Matthias Richter · Klaus Hurrelmann (Hrsg.) Gesundheitliche Ungleichheit
Matthias Richter Klaus Hurrelmann (Hrsg.)
Gesundheitliche Ungleichheit Grundlagen, Probleme, Perspektiven 2., aktualisierte Auflage
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1. Auflage 2006 2., aktualisierte Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Titelbild: Matthias Richter Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Mepel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16084-9
Vorwort zur aktualisierten Neuauflage
Die erste Auflage des Bandes „Gesundheitliche Ungleichheit“ war rasch vergriffen. Dies mag zwar auch für die Qualität des Bandes sprechen, ist vor allem aber ein Indiz dafür, dass sich Fragen der sozialen Ungleichheit – nicht nur in Bezug auf Gesundheit – in Deutschland immer drängender stellen. Ein hohes Ausmaß von gesundheitlicher Ungleichheit in einem Land kann – wie eine wachsende Zahl von Studien zeigt – als sensibler Indikator für einen Mangel an sozialer Kohäsion und kultureller Integration gewertet werden. Die Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten wird von vielen Staaten inzwischen als wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Qualität von Wohlfahrt und Lebensqualität und zur Stärkung gesellschaftlicher Solidarisierung gesehen. Es ist erfreulich, dass das Thema gesundheitliche Ungleichheit seit der Veröffentlichung der 1. Auflage im Jahr 2006 weiter an Bedeutung im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs gewonnen hat. Wir freuen uns deshalb, bereits nach kurzer Zeit eine zweite Auflage zu präsentieren. Die Chance haben wir gerne wahrgenommen und den Band einer umfassenden Aktualisierung unterzogen. Diese beinhaltet die Fortschreibung empirischer Daten sowie das Hinzufügen aktueller Literaturquellen und inhaltlicher Ergänzungen. Der Aufbau des Bandes blieb dabei erhalten. Wir hoffen, dass die 2. Auflage des vorliegenden Buches eine ebenso gute Aufnahme findet wie die Erstauflage. Bedanken möchten wir uns an dieser Stelle bei allen Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge gründlich durchgesehen und aktualisiert haben. Ebenfalls bedanken möchten wir uns bei Verena Bohn und Christina Kruse, die unterstützend beim Korrekturlesen aller Artikel mitgewirkt haben. Bielefeld, im Frühjahr 2009 Matthias Richter Klaus Hurrelmann
Vorwort zur 1. Auflage
In jeder bekannten Gesellschaft gibt es ein gewisses Ausmaß an sozialer Ungleichheit der Lebensverhältnisse. Solche Disparitäten werden in der Bevölkerung, aber auch in Politik und Wissenschaft als unvermeidlich und legitim hingenommen, weil sie zu einem Teil das Ergebnis von persönlichen Leistungen und natürlichen menschlichen Merkmalen sind. Eine akzeptabel empfundene Ungleichheit wird aber dann als nicht mehr akzeptabel und illegitim empfunden, wenn sie ein bestimmtes Ausmaß überschritten hat. Wird die Kluft zwischen den sozioökonomisch Privilegierten und den Benachteiligten zu groß, kommt es über kurz und lang zu Konflikten und Spannungen und der soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft ist gefährdet. Die sozial Benachteiligten sind nur so lange bereit, sich mit den für sie ungünstigen Besitz- und Machtstrukturen der Gesellschaft zu arrangieren, wenn sie den Eindruck haben, durch sie nicht dauerhaft in der Entfaltung ihrer Möglichkeiten behindert zu werden und die Chance zu haben, das moralische Grundprinzip der Gleichwertigkeit von Personen und der Fairness und Solidarität bei der Verteilung von Ressourcen als gültig und in Kraft befindlich zu erleben. Die soziale Ungleichheit, gemessen an den zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen, Anerkennungsmöglichkeiten und Bildungschancen, vergrößert sich in allen hoch entwickelten Gesellschaften. Die Schere im Lebensstandard zwischen den gut und den schlecht situierten Bevölkerungsgruppen hat sich auch in Deutschland als einem Land mit vergleichsweise stark ausgebautem sozialen Transfersystem seit 50 Jahren immer weiter vergrößert. Durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 hat sich dieser Prozess der wachsenden Disparitäten deutlich beschleunigt. Das Wohlstands- und das Bildungsniveau der Bevölkerung hat sich dadurch stark ausdifferenziert. Reiche Menschen sind noch reicher, arme Menschen in Relation zum Durchschnittseinkommen der Bevölkerung noch ärmer geworden. Auch die Kluft zwischen den erreichten Bildungsgraden hat sich vergrößert. In den Sozialwissenschaften sind die Konsequenzen dieser Entwicklung seit Jahren analysiert und beobachtet worden. In der öffentlichen Diskussion gibt es erste Anzeichen einer politischen Sensibilisierung, in dem auf die Ungerechtigkeit der Auswirkungen zum Beispiel der Verteilung von finanziellen Ressourcen hingewiesen und besonders die Benachteiligung von Haushalten mit Kindern beklagt wird. Soziale Ungleichheit strahlt aber nicht nur auf das Wohlstands- und Bildungsniveau aus, sondern hat massive Folgen für die Lebensqualität und die gesundheitliche Situation der unterschiedlich positionierten Bevölkerungsgruppen. In der internationalen sozial- und gesundheitswissenschaftlichen Forschung wurden die Zusammenhänge zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Thema gemacht. In dem Ausmaß, wie auch in Deutschland das Ausmaß sozialer Ungleichheit anwächst, wird das hiermit verbundene Thema der gesundheitlichen Ungleichheit in Theorie und Forschung virulent. An vielen Forschungsinstituten und Hochschulen haben sich in den letzten zehn Jahren Forschungsschwerpunkte mit dieser Ausrichtung gebildet.
8 Bisher fehlte es an einem umfassenden interdisziplinären Überblick über den bis heute erreichten Forschungstand in Theorie, Empirie und Praxis. Er soll mit diesem Band geleistet werden. Dazu konnten die gegenwärtig führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im deutschen Sprachraum gewonnen werden. Sie steuern aus ihren jeweiligen Arbeitsgebieten Beiträge zur theoretischen Erklärung der Ursachen und Wirkungen von gesundheitlicher Ungleichheit bei und gehen auch auf die Zusammenhänge zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit ein. Viele Beiträge in diesem Band repräsentieren auch Untersuchungen zu spezifischen Einflussfaktoren auf die gesundheitliche Ungleichheit. Großen Wert haben wir bei der Zusammenstellung der Beiträge auch auf gesundheitliche Ungleichheit im Lebenslauf gelegt. Nach allen bisher vorliegenden Erkenntnissen bauen sich wie bei der sozialen auch bei der gesundheitlichen Ungleichheit die positiven und die negativen Entwicklungspotentiale kumulativ über die gesamte Lebensspanne auf. Von Benachteiligungsprozessen sind dabei vor allem spezifische, „vulnerable“ Bevölkerungsgruppen betroffen. Der entsprechende Forschungsstand hierzu findet ebenfalls in mehreren Beiträgen dieses Bandes seinen Niederschlag. Im Schlussteil gehen die Autorinnen und Autoren auf den bisherigen Erkenntnisstand zu den Strategien zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit ein. Die enge Verzahnung zwischen Gesundheitspolitik und Sozial- und Gesellschaftspolitik wird dabei sehr deutlich. Als Herausgeber haben wir uns bei den Kolleginnen und Kollegen zu bedanken, die ihre wissenschaftlichen Beiträge für dieses Handbuch zur Verfügung gestellt haben. Dem VS-Verlag für Sozialwissenschaften, insbesondere Herrn Engelhardt, gebührt das Verdienst, die Bedeutung des bislang in Deutschland noch wenig beachteten Themas „Gesundheitliche Ungleichheit“ erkannt und einen repräsentativen Rahmen für die Publikation zur Verfügung gestellt zu haben. Besonders bedanken möchten wir uns bei Frau Veronika Ottova für ihre unermüdliche Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung des Bandes. Ebenfalls bedanken möchten wir uns bei Frau Kerstin Hoffarth und Frau Linna Lisette Gröppel für Ihre Unterstützung beim Korrekturlesen der Manuskripte. Wir hoffen, mit diesem Band zu einer genaueren Bestandsaufnahme und Analyse gesundheitlicher Ungleichheit in Deutschland beitragen zu können und zugleich zentrale Ansatzpunkte für die Erklärung beizusteuern. Im Sinne eines problemorientierten Verständnisses von Soziologie sind wir froh, auch zur sensiblen Frage der Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit gut abgesicherte sozialund politikwissenschaftliche Beiträge anbieten zu können. Matthias Richter Klaus Hurrelmann
Inhalt
Einführung 1
Gesundheitliche Ungleichheit: Ausgangsfragen und Herausforderungen Matthias Richter, Klaus Hurrelmann
13
Grundlagen der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit: Von der Makrozur Mikroebene 2
Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil? Stefan Hradil
3
Meso-soziologische Ansätze und die Bedeutung gesundheitlicher Unterschiede für die allgemeine Soziologie sozialer Ungleichheit Johann Behrens
4
Erklärungsansätze sozial differenzierter Gesundheitschancen Monika Jungbauer-Gans, Christiane Gross
35
55 77
Determinanten und Mechanismen gesundheitlicher Ungleichheit: Klassische Erklärungsansätze 5
6
7
8
Soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit: Erklärungsansätze aus umweltepidemiologischer Perspektive Gabriele Bolte, Martina Kohlhuber
99
Psychosoziale Belastungen im Erwachsenenalter: Ein Ansatz zur Erklärung sozialer Ungleichverteilung von Gesundheit? Richard Peter
117
Die Bedeutung verhaltensbezogener Faktoren im Kontext der sozialen Ungleichheit der Gesundheit Uwe Helmert, Friedrich Schorb
133
Der Einfluss sozialer Ungleichheit auf die medizinische und gesundheitsbezogene Versorgung in Deutschland Christian Janßen, Kirstin Grosse Frie, Hanna Dinger, Lars Schiffmann, Oliver Ommen
149
10
Inhalt
Aktuelle Perspektiven der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit 167
9
Soziales Kapital, soziale Ungleichheit und Gesundheit Johannes Siegrist, Nico Dragano, Olaf von dem Knesebeck
10
Die Lebenslaufperspektive gesundheitlicher Ungleichheit: Konzepte und Forschungsergebnisse Nico Dragano, Johannes Siegrist
181
Kulturelles Kapital, kollektive Lebensstile und die soziale Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit Thomas Abel, Andrea Abraham, Kathrin Sommerhalder
195
11
Gesundheitliche Ungleichheit im Lebenslauf 12
Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen Thomas Lampert, Matthias Richter
13
Ungleiche Gesundheitschancen bei Erwachsenen: Zusammenhänge und mögliche Erklärungsansätze Birgit Babitsch, Thomas Lampert, Stefan Müters, Matthias Morfeld
14
Gesundheitliche Ungleichheit im höheren Lebensalter Olaf von dem Knesebeck, Ingmar Schäfer
209
231 253
Querschnittsthemen gesundheitlicher Ungleichheit 267
15
Migration, Mortalität und der Healthy-migrant-Effekt Oliver Razum
16
Die Kategorie Geschlecht: Theoretische und empirische Implikationen für den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit Birgit Babitsch
283
Vulnerable Gruppen: „Verwundbarkeit“ als politik-sensibilisierende Metapher in der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit Waldemar Streich
301
17
Methodische Herausforderungen 18
19
Die Messung des sozioökonomischen Status in sozialepidemiologischen Studien Thomas Lampert, Lars E. Kroll
309
Die Messung der subjektiven Gesundheit: Stand der Forschung und Herausforderungen Michael Erhart, Nora Wille, Ulrike Ravens-Sieberer
335
11
Inhalt
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21
Strukturelle und verhaltensbezogene Faktoren gesundheitlicher Ungleichheit: Methodische Überlegungen zur Ermittlung der Erklärungsanteile Johannes Giesecke, Stefan Müters
353
Herausforderungen bei der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit in Europa: Ein Überblick aktueller Studien Anton E. Kunst
367
Methoden und Strategien zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit 22
23
24
25
26
Primärprävention als Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen Rolf Rosenbrock, Susanne Kümpers Gesundheitsförderung: Eine Strategie für mehr gesundheitliche Chancengleichheit jenseits von kassenfinanzierten Wellnessangeboten und wirkungslosen Kampagnen Thomas Altgeld
385
405
Strategien der Schule zur Kompensation importierter und Reduktion intern erzeugter gesundheitlicher Unterschiede bei Kindern und Jugendlichen Wolfgang Dür, Kristina Fürth, Robert Griebler
423
Kooperationsverbund zur Realisierung der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten in Deutschland Frank Lehmann
441
Quantitative Zielvorgaben zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit: Lernen von England und anderen westeuropäischen Staaten Andreas Mielck, Thomas Altgeld, Veronika Reisig, Susanne Kümpers
459
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
479
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Gesundheitliche Ungleichheit: Ausgangsfragen und Herausforderungen
Matthias Richter, Klaus Hurrelmann
1
Einleitung
Unsere Gesellschaft steht vor einem Paradox. Noch nie in der Geschichte waren die Menschen in der Bundesrepublik so gesund und durften sich über eine so hohe Lebenserwartung freuen. Ungeachtet der positiven gesamtgesellschaftlichen Entwicklung weist dieser Trend aber eine gravierend sozial ungleiche Verteilung auf, die sich als sehr hartnäckig erweist. Während sich die Gesundheit der Bevölkerung als ganzes positiv verändert, verbessert sich die gesundheitliche Situation sozial schlechter gestellter Personen langsamer als in der restlichen Bevölkerung (Graham & Kelly 2004, Marmot & Wilkinson 2003, 2006, Bauer et al. 2008). Dieser Effekt findet sich in allen Ländern, aus denen Daten vorliegen. Die Verteilung von Gesundheit und Krankheit folgt demnach einem gesellschaftlichen Muster und ändert sich in Abhängigkeit von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren (Marmot 1996). Wenn man versucht dieses gesellschaftliche Muster etwas genauer zu fassen, wird deutlich, dass es vor allem die Kerndimensionen sozialer Ungleichheit (Bildung, Beruf und Einkommen) sind, die entscheidenden Einfluss auf die gesundheitliche Lage nehmen. Zur Beschreibung dieses Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit hat sich in den letzten Jahren der Begriff „gesundheitliche Ungleichheit“ durchgesetzt (Mielck 2002, 2005). Gesundheitliche Ungleichheiten finden sich in den unterschiedlichsten Ausprägungen von Gesundheit und Krankheit. Personen mit einer niedrigen Bildung, beruflichen Stellung oder einem niedrigen Einkommen sterben in der Regel früher und leiden in ihrem ohnehin schon kürzeren Leben auch häufiger an gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Dies führt zu erheblichen Unterschieden in der Anzahl von Jahren, die Angehörige unterschiedlicher sozioökonomischen Gruppen erwarten können in guter Gesundheit zu verbringen (Mackenbach 2006, Lampert et al. 2007). Diese gesundheitlichen Ungleichheiten haben das Interesse der Wissenschaft nicht nur auf einen der mächtigsten Einflussfaktoren auf die Gesundheit gelenkt, sie repräsentieren zudem bedeutende gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, da ein breites Spektrum gesundheitlicher Ungleichheit nach den Konventionen des Sozialstaats nicht legitimiert sein dürfte (Elkeles & Mielck 1997a: 24, Wilkinson & Marmot 2003). Es besteht allgemein kein Zweifel, dass vermeidbare gesundheitliche Ungleichheiten ein Versagen moderner Gesellschaften darstellen, die angegangen werden können und müssen (Marmot 2005, Lahelma 2006, Siegris & Marmot 2006)). Die internationale Forschung über gesundheitliche Ungleichheit hat in den letzten Jahren deutliche Erkenntnisfortschritte in Bezug auf die Beschreibung und Erklärung der Beziehung zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit erzielen können (Bauer et al.
14
Matthias Richter, Klaus Hurrelmann
2008). Daneben sind zunehmend auch Versuche unternommen worden, sozioökonomische Unterschiede in der Gesundheit über die Entwicklung und Implementation von präventiven und gesundheitsförderlichen Maßnahmen zu verringern. Ziel dieses Einführungskapitels ist es, einen kurzen Überblick über diese Entwicklungen zu geben, um damit die Grundlage für die nachfolgenden Beiträge des Bandes zu schaffen.
2
Gesundheitliche Ungleichheit: Von der Beschreibung zur Reduzierung
Nach wie vor steht die Forschung und Praxis zur sozial ungleichen Verteilung von Gesundheitschancen vor drei großen Herausforderungen. Diese Herausforderungen beziehen sich 1) auf die Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit, d.h. auf die Darstellung und Analyse der Art und des Ausmaßes sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit. Die weiteren Herausforderungen zielen 2) auf die Erklärung und 3) auf die Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit ab. Im Mittelpunkt der Erklärung steht das Verständnis von Einflussfaktoren und Mechanismen der Produktion und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit. Die Reduzierung sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit wiederum geht der Frage nach, wie sich auf Grundlage des bestehenden Wissens über die Determinanten gesundheitlicher Ungleichheit Maßnahmen entwickeln und implementieren lassen, die zu einer Verringerung der Ungleichheiten führen. Diese drei Herausforderungen sind dabei nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern stellen aufeinander aufbauende Schritte dar, die in einem engen inhaltlichen Zusammenhang stehen (siehe Abb. 1.1). Sie können im Sinne eines „Public Health Action Cycles“ verstanden werden: Ausgehend von der Beschreibung der Situation erfolgt in einem nächsten Schritt die Analyse der Ursachen und Rahmenbedingungen gesundheitlicher Ungleichheiten. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse muss die Entwicklung und Implementation von Maßnahmen erfolgen. Anschließend sind die Interventionen zu evaluieren, womit wieder die aktuelle Situationsbeschreibung und ein neuer Kreislauf beginnen. Abbildung 1.1: Herausforderungen bei der Erforschung gesundheitlicher Ungleichheit Beschreibung
11 22
3 Reduzierung
Erklärung
3
Quelle: eigene Abbildung
Wie ist es jetzt um die Situation in Deutschland bestellt? Wo lässt sich die deutsche Forschung über gesundheitliche Ungleichheit in diesem Regelkreis verorten? Auch hierzulande ist inzwischen eine gewisse Kontinuität zumindest bei der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit zu verzeichnen. Nachdem die Tradition einer sozialwissenschaftlichen Be-
Gesundheitliche Ungleichheit: Ausgangsfragen und Herausforderungen
15
trachtungsweise von Gesundheit und Krankheit in Deutschland mit dem Ende des ersten Weltkriegs abrupt abbrach, wurde das Thema in den 1970er und 1980er Jahren zunächst nur zögerlich wieder aufgegriffen. Ausgangspunkt für die aktuelle Diskussion ist wahrscheinlich der Sammelband von Andreas Mielck aus dem Jahr 1994, der den damaligen Forschungsstand systematisch und umfassend zusammenfasst (Mielck 1994). In der Folgezeit wurden zahlreiche umfangreiche Monographien und Sammelbände veröffentlicht (Mielck 2000, 2005, Helmert et al. 2000, Mielck & Bloomfield 2001, Lampert et al. 2005, Bauer et al. 2008). Nach einer Zählung von Mielck (2005) lagen bis zum Jahr 2004 mehr als 680 Publikationen über die Art und das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheiten in Deutschland vor. Im letzten Jahr fand die Thematik auch Eingang in das Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (Sachverständigenrat 2005) ebenso wie in den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (BMGS 2005, siehe auch Lampert et al. 2005) und erreichte damit eine neue (politische) Dimension. Ein genauerer Blick auf diese Veröffentlichungen macht aber auch deutlich, dass ihr Schwerpunkt – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – eindeutig auf der Beschreibung sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit liegt. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern (wie etwa Großbritannien, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern), lässt sich immer noch ein erheblicher Nachholbedarf bezüglich der Ansätze zur Erklärung und Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten konstatieren. Dies betrifft nicht nur die empirische Forschung, sondern auch die theoretische Auseinandersetzung und Diskussion sowie die Umsetzung von Ergebnissen. Erst allmählich rücken neben der epidemiologischen Bestandsaufnahme auch Fragen der Erklärung und der praktischen Umsetzung der Forschungsergebnisse in den Mittelpunkt des Interesses (Richter & Mielck 2000, Mielck 2005, Lehmann & Weyers 2007). Auch das Engagement der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die Umsetzung der Forschungsergebnisse auf Projektebene zu dokumentieren und zu fördern, hat zu einer erheblichen Intensivierung der Diskussion über sozial ungleiche Gesundheitschancen geführt (BZgA 2003, siehe Lehmann in diesem Band). Dennoch konnten viele zentrale Fragestellungen über die Determinanten und Mechanismen gesundheitlicher Ungleichheiten noch nicht beantwortet werden. Deshalb ist es weiterhin wichtig, sich mit den Ursachen sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit zu befassen. Ohne die Kenntnis und das Verständnis möglicher Ursachen ist es auch nicht möglich, über Maßnahmen nachzudenken, wie diese Ungleichheiten verringert werden können. Auch besteht die Gefahr, die begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen für wenig effektive Maßnahmen aufzuwenden. Die Erklärung sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit ist dementsprechend eine wesentliche Voraussetzung für die Ableitung gesundheitspolitischer Empfehlungen. Erst auf der Basis detaillierter Forschungsergebnisse und der Entwicklung und Überprüfung von Erklärungsansätzen können fundierte Vorschläge zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit erarbeitet werden. Eine Entwicklung konkreter Handlungsempfehlungen ermöglicht dann eine Beteiligung an der aktuellen (gesundheits-)politischen Diskussion. Im Folgenden wird ausführlicher auf die drei oben beschriebenen Herausforderungen der Forschung und Praxis zu gesundheitlicher Ungleichheit eingegangen.
16 3
Matthias Richter, Klaus Hurrelmann
Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheiten
Über die letzten 25 Jahre hat die Forschung über den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit in unzähligen Studien eindeutige und überzeugende Belege vorgelegt, dass die Sozialstruktur entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit ausübt (zusammenfassend Adler & Ostrove 1999, Mielck 2000, 2005, Mackenbach 2006, Bauer et al. 2008). In der Regel wird für die Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheiten das traditionelle leistungs- und berufszentrierte Schichtmodell sozialer Ungleichheit herangezogen (siehe Lampert & Kroll in diesem Band). Im Mittelpunkt steht dementsprechend die „vertikale“ Gliederung der Gesellschaft, in der Regel gemessen über den Beruf, die Bildung und/oder das Einkommen der Personen. Für diese Dimensionen konnte analog zur soziologischen Ungleichheitsforschung gezeigt werden, dass Ungleichheiten in diesen Bereichen größer sind als viele andere Disparitäten in der Gesundheit. Auch in diesem Band stehen sozioökonomisch bedingte gesundheitliche Ungleichheiten im Mittelpunkt, d.h. Unterschiede in der Prävalenz und Inzidenz gesundheitlicher Beeinträchtigungen zwischen höheren und niedrigeren sozioökonomischen Statusgruppen. Daneben existieren andere Dimensionen sozialer Ungleichheit (z.B. Alter, Geschlecht, Migration, Familiengröße und Wohnort)1, die quer zu der beruflichen Stellung, dem Einkommen und der Bildung stehen. Diese Ungleichheiten werden häufig unter dem Begriff „horizontale soziale Ungleichheiten“ zusammengefasst (siehe Hradil in diesem Band). Da die Forschung in den letzten Jahren gezeigt hat, dass die Existenz und das Ausmaß sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit beispielsweise in Abhängigkeit des Alters, des Geschlechts und/oder der Nationalität variiert, greift der Band diese Diskussion auf (siehe die Beiträge von Razum, Babitsch und Streich). Im Folgenden werden mit Hilfe einer exemplarischen Auswahl aktueller Forschungsergebnisse die Art und der Umfang sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit dargestellt. Soziale Ungleichheiten in der Sterblichkeit stellen den wohl sichtbarsten und tiefgreifendsten Einfluss sozialer Faktoren auf die Verwirklichung von Lebenschancen und Lebenszielen dar, soweit diese über Gesundheit und Krankheit vermittelt sind (Siegrist 1995: 57). In Abbildung 1.2 ist ein Ergebnis über den Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und sozialer Ungleichheit dargestellt (Klosterhuis & Müller-Fahrnow 1994). Die Ergebnisse beruhen auf Daten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) und berücksichtigen Angaben zum Bruttoeinkommen verstorbener Versicherter. Auch wenn diese Studie schon etwas älter ist, vermag sie wichtige Erkenntnisse der Forschung zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit anschaulich darzustellen. Zum einen zeigt die Abbildung, dass Personen mit einem niedrigen Einkommen wesentlich häufiger frühzeitig sterben als Personen mit einem höheren Einkommen. Zum anderen lässt sich die gesundheitliche Chancenungleichheit nicht allein an den höheren Belastungen der am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen festmachen. Vielmehr durchzieht die Ungleichverteilung von Gesundheit und Krankheit die gesamte Sozialstruktur einer Gesellschaft. So existiert ein deutlicher sozialer Gradient in der Sterblichkeit, d.h. mit einer stufenweisen Abnahme des Einkom1
Hierbei ist zu bedenken, dass „natürliche“ Variationen, d.h. die ungleichen Ausprägungen biologischer Merkmale zwischen Menschen wie Hautfarbe oder Geschlecht, noch keine sozialen Ungleichheiten darstellen. Vielmehr können diese individuellen Ungleichheiten die Zuteilung knapper Güter oder Belohnungen (wie Bildung oder Einkommen) begünstigen. Sie stehen dementsprechend quer zu den vertikalen Dimensionen sozialer Ungleichheit und lassen sich auch nicht von ihnen abkoppeln.
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Gesundheitliche Ungleichheit: Ausgangsfragen und Herausforderungen
mens erhöht sich das Risiko frühzeitiger Sterblichkeit kontinuierlich. Prägnant ist weiterhin, dass es sich bei den hier dargestellten Daten um Angestellte handelt, d.h. um eine gesellschaftlich relativ gut gestellte Personengruppe. Der soziale Gradient verweist damit auf Prozesse relativer sozialer Benachteiligung zwischen den einzelnen sozialen Schichten, auf Faktoren also, die den gesellschaftlichen Differenzierungsprozess insgesamt – und nicht lediglich eine Teilgruppe – betreffen (Siegrist 1996). Abbildung 1.2: Einkommen und Mortalität bei männlichen Angestellten Todesfälle pro 100.000 Personen in der gleichen Einkommensgruppe
500 400
Todesfälle
300 200 100 0 27-34
35-42
43-50
51-58
59-64
> 64
Bruttoeinkommen 1985 (in 1.000 DM) Quelle: Klosterhuis & Müller-Fahrnow (1994), eigene Darstellung
Die internationale Forschung hat aufzeigen können, dass gesundheitliche Ungleichheiten ein allgegenwärtiges, universelles Phänomen darstellen. Sozioökonomische Unterschiede in der Gesundheit kennen keine Ländergrenzen. Bisher konnte für jedes Land, aus dem Daten vorliegen, nachgewiesen werden, dass die Sterblichkeit in Gruppen mit niedrigem beruflichem Status, Ausbildungsstand und Einkommen am höchsten ist (Mackenbach 2006). In Abb. 1.3 ist für vier europäische Länder das Verhältnis der Gesamtmortalität in der niedrigsten im Vergleich zur höchsten Bildungsgruppe (Rate Ratio) für den Zeitraum von 198185 bis 1991-95 aufgeführt.2 Ein Wert von 1,6 würde demnach bedeuten, dass Männer mit der niedrigsten Bildung ein 1,6-fach bzw. 60% höheres Risiko haben, frühzeitig zu versterben. Wie die Ergebnisse zeigen, findet sich für jedes der untersuchten Länder sowohl für Frauen als auch für Männer der gleiche Effekt: Personen mit niedriger Bildung weisen eine höhere Mortalität auf als Personen mit hoher Bildung. Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis ist, dass das Risiko frühzeitiger Sterblichkeit für Personen mit einem niedrigen sozioökonomischem Status (hier Bildungsstatus) nach einer vergleichsweise stabilen Phase in den letzten 15 Jahren in Europa unerwartet angestiegen ist (Mackenbach et al. 2002, Ma2
Derartige Ergebnisse für Deutschland aufzuzeigen, ist bis dato immer noch nicht möglich, da keine geeignete Datenbasis vorliegt.
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Matthias Richter, Klaus Hurrelmann
ckenbach 2006). Gerade für die westeuropäischen Länder mit ihrem hohen Wohlstandsniveau und den weit entwickelten sozialen Sicherungs- und Gesundheitssystemen ist dies beunruhigend. Besonders erschreckend erscheint, dass auch in den skandinavischen Ländern die gesundheitliche Lage der Ärmsten und Reichsten zunehmend auseinander klafft. Diese Länder galten lange Zeit als vorbildliche wohlfahrts- und sozialstaatliche Modelle, die in der Lage sind, den Einfluss sozialer Ungleichheiten abzufedern. Als Konsequenz sehen sich mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts alle hoch entwickelten Länder mit substantiellen gesundheitlichen Ungleichheiten konfrontiert, die einen deutlichen politischen Handlungsbedarf offenbaren, auch und gerade da es bislang keine Anzeichen einer Trendwende gibt. Abbildung 1.3: Gesamtmortalität in der niedrigsten im Vergleich zur höchsten Bildungsgruppe in vier Europäischen Ländern, Trends 1981-85 bis 1991-95 Rate Ratio für Gesamtmortalität nach Bildungsstatus 1981-85
1991-95
2,2
Männer
Frauen
2,0
Rate Ratio
1,8 1,6 1,4 1,2 1,0 Finnland
Norwegen
Dänemark
Turin
Finnland
Norwegen
Dänemark
Turin
Quelle: Mackenbach (2006): eigene Darstellung
Abbildung 1.3 macht auf einen weiteren allgemeingültigen Befund aufmerksam: In der Regel finden sich bei Frauen schwächere sozioökonomische Unterschiede in der Mortalität als bei Männern. Dieses Ergebnis kann teilweise auf unterschiedliche Todesursachen von Männern und Frauen zurückgeführt werden. So sterben Frauen häufiger an Krebs als Männer. Für Krebserkrankungen finden sich im Vergleich zu anderen Todesursachen generell schwächere gesundheitliche Ungleichheiten. Zudem sind bei Männern die sozioökonomischen Unterschiede bei einigen verhaltensbezogenen Risikofaktoren (z.B. Rauchen, fettreiche Nahrung, starker Alkoholkonsum) stärker ausgeprägt als bei Frauen, was zu größeren gesundheitlichen Ungleichheiten in der ursachenspezifischen Mortalität führt. Ähnliche Effekte finden sich auch bei anderen Gesundheitsindikatoren (siehe Babitsch in diesem Band).
Gesundheitliche Ungleichheit: Ausgangsfragen und Herausforderungen
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Mortalitätsraten messen nur eine – wenn auch dramatische – Konsequenz sozialer Ungleichheit. Der sozial ungleichen Verteilung der Mortalität geht gewöhnlich eine lebenslange Ungleichheit in der Verfügung über eine entscheidende Ressource der Lebensqualität, der Gesundheit, voran. Damit ergibt sich für Menschen in unteren Soziallagen ein doppeltes Handicap: Ihr Leben ist kürzer und gesundheitlich belasteter als das von Menschen in höheren Statuslagen (Steinkamp 1999). Während sich das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit in der Mortalität in den letzten Jahren insgesamt vergrößert hat, ist die Zunahme von Ungleichheiten in der Morbidität und der subjektiven Gesundheit allgemein weniger eindeutig. Es liegen jedoch Anzeichen vor, die darauf hinweisen, dass auch bei diesen Indikatoren ein leichter Anstieg der Ungleichheiten über die Zeit zu verzeichnen ist. Auch diese Ergebnisse zeigen auf wie unwahrscheinlich es ist, dass gesundheitliche Ungleichheiten automatisch verschwinden oder auf Grundlage bislang angewendeter Maßnahmen verringert werden können. Die Ergebnisse über den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit lassen sich folgendermaßen zusammenfassen (vgl. Mackenbach 2006): In allen Ländern, aus denen Daten vorliegen, ist die frühzeitige Sterblichkeit und die Lebenserwartung sozial ungleich verteilt. Dieser Effekt zeigt sich unabhängig davon, welche Indikatoren sozialer Ungleichheit verwendet werden (Bildung, Berufsstatus oder Einkommen). Gravierende gesundheitliche Ungleichheiten finden sich auch für die meisten spezifischen Erkrankungen und Behinderungen. Diese Zusammenhänge sind in der Regel linear: Je ungünstiger der sozioökonomische Status, desto höher die Sterblichkeit und desto niedriger die Lebenserwartung. Gleiches gilt für Erkrankungen. Die Vergrößerung einiger gesundheitlicher Ungleichheiten in den letzten Jahrzehnten – vor allem in der Mortalität – weist auf die Dringlichkeit dieses gesellschaftlichen Problems hin. Im Gegensatz zur Sterblichkeit sind gesundheitliche Ungleichheiten in der Morbidität über die letzten Jahrzehnte relativ stabil geblieben. Im Verbund mit Ungleichheiten in der Mortalität tragen sozioökonomische Unterschiede in der Morbidität zu gravierenden Ungleichheiten in der gesunden Lebenserwartung bei (d.h. der Anzahl der Jahre, die in guter Gesundheit verbracht werden). Die dargestellten Ergebnisse können eindrucksvoll belegen, dass Einkommen, Bildung und Berufsstatus zentrale Determinanten der Gesundheit sind. Ihr genauer Wirkungsmechanismus aber ist bis heute nur unzureichend verstanden, da sie weniger direkt auf die Gesundheit wirken, sondern vielmehr für andere Einflussfaktoren stehen. Im folgenden Abschnitt wird auf die bislang vorliegenden Kenntnisse über die Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit eingegangen.
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Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten
Bereits im Jahr 1993 schrieben Elkeles und Mielck, dass die Evidenz des Phänomens gesundheitlicher Ungleichheit inzwischen soweit deutlich und bekannt ist, dass die sich anschließende Frage um so mehr aufgeworfen wird, welches die Mechanismen sind, die diese
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Ungleichheiten verursachen (Elkeles & Mielck 1993: 2). Während sich die internationale Forschung in den vergangenen Jahren zunehmend der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit zugewandt hat, konzentrierte sich die Forschung über gesundheitliche Ungleichheiten in Deutschland weiterhin im Wesentlichen auf die (querschnittliche) Beschreibung sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit. Wenn überhaupt, befassten sich die Arbeiten eher auf theoretischer Ebene mit möglichen Erklärungsansätzen. Empirische Arbeiten thematisierten hingegen häufig nur einzelne Erklärungsfaktoren (z.B. Tabakkonsum oder psychosoziale Belastungen am Arbeitsplatz). Ebenso augenscheinlich wie eklatant ist das Fehlen von Forschungsarbeiten zur Frage nach dem relativen Erklärungsgehalt unterschiedlicher Determinanten und Mechanismen der Genese gesundheitlicher Ungleichheit. Dabei wäre gerade diese für eine Prioritätensetzung in der Prävention und Gesundheitsförderung dringend notwendig. Dennoch konnten verschiedene Einzelstudien das Geflecht an möglichen Einflussfaktoren stellenweise entwirren und zahlreiche Faktoren und Mechanismen identifizieren werden, die für gesundheitliche Ungleichheiten verantwortlich zu machen sind. Zu diesen Faktoren gehören z.B. ungünstige materielle Lebensbedingungen, gesundheitsrelevantes Verhalten und psychosoziale Faktoren. Multivariate Analysen haben zeigen können, dass etwa 40% bis 70% der sozioökonomischen Unterschiede in der Gesundheit durch diese Faktoren erklärt werden (Stronks et al. 1996, Richter & Mielck 2000, van Oort et al. 2005). Da in den folgenden Beiträgen des Bandes detailliert auf die einzelnen Erklärungsmodelle und -mechanismen eingegangen wird, sollen an dieser Stelle zunächst nur einige zentrale Ansätze vorgestellt werden, die einen wichtigen Einstiegspunkt zum Verständnis gesundheitlicher Ungleichheiten darstellen. Klassische Erklärungsansätze Frühe Debatten über die Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit, wie sie im „BlackReport“3 ihren Ausgang hatten, fokussierten im Wesentlichen auf drei verschiedene Erklärungsansätze, welche bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben (Bartley 2004, Bartley et al. 1998, Richter 2005, Mackenbach 2006, siehe auch Behrens und JungbauerGans & Gross in diesem Band). Diese Ansätze bestimmten in der Folgezeit nicht nur die internationale Diskussion, sondern haben sich auch bei der Systematisierung und Fortführung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit als sehr nützlich erwiesen. Ein Erklärungsansatz führt das Vorliegen sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit auf Selektionsprozesse zurück. Der Ausdruck „Selektion“ bezieht sich dabei auf Prozesse sozialer Mobilität (d.h. Veränderungen in der sozialen Position), in deren Rahmen eine gesundheitsbedingte „Auswahl“ stattfindet. Dabei wird angenommen, dass die Gesundheit den sozioökonomischen Status beeinflusst und nicht umgekehrt (siehe Dragano & Siegrist in diesem Band). Gemäß dem Motto „Survival of the fittest“ werden die beobachteten Ungleichheiten in der Mortalität und Morbidität dabei als das Ergebnis einer sozialen Aufstiegsbewegung der Gesunden und als sozialer Abstiegsprozess der Kranken angesehen 3
Der „Black Report“ fasst die Ergebnisse einer britischen Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Sir Douglas Black zusammen, die 1977 von der Regierung beauftragt wurde, empirische Angaben zu sozialen Unterschieden in der Mortalität und Morbidität zusammenzustellen, zu interpretieren und Maßnahmen für deren Reduzierung zu erarbeiten .
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werden (Steinkamp 1999). Auch wenn es einige Anhaltspunkte für derartige soziale Mobilitätsprozesse gibt, hat die Forschung insgesamt aufzeigen können, dass die Anzahl der hiervon betroffenen Personen zu gering ist, um entscheidenden Einfluss auf die beobachteten Unterschiede in der Gesundheit auszuüben (Mackenbach 2006, Lahelma 2006). Die beiden anderen Erklärungsversuche gehen im Unterschied zur Erklärung durch Selektionsprozesse davon aus, dass ein niedriger sozioökonomischer Status eine größere Gesundheitsgefährdung verursacht. Sie wurden dementsprechend oft auch als „Verursachungshypothese“ bezeichnet. Die beiden Ansätze betonen jedoch unterschiedliche Möglichkeiten der Verursachung. Der materielle Erklärungsansatz basiert – wie der Name es schon besagt – auf einer materiellen Interpretation gesundheitlicher Ungleichheiten. Personen, die sich am unteren Ende der Statushierarchie befinden, verfügen nicht nur über geringere finanzielle Ressourcen, sondern leben und arbeiten auch eher in gesundheitsschädlichen Umwelten. Demnach ist in erster Linie eine sozial ungleiche Verteilung materieller Lebensbedingungen, wie sie sich vornehmlich in der Einkommenssituation und den Wohnund Arbeitsverhältnissen niederschlagen, für den sozialen Gradienten verantwortlich (Laaksonen et al. 2005, siehe auch Bolte & Kohlhuber in diesem Band). Da viele dieser gesundheitsbeeinträchtigenden Faktoren in einem systematischen Zusammenhang stehen, ist die Exposition gegenüber einzelnen materiellen Faktoren eher sekundär. Von zentraler Bedeutung ist vielmehr die Gesamtheit aller Faktoren, denen bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgesetzt sind. Der kulturell-verhaltensbezogene Erklärungsansatz legt mehr Gewicht auf das Ergebnis, dass Personen mit niedriger Bildung oder niedrigem Berufsstatus eine „Kultur“ teilen, die gesundheitsschädigende Verhaltensweisen wie Tabak- und Alkoholkonsum, ungesundes Ernährungsverhalten oder körperliche Inaktivität „fördert“ (siehe Helmert & Schorb in diesem Band). Auch wenn diese Erklärung ursprünglich kulturelle Aspekte in den Mittelpunkt stellte, wurde sie zunehmend auf den Nachweis gesundheitsrelevanter Verhaltensdifferenzierungen zwischen den Statusgruppen reduziert (Mackenbach 2006). Dieser Aspekt wurde in den letzen Jahren zunehmend kritisiert und verschiedene Autoren haben versucht, über eine Anbindung an die Kapitaltheorie von Pierre Bourdieu, insbesondere das kulturelle Kapital, diesen Gedanken zu revitalisieren (Bartley 2005, siehe auch Abel et al. in diesem Band). Neben diesen drei Erklärungsansätzen wurden in unterschiedlichem Ausmaß weitere Determinanten und Mechanismen diskutiert. Einer dieser Ansätze bezieht sich auf Ungleichheiten in der gesundheitlichen Versorgung. Im Zuge der „Konjunktur“ der Versorgungsforschung rückte diese Erklärung in den letzten Jahren auch in Deutschland zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Der relative Beitrag dieses Ansatzes zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten wird jedoch kontrovers diskutiert (Bartley 2004, siehe auch Janßen et al. in diesem Band). Kritisch anzumerken ist beispielsweise, dass Zugang und Qualität von Versorgungsleistungen – auch wenn sie wichtig für die Behandlung von Krankheiten sind – zunächst wenig Einfluss auf Neuerkrankungen haben, wo sich ähnliche Ungleichheiten zeigen. Dementsprechend ist zu erwarten, dass der Ausbau und die bessere Erreichbarkeit gesundheitlicher Versorgungsleistungen ohne soziale Veränderungen kaum zu einer nachhaltigen Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten beitragen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Sparmaßnahmen im deutschen Gesundheitswesen ebenso wie der verstärkten Kommerzialisierung gesundheitsbezogener Dienstleistungen stellt sich aber nachhaltig die Frage, ob hier nicht „zusätzliche“ Risiken einer Ausweitung sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit geschaffen werden. Erste Ergebnisse legen zum Bei-
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spiel nahe, dass die Einführung der Praxisgebühr zu einer niedrigeren Inanspruchnahme bei einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen geführt hat (Streich 2004), auch wenn andere Studien diese Ergebnisse nicht bestätigen konnten (Grapka et al. 2005). Aktuelle Studien zeigen zudem, dass sich Ungleichheiten in erster Linie in der Primärprävention und Gesundheitsförderung offenbaren (Bauer et al. 2008). Die jüngere Forschung über die Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit hat die Erklärungsversuche zunehmend erweitert und durch neue Ansätze und Komponenten ergänzt. Unter diesen Ansätzen ist der psychosoziale Erklärungsansatz am weitesten ausgearbeitet und kann daher schon als „Klassiker“ bezeichnet werden. Aufgegriffen wurde diese eher psychologische Forschungsrichtung, da zunehmend Zweifel auftraten, ob eine sozial ungleiche Verteilung der Exposition gegenüber gesundheitsschädlichen Chemikalien, Abgasen oder anderen toxischen Stoffen im Wohn- und Arbeitsumfeld ausreicht, um den sozialen Gradienten in der Gesundheit zu erklären. Gestützt wurde dieses Misstrauen durch Forschungsergebnisse, die belegen, dass sich beispielsweise auch bei Büroangestellten deutliche sozioökonomische Unterschiede in der Gesundheit zeigen, wo derartige Gefährdungen für die Gesundheit unwahrscheinlich sind (Von Rossum et al. 2000). So wurden neben materiellen Faktoren zunehmend auch psychologische und psychosoziale Faktoren (z.B. kritische Life-Events, chronische Alltagsbelastungen oder beruflicher Gratifikationskrisen) zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten herangezogen (siehe dazu Peter in diesem Band). Zahlreiche Studien haben in der Folgezeit verdeutlichen können, dass nicht nur die Belastungen sozial ungleich verteilt sind, sondern auch die Ressourcen, sie zu bewältigen. Personen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status sind somit in doppelter Weise betroffen. Psychosoziale Belastungen und Ressourcen haben inzwischen einen vergleichbaren Stellenwert bei der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit wie materielle Faktoren. Erklärungsmodelle gesundheitlicher Ungleichheit Zwischenzeitlich liegen zahlreiche Modelle vor, die diese Ansätze in einen theoretischen Bezugsrahmen integriert haben. Diese Modelle unterscheiden sich zwar in ihrer Komplexität, gemein ist ihnen aber, dass sie verschiedene Ebenen und Verknüpfungen berücksichtigen. Neben dem Modell von Steinkamp (1999) ist in Deutschland das Modell von Elkeles und Mielck (1993) sicherlich am weitesten verbreitet (siehe Rosenbrock in diesem Band). Als ein weiteres Beispiel ist in Abbildung 1.4 ein vereinfachtes Modell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit von Mackenbach (2006) dargestellt. Das Modell geht davon aus, dass sozioökonomische Unterschiede in der Gesundheit in erster Linie durch einen Effekt des sozioökonomischen Status auf die Gesundheit entstehen, dass ein geringer sozioökonomischer Status also eine größere Gesundheitsgefährdung verursacht und nicht umgekehrt.4 Der sozioökonomische Status hat jedoch keinen direkten Effekt auf den Gesundheitszustand, sondern beeinflusst die Gesundheit über spezifische ungleich verteilte „Risikofaktoren“ (materielle, verhaltensbezogene und psychosoziale Faktoren). Die drei intermediären Gruppen von Determinanten stehen zudem in einer engen Beziehung. Die Pfeile von materiellen und psychosozialen Faktoren auf das Gesundheits4
Die Existenz von Selektionsprozessen soll hier nicht bestritten werden. Im Mittelpunkt der aktuellen Forschung steht jedoch die Verursachungshypothese, und wie die empirischen Belege zeigen, kommen Selektionsmechanismen im Gegensatz zur Verursachungshypothese ein wesentlich geringeres Gewicht bei der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten zu.
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verhalten sollen beispielsweise verdeutlichen, dass sie sowohl einen direkten und einen indirekten – über Verhalten vermittelten – Einfluss auf die Gesundheit besitzen. Abbildung 1.4: Einfaches Modell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit Materielle Faktoren
Sozioökonomischer Status
Verhalten
Gesundheit
Psychosoziale Faktoren
Quelle: modifiziert nach Mackenbach (2006)
Kritisch anzumerken ist, dass viele dieser Ansätze und Modelle die zeitliche und räumliche Dimension gesundheitlicher Ungleichheiten weitgehend außen vor lassen. Unterschiedliche Altersgruppen oder ein Abbild des gesamten Lebenslaufs bleiben in diesen Modellen häufig unberücksichtigt. Krankheiten sind jedoch in den meisten Fällen das Ergebnis eines langfristigen Prozesses der Exposition gegenüber verschiedenen Risikofaktoren. Diese Exposition wiederum kann das Ergebnis einer langen individuellen Lebensgeschichte sein (Mackenbach et al. 2002, Lynch & Davey Smith 2005, Osler 2006). Wie die Forschung in den letzten Jahren gezeigt hat, lassen sich durchaus deutliche Unterschiede im Ausmaß und in der Existenz gesundheitlicher Ungleichheiten in einzelnen Altersgruppen ausmachen, die darauf hinweisen, dass sich Mechanismen und Determinanten im Lebenslauf verändern oder im schlimmsten Fall sogar akkumulieren (siehe dazu die Beiträge von Lampert & Richter, Babitsch et al. und Knesebeck & Schäfer in diesem Band). Aktuelle Perspektiven der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit Mit Hilfe von Kohortenstudien, wie sie vor allem in Großbritannien durchgeführt wurden, konnten im Rahmen der Lebenslaufperspektive neue Erkenntnisse gewonnen werden, indem der zeitliche Rahmen der Betrachtung von Zusammenhängen zwischen sozialem Status, Risikofaktoren und Erkrankungen erweitert wurde und so Einflüsse in den frühen Lebensjahren für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit im Erwachsenenalter einbezogen werden (Graham 2002, siehe Dragano & Siegrist in diesem Band). Die Lebenslaufperspektive stellt damit nicht nur einen neuen Erklärungsansatz dar, sondern ermöglicht auch die bisherigen Ansätze besser als bislang zu fundieren. Gerade das Phänomen eines sozialen Gradienten in der Gesundheit brachte die Idee auf, dass die gesundheitliche Lage im späteren Leben das Ergebnis komplexer Kombinationen verschiedener Gegebenheiten und
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Einflüsse ist, die über die Zeit auftreten. So bestimmt beispielsweise die soziale Lage in der Kindheit (die über den Status der Eltern gemessen wird) den sozioökonomischen Status im Erwachsenenalter (trotz sozialer Mobilität haben viele Erwachsene den gleichen oder einen vergleichbaren Berufsstatus wie die Eltern). In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass lebenslange „Exposition“ gegenüber einem niedrigen sozioökonomischen Status stärker mit gesundheitlichen Risiken verbunden ist als wenn diese Exposition nur in einer Lebensphase auftritt (Mackenbach et al. 2002). Ähnliches gilt für die Gesundheit: Die meisten Krankheiten weisen eine lange Entstehungsgeschichte auf und der Gesundheitsstatus besitzt eine gewisse Kontinuität, so dass eine beeinträchtigte Gesundheit im Erwachsenalter häufig auf die gesundheitliche Lage im Kindesalter zurückzuführen ist und damit auf Determinanten, die in früheren Lebensphasen auftraten. Gesundheitliche Ungleichheiten können demnach u.a. auf eine Akkumulation von benachteiligenden Lebensbedingungen über den Lebenslauf zurückgeführt werden. Ein großer Vorteil des Lebenslaufansatzes ist, dass er die scharfe Trennung zwischen Selektions- und Verursachungsprozessen aufbricht und den dynamischen Charakter vieler dieser Prozesse verdeutlicht. Vielmehr suggeriert der Ansatz eine kooperative Entstehung von Gesundheit und sozialem Status. In den vergangenen Jahren hat ein weiterer Erklärungsansatz für Aufsehen in der Forschung gesorgt. Die „neo-materielle“ Erklärung fokussiert weniger auf das Individuum als vielmehr auf komplette Gesellschaften und wie sie sich unterscheiden (Bartley 2004: 14). Dieser Ansatz wurde auch häufig unter dem Schlagwort „soziales Kapital“ diskutiert (Moore et al. 2006, Subramanian & Kawachi 2004, siehe auch Siegrist et al. in diesem Band). Im Vergleich zu den anderen vorgestellten Ansätzen wird hier eine sozialökologische Betrachtungs- und Erklärungsebene eingenommen. Zielvariable ist nicht mehr die Gesundheit einzelner Personen oder Gruppen von Personen in einer Gesellschaft, sondern der Gesundheitszustand der ganzen Gesellschaft oder kleinerer Gebietseinheiten (Stadtbezirke, Bundesländer etc.). Ausgangpunkt dieser Erklärung war das Ergebnis, dass Länder oder andere geographischen Einheiten, in denen sich geringere Unterschiede im Einkommen zwischen Armen und Reichen finden, eine höhere Lebenserwartung aufweisen (siehe z.B. Wilkinson 1996, Wilkinson & Pickett 2006). Nach wie vor sind die Ergebnisse aber stark umstritten. Ebenso unklar ist, auf welche Effekte dieses Ergebnis zurückgeführt werden kann. Diskutiert werden sowohl eine „neo-materielle“ als auch eine „psychosoziale“ Erklärungsvariante (Marmot & Wilkinson 2001). Das psychosoziale Modell führt die Unterschiede in der Gesundheit zwischen Ländern mit hoher und niedriger sozialer Ungleichheit auf das unterschiedliche psychosoziale Stressniveau und die neo-materielle Erklärung auf ein unterschiedliches Niveau in der Bereitstellung verschiedener sozialer Güter, wie Bildung und Wohlfahrtsleistungen aber auch medizinische Versorgung zurück (Bartley 2004). Wie bereits aus diesem kurzen Überblick deutlich wird, sind die Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit sehr komplex und vielschichtig. Der materielle, verhaltensbezogene und psychosoziale Ansatz sowie die Lebenslaufperspektive bilden zurzeit die Grundlage für das Verständnis gesundheitlicher Ungleichheiten auf Individualebene (siehe Tab 1.1). Keiner der Ansätze ist jedoch in der Lage, die beobachteten Ungleichheiten in der Gesundheit im Erwachsenenalter vollständig zu erklären. Jeder Erklärungsansatz trägt vielmehr zu einer Teilerklärung des Phänomens bei. Der Lebenslaufansatz ist hierbei sicher die umfassendste Erklärung, da er die Exposition gegenüber materiellen, verhaltensbezogenen und psychosozialen Faktoren von der Geburt bis ins hohe Alter berücksichtigt.
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Tabelle 1.1: Erklärungen für die Beziehung zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit Erklärungsansatz innerhalb Gesellschaften
Einflüsse
Materiell Individuelles Einkommen bestimmt die Exposition gegenüber gesundheitsschädlichen Einflüssen aus der Umwelt (z.B. gesundheitsschädliche Arbeit oder die Qualität der Wohnung).
Kulturell / verhaltensbezogen Unterschiede in Überzeugungen, Normen und Werten erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Individuen aus unteren sozioökonomischen Statusgruppen z.B. häufiger rauchen, Alkohol trinken und körperlich inaktiv sind.
zwischen Gesellschaften
Psycho-sozial
Lebenslauf
„Neo-materiell“
Status, Kontrolle und soziale Unterstützung in der Arbeitswelt oder im Privaten aber auch die Balance zwischen beruflichem Aufwand und Belohnung beeinflussen die Gesundheit direkt über ihre Wirkung auf Körperfunktionen oder indirekt über die Ausübung gesundheitsriskanten Verhaltens.
Ereignisse und Prozesse, die vor der Geburt beginnen und sich in der Kindheit fortsetzen, beeinflussen die (körperliche) Gesund-heit und die Fähigkeit, Gesundheit zu erhalten.
Politische Prozesse und die Verteilung von Macht und Einfluss auf gesellschaftlicher Ebene beeinflussen die Beschaffung gesundheitsrelevanter Angebote, der Qualität der physikalischen Umwelt und der Qualität sozialer Beziehungen.
Gesundheit und soziale Lage beeinflussen sich gegenseitig über die Zeit.
Quelle: modifiziert nach Bartley (2004)
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Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten
Die aktuelle Diskussion über Kostensenkungen im Gesundheitswesen hat deutlich gezeigt, dass es in der Gesundheitspolitik hauptsächlich um die Bereitstellung und Finanzierung medizinischer Versorgungsleistungen geht. Es bleibt unbestritten, dass derartige Versorgungsangebote bei schweren Krankheiten zu einer verlängerten Lebenserwartung und einem besseren Krankheitsverlauf führen können. Weitaus wichtiger für die Gesundheit der Bevölkerung ist aber die Tatsache, dass die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, wie sie sich in sozialen Ungleichheiten widerspiegeln, die Menschen krank und hilfebedürftig machen. Es existiert damit ein deutliches Missverhältnis zwischen der Bedeutung der eigentlichen Ursachen von Krankheit und Tod und der Verteilung von Ressourcen im Gesundheitssystem (vgl. auch Adler & Newman 2002). Die meisten Ressourcen werden zur Behandlung von Krankheiten verwendet, während nur wenige sich mit den vorgelagerten Determinanten der Krankheiten befassen. Um diese Risikofaktoren modifizieren zu können, muss ein Blick über den Tellerrand der biomedizinischen Forschung gewagt werden. Nur so geraten die „wahren“ Determinanten der Gesundheit ins Blickfeld. Die Problematik gesundheitlicher Ungleichheit findet immer noch sehr zögerlich Eingang in die politische Diskussion. Umso erfreulicher ist es, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung das Thema aufgegriffen hat und über verschiedene Projekte fördert (siehe Lehmann in diesem Band). Problematisch ist nach wie vor, dass unser Wissen über die Produktion und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit nur bedingt ausreicht, um als „guide for action“ dienen zu können (Bartley 2004). Auch wenn weitergehende ätiologische Forschung sicherlich unabdingbar bleibt, ist unsere Kenntnis, was gesundheitliche Ungleichheiten verursacht, inzwischen so weit fortgeschritten, dass Ansätze zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit als praktisch durchführbar erscheinen (Lahelma 2006). Im Rahmen dieses Beitrags ist es sicher nicht möglich auf einzelne Ansätze
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einzugehen (dazu sei auf die nachfolgenden Beiträge im letzten Abschnitt des Bandes verwiesen). Vielmehr soll an dieser Stelle den beiden Grundfragen der Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit nachgegangen werden: Was wäre das genaue strategische Ziel einer Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten und welche Inhalte müssen dabei berücksichtigt werden? Strategien der Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit Auf theoretischer Ebene lassen sich drei verschiedene Ansätze bzw. Konzeptionen unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Zielgrößen der Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit haben (Graham & Kelly 2004, Graham 2008, siehe auch Mielck in diesem Band). Diese unterschiedlichen Ansätze lassen sich auf einem Kontinuum abbilden, entsprechend ihrem Ausmaß, in dem sie 1) auf das absolute Niveau der Gesundheit in den ärmsten Bevölkerungsgruppen, 2) auf die relative gesundheitliche Benachteiligung oder 3) auf den sozialen Gradienten in der Gesundheit abzielen (siehe Abb. 1.5). Abbildung 1.5: Zielgrößen der Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit
Poor health of poor people
Health gaps
Health gradients
Quelle: Graham & Kelly (2004)
1. Poor health of poor people: Verbesserung der Gesundheit der am stärksten Benachteiligten Bei dieser Strategie fokussieren die Interventionen ausschließlich auf die „ärmsten“ Teile der Bevölkerung. Ziel ist es, positive Veränderungen in den Lebensbedingungen und Lebenschancen, im Gesundheitsverhalten und letztendlich in der Gesundheit in den am stärksten sozial benachteiligten Gruppen zu erreichen. Vorteil dieser Konzeption ist, dass sie die Aufmerksamkeit auf Prozesse sozialer Exklusion richtet und klare politische Ziele setzt, die zudem relativ einfach zu evaluieren sind. Jedoch weist diese Strategie auch gewisse Nachteile auf. So verwischt sie die Trennung zwischen Ungleichheit und Benachteiligung: Ungleichheit wird hier auf ein Problem einer klar abgrenzbaren Teilpopulation reduziert und nicht mehr als gesamtgesellschaftliches Differenzierungskriterium verstanden (Graham & Kelly 2004: 7). Derartige Strategien erreichen naturgemäß immer nur einen Teil der Bevölkerung; auch wenn dieser in den letzten Jahren zunehmend größer geworden ist. Selbst wenn über diese Strategie eine Verbesserung der Gesundheit bei sozial Benachteiligten erreicht werden kann, besteht die Gefahr einer Zunahme gesundheitlicher Ungleichheit, und zwar dann, wenn sich die Gesundheit der Gesamtpopulation in der Interventionszeit schneller verbessert als bei sozial Benachteiligten.
