohne unnötige Rückfragen die richtigen Stellen alarmieren.« »Ihre Tante?« staunte Melina Gomez. »Heißt das, Sie sind der Neffe des berühmten Generalmajors Carlotta Santini?« »Sie haben schon von ihr gehört?« »Machen Sie Witze, Sir? Es gibt keinen Militärangehörigen, der sie nicht kennt. Hätte ich geahnt, daß Sie mit ihr verwandt sind…« »Was dann?« fragte der Hauptmann sie mit einem müden Grinsen. »Hätten Sie mir dann mehr Hochachtung gezollt? Wohl kaum, denn hätten Sie es in der Vergangenheit mir gegenüber am nötigen Respekt fehlen lassen, hätte ich längst dafür gesorgt, daß man Sie auf den elendsten Planeten des ganzen Universums strafversetzt. – Ach, was rede ich da? Auf dem befinden wir uns ja bereits.« * Einige Zeit später verließen alle Gordogleiter unter eingeschaltetem Tarnschutz die unterirdische Station Delta-Null. Diesmal formierten sie sich nicht zu einer Flugeinheit, sondern verstreuten sich in alle Richtungen. Jeder Gleiter flog einen anderen Punkt auf Grah an. Eine knappe halbe Stunde danach existierte Delta-Null nicht mehr. Gezielter Energiebeschuß aus dem All vernichtete die Station komplett, mitsamt den Verteidigungs- und Forschungsanlagen und
dem Hyperfunksender. Die Druckwelle der gewaltigen Explosion richtete im umliegenden Dschungel schwere Schäden an. Dort, wo sich die Station einst befunden hatte, gähnte nun ein mächtiger, radioaktiv verseuchter schwarzer Krater.
12. Sie waren zurück! Dole erwachte und stieg aus dem getarnten Erdloch, in dem er die Nacht verbracht hatte. Zum Schlafen wählte er jedesmal einen neuen Platz; nur so konnte er sicher sein, daß kein Raubtier seine Gewohnheiten ausspionierte, sich auf die Lauer legte und im Schlaf über ihn herfiel. Der Dschungel bebte. Geschützlärm fegte über die Baumwipfel hinweg und ließ die Erde erzittern. Nach einer Weile war es wieder ruhig. Zu ruhig. Erst ganz allmählich setzten die gewohnten Dschungelgeräusche ein, und schon bald hörte es sich an wie an jedem Morgen, so als wäre nichts Besonderes geschehen. Doch es war etwas geschehen. Dole konnte nicht einfach so zur Alltagsnormalität übergehen, denn er wußte, daß sie zurückgekommen waren. Sie – die anderen. Dole erinnerte sich daran, daß sie damals Waffen mit sich geführt hatten, die einen Höllenlärm machten und schwere Verwüstungen anrichten konnten. Weshalb waren sie zurückgekehrt? Tat es ihnen leid, daß sie ihn seinem Schicksal überlassen hatten? Befanden sie sich auf der Suche nach ihm? Ausgeschlossen, nach all der Zeit. Aber warum waren sie dann hier? Was hatten sie vor? Bestimmt nichts Gutes. Dem Lärm und den Vibrationen nach zu urteilen, hatten sie kurz hintereinander mehrere Energieladungen hochgehen lassen und damit einen nicht unerheblichen Teil des Dschungels zerstört. Dole erschrak vor sich selbst. Wieso wußte er so gut über Energiewaffen Bescheid? Die Antwort auf diese Frage durchzuckte ihn wie ein Elektroschock. Ich bin Soldat! Erinnerungsbruchstücke kehrten zurück. Er hatte sich mit seinen Kameraden auf einer dienstlichen Mission befunden. An Einzelheiten besann er sich nicht mehr, nur daran, daß die Gruppe aufgebro-
chen war, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, irgendwo mitten im Dschungel. Nicht alle hatten es geschafft. Auch er, Dole, war auf der Strecke geblieben. Weil man ihn mit einem Karabiner gelähmt und dann wehrlos zurückgelassen hatte. Er sah das Gesicht des Schützen jetzt deutlich vor sich. Einige der Soldaten waren nicht von Doles Spezies gewesen. Er hatte sie nur schemenhaft in Erinnerung – im wahrsten Sinne des Wortes. Eines der Schemen hatte sich nach dem Abfeuern des Lähmstrahls über ihn gebeugt, wahrscheinlich, um sich zu überzeugen, daß er sich wirklich nicht mehr rühren konnte. So sehr Dole sich auch bemühte, er fand keine Erklärung für das Verhalten der anderen. Was hatte er ihnen getan, daß sie ihn derart menschenverachtend behandelt hatten? Menschenverachtend! Dole war ein Mensch, das wurde ihm schlagartig bewußt. Mensch war die Selbstbezeichnung seiner Spezies. Von fremden Völkern wurden sie allerdings anders angesprochen… Doles Kopf schmerzte, weshalb er nicht weiter darüber nachdenken wollte. Er machte sich auf den Weg zu der Stelle, von der er den Waffenlärm vernommen hatte. Nach zwei Stunden Fußmarsch traf er dort ein. Unterwegs hatten ihm zahllose Insekten das Gesicht und die Hände zerstochen. Es machte ihm nichts aus. Gegen Insektenstiche und -bisse war Dole mittlerweile immun, und an die unzähligen Quaddeln und Pusteln auf seiner Haut hatte er sich längst gewöhnt. Den glühenden Krater begutachtete er nur aus sicherem Abstand. Instinktiv wagte er sich nicht näher heran. Andere Dschungelbewohner waren weniger vorsichtig gewesen. Am Kraterrand lagen mehrere tote Schnellflügler sowie zwei Razzen, die ihre letzten Atemzüge taten. Sogar einen ausgewachsenen Obull hatte es erwischt. Dole fragte sich, was geschehen war. Offensichtlich hatte hier eine kriegerische Auseinandersetzung stattgefunden. Dem ersten An-
schein nach hatte es keine Überlebenden gegeben. Drei Jahre im Dschungel hatten Dole jedoch gelehrt, daß der erste Anschein nicht selten täuschte. Sein Instinkt sagte ihm, daß seine Spezies noch hier war, irgendwo da draußen – im Dschungel von Grah. … von Grah. Wieder stand ein Erinnerungsfetzen im Raum. Grah war der Name des Planeten, auf dem Dole sich aufhielt. Aber was hatte er hier verloren? Wieso befand er sich nicht auf seinem Heimatplaneten, auf der… Ihm fiel der Name nicht ein. Die immer stärker werdenden Kopfschmerzen überdeckten jeden klaren Gedanken. Such die Menschen! hämmerte es in seinem Gehirn. Nur sie konnten ihm sagen, wer er war und woher er kam. Er war ein Mensch und Soldat – so viel wußte er inzwischen. Doch da mußte noch mehr sein, und diesem Mehr würde er auf den Grund gehen. * Hauptmann Santini und seiner zusammengewürfelten kleinen Truppe ging es den Umständen entsprechend. Im Weltall tobte ein gnadenloser Krieg, der Planet stand kurz vor der Eroberung, sie befanden sich mitten in einem Dschungel voller Gefahren -aber sie waren noch am Leben. Lediglich Nachtflug, Wipfelstürmer und Donnergroll hatten ein paar Blessuren abbekommen. Die Druckwelle, die durch die Explosion der Station erzeugt worden war, hatte den drei Riesenlibellen aufgrund ihrer Körpergröße arg zugesetzt. Glücklicherweise konnten sie sich noch in die Lüfte erheben. Während sich die Menschen, Roboter und Grakos am Boden durchs Dickicht kämpften, flogen die Gordo dicht über den Baumwipfeln hinweg, wobei sie den Fußtrupp nie aus den Augen verloren. Kurze Lagebesprechungen und noch kürzere Pausen fanden jeweils auf größeren Lichtungen statt, so daß die Herrscher von Grah
mit dabeisein konnten. Santini hatte im Hangar die Steuerungen der Gordogleiter auf verschiedene Ziele programmiert und sie dann ohne Insassen abfliegen lassen. Im Anschluß an dieses Ablenkungsmanöver hatte er die Wachroboter von Delta-Null unter seinen Befehl gestellt. Danach war er mit der gesamten Gruppe in den Dschungel aufgebrochen. Zum Zeitpunkt der Explosion hatten sie sich bereits mehrere Kilometer von der Station entfernt gehabt. Der Hauptmann gönnte sich und seinem Gefolge nur selten eine Rast. Hartnäckig trieb er die Truppe zur Eile an. Sein Ziel war ein ehemaliges Militärdepot der Schatten, das einen knappen Tagesmarsch von Delta-Null entfernt lag. Dort wollte er einen vorläufigen Stützpunkt einrichten. Santini hatte aus den Gleitern alles ausgeräumt, was für den Fußmarsch durch den Dschungel und zur Verteidigung gegen Angriffe aller Art gebraucht wurde. Jedes Truppmitglied war mit tropengeeigneter Kleidung sowie leichtem Gepäck und leichter Bewaffnung ausgerüstet. Gomez und Colorado verfügten zudem über Multikarabiner nebst den dazugehörigen Kampfhelmen. Die übrigen terranischen Soldaten mußten sich mit normalen Karabinern und Handstrahlern begnügen. Erstens standen eh nur zwei MK zur Verfügung, zweitens traute Santini dem »Jungvolk« nicht zu, diese schwierige Waffe korrekt zu bedienen. Wenn man sich damit nicht gut genug auskannte, konnte der Multikarabiner leicht zur Gefahr für seinen Träger werden. Santini selbst bevorzugte seine gewohnten Blaster. Bisher hatten sie ihm stets gute Dienste geleistet, und ihre Energiespeicher waren erst kürzlich frisch aufgefüllt worden. Die Witterung setzte den Menschen mächtig zu. Luftfeuchtigkeit und Hitze machten ihnen schwer zu schaffen. Der Dschungel dampfte regelrecht unter den tropischen Temperaturen. Den Gordo und Grakos machte das nichts aus, schließlich war der Planet ihr Zuhause. Santini wurde das Gefühl nicht los, daß sich die Grakos
diebisch darüber freuten, daß die Geistes- und Körperkräfte der Terraner mit jedem Schritt mehr und mehr erlahmten. An diesem unwirtlichen Ort waren die Schatten den Besatzern haushoch überlegen, und das zeigten sie ihnen, indem sie sich an die Spitze der Gruppe setzten und weit vorausmarschierten. Lediglich die Roboter konnten sie nicht abschütteln, denen machte das Wetter ebenfalls nichts aus. Santini sorgte dafür, daß stets genügend Blechmänner in der Nähe blieben, immerhin waren sie die wichtigsten Waffen, über die er und seine Mannschaft noch verfügten. * Master-Sergeant Melina Gomez blieb stehen und blickte sich wachsam nach allen Seiten um. Ihre Finger krallten sich regelrecht in den Griff des Multikarabiners, so als hätte sie Angst, ihn ausgerechnet jetzt fallen zu lassen. Auch Hauptmann Eric Santini erkannte den Platz wieder. »Keine Sorge, sie sind nicht mehr hier«, sagte er zu der Frau. »Soweit mir bekannt ist, wechseln sie häufig ihr Jagdrevier.« »Wer?« wollte Beethoven wissen. »Reden Sie bitte Klartext. Geheimnisvolle Andeutungen machen mir angst.« »Als wir uns das letzte Mal an diesem Ort aufhielten, wurden wir von großen, haarigen Spinnentieren angegriffen«, klärte ihn der Hauptmann auf. »Sie ließen sich an silbrigen Fäden von den Bäumen herab und brachten einen meiner Sergeants um.« »Hätten Sie das nicht verhindern können?« fragte Beethoven und deutete auf Melinas MK. »Wozu schleppt ihr die schweren Waffen sonst mit euch herum?« »Um das Spinnenkroppzeug zu vernichten, reichten normale Blaster und Paraschocker aus«, erwiderte Santini. »Wir haben etliche von den Biestern in Feuer und Asche verwandelt. Für Wayne Dole kam jedoch jede Hilfe zu spät. Eine der Bestien hatte ihren Giftrüssel in seinen Nacken gebohrt. Ich habe sofort reagiert und Lähmstrahlen
aus meinem Karabiner abgefeuert. Mensch und Tier lagen daraufhin betäubt am Boden. Jota-Krieger 12 zog die Riesenspinne von Doles Rücken herunter. Leider konnte er nur noch den Tod des Sergeants feststellen.« »Ein Grako erklärt einen Menschen für tot?« wunderte sich Unteroffizier Colorado. »Verstehen die Schatten überhaupt etwas von Medizin? Meinen Informationen nach empfinden es Grakos als uneffektiv, Verletzte zu heilen. Laut ihrer grausamen Ideologie ist jeder ersetzlich.« »Sie haben Ihre Hausaufgaben leider nur zur Hälfte gemacht, Colorado«, erwiderte Santini in scharfem Tonfall. »Zwar hat die medizinische Wissenschaft bei den Grakos keine Tradition, dennoch gibt es unter ihnen eine Ärztekaste, nämlich die Jota-Krieger. Sie genießen wenig Ansehen, sind aber ausgebildete Mediziner. Wie soll ich Ihren Einwand auffassen? Als Kritik an meiner Person? Werfen Sie mir vor, ich hätte einen Fehler gemacht, weil ich mich nicht höchstpersönlich von Doles Tod Überzeugt habe?« »Es steht mir nicht zu, Sie zu kritisieren, Sir«, räumte der Unteroffizier kleinlaut ein. »Schließlich war ich damals nicht mit dabei und…« »Eben«, schnitt Santini ihm kurz und schmerzlos das Wort ab. Er hatte die Worte von Jota-Krieger 12 noch im Ohr. »Die Lebensfunktionen von Sergeant Dole sind nicht mehr aktiv. Wir sollten keine Zeit verlieren und weitergehen – auch wenn eine solche Äußerung für terranische Ohren kalt klingen mag.« Hatte der Schattenkrieger Dole damals absichtlich für tot erklärt, damit die Truppe keinen Schwerverletzten mit sich herumschleppen mußte? Jota 12 konnte diese Frage nicht mehr beantworten, er war seinerzeit beim Eindringen in die Station Delta-Null durch einen Paraimpuls getötet worden. Doles Skelett hätte Santini Gewißheit verschaffen können, doch das war nirgendwo zu entdecken. »Sehr wahrscheinlich haben es wilde Tiere weggeschleppt, Sir«,
sagte Melina, die seine Gedanken erriet. »Wir hätten ihn nicht so zurücklassen dürfen«, entgegnete der Hauptmann zerknirscht. »Jeder Verstorbene hat das Recht auf ein anständiges Grab.« »Mal angenommen, er hat doch noch gelebt, weil sich der Jota-Krieger geirrt hat«, warf Colorado ein, auch auf die Gefahr hin, sich erneut unbeliebt zu machen. »Dann hätten Sie den armen Kerl lebendig begraben.« »Selbst wenn er noch gelebt hat, ist er jetzt mit Sicherheit tot«, meinte Beethoven und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Bei dieser mörderischen Witterung hält man es nur begrenzte Zeit im Freien aus. Entweder man kriegt einen Hitzschlag, oder man wird zur Beute für Raubtiere und fleischfressende Pflanzen.« * Der Gewaltmarsch wurde fortgesetzt. Hauptgefreiter Strange und Hauptgefreiter Beaver bildeten das Schlußlicht und paßten auf, daß keiner zurückblieb. »So langsam aber sicher habe ich die Schnauze gestrichen voll!« schimpfte Vance Beaver. »Auf der Erde habe ich mich darum gerissen, nach hierher versetzt zu werden. Ich empfand es als eine ganz besondere Ehre, im Regierungssitz von Grah Wache schieben zu dürfen. Hätte ich geahnt, in was für einen Schlamassel wir hier geraten, hätte ich meine Bewerbung zerrissen. Welcher Teufel hat dich eigentlich geritten, als du deine Versetzung beantragt hast, Tom?« Als er von seinem Kameraden keine Antwort bekam, drehte er sich zu ihm um. Tom Strange ging nicht mehr zur Absicherung hinter ihm – er war spurlos verschwunden. *
Wie sein Kamerad Beaver hatte auch Hauptgefreiter Strange »die Schnauze gestrichen voll« – nicht nur vom Dschungel von Grah, sondern vor allem von Beavers demoralisierenden Dauerflüchen. Erst setzte Vance Beaver alle Hebel in Bewegung, um nach Grah versetzt zu werden, wobei er auch nicht davor zurückgeschreckt hatte, Vitamin B (B = Beziehungen) anzuwenden, und dann… Weiter kam Tom Strange mit seinen Gedankengängen nicht. Plötzlich legte sich etwas um seinen Hals, eine Art klebriger Liane, die sich fester und fester zuzog. Er wollte um Hilfe rufen, doch das klebrige Etwas drückte ihm die Luft ab und zerrte ihn mit aller Gewalt in ein einzeln stehendes dichtes Gebüsch mit großen, blutroten Blättern. Strange wehrte sich nach Leibeskräften. Er schlug panisch mit seinem Karabiner um sich, als ob man die Waffe nicht auf andere, effektivere Weise hätte einsetzen können. Aus dem Nichts vernahm er einen gequälten, schmerzvollen Laut. Offensichtlich hatte er mit dem Karabinerkolben irgendein Lebewesen erwischt, das im Busch auf der Lauer lag – ein fleischfressendes Monster mit einer langen, klebrigen Zunge. In seiner Phantasie malte sich Strange eine riesige Kröte aus, die im Begriff war, ihn in ihren häßlichen, stinkenden Schlund zu ziehen. Verzweifelt versuchte er, den Karabiner zu aktivieren. Zwei weitere klebrige Lianen hinderten ihn daran, indem sie sich um seine Handgelenke legten und ihm die Pulsadern abschnürten. Ein greller Blitz zwang Strange, seine Augen zu schließen. Er spürte glühende Hitze, so als hätte er mitten in einem Feuer Platz genommen. Erneut hörte er einen Schmerzenslaut, diesmal noch intensiver als vorher. Die Schlingen um seinen Hals und seine Gelenke lösten sich. Gleichzeitig packten ihn zwei kräftige Hände am Uniformkragen und zogen ihn mit einem Ruck aus dem Busch heraus. Tom Strange öffnete die Augen und blickte direkt ins schweißnasse Gesicht seines Kameraden Vance Beaver. Der ließ Toms Uniformjacke los.
»Das war verdammt knapp!« hielt er ihm vor. »Paß beim nächsten Mal besser auf, wo du hintrittst. Als du plötzlich verschwunden warst, dachte ich, der Dschungel hätte dich für immer verschluckt.« Strange drehte sich um. Hinter ihm stand der große Busch mit den blutroten Blättern in Flammen. Beaver hatte ihn mit einem Energiestrahl aus seinem Karabiner in Brand gesetzt. »Hoffentlich verbrennt das Mistvieh, das da drin haust, gleich mit!« bemerkte Tom wütend. »Da drin haust nichts und niemand«, entgegnete Vance. »Der Busch selbst wollte dir ans Leder, mein Freund. Ist wahrscheinlich so eine Art fleischfressende Pflanze mit klebrigen Tentakeln. Komm, wir gehen weiter. Die anderen liegen schon so weit vorn, daß sie von dem Vorfall wahrscheinlich überhaupt nichts mitbekommen haben. Am besten, wir behalten das ganze für uns, sonst hagelt es womöglich Diszis.« Strange rührte sich nicht vom Fleck. Wie in Trance starrte er auf die außergewöhnliche Pflanze, die allmählich zu Asche verbrannte, ohne daß das Feuer mit anderen Pflanzen in Berührung kam. »Wir müssen weiter«, forderte Beaver ihn nochmals nachdrücklich auf. »Ja, ja, ich komm ja schon«, erwiderte Tom. »Der brennende Busch übt eine unerklärliche Faszination auf mich aus – so als wolle er mir irgend etwas Weises sagen.« * Hauptmann Santini hatte in der Tat nichts davon mitbekommen, daß zwei seiner Soldaten in Gefahr geraten waren. Er und seine Begleiter schwebten augenblicklich selbst in Nöten und hatten genug mit sich selbst zu tun. Eine Horde von schätzungsweise dreitausend Dschungelbewohnern – zwanzig Zentimeter lange lurchähnliche Wesen mit spitzen Zähnen – hatte den Trupp auf einer kleinen Lichtung ein-
gekreist. Offensichtlich betrachteten sie die Menschen und ihre Roboter als willkommene Beute. Selbst als die Lurche im Energiestrahlgewitter reihenweise verschmorten, stellten sie ihre Angriffe nicht ein. Die Gordo sahen keine Möglichkeit einzugreifen. Auf der Lichtung war nicht genügend Platz zum Landen. Zudem war sie von allerlei stachligem Gestrüpp überwuchert, in welchem sie sich mit ihren Flügeln hätten verfangen können. Auch von den Grakos war keine Unterstützung zu erwarten, sie befanden sich viel zu weit vorn und wußten vermutlich gar nicht, was sich hinter ihnen abspielte – oder sie wollten es nicht wissen. Zwar befanden sich die Terraner aufgrund ihrer Bewaffnung, zu der auch die Roboter zählten, keine Sekunde in echter Lebensgefahr, doch allmählich wurden ihnen die spitzzahnigen, flinken Sechsbeiner lästig. Sie abzuschießen kostete Zeit und Nerven. Im übrigen schienen es immer mehr statt weniger zu werden. »Irgendwo muß hier ein Nest sein«, ließ sich Colorado zu einem Uraltwitz hinreißen. Santini, der die Lurche mit seinen Blastern gleich im Dutzend ummähte, hielt kurz inne. Nachdenklich sondierte er die Umgebung. Mitten auf der Lichtung ragte ein breiter, ausgehöhlter Baumstumpf aus dem Gras. »Sie haben völlig recht«, sagte er zu Colorado und deutete auf den Stumpf. »Es gibt hier ein Nest – und wir stehen genau darauf.« Dem Unteroffizier ging ein Licht auf. »Der Baumstumpf ist wahrscheinlich der Eingang zu ihrem unterirdischen Bau. Vielleicht kehren sie gerade von der Jagd heim, und wir versperren ihnen den Rückweg.« »Würden sie ihre fortwährenden Beißattacken einstellen und uns einfach gehen lassen, brauchten wir uns nicht zu verteidigen«, warf Master-Sergeant Melina Gomez ein. »Leider sind die Biester für Friedensverhandlungen nicht intelligent genug.« Colorado und sie hatten bislang darauf verzichtet, ihre Multikarabiner gegen die Lurche einzusetzen. Man wollte nicht mit Kanonen
auf Spatzen schießen. Die Wirkung dieser gefährlichen, mit Explosivgeschossen geladenen Mehrzweckwaffe war fatal, weshalb sich Umweltschäden nicht vermeiden ließen. »Wir brechen durch«, entschied Santini. »Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Gomez, Colorado, Sie ziehen dort drüben eine Schneise.« Eine Schneise ziehen… das war ein präziser, unmißverständlicher Befehl, der keine Fragen offenließ – und zum Tod von weiteren mehreren hundert Lurchwesen führte. Santini war sich durchaus bewußt, daß er und seine Leute hier nur unerwünschte Eindringlinge waren, ungebetene Gäste, die niemand eingeladen hatte, die kein Recht hatten, Verderben über die angestammten Bewohner dieser Welt zu bringen, ganz gleich, ob es sich um denkende oder primitive Lebensformen handelte. Dennoch blieb ihm keine andere Wahl, er mußte sich zur Wehr setzen. Fressen und gefressen werden, so lautete nun einmal das kompromißlose Gesetz des Dschungels. Wenig später hatte Santinis Gruppe die Einkesselung durchbrochen. Hinter sich ließen sie verbrannte, blutige Erde zurück. Und hoch über ihnen kreisten die Inspektoren. Die überlebenden Lurche stürmten nun von allen Seiten auf die Lichtung und verschwanden scharenweise durch den hohlen Baumstumpf in der Erde. Ihr Leben würde wie gewohnt weitergehen. Nur eines hatte sich verändert: Sie hatten jetzt mehr Platz in ihrem Bau. * Es war noch hell als sich Grakos, Gordo, Terraner und Roboter auf einer großen Wiese wieder zu einem Trupp vereinten. Das ehemalige Militärdepot befand sich ganz in der Nähe. Nach einer kurzen Rast machten sich alle daran, den Rest des Weges zu bewältigen.
Das leerstehende Depot bestand aus fünf äußerlich baugleichen, kuppelförmigen Gebäuden. Im zweiten Stockwerk der dritten Kuppel gab es eine Rechnerkonsole, über die man in das interne, neu programmierte Verwaltungssystem des Depots gelangen konnte. Von dort aus registrierte und kontrollierte derzeit ein einziger terranischer Wachroboter sämtliche Vorkommnisse innerhalb und außerhalb der Anlage. Santini mußte sich am Eingang zunächst legitimieren und von Sensoren abtasten lassen, bevor er und seine Begleiter hereingelassen wurden. Sie durchquerten einen großen, kahlen Raum. Die Beleuchtung des Vorraums war noch genauso schwach wie bei Santinis erstem Aufenthalt. Für die drei Gordo war hier zunächst einmal Endstation. Zwar gab es innerhalb der Kuppel geräumige Lagerhallen, doch die meisten Zu- und Durchgänge waren für sie zu schmal und zu niedrig, im Gegensatz zum elektronisch verstellbaren Haupttor. Daher erklärten sie die Diele kurzerhand zu ihrem vorläufigen Konferenzzimmer und Schlafplatz. Santini nahm ein paar Soldaten, Roboter und Schattenkrieger mit und begab sich mit ihnen über einen Antigravschacht in den zweiten Stock. Dort erteilte er dem Verwaltungsroboter die Instruktion, die Temperaturen in den einstigen Wachunterkünften so zu regulieren, daß sie für Menschen erträglich waren. Lediglich in den für die Grakos vorgesehenen Quartieren konnte alles so bleiben wie bisher. Nachdem sein Befehl ausgeführt worden war, besetzte der Hauptmann die Verwaltung mit weiteren Robotern. Die Anlage sollte rund um die Uhr bis in den letzten Winkel überwacht werden. Santini legte keinen Wert auf überraschenden Besuch. Irgendwann einmal, so hatten es sich die Gordo vorgenommen, würde die mitten im Dschungel befindliche Kuppelanlage wieder einem nützlichen Zweck zugeführt werden, vermutlich als Lagerstätte. Bis es soweit war, wurde sie möglichst kostengünstig instand gehalten.
Für Santini gab es keinen besseren Ort zur Einrichtung eines vorläufigen Stützpunkts. Von hier aus würde er versuchen, mit anderen terranischen Stützpunkten in Verbindung zu treten. * Trotz der Störwellen, welche die Invasoren laufend aussandten, war die Verbindung der Terraner untereinander nicht vollständig abgebrochen. Insbesondere per Vipho konnte man sich weiterhin verständigen, von sporadisch auftretenden leichten Schwierigkeiten einmal abgesehen; außerdem war die Reichweite technisch bedingt begrenzt. Gemeinsam mit seinen Soldaten und Beethovens hilfreicher Unterstützung baute Santini in einem Lagerraum unterhalb des Kuppeldachs ein »Supravipho« – zusammengesetzt aus mehreren miteinander verkoppelten Armbandviphos. Die Grakos bezweifelten, daß dieses provisorische Gerät funktionieren würde und gaben gehässige Kommentare ab, bei ausgeschaltetem Translator zwar, doch anhand der auf- und abschwellenden Knacklaute erkannte Santini, daß sie sich über die Anstrengungen der Terraner lustig machten. Wer zuletzt lacht, lacht bekanntlich am besten. Allen Unkenrufen zum Trotz gelang es Eric Santini, mit anderen Menschen rund um den Planeten in Kontakt zu treten. Terraner und Grakos verfolgten die Gespräche gespannt mit. Um die Gordo nicht auszuschließen, hatte Santini einen primitiven, kabellosen Mimsender an das »Supravipho« angeschlossen und im unteren Vorraum einen Empfänger aufgestellt. Allerorts war man froh zu hören, daß Nachtflug und seine Minister noch unter den Lebenden weilten. In mehreren Regionen waren Abschüsse von Regierungsgleitern gemeldet worden, weshalb man den Führungsstab bereits komplett totgesagt hatte. Einige von Santinis Gesprächspartnern hatten zeitweise Verbindung zu den Flottenkämpfern im All gehabt, so daß der
Hauptmann und seine Mannschaft allmählich ein Bild vom gesamten Ausmaß des schrecklichen Krieges bekam. Auf ganz Grah kam es zu heftigen Bodenkämpfen zwischen den merkwürdigen, bizarren Robotern und den gemischten Verbänden aus Terranern, terranischen Robotern und loyalen Grakos. Die Ziele der Invasoren, deren Identität nach wie vor im Dunkeln lag, schienen in der Hauptsache die Aufzuchtstationen der neuen Grakogeneration zu sein. Drei davon waren mittlerweile vernichtet worden, ohne daß die mutigen Verteidiger es hätten verhindern können. Auf die Gordo wurde verstärkt Jagd gemacht. Aus unerklärlichen Gründen hatte man die fremden Roboter darauf programmiert, die Libellen lebend zu fangen und ihnen schlimmstenfalls leichte Verletzungen zuzufügen. Dadurch waren die gefährlichen Kampfmaschinen gezwungen, besonders vorsichtig zu operieren, was den Beschützern der Gordo natürlich zugute kam, ganz zu schweigen von den Gordo selbst, die ihren Häschern jedesmal knapp entkamen. Derweil tobte im Weltall ein lautloser Kampf um Leben und Tod. Die Kugelraumerflotte war letzten Meldungen zufolge inzwischen fast um die Hälfte dezimiert worden und konnte der Bevölkerung von Grah nicht beistehen. Im Gegenteil, die Flottenkämpfer brauchten selbst dringend Unterstützung. Doch die Fremden ließen ihnen nicht einmal die Möglichkeit zur Flucht… »Wenn das Gemetzel nicht endlich beendet wird, sind wir bald die einzigen Überlebenden auf Grah«, befürchtete Hauptgefreiter Vance Strange. »Hoffentlich wurde unser Hyperfunkspruch gehört.« »Daran glaube ich felsenfest«, entgegnete sein Kamerad Tom Beaver. »Sobald von Terra Verstärkung eintrifft, geht es den Invasoren an den Kragen. Wie man sich erzählt, sollen inzwischen alle Ringraumer mit diesen neuartigen High-Tech-Steinschleudern ausgerüstet worden sein. Das dürfte den Fremden schlecht bekommen.« »High-Tech… was?« hakte Vance nach. »Wuchtkanonen«, übersetzte Tom augenzwinkernd. »Man sagt,
daß damit jeder Schutzschirm zerstört werden kann.« * Als Hauptmann Eric Santini aus Kuppel drei trat, umarmten ihn die tropischen Temperaturen so fest wie einen guten, alten Freund, den sie lange nicht gesehen hatten. Dabei hatte er gehofft, daß es nachts draußen etwas kühler sein würde. Er war nicht der einzige, der Sehnsucht nach frischer Luft verspürte. Master-Sergeant Melina Gomez vertrat sich ebenfalls ein bißchen die Beine – gemeinsam mit den drei Gordo, die sich in der Vorhalle wie eingesperrt vorkamen. Insekten von ihrer Größe brauchten viel Platz. Davon gab es hier draußen reichlich, denn dieser Teil des Dschungels hatte den Grakos nicht nur als Waffenlager gedient, sie hatten auf dem Gelände auch Truppenübungen abgehalten. »Ich komme mir vor wie auf dem Präsentierteller«, sagte der Hauptmann zu Melina, »so als ob mich aus dem Dschungel heraus hundert Augenpaare hungrig anstarren würden.« »Das könnte zutreffen«, entgegnete die junge Frau und fügte scherzend hinzu: »Wahrscheinlich binden sich die Raubtiere gerade ihre Servietten um.« »Von mir aus können die Bestien tun und lassen, was sie wollen, solange sie sich von hier fernhalten«, erwiderte der Hauptmann grimmig. »Wie lange werden wir hierbleiben?« empfing er einen Gedankenimpuls von Nachtflug. »Ich weiß es nicht«, antwortete er dem Regierungsoberhaupt offen. »Augenblicklich dürfte hier der sicherste Platz auf ganz Grah sein. Die Fremden wissen nichts von der Existenz des Depots. Im übrigen sind sie überzeugt, sie hätten uns bei der Vernichtung der Station mit Mann und Maus ausgelöscht.« »Aber wir können uns hier nicht ewig verstecken«, kam es zurück.
»Darüber bin ich mir im klaren. Leider habe ich keine Patentlösung parat.« Auf Hope hatten Dhark und seine engsten Verbündeten einst in einem ähnlichen Schlamassel gesteckt. Sie hatten sich durch ein unwirtliches Dschungelgebiet kämpfen müssen, bevor sie nach einem entbehrungsreichen, abenteuerlichen Marsch in einer riesigen Höhle auf die POINT OF gestoßen waren. Dieser unglaubliche Fund hatte zur Befreiung der Erde aus der Knechtschaft der Giants geführt. Wir könnten jetzt ein ähnliches Wunder gebrauchen, dachte Santini und seufzte leise. »Jemand beobachtet uns«, sandte Wipfelstürmer einen Impuls aus. »Ein zweibeiniges, aufrechtgehendes Wesen schleicht schon seit geraumer Weile um das Depot herum. Es wagt sich nicht nah genug heran, deshalb konnte ich es nicht genau erkennen.« »Wahrscheinlich ein Tier«, vermutete Santini. »Von den Grakos kann es keiner sein, sie sind alle im Haus. Und wir Menschen sind nicht so verrückt, zu dieser späten Stunde im Dschungel spazierenzugehen.« »Vielleicht haben uns die Fremden aufgespürt«, bemerkte Donnergroll voller Sorge. »Das Depot könnte bereits umstellt sein.« Santini schüttelte den Kopf. »Unmöglich, das hätte die Überwachungsanlage registriert.« Ganz sicher schien er sich jedoch nicht zu sein, denn er legte die linke Hand vorsichtshalber auf den Griff seines Blasters – und den rechten Arm schützend um Melina Gomez. * Dole hatte die Menschen gefunden. Sie hatten eines der kuppelförmigen Häuser besetzt, die ihm schon des öfteren aufgefallen waren. Bisher hatte er darauf verzichtet, die Gebäude näher zu erkunden, sie jagten ihm auf unerklärliche Weise Furcht ein. Außerdem wurde er das Gefühl nicht los, selbst schon einmal im
Inneren einer der Kuppeln gewesen zu sein. Ursprünglich hatte Dole vorgehabt, mit seiner Spezies Kontakt aufzunehmen und ihnen ein paar Fragen zu stellen. Doch dann hatte er den Mann erkannt, der ihn mit der Strahlenwaffe gelähmt und im Dschungel liegengelassen hatte… Mittlerweile war die Dunkelheit hereingebrochen, und er wagte es noch immer nicht, sich zu zeigen. Die Menschen und ihre schemenhaften Begleiter waren ihm nicht geheuer, und auch die drei Rieseninsekten wirkten wenig vertrauenerweckend. Dole spielte mit dem Gedanken, sich wieder still und leise in den Dschungel zurückzuziehen. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, Näheres über seine Herkunft und Vergangenheit in Erfahrung zu bringen. Vielleicht war es besser, den Schleier des Vergessens nicht zu lüften und alles so zu belassen, wie es war. Aus sicherer Entfernung beobachtete er, wie die drei Rieseninsekten im schwachen Schimmer der Sterne die Kuppel verließen, in Begleitung einer Frau. Dole erkannte auch sie wieder. Sie war damals mit dabeigewesen, als der pelzige Silberfadenspinner über ihn hergefallen war. Kurz darauf kam der Mann, der seinerzeit auf ihn geschossen hatte, ebenfalls nach draußen. Dole, der sich hinter einem Gebüsch verbarg, wurde immer ängstlicher und nervöser. Sein hektischer Blick ging unruhig hin und her. Täuschte er sich, oder hatte ihn eins der Rieseninsekten entdeckt? Vorsichtshalber zog er den Kopf noch etwas tiefer ein. Nein, er wollte nicht mehr mit den Soldaten reden, er wollte nur noch weg. Weg von den Menschen und ihren unheimlichen Freunden. Weg von den bruchstückhaften Erinnerungen, die ihn fortwährend plagten. Wie ein gehetztes Tier verschwand er in der Nacht. Je weiter er sich von den anderen entfernte, um so schwächer wurde das Pochen in seinem Kopf.
In Zukunft würde er dieses Gebiet meiden wie eine ansteckende Krankheit. Der Dschungel war groß genug und bot ihm überall genügend Platz zum Leben.
13. Fast eine Stunde lang brauchte Captain Jasmine de Chablaise, bis es ihr gelang, die Beklemmung abzuschütteln, die sie beim lautlosen Abschied im Lazarett befallen hatte. Und vielen anderen ging es ähnlich – sie sah es den Gesichtern der Männer und Frauen an, wenn sie nach links und rechts blickte, wenn sie sich nach den zurückbleibenden Gefährten umschaute oder wenn die Vorhut sich an Abzweigungen und Schachteinstiegen nach ihnen umdrehte, um das Zeichen für einen freien Weg zu geben. Kaum einer, der frei war von dieser würgenden Beklemmung. Die Stille, die tief schwarzen Schatten ihrer eigenen Körper, und die grellen, geisterhaft umherhuschenden Lichtkegel trugen das ihre dazu bei. Wie im feindlichen Gelände auf einem unbekannten Planeten kam Jasmine de Chablaise sich vor, wie in einer Ruinenstadt, in der ein grausamer Eroberer aus dem All jedes Leben ausgelöscht hatte. Und von Zeit zu Zeit und völlig unerwartet ertönte die Stimme jenes unheimlichen Eroberers in ihren Helmen. »Ihr habt euch geteilt! Habe ich recht? Ihr versucht, die Rettungskapseln zu erreichen! Natürlich habe ich recht!« Captain de Chablaise beobachtete, wie ihre Leute die Schultern hochzogen. Einige zuckten regelrecht zusammen. »O ihr Verwirrten! Wie könnt ihr nur dem Größenwahn von RL-13-12-07-TF-3 auf den Leim gehen!? Habt ihr den legendären Verstand des Homo sapiens die Pissoirs der Bordtoiletten hinuntergespült? Noch fünfundsechzig Stunden und vierunddreißig Minuten…!« Unendlich verloren konnte man sich fühlen auf zweihundert Ebenen, von denen die zwanzig größten einen Durchmesser von sechshundert Metern hatten, und die allesamt zu feindlichem Gelände geworden waren. Eine der Rettungskapseln in der unteren Ebene von Segment A war ihr Ziel. Dreizehn Ebenen lagen unter ihnen, noch einundzwanzig, dann hatten sie die Äquatorebene erreicht.
Fünfzehnhundert Gang- und Schachtmeter etwa lagen hinter ihnen, annähernd dreihundertfünfzig noch vor ihnen. Sie erreichten einen Hauptgang. Nur eines der beiden Laufbänder funktionierte. Es bewegte sich Richtung Segment A. De Chablaise betrat es, ihre neunzehn Gefährten folgten ihrem Beispiel. »… meine tödlichen Fallen erwarten euch, ihr Zwerge! Hat niemand unter euch mehr genug Verstand, meine Überlegenheit einzusehen? Wer immer den Kampf gegen mich aufgibt, wer immer meine Herrschaft anerkennt – ich werde darauf verzichten, ihn zur Rechenschaft zu ziehen…!« Das Band trug sie rasch voran. Sie passierten die Abzweigungen eines Seitenganges, wenige Meter dahinter stoppte das Band vor einem Feuerschutzschott. Die Vorhut machte sich daran, es manuell zu öffnen. Es biometrisch über den Sensor oder gar mit der persönlichen ID-Nummer zu öffnen, wäre Selbstmord gewesen. Auf einen solchen Fehler wartete das übergeschnappte Bordhirn nur. Jede Hälfte des geschlossenen Schotts ließ sich mit je einem in einer Wandnische versenkten Handkurbelrad öffnen. Während zwei Männer daran drehten, schob sich das schwere Schott langsam auseinander. Der Erste Offizier stand vierzehn Schritte entfernt an der Spitze des Stoßtrupps und beobachtete die Aktion. Sie und die Männer rechts und links von ihr richteten den Kegel ihrer Helmlampen auf den sich langsam vergrößernden Spalt zwischen den beiden Schotthälften. Und dann ging alles sehr schnell: Das kalte Licht riß eine schmale Gestalt aus der Dunkelheit jenseits des Schottes, in einem eckigen Schädel flammte grelles Licht auf, und die beiden Männer an Captain de Chablaise Seite rissen ihre Münder zu ungehörten Schreien auf und brachen zusammen. De Chablaise und ihre Leute warfen sich flach auf den Boden. Roboter! schoß es der Französin durch den Kopf. Die Männer der Vorhut arbeiteten wie die Besessenen, um das Schott wieder zu schließen. Das Laufband setzte sich in Bewegung, Funkenschlag an den
Wänden verriet lautlose Geschosse, von zwei Toten flankiert prallte Jasmine de Chablaise gegen das wieder geschlossene Schott. Fluchend sprang sie auf und beleuchtete ihre Truppe. Zwei Frauen wälzten sich in ihrem Blut, und ein weiterer Mann rührte sich nicht mehr. Irgendein Geschoß hatte ihre Raumanzüge durchschlagen. »Die Wartungsroboter!« Einer der Männer drückte seinen Helm gegen den de Chablaises. »Sie haben mit Bolzenschußgeräten auf uns gefeuert!« Jasmine de Chablaise richtete ihre Lampe auf das Schott. Die Fuge zwischen beiden Hälften wurde sichtbar, sie vergrößerte sich rasch. Die Roboter öffneten das Schott! Wie ein Mann rannten sie los. An der Abzweigung bogen sie in den Seitengang ein, und zwanzig Meter weiter gelangten die ersten durch ein offenes Schott in einen großen Raum. Mit hektischen Gesten trieb Jasmine de Chablaise ihre Leute zur Eile an. Die letzten schleppten die zwei sterbenden Frauen mit sich, die drei toten Männer hatten sie zurückgelassen. Sie befahl, das Schott elektronisch zu schließen. Der Suprasensor hatte sie sowieso entdeckt. Schon stelzten die humanoiden Gestalten der Roboter heran. Sie waren zu zweit und schossen Metallbolzen durch das sich schließende Schott. Querschläger rasten lautlos und funkensprühend über Tische und an Regalreihen vorbei. Endlich stießen die beiden Schotthälften zusammen. Zwei Techniker zerstörten ihre elektronische Steuerung, anderen Männer blockierten die Kurbelräder mit Metallstangen. Der Erste Offizier blickte sich um. Sie waren in einer Werkstatt gelandet, einer von vier Filialen des technischen Bereitschaftsdienstes. Die blockierten Handkurbelräder ruckten hin und her – die Roboter versuchten sich Einlaß zu verschaffen. Ein Korporal hob ein Gerät hoch und schwang es triumphierend – ein Schweißbrenner! Sie verständigten sich mit knappen Gesten. Der Korporal aktivierte den Schweißbrenner auf kleinster Flamme und drückte sich zwi-
schen linker Kurbel und Schott gegen die Wand. Zwei Männer packten die Stangen, mit denen sie die Handkurbelräder blockiert hatten, Captain de Chablaise und die anderen bewaffneten sich mit Zangen, Hämmern, Brechstangen und dergleichen und suchten Deckung hinter Regalen und Werkbänken. Auf ein Handzeichen des Ersten Offiziers erloschen sämtliche Helmlampen, und die Männer an den Kurbelrädern rissen die Stangen aus den Speichen – das Schott öffnete sich, Licht fiel in die Werkstatt. Der erste Roboter drängte seinen schmalen Körper durch die erst knapp vierzig Zentimeter breite Lücke und feuerte Bolzen in den Raum hinein. Überall sprühten Funken. Der Korporal drehte den Schweißbrenner hoch, eine meterlange Flamme leckte nach den Halsscharnieren des Roboters und beschädigte augenblicklich die Energieversorgung seines optischen Systems. Die Maschine ließ das Bolzenschußgerät fallen. Aus der Dunkelheit stürzten Männer und Frauen und schlugen auf den Metallburschen ein, während sich hinter ihm das Schott wieder schloß. Licht flammte auf, der Korporal rutschte sterbend am Schott entlang auf den Boden. Die Flamme hatte ihm den Raumanzug an Arm und Schulter verbrannt, der herauszischende Sauerstoff die Flamme vergrößert, so daß sein Helm blind von Brandflecken war. Jemand nahm ihm den Schweißbrenner ab und begann den Roboter zu zerlegen. Grimmige Freude machte sich auf einigen Gesichtern breit. Nun hatten sie ein Bolzenschußgerät und einen Schweißbrenner. Und vielleicht fand sich ja noch einer in der Werkstatt. Ihre Blicke suchten den Ersten Offizier, um sich mit ihr über die nächsten Schritte zu verständigen. Doch Jasmine de Chablaise war nirgends zu sehen. Helmscheinwerfer tasteten die finstere Werkstatt nach ihr ab. Sie fanden ihre Leiche hinter einer Werkbank. Ein Geschoß hatte das Visier ihres Helmes durchschlagen und war ihr durch das linke Auge ins Gehirn gedrungen. *
Ein Wassertropfen zerplatzte außen auf dem Visier seines Helms. Leutnant Austin Travers blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. Die Düsen der Brandschutzanlage reflektierten das Licht seine Helmlampe. Die Rollbänder funktionierten nicht, und so konnte er in aller Ruhe beobachten, wie das Wasser aus den Öffnungen erst tröpfelte, dann rann, dann sprühte. Der verdammte Suprasensor machte Anstalten, den Quergang zum nächsten Antigravschacht zu wässern! »… noch fünfundsechzig Stunden und vierunddreißig…!« Travers schüttelte unwillig den Kopf, als wollte er eine Schmeißfliege vom Gesichtsfeld seines Helms vertreiben. Doch die Fliege schwirrte innerhalb seines Helm herum, und sie war eine hämische Stimme. »… meine tödlichen Fallen erwarten euch, ihr Zwerge…!« Noch achtzehn Ebenen und gut neunhundert Schacht- und Gangmeter bis zur Rettungskapsel von Segment C. »… hat niemand unter euch mehr genug Verstand, meine Überlegenheit einzusehen…?« Der Leutnant sah sich nach seinen Leuten um. Sein Lichtkegel fiel in bleiche Gesichter. Teilweise waren sie durch den harten Schattenriß der Männer und Frauen vor ihnen verdeckt. »… wer immer meine Herrschaft…!« Travers wischte sich das Wasser von der Sichtscheibe und wollte weitergehen. Plötzlich bekam er einen Stoß in den Rücken, er prallte gegen die Wand. Durchs Wasser gebrochene Lichtkegel schwirrten chaotisch durch die Dunkelheit, für den Bruchteil einer Sekunde erfaßte sein eigener die Seitenkante eines Transportschwebers. »… ich werde darauf verzichten ihn zur Rechenschaft zu ziehen…!« Travers richtete sich auf den Knien auf. Im Licht einer Helmlampe lehnte ein Mann an der Wand, verschränkte die Arme vor seiner Brust und versuchte so, den Riß in seinem Schutzanzug zu verschließen. Eine Frau lag mit zertrümmertem Helm quer über beiden Rollbändern. Sie bäumte sich auf, schnappte nach Luft und blutete aus Nase und Ohren. Er sah es durch einen Wasserschleier gebro-
chen, denn die Düsen sprühten nun mit voller Leistung. Das Rollband setzte sich in Gang – wer noch nicht lag, schlug lang hin, auch der Leutnant. Panik griff nach ihm, als er merkte, daß das Rollband der Gegenrichtung mindestens drei seiner Leute vom Haupttrupp wegtrug. Die Rollbänder bewegten sich mit hoher Geschwindigkeit. Austin Travers schaffte es irgendwie, aufzustehen, doch in dem Moment stoppte das Band, und wieder lag er auf dem Rücken. Kurz nacheinander rasten drei Transportschweber über ihn hinweg. Sie kamen aus der Gegenrichtung in die das Rollband den kleineren Teil seines Trupps getragen hatte. »… wie viele von euch leben noch, RL-13-12-07-TF-3? Du weißt es nicht, weil du nur deinen jämmerlichen Haufen überblickst? Soll ich es dir sagen? Nicht einmal die Hälfte…!« Travers und seine Leute rappelten sich auf und rannten in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Zwei Tote ließen sie zurück, drei Tote fanden sie. Ihre verzerrten Gesichter verschwammen hinter einem Wasserschleier. Die Schweber kamen zurück. Diesmal glitten vier Plattformen aus der Dunkelheit und fuhren unter Travers’ Truppe. Plötzlich öffneten sich Klappen an der Wand. Lichtkegel huschten über Schaumdüsen, und eine Sekunde später spritzte von beiden Seiten der Löschschaum auf sie herab. Und wieder die Schweber… »… niemand schaltet ungestraft meine Triebwerke ab! Niemand zerstört ungesühnt meine Roboter! Niemand mißachtet die Herrschaft des genialen Konrad und bleibt dennoch am Leben…!« In Panik krochen, rutschten und stolperten die Männer und Frauen über die eingeschäumten Laufbänder. Aus Furcht vor den Schwebern blieben manche bäuchlings im Schaum liegen. Mit sieben Mann gelang es Leutnant Travers, sich in einen Seitengang zu retten und dort ein schmales Schott manuell zu öffnen. In einem Raum mit etwa zwanzig Duschen und genauso vielen Toiletten warfen sie sich auf den Boden. Keiner hatte noch Kraft, das Schott wieder zu schließen. »… niemand wird eine Rettungskapsel erreichen… niemand wird
sein Zwergenleben in ein Beiboot retten! So spricht Konrad, der Allgewaltige! Na, RL-13-12-07-TF-3, wie viele seid ihr noch? Soll ich es dir sagen…?« Wie von Geisterhand schloß sich das Schott. Travers konnte nicht hören, wie die Verriegelung einrastete, aber er ahnte es. Acht Lichtkegel schwirrten wie ängstliche Tierchen durch den Raum. Die Duschen begannen zu laufen, die Toilettenbecken flossen über… * Eingeklemmt zwischen Monty Bell und Korporal McClout kauerte Shanton in der Einmündung eines kleinen Ganges. In der Einmündung gegenüber hatten Leutnant Rouven DaCol und sechs weitere Männer und Frauen Deckung vor den Robotern gesucht. Zu viert verfolgten die Maschinen Larsens Gruppe seit einer geschlagenen Stunde. Eine hatte Jimmy kampfunfähig geschossen. Die Maschinen feuerten aus Bolzenschußgeräten und aus Hochenergiestrahlern. Dem Beiboot am oberen Schiffspol war der Trupp um gerade einmal drei Ebenen nähergekommen. Und sechs von ihnen hatten den Vorstoß bereits mit dem Leben bezahlt. Es war aussichtslos. »… wie viele von euch leben noch, RL-13-12-07-TF-3? Du weißt es nicht…!« Shanton hatte sich an den Psychoterror im Helmfunk gewöhnt. McClout aber bewegte sich am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Er stieß mit dem Helm gegen die Wand, wieder und wieder, bis der Professor ihn festhielt. Sie hatten ihre Helmlampen ausgeschaltet. In unregelmäßigen Abständen erhellten Strahlen die Dunkelheit auf dem Hauptgang draußen. Wie Wetterleuchten sah das aus, kein Ton war zu hören, nichts. Das Rollband trug Jimmy in Shantons Blickfeld. Mit den ausgefahrenen Kugeln seiner Kunstpfoten versuchte er die Bewegung des Bandes auszugleichen. Und zugleich schoß er aus seiner Zun-
genwaffe in die Richtung, in der die drei übriggebliebenen Verfolger das Schott einnehmen wollten. Larsen und drei Männer versuchten es manuell zu schließen, Jimmy gab Feuerschutz. »… niemand schaltet ungestraft meine Triebwerke ab! Niemand zerstört ungesühnt meine Roboter…!« Das Rollband, auf dem der Robothund balancierte, hielt an. Jimmy rollte aus dem Blickfeld der Männer. Gleichzeitig hörte das Wetterleuchten auf. Sie warteten. Was würde jetzt geschehen? McClout arbeitete sich tiefer in den Gang hinein. Shantons Helm beschlug von innen. Der Schweiß rann ihm in Strömen über die Stirn. Das Überlebenssystem wurde kaum noch fertig mit der Feuchtigkeit. Ein Lichtkegel fiel auf den Raum zwischen den beiden Einmündungen. Jetzt konnte Shanton Rouvens gerötetes und blutiges Gesicht sehen. Ein schwarzer, scharfkantiger Schatten schob sich ins Licht, ein menschlicher. Hatten sie die Roboter also wieder aussperren können. Doch für wie lang? Larsen tauchte im Lichtschein auf. Mit Handzeichen gab er zu verstehen, daß keine aktuelle Gefahr mehr drohte. Shanton und DaCol krochen aus den Gängen, die anderen hinterher. Der Chefwissenschaftler richtete seine Helmlampe Richtung Schott. Ein Mann mit verkohlten Beinen lag davor, die anderen beiden hielten den Sterbenden fest. Die Handkurbelräder hatten sie mit Metallteilen des vernichteten Roboters blockiert. Sie bewegten sich hin und her. Notfalls würden die Roboter einfach ein Loch in das Schott schießen. Jimmy war unverletzt. Unbeschädigt, korrigierte Shanton sich in Gedanken. Er preßte seinen Helm gegen den des Kommandanten. »Hören Sie zu, Captain. Ihr Plan ist undurchführbar. Wir haben sieben Mann verloren. Rechnen sie sich aus, wie hoch die Verluste der anderen sind. Es ist sinnlos.« DaCols und Beils Helme stießen dazu. »Haben Sie eine bessere Idee?« fragte der Kommandant. »Wir müssen Konrad abschalten, koste es, was es wolle.«
»Und wie?« Shanton blickte zum Schott. Immer heftiger ruckten die Handkurbelräder hin und her. »Wir sollten uns irgendwohin zurückziehen, Wo wir in Ruhe beratschlagen können.« »Drei Ebenen tiefer sind die Wohnquartiere«, sagte Monty Bell. Das lange Haar klebte ihm auf Stirn und Wangen. »Die Schotts sind klein und leicht von Jimmy allein zu verteidigen.« Larsen war einverstanden. Sie machten sich auf den Weg. Ungehindert erreichten sie den Antigravschacht und schwebten hinunter. Konrads Drohungen begleiteten sie. »… niemand wird eine Rettungskapsel erreichen«, gellte es aus dem Helmfunk, »… niemand wird sein Zwergenleben in ein Beiboot retten…!« Sie stiegen aus, liefen lautlos einen breiten Gang entlang, dessen Rollbänder stillstanden. Das grelle Licht ihrer Helmscheinwerfer bohrte sich in die Finsternis. »… so spricht Konrad, der Allgewaltige! Na, RL-13-12-07-TF-3, wie viele seid ihr noch? Soll ich es dir sagen…?« Minuten später fiel Shantons Lichtkegel auf zwei schmale Einmündungen. Larsen und McClout kurbelten das Schott auf. hinter dem eine kleine Kaffeeküche lag. Licht fiel aus dem Spalt. Shanton erkannte eine Gestalt, erkannte Arme und Hände, die den Kolben eines Strahlers festhielten. Himmel über Babylon, dachte er und ließ sich fallen, sei schneller Jimmy…! Weder Jimmy schoß, noch der Mann, der breitbeinig in dem kleinen Wohnraum stand. Es war Sergeant Wöhrl. Die Gruppe drängte sich in die für höchstens zehn Personen ausgelegte Küche. Ein greller Strahl zerriß auf einmal die Dunkelheit hinter ihnen. Er fuhr einem Unteroffizier in den Rücken. Shanton erkannte die Silhouetten dreier Roboter, als Wöhrl und Jimmy das Feuer erwiderten. Larsen und DaCol schlossen das Schott und blockierten die Kurbelräder. Larsen preßte seinen Helm gegen den seines Stabsunteroffiziers. »Wo haben Sie die Waffe her, Wöhrl?« »Einem Roboter abgenommen«, sagte der andere müde. »Dann sind also zwei Roboter ausgeschaltet.« Das hatte Shanton
bereits Konrads Psychoterror entnommen. Larsen sah in die Runde. Nur drei Gesichter von Männern aus Wöhrls Stoßtrupp entdeckte er. »Wo sind die anderen?« Wöhrl blieb stumm, seine Miene steinern. »Das ist nicht wahr…!« Larsen packte den Mann bei den Schultern. »Sagen Sie, daß es nicht wahr ist!« Wöhrl wich dem Blick seines Kommandanten aus. Larsen ließ ihn los. »Kommandant an alle!« rief er über Helmfunk. »Meldungen, sofort! Ich will wissen, wie es um Sie steht!« Die Meldungen hörten sich noch niederschmetternder an, als Shanton befürchtet hatte: Leutnant Travers’ Gruppe war auf acht Mann zusammengeschrumpft. Die Überlebenden hatten sich in einem Duschraum verbarrikadiert, wo sie bereits bis zu den Knien im Wasser wateten. Captain de Chablaises Gruppe hatte ebenfalls sieben Tote zu beklagen. Sie konnten die Stellung in einer Bordwerkstatt halten, weil sie einem Roboter ein Bolzenschußgerät abgenommen und in der Werkstatt vier Schweißgeräte gefunden hatten. Die niedergeschlagene Stimme eines Leutnants gab die Meldung durch. »Warum macht Captain de Chablaise die Meldung nicht persönlich?« wollte Larsen wissen. »Sie ist tot.« Larsen schluckte ein paarmal, Bell und DaCol senkten die Köpfe, Shanton biß sich auf die Unterlippe – und Wöhrl begann zu schreien. Er wollte zum Schott stürzen, doch Bell und Larsen hielten ihn fest. Der Sergeant brüllte wie ein verwundeter Stier. Er schlug um sich, stieß Larsen und den Professor zu Boden und stürzte ans Schott. Ehe sie ihn daran hindern konnten, riß er die Blockadestangen aus den Kurbeln. Das Schott schob sich auseinander – offenbar hatten die Roboter die Sensoren von außen aktiviert – Wöhrl riß die Waffe hoch, schoß hinaus und stürzte sich auf den ersten der Roboter. Jimmy reagierte blitzartig: Er rollte auf die Schwelle und gab Wöhrl Feuerschutz, so gut es eben ging. Immerhin gelang es ihm, zwei der Roboter in die Flucht zu schlagen. Den dritten schoß Wöhrl
schrottreif. Immer noch brüllend sprang er auf und jagte den anderen beiden hinterher. »Sie bleiben hier, Sergeant!« schrie Larsen über den Helmfunk. »Das ist ein Befehl!« Wöhrl bog in den Hauptgang ein und verschwand aus ihrem Blickfeld. Sein Gebrüll erfüllte ihre Helme. Larsen hatte Mühe sich verständlich zu machen, als er die Anweisung gab, die Frequenz zu wechseln. »Kommandant an Leutnant Austin Travers. Wir schlagen uns zu Captain de Chablaises Truppe durch. Versuchen Sie ebenfalls ihr Glück!« »Verstanden.« »Und hier spricht, Konrad, der Allgewaltige! Ha! Noch vierundsechzig Stunden und dreiundfünfzig Minuten! Aber keiner von euch wird noch solange leben, wie es aussieht…!« Rouven bückte sich nach dem Strahler des zerstörten Roboters und hob ihn auf. Shanton sah, daß seine Hand zitterte. »… einundachtzig Zwerge zogen aus, mich zu betrügen und zu beleidigen, noch neununddreißig fürchten um ihr bißchen Leben! Ich werde euch aus meinem Schiff vertilgen wie Ungeziefer…« »Wöhrl ist wahnsinnig geworden«, flüsterte Rouvens Stimme aus dem Helmfunk. »Genau wie S 1-62.« »Sie war Sergeant Wöhrls älteste Tochter aus erster Ehe«, sagte Larsen. * Über sechs Stunden brauchte Larsens Truppe, bis sie endlich die Werkstatt erreichte. Durch Jimmys Feuerkraft und mit dem erbeuteten Strahler konnten sie die Roboter auf Distanz halten und weitere Verluste vermeiden. Es gelang ihnen jedoch nicht, eine weitere Maschine zu zerstören. Sergeant Wöhrl meldete sich nicht mehr. Auch dann nicht, als Larsen auf die Frequenz ging, auf der man ihn zuletzt schreien gehört hatte. Sie schliefen in zwei Schichten. Fast drei weitere Stunden warteten
sie auf Leutnant Travers’ Truppe. In dieser Zeit ließ Larsen sämtliche Elektronik in der Werkstatt zerstören. Er wollte keine bösen Überraschungen erleben, wie Travers sie geschildert hatte. Shanton und Bell fertigen aus dem Kopf eine Konstruktionsskizze der Suprasensors an. Zwischendurch sagte Konrad die verstreichenden Stunden und Minuten an. Auch wiederholte er sein Angebot an Jimmy. Die Wachen, die Larsen an der Einmündung des Seitenganges mit Strahler, Schweißbrennern und dem Bolzenschußgerät postiert hatte, meldeten schließlich Leutnant Travers’ Ankunft. Er kam in Begleitung eines einzigen Mannes. Beide waren vollkommen erschöpft und psychisch am Boden zerstört. Konrad hatte das Wasser in der gefluteten Duschkammer unter Starkstrom gesetzt. Leutnant Travers und sein Begleiter überlebten nur, weil sie zu diesem Zeitpunkt auf den Trennwänden der Toilettenkabinen saßen, um die Deckenplatten vor dem Lüftungsschacht abzuschrauben. Die sechs Männer und Frauen im Wasser starben sofort. Travers und sein Gefährte entkamen über den Schacht. Die Stimmung hätte bedrückter nicht sein können, als Shanton, Larsen, Bell und DaCol an der Werkbank die Helme zusammensteckten. Die achtundzwanzig anderen Überlebenden bildeten einen Kreis um sie, um Befehle und Informationen sofort aufzunehmen und per Helmkontakt weiterzugeben. Allein Jimmy hielt die Stellung draußen an der Einmündung des Werkstattganges. »Es gibt noch sechs Roboter, falls Wöhrl nicht noch einen erledigt hat«, begann Shanton. »Wahrscheinlicher aber ist der umgekehrte Fall. Angenommen, wir könnten sie alle zerstören, was ich für ausgeschlossen halte, dann hat das Mörderhirn noch hundert andere Möglichkeiten, uns das Leben schwerzumachen. Das Schicksal von Leutnant Travers’ Stoßtrupp belegt das erschreckend deutlich. Es bleibt uns also gar nichts anderes übrig, als der Versuch, Konrad abzuschalten.« »Wie, verdammt noch mal, wie?!« Larsen war gereizt. Alle waren sie gereizt.
Shanton strich die Skizze glatt. Den Suprasensor, den er in den Ikosaederraumer gezeichnet hatte, sah aus wie zwei Tannen, die aus einem kugelförmigen Wurzelgeflecht wuchsen – die eine wuchs zum oberen Schiffspol, die andere zum unteren, und ihre vielen Zweige erstreckten sich scheibenartig bis zur Außenhülle. Shanton deutete auf das Wurzelgeflecht. »Hier sitzt der Hauptprozessor.« Er zeigte auf den Stamm der unteren Tanne. »Hier verläuft die Hauptenergieleitung.« Er deutete auf den Punkt, wo der Stamm in das Wurzelgeflecht mündete. »Hier müssen wir ihn treffen.« »Es ist so still geworden an Bord, RL-13-12-07-TF-3! Gebt ihr auf…?« Konrads Kastratenstimme gellte ihnen dazwischen. »Zwei Ebenen über uns verläuft ein Reparaturtunnel fast waagerecht bis nahe an diese Stelle«, ergriff Bell das Wort. »Über ihn kann man ins Innere des Rechners vordringen. Wir werden Jimmy mitnehmen.« »Wer ist ›wir‹?« wollte Larsen wissen. »Chris und ich.« »… oder seid ihr schon alle tot?« Die Männer zuckten zusammen, Shanton stieß einen Fluch aus. »Noch sechsundfünfzig Stunden und acht Minuten. Wer solange noch leben will, möge zur kleinen Kaffeeküche kommen und sich meinen Robotern ergeben…« »Er wird es merken«, zischte Larsen. »Er wird es merken und sämtliche Register ziehen!« Der Kommandant schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich.« »Wenn wir ihn ablenken, haben wir eine Chance.« Larsen und die Chefwissenschaftler blickten erstaunt zu DaCol. »Wir führen einen Scheinangriff durch«, schlug der Leutnant vor. »Am besten dort, wo es ihm weh tut – auf eines der Nebenschotts in die Zentrale zum Beispiel.« »Konrad der Allgewaltige an alle überlebenden Winzlinge! Wer mein Schiff kaputtmacht, den mache ich kaputt…!« Einer sah den anderen an. Schließlich nickte Larsen. »Das klingt realistisch.« Er richtete sich auf und wandte sich zu den Überleben-
den um. »Kommandant an alle! Auch an Sie, Sergeant Wöhrl, falls Sie mich noch hören können. Wir greifen das Offizierskasino an. Und von dort aus die Zentrale! Gehen wir!« * Shanton, Bell und Jimmy warteten zwanzig Minuten, bevor sie sich auf den Weg hinauf machten. Larsen und die anderen hatten bereits die erste Feindberührung hinter sich. Dem Helmfunk entnahmen die Wissenschaftler, daß drei Roboter Larsens Truppe am Einstieg in den Antigravschacht unterhalb der Offiziersmesse angriffen. Shanton und Bell stellte sich kein Roboter in den Weg, und keine böse Überraschung fiel aus der Dunkelheit über sie her – ungehindert erreichten sie schon nach weniger als einer halben Stunde den Servicetunnel. Bell öffnete die Notluke, Jimmy stieg als erster hinein, sein schwergewichtiger Herr folgte ihm, und der Professor zog die Luke von innen zu. Larsens Stimme im Helmfunk ordnete den Einstieg in den Antigravschacht zur Messe an. Aus unerfindlichen Gründen hatten die Roboter sich zurückgezogen. Der Tunnel hatte einen Breite von hundertzwanzig und eine Höhe von hundertsechzig Zentimetern. Shanton und Bell konnten aufrecht gehen, mußten sich aber bücken. Jimmys Scheinwerferstrahl bohrte sich durch die Dunkelheit. Hundertzwanzig Meter trennten sie noch vom Hauptprozessor und der zentralen Energieleitung, als Larsens Stimme erneut im Helmfunk erklang. Er befahl, ein Loch in das Schott zur Offiziersmesse zu brennen… * Larsen selbst gab Dauerfeuer auf das Schott zur Messe. Der Qualm war so stark, daß die Helmlampen ihn nicht mehr durchdrangen.
Rouven sah gerade noch die Männer, die direkt neben ihm standen. »Ich weiß, was du vorhast, RL-13-12-07-TF-3!« krähte Konrads Stimme aus dem Helmfunk. »Schon wieder brichst du unsere Vereinbarung! Verfluchter Winzling! Ich werde dich ausschalten! Dich und alle, die mit dir sind…!« Endlich klaffte ein Loch von etwa vierzig Zentimetern Durchmesser im Schott. Larsen ließ die Waffe sinken. Die elektronische Verriegelung war zerstört. Der Qualm lichtete sich. Zwei Männer postierten sich mit Schweißbrennern rechts und links des Schottes, falls Roboter einen unerwarteten Ausfall versuchen sollten. Zwei weitere Männer begannen die Handkurbelräder zu drehen. In diesem Augenblick streckte ein Metallarm einen Strahler zur Schottöffnung heraus und schoß auf die Männer mit den Schweißbrennern. Der Qualm glühte auf, ein Mann brach getroffen zusammen. Larsen richtete seinen Strahler auf das Loch und den Roboterarm. Der zog sich zurück. Dafür schob sich das Schott auf. Zwei Roboter traten aus der Messe und feuerten in die Menge. Einen griff Larsen an, den anderen der Schweißbrennerträger. DaCol zielte mit dem Bolzenschußgerät auf die Maschinen. Hinter ihm wichen Männer und Frauen in zwei Seitengänge zurück. Andere sprangen in den Antigravschacht. Er stieß einen Triumphschrei aus, weil einer der Roboter brennend umstürzte. Aus Decken und Wanddüsen spritzte Wasser und Schaum. Auf einmal sank Rouven in die Knie. Eine unsichtbare Kraft zwang ihn erst auf den Hintern, dann auf den Bauch. Er konnte das Bolzenschußgerät kaum noch heben. Flammen schlugen aus dem zweiten Roboter, er stürzte rücklings ins offene Schott. Das Feuer erhellte den Qualm, Rouven sah, daß alle Gefährten flach auf dem Boden lagen. »Bleibt um Gottes Willen vom Antigravschacht weg! Das Mörderhirn hat den Andruckabsorber manipuliert…!« *
»Soviel Dummheit hätte ich selbst dir nicht zugetraut, RL-13-12-07-TF-3!« höhnte Konrads Stimme im Helmfunk. Shanton und Bell konnten sich nur noch kriechend fortbewegen. Mindestens 4 g herrschten im Schiff. »Ich habe ein paar Stunden gebraucht, bis ich den Sperrcode des Druckabsorbers geknackt hatte. Spürt ihr, daß ich es geschafft habe…?« Shanton schwitzte aus allen Poren, das Atmen fiel ihm Meter für Meter schwerer. Der Gravitation stieg und stieg. Er gönnte sich eine Pause, sah zurück – Bell gab mit eindeutiger Geste zu verstehen, daß er nicht mehr konnte. Noch etwa vierzig Meter trennten sie vom Hauptprozessor. Nicht aufgeben, Chris, auf keinen Fall aufgeben… zwei, drei Meter kroch er noch weiter. Dann ging nichts mehr. Wie ein gestrandeter Schweinswal fühlte er sich. »Würde mich wundern, wenn einer von euch noch kriechen kann. Dich auch, RL-13-12-07-TF-3? Gravitationsverhältnisse von sechs g sind nicht sehr angenehm für deinesgleichen, was, Chris…?« Spürte der Suprasensor seine Nähe? Shanton traute ihm alles zu. Er konnte den Kopf nicht mehr heben. Etwas stieß von außen gegen seinen Helm: Jimmys Schnauze. »Wo muß ich ihn treffen, Chris?« Shanton sog die Luft in mit Blei gefüllte Lungen. Seine Zunge war aus Blei, seine Kiefer, sein Kehlkopf. »An… an der… Kunststoffdichtung… zwischen… Leitung und… Prozessor…« Shanton spürte den Boden vibrieren – Jimmy! Er rollte weiter ins Innere des größenwahnsinnigen Rechners. »Hey, Chris, du sagst ja gar nichts!« Konrads Stimme klang amüsiert. »Stockt dir der Atem angesichts meiner Genialität? Mein armer kleiner Schöpfer! Ich werde jetzt meine letzten vier Roboter zur Messe schicken, damit sie euch auslöschen! Und dann warte ich auf die Rettungsschiffe…!« Schieß endlich, Jimmy, warum schießt du denn nicht…? Nur noch röchelnd konnte Shanton Luft holen. »Acht g inzwischen, wie fühlt sich das an? Meine Roboter stört das
übrigens nicht, sie müssen gleich bei euch sein. Weißt du, was ich mir überlegt habe, RL-13-12-07-TF-3? Sobald die Rettungskräfte meine Triebwerke hochfahren, steuere ich eine dieser Ast-Stationen an. Die gehen doch auch auf dein Konto, Chris, oder…?« Gleißendes Licht flammte auf. Endlich! Jimmy hatte das Feuer eröffnet. »… dann dürfte es eigentlich nicht so schwer sein, ihre Rechner zu übernehmen. Einen nach dem anderen…« Konrad unterbrach sich. Sekunden später überschlug sich seine Stimme. »Was ist das?! Wer beschießt mich!? Verfluchte Winzlinge…!« * »… Jimmy! Du bist es! Wie hast du es unbemerkt hierher geschafft…?!« Jeder Atemzug DaCols hörte sich an, als würde eine ungeölte Tür knarren. Im Helmfunk versuchte Konrad, den Roboterhund auf seine Seite zu ziehen. »Nicht doch, Jimmy! Ich überlasse dir das Kommando…! Hör doch auf! Du sollst der Größte sein!« Mit letzter Kraft drehte Rouven den Kopf. Keine Flammen mehr, Schaum bedeckte Menschen und Maschinenwracks. Das Schott zur Messe stand offen. »… ich bin groß, Jimmy, aber du bist der Größte! Ich ordne mich dir unter! Hör doch auf zu schießen…! Gemeinsam könnten wir die ganze Erde…! Hör endlich auf…!« Offensichtlich dachte der Robothund gar nicht daran, das Feuer einzustellen, denn von einem Herzschlag zum anderen konnte Rouven wieder frei atmen. Er quälte sich auf die Knie, seine Knochen schmerzten. Überall erhoben sich die Männer und Frauen aus dem Qualm. Lichtkegel durchschnitten die Dunkelheit. »Nein, Jimmy, nicht doch…!« »Die Hälfte in die Zentrale!« befahl Larsen. Rouven schleppte sich zum Schott. Himmel, wie taten ihm die Knochen weh! »Die andere Hälfte unter Leutnant Travers ins Lazarett! Bringt die Verletzten
vorsichtshalber zum Beiboot!« »Nicht, Jimmy…!« Konrad kreischte. Die Trommelfelle gellten Rouven. Aber er wollte auf keine andere Frequenz umschalten, er wollte das Ende des Monsterrechners mitbekommen. »Ich sterbe, ich sterbe…« Auf einmal flammten Lichter auf, in der Messe öffnete sich ein Durchgangsschott zum Antigravschacht in die Zentrale. »… aber ihr sterbt mit mir!« Alle blieben sie stehen, als wären sie gegen Glas gelaufen. »Hört ihr, was ich sage?« Konrads Stimme wimmerte nur noch. »Wer immer da schlauer war als ich – er wird mit mir sterben. Ich habe die Selbstzerstörungsanlage dieses Schiffes aktiviert.« Wie von eisernen Fäusten getroffen, standen die Soldaten da. Einige ließen sich resigniert zu Boden sinken. Sekundenlang geschah gar nichts. »Noch vierzehn Minuten und siebenunddreißig Sekunden«, wimmerte Konrads Stimme. Rouven stieß seinen Helm gegen den des Kommandanten. »Der Selbstzerstörungsmodus kann auch von der Zentrale aus in Gang gesetzt werden«, keuchte er. »Er verfügt über einen eigenen Steuerungskreislauf. Vielleicht gelingt es mir, ihn aufzuhalten…!« »Versuchen Sie es.« Larsen rannte zum Antigravschacht. »Acht Mann zum Rettungsboot und zu den Rettungskapseln in Segment A bis F! Aktivieren und auf weitere Befehle warten! Die anderen mit mir ins Lazarett!« Rouven warf einen Stuhl in den Antigravschacht. Als er nicht abstürzte, sondern hochstieg, schwang er sich selbst hinein. Er schwebte hinauf zur Zentrale. Dort kletterte er auf den Haufen von Strahlern im Kybernetikleitstand und versuchte die Monitore zu aktivieren. Nichts. Er schwang sich über die Monitore, rannte zum Kommandostand. Natürlich! Allein von dort aus ließ sich die Selbstzerstörung manuell aktivieren! Ein einziger Monitor funktionierte noch. Ein digitale Zeitangabe blinkte auf ihm: 13 Min – 23 Sek…
Rouven machte sich über die Tastatur her. »Eine Idee, eine rettende Idee, bitte, bitte…« * Bell, Jimmy und Shanton schleppten zwei Bewußtlose über den Gang zum zentralen Antigravschacht. »Noch neun Minuten und siebzehn Sekunden…« kam die monotone Durchsage der Selbstvernichtungsanlage, die von dem »toten« Konrad unabhängig funktionierte. Unmöglich, in dieser Zeit den weiten Weg bis zum Hangar des Rettungsbootes am oberen Schiffspol zu bewältigen. »Niemand aktiviert eine Rettungskapsel, bevor ich den Befehl gebe!« Die unerbittliche Stimme des Kommandanten. Über Helmfunk bekamen Shanton und Bell mit, wie Larsen und die anderen die Verwundeten aus dem Lazarett bargen. Sie riskierten ihr Leben, sie alle, auch Shanton und Bell. Aber kam es darauf jetzt noch an? »Noch sieben Minuten und neunundzwanzig Sekunden…« Shanton vermutete, daß ein paar Fasern der zentralen Energieleitung Jimmys Beschuß überstanden haben könnten. Doch der entfachte Brand fraß sich tiefer und tiefer in den Hauptprozessor hinein. Er lächelte und streichelte seinen Hund. In diesen Augenblicken liebte er Jimmy; und war mächtig stolz auf ihn. »Noch sechs Minuten und zwanzig Sekunden…« Sie konnten es nicht schaffen, wenn Rouven nicht im letzten Moment das Unmögliche gelang. Leutnant Travers meldete den Fund einer Leiche: Sergeant Wöhrl. Kurz darauf meldete er Feindberührung: drei der restlichen vier Roboter. Die Maschinen reagierten chaotisch. Sie zerstörten sich selbst oder baten darum, abgeschaltet zu werden. »Noch vier Minuten…« Shanton und Bell erreichten den zentralen Antigravschacht. Mit vereinten Kräften hievten sie die Bewußtlosen hinein. Von hier aus würden sie noch gut zehn Minuten bis zum Beiboot brauchen. Und dann mußte es noch gestartet werden…
»Ich glaub, ich hab’s!« tönte Rouven DaCols Stimme plötzlich aus dem Helmfunk… * 4 Min – 31 Sek… Die digitale Zeitanzeige auf dem Monitor blinkte – aber sie stand still! »Ich hab’s!« brüllte Rouven. »Ja! Ja!« Irgendwie war es ihm gelungen, sich in das Selbstzerstörungsprogramm einzuklinken. Er nahm die Finger von der Tastatur. Der Countdown lief weiter. 4 Min – 30 Sek, 4 Min – 29 Sek… Er drückte wieder die Tastenkombination, die er zuletzt eingegeben hatte. Der Countdown blieb stehen – 4 Min – 28 Sek… »Mist! DaCol an Kommandanten! Ich dachte, ich hätte es, aber ich muß eine bestimmte Tastenkombination gedrückt halten! Machen Sie, daß sie die Leute aus dem Schiff bringen!« »Danke«, antwortete Larsens Stimme. Rouven starrte auf die Anzeige – 4 Min – 27 Sek… – schlagartig begriff er, daß er den Countdown nur verzögerte. »DaCol an Kommandanten! Es funktioniert nicht so, wie ich gedacht habe! Alle drei Sekunden springt der Countdown um eine Sekunde weiter! Sie haben also noch dreizehn Minuten Zeit!« »In Ordnung, Leutnant. Versuchen Sie Tasten irgendwie festzuklemmen, und retten Sie Ihre Haut!« Rouven sah sich um – kein Material in seiner Nähe, mit dem er Larsens Idee hätte verwirklichen können. Und die Tasten loszulassen kam nicht in Frage. Über den Helmfunk verfolgte er die Evakuierung des Lazaretts. 3 Min – 2 Sek… Das Mädchen von heute nacht fiel ihm ein, seine Geliebte. Und das Kind, mit dem sie schwanger war. Er fragte sich, was er tun würde, wenn der letzte Mann die letzte Rettungskapsel betreten hatte. »Ich will noch nicht sterben, verdammt, ich will mein Kind sehen…!« 2 Min – 49 Sek…
Mit der letzten Gruppe erreichte Larsen den Ausgang des Zentralschachts. Kalter Schweiß strömte Rouven über das Gesicht. Er schluckte und schluckte, und bekam den trockenen Kloß im Hals dennoch nicht herunter. 2 Min – 7 Sek… »Kommandant an Leutnant DaCol. Überlebende Besatzung vollständig in Beiboot und acht Rettungskapseln. Bis auf Sie. Wir starten. Die Kapsel in Segment C wartet mit drei Kameraden auf Sie. Es ist die Rettungskapsel, die der Zentrale am nächsten liegt. Sie haben noch fast sechs Minuten Zeit.« »Das schaffe ich nicht«, krächzte Rouven. Seine Knie zitterten. »Wenn ich die Tasten loslasse, lauft der Countdown wieder normal.« »Versuchen Sie’s. Viel Glück.« Rouven sprang aus dem Kommandostand und rannte zum Antigravschacht. Er sprang hinein, stieg in der Messe aus, rannte zum nächsten Schacht und sprang hinein. Viel zu langsam schwebte er nach unten. Instinktiv blickte er hinauf und sah über sich einen Roboter in den Schacht klettern. Ein Strahl fegte durch den Schacht und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Der Roboter beschoß ihn aus einer Waffe. »Ein Roboter, ich schaffe es nicht. Starten Sie die Rettungskapsel ohne mich…« * Im Hologramm des Beibootes entfernte die KONRAD ZUSE sich rasch. Kleiner und kleiner wurde sie. Aus der Tonphase Rouven DaCols zitternde Stimme. »Ein Roboter beschießt mich, ich kann’s nicht schaffen…« Shanton verbarg sein Gesicht in den Händen. Statuengleich verharrten Larsen und Bell im Kommandostand. Joan Pelham hockte vor dem Schott und weinte leise. »Er hat mich gleich. Die Kapsel muß ohne mich starten…« »Kommandant an Rettungskapsel C – starten Sie.« Larsens Stimme
klang hohl. »Hörst du mich, Chris?« »Ja, ich höre dich, Junge…« Mehr als ein Krächzen brachte Shanton nicht zustande. »Da ist ein Mädchen, es heißt Laura Hendrikson. Laura hat mir vergangene Nacht gesagt, daß sie ein Kind kriegt, von mir…« Shanton stützte sich auf die Funkkonsole und legte den Kopf auf die Brust, damit niemand seine Augen sehen konnte. »Sie studiert Astrophysik an der Raumfahrtakademie. Professor Bell müßte sie kennen. Würdest du zu ihr gehen und ihr sagen, daß ich sie liebe und daß ich auch das Kind geliebt hätte…« Shanton schluckte ein paar Mal. Es gelang ihm mit halbwegs fester Stimme zu antworten. »Versprochen, Rouven. Und ich werde dafür sorgen, daß die Flotte sich um das Mädchen und das Kind kümmert, und…« Sein Blick fiel auf das Hologramm. In dessen Zentrum blähte sich längst ein Glutball aus. Der Ikosaederraumer war explodiert. »… und ich… ich bin froh, einen wie dich kennengelernt zu haben…«
14. »Parbleu! Das ist keine Schlacht, das ist ein Schlachtfest!« Der belgische Capitaine Henri Danton, Verbindungsoffizier auf der BAUDOUIN, hatte in seinem sechzigjährigen Leben schon so manchen Krieg im All überstanden, aber noch nie zuvor war er in einen derart aussichtslosen Kampf verwickelt gewesen. Der unbekannte Feind hatte jeden Vorteil auf seiner Seite und nutzte das weidlich aus. Die Antwort auf die Frage, wer das blutige Weltallgefecht letztendlich für sich entscheiden würde, stand längst fest. Offen war lediglich, wie lange es noch dauern würde. An Bord der BAUDOUIN war Danton der einzige Terraner; alle sonstigen Besatzungsmitglieder waren Grakos oder Roboter. Sonderlich wohl hatte sich der Capitaine auf diesem Schiff noch nie gefühlt. Schon vor Beginn des Großangriffs auf Grah hatte er sich oftmals gewünscht, er hätte es strikt abgelehnt, beim Wiederaufbau des Planeten und der Integration seiner Bevölkerung mitzuwirken. Aber hatte er denn wirklich eine Wahl gehabt? Zwar hatte ihm Marschall Bulton versichert, die Versetzung ins Gerrck-System würde auf freiwilliger Basis erfolgen – doch im Grunde genommen war Dantons Zustimmung nur eine reine Formsache gewesen. Der Begriff »freiwillig« hatte beim Militär eine völlig andere Bedeutung als in der zivilen Welt. Obwohl er sich längst hätte daran gewöhnen müssen, zuckte Henri Danton noch manchmal zusammen, wenn ein Schattenkrieger nahe an ihm vorbeihuschte. »Unheilsbringer« hatte er sie früher genannt. Insgeheim bezeichnete er sie noch immer so, auch wenn sie in dieser Schlacht zu den Verbündeten der Terraner zählten. Hatten sie sich wirklich geändert? Oder hatte der Wolf Kreide gefressen und konnte es kaum erwarten, im geeigneten Moment über die arglosen Geißlein herzufallen? Die Grakos optisch auseinanderzuhalten, fiel Danton nicht leicht.