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2. Health gaps: Schließen von „Lücken“ in der Gesundheit In der Mitte des Kontinuums in Abb. 1.5 steht ein weiter gefasstes Konzept der Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit. Bei dieser Strategie steht die Differenz in der Gesundheit zwischen der sozial am besten und der am schlechtesten gestellten Statusgruppe im Mittelpunkt. Ziel ist es dementsprechend, den Abstand in der Verteilung von Gesundheitschancen zwischen „oben“ und „unten“ in der gesellschaftlichen Hierarchie zu verringern. Das Schließen von „Lücken“ in der Gesundheit würde in diesem Fall bedeuten, die Gesundheit der Ärmsten schneller zu verbessern als in der restlichen Bevölkerung. Damit wird die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass die allgemeine Verbesserung der Gesundheit auf Kosten fortdauernder und sich vergrößernder gesundheitlicher Ungleichheiten geht, d.h. dass sozial Benachteiligte von dem Anstieg in der Besserung in der Gesundheit in weitaus geringerem Maße profitieren als besser gestellte Personen. Zudem erleichtert diese Strategie (quantitative) politische Zielsetzungen wie z.B. bis zum Jahr „xy“ sollte der Abstand in der Mortalität zwischen der oberen und unteren Statusgruppe um mindestens „xy%“ gesenkt werden. Doch auch hier ist zu konstatieren, dass die Interventionen – trotz der Bezugnahme auf die Gesamtbevölkerung – auf sozioökonomisch benachteiligte Gruppen beschränkt bleiben und damit der Effekt sozialer Ungleichheit auf die Gesundheit entlang der gesamten sozialen Hierarchie ausgeblendet wird. 3. Health gradients: Verringerung von Gradienten in der Gesundheit Am Ende des Kontinuums steht die umfassendste Strategie zur Reduzierung sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit. Sie stellt ein inklusives Ziel dar, dass die beiden o.g. Ansätze beinhaltet. Gesundheitliche Ungleichheit wird hier durch den Umstand beschrieben, dass sich die Gesundheit mit jeder Stufe, die in der sozialen Hierarchie nach oben gegangen wird, kontinuierlich verbessert, bzw. dass sich das Risiko von Krankheit und Sterblichkeit stufenweise verringert. Wenn graduelle sozioökonomische Unterschiede und nicht nur soziale Benachteiligungen im Blickfeld stehen, wird dadurch auch der Rahmen für politische Maßnahmen erweitert. Die Verbesserung der Gesundheit sozial benachteiligter Gruppen und das Schließen von „Lücken“ in der Gesundheit sind notwendig aber nicht ausreichend, um die Gesundheit aller Bevölkerungsteile anzuheben. Dieser Ansatz richtet die Aufmerksamkeit auf den Großteil der Bevölkerung, d.h. auf die Gruppen, die zwischen dem Oben und Unten liegen und die damit den Großteil der gesundheitlichen Ungleichheiten ausmachen. Die Geschwindigkeit der Verbesserung muss dabei mit jedem Schritt nach „unten“ in der vertikalen Gliederung der Gesellschaft zunehmen, so dass im Ergebnis jede soziale Schicht größere Gesundheitsgewinne aufweist als die nächst höhere Sozialschicht (Sachverständigenrat 2005: 114). Diese Strategie lokalisiert die Ursachen sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit nicht in den nachteiligen Umwelten und Verhaltensweisen, sondern in den systematischen Unterschieden in den Lebenschancen, -bedingungen und -stilen, die mit der ungleichen Verteilung gesellschaftlicher Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie verbunden sind. In Deutschland konzentriert man sich bislang – wenn überhaupt – auf die erste Politikvariante, d.h. auf Interventionen zu Gunsten sozial benachteiligter Personen (siehe z.B. BZgA 2003, siehe die Beiträge von Streich und Lehmann in diesem Band). Gerade für eine Sensi-
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bilisierung der politischen Öffentlichkeit ist die Schwerpunktsetzung auf die am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen sicher gut geeignet. Man muss sich aber immer wieder bewusst machen, was bzw. welche Aspekte gesundheitlicher Ungleichheit hier angegangen werden. Die gesundheitsschädigenden Effekte sozialer Ungleichheit betreffen die Gesellschaft insgesamt. Eine langfristig erfolgreiche Präventionspolitik darf sich – trotz klar definierbarer sozialer Risikogruppen – nicht auf die untersten Segmente einer Gesellschaft beschränken (Siegrist 1995: 62). Das, was zu einer Verbesserung der Gesundheitschancen sozial benachteiligter Personen beiträgt, muss nicht unbedingt dazu führen, diese Personen näher an die gesundheitliche Situation des Bevölkerungsdurchschnitts zu bringen, geschweige denn zu einer Verringerung des sozialen Gradienten in der Gesundheit beitragen (Graham & Kelly 2004: 10). Ebenso wenig darf aber vergessen werden, dass bestimmte Personengruppen (z.B. Migranten oder allein stehende Wohnungslose) noch wesentlichen größeren Ungleichheiten in der Gesundheit ausgesetzt sind. Aufgabe aller beteiligten Professionen – und insbesondere der Präventionsforschung – muss es sein, die bisher vorliegenden Maßnahmen dahingehend zu modifizieren, dass sich die Zielgrößen zunehmend auf die Reduzierung sozialer Gradienten in der Gesundheit verschieben. Sobald Strategien zur Gesundheitsförderung der Bevölkerungsgruppen mit dem größten Gesundheitsförderungsbedarf etabliert sind, sollte also ein Strategiewechsel zu einem bevölkerungsweiten Ansatz erfolgen. Vor dem Hintergrund der komplexen Beziehung zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit – und dem unzureichenden Kenntnissen über die Effektivität und Effizienz von Interventionen – wird ein Politikwechsel auf den dritten Ansatz in absehbarer Zeit nur schwer möglich sein (Sachverständigenrat 2005: 114). Auch im internationalen Vergleich gibt es keine Länder, die bislang die dritte Strategie umgesetzt haben. Inhalte der Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit Primäres inhaltliches Ziel einer Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit ist die Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit, d.h. dass alle Menschen unabhängig vom Einkommens-, Bildungs- und Berufsstatus die gleiche Chance haben sollen gesund zu bleiben (Mielck 2002). Generell lassen sich zwei Möglichkeiten benennen, wie dieses Ziel erreicht werden kann: Zum einen die Verringerung sozialer Ungleichheiten (d.h. Verringerung von Unterschieden in der Bildung, des Berufsstatus und des Einkommens), zum anderen die Verringerung von Unterschieden in den intermediären Einflussfaktoren gesundheitlicher Ungleichheit (z.B. Gesundheitsverhalten, materielle Faktoren oder psychosoziale Belastungen). Die wichtigste Aussage der vorliegenden Ergebnisse ist sicher, dass jene sozialen Ungleichheiten aufgehoben werden müssen, die erst zu einer sozial ungleichen Verteilung struktureller und verhaltensbezogener Determinanten gesundheitlicher Ungleichheit führen. So wäre es wichtig, finanzielle, kulturelle und sonstige Barrieren zu beseitigen, die einen gerechten Zugang zu Bildungsmöglichkeiten verhindern, da bei der momentanen Arbeitsmarktlage ohne eine gute Schul- und Berufsqualifikation nur schlechte Chancen auf einen Arbeitsplatz und damit auch für ein „ausreichendes“ Einkommen bestehen (Richter 2005). Damit wird deutlich, dass die Problematik gesundheitlicher Ungleichheit kein ausschließlich gesundheitspolitisches Thema ist. Vielmehr berührt es fast alle Politikbereiche, insbesondere die Sozial-, Bildungs- und Arbeitspolitik. Deshalb ist es unerlässlich, dass die Gesamtpolitik die sozioökonomischen Ungleichheiten an der Wurzel anpackt und dass die Finanz-, Bildungs- und Sozialpolitik so gestaltet wird, dass eine nach-
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haltige Reduzierung sozialer und damit auch gesundheitlicher Ungleichheiten erreicht wird (WHO 1998: 16). Insgesamt wird es aber schwer sein, auf der makrosozialen Ebene (d.h. Verringerungen der sozialen Ungleichheit) wirkungsvolle Maßnahmen wie beispielsweise einkommens- oder beschäftigungspolitische Änderungen durchzusetzen, da sie langfristige gesellschaftliche Auseinandersetzungen erfordern (Siegrist 1996). Größere Chancen, aber mit begrenzter Reichweite, wird allgemein kurz- und mittelfristigen Maßnahmen auf der mesosozialen Ebene eingeräumt. Verschiedene diesbezügliche Einstiegspunkte wurden weiter oben bereits aufgezeigt (z.B. Gesundheitsverhalten, materielle Faktoren oder psychosoziale Stressoren). Derartige Aufzählungen werfen aber letztlich die Frage auf, wo genau auf der Mesoebene anzusetzen ist? Bislang gibt es in Deutschland nur sehr wenige Studien zur relativen Bedeutung unterschiedlicher Determinanten gesundheitlicher Ungleichheit, die Ansatzpunkte zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen bieten könnten. An einem Beispiel soll kurz erläutert werden, wie eng letztendlich die Ursachenforschung mit der praktischen Umsetzung verknüpft ist. Die bisherigen Gesundheitsförderungs- und Präventionsstrategien zielten vornehmlich auf die Änderung individuellen Verhaltens ab (vgl. Hurrelmann 2006). Verschiedene Untersuchungen haben jedoch aufzeigen können, dass materiellen und psychosozialen Faktoren eine wesentlich größere Bedeutung bei der Genese gesundheitlicher Ungleichheiten zukommt, da diese sowohl einen direkten als auch indirekten – über das Gesundheitsverhalten vermittelten – Effekt auf die Gesundheit haben (Richter & Mielck 2000, siehe auch Giesecke & Müters in diesem Band). Diese Ergebnisse stützen die These, dass Verhalten zumindest teilweise (sozial-)strukturell determiniert ist, und dass ein ausschließlicher Fokus auf Verhalten und entsprechende Theorien der Verhaltensänderung, wie sie die Gesundheitsbildung dominieren, nur wenig zu einer Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten beiträgt. Zukünftige Gesundheitsförderung und Prävention sollte dementsprechend nicht mehr vorwiegend auf das Individuum, sondern in stärkerem Maße auch auf die es umgebenden Vergesellschaftungs- und Arbeitsbedingungen abzielen. Das Beispiel verdeutlicht, wie wichtig es ist, den Stellenwert und den Zusammenhang einzelner Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit weiter aufzudecken. In Bezug auf präventive Maßnahmen wäre es daher zielführend, zu untersuchen, an welchen Stellen solche Maßnahmen besonders wichtig sind bzw. erfolgreich sein können. Dadurch eröffnet sich die Chance, den Zusammenhang von sozialer Lage und Gesundheit an einer auch präventionspolitisch wichtigen Stelle zu erhellen. Allgemein bleibt festzuhalten, dass keine Politik oder Politik-Domäne alleine zu einer nachhaltigen Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen kann. Vielmehr ist ein holistischer Ansatz notwendig, der zum einen die einzelnen Dimensionen sozialer Ungleichheit (Einkommen, Bildung, und Berufsstatus) und zum anderen die einzelnen Determinanten und Mechanismen berücksichtigt, über die soziale Ungleichheiten die Gesundheit beeinflussen.
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Fazit
Die vorgegangenen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass gesundheitliche Ungleichheiten ein universelles Problem sind und jedes Land betreffen. Soziale Ungleichheiten sind bis zu einem gewissen Grad sicher unvermeidbar. Anders verhält es sich aber mit den Folgen der Ungleichheit. Sie sind vermeidbar. Personen, die in vielen Bereichen des Lebens
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ohnehin schon benachteiligt sind, dürfen nicht früher sterben und häufiger unter Krankheit und Behinderung leiden (Mackenbach 2006: 41). Trotz des zunehmenden wissenschaftlichen und politischen Interesses an Fragen der gesundheitlichen Ungleichheiten in Deutschland ist man bis heute noch weit davon entfernt, eine eindeutige Erklärung des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit liefern zu können. Selbst grundlegende Fragen zu den Determinanten und Mechanismen der Produktion und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit wurden bislang – zumindest empirisch – kaum berücksichtigt. Nach wie vor werden wissenschaftliche Kenntnisse benötigt, die praktische Ansatzpunkte für Interventionsmaßnahmen zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten bereitstellen. Hier erscheint es sinnvoll, die Erfahrungen aus anderen Ländern zu nutzen (vgl. z.B. Stronks & Mackenbach 2006). Erkennbar ist auch, dass bei jeder der drei Herausforderungen in der Erforschung gesundheitlicher Ungleichheit (Beschreibung, Erklärung und Reduzierung) immer noch beachtliche Kenntnislücken gegenüber der internationalen Forschung vorliegen und neue Fragen aufgetreten sind (siehe die Beiträge von Lampert & Kroll, Erhart et al., Giesecke & Müters und Kunst in diesem Band). So lassen sich für Deutschland beispielsweise immer noch keine repräsentativen Aussagen über das Ausmaß und die Entwicklung gesundheitlicher Ungleichheiten in der Mortalität tätigen. Gleiches gilt für die Erklärung sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit, wo Ansätze wie die Lebenslaufperspektive oder die des sozialen Kapitals bislang eher zögerlich aufgenommen wurden. Auch bei der inhaltlichen Diskussion und der praktischen Umsetzung von Strategien und Maßnahmen zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten finden sich z.B. immer noch gewisse Berührungsängste zwischen der Wissenschaft, der Politik und der Praxis, die in anderen Ländern längst überwunden sind. Die Beiträge in diesem Band belegen aber deutlich den Fortschritt, der in den letzen Jahren in der deutschsprachigen Forschung erzielt werden konnte. Andere Wissenschaftler und Praktiker sind aufgefordert dieses Wissen zu nutzen und sich rege an der internationalen Diskussion zu beteiligen. Die Forderung von Mackenbach (2006: 42), das Wissen über die Ursachen und die Möglichkeiten der Reduzierung von sozioökonomischen Unterschieden in verschiedenen Ländern stärker als bislang systematisch auszutauschen, ist nachdrücklich zu begrüßen. Nur so kann der gegenseitige Lernprozess schneller gestaltet werden. Die allgemeine Beharrlichkeit gesundheitlicher Ungleichheiten macht deutlich, dass diese Ungleichheiten tief in modernen Gesellschaften verwurzelt sind. Sie warnt zugleich vor unrealistischen Erwartungen bezüglich einer kurzfristigen Reduzierung der sozioökonomischen Unterschiede in der Gesundheit mit Hilfe konventioneller Strategien. Danksagung Die Autoren bedanken sich bei Thomas Lampert und Andreas Mielck für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Version dieses Beitrags.
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Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil?
Stefan Hradil
1
Einleitung
In modernen Gesellschaften sehen sich die Menschen immer mehr im Stande, ihre Lebensumstände selbst zu gestalten. Das Wort „Schicksal“ steht nicht hoch im Kurs. Dies gilt auch für Krankheiten und selbst für den Zeitpunkt des Todes. Moderne Menschen machen sich und andere für ihre Gesundheit in steigendem Maße selbst verantwortlich. Die Soziologie ist als Wissenschaft zwar ein Kind der Moderne. Sie macht allerdings darauf aufmerksam, dass die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung oder eines relativ frühzeitigen Todes keineswegs nur eine Frage des individuellen Verhaltens ist. Die Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken der Menschen sind auch ganz wesentlich von ihrer Stellung in gesellschaftlichen Strukturen geprägt, mehr als viele Menschen dies wahrhaben wollen. Diese Strukturen sind aber im Grunde von Menschen gemacht und daher auch veränderbar. Insofern trifft die Vermutung modernen Denkens, der Mensch sei Herr seiner Geschicke, im Prinzip durchaus zu. Aber die Einzelnen können an diesen krank machenden oder gesund erhaltenden Strukturen kurzfristig oft nur wenig ändern. Im folgenden Beitrag soll diesen Zusammenhängen makrosoziologisch, das heißt aus der „Adlerperspektive“ nachgegangen werden. In den Blick geraten sollen vor allem die Stellung der Menschen in gesamtgesellschaftlich relevanten Grobstrukturen und Großgruppen der Gesellschaft sowie die damit verbundenen Krankheitswahrscheinlichkeiten. Besonderes Gewicht soll auf das „Warum“, also auf die Frage der Kausalitäten gelegt werden. Dies geschieht nicht nur aus einer Neugier am Entdecken heraus, sondern vor allem auch aus praktischem Interesse an der Beseitigung besonders krankmachender Lebensumstände. Nur wer die Ursachen kennt, kann eingreifen und verbessern. Fragt man die Menschen, so gelten als Ursachen von Krankheiten meist Viren, Bakterien oder andere biologische Veränderungen von Menschen, kaum je aber soziale Tatbestände. Und auch das Beseitigen von Krankheitsrisiken gilt gemeinhin als Aufgabe von Ärzten, nicht von Soziologen. Wie sehr „Diagnose“ und „Therapie“ aber auch Sache der Soziologie sind, geht schon daraus hervor, dass Bakterien oder Viren, z.B. HIV-Viren, zwar eine notwendige, aber in aller Regel keine ausreichende Bedingung für das Ausbrechen von Krankheiten sind. Nur wenn ich zusätzlich die gesellschaftlichen Lebensumstände der betroffenen Menschen in Rechnung stelle, gelange ich zu zutreffenden Erklärungen und zu den richtigen „Rezepten“.
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Stefan Hradil
Schichtungsanalyse
Von besonderer Bedeutung für die Entstehung von Krankheitsrisiken war seit jeher die Stellung der Menschen im Gefüge sozialer Ungleichheit. Als „Soziale Ungleichheit“ werden gesellschaftliche Vor- und Nachteile von Menschen bezeichnet. Soziale Ungleichheiten bestehen in gesellschaftlichen bedingten, relativ beständigen, asymmetrischen Verteilungen knapper, begehrter „Güter“. Diese „Güter“ können Ressourcen sein, das heißt Hilfsmittel autonomen Handelns, wie etwa Bildungsabschlüsse oder Einkommen. Der Begriff „soziale Ungleichheit“ kann sich aber auch auf andere (un)vorteilhafte Lebensbedingungen beziehen, wie z.B. auf belastende Arbeitsbedingungen, gesunde Umweltbedingungen oder (un)günstige Wohnbedingungen. (Un)vorteilhafte Lebensbedingungen werden zum Zwecke der soziologischen Analyse üblicherweise in Dimensionen eingeteilt. Als wichtigste Dimensionen sozialer Ungleichheit gelten Bildung (gemessen durch Bildungsabschlüsse), Wohlstand (Geld), Macht(stellungen) und Prestige. Von diesen Dimensionen zu unterscheiden sind Determinanten sozialer Ungleichheit. Dies sind gesellschaftliche Stellungen, die zwar an sich nicht (un)vorteilhaft sind, mit denen aber gemeinhin Vor- oder Nachteile eng einhergehen. Die wichtigste Determinante sozialer Ungleichheit in traditionalen, vorindustriellen Ständegesellschaften stellte die „Geburt“ dar, das heißt die familiale Herkunft aus Adel, Bürgertum oder Bauernschaft. Als wichtigste Determinante sozialer Ungleichheit in frühmodernen beginnenden Industriegesellschaften schob sich der Besitz (z.B. an Kapital bzw. Industriebetrieben) in den Vordergrund. In modernen Industriegesellschaften, in denen neun Zehntel aller Arbeitenden unselbständig sind, stellte sich immer mehr der Beruf als zentrale Ungleichheitsdeterminante und als „Rückgrat“ der Ungleichheitsstruktur heraus. Etwa nach dem Motto: „Sage mir, welchen Beruf Du ausübst, und ich sage Dir, wo Du in der Gesellschaft stehst.“ Freilich gibt es neben dem Beruf in modernen Gesellschaften weitere Statusdeterminanten: Geschlecht, Alter, Lebens- und Familienform, ethnische Zugehörigkeit sowie in wachsendem Maße die erreichte Bildung sind hierunter die wichtigsten. Aber auch die überkommenen Determinanten Familienherkunft und Besitz sind keineswegs bedeutungslos geworden. Zu unterscheiden ist denn auch die sog. Verteilungsungleichheit, das heißt die Verteilung eines wertvollen „Gutes“ auf die Mitglieder einer Gesellschaft schlechthin, von der sog. Chancenungleichheit, das heißt von der Chance der Mitglieder bestimmter Gruppierungen (Frauen, Migranten, Ältere, etc.), innerhalb der Verteilung eines knappen, begehrten „Gutes“ eine bessere oder schlechtere Stellung (Status) einzunehmen. Statistisch gesehen stellt die Verteilungsungleichheit eine Streuung dar, die Chancenungleichheit eine Korrelation zwischen zwei Verteilungen. Da in modernen Industriegesellschaften die Statusdeterminante Beruf und die berufsnahen Dimensionen sozialer Ungleichheit zentral sind, bilden die wichtigsten Gruppierungen im Ungleichheitsgefüge auch diejenigen, die jeweils ähnliche Stellungen in der Berufshierarchie und ähnliche Ausstattungen innerhalb der berufsnahen Ungleichheitsdimensionen Wohlstand (Einkommen) und Bildung(sabschlüsse) besitzen. Diese Gruppierungen werden soziale Schichten genannt. In der allgemeinen Sozialstrukturanalyse werden in den letzten Jahren Schichtmodelle verwendet, die nicht mehr nur vertikal strukturiert sind. Wohl aber beruhen auch diese Modelle auf der Erkenntnis, dass der Beruf die ausschlaggebende Statusdeterminante ist, und soziale Schichten im Grunde Berufsgruppen im gesell-
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Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil?
schaftlichen Höher und Tiefer darstellen. Zwei Beispiele für neuere Schichtmodelle sind die folgenden (siehe Abb. 2.1 und 2.2): Abbildung 2.1: Das Klassenmodell von Erikson & Goldthorpe (1992) Collapsed versions Full version I
Higher-grade professionnals, administrators and officials; managers in large industrial establishments; large proprietor
II
Lower-grade professionnals, administrators and officials; higher grade technicians; managers in small industrial estasblishments; supervisors of nonmanual employees
Seven-class
I+II
IIIa
Routine non-manual employees, higher grade (administration and commerce)
III
IVc
Farmers and smallholders; other self-employed workers in primary production
V
Lower-grade technicians;supervisors of manuals workers
Petty bourgeoisie : small proprietors and artisans, etc., with and without employees
IVc
Farmers : farmers and smallholders and other self-employed workers in primary production
VI
V+VI
White-collar workers
Routine non-manual workers : routine non-manual employees in administration and commerce; sales personnel; other rank-and-file service workers
IVa+b
IVb Small proprietors, artisans, etc., without employees
Skilled workers : lower-grade technicians; supervisors of manual workers; skilled manual workers Non-manual workers
Non-manual workers
IVa+b
IVc + VIIb
V +VI
Petty bourgeoisie
Farm workers
VIIb Agricultural and other workers in primary production
Farm workers
Skilled workers
Skill manual workers
VIIa Semi and unskilled manual workers (not in agriculture (etc.)
Three-class
Service class; professionnals, administrators and managers; higher-grade technicians; supervisors of non-manual workers I-III
IIIb Routine non-manual employees, lower grade (sales and services) IVa Small proprietors, artisans, etc., with employees
Five-class
Manual workers VIIa
Non skilled workers : semi and unskilled manual workers (not in agriculture etc.)
VIIb
Agricultural labourers : agricultural and other workers in primary production
VIIa
Non-skilled workers
Quelle: Erikson & Goldthorpe (1992)
Im Rahmen der Analyse gesundheitlicher Ungleichheit werden aus Gründen der Forschungsvereinfachung in der Regel einfachere, aus Sicht der Sozialstrukturanalyse zu einfache Schichtmodelle verwendet. In der Regel gehen drei Komponenten in die Ermittlung der Schichtzugehörigkeit ein:
Die Stellung in der Berufshierarchie: Der Berufsstatus wird in sozialepidemiologischen Studien gemessen durch eine vertikale Ordnung von Berufsgruppen, die erstellt werden mit Hilfe einer Kombination der Kriterien „Stellung im Beruf“ (Arbeiter, Angestellte, Beamte, Selbstständige) und „Ausbildungsniveau“ (Lehre, qualifizierte, hoch qualifizierte Tätigkeit etc. ) Die Einkommenshöhe: Der Einkommensstatus wird ermittelt durch Abstufungen des Haushaltsnettoeinkommens oder (besser) des Äquivalenzeinkommens. Das Äquivalenzeinkommen ist ein nach Zahl und Alter der Personen im Haushalt bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Haushaltseinkommen.
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Stefan Hradil
Der Bildungsgrad. Er wird operationalisiert mittels der jeweils erreichten allgemein bildenden Abschlüsse (kein Schulabschluss, Hauptschulabschluss, mittlere Reife, Abitur, Hochschule).
Den Abstufungen dieser drei Indikatoren wird häufig jeweils ein bestimmter Punktwert zugeordnet. Die Summe der von einem Menschen erreichten drei Punktwerte ergibt seinen sozialen Status. Fällt der individuell erreichte Punktwert in einen bestimmten Punktwertebereich, so wird die Person einer sozialen Schicht zugeordnet. Die Verwendung dieses rein vertikalen, dreidimensionalen Schichtmodells und des empirischen Verfahrens eines Summenindex’ ist einfach und relativ billig. Das begünstigt seine Akzeptanz. Dies ist angesichts der vielfach nach wie vor bestehenden Vorbehalte gegen die soziologische Gesundheitsforschung kein geringer Vorzug. Abb. 2.2: Das Schichtmodell von Rainer Geißler Machteliten (unter 1%)
Selbstständiger Mittelstand höhere Dienstleistungsschicht 23% ausländischer 1 Mittelstand 2%
7%
mittlere Dienstleistungsschicht 22% Bauern 1% Arbeiterelite 2% ausländische Facharbeiter
gelernt 6% ausführende Dienstleistungsschicht
un-, angelernt
Facharbeiter 14%
un-, angelernte Arbeiter 12%
2%
Ausländische Un-, Angelernte
3%
6%
Armutgrenze – unterhalb leben etwa 7% der Deutschen und 21% der Ausländer 1
Selbstständige, mittlere und höhere Dienstleister
Quelle: Geißler (2006), Datenbasis: SOEP; N=17850, berechnet von Stefan Weick
Gleichwohl wirft die genannte Vorgehensweise kritische Fragen auf. Beginnen wir mit Fragen, die sich auf die einzelnen Indikatoren beziehen:
Der Indikator Berufsstellung lässt sich nur auf ca. eine Hälfte der Bevölkerung, die Erwerbstätigen, umstandslos anwenden. Die andere, wachsende Hälfte der Bevölkerung (Rentner, Studierende, Arbeitslose, Hausfrauen etc.) muss mit Hilfe zum Teil sehr fragwürdiger Hilfskonstruktionen den einzelnen Berufsstatusgruppierungen zugeordnet werden.
Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil?
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Der Indikator Einkommenshöhe beruht auf oft sehr unvollständigen bzw. unzuverlässigen Angaben der Befragten. Zudem kann sich die Einkommenssituation von Menschen schnell ändern. Für Fragen der Gesundheit sind aber langfristig wirksame Faktoren wichtig. Der Indikator Bildungsgrad bezieht sich zwar auf ein zeitlich meist stabiles Merkmal. Der Bildungsgrad eines erwachsenen Menschen ändert sich nur selten. Aber der Bildungsindikator erbringt Ergebnisse, die teils das Alter der Befragten und nicht ihre Stellung in der Bildungshierarchie zum Ausdruck bringen. Denn die weit überwiegende Mehrheit der älteren Bevölkerung verfügt nur über eine einfache Schulbildung, die überwiegende Mehrheit der jüngeren Bevölkerung weist eine weiterführende Schulbildung auf.
Aber auch die Verrechnung der Indikatorenwerte zu einem Schichtindex lässt sich kritisieren:
In die Zusammenfügung der drei Einzelindikatoren zu einem additiven Index der Schichtzugehörigkeit geht meist die Annahme ein, sie seien gleichgewichtig und wirkten in die gleiche Richtung. Empirische Befunde zeigen jedoch, dass Beruf, Bildung und Einkommen ungleich starke und verschiedenartige Auswirkungen haben. So hat das Einkommen auf das Risiko vorzeitiger Sterblichkeit einen stärkeren Einfluss als die Ausbildung oder der Berufsstatus (Peter 2001: 32). Weiterhin ist jede Festsetzung von Schichtgrenzen auf Grund bestimmter Punktwerte notwendigerweise willkürlich. Die nominale Festlegung von Schichtgrenzen unterscheidet sich von Studie zu Studie und erbringt so unterschiedliche Ergebnisse. Es ist aber von großer Bedeutung für die erzielten Ergebnisse, ob z.B. 31,7% (Winkler 1998, zit. n. Mielck 2000: 46) oder 21,4% (Helmert & Shea 1994, zit. n. Mielck 2000: 43) der Frauen der unteren Sozialschicht zugeschlagen werden. Ob diesen willkürlichen Grenzziehungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine irgendwie reale Schichtgrenze entspricht, steht dahin. Schließlich ist ein additiver Index außer Stande, Statusinkonsistenzen abzubilden. Ein Taxifahrer Dr. phil. und ein reicher Schrotthändler ohne Bildungsabschluss werden u.U. der gleichen Schicht zugeordnet. Dies entspricht ihren Lebensbedingungen und Lebenswelten in keiner Weise.
Trotz dieser Mängel steht außer Frage, dass mit dem groben dreidimensionalen Schichtmodell und dem einfachen Auswertungsverfahren eines additiven Index’ die wesentliche Komponenten der Schichtungsstruktur bzw. der individuellen Schichtzugehörigkeit erfasst werden, zumal sich die Wirkungen der drei Einzelfaktoren auch gegenseitig verstärken können. 2.1
Befunde zur schichtspezifischen Morbidität und Mortalität
In Deutschland und mehr noch im Ausland liegt eine kaum noch zu überblickende Fülle von empirischen Befunden zur schichtspezifischen Morbidität und Mortalität vor. Sie weisen übereinstimmend darauf hin, dass die meisten Krankheiten und frühzeitige Todesfälle je häufiger vorkommen, je niedriger die Schicht ist, der die Menschen angehören. Diese
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Stefan Hradil
Befunde sind weitgehend unabhängig davon, wie soziale Schichtung genau gemessen wird, welche gesundheitlichen Indikatoren verwendet werden und in welchen Ländern untersucht wurde (Heinrich 2001: 157). Es gibt nur wenige Krankheiten (z.B. Allergien und bestimmte Krebserkrankungen), die in allen Schichten gleich häufig oder gar in besser gestellten Schichten häufiger auftreten. Insgesamt aber sind die Fülle und die Klarheit der Befunde beeindruckend, die zeigen, dass die Angehörigen der unteren Sozialschicht häufiger von Krankheiten und Beschwerden betroffen sind, ihre eigene Gesundheit schlechter einschätzen und auch häufiger Einschränkungen ihrer Lebensqualität in Folge von Krankheiten hinnehmen müssen (Bammann 2001: 51). Die Wahrscheinlichkeit, dass eine längerfristige Krankheit oder Gesundheitsstörung auftritt, ist bei Männer/Frauen der Unterschicht ca. 1,3/1,4 mal höher als bei Personen aus der Oberschicht (Lampert 2005: 15). Bestimmte Krankheiten und Beschwerden sind in noch weit höherem Maße eine Frage der Schichtzugehörigkeit. So leiden Männer aus der Unterschicht ca. 1,5 mal und Frauen aus der Unterschicht sogar 3,4 mal so häufig an Angina pectoris als Männer und Frauen aus der Oberschicht. Auch z.B. chronische Bronchitis, Rückenschmerzen, Schwindel und Depressionen finden sich in unteren Sozialschichten überproportional häufig. Gerade die in modernen Gesellschaften zunehmenden Herz-Kreislaufkrankheiten und die häufigste Krebserkrankung, der Lungenkrebs, treten je häufiger auf, desto niedriger die soziale Stellung von Menschen ist (Lampert 2005: 15). Wer „unten“ in der Berufshierarchie steht, hat z.B. ein 2-3fach größeres Risiko, an einer koronaren Herzkrankheit zu sterben als eine Führungskraft (Peter 2001: 29). Die vorliegenden Daten zeigen auch, dass diese Zusammenhänge international verallgemeinerbar sind (siehe Kunst in diesem Band). In praktisch allen modernen Ländern verlaufen Krankheits- und Sterberisiken schichtspezifisch. Die Vermutung, dass das Ausmaß dieses Zusammenhangs in insgesamt reicheren Ländern geringer ist als in weniger reichen, trifft nicht zu. Massenwohlstand mindert die Schichtspezifik der Morbidität und Mortalität nicht. Es ist eher so, dass die Krankheitsrisiken unterer Schichten umso mehr überhöht sind, je größer die soziale Ungleichheit zwischen den sozialen Schichten in einem Lande ist. So haben nicht die reichsten Staaten die höchste Lebenserwartung, sondern diejenigen mit der geringsten Einkommensungleichheit (Heinzel-Gutenbrunner 2001: 40, siehe auch Siegrist et al. in diesem Band). Auch die Annahme, die Zusammenhänge zwischen der Schichtzugehörigkeit der Menschen und ihrem Gesundheitszustand würden – u.a. wegen gezielter Vorsorgemaßnahmen – allmählich schwächer werden, ist nicht richtig. Eher im Gegenteil: Die Mitglieder unterer Schichten tragen im Vergleich zu den oberen Schichten ein immer mehr erhöhtes Krankheitsrisiko. Die Gründe könnten in der wachsenden sozialen Ungleichheit zu finden sein. Sie könnten aber auch darin liegen, dass sich das Gesundheitsverhalten der oberen Schichten verbessert hat.
2.2
Beurteilung der schichtspezifischen Befunde
Soziologen könnten versucht sein, nach diesen übereinstimmenden und deutlichen Befunden ihre Arbeit für erledigt zu halten. Schließlich liegen hiermit die zentralen Ergebnisse vor, die uns eine Orientierung über die wesentlichen Zusammenhänge zwischen der Stellung der Menschen in der Sozialstruktur und ihrem Krankheits- und Sterberisiko vermitteln. Bei nä-
Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil?
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herem Hinsehen zeigt sich freilich, dass die Ergebnisse mindestens so viele Fragen aufwerfen, wie sie Antworten vermitteln. Viele dieser Fragen beziehen sich auf die Kausalität. Die am einfachsten zu beantwortende Frage bezieht sich auf die generelle Kausalitätsrichtung: Fördert die Zugehörigkeit zu einer unteren sozialen Schicht das Risiko zu erkranken oder früh zu sterben? Machen also Geldmangel, Unbildung und untergeordnete berufliche Stellung krank? Diese Annahme wird in der sozialepidemiologischen Literatur Kausationshypothese genannt. Oder führen Krankheiten dazu, dass Menschen in niedrige Schichten gelangen bzw. bleiben, während gesunde Menschen in höhere Schichten aufsteigen? Diese Vermutung wird Selektions- oder Drifthypothese genannt (Heinzel-Gutenbrunner 2001: 41). Eine empirisch begründete Entscheidung zwischen beiden Hypothesen ist aus soziologischen Querschnittstudien nicht zu erhalten. Diese Momentaufnahmen zeigen nur momentane Übereinstimmungen auf. Sie weisen z.B. darauf hin, dass in unteren Schichten mehr Herz-Kreislaufkrankheiten als in oberen auftreten. Wo die Ursachen und wo die Wirkungen zu finden sind, wie langfristig Faktoren wirken müssen, um Wirkungen zu erzielen, welche Prozesse sich abspielen, das bleibt im Dunkeln. Paneldaten, in denen die gleichen Personen immer wieder untersucht werden, können jedoch eine Antwort geben, da Ursachen stets zeitlich vor Wirkungen auftreten. Insgesamt zeigen die Daten, dass an der „Kausationshypothese“ mehr „dran“ ist als an der „Selektions- bzw. Drifthypothese“ (Behrens 2001: 254). Aber auch in jenen Fällen, wo Krankheit verantwortlich für niedrige Schichtzugehörigkeit ist, bleiben die Kausalitäten unklar: Wieso kommt es, dass Krankheit Abstiege zur Folge hat? Wo es doch so ist, dass viele „niedrige“ Berufe mit körperlichen gesundheitlichen Einschränkungen nicht ausgeübt werden können und die Betroffenen daher arbeitslos und arm werden, während viele „höhere“ Schreibtisch-Berufe auch mit körperlichen Einschränkungen durchaus verrichtet werden können. Welche Wirkung haben soziale Absicherungen, die krankheitsbedingte Abstiege gerade verhindern sollen? Quantitativ viel wichtiger ist aber, dass die zahlreichen Befunde zur schichtspezifischen Morbidität und Mortalität über die wirklichen Verursachungsprozesse innerhalb der weit häufigeren Wirkungsrichtung „niedrige Schichtzugehörigkeit macht krank“ fast nichts aussagen. Fest steht zunächst nur, dass die Schichtzugehörigkeit als solche kaum je die direkte Ursache von Erkrankung und frühem Tod sein kann. Kaum jemand erkrankt, weil er nur einen Hauptschulabschluss vorzuweisen hat, weil er als angelernter Arbeiter arbeitet und weil er nur wenig verdient. Worin bestehen dann aber die wirklichen Verursachungsprozesse? Wer nur eine sozialepidemiologische Grobübersicht benötigt, wird sich um die Beantwortung dieser Frage nicht kümmern müssen. Sozialwissenschaftler, die aber Hilfestellungen zur Verbesserung der Gesundheitschancen sozial niedrig gestellter Menschen geben wollen, können sich mit den gängigen Befunden zu schichtspezifischen Gesundheitschancen nicht begnügen. Denn sie helfen sozialpolitischen Akteuren nicht. Kein Politiker kann einfach die Einkommensverteilung angleichen. Selbst die Politiker, die dies wollen, sind derzeit im Gegenteil froh, wenn sie die Einkommensungleichheit stabil halten können. Niemand will und kann allen Bevölkerungsmitgliedern die gleichen Bildungsabschlüsse ermöglichen. Eine Abflachung der Berufshierarchie ist allenfalls auf sehr lange Sicht möglich. In der Praxis zur Verbesserung sozialstrukturell ungleicher Gesundheitschancen sind daher Befunde zur bloßen Schichtspezifik der Morbidität und Mortalität wenig wert. Sie zeigen uns nicht deren Ursachen. Wenn empirische Resultate zwar eine Orientierungsfunktion erfüllen, aber nichts Wesentliches zur Interventionsfunktion beitragen, ist das vor allem
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Stefan Hradil
deshalb bedauerlich, weil in modernen Gesellschaften ungleiche Gesundheitschancen, die auf gesellschaftlichen Mechanismen beruhen, schlichtweg nicht akzeptiert werden.
2.3
Einzelursachen schichtspezifischer Gesundheitschancen
Im Hinblick auf die Schichtungskomponenten Beruf, Bildung und Einkommen wurde u.a. auf die nachfolgend genannten Kausalfaktoren aufmerksam gemacht. Hierbei sind je nach Krankheit bzw. Todesart teils andere Ursachen maßgebend. Im Falle vieler Krebserkrankungen ist über die Ursachen der höheren Erkrankungsrisiken von Angehörigen der unteren Schichten noch wenig bekannt. Im Falle der Herz-Kreislauferkrankungen besteht über die Ursachen weitgehende Klarheit. Wieso ist das Risiko, an Herz-Kreislauferkrankungen zu leiden und zu sterben, umso höher, je niedriger die berufliche Stellung eines Menschen ist? Als Ursachen hierfür werden meist ungleich hohe Belastungen („Stressoren“) einerseits und geringe Ressourcen bzw. Fertigkeiten andererseits genannt, mit beruflichen Belastungen fertig zu werden (Greiner 2001: 143, siehe auch Peter in diesem Band). Belastungen bestehen nicht nur aus unmittelbaren körperlichen (u.a. schwere Lasten, Lärm, Hitze, Staub, Gase) und geistig-seelischen Beanspruchungen (einseitige Konzentration, Zwang zur Freundlichkeit etc.). Belastungen entstehen auch dann, wenn Berufstätigkeiten zugleich hohe quantitative Arbeitsanforderungen und geringe Kontrollspielräume enthalten, oder wenn lang andauernde Risiken bestehen, keine entsprechenden Gratifikationen zu erhalten, oder wenn Ungleichgewichte zwischen hohen Anforderungen und niedrigen Belohnungen bestehen (Siegrist 1996). Bei gleich hoher Belastung sind die gesundheitlichen Beanspruchungen dann höher, wenn geringe Ressourcen bzw. Fertigkeiten vorhanden sind, die es erlauben, mit den jeweiligen Belastungen umzugehen (Greiner 2001: 150). Zu diesbezüglichen Ressourcen und Fertigkeiten zählen u.a. soziale Netze, Entspannungstechniken, Kenntnisse über Gefahrenquellen und entsprechende Abhilfemaßnahmen (wie gesunde Ernährung, viel Bewegung, kein Konsum von Nikotin und anderen Drogen), optimistische und aktive Einstellungen über die Gestaltbarkeit von Lebensumständen etc. Wieso tragen Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen höhere Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken? Als Ursachen hierfür gelten wiederum Wissensbestände über Krankheiten und ihre Quellen, ein daher besseres Gesundheitsverhalten im Hinblick auf Ernährung, Rauchen, Sport (nicht aber im Falle des Alkoholkonsums) und der Erwerb positiver Fähigkeiten beim Umgehen mit Gesundheitsrisiken (z.B. häufigere Vorsorgeuntersuchungen). Und – kommen wir zur dritten Schichtungskomponente – wieso ist das Krankheitsrisiko von besser Verdienenden geringer als das Risiko von Niedrigeinkommensbeziehern? Wieso ist die Gesundheit von Menschen desto schlechter, je geringer ihr Einkommen ist? Direkte Einkommenseffekte scheiden in Gesellschaften mit weitgehend gleicher Gesundheitsversorgung weitgehend aus. Gesundheit ist nur selten unmittelbar käuflich. Auch ist der allgemeine Wohlstand in modernen Gesellschaften so groß, dass indirekt mit dem Einkommen zusammenhängende materielle Faktoren (z.B. krankmachende Wohnbedingungen) eine untergeordnete Rolle spielen dürften, wenn auch die höhere Umweltbelastung in billigen Wohnquartieren als Kausalfaktor angeführt wird. Als weit überwiegend wirksame Ursachen von Herz-Kreislauferkrankungen werden bestimmte Verhaltensweisen ausgemacht, die sich gerade in den unteren Einkommensschichten gehäuft finden: eine zu fettreiche Ernährung,
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Bewegungsarmut, überproportional häufiges Rauchen. Aber wieso? Rauchen ist teuer, und eine ungesunde Ernährung ist nicht wesentlich billiger als eine gesunde. Wie vollzieht sich die soziale und sozialpsychologische Vermittlung, die dafür sorgt, dass sich Menschen gerade in niedrigen Einkommensschichten so oft gesundheitlich riskant verhalten?
2.4
Kausalmodelle zur Analyse der Ursachen schichtspezifisch ungleicher Morbidität und Mortalität
Aus der oben stehenden Skizze von Einzelursachen lassen sich zwei Konsequenzen ziehen: Erstens ist die Isolierung von Einzelursachen und deren Nennung wenig sachdienlich. Zahlreiche Überschneidungen, unterschiedliche Abstraktionsebenen und vor allem die Isoliertheit der genannten Kausalfaktoren machen Auflistungen wenig erhellend und praktisch nur begrenzt hilfreich. So ist z.B. niemandem damit gedient, das Rauchen als Hauptursache des Lungenkrebses herauszuarbeiten, wenn nicht klar ist, warum Menschen gerade in unteren Schichten rauchen, obwohl sie um die Gefahr wissen. Wegen ihres Kontextcharakters und ihrer Verkettung sollten Ursachen gemeinsam in einem Kausalmodell und gegliedert nach Ebenen analysiert werden. Es finden sich mehrere solcher Modelle in der Literatur, die recht unterschiedlich ausfallen. Ordnen sie lediglich beschreibend Kausalfaktoren, dann sind auch sie letzten Endes willkürlich. Es lassen sich beliebig viele deskriptive Kausalmodelle erstellen. Sie sind um so systematisch überzeugender und praktisch hilfreicher, je eindeutiger sie auf einer expliziten Theorie beruhen und so Wirkungszusammenhänge zwischen der sozialstrukturellen Lage der Menschen, ihrem Denken und ihren Verhaltensweisen erklären. Zweitens kann man den Ursachen schichtspezifischer Gesundheitsungleichheiten sehr weit nachgehen. „Hinter“ jeder Ursache stehen in der Regel weitere Ursachen. So stehen z.B. „hinter“ dem hohen Risiko von Herz-Kreislaufkrankheiten in unteren Schichten u.a. eine zu fettreiche Ernährung und häufiges Rauchen. „Hinter“ diesen Risiko fördernden Ernährungsgewohnheiten stehen wiederum andere Ursachen, Belastungen im Berufsleben und das Unvermögen, sie abzubauen. „Dahinter“ stehen u.a. eher fatalistische, gegenwartsorientierte Einstellungen. Selbstverständlich lässt sich danach fragen, warum solche Einstellungen in unteren Bildungsschichten vorherrschen, etc. Hinzu kommen noch die komplexen biologischen Ursachenverkettungen, die dazu führen, dass z.B. Bewegungsmangel oft in koronaren Herzerkrankungen mündet. Schließlich wirken Ursachen gemeinsamverstärken sich u.a. gegenseitig, wirken ab gewissen Schwellenwerten unterschiedlich auf andere Ursachen ein usw. Aus Sicht der Grundlagenforschung muss das Fernziel darin bestehen, allen Ursachen und ihren Zusammenhängen nachzugehen. Aus Sicht einer anwendungsinteressierten Sozialepidemiologie wird es jedoch primär darauf ankommen, jene Erklärungsebenen und jene Informationen über Ursachen heraus zu arbeiten, die den Handelnden in Sozialpolitik und Gesundheitswesen ein hilfreiches Eingreifen ermöglichen (Mielck 2000; Streich 2000: 293). Darauf sollten sich Erklärungsmodelle pragmatisch konzentrieren.
44 2.5
Stefan Hradil
Ein Erklärungsmodell zur Analyse schichtspezifischer Gesundheitsrisiken
Ein makrosoziologisches Modell zur Einordnung von gesellschaftlichen Kausalfaktoren schichtspezifischer Gesundheitsrisiken kann zunächst davon ausgehen, dass die berufliche Stellung, der Bildungsgrad und die Einkommensstufe die zentralen „objektiven“ Ressourcen der Menschen in modernen Gesellschaften darstellen. Das jeweilige Gesamtausmaß dieser Ressourcen konstituiert soziale Schichten. Die Schichtzugehörigkeit von Menschen hat in modernen Gesellschaften aber nur im Extremfall direkte gesundheitliche Auswirkungen. Die jeweiligen schichtspezifischen Ressourcenausstattungen ziehen jedoch weitere (un)vorteilhafte Lebensbedingungen und damit ungleiche Lebenschancen nach sich. Hierzu zählen u.a. Wohn- und Wohnumweltbedingungen, Arbeitsbedingungen, Freizeitbedingungen, Mobilitätschancen, Weiterbildungschancen, Bildungschancen (der Kinder) und Kontaktchancen. Diese Lebenschancen stellen großenteils „objektive“ Konsequenzen der o.a. schichtspezifischen Ressourcenausstattungen dar. So sind Wohnbedingungen in hohem Maße eine Frage des Kontostandes, und Arbeitsbedingungen gehen mit großer Wahrscheinlichkeit aus bestimmten beruflichen Stellungen hervor. Außer diesen schichtspezifischen gibt es selbstverständlich weitere ungleiche Lebenschancen, die von schichtexternen Faktoren (wie z.B. der ethnischen Zugehörigkeit; s.u.) geprägt werden. Viele der genannten Lebenschancen haben direkte oder indirekte „objektive“ Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen. Menschen sind bestimmte Mentalitäten zu eigen. Unter Mentalitäten sollen hierbei weitgehend unbewusste, psychologisch „tief sitzende“ Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata bezeichnet werden. Ein Teil dieser Mentalitäten kommt durch das Aufwachsen innerhalb der Ressourcenausstattungen und -kombinationen der einzelnen Schichten zu Stande. Die Menschen passen sich an ihre jeweiligen Lebensbedingungen an und bilden mit großer Wahrscheinlichkeit schichtspezifische Mentalitäten aus. Sie sind in der Unterschicht eher an der Gegenwart, an Regelbefolgung und am „Sich-Einrichten“ orientiert, in der Mittelschicht eher an Planung, an Ehrgeiz und Leistung (vgl. die Kategorie des „Habitus“ von Pierre Bourdieu (1982) und der „Wirtschaftsmentalität“ von Theodor Geiger (1932)). Auch wenn man die Betrachtung auf Schichtungsfaktoren beschränkt und schichtspezifische Mentalitäten einstweilen ausschließlich als Anpassungsprozesse an die äußeren Gegebenheiten des Berufs, der Bildung und des Einkommens deutet, so ergibt sich, dass innerhalb der unteren, der mittleren und der oberen sozialen Schichten keineswegs alle Menschen die gleiche Mentalität aufweisen. Statusinkonsistenzen (z.B. hat das Bildungsbürgertum mehr Bildungsressourcen als finanzielle Ressourcen, beim Besitzbürgertum ist dies umgekehrt), die jeweilige berufliche Sicherheit (sie unterscheidet sich bei Beamten vs. Freiberuflern oder anderen Selbstständigen deutlich) oder der bisherige berufliche Lebensweg (er mag im Falle eines Einzelhändlers bergab, im Falle eines Unternehmensberater steil bergauf geführt haben) sorgen dafür, dass die Mentalitäten auch schichtgleicher Personen sich stark unterscheiden. Die optimistischeren oder pessimistischeren, aktiveren oder passiveren, zukunfts- oder gegenwartsorientierten, autonomie- oder anpassungsorientierten Mentalitäten, die typisch sind für soziale Schichten oder deren Teilgruppierungen, beziehen sich selbstverständlich auch auf Gesundheitsfragen. Sie beinhalten unterschiedliche Definitionen von Gesundheit bzw. Krankheit, unterschiedliche Symptomaufmerksamkeiten, unterschiedliche Kontrollund Bewältigungsüberzeugungen.
Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil?
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Viele der oben genannten Lebensbedingungen (z.B. belastende Arbeitsbedingungen) führen erst im Zusammenwirken mit diesen Mentalitäten zu gesundheitsförderndem bzw. -schädigendem Verhalten (s.u.) und werden so gesundheitlich wirksam. Neben Ressourcen, Lebenschancen und Mentalitäten sollte ein Modell zur systematischen Verortung von Kausalfaktoren schichtspezifischer Morbidität und Mortalität auch Wissensbestände, Meinungen und Verhaltensweisen berücksichtigen. Sie sind den einzelnen mehr oder minder bewusst. Sie können das Ergebnis von mehr oder weniger zwangsläufigen Prozessen darstellen. Häufig bilden sie aber auch das Ergebnis von beabsichtigten Informations- und Entscheidungsprozessen im Rahmen der „objektiv“ in einer sozialen Schicht zur Verfügung stehenden Alternativen. Zu den schichtspezifischen Kognitionen und Verhaltensweisen zählen auch Kenntnisse und Meinungen über Krankheiten, deren Risiken und der Möglichkeiten ihrer Vermeidung. Auf dieser Ebene des Modells sind auch Verhaltensweisen wie Nikotin- und Alkoholgenuss, körperliche Bewegung und Ernährung sowie die Häufigkeit und Strategie ärztlicher Untersuchungen zu verorten. Wie oben dargestellt unterscheiden sie sich in den einzelnen Schichten und haben deutliche gesundheitliche Auswirkungen. Die Ebenen des Erklärungsmodells können aber deutlich machen, und darin liegt der Gewinn eines Erklärungsmodells, dass z.B. das häufigere Rauchen in Unterschichten nicht als Erkrankungsursache isoliert zu sehen ist, sondern u.a. erst im Zusammenhang mit bestimmten Arbeitsbelastungen und mit bestimmten mentalen Kontrollüberzeugungen erklärt werden kann. Diachrone Studien legen den Eindruck nahe, dass „gesunde“ Verhaltensweisen in oberen Schichten nicht nur deshalb eine bessere Gesundheit hervorrufen als in unteren, weil sie dort häufiger vorkommen, sondern auch weil sie (zumindest in den USA und in Großbritannien) in oberen Schichten eine positivere Wirkung als in unteren Schichten haben (Blaxter 1986). Wenn schichtspezifische Wissensbestände, Meinungen und Verhaltensweisen den Einzelnen mehr oder minder bewusst sind, heißt das noch lange nicht, dass sie leicht änderbar sind. Denn viele dieser Denk- und Verhaltensweisen beruhen ja auf den o.a. tief verinnerlichten Mentalitäten und auf „objektiven“ Lebenschancen und/oder sind in verfestigte Routinen des Lebensalltags übergegangen. Wie jedermann am Beispiel des Rauchens selbst weiß, ermöglichen selbst Inkonsistenzen zwischen Bewusstsein und Verhalten keine sofortigen Verhaltensänderungen. Gleichwohl: Verglichen mit den übrigen Ebenen des vorgeschlagenen Modells sind die zuletzt genannten Kausalfaktoren noch am leichtesten und am billigsten beeinfluss- und änderbar. Das erklärt das hohe sozial- und gesundheitspolitische Interesse daran.
3
„Horizontale“ soziale Ungleichheiten und soziale Lagen
Das Schichtungsgefüge bildet zwar das „Rückgrat“, stellt aber keineswegs die einzige Struktur sozialer Ungleichheit in modernen Gesellschaften dar. Als „horizontale“ Ungleichheiten – ein sicher missverständlicher Begriff – werden die sozialen Vor- und Nachteile bezeichnet, die auch unabhängig von der „vertikalen“ beruflichen Schichtungshierarchie bestehen: Ungleichheiten zwischen den berufstätigen „Besitz- und Erwerbsklassen“ einerseits und den „Wohlfahrtsklassen“ (den Transferempfängern, wie z.B. Rentnern oder Arbeitslosen) andererseits, zwischen Männern und Frauen, zwischen Älteren und Jüngeren,
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Stefan Hradil
zwischen Migranten und Einheimischen, zwischen Ost- und Westdeutschen, zwischen Stadt- und Landbewohnern etc. Viele dieser Ungleichheiten (vor allem geschlechtsspezifische und ethnische) stehen mindestens so sehr im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion wie Schichtungsungleichheiten. Die Vor- und Nachteile, die mit Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit usw. einhergehen, können durch den ungleichen Status im Schichtungsgefüge z.B. von Männern und Frauen oder von Ost- bzw. Westdeutschen zu Stande kommen. Frauen bzw. Ostdeutsche haben aber auch dann Nachteile gegenüber Männern bzw. Westdeutschen, wenn sie eine gleiche Stellung im Oben und Unten der sozialen Schichtung einnehmen. In der makrosoziologischen Ungleichheitsanalyse werden die „horizontalen“ Ungleichheiten mit Hilfe diverser Lagenmodelle erfasst. Ein besonders bekannt gewordenes wurde von Wolfgang Zapf und seinen Mitarbeitern am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialwissenschaften erstellt (Zapf et al. 1989, Zapf & Habich 1996). Es bildet außer „vertikaler“ Schichtungsungleichheit auch Altersungleichheiten und Disparitäten zwischen Ost- und Westdeutschland ab. Selbstverständlich können in ein Lagenmodell nicht alle heterogenen „horizontalen“ Ungleichheiten integriert werden. Zahlreiche der genannten „horizontalen“ Ungleichheiten korrelieren mit Gesundheitsungleichheiten. So haben Frauen eine höhere Morbidität, aber eine geringere Mortalität als Männer. Ältere haben eine dramatisch höhere Morbidität und Mortalität als Jüngere, und Migranten haben eine höhere Morbidität als Einheimische (Krones 2001: 99). Teile dieser empirischen Zusammenhänge sind biologischer Art (z.B. Teile der höheren Morbidität und Mortalität von Älteren) und haben wenig mit sozialen Ungleichheiten oder mit gesellschaftlichen Faktoren überhaupt zu tun. Andere Aspekte der gesundheitlichen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, zwischen Ost- und Westdeutschen, zwischen Älteren und Jüngeren etc. sind aber sehr mit ihrer sozialen Lage verknüpft. Aber auch hier sagen bloße Korrelationen über die gesellschaftlichen Ursachen von Gesundheitsungleichheiten wenig aus. Und ohne Kenntnis der Ursachen (z.B. mit dem alleinigen Nachweis eines höheren Krankheitsrisikos von Migranten) ist sozial- und gesundheitspolitisch wenig gewonnen. Bei der Suche nach und bei der systematischen Analyse von gesellschaftlichen Kausalfaktoren kann ein Modell helfen, das analog zum o.a. Modell zur Lokalisierung schichtspezifischer Erklärungsfaktoren aufgebaut ist. Wie jenes Modell berücksichtigt es: 1) die strukturellen Effekte von Ressourcen und 2) Lebenschancen, 3) die mehr oder minder unbewussten Mentalitäten und Grundeinstellungen sowie 4) das eher bewusste Denken und Verhalten der Menschen. Die gesundheitsrelevanten Lebenschancen (wie Freizeitbedingungen, Wohnbedingungen oder Umweltbedingungen) z.B. von Frauen oder von Migranten sind teilweise eine Frage der beruflich vermittelten Ressourcen Einkommen und Bildung und damit der Schichtzugehörigkeit. Es kann sich dabei um die eigene Schichtzugehörigkeit oder die des „Haushalts“ insgesamt handeln. Lebenschancen von Frauen, Migranten, Transferempfängern, Älteren etc. sind aber auch von historischen, politischen oder kulturellen Prozessen abhängig. Wo z.B. Migranten wohnen, ist eine teils Frage des Geldbeutels, teils aber auch der Kettenmigration, der Vorurteile von Vermietern, der städtischen Siedlungspolitik etc. Diese teils durch Schichtungsressourcen teils durch weitere Faktoren zu Stande gekommenen (un)vorteilhaften Lebensbedingungen und Lebenschancen einer bestimmten sozialen Gruppe werden als „soziale Lagen“ bezeichnet.
Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil?
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Die Mentalitäten, Werthaltungen und Grundeinstellungen von Frauen, Migranten, Älteren etc. tragen wesentlich zum jeweiligen Krankheits- und Gesundheitsrisiko bei. So unterscheiden sich die Gesundheitsdefinitionen und die Symptomaufmerksamkeiten von Frauen und Männern deutlich. Dies trägt viel zur längeren Lebenserwartung, aber auch zur höheren selbst berichteten Morbidität von Frauen bei. Frauen schätzen ihren Gesundheitszustand durchschnittlich schlechter, Männer besser als der Arzt ein (Lehr 1987, zit. n. Steinhage 2000: 110). Auch die jeweilige Zufriedenheit der genannten sozialen Gruppierungen mit ihrem Leben zählt zu den besten Prädiktoren der Lebenserwartung, die wir kennen. Diese Mentalitätsdifferenzen zwischen den Geschlechtern, Altersgruppen, ethnischen Gruppierungen, Ost- und Westdeutschen etc. stellen teilweise die Resultate von Anpassungsprozessen an die jeweilige soziale Lage dar, teilweise sind sie das Ergebnis von Auseinandersetzungsprozessen mit der jeweiligen sozialen Lage. Es kann sich dabei um die aktuelle oder um die vergangene Lage handeln. Die skizzierten Mentalitätsunterschiede sind aber andernteils geprägt von Determinanten, die mit der sozialen Lage wenig zu tun haben: von wirksamen Rollenvorstellungen und Selbstdefinitionen z.B. von Frauen, Migranten oder Älteren und damit von der Geschichte und von politischen wie kulturellen Konflikten in einer Gesellschaft. Entscheidende Kausalfaktoren für lagespezifische Krankheits- und Sterberisiken finden sich auch auf der Ebene des erfragbaren Denkens und des beobachtbaren Verhaltens der Menschen. Junge Männer weisen z.B. ein in vieler Hinsicht riskanteres Verhalten als junge Frauen auf. Sie sind daher viel häufiger von Unfällen betroffen. Jüngere Menschen rauchen häufiger als ältere. Männer und Migranten achten im Allgemeinen weit weniger auf gesunde Ernährung als Frauen und Einheimische. Zwar können nicht alle Denk- und Verhaltensunterschiede z.B. zwischen Männern und Frauen mit ihrer sozialen Lage in Verbindung gebracht werden. Aber viele dieser Verhaltensweisen werden erst im Zusammenwirken mit lagespezifischen Mentalitäten und Lebenschancen erklärlich. Darauf soll das vorliegende Erklärungsmodell hinweisen.
4
Lebensstile
Menschen ändern ihr Verhalten und ihre Einstellungen nicht jeden Tag. Dies hat wenigstens drei Gründe:
Erstens werden wichtige Verhaltens- und Einstellungsmuster aus Neigung oder Zweckmäßigkeit zu alltäglichen Routinen. Das Alltagsleben lässt sich nur dann effizient bewältigen, wenn sich die Zahl der täglichen Entscheidungen in Grenzen hält. Zweitens pflegen Menschen bestimmte Alltagsgewohnheiten als persönlichen „Stil“ und demonstrieren diesen nach außen. Menschen wollen von Mitmenschen in bestimmter Weise „gesehen“ werden. Ein „Stil“ wird aber nur dann kenntlich, wenn er relativ konstant bleibt. Schließlich fügen sich die einzelnen Verhaltens- und Denkroutinen im Leben der Menschen zu einem Ensemble von Alltagsgewohnheiten. Aus diesem Gesamtzusammenhang heraus ständig Elemente zu ändern, wäre problematisch. Es würde Widersprüche im Innern und Irritationen nach außen hin erzeugen.
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In der sozialwissenschaftlichen Analyse ist demnach zu unterscheiden zwischen einzelnen Verhaltens- und Denkweisen (z.B. die Ernährung, Kleidung, Mediennutzung, Freizeitgewohnheiten, sportliche Betätigung, ästhetischen Standards, Familienorientierung eines Menschen, etc.) – sie können wie gezeigt im Zusammenhang mit der Schicht- oder Lagenzugehörigkeit stehen – und den aus diesen Elementen bestehenden komplexen Lebensstilen. Lebensstile stellen jedoch mehr dar als die Summe ihrer Komponenten. Sie werden durch Sinn(re)konstruktionen „zusammengehalten“ und bilden so ein Ganzes. Nur weil Lebensstile mehr sind als die Summe ihrer Komponenten, können sie auch dazu dienen, einzelne Verhaltensformen von Menschen zu erklären: Der Kauf eines bestimmten Autos, das Trinken von viel Alkohol, die Wahl einer bestimmten Partei, das Betreiben einer bestimmten Sportart oder das Essen von Vollkornbrot sind ganz oder teilweise aus einem bestimmten Lebensstil heraus erklärbar. Im vorliegenden Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, dass – anders als oft zu lesen ist – aus soziologischer Sicht die einzelnen gesundheitsrelevanten Verhaltensvariablen (Rauchen, Bewegung, Drogen etc.) allein noch keinen Lebensstil ausmachen. Sie können jedoch Bestandteile eines Gesundheitslebensstils insgesamt sein. Ein Lebensstil beruht auf der individuellen Organisation und expliziten Gestaltung des Alltags, wird in biographischen Prozessen entwickelt und bildet eine Synthese von bewusst vorgenommenen und unbewusst routinisierten Verhaltenweisen, von Einstellungen und Zielvorstellungen. Unter einem Lebensstil verstehen wir somit einen regelmäßig auftretenden „Gesamtzusammenhang von Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen, Wissenbeständen und bewertenden Einstellungen eines Menschen.“ (Hradil 2001: 437) Im Grunde ist dies eine Lebensstildefinition, die sich auf zwei Ebenen erstreckt. Sie schließt definitorisch Verhaltensweisen und Einstellungen ein. Hingegen bilden die Ebenen der Lebensbedingungen (damit auch die o.a. schicht- und lagespezifischen Ressourcen und Lebenschancen), der Lebensformen und der Kulturmuster keine Definitionsbestandteile von Lebensstilen, sondern werden als ihre Randbedingungen angesehen. Blickt man auf die Gesellschaft im Ganzen, so wird erkennbar, dass nicht jeder Mensch einen anderen Lebensstil praktiziert. Vergesellschaftungs- und Abgrenzungsprozesse führen dazu, dass die Lebensstile vieler Menschen Ähnlichkeiten aufweisen, sich dabei aber von denen anderer unterscheiden. Wir finden daher Gruppierungen von Lebensstilen in der Bevölkerung.
4.1
Erklärung der Lebensstile
Das Konzept des Lebensstils setzt eine gewisse Entscheidungsfreiheit von Menschen voraus. Daher sind Lebensstilstudien in modernen Gesellschaften ergiebiger als in traditionalen. Lebensstile sind aber auch in modernen Gesellschaften nie völlig ins Belieben der Menschen gestellt, sondern immer mit geprägt von äußeren Gegebenheiten, z.B. von den Lebensbedingungen, Lebensformen und den Kulturen, mit denen Menschen konfrontiert sind. Lebensstile bewegen sich konzeptionell auf gleicher Ebene wie die oben erwähnten Denk- und Verhaltensweisen der sozialen Schichten oder Lagen. Dies legt die Frage nahe, inwieweit schicht- oder lagespezifische Lebensstile existieren. Davon ließe sich dann sprechen, wenn vorrangig die Ressourcen, Lebenschancen und Mentalitäten einer sozialen Schichten oder Lage dazu führten, dass geschlossene Lebensstile entstehen.
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Die empirischen Befunde zeigen, dass sich zwar die meisten vorfindlichen Lebensstile in jeweils einer sozialen Schicht konzentrieren. Aber Schichtdeterminanten machen dennoch einen vergleichsweise geringen Anteil an der Herausbildung von Lebensstilen aus. Das Alter prägt den Lebensstil am stärksten. Bildung, Geschlecht, Einkommen, Lebensform und Kinderzahl sowie die Stellung in der Berufshierarchie folgen auf den nächsten Plätzen. „Demographische Merkmale sind insgesamt jedoch von größerer Bedeutung als Merkmale der vertikalen Schichtung. Die Klassenlage wird somit durchbrochen durch den Einfluss altersspezifischer Erfahrungen und Identifikationen, das Beherrschen kultureller Codes, durch geschlechtsspezifische Zuschreibungen und lebenszyklische Effekte.“ (Schneider & Spellerberg 1999: 123) Insgesamt ist es also nicht gerechtfertigt, Lebensstile von vornherein in einen theoretischen Zusammenhang mit sozialen Schichten oder Lagen zu bringen. Dazu sind schicht- oder lagefremde Einflüsse zu groß. Lebensstile können in komplexen Kausalmodellen in dreierlei Funktionen auftreten: 1) Sie können als abhängige Variablen, z.B. als Folge der Schichtungshierarchie oder von Lagegefügen analysiert werden. 2) Sie können als intervenierende Variablen eingeordnet werden, die zum Beispiel vermitteln zwischen den Lebensbedingungen sozialer Schichten oder sozialer Lagen einerseits und bestimmten alltäglichen Verhaltensweisen und Meinungen andererseits. 3) Sie können als unabhängige Variablen angesehen werden. Lebensstile erklären so z.B. gesundheitsrelevante Verhaltensweisen und letzen Endes Gesundheitsrisiken. Die Erforschung von Gesundheitslebensstilen zeigt, dass es fruchtbar ist, Lebensstile als intervenierende oder unabhängige Variablen in der Erforschung gesundheitlicher Ungleichheit einzusetzen. Diesbezügliche Kausalmodelle sollten wenigsten die folgenden Ebenen enthalten: 4.2
Determinanten von Gesundheitslebensstilen: Alter, Bildung, Geschlecht, Einkommen, Lebensform und Kinderzahl sowie die Stellung in der Berufshierarchie Einstellungen in Gesundheitslebensstilen Verhalten in Gesundheitslebensstilen „Subjektiver“ (selbst wahrgenommener) Gesundheitszustand „Objektiver“ (anhand bestimmter Indikatoren erfragter) Gesundheitszustand
Empirische Befunde zu Gesundheitslebensstilen
Gesundheitslebensstile im oben definierten Sinn wurden bisher wenig erforscht. Meist beschränkte man sich in der empirischen Forschung auf einzelne gesundheitsrelevante Verhaltensweisen. Bekannt wurden die drei Gesundheitslebensstile, die Lüschen (1994) zu Tage förderte. Erforscht wurden mittels Clusteranalyse Gesundheitslebensstile ausschließlich in Form von Verhaltensweisen. Gesundheitsrelevante Einstellungen wurden separat ermittelt. Es ergaben sich:
Die Interventionisten (13,9%), durchschnittlich 46,6 Jahre alt, überwiegend Frauen, stellen einen rationalen und sehr gesundheitsbewussten Verhaltenstyp dar. Menschen, die ihm angehören, nehmen selten Zwischenmahlzeiten zu sich, jedoch viele Vitaminpräparate und gesundheitsfördernde Mittel. Sie betreiben viel körperliche Bewegung. Die Gesundheitspraktiker (49,9%), im Mittel 45,7 Jahre alt, etwas überdurchschnittlich häufig Frauen, rauchen wenig, essen jedoch überdurchschnittlich viel und betrei-
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Stefan Hradil
ben viel Sport. Insgesamt eine „gesunder Lebensstil“, jedoch in einer „natürlicheren“ Weise als die Interventionisten. Die Gesundheitsnihilisten (35,5%) waren durchschnittlich jünger (40,6 Jahre alt) und überwiegend Männer. Gesundheitsnihilisten haben „ungesunde“ Essgewohnheiten, treiben selten Sport, trinken vergleichsweise viel Alkohol und rauchen häufig.
Bei differenzierteren Untersuchungen trat zu Tage, dass Mischformen von „gesunden“ und „ungesunden“ Lebensstilen häufiger sind als rein gesunde oder rein ungesunde Lebensstile. Dies trifft selbst für einfache Studien zu, die nur Verhaltensvariablen verwenden, erst Recht für Untersuchungen, die auch Einstellungen oder auch Ressourcen einbeziehen (Lamprecht & Stamm 1999: 76ff). Dennoch gehen Gesundheitseinstellungen und Gesundheitsverhalten üblicherweise zusammen, wobei die Einstellungen konsequenter sind als das Verhalten. So korreliert das „Achten auf die Gesundheit“ deutlich (0,39) positiv mit einer hohen Meinung von der Beeinflussungsmöglichkeit der eigenen Gesundheit. Diese vergleichsweise konsistenten Einstellungen bilden sozusagen die „Klammer“, die Gesundheitslebensstile mehr oder minder erfolgreich zusammen halten (Daten des Lebenserwartungssurvey 1998, Hradil 2005: 85).
4.3
Erklärung der Gesundheitslebensstile
Gesundheitslebensstile können von der Schichtzugehörigkeit, von der sozialen Lage oder von anderen Gegebenheiten geprägt sein, selbstverständlich auch von der Gesundheit der Menschen selbst. Vergleicht man den Einfluss, den Geschlecht, Alter, Lebensform und die Schichtzugehörigkeit auf den jeweiligen (eindimensionalen Verhaltens-)Gesundheits-lebensstil ausüben, so ergibt sich, dass der Gesundheitslebensstil von Frauen und Männern sich am deutlichsten unterscheidet, vor allem, weil sich Frauen gesünder ernähren und weniger häufig rauchen. Erstaunlicherweise haben auch Singles einen gesünderen Lebensstil als die in Familien lebenden Personen. Daten des Lebenserwartungssurvey 1998 zeigen, dass der Gesundheitslebensstil der Personen ab 46 Jahren sich kaum nach Altersgruppen unterscheidet. Dies widerspricht Annahmen, wonach ältere Menschen gesünder als jüngere leben (Hradil 2005: 86). Unklar zeigte sich im Lebenserwartungssurvey 1998 der Zusammenhang zwischen der Schichtzugehörigkeit und dem jeweiligen komplexen Gesundheitslebensstil. Dies entspricht auch anderen Befunden (Janßen 1999: 171ff.). Erst nach Desaggregierung des Schichtungsindex treten klarere Einflüsse zu Tage: Der Bildungsgrad formt den Gesundheitslebensstil relativ deutlich, der (Äquivalenz-)Einkommensgrad korreliert mit dem „Gesundheitsgrad“ des Lebensstils nur schwach, zwischen beruflicher Stellung und (un)gesundem Lebensstil war sogar ein leicht negativer Zusammenhang festzustellen (Hradil 2005: 86).
4.4
Erklärung der Gesundheit durch Gesundheitslebensstile
Insgesamt zeigte sich 1998 ein schwacher, aber immerhin positiver Zusammenhang zwischen dem „Gesundheitsrang“ des jeweiligen eindimensionalen (Verhaltens-)Gesundheitslebensstils und dem selbst berichteten Gesundheitszustand. Einen „gesünderen“ Lebensstil
Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil?
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pflegen überproportional viele Personen, die ihre Gesundheit als „gut“ oder „sehr“ gut beschreiben (Hradil 2005: 87). Es ist jedoch auf Grund der Ergebnisse einer Querschnittsstudie kaum möglich zu entscheiden, inwieweit Gesundheitslebensstile wirklich Ursache einer besseren Gesundheit sind. Zwar wird ein „gesunder“ Lebensstil sich vermutlich auf Dauer positiv auf die Gesundheit auswirken. Möglich ist aber auch, dass umgekehrt eine gute Gesundheit (vor allem im Alter) Anlass gibt, einen „gesunden“ Lebensstil zu pflegen, um die Gesundheit zu erhalten. Die Schwäche des Zusammenhangs zwischen Gesundheitslebensstil und faktischer Gesundheit ist möglicherweise damit zu erklären, dass erst eine nachlassende Gesundheit Anlass gibt, einen gesünderen Lebensstil anzunehmen. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ein allzu gesunder Lebensstil kann vielleicht „ungesund“ sein, vor allem, wenn auch Einstellungen in die Definition eines „Gesundheitslebensstils“ einfließen. So wiesen die o.a. „Interventionisten“, die ständig auf ihren Gesundheitszustand achten und viel unternehmen, um ihn zu verbessern, eine schlechtere Gesundheit auf als die etwa gleich alten „Gesundheitspraktiker“ (Lüschen 1994). Klarheit über diese Fragen kann nur eine Längsschnittuntersuchung von großer Dauer verschaffen. Dies war möglich, da im Lebenserwartungssurvey 1984 und 1998 die gleichen Personen befragt wurden: Es zeigte sich, dass die Beibehaltung eines „gesunden“ Lebensstils (Sport, nie Raucher, gesundes Essen) sich erwartungsgemäß förderlicher auf die Gesundheit auswirkt als die Beibehaltung eines ungesunden Lebensstil. Bezüglich der selbst eingeschätzten „subjektiven“ Gesundheit halten sich die Effekte allerdings in Grenzen, im Hinblick auf die „objektive“, anhand von Indikatoren erfragte Gesundheit nützt ein gesunder Lebensstil schon mehr: Nur 20,4% der Befragten mit beständig (1984 bis 1998) „gesundem“ Lebensstil, aber 28,2% der Personen mit beständig „ungesundem“ Lebensstil berichteten 1998, sie seien im Alltag gesundheitlich behindert (Hradil 2005: 88). Offenbar wirkt sich ein ungesunder Lebensstil erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung aus: 1984 waren die Personen mit „ungesundem“ Lebensstil eher die Gesünderen, 1998, also 14 Jahre später, waren die gleichen Personen mit immer noch „ungesundem“ Lebensstil häufiger krank als andere Befragte (Hradil 2005: 88).
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Fazit
Die zwar vorhandenen und in ihrer Kausalitätsrichtung eindeutigen, aber relativ schwachen Auswirkungen ganzheitlicher Gesundheitslebensstile auf die Gesundheit der Menschen legen die Frage nahe, ob die Schichtzugehörigkeit oder bestimmte Lagenzugehörigkeiten stärkere Effekte als Gesundheitslebensstile haben. Die Schichtzugehörigkeit prägt den Gesundheitszustand nicht nur unabhängig von Gesundheitslebensstilen, sie wirkt auch wesentlich stärker: Wie erwähnt, korreliert eine bessere berufliche Stellung leicht negativ mit einem „gesunden“ Lebensstil – aber eindeutig positiv mit dem selbst berichteten Gesundheitszustand. Das Gleiche gilt auch für die Schichtungskomponenten Einkommen (0,179) und Bildung (0,170) (Hradil 2005: 87). Worauf diese Zusammenhänge im Einzelnen beruhen, verraten die Korrelationsmaße nicht. Die oben dargestellten Kausalitätsmodelle und empirischen Befunde lassen jedoch erwarten, dass neben direkten Effekten des Berufs, der Bildung und des Einkommens auch schichtspezifische Lebenschancen, schichtspezifische Mentalitäten und schichtspezifische gesundheitsrelevante Verhaltensweisen in ihren Wechselwirkungen hieran beteiligt sind.
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Stefan Hradil
Die verfügbaren Daten deuten an, dass auch die sozialen Lagen der Geschlechter, der Altersgruppen und der ethnischen Gruppierungen jeweils Auswirkungen auf den Gesundheitszustand haben, die die Gesundheitseffekte von Gesundheitslebensstile übertreffen. Ist es also verfehlt, dass sozial- und gesundheitspolitische Instanzen so große Aufmerksamkeit auf Gesundheitslebensstile richten? Sind diese Aufmerksamkeit und die ihr entsprechenden Kampagnen sogar ideologisch, weil dadurch die Verantwortung auf die Einzelnen und ihr Verhalten abgeschoben wird, und die gesundheitspolitischen Instanzen aus der Pflicht genommen werden? Ist diese Aufmerksamkeit sogar kontraproduktiv, weil den oberen Gesellschaftsschichten Verbesserungen der Gesundheitslebensstile leichter möglich sind und sie von ihnen hauptsächlich profitieren? Vergrößern sich dadurch die Schichtungleichheiten der Gesundheit sogar noch? Ideologisch werden Anstrengungen zur Verbesserung von Gesundheitslebensstilen nur dann, wenn sie in der Sozial- und Gesundheitspolitik dazu missbraucht werden, die Bekämpfung gesundheitsschädlicher Lebens-, Arbeits-, Wohn- und Umweltbedingungen zu vernachlässigen. Kontraproduktiv sind Bemühungen zur Verbesserung von Gesundheitslebensstilen nicht. Selbst wenn davon hauptsächlich die oberen Schichten profitieren sollten und sich hierdurch schichtspezifische Gesundheitsungleichheiten vergrößern sollten – die verfügbaren Daten weisen darauf hin – dann ergäben sich immerhin für diese Gruppierungen Verbesserungen des Gesundheitszustandes. Die eigentliche Bedeutung von Gesundheitslebensstilen liegt darin, dass sie sich leichter und mit geringeren Kosten für die Allgemeinheit als schicht- oder die meisten lagenspezifischen Bestimmungsgründe verbessern lassen. Und hier zeigt sich auch der Vorteil von komplexen Lebensstilanalysen: Sie können Gesundheitsentwicklungen und -zustände besser erklären als die Analysen einzelner gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen. Menschen ändern ihre Verhaltensweisen nicht isoliert, sondern im Kontext ihres jeweiligen Lebensumfeldes und Lebensstils. Deshalb geben Lebensstilanalysen auch besser als Analysen einzelner Verhaltensweisen Auskunft über die Möglichkeiten und Hindernisse von Verhaltensänderungen.
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Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil?
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Meso-soziologische Ansätze und die Bedeutung gesundheitlicher Unterschiede für die allgemeine Soziologie sozialer Ungleichheit
Johann Behrens
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Geld lässt sich nicht einnehmen wie Jod, und man kann sich mit Geld auch nicht unterhalten
Die empirischen Resultate sind seit vielen Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten fast langweilig eindeutig: Je mehr Geld eine Person pro Monat zur Verfügung hat, umso länger lebt sie, und daran hat sich auch in den letzten Jahren nichts geändert – im Gegenteil. Fragt man nach der Entwicklung zwischen der ersten und der zweiten Auflage dieses Buches, so lautet die Antwort: Die Unterschiede sind weltweit nicht kleiner geworden, sondern größer, und die Abhängigkeit vom Monatseinkommen hat sich nicht geändert. Damit wäre alles gesagt und erklärt, könnte man Geld einnehmen wie Hustensaft, Beruhigungsmittel, Elixiere, Pillen und Vitamine. Wie es einen Jodmangel gibt, so gäbe es einen Geldmangel. Und wie man gute Erfahrung gemacht hat mit der Jodierung des Speisesalzes, so würde man als Gesundheitswissenschaftler die reichliche Einnahme von Geld empfehlen. Es genügt nämlich nicht, einfach das Durchschnittseinkommen einzunehmen, es muss schon das Spitzeneinkommen sein – denn jede Gehaltsgruppe höher lebt etwas länger. Man wäre als Gesundheitswissenschaftler bei der richtigen Verschreibung so schwer den Beratenen die Umsetzung, Compliance oder Adherence auch fiele. Die Einnahme von Geld ist aber nicht so einfach wie die Einnahme von Jod. Der Letzte, der im Geld ein erfrischendes Bad nehmen konnte, war bekanntlich Onkel Dagobert Duck. Vorher verhungerte Midas bei der Einnahme von Gold. Für alle außer Dagobert Duck gilt, dass Geld, so prognosekräftig es sein mag, noch keine Erklärung von Lebenserwartung, Krankheitsbelastung und Gesundheit als Teilnahme am biographisch relevanten sozialen Leben im Sinne der Klassifikation ICF der WHO und des deutschen Sozialgesetzbuches IX ist. Der Zusammenhang ruft vielmehr nach einer Erklärung. Die Erklärung ist keineswegs trivial. Sie wäre unter zwei Umständen, die aber heute beide nicht (mehr) zutreffen, vielleicht trivial. Die Erklärung wäre erstens weniger schwer, gälte der statistische Einfluss des Geldes nur für den Unterschied arm versus nicht arm. Er gilt aber auch für Unterschiede zwischen Wohlhabenden: Jeder Anstieg in der Gehaltsgruppe verringert die Wahrscheinlichkeit frühzeitig zu versterben (vgl. für Deutschland Klosterhuis & Müller-Fahrnow 1994). Meso- und mikrosoziologische Ansätze halten die makrosoziale epidemiologische Korrelation von Einkommen, aber auch von Bildung einerseits und Lebenserwartung sowie Krankheitslast andererseits noch nicht für eine Erklärung. Geld mag ein sehr guter, Bildung und Stellung im Beruf ein zuweilen ergänzender Prädiktor sein, ihre Wirkung bleibt erklä-
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rungsbedürftig. Es hilft auch nicht mehr, wenn Variablen zu Indizes zusammengefasst werden (wie der sozioökonomische Status oder Schichten), wenn diese Gebilde keine Handlungszusammenhänge treffen. Mikro- und mesosoziologische Ansätze (vgl. Steinkamp 1993) bemühen sich um das Verständnis der Zwischenglieder, die im Folgenden als handlungstheoretische Reformulierung strukturtheoretischer Zusammenhänge vorgeschlagen werden. Denn die gesuchten Zwischenglieder sind Prozesse. So sind es betriebliche Entscheidungen, die Arbeitsbedingungen erzeugen und Personen Arbeitsplätzen zu ordnen. Um die Arbeitsplätze erklären zu können, sind die betrieblichen Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse nachzuvollziehen. Meso- und mikrosoziologische Erklärungen erschöpfen sich nicht darin, den bekannten Prädiktoren („Risikofaktoren“, „Ressourcen“) weitere und immer feinere hinzuzufügen, die in der Addition etwas mehr Varianz erklären. Mikro- und mesosoziologische Ansätze versuchen die Handlungen zu verstehen, deren Resultat die offensichtlichen gesundheitlichen Ungleichheiten sind. In gewisser Weise stehen mikro- und mesosoziologische Ansätze zu den makrosoziologischen Befunden wie in der Medizin die soziopsychosomatische und physiologische Erklärung zur epidemiologischen – sich wechselseitig befruchtend und ihre Relevanz klärend. Mit diesem Interesse am Verstehen von institutionalisierten Handlungen sind mesosoziologische Ansätze weniger an die Grenzen des Nationalstaates gebunden, in dem makrosoziologische Daten typischerweise gesammelt werden (vgl. Beck 2008). Denn weder halten sich die Handlungsverknüpfungen an die Grenzen des Nationalstaates, noch sind die Gleichheitsnormen in der Krankenversorgung nationalstaatlich – auch nicht sozialstaatlich – gebunden: Die Norm gleicher Versorgung bei Krankheit – unabhängig von Kaufkraft, Stand, Nationszugehörigkeit, Leistungsfähigkeit, persönlicher Wichtigkeit für eine Gesellschaft – wurde lange vor der Entstehung von Nationalstaaten als Norm einer Profession, nämlich der wandernden Ärzte von der Insel Kos, in den hippokratischen Schriften 400 Jahre vor Christus niedergelegt. Wie oft diese Norm auch gebrochen wird, heute, wo sie durch die Erklärung der Menschenrechte in der französischen und amerikanischen Revolution bekräftigt wurde, gibt es keinen Staat auf der Welt, der sich nicht (oft kontrafaktisch) zu ihr bekennt. Auf die Bedeutung, die die Soziologie ungleicher Gesundheit dadurch für die allgemeine Soziologie sozialer Ungleichheit gewann, wird dieser Beitrag in seinem zweiten Teil zurückkommen. Als Barrieren zum Verständnis der Prozesse, die Geldeinkommen überhaupt erst zum Prädikator von Gesundheit machen, erweisen sich sehr verbreitete, populäre Klassifikationen. Eine ist die Unterscheidung von „Verhalten“ und „Verhältnissen“, die in unzähligen Beiträgen zu sozialer Ungleichheit in der Gesundheit gebraucht wird und präventiven Interventionen als Leitstern gilt: „Verhaltensprävention“ vs. „Verhältnisprävention“. Die Entgegensetzung ist unpraktisch und unsoziologisch zugleich. Denn Verhältnisse reproduzieren sich durch Verhalten. Wie sollten Verhältnisse bestehen können, hätten sie keinen Einfluss auf Verhalten, das sie immer wieder herstellt? In der Regel müssen Verhalten und Verhältnisse zusammen geändert werden. Eine zweite Barriere ist die „SES-Variable“, die Zusammenfassung von Einkommen, Ausbildungsabschluss, beruflicher Stellung und der einen oder anderen weiteren Variablen zum „sozioökonomischen Status“. Die Variable suggeriert (und wäre dann auch wirklich hilfreich), sie erfasste tatsächliche Status-Gruppen, z.B. gemeinsame Lagen und Milieus. Das tut sie keineswegs. Nicht einmal alle Komponenten der SES-Variablen weisen in dieselbe Richtung. Die dritte Barriere liegt wohl in der Popularität
Meso-soziologische Ansätze und ihre Bedeutung für die Soziologie sozialer Ungleichheit
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von Dosis-Wirkungs-Modellen, die in der Toxikologie sehr fruchtbar sind, und BelastungsBeanspruchungsmodellen, die sich in der ingenieurwissenschaftlichen Materialerprobung bewährt haben. Aber sind soziologische Modelle ihnen tatsächlich überlegen?
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Warum die Mühe? Reichen nichtsoziologische Dosis-Wirkungs-Modelle gesundheitlicher Ungleichheit nicht aus?
Oft ist konstatiert worden, dass die in der Regel ätiologisch orientierten Variablen der Erforschung gesundheitlicher Ungleichheit, wie sie z.B. in der Sozial-Epidemiologie genutzt werden (Behrens 2001) wenig mit der medizin- und gesundheitssoziologischen Theoriebildung zu tun haben (vgl. Cockerham et al. 1993, Gerhardt 1999, Siegrist 1995, Hurrelmann 2000, Behrens 1990). Wenn diese Klage 20 Jahre lang wiederholt wird, stellt sich sogar für mich als Soziologen die Frage, für wen das eigentlich ein Problem ist. Kann man vielleicht auf die Soziologie verzichten – etwa weil Dosis-Wirkungs-Modelle aus der Toxikologie oder ingenieurwissenschaftliche Belastungs-Beanspruchungsmodelle als Theorie-Modelle bereits ausreichen? Viele Belastungs-Beanspruchs-Modelle und Dosis-Wirkungs-erklärungen vermitteln in der Tat den Eindruck der Überflüssigkeit der Soziologie. Dass Unterschiede im Sterbealter und Morbidität in allen Ländern gut durch das Einkommen prognostiziert werden können (vgl. Mielck 2000), macht aber den Zusammenhang, wie bereits gesagt, noch keineswegs verständlich. Das Einkommen mag im statistischen Sinne ein gutes Explanans sein; der statistisch gesicherte Zusammenhang von Einkommen mit Mortalität wie Morbidität bleibt trotzdem erklärungsbedürftig, also „explanandum“. Wenn Kategorien, heuristische Konzepte, Beobachtungsmethoden und Theorien der Soziologie gesellschaftliche Einflussfaktoren bei der Verteilung von Krankheiten sichtbar und/oder verständlich machen können, dann erst stellt die Sozialepidemiologie ein wesentliches Anwendungsgebiet der Soziologie dar (vgl. Siegrist 1995). Sonst bleiben nichtsoziologische, deterministische Dosis-Wirkungs-Modelle und Konzepte aus der Materialwirtschaft als Theoriemodelle übrig. Soziologische, sinnverstehende Modelle unterscheiden sich von diesen durchaus bewährten Dosis-Wirkungs-Modellen darin, dass sie der anthropologischen Tatsache gerecht zu werden versuchen, dass Menschen zwischen Optionen wählend handeln können und ihre eigene Welt in ihren Interaktionen reproduzieren. Strukturen prägen Handeln, sind aber selber auch das Ergebnis geplanten und ungeplanten individuellen Handelns und Erlebens – diese triviale Erkenntnis, die in der Soziologie sehr viele Ansätze von Karl Marx über Mead, Husserl, Max Weber bis zum methodologischen Individualismus Karl Poppers eint, ist keineswegs Standard bei ätiologischen Modellen der Ungleichheit vor Gesundheit und Tod. Im Unterschied zu Kotflügeln von Autos können Menschen Fußtritte antizipieren und ihnen auszuweichen oder ihnen vorzubeugen versuchen. Insofern sind z.B. Belastungs-Beanspruchungsmodelle (Fußtritt, Beule, Kratzer) und Dosis-Wirkungsmodelle für Menschen zu erweitern. Das kann an der beschränkten Nutzung sozioökonomischer Statusindikatoren aus der Soziologie für die sozial-epidemiologische Diskussion der Ungleichheit gezeigt werden. Diese bisher üblichen Indikatoren sind zugänglich. Ihre Prognosekraft ist verhältnismäßig gut (vgl. Geißler 1996, Noll & Habich 1990), wobei die meist verwendete Kombination aus Einkommen/Bildung/Berufliche Stellung suggeriert, dass die Teilindikatoren in die gleiche Richtung wirken und konkrete soziale Lagen („Status“) bezeichnen. Tatsächlich ist das
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Einkommen für sich allein schon am prognosekräftigsten für einige Morbiditäten spielt Bildung eine Rolle (Mielck 2000: 177ff). Für Bildung gilt dasselbe wie für Geld: Wie sie auf Gesundheit wirkt, ist explanandum. Denn diesen „Status“-Indikatoren entsprechen nicht mehr, wie noch bei ihrer ersten Verwendung in Gemeindestudien, sozialen Kreisen und handlungsrelevanten Milieus (vgl. Kreckel 1983). Eine Reihe von soziologischen Studien hat deshalb – an den Symbolischen Interaktionismus oder die Webersche Soziologie anknüpfend – begonnen, den messbaren Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Indikatoren und Krankheit soziologisch verständlicher zu machen: Hierzu haben Verlaufs- und Lebenslauforientierung bei der Krankheitsentstehung und -bewältigung (vgl. den Begriff des „trajectory work“ bei den Pflegewissenschaftlern und Soziologen Glaser und Strauss, und daran anknüpfend bei Gerhardt 1999, Borgetto 1999, Abel 1992, Behrens 1990, 1994, Cockerham et al. 1993) ebenso beigetragen wie die inzwischen vorhandenen Fähigkeiten und Datensätze, Individual- und Aggregatdaten in „Mehrebenenanalysen“ auszuwerten und zu verknüpfen. Diesen sehr unterschiedlichen Ansätzen ist zum großen Teil gemeinsam, dass sie die Ungleichheit nicht durch Ressourcen (Chancen) determiniert sehen, sondern sie durch Handeln, also Wahrnehmungen und Bewertungen (Siegrist 1995), Antizipationen und interaktiv aufgebaute „frames“ (Behrens 1990), und durch die Integration von Ressourcen in Lebensstile (Abel 1992) nachvollziehbar zu machen suchen. Mit diesen Studien ist eine handlungstheoretisch-soziologische Interpretation der demographisch gesammelten Befunde zwar noch nicht erreicht, aber doch absehbarer geworden. Auf Absehbarkeit kommt es an. Die Vision einer integrativen Theorie, die Kontextbedingungen, Beziehungen interagierender Individuen, deren Handeln und Erleben und deren pathophysiologische Folgen in ihrer Wechselwirkung verknüpft, soll ja kein ceterum censeo (d.h. kein ständiges Erinnern) sein, das jahrzehntelang besserwisserisch nervend der epidemiologischen Forschung vorgehalten wird. Forschungsleitend wird die Vision einer integrierenden Theorie erst, wenn ihre Einlösbarkeit absehbar wird. Vorher kann es durchaus sinnvoll sein, getrennte Forschungswege einzuschlagen, auch wo die Gegenstände sich stark überlappen. Aber eine solche Absehbarkeit einer soziologischen Theorie zeichnet sich zum einen in der Stresstheorie ab, die erklärt, warum gesundheitsschädigendes Handeln in bestimmten Kontexten und Milieus häufiger auftritt als in anderen (Siegrist 1996). Lern- und Entwicklungstheorien erklären zum anderen Kompetenzbildungsprozesse in Abhängigkeit von der persönlichen Entwicklungsgeschichte der Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Anforderungen (vgl. Hurrelmann 2000) oder in der Erklärung betrieblicher Strategien, die Arbeitsbedingungen erst erzeugen (Behrens 1990). In den Stress- und Bewältigungstheorien sind es die Chancen zu „personaler Kontrolle“ (Selbstwirksamkeit und Einflussvermögen) und „sozialer Belohnung durch monetäre und nichtmonetäre Anerkennung eigener Verausgabung“, die dazu beitragen sollen, die epidemiologischen Befunde zu interpretieren. Beiden Konstrukten ist gemeinsam, dass sie sich in psychologischen, soziologischen und neurobiologischen Bezugsmodellen gleichermaßen beschreiben lassen. Neurohumorale, nervale und immunologische Reaktionen des Organismus fallen unterschiedlich aus, je nachdem, ob eine Person erfolgreich Kontrolle über aversive Umgebungsbedingungen und Reize (Eustress) ausübt, ob sie nicht kontrollierbaren Bedingungen aktiv zu begegnen versucht (aktiver Distress) oder ob sie die Kontrolle aufgibt oder verliert (passiver Distress). In dem Sammelband von Marmot und Wilkinson (1999) finden sich zahlreiche Belege, dass es sich bei diesen drei Kontrollhaltungen
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keineswegs um persönliche Eigenschaften oder Schicksale handelt, die gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt sind (siehe auch Peter in diesem Band). Besonders gut ist dieser Zusammenhang von Robert Karasek für Erwerbstätige mit geringem Entscheidungsspielraum belegt worden, deren Risiko, kardiovaskulär zu erkranken, doppelt so hoch ist wie das von Erwerbstätigen mit großem Entscheidungsspielraum (Karasek & Theorell 1990). Dasselbe gilt für Siegrists Modell der beruflichen Gratifikationskrisen (1996). Ein positives Selbstwertgefühl – also eine positive Wahrnehmung der Kongruenz von Leistung und sozialer (monetärer und nichtmonetärer) Anerkennung – aktiviert im Gehirn das mesokortikale System mit seinen dopaminergen und noradrenergen Neurotransmittern. Enttäuschte Erwartungen auf Anerkennung lösen passiven Distress aus. Sozialepidemiologisch relevant wird dieses Modell durch das keineswegs selbstverständliche Ergebnis, dass diese enttäuschten Erwartungen oder „Gratifikationskrisen“ nicht über die ganze Bevölkerung gleich verteilt sind. Es wäre ja milieu- und standestheoretisch vorstellbar, dass jedes Milieu seine eigenen monetären und nichtmonetären Anerkennungserwartungen und -symbole herausbildete nach dem Motto: „Ein jeder Stand hat seine Ehre, ein jeder Stand hat seine Last“. Zweifellos gibt es auch tatsächlich Berufsmilieus, die Anerkennung berufs- und milieuspezifisch definieren, so dass nicht jeder sich stark Verausgabende, der weniger verdient als ein Börsenmakler, in eine Gratifikationskrise mit langanhaltendem Distress fällt. Aber die Ergebnisse von Siegrist (1996) lassen sich so interpretieren, dass offenbar die Gratifikationserwartungen in den untersuchten Gesellschaften gleichmäßiger und weniger milieuspezifisch verteilt sind als die Gratifikationen. Erst hieraus entsteht Statusinkonsistenz. Gratifikationskrisen lassen sich nicht schon an niedriger Bezahlung erkennen, sondern nur in der Erhebung von Gratifikationserwartungen finden. Statusinkonsistenz lässt sich nicht schon daran erkennen, dass nach Meinung des beobachtenden Soziologen z.B. Bildungsabschluss und Einkommen nicht zusammenpassen, sondern nur in der Erhebung der Deutungsmuster der Beobachteten.
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Mikro- und mesosoziologisches Verständnis gesundheitlicher Ungleichheit
3.1 Messung gesundheitlicher Ungleichheit Bevor wir die Prozesse gesundheitlicher Ungleichheit anzielen können, ist zu klären, wie wir gesundheitliche Ungleichheit überhaupt erfassen. Alle Theorien sozialer Ungleichheit setzen unabhängige in Beziehung zu abhängigen Variablen. Deswegen ist die Bestimmung der abhängigen Variable für alle diese Theorien entscheidend. Für die gesundheitliche Ungleichheit ist die abhängige Variable keineswegs trivial. Mortalität ist nicht die einzig schlüssige Variable. Bei der Bestimmung der abhängigen Variablen unterscheide ich zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Konzepten. Diese beiden Konzepte lassen sich keineswegs als das der objektiven versus subjektiven Gesundheit bezeichnen. Sie sind beide unterschiedliche Konzepte objektivierbarer Gesundheit. Das erste Konzept ist verbreitet, aber meiner Ansicht nach wenig sinnvoll. Es definiert Krankheit versus Gesundheit durch das Vorliegen einer organischen Schädigung. Eine solche organische Schädigung mag z.B. Diabetes mellitus oder eine ischämische Herzkrankheit sein.
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Nach dem zweiten Konzept sind medizinisch feststellbare organische Schädigungen (und zum Teil auch Fähigkeitsstörungen) keine guten abhängigen Variablen, wenn es um Krankheit und Gesundheit geht. Die Begründung für die mangelnde Eignung dieser Indikatoren ist einfach: Wir können in uns eine Krankheit haben, die unheilbar zu einem frühen Tod führen wird, von der wir aber nichts wissen und die uns in unseren Lebensvollzügen bis kurz vor diesem frühen Tod nicht wesentlich beeinträchtigt. Sind wir mit einer solchen Krankheit krank oder gesund? Wir sind offenbar – und so sieht es auch die Alltagssprache – gesund. Wäre es anders, wäre jeder Mensch mit einer Prognose auf eine spätere Erkrankung oder auf einen frühen Tod sein ganzes Leben über krank. In diesem Verständnis ist die organische Schädigung (zum Teil selbst die nicht als relevant wahrgenommene Fähigkeitseinschränkung) eher eine unabhängige Variable für objektive Gesundheit versus Krankheit, als die eigentlich interessierende abhängige Variable. Dieses zweite Konzept ist glücklicherweise keines, das nur von randständigen Soziologen oder Gesundheitswissenschaftlern vertreten wird, es entspricht der ersetzenden Version der früheren internationalen Klassifikation der „Impairments, Disabilities and Handicaps“, die in der WHO als Internationale Klassifikation funktionaler Gesundheit (ICF) zur Verfügung steht (siehe Abb. 3.1). Abbildung 3.1: Integrierende internationale Klassifikation ICF
ICD Unfall Krankheit
Angeborene Eigenschaften Training Impairment „Störung“
Activity „Aktivität“
Participation „Teilhabe“
Kontext „Umgebung gesellschaftliche Umstände“ Quelle: eigene Abbildung
Die erste Version war noch fälschlich als „Krankheitsfolgenmodell“ bezeichnet worden, als sei das „Handicap“ eine Folge von organischer Schädigung oder der Aktivitätseinschränkung. In Wirklichkeit ist ein Handicap – als der Ausschluss von der sozialen und sonstigen Partizipation, die ein Mensch erfährt – keineswegs determiniert durch die organische Schädigung oder die Fähigkeitseinschränkung. Das zeigt jeder Querschnittsgelähmte. Ob von zwei ab demselben Wirbel Gelähmten der eine einen hochbezahlten, befriedigenden Beruf nachgehen kann und der andere für jede Tätigkeit als erwerbsunfähig gilt, hängt überhaupt nicht mit der Querschnittslähmung zusammen; vielmehr ist es die Zugänglichkeit von Berufen, die den einen schwerst behindert, den anderen nicht. Insofern ist zur Definition von Krankheit und Gesundheit die Kenntnis der behinderten sozialen Kontextbedingungen mindestens so wichtig wie die Kenntnis der organischen Schädigung („Impairments“). Das ist in nicht zahlreichen, aber doch inzwischen in einer Reihe von Untersuchungen gezeigt worden (Behrens 1990, Gerhardt 1999).
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Meso-soziologische Ansätze und ihre Bedeutung für die Soziologie sozialer Ungleichheit
Kranksein bezeichnet genau genommen den gesundheitlichen Ausschluss von einer gewünschten und für integritätsstiftend angesehenen Teilhabe am alltäglichen sozialen Leben. Organische Schädigungen sind eine, aber nur eine und keine hinreichende mitwirkende Ursache, eine andere unabhängige Variable ist die gesellschaftliche Reaktion auf die organische Schädigung.
3.2 Die Wirkung der Gesellschaft auf die Gesundheit Im folgenden mesosoziologischen Modell wurden gesundheitliche Unterschiede daher an den Dimensionen der Internationalen Klassifikation funktionaler Gesundheit gemessen, also an der Dimension der Organstruktur, der Dimension der Aktivität und der Dimension der Partizipation (vgl. mittlere Linie, herausgehoben mit Fettdruck in der Abb. 3.2). Abbildung 3.2: Die Wirkung der Gesellschaft auf die Gesundheit
Sozialstruktur, Kultur (Geld, Macht)
Soziale Unterschiede:
Soziale Interventionen
Erreichbare „Wohlmöglichkeiten“: Arbeitsbedingungen, Wohnbedingungen horizontale und vertikale Wechselchancen Ernährung Bewältigungsangebote (Rauchen, Medikamente)
Gesundheitliche Unterschiede: (Lebensqualität CF der WHO, SGB IX und Lebenserwartung)
Organische Eigenschaft
Genetische Disposition
Aktivität
Wahrgenommene Chancen Lebensstil Gesundheitsverhalten Bewältigungsmuster Entscheidungen
Partizipation
Biomedizinische Intervention
Quelle: eigene Abbildung
Zweifellos beeinflusst die Organstruktur Aktivitäten und die Partizipation am biographisch individuell relevanten sozialen Leben. Aber der Einfluss ist keineswegs so deterministisch, wie es das alte Wort „Krankheitsfolgenmodell“ erwarten ließ. Die drei Dimensionen gesundheitlicher Unterschiede können relativ unabhängig voneinander variieren. Partizipation
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ist, je nach sozialem Kontext, durch die Einschränkungen der organischen Struktur keineswegs determiniert. Es ist geradezu die Aufgabe von Gesundheitsförderung, Partizipation auch da zu ermöglichen, wo die organische Struktur selber nicht mehr geändert werden kann. Pflege z.B. und Therapien bei chronischen Krankheiten haben gerade zum Ziel Partizipation und Aktivitäten selbst dann zu fördern, wenn die organische Struktur nur wenig beeinflusst werden kann. Die Dimension der Partizipationsfähigkeit ist auch für das alltägliche Verständnis von Gesundheit die wichtigste der drei Dimensionen. Gesundheitliche Unterschiede sind in dem Modell als Ergebnis genetischer Dispositionen einerseits (siehe unten links in der Abb. 3.2) und sozialkultureller Strukturen und Ereignisse andererseits (siehe oben links in der Abb. 3.2) gefasst. Während genetische Dispositionen direkt nur auf organische Strukturen wirken können, wirken soziokulturelle Strukturen darüber hinaus auch auf Aktivitäten und Partizipationen. Genetische Dispositionen wirken auf Organstrukturen, wie bereits der Begriff der „Disposition“ bezeichnet, vor allem dann verstärkt, wenn ihr Einfluss durch sozialkulturelle Strukturen und Ereignisse gesteigert wird. Sollten Soziologen genetische Dispositionen aus ihren Modellen von sozialer Ungleichheit und Gesundheit ausschließen? Manche tun dies, weil genetische Disposition nicht beeinflussbar sei. Aber sie sind sozial zu bewältigen. Auch so genannte Naturkatastrophen wie Klimakatastrophen sind in ihrer Bewältigung sozial verursacht: Es machte den Verstehensanspruch der Soziologie unklar, schlössen Soziologen sie aus ihren Modellen aus. Als gäbe es eine für den Menschen relevante Natur, die wesentlich unabhängig von der Gesellschaft wirkte. Soziokulturelle Strukturen wirken über sozial unterschiedlich erreichbare „Wahlmöglichkeiten“ und unterschiedliche Wahrnehmungen und Entscheidungen gegenüber diesen Wahlmöglichkeiten. Auch diese Aufteilung ist ungewöhnlich. Viel häufiger findet sich ein eher toxikologisch formuliertes Modell, nach dem die Beanspruchungs-Bilanz aus unterschiedlichen gesundheitlichen Belastungen und Ressourcen zusammen mit unterschiedlicher gesundheitlicher Versorgung die unterschiedlichen gesundheitsrelevanten Lebensstile und Verhaltensweisen prägt und diese die gesundheitliche Ungleichheit (Mielck 2000: 173, Elkeles & Mielck 1997: 140). Die hiesige Darstellung betont demgegenüber die Handlung der Entscheidung zwischen sehr unterschiedlich erreichbaren „Wahlmöglichkeiten“. Zweifellos geht von den unterschiedlich erreichbaren „Wahlmöglichkeiten“ ein Einfluss auf die wahrgenommenen Chancen und Verhaltensentscheidungen aus. Aber es bleiben doch Nutzungsentscheidungen. Erst wenn wir die Perspektive derer verstehen, die Wahlmöglichkeiten wahrnehmen, können wir praktische Schritte der Gesundheitsförderung entwickeln. So beeinflusst die Erreichbarkeit von Karrieren, mit denen man sich belastenden Arbeitsbedingungen entziehen kann, plausiblerweise das individuelle Nachdenken über solche Wechselchancen. Miethöhen beeinflussen trivialerweise die Wahl der Wohnung. Und man muss sich nur das verfügbare Ernährungsangebot in der Nachtschicht ansehen, um zu erkennen, dass die schlechtere Ernährung die billigere Wahl ist. Die sozial akzeptierten Entspannungsangebote (gemeinsames Rauchen, Medikamente usw.) beeinflussen die Wahl der Copingstrategien, der gesundheitsförderlichen wie der gesundheitsschädlichen. Ebenso beeinflusst die Finanzierung gesundheitlicher Versorgung ihre Nutzung. Aber sie determiniert sie nicht. Nutzbarkeit und Nutzen ergeben sich immer nur aus der Perspektive des Nutzers.
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Konkurrieren handlungs- und strukturtheoretische Konzepte oder erläutern die handlungstheoretischen Rekonstruktionen vielmehr wie die strukturtheoretischen Zusammenfassungen zu zutreffenden Prognosen kommen? Strukturtheoretisch beschreibbare Bedingungen wirken nicht nur auf Gesundheitsbelastungen, sondern beschränken und ermöglichen auch Bewältigungsstrategien, ohne die die Wirkung von Belastungen gar nicht begriffen werden kann. Weder bei Max Weber, noch bei Marx, noch bei Bourdieu lassen sich handlungs- und strukturtheoretische Argumente gegeneinander setzen (vgl. schon Abel 1992, Cockerham et al. 1993). Vor diesem gemeinsamen Hintergrund werden erst Unterschiede zwischen Modellen fruchtbar, wie etwa dem „job strain model“ (Karasek & Theorell 1990) und dem „high effort/low reward model“ (Siegrist 1996). Die Entgegensetzung von handlungs- und strukturtheoretischen Ansätzen erinnert etwas an die Debatte, ob man auf Verhältnisprävention oder Verhaltensprävention setzten sollte. Meso- und mikrosoziologische Ansätze haben meiner Ansicht nach also nicht das Ziel, in einem Dosis-Wirkungsmodell immer feinere Prädiktoren für gesundheitliche Unterschiede zu entdecken, wo viele gesundheitliche Unterschiede doch schon durch das verfügbare Geldeinkommen zu präzisieren sind. Sondern die Beweggründe des tatsächlichen Handelns sind aus den Perspektiven der handelnden Nutzer nachzuvollziehen und dann ihre Verbreitung mit makrosoziologischen, sozialepidemiologischen Methoden zu prüfen. Billiger ist Interventionspraxis nicht zu haben. Das kann man an Mielcks Kritik der sozialen Lage, des sozialen Milieus und des Lebensstils und an seiner Überschätzung der Indikatoren Einkommen, Bildung und beruflichem Status erkennen „Es gibt keine Grenze für die Bildung von Untergruppen, und im Extremfall besteht jede Gruppe nur aus einer einzigen Person“. Aber dann überschätzt er meiner Ansicht nach die Leistungsfähigkeit der drei Indikatoren des sogenannten sozioökonomischen Status: „In der sozial-epidemiologischen Forschung wird aber versucht, die soziale Ungleichheit mit Hilfe von relativ großen und klar definierten Bevölkerungsgruppen zu erfassen“ (Mielck 2000: 175). Einkommen, Bildung und beruflicher Status bilden aber gar keine real existierenden „relativ großen und klar definierten Bevölkerungsgruppen“, sondern es handelt sich um Merkmale, die bei höchst unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen gleich sein können und die keineswegs regelmäßig untereinander zusammenhängen. Mit Hilfe dieser Indikatoren kann man eher schlecht relativ großen und klar definierten Gruppen als Adressaten gesundheitsfördernder Angebote erkennen. Handelt es sich dabei um eine rein innersozialwissenschaftliche Diskussion ohne praktische Relevanz für die gesundheitliche Versorgung? Auch eine solche innersoziologische Klärung wäre völlig legitim. Interessanterweise erweist aber gerade diese theoretische Position ihre praktische Relevanz. Selbst bei der Prävention einer Infektionskrankheit wie AIDS beruhten die Erfolge nicht auf einer Orientierung an Schichtindizes oder an Indizes des sozioökonomischen Status, sondern auf der Orientierung der Maßnahmen an den Handlungsrelevanzen sozialer Kreise und Milieus. Dieser, in der Abbildung 3.2 zusammengefasste soziologische Ansatz, ist häufig als Ressourcenansatz eingeführt worden, dem eine Vorstellung gesundheitlicher Chancengleichheit zugrunde liegt (vgl. Behrens 2003): Menschen sollen die Ressourcen und die Freiheit haben, die gesundheitlich günstigere Form der Selbst- und Umweltpflege zu wählen. Konsequent formulierte ich die epidemiologisch gefundenen Variablen in Ressourcen voraussetzende Wahlmöglichkeiten um, wie die Modell-Graphik 3.2 ressourcenabhängiger gesundheitsbezogener Entscheidungs- und Handlungsspielräume zeigte. Für solche Chancengleichheits-Modelle ist auf den ersten Blick die Ökonomie generell, allen voran Sen et
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al. 2006, sehr instruktiv, da sie vom Individuum oder besser gesagt vom Haushalt ausgeht, der unter einschränkenden Nebenbedingungen und (meist) Ressourcenknappheit seine Wahl trifft. Ressourcen und Freiheitsrechte kommen im Capability-Ansatz (Sen et al. 2006) gut in den Blick. In diesen Chancengleichheits- und Ressourcenmodellen wird inzwischen Bourdieu breit rezipiert (vgl. Behrens 1983), weil er weniger am Individuum (Haushalt) ansetzt und die soziale Strukturierung von Lebensstilen als Gesundheitsstile thematisiert. Zumeist werden aber nur die Kategorien des ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals übernommen, die in der Regel rezipiert werden als ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen (siehe Abel in diesem Band ).
3.3 Grenzen des Ressourcen- und Chancengleichheitsmodells (gegen die verkürzte Rezeption Bourdieus) Diese Übernahme Bourdieus geht aber an seiner eigentlichen These vorbei: Dieses an vielen Beispielen veranschaulichte Thema Bourdieus ist die Logik der Distinktion, des relativen Verhältnisses der fast ständischen, familial durch Herkunft und Bildung tradierten Gruppen zueinander. Sie sind nicht nur durch unterschiedliche Ausstattung mit sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen unterschieden. Sondern sie beobachten sich wechselseitig und bilden ihre Lebensstile so aus, dass sie ihre Abgrenzungs- und Überhebungsbedarfe befriedigen. Das ist auch die Grenze einer Milieu-, einer Community- und einer Lebensstilvorstellung, in denen die Menschen zu leben scheinen wie in einander fremden Stämmen. In Wirklichkeit beobachten sie sich wechselseitig und finden ihre Identität in der Abgrenzung; sie machen feine Unterschiede, betonen und fürchten zugleich Grenzen der Respektabilität. Die Gemeinschaft stattet die individuellen Entscheider nämlich nicht nur mit Ressourcen und Freiheitsrechten aus, sondern auch mit Erwartungen, mit kulturell spezifischen Bewährungsproblemen, denen sie mit ihrem Leben zu genügen versuchen. Das ist meine Kritik am Ansatz von Sen (vgl. Behrens 1983). Lebensstile wie fettes Essen mit Bier und Rauchen sind daher nicht (nur) dem Mangel an kulturellem/ökonomischen/sozialem Kapital geschuldet, sondern den (familial) tradierten Abgrenzungsversuchen zur Bewältigung des Bewährungs- und Anerkennungproblems. Paul Willis (1977) hat in Birmingham in Schulklassen teilnehmend das Learning to Labour, beobachtet, was wir auch in deutschen Schulklassen beobachten können und was uns beim Verständnis des Unterschieds zwischen Gesundheitsaposteln und Professionen helfen wird: Die Schule verspricht die Chancengleichheit, dass jeder bei guter Leistung alles werden kann. Die Ahnung, dass dies Versprechen für einen selbst nicht gelten könnte, führt in Schulklassen zur Kultur der Abgrenzung von der Gruppe der „Streber“ und Lehrer, zu einer männlichen Kultur der körperlichen Unbekümmertheit und Stärke, des Genusses, der demonstrativen Verdrängung der Risiken und zu einer weiblichen Kultur der unwiderstehlich begehrenswerten Schönheit, des Lebens als Trophäe. Die Differenz zu den “Strebern“ wird also nicht einfach als Ressourcenmangel begriffen, sondern positiv gewendet als selbstverwirklichende Entscheidung für einen anderen, sicher risikoreicheren, aber auch attraktiveren Lebensstil als den der Streber. In Deutschland haben einige Jugendliche weder Beruf noch Bildung vor sich, sie müssen finden und finden tatsächlich andere Verwirklichungsmuster des von den bildungsbürgerlichen Schichten seit den 50er Jahren übernom-
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men Bewährungsprogramms selbst verwirklichender, virtuoser (und darin berufsähnlicher) Lebensgestaltung (ausführlicher Behrens 1983). Bourdieu – und ihn für Deutschland aufgreifend Michael Vester – haben Schichteinteilungen für Frankreich und Deutschland gefunden, die eine führende Oberschicht des konkurrierenden Bildungs- und Besitzbürgertums, eine sich nach oben und nach unten abgrenzenden Mitte der um ihre Autonomie bedachten respektablen Facharbeiter und Angestellten und eine Schicht der Prekären abgrenzt.