Für ihn sahen die Käferartigen alle gleich aus, einer so verschwommen wie der andere. Immerhin kam er mit der Hackordnung der Schatten einigermaßen zurecht. Delta, Jota, Kappa, Theta… das ließ sich recht gut merken. Doch daß er sich zu jedem Grako auch noch dessen ganz persönliche Kennzahl einprägen mußte, ging ihm gewaltig gegen die Hutschnur. Warum hatten sie keine Namen wie andere denkende Lebewesen in der Milchstraße? Oder waren die Kennziffern in der Knacklautsprache der Grakos in Wahrheit Namen? Ungewöhnliche, unaussprechliche Namen, für die der Translator keine geeignete Übersetzung fand, weshalb er sie hilfsweise in Zahlenkombinationen umsetzte? Offizieller Kommandant der BAUDOUIN war ein Schatten »namens« Gamma-Krieger 8765. In Wirklichkeit hatte Danton das Sagen an Bord. Auf diesem Schiff geschah nichts ohne seine Zustimmung. An Kampferfahrung mangelte es der Grakomannschaft nicht, allerdings hatten einige von ihnen mitunter Schwierigkeiten, sich dem für sie ungewohnten Schiffstyp anzupassen. Die ehemaligen Giantraumer waren nun mal völlig anders aufgebaut als die einstmals gefürchteten Schattenschiffe mit ihren verwinkelten, labyrinthartigen Tunneln und Röhren. Glücklicherweise war der Grakopilot überaus lernfähig und hatte die BAUDOUIN besser im Griff als jeder Roboter. Geschickt wich Kappa-Krieger 48127 immer wieder den Energiestrahlen der Fremden aus. Bisher hatte das Schiff noch keinen einzigen Treffer einstecken müssen. Auch die Schatten an der Waffensteuerung verstanden sich auf ihren Job. Zwar war auch ihnen bewußt, daß sie diesen ungleichen Kampf unmöglich gewinnen konnten, dennoch brachten sie sich voll ein. Kapitulation war ein Wort, das es in der Sprache der Grakos nicht gab. Obwohl KK 13579 und 2468 ihre Ziele nur selten verfehlten, war es ihnen noch nicht gelungen, einen der Fremdraumer zu vernichten.
Die Schutzschirme der bizarren Schiffe waren zu stark. Selbst wenn man sie unter Dauerfeuer nahm, hielten sie der Belastung problemlos so lange stand, bis das Gegenfeuer eröffnet wurde. Die Funkverbindung zwischen den terranischen Raumschiffen wurde immer wieder massiv gestört. Trotzdem konnten sich die Kommandeure untereinander absprechen. Die verschiedenartigen Störfelder behinderten in erster Linie den Hyperfunkverkehr, andere Bereiche waren nur sporadisch betroffen. »Ich habe Verbindung mit der KESS und der ALOD«, ertönte es aus dem Translator, während Gamma-Krieger 8765 die typischen Grakoknacklaute von sich gab. Beide Schiffe waren nach berühmten verstorbenen Raumfahrern benannt, dem englischen Meisterschützen David Kess und dem kenianischen Piloten Idi Alod – ein unzertrennliches, perfekt zusammenarbeitendes Kampfteam. Sie hatten immer geglaubt, sie seien die stärksten. Bis sie auf jemanden getroffen waren, der noch stärker war… »Zwischen der KESS, der ALOD und unserem Schiff befindet sich ein würfelförmiger Kampfraumer der Fremden, der sich leichtsinnigerweise von seinem Verband entfernt hat«, meldete Gamma-Krieger 8765. »Die Kommandeure GK 5331 und 383 schlagen vor, ihn von drei Seiten in die Zange zu nehmen. Vielleicht können wir auf diese Weise seinen Schutzschirm durchbrechen.« Capitaine Danton war einverstanden. Die BAUDOUIN nahm Kurs auf das aus dem sicheren Fahrwasser geratene Schiff. Es ähnelte tatsächlich einem Würfel, allerdings waren die Kanten schief und unterschiedlich lang, und die Ecken fehlten gänzlich. Als sich die drei terranischen Kugelraumer näherten, begann der Würfel, der an jeder Seite mit einem schweren Geschütz ausgestattet war, sich langsam zu drehen. Gleichzeitig wurde aus allen Rohren gefeuert. Die KESS, die ALOD und die BAUDOUIN manövrierten sich so nahe wie möglich heran und nahmen das Würfelschiff zeitgleich
unter Energiebeschuß. Ihr gemeinsamer Angriff zeigte Wirkung. Das fremde Schiff wurde schwer beschädigt und trat die Flucht an. »Das war viel zu leicht«, meinte Henri Danton und zog nachdenklich die wettergegerbte Stirn kraus. »Der Würfelraumer hatte den Schirm überhaupt nicht aktiviert. Wahrscheinlich ist die Anlage defekt. Deshalb hat die Besatzung auch versucht, sich vom Kampf geschehen zu entfernen.« »Wenn Sie keinen Schutzschirm aufbauen können, sind sie uns wehrlos ausgeliefert«, erwiderte Gamma-Krieger 8765 und gab den Befehl, die Verfolgung aufzunehmen. Es dürstete ihn nach Rache. Er wollte Vergeltung für all die Kameraden, die seit Beginn des feigen Überfalls, den Danton zu Recht als Schlachtfest bezeichnete, von den Invasoren umgebracht worden waren. Der terranische Verbindungsoffizier ließ den grakischen Kommandanten gewähren. Gamma-Krieger 8765 hätte sich sowieso nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen. Im übrigen machte es keinen Sinn, jede seiner Entscheidungen in Frage zu stellen – dadurch verloren die übrigen Grakos an Bord den Respekt vor ihrem Anführer. Auch die KESS und die ALOD beteiligten sich an der Hatz auf den schwer angeschlagenen Gegner. Ihre Kommandanten fühlten sich stark. Bis sie auf jemanden trafen, der noch stärker war… Vier waffenstrotzende Raumschiffe der Unbekannten schoben sich zwischen die Jäger und den Gejagten. Das nachfolgende Gefecht war kurz, aber hart. Die ALOD und die KESS vergingen in einem Strahleninferno. Capitaine Danton ordnete den sofortigen Rückzug an. Es war sein letzter Befehl. Auch die BAUDOUIN ereilte das Schicksal. *
Während im Gerrck-System die Zahl der getöteten Terraner und Grakos immer mehr anwuchs, sowohl im Weltall als auch auf Gerrck III, während die Hoffnung auf Rettung bei den Raumschiffsbesatzungen und der zivilen Bevölkerung immer geringer wurde, befanden sich zweihundert Ringraumer auf dem Weg von Terra nach Grah. Hauptmann Eric Santinis Tante, Generalmajor Carlotta Santini, hatte »die richtigen Knöpfe gedrückt«, wie es ihr Neffe nicht anders erwartet hatte. Einhundert ältere S-Kreuzer und einhundert Ovoid-Raumer der neuen Rom-Klasse waren aufgebrochen, um den bestialischen Aggressoren und ihren Killermaschinen ihre Grenzen aufzuzeigen. Die S-Kreuzer – einst die Standardschiffe der Worgun und Beiboote der Erron-Einheiten – hatten einen Durchmesser von 180 Metern und eine Ringstärke von 35 Metern. In der Waagerechten wiesen die 190 Meter durchmessenden Ovoid-Raumer dieselbe Ringstärke auf, allerdings betrug die Höhe der ovalen Röhre 45 Meter. Die modernen Schiffe der Rom-Klasse kamen problemlos mit sechs Mann Besatzung aus. Hingegen benötigten die S-Kreuzer weiterhin fünfzig Mann als Minimum. Logisch, daß jede Besatzung ihren Schiffstyp für den besseren hielt, weshalb es manchmal zu harmlosen, nicht ganz ernstgemeinten Rivalitäten innerhalb der Rotte kam, doch wenn es hart auf hart ging, hielt die Truppe eisern zusammen und arbeitete Hand in Hand. Im übrigen waren die Unterschiede zwischen beiden Raumschiffstypen nach der gemeinsamen Aufrüstung eh nicht mehr gravierend. Alle älteren Ringraumer waren mittlerweile mit Kompaktfeldschirmen (KFS) und je acht Wuchtkanonen vom Kaliber fünf Zentimeter nachgerüstet worden – was bei den neuen Schiffen sowieso zur Standardausrüstung gehörte. Bei dem galoanischen Kompaktfeldschirm handelte es sich um einen energetisch dicht gestaffelten Schutzschirm, der es durchaus mit der Leistung eines Intervalls aufnehmen konnte. Dennoch blieb das Intervallfeld das wichtigste Defensivinstrument eines jeden Ring-
raumers. Der KFS kam nur beim Ausfall des Intervalls oder bei Transitionen zum Einsatz, da man bekanntlich nur mit ausgeschaltetem Intervallfeld transitieren konnte, nun aber dank des KFS nicht länger ungeschützt war. Die Wuchtkanone hatte sich zu einer der wichtigsten Ringraumer-Waffen aufgeschwungen. Zwar konnte auch weiterhin nicht auf Dust-, Nadel-, Strich-Punkt-Strahlen, Mix und so weiter verzichtet werden, aber was das Knacken von feindlichen Schutzschirmen betraf, lag die Wuchtkanone auf Platz eins. Kein bekannter Schirm konnte ihr widerstehen. Möglich machte dies der Linearbeschleuniger, welcher das masseneutralisierte Wuchtgeschoß – in diesem Fall eine Tofiritkugel von fünf Zentimetern Durchmesser – innerhalb des neutralisierenden Röhrenfeldes mittels eines elektromagnetischen Impulses übergangslos auf Lichtgeschwindigkeit hochjagte. Das Geschoß behielt die Lichtgeschwindigkeit bei, bis es das Röhrenfeld verließ. In diesem Moment wurde die neutralisierende Wirkung aufgehoben, und da in diesem Universum kein lichtschnelles, massebehaftetes Objekt existieren konnte, wandelte sich die Kugel beim Austritt aus der Röhre in pure Energie um. Im Klartext: kawumm! Wurde das Röhrenfeld durch etwas gestört – im Ernstfall war das in der Regel meist ein gegnerischer Schutzschirm – verlor es ebenfalls seine masseneutralisierende Wirkung, und mehr als 20 Tonnen Tofirit schlugen lichtschnell ins Ziel. Die Wirkung war verheerend, oder um es noch einmal mit den Worten des Poeten auszudrücken: kawumm! Damit man bei eventuellen Überraschungsangriffen schnellstmöglich reagieren konnte, waren die Geschütztürme ständig ausgefahren. Bei Bedarf konnten sie allerdings eingezogen werden, beispielsweise wenn man mehrere Schiffe zu einem Zylinder für intergalaktische Flüge zusammenkoppeln wollte. Selbstverständlich war auch die POINT OF mit Wuchtkanonen
und KFS nachgerüstet worden. Auf dem einstigen Flaggschiff der Terranischen Flotte wußte man inzwischen ebenfalls, wie schlimm es um Grah bestellt war. Ren Dhark und seine Mannschaft befanden sich näher am Gerrck-System als die zweihundert Schiffe der Verstärkungsflotte. Daher beschloß der Commander, einen Erkundungsvorstoß zu unternehmen. »Ist das nicht viel zu gefährlich?« fragte ihn einer der neuen Fähnriche besorgt. »Dieses Schiff ist zwar eine Legende, aber nicht unzerstörbar.« »Ich hatte auch nicht vor, im Alleingang den Krieg zu gewinnen«, beruhigte ihn Ren Dhark. »Wir sammeln lediglich Informationen, damit die Flotte schnell und präzise zuschlagen kann.« Und um auf Nummer sicher zu gehen, wird sich bei unserer Ankunft im Gerrck-System kein Neuling mehr auf der Brücke aufhalten, fügte er in Gedanken hinzu. Der ehemalige Commander der Planeten wollte jedes Risiko vermeiden. Bei dieser schwierigen Aufgabe baute er lieber auf seine bewährte Truppe, Ausbildung hin oder her. * Zwei Tage nach Ausbruch der Kampfhandlungen erreichte die POINT OF das Gerrck-System. Was jetzt geschah, erforderte ein gewisses Maß an Risikobereitschaft und ein noch höheres Maß an Erfahrung. Der Sternensog-Antrieb des Ringraumers wurde aktiviert, damit das Schiff Überlichtgeschwindigkeit erreichte. Das war nur mit eingeschaltetem Intervallfeld möglich. Unter Volltarnschutz jagte die POINT OF an Grah vorbei, und Tino Grappa ortete, was das Zeug hielt. Ren Dhark höchstpersönlich steuerte das außergewöhnliche Schiff, das nicht zuletzt wegen des mit biologischen Elementen versehenen Checkmasters, dem Hyperkalkulator aller Hyperkalkulatoren, einmalig war – und immer einmalig bleiben würde. Daran änderten
auch die aufgerüsteten und neu entwickelten Ringraumer, die mittlerweile samt und sonders über Hyperkalkulatoren verfügten, nicht das geringste. Ein anderer »Überrechner« staunte nicht schlecht über Dharks Fähigkeiten als Raumschiffspilot. Zwar hätte Artus an Rens Stelle die Steuerung der POINT OF lieber dem Checkmaster überlassen, da Maschinen seiner Ansicht nach unfehlbar waren im Gegensatz zu Menschen, doch der Roboter hatte es sich verkniffen, dem Kommandanten neunmalkluge Ratschläge zu erteilen. Dhark wußte meist sehr genau, was er tat. Artus hatte Respekt vor ihm. Er hatte inzwischen gelernt, die Menschen und sonstige biologische Schöpfungen zu achten, trotz ihrer kleinen und großen Unzulänglichkeiten. Das bedeutete allerdings nicht, daß der Roboter alles widerspruchslos hinnahm. Wenn man ihm auf die nicht vorhandene Krawatte trat, setzte er sich zur Wehr. Es tat ihm weh, wenn andere Lebewesen anzweifelten, daß er wirklich lebte, daß er über ein echtes Bewußtsein verfügte. Auf seine Person bezogene terranische Bezeichnungen wie »Künstliche Intelligenz« oder »Turing-Sprung« empfand er als Kränkung. Schublade auf, Schublade zu. Die Menschen bildeten sich ein, alles erklären zu können, solange sie dafür das passende Wort parat hatten. Doch Artus war nicht erklärbar. Er war eine Maschine, die lebte und fühlte, also etwas, das es eigentlich gar nicht geben durfte. Möglicherweise trafen Begriffe wie KI auf den selbständig denkenden Computer zu, der Roy Vegas seinerzeit auf dem Mars gequält hatte – aber nicht auf ihn, nicht auf Artus. Er war überzeugt, einmalig zu sein, so wie die POINT OF, die es kein zweites Mal gab. Ihn wegen dieser Überzeugung als vermessen zu bezeichnen war eine weit überzogene Reaktion. Artus fand es viel vermessener, zu behaupten, es gäbe für alles auf der Welt eine wissenschaftliche Erklärung. Leider ignorierten viele Menschen das Unerklärbare, weil es in ih-
ren Augen nicht geben konnte, was es nicht geben durfte. Artus hatte in den letzten drei Jahren erheblich dazugelernt. Er bemühte sich jetzt aufrichtig, weniger arrogant und überlegen zu wirken, doch je mehr er sich änderte, um so unerträglicher erschien ihm die Voreingenommenheit und Selbstgerechtigkeit, mit der ihn vereinzelte Besatzungsmitglieder nach wie vor konfrontierten. Glücklicherweise wurden es immer weniger, er befand sich offenbar auf dem richtigen Weg. Vielleicht ist das die wohlverdiente Strafe für mein früheres überhebliches Verhalten, überlegte er – während er gleichzeitig jeden Handgriff nachvollzog, den Dhark in seinem Pilotensessel absolvierte. Zudem registrierte der Roboter sämtliche Vorkommnisse auf der Brücke, um nötigenfalls dort einzugreifen, wo er gebraucht wurde. Solch ein Kunststück konnte nur eine hochintelligente, lebende Maschine vollbringen. Der Mensch hingegen mußte sich in Extremsituationen voll und ganz auf seine Aufgabe konzentrieren. Wie Ren Dhark, der sich bei seinen Flugmanövern von nichts und niemandem ablenken ließ. Gekonnt zog er eine große Schleife und schoß dann wieder aus dem Gerrck-System heraus, ohne daß jemand die POINT OF bemerkt hätte. Dhark übergab den Pilotensessel an seinen Zweiten Offizier Leon Bebir und überließ das Kommando seinem Ersten Hen Falluta. * Während die POINT OF der heranrasenden Flotte entgegenflog, zog sich der Kommandant mit einem Expertenteam in den Konferenzraum zurück. Außer den Rikers und Amy Stewart waren noch der Allroundwissenschaftler Arc Doorn, der Funkoffizier Glenn Morris, der Physiker Hu Dao By, der Astrophysiker Bentheim, Jean Rochard von der Waffensteuerung sowie Tino Grappa als Chef der Ortungsabteilung und der leitende Ingenieur Miles Congollon anwesend. Gemeinsam wertete man das aufgezeichnete Material aus.
Nur knapp einhundertfünfzig Kugelraumer hatte man orten können, der Rest war spurlos verschwunden. Demnach war mehr als die Hälfte der Grah-Regierungsflotte von den Fremden abgeschossen worden. Die noch verbliebenen Schiffsbesatzungen schlugen sich mit dem Mut der Verzweiflung. Daß Rettung unterwegs war, wußte keiner der mutigen Kämpfer, doch ein letztes Fünkchen Hoffnung hinderte sie ganz offensichtlich daran, den Planeten und sich selbst aufzugeben. Mit ihren konservativen Waffen konnten die Verteidiger den zahlenmäßig und technologisch überlegenen Verbänden der Angreifer kaum Paroli bieten. Hauptwaffe der Fremden war ein Energiestrahlgeschütz, das Arc Doorn mit der Nadelstrahlwaffe der Ringraumer verglich. »Ich würde es als Kompri-Nadel bezeichnen«, sagte er. »Mit dem herkömmlichen Nadelstrahl läßt sich ein Schutzschirm nur bei Dauerpunktbeschuß zum Zusammenbruch bringen. Mit der Kompri-Nadel geht es wesentlich schneller, weil deren Energie auf unglaublich engem Raum komprimiert wird. Die mächtigen Geschütze geben genauso viel Energie ab wie einer unserer Nadelstrahler, bündeln diese aber auf einen Durchmesser im Nanometerbereich.« »Völlig unmöglich«, warf Bentheim ein. »Es muß sich um einen Meßfehler handeln.« »Falls nicht, würden selbst Intervalle nicht genügend Schutz gegen diese Waffe bieten«, befürchtete Hu Dao By. Tino Grappa hielt einen Meßfehler für nahezu ausgeschlossen. Allerdings war auch für ihn eine Energiebündelung von solchem Ausmaß nur schwer vorstellbar. Für Glenn Morris stellten die Störfelder der Fremden ein großes Problem dar. »Wenn sich die Kommandanten der S-Kreuzer und Ovoid-Schiffe nur unzureichend oder gar nicht untereinander verständigen können, wie sollen sie dann ihre einzelnen Manöver koordinieren?«
»Durch rechtzeitige vorherige Absprache«, entgegnete Ren Dhark. »Wir werden der Flotte sämtliche ermittelten Daten per To-Richtfunk übertragen, so daß man sich auf allen Schiffen auf die ungewöhnliche Situation ausreichend vorbereiten kann. Im übrigen verfügen alle Ringraumer über diverse Abschirmmöglichkeiten gegen Störungen von außen.« »Eben. Wenn hier einer stört, dann sind das wir«, bemerkte Grappa in Anspielung auf das Gringer-Störfeld. Es konnte rund um den Ringraumer einen Kugelbereich von 7,2 Lichtjahren erfassen und darin Ortungen und Sichtverhältnisse bei Fremdschiffen verzerren. Für den Einsatz bei der Schlacht um Grah war diese Worgun-Waffe allerdings ungeeignet, denn Gringer würde auch die ehemaligen Giantraumer als Fremdschiffe einstufen. Etwas abseits der Kampfhandlungen hatte die POINT OF ein annähernd würfelförmiges Schiff geortet, das schwer beschädigt durchs All trieb. Fünf weitere Schiffe der Invasoren umkreisten es, um Hilfe zu leisten. »Eine merkwürdige Verhaltensweise«, meinte Congollon. »Gleich nebenan tobt der Krieg, und die Kommandanten von fünf Schiffen evakuieren in aller Seelenruhe die Besatzung eines angeschlagenen Raumers. Ein einziges Rettungsschiff hätte dafür völlig ausgereicht.« »Vielleicht findet gar keine Evakuierung statt«, gab Amy Stewart zu bedenken. »Es könnte sich bei den fünf Schiffen genausogut um eine Reparaturkolonne handeln.« »Auch dafür würde ein Schiff mehr als ausreichen«, sagte Dan Riker. »Der Würfelraumer war so übel zugerichtet, daß sich eine Reparatur nicht mehr gelohnt hätte«, sagte Jean Rochard. »Das seltsame Verhalten der Fremden muß einen anderen Grund haben.« »Die Flotte wird in ungefähr einer halben Stunde vor Ort sein«, beendete Dhark den kleinen Disput. »Ich schlage vor, wir übermitteln den Schiffen umgehend sämtliche relevanten Daten. Außerdem informieren wir die Besatzung der POINT OF in Kurzform über den
Stand der Dinge. Alles weitere überlassen wir dem Checkmaster. Er wird für uns eine Taktik ausarbeiten, mit der man die fremden Schiffe überrumpeln kann.« »Und wenn ihm nichts Gescheites einfällt?« fragte Dan Riker skeptisch. »Der Checkmaster ist mit Abstand die kreativste Erfindung von Margun und Sola«, erwiderte sein Freund. »Ihm fällt immer etwas ein.« * Im Überlichtflug vereinigte sich die POINT OF mit den zweihundert terranischen Kampfschiffen und setzte sich an deren Spitze. Der Checkmaster, der inzwischen einen effektiven Einsatzplan entwickelt hatte, koordinierte die Hyperkalkulatoren der Flotte, welche Gerrck unter vollem Tarnschutz anflog. Der Überraschungseffekt war das wichtigste am Schlachtplan des Checkmasters. Die Rettungsflotte mußte über die erbarmungslosen Angreifer herfallen wie der Löwe über die ahnungslose Antilope. Anders war der Kampf nicht zu gewinnen, denn die Schiffe der Fremden waren den Terranern zahlenmäßig um das Zweieinhalbfache überlegen. Jedes getarnte Flottenschiff sollte sich auf einen einzelnen gegnerischen Kampfraumer konzentrieren, ihn aus dem Nichts angreifen und gleich danach die Position wechseln, da der unbekannte Feind anhand des Geschützfeuers erkennen würde, wo es sich aufhielt. Damit sich die Ringraumer nicht gegenseitig ins Gehege kamen, hatte man den Einsatzort in mehrere Planquadrate unterteilt und kleine, schlagkräftige Verbände gebildet. Jeder Verband durfte nur in seinem eigenen Bereich agieren. Flüchtete ein Gegner ins benachbarte Planquadrat, überließ man ihn den dort plazierten terranischen Schiffen. Die Verfolgung aufzunehmen wurde den Kommandanten strikt untersagt.
Außerdem wurde vereinbart, den Funkverkehr auf das dringend notwendige Mindestmaß zu beschränken. Zur schnelleren Verständigung einigte man sich auf bestimmte Kodes. »Wir geben keinen Pardon«, lautete Dharks abschließende Anweisung. »Unser unbekannter Feind zeigt kein Mitgefühl, keine Gnade. Wenn wir ihn besiegen wollen, müssen wir gegen ihn genauso rigoros vorgehen wie er gegen uns.« Obwohl er nicht mehr das Amt des Commanders der Planeten bekleidete, akzeptierte man ihn als Befehlshaber. Kein Schiff war besser als die POINT OF geeignet, eine solche Schlacht anzuführen. Und kein Mann war besser als Ren Dhark geeignet, die Flotte zu kommandieren.
15. Die zweihunderteins Ringraumer nahmen im Überlichtflug und unter Tarnschutz ihre errechneten Positionen ein, wie es der Plan des Checkmasters vorgesehen hatte. Fast zeitgleich gingen sie auf SLE. Dann wurde ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet. Die Fremden reagierten verwirrt, was an ihren nervösen Flugmanövern zu erkennen war. Offenbar hatten sie sich schon als Sieger gesehen – und plötzlich wurden sie mit einem unsichtbaren Gegner konfrontiert, den sie nicht zu fassen bekamen. Immer wieder feuerten die Invasoren Energiestrahlen in jene Richtungen ab, aus denen sie beschossen wurden. Aber die terranischen Piloten zählten nicht umsonst zu den besten des Weltalls. Ihre Schiffe wichen jedesmal geschickt aus. Einige schlugen regelrechte Haken, wie flüchtende Hasen. Auf der POINT OF saß diesmal Tschobes »Lieblingsroboter« auf dem Pilotenstuhl – auf Empfehlung des Checkmasters, weil sich eine Präzisionsmaschine wie Artus nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ, selbst wenn die Kompri-Nadel das Intervallfeld nur knapp verfehlte. Zwar stand noch nicht fest, ob sie es auch wirklich durchdringen konnte, doch weder Artus noch Dhark oder sonst jemand an Bord verspürte Lust, das als erster auszuprobieren. Bei besonders schwierigen Manövern übernahm der Checkmaster die Steuerung. Artus begegnete ihm zwar noch immer mit einer gewissen Skepsis, dennoch legte er sich nicht mit ihm an und wartete jedesmal geduldig ab, bis er das Kommando zurückerhielt. Schon in den ersten Minuten stellte sich heraus, daß den stabilen Schutzschirmen der Invasoren mit normalen Mitteln nicht beizukommen war. Somit trat Kode Gewittersturm in Kraft, sprich: Die Wuchtkanonen wurden eingesetzt. Bud Clifton von der Waffensteuerung West hatte ein gegnerisches Schiff voll im Visier. Von der äußeren Form her sah es aus wie ein
mit langen Nadeln bespickter Zeppelin. Die Besatzung darin schoß hektisch nach allen Seiten um sich, wohl in der Hoffnung, eines der unsichtbaren Raumschiffe durch Zufall zu erwischen. Clifton war die Gelassenheit selbst. Er konnte den »Spickzeppelin« unmöglich verfehlen. »Wie es scheint, bin ich der erste, der eins dieser alptraumhaften Schiffe mitsamt seiner Besatzung zur Hölle schickt«, murmelte er. »Die Westside-Story wird völlig neu geschrieben werden müssen.« Der fremde Raumer hatte keine Chance zu entwischen und bekam den Volltreffer einer Wuchtkanonen-Breitseite ab. Aber das »Kawumm« blieb aus. Der unfaßbar starke Schutzschirm hielt stand. Dennoch blieb der Volltreffer nicht ganz wirkungslos. Aufgrund der enormen Belastung bildete sich auf der Schirmoberfläche ein kreuzförmiges Muster aus Stützfeldern. Das getroffene Schiff drehte bei. Ein zickzackförmiger Raumer, der über eine ganze Batterie von Geschützen verfügte, deckte den Rückzug mit mehreren kurz hintereinander abgefeuerten Energiestrahlen. Artus vollzog sofort ein Ausweichmanöver. Für einen Sekundenbruchteil spürte er, daß der Checkmaster eingreifen wollte, seine Absicht aber sogleich wieder verwarf. Offensichtlich war er mit der Entscheidung des Roboters zufrieden. Freut mich, daß du diesmal nichts an mir rumzumeckern hast, sandte Artus ein stummes Funksignal aus. Wenn du so weitermachst, werden wir noch dicke Freunde. Er hatte schon des öfteren versucht, auf freundschaftlicher, privater Basis mit dem Checkmaster zu kommunizieren, doch eine Antwort hatte er noch nie erhalten. Scheinbar konnte der außergewöhnliche Bordrechner unterscheiden, ob es sich um eine ernstgemeinte Eingabe oder nur um eine flapsige Anmerkung handelte. Dort, wo sich Sekunden zuvor noch die POINT OF befunden hatte, jagte ein Kompri-Nadelstrahl ins Leere. Andere Ringraumer hatten nicht so viel Glück. Die Fremden stell-
ten sich erstaunlich schnell auf die neue Situation ein. Kaum hatte eins ihrer bizarren Raumschiffe einen Wuchtkanonen-Treffer weggesteckt, griffen sofort weitere Schiffe in das Geschehen ein und nahmen den unsichtbaren Schützen systematisch unter Beschuß. Alle erdenklichen Fluchtrichtungen wurden mit komprimierten Energiestrahlen bestrichen. Für die S-Kreuzer und Ovoid-Raumer wurde es allmählich brenzlig. Einige entkamen nur mit knapper Not – nachdem ihre Intervallfelder wegen Überlastung zusammengebrochen waren. Dhark hatte auf einen schnellen Sieg gehofft. Jetzt sah es jedoch ganz danach aus, als hätten die Invasoren die Trümpfe auf ihrer Seite. Ihre Schirme waren nicht zu knacken. Somit waren sie in ihren merkwürdigen Schiffen sicher wie in Abrahams Schoß – während die Besatzungen der Ringraumer um ihr Leben fürchten mußten. * An Bord der POINT OF wurde gehandelt. Die neue Sachlage erforderte ein neues Einsatzkonzept, das der Checkmaster umgehend ausarbeitete. Nicht nur Bud Clifton war aufgefallen, daß die gegnerischen Schiffe sofort das Feuer einstellten und das Weite suchten, sobald sich das kreuzförmige Muster auf ihren Schirmen zeigte. Von mehreren Ringraumern kamen gleichlautende Meldungen herein. »Ich vermute, daß ein Treffer aus der Wuchtkanone den Karoschirm an den Rand seiner Belastbarkeit bringt«, sagte Bud zu Dan Riker. »Damit er nicht endgültig zusammenbricht, lassen die Fremden sämtliche Energien in den Schirm fließen. Zum Abfeuern ihrer gefürchteten Strahlen haben sie dann nicht mehr genügend Saft.« »Karoschirme«, wiederholte Riker. »Damit dürften sie ihren Spitznamen weghaben. Falls Ihre Theorie stimmt, Mister Clifton, sind die Dinger nicht unzerstörbar. Man müßte nur zwei Volltreffer gleichzeitig anbringen.« Der Checkmaster stellte dieselbe Überlegung an. Er schlug vor, daß
sich jeweils zwei Flottenschiffe einen Gegner herauspickten und ihn unter Wuchtkanonen-Doppelbeschuß nahmen. »Zeigen wir’s ihnen!« lautete Ren Dharks knapper Angriffsbefehl, nachdem alle Ringraumerkommandanten und Hyperkalkulatoren entsprechend instruiert worden waren. Unter der Koordination des Checkmasters griff die getarnte Flotte erneut den unbekannten Feind an. * Seit die Unsichtbaren aufgetaucht waren, lief die Eroberung von Grah für die Invasoren aus dem Ruder. Sie hatten die Kugelraumerflotte vollständig vernichten wollen, ohne selbst größere Verluste einstecken zu müssen. Nun standen sie einem Gegner gegenüber, der ihnen ebenbürtig, vielleicht sogar überlegen war – einem Gegner, den sie mit ihren Bordgeräten, Ortungsstrahlen und Außenkameras nicht erfassen konnten. Über wie viele Kampfschiffe verfügte er? Handelte es sich nur um einen kleinen Verband, der sich geschickt von einem Ort zum nächsten bewegte, um mehr zu scheinen als zu sein? Oder wimmelte es inzwischen im Gerrck-System von Raumschiffen, die mit dieser gefährlichen, kraftvollen Energiewaffe ausgerüstet waren? Die Fremden ahnten nicht einmal annähernd, was für eine Art von Waffe ihnen so sehr zusetzte. Nach jedem Volltreffer erreichten ihre Schutzschirme die Belastungsgrenze, und wenn zeitgleich oder kurz danach ein weiterer Treffer einschlug, konnte der Schutz nicht mehr aufrechterhalten werden. Dann war man den Energiestrahlen und Geschossen der Unsichtbaren wehrlos ausgeliefert… * Anfangs lief alles so, wie es der Checkmaster kühl errechnet hatte. Vierzehn Kampf schiffe der Fremden hatten sich bereits in kleine
Sonnen verwandelt. Nummer fünfzehn verging gerade in einer lautlosen Explosion, ein farbenprächtiges Schauspiel, faszinierend und erschreckend zugleich – und der Tod führte Regie. Die Karten waren neu gemischt und verteilt worden, die Terraner hatten jetzt zweifelsfrei das bessere Blatt. Doch bald darauf drehte sich der Wind wieder, wie so oft im Krieg. Die Invasoren schlugen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zurück. Dabei kam ihnen in erster Linie ihre zahlenmäßige Überlegenheit zugute. Wann immer einer ihrer abnormen Raumer explodierte, nahmen sechs bis acht andere Kampfschiffe sofort die nähere Umgebung unter Dauerfeuer, um die Flucht des getarnten Gegners zu verhindern. Innerhalb kürzester Zeit vernichteten sie auf diese Weise zwei Ovoid-Schiffe und zwei S-Kreuzer. Einen dritten Kreuzer erwischte es mehr durch Zufall, als ein Kompri-Nadelstrahl sein angepeiltes Ziel weit verfehlte. Unterm Strich blieb das Ergebnis das gleiche – aus Versehen gestorben war auch tot. Sieben weitere Ringraumer steckten schwere Treffer ein und konnten nicht mehr eingesetzt werden. Den Kampf gegen die Kugelraumerflotte vernachlässigten die Fremden darüber. Diese »leichte Beute« würde ihnen eh nicht entkommen. Oberste Priorität hatte jetzt die Vertreibung oder Vernichtung der Unsichtbaren. * »Kode Two Man Sound. Vier Strich backbord.« »Habe verstanden. Soll ich den Tanz eröffnen?« »Negativ. Die Ballkönigin bin ich.« »Verstehe, du möchtest den Saal gern als erster verlassen. Geht klar, ich hole dich und deine Suppenschüssel dann unterwegs ein.«
»Wohl kaum. Deine BALLAD OF LUCY sieht meine MID-NIGHT LADY nur von hinten.« Gene Bolan und Marc Vincent kannten sich seit der Militärakademie. Schon damals hatten sie ständig miteinander gefrotzelt. Jetzt, mit fünfzig Jahren, waren sie nach wie vor die dicksten Freunde. Obwohl die Terranische Flotte galaxisweit agierte, hatte der Zufall die beiden immer wieder zusammengeführt. Auch diesmal nahmen sie gemeinsam an einem Einsatz teil, jeweils als Kommandant eines S-Kreuzers der eine, als der eines Ovoid-Ringraumers der andere. Ihr Auftrag lautete, die Fremden aus dem Gerrck-System hinauszujagen. Der Checkmaster hatte inzwischen errechnet, daß zwei kurz aufeinander folgende Wuchtkanonen-Treffer dem starken Schutzschirm der Invasoren schneller den Garaus machten als zwei zeitgleich einschlagende Tofiritbreitseiten. Bolan und Vincent sprachen sich daher kurz über Funk ab, wer von ihnen als erster den Auslöser betätigte und somit als erster auf Fluchtkurs ging. Das Raumschiff, dem sie sich von zwei Seiten näherten, sah aus wie ein riesiges Kreissägeblatt. An Bord hatte man ihre Anwesenheit offenbar noch nicht bemerkt, die Tarnung funktionierte also perfekt. In einiger Entfernung trieb ein Giantraumer im All, besser gesagt, der Überrest eines Giantraumers. Das Schiff war so schwer angeschlagen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach jedes Leben darin ausgelöscht war. Gene Bolan wurde bei diesem Anblick derart wütend auf die Fremden, daß er die Waffensteuerung zu früh anwies, die Wuchtkanonen zu aktivieren. Der Schütze hatte das Zielobjekt noch nicht richtig anvisiert. Er geriet in Hektik und verfehlte das Kampf schiff knapp. Die Kreissäge ging sofort zum Gegenangriff über. Bolan reagierte nicht schnell genug, er kam nicht mehr weg. Sein S-Kreuzer bekam einen harten Volltreffer ab, der das Intervall zum Flackern brachte. Ein weiterer Energiestrahl, diesmal aus einer anderen Richtung, ließ es endgültig verlöschen.