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Intellektuelle als Gesundheitsapostel der Versittlichung des Volkes und der Herren
Es ist leicht zu erkennen, welche Position dieses Panorama für die diätetischen Gesundheitsberufe bereithält. Es ist die Position der bildungsbürgerlichen und bildungsbürgerlich orientierten, sich durch Distinktion von den Massen wie vom Besitzbürgertum absetzenden kulturellen, pädagogischen, medizinischen, kirchlichen, naturwissenschaftlichen „organischen Intellektuellen“ (Gramsci), die ihre Bewährung in der Funktion finden: Das triebhafte, nicht langfristig denkende („hedonistische“) Volk und die ausbeuterischen Besitzenden Herren („führende Eliten“) müssen zu einem nachhaltigeren Umgang mit ihrem Leben und den natürlichen Ressourcen der Umwelt aufgerufen werden. An dieser Position zeigt sich sehr klar die Differenz des Systems der Krankenbehandlung (vgl Baecker 2008, Pelikan 2007, Stollberg 2008) und des Systems der pflegerischgesundheitsförderlichen Unterstützung: Während Krankenbehandlung einen Leidensdruck im Auftrag des Kranken lindern muss, ohne ihn unbedingt versittlichend zu belehren, ist im System der pflegerisch-gesundheitsförderlichen Unterstützung die präventive Versittlichung, die Hilfe zur Selbsthilfe, das entscheidende Element. Im Fall von Krankheit führt Leidensdruck zum Therapeuten in der Krise der eigenen Bewältigungsmöglichkeit des Lebens (Krank, vor Gericht). Es wird den Kranken eine vorübergehende Auszeit mit spezifischen Rechten und Pflichten des Kranken gewährt in Respekt vor der Autonomie der Lebenspraxis der Patienten; nach der Behandlung nehmen sie ihr gewohntes Leben wieder auf, wenn auch vielleicht mit etwas mehr Vorsicht. Dagegen verlässt sich in der Gesundheitsförderung der Gesundheitsagent viel seltener darauf, dass der Klient kommt. Als „Gesundheitsapostel“ weist er viel häufiger auf mangelnde Nachhaltigkeit der eigenen Lebensführung hin. Er versucht durch Überzeugungsarbeit Leidensdruck zu erzeugen, wo nicht genügend Leidensdruck da ist. Diese Position gefährdet tendenziell den Respekt vor der Autonomie der Lebenspraxis der Adressierten, die hier Tätigen werden von den Adressaten als „Gesundheitsapostel“ wahrgenommen. Von ihnen setzt sich das skeptische, respektable Volk ab: Autonomieorientierte, eigenverantwortliche Arbeiter und Angestellte, die ihre Identität in der Abgrenzung nach oben gegenüber den Gesundheitsaposteln, nach unten gegen die nicht mehr respektablen, resignierten, zur autonomen Lebensführung nicht mehr fähigen Prekären finden. Diese „Prekären“ sind für die mit methodischer Pflege ihrer Selbst und ihrer Umwelt um ihre Autonomie kämpfenden Mittelschichten der Angestellten, der Arbeiter und kleinen Selbständigen unerlässlich für ihren identitätsbildenden Abschluss nach unten. Ihr Zeithorizont ist kurz und wird durch demonstrative Unbesorgtheit überspielt. Es ist schwer, die Autonomie durch eine relativ feste Stelle in der Stammbelegschaft , eine sichere Wohnung und unterstützungsfähige soziale Beziehungen zu erringen: Die Hoffnung liegt im virtuosen
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Hazard (Behrens 1984), im Spekulationsgewinn, in der guten Heirat, im Klientelismus. Das sich die Mittelschicht, das Bildungs- und das Besitzbürgertum von ihnen identitätsstiftend abgrenzt, heißt keineswegs, dass sie ihr Leben nicht beneiden: An einem Abend im Kneipenviertel versuchen sie die demonstrative Unbesorgtheit der Prekären zu teilen, traditionell als Studentenherrlichkeit gerahmt, mit dem Unterschied, dass diese am nächsten Morgen oder nach ein, zwei Jahren bei der Examensvorbereitung das Milieu verlassen können, jene nicht. Auch gehört, so die Befunde von Bourdieu und Vester, ein Spross des Bildungsbürgertums oder der Mittelschichten nicht schon dann zu diesen Prekären, wenn er arbeitslos wird und schließlich sein Recht auf Sozialhilfe wahrnimmt: Der Habitus ist familial vermittelt, nicht durch Einkommensverluste und Arbeitsmarktereignisse. Daher ist jede pflegerische gesundheitsförderliche Unterstützung, jeder Rat gefährdet, als Rat vom Oben der volksversittlichenden Bildungsbürger nach unten anzukommen, als Besserwisserei und Bevormundung, als – bei allem Mitleid (wegen zu wenig Ressourcen) und aller weltverbessernden Programmatik – Verletzung des Stolzes durch Gesundheitsapostel. Gesundheitsförderung kann die krank machen, die ihren Forderungen nicht genügen können. Nicht die pädagogische Aufforderung zu einer einzelnen Verhaltensänderung, nicht die Bereitstellung von Ressourcen, sondern der respektierende Bezug auf den Habitus eröffnen Chancen. So wird empirisch beschreibend – nicht erst normativ – der Unterschied zwischen Gesundheitsaposteln und Professionen pflegerischer gesundheitsförderlicher Unterstützung deutlich. Professionen unterscheiden sich von Gesundheitsaposteln durch ihren Respekt vor der Autonomie der Lebenspraxis ihrer Klienten. Sie verwechseln nicht externe und interne Evidence, sondern bauen mit ihren je einzigartigen Klienten aus deren je eigenen Erfahrungen interne Evidence auf und richten von dieser internen Evidenz aus Fragen an die externe Evidenz der Erfahrungen Dritter. Denn nur das ist das Neue an der weltgesellschaftlichen Computerkultur: Es stehen in einem nie zuvor gekannten Ausmaß (gefilterte) Berichte über Erfahrungen in allen Erdteilen im Netz, und Experten können sie nach vorgegebenen Kriterien in einem benchmarking ordnen (externe Evidence). Aber nur Professionen, die mit ihren Klienten zusammen interne Evidence zur Sprache bringen können, können sie mit ihren Klienten nutzen (vgl. Behrens 2005, Behrens & Langer 2006).
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Drei unzureichende Erklärungen des sozialen Gradienten in der gesundheitlichen Ungleichheit
Für die Prognostizierbarkeit von Morbidität, Mortalität inkl. Teilnahmeausschlüssen im Sinne der Internationalen Klassifikation funktionaler Gesundheit der WHO und des Sozialgesetzbuches IX sowie mangelnder Bewältigungschancen sind drei Erklärungen populär, die ebenso verbreitet und plausibel wie in ihrer Reichweite wenig haltbar sind.
4.1 Weil du arm bist, musst du früher sterben Die erste, zunächst sehr plausible Erklärung, argumentiert mit der Armut: „Weil du arm bist, musst du früher sterben“. Plausibel ist diese Erklärung, weil immer wieder international erwiesen wurde, dass schlechte Wohnbedingungen, allzu billige Ernährung, Unsicherheit und Sorgen was das Einkommen und den möglichen Arbeitsplatz angeht, mangelnder
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Zugang zu einer häufig kostspieligen gesundheitlich zuträglichen Lebensweise (wie Sport, ruhiger und ungestörter Schlaf, gesunde Ernährung, Rat und Hilfe von Gesundheitsfachleuten) krank machen. Auch für die Arbeits- und Wohnbedingungen lässt sich weltweit die Abwärtsspirale handlungstheoretisch belegen: Armut führt zur Notwendigkeit, sich auf krankmachende Arbeits- und Wohnbedingungen einzulassen, Krankheit verschärft die Armut. Diese Abwärtsspirale ist handlungssoziologisch, nicht toxikologisch begründet. Abbildung 3.3: Handlungstheoretisch begründete Abwärtsspirale Armut – Krankheit Hinnahme krankmachender Bedingungen
erst Armut dann Krankheit Behinderung
Quelle: eigene Abbildung
So plausibel diese Erklärung international ist, sie kann doch nicht plausibel machen, warum auch Bezieher mittlerer und höherer Einkommen gegenüber der jeweils höheren Einkommensgruppe schlechtere Werte aufweisen und eine kürzere Lebenserwartung haben. Die Ansicht „weil du arm bist, musst du früher sterben“ mag zutreffen; sie erklärt aber keinesfalls den Zusammenhang zwischen Einkommen und Frühsterblichkeit, weil sie die Frühsterblichkeit nur für die Gesellschaftsmitglieder erklären kann, die am ärmsten dran sind. Die Frage an die Daten, die uns bleibt, ist also die Frage: Was erklärt die Ungleichheit vor Krankheit und Tod bei den Besserverdienenden jeweils im Vergleich zu den noch besser Verdienenden (überall nachgewiesen, wo es entsprechende Daten gibt, für Deutschland z.B. für rentenversicherte männliche Angestellte durch Klosterhuis & Müller-Fahrnow 1994)?
4.2 Unterschiedliche Bezahlbarkeit medizinischer Versorgung Die zweite, ebenfalls auf den ersten Blick plausible Erklärung argumentiert mit Unterschieden in der individuellen Bezahlbarkeit medizinisch und pflegerisch notwendiger Versorgung. Diese Erklärung ist nicht nur in sehr armen Ländern, sondern besonders plausibel auch in Staaten wie den USA, in denen Teile der Bevölkerung überhaupt nicht krankenversichert sind und faktisch auch einen geringeren Zugang zum Medizinsystem haben (Behrens et al. 1996). Für Staaten wie Großbritannien, Deutschland und Kanada wäre eine solche Erklärung weitaus weniger plausibel. Man würde also erwarten, dass die Korrelation
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zwischen Einkommen, Morbidität und Frühsterblichkeit besonders ausgeprägt in den USA und weniger ausgeprägt in Großbritannien, Deutschland und Kanada ist. Diese Erwartung erfüllt sich jedoch nicht. Das „Panel of Income Dynamics“ in den USA zeigt einen sehr ähnlichen einkommensspezifischen Unterschied in der Mortalität wie die Untersuchungen in Großbritannien. Unterschiedliche Bezahlbarkeit der medizinischen Versorgung kann somit nicht allein sein für die Erklärung der sozialen Ungleichheit von Krankheit und Tod. Wirkkräfte außerhalb der medizinischen Versorgung beeinflussen Gesundheit stärker. Die Nutzbarkeit medizinischer und pflegerischer Versorgung hängt freilich nicht allein von ihrer Finanzierung ab. Gerade in Ländern mit solidarisch finanzierten Gesundheitssystemen lässt sich erkennen, dass besser Verdienende das Gesundheitssystem ausgiebiger nutzen als schlechter verdienende (für Deutschland vgl. Mielck 2000). Entweder sind die Angebote so zugeschnitten, dass sie die Personen mit den größten Krankheitsrisiken und der größten Krankheitslast nicht erreichen, oder andere Opportunitäts-Kosten halten die weniger Verdienenden von der Nutzung ab. Damit hat ein großes experimentum mundi des 19. und 20. Jahrhunderts, der Aufbau der wohlfahrtsstaatlich solidarisch finanzierten ärztlichen und pflegerischen Versorgung, ein unerwartetes Ergebnis gezeitigt: Es genügt nicht, die Bezahlung der ärztlichen und Gesundheitseinrichtungen durch Zwangsabgaben zu sichern. Das war die Hoffnung des 19. und 20. Jahrhunderts. Aber die Nützlichkeit und die Nutzbarkeit dieser Einrichtungen ergaben sich daraus noch nicht hinreichend. Es bedarf großer Anstrengungen, um die Angebote für die weniger Verdienenden nutzbar und nützlich zu machen und präventiv auf die Arbeits- und übrigen Lebensbedingungen zu wirken. Der Zusammenhang von Einkommen und Lebenserwartung erschiene zweitens trivial, gäbe es keine Krankenversicherung mit Pflichtbeiträgen und müssten ärztliche und andere Gesundheitsleistungen vor allem aus dem verfügbaren individuellen Einkommen bezahlt werden. Vor 150 Jahren war das noch der Fall. Dann wurde die Krankenversicherung obligatorisch. Der Zusammenhang Einkommen und Lebenserwartung blieb. Die triviale Erklärung wurde widerlegt. Zwar gibt es (vgl. Mielck 2000) erhebliche Unterschiede in der Nutzung der medizinischen Versorgung. Aber in Deutschland und vielen Ländern ist – ganz im Unterschied zu den USA – niemand nur deshalb von der medizinisch notwendigen Versorgung ausgeschlossen, weil er sie sich aus seinem individuellen Einkommen nicht leisten kann. Alle sind krankenversichert und zahlen Pflichtbeiträge. Dass Ärzte in den letzten Jahren vermehrt Zusatzleistungen (IGeL-Leistungen) anbieten, die nicht von der Versichertengemeinschaft erstattet werden, ändert nichts daran, dass das medizinisch Notwendige finanziert ist. Die Nutzungsunterschiede gehen z.T. darauf zurück, dass die Angebote die einkommensschwachen Adressaten nicht erreichen, also nicht nutzbar sind. Auch Opportunitätskosten (Zeit, Abkömmlichkeit) beschränken Nutzbarkeit. Hier ist die Erforschung der Perspektive der Nutzer nötig (Behrens 1996), um nicht Ausgaben im Gesundheitswesen völlig an den Klienten vorbei zu steuern. Aber die Hoffnung, dass z.B. durch eine Verdreifachung der Ärzte die gesundheitliche Ungleichheit zurückgeht – eine Hoffnung, die vor 150 Jahren viele hegten – teilt heute kaum jemand mehr.
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4.3 „Gesunde steigen auf, Kranke steigen ab“ Die dritte Erklärung ist die so genannte „Drift-Hypothese“. Sie erklärt den Zusammenhang zwischen Einkommen (oder auch Klassen- und Schichtzugehörigkeit) und Gesundheit nicht damit, dass geringes Einkommen zu Morbidität und früher Mortalität führe, sondern genau umgekehrt. Diese Ansicht fasste Hradil (1997: 14) folgendermaßen zusammen: „Gesunde steigen ... auf; Kranke steigen ab“. Diese Erklärung ist deshalb so plausibel, weil sie fast trivial ist. Jeder kennt jemanden, der am Arbeitsmarkt nicht Fuß fassen konnte, weil er krank war. In Querschnittsanalysen ist die Frage nach Ursachen generell schwer zu untersuchen. Erfreulicherweise gibt es inzwischen eine Reihe von Längsschnittstudien (vgl. z.B. Marmot 1984, 1996). Die Antwort ist eindeutig. Die Korrelation zwischen Einkommen (und anderen sozioökonomischen Indikatoren) und Morbidität bzw. Mortalität kann zum größten Teil nicht damit erklärt werden, dass Kranke sozioökonomisch gesehen abgestiegen sind. Vielmehr zeigen Längsschnittanalysen, dass im kausalitätsermöglichenden Zeitverlauf ursprünglich Gesunde mit schlechten finanziellen und anderen sozioökonomischen Ressourcen krank werden und dann, wenn sie krank sind, in berufliche und gesundheitliche Labilisierungsspiralen geraten, die ihr Einkommen wie ihre Gesundheit weiter verschlechtern (zu dieser Labilisierungsspirale vgl. Behrens et al. 1996). Dieser Zusammenhang geht keineswegs nur darauf zurück, dass Personen mit besseren finanziellen und anderen sozioökonomischen Ressourcen weniger körperliche Einschränkungen hätten. Er geht auch darauf zurück, dass die besser bezahlten Tätigkeiten sich eher mit körperlichen Einschränkungen ausfüllen lassen als die schlechter bezahlten. Diese beruflichen Tätigkeitsmischungen erlauben Wechsel von Tätigkeiten, deren Anforderungen sich fast nur in jüngeren und mittleren Jahren den ganzen Tag erfüllen lassen hin zu Tätigkeiten, die auch bei körperlichen Einschränkungen produktiv zu leisten sind, die Gestaltungsspielräume eröffnen, die berufliche Identifikationen und soziale Unterstützung von Vorgesetzten und Kollegen fördern. Letztere sind durchweg Tätigkeiten, mit denen man produktiv alt werden kann (Behrens 1990, Behrens et al. 1999, 2000, Gerhardt 1999). Im Zugang zu diesen Tätigkeiten prägen sich ganz andere Kräfte sozialer Ungleichheit ein als Krankheit und Gesundheit (Behrens 2004).
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Was macht aus gesundheitlichen Unterschieden soziale Ungleichheiten?
5.1 Der entscheidende Beitrag der sozialen Ungleichheit in der Gesundheit für die allgemeine Soziologie sozialer Ungleichheit Bisher widmete sich dieser Beitrag der Frage: Was können soziologische Ansätze für die Erklärung gesundheitlicher Unterschiede leisten? Nun widmen wir uns der umgekehrten Frage: Welche Bedeutung hat gesundheitliche Ungleichheit für allgemeine Soziologie sozialer Ungleichheit? Die soziale Ungleichheit in der Gesundheit ist in der Tat das Schlüsselthema für jede allgemeine Soziologie sozialer Ungleichheit geworden. An diesem Thema findet die allgemeine Soziologie sozialer Ungleichheit ihre Identität. Alle allgemeinen Konzepte der „Leistungsgesellschaft der Moderne“, der „Chancengleichheit“, der funktionalen Schichtung in der Moderne bewähren sich oder scheitern an der sozialen Ungleich-
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heit in der Gesundheit. Dafür seien im folgenden Kapitel drei Gründe diskutiert, von denen der dritte der wichtigste ist. 5.1.1 Von Unterschieden zu Ungleichheiten Erstens: Erst Konzepte sozialer Ungleichheit verknüpfen Beobachtungen bloßer Unterschiede – z.B. zwischen blauen und braunen Augen, Langschläfern und Kurzschläfern, Früh- und im hohen Alter Sterbenden, chronisch gesundheitlich Eingeschränkten und weniger gesundheitlich Eingeschränkten – mit der Frage „sozialer Gleichheit“, sie erst machen sie zu einer Frage der „Equity“ (Gerechtigkeit), nicht der „Equalitiy“. Normen lassen sich empirisch erheben. Meine These ist, dass in der gesundheitlichen Versorgung weltweit andere Normen gelten als für den Zugang zu anderen Glücksgütern. In der gesundheitlichen Versorgung gilt normativ: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Dass jeder Patient allein nach seinen Bedürfnissen, nicht nach seiner individuellen Zahlungsfähigkeit, zu behandeln sei und nur nach seinen finanziellen Fähigkeiten beizutragen habe, ist unbestrittene Norm bis in die tragischen Wahlen der Transplantationsmedizin hinein. In zwanzig Jahren Suche fand ich keine einzige publizierte Stimme, die forderte, dass die Versorgung mit knappen medizinisch und pflegerisch notwendigen Gütern (Organtransplantation ist nur ein Beispiel) bei unterschiedlich zahlungsfähigen Kranken nach deren Zahlungsfähigkeit zu erfolgen hätte. Die Verteilung notwendiger medizinischer Güter nach der Zahlungsfähigkeit des Bedürftigen ist geradezu tabuiert. So selbstverständlich die Norm „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ bei medizinisch notwendigen Gütern gilt, so selbstverständlich gilt sie in fast allen modernen Gesellschaften für den Zugang zu anderen Glücksgütern nicht. In fast allen modernen Gesellschaften ist es erstaunlich selbstverständlich geworden, dass wir allein nach unserer Zahlungsfähigkeit unterschiedlich starke Zwänge zur Erwerbstätigkeit, unterschiedlich gute Restaurants, Autos und Reisen, unterschiedlich schöne Wohnungen genießen dürfen. Die Sonderstellung des Gesundheitsbereichs wird daran deutlich: Wenn wir eine Wohnung oder Nahrung wollen, die wir nicht zahlen können, dann können wir das nur mit dem Beleg der Gesundheitsschädlichkeit aller uns finanziell erreichbaren Wohnungen und Nahrungen begründen. Um in den Geltungsbereich der Norm „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ zu gelangen, müssen wir heute in den Gesundheitsbereich wechseln – das war keineswegs immer so (Behrens 1990). Whitehead (1992, vgl. Mielck 2000: 304) fasst zusammen, in der wissenschaftlichen Diskussion würden gesundheitliche Unterschiede (inequalities), die auf unterschiedliche Zugänge zur gesundheitlichen Versorgung, auf Exposition gegenüber gesundheitsgefährdenden Wohn- und Arbeitsbedingungen, auf nicht frei gewähltes gesundheitsrelevantes Verhalten und auf gesundheitsbedingte soziale Mobilität zurückgingen, als unfair und unvereinbar mit „equity in health“, als problematische gesundheitliche Ungleichheit angesehen. Nur Unterschiede in der Gesundheit, die auf frei gewähltes gesundheitliches Verhalten, time lags bei der Nutzung neuer Präventionsangebote und angeborene Eigenschaften zurückgingen, seien mit equitiy vereinbar. Mielck (2000: 306) schlägt im Anschluss an Whitehead plausibel vor, alle gesundheitlichen Unterschiede als „Problematische Gesundheitliche Ungleichheit“ zu definieren, die nicht auf von anderen Menschen unbeeinflussbare Expositionen oder auf die „freie“ individuelle Entscheidung für diese Exposition zurückginge. Das gilt so für keinen anderen Bereich.
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Für die allgemeine Soziologie sozialer Ungleichheit bedeutet das zweierlei: Die Sphäre der gesundheitlichen Ungleichheit versorgt die Gesellschaft mit einer Bezugsnorm „Jedem nach seinen Bedürfnissen“, von der her „soziale Ungleichheit“ überhaupt erst ein heißer, relevanter Gegenstand wird. Und zweitens werden am Thema gesundheitlicher Ungleichheit in alltäglicher Kommunikation Geltungssphären getrennt (vgl. Beck 2008, Behrens 1990, Stollberg 2008): 5.1.2 Schicksal, Herkunft, Klasse, Alter, Leistungsgerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit An der sozialen Ungleichheit in der Gesundheit, so meine im folgenden diskutierte These, unterscheiden nicht nur moderne Gesellschaften die Sphären, in denen Leistung zählen soll, von denen, in denen der Bedarf ausschlaggebend sein soll, und von denen, in denen Herkunft ungleichen Zugang zu Glücksgütern legitimiert, von denen, in der das Schicksal hinzunehmen oder aber Solidarität gefordert ist. Flankenschutz des Leistungsdiskurses Die Diskussion über soziale Gerechtigkeit findet nur ausnahmsweise statt als Diskussion über Prinzipien, sondern ist im Alltag abzulesen aus selbstverständlichen und nicht weiter hinterfragten, nicht weiter begründungsbedürftigen Entscheidungen und Bewertungen des Alltags. Sie können als selbstverständlich in Anspruch genommen werden, gerade auch da, wo sie empirisch verletzt werden. Vor allem in modernen Gesellschaften sind weltweit ganz wenige Beispielprobleme für die Prozedierung der Hauptkonzepte tragend. Diese Hauptkonzepte sind bei der Begründung ungleicher Verfügung über Glücksgüter „Leistung“, „Bedürftigkeit“, „Herkunft“ und „Schicksal“. Dieser Diskurs innerhalb moderner Gesellschaften treibt drittens Konzepte über den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit aus sich heraus hervor, die durch die medizin- und gesundheitssoziologische empirische Forschung gar nicht hinreichend bestätigt werden. Das führt zunächst dazu, dass bestimmte empirische Ergebnisse wenig Eingang in die alltäglichen Debatten über soziale Ungleichheit und Gesundheit finden. Die Empirie erfüllt sozusagen nicht die an sie gestellten Ordnungsanforderungen. Wenn die Empirie zur Kenntnis genommen wird, tendiert sie dazu, die Diskussion zu überfordern. Abschließend ist die Prozessualität beider Diskurse zu behandeln (Behrens 1990). Vor diesem empirisch normativen Hintergrund ist die frappierende und in 100 Jahren Wohlfahrtsstaat nicht wesentlich zurückgehende, also die Hoffnungen auf die Krankenversicherung enttäuschende mit dem Einkommen korrelierende Ungleichheit bei Krankheit und Tod vor allem dann ein Skandal, wenn sie auf unterschiedliche Versorgung mit notwendigen medizinischen und pflegerischen Gütern zurückgeführt werden kann. Die Ungleichheit von Einkommen selber ist viel weniger skandalisiert, sie wird mit allerlei segensreichen Funktionen gerechtfertigt; z.B. sollen ungleiche Einkommen die Leistung für alle anreizen und fördern. Auch die Wirkung des Zufalls, des unvorhersehbaren Schicksals, bedarf in einem nicht durch einen gerechten Gott zu rechtfertigenden Lebensverlauf keiner gesellschaftlichen Rechtfertigung. Das lässt sich sehr gut an der medizinischen und pflegerischen Versorgung nachweisen. In unserer Untersuchung „Der Alltag der Rationierungen in Einrichtungen des Gesundheitswesens” ergab sich als durchgängiges Muster, dass der Ausschluss von Versorgung oder die Zuteilung der schlechteren Versorgung mit dem speziellen Bedarf des Klien-
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ten an genau dieser schlechteren Versorgung begründet und eben nicht als Rationierung gerechtfertigt wurde. Trennung und Koexistenz der Geltungsbereiche „Zahlungsfähigkeit“ und „Bedarf“ Bei dieser Technik der Umdeutung einer Rationierung in Bedarfsgerechtigkeit ist die Macht über die Feststellung von Bedarfen entscheidend. Es darf, soll die Umdeutung funktionieren, nicht jeder selbst erkennen können, wessen er bedarf. Deswegen haben im Gesundheitssystem Professionen, die in fremdes Innerstes hineinsehen können und dort etwas erkennen, das dem Untersuchten selber unerkennbar bleibt, eine Schlüsselbedeutung. Sie stellen für die Gesellschaft Bedarfe fest. Diese Figur des berechtigten Prüfers von Bedarfen ist selbstverständlich auch für die anderen Ungleichheit begründenden Grundkonzepte nötig und vorzufinden: So gibt es, wenn auch weniger ausgeprägt und abgesichert, Berechtigte, die das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Leistung prüfen können. Insofern unterscheiden wir das Konzept der Leistung von dem des Erfolgs. Einen Erfolg kann man haben, auch ohne jede eigene Leistung. Daher wird Leistung nicht einfach durch den Erfolg, z.B. am Markt, festgestellt; Fachgutachter müssen prüfen. Im angelsächsischen Sprachgebrauch gibt es hierfür den sehr anschaulichen Begriff der Jurisdiktion (vgl. Abbott 1987).
5.2 Überbrückung, Absicherung, Abgrenzung – die Koexistenz von Wertsphären und ihre Grenzwächter Die Prinzipien „Jeder nach seiner Leistung”, „Jedem nach seinen Bedürfnissen” und „Wer Pech hat, hat Pech, und wer Glück hat, der hat Glück”, sind nicht identisch. Sollen sie gleichzeitig nebeneinander gelten, ist eine deutliche Abgrenzung der Wertsphären, in denen jeweils eine von ihnen dominiert, nötig. Wenn wir in der gesundheitlichen Versorgung das Prinzip der bedarfsgerechten, durch Zahlungsfähigkeit nicht bestimmten Versorgung haben, so muss dieser Bereich hinreichend einfach von dem Rest der Gesellschaft zu trennen sein, in denen gilt, „Jedem nach seiner Leistung“ bzw. „Jedem nach seinem Erfolg” im Sinne von Fortüne. Im Idealfall würde man also zwischen den Geltungssphären Wächter erwarten, die den Dispens von der Geltung der einen Anforderung, also den Dispens von der Anforderung nach Leistung oder nach glücklichen Schicksalsumständen behandelt zu werden, und den Übergang in eine Sphäre, in der jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben wird, feststellen. Diese idealer Weise zu erwartenden Wächter finden wir als einen sehr großen Berufsstand überraschenderweise tatsächlich in fast allen Gesellschaften. Es sind die Ärzte. Ihr entscheidendes Monopol ist dieses Wächteramt, nicht etwa die Heilung. Man kann ohne Arzt oder Pfleger/in gesund werden. Aber niemand kann ohne Arzt krankgeschrieben werden, d.h. von einer Wertsphäre in die andere gelangen, von der Leistungsgesellschaft in die Bedarfsgemeinschaft wechseln. Selbst innerhalb von familiären Beziehungen sind Dispense auf Grund von Krankheit letztlich nur durch ärztliches Urteil sicher wahr. Das gilt nicht nur für Leistungen aus dem beziehungsexternen Bereich, auf die zurückgegriffen werden soll, wie z. B. Haushaltshilfen im Krankheitsfall. Ob Unlust, Trauer, Hass, Verachtung usw. in Beziehungen wie im Arbeitsverhältnis einfach nur schlechtes Benehmen sind oder aber als krank entschuldbar, kann im Konfliktfall nur ein dafür professionalisierter Wächter ent-
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scheiden. Zweifellos ist die Existenz einer großen Gruppe gut ausgebildeter und auskömmlich bezahlter Krankschreiber nicht die einzige Bedingung für die erforderliche Trennung der Geltungssphären. Es bedarf auch eines erkennbaren Phänomens, das zu bescheinigen ist, und dieses Phänomen „Krankheit” muss gewissen Eigenschaften genügen, die sich vor allem aus der Abgrenzungsnotwendigkeit der Geltungssphären des Leistungs- und Erfolgsprinzips auf der einen Seite und des Prinzips der Bedarfsgerechtigkeit auf der anderen Seite ergeben. Am besten funktioniert die Trennung der Allokationssphären, wenn Krankheit etwas ist, was den Einzelnen wie ein Schicksal, wie ein Pech trifft und ohne weitgehende Veränderung sämtlicher Lebensbereiche durch begrenzte Maßnahmen, wie z.B. Bettruhe, Medikamentenkonsum usw. zu beeinflussen ist. Dann nämlich tritt der Kranke nach einer kürzeren oder längeren Zeit der Krankheit zurück in den Status quo ante, zumindest insofern, als er wieder nach Leistungsprinzipien zu behandeln ist. Schwieriger wird die Abgrenzbarkeit hingegen, wenn die Entstehung und Behandlung von Krankheiten eher nach der Interpretation der oberschlesischen Typhusepidemie, wie sie aus Virchows berühmten Bericht von 1848 zu entnehmen ist, verstanden wird. Wenn Krankheit auf soziales Elend zurückgeht und nur durch die Beseitigung sozialen Elends zu behandeln ist, dann sind die Folgen für die Abgrenzbarkeit der nach Bedarf oder nach Leistung/Glück funktionierenden Bereiche völlig klar. Auf sozusagen ärztliche Anordnung hin müsste das ganze Leben nach Bedarfsgesichtspunkten organisiert werden, das System der Therapie müsste sich auf die ganze Gesellschaft erstrecken. Das ist nicht nur eine klassifikatorische Frage. Jede Klassifikation stellt einen Blick auf die Realität dar, und es ist eine Frage der Empirie, ob eine klassifikatorische Klasse leer bleibt oder gefüllt ist.
5.3 Bedeutung für Theorie des Wohlfahrtsstaates: Komplementarität von unterstellter Selbstverantwortlichkeit und der Überbrückung von Schwächen Das Anrecht auf Gleichbehandlung Gleichbedürftiger ist – im Krankheitsfall – weit älter als alle Wohlfahrtsstaaten, weit älter als das Recht auf gleiche Bildungschancen oder gleiche politische und juristische Teilhabechancen. Das dreht in gewisser Weise die von Th. Marshall und Zacher verbreitete Periodisierung der Entstehung sozialer Rechte um. Während Marshalls Unterscheidung zwischen zivilen, politischen und sozialen Komponenten der Bürgerrechte (vgl. Marshall 1964: 78) in der Regel als zeitliche Abfolge verstanden wird, geht im Krankheitsfall der soziale Anspruch an der Teilhabe der Versorgung den zivilen und politischen Rechten voraus. Der Anspruch im Krankheitsfall leuchtet gewissermaßen aus der fernen Vergangenheit den modernen Sozialstaaten heim. Wegen dieses Anspruchs auf bedürfnisgerechte Versorgung wird es für andere Bereiche attraktiv, sich nach dem Muster der bedürfnisgerechten Krankenversorgung zu verstehen, das ließ sich zeigen für die Status der Armut und der Kriminalität (vgl. Behrens et al. 1996). Es gibt zwar nicht den Begriff der klassenlosen Wohnungseinrichtung, wie es den Begriff des klassenlosen Krankenhauses gibt, aber es gibt – typischerweise gesundheitlich begründete – Mindeststandards des Wohnens. Wie Armut als gesundheitsschädliche Situation bekämpft werden muss, so kann Kriminalität als Krankheit klassifiziert und behandelt werden. Zweifellos ließe sich das Gerechtigkeitsprinzip „jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seiner Leistung” auch anders als nur als Norm der Krankenversorgung und familiären Innenverteilung begründen. Tatsache ist aber, dass dieses Gerechtigkeitsprinzip vor allem in der Krankenver-
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sorgung seine Selbstverständlichkeit bewahrt hat – und zwar, wie im nächsten Abschnitt zu klären ist, wo sie die Einengung dieses Prinzips auf einen abgrenzbaren Bereich zu gewährleisten scheint und den nach Leistungs- und Erfolgskriterien stratifizierten Bereich der Gesellschaft dadurch nicht in Frage stellt, sondern absichert: Durch Überbrückung vorübergehender Krisen der Erwerbsfähigkeit, z.B. nach dem Bedarfsprinzip, wird, so die im folgenden zu diskutierende These, das Leistungsprinzip erst begründbar. Im ersten Teil dieses Aufsatzes sahen wir, dass Verursachung und Behandlung der sozialen Ungleichheit vor Krankheit und Tod eher nach dem Virchow-Modell zu sehen ist. Das hat weit reichende Folgen für die Trennung der Geltungssphären „Leistung“ und „Bedarf“. Auch die Reichweite dieser Ergebnisse für die allgemeine Soziologie sozialer Ungleichheit wurde absehbar. Soziologische Thematisierungen gesundheitlicher Ungleichheit versorgen die Gesellschaft und ihre Theorie zur Begründung von Ungleichheit mit einem System, das es erlaubt, Wertsphären – nämlich leistungs- versus bedürfnistheoretische Verteilungsregeln – scharf getrennt koexistieren und zugleich jederzeit interagieren zu lassen. Diese Zulieferung leistet die gesundheitssoziologische Thematisierung nicht nur für die Theorien stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung. Für alltägliches Handeln wichtiger ist, dass sie der alltäglich notwendigen Unterstellung biographischer Selbstverantwortung und Handlungsfähigkeit den entscheidenden Flankenschutz gewährt (vgl. Behrens 1990). Der Preis und die Voraussetzungen dieser Abgrenzungsarbeit konnten hier nur angedeutet werden. Für Theorien, die stratifikatorische und funktionalistische Differenzierung in einem erklärenden Zusammenhang bringen, erwies sich die gesundheitliche Ungleichheit zentral. Die stratifikatorische und funktionalistische Differenzierung, also Differenzierung nach Kriterien sozialer Ungleichheit und die funktionale Differenzierung von Ordnungen, hatte schon seit den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Theorie von Parsons zusammengebracht. Sie hatte bis Ende der 70er Jahre schichtungstheoretische Kontroversen mit dem Programm ausgelöst, stratifikatorische Ungleichheit in modernen Gesellschaften funktionalistisch zu erklären: Soziale Ungleichheit sollte aus Leistungsunterschieden resultieren. Das Leistungsprinzip sollte geradezu den konstitutiven Unterschied bei der Erklärung sozialer Ungleichheit in modernen und vormodernen Gesellschaften ausmachen. So wenig dieses Programm nach 1970 als Erklärung Akzeptanz fand (vgl. Behrens 1984), so sehr sickerte es als Begründung in den Alltag ein: Auch wo faktisch nach anderen als Leistungskriterien verteilt wurde, wurde doch die Verteilung nach Leistung (wie immer dies im Einzelfall durch Spezialisten für Leistung definiert sein mag) zur Legitimen. Dieser Gedanke führt in der Handlungstheorie Parsons (1977) zu einer durch Uta Gerhardt (1993) pointiert herausgearbeiteten Konsequenz: „Erst dadurch, dass bei anderen stets Gesundheit als gleicher Ausgangszustand des Rollenhandelns unterstellt wird, kann die Differenzierung nach unterschiedlicher Leistung und Kompetenz zwischen Gesellschaftsmitgliedern erfolgen” (Gerhardt 1993: 86). Im Alltag setzt die unterstellte Selbstverantwortlichkeit der Lebensführung voraus, dass Schwächen in dieser Selbstverantwortlichkeit als vorübergehende oder endgültige abgegrenzt und überbrückt werden, denn sonst wäre bei jeder Krankheit die alltäglich unterstellte Selbstverantwortlichkeit für unsere Handlungen widerlegt.
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Erklärungsansätze sozial differenzierter Gesundheitschancen
Monika Jungbauer-Gans, Christiane Gross
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Soziale Differenzierung und Gesundheitschancen
In den letzten 15 bis 20 Jahren untersuchten zahlreiche Studien den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und der Gesundheit von Personen. Der Befund ist eindeutig: Mit steigendem sozioökonomischen Status – gemessen etwa an dem höchsten Schulabschluss, der beruflichen Position, dem Einkommen bzw. der Schicht – geht eine geringere Morbidität und altersstandardisierte Mortalität einher.1 Dieses Muster zeigt sich selbst bei geringen Unterschieden des sozioökonomischen Status (Siegrist 2001: 37). In Anlehnung an den Begriff der „Lebenschance“ wie er von Dahrendorf (1979) postuliert wird, gehen wir von „Gesundheitschancen“ aus.2 Darunter verstehen wir die in Abhängigkeit der sozialen Lage ungleiche Verteilung von Faktoren, die die Gesundheit sowohl positiv als auch negativ beeinflussen können. Entscheidend für deren Untersuchung sind die strukturellen Bedingungen des Individuums mit ihren spezifischen materiellen und immateriellen Ressourcen.3 Wie eingangs erwähnt, mangelt es nicht an empirischer Bestätigung der Korrelation zwischen diesen Ressourcen bzw. dem sozioökonomischen Status und den Gesundheitschancen; vielmehr bedarf es theoretischer Erklärungen für diesen Zusammenhang. Dieser Beitrag skizziert die wesentlichen mikro- und mesosoziologischen Erklärungsansätze und vergleicht sie nach dem Kriterium ihrer empirischen Evidenz. Hierbei werden zuerst die gängigen Modelle sozialer Ungleichheit auf ihre Erklärungskraft hinsichtlich variierender Gesundheitschancen untersucht (Abschnitt 2). Im Anschluss werden medizin- und gesundheitssoziologische Ansätze (Abschnitt 3) wie auch ökonomische Erklärungsversuche (Abschnitt 4) vorgestellt und im Rahmen eines Gesamtmodells (Abschnitt 5) integriert und vergleichend diskutiert.
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Modelle sozialer Differenzierung
Konzepte vertikaler Differenzierung gehen von der Positionierung von Personen in hierarchischen Gesellschaftsstrukturen aus. Die Einordnung wird bestimmt durch die unterschiedliche Ausstattung mit knappen Ressourcen (Macht und Einfluss bzw. Einkommen 1
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Vgl. unter anderem Geyer & Peter (1999), Helmert (2003), Kunst (1997), Mackenbach et al. (2002), Mielck (2000), Mielck & Bloomfield (2001), Mielck & Helmert (1994), Townsend & Davidson (1982), Townsend et al. (1988), Williams (1990) sowie die Studien in den Sammelbänden von Mielck (1994). Detailliertere Informationen zu dem Begriff der „Lebenschancen“ und dessen Verwendung in der Sozialstrukturanalyse finden sich in den Aufsätze des Sammelbandes Pöttger & Meyer (2004). Gleichzeitig kann Gesundheit an sich als eigene Dimension von Lebenschancen betrachtet werden.
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und Bildung als Indikatoren hierfür). Insofern schließen sie in theoretischer Hinsicht an Klassen- und Schichtmodelle an (Burzan 2004). Die Position in der Hierarchie korreliert mit spezifischem Gesundheitsverhalten, sozialen, psychischen und physischen Ressourcen genauso wie mit materiellen und immateriellen Belastungen. Detaillierter wird dies in Abschnitt 3 dargestellt. Unter Kritik sind diese Ansätze geraten, weil sie sowohl Statusinkonsistenzen als auch Merkmale horizontaler Differenzierung (Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft etc.) ausblenden. Keine Berücksichtigung finden in diesen Ansätzen auch neuere „Lebensstil- und Milieuansätze“, die von der Entstrukturierung und Individualisierung von Lebensformen vor dem Hintergrund eines generell gestiegenen Wohlstandsniveaus ausgehen (Hradil 1994, siehe auch Hradil in diesem Band). Einstellungen und Wertorientierungen sind in diesen Modellen die entscheidenden Variablen. Je nachdem, ob die Modelle hierarchische Indikatoren berücksichtigen, spricht man von „Strukturierungsmodellen“ (Konietzka 1994) oder „Entstrukturierungsmodellen“ (Müller 1989: 57). Welche Schwierigkeiten diese Milieu- und Lebensstilansätze hinsichtlich der Erklärung variierender Gesundheitschancen mit sich bringen, erschließt sich bei näherer Betrachtung der prominenten Ansätze wie etwa den SINUS-Milieus (www.sinus-milieus.de), Vesters Milieumodell (Vester et al. 2001), den sozialen Milieus nach Schulze (1992) oder den Lebensstiltypologien nach Spellerberg (1996). Spellerberg (1996) ermittelt anhand der Daten des Wohlfahrtssurveys beispielsweise den Typ „hedonistische Freizeitorientierte“. Geht dieser Typ eher mit reichlich sportlicher Betätigung einher oder exzessivem Alkoholkonsum? Es wurden jedoch erste Versuche unternommen, Lebensstil- und Milieuansätze zur Erklärung unterschiedlicher Gesundheitschancen anzuwenden: Wie das eben genannte Beispiel schon andeutet, lässt sich ein Bezug zwischen Lebensstil und Gesundheitsverhalten (Rauchen, Ernährung, Alkohol, Sport etc.) herstellen (u.a. Schneider 2002). So konnte der Zusammenhang zwischen Musikgeschmack und dem Body Mass Index (BMI als Indikator für Ernährungsverhalten und sportliche Betätigungen) belegt werden. Übergewichtige tendieren demnach zu Volksmusik und lehnen klassische Musik eher ab (Wolf 2003: 63). Weiterhin wurden die sozialen Milieus nach Schulze verwendet, um Unterschiede im Ernährungsverhalten zu erklären (Gerhards et al. 2004, Gerhards & Rössel 2003). In dem Konzept „gesundheitsrelevanter Lebensstile“ von Abel und Mitarbeitern (Abel & Rütten 1993, Abel et al. 2000, Niemann & Abel 2001) werden Indikatoren für sozioökonomische und soziale Ressourcen verwendet, um einen „Lebensstilscore“ zu schätzen. Dieser Lebensstilscore korreliert stärker mit selbst eingeschätzter Gesundheit als die „British Social Class Skala“, die sich auf den beruflichen Status bezieht. Kritisch anzumerken ist bzgl. dieses Konzeptes, dass der Schwerpunkt auf Indikatoren vertikaler Ungleichheit liegt und nicht auf Einstellungs- und Verhaltensvariablen wie dies für Lebensstilkonzepte programmatisch ist. Insofern ist die Bezeichnung „gesundheitsrelevante Lebensstile“ mehr als irreführend. Eine weitere wichtige Möglichkeit zur Erklärung sozial differenzierter Gesundheitschancen liefern askriptive Merkmale. Konventionell werden diesbezüglich die Merkmale Alter, Geschlecht und ethnische Herkunft betrachtet. Altersdiskriminierung in der medizinischen Versorgung ist weitgehend gut belegt. Besonders interessant scheinen hierbei jedoch die Divergenzen bzgl. rechtlicher Normen, medizinischer Praktiken und alltagsweltlicher Einstellungen (detaillierter speziell zum Thema Organallokation etwa Fateh-Moghadam et al. 2004, Gross & Kriwy 2008). Sinnvoll erscheint bei älteren Probanden die Messung des
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sozioökonomischen Status über den subjektiven sozialen Status, da dieser einen guten Kompromiss zwischen dem „Lebenswerk“ an sich und dem objektiven sozioökonomischen Status liefert (Demakakos et al. 2008). Bei der Untersuchung der Gesundheitschancen von Frauen und Männern wird regelmäßig das paradoxe Ergebnis gefunden, dass Frauen zwar über eine höhere Morbidität klagen, aber eine deutlich niedrigere Mortalität haben als Männer (z.B. Doblhammer 2007, Schnittker 2007). Im langfristigen Vergleich verringerten sich die Unterschiede zwischen Frauen und Männern, was hauptsächlich auf die zunehmende Bildung von Frauen, aber auch die höhere Arbeitsmarktbeteiligung, die sich positiv auf die Gesundheit von Frauen auswirkt, zurückgeführt wird (Schnittker 2007). Schmacke (2002) verweist auf die gesundheitliche Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten durch Sprachbarrieren, der Angst illegaler Einwanderer infolge ärztlicher Untersuchungen amtlich erfasst zu werden sowie der Beschränkung der ärztlichen Versorgung auf Notfälle bei Asylbewerbern. Balsa und McGuire (2001) argumentieren, dass Migrantinnen und Migranten aufgrund von Sprachbarrieren mehr Zeit im Gespräch mit Medizinern benötigen und deshalb selbst dann statistisch diskriminiert werden, wenn ihnen gleich viel Zeit wie anderen Patientinnen und Patienten eingeräumt wird. Die Kindersterblichkeit von Afroamerikanern in den Vereinigten Staaten ist fast doppelt so hoch wie die von Weißen (zusammenfassend Smaje 2000, siehe auch Razum in diesem Band). Ethnische Differenzen im Gesundheitszustand sind Kelaher et al. (2008) zufolge größer wenn der SES über Eigentum operationalisiert wird als bei einer Verwendung von Bildungsvariablen. Auch hier scheint eine differenzierte Betrachtung lohnenswert. Diese konventionellen Merkmale sollten jedoch durch neue, durchaus gesundheitsrelevante Unterscheidungskriterien wie die sexuelle Orientierung ergänzt und kombiniert werden, deren Erforschung bislang noch in den Kinderschuhen steckt (Harcourt 2006).4 Wang et al. (2007) konnte für ein Sample homosexueller Männer unter Kontrolle von Gesundheitsverhalten und einiger soziodemographischer Merkmale eine höhere Morbidität belegen als für die heterosexuelle Vergleichsgruppe. Neben dem erhöhten Risiko der HIVInfektion und -Erkrankung bei homosexuellen Männern sollten auch die weniger offensichtlichen Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit durch soziale Reaktionen berücksichtigt werden. Meyer (1995) konnte für homosexuelle Männer die negativen Effekte internalisierter Homophobie, von geschwächtem Selbstwertgefühl durch ein zugeschriebenes Stigma sowie Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen auf die psychische Gesundheit nachweisen. Seine Längsschnittstudie umfasste 741 homosexuelle Männer aus New York, die bis 1985 noch keine positive HIV-Diagnose erhalten hatten.5 In einer Studie mit homound bisexuellen Jugendlichen zeigten Wright und Perry (2006) auf, dass „sexual identity distress“ eng einhergeht mit psychologischem Distress, geringerem Alkoholkonsum und geringerem Drogenmissbrauch. Je mehr Kontakte diese Jugendlichen jedoch untereinander aufwiesen, desto häufiger zeigten sie riskantes Sexualverhalten (ebd.). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Modelle sozialer Ungleichheit nur dann sinnvolle Erklärungen für unterschiedliche Gesundheitschancen liefern, wenn sowohl die Position in der vertikalen oder horizontalen Gesellschaftsstruktur mit unterschiedlichen 4
5
Harcourt (2006) erklärt diesen Sachverhalt damit, dass die Generalisierbarkeit dieser Zusammenhänge aufgrund der relativ kleinen Anzahl der „Betroffenen“ und der großen Heterogenität innerhalb der Gruppe kaum gewährleistet werden kann. Die Daten sind zwar nicht repräsentativ, doch ist nicht zu erwarten, dass diese Effekte an konservativeren Orten wie etwa Texas weniger drastisch ausfallen würden. Zudem bedarf es für das Testen von Zusammenhangshypothesen keiner repräsentativen Stichproben.
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Mortalitäts- und Morbiditätsrisiken einhergehen als auch Hinweise auf erklärende Mechanismen für diesen Zusammenhang geliefert werden. Während diese Bedingungen für Konzepte vertikaler Strukturierung weitgehend erfüllt sind, bedarf es bezüglich der horizontalen Konzepte theoretischer Weiterentwicklung und empirischer Prüfung. Eine Einbeziehung des Gesundheitsverhaltens in die Milieu- und Lebensstilansätze wäre zudem nicht sinnvoll, da die beiden Konstrukte (Lebensstil und Gesundheit) dann nicht mehr analytisch trennscharf wären.
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Erklärungsansätze der Medizin- und Gesundheitssoziologie
Im Folgenden werden die grundlegenden Erklärungsansätze der Medizin- und Gesundheitssoziologie – gegliedert nach Gesundheitsverhalten (3.1), soziale, psychische wie auch genetische Ressourcen (3.2), Belastungen durch Arbeitsbedingungen und Wohnumfeld (3.3) und sozioökonomischer Kontext (3.4) – zusammenfassend vorgestellt.
3.1
Gesundheitsverhalten
Der Einfluss von verschiedenen Verhaltensweisen und gesundheitsbezogenen Lebensstilen (Luy & Di Giulio 2006) auf die Gesundheit ist in der medizinischen und gesundheitssoziologischen Forschung mittlerweile unbestritten. Im Fokus stehen hierbei der Konsum von Tabak, die Trink- und Essgewohnheiten, die körperliche Betätigung sowie die Inanspruchnahme von Ärzten. Da das Gesundheitsverhalten wie auch die Gesundheit sozial bedingt sind, scheint die Erklärungskraft dieser Ansätze viel versprechend (siehe auch Helmert & Schorb in diesem Band). Das Rauchen stellt das größte Einzelgesundheitsrisiko in westlichen Industriestaaten dar (vgl. Doblhammer et al. 2007, Haunstein 2001, Kraus & Augustin 2001, Peto et al. 1994). Die Rauchprävalenz ist wiederum schichtabhängig. Es zeigt sich ein klarer negativer Zusammenhang: Je niedriger die Schicht, desto höher die Rauchprävalenz (Statistisches Bundesamt 1998, Helmert 2003, Lampert & Thamm 2004, 2007). Während 54% der Bauhilfsarbeiter rauchen, beträgt dieser Anteil bei Gymnasiallehrern nur 13% (Helmert & Borgers 1998). Der Schichteffekt ist dabei zu einem größeren Teil auf das Bildungsniveau als auf die Einkommenshöhe zurückzuführen (Gross & Groß 2008). Ob jemand raucht und wenn ja, wie viele Zigaretten pro Tag, lässt sich dabei nicht mit den gleichen Variablen erklären. Beispielsweise gehören erwerbslose Personen häufiger zu der Gruppe der Raucher, sie rauchen jedoch nicht mehr Zigaretten pro Tag als erwerbstätige Raucher (ebd.). Die Chance auf eine erfolgreiche Rauchentwöhnung steigt bei Männern mit dem Einkommen, bei Frauen mit der Schulbildung (Lampert & Thamm 2004). Inwiefern der geschlechtsspezifische Tabakkonsum jedoch kulturell bedingt ist, zeigt Coleman (2004) mit britischen Daten eindrucksvoll auf. Demnach liegt der Anteil an Rauchern bei britischen Frauen und Männern jeweils bei 27%; im Gegensatz dazu variiert dieser Anteil bei den in Großbritannien lebenden Bangladeschi von 54% bei Männern zu unter 2% bei Frauen. Hinsichtlich des geschlechtsspezifischen Rauchverhaltens lässt sich in Deutschland eine Angleichung bei den jüngeren Alterskohorten feststellen. Während die Daten des Bundesgesundheits-Surveys 1998 29% der Frauen als Raucher ausweist und 38% der Männer im
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Alter zwischen 18 und 79 Jahren (eigene Berechnungen mit BGS 1998), ist bei Jugendlichen schon kein Geschlechtereffekt mehr festzustellen (Richter & Settertobulte 2003). Dieser Trend lässt eine steigende Bedeutung des Tabakkonsums als Sterbeursache bei Frauen vermuten. Anders ist der Zusammenhang beim regelmäßigen Alkoholkonsum von Jungen und Mädchen. Der Anteil der regelmäßigen „Trinker“ liegt bei Jungen 2,5-mal so hoch wie bei Mädchen. Generell ist der Trend des Alkoholkonsums jedoch unabhängig vom Geschlecht in westlichen Ländern rückläufig (Richter & Settertobulte 2003). Alarmierende Erkenntnisse werden hingegen aus Russland und der Ukraine berichtet, wo ein kulturell geprägter, maskuliner Lebensstil mit exzessivem Alkoholgenuss gepflegt wird und sich auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung in diesen Ländern manifestiert und zu einem beträchtlichen Rückgang der Lebenserwartung vor allem bei Männern geführt hat (vgl. Cockerham 1999, Cockerham et al. 2005). Der empirische Zusammenhang zwischen Alkoholgenuss und sozioökonomischem Status muss differenzierter betrachtet werden. Der soziale Gradient lässt sich zwar in eingeschränktem Maße bei Jungen, aber nicht bei Mädchen finden (Richter et al. 2006). Kahl et al. (1994) konnten nachweisen, dass 76% der befragten Jugendlichen ihre ersten Erfahrungen mit Alkohol im Kreis der Familie machen, was auf den enormen Einfluss der familiären Herkunft verweist. Bei männlichen Jugendlichen zeigt sich sogar ein Zusammenhang mit unerwarteter Richtung: Mit höherem Wohlstandsniveau steigt der Anteil der regelmäßigen Alkoholkonsumenten. Denkbar wäre eine Erklärung über höheren Leistungsdruck bei männlichen Jugendlichen aus wohlhabendem Elternhaus, auf den mit Alkoholkonsum reagiert wird (Richter & Settertobulte 2003). Die absolute Alkoholabstinenz ist anscheinend nicht gesundheitsförderlicher als der moderate Alkoholkonsum. Vielmehr handelt es sich um einen U-förmigen Zusammenhang, wonach sich übermäßiger und gar kein Konsum negativ auf die Gesundheit auswirken. Eine Abhängigkeit des Alkoholkonsums von der sozialen Lage konnte für das Erwachsenenalter nicht nachgewiesen werden (Helmert et al. 1997, Mielck 2000). Klein, Schneider & Löwel (2001) weisen jedoch darauf hin, dass die Qualität der konsumierten alkoholischen Getränke für das schichtabhängig unterschiedliche Mortalitätsrisiko verantwortlich sein kann. Zu dieser Schlussfolgerung kommen sie, da sich hoher Alkoholkonsum (80g Alkohol pro Tag und mehr) in oberen Bildungsschichten weniger stark auf das Mortalitätsrisiko auswirkt als in bildungsfernen Schichten. Demnach spekulieren Klein, Schneider & Löwel (2001), dass bei großen Mengen an konsumiertem Alkohol die Qualität der Getränke – die wiederum schichtabhängig ist – gesundheitliche Beeinträchtigungen bewirken kann. Sie schließen jedoch andere Gründe für diesen Interaktionseffekt (wie etwa bessere Lebensbedingungen, die die Schädlichkeit des Alkohol reduzieren) nicht aus. Das Ernährungsverhalten ist ebenfalls abhängig von der sozialen Lage. Untere Schichten ernähren sich seltener entsprechend den Empfehlungen für eine gesunde Ernährung (Prahl & Setzwein 1999). Sie nehmen häufiger Butter, Zucker und Kartoffeln sowie Fleisch und Fleischprodukte zu sich (vgl. zusammenfassend Gerhards & Rössel 2003). Personen mittlerer und oberer Schichten bevorzugen dagegen abwechslungsreichere Ernährung. Sie essen häufiger Salat und rohes Gemüse, Müsli und Haferflocken, eher dunkles als helles Brot (Helmert 2003). In Westdeutschland sind diese sozialen Unterschiede im Ernährungsverhalten jedoch deutlicher ausgeprägt als in Ostdeutschland und bei Frauen größer als bei Männern (Helmert 2003, Helmert et al. 1997).