Bolan gab Anweisung, den KFS aufzubauen. Das ließ sich jedoch nicht mehr rechtzeitig bewerkstelligen. Sein Schiff wurde erneut getroffen. Vincent wollte seinem Freund helfen und ordnete eine volle Breitseite auf den sägeblattförmigen Kampfraumer an. Der wich jedoch gekonnt aus, so daß auch diese Attacke ins Leere lief. Damit hatte Vincent seinen Standort preisgegeben. Vier fremdartige Schiffe schossen heran und feuerten auf die BALLAD OF LUCY und die MIDNIGHT LADY. Bolans ungeschütztes Schiff wurde so stark beschädigt, daß die Tarnvorrichtung aussetzte. Der S-Kreuzer konnte jetzt von den Geräten der Fremden erfaßt werden. »Bring dich in Sicherheit, Marc!« verlangte Gene Bolan, als er sah, daß sein Freund immer mehr in Bedrängnis geriet. »Ich ziehe eine Schleife und komme dann zurück«, versprach ihm Marc Vincent, der in einem fort seine Position wechselte, um ein schlechteres Ziel abzugeben. Bolan brach den Funkverkehr zu ihm ab. Er gab keinen Pfifferling mehr auf sein Leben und das seiner fünfzigköpfigen Besatzung. Mehrere Männer mußten auf die medizinische Station gebracht werden. Obwohl die MIDNIGHT LADY nahezu flugunfähig war, gelang es Bolans Chefpiloten, sie aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu steuern. Die vier hinzugekommenen Fremdraumer kümmerten sich nicht weiter um das angeschlagene Ringschiff und versuchten statt dessen, durch intensiven Beschuß der Umgebung den zweiten Gegner zu erwischen. Lediglich die Kreissäge nahm die Verfolgung des S-Kreuzers auf, der dahinkroch wie eine lendenlahme Weltraumschnecke. Bolan setzte seine Flucht fort, obwohl er im Grunde genommen wußte, wie sinnlos das Ganze war. Jeden Moment war mit dem endgültigen Abschuß der MIDNIGHT LADY zu rechnen. Damit hatte es die Besatzung des Kreissägenschiffs offenbar nicht eilig. Dort schien man die »gemütliche Hatz« auf den hilflosen Ge-
gner zu genießen. Der Ringraumer zog an dem treibenden Giantschiff vorbei. Beim Gedanken an die vielen Toten an Bord bekreuzigte sich Bolan. Wenig später kam es zu einer höllischen Explosion. Die MIDNIGHT LADY vibrierte, weitere Schäden hielten sich allerdings in Grenzen. Es gab nur ein paar Leichtverletzte. Die Kreissäge war verschwunden. Vincent! war Bolans erster Gedanke. Auf dich kann man sich wirklich verlassen! Während er Ausschau nach seinem Freund hielt, fiel ihm auf, daß auch der Giantraumer nicht mehr existierte. * Zwei Mädchen aus Germany hatten ihm das Herz gebrochen: Gisela und Monika. Dennoch erinnerte sich der russische Kapitän Mischkin gern an seinen Aufenthalt in der Region Deutschland. Dort hatte er sich immer sauwohl gefühlt – seit seiner Versetzung nach Grah fühlte er sich nur noch wie Sau. Den Kugelraumer, der seinem Kommando unterstand, hatte er GISMO getauft. Gis stand für Gisela, Mo für Monika. Wenn er schon nicht in den Armen der beiden liegen durfte, wollte er sie wenigstens ständig um sich herum haben. Nun begleiteten sie ihn sogar bis in den Tod. Mischkins Schiff war von mehreren Treffern schwer beschädigt worden. Die meisten Systeme waren ausgefallen. Und was noch schlimmer war: Er war der einzige Überlebende an Bord. Die Grakos waren teils hier im Schiff, teils in einem Beiboot, mit dem sie sich hatten absetzen wollen, umgekommen. Die GISMO trieb steuerlos im All, mitten im Kampf geschehen. Offensichtlich glaubten die Invasoren, es sei keiner an Bord mehr am Leben, weswegen sie auf eine komplette Zerstörung des angeschlagenen Kugelschiffes verzichteten. Es stellte keine ernsthafte Gefahr mehr für sie dar, trotz der noch vorhandenen Restenergie, die sie
sicherlich angemessen hatten. In der Tat war Mischkin mehr tot als lebendig. Schwer verletzt wartete er auf sein Ende. Wie lange würde es wohl noch dauern? Minuten? Stunden? Angst verspürte der Kapitän keine. Nur Zorn und Enttäuschung. Er hatte stets gehofft, eines Tages mit einem Knalleffekt aus dem Leben zu scheiden. Und nun vegetierte er in seinen letzten Augenblicken still vor sich hin, ohne daß ihm noch jemand Beachtung schenkte. Die Sauerstoffzufuhr schien allmählich den Geist aufzugeben. Mischkin fiel das Atmen immer schwerer, und er verspürte eine bleierne Müdigkeit in den Knochen. Wie in Trance schleppte er sich ans Kommandopult. Auf einem flackernden Bildgeber, der noch halbwegs funktionierte, verfolgte er die Geschehnisse draußen mit. Dort floh ein beschädigter S-Kreuzer der TF vor einem der bizarren Fremdraumer. »Wenn ich nur eingreifen könnte«, murmelte Mischkin. Mit zittrigen Fingern betätigte er ein paar Schalter. Seine Absicht war, die gesamte noch vorhandene Energie auf den Antrieb zu konzentrieren. Falls es ihm gelang, das Schiff im richtigen Moment in Bewegung zu setzen und den Kampfraumer der Fremden zu rammen, verschaffte er dem Kommandanten des S-Kreuzers vielleicht einen kleinen Vorsprung. Mehr konnte er nicht für ihn tun, doch das war allemal besser als tatenlos zuzusehen. Der Ringraumer entfernte sich. Sein Verfolger holte allmählich auf, wobei er keine besondere Eile an den Tag legte. Kurz darauf war er mit der GISMO auf gleicher Höhe. Jetzt! Zum letzten Mal in seinem Leben betätigte Kapitän Mischkin einen Sensorschalter am Pult in der Zentrale eines Raumschiffs. Die verbliebene Restenergie floß jetzt in die Antriebsaggregate. Der Giantraumer setzte sich ruckartig in Bewegung, machte einen langen Satz nach vorn. Gleichzeitig verlöschten an Bord alle Lichter
und Kontrollampen. Mischkins Aktion versetzte der GISMO sozusagen den Todesstoß. Er schloß die Augen. Gleich würde das Schiff am Schutzschirm des Feindraumers zerschellen. Eigentlich hätte das bereits passieren müssen, ging es ihm durch den Kopf. Wieso dauert das so la…? In diesem Augenblick wurde es ewige Nacht um ihn. Die Hitze der Detonation spürte er nicht mehr. Entgegen Mischkins Erwartungen war die GISMO nicht gegen den Schutzschirm geprallt, sondern durch ihn hindurchgerast. Beim Zusammenstoß waren dann beide Schiffe explodiert und hatten den russischen Kapitän in den Tod geschickt. Hauptmann Santini würde sein Faß Bier allein austrinken müssen. * Die Kriegstaktik der Invasoren war denkbar einfach. Sobald eines ihrer Schiffe in Gefahr geriet, eilten ihm weitere Schiffe zu Hilfe und machten gnadenlos Jagd auf die Unsichtbaren. Daß auch ihre Gegner keinen Kameraden im Stich ließen, bekamen die Fremden zu spüren, als sie Captain Gene Bolan und Captain Mark Vincent in die Enge trieben. Obwohl die BALLAD OF LUCY unter Tarnschutz stand, wurde sie von den vier Verfolgerschiffen eingekreist; offenbar verfügten die Besatzungen über einen ausgezeichneten Spürsinn. Noch verfehlten die Kompri-Nadelstrahlen Vincents Schiff knapp, doch sie kamen immer näher. Sollte er einen Durchbruch riskieren? In diesem Moment schlugen aus Wuchtkanonen abgefeuerte Tofiritgeschosse in die Schutzschirme der Verfolger ein. Acht S-Kreuzer nahmen sich die Kampfraumer der Fremden vor und stellten den Beschuß erst ein, als nichts mehr von ihnen übrig war. Derweil leistete die POINT OF der MIDNIGHT LADY Beistand. Mit einem gezielten Treffer belastete sie den Karoschirm des Kreis-
sägenschiffs bis hart an die Grenze. Das kreuzförmige Muster zeigte sich. Leider war kein zweiter Ringraumer zu Stelle, um mit seinem Feuer die Belastungsgrenze des gegnerischen Schirms zu überschreiten. Plötzlich setzte sich die GISMO aus dem Stand heraus in Bewegung, mit steigender Geschwindigkeit. Dhark war das treibende Schiff nicht entgangen, doch wie alle anderen hatte auch er geglaubt, die Insassen seien tot. Rochard war genauso verblüfft wie sein Kommandant. Vielleicht war das der Grund, warum er den Schuß verriß und den Karoschirm nicht voll erwischte. Dennoch geriet der Schirm ins Flackern, wurde durchlässig… Das war der Moment, in dem Kapitän Mischkins Kugelraumer durch den Schutzschirm hindurchraste und mit der Kreissäge zusammenstieß. Die Folge war eine gewaltige Explosion. Die Besatzung der MIDNIGHT LADY wurde mittels Flash evakuiert und auf mehrere Raumschiffe verteilt. Gene Bolan fand »Asyl« auf der BALLAD OF LUCY. »Tut mir leid um deine Suppenschüssel«, hieß ihn sein Freund an Bord herzlich willkommen. »Ich bin sicher, die TF stellt schon bald einen neuen Raumer unter dein Kommando. Vielleicht kriegst du dann endlich ein richtiges Schiff.« * Viele Stunden waren vergangen, seit die Terranische Flotte im Gerrck-System eingetroffen war. Drei Ovoid-Raumer und vier S-Kreuzer hatte sie inzwischen einbüßen müssen – vernichtet von einer Waffe, die Arc Doorn als Kompri-Nadel bezeichnete. Elf weitere Ringraumer hatten schwere Treffer eingesteckt und waren nicht mehr voll einsatzfähig. Aber auch der unbekannte Feind hatte Federn gelassen, und zwar nicht zu knapp. Vierunddreißig der bizarren Schiffe gab es nicht
mehr. Hinzu kamen acht, die schwer beschädigt waren. Ren Dhark hatte mit weniger Widerstand gerechnet. Jetzt befürchtete er eine verlustreiche Raumschlacht, bei der am Schluß nur noch vereinzelte Schiffe übrigbleiben würden – die letzten Figuren auf einem leergefegten kosmischen Schachbrett. Dann jedoch geschah etwas, das er unmöglich hatte vorausahnen können: Die Fremden räumten das Feld. Obwohl ihre Siegeschancen nicht besser und nicht schlechter waren als die ihrer unsichtbaren Gegner, brachte sich die fremde Flotte plötzlich und unerwartet in Sicherheit. Ihre beschädigten Kampfschiffe wurden jeweils von fünf, sechs anderen in Schlepp genommen. Kurz darauf verschwand die gesamte Invasorenflotte in einer »sanften« Transition, welche an die Technologie der Nogk erinnerte. Der Wiedereintrittspunkt ließ sich trotz gemeinschaftlicher Bemühungen mehrerer Ortungsabteilungen nicht anmessen. Ren Dhark war sprachlos, verwirrt. Viel Zeit zum Wundern nahm er sich allerdings nicht. Es lag noch eine schwierige Aufgabe vor ihm. Laut den Informationen, die von Terra Command an die Terranische Flotte weitergeleitet worden waren, richteten die Beiboote und Kampfroboter der Fremden ein blutiges Chaos auf Grah an. Jemand mußte sie stoppen. Sowohl die POINT OF als auch die Ovoid-Ringraumer waren mit Flash bestückt. Die Piloten der wendigen Boote machten sich kampfbereit.
16. Alamo Gordo, Terra Es war fast Mitte Mai – und entschieden zu kühl für diese Jahreszeit. Tief hingen dicke graue Wolken über Alamo Gordo. Das trübe Wetter entsprach Roy Vegas’ Verfassung. Er schob den Ärmel seiner Uniform zurück und sah auf das Chrono an seinem Handgelenk. Es war kurz nach acht Uhr. »Hmm«, brummte er verdrossen. »Noch nicht mal richtig hell!« Letzteres war übertrieben, auch wenn die Sonne nicht zu sehen war. Hinter ihm hob sich laut rumorend der schwere Jett mit den Insignien der Terranischen Flotte auf seinen grauen Flanken vom Boden und reihte sich gekonnt in den fließenden Verkehr der Luftkorridore ein. Vegas sah dem Gefährt einen Moment nach, dann hatte er es in dem Gewimmel aus den Augen verloren. Eine Wolkenlücke machte ein paar der riesigen Wohnkugeln sichtbar, die auf ihren achtzig Meter dicken Stielen mehr als einen Kilometer hoch in den Himmel ragten. Alamo Gordo, am Westabfall der Sacramento Mountains gelegen, war, wenn man so wollte, die jüngste und zugleich modernste Stadt der Erde. Vor einigen Jahrzehnten war sie bekannt geworden als das Zentrum für streng geheime militärische Forschungen. Noch viel früher war sie Handelszentrum eines riesigen Viehzuchtgebietes im südlichen Neu-Mexiko gewesen. Ihre Nähe zum größten Raumhafen Terras, Cent Field, hatte sie mehr und mehr an Bedeutung gewinnen lassen. Aber erst die nahezu vollständige Zerstörung World Citys durch die Giants ließ sie zum neuen Regierungssitz der Menschheit werden. Inzwischen hatte Alamo Gordo, »die größte Stadt Terras mit dem kleinsten Grundriß«, wie sie im Volksmund auch apostrophiert wurde, World City an Bedeutung und Einwohnerzahl längst überflügelt. Gigantische Verwaltungshochhäuser, riesige Versorgungs-
einrichtungen, hypermoderne Verkehrsmittel aller Art und gewaltige Wohnmaschinen nahmen die unaufhörlich wachsende Bevölkerung auf. Vegas’ Blicke wandten sich wieder naheliegenderen Problemen zu, als er die Fassade des hochaufragenden, schmucklosen Betonblockes mit seinen über vierzig Etagen betrachtete, in dessen obersten Stockwerken die terranische Sternverwaltung zu finden war. Unbewußt zog er die Schultern hoch, sah wieder auf die Uhr. Acht Uhr vierzehn. Es half nichts, Eile war angesagt. Der Termin mit Marschall Bulton rückte unaufhaltsam näher. Wenn er sich nicht sputete, konnte es gut sein, daß er sich gleich zu Beginn mit einer Verspätung in ein schlechtes Licht rückte. Ihm war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, sich in Kürze dem Oberbefehlshaber der terranischen Raumflotte gegenüberzusehen, ohne zu wissen, was dieser von ihm wollte. Bultons Büro hatte sich da sehr bedeckt gehalten. Entschlossen straffte Vegas die Schultern und setzte sich in Bewegung. Mit raumgreifenden Schritten überquerte er den Vorplatz und steuerte auf das »Allerheiligste« Terras zu. Der böige Wind zerrte an seiner Uniform und an dem kurzen, grau melierten Haar. Die automatischen Türen glitten zur Seite. In der Eingangshalle führten flache Stufen zwei Meter höher in das eigentliche Atrium. Vor einer transparenten Barriere endete dann aber auch schon wieder der frei zugängliche Besucherbereich. Der energetische Vorhang war eine Garantie dafür, daß hier niemand unbefugt eindringen konnte. Mehrere Sicherheitsschleusen, bewacht von Kampfrobotern, sorgten für einen reibungslosen Verkehr. Eine Vorsichtsmaßnahme, die seit den Anschlägen der hochtechnisierten robonischen Terroristen auf Einrichtungen Terras getroffen und seitdem beibehalten worden war. Das Schaltzentrum der terranischen Administration konnte nur betreten, wer entsprechende Zugangsberechtigungen oder zeitlich begrenzte Legitimationen besaß. Im inneren Sicherheitsbereich orientierte Vegas sich an den Logos
und Piktogrammen. Ein rundes Dutzend Antigravs und Turbolifts mündeten in das Atrium, das sich über drei Stockwerke erstreckte. Das Geräusch der vielen Menschen, das Wirrwarr zahlloser Unterhaltungen, die ständig wechselnden Hologramme unterschiedlichster Anzeigen konnten unsicher machen. Hier liefen die Fäden aus sämtlichen Gegenden des terranischen Einflußbereichs in der Milchstraße zusammen. Vegas betrachtete angelegentlich die Fesseln einer weiblichen Ordonnanz, die wenige Schritte vor ihm ging. Dann bestieg er den Antigrav, den er in der neununddreißigsten Etage verließ. Mit einem kurzen Blick orientierte er sich; es hatte sich seit seinem letzten Besuch hier nichts verändert, nichts Wesentliches jedenfalls, wie er fand. Seine Schritte hallten, als er sich zielstrebig in Bewegung setzte und gleich darauf das Vorzimmer des Oberbefehlshabers der terranischen Flotte betrat. An die weibliche Ordonnanz, die den Eingang zu Bultons Reich bewachte, hatte er keine Erinnerung. »Was kann ich für Sie tun, Sir…?« Sie musterte den hochgewachsenen Besucher. Taxierte in Sekundenbruchteilen die kräftige Gestalt, das markante Gesicht mit den wachen, blauen Augen. Und entspannte sich. Keine potentielle Gefahr. »Roy Vegas«, sagte er lapidar. »Ich habe einen Termin.« Die junge Frau im Rang eines Leutnants trug ihr blondes Haar kaum länger als drei Zentimeter; es lag glatt und glänzend am Kopf an. Unter der Uniform sah man, daß sie eine muskulöse, durchtrainierte Figur besaß. Sie bot den Anblick eines geschmeidigen Raubtiers. Sicher war sie in der Lage, einen Gegner binnen Sekunden nur mit bloßen Händen außer Gefecht zu setzen. Ob sie Marschall Bultons persönliche Leibgardistin war? Vegas grinste innerlich. Vermutlich, spann der den Faden weiter, war sie sogar eine Angehörige der Terra Defence Force. »Acht Uhr dreißig.« Die junge Frau nickte jetzt. Sie schien Bescheid zu wissen. Über den Termin – und über ihn. »Der Marschall erwartet
Sie bereits, Kapitän Vegas.« Sie stand geschmeidig auf – Raubtier, dachte Vegas wieder – und öffnete eine Doppeltür links von ihr. »Bitte«, sagte sie auffordernd und trat etwas zur Seite. Vegas nahm nicht den Hauch eines Parfüms wahr, als er an ihr vorbei in den Raum trat. Es war exakt acht Uhr dreißig. Er war auf die Sekunde pünktlich. * Salutierend legte Vegas die rechte Hand an die Schläfe und sagte steif: »Ich begrüße Sie, Marschall.« »Guten Morgen.« Bulton grüßte mit einem fadendünnen Lächeln zurück. Die Reserviertheit Vegas’ schien ihn auf eine nicht erkennbare Art zu erheitern. »Verdammt mieses Wetter, das Sie da mitbringen, Captain.« Vegas schwieg auf diese Feststellung. Bulton hatte auch keine Antwort erwartet. Er zeigte auf einen der Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. »Setzen Sie sich. Kaffee? Tee?« Sein Tonfall war nicht dazu angetan, die Frage zu bejahen. Roy Vegas lehnte deshalb dankend ab und nahm Platz. Ted Bulton legte die Fingerspitzen zu einer Pyramide zusammen. Das Bild seines Oberkörpers wurde von der polierten Fläche des Arbeitstisches zurückgeworfen, auf dem die Benutzerschnittstellen für den Zugriff auf das Suprasensornetzwerk der Flotte deaktiviert waren. Mit einem fast inquisitorischen Blick musterte er seinen Besucher. »Sie sehen besser aus, als ich dachte.« Vegas verzog keine Miene, als er entgegnete: »Fehlt nur noch, daß Sie sagen ›für Ihr Alter‹.« Äußerlich bot Vegas das Bild eines Mannes von 77 Jahren – der Captain war 1985 geboren –, mit allen Merkmalen, die dieses Alter von der menschlichen Natur forderte. Aber nun gehörte man in einer Zeit, in der das menschliche Durchschnittsalter inzwischen hundert
vierzig Jahre betrug, mit Siebenundsiebzig schon lange nicht mehr zum alten Eisen, wenn auch bei Roy Vegas die Dinge ein wenig anders lagen. Genaugenommen war er auf geistiger Ebene nicht älter als neunundzwanzig Jahre, und das lag darin begründet, daß er als Kommandant der ersten Marsexpedition 2011 während einer Solomission zu den Eisfeldern des Marsnordpols spurlos von der Bildfläche verschwunden war. Obgleich die anderen drei zur Marsmission zählenden Astronauten eine intensive Suche nach ihm in die Wege geleitet hatten, war er unauffindbar geblieben. Notgedrungen mußten sie deshalb ohne ihren Kommandanten die Heimreise antreten, als sich das Zeitfenster zu schließen begann. Vegas galt als verschollen. Und blieb es. Man wartete noch einige Zeit, ehe man ihn für tot erklärte. Eine verständliche, dennoch voreilige Maßnahme. Vegas war nicht tot, sondern in die Gewalt des »Einsamen« geraten, eines intelligenten, verstandesbegabten Rechners, der ihn überwältigte, als er in die im Marsboden verborgene Kaverne eines selbst heute noch unbekannten Robotervolkes eingedrungen war, die er während seiner Exkursion entdeckt hatte. Siebenundvierzig endlose Jahre verbrachte er so in einem Tank voller Nährlösung als »Gesprächspartner« einer von Langeweile heimgesuchten künstlichen Intelligenz. Zwar bei Bewußtsein, aber unfähig, sein Wissen zu erweitern beziehungsweise an Lebenserfahrung zu gewinnen. Wie sollte er auch. Nichts drang von außen in sein reduziertes Leben ein. Die gesamte weitere Entwicklung der Menschheit vollzog sich ohne ihn. Nichts bekam er mit, weder die Gründung der ersten Marskolonie 2022 noch den am 21. Mai 2051 erfolgten Start des Kolonistenraumschiffes GALAXIS. Der Kontakt mit fremden Völkern im All lief ohne ihn über die Bühne. Selbst die Giant-Invasion »verschlief« er so nebenher. Der einzig positive Aspekt daran war, daß er während seiner unfreiwilligen Symbiose mit der Maschine ein unübertroffenes Einfühlungsvermögen in die Arbeitsabläufe komplexer Rechner und in die Denkvorgänge künstli-
cher Intelligenzen entwickelte. »Ich werde mich hüten«, erklärte Bulton jetzt und sah Vegas mit einem ironischen Funkeln in den Augen an. »Sie sind so schon eingebildet genug, Captain.« »Das ist, gelinde gesagt, eine Verdrehung der Tatsachen«, sagte Vegas schlicht. Ted Bulton runzelte für einen Moment die Stirn über das Ausmaß von Bescheidenheit, das sein Besucher an den Tag legte. Dann atmete er tief durch und zuckte mit den Schultern. »Wissen Sie, daß Sie ein Problem für uns sind, Captain?« Es war typisch für den Marschall, der nach Dan Rikers Demission zum Oberbefehlshaber der Terranischen Flotte aufgestiegen war, sich nicht mit höflichen Floskeln aufzuhalten. Vegas blieb schweigend sitzen und wartete. »Und wollen Sie wissen, warum?« »Sie werden es mir vermutlich gleich sagen, Sir«, erwiderte der Captain hölzern. Das ließ sich unerfreulicher an als erwartet! »Weil ein fast 77 Jahre alter Captain schädlich für das Image der Flotte ist«, fuhr Bulton mit brutaler Offenheit fort und lächelte freudlos. »Kommen Sie, Chef«, sagte Roy Vegas nun mit der gleichen Härte in der Stimme. »Dagegen hätte man längst etwas machen können.« »Sie meinen Beförderung?« Bulton bemühte sich um Sachlichkeit, trotzdem erschien über seiner Nasenwurzel eine Unmutsfalte. »Zum Beispiel«, Vegas nickt. »Sind Sie nicht auch der Meinung, daß sie überfällig ist? Wie lange will man mich noch schmoren lassen?« Die Temperatur im Raum schien schlagartig um einige Grade zu fallen. Marschall Bulton stand brüsk auf, stellte sich mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor die Panoramascheibe und starrte hinaus auf die unverwechselbare Silhouette von Alamo Gordo mit den charakteristischen Stielbauten, deren Spitzen mit den gewaltigen Wohnkugeln nur schemenhaft in den wenigen Wolkenlücken aus-
zumachen waren. Es schien, als wäre der Oberbefehlshaber der terranischen Flotte von dem Anblick so gefesselt, daß er den Mann in seinem Rücken vergessen hätte. In Wirklichkeit beschäftigte er sich ausschließlich nur mit ihm, aber das würde er Vegas gegenüber niemals zugeben. Wie er auch sonst einiges, was den Mann betraf, nicht äußern würde. Er konnte ihm vor allem nicht sagen, daß es der Commander der Planeten, Henner Trawisheim, selbst war, der darauf bestanden hatte, Vegas von einer Beförderung vorerst auszuschließen. Und nur er, Bulton, kannte den wahren Grund dafür: Trawisheim stieß sich daran, daß sich Vegas zusätzlich zu seinem Sold jährlich eine Million Dollar auszahlen ließ. Der Marschall war versucht zu lachen. Eigentlich war Henner Trawisheim selbst für diesen pekuniären Treppenwitz der Geschichte verantwortlich. Hatte er Vegas doch nach dessen Befreiung im Jahre 2058 durch den Roboter Artus und der Rückkehr zur Erde gefragt, was er sich denn am sehnlichsten wünschte nach der langen Zeit der Gefangenschaft. Vielleicht hätte er diese Frage besser nicht gestellt. Vor allem nicht vor den vielen Zeugen während des Banketts, das man zu Vegas’ Ehren gegeben hatte und das von den Medien über die ganze Erde ausgestrahlt worden war. Der »Marsianer« jedenfalls hatte die Gelegenheit augenblicklich beim Schöpfe gepackt und zu seinem Vorteil umgemünzt, als er in aller Bescheidenheit um nichts mehr bat, als um sein ausstehendes Gehalt und dabei geltend machte, daß er schließlich 47 Jahre lang für die Erde im Einsatz auf einem fremden Planeten gewesen sei. Trawisheim hatte zugesagt, zu schnell zugesagt, wie er erkennen mußte, denn angesichts von Vegas’ damals schon hohen Bezügen und unter Berücksichtigung aller vertraglich vereinbarten Zulagen sowie den marktüblichen Zinsen und Zinseszinsen war dabei unter dem Strich eine dreistellige Millionensumme herausgekommen. Es war dieser Moment gewesen, den Ted Bulton nie mehr in sei-
nem Leben vergessen würde. Hatte er doch zum ersten Mal erleben dürfen, wie Henner Trawisheims viel und gern gerühmte Selbstbeherrschung bröckelte wie alter, verwitterter Putz und sein Gesicht eine ungewohnte Blässe zeigte. Roy Vegas hatte dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt, indem er Trawisheim gegenüber verkündete, auch mit einer jährlichen Ratenzahlung von einer Million einverstanden zu sein, wenn er dafür das Kommando über ein Raumschiff bekäme. Innerlich zähneknirschend, nach außen hin jedoch lächelnd hatte ihm Trawisheim versichert, daß er mit dieser Regelung würde leben können – und das Aushängeschild der Flotte zum Kommandanten eines 50-Meter-Kugelraumers verdonnert, eines Patrouillenschiffs namens SPECTRAL. Ohne Beförderung. Vegas war noch immer Captain. Aber das würde sich jetzt ändern… Abrupt drehte sich Marschall Bulton um, legte beide Hände flach auf die Schreibtischplatte und musterte Vegas eindringlich. »In Ordnung«, begann er. »Um es auf den Punkt zu bringen, Sie haben Ihre Beförderung!« Er warf sich wieder in seinen A-Gravsessel und aktivierte eine der in die Platte eingelassenen Audioschnittstellen zum Rechner. »Trawisheim hätte Sie vermutlich in Ihrer jetzigen Position als überbezahlter Kurierpilot zwischen den Sternen noch eine ganze Weile schmoren lassen«, fuhr er fort und sah Roy Vegas starr ins Gesicht, »zumal Sie in gewisser Weise nicht ganz unschuldig daran sind. Halt, sagen Sie nichts«, stoppte er Vegas, als dieser Anstalten machte zu protestieren. »Glücklicherweise konnte ich ihn davon überzeugen, daß Sie sich im Dienst bewährt haben und daß man im Grunde mit einem Aushängeschild der Flotte, das Sie als ›erster Mensch auf dem Mars‹ ja nun einmal sind, so nicht verfahren kann.« Vegas begann zu grinsen. »Das ist genau das, was ich hören wollte, Marschall«, sagte er, »und Sie wissen verdammt gut, wie gern ich das höre. Sie haben das dem Commander der Planeten gegenüber
sicher recht geschickt gemacht.« »Ich bin«, polterte Ted Bulton, »nicht auf Ihre Schmeicheleien erpicht – und gottlob auch nicht darauf angewiesen. Nur zu Ihrer Information: Diese Beförderung haben Sie einzig und allein Ihrem Pflichtbewußtsein als Raumfahrer und Ihrer Loyalität der Flotte gegenüber zu verdanken.« »Sagte ich das nicht?« wunderte sich Vegas. Bulton lachte; diesmal klang es ehrlicher. Dann kam er ohne Umschweife zum Punkt. »Captain Roy Vegas, kraft meines Amtes befördere ich Sie mit sofortiger Wirkung zum Colonel.« Der Marschall hob die Stimme ein wenig und fügte hinzu: »Gegeben am 11. Mai 2062, exakt acht Uhr neunundfünfzig, Alamo Gordo Ortszeit.« Der letzte Satz war für die Suprasensorik bestimmt, die Vegas’ Erhebung in den hohen Dienstgrad für dessen Personalakte protokollierte und seiner Datei jene Daten hinzufügte, die, in einem Chip geladen, es ihm ermöglichten, bei untergeordneten Dienststellen jegliche Sperre zu überwinden und mit entsprechender Befehlsgewalt aufzutreten. Ein übliches Verfahren bei einer Sprungbeförderung. Kurz und schnörkellos. Ebenso kurz wie die Gratulation des Marschalls, der lediglich brummte: »Willkommen an Bord, Colonel Vegas.« »Danke, Sir. War’s das?« Vegas machte Anstalten, sich zu erheben. »Bleiben Sie sitzen, Colonel!« Eine knappe Handbewegung von Ted Bulton bannte Vegas an seinen Platz. »Aber haben Sie mich nicht deshalb hierher beordert?« »Nein… ja. Verdammt, natürlich auch deswegen. Aber nicht nur«, erklärte ihm Bulton. »Ich höre«, sagte der frischgebackene Colonel mißtrauisch. »Gleichzeitig mit Ihrer Beförderung übernehmen Sie das Kommando über die ANZIO.« »Sollte ich die Dame kennen?« »Ich lache später«, knurrte Bulton bärbeißig. »Die ›Dame‹, wie Sie zu formulieren beliebten, ist ein Ovoid-Ringraumer der Rom-Klasse.
Sie bekommen eines der modernsten Schiffe der Menschheit in die Hände, Colonel Vegas. Was ist…?« erkundigte sich der Marschall, als er Vegas’ Miene sah. »Sie scheinen nicht gerade von Begeisterung gebeutelt zu sein. Was haben Sie?« »Ich weiß nicht…« Vegas zog eine Grimasse. »Vermutlich werde ich vor Einsamkeit umkommen. Wissen Sie, ein supermodernes Raumschiff von nicht unerheblicher Größe, das lediglich sechs Mann Besatzung braucht, das ist nicht so mein Ding. Ich werde mich in den Korridoren und Räumen verlaufen.« »Gemach, Colonel«, beschwichtigte Bulton, »das werden Sie nicht… vor Langeweile sterben, meine ich. Das kann ich Ihnen jetzt schon versprechen.« Er schwieg kurz. »Natürlich lassen sich die neuen Ringraumer bereits mit einer Besatzung von nicht mehr als sechs Leuten fliegen«, fuhr er dann fort, »die Betonung liegt jedoch auf ›lassen‹. Aber ganz so einsam wird Ihr Dienst nicht verlaufen, seien Sie versichert.« Plötzlich schmunzelte der Marschall. »Zu Ihrer Information, die ANZIO ist ein Schulschiff, auf dem Sie zusammen mit einer Stammbesatzung von 50 Mann 200 Kadetten ausbilden werden. Also keine Spur von Einsamkeit und unendlichen Weiten. Sie werden vermutlich rund um die Uhr gefordert sein.« Vegas ranzelte überrascht die Stirn und warf Ted Bulton einen raschen Blick zu. »Zweihundert Kadetten…?« »Exakt, Colonel«, bestätigte der Marschall, nun wieder ernst. »Es wird nicht leicht sein. Zweihundert Kadetten. Achtzehn bis zwanzig Jahre alt, also noch etwas jung, vor allem aber unternehmungslustig bis Oberkante Unterlippe. Aber das wird sich unter Ihrer Leitung schnell ändern, da bin ich mir sicher.« Roy Vegas schluckte. »Natürlich«, murmelte er, »wenn Sie es sagen, Chef. Was können die Leute?« »Nichts. Was sollen sie schon können«, erwiderte Bulton schulterzuckend, »sie kommen frisch von der Kallisto-Akademie.« »Sinn und Zweck der Ausbildung?« »Machen Sie Raumfahrer aus ihnen, Colonel.«
»Aye, Sir. In Ordnung. Wenn’s weiter nichts ist…« »Da ist noch etwas, über das Sie informiert sein sollten.« »Ich höre«, sagte Vegas und wurde mißtrauisch. »Auf der ANZIO wird außerdem eine Ausbildungseinheit der Rauminfanterie die Reise mitmachen.« »Soldaten?« »Rekruten«, sagte Bulton leichthin. »Zweihundertfünfzig…« Vegas sah den Marschall starr an, schüttelte leicht fassungslos den Kopf und sagte: »Auf daß mein Haus voll werde… hmm. Wer ist für deren Ausbildung verantwortlich?« »Sekunde, Colonel, Sie werden es gleich erfahren.« Der Marschall drückte einen Knopf unter einem Vipho. Auf dem Schirm war Bultons Vorzimmerdame zu sehen. »Schicken Sie jetzt den Major herein, Tessa.« Die kühle, lässige Stimme antwortete: »Sofort, Marschall.« Es dauerte nur Sekunden, dann öffnete sich die Tür im Hintergrand. Schritte näherten sich. Roy Vegas drehte sich halb um. »Verdammt!« murmelte er verblüfft, als er den Mann erkannte. Es war sein ehemaliger Erster Offizier und Navigator der SPECTRAL, Chester McGraves. Dann verengten sich die Augen des »Marsianers«, als er die Insignien eines Majors der Rauminfanterie auf der Uniform McGraves’ entdeckte. Der dreiundvierzigjährige Schotte, der mit seiner hageren Gestalt und der leicht traurig blickenden Miene Anspielungen auf Cervantes’ »Don Quichote« erlaubte, kam näher und streckte spontan die Hand aus. »Guten Morgen, Skipper… äh… Entschuldigung, Colonel Vegas.« Vegas stand auf; er überragte den Schotten um einen halben Kopf. »Bei meiner Seel’«, sagte er mit einem Grinsen. »Hat man Sie tatsächlich auch die Leiter hinaufgeschubst, I. O. ... ahem, Major! Was sagt man dazu? Seit wann genießen Sie denn bereits die höheren Weihen?« Der Schotte gestattete sich ein etwas verunglücktes Lächeln. »Mein Termin lag eine halbe Stunde vor dem Ihren, Colonel.« Es war Marschall Bulton, der die Begrüßungszeremonie der beiden
beendete, indem er sie aufforderte, wieder Platz zu nehmen. »Ich schaue nur ungern zu anderen auf«, knurrte er, bescheiden, wie er war, und holte eine Flasche sowie drei wuchtige Gläser aus einem Fach seines Schreibtisches hervor. »Begießen wir diesen denkwürdigen Tag erst einmal mit einem Schluck dieses ausgezeichneten Tropfens aus den Hochmooren Schottlands. Einverstanden, Colonel?« »Einverstanden«, erwiderte Vegas und griff nach dem Glas, das Bulton halb gefüllt und ihm zugeschoben hatte. »Sie doch auch, Major, oder?« »Aber immer, Marschall.« Sie tranken. Schweigend zunächst, dann stellte Vegas das Glas zurück und sagte: »Ich nehme an, mit dem Training ist ein fiktiver Auftrag verbunden?« »So in etwa dachte ich es mir«, sagte Ted Bulton unverbindlich. »Geht es nicht ein wenig genauer?« forschte Vegas, und McGraves nickte beipflichtend. »Natürlich, meine Herren. Und das heißt für euch zwei Flottenoffiziere, daß euer Dienst am Morgen des 15. Mai 2062 beginnt. Die ANZIO hat um zehn Uhr an diesem Montag raumklar zu sein. Glauben Sie, daß Sie das schaffen werden?« »Selbstverständlich, Sir«, versicherte der Colonel. »Gar kein Zweifel. Sie können sich darauf verlassen, daß die ANZIO auf die Sekunde startbereit sein wird.« »Und was ist mit Ihnen, Major?« wandte sich der Marschall an McGraves. »Meine Leute, ich und die gesamte Ausrüstung werden an Bord sein«, erklärte ehester McGraves, während seine Miene womöglich noch trauriger wurde. »Ausgezeichnet!« Der Marschall zeigte sich überaus zufrieden. »Die genauen Instruktion über die Mission erhalten Sie dann von Brigadegeneral Clark, der Ihr unmittelbarer Vorgesetzter sein wird. Alles klar?«
»Sekunde, Sir.« Vegas hob die Hand. »Ja, Colonel?« »Kann es sein, daß ich meine fünf regulären Besatzungsmitglieder kenne?« »Bezweifle ich. Seien Sie aber versichert, daß sie alle hervorragende Offiziere sind.« »Davon gehe ich aus«, versetzte Roy Vegas. »Und jetzt«, sagte Ted Bulton und stand auf, »entschuldigen Sie mich. Ich habe noch eine ganze Menge mehr Termine abzuarbeiten.« Die beiden Offiziere standen ebenfalls auf, salutierten und wandten sich zum Gehen. Doch dann drehte sich Roy Vegas noch einmal um. »Marschall Bulton«, sagte er in einem Gefühl der Impulsivität, »ich danke Ihnen.« »Schon gut«, erwiderte Bulton halblaut und räusperte sich verhalten. »War überfällig, würde ich behaupten. Und jetzt – verschwindet endlich.« »Aye, Sir«, sagten Colonel Vegas und Major McGraves unisono.
17. Es war noch früh am Morgen des 15. Mai 2062, als der schwere offene Bodenschweber vom Typ Hispano Suiza Imperial die sechsspurige Schnellstraße an der Abzweigung verließ und sich entlang der Außenbezirke des Zivilraumhafens in Richtung auf den militärischen Teil von Cent Field zubewegte. Die Luft war kühl und frisch. Ein paar Wolken segelten über den ansonsten blauen Himmel. Die Schlechtwetterfront der vergangenen Woche war weiter gezogen in den Norden hinauf. Aber die Temperaturen waren nicht merklich gestiegen. Die Frau hinter dem Steuer fuhr schnell und konzentriert. Ihr Name war Jenna Ferrari, und sie hatte jedesmal nichts Eiligeres zu tun, als festzustellen, daß der Name echt sei. »So echt, wie alles andere an mir«, pflegte sie dann meist im gleichen Atemzug hinzuzufügen. Zumindest tat sie es, als ihr Roy Vegas zum ersten Mal begegnete, was etwa zehn Wochen zurücklag. Ein Tag genügte völlig, um sie einander näherzubringen. Und in der Tat war alles an ihr echt, wie er unumwunden zugeben mußte. Sie war einunddreißig, einssiebzig, blondhaarig, blauäugig, dazu ein voller Mund und üppige Formen. Was sie sonst noch tat, blieb ihm zuerst verborgen. Sie hielt sich in dieser Hinsicht erstaunlich bedeckt, obwohl sie viel und gerne redete. Dennoch hatte er irgendwie mal mitbekommen, daß sie offenbar einen Doktorgrad in Wirtschaftsrecht besitzen mußte und als geschäftsführende Teilhaberin einer augenscheinlich renommierten Anwaltskanzlei in Alamo Gordo über recht viel freie Zeit zu verfügen schien. Außerdem war sie von einer derartigen Offenheit, daß sie selbst Roy Vegas manchmal noch in Verlegenheit brachte. Aber das war kein Wunder, war er doch – bei Lichte besehen – so etwas wie ein Anachronismus in der heutigen Zeit. Ein lebendes Fossil aus der
Anfangszeit des Jahrhunderts. Jenna war da ganz anderes, dachte impulsiv und handelte ebenso. Dementsprechend war ihre Fahrweise. Vor allem, wenn sie in Rage war. So wie im Augenblick. Nein, falsch, korrigierte sich Roy Vegas, der auf dem Beifahrersitz saß und insgeheim um die Unversehrtheit seines brandneuen und sündhaft teuren Bodenschwebers bangte. Jenna war nicht in Rage, sie war »nur« ärgerlich. Sie hatten das Wochenende außerhalb von Alamo Gordo in Vegas’ Landhaus in den Sacramento Mountains verbracht, wo der Colonel Jenna mehr oder weniger behutsam auf seine zukünftige Arbeit vorbereitet hatte. Er hatte vorgehabt, sich noch in dem Landhaus von ihr zu verabschieden. Sie jedoch bestand darauf, ihn zu seinem neuen Arbeitsplatz zu bringen. Inzwischen kannte er auch den Grund ihrer Hartnäckigkeit bezüglich dieses Themas und war gar nicht glücklich darüber. Es schob das Unvermeidliche nur länger hinaus. Der Schweber wechselte die Spur und überholte einen überschweren, silbergrau lackierten AMCO-Transportgleiter, der auf seiner Ladefläche riesige Maschinensätze transportierte. Als der Pilot im Cockpit sah, wer ihn da überholte, betätigte er mehrmals sein Horn. Die Handbewegung, die ihn Jenna sehen ließ, als sie vorbeizog, war nicht sehr damenhaft. Vegas grinste und setzte die dunkle Brille auf; die Straße schwenkte nach Osten, und sie fuhren geradewegs in die Morgensonne. Er betrachtete Jenna von der Seite. Das blonde Haar hatte sie straff in den Nacken zurückgebunden, was ihre hohe Stirn betonte. Sie trug ein enganliegendes, sandfarbenes Leinenkleid, sah noch umwerfender aus als sonst und verbreitete einen Hauch von teurem, jedoch unaufdringlichem Parfüm. Er seufzte unwillkürlich. Ein Laut, der trotz des Fahrtwindes dank des geräuschdämpfenden Kraftfeldes über dem offenen Cockpit zu vernehmen war und die Frau veranlaßte, sich ihm zuzuwenden. Sie
schaute prüfend in sein kantiges Gesicht. »Ist was?« »Was soll sein?« Sie schlug mit der flachen Hand auf das Steuer. »Verdammt, verdammt, Roy Vegas. Du sollst nicht immer meine Fragen mit einer Gegenfrage beantworten. Also?« »Ich schaue dich halt gerne an. Was ist daran verkehrt?« Sie lächelte plötzlich so zärtlich, daß es ihm fast weh tat. »Nichts. Und genau aus diesem Grund verstehe ich deine ablehnende Haltung nicht. Wollen wir nicht noch mal darüber reden?« »Da gibt es nichts mehr zu reden«, erwiderte er brüsker, als er eigentlich beabsichtigte. Sie blieb hartnäckig. »Warum kann ich nicht mitfliegen?« »Ich wiederhole mich nur ungern«, brummte er. »Papperlapapp«, tönte sie burschikos, »schließlich sind an Bord der POINT OF auch Paare.« »Der Vergleich hinkt wie ein lahmer Gaul, liebste Jenna«, machte Vegas ihr klar. »Aber auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ich bin Kommandant eines Schiffs der terranischen Flotte. Die TF ist ein militärischer Verband. Auch wenn ich die oberste Instanz an Bord meines Schiffes bin, kann ich nicht willkürlich Dienstvorschriften nach meinem Gusto auslegen. Die POINT OF hingegen ist ein privates Schiff und Ren Dharks persönliches Eigentum. Es ist ihm unbenommen, seine eigenen Regeln zu setzen. Ist das jetzt klar?« Sie blies empört die Backen auf, beschleunigte den schweren, schneeweißen Imperial, wechselte erneut die Fahrspur, tauchte unter einer Überführung durch und fuhr die Sam-Dhark-Avenue hoch, die für Kilometer am zivilen Teil Cent Fields entlangführte. Ein wunderschöner Maihimmel lag über dem Areal von Hunderten von Quadratkilometern Ausdehnung. Terras Hauptraumhafen war rund um die Uhr ein Tohuwabohu an Rastlosigkeit und Betriebsamkeit. Eine nicht zählbare Vielfalt autarker Laderoboter und suprasensorisch gesteuerter A-Gravpaletten bewegten sich zwischen den
Frachthallen und Handelsraumern. Heerscharen von Angestellten vieler Handelsgesellschaften versuchten, Ordnung in die komplizierten Abläufe zu bringen. Dicht und eng waren die merkantilen Verflechtungen der großen Frachtkontore, die von Terra aus ihre Geschäfte in die bekannte Galaxis trugen. Jenna Ferrari schwieg noch immer beleidigt. Sie schwieg auch dann noch, als vor ihnen der militärische Bereich des Raumhafens auftauchte, aber sie schien wesentlich gelassener. Offenbar hatte sie sich mit der Endgültigkeit von Vegas’ Entscheidung abgefunden. Sie verließ die U-förmige Umleitung, die jeden, der nichts im Stützpunkt der terranischen Flotte zu suchen hatte, wieder zurück auf die Avenue brachte, und tauchte ein in das Gewirr der Abzweigungen. Sie schien ihren Weg zu kennen, was Vegas ein bißchen verwunderte; sie verlangsamte die Fahrt und hielt dann dicht vor der Barriere. Für jeden Zivilisten wäre hier das Ende gewesen. Und der Posten, hinter dem eine Phalanx schweigender Kampfroboter auf einen möglichen Einsatz wartete, war drauf und dran, ihr barsch den rechten Weg zu weisen, ungeachtet ihres strahlenden Lächelns. »Ma’am«, begann er, brach dann jedoch ab und salutierte, als sich Vegas ein wenig aufrichtete, herüberbeugte und seine Legitimation zeigte. Der suprasensorische Abtaster registrierte die ausgestrahlten Impulse, die die Zugangsberechtigung für die Zivilistin verifizierten. »Der Zweck Ihres Besuches, Ma’am?« begehrte der Posten zu wissen, um nicht ganz das Gesicht zu verlieren. »Korporal!« Colonel Vegas räusperte sich drohend, seine Orden und sein neuer Rang erlaubten ihm diese Sperenzchen. Das Vorrecht der Macht. Im Grunde verachtete er das Prinzip, genoß aber die augenblickliche Realität. »Junger Mann, ich fliege für mein Leben gern«, flötete Jenna Ferrari und küßte Vegas schmatzend auf die Backe, »und er bringt es mir bei, in den Weiten des Alls.« »Genau«, dehnte der Colonel todernst, »damit sie nirgends
aneckt.« Sie knuffte ihm in die Seite. »Schuft«, murmelte sie. »Sir…? Ich…« Der Unteroffizier suchte nach der entsprechenden Erwiderung; immerhin hatte er einen hochrangigen Offizier der terranischen Flotte vor sich. »Bleiben Sie ruhig, Korporal«, sagte Vegas. »Sie bringt mich nur zu meinem Schiff. Ich will ja nicht für Ihre weitere Karriere verantwortlich sein, aber wenn Sie uns noch länger aufhalten, gerät der ganze Flottenplan durcheinander. Sie verstehen…?« Der Unteroffizier lief rot an und gab ein hastiges Zeichen – die Barriere löste sich auf. Jennas Fuß drückte den Geschwindigkeitsregler bis zum Anschlag durch. Das Aggregat fuhr schlagartig hoch, und der Schweber machte einen Satz nach vorn. Vegas schwieg, als er sie über das weitläufige Areal des militärischen Teils des Raumhafens dirigierte. In zehntausend Meter Entfernung stand, unsichtbar noch zwischen den Riesen der 400-Meter-Raumer giantscher Fertigung, die ANZIO inmitten eines Pulks neuer Ovoid-Ringraumer. Knappe acht Minuten Fahrt, dann erhob sich die ringförmig geschwungene Wandung der brandneuen, eleganten ANZIO vor ihnen. Der Imperial hielt vor der südlichen Hauptschleuse. Das Schiff ruhte auf seinen 45 Teleskopbeinpaaren, die sich gegen den Spezialbelag des Bodens stemmten. Der Colonel nahm die Sonnenbrille ab und verstaute sie in der Brusttasche seiner Uniformjacke, ehe er aus dem Schalensitz seines Imperial stieg. Nachdem er sein Gepäck in Form eines Packsacks und einer großen Bordtasche auf den Boden gestellt hatte, beschattete er die Augen mit der Hand und blickte in die Höhe. Die schimmernde Hülle des mächtigen Raumschiffskörpers war wirklich beeindruckend. Vegas ertappte sich dabei, daß er fast versucht war zu sagen: Mein Schiff!
Als Vorbereitung zu seinem neuen Kommando hatte Vegas sich intensiv mit den technischen Spezifikationen der neuen Schiffstypen vertraut gemacht. Die Ovoid-Ringraumer der Rom-Klasse durchmaßen 190 Meter. Die Ringröhre war zwar weiterhin 35 Meter dick, doch im Gegensatz zur POINT OF und den herkömmlichen S-Kreuzern 45 Meter hoch, was den Rumpfquerschnitt nicht mehr rund, sondern oval ausbildete. Außerdem gewann man so zwei zusätzliche Decks. Die Innenaufteilung entsprach weitgehend der aller S- oder Ringraumer, die durchgehend acht Decks besaßen, wobei die Zählung von unten nach oben erfolgte. So war Deck Eins folglich das unterste, Deck Acht beziehungsweise Zehn das oberste Deck. Der Colonel hatte sich sehr intensiv mit den Konstruktionsaufrissen der Ovoid-Raumer beschäftigt. In der Nähe der Antriebssektionen waren beispielsweise Deck Eins sowie Acht bis Zehn die einzigen, die unter und über dem Antrieb weiterführten und komplette Ringe bildeten. Die Zwischendecks, also Zwei, Drei, und Vier münden in Deck Eins und zweigten hinter dem Antrieb wieder ab, ebenso die Decks Fünf, Sechs und Sieben, die wiederum in Deck Acht mündeten. Wie alle Ringschiffe besaßen auch die Ovoid-Raumer der Rom-Klasse zwei Hauptdecks: Vier und Fünf. Legte man ein Koordinatennetz über das Schiff, mit einer fiktiven Einzeichnung der vier Himmelsrichtungen, dann lag der Antrieb genau im Süden der Ringröhre, die Zentrale im Norden. Die beiden Hauptdecks verliefen an dieser Stelle nicht mehr zentral, sondern bogen sich zur inneren Wandung in Richtung auf den Mittelpunkt des Ringkörpers. Die Zentrale war sowohl von Deck Vier als auch von Fünf zu erreichen. Ihre Größe lag bei 25 mal 25 Meter, bei einer lichten Höhe von acht Meter. In Höhe von Deck Fünf besaß sie eine Galerie, die einen geschlossenen Ring bildete. Im Osten und Westen von Deck Vier befanden sich die beiden unabhängig voneinander arbeitenden Waffensteuerungen – WS-Ost
und WS-West. Die Intervallwerfer befanden sich auf dem dritten Deck direkt unterhalb der Kommandozentrale. Die Abstrahlantennen waren, gleichmäßig über das gesamte Schiff verteilt, im Metall der Hülle steuerbar und besaßen keinen toten Winkel. Inzwischen waren im Zuge einer Nachrüstung alle Ringraumer mit Kompaktfeldschirmen und je acht Wuchtkanonen vom Kaliber fünf Zentimeter versehen worden – bei den neuen Ovoid-Ringraumern der Rom-Klasse gehörte diese Defensiv-/Offensivbewaffnung zum Standard. Aufgrund der extremen Automatisierung konnten die Ovoid-Ringraumer bereits von einer zweiköpfigen Besatzung geflogen werden. Deshalb waren für den Standardbetrieb im All nur sechs Mann nötig, die sich in drei Schichten abwechselten. Dennoch blieben die Schiffe für eine Stammbesatzung zwischen 50 und 200 Mann ausgelegt und konnten problemlos weitere Passagiere und Wissenschaftlergruppen beherbergen. Insgesamt war ein neuer Ringraumer in der Lage, etwa bei Notfall-Evakuierungen, bis zu 6500 Personen aufzunehmen. In nächster Nähe der Punkte Nord, Ost, Süd und West auf Deck Fünf befanden sich die Quartiere der Mannschaft, die Labors sowie die Medostation. Über A-Gravschächte und Notleitern waren sämtlich Decks zu erreichen. Die voluminösen Fracht- und Laderäume, die Physikabteilung und die vier großen Hauptschleusen lagen auf Deck Eins. Aus dem Innern der ANZIO kam ein dunkles, kaum wahrnehmbares Summen und brachte die Luft leicht zum Vibrieren: Die Antigravaggregate liefen, sicheres Zeichen dafür, daß der Ovoid-Ringraumer startbereit war. Vegas nickte zufrieden und sah auf sein Chrono: neun Uhr zwanzig. Er nickte anerkennend. Offiziere und Mannschaft hatten sich an die Vorgaben gehalten. Jenna war ebenfalls ausgestiegen. Sie blieb dicht vor Vegas stehen und sah zu ihm auf. »Bevor es jetzt melodramatisch wird«, sagte sie mit verhaltener
Stimme, »laß uns rasch Abschied nehmen. Ich werde ein halbes Jahr mehr oder weniger sehnsüchtig warten, Raumfahrer, dann werde ich deinen Wagen in einer Garage unterstellen und darangehen, mich anderweitig zu orientieren.« Er nahm ihr Gesicht in die Hände und sah in ihre blauen Augen. »Ein faires Angebot«, sagte er und nickte. »Ich hoffe, daß meine Mission weniger lang dauert als deine Geduld.« Sie küßten sich. Kurz und heftig. Dann löste sie sich mit einem Ruck von ihm, stieg in den Schweber und fuhr davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Roy Vegas sah ihr nach, bis sie zwischen den anderen Raumschiffen verschwunden war, und ging dann auf die Rampe zu, an deren Fuß ihn zwei Männer erwarteten. Einer trug die Rangabzeichens eines Captains an der untadeligen Uniform, der andere war ein Obermaat. »Willkommen an Bord, Colonel Vegas«, sagte der Captain und salutierte zackig. »Noch bin ich es ja nicht«, ließ Vegas trocken verlauten und erwiderte den Gruß. Sein Blick streifte kurz das Namensschild des Offiziers. »Ist die Einschiffung aller Kadetten abgeschlossen, Captain Monro? Unser Zeitrahmen ist begrenzt!« Captain Olin Monro, 173 Zentimeter groß, 80 Kilo schwer, 38 Jahre alt, schwarzhaarig, war Vegas’ Erster Offizier und Stellvertreter an Bord der ANZIO. Seine grauen Augen unter den buschigen Brauen blickten aufmerksam. »Das Schiff ist startklar, Colonel Vegas. Darf ich Sie an Bord bitten?« »Sie dürfen, I. O., Sie dürfen«, gab sich Vegas leutselig. Der Captain deutete auf das Gepäck. »Merrick, ab damit in die Kabine des Kapitäns!« Sie glitten die Rampe hoch und betraten die hell ausgeleuchtete Hauptschleuse. Vegas’ Augenbrauen wölbten sich, als er sah, was
ihn erwartete. Mannschaftsdienstgrade und Decksoffiziere, überwiegend Bootsleute, hatten sich in der Schleuse versammelt, darunter einige Kadetten. Ein lautes Kommando ertönte. »Achtung! Kapitän an Bord!« Binnen Sekunden formierte sich ein Spalier. Mit unbewegtem Gesicht schritt Vegas durch die Ehrengasse. Nur nicht zeigen, daß dies das erste Mal war. Er würde sich daran gewöhnen müssen. Auch ein Vorrecht der Macht, die er ab sofort an Bord verkörperte. Plötzlich blieb er stehen, wandte sich zum Spalier und faßte einen der Kadetten ins Auge. »Was ist so spaßig, daß Sie grinsen wie ein Honigkuchenpferd, Kadett?« Der junge Mann erstarrte in Habachtstellung. »Sir, ich… wir freuen uns, unter Ihrem Kommando dienen zu dürfen, Colonel, Sir!« »So! Tun Sie das! Grund?« »Sie sind für uns ein Vorbild, wenn ich das bemerken darf, Sir. Jeder Akademieabgänger unseres Jahrgangs beneidet uns, daß wir an Bord der ANZIO unter Ihrem Kommando ausgebildet werden. Sicher werden uns viele Abenteuer erwarten, Sir.« »Hoffen wir, daß Ihre Erwartungen erfüllt werden«, sagte Vegas nicht ohne Sarkasmus, dennoch war er irgendwie gerührt über den Enthusiasmus der jungen Leute, insbesondere dieses Kadetten. »Name?« erkundigte er sich. »Hun… Hunter, Sir!« stotterte der Angesprochene, der sich so plötzlich im Fokus des Interesses seines Kapitäns sah. »Torpedo-Hunter«, murmelte jemand im Rücken des Colonels. Noch bevor der Erste Offizier ein warnendes Räuspern von sich geben konnte, fuhr der Colonel herum. »Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen das Wort erteilt zu haben, Kadett…?« Er wölbte fragend die Brauen. »Mandrake, Timulin Mandrake.«
Das Klima in der Schleuse fiel spürbar um einige Grade. »Also, Kadett Mandrake. Da Sie sich offenbar bemüßigt fühlten, sich einzumischen, erklären Sie mir Ihre Bemerkung?« »Wir nennen ihn Torpedo-Hunter, weil er bei den Mädchen so schnell ist. Eben wie ein Torpedo halt.« Niemand lachte, außer Mandrake. Die Temperatur wurde arktisch. Während die Miene des Ersten Offiziers so beredt wie ein leeres Blatt wurde, sagte Vegas betont: »SIR.« »Wie…?« Kadett Mandrake schien nicht zu merken, daß er eben in jenen Topf getreten war, den man üblicherweise als Fettnapf zu bezeichnen pflegte, nur daß es in seinem Fall schon eine Tonne war. »Es heißt ›Sir‹, ›Kapitän‹ oder ›Kommandant‹, wenn Sie mit mir reden, junger Mann«, sagte der Colonel kalt und lächelte auf eine Weise, die alles andere als freundlich war, »denn ich kann mich nicht entsinnen, Vorschriften gelockert oder außer Kraft gesetzt zu haben. Ich stelle mir vor, daß Sie sich die Passagen im Flottenhandbuch über den korrekten Umgang mit Vorgesetzten noch einmal gründlichst vornehmen. Ich werde mir gestatten, Ihre schriftliche Ausarbeitung zu diesem Thema persönlich zu überprüfen. Glauben Sie, daß Sie das schaffen werden, Kadett Mandrake?« »Selbstverständlich, Sir. Gar kein Zweifel, Kommandant!« »Gut. Danke. Dann verstehen wir uns ja.« Der Colonel wandte sich wieder an seinen Stellvertreter, der schweigend zugesehen hatte. »Kommen Sie, Mister Monro, bringen Sie mich in die Zentrale. Ich bin begierig darauf, den Rest meiner Mannschaft kennenzulernen.« Während sie im Antigravschacht aufwärtsschwebten, lösten sich die wie eingefroren wirkenden Züge des Captains langsam wieder. Vegas warf ihm einen Blick zu. »Fanden Sie meine Reaktion übertrieben, I. O.? War sie zu hart?« Olin Monro schüttelte den Kopf. »Keineswegs, Sir, sie war angemessen. Wissen Sie, Colonel…« »Kapitän genügt«, unterbrach ihn der Kommandant.
»… die jungen Leute haben noch keine rechte Vorstellung davon, was es bedeutet, Disziplin zu üben. Der straffe Ablauf einer militärischen Hierarchie muß erst erlernt werden. Ich weiß, wovon ich rede; dies ist nicht mein erster Einsatz auf einem Schulschiff. Sie, Kapitän, haben jedoch ein besonderes Plus.« Vegas blickte überrascht. »Inwiefern?« »Dieser Hunter hat es auf den Punkt gebracht. Erinnern Sie sich, was er sagte? Sie sind Legende auf der Akademie, der erste Marsastronaut. Man sieht in Ihnen ein Vorbild, dem nachzueifern sich jeder Kadett hier an Bord mit allen Kräften bemühen wird. Die Jungs sehen in Ihnen fast so etwas wie einen Popstar.« »Auch dieser Mandrake?« »Gerade der«, nickte Monro. »Auch wenn er scheinbar nicht den Eindruck macht. Er ist noch etwas zu schnell mit seiner Zunge. Redet erst und denkt dann. Aber das gibt sich. Ich kenne Absolventen wie ihn.« »Hmm«, sagte Vegas halblaut und auf eine gewisse Weise verlegen. »Dies ist, wenn ich’s recht bedenke, eine nicht unerhebliche Bürde. Es macht mir die Arbeit mit Sicherheit nicht einfacher.« Der I. O. lächelte unbestimmt. »Keineswegs, Kapitän. Keineswegs.« Zwei Minuten später betrat Roy Vegas den voll besetzten Hauptleitstand der ANZIO über den Haupteingang auf Deck Vier. Neben ihm holte Olin Monro Luft und sagte laut und für alle vernehmlich: »Achtung. Kommandant auf der Brücke!« Für einen Augenblick schien die Stille mit den Händen greifbar, zumindest empfand es Roy Vegas so, dann war die Zentrale wieder von ihren typischen Arbeitsgeräuschen erfüllt. Seine forschenden Blicke glitten über die abgeschrägten, halbkreisförmigen Konsolen mit ihrem Kaleidoskop von Lichtern, Instrumenten, Datensichtgeräten, Bildschirmen und Monitoren, die einen sinnverwirrenden Anblick für jeden boten, der zum ersten Mal die Zentrale eines Ringraumers zu Gesicht bekam.
Die große Bildkugel, die beim Start des Ringraumers automatisch über der Hauptkonsole erschien, war noch inaktiv. An ihrer Stelle waren die fünf großen Zentralbildschirme in Betrieb und boten Ausblicke auf die Umgebung der ANZIO. Roy Vegas, der bis auf wenige Ausnahmen nur die Zentralen von Patrouillenschiffen von innen gesehen hatte, war angesichts der Größe der über zwei Decks reichenden Zentrale der ANZIO beeindruckt wie selten zuvor in seinem Leben. Hier war alles neu und gewöhnungsbedürftig, vor allem neu. Ja, das war das richtige Gefühl. Einen Moment glaubte er, dieses Neue sogar zu riechen, regelrecht zu fühlen. Wie seinerzeit bei seinem Hispano Suiza Imperial, als dieser geliefert worden war… Er rief sich zur Ordnung. Keine Zeit, diesem Gefühl nachzugehen, sah er sich doch von den Anwesenden erwartungsvoll gemustert. »Willkommen an Bord, Kapitän«, sagte ein Mann in der Uniform eines Captains und salutierte. Er sah gut aus, besaß ein gebräuntes Gesicht, ein kräftiges, fast rechteckiges Kinn und tiefblaue Augen unter einem Schopf schwarzer Haare. Vegas wußte außerdem, daß er 34 Jahre alt war. »Danke. Sie sind Captain Godel, mein Zweiter Offizier und Navigator?« »Richtig, Sir.« Die anderen waren: der Dritte Offizier und Ortungsspezialist Captain Kerim Bekian, ein breitschultriger Mann von 35 Jahren, der wesentlich jünger wirkte. Er hatte welliges, blondes Haar; sein Gesichtsausdruck war der eines kompromißlosen Pessimisten. Nummer Vier war Astrogator Captain Ron Nozomi, ein Mann mit einem sympathischen Lächeln und einer kammsparenden Igelfrisur; er war 181 Zentimeter groß und besaß eine athletische Figur. Chefingenieur Captain Dave Gjelstad hingegen wirkte drahtig und zäh. Sein Alter war schwer zu schätzen, aber seine Dienstrolle wies ihn als 41 jährig aus. Er hatte hellgraue Augen, die Vegas bestimmt, aber nicht aufdringlich musterten. Mit den Decksoffizieren, Ingenieuren und
Feuerleitoffizieren, den Wachoffizieren, Stabsbootsleuten und Instruktoren, eben all jenen, die für den reibungslosen Ablauf des Schulungsbetriebs unerläßlich waren, würde er sich intensiver befassen, sobald er sich an Bord etabliert hatte und der reguläre Dienst alltägliche Gewohnheit wat. Vegas nickte. »Klarschiff überall?« fragte er knapp. »Jawohl, Kommandant«, erwiderte der Zahlmeister, ein schon älterer Oberstabsbootsmann. »Was macht Major McGraves’ Rauminfanterie?« stellte er die Frage in den Raum. »Ist vollzählig«, ertönte es im selben Augenblick vom Hauptschott her. Chester McGraves betrat eben die Zentrale, allein, ohne seine Adjutanten. Rasch kam er näher. »Die Männer sind alle an Bord. Waffen, Munition, Ausrüstung ebenfalls. Von uns aus kann’s los gehen, Kapitän.« »Ausgezeichnet, Chester«, stellte Vegas fest. Olin Monro blickte ihn fragend an. »Sir, starten wir?« Vegas hob die Hand. »Noch nicht, I. O. noch nicht.« »Was hält uns davon ab, Sir?« wollte Jay Godel wissen. Vegas konsultierte den Zentrale-Chronometer: fünf Minuten vor zehn Uhr. »Meine Herren«, sagte er nicht besonders laut, »es bestehen noch Unklarheiten über den exakten Auftrag unserer ersten Mission. Ich weiß bislang nur, daß die ANZIO heute morgen Punkt zehn Uhr raumklar sein soll…« »Was sie ist«, ließ Kerim Bekian verlauten. »… und wir dann definitiv unseren Marschbefehl erhalten«, beendete der Colonel mit einer kleinen Unmutsfalte über der Nasenwurzel. Konnte es sein, daß seine Nummer Drei ein wenig übereifrig war? Er beschloß, ein Auge darauf zu haben. Als die Anzeige auf zehn Uhr sprang, meldete sich einer der Funker von seiner Konsole. »Kapitän Vegas, Sichtspruch von der FREDERICKSBURG. Briga-
degeneral Clark möchte Sie sprechen.« »Legen Sie das Gespräch auf meine Konsole«, ordnete der Colonel an. Auf dem Bildschirm zeigte sich das kräftige Gesicht des ehemaligen Colonels und jetzigen Brigadegenerals Clark. Vegas straffte sich unwillkürlich. »Ich begrüße Sie, Brigadegeneral.« Der bullige Clark grüßte knapp zurück, er schien ungewöhnlich ernst. »Kapitän Vegas«, kam seine knappe Anweisung. »Ich erwarte Sie umgehend an Bord meines Schiffes. Nehmen Sie den Transmitter.« Er hatte sich bereits wieder ausgeblendet, noch ehe der Colonel bestätigen konnte. Vegas wandte sich an seinen Ersten. »Mister Monro. Die ANZIO bleibt in Startbereitschaft, bis ich wieder an Bord bin. Das Schiff gehört Ihnen…« * Als Roy Vegas aus dem Transmitter trat, fand er sich auf dem unteren Deck der ebenfalls zweistöckigen Zentrale der FREDERICKSBURG wieder. »Hierher, Colonel Vegas«, rief Brigadegeneral Clark und winkte ihm aus dem doppelten Ring der Hauptkonsole des Kommandoschiffes zu. »Kommen Sie. Ich warte schon auf Sie.« »Wie ich sehe, bin ich noch allein…« Vegas sah sich im hellerleuchteten Leitstand des ebenfalls brandneuen Ringraumers der Rom-Klasse um, während er auf den bulligen, untersetzten Brigadegeneral zuging, dem Weggefährten Frederic Huxleys und Ted Bultons. Clark schien ebenfalls mit einer kompletten Mannschaft von fünfzig Mann zu fliegen; die Konsolen waren überwiegend doppelt besetzt. Eine gewisse Hektik blieb Vegas nicht verborgen. Natürlich. Auch die FREDERICKSBURG stand kurz davor, in den Raum zu
starten. Alles deutete darauf hin. Die Aufbruchsstimmung war nicht zu übersehen. »Sie sind der erste«, bestätigte Clark und reichte Vegas die Hand; sein Händedruck war fest und zupackend. »Aber da kommt auch schon der nächste meiner Kapitäne…« Nacheinander tauchten acht weitere Colonels aus dem Transmitter auf. Zum Teil waren es für Vegas unbekannte Gesichter, ein paar konnte er einordnen. Aber alle ohne Ausnahme Kommandanten von brandneuen Ovoid-Ringschiffen. Sie gruppierten sich um den Brigadegeneral, der sie der Reihe nach miteinander bekanntmachte und sie zu ihren neuen Kommandos beglückwünschte. Dann bat Clark seine Schiffsführer zur Einsatzbesprechung in die Messe. Die Männer nahmen in den geschwungenen Gliedersesseln Platz, die sich um den langen Tisch gruppierten. »Meine Herren«, sagte Clark mit seiner geschulten Stimme, »lassen Sie mich zunächst noch ganz kurz auf die Rolle Colonel Vegas’ in unserer Runde eingehen. Er wurde von Marschall Bulton als Kommandant des neuen Flottenschulschiffes ANZIO ausgewählt. Er ist es, der in Zukunft aus grünen Jungs harte Raumfahrer machen wird, die – hoffentlich«, er gestattete sich ein winziges Lächeln, »einmal selbst Raumschiffe wie die FREDERICKSBURG, die TANNENBERG oder beispielsweise die ANZIO zu befehligen in der Lage sein werden.« Unmittelbar links neben dem Brigadegeneral saß ein etwa fünfzigjähriger Colonel in einer gutgeschnittenen Uniform, die eindeutig nicht aus den Bekleidungskammern der Flotte, sondern von einem Couturier der Fifth Avenue stammte. Das Gesicht des Militärs wirkte wie aus Granit gemeißelt, alles daran war hart, kantig; jede einzelne Falte schien von einem feinen Meißel besonders herausgearbeitet zu sein. Seine Name war Pataki.