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Eine weitere Form des Gesundheitsverhaltens ist die sportliche Betätigung. Personen mit niedriger sozialer Lage betreiben über alle Altersstufen hinweg weniger Sport als Personen mit höherem sozialem Status (Helmert et al. 1997, Zubrägel & Settertobulte 2003). Als wesentliche gesundheitsrelevante Folge des Ernährungsverhaltens sowie der sportlichen Betätigung lässt sich das Körpergewicht in Abhängigkeit zur Körpergröße betrachten (meist operationalisiert über den BMI). Anhand der Daten des Jugendgesundheitssurveys aus dem Jahr 2002 konnte diesbezüglich nachgewiesen werden, dass Mädchen eher zu Untergewicht neigen während Jungen eher zu Übergewicht und Adipositas tendieren (vgl. auch Kurth et al. 2007). Dennoch finden sich Mädchen eher zu dick und Jungen eher zu dünn. Fettleibigkeit erscheint dabei eher als Problem der Jugendlichen mit geringem familiären Wohlstand, während ihre Mitschüler aus „gutem Hause“ eher zu Untergewicht neigen (Zubrägel & Settertobulte 2003). Eine Metaanalyse von 55 Studien zeigte, dass Adipositas zwar mit einer höheren Wahrscheinlichkeit unter einer Behinderung oder chronischen Erkrankung zu leiden einhergeht, aber nicht jedoch mit einem höheren, sondern sogar mit einem niedrigeren Sterberisiko sowohl bei adipösen „Gesunden“ als auch bei adipösen chronisch Kranken (Doblhammer et al. 2007). Gleichwohl konnte im Rahmen einer lokalen Interventionsstudie in Schulen nachgewiesen werden, dass Präventionsmaßnahmen zur Vorbeugung von Übergewicht und Fettleibigkeit lediglich bei Schülerinnen und Schülern aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status und Müttern mit Normalgewicht erfolgreich waren (Plachta-Danielzik et al. 2008). Auch die Inanspruchnahme medizinischer Versorgung variiert nach sozioökonomischen Status (siehe auch Janßen et al. in diesem Band). Eine mögliche Erklärung liegt in den zusätzlichen Kosten, die durch Praxisgebühr oder in Form einer Eigenbeteiligung beispielsweise beim Zahnersatz entstehen (vgl. Mielck 2000). Aber auch kostenneutrale ärztliche Leistungen werden von Personen mit niedrigem sozialen Status seltener eingefordert. Dies gilt unter anderem auch für Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern (Altenhofen 1998). Erklärungen hierfür könnten in der größeren sozialen Distanz zu Medizinern liegen oder etwa in der sozial variierenden Symptomaufmerksamkeit. Ausnahme bildet die Teilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen, die nicht nach sozialer Schicht variiert (vgl. Mielck 2000). Weitgehender Konsens besteht jedoch hinsichtlich der geschlechtsspezifisch variierenden Inanspruchnahme medizinischer Versorgung. Demnach nehmen Frauen Symptome eher wahr, bewerten sie eher als ernstzunehmend und suchen eher medizinischen Rat als Männer (zusammenfassend Rieker & Bird 2000). Die Kritik an der Erklärung variierender Gesundheitschancen mit Hilfe von Gesundheitsverhalten gestaltet sich wie folgt. Link und Phelan (2000) wenden ein, dass das Einkommen auch dann einen Effekt auf die Gesundheitschancen ausübt, wenn das Gesundheitsverhalten kontrolliert wird. Hayward et al. (2000) betonen, die unterschiedliche Belastung durch chronische Krankheiten bei Schwarzen und Weißen seien nur durch entsprechende Lebensbedingungen erklärbar, nicht aber durch Verhalten. Letztendlich wird auf die meist überschätzte Rolle der medizinischen Versorgung bzw. deren Inanspruchnahme verwiesen. Demnach korreliert die Sterberate vielmehr mit sozioökonomischen Faktoren als mit der medizinischen Versorgung (Mackenbach et al. 1990). Auch die Ergebnisse von Richter & Mielck (2000, siehe auch Giesecke & Müters in diesem Band) sprechen für die Dominanz der strukturellen Faktoren gegenüber dem Gesundheitsverhalten zur Erklärung unterschiedlicher Gesundheitschancen.
Erklärungsansätze sozial differenzierter Gesundheitschancen
3.2
83
Ressourcen
Im Folgenden wird zwischen sozialen Ressourcen im Sinne von Sozialkapital nach Coleman (1990), kulturellen, psychischen und genetischen Ressourcen unterschieden. Der positive Einfluss des sozialen Kapitals im Sinne von Rückhalt und Unterstützung auf die Gesundheit wurde vielfach belegt (u.a. Link & Phelan 2000, Rose 2000, Jungbauer-Gans 2002). Verheiratete haben eine niedrigere Mortalität als Alleinstehende (vgl. Überblick bei Smith & Christakis 2008). Für Jugendliche konnte der positive Effekt sozialen Kapitals unabhängig von dem familiären Wohlstand etwa von Klocke (2004) mit den Daten der internationalen „Health Behaviour in School-aged Children-Studie“ der WHO nachgewiesen werden. Richter und Settertobulte (2003) stellen anhand dieser Daten jedoch auch fest, dass eine höhere Kontakthäufigkeit der Jugendlichen mit Gleichaltrigen zwar häufigere körperliche Aktivität bewirkt, jedoch bei männlichen Jugendlichen auch zu häufigerem Tabak- und Alkoholkonsum führt. In einer qualitativen Studie in Londoner Vororten zeigte Cattell (2001) auf, wie eingeschränkte soziale Netzwerke unter Armutsbedingungen zu Angst, Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen führen und andererseits Möglichkeiten zur Partizipation Selbstbewusstsein, Kontrollüberzeugungen, Hoffnung und Optimismus auch unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen fördern können. Dass mit sozialen Ressourcen nicht nur soziale Unterstützung, einhergeht sondern auch mit Konflikten und sozialer Kontrolle, beschreibt das theoretische Modell von House et al. (1988) mit dem Begriff der Beziehungsinhalte („relational content“). Die Beziehungsinhalte bilden neben der sozialen Integration/Isolation und den sozialen Netzwerkstrukturen die dritte Dimension sozialer Beziehungen ab. Die so genannte Pufferthese6 findet in dem Modell ebenso Berücksichtigung wie die Annahme des umgekehrten Kausaleffektes (Effekt der Gesundheit auf die sozialen Beziehungen). Getestet wurden die theoretischen Annahmen auf Datengrundlage des Familiensurveys des DJI und dem Wohlfahrtssurvey (JungbauerGans 2002). Besonders die Einsamkeit als Indikator sozialer Isolation erwies sich als krankheitsförderlich. Positive Effekte auf die Gesundheit haben die Spannweite des sozialen Netzwerkes wie auch ein geringer Verwandtenanteil im Netzwerk bei älteren Personen. Gleichwohl reduziert sich der Zusammenhang von sozialer Lage auf die Gesundheit in einer der beiden Datenquellen, wenn die soziale Integration kontrolliert wird. Als intervenierender Faktor können die sozialen Beziehungen den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Status und Gesundheit nicht respektive nicht vollständig erklären. Eine Studie zu den Auswirkungen von Familienbildungsprozessen (Heirat, Trennung, Scheidung) auf die physische und mentale Gesundheit von jungen Müttern konnte die Ressourcenthese nur teilweise bestätigen (Meadows et al. 2008). Ihre Ergebnisse sprechen eher für eine ‚Krisenthese’, die den negativen Einfluss von belastenden familiären Ereignissen auf die Gesundheit thematisiert. Schließlich wurde ein Einfluss des kontextuellen sozialen Kapitals auf die subjektive Gesundheitsbewertung gefunden, der allerdings nicht mehr signifikant ist, wenn das individuelle soziale Kapital, die individuelle sozioökonomische Situation und die materielle Lage des Kontextes gleichzeitig kontrolliert werden (Engström et al. 2008). Unter kulturellem Kapital versteht man Fähigkeiten, Handlungskompetenzen und die Akzeptanz bestimmter Werte und Normen in inkorporierter, objektivierter oder institutionalisierter Form (Bourdieu 1983). Die Bedeutung von kulturellem Kapital für die Gesundheit 6
Die Pufferthese besagt, dass sich soziale Beziehungen besonders in Zeiten des akuten und chronischen Stresses positiv auf die Gesundheit auswirken.
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leitet sich ab aus seiner Korrelation mit ökonomischem und sozialem Kapital. Kulturelles Kapital stellt einen zentralen Mechanismus dar, über den sich sozioökonomische Ungleichheit über kulturell geprägte, gesundheitsrelevante Verhaltensweisen in gesundheitliche Ungleichheit transformiert (Abel 2008, siehe auch Abel et al. in diesem Band). Neben den sozialen Ressourcen sind die psychischen und persönlichen Ressourcen zu nennen. Diskutiert wird diesbezüglich, ob sich persönliche Eigenschaften – wie etwa Intelligenz, Feindseligkeit oder Pflichtbewusstsein – sowohl auf die Gesundheit als auch den sozioökonomischen Status auswirken (vgl. Überblick bei Link & Phelan 2000). Weitgehend gesichert scheint der positive Einfluss von Optimismus, Selbstwertgefühl und Kohärenzerleben auf die Gesundheit (Antonovsky 1987, Lampert et al. 2006) sowie der negative Einfluss von Ärger, Misstrauen und Feindseligkeit (House 2002). Einen eher randständigen Platz nimmt die Debatte um die genetischen Ressourcen und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit ein. Auf diese Weise wurde unter anderem versucht, die schlechteren Gesundheitschancen von Afroamerikanern in den Vereinigten Staaten zu erklären. Es konnte jedoch nachgewiesen werden, dass diese eher auf die sozial bedingten Lebensumstände (siehe nachfolgenden Abschnitt 3.3) zurückzuführen sind (Wilkinson 2001: 73). Wenngleich nicht die Benachteiligung einer gesamten Volksgruppe erklärt werden kann, verweist eine skandinavische Zwillingsstudie auf die gesundheitsrelevante Bedeutung „individueller“ genetischer Ressourcen neben dem sozialen Umfeld (Lichtenstein et al. 1992). Für die Erklärung der geringeren Lebenserwartung von Männern gegenüber Frauen werden neben sozialen Bedingungen auch biologische Faktoren herangezogen (Lane & Cibula 2001). So können bestimmte Erbkrankheiten (wie z.B. die Hämophilie bzw. Bluterkrankheit) nur über das X-Chromosom auf die nächste Generation übertragen werden. Frauen sind zwar die Trägerinnen des fehlerhaften Gens, erkranken jedoch nur in Ausnahmefällen selbst an der Bluterkrankheit. Auch reduzieren weibliche Hormone das Risiko für Herzkrankheiten (Lane & Cibula 2001).
3.3
Belastungen
Im Folgenden werden die Belastungen durch die Arbeitswelt, das Wohnumfeld und die soziale Umwelt auf die Gesundheitschancen dargestellt. Die Belastungen der Arbeitswelt lassen sich in direkte, physische und indirekte, psychische Einflüsse unterscheiden. Unter direkten physischen Belastungen werden die gesundheitlichen Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz durch einseitige körperliche Belastungen (wie etwa die Arbeit am Fließband), hohe Unfallgefahr wie auch die Auswirkungen von beispielsweise Lärm, Staub und Dämpfen verstanden (zusammenfassend Blane et al. 1997). Die indirekten, psychischen Belastungen beschreiben Stressoren in sozialer und arbeitsorganisatorischer Hinsicht (belastendes Verhalten von Vorgesetzten und Kollegen, fehlende Unterstützung, Mobbing, Rollenkonflikte) wie auch zeitlicher Hinsicht (Zeitdruck, Schicht- und Nachtarbeit) (Greiner 2001). Gerade das Missverhältnis zwischen beruflichen Anstrengungen und ausbleibender Belohnung wird im Rahmen des Modells beruflicher Gratifikationskrisen (Siegrist 1996, Rugulies & Siegrist 2002, Siegrist & Theorell 2006, siehe auch Peter in diesem Band) für die Belastung verantwortlich gemacht, die ursächlich für Herz- und Kreislauferkrankungen sein kann. Chronischer Distress als Folge beruflicher Gratifikationskrisen hat höhere Morbidität und altersstandardisierte Mortalität zur Folge (Rugulies & Siegrist 2002). Steinkamp
Erklärungsansätze sozial differenzierter Gesundheitschancen
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(1993) betont jedoch, dass vielmehr die subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung dieser Stresssituationen entscheidender ist für das Erkrankungsrisiko als die Situation selbst (siehe auch Abschnitt 3.2). Sowohl physische wie auch psychische Belastungen kommen häufiger bei Personen mit geringem Einkommen und statusniedrigen Positionen vor und sind daher geeignet, den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Status und Gesundheitschancen zu erklären (Greiner 2001: 150). Link & Phelan (2000) behaupten sogar im Rahmen ihrer „Hierarchy Stress“ Erklärung, der Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Status und Gesundheit hebe sich auf, wenn man für Hierarchie bedingten Stress kontrolliert. Das Gefühl, die Kontrolle über sein eigenes Leben zu haben, selbstbestimmt zu sein und soziales Vertrauen zu besitzen, wird als der ausschlaggebende Mediator genannt (u.a. Link & Phelan 2000, Mirowsky et al. 2000). Überlegungen solcher Art werden in der US-amerikanischen Debatte unter der „Social Causation“ Erklärung subsumiert und der „Social Selection“ Erklärung gegenüber gestellt. Letztere verweist auf Gesundheit als Ursache für bessere Berufschancen und postuliert somit inverse Kausalität. Welche der beiden Erklärungen zutreffender ist, kann vor allem anhand von Längsschnittdaten empirisch entschieden werden. Unter Verwendung von Strukturgleichungsmodellen konnte die Dominanz der „Social Causation“ Erklärung nachgewiesen werden (Ross & Mirowsky 1995, Mulatu & Schooler 2002). Den Effekt sozialer Selektion können Mulatu und Schooler (2002) ebenfalls belegen, er spielt jedoch gegenüber der umgekehrten Kausalrichtung eine untergeordnete Rolle. Ross und Mirowsky (1995) konnten aufzeigen, dass eine funktionierende Physis die Wahrscheinlichkeit erhöht, eine Vollzeitstelle zu bekommen und zu behalten; während die subjektiv empfundene Gesundheit nur bei Frauen einen signifikanten Effekt auf die Wahrscheinlichkeit ausübt, einen Vollzeitarbeitsplatz zu haben. Jungbauer-Gans (2002) konnte mit Hilfe bundesdeutscher Datensätze und Strukturgleichungsmodellen ebenfalls empirische Evidenz für die Selektionshypothese finden. Demnach wirkt sich die gesundheitliche Verfassung eher auf den Umfang der Erwerbstätigkeit aus als umgekehrt. Dies gilt insbesondere für die Gruppe der über 40-jährigen Männer. Nach Jungbauer-Gans (2002) schließt dieser Sachverhalt jedoch nicht etwaige gesundheitliche Beeinträchtigungen infolge fehlender Erwerbstätigkeit aus. Vielmehr müsse zwischen gewollter und ungewollter Nicht-Erwerbstätigkeit unterschieden werden. Auch Heinzel-Gutenbrunner (2000) kann mit ereignisanalytischen Methoden auf Datengrundlage des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) eher Belege für die Selektionshypothese finden. Dagegen kommt Beyer (2002) im Rahmen einer Studie mit Berliner Arbeitslosen zu dem Ergebnis, dass mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit das Gesundheitsrisiko steigt. Belastungen können auch vom direkten Wohnumfeld ausgehen (hierzu auch Bolte & Kohlhuber in diesem Band). Beispielhaft können feuchte oder schadstoffbelastete Wohnungen, Lärmbelästigung, verschmutze Luft oder mangelnde Erholungsmöglichkeiten im näheren Wohnumfeld genannt werden (Noll & Habich 1990, Brown 2000). Insbesondere hohe Schadstoffbelastung in der Wohnung sowie in dem näheren Wohnumfeld betrifft untere Schichten in erhöhtem Maße (zusammenfassend Heinrich et al. 2000). Sowohl das Wohnumfeld als auch die berufliche Position können sich folglich direkt über physische Faktoren oder indirekt über psychische Stressoren auf die Gesundheit auswirken. Die Auswirkungen des weiter gefassten sozioökonomischen Kontextes werden im Folgenden dargestellt.
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Negative Konsequenzen aus dem sozialen Umfeld entstehen beispielsweise durch negative ‚life events’ wie der Tod eines engen Angehörigen oder Scheidung und durch Belastungen in der Pflege kranker Familienangehöriger (vgl. Überblick bei Smith & Christakis 2008). Interpersonale Gesundheitseffekte wurden darüber hinaus in peer-Gruppen beobachtet, die sich in ihrem Gesundheitsverhalten wie Rauchen, Alkoholgenuss und Ernährungsgewohnheiten gegenseitig beeinflussen. Zudem korreliert der Gesundheitszustand von Paaren, selbst wenn auf Alter, Einkommen, Bildung, Gesundheitsverhalten und weitere Gesundheitsdeterminanten kontrolliert wird (Wilson 2002). Ein breites Forschungsfeld ist die Analyse der Netzwerkstrukturen sexueller Beziehungen, um die Ausbreitungsmuster von sexuell übertragenen Krankheiten zu studieren.
3.4
Sozioökonomischer Kontext
Neuere Studien untersuchen zunehmend den eigenständigen Effekt des sozioökonomischen Kontextes auf die Gesundheit unabhängig von Individualmerkmalen (z.B. van Lenthe 2006).7 Robert (1999) konnte den direkten, wenngleich nicht allzu starken Effekt des Wohlstandsniveaus von Gemeinden (gemessen etwa am Einkommensmedian) auf die Sterberate der Bewohner belegen. Cerdá et al. (2008) zeigten, dass das Alter der Mutter in einem Wohnviertel mit schlechter sozioökonomischer Zusammensetzung einen negativen Einfluss auf das Geburtsgewicht hat, während es in bevorzugten Stadtvierteln positiv korreliert. Sie erklären diese Ergebnisse mit stressreichen sozialen Bedingungen, mangelhaften Möglichkeiten zu sozialem Engagement, fehlendem Zugang zu sozialer Unterstützung und Information sowie eingeschränkter Gesundheitsversorgung, die vorzeitige Alterungsprozesse mit entsprechenden Auswirkungen auf das Geburtsgewicht zur Folge haben. In verschiedenen Mehrebenenanalysen wurde eine Korrelation zwischen sozioökonomischen Merkmalen von Regionen und subjektiven Gesundheitseinschätzungen auch bei Kontrolle individueller Merkmale festgestellt (Kemptner et al. 2008, Wight et al. 2008). Eine sozialökologische Studie mit Daten einer Einschulungsuntersuchung zeigte, dass das Einkommensniveau im Wohnviertel mit einer geringeren Zahl von negativen Gesundheitsbefunden, höheren Impfrate und größeren Wahrscheinlichkeit vollständiger Vorsorgeuntersuchungen korreliert (Jungbauer-Gans & Kriwy 2008). Neben objektiv gemessenen Umweltfaktoren wurde auch der Effekt der subjektiven Wahrnehmung der Umwelt untersucht und festgestellt, dass nicht nur die objektiven Bedingungen an sich, sondern vor allem die wahrgenommene Umweltqualität die subjektive Gesundheit beeinflusst und den Effekt der objektiven Bedingungen vermittelt (Weden et al. 2008). Wilkinson (1999) erweitert diese Argumentation dahingehend, dass er weniger das Wohlstandsniveau an sich als vielmehr die Einkommensverteilung verantwortlich für gesundheitliche Beeinträchtigungen macht. Eine egalitäre Einkommensverteilung in entwickelten Ländern geht nach Wilkinson (2001) einher mit einer höheren Lebenserwartung. Er folgert daraus, dass nicht das absolute Wohlstandsniveau, sondern die relative Position in der Sozialstruktur ausschlaggebend ist für Morbidität und Mortalität. Die These der Bedeutung von Einkommensungleichheit für die Lebenserwartung wurde in zahlreichen empirischen Studien belegt (vgl. zusammenfassend Wilkinson 1995, Wilkinson & Pickett 2008, Babones 2008, einschränkend auf unter 65-Jährige: Backlund et al. 2007, De Maio 2008). 7
Einen Forschungsüberblick bietet Robert (1999).
Erklärungsansätze sozial differenzierter Gesundheitschancen
87
Mit größeren Einkommensunterschieden sinkt der soziale Zusammenhalt der Menschen und das Misstrauen steigt (Rugulies & Siegrist 2002). Eine weitere, mögliche Erklärung könnte in der relativen Deprivation der mittleren Einkommensschicht und dem daraus resultierenden gesundheitsschädlichen „Dauerstress“ liegen (Wilkinson 2001).8 Ferner konnten Kaplan et al. (1996) für amerikanische Bundesstaaten mit größeren Einkommensunterschieden höhere Sterberaten, höhere Mordraten und mehr Gewaltkriminalität, höhere Arbeitsunfähigkeitsraten sowie höhere Raten von untergewichtigen Neugeborenen belegen. Mit steigendem Einkommensanteil der Reichsten fünf Prozent wächst zudem die Säuglingssterblichkeit, selbst wenn auf entscheidende Drittvariablen kontrolliert wird (Waldmann 1992). Wilkinson (1997) konnte zudem einen Interaktionseffekt seiner These mit der Größe der Gebietseinheit feststellen: So wirkt sich das Wohlstandsniveau – gemessen an dem Einkommensmittelwert – in kleineren Gebietseinheiten wie etwa Stadtvierteln stärker auf die Mortalitätsrate; in größeren Einheiten wie etwa Ländern ist dafür eher die Einkommensungleichheit entscheidend für eine höhere Sterberate. Franzini et al. (2001) konnten diesen Effekt bestätigen.9 Der Effekt der Einkommensungleichheit auf die Gesundheit konnte nicht in allen Studien repliziert werden (siehe Forschungsüberblick bei Robert 1999). Beispielsweise sind die Säuglingssterblichkeit, die subjektive Gesundheitseinschätzung und gesundheitsbedingte Einschränkungen im alltäglichen Leben in Argentinien nicht mit Einkommensungleichheit korreliert (De Maio 2008). Zudem wird kritisch hinterfragt, ob es sich dabei tatsächlich um eine kausale Beziehung handelt. Unklar bleibt, ob mit einem stärkeren sozialen Zusammenhalt und mehr sozialem Kapital in einer Region, die Bereitschaft der Einwohner steigt, in Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Bildung zu investieren (Robert 1999: 501). Gleichwohl untersuchten Mackenbach et al. (2008) die gesundheitliche Ungleichheit auf Länderebene in 22 europäischen Staaten. Gerade einige osteuropäische Länder zeigten hohe gesundheitliche Ungleichheit auf, während die Ungleichheit bzgl. Mortalität in einigen südeuropäischen Ländern sehr gering ausfällt. Die in diesem Abschnitt dargestellten medizin- und gesundheitssoziologischen Erklärungsversuche sollen im Folgenden zusammenfassend diskutiert werden.
3.5
Kritische Zusammenfassung
Es konnte gezeigt werden, dass sich sowohl der individuelle sozioökonomische Status – über die Mediatoren Gesundheitsverhalten, die Ausstattung mit sozialen und psychischen Ressourcen sowie den ungleich verteilten Belastungsfaktoren durch Arbeits- und Wohnsituation – als auch der sozioökonomische Kontext der Region auf die Gesundheitschancen auswirken. Das individuelle Gesundheitsverhalten bietet zwar eine enorme Erklärungsbreite, eröffnet jedoch zugleich die Möglichkeit, strukturelle Benachteiligung durch den Verweis auf individuelles (Fehl-)Verhalten zu legitimieren oder zumindest davon abzulenken (siehe auch „Healthismus“-Debatte bei Kühn 1993). Aus dem gleichen Grund sollte Erklärungen über genetische Ressourcen mit Skepsis begegnet werden. Davon abgesehen gestal8 9
Kritisch zum Effekt sozialer Deprivation auf Gesundheit: Jones & Wildman (2008). Die Art und Weise wie Gebietseinheiten definiert werden (als administrative Einheiten, anhand von Kriterien, die die Homogenität erhöhen sollen oder aufgrund lokaler Besonderheiten) hat offenbar wenig Einfluss auf den Umfang gesundheitlicher Ungleichheit (Stafford et al. 2008).
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tet sich eine adäquate Messung des Gesundheitsverhaltens als problematisch: Beispielsweise kann je nach physischer Disposition auch die Schädlichkeit verschiedener Ernährungsgewohnheiten variieren. Zudem müssten im Rahmen der Modellspezifikation zahlreiche Interaktionseffekte zwischen den einzelnen gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen berücksichtigt werden. Beispielsweise könnte man vermuten, dass Rauchen besonders gefährlich ist, wenn zugleich viel Alkohol konsumiert wird oder keine Krebsvorsorgeuntersuchungen in Anspruch genommen werden. Die Erklärung sozial variierender Gesundheitschancen über die unterschiedliche Ausstattung an sozialen und psychischen Ressourcen scheint insbesondere in Kombination mit der Betrachtung der sozial bedingten Belastungsfaktoren Erfolg versprechend. So wirkt sich das soziale Netzwerk besonders in Zeiten akuten und chronischen Stresses unterstützend aus (Pufferthese). Belastungssituationen können jedoch in Abhängigkeit von psychischen Ressourcen auch unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden. Im Rahmen der Selektionserklärung wurde aufgezeigt, dass die Kausalrichtung auch invers denkbar ist. Demzufolge wirkt sich der Gesundheitszustand auf die Jobchancen und damit den sozioökonomischen Status aus (Heinzel-Gutenbrunner 2000, Mackenbach et al. 2002, Marmot 1999, Power et al. 1990, Siegrist 2001, Smith 1999, Wadsworth 1986). Mit Hilfe von Längsschnittdaten konnte jedoch die Vorrangstellung der „ursprünglichen“ Kausalitätsrichtung (aus dem sozioökonomischen Status folgen die Gesundheitschancen) belegt werden (Ross & Mirowsky 1995, Mulatu & Schooler 2002). Die Lebenslaufperspektive berücksichtigt ebenfalls das Individuum in den einzelnen Lebensphasen und betrachtet biologische wie auch soziologische Aspekte (Blane 1999, siehe auch Dragano & Siegrist in diesem Band). Smith (1999) belegt, dass Stressepisoden bei Personen der Unterschicht häufiger vorkommen und zu kumulativen Belastungen führen. Deaton & Paxson (1998) weisen auf den sich mit steigendem Alter bis zum 60. Lebensjahr verstärkenden Effekt von dem logarithmierten Einkommen auf die Gesundheit hin. Ab dem 60. Lebensjahr wird der Zusammenhang wieder schwächer. Neben individuellen Faktoren weist der sozioökonomische Kontext der Region einen eigenständigen Einflussfaktor auf die Gesundheit der Einwohner aus (im Überblick Robert & House 2000, 2001). In kleineren Gebietseinheiten ist eher das Wohlstandsniveau entscheidend für die Gesundheitschancen, in größeren Gebietseinheiten wirkt sich die Einkommensungleichheit stärker aus (Wilkinson 1997, Franzini et al. 2001). Die Vielzahl der Erklärungsmöglichkeiten zeigt die Notwendigkeit umfassender Studien auf, um die Bedeutung einzelner Faktoren vergleichend beurteilen zu können und daraus sinnvolle Interventionsmaßnahmen ableiten zu können. Für die Bestimmung der Kausalrichtung ist nach Möglichkeit ein Längsschnittdesign zu bevorzugen. Eine weitere ertragreiche Perspektive bieten die ökonomischen Ansätze, die in folgendem Abschnitt behandelt werden.
4
Ökonomische Ansätze
Die Präsentation der ökonomischen Ansätze beschränkt sich ebenfalls auf die Erklärungen für individuelles Verhalten.10 Gesundheitschancen werden als Humankapital (Becker 1964) sowie als Konsum- und Investitionsgut (Grossman 1972a, 1972b) aufgefasst. Diese promi10
Makroökonomische Ausführungen zur Gesundheitsversorgung sind etwa bei Light 2001 nachzulesen.
Erklärungsansätze sozial differenzierter Gesundheitschancen
89
nenten Ansätze haben in der bisherigen Gesundheitsforschung nur sehr wenig Beachtung erfahren.
4.1
Gesundheit als Humankapital
Neben Bildung, Ausbildung und Training bezeichnet Gary S. Becker medizinische Versorgung und die Verbesserung der emotionalen und physischen Gesundheit als Investitionen in das Humankapital (Becker 1993).11 Die Erträge von Investitionen in die eigene Gesundheit äußern sich nicht nur in Form von monetären Gewinnen, sondern auch in psychischer Hinsicht (Becker 1993: 60). Wissen und psychische Gesundheit gelten gegenwärtig wiederum in vielen Ländern – mehr noch als physische Stärke – als bedeutende Determinante für hohes Einkommen (Becker 1993: 54). Insofern zeigen diese Überlegungen eine Parallele zu der Selektionshypothese auf. Neben „privaten“ Gesundheitsinvestitionen investieren auch Firmen in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Medizinische Untersuchungen etwa durch Betriebsärzte, gesundes Kantinenessen und die Vermeidung von Arbeitsaktivitäten mit hohem Unfall- und Sterberisiko sind Beispiele hierfür (Becker 1993: 55). Investitionen sind – unterstellt man den rationalen Akteur – das Ergebnis der Abwägungen von Kosten und erwartbaren Erträgen. Die Zeitspanne, in der man Erträge aus seinen Investitionen in Humankapital erwirtschaften kann, wird durch Morbidität und Mortalität begrenzt. Demnach lohnen sich Investitionen in Humankapital insbesondere für jüngere Personen (Becker 1993: 85f.). Während sich die Ertragsraten von Bildungsjahren auf das Einkommen relativ leicht errechnen lassen, wird dies bei Investitionen in die Gesundheit schon schwieriger. Alleine der Blick auf die Ausführungen zum Gesundheitsverhalten (Abschnitte 3.1 und 3.5) dürfte genügen, um die Komplexität einer solchen Messung anzudeuten (siehe hierzu auch Gerdtham et al. 1999).
4.2
Gesundheit als Investitions- und Konsumgut
Michael Grossman, der noch als Student Kurse bei Gary S. Becker besucht hat (siehe Grossman 2004), unterscheidet sich insofern von Becker, als dass er ein Nachfragemodell für „health capital“ entwickelt (1972b). Er betrachtet „health capital“ als eine besondere Form von Humankapital, da es weniger die Produktivität der Arbeit (und den damit verbundenen Lohn) beeinflusst als vielmehr die Zeitspanne bestimmt, in der die Produktion in Form von Erwerbsarbeit oder Haushaltsarbeit möglich ist. Im Rahmen dieses Nachfragemodells postuliert Grossman einen Anfangsbestand an Gesundheit, der sich entlang des Lebensverlaufs mit zunehmender Rate entwertet (Grossman 1972a). Zumindest bis zu einem gewissen Lebensalter kann in Gesundheitskapital investiert werden, das wiederum Zeit ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen produziert. Weiterhin geht Grossman davon aus, dass das Gesundheitsniveau von den Ressourcen abhängt, die für dessen Steigerung verwendet werden. Nachfrage an Gesundheit bezieht sich sowohl auf Gesundheit als ein Konsumgut als auch Gesundheit als Investitionsgut zur Verlängerung der Zeitspanne der Güterproduktion 11
„The general term ‘activity’ […] is used to indicate that any kind of investment in human capital is permitted, not just on-the-job training but also schooling, information, health, and morale.“ (Becker 1993: 60)
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(Grossman 1972a). Die Investitionskosten in Gesundheit werden (a) durch die Kosten medizinischer Versorgung beeinflusst, (b) steigen mit zunehmenden Alter, da die Entwertungsrate ebenfalls mit zunehmenden Alter steigt und (c) sinken mit zunehmender Bildung, da höher gebildete Personen Gesundheit effizienter produzieren können (Grossman 1972b). Letzteres begründet Grossman (1972a) in Übereinstimmung mit Becker (1993: 21) über das Wissen, um gesundheitsförderliches und -schädliches Verhalten. Während nach Grossman ärmere Personen einen geringeren Anreiz haben, in ihre Gesundheit zu investieren, postuliert Selden (1993) gerade den gegenläufigen Zusammenhang, da ärmere Personen durch krankheitsbedingte Arbeitsausfälle besonders hart getroffen werden würden. Empirisch konnte der Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit etwa durch die Studie von Berger und Leigh (1989) belegt werden. Sie konnten keine signifikanten Effekte von Zeitpräferenzvariablen finden, was unter anderem der Kritik von Fuchs (1982) die Grundlage entzieht. Fuchs hatte behauptet, zwischen Bildung und Gesundheit läge eine Scheinkorrelation vor, die durch Drittvariablen wie etwa Zeitpräferenzen entstanden sei. Zudem kann von Berger und Leigh (1989) der entgegengesetzte Effekt belegt werden, wonach die Bildungsinvestitionen von kränkeren Personen geringer ausfallen als diejenigen von gesunden Personen. Der gesundheitliche Marginalnutzen sinkt dabei mit zunehmendem Einkommen in höheren Einkommensbereichen (Mackenbach et al. 2005). Bolin et al. (2003) zeigen Parallelen zwischen Sozial- und Gesundheitskapital und deren Konfundierung auf. Zum einen bestehen die direkten Erträge von Gesundheits- und Sozialkapital (Konsummotive) aus individuellem Wohlbefinden. Zum anderen resultieren indirekte Erträge (Investitionsmotive), da – wie gesagt – Gesundheit die positive Produktionsdauer verlängert und Sozialkapital die Effizienz der Gesundheitsproduktion erhöht. Sozial- und Gesundheitskapital zeigen sich auch in der Empirie als hoch korreliert (ebd.). Staatliche Investitionen in das Gesundheitssystem können nach Fuchs (2000) nur ungenügend mit ökonomischer Theorie erklärt werden, da sie zum großen Teil durch historische Prozesse geformt werden. Die unterschiedlichen Krankenversorgungssysteme beispielsweise von Kanada und den Vereinigten Staaten seien ohne Kenntnisse über ihren historischen Entstehungsprozess bzw. aus rein ökonomischer Perspektive nicht verständlich. Nach Fuchs (2000) müsste eine ökonomische Betrachtung des Phänomens Gesundheit um die Faktoren Institution, historische Prozesse und Sprache erweitert werden. Zudem sei die Unsicherheit über den Gesundheitsstatus in der Zukunft und die Unsicherheit der Auswirkungen von Gesundheitsinvestitionen in Grossmans Nachfragemodell nicht berücksichtigt worden (Gerdtham et al. 1999). Zusammenfassend bietet die ökonomische Perspektive folgende Vorteile: Sie zeigt auf, welche bildungs-, einkommens- und altersabhängigen Anreize zu der ungleichen Produktion, Nutzung von und Investition in Gesundheit führen und wie diese bildungsabhängig verfolgt werden können. Obwohl Becker (1993) Gesundheit als eine Dimension von Humankapital auffasst, dokumentiert er zugleich die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen der Gesundheit und anderen Formen des Humankapitals. Nachdem Vertreter der ökonomischen Perspektive auch über Gesundheitsverhalten argumentieren, lassen sich ökonomische Überlegungen ohne weiteres in folgendes Gesamtmodell integrieren.
91
Erklärungsansätze sozial differenzierter Gesundheitschancen
5
Gesamtmodell sozial differenzierter Gesundheitschancen
Wir gehen ebenfalls davon aus, dass sich soziale Differenzierung über vermittelnde Instanzen auf Mortalität und Morbidität auswirkt, was Abb. 4.1 visualisieren soll. Abbildung 4.1: Wirkungszusammenhänge von sozialer Differenzierung und Gesundheit Soziale Differenzierung
Vermittelnde Instanz
Vertikale Differenzierung
Gesundheit
Gesundheitsverhalten
(Einkommen, Bildung, berufliche Position) Wissen
(Essverhalten, Rauchen, Alkohol, Sport, Inanspruchnahme medizinischer Versorgung)
Anreize Horizontale Differenzierung
Ressourcen
(Lebensstil, Milieu, Geschlecht, Alter, ethnische Herkunft)
(soziale, kulturelle, psychische und genetische Ressourcen)
Morbidität und Mortalität
Belastungen
Sozioökonomischer Kontext
(durch Arbeitswelt, Wohnumfeld, soziales Umfeld)
Quelle: eigene Abbildung
Der Fokus dieses Beitrags lag auf den Auswirkungen vertikaler Differenzierung. Es konnte aus ökonomischer wie auch aus medizin- und gesundheitssoziologischer Perspektive gezeigt werden, dass sich z.B. Einkommen und Bildung auf das Gesundheitsverhalten auswirken. Aus ökonomischer Perspektive wird argumentiert, dass mit jüngerem Alter und steigendem Einkommen der Anreiz wächst, ein Leben ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen zu führen. Es lohnt sich daher eher in Gesundheit zu investieren. Mit höherer Bildung steigt das Wissen um eine effiziente Umsetzung bzw. effizientes Gesundheitsverhalten. Zudem wird das Gesundheitsverhalten über Lernprozesse innerhalb der Familie weitergegeben und ist insofern abhängig von der sozialen Herkunft. Bevor man jedoch vorschnell von schädlichem Gesundheitsverhalten (z.B. Rauchen) auf hohe Mortalität (z.B. hinsichtlich Herz- und Gefäßkrankheiten) bzw. von angleichendem Rauchverhalten auf angleichendes Herzinfarktrisiko schließt, sollte man biologisch-genetische Faktoren nicht aus den Augen verlieren. In diesem Fall liefern sie eine Teilerklärung der chronischen gesundheitlichen Benachteiligung von Männern. Der Bereich Belastungen und Ressourcen weist vielfältige Wechselwirkungen auf: So können beispielsweise angenehme soziale Kontakte über psychische Belastungen im Arbeitsumfeld hinweghelfen. Die gleichen Arbeitsbedingungen können in Abhängigkeit von psychischen Ressourcen für eine Person erträglich sein, für die andere zu chronischem Distress führen. Je höher die Position in der Hierarchie, desto eher haben Personen das Gefühl, ihr Leben selbst bestimmen zu können und desto besser ist ihre psychische und
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physische Gesundheit. Psychische Gesundheit gilt neben hoher Bildung jedoch auch als Haupteinflussfaktor für gute Arbeitsmarktchancen (Becker 1993), was einen Teil – wenngleich den geringeren – des Zusammenhangs bestimmt. Mit Hilfe von Strukturgleichungsmodellen anhand von Längsschnittdaten konnte die Überlegenheit der Kausalhypothese gegenüber der Selektionshypothese belegt werden.
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Resümee
Die Schwierigkeit der Thematik liegt sicherlich darin, über die bloße Feststellung von Korrelationen hinaus zu kommen, indem Kausalzusammenhänge belegt werden können. Dies ist bisher nur in eingeschränktem Ausmaß geschehen. Zudem sollten nicht Korrelate der Ursachen identifiziert werden, sondern die Ursachen selbst. „For an extraneous factor to be confounder it must have an effect, that is, the factor must be predictive of the occurrence of disease. The effect need [sic!] to be causal; frequently only a correlate of a causal factor is identified as a confounding factor. A common example is social class, which itself is presumably causally related to few if any diseases but is correlate of many causes of disease.” (Rothman 1986: 89f) Die strukturelle Benachteiligung entlang der sozialen Lage darf dennoch nicht vernachlässigt werden. Sowohl die Argumentation über das Gesundheitsverhalten als auch die deterministisch anmutenden genetischen Ursachen sollten nicht zur Legitimierung von systematischer Benachteiligung herangezogen werden. Dies gilt insbesondere für die nach ethnischer Herkunft variierenden Gesundheitschancen. Als geeignetes Design bieten sich ausführliche Panelstudien an, die nicht nur vertikale und horizontale Formen sozialer Ungleichheit erfassen, sondern auch Mediatoren (Gesundheitsverhalten, Belastungen und Ressourcen) und selbstverständlich Morbidität und Mortalität erfassen. Selbst die zeitliche Abfolge von Ereignissen lässt zwar noch keinen Kausalschluss zu, da Ereignisse antizipiert werden können, aber man kommt den wirkenden Mechanismen sicherlich ein Stück näher.
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Soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit: Erklärungsansätze aus umweltepidemiologischer Perspektive
Gabriele Bolte, Martina Kohlhuber
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Einleitung
Die Tatsache, dass materielle Faktoren, die natürliche wie auch die anthropogen gestaltete, gebaute Umwelt die Gesundheit beeinträchtigen bzw. gesundheitsförderlich/salutogen wirken können, ist hinlänglich bekannt und wurde von verschiedenen Fachdisziplinen in unterschiedlicher Tiefe aufgegriffen und untersucht. Auf Basis der „Global Burden of Disease“Methodik wurde – sofern es die Datenlage epidemiologischer Studien zuließ – das bestimmten Umweltfaktoren zuschreibbare Krankheits- und Mortalitätsrisiko quantifiziert (Valent et al. 2004). Die Auswirkungen der Wohnbedingungen und des Wohnumfeldes auf die Gesundheit sind ein wichtiger Themenschwerpunkt von Public Health: „[…] housing is best viewed as a catch-all term for the myriad and multidimensional ways in which our conditions of living – physical, proximate, emotional, and social – can affect health.“ (Shaw 2004: 414) Insbesondere in der Stadtplanung und Ökologischen Psychologie besteht ein umfangreiches Wissen zum Zusammenhang zwischen gebauter Umwelt und Wohlbefinden, Lebensqualität und Gesundheit (Trojan & Legewie 2001). Inwieweit soziale Unterschiede bei Umweltbelastungen und -ressourcen zur gesundheitlichen Ungleichheit beitragen, wurde aber bisher wenig diskutiert. Erst in den letzten Jahren wurde im Themenfeld „Umwelt und Gesundheit“ der Bedeutung sozioökonomischer Faktoren zunehmend Beachtung geschenkt. In diesem Beitrag werden speziell aus der umweltepidemiologischen Perspektive aktuelle Erklärungsansätze für soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit dargestellt und diskutiert. Den Hintergrund für diese Erklärungsansätze bilden:
Erkenntnisse aus der Sozialepidemiologie zu der Bedeutung absoluter und relativer materieller Deprivation, Beobachtungen zur sozialen Ungleichverteilung umweltbezogener Erkrankungen, die internationale Diskussion zu Umweltgerechtigkeit (environmental justice) mit Studien zur sozialen Ungleichverteilung von Umweltbelastungen und der Grundannahme, dass Umweltfragen nicht losgelöst von sozialen Fragen zu sehen sind, die Tendenz in der umweltepidemiologischen Forschung, unter methodischen Gesichtspunkten vermehrt sozioökonomische Faktoren in die Analysen einzubeziehen, um die Aussagekraft der Studien zu verbessern, neuere Ansätze zu Mehrebenenmodellen beispielsweise im Themenfeld soziale Lage, Wohnen und Gesundheit.
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Gabriele Bolte, Martina Kohlhuber
Im Folgenden wird mit „sozialer Lage“ im Sinne eines Überbegriffs die durch verschiedene sozioökonomische Faktoren charakterisierte Lebenssituation bezeichnet ohne auf eine spezifische soziologische Definition von „Lebenslagen“ allein Bezug zu nehmen und ohne den schichtsoziologischen Ansatz negieren zu wollen. Vertiefungen beispielsweise zu empirischen Daten zur gesundheitlichen Ungleichheit nach Einkommen, zum Konzept des sozialen Kapitals oder zu Ansatzpunkten für Strategien zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit seien anderen Beiträgen dieses Buches vorbehalten.
2
Stellenwert materieller Faktoren in Erklärungsansätzen zu den Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit
In ihrem Überblick des Wissensstands zu sozialen Determinanten von Gesundheit wiesen Wilkinson und Marmot (2003) darauf hin, dass sowohl psychosoziale als auch materielle Ursachen zu gesundheitlicher Ungleichheit beitragen und dass Benachteiligung in vielfältigen Formen absoluter oder relativer Art auftreten kann. Die beiden Erklärungsansätze – absolute/materielle Deprivation und relative/psychosoziale Deprivation – legen ihren Schwerpunkt auf unterschiedliche Mechanismen, schließen sich aber nicht gänzlich wechselseitig aus. Absolute Deprivation ist vor allem im unteren Bereich des sozioökonomischen Spektrums von Bedeutung, relative Deprivation im mittleren und oberen Bereich (Veenstra & Kelly 2007).
2.1
Absolute Deprivation
Armut als absolute materielle Deprivation und objektiver Mangel an materiellen Ressourcen als Lebensgrundlagen wurde Anfang der 1980er Jahre im sog. Black Report einer Expertenkommission in Großbritannien als ein wesentlicher Erklärungsansatz für gesundheitliche Ungleichheit angeführt (Mielck 2000). Der Zusammenhang zwischen Armut, widrigen Wohnbedingungen und daraus resultierenden Gesundheitsrisiken war insbesondere seit der industriellen Revolution ein Public Health Thema (Shaw 2004). Im Jahr 1912 resümierte Wernicke: „[…] dass in unserer Zeit tatsächlich die Wohnung für zahllose Menschen in allen Ländern der Welt nicht ein Hort der Gesundheit, sondern eine Ursache für Krankheiten darstellt. […] So gibt es denn in der Tat kaum irgendwelche Krankheiten und Krankheitsgruppen, die nicht bei der in schlechten Wohnungen lebenden und meist wenig bemittelten Bevölkerung im höheren Maße auftreten, als bei in besseren Wohnungen lebenden, meist wohlhabenderen Bevölkerung. Krankheitshäufigkeit und damit vermehrte Sterblichkeit wird so zu einer Funktion der Wohlhabenheit insofern, als der Reichere in der Lage ist, sich eine hygienisch bessere und größere Wohnung zu verschaffen. […] Zahlreiche nach dieser Richtung hin aufgestellte Statistiken zeigen übereinstimmend in allen Städten, dass in denjenigen Straßen und Stadtteilen, in denen ungünstige Wohnverhältnisse vorliegen, und in welchen sich die größte Zahl überbevölkerter Wohnungen findet, auch die höchste Sterblichkeit vorhanden ist und umgekehrt.“ (Wernicke 1912: 52ff) Fast 90 Jahre später wird im Kapitel zu „Wohnungsverhältnissen“ des Gesundheitsberichts für Deutschland festgestellt: „Die hohe und wachsende Mietbelastung der einkom-
Soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit
101
mensschwachen Haushalte führt zu ihrer anhaltenden Abdrängung in billigere Wohnungen mit schlechtem Ausstattungsstandard, geringer Wohnfläche, hohen Belastungen durch Verkehrslärm und Abgasen sowie kinderfeindlichem Wohnumfeld. […] Am Wohnungsmarkt benachteiligte Bevölkerungsgruppen leben vorwiegend in Stadtteilen, die durch Verkehr und Gewerbe belastet sind und wenig Grünflächen aufweisen.“ (Statistisches Bundesamt 1998: 113f)
2.2
Relative Deprivation
Die Ergebnisse der Whitehall-Studie sind demgegenüber ein Beispiel für relative Deprivation und damit zusammenhängende psychosoziale Faktoren als Erklärungsansatz für gesundheitliche Ungleichheit (Marmot 2000). Mit relativer Deprivation ist die im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen geringere Verfügbarkeit materieller Ressourcen und damit u.U. geringeres soziales Ansehen gemeint (Mielck 2000). Nach Wilkinson (1999) ist in Industrienationen den relativen Unterschieden beim Einkommen und bei den materiellen Lebensumständen und daher psychosozialen Mechanismen eine größere Bedeutung im Hinblick auf die Beeinflussung der Gesundheit beizumessen als der absoluten Deprivation.
2.3
Distale und proximale Ursachen
Den verschiedenen Erklärungsansätzen und Modellen ist gemeinsam, dass im Sinne einer Kausalkette sozioökonomische Faktoren wie Bildung, Einkommen und Beruf als distale Ursachen angesehen werden, deren Wirkung auf die Gesundheit überwiegend durch proximale Ursachen bzw. Risikofaktoren vermittelt werden (WHO 2002, Mackenbach 2006). Materielle Faktoren und damit verknüpfte Umweltbedingungen im weiteren Sinne (natürliche und anthropogen gestaltete Umwelt) werden in vielen Modellen zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit erwähnt. Beispielsweise wird in einem Leitfaden der WHO zur Abschätzung der Verteilung von Gesundheitsrisiken nach sozialer Lage ausdrücklich auf Umweltfaktoren als proximale Ursachen Bezug genommen (Abb. 5.1). Im sogenannten Acheson-Report wurde der Kenntnisstand zu gesundheitlicher Ungleichheit in England zusammengefasst und die wesentlichen Bereiche benannt, in denen politische Maßnahmen wirksam zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen können (Acheson 1998). Bei den neun aufgeführten Bereichen haben zwei unmittelbaren Umweltbezug: Wohnen und Umwelt sowie Verkehr und Umweltverschmutzung. Dem Bericht liegt ein Mehrebenen-Modell der wesentlichen Determinanten für Gesundheit zu Grunde, das auf die Bedeutung von Umweltfaktoren auf verschiedenen Ebenen hinweist, beispielsweise auf der übergeordneten Ebene der allgemeinen sozioökonomischen, kulturellen und Umweltbedingungen oder auf einer konkreten Ebene wie Trinkwasser oder Wohnbedingungen. Gleichwohl konzentrierten sich bisherige Erklärungsansätze auf Aspekte des gesundheitsbezogenen Verhaltens, der medizinischen Versorgung und auf Arbeitsbedingungen (Mielck & Bolte 2004). So auch die aktuelle Expertise des Robert Koch-Instituts (2005) zu Armut, sozialer Lage und Gesundheit, in der mit Hinweis auf die unzureichende Datenlage die Wohnsituation bzw. der Aspekt Umweltgerechtigkeit erwähnt, aber nicht genauer be-
102
Gabriele Bolte, Martina Kohlhuber
trachtet wurde im Gegensatz zu Gesundheitsverhalten, Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung und beruflichen Belastungen. Ebenso betonte Mackenbach (2006), dass die Datenlage nur für gesundheitsbezogenes Verhalten ausreichend sei, aber neben Verhaltensaspekten materielle und psychosoziale Faktoren wesentlich zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen. Abbildung 5.1: Soziale Lage, proximale Risikofaktoren und Gesundheit Risikofaktoren
Soziale Lage
Einkommen Bildung Sozialstatus Beruf
Gesundheitsrelevantes Verhalten Umweltfaktoren Inanspruchnahme Gesundheitsversorgung
Gesundheitszustand
Mortalität Morbidität Behinderung
Physische oder psychische Gesundheit
Psychosoziale Faktoren
Faktoren, die den Einfluss der sozialen Lage auf die Gesundheit modifizieren können: Makroeinflüsse (soziale Ungleichheit, Bruttoinlandsprodukt, Globalisierung) Alter, Geschlecht, Ethnizität Familienstruktur Region und Wohnumfeld Soziale Lage im Lebenslauf
Quelle: Blakely et al. (2004), eigene Darstellung
Die unzureichende Datenlage ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass bisher sozioökonomische Faktoren in umweltepidemiologischen Studien unzureichend erfasst wurden. In Untersuchungen zur umweltbezogenen Gesundheit wurden häufig nur Daten zur Bildung als Sozialstatusindikator erhoben und als Confounder in die Analysen einbezogen (Bolte et al. 2005). Neuere Studien zeigten jedoch, dass Einkommen für die Erklärung von sozialer Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit eine größere Rolle spielt als Bildung (Kohlhuber et al. 2006, Bolte et al. 2006). Eine weitere Ursache ist die bisher fehlende systematische Verknüpfung von Umwelt-, Gesundheits- und Sozialdaten beispielsweise im Rahmen einer umweltbezogenen Gesundheitsberichterstattung (Burkhardt & Grunow-Lutter 2005).
3
Soziale Lage, Umwelt und Gesundheit
In den letzten Jahren wurde zunehmend der Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Faktoren und umweltbezogener Gesundheit untersucht (Bolte & Mielck 2004, Evans & Kantrowitz 2002, O’Neill et al. 2003, Sexton & Adgate 1999, Heinrich et al. 2000). Im Rahmen des EU-Projekts PINCHE (Policy Interpretation Network on Children’s Health and Environment) wurde der Kenntnisstand zum Einfluss sozioökonomischer Faktoren auf die umweltbezogene Gesundheit von Kindern zusammengefasst (Bolte & Kohlhuber 2005).
103
Soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit
Obwohl sozioökonomische Faktoren bisher nicht systematisch bei umweltepidemiologischen Studien berücksichtigt wurden, kristallisierte sich als Grundmuster heraus, dass – bis auf wenige Ausnahmen wie z.B. Allergien – ein inverser Sozialgradient besteht zwischen der sozialen Lage einerseits und der Exposition gegenüber schädigenden Umweltfaktoren und der Häufigkeit von umweltbezogenen Erkrankungen bei Kindern andererseits. Inverser Sozialgradient bedeutet z.B. höhere Umweltexpositionen und höhere Krankheitsprävalenz bei niedrigerem Sozialstatus. Für Kinder sind die mit einem niedrigen Sozialstatus der Familie verbundenen Lebensumstände gleichbedeutend mit einer vielfältigen Exposition gegenüber schädigenden Umweltfaktoren. Aktuell werden zwei Mechanismen untersucht und diskutiert, wie sozioökonomische Faktoren die umweltbezogene Gesundheit beeinflussen können (Abb. 5.2). Zum einen variieren Umweltbelastungen meist nach der sozialen Lage (Evans & Kantrowitz 2002, Woodward & Boffetta 1997, Stephens & Bullock 2002). Dies wurde oftmals in Studien in den Vereinigten Staaten und anderen Staaten im Kontext der Auseinandersetzung um Umweltgerechtigkeit (environmental justice) (Brulle & Pellow 2006, Elliott et al. 2004) wie auch in Studien im deutschsprachigen Raum belegt (Kohlhuber et al. 2006, Heinrich et al. 2000, Braun-Fahrländer 2004). Zum anderen können soziale Unterschiede bei Vulnerabilitätscharakteristika den Effekt einer Umweltbelastung modifizieren. Ein Beispiel hierfür wäre unzureichende Ernährung und damit erhöhte Vulnerabilität für Schadstoffwirkungen. Abbildung 5.2. Vermittlung des Einflusses der sozialen Lage auf die umweltbezogene Gesundheit durch die Mechanismen Expositionsvariation und Effektmodifikation
Soziale Lage
Vulnerabilität: Expositionsvariation
psychosoziale Faktoren gesundheitsrelevantes Verhalten Gesundheitsversorgung salutogene Faktoren
Effektmodifikation
Umweltexpositionen
Umweltbezogene Gesundheit
Quelle: Bolte (2006), mit Erlaubnis der Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm GmbH/Unternehmensbereich ecomed Medizin
Im Folgenden werden zur Illustration dieser beiden Mechanismen empirische Daten aus Studien zur Exposition gegenüber Luftschadstoffen in der Außenluft mit Straßenverkehr als einer Hauptquelle und zu deren gesundheitlichen Wirkungen beschrieben. Das Forschungsgebiet der Luftschadstoffepidemiologie wurde gewählt, da hier die Diskussion um die Bedeutung sozioökonomischer Faktoren weiter fortgeschritten ist als in anderen Bereichen
104
Gabriele Bolte, Martina Kohlhuber
umweltepidemiologischer Forschung (Jantunen 1997, American Lung Association 2001, O’Neill et al. 2003).
3.1
Expositionsvariation nach sozialer Lage
In den 1970er Jahren hatte Jarre (1975) Daten zur regionalen Immissionsbelastung mit Daten zur Sozial- und Erwerbstätigenstruktur für das Ruhrgebiet in Beziehung gesetzt. Er kam in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass in Gebieten mit relativ guter Luftqualität die Gruppe der Angestellten, Beamten und Selbständigen deutlich überrepräsentiert waren, wohingegen Gebiete mit erhöhter Immissionsbelastung überdurchschnittliche Arbeiteranteile aufwiesen. Studien in Deutschland, die die Luftschadstoffexposition als subjektive Einschätzung der Befragten zu ihrer Belastungssituation oder als Angaben zur Verkehrssituation in der Wohnumgebung erhoben, zeigten konsistent höhere Belastungen bei niedrigerem Sozialstatus (Tab. 5.1). So gaben Personen mit einem niedrigen Sozialstatus häufiger an, an einer stark befahrenen Straße zu wohnen und Verkehrslärm ausgesetzt zu sein, als Personen mit einem hohen Sozialstatus. In weiteren Studien wurde die soziale Ungleichverteilung von Luftschadstoffexpositionen erwähnt, aber nicht weiter quantifiziert. Nicolai et al. (2003) untersuchten 3.953 Kinder im Alter von 9-11 Jahren in München. Die Exposition der Kinder gegenüber Luftschadstoffen an der Wohnadresse schätzten sie über georeferenzierte Daten von Verkehrszählungen und über Modelle zur Außenluftkonzentration einzelner Schadstoffe anhand der Daten von städtischen Messstationen. Kinder mit einem hohen Sozialstatus, definiert über die elterliche Bildung, lebten häufiger in Stadtgebieten mit niedriger Verkehrsexposition. Zum gleichen Ergebnis kam eine Studie in Nordrhein-Westfalen, in der die Stickstoffdioxidkonzentration in der Außenluft als Indikator für verkehrsbezogene Luftschadstoffbelastung bei 317 Kindern im Alter von 9 Jahren gemessen wurde (Krämer et al. 2000). Die Expositionsvariation nach sozialer Lage konnten Chaix et al. (2006) eindrucksvoll für 29.133 Kinder im Alter zwischen 7 und 15 Jahren aus Malmö, Schweden, belegen. Sowohl die Stickstoffdioxidexposition an der Wohnadresse der Kinder als auch an der Schuladresse nahm mit abnehmendem sozialen Status zu. Als Indikator für den sozioökonomischen Status wurde das mittlere Einkommen der Erwachsenen in dem Wohnbezirk herangezogen. Es ist anzunehmen, dass soziale Unterschiede der Luftschadstoffbelastung insbesondere in städtischen Ballungszentren ausgeprägt sind. Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen wiesen Wheeler et al. (2005) anhand von Daten für 26.426 Haushalte in Großbritannien nach: In Städten und Stadtrandgebieten bestand ein inverser Sozialgradient zwischen dem Anteil der Haushalte mit einem schlechten Luftqualitätsindex (Stickstoffdioxid, Feinstaub, Schwefeldioxid und Benzol) und dem Sozialstatus des Haushalts (definiert über die berufliche Stellung des Haushaltsvorstands), nicht aber in ländlichen Regionen.