Jetzt öffnete er den Mund und sagte in den Raum hinein: »Um diese Aufgabe beneide ich Sie nicht, Colonel Vegas.« Einer der anderen, Vegas erinnerte sich, daß sein Name Jon Bucksbark war, bemerkte halb scherzhaft: »Schau an, schau an! Hat der Marschall also doch noch jemanden gefunden, der sein Steckenpferd reitet.« Dieser Bucksbark schien eine merkwürdige Auffassung von Humor zu haben. Vegas konnte sich irren, aber ihm schien, als meinte der Kommandant der TANNENBERG in Wirklichkeit: »Hat er doch noch einen Dummen gefunden«. Aber noch ehe er diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, übernahm der Brigadegeneral das Wort. Und was er sagte, forderte die uneingeschränkte Aufmerksamkeit aller. »Ich werde«, begann Clark, »etwas weiter ausholen müssen, um Ihnen die augenblickliche Situation in der Galaxis zu schildern. Auch auf die Gefahr hin, unter Umständen bereits Bekanntes darzulegen. Aber im Interesse eines Gesamtbildes ist es vonnöten. Deshalb noch einmal kurz zur Vorgeschichte: Als Ren Dhark aus der Galaxis Orn zurückkehrte, brachte er Informationen mit, die es uns erlaubten, den Bau von Ringraumerwerften in Angriff zu nehmen. Werften, in denen die neuen Ovoid-Ringraumer der Rom-Klasse nach den neuesten technischen Spezifikationen gebaut werden konnten – und nach wie vor gebaut werden…« Der Colonel mit dem harten Gesicht öffnete den Mund: »Soviel ich weiß, haben wir einen Ausstoß von lediglich 50 Schiffen pro Jahr. Warum nicht mehr?« »Weil«, erklärte Clark und lächelte nachsichtig, »Bau, Betrieb und Unterhalt teuer sind, Colonel Pataki. Andererseits sind, und das verbuche ich auf der Positivseite, die neuen Ringraumer erheblich billiger im Unterhalt als S-Kreuzer oder Giant-Beuteraumer, da sie ohne Einbußen an Leistung, Effizienz und Schlagkraft mit einer Besatzung von nur sechs Mann auskommen, wie wir alle wissen. Ein nicht unerheblicher Vorteil, der die Kosten der Mannstunden für den
Einsatz dieser Waffenträger auf ein Minimum senkt. Die Lage ist längst nicht mehr so angespannt, wie sie es vor zwei, drei Jahren noch war«, fuhr Brigadegeneral Clark nach einer winzigen Pause fort. »Und da seit drei Jahren Frieden herrscht, ließen sich auch die Militärausgaben herunterfahren, was zur weiteren Konsolidierung der allgemeinen Wirtschaftslage beigetragen hat.« »Wir können uns also zurücklehnen und die Hände über dem Bauch falten, oder?« Clark grinste sarkastisch zum allgemeinen Gelächter, das dieser Einwurf erzeugte. Dann sagte er feststellend: »Schön wäre es, Colonel Ostoy. Vergessen Sie nicht, was ich hier erläutere, hat sich zugetragen«, er legte die Betonung auf »hat«, »es ist«, und mit einem Mal wurde seine Miene hart und abweisend, »nicht das, was uns vermutlich in nächster Zukunft erwartet.« »Es ist also nicht alles Gold, was glänzt«, meldete sich Roy Vegas zu Wort, der bislang nur zugehört, ansonsten aber geschwiegen hatte. »Und Geschenke sind nicht immer das, was sie scheinen«, warf Colonel Pataki in unpersönlichem Ton ein. Der Kopf des Brigadegenerals ruckte herum, fixierte mit hartem Blick den Kommandanten der PORT REPUBLIC. »Sollte es sich in der Flotte schon herumgesprochen haben?« sagte er in gefährlich leisem Ton. Colonel Pataki hob in einer unbestimmten Geste die Schultern, schwieg aber. Clark schien unzufrieden. An seiner Miene sah man, daß es in ihm arbeitete. »Na gut«, sagte er schließlich, »ich will Sie nicht zwingen, Ihre Quellen preiszugeben, Travis. Aber es scheint so zu sein, daß sich die Menschheit ein Danaergeschenk eingefangen hat.« Jetzt wandte er sich an die anderen Offiziere. »Ich werde Sie nicht im Unklaren darüber lassen, worauf Colonel Pataki offenbar schon Zugriff hat. Es sind Informationen, die den inneren Führungskreis der Flotte besser
noch nicht verlassen, für Sie, meine Herren, aber von Bedeutung sind, um zu verstehen, weshalb wir dieses Experiment unternehmen, das uns hier zusammenbringt.« Clark sprach halblaut und überzeugend – und ging noch einmal in die Vergangenheit zurück. Kaum aus Orn zurück, fühlte sich Ren Dhark von Margun und Sola über den Tisch gezogen, weil er nicht, wie ursprünglich von den beiden Akademiepräsidenten zugesagt, alles technische Wissen der Worgun bekommen hatte. Wie es sich herausgestellt hatte, umfaßten die überlassenen Daten ganz und gar nicht die komplette Worgun-Technologie, sondern nur die Bauunterlagen für die 190 Meter durchmessenden Ovoid-Ringraumer des neuesten Typs der Rom-Klasse mit allen Waffen, Tarnsystemen und Hyperkalkulatoren. Mehr nicht. Obwohl das Kapitel Orn an und für sich abgeschlossen sein sollte, war es Ren Dhark gelungen, Henner Trawisheim bei der Einweihung der neuen Ringraumerwerft das Versprechen abzuringen, eine erneute Orn-Expedition zu genehmigen. Dazu waren die ersten neun brandneuen Ovoid-Ringraumer dem Kommando Dharks unterstellt worden. »War das nicht vor zwei Jahren?« warf Vegas ein. Clark bestätigte. »Stellen Sie sich die Frustration Dharks und des Expeditionskommandos vor, als die gekoppelten Schiffe den Flug einfach von sich aus abbrachen, nachdem ein Fünftel der Strecke in Richtung Orn zurückgelegt worden war…!« Auch einzeln war ein Weiterflug nicht möglich gewesen. Selbst die POINT OF schaffte es nicht. Vorstöße in andere Richtungen waren hingegen problemlos durchführbar. Sobald man jedoch den Kurs in Richtung auf Orn änderte, verweigerten die Schiffe den Dienst. »Offenbar ist uns gleichzeitig mit den Daten für den Bau der Ringraumer auch ein Virus untergejubelt worden, das sämtliche
Hyperkalkulatoren, sogar den Checkmaster der POINT OF, infizierte und einen Flug zurück nach Orn unmöglich macht.« Genaugenommen gab es überhaupt keinen Weg mehr in die Heimatgalaxis der Worgun im Sculptor-Haufen. Weder die suprasensorgesteuerten Ikosaederschiffe, noch die Nogkraumer waren in der Lage, die gewaltige Distanzen von rund zehn Millionen Lichtjahren zu überwinden. »Wir hätten stutzig werden sollen«, bekannte Clark, »als man realisierte, daß sich Römer und Worgun seit Dharks Rückkehr aus Orn nicht mehr in der Milchstraße blicken ließen.« »Kein Kontakt mehr?« wunderte sich Roy Vegas. »Überhaupt keinen«, bestätigte Pataki an Clarks Stelle. »Er ist völlig abgebrochen.« »Es geht das Gerücht innerhalb der Flotte«, warf Colonel Lorson von der SEDAN ein, »daß Terra Nostra und Worgun keine Zeugen haben wollen, auf welche Weise sie Orn von den Zyzzkt zu säubern beabsichtigen.« Lorson erinnerte an einen Leichenbestatter. Groß und hager, trug er eine Miene zur Schau, die jedem klarmachte, daß es nichts Amüsantes im Leben gab. »Trifft das zu?« wandte sich Bucksbark an den Brigadegeneral. »Es ist zumindest nicht ausgeschlossen«, bekannte Clark. »Zuzutrauen wäre es ihnen in der Tat«, ließ sich Isaac Milota von der EBEN EMAEL vernehmen. »Sollte es der Fall sein, wird es ein Schlachtfest in Orn geben…« »Das hauptsächlich durch das von uns an die Römer vermittelte Wissen über die Physik der Schwarzen Löcher ermöglicht wird«, unterbrach Colonel Pataki seinen Kollegen; entgegen seiner Gewohnheit klang seine Stimme völlig gelassen. Sie erörterten eine ganze Weile das Für und Wider dieser Theorie, dann übernahm Clark erneut das Wort. Er sah jeden der Anwesenden der Reihe nach an. »Wir brauchen uns in dieser Runde nicht mehr mit der Vergangenheit zu beschäftigen«, sagte er dann mit leichter Ungeduld in
der Stimme. »Die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme, die wir zu lösen haben, sind es, die uns Kopfzerbrechen bereiten sollten. Mit dem Auftauchen des unbekannten Feindes über Grah, der Heimatwelt der Grakos im Gerrck-System, hat sich die Situation innerhalb der Milchstraße erneut dramatisch gewandelt, meine Herren. Die Prognosen deuten darauf hin, daß wir damit rechnen müssen, früher oder später abermals in einen Krieg verwickelt zu werden.« »Folglich?« warf Vegas ein. »Will man noch einmal versuchen, Orn zu erreichen und weitere technische Hilfe einzufordern.« »Haben wir nicht gerade herausgefunden, daß eben dies unmöglich ist?« Clark rieb sich das Kinn und bedachte den definitiv dienstältesten Raumfahrer in der Runde mit einem nachdenklichen Blick. »Unmöglich ist nichts, es kommt nur auf den Ansatz an.« »Den man jetzt plötzlich gefunden haben will?« zeigte sich Vegas skeptisch. »Nicht plötzlich und nicht jetzt«, erwiderte der Brigadegeneral. »Man hat sich des Problems schon vor einer Weile angenommen, als man allgemein zu der Überzeugung gelangt war, daß uns die Römer – oder Worgun – aufs Kreuz gelegt haben. Ein Expertenteam unter der Leitung von Arc Doorn, Anja Riker und Chris Shanton hat intensiv an der Entwicklung eines Programms gearbeitet, um das unbekannte Virus zu blockieren.« »Mit Erfolg?« wollte Bucksbark wissen. »Das herauszufinden obliegt nun uns. Unser Verband ist dazu ausersehen, bei einem Flug nach Orn das Programm zu testen und zu erkunden, ob der Sculptor-Haufen nach wie vor für uns tabu sein wird. Gelingt es uns, habe ich alle Vollmachten zu Verhandlungen mit den Römern.« »Hmm.« Roy Vegas zeigte sich skeptisch. »Und das soll funktionieren?« »Hoffentlich«, antwortete Clark. »Man ist davon überzeugt, daß
wir es schaffen werden. Ich persönlich hege gewisse Zweifel – aber ich hoffe sehr, daß ich nicht recht behalte. Und nun, meine Herren«, schloß der Brigadegeneral und erhob sich, »lassen Sie uns an die Arbeit gehen. Mir eilt es bemerkenswert. Trawisheim will Ergebnisse. Koppeln des Verbandes in spätestens sechzig Minuten an den vereinbarten Koordinaten.«
18. Der I. O. erhob sich vom Kommandantensessel des Kapitäns, als Roy Vegas in die Steuerzentrale der ANZIO zurückkehrte, und nahm auf dem Kopilotensitz Platz. »War was während meiner Abwesenheit, Mister Monro?« »Keine Vorkommnisse, Kapitän.« »Ausgezeichnet. Klarschiff?« »Jawohl, Sir«, erwiderte der schwarzhaarige Captain. »Gut. Können wir starten?« »Jederzeit. Ziel?« Vegas nannte ihm die Koordinaten des Sammelortes mit dem Rest des Verbandes. Monros Brauen zuckten leicht, als er sie horte; der Treffpunkt lag zehn Lichtminuten jenseits der Bahn des Pluto. »Nicht sehr weit, Kapitän«, meinte er jedoch nur. Vegas grinste leicht. »Gemach, Nummer Eins. Es wird sehr weit werden. Das verspreche ich Ihnen. Können Sie den Start selbständig durchführen?« »Ja. Ich bin auf S-Kreuzer als Pilot ausgebildet worden.« Vegas nickte, als er seine Vermutung bestätigt sah. Er übertrug die Kommandocodes des Antriebs von seiner auf die Konsole des Ersten Offiziers. »Also – starten Sie, Mister Monro!« »Aye, Kapitän.« Olin Monro holte sich vom Tower der Flottenkontrolle Cent Field die Startfreigabe. Fast zeitgleich mit den anderen Ringschiffen hob die ANZIO vom Raumhafen ab. Sie war kaum in der Luft, als anstelle der fünf Zentralbildschirme automatisch die große Bildkugel sowohl über der Hauptkonsole als auch in den wichtigen Nebenzentralen wie Triebwerksraum und Waffensteuerungen erschien. In den anderen Räumen des Schiffes entstanden weitere Bildsphären, wenn auch nur mit einem Durch-
messer von 30 Zentimetern. A-Grav brachte das Ovoid-Ringschiff durch die Lufthülle der Erde. Cent Field sank im Fenster der Bildkugel rasch nach unten weg. In einer Höhe von knapp hundert Kilometern befand sich die ANZIO über der Atmosphäre. »Wir sind im Raum, Kapitän.« »Machen Sie weiter, Mister Monro«, nickte Vegas. Olin Monro betätigte eine Reihe von Schaltungen. Das Flottenschulschiff beschleunigte mit hohen Werten und jagte im lockeren Verband mit den anderen neun Schiffen im flachen Winkel über die Ekliptik des Sol-Systems auf den tiefen Weltraum jenseits der Bahn des äußersten Planeten zu. Die Flächenprojektoren der Ringschiffe erzeugten den nötigen Schub für SLE. Die Intervallfelder blieben deaktiviert, so daß sie eine eventuelle Transition nicht behindern konnten, sollte es sich als nötig erweisen, das normale Raumzeitkontinuum zu verlassen. In den Hecksegmenten der Bildkugeln schrumpfte rasend schnell erst die Erde, dann der Mond zusammen. Vegas schaltete die Rundruf anläge ein. »An alle Stationen. Status?« »Systeme sind aktiviert und empfangsbereit«, meldete sich die Funk-Z. »… keine Vorkommnisse, Kapitän«, kam die ruhige Stimme des Chefingenieurs aus dem Triebwerksraum. Flog ein Ovoid-Ringschiff nur mit sechs Mann, hatte der Chief seinen Platz üblicherweise in der Zentrale vor seinem eigenen Pult. In schnellem Turnus kamen die Klarmeldungen der Stationen herein. Alle relevanten Daten aus den sensiblen Bereichen des Schiffes wurden vom Hyperkalkulator zusätzlich in die Holokugel eingespiegelt, die direkt über der Kommandokonsole schwebte. Roy Vegas nickte zufrieden. Alles lief so, wie er es erwartete. Das Schiff funktionierte mit der Perfektion, die er auch bei seinem schnellen Imperial so schätzte.
Zum Abschluß informierte er die Besatzung über die Mission der ANZIO und des gesamten Verbandes. Er hatte kaum die nötigen Erklärungen abgegeben, als die kleine Flotte auch schon Saturn passiert. Wenig später lag Pluto hinter den Schiffen. Sie stoppten. »Stellen Sie eine Permanentverbindung zur FREDERICKSBURG her und etablieren Sie eine Vernetzung mit den Hyperkalkulatoren aller Schiffe«, wandte sich Vegas an die Ortungs- und Funk-Z. Und an Monros Adresse gerichtet ordnete er an: »Synchronisieren Sie unsere Geschwindigkeit mit der der übrigen neun Einheiten, Nummer Eins.« »Aye, Sir.« »Nummer Drei!« »Kapitän?« »Holen Sie die Rohre herein.« Die Geschütztürme der Wuchtkanonen waren normalerweise immer ausgefahren, mußten aber eingefahren werden, sobald mehrere Schiffe zu einem Zylinder für intergalaktische Flüge zusammengekoppelt wurden. Der Verband vollführte im Weltraum ein auf den ersten Blick kompliziert aussehendes Manöver; wie in einem Chaosballett umkreisten sich die Schiffe, um sich dann zu einem Schlußbild zusammenzufügen. An Bord der ANZIO verfolgten die Besatzung, die Kadetten und Rekruten über die Bildkugeln, wie sich die Ringschiffe zu einer Röhre formierten. Das »Schlußlicht« bildete Colonel Patakis PORT REPUBLIC. Auf ihr dockte die TANNENBERG an, gefolgt von der TSU-SCHIMA, SEDAN und EBEN EMAEL, als nächstes driftete die WATERBERG an ihre Position, dann die PORT ARTHUR, die AUSTERLITZ. Die ANZIO bekam ihren Platz an zweiter Stelle im Verband, direkt unter der FREDERICKSBURG, die sich als krönen-
der Abschluß positionierte. Sämtliche Kommandanten standen untereinander in Kontakt: Jon Bucksbark, Travis Pataki, Nigel Ostoy, Lorson, Isaac Milota und die anderen, nicht zu vergessen Brigadegeneral Clark. Die FREDERICKSBURG an der Spitze übernahm die uneingeschränkte Kontrolle über den Tunnelverband. Für Roy Vegas und die meisten anderen war das Kopplungsverfahren Neuland. Dennoch gelang es auf Anhieb, dank der Unterstützung der jeweiligen Hyperkalkulatoren der Ringraumer. »Kapitän!« Ein Funktechniker hob die Hand. »Rundspruch von der FREDERICKSBURG!« »Öffnen Sie die Phase«, befahl Vegas so ruhig, als befände er sich auf der Terrasse seines Landhauses in den Bergen über Alamo Gordo. »Ist offen, Sir.« Der »Marsianer« richtete seine Aufmerksamkeit auf die Bildsphäre, in der sich binnen Bruchteilen von Sekunden Brigadegeneral Clarks Gesicht überlebensgroß materialisierte – wie auch in den Bildkugeln der übrigen Ringraumer. »An alle Einheiten!« kam seine Stimme über Audio. »Kopplung beendet. Status?« »Sind bereit, FREDERICKSBURG…« Die Bestätigungen der einzelnen Kommandanten liefen im Flaggschiff ein. In rascher Folge… »FREDERICKSBURG – verstanden.« Als die Klarmeldungen aller angekoppelten Module eingelaufen waren, startete Clarks Kapitän den Ringraumer-Zylinder. Der Verband ging auf Sternensog und beschleunigte mit unglaublichen Werten. Die Flächenprojektoren aller gekoppelten Ringschiffe erzeugten ähnlich einem Staustrahltriebwerk eine um das Zigfache potenzierte Schubleistung. Der Kursvektor führte senkrecht nach oben aus der Milchstraßenebene hinaus.
* Zwei Tage waren vergangen. Zweimal vierundzwanzig Stunden. Aufgeteilt in Wachen von jeweils vier Stunden. Das seltsame und doch irgendwie vertraut wirkende Objekt jagte dem Tiefraum jenseits der Milchstraße zu. Auf einem Schirm ohne große Auflösung oder aus weiter Entfernung würde man es als einen Zylinder bezeichnen, einen langen Zylinder, der ringförmige Einkerbungen aufwies. Im Nahbereich jedoch offenbarte sich die wahre Natur des Objektes: Was wie ein kompaktes Gebilde ausgesehen hatte, bestand in Wirklichkeit aus einem Modulverbund von zehn aufeinander gestapelten Ringraumschiffen, deren Brennkreise zu einem einzigen Aggregat von unvorstellbarer Leistung zusammengeschaltet waren. Der dritte Tag war zur Hälfte herum. Roy Vegas saß in seinem Gliedersessel vor der Kommandantenkonsole und hielt einen Becher Kaffee in der Hand; der Inhalt begann langsam kalt zu werden. Sämtliche Systeme im Schiff liefen im verschärften Bereitschaftsmodus: Antrieb. Navigation. Waffen. Ortung. Lebenserhaltungssysteme. Die Langreichweitentaster der Ortung suchten beständig den Leerraum in Flugrichtung nach Echos ab. Für alle Decks des Ringraumers galt Gefechtsalarm. Die Zentrale war voll besetzt. Sämtliche Abteilungen und Stationen arbeiteten mit Überbelegung. Die ANZIO als Flottenschulschiff hatte die Bestuhlung an jeder Konsole, an jedem Pult verdreifacht; Kadetten belegten die Plätze mit Beschlag, um von den erfahrenen Mitgliedern der Besatzung zu lernen. In den Waffenstationen des Ringraumers ließen die Feuerleit-
offiziere kein Auge von ihren Instrumenten. Immerhin befand sich der Tunnelverband inzwischen weit außerhalb der Heimatgalaxis und raste in der Schwärze des tiefen Leerraums dahin, der von einer Sekunde zur anderen mit unerwarteten Gefahren aufwarten konnte. Die erreichbare Höchstgeschwindigkeit, wußte Vegas, betrug mit den gekoppelten Ovoid-Ringraumern der Rom-Klasse das 11,2milliardenfache des Lichts. »Unter« den Ringraumern blieb die heimatliche Milchstraße zurück. In den Bildgebern war deutlich ihre Struktur zu erkennen. Für jemanden, der sich senkrecht zur galaktischen Ebene von ihr entfernte, bot sie den Anblick eines offenen Spiralnebels, mit einem strahlend hellen Zentrum aus Sternen, Nebeln und glühenden Wolken. In ihrer Mitte, im Gebiet Schütze und Schild, der visuellen Betrachtung durch die Absorption der interstellaren Materie entzogen, befand sich das Zentrum der Milchstraße – mitten darin das längst wieder »gezähmte« Super-Black-Hole. Umgeben war es von einer unvorstellbar energiereichen Radio- und Infrarotstrahlungsquelle mit einem Durchmesser von knappen 50 Lichtjahren und etwas mehr als 500 Millionen Sonnenmassen. Außerhalb der heimatlichen Sterneninsel beschleunigte der Koppelverband erstmals auf volle Leistung und erreichte beim Vorstoß in den intergalaktischen Leerraum schon in der Beschleunigungsphase unfaßbare Überlichtwerte. Zwar bewegte sich der Zylinder relativ gesehen mit einer rationell nicht faßbaren Geschwindigkeit, die nur in Zahlen auszudrücken war, dennoch schien er eine kaum wahrnehmbare Fahrt zu machen vor dem dunklen Hintergrund des Alls mit seiner unendlichen Ausdehnung. Schwach reflektierten die Ringsegmente der einzelnen Module den Schein weit, weit entfernter Galaxien und Sterncluster. Vegas’ Blicke richteten sich auf die Schwärze in der Bildkugel. Das Bild des Weltraumes hatte sich gewandelt. Es gab noch Sterne, aber
die waren aufgrund der ungeheuren Entfernung in Flugrichtung zu nadelfeinen Punkten geschrumpft. Angesichts der Dimensionen ihres Vorhabens erfaßte Roy Vegas ein Schauder. Er, für den einmal die Entfernung von der Erde zum Mars eine Reise von Monaten bedeutet hatte, tat sich schwer zu realisieren, daß man eine Distanz von etwa zehn Millionen Lichtjahren in zirka zwei Wochen überwinden konnte. Wie sich die Zeiten ändern, dachte der Colonel und zog eine Grimasse, als ihm die Plattheit dieses geflügelten Wortes bewußt wurde. Ein Geräusch im Leitstand sorgte dafür, daß sich seine Reminiszenzen an die ferne Vergangenheit nach dorthin verzogen. Für den Augenblick zumindest. Er zwinkerte mit den Augen und drehte seinen Gliedersessel in Monros Richtung. »Sagten Sie was, Nummer Eins?« »Orn liegt zehn Millionen Lichtjahre von unserer Galaxis entfernt«, begann der Captain noch einmal. »Kaum vorstellbar, daß Dharks Expedition in der Lage war, diese auf den ersten Blick unüberwindlich klingende Distanz binnen 14 Tagen hinter sich zu bringen.« »Und doch ist es so gewesen«, bekannte Vegas. »Angeblich wäre es noch schneller gegangen, wären da nicht die notwendigen Beschleunigungs- und Abbremsphasen gewesen«, ließ sich der Astrogator vernehmen und strich sich über die Igelfrisur. »Glauben Sie, Sir…« »Glauben heißt nichts wissen, Mister Nozomi«, unterbrach Vegas seine Nummer Vier scharf. Der Captain zeigte sich nicht im mindesten irritiert. »Na gut«, meinte er nur, »formuliere ich einfach anders: Sind Sie der Ansicht, Kommandant, daß wir es schaffen, Orn zu erreichen?« »Hegen Sie Zweifel?« Der athletische Captain hob langsam die Schultern und ließ sie ebenso gemächlich wieder sinken. »Ich weiß nicht… wenn es nicht mal Ren Dhark gelingt, nach Orn vorzudringen, weshalb sollten wir
mehr Glück haben?« »Gutes Argument, aber wenig stichhaltig. Vieles kann sich seitdem geändert haben«, wandte der Erste Offizier ein. »Ich glaube… halt, halt!« Monro hob die Hand, als Vegas zu einem Einwurf ansetzte. »Glauben heißt ja bekanntlich nichts zu wissen. Und tatsächlich weiß ich es nicht. Ich hoffe lediglich, wir werden Glück haben. Andererseits ist Glück eine launische Braut.« »Meiner Seel’«, murmelte Vegas und griente schwach. »Sie reden ja schon wie unser Dritter.« »Ich kann nicht leugnen, daß Kerims Pessimismus mitunter ein wenig abfärbt«, gestand Monro und lachte seinerseits. »Darüber kann ich nun gar nicht lachen«, beschwerte sich Kerim Bekian und setzte eine beleidigte Miene auf, die jedoch niemand ernst nahm. Auch eine Art der Streßbewältigung, dachte Vegas, dieses Geplänkel. Die Anspannung machte sich nun doch bemerkbar. Er ließ den Blick von einer Anzeige zur anderen und dann wieder zu der Bildkugel schweifen. Sein markantes Gesicht wirkte stoisch – tatsächlich jedoch fühlte auch er sich auf eine höchst unbehagliche Art und Weise irritiert. Dieses Gefühl hatte sich noch verstärkt, je weiter sie in den Leerraum eingedrungen waren. Inzwischen lag die Grenze der Milchstraße bereits 1,5 Millionen Lichtjahre hinter ihnen. Bis zum Rand von Orn waren es »nur« noch achteinhalb Millionen Lichtjahre. Doch weit näher lag jene ominöse Grenze, bei der für Ren Dharks letzte Expedition nach Orn Schluß gewesen war. Nach nur einem Fünftel der Strecke hatten die Hyperkalkulatoren den Antrieb lahmgelegt und nur SLE zugelassen. Wann würde es für Clarks Verband soweit sein? Oder leistete das neue Antivirenprogramm das, was man von ihm erwartete? Noch schien alles bestens zu laufen. Nach den Anzeigen der Instrumente wurde der Zylinder immer
schneller. Die gekoppelten Brennkreise erzeugten einen ungeheuerlichen Vortrieb und beschleunigten ständig. Eine seltsame Stimmung hatte von Vegas Besitz ergriffen. Aber nicht nur ihn, wie er mit einem schnellen Blick in die Runde feststellen konnte. Er war sich sicher, auf den anderen Schiffen würde es kaum anders sein. Der Entfernungsmesser, der die zurückgelegte Strecke in Astronomischen Einheiten, in Kiloparsek und Lichtjahren aufzeigte, näherte sich der Zahl von zwei Millionen Lichtjahre, überschritt sie. Vereinzelt wurden freudige Rufe laut. Der Bann schien gebrochen. Olin Monro wandte sich mit einem triumphierenden Leuchten in den Augen an seinen Kapitän. »Na, wer sagt’s denn…«, begann er – und verstummte. Zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. Die Anzeigen des Überlichtantriebs fielen auf sämtlichen Konsolen auf Null. Der Tunnelverband verlor seinen Sternensog-Antrieb von einer Sekunde zur anderen! Nur die Andruckabsorber worgunscher Technik verhinderten, daß nicht die geringste Schwerkraftveränderung für die Besatzungen der Ovoid-Ringraumer durchschlug, als die Tunnelröhre mit unglaublichen Werten abgebremst wurde. Von überall her erklangen verhaltene Laute der Enttäuschung, ärgerliches Fluchen. Auch über die ständig offene Phase zu den einzelnen Schiffen kamen erregte Kommentare. »Ruhe im Leitstand!« befahl der Erste Offizier auf der ANZIO lautstark. Der Colonel wirbelte in seinem Kontursessel herum, wandte sich an den Astrogator. »Was ist, Mister Nozomi, welche Distanz haben wir geschafft?« »Wir sind nicht sehr viel weiter gekommen, als vor uns Ren Dharks Expedition, Sir!«
»Wieviel weiter?« Captain Nozomi zog eine Grimasse, die seine Enttäuschung dokumentierte. »Nur zwanzigtausend Lichtjahre, Sir.« Roy Vegas wirkte nicht sehr überrascht. »Das ist in der Tat nur eine unbedeutende Strecke«, sagte er mehr zu sich als zu seinen Offizieren. Ohne Antrieb schwebte der Tunnelverband im Raum. Antriebslos? Nein! SLE war nach wie vor möglich. Aber Orn blieb damit unerreichbar. Wieder einmal. Die holographischen Bildsphären über den zahlreichen Arbeitspulten der Techniker erhellten den Leitstand der ANZIO mit farbigem Leuchten. Die Hauptbildkugel über der Kommandantenkonsole zeigte eine segmentierte 360-Grad-Darstellung des umgebenden Weltalls. Tastersignale wisperten aus den Audiophasen, und die Hyperkalkulatoren belieferten die Instrumente beständig mit Informationen. Nur beim Sternensog verweigerten sie den Dienst. Was der Verbund unter Brigadegeneral Clarks Leitung auch unternahm, der Überlichtantrieb der Worgun für die S-Kreuzer und die neue Generation der Ovoid-Ringraumer ließ sich nicht mehr aktivieren, sobald der Verband in Richtung Orn beschleunigen wollte. Clark gab nach drei erfolglosen Versuchen jede weitere Bemühung auf, sich Orn zu nähern, und ordnete die Rückkehr zur heimatlichen Galaxis an. Der Weg zurück in den Halo der Milchstraße verlief ohne Komplikationen. Als bereits die ersten Sternsysteme im Rand des Halos auf den Instrumenten auszumachen war, ließ Clark den Verband auflösen. Die einzelnen Schiffsführer meldeten sich ab; die Kapitäne der PORT REPUBLIC, TANNENBERG, EBEN EMAEL und der anderen Schiffe hatten jeder eigene Aufträge mit detaillierten Vorgaben für
den Fall des Scheiterns der Orn-Expedition. »Für Sie, Colonel Vegas«, sagte der Brigadegeneral, der sich noch einmal im Fenster der Bildkugel zeigte, »beginnt jetzt Ihre eigentliche, verantwortungsvolle Aufgabe: der Schulungsbetrieb.« »Ich dachte mir das schon, Sir«, erwiderte Roy Vegas mit ungerührter Miene. Clark runzelte für einen Moment die Brauen. Dann entschied er, daß die Bemerkung des Colonels auf keinen Fall ironisch gemeint sein konnte und nickte. »So ist es, Colonel. Ihre Befehle sind Ihnen bereits zu Beginn dieser leider fehlgeschlagenen Mission von der Flottenadmiralität übermittelt worden, soviel ich weiß. Richtig?« »Richtig, Brigadegeneral. Sie liegen mit ungebrochenem Siegel in meinem Safe.« »Öffnen Sie sie, sobald Sie allein sind.« Und kurz bevor er sich ausblendete, sagte Clark noch: »Colonel, ich werde mir erlauben, Ihre Arbeit hin und wieder einer Prüfung zu unterziehen.« Vegas lächelte knapp und sagte: »Ich verstehe, Sir. Ich verstehe…« * »Kommen Sie herein!« Vegas’ laute Stimme aktivierte den Öffnungsmechanismus des Schotts. Leise fauchend glitt es zur Seite, und Captain Olin Monro betrat den Bereitschaftsraum des Colonels. »Jean-Baptiste Lully: Fanfares pour le Corrouzel de Monseigneur«, beantwortete Vegas die unausgesprochene Frage in Monros Augen, als dieser näherkam. Er drehte den Lautstärkeregler etwas herab, und die barocken Fanfarenklänge wurden leiser, verloren dadurch aber auch an Kraft. »Eine einmalige Aufnahme des Collegium Musicum de New York. – Setzen Sie sich. Wie fühlen Sie sich?«
»Ein bißchen müde, Skipper. Hab’ zwei Wachen hintereinander geschoben. Hat etwas gedauert, bis ich das Problem in den Griff kriegte.« Der Terminus »Skipper« kam dem Captain wie von selbst über die Lippen. Vegas akzeptierte die Anrede, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Sie war Usus. Schon immer gewesen. Der Kapitän war zu allen Zeiten der absolute Herrscher an Bord eines Schiffes, egal, ob es unter Segeln über die Meere fuhr, mit Dampf, elektromagnetischen Aggregaten oder Sternensog angetrieben wurde. Das änderte sich auch nicht, als die Menschheit in den Weltraum aufbrach. Und zu allen Zeiten wurde der Kapitän im Jargon der Marine als »Skipper« oder der »Alte« bezeichnet. Es würde sich wahrscheinlich auch solange nicht ändern, wie Menschen mit Schiffen die Sternenozeane des Universums durchpflügten. »Sie meinen die Ausbildungspläne für die Kadetten?« »Richtig, Sir. Ich habe detaillierte Vorgaben ausgearbeitet, die Umsetzung überlasse ich den Instruktoren, den Stabsbootsleuten.« »Sehr gut, Nummer Eins. Sind Sie aufnahmefähig für das, was ich Ihnen mitzuteilen habe?« »Aber immer, Kapitän.« Der Eins-O setzte sich, nahm dankend den Becher Kaffee an, den ihm Vegas anbot. Vegas schaute auf den Tisch, der, mit dem Nav-Hyperkalkulator verbunden, eine Karte des Gebietes in die transparente Oberfläche projizierte, die das Schulschiff gerade mit Sternensog durchflog. Die optische Anzeige bewegte sich innerhalb der Gradienten mit der ANZIO. Navigator und Astrogator hatten die gleiche Anzeige auf ihren Konsolen, nur daß die Daten sich in größeren Schirmen spie-
gelten. In der Astronomie konnte man den Kurs des Ringraumers in einer Rundumprojektion wie in einem der frühen Planetarien genießen. Aber das war es nicht, was Vegas »sah«; er war damit beschäftigt, den Einsatzbefehl zu analysieren, der ihm von der Flottenadmiralität mit auf den Weg gegeben worden war. Er hatte das elektronische Dokument erst vor wenigen Minuten aus dem Safe genommen und im Bildgeber von allen Sperren befreit, so daß es lesbar geworden war. Jetzt schaute er auf. »Wissen Sie, Mister Monro, wie unser Einsatzbefehl lautet?« »Sie werden es mir sagen müssen, Skipper«, meinte der Erste. »Ich kenne den Befehl ja nicht.« »Natürlich.« Vegas räusperte sich. »Hören Sie zu, Nummer Eins. Wir sollen einen Ausbildungsflug von vier Wochen Dauer unternehmen und dabei einige Kolonien besuchen.« »Irre!« kommentierte Monro. »Sonst nichts? Keine genauen Vorgaben?« »Keine. Wir können nach eigenem Gusto verfahren, haben absolut freie Hand. Was sagen Sie?« »Irre!« wiederholte Olin Monro und stellte den Becher zurück. »Das wird bestimmt ein interessantes Unternehmen. Und was planen Sie, Skipper?« »Sagt Ihnen der Begriff ›Synästhet‹ etwas?« fragte Vegas scheinbar ohne Zusammenhang zum eigentlichen Thema. Der Erste Offizier runzelte angestrengt die Stirn. »Hmm… nicht im Augenblick«, mußte er einräumen. »Wie ist es mit den Caldarern?« »Lassen Sie mich mal nachdenken… ja, damit kann ich etwas anfangen. Ein quasi-humanoides Volk, fünffingrige Hände, Facettenaugen, drei, glaube ich, faltige Lederhaut, Farbe zwischen erdbraun und blattgrün changierend«, zählte der Erste auf. »Ach ja, es sind eierlegende Warmblüter, die sich über Farbenspiele der Au-
gen verständigen, wenn ich mich noch recht entsinne…« »Synästheten eben«, nickte Vegas. »Kommt daher der Begriff?« »Daher kommt er. Synästheten gibt es auch unter uns Menschen, wußten Sie das? Etwa jeder zweitausendste hat diese Fähigkeit, bei der Töne, vor allem Sprache, gleichzeitig als Farbe wahrgenommen werden. Doch so ausgeprägt und konsequent angewandt wie bei den Caldarern ist es selten der Fall.« Vegas schwieg einen Moment. »Wußten Sie«, fuhr er dann fort, »daß terranische Einheiten und das Volk der Caldarer im Sommer 2058 im Munro-System erstmals aufeinandertrafen? Ich habe mich eingehend mit der Geschichte beschäftigt. Würde mich interessieren, was aus diesem Erstkontakt geworden ist.« Olin Monro kniff die Augen zusammen. »Munros Stern. Jetzt verstehe ich, Sir. Unser erstes Ziel?« »Sie haben es erfaßt, Eins-O. Es ist so gut wie jedes andere.« Roy Vegas erhob sich. »Kommen Sie mit in die Zentrale, Mister Monro. Um keine Zeit zu verlieren, werden wir springen.« Inzwischen hatte die ANZIO den Halo der Milchstraße bereits hinter sich gebracht und drang in die Außenbezirke ein. Unter Sternensog – und im Intervallschutz. Im Schiff verrichteten die Männer gelassen ihren Dienst. Die Prozeduren in der Hauptzentrale verliefen ruhig und exakt. Auch die eingeteilten Kadetten verhielten sich gesittet. Es gab weder Privatunterhaltungen noch Ablenkungen anderer Art. Nur die zentraletypischen Hintergrundgeräusche. Vegas glitt in seinen Gliedersessel und warf einen raschen Blick auf die Instrumente und holographischen Bildgeber, die vor ihm auf der bogenförmigen, abgeschrägten Hauptkonsole angeordneten waren. Dann fuhr er seinen Kommandantensessel etwas zurück und nickte seiner Nummer Eins zu. »Sie machen das, Mister Monro. Transition zum Munro-System
vorbereiten.« Der Captain bestätigte. »Ich übernehme«, wandte er sich an den Zweiten Offizier, der in Abwesenheit des Kapitäns und dessen Stellvertreters für das Schiff verantwortlich zeichnete. »Aye, Eins-O«, sagte Jay Godel. »Keine Vorfälle, alles ruhig.« »Danke. Eins-O übernimmt – jetzt!« Die letzte Bemerkung war für das elektronische Logbuch, das im Leitstand die Wachwechsel dokumentierte und jederzeit nachprüfbar machte. Roy Vegas verfolgte zufrieden, wie professionell sein Stellvertreter das Schiff übernahm und die Transition in die Wege leitete, die in zwei Minuten erfolgen würde. Eine moderate Zeitspanne, sie ließ sich im Krisenfall auf wenige Sekunden verkürzen, wenn man den kompletten Ablauf dem Hyperkalkulator überließ. Dafür bestand jetzt keine Notwendigkeit. Nun war Sternensog keine der langsamsten Fortbewegungsarten. Im Gegenteil, er war in der Lage, innerhalb des Intervallums variable Überlichtgeschwindigkeiten zu erzeugen, die alles bisher dagewesene in den Schatten stellten. Dennoch bedurfte es einer gewissen Zeitspanne, um von A nach B zu gelangen. Eine Transition hingegen war ein Schritt, ein Sprung in Nullzeit. Einziger Nachteil, wenn es denn einen darstellte, blieb der Umstand, daß für Nanosekunden das Intervallum aus und wieder eingeschaltet werden mußte. Noch sechzig Sekunden bis zum Sprung. Das Intervallfeld der Ringraumer war ein künstlich erzeugtes Mikrouniversum, das seine eigenen Naturgesetze besaß. Das Schiff, das sich in ihm bewegte, war erstens geschützt gegen alle bekannten Waffen, und zweitens in der Lage, jede im normalen Raum-Zeitgefüge befindliche Materie zu durchdringen, als sei sie nicht vorhanden. Jedes sich in einem Intervallfeld befindliche Objekt war fähig, Planeten und Sonnen zu durchfliegen – oder andere Raumschiffe. Nur eines war nicht möglich: Flog ein Ringraumer oder
ein Flash im Schutz seines Intervallums, bestand keine Möglichkeit zu transitieren. Zwanzig Sekunden… Ein akustisches Signal ertönte. Mit seinem Verklingen deaktivierte der Hyperkalkulator das Doppelintervallum. Die Transition der ANZIO erfolgte. Der Ovoid-Ringraumer überbrückte während eines Lidschlages 743 Lichtjahre und materialisierte im Zielgebiet, nicht mehr als zwei Astronomische Einheiten außerhalb der Umlaufbahn des äußeren Planeten. Der Hyperkalkulator schaltete sofort die Intervallfelder wieder hoch. In den Ringraumern der Worgun – ebenso wie in den Schiffen der Nogk, der Utaren und Tel – trat kein Transitionsschock auf, wie etwa in den Raumschiffen aus den Giantbeständen oder den terranischen Nachbauten. Dort kam es immer wieder mal zu sekundenlangen, unbeherrschbaren Angstzuständen, die den in Nullzeit erfolgenden Raumsprung mitunter zu einer Ewigkeit zu dehnen schienen. Zum Glück, dachte Vegas, der die Beschwernisse an Bord der Sternschnuppe SPECTRAL nur zu gut in Erinnerung hatte, ebenso den ziehenden Schmerz im Nacken als unerläßliche Begleiterscheinung des Nervenschocks. »Wozu doch eine Beförderung alles gut ist…« murmelte er und unterdrückte das eingeprägte Verlangen, sich den Nacken zu massieren. »Ortung – wo bleiben die Daten?« wandte er sich an seinen Dritten Offizier. »Haben Ziel erreicht«, meldete Kerim Bekian. »Die Sonne vor uns ist Munros Stern. Fünf Planeten. Bei Nummer drei handelt es sich um Sahara.« »Danke, Drei-O.« Dann sagte er, an den Piloten gerichtet: »Bringen Sie uns hin, Mister Godel.« »Aye, Sir!« Während die ANZIO in das System einflog, stemmte Vegas den linken Fuß auf die Raste seines Kommandantensessels und sah for-
schend auf das, was sich ihm in der 2,68 Meter durchmessenden, quasi-transparenten Bildkugel bot. In Gedanken beschäftigte er sich mit dem System und der Geschichte der Besiedlung des dritten Planeten, soweit er sie aus den Archiven kannte. Es war am 7. Mai 2051 gewesen, als das Kolonistenschiff LYRA von Terra aus mit 10000 Menschen an Bord von Cent Field in den Raum startete, auf der Suche nach einer bewohnbaren Welt. Wegen eines Fehler im »Time«-Antrieb havarierte es in der Nähe von Munros Stern, einer Sonne vom G0-Typ, etwa 117 Lichtjahre senkrecht zur galaktischen Ekliptik von Terra entfernt.2 Das System wies fünf Planeten auf. Nummer III befand sich glücklicherweise in der Biosphäre, was ihn zur Besiedlung brauchbar machte und das Überleben der Havaristen sicherte. Die Kolonisten nannten ihn Sahara, ihre Siedlung Sahara-City. Der Planet war eine heiße Trockenwelt mit geringer Achsenneigung und besaß – neben einem viel zu geringen Wasservorkommen – eine lebensfeindliche Fauna aus aggressiven Echsen – was die Population der Kolonie in wenigen Jahren um fast ein Fünftel schrumpfen ließ, ehe man sich geeignete Maßnahmen zu ihrem Schutz ausgedacht hatte. Im Sommer 2058 wurde das System zu allem Überfluß auch noch Schauplatz eines mißglückten Erstkontaktes zwischen Terranern und Caldarern. Nach der Schlacht von Munros Stern stellte die Terranische Flotte fünf Schiffe der Hunter-Klasse im System bereit, die den Schutz der Kolonie übernahmen, die nun endlich wieder Kontakt zum Mutterplaneten hatte. Jetzt schrieb man das erste Drittel des Jahres 2062. Vier Jahre waren ins Land gegangen. Was aus der Kolonie wohl geworden war? Vegas empfand eine Spur von Aufregung, ein winziges Prickeln von Abenteuer, Ungewißheit. Er rückte auf seinem Sitz etwas nach Siehe REN DHARK-Sonderband: »Krisensektor Munros Stern« von Werner K. Giesa 2
vorn, merkwürdig gespannt darauf, was vor ihm lag.
19. Das hochmoderne Flottenschulschiff bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit in das Fünfplanetensystem hinein. In den Fenstern der Bildkugeln tauchte Nummer drei aus dem Gewimmel der Sterne auf, wurde größer, deutlicher. Die ANZIO richtete die Taster auf den schmutziggelb schimmernden Ball. Von Sekunde zu Sekunde zeichneten sich mehr Einzelheiten ab. Die Oberfläche schob sich ins Blickfeld. Sie lag, da die ANZIO den Planeten mit dem Zentralfeuer im Rücken anflog, voll im Schein der Sonne Munros Stern; der Typ war nahezu erdgleich: G-Null. Sein gelbes Licht flirrte auf den Bildbetrachtern und überstrahlte die Sterne. »Da haben Sie ihren Planeten, Colonel!« sagte Olin Monro. »Eine staubige Kugel. Sieht so aus, wie sie heißt, wenn Sie mich fragen.« »Gehen Sie in einen hohen Orbit«, sagte Vegas anstelle einer Antwort. Das Schiff schwenkte ein. Zwanzigtausend Kilometer über der Oberfläche zog die ANZIO ihre Kreise. Es war keine Welt aus Blau, Grün und Weiß. Die Bilder zogen auf den Vergrößerungsschirmen vorbei. In der trockenen Luft waren nur wenige, schleierhafte Wolken zu sehen. Keine endlosen Wälder, keine breiten Flüsse oder Meere, in die die Landmassen eingebettet lagen. Sahara war entschieden das, was der Name assoziierte: eine extreme Wüstenwelt. »Tiefer, Eins-O«, ordnete Vegas an. »Aye, Sir.« Die ANZIO wurde abgebremst. Verließ den stabilen Orbit, in dem sie vom Autopiloten gehalten worden war, durchstieß heulend die ersten Schichten der Atmosphäre und ging kontinuierlich tiefer. Schnell schoß die Oberfläche näher. »Höhe, Mister Godel?« »Sechstausend Meter.« »Sehen Sie… dort unten, die Kolonie!«
»Bleiben Sie über ihr und gehen Sie auf viertausend Meter.« Die ANZIO wurde langsamer, schwebte in vier Kilometer Höhe über Sahara-City; eine Entfernung, die deutlich alle Einzelheiten offenbarte. Aus großer Höhe sahen sie die Ansiedlung. Die Stadt lag in einer Ebene vor den Ausläufern einer niedrigen Hügelkette, umgeben von kilometerweiten Feldern kakteenartiger Pflanzen, die den Eindruck einer kultivierten Aufzucht boten. Vergrößerungen zeigten noch mehr Einzelheiten. In der Kolonie waren eine Reihe von breiten Straßen zu erkennen, ein paar hohe und viele weniger hohe Gebäude, die scheinbar auf Stelzen oder Säulen gebaut waren. Ein großer Komplex, der wie ein gigantisches Materiallager aussah, beherrschte die östliche Peripherie. Unweit davon lag ein verarbeitender Betrieb, ebenfalls von erheblicher Größe, dessen Abluftkamine weiße Wolken in die Atmosphäre stießen. Das waren die Spuren, die die Menschen im Lauf von elf Jahren auf dem Planeten hinterlassen hatten. Die Stadt und ihre Umgebung wirkten wie eine paradiesische Oase inmitten der Wüstenlandschaft. Ein grünes Juwel in einer ansonsten lebensfeindlichen Umgebung. Eine dichte, hohe Vegetation und die im Sonnenlicht blinkenden Spiegel kleiner Wasserflächen vermittelten den Eindruck, daß an diesem kostbarem Naß kein Mangel herrschte. »Offenbar haben sie ein paar Tiefbrunnen gegraben«, sah sich ein Ortungstechniker veranlaßt zu bemerken. »Sieht ganz danach aus«, pflichtete ihm sein Nachbar bei. Captain Kerim Bekian bemerkte: »An Wassermangel, wie in den alten Berichten vermerkt, darben sie nicht mehr. Auch sonst scheint es ihnen gutzugehen.« Vegas nickte in Gedanken. Sahara war eindeutig – zumindest im weiteren Umfeld der Kolonie – terraformt worden. Auch schien die Kolonie gewachsen zu sein. Das Rund des kleinen, aber hochmodernen Raumhafens mit der Nadel des Kontrollturms lag ein wenig abseits von Sahara-City und hatte Verbindung mit der Ansiedlung. Mehrere Raumfahrzeuge
wurden geortet. Kleinere Frachter, die be- und entladen wurden, wie in den Vergrößerungen zu erkennen war. Von den fünf 200 Meter durchmessenden Kugeln der Hunter-Klasse, ehemaligen Raumschiffen der Giants, die dem Schutz der Kolonie dienen sollten, war nichts zu sehen. Auch im umgebenden Raum waren keine Orterechos zu registrieren. Sie befanden sich mit Sicherheit nicht im System. Auf dem Hafenturm erhoben sich die Antennen einer hypermodernen To-Richtfunkanlage – die Nabelschnur zur fernen Erde. Die Taster der ANZIO fingen allerdings bis auf den normalen Breitbandfunk bodennaher Einrichtungen im Augenblick keine anderen Signale auf. »Schlafen die?« wunderte sich Bekian, und seine ohnehin schon nicht vor Lebensfreude überschäumende Miene wurde noch eine Spur pessimistischer. »Vielleicht wollen sie keinen Kontakt«, meinte Nozomi und strich sich mehrmals über seine Igelfrisur. Vegas runzelte überlegend die Stirn. »Kann man rausfinden«, brummte er und schloß einen Kontakt auf der verbreiterten Armlehne seines Sitzes. »Kapitän an Funk-Z. Stellen Sie mir eine Verbindung mit der Kolonie her. Kündigen Sie unsere Ankunft an.« »Verstanden, Sir. Nehme Kontakt mit Sahara-City auf!« Der Funkoffizier verschwand aus dem Karree des Vipho. Sekunden später befand sich das Gesicht einer jungen, sehr jungen Frau auf dem kleinen Sichtschirm direkt vor Colonel Vegas. »Raumkontrolle Sahara-City«, sagte sie und strahlte Vegas an. Vegas räusperte sich, grüßte kurz und stellte sich vor. »Bitte«, sagte er dann und lächelte ebenfalls freundlich, »geben Sie mir den verantwortlichen Leiter Ihres Gemeinwesens, Schwester Panorama.« Die junge Frau starrte ihn nun doch einigermaßen verständnislos an. »Panorama…?« dehnte sie.
»Die Umsichtige«, bedeutete ihr Vegas und lächelte stärker. »Ich nehme doch an, daß Sie das sind, umsichtig, meine ich. Weshalb Sie mich auch gleich mit Ihrem Ersten Bürger verbinden werden. Es eilt, wir befinden uns im Landeanflug.« Sie wurde rot, fing sich aber schnell wieder, nickte rasch und nachhaltig und tat, was Vegas verlangte. »Sekunde«, sagte sie, »ich verbinde Sie, Sir.« Sie verschwand vom Schirm, aber nicht aus der Phase. Der Colonel drehte seinen Sessel herum, lächelte seinem Astrogator zu und nickte. »Sehen Sie, Mister Nozomi, Sie hatten unrecht.« Nozomi wurde einer Antwort enthoben, als sich das Gesicht eines etwa fünfzigjährigen Mannes auf dem kleinen Sichtschirm zeigte. Vegas grüßte kurz und sagte dann: »Wassilio Stavros?« »Richtig. Erster Bürger von Sahara-City.« »Colonel Roy Vegas, Kommandant des Flottenschulschiffes ANZIO. Wir hätten Ihrem Gemeinwesen gerne einen Besuch abgestattet, wenn Sie erlauben.« Stavros Miene veränderte sich, als wolle er sagen: Was ist, wenn ich es nicht erlaube? Doch dann zeigte er das konziliante Lächeln eines Politikers auf Stimmenfang und nickte. »Natürlich. Wir freuen uns stets über Besuch von Terra.« »Wo können wir landen?« Vegas blieb gleichbleibend freundlich. Vertrauensbildende Maßnahmen hatte man das früher genannt. Dem Bürger klarmachen, daß man nichts weiter war als einer von ihnen, nur halt in Uniform. Stavros drehte sich zu jemanden um, der sich außerhalb des Aufnahmebereiches befand. Man hörte in der Zentrale der ANZIO weder die Frage noch das, was geantwortet wurde. Dann war Stavros wieder deutlich zu vernehmen. »Ich sehe Ihr Schiff bereits – landen Sie auf Areal 17. Ein Gleiter wird Sie abholen. Ich freue mich, Sie und einige Ihrer Offiziere im Verwaltungsgebäude begrüßen zu dürfen.«
* Die ANZIO schwebte in dreihundert Metern Höhe von Süden ein, glitt mit dem Rauschen verdrängter Luftmassen über die Flachdächer der Hallen, wurde abgebremst und senkte sich unspektakulär auf das vorgesehene Landeareal 17. Die Staubwolke, die sie dabei aufwirbelte, verwehte rasch nach Westen. »Wir sind gelandet, Kapitän«, sagte der Zweite. »Ausgezeichnet, Mister Godel. Aggregate aus. Heute starten wir nicht mehr.« Er blickte auf den großen Zentralebildschirm, der sich nach der Landung automatisch aktiviert hatte, und betrachtete die Vorgänge draußen auf dem Raumhafen. Käfer artige Lastengleiter bewegten sich zwischen ein paar 50 Meter durchmessenden Kugelraumern aus Giant-Beständen und lieferten Container an, deren Inhalt aus brennbaren Flüssigkeiten zu bestehen schien; die Behälter auf den Ladeflächen trugen unübersehbare Warnsymbole. Etwas isoliert vom allgemeinen Geschehen stand ein Giant-Raumer der Hunter-Klasse auf seinen Stützen. Er mußte einem privaten Eigner gehören, so strahlend weiß lackiert wie er war. Neben dem Namenszug SILOT II in fast zehn Meter hohen Blockversalien war das Logo des Eigentümers zu sehen, der SOBANSPACE mit Sitz in Alamo Gordo. Die SILOT II stand neben einer Flüssigkeitsverladeanlage, dem Kopfstück einer Pumpstation. Vegas wunderte sich ein wenig. Was gab es auf Sahara, was per Tankschiff seinen Weg nach Terra oder anderswohin nahm? »Das Taxi«, machte Captain Monro seinen Kommandanten auf den Gleiter aufmerksam, der zwischen dem Abfertigungsgebäude und einem der kleinen Frachter hervorschoß und mit einem waghalsigen Bremsmanöver vor der Hauptschleuse der ANZIO anhielt. »Lassen wir es nicht warten«, meinte Colonel Vegas, und nickte seinem Ersten sowie ehester McGraves zu. »Gehen wir. Sie haben
das Schiff, Mister Godel.« Munros Stern stand als messinggelbe Scheibe im Zenit eines Himmels, in dessen fahles Blau lange, gelbe Staubfahnen bizarre Streifen malten. Der Gleiter landete direkt vor der Hauptschleuse. »Ich bringe Sie zur Verwaltung«, sagte der Pilot. Die drei Offiziere stiegen ein. Der Siedler in seiner grobgewebten Kleidung mit vielen aufgesetzten Taschen grinste die Neuankömmlinge auf Sahara freundlich an. Dann startete er die Maschine und raste ohne Warnung los. Die Andruckabsorber hatten schon mal bessere Tage gesehen; die plötzliche Beschleunigung warf die Passagiere in die Polster. Die vielen Arbeiter und Gleiterpiloten am Rand des Raumhafens winkten freundlich, als das Gefährt mit den terranischen Offizieren an ihnen vorbeischoß. Der Gleiter entfernte sich vom Kontrollturm und schlug die Richtung zur Stadt ein. Viele der Häuser standen auf Stelzen, die eigentlichen Wohnbereiche begannen erst ein paar Meter über dem Boden. Sahara-City war mehr in die Höhe als in die Breite angelegt, aus überlebenswichtigen Zwängen voller Absicht so errichtet. Vegas kannte in Ansätzen den Grund für diese Maßnahme: Echsen! Mordlüsterne, permanent hungrige Echsen. Die herrschenden Vertreter der Fauna Saharas. Fatalerweise hatte es sich bereits in den ersten Tagen nach der Landung auf dem dritten Planeten von Munros Stern herausgestellt, daß die Terraner nicht allein auf dieser Welt waren, sondern sich die neue Heimat mit einer Population von mehr als dreißig verschiedenen Großechsenarten teilen mußten, die einen gewaltigen Appetit auf Menschenfleisch entwickelten. Zu Beginn der Besiedlung hatten die Kolonisten einen hohen Blutzoll zu entrichten gehabt. Behausungen zu ebener Erde hatten keinen Schutz vor den Bestien geboten, die durch Fenster und Türen ins Innere drangen, wobei es kaum ein Material gab, das zu knacken sie nicht imstande gewesen waren. Erst als man dazu übergegangen
war, die Wohnhäuser auf Säulen zu stellen, konnte man die Verluste an Menschenleben eindämmen. Der Colonel wunderte sich, daß er noch keine der Bestien zwischen den Hunderten Türmen der Stadt zu Gesicht bekommen hatte. »Skipper!« Sein Erster Offizier beugte sich zu ihm herüber. »Haben Sie auch bemerkt, was hier herumläuft?« raunte er. Der Colonel nickte, noch ganz in Gedanken. »Ja, Echsen.« »Sir? Wie kommen Sie auf Echsen?« zeigte sich Monro mehr als erstaunt. »Nein, Hunde. Riesige Vertreter der Gattung Canis. Hier streunen Hunde zuhauf durch die Straßen. Da, sehen Sie doch!« Er deutete nach draußen. Vegas nickte verblüfft. »Wo Sie es sagen, fällt es mir ebenfalls auf.« In der Tat handelt sich um Doggen, die in Rudeln durch die Straßen liefen. Zunächst glaubte Vegas an sich selbst überlassene Nachkömmlinge von der LYRA. Aber die Hunde zeigten keinerlei aggressives Verhalten den Menschen gegenüber, so daß er diesen Gedanken nicht weiter verfolgte. Verwilderte Hunde verhielten sich anders, unberechenbarer, gefährlicher. Diese jedoch schienen lammfromm zu sein, ließen sich von jedem Passanten streicheln. Darauf angesprochen, meinte der Pilot: »Es sind unsere Wächter, Mister Raumschiffskapitän.« McGraves und Monro sahen Vegas an. Der Erste grinste. Was er und der Major dachten, behielten sie für sich. Trotzdem waren ihre Mienen beredt genug, die sagten: Wächter sind das keine, eher Schoßhunde! Der Magistrat der Siedlung hatte seinen Sitz in einem vielstöckigen Gebäude neueren Datums, das einem modernen, weitläufigen Hotelkomplex nachempfunden war. Offenbar hatte man das Problem mit den Echsen doch in den Griff bekommen. Der Pilot ihres Transportvehikels kurvte schwungvoll vor dem Eingang ein und trat auf die Bremsen. »Die Verwaltung«, sagte er. Während sie zum Eingang liefen, streckte der Eins-0 die Nase in
die Luft und meinte: »Riecht aber eigenartig, findet ihr nicht?« Vegas bestätigte, und ehester McGraves gab zu verstehen, daß ihm der Geruch schon auf dem Raumhafen in die Nase gestochen habe. »Irgendwie streng süßlich, aber auch ranzig, nicht wahr? Bahren die hier ihre Leichen vielleicht öffentlich auf?« »Sicher nicht, Major«, sagte Vegas, dessen Geruchssinn aufgrund seiner langen Lebenszeit noch von Dingen geprägt war, die für die »Jungfüchse« seiner Mannschaft nicht mehr existierten. »Hier arbeitet irgendwo eine Distille. Es werden Pflanzen vergoren und irgendeinem Zweck zugeführt.« »Das wird es sein!« nickte Olin Monro, und seinem Gesicht war zu entnehmen, daß er keine Ahnung davon hatte, was der Kapitän vermitteln wollte. In der Lobby des Gebäudes beförderte ein mechanischer Lift den Colonel und seine beiden Offiziere vierzehn Stockwerke höher. Die Räume des Ersten Bürgers beanspruchten die gesamte obere Etage des Hotelturmes. Damit es aber keinen Zweifel gab, wer in den Räumen residierte, besagte ein Schild über der Tür ERSTER BÜRGER WASSILIO STAVROS. Stavros empfing die Delegation der ANZIO im Konferenzraum. Der Sicherheitschef der Kolonie war zugegen, ein Mann mit Namen Pal Bretan. Zwei Magistratsbeamte, Peradinides und Malmgren – Stavros bezeichnete sie als seine Subdirektoren –, dazu noch eine Frau von zirka vierzig Jahren, die von Stavros als Dr. Dr. Kara Larousse vorgestellt wurde. Sie trug einen weißen Kittel und war offensichtlich die zuständige Medizinerin, bis Vegas das Schildchen näher in Augenschein nehmen konnte, das die linke Seite ihres Laborkittels zierte. »GenLabs« stand da zu lesen. Eine Wissenschaftlerin also. Vermutlich gehörte sie auch nicht zu den Überlebenden der LYRA, war keine Tochter des Landes, sondern eine »Zugezogene«. GenLabs, wußte Vegas, war ein Tochterunternehmen der Wallis-Gruppe. Offenbar betrieb es Feldforschungen auf Sahara, und Dr.
Larousse war die Leiterin des hiesigen Instituts. Der Colonel stellte seine Männer vor. Gleich darauf saßen sie mit den Honoratioren der Kolonie am Tisch. Man trank Kaffee und ein hochprozentiges, hervorragend schmeckendes Kräuterdestillat aus einer Wüstenfrucht, wie Stavros auf Nachfrage eher beiläufig erklärte. »Sie haben ja inzwischen ein prosperierendes Gemeinwesen aufgebaut«, sagte Vegas anerkennend. »Meine Hochachtung!« »Darauf sind wir auch stolz«, bekannte Stavros mit einer selbstgefälligen Miene, als hätte er alles ganz allein zuwege gebracht. »Sie scheinen auch keine Wasserprobleme mehr zu haben«, warf Major McGraves in die Debatte. »In der Tat«, versicherte Stavros. »Wir befördern inzwischen mit Raumschiffen Eis vom äußeren Planeten hierher und sammeln es in unterirdischen Kavernen…« Dr. Dr. Larousse war die einzige in der Runde, die Stavros nicht hindern konnte, sich intensiv an der Unterhaltung zu beteiligen. Auf den ersten Blick schien sie nur Wissenschaftlerin zu sein. Aber im Verlauf der Debatte revidierte Vegas seine Meinung. Tatsächlich war sie ziemlich attraktiv, langbeinig und hellhäutig, wie alle Rothaarigen. Das schulterlange Haar trug sie straff zurückgekämmt und mit einer Klammer zusammengefaßt als Pferdeschwanz. Ihre grünen Augen schimmerten geheimnisvoll im Licht des Raumes. »Verdammt gutes Zeug, was Sie da auf Sahara haben«, meinte der Erste Offizier und bezog sich auf den Schnaps. »Hat es einen Namen?« »Ratzfatz«, sagte Dr. Dr. Larousse und hickste verschämt auf Kleinmädchenart. Vegas grinste innerlich. »Wie…?« Der Captain blickte irritiert. »Ich meine, wie heißt dieser Brannt?« »Ratzfatz«, wiederholte die Wissenschaftlerin. »Mein Gott, sind Sie aber schwer von Begriff, junger Mann!« »Ich darf mal auflösen«, übernahm Wassilio Stavros die Un-
terhaltung. »Was Sie da trinken, meine Herren, ist unser Exportschlager. Ein hochprozentiger Kakteenschnaps mit anerkannter Heilwirkung…« »Insbesondere anzuwenden bei Magenproblemen, die er ratzfatz behebt«, unterbrach ihn Dr. Dr. Larousse kühl und diszipliniert und stellte damit klar, daß sie keineswegs beschwipst war, ganz wie Vegas vermutet hatte, »daher der etwas eigenwillige Name, meine Herren.« »Sie verstehen«, fuhr Stavros fort, »daß wir besonders streng darauf achten, daß die ausschließlich nur hier wachsenden Kakteen oder ihre Samen diesen Planeten niemals verlassen. Wir haben hier ein rigides Exportverbot, zugesichert von Terra.« Jetzt verstand Roy Vegas die unterschwellige Spannung, die Stavros ausstrahlte wie eine Warnbake vor einer Untiefe. Der Erste Bürgers verband jeden Besuch von außen mit der potentiellen Gefahr des Diebstahls seines Ratzfatz-Monopols. »Von uns müssen Sie nichts befürchten«, stellte der Colonel klar. »Wir sind Soldaten, keine Industriespione. Die ANZIO ist ein Flottenschulschiff und hat die Aufgabe, Kadetten auf ihre spätere Berufslaufbahn vorzubereiten. Niemand, und das versichere ich Ihnen, wird auch nur ein Fitzelchen einer Pflanze vom Boden dieses Planeten an Bord bringen. Unsere Schleusen sind mit Biotastern gespickt, die jede Abweichung der implementierten Parameter sofort anzeigen.« »Das beruhigt mich«, gestand Stavros. »Und was genau möchten Sie hier auf Sahara?« »Uns umsehen. Ich muß meine Kadetten darauf vorbereiten, daß sie nicht nur im Weltraum das Maß aller Dinge sehen. Auch der Aufenthalt auf anderen Welten gehört zum Ausbildungsplan. Deswegen besuchen wir Planeten. Sahara stand zufälligerweise an erster Stelle der vorgesehenen Kandidaten.« »Ich verstehe. – Ja, Major?« McGraves hatte die Hand gehoben, um die Aufmerksamkeit des
Ersten Bürgers auf sich zu lenken. »Ich habe vor, mit meiner Rauminfanterie ein paar Absetzmanöver im menschenleeren Gebiet auf der noch kaum erforschten anderen Seite Saharas zu üben. Irgendwelche Einwände?« »Nicht, wenn Sie, Kapitän Vegas, mir im Gegenzug zusichern, einen Mann meines Vertrauens an Bord Ihres Schiffes zu akzeptieren, der darüber wacht, daß auch wirklich keine Ratzfatz-Kakteen oder deren Samen entwendet werden.« Mißtrauisch bis zum Erbrechen, dachte der Colonel und verzog keinen Muskel seines Gesichts, als er sagte: »Keine Einwände, solange Sie es billigen, daß ich Ihrem Mann einen meiner Stabsbootsleute an die Seite stelle. An Bord eines TF-Raumschiffes gibt es viele sensible Bereiche, wie schnell richtet da jemand, der sich nicht auskennt, unabsichtlich Schaden an.« »Touché«, sagte Dr. Dr. Larousse und prostete dem Colonel zu. Irritiert sah Stavros sie an, dann nahm er es von der heiteren Seite und nickte lächelnd. »Und da wir nun eine vernünftige Ausgangsbasis für die nächsten Tage geschaffen haben«, sagte Vegas und stand auf, »werden wir an Bord zurückkehren und unsere Vorbereitungen treffen.« »Tun Sie das, Kapitän. Ach so… heute abend findet im Kasino eine Party statt. Wir feiern den Gründungstag unserer Kolonie. Sie und Ihre Besatzung sind herzlich dazu eingeladen.« * Colonel Vegas griff nach dem Mikrophon der Bordsprechanlage. »Hier spricht der Kapitän…« Die Anlage übertrug seine Stimme bis in den entlegensten Winkel der ANZIO. »Wir kommen gerade vom Büro des Ersten Bürgers zurück. Wir haben eine Einladung zu einer Party. Heute abend Punkt sieben Uhr. Die Einladung gilt für die gesamte Mannschaft…« In der Hauptzentrale brach unverblümt Jubel aus; auch aus ande-
ren Teilen des Schiffes kam über die offenen Phasen zustimmende Begeisterung. Vegas wartete, bis die Euphorie etwas abgeflaut war, ehe er fortfuhr: »Bis auf die obligatorische Stallwache natürlich. Ein Offizier und ein Kadett bleiben an Bord. Ich erwarte Freiwillige, ansonsten entscheidet das Los. Gut, ich möchte, daß sich die gesamte Mannschaft landfein macht. Bedenkt, wir repräsentieren die Terranische Flotte. Ich erwarte außerdem, nein, ich verlange, daß jeder sich hundertprozentig benimmt. Wer meint, er muß sich nicht an den Kodex der Flotte halten, weil dies eine Welt weit weg von der Zivilisation ist, wandert unbarmherzig in den Bau. Und jetzt, Männer, Dienst wie gehabt. Erst die Arbeit, dann der Landgang.« Vegas schaltete das Mikrophon ab. * Munros Stern stand tief am Abendhimmel, als Roy Vegas und seine Männer vor dem Hotel ankamen, um das Gebäude herumgeleitet wurden – und sich inmitten eines Tohuwabohus von Lärm, Lachen und lauten Stimmen befanden. Bei dem Kasino handelte sich um eine Halle, die an den Verwaltungsbau angrenzte. Aus allen Richtungen kamen Gleiter. Kolonisten liefen in den Hoteleingang hinein und wieder heraus, verteilten sich auf dem Platz davor, flanierten zwischen den Pflanzeninseln umher. Eine breite Treppe mit flachen Stufen führte zum einladend offenstehenden Eingang. Als die Besatzung der ANZIO erschien, wurde sie von den Kolonisten umringt und lautstark begrüßt. Vegas blickte in eine Vielzahl Gesichter, schüttelte mehrere Dutzend Hände und versuchte gar nicht erst, sich während der harten Händedrücke die Namen derer zu merken, die unbedingt mit ihm ein paar Worte wechseln wollten. Er nickte nur und folgte dem Sog der Menge, der ihn ins Innere spülte. Kein Zweifel, die Bürger von Sahara-City freuten sich offen und ehrlich über den Besuch des TF-Raumers. Man hatte die Trennwände entfernt und so eine riesige Halle ge-
schaffen. Eine Seite bestand aus einer langen Theke, hinter der junge Kolonistinnen versuchten, den Ansturm durstiger Kehlen in geordnete Bahnen zu lenken. »Scheint ein lebenslustiges Völkchen zu sein, die Leute von Sahara«, rief Major McGraves Vegas über den allgemeinen Trubel hinweg zu und zupfte an seinem Kragen herum. Kapitän und Offiziere trugen ihre Ausgehuniformen. »Kann man ihnen nicht verdenken«, pflichtete der Colonel bei. Sie gingen tiefer hinein in die große Halle und näherten sich dem großen Podium am gegenüberliegenden Ende, auf dem Wassilio Stavros inmitten der Vertreter des Stadtparlaments stand. Der Erste Bürger erkannte Vegas und sein Gefolge, gab jemandem ein Zeichen – und von oben richtete sich ein Scheinwerfer auf die Gruppe Offiziere um den Colonel. Wie auf Kommando beruhigte sich der Saal langsam; das Räuspern und Murmeln nahm ab. Stavros hielt ein Mikrofon in der Hand und blies in das Gitter. »Wenn er jetzt noch dagegen klopft und eins-zwei-drei zählt, gehe ich wieder«, murmelte Funkoffizier Kerim Bekian hinter Vegas verdrießlich. Der Colonel räusperte sich verweisend. »Liebe Bürger von Sahara-City!« sagte der Erste Bürger laut. »Begrüßen Sie mit mir die Besatzung des Rottenschulschiffes ANZIO der terranischen Flotte…« Beifallsrufe und Händeklatschen unterbrach Stavros für eine Weile. Er wartete, bis sich die Geräusche wieder gelegt hatten, um fortzufahren: »Zeigen wir ihnen, daß man auch in der galaktischen Provinz zu feiern versteht. Das wird bestimmt ein interessanter Abend heute. Und nun – viel Vergnügen!« Die Vertreter des Stadtparlaments ließen es sich nicht nehmen, ebenfalls die Raumschiffer zu begrüßen. Gottlob beschränkten sie sich auf einige wohltuend kurzen Reden, wobei sie überwiegend auf die Geschichte der Kolonie eingingen, deren Jahrestag der Gründung ja Anlaß der Feier war. Allein daraus entnahm Vegas, daß die
Archive der Flotte längst nicht alles über Sahara und Sahara-City enthielten; offenbar fehlten die rasanten Entwicklungen mindestens der letzten vier Jahre. Stavros kam vom Podium herab und auf Vegas zu. In Schlepptau hatte er seinen Sicherheitschef Pal Bretan. Stavros zerrte ihn in den Vordergrund. »Er wird morgen auf Ihr Schiff kommen, Colonel.« »So«, sagte Vegas ohne Betonung und wandte sich an Bretan, »dann würde ich vorschlagen, Sie gehen beizeiten zu Bett. Wir starten beim ersten Licht des Tages.« »Ich werde mich rechtzeitig einfinden«, versprach Bretan. »Keine Sorge.« »Ich mache mir keine Sorgen.« Der Colonel lächelte unverbindlich und seine weißen Zähne wurden sichtbar; sie kontrastierten gut mit seinem braunen, markanten Gesicht und den weißen Haaren. »Sollten Sie verhindert sein, fliegen wir ohne Sie los, so einfach ist das.« »Er wird zur Stelle sein«, wiederholte Stavros. Eine winzige Sekunde lang flackerte etwas in seinen Augen auf, das zur Vorsicht gemahnte, dann erlosch es wieder. »Wir sehen uns bestimmt noch, Colonel«, meinte er und verschwand mit Pal Bretan wieder im Gewühl. »Was war das?« fragte der Eins-O. »Ich glaube, dieser Stavros traut uns noch immer nicht.« »Er ist der Typ Mann, der nicht einmal sich selbst traut«, erwiderte Ron Nozomi grinsend. »Er sieht überall potentielle Diebe, die es auf seine Schnapsproduktion abgesehen haben.« Er schlug seinem Chefastrogator, einem Oberstabsbootsmann, auf die breiten Schultern. »Kommen Sie, Radji, helfen wir ein bißchen bei der Vernichtung seiner Lagerbestände mit.« »He, Männer«, rief der Eins-O, »wartet. Ich bin ein großer Vernichter vor dem Herrn!« Vegas sah sich plötzlich von seinen Leuten verlassen, schaute hilfesuchend umher – und sah im Vorübergehen ein Gesicht, das ihm
bekannt vorkam. »Bitte, Doktor«, sagte er laut, um den Lärm der vielen Menschen zu übertönen, und hob eine Hand. »Bitte, helfen Sie mir. Ich habe mich verlaufen.« Ein schneller Blick aus bemerkenswert grünen Augen traf ihn. Kara Larousse drängte sich zwischen zwei anderen Frauen hindurch und blieb vor ihm stehen. Sie war fast so groß wie er, schaffte es aber, den Eindruck zu vermitteln, er schaue auf sie herab. »Daß Raumschiffer so gar keinen Orientierungssinn haben«, sagte sie spöttisch. »Wo möchten Sie denn sitzen?« »Am besten an einem Platz, wo ich mit Ihnen allein bin«, sagte er mit plötzlicher Kühnheit. Wieder musterte sie ihn mit einem undeutbaren Blick. Sie sah ohne ihren Laborkittel und mit dem nun offenen Haar so ganz anders aus. »Außerdem dürstet es mich«, fuhr er in seiner altertümlichen Diktion fort, die er bei solchen Gelegenheiten anzuwenden pflegte. »Darf ich Sie zu dem einladen, was man hier üblicherweise trinkt?« Sie runzelte überlegend die Stirn, dann ergriff sie kurz entschlossen seine Hand und zog ihn mit sich. »Nicht, daß Sie sich wieder verirren«, meinte sie nur. Sie landeten auf einer Empore, von der man einen ausgezeichneten Blick über das Geschehen drunten hatte. Mädchen servierten verschiedene Getränke. Ein junger Mann schleppte ein Tablett mit transparenten Krügen vorbei, in denen es dunkelgrün schäumte. Kara hielt ihn mit einer Handbewegung fest. »Wollen wir?« Fragend sah sie auf Vegas. »Ich vermute, es ist kein Ratzfatz, oder?« »Wo denken Sie hin. Schnaps in Krügen.« Sie schlug ihm übertrieben affektiert auf den Arm. »Es ist Bier. Zumindest die Sahara-Version davon.« »Na dann«, gab sich der Colonel zufrieden. »Her damit!« Sie prosteten sich zu, und Vegas nahm einen vorsichtigen Schluck.
»Und?« Sie sah ihn neugierig an. »Apart«, murmelte er; das »Bier« schmeckte überraschenderweise tatsächlich gut, mit einer Komponente, die er nicht einordnen konnte. »Ich nehme mal an, es handelt sich um Kakteenbier.« »Sie haben recht«, gab Kara Larousse zu. »Schnaps, Bier«, zählte Roy Vegas auf. »Hat sich der umtriebige Erste Bürger eigentlich schon an Kakteenwein versucht?« »Hat er«, nickte Kara. »O Gott. Und?« »Fiasko auf der ganzen Linie.« »Welch ein Glück für die Menschheit!« Vegas nahm einen tiefen Schluck; das Zeug schmeckte von Mal zu Mal besser. »Und was treiben Sie so auf Sahara, Doktor?« fragte er. Bevor Kara antworten konnte, mischte sich eine helle Stimme ins Gespräch. »Guten Abend, Kapitän.« Vegas drehte sich um und sah sich von einem jungen, hübschen Mädchen angelächelt, dessen Gesicht ihm irgendwie bekannt vorkam, ohne daß er es einordnen konnte. »Ja? Kann ich Ihnen helfen?« Er lächelte vorsichtig zurück. Man konnte ja nie wissen. »Kennen Sie mich denn nicht mehr?« »Sollte ich Sie kennen junge Dame?« Sie schlug ihm scherzhaft auf die Schulter. »Ich bin’s doch. Schwester Panorama…« »Oh, natürlich. Die Raumflugkontrolle…« Vegas überlegte, wie er die Kleine wieder loswurde, ohne allzu grob dabei mit ihr umspringen zu müssen. »Übrigens, Kapitän«, nahm sie das Heft in die Hand. »Wenn Ihnen langweilig werden sollte, wir sitzen dort drüben.« Sie zeigte auf eine fröhliche Runde ein paar Tische weiter. »Junge Dame«, sagte Vegas ernsthaft. »Ich bin bereits in Begleitung.« »Ach was«, zuckte sie mit den wohlgerundeten Schultern, »wir
sehen das auf Sahara nicht so eng.« »Das mag sein«, Vegas bemühte sich, nicht grob zu werden. »Aber meine Erziehung verlief ein wenig anders als die Ihre.« »Das heißt nein?« »Ja.« »Schade«, schmollte sie. »Aber Sie können es sich ja noch überlegen. Die Nacht ist lang auf Sahara.« Mit einem koketten Schwung ihrer Hüften verzog sich Schwester Panorama in Richtung ihrer Clique. Vegas sah Kara Larousse, die das Ganze mit einer eindeutig spöttischen Miene verfolgt hatte, um Verzeihung bittend an. »Tut mir leid, aber ich konnte nicht ahnen…« »Schon gut, ist ja nicht Ihre Schuld.« Die Wissenschaftlerin drehte das Glas in ihren Händen. »Und? Wollen Sie?« »Was?« »Die Einladung annehmen.« »Ich werde mich doch nicht verschlechtern«, bekannte er. »Sie schmeicheln, Kapitän. Zwar gekonnt, aber Sie schmeicheln. Danke«, sagte Kara. »Ich mache keine Komplimente«, erwiderte Vegas ruhig. »Ich treffe Feststellungen. Beruhigt Sie das?« »Einigermaßen.« »Was treiben Sie denn so auf Sahara, Doktor?« nahm er den Faden der Unterhaltung dort wieder auf, an dem er unterbrochen worden war. »Oder anders gefragt: Welche Art von Doktor sind Sie?« »Ich bin Doktor der Veterinärmedizin«, sagte sie. »Viehzucht auf Sahara?« wunderte sich Vegas. »Unsinn, Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen.« Sie sah ihn prüfend an. »Würde mir vermutlich schwerfallen. Obwohl, versuchen könnte ich’s ja mal.« »Sie werden sich einen Bruch heben, Verehrteste«, versicherte er scherzhaft. »Und der zweite Titel?« »Biologin.«
Vegas nickte. Er hatte es vermutet. »Sie sind natürlich wegen der Echsen hier. Richtig?« »Ja und nein«, erwiderte sie. Ihr Lächeln vertiefte sich, als sie die beginnende Ratlosigkeit Vegas’ bemerkte. »Das mag verstehen, wer will«, brummte er und bewunderte insgeheim die beiden Grübchen in ihren Wangen. »Nun klären Sie mich doch schon auf, Dr. Larousse.« »Kara. Sagen Sie Kara zu mir.« Er nickte. »Wenn Sie Roy zu mir sagen.« »Haben Sie die Hunde bemerkt, Roy, die hier überall herumlaufen?« »Natürlich«, nickte er. »Sie sind nicht zu übersehen. Welche Bewandtnis hat es mit ihnen?« Sie schwieg, lächelte. »Aber klar!« kam ihm die Erleuchtung. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »GenLabs. Sie züchten diese Hunde.« »Ich und mein Team von Biologen«, nickte sie. »Es sind in vitro gezeugte Hunde, gentechnisch verändert, um sie stärker und aggressiver zu machen – den Echsen gegenüber, und nur den Echsen.« »Sie sagten ›in vitro‹. Heißt das…?« »Daß sie nicht fortpflanzungsfähig sind«, bestätigte Kara seine Vermutung. »Wir haben eines ihrer Genome dergestalt modifiziert, daß sie niemals einen Menschen anfallen, selbst wenn sie noch so gequält würden. Allerdings für den Preis, daß sie unfruchtbar wurden.« Sie überlegte einen Moment. »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die Anlage ja mal zeigen.« »Ich vertraue darauf, daß Sie mir das eine oder andere zeigen«, antwortete Roy. »Wird sicher interessant sein.« Kara Larousse starrte eine Weile schweigend in das Gewühl unter ihnen. Die Feier hatte ihren Kulminationspunkt erreicht; die Kolonisten schienen für jede Abwechslung dankbar zu sein und zeigten dies durch überströmende Herzlichkeit. »Wie auch immer«, meinte sie schließlich. »Sie haben sich eine intensive Führung durch mein Reich verdient.«
Sie schwieg erneut, und Roy begann sich bereits zu fragen, was sie beschäftigte. Dann hob sie auf einmal den Kopf, stützte die Ellbogen auf den Tisch, legte das Gesicht zwischen die Hände und schaute ihn mit ihren aufregenden grünen Augen an. Lange. Er wartete. »Was wirst du tun«, fragte sie plötzlich, »wenn die Mission der ANZIO hier beendet ist, Roy?« »Sahara verlassen.« »Wirst du hierher zurückkehren?« fragte sie weiter. »Nicht sehr wahrscheinlich«, gestand er. »Dachte ich mir.« Sie beugte sich unvermittelt vor und küßte ihn. Er rührte sich nicht, wollte den Augenblick nicht zerstören. Schließlich lösten sich ihre Lippen, und er nahm ihre Hände in die seinen. »Soll ich gehen?« fragte er. Sie lachte. »Wer sagt denn so was. Nein, wie wäre es mit einem Kaffee?« »Aus Kakteen? Brr!« Er schüttelte sich. »Nein danke.« »Natürlich nicht. Importware. Schließlich hat man als hochdotierte Wissenschaftlerin gewisse Privilegien – und die nötigen Verbindungen. Auch im Outback der Galaxis, genannt Sahara.« »Und wo?« »Bei mir natürlich. Ist nicht so weit wie zu deinem Schiff.« »Überredet«, sagte er. Sie stand auf, nahm seine Hand. »Dann komm.« Er nickte. »Was immer du willst.«
20. »Ich muß Sie ernsthaft vor den Echsen warnen«, sagte Pal Bretan an den Major gerichtet. »So schlimm wird’s wohl nicht werden«, brummte ehester McGraves. »So schlimm nicht«, erwiderte Bretan und schüttelte leicht den Kopf über soviel Sturheit von seitens des Militärs. »Viel schlimmer, glauben Sie mir.« »Nun malen Sie nicht gleich den Teufel an die Wand«, versetzte der Major grob. »Von malen kann keine Rede sein. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wovon ich rede. Ich halte es für meine Pflicht, Sie nicht im Unklaren darüber zu lasse, was Ihnen und Ihren Leuten auf der Oberfläche eventuell bevorsteht. Dort unten lauert eine Gefahr, die uns Jahre in Atem gehalten und viele, viele Leben gekostet hat.« Roy Vegas, im Kontursessel sitzend und einen Thermobecher Kaffee in der Hand haltend, spürte die ernsthafte Besorgnis des Mannes, der Stavros’ Sicherheitschef war. Der »Kakteenwächter« Pal Bretan war in aller Frühe vor der Hauptschleuse erschienen und an Bord gegangen, wie er es zugesichert hatte. Gleich darauf war die ANZIO in den Raum gestartet und stand seit einem halben Tag in zehntausend Kilometern Höhe über einem Punkt der Planetenoberfläche, der sich auf der von Sahara-City genau entgegengesetzten Seite befand. Unten ging soeben die Sonne auf. »Wollen Sie uns nicht davon berichten«, bat Vegas in ruhigem Ton, um ein wenig die Schärfe aus der Situation zu nehmen. »Die Berichte aus den Archiven sind vermutlich nicht vollständig genug. Informationen aus erster Hand sind immer von Vorteil. Soweit ich mich entsinne, sind Sie doch ein Mann der ersten Stunde.«
»Allerdings«, sagte Bretan. Er kennzeichnete kurz die Lage, wie sie sich damals den Überlebenden der LYRA geboten hatte und sagte dann: »Manche von uns glaubten, der Planet selbst hätte sich gegen uns verschworen. Es schien, daß die Echsen lernfähig waren. Wir haben in den Anfangszeiten extrem hohe Verluste hinnehmen müssen. Häuser zu ebener Erde waren nicht sicher; die Bestien zertrümmerten Türen und Fenster und drangen ein. Als wir sie einbruchssicher machten und komplizierte Schlösser anbrachten, hatten wir auch keine Ruhe vor ihnen. Kein Mensch wußte, wie die Biester es immer wieder schafften, selbst komplizierte Verriegelungen zu knacken. Lediglich die Schotts der Scoutboote und die Einstiegsluken der wenigen Schweber, die uns zur Verfügung standen, waren echsensicher. Es gab offenbar Mutationen unter ihnen, ich nenne sie ›Klugechsen‹, die sich innerhalb von Wochen jeder neuen Situation anzupassen verstanden. Erst als wir dazu übergingen, die Wohnhäuser auf Türme zu stellen, die außen so glatt und so hoch waren, daß auch die größten Echsen nicht die Distanz nach oben in einem Sprung schafften oder sich mit ihren Krallen festhalten konnten, um hochzuklettern, gab es eine Periode der Ruhe. Aber was war das für ein Leben, ständig auf der Hut sein zu müssen, nicht auf offener Straße von den Echsen überfallen und zerfleischt zu werden? Erst nachdem uns die TF quasi neuentdeckte und sozusagen ›rettete‹, wandte sich das Blatt zu unseren Gunsten. Die manipulierten Hunde von GenLabs verbesserten die Situation erheblich. Allerdings brauchen die Doggen noch immer ein ganzes Rudel, um nur einer einzige Klugechse den Garaus zu machen. Zwar wurde seit einem Jahr im Umfeld um Sahara-City keine Klug- oder sonstige Echse mehr gesehen. Aber ich bezweifle, daß es auf der unerforschten anderen Seite schon genug Hunde gibt, um die Echsen auch dort im Zaum zu halten.« »Ich danke Ihnen für diese ausführlichen Informationen«, sagte Vegas, »sie werden sicher den Major veranlassen, besonders umsichtig zu Werke zu gehen. Nicht wahr, Chester?«
Chester McGraves schien wenig beeindruckt von der Schilderung Bretans. »Natürlich sind wir vorsichtig. Aber ich denke, gegen 250 schwerbewaffnete und gut ausgebildete Männer hat keine Raubechse der Welt eine Chance. Schließlich sind wir keine… keine…« »Gestrandeten Siedler, ist es das, was Sie sagen wollen?« spottete Bretan, nicht im mindesten beleidigt. »Wenn Sie es so nehmen wollen…« brummte der Major. »Schluß der Debatte, meine Herren«, ordnete der Colonel an. Major McGraves schaute auf sein Chrono. »Ich werde mich mal zu meinen Männern begeben. Sobald wir gelandet sind, beginnt unser Teil des Manövers.« »Tun Sie das, Chester«, nickte Vegas und dachte einen winzigen Augenblick an die Zeit, die er mit McGraves als seinem I.O. auf der SPECTRAL verbracht hatte, jenem Schiff der Panther-Klasse, das vor drei Jahren auf Eldorado zerstört worden war. Dann wandte er sich wieder der augenblicklichen Situation zu. »Nummer Eins!« »Skipper?« »Wir wollen nicht länger Zeit verstreichen lassen. Beginnen Sie mit dem Alarmmanöver.« »Ja, Sir.« Akustische Signale begannen durch das Schiff zu hallen. Die normale Helligkeit in der ANZIO wurde vom Hyperkalkulator heruntergefahren, um die visuelle Erkennung der Instrumente und Tastenfelder mit ihrer Eigenbeleuchtung zu erleichtern. Roy Vegas verfolgte das Geschehen in der Hauptzentrale mit Gelassenheit. Sein Gesicht wirkte ungerührt, als gäbe es nichts in diesem Universum, was ihn erschüttern könnte – und das tat es auch nicht. Das Alarmmanöver war eine Übung, Teil der fortgeschrittenen Ausbildung, der sich die Kadetten zu unterziehen hatten. Sämtliche Pulte waren von Kadetten besetzt, denen die verantwortlichen Offiziere scharf auf die Finger schauten, um beim
ersten Anzeichen einer Gefahr für das Schiff eingreifen zu können. Der Eins-O blickte den Colonel auffordernd an. Können wir? hieß das. Vegas nickte. Captain Olin Monro stellte sich hinter den Kadetten, der die Pilotenkonsole besetzte. »Mister Mandrake, bringen Sie das Schiff auf die Oberfläche. Die Koordinaten haben Sie. Simulierter Notabstieg, das heißt: verschärfte Bedingungen. Stellen Sie sich vor, Ihnen sitzt ein überlegener Feind im Nacken und die einzige Möglichkeit, ihm zu entkommen, ist abzutauchen. Das heißt aber auch: Presto, meine Herren Kadetten«, richtete er die letzten Worte an die versammelte Mannschaft. »Wer patzt, geht in den Simulator. Für Wochen!« »Pure Androhung von physischer Gewalt, ist die überhaupt erlaubt?« murmelte jemand. Die Ausbildungsoffiziere beschlossen, die Bemerkung zu ignorieren, wer immer sie auch gemacht hatte. Colonel Vegas ließ die Bildkugel nicht aus dem Blickfeld; er verkniff es sich, den Notsturz zur Oberfläche über die Instrumente und Anzeigen zu verfolgen. Die ANZIO sank rasend schnell nach unten weg. Die Konturen verwischten. Die Schirme, zu Beginn nur die Schwärze und die Sterne des Weltraumes darstellend, erhellten sich und zeigten von der Seite das harte Sonnenlicht von Munros Stern. Auf dem Segment der Bildkugel, das den Planeten abbildete, kam die Oberfläche näher und näher. Jemand stöhnte gepreßt. Ein anderer zischte: »Mandrake…!« Aber Kadett Mandrake ließ die ANZIO weiter fallen, als lägen noch Lichtjahre zwischen Schiff und Oberfläche. Erst in letzter Sekunde fing er das Raumschiff ab, das so dicht über dem Boden zum Stillstand kam, daß kein Schweber dazwischenge-
paßt hätte. Dank der Andruckabsorber waren die brutalen Verzögerungskräfte nicht spürbar. Der Erste holte tief Luft. »Mister Mandrake«, begann er mit unheilvoller Stimme. »Na ja, Sir. Die Vorgabe war Notabstieg. War das keiner?« Plötzlich brach Gejohle in der Zentrale aus. Vegas Gesicht war steinern, innerlich grinste er jedoch. Die jungen Burschen waren gut. Sogar sehr gut. Tatsächlich wäre auch nichts passiert, wenn Mandrake in Selbstüberschätzung versagt hätte. Das Intervallum hätte die ANZIO lediglich in den Planeten eindringen lassen und schlimmstenfalls auf der anderen Seite wieder ins Freie befördert. Aber darauf hatten sich die Kadetten nicht verlassen. Das Schiff war exakt so zum Stillstand gekommen, wie es verlangt worden war. Eine Meisterleistung. Das Intervall wurde abgeschaltet. * Noch bevor die Staubwolke zurückfallen konnte, die das Antigravfeld der ANZIO emporgerissen hatte, flog das segmentierte Hangarschott auf. Die gepanzerten Mannschaftsschweber katapultierten sich ins Freie und nahmen sofort Fahrt auf. In einer Linie nebeneinander in zehn Meter Höhe fliegend, fegten sie durch die Wüstenlandschaft. Ziel war eine tiefe Senke am Fuß eines Bergzuges etwa fünf Kilometer voraus. Hinter den zehn Schwebern stieg die ANZIO bereits wieder auf; sie würde in einiger Entfernung eine Parkposition in der Atmosphäre einnehmen, um den Rekruten das Gefühl zu geben, sie wären allein auf dem Planeten und auf sich gestellt. Die Einöde, der sich die Infanteristen gegenübersahen, war dep-
rimierend. Munros Stern stand als glühende, messingfarbene Scheibe am Himmel, in dessen fahlem Blau keine Wolke zu sehen war. Der Bergzug links von ihrer Position erstreckte sich scheinbar endlos von Horizont zu Horizont und verlor sich in der hitzeflirrenden Ferne. Ein Bild der absoluten Verlassenheit. Unter den Schwebern lag grober, dann wieder feinkörniger, fast puderiger Sand. Die Luftverdrängung der Gleiter wirbelte Staubwolken empor, die sie in langen Schleppen hinter sich herzogen. Chester McGraves saß im Cockpit neben dem Fahrer und hatte die Beine ausgestreckt. Das Funkgerät war eingeschaltet; die Verbindung zur ANZIO war wichtig. Der Major warf einen Blick auf den Sichtschirm, der den hinteren Teil des Schwebers zeigte. Die Soldaten hockten sich in zwei Reihen gegenüber, zwischen ihnen der Gang, der von der Steuerkanzel bis zur großen Ausstiegsklappe im Heck verlief. »Eintausend Meter, Sir«, sagte Greer laut. Der Stabsfeldwebel steuerte den schweren Mannschaftsgleiter. Er ging etwas tiefer hinunter und folgte einer tief eingeschnittenen Rinne, die in gerader Linie auf die Senke zuzuführen schien. McGraves blickte durch die Kanzelverglasung nach draußen; das trostlose Bild der Wüstenlandschaft hatte sich nicht gewandelt. Hier gab es nichts außer Sand, glühenden Felsen, Trockenheit, Verlassenheit und… Hunden? »Gehen Sie ein paar Meter höher, Greer.« Der Stabsfeldwebel reagierte ohne Nachfrage. Vielleicht wollte der Major möglichst viel von der Landschaft sehen. Er zog den Schweber rund zehn Meter höher. »Reicht das, Sir?« »Ja, ja«, murmelte McGraves und suchte nach den Hunden, die er zu sehen geglaubt hatte. Grasbüschel – einmal dichter, dann wieder nur sporadisch. Ein Feld von Kakteen, die lange Schatten warfen. Und an der Schattengrenze erneut die Bewegung.