105
Soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit
Tabelle 5.1: Soziale Verteilung der Luftschadstoffbelastung in der Außenluft: Studien in Deutschland zur subjektiven Belastungseinschätzung Kategorien des Sozialstatus sehr hoch hohes Verkehrsaufkommen (≥ 50 Autos/Minute) Wohnen an einer Hauptstraße Regelmäßig Stau in der Wohnstraße Täglich LKW-Verkehr in der Wohnstraße Störender Verkehrslärm
mittel
niedrig
6,3
hoch 9,5
15,1
21,9
< 0,01
p
Bolte (2000)
13,8
21,0
22,6
25,0
< 0,01
Bolte et al. (2004)
7,1
9,9
11,8
20,0
< 0,01
24,3
33,0
31,1
37,7
< 0,01
12,6
16,3
19,8
24,8
< 0,01
Wohnung an (extrem) stark befahrener Durchgangsstraße
-
19,2
23,9
28,3
< 0,01
Wohnen an verkehrsreicher Straße
-
51,3
62,1
72,8
-
Starke/sehr starke Beeinträchtigung durch Luftverschmutzung in der Wohngegend: - nach Einkommen - nach Bildung
Studie
Swart & Hoffmann (2004) Du Prel et al. (2005) Kohlhuber et al. (2006)
3,5
6,4
7,9
6,4
-
-
5,9
5,8
7,3
-
Angegeben ist der Anteil exponierter Personen in %. p-Wert: χ²-Test. Bolte (2000): Kinder 5-14 Jahre (N=1724), Sachsen-Anhalt, Definition des Sozialstatus anhand der elterlichen Schulbildung, Datenquelle: Bitterfeld-Studie 1992/1993. Bolte et al. (2004): Kinderkohorte 0-2 Jahre (N=3050 bzw. 2585), München, Leipzig, Wesel, Bad Honnef, Bildungsindex der elterlichen Schul- und Berufsausbildung, Datenquelle: LISA-Kohortenstudie 1997-2001. Swart & Hoffmann (2004): Erwachsene 18-79 Jahre (N=6896), Schichtindex nach Winkler, Datenquelle: Bundesgesundheitssurvey 1998. Du Prel et al. (2005): Kinder 6 Jahre (N=2176), Sachsen und Sachsen-Anhalt, Definition des Sozialstatus anhand der elterlichen Schulbildung, Datenquelle: Schulanfängerstudie SAWO 2000. Kohlhuber et al. (2006): Erwachsene 17-98 Jahre (N=7275), Definition des Sozialstatus anhand des Äquivalenz-Haushaltsnettoeinkommens und anhand der Schulbildung, Datenquelle: Sozio-ökonomisches Panel (SOEP) 1999; Personen ohne Angabe zum Einkommen: 8,6% stark/sehr stark beeinträchtigt; Personen mit nicht-deutschem Schulabschluss: 8,8% stark/sehr stark beeinträchtigt.
Wenn jedoch bestimmte Stadtbezirke bevorzugte Wohngebiete von Personen mit einem höheren Sozialstatus sind, kann dies eine höhere verkehrsbezogene Luftschadstoffbelastung bei höherem Sozialstatus bedeuten, wie dies beispielsweise in einer Studie in den Niederlanden beobachtet wurde (Hoek et al. 2002). Eine Befragung von über 6.000 Eltern von 5- bis 7-jährigen Kindern in Bayern im Rahmen der Gesundheits-Monitoring-Einheiten zeigte sowohl für drei städtische als auch für drei ländliche Regionen eine stärkere Beeinträchtigung durch Luftverschmutzung und eine häufigere Exposition gegenüber Straßenverkehr in der Wohnumgebung bei niedriger Schulbildung der Eltern bzw. bei einem geringen Äquivalenz-Haushaltsnettoeinkommen der Familien (Bolte et al. 2006).
106 3.2
Gabriele Bolte, Martina Kohlhuber
Effektmodifikation durch sozioökonomische Faktoren
Die Modifikation der Luftschadstoffeffekte auf die Gesundheit durch sozioökonomische Faktoren wurde vor allem in Studien aus den USA untersucht. Die Tabellen 5.2 und 5.3 zeigen exemplarisch die Ergebnisse relevanter Studien zu dieser Fragestellung. Die Reanalyse der Harvard Six Cities Study und der American Cancer Society Study zum Zusammenhang zwischen der Sterblichkeit und der Belastung mit partikulären Luftschadstoffen ergab eine Effektmodifikation durch Schulbildung: Das mit einer bestimmten Feinstaubkonzentration verbundene Mortalitätsrisiko war umso höher, je niedriger die Schulbildung war (Health Effects Institute 2000). Tabelle 5.2: Zusammenhang zwischen Luftschadstoffexposition und Gesundheit: Modifikation durch sozioökonomische Faktoren Exposition
Zielgröße
Effektmodifikator Kategorien des Sozialstatus
PM2.51
Mortalität insgesamt
hoch 1,06 (0,95-1,17)
mittel 1,23 (1,07-1,40)
niedrig 1,35 (1,17-1,56)
PM2.52
Mortalität insgesamt
0,97 (0,71-1,34)
1,30 (0,98-1,73)
1,45 (1,13-1,85)
PM103
Mortalität insgesamt
0,27% (-0,004%-0,54%)
0,36% (0,12%-0,60%)
0,62% (0,29%-0,95%)
PM103
kardiovaskuläre Mortalität
0,54% (0,13%-0,95%)
0,38% (0,07%-0,69%)
0,72% (0,23%-1,21%)
hohe Verkehrsdichte4
Frühgeburt
1,00 (0,85-1,17)
1,18 (0,99-1,41)
1,30 (1,07-1,58)
1
American Cancer Society Study (Health Effects Institute 2000): Relatives Risiko mit 95% Konfidenzintervall pro 24,5 μg/m³ PM2.5, Definition des Sozialstatus anhand der Schulbildung. 2 Harvard Six Cities Study (Health Effects Institute 2000): Relatives Risiko mit 95% Konfidenzintervall pro 18,6 μg/m³ PM2.5, Definition des Sozialstatus anhand der Schulbildung. 3 Zeka et al. (2006): Prozentualer Anstieg der Mortalität mit 95% Konfidenzintervall pro 10 μg/m³ PM10, Definition des Sozialstatus anhand der Schulbildung. 4 Ponce et al. (2005): Odds Ratio mit 95% Konfidenzintervall für hohe versus niedrige Verkehrsdichte an der Wohnadresse im 3. Trimester im Winter, Definition des Sozialstatus anhand der Merkmale Arbeitslosigkeit und Armut im Wohnviertel.
Übereinstimmende Ergebnisse berichteten Zeka et al. (2005) (siehe Tab. 5.2). In einer kanadischen Studie war das mit einer Exposition gegenüber Partikeln bzw. Schwefeldioxid verbundene Mortalitätsrisiko höher bei Personen aus Wohnvierteln mit einem niedrigen medianen Haushaltseinkommen (Finkelstein et al. 2003) (Tab. 5.3). Nicht nur das Mortalitätsrisiko durch Luftschadstoffexposition wird durch die soziale Lage beeinflusst, sondern auch andere Auswirkungen auf die Gesundheit wie z.B. das Risiko einer Frühgeburt (Ponce et al. 2005) (Tab. 5.2).
107
Soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit
Tabelle 5.3: Mortalitätsrisiko in Abhängigkeit vom Haushaltseinkommen und der Luftschadstoffbelastung, confounder-adjustiertes relatives Risiko mit 95% Konfidenzintervall, 5228 Erwachsene Mittleres Haushaltseinkommen des Wohnviertels hoch
niedrig
hohe Exposition
1,33 (1,12-1,57)
2,62 (1,67-4,13)
niedrige Exposition
1,0 a
1,82 (1,30-2,55)
hohe Exposition
1,35 (1,05-1,73)
2,40 (1,61-3,58)
niedrige Exposition
1,0 a
1,64 (1,21-2,24)
hohe Exposition
1,14 (0,86-1,51)
2,66 (1,43-4,97)
niedrige Exposition
1,0 a
1,81 (1,12-2,92)
hohe Exposition
1,54 (1,13-2,10)
3,36 (2,12-5,32)
niedrige Exposition
1,0 a
2,05 (1,45-2,91)
Mortalität insgesamt Partikel (TSP)
Schwefeldioxid
Kardiopulmonale Mortalität Partikel (TSP)
Schwefeldioxid
a
Referenzgruppe
Quelle: Finkelstein et al. (2003)
4
Aktuelle Erklärungsansätze und Modelle für soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit
In der Umwelt- und in der Sozialepidemiologie wird die Notwendigkeit eines multidisziplinären Ansatzes und von Mehrebenen-Konzepten, die sowohl die Ebene von Individuen als auch von Gruppen und Populationen berücksichtigen, betont (Pekkanen & Pearce 2001, Krieger 2001, Diez Roux 2004). Studien zum Zusammenhang zwischen Wohnen und Gesundheit unter Einbezug sozioökonomischer Faktoren auf Ebene von Individuen und von Wohnvierteln sind gute Beispiele für einen derartigen Ansatz. Nach Soobader et al. (2006) ist ein konzeptioneller und quantitativer Mehrebenenansatz notwendig zur Reduzierung von sozioökonomischer Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit. Der konzeptionelle Ansatz von Soobader et al. umfasst: (1) eine Mikroebene (individuelle Ebene), z.B. sozioökonomische Position, individuelle Belastung mit Schadstoffen; (2) eine lokale Ebene als der unmittelbare Kontext eines Individuums mit Aspekten wie der Wohnqualität in der Nachbarschaft oder Wohnsegregation; (3) und eine Makroebene mit Elementen beispielsweise der Umweltpolitik und der ökonomischen Gegebenheiten.
108
Gabriele Bolte, Martina Kohlhuber
Mit einem derartigen Ansatz können:
komplexe, auf verschiedenen Ebenen wirkende, interagierende und über die Zeit akkumulierende Expositionen untersucht werden, bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen bzw. in verschiedenen Regionen unterschiedlich auftretende und wirkende Expositionen analysiert werden, die Bedeutung sozialer und ökonomischer Faktoren auf allen Ebenen erfasst werden, die Wirkungen bestehender politischer Maßnahmen auf den lokalen Kontext und auf die individuelle Exposition abgeschätzt werden, Hypothesen generiert und theoretische Modelle zur Erklärung sozialer Ungleichheit bei umweltbezogenen Gesundheit weiterentwickelt werden.
Mehrere theoretische Erklärungsansätze und Modelle für soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit wurden in den letzten Jahren zur Diskussion gestellt. Diese verschiedenen Modelle und Erklärungsansätze haben nach Soobader et al. (2006) folgende Gemeinsamkeiten:
das Konzept der Vulnerabilität, mehrere Ebenen und verschachtelte Hierarchien, Einbezug der Zeit.
„Vulnerabilität“ ist ein entscheidendes Konzept zum Verständnis von sozioökonomischen Unterschieden bei umweltbezogener Gesundheit (vgl. auch Abb. 5.2). Soobader et al. (2006) nennen als Aspekte von Vulnerabilität: Suszeptibilität/Anfälligkeit (z.B. bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Kinder), unterschiedliche Expositionen (z.B. Nähe zu Belastungsquellen), unterschiedliche Ressourcen (z.B. geringes Einkommen) und unterschiedliche Fähigkeit zur Erholung (z.B. Diskriminierung). Das Konzept der Zeit bezieht sich sowohl auf zeitliche Variationen von Umweltexpositionen als auch auf Variationen der Gesundheitseffekte in Abhängigkeit der Vulnerabilität je nach Lebensalter und auf die Akkumulation von Umweltexpositionen und deren Wirkungen im Lebenslauf. Im Folgenden werden die aktuellen Erklärungsansätze von Gee & Payne-Sturges (2004) und Schulz & Northridge (2004) vorgestellt, da sie sich explizit auf die Bedeutung sozioökonomischer Faktoren bei umweltbezogener Gesundheit beziehen.
4.1
„Stress-Exposure Disease Framework“ nach Gee & Payne-Sturges (2004)
Im Modell von Gee & Payne-Sturges (2004) ist psychosozialer Stress – sowohl auf der individuellen als auch auf der kommunalen Ebene – die Schlüsselkomponente von Vulnerabilität und der vermittelnde Faktor zwischen sozialen Bedingungen, Umweltbelastungen und Gesundheit (Abb. 5.3). Als Mechanismus wird angenommen, dass Stressoren die physiologischen Abwehrmechanismen gegen Umweltbelastungen schwächen und die interne Exposition erhöhen können. Das Modell bezieht sich auf die Umweltgerechtigkeitsdiskussion in den USA und stellt daher die Ethnizität („race“ als soziales Konstrukt, nicht als biologische Kategorie), damit einhergehende Wohnsegregation und in der Folge höhere Umweltbelastungen und strukturelle Stressoren von ethnischen Minoritäten in den Mittel-
109
Soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit
punkt. Die Schattierungen im Modell stehen für das Expositions-Krankheits-Paradigma. Die Abbildung stellt eine Vereinfachung dar, Wechselbeziehungen zwischen Prozessen auf der kommunalen und auf der individuellen Ebene wurden nicht aufgenommen. Abbildung 5.3: „Stress-Exposure Disease Framework” zur Erklärung sozialer Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit
Race/ethnicity Residential segregation
Community stressors
Community stress
Structural factors
Environmental hazards and pollutants
Exposure
Internal dose Individual stressors Individual coping Appraisal process
individual stress
Biologically effective dose
Health effect (disparities)
Individual-level vulnerability
Neighbourhood resources
Community-level vulnerability
Residential location
Quelle: Gee & Payne-Sturges (2004), eigene Darstellung
Als Beispiele für strukturelle Faktoren, die auf der Gemeindeebene als Stressoren wirken können, nennen Gee & Payne-Sturges (2004) lokale ökonomische Gegebenheiten und damit verbundene Arbeitsmarktstruktur, Infrastruktur in Bezug auf lokale Versorgung mit gesunden Lebensmitteln und in Bezug auf Gesundheitsversorgungseinrichtungen, Zustand der Wohnhäuser und Kriminalitätsrate im Wohnumfeld. Des Weiteren unterscheiden Gee & Payne-Sturges zwischen physikalischen Stressoren auf Gemeindeebene wie z.B. Lärm oder Temperatur und psychosozialen Stressoren wie z.B. hohe Belegungsdichte in Wohnungen oder Angst vor Verbrechen. Nachbarschaftsressourcen können die Wirkungen von Stressoren mildern und damit salutogen wirken (vgl. Konzept soziales Kapital).
110 4.2
Gabriele Bolte, Martina Kohlhuber
Modell sozialer Determinanten umweltbezogener Gesundheit und Gesundheitsförderung nach Schulz & Northridge (2004)
Schulz & Northridge (2004) haben mit ihrem Modell einen konzeptionellen Rahmen für umweltbezogene Gesundheitsförderung entworfen. Die Autorinnen verweisen darauf, dass ein alle denkbaren Umweltexpositionen umfassendes Modell nicht mehr darstellbar ist. Daher konzentrieren sie ihr Modell auf die gebaute Umwelt (Abb. 5.4). Zudem kann die komplexe Wirklichkeit der Beziehungen zwischen den Ebenen und Bereichen nicht vollständig durch Pfeile symbolisiert werden, bestimmte Beziehungen wie z.B. direkt zwischen der natürlichen Umwelt und Gesundheit werden bewusst weggelassen. Abbildung 5.4: Modell sozialer Determinanten für Gesundheit im Kontext umweltbezogener Gesundheitsförderung Fundamental (Macro level)
Natural environment
Intermediate (Meso/Community level)
Proximate (Micro/Interpersonal level)
Health and Well-being (Individual or population levels)
Stressors
Built environment
Health outcomes
Macrosocial factors
Health behaviours
Social context Inequalities
Well-being Social integration and social support
Quelle: Schulz & Northridge (2004), verkürzte eigene Darstellung
In dem Modell werden vier Ebenen unterschieden: (1) Eine grundlegende Makroebene, die die natürliche Umwelt (z.B. Klima, Wasser), und makrosoziale Faktoren wie politische Ordnung, Gesetze, ökonomische Prozesse, soziale und kulturelle Institutionen umfasst. Auf dieser Ebene sind auch soziale Unterschiede bei der Verteilung von materiellem Reichtum, Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten und politischem Einfluss anzusiedeln. Ursachen der Ungleichheit können Rassismus, Sexismus oder soziale Benachteilung sein. (2) Die Zwischen- oder Mesoebene beinhaltet kommunale Faktoren wie die gebaute Umwelt (Landnutzung, Transportsysteme, Gebäude) und den sozialen Kontext, z.B. ökonomische Entwicklung, politische Faktoren auf Gemeindeebene, Teilhabe und politischer Einfluss der BürgerInnen. Die räumliche Ungleichverteilung von Armut und Reichtum beeinflusst die gebaute Umwelt und den sozialen Kontext. (3) Die proximale Mikroebene besteht aus den Bereichen Stressoren, Gesundheitsverhalten und soziale Integration/soziale Unterstützung. Zu Stressoren zählen Schulz & Northridge (2004) Belastungen aus der Umwelt, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und aufgrund der Wohnbedingungen; des Weiteren Kriminalität, finanzielle Unsicherheit und Diskriminierung. Als Beispiele für Gesundheitsverhalten geben sie
Soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit
111
Ernährung, körperliche Aktivität und Gesundheitsvorsorge an. Gesundheitsverhalten wird durch die gebaute Umwelt beeinflusst, beispielsweise Vorhandensein von Lebensmittelgeschäften, öffentlich zugängliche Grünflächen für sportliche Aktivitäten und Erreichbarkeit von Gesundheitsversorgungseinrichtungen durch den öffentlichen Personennahverkehr. Ebenso wirkt sich die gebaute Umwelt auf den Bereich soziale Unterstützung aus z.B. durch Verfügbarkeit von sicheren öffentlichen Räumen für soziale Interaktionen. (4) Die vierte Ebene umfasst Wohlbefinden und Gesundheit sowohl von Individuen als auch von Populationen. Das Modell soll zur Beschreibung dienen, wie soziale, politische und ökonomische Prozesse mit Eigenschaften der gebauten Umwelt interagieren und umweltbezogene Gesundheit beeinflussen. Nach Ansicht der Autorinnen betont das Modell den dynamischen Charakter sozialer Prozesse, die gesundheitliche Ungleichheit verursachen und erhalten.
5
Wohnbedingungen als zentrales Element zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit
Welche Bedeutung das anthropogen gestaltete Wohnumfeld für die Gesundheit hat und welche Potenziale hier für Gesundheitsförderung liegen, wurde in den letzten Jahren wieder zunehmend in der Public Health Forschung diskutiert (Mielck & Bolte 2004, Frumkin 2005, Dunn 2000, Jackson 2003, Shaw 2004, Parkes & Kearns 2006). Die Wohnbedingungen werden als ein zentrales Element angesehen, um mit einem umfassenden Ansatz, der sowohl die materiellen als auch psychosozialen Faktoren berücksichtigt, Maßnahmen zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit durchzuführen (Shaw 2004). Hier kommen die in den Abschnitten 3 und 4 genannten Entwicklungen – multidisziplinärer Ansatz und Mehrebenen-Konzepte – zum Tragen. Nach Shaw (2004) lassen sich die Beziehungen zwischen Wohnbedingungen und Gesundheit verschiedenen Mechanismen (physische und psychosoziale Effekte) und Ebenen (individuelle bzw. Haushaltsebene und lokale bzw. Nachbarschaftsebene) zuordnen. Die Autorin nennt in ihrem Modell bei den sog. „harten“, physischen bzw. materiellen Mechanismen Effekte der natürlichen und gebauten Umwelt, der Wohnungsbedingungen wie z.B. Feuchtigkeit, Kälte oder Schimmel, der Wohnungslosigkeit und der Nähe zu Versorgungsund Dienstleistungseinrichtungen. Bei den sog. „weichen“ bzw. psychosozialen Mechanismen sind beispielsweise Effekte von widrigen Wohnbedingungen, Unsicherheit und Schulden auf die psychische Gesundheit, das soziale Kapital des Wohnumfelds und soziale Fragmentierung von Bedeutung. Wie oben ausgeführt, variiert die Exposition gegenüber Umweltbelastungen meist nach der sozialen Lage. Nicht nur objektiv gemessene Umweltexpositionen, sondern auch subjektiv empfundene Belastungen können Gesundheit und Wohlbefinden beeinträchtigen. Sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen wohnen häufiger in belasteten Wohngebieten, an stark befahrenen Straßen und geben auch häufiger an, dass sie sich durch Luftverschmutzung und Lärm von Straßenverkehr und Industrieanlagen beeinträchtigt fühlen und ihren Gesundheitszustand schlechter einschätzen (Kohlhuber et al. 2006, Pollack et al. 2004).
112
Gabriele Bolte, Martina Kohlhuber
Neben Aspekten der Wohnungsausstattung und deren gesundheitliche Bedeutung (hohe Belegungsdichte, unzureichende sanitäre Einrichtungen und Heizungen) ist ein wesentlicher Aspekt, dass sozial benachteiligte Personen überwiegend in Wohnvierteln leben, die überproportional von den negativen Wirkungen des Straßenverkehrs betroffen sind und oftmals selbst nicht zu den Hauptverursachern der Belastung gehören und selbst nicht in entsprechendem Maß von den Vorzügen des Individualverkehrs profitieren (Stephens et al. 2001, Acheson 1998). Zu den negativen Auswirkungen zählen neben den Effekten der Luftschadstoffbelastung und des Lärms beispielsweise Verkehrsunfälle und die Behinderung sozialer Nachbarschaftskontakte durch die Zerschneidung des Wohngebiets durch viel befahrene Straßen. Eine mangelnde Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr in Kombination mit einer unzureichenden Infrastruktur in dem Wohnviertel selbst verringern die Möglichkeiten, Arbeitsstätten, Einrichtungen der Gesundheitsversorgung und anderer Dienstleistungen zu erreichen (Lucas 2004, Frumkin 2003, Jackson 2003). Die Qualität des gebauten Wohnumfeldes steht darüber hinaus in Beziehung mit dem sozialen Kapital (Leyden 2003, siehe auch Siegrist et al. in diesem Band). Das soziale Kapital im Wohnviertel (Nachbarschaftsbeziehungen, soziale und psychische Unterstützung, soziales Engagement) beeinflusst positiv Wohlbefinden und Gesundheit (Drukker et al. 2003). Die Bedeutung des gebauten Wohnumfeldes für gesundheitsrelevantes Verhalten kann exemplarisch für den Zusammenhang zwischen Bewegung, Ernährung und Adipositas aufgezeigt werden: Fehlende zugängliche Grünflächen und Freizeiteinrichtungen, ein unsicheres Wohnumfeld und eine hohe Gefährdung von Fußgänger(inne)n und Fahrradfahrer(inne)n durch den Straßenverkehr werden als Ursachen für mangelnde körperliche Aktivität und für ein erhöhtes Adipositasrisiko diskutiert (Gordon-Larsen et al. 2006, van Lenthe et al. 2005, Saelens et al. 2003, Ellaway et al. 2005). Hinzu kommt der Mangel an Lebensmittelgeschäften im Wohnviertel, die eine gesunde Ernährung ermöglichen (Wakefield 2004).
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Fazit
Erklärungsansätze für gesundheitliche Ungleichheit aus umweltepidemiologischer Perspektive verweisen auf die Bedeutung sowohl materieller als auch psychosozialer Faktoren aus der natürlichen und anthropogen gestalteten Umwelt. Als Mechanismen, wie die soziale Lage umweltbezogene Gesundheit beeinflusst, werden soziale Unterschiede in Umweltbelastungen und -ressourcen (Expositionsvariation) und in der Vulnerabilität in Bezug auf die Effekte von Umweltexpositionen (Effektmodifikation) diskutiert. Konzeptionell beruhen die Erklärungsansätze auf Mehrebenenmodellen. Eine wesentliche Schlussfolgerung der verschiedenen Erklärungsansätze ist, dass Interventionen und politische Maßnahmen zur Förderung umweltbezogener Gesundheit und zur Verringerung sozialer Ungleichheit auf einer Makro- oder Mesoebene ansetzen müssen und nicht auf der individuellen Ebene (Bolte & Kohlhuber 2005). Diese Sichtweise findet sich auch in der Diskussion von Strukturmodellen im Bereich Umwelt und Gesundheit wie das DPSEEA-Modell und das MEME-Modell (Briggs 2003, Fehr & Neus 2005). Das DPSEEA-Modell (Driving Forces – Pressures – State – Exposure – Effects – Actions) beschreibt sechs Komponenten der Wirkungskette Umwelt => Gesundheit und Ebenen für
Soziale Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit
113
Interventionsmaßnahmen und entstand als Rahmenkonzept für die Entwicklung von Indikatoren des umweltbezogenen Gesundheitsschutzes. Das MEME-Modell (Multiple Exposures – Multiple Effects) stellt eine Vereinfachung und Erweiterung des DPSEEA-Konzepts dar und betont die vielfältigen Beziehungen zwischen Umwelt und Gesundheit. Nach Gee & Payne-Sturges (2004) sollte der Schwerpunkt von Interventionen auf der Makroebene liegen (z.B. Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnbedingungen), da Interventionen auf der Mikro- bzw. individuellen Ebene nur mit erheblichem Ressourcenaufwand einen Effekt auf Populationsebene haben können. Schulz & Northridge (2004) sehen die Mesoebene als die entscheidende Ebene an, um wirkungsvolle Interventionen zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit anzusetzen. Gesundheitsförderungsmaßnahmen auf der individuellen Ebene seien letztlich nur bei den Bevölkerungsgruppen wirksam, die aufgrund ihres sozialen Kontexts, der Faktoren der gebauten Umwelt und materieller Ressourcen die Möglichkeit zu Verhaltensänderungen haben, und verstärkten dadurch letztlich gesundheitliche Ungleichheit. Anknüpfungspunkte zur Umsetzung der Erkenntnisse zu sozialer Ungleichheit bei umweltbezogener Gesundheit finden sich in integrierten Programmen wie dem „GesundeStädte-Netzwerk“, dem Programm „Soziale Stadt“, der „Lokalen Agenda 21“ sowie dem „Aktionsprogramm Umwelt und Gesundheit“.
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Psychosoziale Belastungen im Erwachsenenalter: Ein Ansatz zur Erklärung sozialer Ungleichverteilung von Gesundheit?
Richard Peter
1
Einleitung
Die Erforschung sozialer Ungleichheiten bietet nicht nur Ansätze zur Beschreibung der vertikalen und horizontalen Gliederung moderner Gesellschaften, vielmehr gestattet sie auch die Untersuchung des Ausmaßes ungleich verteilter gesundheitlicher Chancen. Nachdem in den vergangenen Jahrzehnten eine Flut von – auch prospektiven – sozialepidemiologischen Studien Zusammenhänge zwischen Sozialstatusmerkmalen und erhöhten Risiken einer chronischen Erkrankung bzw. einer erhöhten Sterblichkeit an diesen Erkrankungen eindrucksvoll belegt hat, konzentriert sich das Forschungsinteresse der jüngsten Zeit vermehrt auf die Untersuchung erklärender Mechanismen gesundheitsbezogener sozialer Ungleichheit (siehe auch Richter & Hurrelmann in diesem Band). Im Vordergrund stehen hierbei meso- und mikrosoziologische Ansätze, welche die Wirkzusammenhänge zwischen Indikatoren des Sozialstatus auf der einen und einem erhöhten individuellen Gesundheitsrisiko auf der anderen Seite klären helfen sollen (Steinkamp 1993). Psychosoziale Faktoren sind wichtige Größen auf meso- und mikrosoziologischer Ebene. Zu diesen Größen gehören berufliche (etwa Gratifikationskrisen, job strain, s.u.) und außerberufliche (etwa soziale Vernetzung und soziale Unterstützung), wie auch auf das gesundheitsrelevante Verhalten bezogene Faktoren. In diesem Beitrag stehen spezifische, auf theoretischen Annahmen basierende psychosoziale Belastungskonstellationen im Vordergrund. Es sind überwiegend Belastungskonstellationen, die im mittleren Erwachsenenalter ihre Wirksamkeit entfalten. Auch in anderen Lebensphasen, bei Kindern und Jugendlichen sowie bei älteren Menschen finden sich spezifische psychosoziale Belastungen, die die Gesundheit beeinflussen (siehe die Beiträge von Lampert & Richter und Knesebeck & Schäfer in diesem Band). Die nachfolgende, eingehendere Betrachtung beschränkt sich auf jene psychosozialen Belastungskonstellationen im mittleren Erwachsenenalter, die als empirisch am besten getestet gelten können. Zunächst ist jedoch zu klären, durch welche Mechanismen ein Faktor der sozialen Umwelt individuelle gesundheitliche Schäden anzurichten vermag.
2
Stresstheoretische Hintergründe
Die bahnbrechenden Erkenntnisse der physiologisch ausgerichteten Stressforschung des vergangenen Jahrhunderts bilden eine wichtige Basis für die sozialepidemiologische Erfor-
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schung psychosozialer Einflüsse auf die Gesundheit. Sie stellen das Bindeglied zwischen belastenden Faktoren der sozialen Umwelt und ihren individuellen Konsequenzen dar, indem sie Art und Umfang der Auswirkungen auf den Körper Betroffener spezifizieren. Lange Zeit wurde die Stressforschung fast ausschließlich vom allgemeinen Adaptationssyndrom (AAS) des Schweizers Hans Selye (1946) geprägt. Das AAS nimmt an, dass unabhängig von der Qualität eines Stressors immer gleiche physiologische Stressreaktionen (etwa Verengung der Blutgefäße, Blutdruckanstieg) erfolgen. Demgegenüber geht das stärker biopsychosozial ausgerichtete Stressmodell von Henry & Stephens (1977) davon aus, dass in Abhängigkeit von der durch die Betroffenen wahrgenommenen Intensität und Qualität eines Stressors über verschiedene Hirnareale unterschiedliche hormonelle Stressachsen im Körper aktiviert werden. Insbesondere die Einschätzung von Kontroll- und Erfolgschancen als vorhanden oder als fehlend ist in diesem Zusammenhang wichtig. Bei als ausreichend eingeschätzten Kontroll- und Erfolgschancen erfolgt, angeregt über den Sympathikus, vor allem eine vermehrte Ausschüttung von Katecholaminen (Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin) sowie Testosteron ins Blut. Werden Stressoren hingegen als nicht kontrollierbar und daher nicht erfolgreich bewältigbar eingestuft, erfolgt eine Stimulation der Hypophysen-Nebennierenachse, wodurch vor allem eine vermehrte Produktion von Kortikoiden (u.a. Kortisol) bewirkt wird. Langfristig tragen solche Stressreaktionen vor allem durch Erhöhung des Blutdrucks und vermehrte Ablagerungen in den Blutgefässen zur Förderung des Herz-Kreislaufrisikos bei. Aber auch Einflüsse auf das Immunsystem, auf Magen-Darmbeschwerden und auf Symptome des Muskelskelettapparates sind festgestellt worden (zur Übersicht vgl. Peter 2002). Neben den physiologischen Stressreaktionen haben kontroll- und erfolgsbegrenzende psychosoziale Belastungserfahrungen auch emotionale Auswirkungen. Negative Emotionen wie Angst, Ärger und Enttäuschung treten gehäuft im Zusammenhang mit solchen Belastungen auf. Den hier nur knapp vorgestellten stresstheoretischen Überlegungen inhärent ist die Annahme, dass vor allem das Ausmaß an Kontroll- und Erfolgschancen über die Krankheitswertigkeit belastender Erfahrungen entscheidet. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse sind in den vergangenen Jahrzehnten Modelle beruflicher und außerberuflicher psychosozialer Belastungen entwickelt und getestet worden. 3
Modelle beruflicher Belastungserfahrung
Die Auswirkungen psychosozialer Belastungen im Erwerbsleben auf die Gesundheit sind besonders intensiv und erfolgreich erforscht worden. Nicht zuletzt grundlegende Veränderungen im Erwerbsleben, die in ihrer Summe in den vergangenen Jahrzehnten zu einer rasch zunehmenden Verbreitung von psychosozialen Belastungen geführt haben, bewirkten diese Entwicklung. Zu diesen Veränderungen gehören die wachsende Verbreitung von Informationstechnologien, Computern und Automatisierungsprozessen. Gleichzeitig ging der Anteil von körperlichen Belastungen zurück, nicht zuletzt, weil die Anzahl der Berufe im tertiären Sektor zunimmt, während der Anteil im klassischen industriellen Produktionssektor abnimmt. Darüber hinaus unterlagen Arbeitsverhältnisse grundlegenden Veränderungen. Der Anteil flexibler Arbeitszeit- (etwa Teilzeit, befristete Arbeitsverhältnisse) und Arbeitsplatzarrangements (z.B. Heimarbeit, Mehrfachbeschäftigung durch Zwei- und Drittjobs) ist gestiegen. Mit diesen Entwicklungen nehmen auch berufliche Mobilität und Arbeitsplatzunsicherheit zu (Ferrie et al. 1999).
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Psychosoziale Belastungen im Erwachsenenalter
Zu den in den vergangenen 25 Jahren am besten erforschten theoretischen Ansätzen zum Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Gesundheit gehören Modelle, die sich mit psychosozialen beruflichen Belastungen befassen: Das Anforderungs-Kontroll- oder job strain Modell des amerikanischen Soziologen Robert Karasek und das von Johannes Siegrist und Mitarbeitern entwickelte und getestete Modell beruflicher Gratifikationskrisen. Mit dem Ende der 70er Jahre publizierten job strain Modells (Karasek 1979) wurde erstmals ein theoretischer Ansatz der Auswirkung psychosozialer Belastungen auf die Gesundheit vorgestellt, der sowohl spezifische und gesundheitlich besonders riskante psychosoziale Belastungskonstellationen definiert, als auch jene physiologischen Aktivierungsmuster benennt, die als Bindeglied zwischen Belastungen der sozialen Umwelt und somatischem sowie psychischem Körpergeschehen fungieren. Das job strain Modell definiert krankheitswertige psychosoziale Belastungen anhand zweier zentraler Dimensionen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsinhalte (vgl. Abb. 6.1). Es wird postuliert, dass eine Interaktion von hohen Anforderungen mit niedrigen Kontroll- und Einflusschancen im Erwerbsleben das gesundheitliche Risiko erhöht (Karasek & Theorell 1990). Während Anforderungen wesentlich durch die Häufigkeit von Zeitdruck definiert werden, sind Einfluss- und Kontrollchancen durch die Möglichkeiten charakterisiert, die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten in den Arbeitsprozess einzubringen und durch die Chancen, bei der Arbeit Neues hinzu zu lernen. Ist die berufliche Tätigkeit zwar durch hohe Anforderungen auf der einen, aber gleichzeitig durch einen hohen Grad an Autonomie auf der anderen Seite gekennzeichnet, erwachsen daraus Chancen zur Verbesserung reproduktiver Kapazitäten und zum Erlernen neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten. Weitergehende Entwicklungen des job strain Modells betreffen die Einführung einer dritten Dimension, sozialer Unterstützung am Arbeitsplatz (Johnson & Hall 1988, Johnson et al. 1989) sowie die Testung von Maßen der Lebenszeitexposition gegenüber job strain hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Gesundheit (Johnson et al. 1996).
niedriger Distress
hoch
aktiv
hoher Distress
gering
Entscheidungsspielraum/Kontrolle
Abbildung 6.1: Anforderungs-Kontroll (job strain) Modell
passiv
gering
hoch
Quantitative Anforderungen Quelle: Karasek & Theorell 1990
Job strain
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Obwohl das job strain Modell als theoretisch gut fundierter und empirisch weit reichend getesteter Ansatz zur Messung krankheitswertiger psychosozialer Belastungen im Erwerbsleben betrachtet werden muss, wurde in der Vergangenheit auch mehrfach Kritik geäußert. Erstens handelt es sich beim job strain Modell um einen so genannten Black Box Ansatz, der dem im Zusammenhang von psychosozialen Belastungen und ihren gesundheitlichen Auswirkungen wichtigen Bewältigungsverhalten keine Aufmerksamkeit widmet, sondern sich ausschließlich auf die Arbeitsorganisation und die Arbeitsinhalte konzentriert. Zweitens bleiben durch die ausschließliche Konzentration auf die unmittelbare Arbeitssituation gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Erwerbstätigkeit (etwa Arbeitsplatzunsicherheit, Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen) ausgeschlossen. In enger Auseinandersetzung mit dem job strain ist das Modell beruflicher Gratifikationskrisen entwickelt worden. Dieses Modell spezifiziert gesundheitsrelevante psychosoziale Belastungen im Erwerbsleben als Ungleichgewicht von Verausgabungen (etwa Zeitdruck, Verantwortung) und Belohnungen (Einkommen, Anerkennung, Karrierechancen, Arbeitsplatzsicherheit) (Siegrist 1996) (vgl. Abb. 6.2). Überwiegen die Verausgabungen die Belohnungen („high cost/low gain“) dauerhaft oder immer wiederkehrend, so erhöht dies das Risiko chronischer Erkrankungen. Die Berufsrolle stellt die Verbindung her zwischen individueller Leistungsverausgabung und sozialen, von der Gesellschaft bereitgestellten Belohnungsstrukturen, die einen wichtigen Beitrag zur individuellen Selbstregulation leisten. Der Erwerb und Erhalt der Berufsrolle ist eine Voraussetzung für positive Selbstwertschätzung und Selbstwirksamkeit im Erwachsenenalter. Verlust der Berufsrolle, Bedrohung der beruflichen Kontinuität oder mangelnde Anerkennung erbrachter Leistungen beschränken die Möglichkeiten individueller Selbstregulation und verletzen wichtige Voraussetzungen der Reziprozität sozialen Austauschs im Erwachsenenalter. Neben den durch die berufliche Situation und die sozialen Beziehungen bei der Arbeit definierten Belastungen, ist auch das individuelle Bewältigungsverhalten entscheidend für negative Auswirkungen auf die Gesundheit. Das Modell definiert einen spezifischen Bewältigungsstil, „übersteigerte Verausgabungsneigung“, der durch ein Bündel von Motivationen, Kognitionen und Emotionen gekennzeichnet ist, die übersteigerte Kontrollbestrebungen in Kombination mit einem übersteigerten Streben nach Anerkennung reflektieren. Krankheitswertige psychosoziale Belastungen werden nach dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen sowohl bei der Interaktion von hohen Verausgabungen mit niedrigen Belohnungen erwartet, als auch, wenn das Bewältigungsverhalten „übersteigerte Verausgabungsneigung“ vorliegt und zwar unabhängig davon, ob zusätzlich ungünstige Arbeitsbedingungen im Sinne eines Ungleichgewichts von Verausgabung und Belohnung vorhanden sind. Treffen jedoch ein Verausgabungs-Belohnungs-Missverhältnis und „übersteigerte Verausgabungsneigung“ bei einer Person zusammen, wird ein in besonderem Maße gesteigertes gesundheitliches Risiko erwartet. Das Model geht davon aus, dass eine Chronifizierung beruflicher Gratifikationskrisen unter drei Bedingungen stattfinden kann: 1.
2.
Wenn Alternativen am Arbeitsmarkt fehlen und selbst psychosozial stark belastende Tätigkeiten nicht aufgegeben werden, weil im Falle einer Aufgabe Arbeitsplatzverlust oder Abwärtsmobilität antizipiert werden, Wenn gegebene psychosoziale Belastungen mit dem Blick auf zukünftige Karrierechancen in Kauf genommen werden,
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Psychosoziale Belastungen im Erwachsenenalter
3.
Wenn das Bewältigungsverhalten „übersteigerte Verausgabungsneigung“ vorhanden ist und daher Fehleinschätzungen externer Anforderungen und eigener Fähigkeiten vorgenommen werden, die durch übersteigerte Kontrollbestrebungen und übersteigertes Streben nach Anerkennung angestoßen werden.
Abbildung 6.2: Modell beruflicher Gratifikationskrisen - Lohn, Gehalt - Wertschätzung - Aufstiegsmöglichkeiten, Arbeitsplatzsicherheit - Anforderungen - Verpflichtungen
Belohnung Verausgabung
Erwartung („übersteigerte Verausgabungsneigung“)
Erwartung („übersteigerte Verausgabungsneigung“) Ungleichgewicht aufrechterhalten bei:
Fehlender Arbeitsplatzalternative Strategischem Verhalten Psychischer Disposition: übersteigerte Verausgabungsbereitschaft
Quelle: Siegrist (1996)
Empirische Information zu beiden Modellen wird mit Hilfe standardisierter, gut getesteter Fragebögen erhoben. Zum job strain Modell gibt es eine mittlerweile kaum noch zu überblickende Menge an Studien, die die unterschiedlichsten gesundheitsbezogenen Zielgrößen (etwa Herz-Kreislauferkrankungen und -risikofaktoren, psychiatrische Symptome, Medikamentenkonsum) einbeziehen und zumeist einen Zusammenhang dieser Zielgrößen mit Komponenten von job strain nachweisen konnten. Allein zu koronaren Herzkrankheiten und koronaren Risikofaktoren, in Ermangelung von Übersichtsarbeiten zu den übrigen Zielgrößen werden aus Platzgründen nur diese hier dargestellt, existieren über 20 Studien. Ergebnisse bei Männern aus prospektiven Studien (siehe Tab. 6.1) zeigen ein um Faktor 1.4 bis 4.0 erhöhtes Risiko, eine koronare Herzkrankheit zu erleiden für Personen, die durch job strain charakterisiert sind (Belkic et al. 2000). Das entsprechende Risiko aus Querschnittstudien reicht von 0.9 bis 7.2 und aus Fall-Kontrollstudien von 1.3 bis über 40. All diese Befunde sind signifikant und für eine ganze Reihe von Störgrößen (z.B. traditionelle medizinische Risikofaktoren für koronare Herzkrankheiten wie Zigarettenrauchen, Bluthochdruck, Übergewicht) statistisch angepasst (ebd.).
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Richard Peter
Auch das Modell beruflicher Gratifikationskrisen ist ein theoretisch fundierter und empirisch gut getesteter Ansatz. Mittlerweile existieren etwa 50 Studien weltweit, welche die zentrale Hypothese des Modells bestätigen (vgl. Tab. 6.1). Unter diesen sind acht prospektive Studien zu neu aufgetretenen koronaren Herzkrankheiten im Beobachtungszeitraum, die ein um Faktor 1.2 bis knapp 9 erhöhtes Erkrankungsrisiko bei durch Gratifikationskrisen belasteten Männern und Frauen zeigten (van Vegchel et al. 2005). Diese Befunde sind für wichtige medizinische Risikofaktoren koronarer Herzkrankheiten (s.o.) statistisch angepasst. 17 Querschnittstudien befassten sich mit kardiovaskulären Risikofaktoren (Risiko etwa des Vorhandenseins von Bluthochdruck, erhöhten Blutfettwerten 1.2 bis 6.7 bei durch Gratifikationskrisen belasteten Personen). Zum Teil noch deutlicher ausgeprägte Zusammenhänge zeigen sich im Hinblick auf psychosomatische Symptome (odds ratios 1.4 bis 18.5) sowie die Arbeitszufriedenheit (odds ratio 5.4 bis 20.81). Ferner gehören durch Gratifikationskrisen belastetete Männer mehr als 4-mal häufiger zur Gruppe der Raucher. Weitere Befunde zum Modell beruflicher Gratifikationskrisen zeigten im Rahmen von Strukturgleichungsmodellen Zusammenhänge mit erhöhtem Alkoholkonsum bei psychosozial Belasteten (Puls et al. 1998). Tabelle 6.1: Psychosoziale berufliche Belastungen und Gesundheit bei Männern und Frauen, Spannweite multivariater Effektstärken (Anzahl Studien/odds ratio oder relatives Risiko) Studientyp
Zielgröße
Gratifikationskrisen1
Job strain2
Anzahl Studien / odds ratio oder relatives Risiko
Prospektiv
•
Koronare Herzkrankheiten
•
Kardiovaskuläre Risikofaktoren und Erkrankungen (Psycho-)somatische Symptome3
•
8 / 1.22 – 8.98
5 / 1.4 - 4.0
17 / 1.23 – 6.71
5 / 0.9 – 7.2
16 / 1.44 – 18.55
---------5
1 / 4.34
---------5
7 / 5.44 – 20.81
---------5
1 / 1.48
8 / 1.3 – 46.1
Querschnitt
Fall-Kontroll
•
gesundheitsrelevantes Verhalten4
•
Zufriedenheit im Beruf
•
Koronare Herzkrankheiten
1
Quelle: Van Vegchel et al. (2005), nur signifikante Effekte Quelle: Belkic et al. (2000), nur signifikante Effekte 3 Gastrointestinal, muskuloskeletal, psychiatrisch 4 Zigarettenrauchen 5 Belkic et al. beziehen sich nur auf kardiovaskuläre Erkrankungen und Risikofaktoren 2
In der Vergangenheit ist in zwei schwedischen Studien bei regional repräsentativen Stichproben der Erwerbsbevölkerung festgestellt worden, dass anhand des Modells beruflicher Gratifikationskrisen geschlechtsspezifische Wirkungen psychosozialer Belastungen im Erwerbsleben auf die Gesundheit aufgezeigt werden können. In beiden Studien, einer FallKontrollstudie zu Determinanten des Herzinfarkts bei über 3.000 Männern und Frauen, sowie dem Baseline-Screening einer prospektiven Studie bei über 10.000 Beschäftigten,
Psychosoziale Belastungen im Erwachsenenalter
123
zeigte sich das gleiche Muster. Während bei den Männern die extrinsische, situationsbezogene Komponente des Modells mit erhöhten gesundheitlichen Risiken assoziiert war, traf dies bei den Frauen auf die intrinsische Komponente, das Bewältigungsverhalten „erhöhte Verausgabungsneigung“ zu. Diese Zusammenhänge zeigten sich sowohl im Hinblick auf das Risiko eines Herzinfarkts (Peter et al. 2002, 2006) als auch hinsichtlich kardiovaskulärer Risikofaktoren (Bluthochdruck, erhöhte Blutfette) (Peter et al. 1998). Interessanterweise konnten diese Befunde bei Frauen nicht durch eine Doppelbelastung durch Familie und Beruf erklärt werden, wohl aber durch die Beschäftigung in einem Beruf, der durch das jeweils andere Geschlecht dominiert ist (Peter et al. 2006). Diese Ergebnisse weisen auf die Bedeutung geschlechtsspezifischer Präventionsprogramme und auf die Wichtigkeit eines möglichst frühzeitigen präventiven Eingriffs in die Krankheitsentwicklung hin.
4
Modelle außerberuflicher Belastungen
Krankheitswertige psychosoziale Belastungserfahrungen können auch außerhalb der Erwerbstätigkeit gemacht werden. Zu den prominentesten und am besten untersuchten Modellen außerberuflicher Belastungserfahrung, wenngleich es auch im Erwerbsleben relevant ist, gehört das der sozialen Unterstützung. Soziale Unterstützung bezieht sich auf emotionale, kognitive und instrumentelle Hilfeleistung. Sozialer Rückhalt kann sich auf zweierlei Art auf das Erkrankungsrisiko auswirken (House 1981). Erstens ist gute soziale Unterstützung in der Lage, die gesundheitsschädigenden Auswirkungen anderer psychosozialer Belastungen abzumildern (Puffereffekt). Zweitens kann ein Fehlen ausreichender sozialer Unterstützung als eigenständiger Belastungsfaktor wirken und das Gesundheitsrisiko erhöhen. Beide Funktionen sozialer Unterstützung im Hinblick auf die Gesundheit sind empirisch, unter anderem in mehr als 20 prospektiven Untersuchungen zur Gesamtsterblichkeit, zur kardiovaskulären Morbidität und Mortalität sowie zu Depressionen, gut belegt (Berkman & Kawachi 2000). In jüngster Zeit ist die Bedeutung der Verletzung sozialer Reziprozität im außerberuflichen Bereich für die Gesundheit untersucht worden. Die Bezugssysteme für diese Untersuchungen waren wichtige soziale Beziehungen. Reziprozität wurde weniger im Hinblick auf die Qualität sozialer Vernetzung und Unterstützung hin überprüft, als vielmehr in Bezug auf die erhaltene Anerkennung für Verausgabungen für die Familie und in wichtigen außerfamiliären Beziehungen. Verletzungen der Reziprozität enger sozialer Beziehungen waren in einer Querschnittstudie mit erhöhten Risiken depressiver Symptome (multivariate odds ratios 1.87 bis 4.04) und eingeschränkter subjektiver Gesundheit (multivariate odds ratios 2.01 bis 2.72) assoziiert (Knesebeck et al. 2004). Diese Befunde waren für eine Reihe von Störgrößen (Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen, emotionale Unterstützung) adjustiert. Während die Zusammenhänge von verletzter Reziprozität enger sozialer Beziehungen mit Depressivität auch nach Adjustierung für alle genannten Störgrößen Bestand hatten, waren die Effekte hinsichtlich schlechter subjektiver Gesundheit nach Adjustierung für emotionale Unterstützung nicht mehr signifikant. In einer US-amerikanischen Studie ließen sich diese Befunde im Hinblick auf depressive Symptome replizieren (multivariate odds ratios 1.64 bis 2.40) (Knesebeck et al. 2003).
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Gegenüber den bisher beschriebenen Modellen chronischer oder immer wiederkehrender psychosozialer Belastungen, die über einen längeren Zeitraum zum Krankheitsausbruch beitragen, liegt ein Schwerpunkt der Lebensereignisforschung auf akuten, unvorhersehbaren Belastungsereignissen wie dem Tod nahe stehender Personen. Belastende Lebensereignisse waren in verschiedenen Studien, teils im Verein mit chronischen psychosozialen Belastungen, mit erhöhten Risiken für Mammakarzinome und Depressionen assoziiert (zur Übersicht vgl. Geyer 1999). Eine neuere prospektiv-longitudinale US-amerikanische Untersuchung an einer Geburtskohorte von 847 Männern und Frauen belegt eine Interaktion von belastenden Lebensereignissen und genetischer Disposition im Hinblick auf die Entwicklung von Depressionen (Caspi et al. 2003). Nach Kontrolle der jeweiligen Haupteffekte war der Interaktionseffekt zwischen der Anzahl der Kopien des Genotyps 5-HTT und der Anzahl der Lebensereignisse signifikant hinsichtlich der Prädiktion von Depression im Alter von 26 Jahren. Die Autoren schließen, dass das Auftreten von Depressionen als Reaktion auf belastende Lebensereignisse durch genetische Disposition moderiert wird.
5
Erklärungsmodelle sozialer Ungleichheit: psychosoziale Belastungen
Wie eingangs formuliert geht es bei der Frage nach dem Beitrag psychosozialer Faktoren zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit in erster Linie darum zu spezifizieren, welcher Anteil des Sozialstatuseffekts auf die Gesundheit durch psychosoziale Faktoren vermittelt wird (Mediation) und welcher Anteil direkt verläuft bzw. unbekannten Größen zuzuschreiben ist (vgl. Abb. 6.3). Im Falle einer Mediation werden zunehmende psychosoziale Belastungen mit sinkendem Sozialstatus angenommen, während gleichzeitig mit zunehmender psychosozialer Belastung das gesundheitliche Risiko steigt. Diese Modellvorstellung schließt nicht aus, dass psychosoziale Belastungen auch unabhängig vom Sozialstatus Einfluss auf die Gesundheit ausüben können oder, dass sie hinsichtlich gesundheitlicher Auswirkungen mit Merkmalen des Sozialstatus interagieren. Abbildung 6.3: Vermittelnder Einfluss psychosozialer Belastungen beim Zusammenhang von sozioökonomischem Status (SÖS) und Gesundheit Psychosoziale Belastungen (z.B. Gratifikationskrisen
Anforderungen + Ressourcen -
SÖS (Sozioökonomischer Status)
Quelle: eigene Abbildung
Gesundheit
Psychosoziale Belastungen im Erwachsenenalter
125
Die Rolle sozialer Unterstützung bei der Erklärung sozialer Ungleichheit ist noch relativ wenig untersucht und stellt sich nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung inkonsistent dar. Aus Deutschland gibt es nur wenige, zumeist ältere Studien, die eine Abnahme der Häufigkeit sozialer Unterstützung und eine Verschlechterung sozialer Vernetzung bei unteren Sozialstatusgruppen zeigen (zur Übersicht s. Mielck 2000). In einer neueren deutschen Untersuchung bei älteren Menschen konnte dem gegenüber nur ein schwacher vermittelnder Einfluss sozialer Unterstützung im Zusammenhang von Sozialstatus mit Depression festgestellt werden (Knesebeck 2005). Insgesamt fanden sich in dieser Studie gesundheitsschädigende Wirkungen unzureichender sozialer Unterstützung unabhängig von spezifischen sozialen Schichten. Die Autoren folgern, dass die Mediationshypothese für soziale Unterstützung nicht bestätigt werden kann. In einer britischen Studie konnte bei Frauen zumindest ein partieller vermittelnder Einfluss unter anderem von sozialer Unterstützung in der Beziehung zwischen Sozialstatus und eingeschränkter Gesundheit beobachtet werden (Sacker et al. 2001). In einer weiteren britischen Studie fand sich, ebenfalls bei Frauen, schlechtere soziale Unterstützung, wenn der Partner arbeitslos war. Ein Zusammenhang zwischen den traditionellen Indikatoren des Sozialstatus und sozialer Unterstützung konnte jedoch ebenso wenig beobachtet werden, wie ein vermittelnder Einfluss von sozialer Unterstützung im Hinblick auf chronische Erkrankung (Bartley et al. 2004). Lebensverändernde Ereignisse verteilen sich ungleich über verschiedene Sozialstatusgruppen. Erstmals konnte in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gezeigt werden, dass belastende Ereignisse häufiger bei niederen Bildungsgruppen auftreten (Dohrenwend 1974). Ähnliche Befunde konnten von späteren Studien repliziert werden (zur Übersicht vgl. Geyer 1999). Auch in einer deutschen Untersuchung, basierend auf Daten der SHELLJugendstudie, konnte gezeigt werden, dass schwere Lebensereignisse (Tod eines Elternteils, eigener Unfall oder Unfall einer nahe stehenden Person) nicht unabhängig vom Sozialstatus auftreten, sondern, dass sich solche Ereignisse in unteren Bildungsgruppen häufen und früher eintreten (Geyer 1999). Als Sozialstatusmerkmal wurde bei diesen Analysen der höchste Schulabschluss der Eltern zugrunde gelegt. Im beruflichen Bereich gibt es bislang nur eine begrenzte Anzahl von Studien, die einen vermittelnden Einfluss psychosozialer Belastungen nahe legen, jedoch sind die Befunde konsistenter als die entsprechenden Ergebnisse zu sozialer Unterstützung. In der britischen Whitehall II-Studie konnte gezeigt werden, dass bei Männern der Einfluss des Sozialstatus, gemessen als beruflicher Status, auf das Risiko einer neuen ischämischen Herzkrankheit komplett verschwindet (odds ratio für die niedrigste Statusgruppe 1.18, nicht signifikant), wenn er für psychosoziale berufliche Belastungen (niedrige Kontrolle im Sinne des job strain Modells) statistisch angepasst wird (Marmot et al. 1997). Nur nach Altersadjustierung lag der Berufsstatuseffekt bei 1.5 (p < .05). Bei Frauen fanden sich diese Zusammenhänge in weniger stark ausgeprägter Form. Die Ergebnisse weisen daraufhin, dass in dieser Studie vor allem bei Männern ein großer Teil des Berufsgruppeneffektes auf das Risiko einer ischämischen Erkrankung durch psychosoziale berufliche Belastungen im Sinne begrenzter Kontrollchancen erklärt wird. Somit kann von einem vermittelnden Einfluss psychosozialer Faktoren ausgegangen werden. Ebenfalls im Rahmen der Whitehall IIStudie wurde festgestellt, dass die Prävalenz beruflicher Gratifikationskrisen mit sinkender beruflicher Position zunimmt (Peter 2001). Auch hinsichtlich beruflicher Gratifikationskrisen gibt es Hinweise auf eine vermittelnde Funktion dieser psychosozialen Belastung. Mit Hilfe von Pfadanalysen konnten in der prospektiven Whitehall II-Studie direkte (standardi-
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sierter Regressionskoeffizient 0.11, p < .01) und indirekte, durch berufliche Gratifikationskrisen vermittelte Effekte (standardisierter Regressionkoeffizient berufliche PositionGratifikationskrisen 0.05, p < .01, Gratifikationskrisen-Angina Pectoris 0.15, p < .01) des Berufstatus auf die Inzidenz von Angina Pectoris bei Männern aufgezeigt werden (Chandola et al. 2005). Bei den Frauen konnte keine vermittelnde Funktion beruflicher Gratifikationskrisen festgestellt werden. Somit, so folgern die Autoren, kann zumindest ein Teil des sozialen Gradienten bei Männern im Hinblick auf ischämische Herz-Krankheiten durch berufliche Gratifikationskrisen erklärt werden. Eine Interaktion von niedrigem Einkommen mit hohen beruflichen Anforderungen war in einer prospektiven finnischen Studie bei über 2.200 Männern mit einem erhöhten Risiko eine ischämische Herzkrankheit zu erleiden oder vorzeitig an einer koronaren Herzkrankheit zu versterben assoziiert (Lynch et al. 1997). Vor allem unter der Bedingung „niedriges Einkommen“ wirkten sich hohe Anforderungen (etwa Zeitdruck, inkonsistente Anforderungen, starke Beaufsichtigung) und niedrige Ressourcen (etwa Freude bei der Arbeit, Möglichkeiten Fähigkeiten und Fertigkeiten einzubringen) auf das Risiko vorzeitiger Herz-Kreislaufsterblichkeit (altersangepasste Hazard ratio 3.12) und das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden (altersangepasste Hazard ratio 2.59). Auch nach statistischer Kontrolle einer Reihe von Störgrößen (unter anderem Zigarettenrauchen, Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte, Übergewicht) blieben diese Ergebnisse signifikant, wenn sich auch die Hazard ratios etwas verminderten. Keine Studie hat sich bislang mit der vermittelnden Funktion verletzter sozialer Reziprozität außerhalb des Erwerbslebens (s.o.) befasst. Allerdings konnten Analysen wiederum im Rahmen der Whitehall II-Studie zeigen, dass niedrige Kontrollmöglichkeiten im Familienleben mit einem erhöhten Risiko koronarer Herzkrankheiten bei Frauen assoziiert sind. Das für Störgrößen (etwa Alter, traditionelle medizinische koronare Risikofaktoren) adjustierte Risiko einer koronaren Herzkrankheit war bei diesen Frauen um Faktor 2.6 erhöht gegenüber Frauen die angaben, ausreichende Kontrollchancen im familiären Umfeld zu haben (Chandola et al. 2004). Einer der stärksten Prädiktoren für niedrige Kontrollchancen im familiären Umfeld bei Frauen war eine niedrige haushaltsbezogene soziale Position gemessen mittels Informationen über finanzielle Probleme in der Familie (nicht genügend Geld für Kleidung/Ernährung, nicht genügend Geld um Rechnungen bezahlen zu können) (multivariate odds ratio 2.4). Aufgrund dieser Ergebnisse vermuten die Autoren einen gewissen vermittelnden Einfluss von Kontrolle im familiären Umfeld auf den Zusammenhang von Sozialstatus und koronaren Herzkrankheiten bei Frauen. Für Männer fanden sich keine entsprechenden Befunde. Die bisher vorliegenden Erkenntnisse zu Sozialstatus, psychosozialen Belastungen und Gesundheit weisen trotz teils inkonsistenter Befunde darauf hin, dass vor allem von der Prüfung dreier Annahmen ein vertiefendes Verständnis und eine verbesserte Erklärung der Mechanismen gesundheitsbezogener sozialer Ungleichheit zu erwarten ist: 1. 2. 3.
Psychosoziale Belastungen treten bei bestimmten sozialen Gruppierungen gehäuft auf. Psychosoziale (berufliche und außerberufliche) Belastungen sind ein Mediator des Zusammenhangs von Sozialstatus und Gesundheitsrisiken. Die unter erstens und zweitens genannte Zusammenhänge weisen geschlechtsspezifische Verteilungen auf.
Psychosoziale Belastungen im Erwachsenenalter
6
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Forschungsbedarf
Obwohl die Erforschung psychosozialer Determinanten von Gesundheit und Krankheit in den vergangenen Jahrzehnten bemerkenswerte Fortschritte gemacht hat, lassen sich gegenwärtig verschiedene Punkte ausmachen, die in der Vergangenheit nicht hinreichend geklärt wurden oder geklärt werden konnten bzw. neue, aktuelle Relevanz erlangt haben. Bereits vor mehr als 25 Jahren wurden von der sozialepidemiologischen Ungleichheitsforschung Zusammenhänge zwischen sozialer Statusinkonsistenz und Herz-Kreislaufrisiken untersucht. Statusinkonsistenz wurde in sechs Studien als Belastungsfaktor neben den traditionellen Indikatoren des Sozialstatus untersucht. Die Befunde waren jedoch ebenfalls inkonsistent (Vernon & Buffler 1989). Dies wurde in erster Linie auf unterschiedliche Konzepte von Sozialstatus und Statusinkonsistenz zurückgeführt, die in den verschiedenen Studien zum Einsatz kamen. Studien aus Deutschland waren nicht unter diesen Untersuchungen. Ergebnisse einer aktuellen prospektiven Studie weisen darauf hin, dass es in Deutschland gegenwärtig Einflüsse von Statusinkonsistenz auf das Risiko, eine Herzkrankheit zu erleiden, gibt (Peter et al. 2007). Die Befunde zeigen ein bis zu 3,5-fach erhöhtes Risiko bei Männern und Frauen, deren berufliche Position und Einkommen unter den durchschnittlichen Eingruppierungen hinsichtlich ihrer Ausbildung liegen. Männer, deren Einkommen über dem durchschnittlichen Verdienst ihrer Bildungsgruppe liegt, haben ein signifikant verringertes Risiko. Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang lautet, inwieweit gegenwärtige Entwicklungen des Arbeitsmarktes und der Beschäftigungsverhältnisse Einfluss auf die Verbreitung von Statusinkonsistenz haben. In jüngster Zeit häufen sich die Hinweise, dass prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die etwa durch Arbeitsplatzunsicherheit, Arbeitsplatzabbau, flexible Zeitarrangements und forcierten Abstieg gekennzeichnet sind, immer weitere Verbreitung finden und mit erhöhten gesundheitlichen Risiken einhergehen (Benavides et al. 2000, Benach et al. 2002). Man kann davon ausgehen, dass diese Entwicklungen auch die weitere Verbreitung von Statusinkonsistenz unterstützen, da immer mehr Menschen gezwungen sind, etwa einen Beruf auszuüben, der unter den durchschnittlichen Positionierungen in ihrer Ausbildungsgruppe liegt, oder Einkommenseinbußen hinzunehmen. Es ist zu erwarten, dass unter diesen Bedingungen sowohl die Verbreitung psychosozialer Belastungskonstellationen, wie beruflicher Gratifikationskrisen als auch das gesundheitliche Risiko zunehmen. Zukünftige Studien sollten verstärkt untersuchen, inwieweit solche psychosozialen Belastungen den Zusammenhang zwischen Sozialstatus, Statusinkonsistenz und Gesundheit erklären. Besondere Aufmerksamkeit sollte die Forschung in diesem Zusammenhang der Lebenslauf-Perspektive widmen, um der Dynamik sozialer Ungleichheiten und ihrer potenziellen Auswirkungen auf psychosoziale Belastungen und Gesundheit im Zeitverlauf gerecht zu werden (Siegrist 2001, siehe auch Dragano & Siegrist in diesem Band). Auch der nach traditionellen Kriterien gemessene Sozialstatus kann sich im Lebenslauf verändern. Während, zumindest in Deutschland, die schulische Ausbildung eine vergleichsweise statische Größe bildet (Statistisches Bundesamt 2006), sind die berufliche Position und das Einkommen, oft auch in Abhängigkeit von einem Wandel der beruflichen Position, Veränderungen unterworfen. Hinsichtlich der Erklärung sozial ungleich verteilter Gesundheit durch psychosoziale Faktoren fehlen Erkenntnisse darüber, wie sich das Wechselspiel von situativen (etwa durch den Erwerbstätigen wahrgenommene, aus der sozialen Arbeitsumgebung resultierende Belastungen wie job strain oder die situative Komponente von Gratifikationskrisen) und
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individuellen (das Bewältigungsverhalten betreffende Faktoren, etwa übersteigerte Verausgabungsneigung) Merkmalen auf das gesundheitliche Risiko in unterschiedlichen sozialen Gruppierungen auswirkt. Die Annahmen des Modells beruflicher Gratifikationskrisen implizieren, dass das Zusammenwirken eines Ungleichgewichts von Verausgabung und Belohnung mit dem ungünstigen Bewältigungsstil „übersteigerte Verausgabungsneigung“ das gesundheitliche Risiko in besonderem Maße zu steigern vermag (Peter 2002). Es ist plausibel anzunehmen, dass eine solche Interaktion auch einen Teil sozial ungleich verteilter Gesundheit zu erklären vermag. Gestützt wird die Plausibilität der Annahme dadurch, dass auch motivationale und kognitive Aspekte des Bewältigungsverhaltens sich unterschiedlich über die sozialen Gruppen verteilen und so einen Beitrag zum erhöhten gesundheitlichen Risiko unterer sozialer Gruppierungen zu leisten vermögen (zum Überblick s. Kristenson et al. 2004). Während die vermittelnde, erklärende Funktion psychosozialer beruflicher Belastungen im Hinblick auf gesundheitsbezogene soziale Ungleichheit zumindest in Ansätzen erforscht wird, kann dies für andere psychosoziale Einflüsse auf die Gesundheit (etwa soziale Unterstützung, soziale Kohärenz) nicht in gleichem Umfang gelten. Diesbezüglich sind Studien erforderlich, die klären, ob die genannten psychosozialen Größen sich unterschiedlich über verschiedene Sozialstatusgruppen verteilen und ob sozialgruppenspezifische Einflüsse dieser Größen auf die Gesundheit existieren. Auch die Wechselwirkungen, mögliche synergistische und spillover – Effekte beruflicher und außerberuflicher Belastungen im Hinblick auf gesundheitliche Risiken bedürfen intensiver Erforschung. Weitere offene Fragen für die Ungleichheitsforschung betreffen die Gruppe der Personen mit Migrantionshintergrund. Diese Personen sind auch in Deutschland eine wachsende Bevölkerungsgruppe. Über gesundheitsbezogene soziale Ungleichheit bei Personen mit Migrationshintergrund ist bislang aber vergleichsweise wenig bekannt. Es ist anzunehmen, dass diese Bevölkerungsgruppe, zumindest in zweiter und dritter Generation, stärker von sozialer Ungleichheit betroffen ist und in stärkerem Ausmaß psychosoziale Belastungen aufweist, als die einheimische Bevölkerung (siehe Razum in diesem Band). Eine neuere Studie aus Großbritannien und Daten aus Deutschland legen dies nahe (Smith et al. 2005, Razum et al. 2008). Bei Versuchen der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit sollte verstärkt auf statistische Verfahren zurückgegriffen werden, die eine unmittelbare Abschätzung direkter und indirekter Effekte gestatten. Dies gilt gegenwärtig vor allem für Strukturgleichungsmodelle (Bollen 1989). Mit Hilfe dieses Verfahrens lässt sich der oben angesprochene Mediatoreinfluß psychosozialer Faktoren statistisch prüfen und in angemessener Weise abschätzen, welcher Anteil gesundheitlicher Ungleichheit durch psychosoziale Faktoren vermittelt wird. Aber auch Mehrebenenanalysen können durch die getrennte Betrachtung von individueller Ebene und übergeordneten Ebenen sowie Interaktionen zwischen verschiedenen Ebenen wertvolle Unterstützung für das Verständnis dieser komplexen Zusammenhänge leisten.
7
Ausblick
Insgesamt bedarf die Erforschung der Rolle von psychosozialen Faktoren im Hinblick auf sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit weiterer Aufmerksamkeit. Auch wenn sich, wie etwa im Rahmen der Whitehall II-Studie, erste Hinweise auf eine vermittelnde Funk-
Psychosoziale Belastungen im Erwachsenenalter
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tion psychosozialer beruflicher Belastungen ergeben, sind unter anderem folgende wichtige Fragen bislang unbeantwortet:
Sind die aus stresstheoretischer Sicht für die Gesundheit bedeutsameren Dimensionen „Kontrolle“ bzw. „Belohnung“ auch wichtiger für gesundheitsbezogene soziale Ungleichheit, als die Verausgabungs- und die Anforderungsdimension? Welche Rolle spielen außerberufliche psychosoziale Belastungen für die gesundheitsbezogene soziale Ungleichheit und wie wirken sie mit beruflichen psychosozialen Faktoren zusammen? Welche Rolle spielt die Interaktion von Bewältigungsverhalten und situationsbezogenen psychosozialen Belastungen hinsichtlich der Erklärung sozialer Ungleichverteilung von Gesundheit? Sind Veränderungen des Erklärungsgehalts gesundheitsbezogener sozialer Ungleichheit durch psychosoziale Faktoren im Zeitverlauf an Veränderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (marktwirtschaftliche Bedingungen, strukturelle Arbeitslosigkeit, Globalisierung, regionale Besonderheiten etc.) geknüpft? Verändert sich der Stellenwert des Erklärungsgehalts psychosozialer Faktoren je nach Entwicklungsstand der individuellen Biographie, d.h. üben psychosoziale berufliche Belastungen, etwa in späteren Phasen der Erwerbsbiographie, eine andere Funktion für die Betroffenen aus, als in früheren Phasen?
Von der Beantwortung dieser Fragen durch die soziologische/sozialepidemiologische Ungleichheitsforschung lassen sich Erkenntnisse erwarten, die neue Ansatzpunkte für präventive Maßnahmen eröffnen bestimmte Bevölkerungsgruppen (etwa mit Migrantionshintergrund) oder spezifische soziale Zusammenhänge (etwa psychosoziale berufliche Belastungen) betreffend. Von der Umsetzung „maßgeschneiderter“ Präventionsmaßnahmen kann in Zukunft ein maßgeblicher Beitrag zur Verminderung gesundheitsbezogener sozialer Ungleichheiten erwartet werden. Beispiele solcher Maßnahmen sind Ansätze zur verbesserten Integration von Personen mit Migrationshintergrund oder Maßnahmen zur Verbesserung vor allem nicht-monetärer Belohnungssysteme im Erwerbsleben. Erkenntnisse der Sozialepidemiologie über die Wirkmechanismen zwischen Indikatoren des Sozialstatus, psychosozialen Belastungen und Gesundheit können helfen, den Grad der Spezifität und damit auch der Wirksamkeit solcher Maßnahmen zu erhöhen.
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Die Bedeutung verhaltensbezogener Faktoren im Kontext der sozialen Ungleichheit der Gesundheit
Uwe Helmert, Friedrich Schorb
1
Einleitung
Durch eine Vielzahl von Studien konnte gezeigt werden, dass das persönliche Gesundheitsverhalten einen großen Einfluss auf die gesundheitliche Situation, das Morbiditätsgeschehen und die Mortalitätsentwicklung ausübt (Belloc & Breslow 1972, Wiley & Camacho 1980, Höhn & Pollard 1992, Keil et al. 1998, Schneider 2002, Helmert & Voges 2002). In diesem Zusammenhang ist aber auch anhand sozialepidemiologisch orientierter Studien sehr deutlich geworden, dass erhebliche sozialschichtspezifische Unterschiede im individuellen Gesundheitsverhalten bestehen (Forschungsgverbund DHP 1998, Mielck 2000, Richter & Mielck 2000, Helmert 2003, Lampert et al. 2005, Babitsch 2005, Mackenbach 2006). Trotz umfassender Studien zur Thematik „Soziale Ungleichheit und Gesundheit“ existiert bisher kein überzeugendes theoretisches und empirisch abgesichertes wissenschaftliches Erklärungsmodell zur sozialen Ungleichheit der Gesundheit. Seit dem „Black-Report“ aus Großbritannien (Black et al. 1988) wird immer wieder auf die darin erstmals dargestellten vier Erklärungsansätze zur sozialen Ungleichheit der Gesundheit verwiesen: Erklärung durch Artefakte, Erklärung durch Selektion, Erklärung durch Verhalten und Erklärung durch strukturelle und materielle Faktoren. In diesem Beitrag wird es darum gehen, die Erklärung durch Verhalten näher zu beleuchten. Bei diesem Erklärungsansatz wird davon ausgegangen, dass die Zusammenhänge zwischen gesundheitsrelevantem Verhalten, sozioökonomischen Status und der Gesundheit tatsächlich existieren und nicht durch statistische Artefakte oder Selektionseffekte hervorgerufen werden. Die Erklärung durch Verhalten fokussiert auf die sozioökonomischen Unterschiede im individuellen Gesundheitsverhalten. Die gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen sind zwar vom Grundsatz her individuell variier- und wählbar, es besteht aber eine sehr hohe Evidenz, dass sie einem sozialen Gradienten folgen (Wilkinson 1996, Marmot 2004, Richter 2005, Graham 2007, Bauer et al. 2008). Von großer Bedeutung ist dabei, dass die risikobehafteten gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen sowohl mit dem sozioökonomischen Status als auch mit der gesundheitlichen Situation einer Person eng verbunden sind. Sehr umfassende sozialepidemiologische Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen Parametern des individuellen Gesundheitsverhaltens und dem sozioökonomischen Status sind im Rahmen von Studien zur Ätiologie der Herz-Kreislauf-Krankheiten erzielt worden (Adler & Ostrove 1999). Auf Basis des Risikofaktorenmodels für Herz-Kreislaufkrankheiten wurde eine Vielzahl von Risikofaktoren für diese bedeutsame Volkskrankheit identifiziert. Als wichtigste Risikofaktoren wurden dabei
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Uwe Helmert, Friedrich Schorb
Zigarettenrauchen, Bewegungsmangel, fett- und kalorienreiche Ernährung und exzessiver Alkoholkonsum identifiziert. Obwohl kein Zweifel daran besteht, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsverhalten und dem soziökonomischen Status besteht (Mielck 2000, Helmert 2003), konnten viele sozialepidemiologische Studien nachweisen, dass das individuelle Gesundheitsverhalten alles andere als eine ausreichende Erklärung für die soziale Ungleichheit der Gesundheit darstellt (Richter 2005, Bauer et al. 2008). So zeigte sich beispielsweise bereits in der Alameda-County Study aus den USA, die bereits vor mehr als 25 Jahren durchgeführt wurde, dass Personen mit einem niedrigen soziökonomischem Status nach der Kontrolle von 13 Merkmalen des Gesundheitsverhaltens ein um das 1,5fache erhöhtes Sterberisiko aufwiesen (Fox & Benzeval 1995). Vergleichbare Resultate wurden auf Basis des Nationalen Gesundheitssurveys auch für Deutschland erzielt (Helmert et al. 1993). In diesem Beitrag soll unter Verwendung von zwei für Deutschland repräsentativen Studien das Ausmaß der sozialen Ungleichheit im Hinblick auf drei zentrale Merkmale des Gesundheitsverhaltens analysiert werden. Berücksichtigt werden das Rauchverhalten, das Übergewicht (als Indikator für das Ernährungsverhalten) und die sportliche Aktivität. Diese drei Aspekte des Gesundheitsverhaltens wurden ausgewählt, weil sie eine hohe Relevanz für die Morbiditäts- und Mortalitätsentwicklung besitzen (Schneider 2003).
2
Die soziale Ungleichheit bei den verhaltensbezogenen Faktoren Rauchen, Übergewicht und sportliche Aktivität in Deutschland
Als Datenbasis für die nachfolgenden Analysen werden der Bertelsmann-Gesundheitsmonitor (GeMo) aus den Jahren 2001 bis 2005 und der Bundesgesundheitssurvey (BGS) aus dem Jahr 1998 herangezogen. Beim GeMo handelt es sich um eine für Deutschland repräsentative Querschnittsstudie mit bisher neun Befragungswellen. Der GeMo ist ein Kooperationsprojekt zwischen der Bertelmann-Stiftung, die das Projekt auch finanziert, sowie NFO Infratest Gesundheitsforschung und dem Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Beginnend im Jahr 2001 wurden mit halbjährigem Abstand schriftliche Befragungen der Bevölkerung im Alter von 18 bis 79 Jahren durchgeführt. Die Bruttostichprobengröße umfasste jeweils 1500 Personen. Die Beteiligungsraten lagen zwischen 65-70%. Insgesamt werden 5.415 Männer und 5.667 Frauen in die nachfolgenden Analysen einbezogen. Die Methodik des GeMo ist an anderer Stelle differenziert beschrieben worden (Güther et al. 2002). Beim BGS aus dem Jahr 1998 handelt es sich um den erstmaligen gesamtdeutschen Gesundheitssurvey. Er stellt eine repräsentative Untersuchung zum Gesundheitszustand der deutschen Bevölkerung dar. Das Projekt wurde vom Robert Koch-Institut im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit durchgeführt. Die Bruttostichprobengröße umfasst 7200 Personen im Alter von 18-79 Jahren. Die Beteiligungsrate betrug 61,4%. In die folgenden Analysen werden insgesamt 3356 Männer und 3523 Frauen einbezogen. Die Methodik des BGS ist an anderer Stelle differenziert beschrieben worden (Bellach et al. 1998).
Die Bedeutung verhaltensbezogener Faktoren für gesundheitliche Ungleichheit
135
Operationalisierung der Studienvariablen Das Rauchverhalten wird im GeMo und im BGS identisch erfragt. Es wird differenziert zwischen: (1) Nierauchern, (2) Exrauchern, die mehr als ein Jahr nicht mehr geraucht haben, (3) Exrauchern, die weniger als ein Jahr nicht mehr geraucht haben, (4) Gelegenheitsrauchern, die nicht täglich rauchen, (5) Regelmäßigen Rauchern, die täglich rauchen. Hinsichtlich der Erfassung des relativen Körpergewichts ist von Bedeutung, dass im GeMo die Merkmale Körpergröße und Körpergewicht erfragt wurden, während im BGS eine direkte Messung der Körpergröße (mittels Messlatte) und des Körpergewichts (mittels Waage) stattfand. Dieses zwischen den beiden Surveys unterschiedliche Vorgehen führt dazu, wie man aus anderen Untersuchungen weiß (Helmert & Strube 2004), dass im GeMo im Vergleich zum BGS die Körpergröße leicht überschätzt wird, während das Köpergewicht geringfügig unterschätzt wird. Folglich ergibt sich für den GeMo im Vergleich zu der valideren Messung im BGS eine Unterschätzung des tatsächlichen Body-Mass-Index (BMI=Gewicht in kg/Größe in m2). Das relative Körpergewicht (BMI) wird für beide Surveys folgendermaßen operationalisiert: (1) Untergewicht (BMI < 20.00), (2) Normalgewicht (BMI = 20.00-24,99), (3) leichtes Übergewicht (BMI = 25.00-26,99), (4) Übergewicht (BMI = 27.00-29.99), (5) starkes Übergewicht – Adipositas (BMI 30). Das Ausmaß der sportlichen Aktivität wird in beiden Surveys in identischer Form abgefragt: (1) Regelmäßig mehr als 4 Stunden in der Woche, (2) Regelmäßig 2 bis 4 Stunden in der Woche, (3) Regelmäßig 1 bis unter 2 Stunden in der Woche, (4) Regelmäßig weniger als 1 Stunde in der Woche, (5) Keinerlei sportliche Aktivität. Um zu einem Bewertungsmaßstab für das gesamte Gesundheitsverhalten zu gelangen, wird ein additiver Index „Gesundheitsverhalten“ konstruiert, der sich folgendermaßen zusammensetzt: 1. Rauchen: Nieraucher (5 Punkte), Exraucher seit mehr als einem Jahr (4 Punkte), Exraucher seit weniger als einem Jahr (3 Punkte), Gelegenheitsraucher (2 Punkte), regelmäßiger Raucher (1 Punkt) 2. Relatives Körpergewicht: Normalgewicht (5 Punkte), leichtes Übergewicht (4 Punkte), Untergewicht (3 Punkte), Übergewicht (2 Punkte), starkes Übergewicht (1 Punkt) 3. Sportliche Aktivität: mehr als 4 Stunden in der Woche (5 Punkte), 2 bis 4 Stunden in der Woche (4 Punkte), 1 bis unter 2 Stunden in der Woche (3 Punkte), weniger als 1 Stunde in der Woche (2 Punkte), keine sportliche Aktivität (1 Punkt) Hinsichtlich des relativen Körpergewichts wird Untergewicht (BMI < 20) negativer bewertet als Normalgewicht und leichtes Übergewicht, weil bekannt ist, dass Untergewicht ein erhebliches gesundheitliches Risiko in sich birgt. Der Index „Gesundheitsverhalten“ kann Werte von 3 bis 15 Punkten annehmen, wobei niedrige Werte ein negatives und hohe Werte ein positives Gesundheitsverhalten signalisieren. Basierend auf der empirischen Verteilung des Index wurde eine Differenzierung in fünf Kategorien vorgenommen, die in etwa den Quintilen entsprechen: (1) sehr positives Gesundheitsverhalten, (2) positives Gesundheitsverhalten, (3) durchschnittliches Gesundheitsverhalten, (4) negatives Gesundheitsverhalten, (5) sehr negatives Gesundheitsverhalten. Die Sozialschichtzugehörigkeit wird mittels eines additiven Index bestimmt, der sich aus den Einzelindikatoren Schul- und Berufsausbildung, Haushaltsäquivalenz-Netto-einkommen und beruflicher Status zusammensetzt. Dieser Index hat sich in vielen deutschen
136
Uwe Helmert, Friedrich Schorb
sozialepidemiologischen Studien bewährt und kann als sehr valide und reliabel angesehen werden (Helmert 2003). Es wird jeweils differenziert nach fünf Sozialschichten: Oberschicht, obere Mittelschicht, Mittelschicht, untere Mittelschicht, Unterschicht. Jede dieser Sozialschichten umfasst etwa 20% der Befragten. Auswertungsmethodik Sämtliche Auswertungen werden getrennt nach Geschlecht durchgeführt. Zunächst werden deskriptive Analysen mittels Kreuztabellen erstellt. Dabei wird der Mantel-Haenzel Chi2Trend Test (Mantel 1963) verwendet, um Aussagen über die statistische Signifikanz der Zusammenhänge treffen zu können. Nachfolgend werden unter Verwendung der multiplen logistischen Regressionanalyse multivariate Analysen erstellt. Dabei wird jeweils für die confoundierende Variable Alter kontrolliert. Bei diesen multivariaten Analysen werden getrennte Analysen zunächst für das Geschlecht und dann für die Altersgruppen 18-39 Jahre, 40-59 Jahre und 60-79 Jahre durchgeführt. Mit diesen alterspezifischen Analysen soll der Fragestellung nachgegangen werden, ob altersbezogene Unterschiede hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der Sozialschichtzugehörigkeit und dem Gesundheitsverhalten existieren. Bei den multivariaten Analysen wird hinsichtlich des Rauchverhaltens zusätzlich das Merkmal „Anteil der Exraucher an allen jemals Rauchenden“ untersucht, um zu Informationen darüber zu gelangen, ob schichtspezifische Unterschiede hinsichtlich der erfolgreichen Aufgabe des Rauchens existieren. Alle Auswertungen erfolgen unter Verwendung der in die Datensätze eingestellten Gewichtungsfaktoren, die gewährleisten, dass die Alters- und Geschlechtsverteilung der Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland entspricht (Stolzenberg 2000, Güther et al. 2002). Aufgrund fehlender Werte für die verwendeten Studienvariablen ergeben sich für die einzelnen Analysen geringfügig unterschiedliche Gesamt-N. Dies ist insbesondere von Bedeutung für das Merkmal „Sportliche Aktivität“ im GeMo, weil diese Variable nicht in allen Befragungswellen berücksichtigt wurde. 3
Ergebnisse: Deskriptive Analysen
Rauchverhalten Hinsichtlich des Rauchverhaltens ergeben sich beim GeMo für beide Geschlechter und beim BGS lediglich für die Männer statistisch signifikante Zusammenhänge mit der Sozialschichtzugehörigkeit (siehe Tab. 7.1). In beiden Surveys ist der Anteil der männlichen täglichen Raucher in der Unterschicht um mehr als das Doppelte höher als in der Oberschicht. Bei den Frauen ist von besonderem Interesse, dass in beiden Surveys der Anteil der täglichen Raucherinnen in der Oberschicht mit 16,1% deutlich niedriger ist als in den anderen vier Sozialschichten. Die Tatsache, dass bei den Frauen im BGS keine signifikanten Resultate erzielt werden, beruht in starkem Maße darauf, dass sich hier für den Anteil der Nierauchenden die höchsten Werte für die beiden niedrigsten Sozialschichten ergeben. Ein weiterer wichtiger Befund bezogen auf die Frauen im BGS ist der ausgeprägte soziale Gradient hinsichtlich der Exraucherinnen seit mehr als einem Jahr. Dieser Anteil beträgt in der Oberschicht 23,2% gegenüber lediglich 5,6% in der Unterschicht. Der Anteil der Personen, die im letzten Jahr mit dem Rauchen aufgehört hat, liegt im Mittel lediglich bei etwa bei 3%.
137
Die Bedeutung verhaltensbezogener Faktoren für gesundheitliche Ungleichheit
Tabelle 7.1: Rauchverhalten nach Geschlecht und Sozialschicht Bertelsmann-Gesundheitsmonitor 2001 bis 2005 Sozialschicht
nie
mind. 1 Jahr Nichtraucher
< 1 Jahr Nichtraucher
gelegentlich
täglich
Männer Oberschicht
607
44,4%
380
27,7%
43
3,1%
102
7,4%
237
17,3%
o. Mittelschicht
601
36,5%
461
28,0%
58
3,5%
123
7,4%
405
24,6%
Mittelschicht
274
31,6%
255
29,3%
34
3,9%
58
6,7%
248
28,5%
u. Mittelschicht
289
32,6%
225
25,4%
53
6,0%
49
5,6%
270
30,5%
Unterschicht
155
24,1%
171
26,6%
28
4,3%
46
7,2%
243
37,8%
insgesamt
1926 35,6%
1492
27,6%
216 4,0%
378
7,0%
1431
25,9%
Oberschicht
355
53,6%
127
19,1%
13
2,0%
61
9,2%
107
16,1%
o. Mittelschicht
874
53,4%
314
19,2%
45
2,7%
110
6,7%
295
18,0%
Frauen
Mittelschicht
650
49,7%
235
18,0%
54
4,1%
86
6,5%
283
21,6%
u. Mittelschicht
633
53,9%
179
15,2%
29
2,4%
61
5,2%
273
23,3%
Unterschicht
423
47,7%
137
15,5%
26
2,9%
51
5,8%
250
28,2%
insgesamt
2935 51,8%
991
17,5%
166
1207
21,3%
2,9%
368
6,5%
Mantel-Haenszel Chi2-Trend-Test: Männer p < 0.001, Frauen p < 0.001 Bundesgesundheitssurvey 1998 Sozialschicht
nie
mind. 1 Jahr Nichtraucher
< 1 Jahr Nichtraucher
gelegentlich
täglich
Männer Oberschicht
261
40,7%
194
30,2%
4
0,6%
60
9,4%
123
19,2%
o. Mittelschicht
355
37,0%
251
26,2%
22
2,3%
63
6,8%
266
27,7%
Mittelschicht
216
31,8%
183
27,1%
14
2,1%
41
6,0%
224
33,1%
u. Mittelschicht
215
31,5%
176
25,8%
16
2,4%
27
3,9%
250
36,5%
Unterschicht
106
27,1%
80
20,3%
9
2,2%
23
6,0%
174
44,4%
insgesamt
1153
34,4%
885
26,4%
65
1,9%
216
6,5%
1037
30,1%
Oberschicht
237
51,4%
107
23,2%
11
2,4%
32
6,9%
74
16,1%
o. Mittelschicht
533
53,9%
151
15,3%
22
2,2%
64
6,5%
219
22,2%
Mittelschicht
417
55,3%
100
13,2%
18
2,4%
43
5,8%
176
23,3%
u. Mittelschicht
405
57,9%
89
12,7%
6
0,9%
44
6,3%
156
22,2%
Unterschicht
397
64,1%
35
5,6%
5
0,8%
26
4,2%
156
25,2%
insgesamt
1988
56,5%
481
13,7%
62
1,8%
210
6,0%
781
22,2%
Frauen
Mantel-Haenszel Chi2-Trend-Test: Männer p < 0.001, Frauen nicht signifikant Quelle: eigene Tabelle
138
Uwe Helmert, Friedrich Schorb
Relatives Körpergewicht Die in Tab. 7.2 dokumentierten Zusammenhänge zwischen der Sozialschichtzugehörigkeit und dem relativen Körpergewicht ergeben für den GeMo für beide Geschlechter und den BGS lediglich für Frauen statistisch signifikante Resultate. Tabelle 7.2: Gewichtsverteilung nach Geschlecht und Sozialschicht Bertelsmann-Gesundheitsmonitor 2001 bis 2005 Sozialschicht
BMI < 20
BMI 20–24,9
BMI 25-26,9
BMI 27-29,9
Oberschicht
21
1,5%
500
36,4%
318
23,2%
327
23,8%
207
15,1%
o. Mittelschicht
36
2,2%
573
34,9%
369
22,5%
387
23,6%
277
16,9%
Mittelschicht
21
2,4%
287
33,3%
211
24,5%
202
23,4%
140
16,3%
u. Mittelschicht
21
2,4%
253
28,9%
197
22,5%
203
23,1%
202
23,1%
Unterschicht
14
2,3%
195
30,4%
106
16,5%
169
26,4%
157
24,5%
112
2,1%
1808
33,5%
1200
22,3%
1288
23,9%
984
18,2%
BMI 30
Männer
insgesamt Frauen
71
10,9%
329
50,1%
90
13,6%
81
12,4%
86
13,0%
125
7,7%
734
45,4%
247
15,3%
245
15,1%
265
16,4%
Mittelschicht
95
7,3%
525
40,6%
205
15,9%
208
16,1%
260
20,1%
u. Mittelschicht
91
7,7%
445
37,6%
179
15,2%
234
19,8%
234
19,8%
Unterschicht
69
7,8%
314
35,4%
120
13,5%
149
16,8%
236
26,6%
450
8,0%
2346
41,6%
841
14,9%
917
16,3%
1081
19,2%
Oberschicht o. Mittelschicht
insgesamt
Mantel-Haenszel Chi2-Trend-Test: Männer p < 0.001, Frauen p < 0.001 Bundesgesundheitssurvey 1998 Sozialschicht
BMI < 20
BMI 20–24,9
BMI 25-26,9
BMI 27-29,9
Oberschicht
1
0,1%
213
33,2%
160
24,9%
167
26,1%
101
15,8%
o. Mittelschicht
20
2,1%
304
31,7%
197
20,5%
272
28,4%
166
17,3%
Mittelschicht
10
1,4%
199
29,4%
147
21,7%
201
29,7%
120
17,8%
u. Mittelschicht
14
2,1%
210
30,9%
119
17,5%
176
26,0%
160
23,5%
Unterschicht
14
3,6%
120
30,9%
74
19,1%
95
24,5%
86
22,0%
insgesamt
58
1,8%
1046
31,3%
697
20,8%
912
27,3%
633
18,9%
Oberschicht
44
9,6%
247
53,9%
67
14,7%
55
12,0%
45
9,8%
o. Mittelschicht
63
6,4%
470
47,8%
143
14,5%
161
16,4%
147
14,9%
Mittelschicht
43
5,8%
296
39,7%
119
16,0%
114
15,3%
173
23,2%
u. Mittelschicht
40
5,8%
253
36,6%
105
15,3%
116
16,8%
176
25,5%
Unterschicht
42
6,8%
162
26,3%
71
11,6%
137
22,3%
202
33,0%
insgesamt
232
6,6%
1427
40,9%
507
14,5%
583
16,7%
744
21,3%
BMI 30
Männer
Frauen
Mantel-Haenszel Chi2-Trend-Test: Männer nicht signifikant, Frauen p < 0.001
139
Die Bedeutung verhaltensbezogener Faktoren für gesundheitliche Ungleichheit
Hinsichtlich des starken Übergewichts/Adipositas (BMI > 30) sind die sozialschichtspezifischen Unterschiede bei den Frauen deutlich stärker ausgeprägt als bei den Männern. Im GeMo weisen Frauen aus der Unterschicht in etwa zweimal häufiger eine Adipositas auf als Frauen aus der Oberschicht. Im BGS ist diese Differenzierung noch weitaus stärker. Hier sind Frauen aus der Unterschicht mehr als dreimal so häufig von einer Adipositas betroffen als Frauen aus der Oberschicht. Beim Untergewicht, das insgesamt bei den Frauen deutlich häufiger als bei den Männern festgestellt wurde, finden sich bei beiden Surveys die höchsten Werte für Frauen aus der Oberschicht. Sportliche Aktivität Bei beiden Surveys und beiden Geschlechtern sind für den Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der sportlichen Aktivität und der Sozialschichtzugehörigkeit jeweils statistisch signifikante Zusammenhänge zu konstatieren (siehe Tab. 7.3). Dabei ist auffällig, dass große sozialschichtspezifische Unterschiede für die Gruppe der sportlich Inaktiven bestehen, während nur geringfügig Unterschiede für die Personengruppe mit einer sportlichen Aktivität von mehr als 4 Stunden pro Woche festzustellen sind. Tabelle 7.3: Sportliche Aktivität nach Geschlecht und Sozialschicht Bertelsmann Gesundheitsmonitor 2001 bis 2005 Sozialschicht
> 4 Stunden pro Woche
2-4 Stunden pro Woche
1-2 Stunden pro Woche
1 Stunde pro Woche
kein Sport
Männer Oberschicht
138
13,6%
223
21,9%
219
21,5%
255
25,0%
183
18,0%
o. Mittelschicht
130
10,5%
207
16,8%
244
19,8%
277
22,5%
375
30,4%
Mittelschicht
70
10,6%
95
14,4%
154
23,4%
115
17,5%
224
34,1%
u. Mittelschicht
49
7,5%
86
13,3%
104
16,1%
119
18,3%
290
44,8%
Unterschicht
39
7,7%
61
12,2%
74
14,8%
96
19,1%
232
46,3%
insgesamt
424
10,5%
671
16,6%
795
19,6%
860
21,2%
1303
32,2%
Frauen Oberschicht
32
6,8%
123
25,9%
116
24,4%
118
24,8%
86
18,1%
o. Mittelschicht
130
10,8%
238
19,7%
286
23,7%
246
20,3%
308
25,5%
Mittelschicht
62
6,3%
182
18,5%
276
27,9%
181
18,3%
287
29,0%
u. Mittelschicht
66
7,3%
139
15,5%
232
25,7%
154
17,1%
312
34,6%
Unterschicht
36
5,3%
82
12,1%
168
24,9%
131
19,4%
260
38,4%
insgesamt
326
7,7%
764
40,8%
1078
25,4%
830
19,5%
1253
29,5%
Mantel-Haenszel Chi2-Trend-Test: Männer p < 0.001, Frauen p < 0.001 Quelle: eigene Tabelle
140
Uwe Helmert, Friedrich Schorb
Bundesgesundheitssurvey 1998 Sozialschicht
> 4 Stunden pro Woche
2-4 Stunden pro Woche
1-2 Stunden pro Woche
1 Stunde pro Woche
kein Sport
Männer 74
11,6%
109
17,0%
133
20,7%
136
21,2%
190
29,5%
109
11,4%
130
13,6%
178
18,6%
180
18,9%
360
37,6%
Mittelschicht
70
10,4%
85
12,5%
95
14,0%
105
15,6%
322
47,5%
u. Mittelschicht
56
8,2%
80
11,7%
92
13,5%
95
13,9%
360
52,8%
Unterschicht
42
10,8%
31
7,9%
45
11,4%
38
9,8%
235
60,1%
352
10,5%
435
543
16,2%
555
16,6%
1467
43,8%
Oberschicht o. Mittelschicht
insgesamt
13,0%
Frauen Oberschicht
26
5,6%
69
15,2%
133
29,2%
101
22,2%
126
27,7%
o. Mittelschicht
53
5,3%
135
13,6%
230
23,2%
172
17,4%
401
40,5%
Mittelschicht
42
5,6%
72
9,6%
166
22,0%
105
13,9%
368
48,8%
u. Mittelschicht
35
5,1%
52
7,5%
107
15,4%
105
15,1%
396
56,9%
Unterschicht
24
3,9%
37
6,0%
59
9,6%
57
9.3%
440
71,3%
insgesamt
180
5,1%
365
10,4%
695
19,8%
540
15,4%
1730
49,3%
Mantel-Haenszel Chi2-Trend-Test: Männer p2000 2 Schlagwortgruppen: („medizinische Versorgung“, „Deutschland“, „sozial*“) („health care“, „germany“, „social“)
884 Publikationen
empirische Studie Untersuchung über „Einfluss sozioökonomischer Unterschiede im Versorgungssystem“ 32 Publikationen
Quelle: eigene Abbildung
Die folgende Abbildung 8.2 zeigt die Verteilung der insgesamt gefundenen Publikationen sowie Anzahl der empirischen Studien im Zeitverlauf seit dem Jahr 2000. Dabei wurden für 2008 lediglich die Publikationen berücksichtigt, welche in der ersten Jahreshälfte publiziert wurden. Im Durchschnitt werden jährlich ca. 86 Publikationen zu dieser Thematik publiziert, dabei scheint die Zahl relativ starken Schwankungen zu unterliegen.
156
Christian Janßen, Kirstin Grosse Frie, Hanna Dinger, Lars Schiffmann, Oliver Ommen
Abbildung 8.2: Anzahl der gefundenen Publikationen zum Thema soziale Ungleichheit und medizinische bzw. gesundheitsbezogene Versorgung in Deutschland (2000 - 2008) nach Erscheinungsjahr Publikationen gesamt 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0
empirische Studien
188
120 96 80
80
68
51
50
26
3
4
2
2000
2001
2002
1
5
8
2
4
2
2003
2004
2005
2006
2007
2008
Quelle: eigene Abbildung
In der folgenden Tabelle sind die empirischen Studien nach Jahr der Publikation sortiert. Dargestellt werden Erstautor, Stichprobe, relevante abhängige und unabhängige Variablen und Studienergebnisse. Tabelle 8.1: Übersicht über das Jahr der Veröffentlichung, den Erstautor, die Stichprobe, abhängige und unabhängige Variablen sowie Ergebnis der gefundenen empirischen Studien zum Thema „Soziale Ungleichheit, medizinische und gesundheitsbezogene Versorgung in Deutschland“ (n=25) unabhängige Variablen
Jahr
Autor
Stichprobe
abhängige Variablen
Ergebnis
2008
Rückinger et al.
Weibliche Patienten (> 20 Jahre), die in einem Jahr mindestens eine ambulante Leistung in Bayern in Anspruch genommen hatten. (n = 2 223 135 Frauen)
Inanspruchnahme von Gebärmutterhalskrebsvor-sorgeuntersuchung
Durchschnittliches Haushaltseinkommen
Inanspruchnahme von Gebärmutterhalskrebsvorsorgeuntersuchung steigt mit zunehmenden Einkommen signifikant an
2008
Hofreuter et al.
Patienten (20 - 64 Jahre) nach ihrer ersten Bandscheibenoperation mit einer stationären Behandlung in einer Reha-Klinik (n = 289)
Berufliche Wiedereingliederung nach medizinischer Rehabilitation
Soziale Schicht in Anlehnung an Winkler (1998)
Die berufliche Wiedereingliederung nach einer medizinischen Rehabilitation dauert bei Patienten mit niedrigerem sozialen Status signifikant länger
2007
Schenk & Knopf
Teilnehmer des Kinderund Jugendgesundheitssurveys (KiGGS), (n = 17 641, Alter = 0–17 Jahre)
Mundgesundheitsverhalten und Frequenz der Zahnarztbesuche
Angaben der Eltern zu Schulbildung und beruflichen Qualifikation, beruflichen Stellung sowie zum Haushaltsnettoeinkommen
Ungesundes Zahnputzverhalten und Frequenz der Zahnarztbesuche sind bei Kindern mit niedrigem sozialem Status häufiger bzw. höher
2007
Lampert & Kurth
Teilnehmer des Kinderund Jugendgesundheitssurveys (KiGGS), (n = 17 641, Alter = 0–17 Jahre)
allgemeiner Gesundheitszustand, psychische und Verhaltensauffälligkeiten sowie Übergewicht
Angaben der Eltern zu Schulbildung und beruflichen Qualifikation, beruflichen Stellung sowie zum Haushaltsnettoeinkommen
Kinder und Jugendliche aus einer niedrigen Statusgruppe weisen signifikant seltener einen sehr guten Gesundheitszustand auf und sind signifikant häufiger von psychischen bzw. Verhaltensauffälligkeiten sowie Übergewicht betroffen
157
Soziale Ungleichheit und gesundheitsbezogene Versorgung 2007
Reisig et al.
Teilnehmer der MONICAStudie mit Typ 2-Diabetes (n=373)
Blutzuckerkontrolle
Sozialer Status in Anlehnung an Helmert (Helmert & Shea 1994)
Anzahl der regelmäßigen Blutzuckerkontrollen und Bemühungen um Erreichen des vom Arzt empfohlenen HbA1c-Wertes sinken mit abnehmendem sozioökonomischen Status
2007
Icks et al.
Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren mit Diabetes, deren Erstdiagnose zwischen 2000 und 2005 lag (n=1277)
Krankenhausaufenthalte nach Beginn der Krankheit
Berufliche Ausbildung der Eltern
Junge Diabetespatienten, deren Eltern eine geringere Berufsausbildung besitzen, weisen häufiger Krankenhausaufenthalte auf
2006
Mielck et al.
Teilnehmer der MONICAStudie mit Typ 2Diabetes (n=378)
Teilnahme an DiabetesTrainingskursen
Schulabschluss
Kenntnisse über Diabetes und Teilnahme an einem Diabetes-Training verringern sich mit abnehmendem Schulabschluss
2006
Brause et al.
Patienten von Anbietern von diagnostischen Herzkathetern und Koronarinterventionen SULEIKA (n=812)
Angemessenheit der Untersuchungen zu Koronarangiograghien bzw. –interventionen
Soziale Schicht in Anlehnung an Winkler (1998)
Kein signifikanter Unterschied zwischen den sozialen Schichten und der Rate der angemessenen, zweifelhaften bzw. nicht angemessenen Koronarangiographien.
2006
Icks et al.
Teilnehmer des KORASurvey 2000 mit bekanntem Typ 2Diabetes (n=149)
Indikatoren der Prozessund Ergebnisqualität (z.B. diabetespezifische Behandlungsparameter und Ergebnisindikatoren)
Sozialer Status in Anlehnung an Helmert (Mielck 2000)
Kenntnis des Begriffes HbA1C erhöht sich signifikant mit steigendem sozialen Status
2005
Altenhöner
Langzeitstudie an Herzinfarktpatienten (n=421)
Teilnahme an Rehabilitationsmaßnamen
Soziale Schicht in Anlehnung an Winkler (1998)
Patienten mit höherem sozialen Status nutzen seltener Rehabilitationsmaßnahmen
2005
Bergmann et al.
Teilnehmer des telefonischen Gesundheitssurveys 2003 (n=8318)
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
Soziale Schicht in Anlehnung an Winkler (1998)
Steigende Hausarztkontaktrate bei sinkendem Schichtindex Steigende ambulante Arztkontaktrate bei steigendem Schichtindex Zunahme der Bereitschaft zur Krebsfrüherkennung bei steigendem Schichtindex
2005
Bischof et al.
Alkoholkranke Teilnehmer einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung in Norddeutschland (n=153)
Inanspruchnahme von Hilfseinrichtungen für Alkoholkranke
Schulabschluss
Inanspruchnahme von Hilfseinrichtungen für Alkoholkranke ist nicht sozial ungleich verteilt
2005
Gutknecht
Patienten einer psychiatrischen Tagesklinik (n=48)
Behandlungsqualität
Schulabschluss
Keine Zusammenhänge zwischen Bildungsniveau und der Bewertung der Qualität der tagesklinischen Behandlung
2005
Häuser
Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (n=88)
Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen
Schichtindex aus Schulbildung, Berufsstatus und Einkommen
Soziale Schicht hat keinen prädiktiven Wert für umfangreiche Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
2005
Horch & Wirtz
Teilnehmer des telefonischen Gesundheitssurveys 2003 (n=8318)
Nutzung von Informationsangeboten zu gesundheitlichen Themen
Soziale Schicht
Häufigkeit der Informationsnutzung und Anzahl der genutzten Medien steigt mit steigender Schicht
2005
Klug et al.
Zufällig ausgewählte Frauen in Bielefeld (n = 532)
Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen und Wissen über Risikofaktoren bei Brustund Gebärmutterhalskrebs
Schulabschluss Einkommen Beschäftigungsstatus Soziale Schicht in Anlehnung an Winkler (1998)
Alter bei der ersten Mammographie sinkt bei steigender sozialer Schicht
Teilnehmer mit und ohne Diabetes aus der KORA-A Studie und den MONICA Surveys S2/S3 (n = 816)
Versorgungsqualität
Schulabschluss
Schmerzen in den Beinen beim Gehen nimmt mit abnehmender Schulbildung zu
Teilnehmer an Schuleingangsuntersuchungen in Brandenburg 2003 (n = 18.187)
Impfstatus; Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen
Erwerbstätigkeit und Schulbildung der Eltern
Teilnehmer am Bundesgesundheitssurvey 1992 (n= 4428)
Nutzung der ambulanten Behandlung
Soziale Schicht
2005
2004
2004
Mielck et al.
Ellsässer
Smythe et al.
Alter beim ersten Abstrich sinkt bei steigender sozialer Schicht Korrekte Antwortrate auf Frage nach Risikofaktoren nimmt mit sinkender sozialer Schicht ab
Dieser Zusammen hang ist stärker bei Typ-2Diabetikern als bei Nicht-Diabetikern Höhere Inanspruchnahme der U-Untersuchungen bei steigendem Sozialstatus der Eltern Kinder aus Familien mit niedrigem sozialen Status weisen einen schlechteren Impfstatus auf (Ausnahme: MMR-Impfung) Keine sozialen Unterschiede in der Nutzung der ambulanten Behandlung bei chronisch Erkrankten Anstieg der Arztbesuche bei Männern von niedriger zu höchster Sozialschicht bei nichtchronisch Erkrankten
158 2004
Christian Janßen, Kirstin Grosse Frie, Hanna Dinger, Lars Schiffmann, Oliver Ommen Westhoff et al.
Patienten mit rheumatischer Arthritis im Frühstadium (n=869)
„Out-of-Pocket” Ausgaben
Schulabschluss Erwerbstätigkeit Finanzielle Verhältnisse
Inanspruchnahme von und Ausgaben für alternative Medizin steigen mit höher Schulbildung Finanzielle Verhältnisse zeigen keinen Einfluss auf die Inanspruchnahme von alternativer Medizin Befragte mit höherer Schulbildung geben mehr „Out-of-Pocket” Ausgaben an Erwerbstätige geben mehr „Out-of-Pocket” Ausgaben an als Nicht-Erwerbstätige.
2004
Wiesemann et al.
Teilnehmer an einem Aufklärungsprogramm (n= 1175)
Bereitschaft zu persönlichern Gesundheitsausgaben
Bildung, Beruf & Einkommen
Bei den Teilnehmern am praktischen Teil stieg die Bereitschaft, Geld für Gesundheit auszugeben, mit steigendem Einkommen In der Gruppe, die nur theoretisch geschult wurde, war kein Einfluss des Einkommens zu finden.
2004
Zeeb et al.
Begleitpersonen von Kindern bei der Schuleingangsuntersuchung (n=565)
Inanspruchnahme des Gesundheitswesens, Informations- und Zufriedenheitsaspekte
Sozialindex aus Schulabschluss, Erwerbstätigkeit, Haushaltsgröße und beruflicher Ausbildungsabschluss (Jöckel et al. 1998)
Sozioökonomischer Status war nicht mit einer körperlichen Erkrankung assoziiert.
2003
Breyer et al.
Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung (n=77.033)
Individuumsbezogene Ausgaben der GKV
Einkommen
Je höher das Einkommen, desto geringer die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung
2002
Geyer et al.
Kinder bis 15 Jahre, welche über die GKV versichert waren (n=48.412)
Erkrankungsbedingte Einlieferung ins Krankenhaus
Sozioökonomischer Status nach der beruflichen Stellung des Hausvorstandes
Durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Krankenhaus steigt mit sinkendem sozioökonomischen Status Erkrankung der Atemwegsorgane wird häufiger bei niedrigerem sozioökonomischen Status diagnostiziert
2002
Karoff et al.
Kardiologische Patienten einer Rehabilitationsklinik (n=1838)
Entscheidung für eine teilstationäre oder stationäre Rehabilitation
Soziale Schicht aufgrund von beruflicher Qualifikation
Personen, die eine teilstationäre Rehabilitation präferieren, gehören einer höheren Sozialschicht an
2001
Arndt et al.
An Brustkrebs erkrankte Frauen (n=380)
Diagnose von Brustkrebs im späten Stadium
Bildung Berufsstatus (white/blue collar)
Sozioökonomische Variablen zeigten keine Zusammenhänge zur späten Brustkrebsdiagnose.
2001
Backmund et al.
Opiatabhängige Teilnehmer einer Entziehungskur (n=1070)
Erfolgreicher Abschluss der Entziehungskur
Dauer der Schulausbildung
Je länger die Schulausbildung, desto größer die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Abschlusses
2001
Icks et al.
Kinder zwischen 1 und 15 Jahre mit (n=373) und ohne Diabetes (n=783)
Aufnahmerate in Krankenhaus, Dauer des Aufenthaltes
Sozialer Status (nach der beruflichen Stellung der Eltern)
Hoher sozialer Status ging einher mit einer niedrigeren Aufnahmerate und kürzeren Dauer
2001
Steinmeyer
Erstklässler bei Schuleingang (n=1893)
Zahngesundheit
Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU)
Je höher der Anteil der HLU Empfänger, desto niedriger der Anteil der naturgesunden Erstklässler Je höher der Anteil der HLU Empfänger, desto höher der Anteil der kariösen Milchzähne Je höher der Anteil der HLU Empfänger, desto höher der Zahnfüllungsgrad
2000
2000
2000
Bergmann et al.
Hessel et al.
Von Wachter et al.
Repräsentative Befragung an werdenden und gerade gewordenen Eltern (n=5900)
Erwartungen von Eltern an die Gesundheitsberatung
Berufsausbildung und Schulabschluss
Zufällig ausgewählte 61 Jährige und Ältere (n=394)
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und Medikamenteneinnahme
Einkommen
Patienten, die für eine Bypassoperation aufgenommen wurden (n=136)
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
Schulabschluss Beruf
Mütter mit Hochschulabschluss nützen häufiger und andere Informationsquellen als Mütter mit abgeschlossener Lehre Gewünschten Themen differenzieren nach Schulund Berufsausbildung Zahl der Arztkontakte steigt bei steigendem Einkommen Einkommen zeigt keinen Einfluss die Inanspruchnahme von Hausärzten oder Medikamenteneinnahme Schulabschluss und Beruf zeigen keinen Einfluss auf eine hohe Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
159
Soziale Ungleichheit und gesundheitsbezogene Versorgung
Tabelle 8.2 gibt einen systematischen Überblick über die Studienergebnisse getrennt nach Sektoren und Bereichen. Tabelle 8.2: Einordnung der Studien nach Sektoren und Bereichen* Ambulant
Prävention
Kuration
Rückinger et al. 2008, Schenk & Knopf 2007, Lampert & Kurth 2007, Reisig et al. 2007, Mielck et al. 2006, Icks 2006, Bergmann et al. 2005, Horch & Wirtz 2005, Klug 2005, Elsässer 2004, Wiesemann 2004, Zeeb et al. 2004, Arndt 2001, Bergmann 2000 Icks 2007, Bergmann et al. 2005, Bischof 2005, Gutknecht 2005, Häuser 2005, Mielck et al. 2005, Smythe 2004, Westhoff 2004, Breyer 2003, Steinmeyer 2001, Hesse 2000
Stationär
---
n
14
Schenk & Knopf 2007, Brause 2006, Breyer 2003, Geyer 2002, Backmund 2001, Icks 2001, von Wachter 2000
18
Rehabilitation
---
Altenhöner 2005, Karoff 2003
3
n
25
10
35
* Aufgrund der Doppelnennung zweier Studien addiert sich die Gesamtzahl auf 27 Quelle: eigene Tabelle
Zunächst werden die empirischen Studien hinsichtlich der folgenden Fragestellungen unter kategorischen Gesichtspunkten analysiert. 1. 2. 3. 4.
Welche Sektoren wurden untersucht (ambulant/stationär)? Welche Bereiche wurden untersucht (Kuration/Prävention/Rehabilitation)? Welche Gruppen wurde untersucht (Patienten/Alkoholkranke/Frauen etc.) Wie viele Studien haben keinen Effekt gefunden?
Prävention / Ambulant Zusammenhänge zwischen sozialem Status und der Nutzung von Informationsquellen bzw. gesundheitsbezogenen Kenntnissen, Teilnahmequoten bzw. Verhaltensweisen fanden Bergmann et al. (2000) bei Eltern; Icks et al (2006), Mielck et al. (2006) sowie Reisig et al. (2007) bei Diabetikern, Horch & Wirtz (2005) in der Bevölkerung und Klug et al. (2005) sowie Rückinger et al. (2008) bei Frauen. Ebenso berichten Bergmann et al. (2005), Klug et al. (2005) und Elsässer (2004) eine höhere Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen bei höherem sozialen Status in der Bevölkerung, bei Frauen und Kindern. Lampert & Kurth (2007) sowie Schenk & Knopf (2007) fanden bei Kindern und Jugendlichen einen Zusammenhang zwischen niedrigem sozialem Status der Herkunftsfamilie sowie Gesundheitszustand, ungesundem Zahnputzverhalten und einer höheren Frequenz von Zahnarztbesuchen.
160
Christian Janßen, Kirstin Grosse Frie, Hanna Dinger, Lars Schiffmann, Oliver Ommen
Wiesemann findet bei den Teilnehmern eines Aufklärungsprogramms uneinheitliche Zusammenhänge zwischen Einkommen und der Bereitschaft, Geld für Gesundheit auszugeben. Zeeb et al. (2004) finden keine Zusammenhänge zwischen sozialem Status und körperlicher Erkrankung bei Begleitpersonen der Schuleingangsuntersuchung. Arndt et al. (2001) weisen nach, dass sozioökonomische Variablen keinen Zusammenhang zur späten Brustkrebsdiagnose bei Frauen zeigen. Fazit: Dass Prävention starken sozialen Effekten unterliegt, wird auch in der vorliegenden Analyse bestätigt. Allerdings weisen Arndt et al. (2001) nach, dass präventive Maßnahmen auch für alle sozialen Schichten gleichermaßen wirksam sein können. Kuration / Ambulant Die Zusammenfassung der Ergebnisse aller in diesem Feld aufgeführten Studien zeigt, dass die Inanspruchnahme der ambulanten Versorgung zum Teil sozial ungleich verteilt ist. So berichten Bergmann et al. (2005) steigende Hausarzt- sowie sinkende ambulante Arztkontaktraten bei sinkendem Schichtindex in der Bevölkerung. In der Studie wurden die Hausarztkontakte der letzten 6 Monate gemessen, sowie alle Hausarzt und Facharztkontakte der letzten 3 Monate. Breyer et al. (2003) zeigen, dass Versicherte mit geringerem Einkommen höhere Ausgaben in der GKV verursachen. Eine schlechtere Versorgungsqualität für weniger gebildete Diabetiker schlussfolgern Mielck et al. (2005) aus einer höheren Schmerzprävalenz beim Gehen. Steinmeyer (2001) findet eine schlechtere Zahngesundheit und einen höheren Zahnfüllungsgrad bei Kindern, welche Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen. Westhoff et al. (2004) finden bei Patienten mit rheumatischer Arthritis eine geringere Inanspruchnahme von alternativer Medizin bei niedrigerer Schulbildung, weisen allerdings keinen dementsprechenden Einfluss der finanziellen Verhältnisse nach. Die Autoren können ebenso zeigen, dass höhere Schulbildung zu höheren „Out of pocket“ Ausgaben führt. Keine Zusammenhänge zwischen sozialem Status und Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen finden Bischof (2005) bei Alkoholkranken, Häuser (2005) bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom, Gutknecht (2005) bei Patienten einer psychiatrischen Tagesklinik und Smythe (2004) bei chronisch Kranken. Letzterer weist jedoch bei nicht chronisch erkrankten Männern einen Anstieg der Arztbesuche bei steigender Schicht nach. Hessel et al. (2000) zeigen, dass bei älteren Menschen das Einkommen auf die Häufigkeit der Inanspruchnahme von Hausärzten oder der Medikamenteneinnahme keinen Einfluss hat. Fazit: Die vorliegenden Studien belegen zum größten Teil, dass die ambulante kurative Versorgung nicht nach sozialen Schichten differiert. Lediglich die Inanspruchnahme von ambulanter ärztlicher Versorgung, z.B. die Hausarztkontaktrate weist Unterschiede auf, die jedoch nicht direkt auf das System, sondern auf die gegebenen sozialen Unterschiede zurückzuführen sind. Die von Mielck et al. (2005) gefundene höhere Schmerzprävalenz bei sozial schwächeren Diabetikern lässt vermuten, dass das Inanspruchnahmeverhalten bzgl. der gesundheitlichen Versorgung bei der unteren Sozialstatusgruppe verbessert werden sollte. Der höhere Zahnfüllungsgrad bei Kindern aus sozial schwachen Schichten deutet darauf hin, dass hier eine ausreichende medizinische Versorgung gegeben ist, während der schlechtere Zahnstatus auf unzureichende Präventionsmaßnahmen schließen lässt.