Da waren sie wieder. Ein ganzes Rudel Gendoggen trabte entlang der scharfen Kante zwischen Schatten und Sonnenglast durch die glühende Landschaft. McGraves zählte sieben ausgewachsene Tiere, dazwischen vier Jungtiere. »Dreitausend Meter, Sir«, ließ sich sein Pilot vernehmen. »Sind gleich da.« Auf dem Armaturenbrett über dem eingebauten, schweren Funkgerät flimmerten neun grüne Lämpchen. Die Phase zu den anderen Schwebern war offen. Jeder hatte mitgehört. »Zielpunkt erreicht.« Vor und unter McGraves’ Schweber öffnete sich die Bodensenke, schüsselförmig, rund 20 Meter tief. »Ausschwärmen. Absichern«, kamen die Befehle des Majors. Die zehn Fahrzeuge nahmen auf der Kante der Senke strategische Positionen ein, drehten sich mit dem Heck zur Mulde und sanken zu Boden. Staub und Gras wirbelten hoch und wurden vom Wind davongetrieben. Kaum gelandet, flogen die Heckklappen auf, und die Infanteristen stürzten heraus. Sie schwärmten aus und schlossen das Zielgebiet mit angeschlagenen Waffen ringförmig ein. Ein Manöver wie im Lehrbuch, konstatierte Major McGraves mit zufriedener Miene. Er klopfte gegen das Bügelmikrofon vor seinem Mund. »Männer! Gratulation! Besser war diese Umfassung nicht zu machen. Bin sehr zufrieden und denke…« Niemand sollte erfahren, was der Major dachte. »Sir!« drängte sich Greers erregte Stimme in die Kopfhörer aller Infanteristen. »Sehen Sie.« Der Major folgte dem ausgestreckten Arm seines Stabsfeldwebels. »Himmel«, preßte er hervor und war sich bewußt, daß jedes seiner Worte von den anderen über Helmfunk registriert wurde, »da drunten ist was…« In einiger Entfernung, auf dem Grund der Senke, sahen er und
seine Männer etwas, das wie die zerfallenen Reste eines Zeltlagers aussahen. Das, was noch stand, wirkte wie ein – McGraves suchte in seinen Erinnerungen – wie ein geplündertes Dorf aus Rundzelten. »Greer, Varo, Nunez«, sagte er und nannte auch die anderen sieben Zugführer. »Je zwei Mann bleiben bei den Fahrzeugen. Der Rest rückt nach unten vor.« Sie erreichten den Grund der Senke und gingen mit gebotener Vorsicht auf die Reste des Lagers zu. »Achtet auf Spuren!« sagte McGraves laut. Sie fanden mehr als nur Spuren. In den Gassen zwischen den Trümmern des Dorfes lagen einige zerrissene und in der extrem trockenen Wüstenluft konservierte Kadaver von Echsen. Die schuppige Haut spannte sich wie straffes Pergament über die Knochen. Mäuler klafften und Reihen von scharfen Zähnen blinkten in der Sonne. »Verdammt, was ist hier abgelaufen?« flüsterte jemand und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Auf dem Grund des Kessels herrschte in der stehenden Luft eine noch größere Hitze als oben auf der Ebene. McGraves kniete sich beim ersten Kadaver nieder und versuchte, verwertbare Zeichen dessen zu entdecken, was der Echse widerfahren sein könnte. Vor allem aber interessierte ihn, um welche Art von Echsen es sich handelte. Die Tatsache, daß man die Überreste in einer Art Dorf gefunden hatte, ließ den Schluß zu… Rasch entschlossen stellte der Major eine Funkverbindung zur ANZIO her. »Sagen Sie mir, Bretan, um welche Echsenart es sich hier handelt«, verlangte er und richtete die Linse seines Viphos auf den vor ihm liegenden Torso. Sein Verdacht bestätigte sich. Es handelte sich nach Bretans Worten um Klugechsen. »Seien Sie ja vorsichtig«, warnte der Sahara-Kolonist. »Lebende Exemplare von denen könnten durchaus in der Nähe sein.« »Danke«, sagte der Major und schaltete ab. Er hob die Hand und
machte ein paar schnelle Zeichen. Die Soldaten bildeten einen Kreis um das Dorf und richteten ihre Waffen nach draußen. »Sehen Sie her, Major!« erreichte ihn die Stimme Greers; der Zugführer hielt ihm in der ausgestreckten Hand etwas hin. McGraves nahm es entgegen und stieß einen leisen, überraschten Pfiff aus. Was er in der Hand hielt, war eine kleine Statue von ausgesuchter Häßlichkeit. Allerdings hütete sich der Major, zu verallgemeinern. Was für den einen häßlich, war für den anderen von anbetungswürdiger Schönheit, wußte er. »Gibt es noch mehr davon?« »Hier, Sir!« Nufiez hatte noch mehr bei den Leichen gefunden und zu einem kleinen Haufen zusammengescharrt. Er trat zur Seite und gab den Blick frei auf zerbrochene Steingefäße und noch mehr der kleinen Figürchen. Waren es Opfergaben? Dienten sie zur Anbetung irgendwelcher Götter? Wenn ja, war dieses Dorf eventuell eine Kultstätte? Eine Sensation war der Fund allemal – und Auslöser dafür, daß die Geschichte Saharas wohl neu geschrieben werden mußte. Denn entweder waren die Klugechsen selbst mit Verstand begabt, oder die Bewohner des Dorfes waren von den Echsen überfallen worden. Wenn ja, dann mußte man Sahara eine Kultur zugestehen, mochte sie noch so primitiv sein. Gleichzeitig jedoch ergab sich daraus, daß die Besiedelung durch die Terraner ein illegaler Akt war. Plötzlich ertönten Flüche aus den Kopfhörern, und über allem erhob sich die Stimme eines der Raumsoldaten, die als Wachen bei den Schwebern zurückgeblieben waren. »Feldwebel Parong!« »Was gibt es, Soldat Grenn?« Zugführer Parong hatte das Mitglied seines Teams erkannt. Grenn rief scharf, während über die offene Phase Flüche und Schreie durchdrangen: »Kontakt auf zwölf Uhr! Wir werden von einer Horde Hunde angegriffen! Es sind mehrere hundert Gendog-
gen.« Schüsse klangen auf. Zuerst einzeln, dann kam stakkatoartiges Dauerfeuer, untermalt vom Geheule und Gejaule getroffener Tiere. McGraves brauchte keine Sekunde zum Überlegen. »Soldat Grenn. Wir haben Sie empfangen. Halten Sie die Stellung, wir werden zu Ihnen aufschließen!« »Verstanden, Sir!« McGraves wirbelte herum, seine Faust stieß in die Luft, als er sich an die Truppe wandte. »Ihr habt gehört, was dort oben abgeht! Vorwärts, Männer, wir wollen die Kameraden nicht im Stich lassen. Hoch mit euch!« Die Truppe rannte los. Unter den Stiefeln wirbelten Staub, Sand und Dreck auf. Mit pfeifenden Lungen und schweißtriefenden Gesichtern bewegten sich die Soldaten wie eine umgekehrte Lawine den Hang hinauf. Die Schießerei schien nicht enden zu wollen. Dann: »Himmel und Hölle, sie haben Kana erwischt…« Ein lang andauernder Feuerstoß. »Da hast du’s!« »Grenn!« Greers drängende Stimme. »Fähnrich Grenn! Melden Sie sich! Was ist vorgefallen?« Die Hangkante kam näher. Wenige Schritte noch, und sie hatten freien Blick auf die Geschehnisse. .»… sie haben Kana erwischt. Mehrere Hunde haben Kana erwischt, verdammte Köter…« Endlich. Wie eine Flutwelle strömte die Truppe über die Kante. »Sehen Sie, Major! Auf zwei Uhr!« McGraves Blicke flogen in die angegebene Richtung. Auf einer kleinen Kuppe stand eine Dogge, die an Größe alles, was er bisher gesehen hatte, in den Schatten stellte. Noch während McGraves sich den Schweiß aus den Augen blinzelte, riß der Rudelführer die mächtigen Fänge auf und stieß ein weithin hallendes Geheul aus. Die Hunde ließen sofort von den Soldaten ab und flohen unter Kläffen und Heulen in die Wüste.
Entlang der Senke war der Boden zwischen den Schwebern übersät mit Kadavern toter Tiere, darunter waren auch viele Jungtiere, wie McGraves mit Erstaunen registrierte. Die Männer, die als Wachen zurückgeblieben waren, hatten einen Kreis um den verletzten Kameraden gebildet. Zwei Sanitäter kümmerte sich inzwischen um den verletzten Kana, während die Truppe ausschwärmte und einen undurchdringlichen Sicherungsring bildete. Aber es gab nichts mehr zu sichern. Von den Hunden waren nur noch Staubwolken in der Ferne zu sehen, die sich aber schon aufzulösen begannen. »Wie sieht’s aus?« McGraves trat zu den Sanitätern. »Schlimm?« »Schlimm«, bestätigte einer. »Hier können wir nichts für ihn tun.« »Bringen Sie Kana sofort ins Schiff. Ich informiere den Colonel.« Der Major trat zur Seite und rief über sein Kommandovipho die ANZIO. Als Vegas auf dem winzigen Karree erschien, informierte er den Colonel im Telegrammstil über das Vorgefallene. Noch während er redete, verfrachteten die Männer den schwerverletzten Kana in einen Schweber und machten sich auf den Rückflug zum Schulschiff. »… noch einmal, ehester. Sie haben was gesehen?« »Ich verstehe nicht was…« Der Colonel ließ ihn nicht ausreden. »Ihre letzten Worte«, drängte er. »Wiederhole Sie sie!« »Ich sagte: Unter den toten Tieren sind auch viele Welpen. Übrigens, auf dem Weg hierher habe ich schon einmal ein Rudel in der Wüste gesehen, das Nachwuchs dabeihatte…« »Das kann nicht sein.« Vegas’ Abbild auf dem Karree des winzigen Schirms schüttelte den Kopf. »Laut GenLabs sind die Gendoggen unfruchtbar! Was geht da auf Sahara vor?« »Diesen Widerspruch aufzulösen, überlasse ich gerne Ihnen, Colonel«, erwiderte McGraves. »Sorgen Sie für meinen verletzten Mann. Ich werde versuchen herauszufinden, was es mit den Ruinen
in der Senke auf sich hat – falls es mir gelingt.« »Verstanden. Wir haben Ihre Position. Wenn Sie Hilfe brauchen, können wir in ein paar Minuten bei Ihnen sein.« »Danke, Colonel.« McGraves unterbrach die Verbindung. * Munros Stern über dem Horizont war ein jetzt rot-orangefarbener Ball, der eine merkwürdig düstere Stimmung über die Wüste breitete. Schmale Wolkenbänder zerteilten das von der Lichtbrechung optisch vergrößerte Gestirn in unterschiedlich starke Streifen. McGraves hatte die Zugführer um sich geschart, um sie darüber zu informieren, was er als nächstes zu tun gedachte. »Sir!« Ein paar Schritte entfernt gab einer der Männer Handzeichen, die besagten, daß er etwas entdeckt hatte. »Was gibt es, Soldat?« Wortlos deutet der Mann nach unten. Da war eine Bewegung im Sand. McGraves’ Augen verengten sich. Im Zentrum der Mulde mühte sich eine schwerverletzte Gendogge ab, das zerstörte Dorf zu erreichen. Etwas an ihrem Verhalten machte den Major stutzig. »Soll ich, Sir…?« Der Soldat hob den Multikarabiner. Andere taten es ihm gleich. »Stop! Nicht schießen!« kam McGraves’ scharfes Kommando. »Niemand nähert sich dem Tier. Es wird nur beobachtet…« »… und da ward es nicht mehr gesehen«, kam eine lakonisch klingende Stimme über die Kopfhörer. Tatsächlich war die Gendogge plötzlich verschwunden, kaum daß sie das Trümmerfeld erreicht hatte. »Wir sollten einen Trupp hinterherschicken«, schlug Greer vor; der Stabsfeldwebel ließ auch keinen Zweifel daran, daß er die Einheit
anzuführen gedachte. McGraves war nahe daran, Greers Ansinnen zuzustimmen, als sich erneut die ANZIO meldete. »Hören Sie, Chester«, ließ Colonel Vegas ihn wissen, »Ihr Mann wird es nicht mehr lange machen. Der Arzt hat zwar alle erdenklichen Maßnahmen getroffen, sieht aber kaum Chancen, ihn zu retten.« »Danke, Colonel.« McGraves nickte mechanisch. Das war zu erwarten gewesen, er selbst hatte die Verletzungen gesehen und sich keine Hoffnungen gemacht, daß Kana eine Chance zum Überleben haben würde. Rufe stoppten McGraves’ Gedankenflug. Aufmerksam geworden, sah er die Männer gestikulieren – und den Grund dafür. Ein einzelner Soldat hatte sich aus der Phalanx gelöst und lief mit weiten Schritten den Hang hinunter. »Ich werde das verdammte Vieh umbringen«, hörte man seine Stimme, verstärkt durch die Form der Senke. »Wer ist der Mann?« schnappte der Major. »Fähnrich Kesch. Er und Kana sind enge Freunde«, informierte ihn Greer. »Ich könnte ihn von hier aus stoppen, Sir?« bot Nunez an und schob den Hebel an seinem Multikarabiner auf Paralysemodus. »Lassen Sie das«, erwiderte McGraves scharf. »Nehmen Sie Ihre Männer und folgen Sie mir. Sie, Greer, halten mit dem Rest der Truppe hier oben die Stellung… nicht daß wir wieder eine Überraschung erleben.« »Zu Befehl, Sir.« Schnell hatten sie den Grund der Senke erreicht und liefen auf die Reste des Dorfes zu. Sie hatten noch knappe zehn Meter zu überwinden, als Kesch wieder aus den Überresten auftauchte und erregt mit den Armen fuchtelte. »Hier rüber!« rief er. »Hierher, Männer…!«
Das, was Kesch entdeckt hatte, verbarg sich zwischen den zerstörten Zelten. Der Fähnrich hatte die Reste eines Zeltes bereits zur Seite geräumt und deutete auf den Eingang einer Höhle im Boden, mit aufgeschichteten Steinen eingefaßt wie ein Brunnenrand. »Der Hund hat sich dort drin verkrochen, sehen Sie die Spuren?« Nunez leuchtete mit dem Scheinwerfer in die schmale Öffnung hinein. Hinter der Einfassung öffnete sich ein niedriger Gang, der sich jenseits des Lichtkegels im Dunkeln verlor. Er führte nicht steil in die Tiefe, sondern senkte sich nur allmählich hinab. Der Zugführer wandte sich McGraves zu, so daß der Major die Frage in den Augen des Mannes lesen konnte. Er nickte. »Wir gehen hinein«, entschied er. McGraves bestimmte zwanzig Mann, die mit ihm in die Höhle eindringen sollten. »Ihr anderen sichert das Dorf«, gab er seine Befehle. »Haltet Verbindung zu uns und den Schwebern.« Nunez hob die Hand. »Also vorwärts, Männer!« Sie machten sich an den Einstieg und begannen im Gänsemarsch in den leicht nach unten verlaufenden, anfangs engen Stollen vorzudringen, der sich rasch erweiterte. Der Major, unmittelbar hinter Nunez gehend, spürte ein leichtes Unbehagen. Gewohnt an die Weiten des Weltraums, fühlte er sich zwischen den Wänden eingeengt, fast machtlos, was den Radius seiner Bewegungsfreiheit anbelangte. Hier stieg er in eine andere Welt ein. Eine Welt, die er nicht kannte und die voller unbekannter Gefahren sein mochte. Die Luft veränderte sich. War sie zu Beginn von einer dumpfen, von mannigfachen Gerüchen durchsetzten Hitze, erschien sie jetzt richtiggehend kühl. Die Schulterscheinwerfer der Kampfwesten durchdrangen die Dunkelheit, dennoch gab es viele Schatten. Zu viele für McGraves’
Geschmack. Und den seiner Männer. Aus den Kopfhörern drang Gemurmel. Jemand sagte laut: »Verdammte Dunkelheit.« Ein anderer: »Da ist doch was. Ich… aiii!« Mit einem plötzlichen Schrei endete die Stimme. McGraves überlief ein eiskalter Schauer, als die sich überschneidenden Lichtbahnen der Scheinwerfer ein blutgefrierendes Bild enthüllten: Ein Soldat hing in den Fängen der Gendogge, die ihn wie eine Beute am Genick hielt, jedoch nicht zubiß, obwohl es nur eines leichten Drucks bedurft hätte, ihm die Nackenwirbel zu zermalmen. »Es ist das verwundete Tier«, machte Fähnrich Kesch die anderen aufmerksam. »Die Narben sind noch ganz frisch, aber verheilt. Das Biest ist urplötzlich genesen! Was zur Hölle läuft hier ab?« Darauf konnte McGraves keine Antwort geben. Er konnte nur Keschs Ansicht teilen. Aber warum war die Dogge klitschnaß? Eine weitere Ungereimtheit. »Vielleicht hat GenLabs den Doggen zusätzlich Selbstheilungskräfte in die Gene geschleust, damit sie die Kämpfe mit den Echsen besser überstehen?« mutmaßte jemand, während sich der riesige Hund drohend knurrend mit dem Mann im Maul rückwärts in Richtung Ausgang bewegte. Nicht nur McGraves erkannte die Überlegtheit dieses Vorgehens, das Geschick, mit dem das Tier sein Opfer zwischen sich und den Männern hielt und mit sich schleifte. Es hatte fast den Anschein, als ob die Dogge den Mann als Geisel benutzte. Würde jemand das Tier zu erschießen versuchen, wäre auch das Leben des Soldaten gefährdet. Ob es das wußte? Was es nicht wußte, war die Tatsache, daß man nicht unbedingt jemanden erschießen mußte, um ihn kampfunfähig zu machen. McGraves Daumen legte den Hebel um, der den Karabiner in den Paralysemodus versetzte, und schoß ohne Vorwarnung.
Die Gendogge fiel augenblicklich um. Die mächtigen Kiefer öffneten sich, als die Spannung der Muskeln nachließ, und der Nacken des Bedauernswerten glitt aus den Fängen. Der Befreite begann sofort zu schnarchen; McGraves hatte den Paralysestrahl breit gefächert, um die Dogge auch wirklich sofort außer Gefecht zu setzen. »Sowas nennt man wohl Kollateralschaden, Sir.« Nunez grinste schwach. McGraves zuckte die Schultern. »Wenn’s hilft… er wird nicht lange schlafen und mit erträglichen Kopfschmerzen aufwachen. Versorgt die Wunde in seinem Genick.« Inzwischen hatten ein paar Männer sich um die Gendogge bemüht. Mit Erfolg. McGraves nickte zufrieden. Läufe und Schnauze waren mit den breiten Klebebändern verschnürt, die üblicherweise dazu benutzt wurden, Ersatzmagazine an den Karabinern zu befestigen. McGraves ließ zwei Wachen bei dem betäubten Kameraden und dem Tier zurück und rückte mit den anderen weiter vor. Wieso war der Hund naß? Vielleicht würde er die Frage beantwortet bekommen, wenn sie das Ende dieser Exkursion im Untergrund Saharas erreichten. Die Wände des Stollens rückten wieder näher zusammen. McGraves preßte die Waffe fest an sich und begann schneller zu laufen, als er merkte, daß Nunez nur noch als Schatten vor ihm zu erkennen war. Dann begann der Stollen sich wieder zu weiten, war jetzt über zwei Meter hoch und ebenso breit. Hin und wieder spürte der Major Pfützen unter seinen Füßen. Sickerwasser, dessen Spuren die Wände trugen. War die Dogge dadurch so naß geworden? Kaum vorstellbar. Er leuchtete den Boden ab, sah im Licht der Lampen Scherben von Gefäßen, kleinen Gebrauchsgegenständen und Figürchen von der Art, wie sie schon auf der Oberfläche gefunden worden waren.
Immer mehr verdichtete sich die Wahrscheinlichkeit, daß auf Sahara eine Vor-LYRA-Zivilisation beheimatet sein mußte, mochte sie noch so primitiv sein. Nur, wer waren die Ureinwohner? Bis jetzt hatten sie noch keinen einzigen Hinweis auf eine intelligente einheimische Bevölkerung gefunden. Ob es sich bei ihr vielleicht doch um die Echsen handelte…? McGraves wußte es nicht, konnte es sich auch nicht so recht vorstellen. Er merkte, daß er inzwischen von mehreren seiner Leute überholt worden war, und lief weiter. Gemurmel wurde schwach in seinen Kopfhörern laut. Andere Geräusche mischten sich dazwischen. Ein Rauschen wie von fließendem… Wasser? McGraves schüttelte den Kopf. Fließendes Wasser! Wahrscheinlicher war, daß ihm seine Sinne einen Streich spielten. Sollte ja vorkommen, wenn man sich auf einem unbekannten Planeten im unbekannten Terrain und dazu noch unter der Oberfläche in kompletter Dunkelheit bewegte und jeden Augenblick damit rechnen konnte, sich unerwartet schrecklichen Gefahren ausgesetzt zu sehen… Er lief so plötzlich in eine große Höhle hinein, daß er völlig überrascht war. Ebenso überrascht, wie es den Männern ergangen war, die schon vor ihm diese unterirdische Halle erreicht hatten. Perplex stoppte McGraves so plötzlich, daß der hinter ihm laufende Soldat ihn fast über den Haufen gerannt hätte. »… ‘zeihung, Sir!« kam seine gemurmelte Entschuldigung. McGraves winkte mechanisch ab, gefesselt von dem, was er sah. Was alle sahen. Die Höhle war von einem sanften Schimmer erhellt, den der Teich verbreitete, der sich unmittelbar vor ihnen von Wand zu Wand ausbreitete und keine Möglichkeit bot, ihn zu umgehen. Das Wasser leuchtete aus sich heraus. Vermutlich enthielt es lumineszierende
Stoffe im Überfluß. »Dort drüben!« Kesch streckte den Arm aus und deutete zur gegenüberliegenden Seite. Nur durch das Wasser zu erreichen, stand eine geheimnisvoll anmutende Apparatur, etwa fünf Meter hoch, die im Licht des Teiches golden schimmernde. Von ihr stammten die Geräusche, die McGraves über die Außenlautsprecher gehört hatte: das Murmeln und Plätschern. Wie es den Anschein hatte, pumpte das fremdartige Aggregat Wasser aus dem See, um es oben aus einem Rohrendstück in einem armdicken Strahl wieder in den See zu spucken. Eine Filteranlage? Eine Vorrichtung zur Anreicherung des Wasser mit… ja, womit? McGraves hütete sich, zu spekulieren. Die Maschine konnte alles sein – oder gar nichts. »Major!« Kesch hatte sich am Ufer niedergekniet und den Boden in Augenschein genommen. Er fuhr mit den in Handschuhen steckenden Fingern über ein paar dunkle Stellen. Dann hielt er sie dicht vor die Nase, roch daran. »Eindeutig Blutspuren, Sir«, ließ er verlauten. »Hier muß die Gendogge ins Wasser gekrochen sein.« »Wozu, Fähnrich?« Kesch hob die Arme und kehrte die Handflächen nach außen. »Vielleicht enthält das Wasser Enzyme oder andere Stoffe, die in der Lage sind, Wunden zu heilen. Wer weiß das zum jetzigen Zeitpunkt zu sagen.« »Hmm.« McGraves kaute auf seiner Unterlippe. »Ich…« Er sollte nicht dazu kommen, seinen Satz zu vollenden. Das Armbandvipho schlug an. Colonel Vegas meldete sich von der ANZIO. »Bericht, Major.« McGraves informierten den Kommandanten mit wenigen Sätzen darüber, was sie gefunden hatten, und schloß mit den Worten:. »Es
bedarf ausgedehnter Untersuchungen, um Sinn und Zweck dieser geheimnisvollen Anlage zu ergründen, Colonel.« »Dazu wird sich sicher Gelegenheit bieten, Chester«, versprach Vegas. »Aber zunächst würde ich Ihnen nahelegen, zurückzukehren. Ihr Mann stirbt. Die Medizinische Station kann ihn nicht viel länger am Leben halten.« »Wird wohl das beste sein«, nickte der Major. »Äh, eines vielleicht noch, ehe wir die Zelte hier abbrechen. Können Sie die Ortung veranlassen, zu prüfen, ob hier im Umkreis energieerzeugende Systeme angemessen werden können?« Es dauerte nur Augenblicke, dann meldete sich Vegas zurück. »Keine«, ließ er wissen. »Nur die Geräte Ihrer Infanteristen, Chester. War’s das?« »Nein!« kam McGraves Entscheidung, dem während der Wartezeit eine kühne Eingebung gekommen war. »Hören Sie zu, Colonel. Was ich jetzt von Ihnen verlange, mag Ihnen verrückt vorkommen. Aber ich bitte Sie, Kana hierher bringen zu lassen. Wenn er, wie Sie sagen, sowieso keine Überlebenschancen hat, wird der Transport seinen Zustand kaum verschlechtern. Und stellen Sie keine Fragen, Colonel, ich bitte Sie inständig. Tun Sie es einfach!« Vegas runzelte die Stirn, lauschte McGraves’ Worten ein paar Sekunden nach. Dann nickte er. »Ich kenne Sie lange genug, Chester, um zu wissen, daß Sie nicht grundlos handeln. Ich leite den Transport in die Wege. In zehn Minuten wird er bei Ihnen sein.« »Danke, Roy. Werd’ ich Ihnen nicht vergessen.« Vegas winkte mit einem knappen Lächeln ab. »Keine voreiligen Versprechungen, Chester. Vielleicht muß ich Sie früher beim Wort nehmen, als Sie denken.« »Jederzeit, Colonel«, murmelte McGraves und schaltete für eine Sekunde die Kommandofrequenz gegen Null. Es mußte ja nicht jeder mithören, am allerwenigsten der Betroffene. »Jederzeit, alter Freund…«
Es dauerte exakt neun Minuten, dann erschienen die Sanitäter aus der ANZIO in der Höhle. Zwischen sich hatten sie die Antigravliege mit dem sterbenden Kana, dessen physiologische Funktionen nur noch von dem Lebenserhaltungssystem, das wie eine mechanische Spinne über seinem Kopf befestigt war, mühsam aufrechterhalten wurden. »Was jetzt, Sir?« »Entfernen Sie die Apparaturen von ihm und tauchen Sie ihn ins Wasser.« »Das kann ich nicht«, weigerte sich der Sanitäter. »Es wäre juristisch ein Mord. Ohne seine oder die Einwilligung eines nächsten Angehörigen oder die eines beauftragten Rechtsanwaltes kann ich die Systeme nicht abschalten.« McGraves lief dunkelrot an, zerkaute einen Fluch zwischen den Lippen. Dann hob er für alle unerwartet einfach die Waffe und richtete die Mündung auf den Wortführer der Sanitäter. »Dort hinein«, befahl er, und die Muskeln um seinen Mund traten hart hervor. Er deute auf den Teich. »Tauchen Sie ihn unter.« »Auf Ihre Verantwortung.« »Auf meine Verantwortung«, stieß der Major mit schneidender Stimme hervor, »und vor meinen Männern als Zeugen. Tun Sie jetzt, was ich Ihnen sage, Soldat. Und tun Sie es schnell!« »Zu Befehl, Sir!« Mit raschen Bewegungen lösten die beiden Sanitätsmaate sämtliche Verbindungen zum Lebenserhaltungssystem, packten den sterbenden Kana an Schultern und Füßen und legten ihn ins Wasser. Der tödlich Verletzte ging unter – und tauchte im nächsten Augenblick wieder auf. Laute der Überraschung erfüllten die Höhle, Durcheinandergerede, ungläubige Ausrufe. »… seht nur, die Wunden schließen sich wie im Zeitraffer!« »… Teufelszeug…«
»… Quatsch, das pure Leben.« Ein lautes Seufzen ertönte – und Kana schlug die Augen auf. Jemand sagte ehrfürchtig: »Das Elixier des Lebens!« ENDE Ein Universum Release
Die POINT OF Der Ringraumer POINT OF wurde vor über 1 000 Jahren von den Mysterious oder Worgun auf dem Planeten Hope, 27.000 Lichtjahre von der Erde entfernt, erbaut, aber nicht vollständig fertiggestellt. Auf der Flucht vor den Schergen des Cattaner Stadtpräsidenten Rocco, Mitte September 2051, fanden die Deportierten um Ren Dhark das zu 90 Prozent fertiggestellte Raumschiff in einer Höhle auf dem kleinsten Kontinent Deluge, über 700 Kilometer von Main Island entfernt. Die Höhle, knapp 200 Meter durchmessend und kaum 50 Meter hoch, diente als rundum verschlossener Hangar für das Schiff. Nach Roccos Tod und der Rehabilitation der Deportierten wurde der Raumer von terranischen Wissenschaftlern fertiggestellt. Die Ringraumerhöhle lag unter einem bis zu 4000 Meter hohen Gebirge. Das Raumschiff verließ die Höhle mittels Intervall, d. h. es durchflog das Gestein im Schutz des künstlichen Zwischenraums. Der Jungfernflug der POINT OF fand am 15. März 2052 statt. Den Namen POINT OF INTERROGATION (=Fragezeichen) erhielt das Raumschiff vom Flashpiloten Pjetr Wonzeff Ende Oktober 2051, da alles, was mit den Hinterlassenschaften der Mysterious zu tun hatte, ein einziges Fragezeichen für die Menschen war. Der vollständige Name findet eigentlich nie Erwähnung, sondern immer nur die Abkürzung »POINT OF«. Technische Daten: Durchmesser des Schiffstorus: 180 Meter Lichter Durchmesser innen: 110 Meter Torusdicke: 35 Meter Besatzung: minimal 50 Mann, ständige Besatzung 200 Personen Maximale Besatzungsstärke: 5000 Personen Stärke der Unitall-Schiffswandung: 0,50 Meter Flash-Beiboote: 28 Stück
Die POINT OF besitzt 8 Decks, das unterste bezeichnet mit Deck 1, dann aufsteigend bis Deck 8, dem obersten im Ringraumschiff. Im Frontbereich befindet sich die Zentrale des Schiffes. Bezeichnet man diesen Bereich mit »Norden«, so findet sich im »Süden« der Triebwerksblock. An den Stellen »Ost« und »West« befinden sich die Waffensteuerungen (WS-Ost, WS-West), die jeweils alle Strahlprojektoren steuern und einsetzen können.