Soziale Ungleichheit und gesundheitsbezogene Versorgung
161
Kuration / Stationär Einen Zusammenhang zwischen längerer Aufenthaltsdauer, häufigerer Einweisung und niedrigem sozialen Status bei Kindern mit Diabetes berichten Icks et al. (2001, 2007), sowie Geyer et al. (2002) bei Kindern, die über die GKV versichert waren. Backmund et al. (2001) berichteten eine geringere Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Entzugsabschlusses von Opiatabhängigen bei sinkender Dauer der Schulausbildung. Breyer et al. (2003) zeigen, dass Versicherte mit höherem Einkommen geringere Ausgaben in der GKV verursachen. Wachter et al. (2000) und Brause et al. (2006) finden keinen Zusammenhang zwischen sozialen Indikatoren und der Höhe der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen sowie der Angemessenheit der Behandlung bei herzkranken Patienten. Fazit: Die stärkere Inanspruchnahme des Versorgungssystems durch niedrigere soziale Schichten scheint teilweise auf sozial bedingte Unterschiede in der Versorgung hinzudeuten. Ob die oben beschriebenen Effekte jedoch eine Unter-, Über- oder Fehlversorgung darstellen, sollte durch weitere Studien untersucht werden. Rehabilitation / Stationär Hofreuter et al. (2008) publizierten Befunde, die belegen, dass die berufliche Wiedereingliederung nach einer medizinischen Rehabilitation bei Patienten mit niedrigerem sozialen Status signifikant länger dauert. Altenhoener (2005) konnte zeigen, dass Herzinfarktpatienten mit niedrigerem sozialen Status häufiger Rehabilitationsmaßnahmen nutzen. Karoff et al. (2002) konnten nachweisen, dass kardiologische Patienten aus höheren sozialen Schichten eine teil-stationäre Rehabilitation vorziehen. Fazit: Das Angebot der stationären Rehabilitation scheint sozial Schwächere nicht zu benachteiligen. Dass Angehörige aus höheren sozialen Schichten teil-stationäre Maßnahmen bevorzugen, ist wahrscheinlich auf ein besseres häusliches Netzwerk zurückzuführen. Ebenso ist die Tatsache, dass sozial Benachteiligte länger brauchen, um in ihren Beruf zurückzukehren, wahrscheinlich weniger auf eine schlechtere rehabilitative Versorgung als vielmehr auf unterschiedliche Arbeitsplatzunsicherheiten, Vermögensrücklagen sowie Bildung zurückzuführen ist.
4
Diskussion
Der vorliegende Beitrag untersucht die soziale Ungleichheit in der medizinischen Versorgung in Deutschland. Um den neuesten Stand der Forschung zu diesem Thema zu recherchieren, wurde eine systematische Literaturrecherche für den Zeitraum der letzten acht Jahre durchgeführt. Aufgrund dieser Vorgehensweise konnten insgesamt 32 empirische Untersuchungen gefunden werden. Der Auswahl der Schlagwörter kommt bei diesem Vorgehen eine zentrale Rolle zu. Sie sollten auf der einen Seite allgemein sein, um genügend Studien zum Thema zu finden, auf der anderen Seite jedoch spezifisch genug, um relevante von nicht relevanten Studien zu unterscheiden. Da die Literaturrecherche mit der Schlagwortgruppe „Deutschland und medizinische Versorgung und sozial*“ sowie „Germany und health care und socio“ bereits annähernd 900 Publikationen ergab, unter denen sich 32 relevante empirische Studien befanden, wurden keine weiteren Schlagworte für die vorliegende Analyse verwendet. Dieses Vorgehen stellt somit keinen Anspruch darauf, alle empirischen Studien zu diesem Thema vollständig zu erfassen. Während der Recherche fiel
162
Christian Janßen, Kirstin Grosse Frie, Hanna Dinger, Lars Schiffmann, Oliver Ommen
jedoch auf, dass eine durchaus nicht unbeträchtliche Zahl von Studien nicht durch dieses Vorgehen erfasst wird. Dieser Umstand ist u.a. durch die Entscheidung der jeweiligen Autoren für andere Schlagworte als die hier verwendeten bedingt, die dadurch entstehende Untererfassung von Studien muss bei der Interpretation der vorliegenden Ergebnisse berücksichtigt werden. Insgesamt erschien das angewandte Vorgehen jedoch als geeignet, um im Rahmen eines Buchbeitrages einen systematischen Überblick zum Stand der Forschung zu gewinnen. Durch dieses Vorgehen wurden zudem Studien zu beinahe allen Sektoren und Bereichen des medizinischen Versorgungssystems gefunden. Durch das gewählte Vorgehen konnte keine qualitative Studie zu diesem Thema gefunden werden; außer der Langzeitstudie von Altenhoener (2005) wurden ausschließlich die Ergebnisse von Querschnittstudien publiziert. Anhand der gefundenen Ergebnisse kann konstatiert werden, dass die Versorgung in Deutschland für alle sozialen Schichten auf einem relativ hohen Niveau in der Bevölkerung vorgefunden werden kann. Die Inanspruchnahme der medizinischen Versorgung vor allem in Kuration und Rehabilitation unterscheidet sich kaum nach sozialer Schicht, so dass die gesundheitlichen Unterschiede zwischen den sozialen Schichten in Deutschland nicht direkt auf eine unterschiedliche Inanspruchnahme von Behandlungen durch das Versorgungssystem zurückgeführt werden können. Dennoch trägt das derzeitige Versorgungssystem auch nicht dazu bei, die sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit zu kompensieren. So müssten vor allem in der Prävention schichtspezifischere Maßnahmen getroffen werden, um bestehende und zukünftige gesundheitliche Unterschiede zwischen den Schichten ausgleichen zu können. Die Ausgaben im deutschen Gesundheitssystem werden auch in Zukunft weiter wachsen. Die Bevölkerung wird immer älter, während gleichzeitig weniger Kinder geboren werden. Das bringt das Solidarsystem immer stärker aus der Balance, weil ältere Menschen häufig höhere Ausgaben verursachen, zugleich aber weniger in die Krankenversicherung einzahlen. Die Folge sind steigende Kosten, die ohne umfassende Strukturreformen von einer sinkenden Zahl von Erwerbstätigen getragen werden müssten. Angesichts der in den nächsten Jahren weiter steigenden Zahlen alter und pflegebedürftiger Menschen stellt nicht nur der Ausbau präventiver und ambulanter Strukturen eine zentrale Aufgabe dar; auch der Stellenwert der Pflege und Rehabilitation wird weiter zunehmen. Angesichts der notwendigen Umgestaltung des gesundheitsbezogenen Versorgungssystems und den oben genannten Befunden ist unbedingt darauf zu achten, dass die kurative und rehabilitative Versorgung weiterhin von allen sozialen Schichten in etwa gleicher Weise in Anspruch genommen werden kann. Bei der Prävention gibt es bereits jetzt empirische Evidenz für die Notwendigkeit, diesbezügliche Maßnahmen zielgruppenspezifischer auszugestalten. Ein sozial gerechtes Versorgungssystem sollte auch in Zukunft den Anspruch erheben, einen Beitrag zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit in allen Bereichen der medizinischen Versorgung beizutragen.
Literatur Altenhöner T, Leppin A, Grande G, Romppel M (2005). Social inequality in patients` physical and psychological state and participation in rehabilitation after myocardial infarction in Germany. Int J Rehab Res 28: 251-7.
Soziale Ungleichheit und gesundheitsbezogene Versorgung
163
Arndt V, Stürmer T, Stegmaier C, Ziegler H, Dhom G, Brenner H (2001). Socio-demographic factors, health behavior and late-stage diagnosis of breast cancer in Germany: a population-based study. J Clinical Epidemiol 54: 719-27. Babitsch B (2005). Soziale Ungleichheit, Geschlecht und Gesundheit. Bern: Huber. Backmund M, Meyer K, Eichenlaub D, Schütz CG (2001). Predictors for completing an inpatient detoxification program among intravenous heroin users, methadone substituted and codeine substituted patients. Drug Alcohol Dep 64: 173-80. Bergmann E, Kalcklösch M, Tiemann F (2005). Inanspruchnahme des Gesundheitswesens. Bundesgesundheitsbl- Gesundheitsforsch- Gesundheitsschutz 48: 1365-73 Bergmann RL, Kamtsiuris P, Bergmann KE, Huber M, Dudenhausen JW (2000). Kompetente Elternschaft: Erwartungen von jungen Eltern an die Beratung in der Schwangerschaft und an die Entbindung. Z Geburtsh Neonatol 204: 60-67. Bernstein B (1972). Studien zur sprachlichen Sozialisation. Düsseldorf: Schwann. Beske F, Bechtel H, Hallauer JF (2004). Das Gesundheitswesen in Deutschland, Köln: Deutscher Ärzte-Verlag. Bischof G, Rumpf HJ, Meyer C, Hapke U, John U (2005). Influence of psychiatric comorbidity in alcohol-dependent subjects in a representative population survey on treatment utilization and natural recovery. Addiction 100: 405-13. Bortz J, Döring N (1995): Forschungsmethoden und Evaluation. Berlin: Springer Brause M, Grande G, Mannebach H, Badura B (2006). Der Einfluss sozialer und struktureller Faktoren auf die Angemessenheit invasiver kardiologischer Prozeduren. Med Klin 101: 226-34. Breyer F, Heineck M, Lorenz N (2003). Determinants of health care utilization by German sickness fund members- with application to risk adjustment. Health Economics 12: 367-76. Bundesvereinigung Deutscher Apotheker Verbände, Jahresbericht 2004/2005: http://www.abda-online.org/ Ellsässer G (2004). Impfprävention im Kinder- und Jugendalter. Hindernisse und Beispiele wirksamer Massnahmen im Land Brandenburg. Bundesgesundheitsbl- Gesundheitsforsch- Gesundheitsschutz 47: 1196-203. Geling O, Janßen C, Lüschen G. (1996): Alter, Gesundheitsstatus und die Inanspruchnahme von Allgemein und Fachärzten. Soz Prävmed 41, 36-46 Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz) (2003): Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 55. Geyer S, Peter R, Siegrist J (2002). Socioeconomic differences in children´s and adolescents´hospital admissions in Germany: a report based on health insurance data on selected diagnostic categories. J Epidemiol Community Health 56: 109-14. Gutknecht H (2005). Die Bewertung tagesklinischer Behandlung durch die Patienten – Aspekte der Behandlungserfahrungen und erlebte Veränderungen. Psychatrische Praxis 32: 342-8. Häuser W (2005). Das Fibromyalgiesyndrom in der Sozialgerichtsbarkeit- psychosoziale Risikofaktoren und Prädiktoren der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Psychother Psych Med 55: 72-8. Helmert U, Shea S (1994). Social inequalities and health status in Western Germany. Public Health 108: 341-56. Hessel A, Gunzelmann T, Geyer M, Brähler E (2000). Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und Medikamenteneinnahme bei über 60jährigen in Deutschland. Z Gerontol Geriat 33: 289299. Hofreuter K, Koch O, Morfeld M (2008). Die Bedeutung sozialer Ungleichheit für die berufliche Wiedereingliederung von chronischen Rückenschmerzpatienten nach medizinischer Rehabilitation. Gesundheitswesen 70: 145-153. Horch K, Wirz J (2005). Nutzung von Gesundheitsinformationen. Bundesgesundheitsbl- Gesundheitsforsch- Gesundheitsschutz 48: 1250-5.
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Soziales Kapital, soziale Ungleichheit und Gesundheit
Johannes Siegrist, Nico Dragano, Olaf von dem Knesebeck
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Einleitung
Der prägende Einfluss sozialer Ungleichheit auf Lebensqualität und Gesundheit wird nicht vollständig sichtbar, wenn Ungleichheit ausschließlich auf der Individualebene sozialer Statusmerkmale von Personen untersucht wird. Vielmehr bedarf es einer Ausweitung der Analyse auf makrosoziale Kontexte, in denen individuelle Statusdifferenzierungen ihre Wirkung entfalten. Der Terminus „soziales Kapital“ bezeichnet einen solchen makrosozialen Kontext. In diesem Kapitel wird das Zusammenspiel von sozialem Kapital, sozialer Ungleichheit und Gesundheit untersucht. Dabei ist es unerlässlich, einleitend zu klären, was wir eigentlich meinen, wenn wir den Begriff „Gesellschaft“ verwenden. Was wir „Gesellschaft“ nennen, ist das Produkt der sozialen Evolution des Menschen. Zu ihren Konstruktionsprinzipien gehören Normen, welche Solidarität, Kooperation und Kontinuität zwischenmenschlicher Beziehungen sichern, ebenso wie rollenbezogene und arbeitsteilige Spezialisierungen. Schließlich geben Prozesse der Machtbildung und der sozialen Differenzierung im Verein mit der Entwicklung von Produktionsmitteln der sozialen Evolution die ihr eigene Dynamik, als deren Ergebnis wir die „modernen“ Gesellschaften betrachten. Obwohl sich die Qualität der Solidarität, Kooperation und Kontinuität sichernden Normen mit dem Wandel der Sozialstrukturen weitreichend verändert hat, sind zumindest einige zentrale „evolutionär stabile“ Elemente erhalten geblieben. Zu ihnen zählen die Fähigkeit und Bereitschaft zu prosozialem Handeln (d.h. Handeln, das nicht primär vom Prinzip subjektiver Nutzenoptimierung geleitet wird) und die Befolgung der Norm sozialer Reziprozität. Diese Norm besagt, dass eine Person A, welche einer Person B eine für diese nützliche Leistung erbringt, erwarten kann, hierfür von B eine äquivalente Gegenleistung zu erhalten. Die Geltung von Normen prosozialen und reziproken Handelns bildet eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung und Verbreitung von Vertrauen in sozialen Beziehungen. Darüber hinaus bereiten diese Normen ein Fundament für die Herausbildung kollektiver Ziele, welche durch das gemeinsame Engagement von Gruppenmitgliedern angestrebt und realisiert werden. In der soziologischen Terminologie werden zwei Begriffe verwendet, um die beschriebenen Sachverhalte zusammenfassend zu charakterisieren: „soziale Kohäsion“ und „soziales Kapital“. Soziale Kohäsion bezeichnet eine bestimmte Qualität und Dichte zwischenmenschlicher Beziehungen in überschaubaren sozial-räumlichen Einheiten (z.B. Wohnviertel, Region), die durch gemeinsam getragene Werte und Normen (Hilfsbereitschaft, wechselseitiges Vertrauen, Verfolgen kollektiver Ziele) gekennzeichnet ist (Durkheim 1973). Mit dem Begriff des sozialen Kapitals wird ein zentrales Element sozialer Kohäsion in den Vordergrund gestellt: Vertrauensvolle Beziehungen stellen in
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Johannes Siegrist, Nico Dragano, Olaf von dem Knesebeck
ihrer Summe eine Ressource, eine Art Kapitalstock dar, in den Mitglieder einer Gruppe gemeinsam investieren, um von seinem Ertrag in Zukunft profitieren zu können. Gemeinsam ist diesen beiden Begriffen, dass sie die Qualität eines Systems sozialer Beziehungen und nicht die Qualität individueller Merkmale von Akteuren beschreiben. Es handelt sich, mit anderen Worten, um einen von Emile Durkheim so bezeichneten sozialen Tatbestand, d.h. ein gesellschaftliches Kontextmerkmal (Durkheim 1976). Dies wirft weit reichende Fragen einer adäquaten Messung auf (s.u.). Gemeinsam ist den beiden Begriffen ferner, dass sie, jeweils kurz nach ihrer Einführung in den wissenschaftlichen Diskurs, als erklärende Konstrukte zur Beantwortung der Frage herangezogen wurden, auf welche Weise das gesellschaftliche Leben die Gesundheit ganzer Bevölkerungsgruppen beeinflussen kann. Emile Durkheim, in dieser Hinsicht der Gründungsvater der Spezialdisziplin der Medizinsoziologie, hat als erster den Zusammenhang zwischen dem Grad der Kohäsion einer Gesellschaft und der in ihr beobachteten Suizidhäufigkeit analysiert (Durkheim 1973). Und kurze Zeit, nachdem Pierre Bourdieu (1986), James Coleman (1990) und Robert Putnam (1993) den Terminus „soziales Kapital“ in die soziologische bzw. politologische Debatte eingeführt hatten, wurde er von einer sozialepidemiologischen Forschergruppe um Ichiro Kawachi benutzt, um regionale Morbiditäts- und Mortalitätsunterschiede in der amerikanischen Bevölkerung aufzuklären (Kawachi et al. 1997). Nachfolgend wird zunächst ein kurzer Überblick über Ergebnisse aus sozialepidemiologischen Studien zum Zusammenhang zwischen sozialem Kapital und Gesundheit gegeben. Dabei wird einerseits auf Probleme der Messung des Konstrukts „soziales Kapital“ eingegangen, zum anderen werden Beziehungen zwischen sozialer Ungleichheit, sozialem Kapital und Gesundheit thematisiert. In diesem Zusammenhang werden sodann erste empirische Ergebnisse aus eigenen Analysen zu der Thematik vorgestellt. Abschließend sollen offene Fragen des aktuellen Forschungsstands – und damit Desiderate zukünftiger Forschung – diskutiert werden.
2
Methodische und empirische Aspekte der Forschung
Bereits bei den Urhebern des Begriffs „soziales Kapital“ bestand eine gewisse Differenz der Betrachtung. Während Robert Putnam den Terminus als kollektives Merkmal (im Sinne eines kollektiven Gutes) interpretierte, das beispielsweise der Aufklärung wirtschaftlicher Erfolge einer Region oder des guten Funktionierens demokratischer Strukturen dient (Putnam 1993), legten Coleman und Bourdieu den Akzent auf die Ebene der Auswirkungen, die von dem sozialstrukturellen Merkmal „soziales Kapital“ (im Sinne eines „Pools“ von Ressourcen) auf individuelle Erfahrungen und Handlungen ausgehen (Coleman 1990, Bourdieu 1986, siehe auch Portes 2000, Baum et al. 2003). Auf der Ebene der Operationalisierung bestehen allerdings fließende Übergänge zwischen beiden Akzentuierungen, da in der Regel auch auf der Kontextebene Individualmerkmale (wenn auch aggregiert) zur Messung herangezogen werden. Man kann sich die Vorgehensweise bei der Operationalisierung von sozialem Kapital am besten vergegenwärtigen, wenn man die Messung sozialer Ungleichheit auf Aggregatebene zum Vergleich heranzieht. Ähnlich wie bei der Bildung des Townsend- oder des Carstairs-Index sozialer Ungleichheit – d.h. einer Maßzahl zur Beschreibung sozialer Benachteiligung anhand ausgewählter Wohndistriktmerkmale – wird der Anteil von Personen
Soziales Kapital, soziale Ungleichheit und Gesundheit
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einer umschriebenen Region (z.B. eines Wohnbezirks) festgelegt, die durch ein bestimmtes Merkmal (z.B. Arbeitslosigkeit) gekennzeichnet sind. Die quantitative Ausprägung dieses Anteils wird sodann als Kontextmerkmal in die Zusammenhangsanalyse (z.B. mit Gesundheitsindikatoren) eingeführt. Indikatoren des sozialen Kapitals sind beispielsweise der Anteil Alleinlebender in einer Region, der Anteil der freiwilligen Vereinigungen zugehörigen Personen oder der Anteil der an gemeinnützigen Einrichtungen partizipierenden Personen. Ein weiterer Messansatz zielt darauf ab, Indikatoren „kollektiver Wirksamkeit“ des Zusammenlebens in Nachbarschaften zu entwickeln, die es gestatten, den Geltungsgrad von Normen wechselseitiger Hilfe und sozialer Kontrolle anhand von Beobachtungs- und aggregierten Befragungsdaten zu erfassen (Raudenbush 2003, Sampson 2003). Häufig wird soziales Kapital anhand der Antworten auf standardisierte Fragen nach dem Ausmaß des wahrgenommenen Vertrauens, der wahrgenommenen Hilfsbereitschaft und dem Grad beobachteter Fairness im Zusammenleben von Menschen einer Region erhoben und ein entsprechender Index wird als Ausprägungsgrad sozialen Kapitals gebildet. Ein entsprechendes Beispiel stellt Putnams „Index of Civic Community“ dar, der aus drei Indikatoren gebildet wird (Putnam 1993): 1. dem Ausmaß sozialer Netzwerkbildung in sekundären Gruppen, d.h. in Vereinen und freiwilligen Zusammenschlüssen, 2. der Einschätzung eines Klimas des Vertrauens innerhalb der Wohnregion, 3. der eingeschätzten Geltung von Normen und Werten gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Fairness. Welche Beziehungen zwischen dem auf diese Weise operationalisierten sozialen Kapital und Gesundheit sind nun durch die neuere sozialepidemiologische Forschung festgestellt worden, und welche Bedeutung kommt dabei dem Einfluss sozialer Ungleichheit auf die Gesundheit zu? In der bereits erwähnten Publikation analysierten Kawachi und Mitarbeiter den Zusammenhang von sozialem Kapital und Mortalität auf der Ebene von Bundesstaaten der USA (Kawachi et al. 1997). Sie zeigten, dass jeder der drei Indikatoren Putnams, aus Umfrageergebnissen ermittelt und auf die Ebene von Bundesstaaten aggregiert, mit der altersstandardisierten Mortalitätsrate pro Bundesstaat korrelierte. Die Korrelationskoeffizienten waren substanziell, sie lagen zwischen 0.49 und 0.79. Weitere Studien bestätigten diesen Zusammenhang für Gesamtmortalität (Kennelly et al. 2003, Skrabski et al. 2004, Veenstra 2002), für Homizide und Suizide (Kennedy et al. 1998), für die Häufigkeit von Tuberkulose (Holtgrave et al. 2004) und für selbst eingeschätzte Gesundheit (Kawachi et al. 1999). Allerdings darf man die methodischen Schwächen dieser Studien nicht unterschätzen, die insbesondere angesichts der Gefahr der Fehlinterpretation ökologischer Korrelationen und angesichts unvollständiger Anwendung von Mehrebenenanalysen gegeben sind (Subramanian et al. 2003). Diese Gefahr besagt, dass ein Zusammenhang, welcher auf der Ebene eines Kollektivs sichtbar wird, interpretiert wird, als ob er für die einzelnen Mitglieder dieses Kollektivs ebenso gelten würde. Macinko und Starfield (2001) haben argumentiert, dass es beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Forschung durchaus gerechtfertigt erscheint, explorativ die drei Ebenen der Wirkung von sozialem Kapital auf Gesundheit sowohl getrennt als auch in Kombination (unter Verwendung von Mehrebenenanalysen) zu untersuchen: die Makroebene der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die Mesoebene der Vergesellschaftungsqualität innerhalb von Wohnbezirken, und die Mikroebene individueller Handlungen und Einstellungen, welche erfahrenes soziales Kapital widerspiegeln. So wurden vereinzelt epidemiologische Studien durchgeführt, die Angaben zu sozialem Kapital auf Individualdatenebene mit Gesundheit in Beziehung setzten, teilweise unter Verwendung von Mehrebe-
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Johannes Siegrist, Nico Dragano, Olaf von dem Knesebeck
nenanalysen (Veenstra 2000, Subramanian et al. 2002, Lindström 2004, Pollack and Knesebeck 2004, Knesebeck et al. 2005). Ihre besondere Aktualität erhalten die Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen sozialem Kapital (kontextuell oder individuell gemessen) und Gesundheit durch Einbeziehung der Dimension sozialstruktureller Ungleichheiten von Lebenslagen. Hierbei sind zwei Konstrukte bedeutsam: „Einkommensdisparität“ und „strukturelle Benachteiligung“. Die Einkommensdisparität gibt als Kontextmerkmal das Ausmaß ungleicher Einkommensverteilung in einer Bevölkerung an, gemessen z.B. anhand des Gini-Koeffizienten. Hierbei nimmt der Koeffizient Werte zwischen 0 und 1, wobei 0 den hypothetischen Zustand gleicher Verteilung und 1 den hypothetischen Zustand maximaler Einkommenskonzentration an der Pyramidenspitze ausdrückt. Als strukturelle Benachteiligung („structural or aggregate deprivation“) werden materielle Bedingungen einer deutlichen Schlechterstellung einer Bevölkerungsgruppe bezüglich wichtiger Güter und Leistungen bezeichnet. Ein besonders sichtbares und häufiges Beispiel struktureller Benachteiligung stellt eine aus finanzieller Zwangslage resultierende Wohnsituation von Familien in einem „sozialen Brennpunkt“ oder „Elendsviertel“ dar.
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Soziales Kapital, Einkommensdisparität und Gesundheit
Eine intensive Kontroverse hat die genannte Arbeit von Kawachi et al. (1997) dadurch ausgelöst, dass eine zusätzlich durchgeführte Pfadanalyse, in welche Daten zur Einkommensdisparität einbezogen wurden, das Ergebnis erbrachte, dass bei Berücksichtigung des Einflusses von sozialem Kapital auf das Mortalitätsrisiko der – als gut gesichert angenommene – Effekt der Einkommensdisparität auf die Mortalität nivelliert wurde. Die Autoren interpretierten dieses Ergebnis dahingehend, dass es weniger die materiellen Bedingungen einer durch starke Einkommensungleichheit gekennzeichneten Gesellschaft seien, welche die Sterblichkeit beeinflussen, als vielmehr die im Konstrukt eines schwachen sozialen Kapitals gebündelten, bei ausgeprägter Einkommensdisparität bei den Benachteiligten besonders belastungsreichen Kränkungserfahrungen infolge ungünstiger sozialer Vergleichsprozesse, infolge ungerechter oder unfairer Behandlung, die bis hin zu Stigmatisierung und sozialem Ausschluss reichen kann. Dieser sozialpsychologischen Interpretation (siehe auch Marmot and Wilkinson 2001) setzten John Lynch und Kollegen eine „neo-materialistische“ Interpretation entgegen, wonach Menschen, die in benachteiligten Regionen einer Gesellschaft leben, welche durch hohe Einkommensdisparität gekennzeichnet ist, einem Zerfall öffentlicher Infrastruktur ausgesetzt sind. Wenn Reich und Arm sich auseinanderentwickeln, so lautet die These, wird die Qualität öffentlicher Schulen, öffentlichen Verkehrs, öffentlicher Erholungsstätten usw. für die Mehrheit schlechter und schlechter. Materielle und nicht vielmehr psychosoziale Einflüsse vermitteln nach dieser These den Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Sterberisiko (Lynch et al. 2000, Muntaner et al. 2001, vgl. auch Siegrist 2002). Inzwischen mehren sich Stimmen, die bezweifeln, dass Einkommensdisparität einen eigenständigen, d.h. kontextuellen Einfluss auf Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken von Populationen ausübt, wenn nur genügend valide und differenzierte Informationen über die der Berechnung zugrundeliegenden Individualeinkommen verfügbar sind (Judge 1995,
Soziales Kapital, soziale Ungleichheit und Gesundheit
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zusammenfassend Mackenbach 2002, vgl. aber den umfangreichen Artikel von Wilkinson und Pickett 2008). Angesichts dieses Kenntnisstandes ist es möglicherweise aufschlussreicher, den Zusammenhang von sozialem Kapital, struktureller Benachteiligung und Gesundheit zu untersuchen.
4
Soziales Kapital, strukturelle Benachteiligung und Gesundheit
Diesen Zusammenhang zwischen struktureller Benachteiligung einer Wohnregion, der Qualität des bei ihren Einwohnern vorfindbaren sozialen Kapitals und ihrem Gesundheitszustand können wir am besten verstehen, wenn wir Erkenntnisse aus neueren soziologischen Studien zur Nachbarschaft heranziehen. Nachbarschaft umfasst die sozialen Beziehungen von Bewohnern einer Region, die in überschaubarer räumlicher Nähe leben und in gewissem Umfang an gleichen Einrichtungen (Geschäfte, Schulen etc.) partizipieren. Selbst in mobilen, durch technische Medien und Automobil von den Zwängen räumlicher Nähe befreiten Gesellschaften besteht die sozialräumliche Institution „Nachbarschaft“ weiterhin, und sei es nur in dramatischen Fällen von Krisenintervention und kollektiver Gefahrenabwehr oder in subtileren Fällen sozialer Kontrolle und sozialer Vergleichsprozesse (Kawachi & Berkman 2003). Wie das in Nachbarschaftsbeziehungen gespeicherte, mobilisierbare soziale Kapital durch strukturelle Benachteiligung geschwächt oder sogar zerstört werden kann und dadurch auch seine gesundheitsfördernde Wirkung verliert, lässt sich anhand neuer Ergebnisse der „neighbourhood“-Soziologie aufzeigen. Danach schwächen Subsistenzzwänge der sozioökonomisch benachteiligten Bewohner von Nachbarschaften die Bereitschaft und Befähigung zu sozialer Partizipation und zur Entwicklung vertrauensvoller Beziehungen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass zentrale Indikatoren zur Messung struktureller Benachteiligung bereits einen hohen Grad fehlender sozialer Integration widerspiegeln. So beinhalten die meisten auf Zensusdaten basierenden Deprivationsindizes Angaben wie „Anteil Alleinlebender“, „Anteil Arbeitsloser“, „Anteil arbeitsloser Jugendlicher“, „Anteil von Kindern mit einem Elternteil“ (Kawachi & Berkman 2003, Gordon 2003). Dies bedeutet, dass die strukturellen Voraussetzungen der Entwicklung von sozialem Kapital oft nur in rudimentärem Umfang gegeben sind. Nimmt man die hohe zeitliche Instabilität der Wohnverhältnisse hinzu, beispielsweise infolge von Familientrennung, Migration oder unfreiwilliger Mobilität, so wird diese Beobachtung weiter unterstrichen. Aber selbst dort, wo innerhalb von Primärgruppen deprivierter Nachbarschaften intensive soziale Interaktionen stattfinden, tragen diese kaum zur Bildung sozialen Kapitals bei. Dies haben die überzeugenden Analysen Robert J. Sampsons und seiner Arbeitsgruppe zum Zusammenhang zwischen Nachbarschaftsmerkmalen und Kriminalität nachgewiesen (Sampson 2003). Danach stellt die Existenz sozialer Bindungen zwischen benachbarten Anwohnern allein keine hinreichende Bedingung dar, soziales Kapital zu entwickeln. Entscheidend ist vielmehr die Fähigkeit zu kollektiver Wirksamkeit. Darunter wird die Fähigkeit von Anwohnern verstanden, gemeinsame Überzeugungen und eine konsensfähige Willensbildung bezüglich spezifischer Aufgaben zu entwickeln (z.B. erhöhte Sicherheit und soziale Kontrolle in der Nachbarschaft; Kampf gegen Verschmutzung oder infrastrukturelle Benachteiligung). Die Herstellung kollektiver Wirksamkeit gelingt erst dann, wenn lokale Kontaktmuster ausgeweitet werden und Anschluss an kommunale oder regionale Netzwerke finden.
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Johannes Siegrist, Nico Dragano, Olaf von dem Knesebeck
Entsprechende motivationale Fähigkeiten fehlen häufig bei sozial benachteiligten Gruppen, vor allem aufgrund fehlender Kontrollüberzeugung und fehlender Zukunftsorientierung. Die US-amerikanische Studie zur Variation von Kriminalitätsraten nach Nachbarschaftsmerkmalen hat gezeigt, dass kollektive Wirksamkeit auch nach statistischer Kontrolle des Einflusses struktureller Benachteiligung sowie individueller Merkmale des sozialen Status mit einer signifikant niedrigeren Kriminalitätsrate einhergeht (Sampson 2003). Besonders ausgeprägt war der Zusammenhang im Fall von Gewaltverbrechen. So führte eine Erhöhung des Summenwerts kollektiver Wirksamkeit um zwei Standardabweichungen – rein rechnerisch – zu einer Reduktion der Homizidrate um 26 Prozent. Obwohl entsprechende Analysen mit Gesundheitsindikatoren u.W. bisher nicht vorliegen, zeigt diese Forschung doch einen vielversprechenden Ansatz auf, das Bedingungsgefüge von sozialer Ungleichheit, sozialem Kapital und Gesundheitszustand lokaler Bevölkerungsgruppen besser zu verstehen. Zusammenfassend können die beiden oben gestellten Fragen nach dem Zusammenhang von sozialem Kapital und Gesundheit und nach der Rolle sozialer Ungleichheit in diesem Prozess wie folgt beantwortet werden: Erstens besteht eine gewisse Evidenz dahingehend, dass soziales Kapital, als Kontextmerkmal gemessen, mit dem Ausmaß einzelner Indikatoren von Morbidität und Mortalität assoziiert ist. Dies gilt auch für Studien, in denen Indikatoren sozialen Kapitals auf Individualdatenebene erhoben wurden. Allerdings ist angesichts der Inkonsistenz der Befunde, angesichts häufig verwendeter Querschnittdesigns und angesichts oft inadäquater statistischer Verfahren (fehlende Anwendung von Mehrebenenanalysen) bei der Bewertung des aktuellen Wissensstandes Vorsicht geboten. Zweitens zeigt sich, dass die sozialstrukturelle Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen in deprivierten Wohnregionen über ihren direkten Einfluss auf Morbidität und Mortalität hinaus einen indirekten Einfluss ausübt, der über die Schwächung des protektiven Faktors „soziales Kapital“ den Gesundheitszustand der entsprechenden Population weiter zu verschlechtern vermag. Einen aussichtsreichen Ansatz zur weiteren Klärung dieses Zusammenhangs stellt das in der kriminalsoziologischen Forschung entwickelte Konzept der kollektiven Wirksamkeit dar. Es ist deutlich geworden, dass trotz einer unbestreitbaren „Konjunktur“ des Forschungsthemas ein weitreichender konzeptueller und methodischer Klärungsbedarf besteht. Auf einige Desiderate zukünftiger wissenschaftlicher Arbeit geht der letzte Abschnitt des Kapitels ein. Zuvor stellt sich jedoch angesichts der Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl bisheriger Studien in den USA durchgeführt wurde, die Frage, wie relevant dieses Gebiet sozialepidemiologischer Forschung für Europa, und speziell für Deutschland ist.
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Relevanz der Forschung für Europa?
Erst wenige Studien zur Messung von sozialem Kapital und seiner Beziehung zu Gesundheit liegen aus europäischen Ländern vor. Angesichts deutlicher sozioökonomischer, soziokultureller und ethnischer Unterschiede zwischen amerikanischen und europäischen Bevölkerungsgruppen und angesichts unterschiedlicher wirtschaftlicher und geographischer Rahmenbedingungen von Besiedlungsmustern und Nachbarschaftsformen erhebt sich die Frage der Übertragbarkeit der in US-amerikanischen Studien erzielten Befunde auf europäische Länder. In diesem Abschnitt sollen daher zwei Beispiele aktueller europäischer For-
Soziales Kapital, soziale Ungleichheit und Gesundheit
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schung der Autoren vorgestellt und diskutiert werden, die zu zwei wichtigen Teilaspekten neue Ergebnisse beisteuern, erstens zur Frage eines Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit (hier gemessen anhand des Sozialstatusmerkmals „Bildungsabschluss“) und sozialem Kapital, und zweitens zur Ausprägung eines wichtigen Indikators sozialen Kapitals, dem Grad des Vertrauens in die nachbarschaftliche Umgebung, nach Merkmalen struktureller Benachteiligung. Die erste Studie bezieht sich auf vergleichende Auswertungen von Daten des European Social Survey aus 22 europäischen Ländern, während aus der zweiten Studie erste, als vorläufig zu betrachtende Analysen von Daten einer prospektiven bevölkerungsepidemiologischen Untersuchung in Deutschland dargestellt werden. Zur exemplarischen Veranschaulichung der ersten Frage sollen im Folgenden eigene Analysen zum Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und sozialem Kapital in verschiedenen europäischen Ländern anhand des European Social Survey dargestellt werden (Jowell & Central Co-ordinating Team 2003).1 Aus 22 Ländern liegen Daten aus persönlichen Interviews vor, die auf Wahrscheinlichkeitsauswahlen von Personen im Alter von 15 Jahren und älter basieren. Als Ungleichheitsindikator wird der Bildungsabschluss anhand der International Standard Classification of Education (ISCED-97) verwendet. Bei dieser Klassifikation wird der höchste Bildungsabschluss auf einer 7-Punkt-Skala von „kein Abschluss“ bis „Tertiärbereich“ (entspricht Fachhochschul- und Universitätsabschluss) verortet. Für die Analysen wurde die Variable dichotomisiert, indem die unteren drei und die oberen vier Skalenwerte jeweils zusammengefasst wurden. Darüber hinaus wurden die insgesamt etwa 42.000 Fälle reduziert, indem ausschließlich Personen berücksichtigt wurden, die über 25 Jahre alt sind. Aus dieser Vorgehensweise, die gewählt wurde, um Personen, deren Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist, zu minimieren, ergibt sich eine Fallzahl von insgesamt etwa 35.000. Zur Erfassung sozialen Kapitals werden zwei Indikatoren herangezogen, die in der einschlägigen Forschung weit verbreitet sind – die Wahrnehmung sozialen Vertrauens und Aktivitäten in freiwilligen Vereinigungen. Soziales Vertrauen wird im European Social Survey durch drei Fragen gemessen: 1.) „Glauben Sie, dass man den meisten Menschen vertrauen kann, oder dass man im Umgang mit anderen Menschen nicht vorsichtig genug sein kann? Bitte sagen Sie mir es anhand dieser Skala von 0 bis 10. 0 bedeutet, dass man nicht vorsichtig genug sein kann, und 10 bedeutet, dass man den meisten Menschen vertrauen kann.“ 2.) „Glauben Sie, dass die meisten Menschen versuchen Sie auszunutzen, wenn Sie die Gelegenheit dazu haben, oder versuchen die meisten Menschen sich fair zu verhalten?“ 3.) „Und glauben Sie, dass die Menschen meistens auf den eigenen Vorteil bedacht sind?“ Zur Beantwortung werden jeweils bipolare 11-Punkt Skalen verwendet. Die drei Fragen wurden für die Analysen in einem Index für soziales Vertrauen zusammengefasst (Cronbach“s Alpha 0,77). In den folgenden Analysen werden Personen, die in ihrem Land einen Wert im oberen Tertil erreichen mit solchen verglichen, die niedrigere Werte aufweisen. Abb. 9.1 zeigt, dass der Anteil derjenigen, die einen vergleichsweise hohen Wert für soziales Vertrauen aufweisen in fast allen Ländern bei Personen mit hoher Bildung größer ist, als bei Personen mit niedriger Bildung (Ausnahme ist Finnland). So beträgt dieser Anteil in Belgien 37,2% bei Personen mit hoher Bildung und 26,6% bei Personen mit niedriger Bildung. Der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialem Vertrauen ist in 15 der 22 analysierten Länder signifikant. 1
Für weitere Informationen siehe: http://www.europeansocialsurvey.org/
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Abbildung 9.1: Bildung (ISCED-97) und soziales Vertrauen (oberes Tertil) in 22 Ländern (Angaben in %) Belgien Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Großbritannien Irland Israel Italien Luxemburg Niederlande Norwegen Österreich Polen Portugal Schweden Schweiz Slowenien Spanien Tschechien Ungarn 0
5
10
15
20
niedrige Bildung
25
30
35
40
45
hohe Bildung
Quelle: eigene Abbildung
Als zweiter Indikator für soziales Kapital werden Aktivitäten in freiwilligen Organisationen analysiert. Dieser Indikator wurde erfasst durch Fragen nach der Mitgliedschaft, nach der Teilnahme an Aktivitäten und nach ehrenamtlichem Engagement in Vereinen, Verbänden und anderen Organisationen in den letzten 12 Monaten (v.a. Sportvereine, Freizeitorganisationen, Fördervereine, kirchliche oder politische Organisationen). In den folgenden Analysen werden Personen mit Aktivitäten, Mitgliedschaft oder Engagement in mindestens einer Organisation mit jenen verglichen, die keine Organisation genannt haben. Die Analysen beziehen sich auf 20 Länder, da diese Fragen in der Schweiz und in der Tschechischen Republik nicht gestellt wurden. Wie Abb. 9.2 zu entnehmen ist, bestehen große Unterschiede hinsichtlich der Partizipation in freiwilligen Organisationen zwischen den analysierten Ländern (Knesebeck et al. 2005). In Schweden sind fast 95% der Befragten in mindestens einer freiwilligen Organisa-
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Soziales Kapital, soziale Ungleichheit und Gesundheit
tion involviert; in Griechenland und Polen sind es nur etwas über 25%. Darüber hinaus zeigt sich, dass der Anteil derjenigen, die in mindestens einer freiwilligen Organisation aktiv sind, in allen Ländern bei Personen mit hoher Bildung größer ist als bei Personen mit niedriger Bildung. So beträgt dieser Anteil in Ungarn bei Befragten mit hoher Bildung 75,3% und bei Befragten mit niedriger Bildung 52,1%. Der Zusammenhang erweist sich in allen Ländern als signifikant. Abbildung 9.2: Bildung (ISCED-97) und freiwilliges Engagement in mindestens einer Organisation in 20 Ländern (Angaben in %) Belgien Dänemark Deutschland Finnland Frankreich Griechenland Großbritannien Irland Israel Italien Luxemburg Niederlande Norwegen Österreich Polen Portugal Schweden Slowenien Spanien Ungarn 0
20
40
niedrige Bildung
60
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hohe Bildung
Quelle: eigene Abbildung
Analysen mit dem European Social Survey zum Zusammenhang zwischen sozialem Kapital und Gesundheit haben gezeigt (Knesebeck et al. 2005), dass sowohl die Einschätzung sozialen Vertrauens als auch die Mitgliedschaft, Partizipation und das freiwillige Engagement
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in Organisationen und Vereinen auf der Aggregatebene mit der subjektiven Gesundheit assoziiert sind: Länder mit niedrig ausgeprägtem sozialen Kapital weisen einen hohen Anteil an Personen auf, die ihren Gesundheitszustand als mittelmäßig oder schlecht einschätzen. Auch auf der Individualebene ergeben sich nach Kontrolle von Geschlecht und Alter in den meisten europäischen Ländern signifikante Zusammenhänge zwischen sozialem Kapital und subjektiver Gesundheit. Zur zweiten Frage nach sozialstrukturellen Differenzierungen von sozialem Kapital werden erste Ergebnisse aus einer z.Z. laufenden prospektiven bevölkerungsepidemiologischen Studie vorgestellt. Die Heinz Nixdorf Recall (Risk Factors, Evaluation of Coronary Calcium and Lifestyle) Studie ist eine Herz-Kreislauf-epidemiologische Prospektivstudie, die derzeit im Ruhrgebiet in den Städten Bochum, Mülheim a.d. Ruhr und Essen durchgeführt wird. Die Studie hat 4.814 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Alter von 45 bis 75 Jahren, die auf der Basis einer Einwohnermeldeamtstichprobe in den drei Städten rekrutiert wurden. Details über das Studiendesign und die Rekrutierungsstrategie finden sich in Publikationen von Schmermund und Kollegen (2002) sowie Stang und Kollegen (2005). Bei der Basisuntersuchung wurde den Teilnehmern auch eine kurze Skala aus vier Fragen zum Vertrauen in ihre nachbarschaftliche Umgebung („Trust“) vorgelegt, die von 4.655 Personen komplett ausgefüllt wurde (Veenstra 2000). Für die hier vorgestellte Analyse wurden die Personen anhand ihrer individuellen Skalenwerte in zwei Gruppen eingeteilt, eine mit überwiegend hohem Vertrauen und eine mit überwiegend niedrigem Vertrauen. Insgesamt gaben 275 Probanden an (das sind 5,9% der Stichprobe), nur ein niedriges Vertrauen zu haben. Um nun einen Zusammenhang mit sozialen Charakteristika des Wohnbezirks herstellen zu können, wurden Daten der städtischen Ämter für Statistik aus den drei Städten zusammengetragen. Für die hier gezeigten vorläufigen Analysen sind drei Merkmale ausgewählt worden, der Anteil von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern an der Wohnbevölkerung des Bezirks und die Wohndichte des Bezirks als durchschnittliche Quadratmeterzahl Wohnfläche pro Person. Die Angaben verteilen sich auf insgesamt 482 Bezirke in den drei Städten. Um einen einfachen Vergleich möglich zu machen, sind die Bezirke anhand der Werteverteilung (Tertile) in drei Klassen unterteilt worden. Für die Klassen ist dann der Anteil der Personen mit niedrigem Vertrauen berechnet worden und in Abb. 9.3 dargestellt. Es ist ein deutliches Gefälle zu erkennen: Je höher der Anteil Arbeitsloser oder Sozialhilfeempfänger und je höher die Wohndichte, desto höher die Zahl der Einwohner mit niedrigem Vertrauen in ihre Nachbarschaft. Es zeigt sich also eine Assoziation zwischen allgemeinen sozialstrukturellen Merkmalen der direkten Wohnumgebung und der individuellen Perzeption von Sicherheit und Vertrauen in die eigene, engste Umgebung. Die Ergebnisse sind weiterhin in multivariaten Analysemodellen geprüft und für den Einfluss des individuellen sozialen Status, des Alters, des Geschlechts und des Wohnbezirks (Cluster) kontrolliert worden. Der ursprüngliche Zusammenhang wurde dadurch kaum nivelliert.
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Soziales Kapital, soziale Ungleichheit und Gesundheit
Abbildung 9.3: Anteil von Studienteilnehmern mit niedrigem Vertrauen (Skala „Trust“) nach sozialen Charakteristika des Wohnbezirks; 4655 Männer und Frauen aus Bochum, Mülheim a.d. Ruhr und Essen
Anteil Personen mit niedrigem Vertrauen (%)
12 10 8 6 4 2 0 niedrig mittel
hoch
Arbeitslosenanteil im Bezirk
niedrig mittel
hoch
Anteil Sozialhilfeempfänger im Bezirk
niedrig mittel
hoch
Wohndichte
Quelle: eigene Abbildung
In einem weiteren Forschungsprojekt wurden Zusammenhänge zwischen ungünstigen Wohnbezirksmerkmalen (Anteil Arbeitsloser und Wohndichte) und wichtigen Risikofaktoren der Herz-Kreislauferkrankungen untersucht, wobei der Einfluss des individuellen Sozialstatus statistisch kontrolliert wurde. Dabei zeigen sich die stärksten Zusammenhänge zwischen schwachem sozialen Kapital in Form einer Wohnregion mit hoher Arbeitslosigkeit und dem Risikofaktor Zigarettenrauchen (Dragano et al. 2007).
6
Abschließende Überlegungen
Einleitend wurde festgehalten, dass auch in modernen Gesellschaften die Fähigkeit und die Bereitschaft zu prosozialem Handeln und zur Befolgung von Normen sozialer Reziprozität vorhanden sind. Mit der Schaffung von Vertrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen entwickelt sich somit soziale Kohäsion, deren gesundheitsförderliche Wirkung vor allem bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele und der Bildung solidarischer Gruppen außerhalb des unmittelbaren Familienzusammenhangs zum Tragen kommt. Zur Bezeichnung dieses Sachverhalts wurde der Begriff „soziales Kapital“ in sozialepidemiologische Untersuchungen zu sozialräumlichen Determinanten der Gesundheit eingeführt. Auf der Ebene der Grundlagenforschung drängt sich angesichts des gegenwärtigen Wissensstandes weiterer Klärungsbedarf auf. Da trotz Überschneidung der Konstrukte „soziales Kapital“ und „soziales Netzwerk“ bzw. „sozialer Rückhalt“ eigenständige, durch Confounder-Kontrolle nicht substantiell geschwächte Effekte von sozialem Kapital auf Gesundheit beobachtet wurden, stellt sich die Frage, wie die zugrunde liegenden protektiven bzw. pathogenen Wirkungen interpretiert, d.h. durch weiterführende Untersuchungen geklärt werden können. An anderer Stelle wurde vorgeschlagen, diese Wirkungen mit be-
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Johannes Siegrist, Nico Dragano, Olaf von dem Knesebeck
sonderem Bezug zu den Indikatoren „wechselseitiges Vertrauen“ und „Befolgung von Normen sozialer Reziprozität“ zu analysieren (Siegrist 2002). Denn wenn soziales Kapital als Summe der von den einzelnen Mitgliedern einer Gemeinschaft investierten Zeit, Aufmerksamkeit und Energie in gemeinsame Aktivitäten verstanden wird, dann bauen sich entsprechende (wenn auch teilweise unspezifische, in die Zukunft gerichtete) Gewinnerwartungen bei den Beteiligten auf. Erfüllte Reziprozitätserwartungen angesichts solcher Vorleistungen sind emotional befriedigend und damit möglicherweise für Gesundheit und Wohlbefinden zuträglich. Umgekehrt rufen Verletzungen der Norm sozialer Reziprozität und Erfahrungen von Vertrauensverlust in der Regel starke negative Emotionen der Enttäuschung, Verärgerung oder Hilflosigkeit hervor, deren gesundheitlich negative Auswirkungen im Rahmen des Modells sozialer Gratifikationskrisen ausführlich dokumentiert worden sind (Siegrist 2005). Es wird daher eine interessante Aufgabe sein, Krisen und Auflösungserscheinungen sozialer Kapitalbildung in dieser Perspektive bezüglich gesundheitlicher Folgen zu analysieren, speziell unter dem Aspekt erhöhter Vulnerabilität sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Auf der Ebene der Konzeptmessung und -testung von sozialem Kapital ergibt sich ebenfalls weitreichender Entwicklungsbedarf. Er bezieht sich nicht nur auf die Dimensionen der Operationalisierung (Aggregat- vs. Individualdaten) und die Gewinnung differenzierterer, anhand von Primärdaten zu erfassender Informationen, sondern auch auf Designfragen wie z.B. die Erfassung von Selektionseffekten in untersuchten Gruppen, die Abgrenzung von Gebietseinheiten oder die angemessene Modellierung von Interaktionseffekten, die von psychosozialen und ökologischen Umweltbelastungen auf Gesundheitsrisiken ausgehen (van Lenthe 2008). Klärungsbedürftig ist ferner, bei welchen Gesundheitsrisiken bzw. bei welchen Alters- und Geschlechtsgruppen Kontexteffekte am ehesten zu erwarten und zuverlässig nachzuweisen sind und welche Erklärungspfade hierbei plausibel sind. So lässt zumindest eine neuere Studie vermuten, dass ein beachtlicher Teil des Effekts eines gut ausgebildeten sozialen Kapitals auf die Gesundheit auf die rasche und angemessene Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems zurückgeführt werden kann (Hendryx et al. 2002). Eine weitreichende Begrenzung des Forschungsansatzes, und insbesondere seiner Verbindung mit soziologischer Ungleichheitsforschung, ergibt sich daraus, dass die mesosoziale Ebene der Analyse – die Ebene von Wohnbezirken, Gemeinden oder Nachbarschaften – nicht unabhängig von übergreifenden Strukturen analysiert werden kann. Zurecht weist Sampson (2003) auf die Gefahr hin, durch eine Verengung der Perspektive den Einfluss politischer und ökonomischer Entscheidungen (z.B. Siedlungs- und Infrastrukturplanung) und Entwicklungen (z.B. Kürzungen von Sozialhilfe, Wegfall von Arbeitsplätzen) zu vernachlässigen. Noch weitreichender ist die von Pearce und Davey Smith (2003) geäußerte Kritik, die Fokussierung der Forschung auf das Thema sozialen Kapitals verschleiere die makroökonomischen Determinanten sozial ungleicher Morbidität und Mortalität und überfordere die kommunalpolitischen Akteure, welche Handlungsempfehlungen der Forschung zu sozialem Kapital in die Praxis umzusetzen versuchten, ohne die sie begrenzenden Rahmenbedingungen beachten und beeinflussen zu können. Auch wenn diese Kritik überzogen ist angesichts der Einsicht, dass politischer Handlungsbedarf zur Verringerung sozial ungleicher Gesundheitschancen gleichzeitig auf lokaler, nationaler und supranationaler Ebene besteht (Mackenbach 2008), zeigt sie doch, wie wichtig ein reflektierter Umgang mit der hier dargestellten Thematik ist.
Soziales Kapital, soziale Ungleichheit und Gesundheit
179
Danksagung Wir danken der Heinz Nixdorf Stiftung (Vorsitzender des Stiftungsvorstands Dr. jur. G. Schmidt, Essen) für die Finanzierung der Heinz Nixdorf Recall Studie, aus der die Daten zur Korrelation sozialer Merkmale und sozialen Vertrauens stammen. Wir danken der gesamten Investigatoren-Gruppe der Studie und dem Erhebungsteam. Literatur Baum FE, Ziersch AM (2003). Social capital. J Epidemiol Community Health 57: 320-323. Bourdieu P (1986). The forms of capital. In: Richardson JC, ed. The handbook of theory and research for the sociology of education. New York: Greenwood Press: 241-258. Coleman JS (1990). Social capital in the creation of human capital. Am J Sociol 94 (Suppl): 95-120. Dragano N, Bobak M, Wege N et al. (2007) Neighbourhood socioeconomic status and cardiovascular risk factors: a multilevel analysis of nine cities in the Czech Republic and Germany. BMC Public Health, 7:255. Durkheim E (1973). Der Selbstmord. Neuwied: Luchterhand. (zuerst 1897) Durkheim E (1976). Die Regeln der Soziologischen Methode. Neuwied: Luchterhand. (zuerst 1895) Gordon D (2003). Area-based deprivation measures: a U.K. perspective. In: Kawachi I, Berkman LF, eds. Neighborhoods and Health. Oxford: Oxford University Press: 179-207. Hendryx MS, Ahern MM, Lovrich NP, McCurdy AH (2002). Access to health care and community social capital. Health Serv Res 37: 87-103. Holtgrave DR, Crosby RA (2004). Social determinants of tuberculosis rates in the United States. Am J Prev Med 26: 156-162. Jowell R and the Central Co-ordinating Team (2003). European Social Survey 2003. Technical report. London: National Centre for Social Research. Judge K (1995). Income distribution and life expectancy: a critical appraisal. BMJ 311: 1282-1285. Kawachi I, Berkman LF (2003). Introduction. In: Kawachi I, Berkman LF, eds. Neighborhoods and Health. Oxford: Oxford University Press: 1-19. Kawachi I, Kennedy BP, Glass R (1999). Social capital and self-rated health: a contextual analysis. Am J Public Health 89: 1187-1193. Kawachi I, Kennedy BP, Lochner K, et al. (1997). Social capital, income inequality, and mortality. Am J Public Health 87: 1491-1498. Kennedy BP, Kawachi I, Prothrow-Stith D, et al. (1998). Social capital, income inequality, and firearm violent crime. Soc Sci Med 47: 7-17. Kennelly B, O’Shea E, Garvey E (2003). Social capital, life expectancy and mortality: a crossnational examination. Soc Sci Med 56: 2367-2377. Knesebeck Ovd, Dragano N, Siegrist J (2005). Social capital and self-rated health in 21 European countries. GMS Psycho-Social-Medicine 2: Doc02 (20050223). Lindström M (2004). Social capital, the miniaturisation of community and self-reported global and psychological health. Soc Sci Med 59: 595-607. Lynch J, Davey Smith G, Kaplan GA, House J (2000). Income inequality and mortality: importance to health of individual income, psychosocial environment, or material conditions. BMJ 320: 1200-1204. Macinko J, Starfield B (2001). The utility of social capital in research on health determinants. Milbank Q 79: 387-427. Mackenbach J (2002). Income inequality and population health. BMJ 324: 1-2.
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10
Die Lebenslaufperspektive gesundheitlicher Ungleichheit: Konzepte und Forschungsergebnisse
Nico Dragano, Johannes Siegrist
1
Einführung
Mehrere Beiträge dieses Buches belegen eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit im Erwachsenenalter: Je niedriger der soziale Status einer Person, desto höher ist ihr Risiko zu erkranken oder frühzeitig zu versterben. Auf der Suche nach den Mechanismen, welche die soziale Stellung eines Menschen mit seiner körperlichen und psychischen Gesundheit verbinden, kann man sich, wie es häufig getan wird, auf das Erwachsenenalter konzentrieren, also derjenigen Lebensspanne, in der ein Großteil der sozialen Varianz im Krankheitsgeschehen unmittelbar sichtbar wird (Bartley 2004, Kuh et al. 2005). Ein Beispiel hierfür ist die Untersuchung der sozialen Varianz risikoreicher Arbeitsbedingungen, wie etwa schwerer körperlicher Arbeit. Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass intermediäre Faktoren das vermittelnde Bindeglied zwischen dem sozialen Status und einer späteren Erkrankung darstellen. Die Lebenslaufperspektive zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sie den zeitlichen Rahmen der Betrachtung von Zusammenhängen zwischen sozialem Status, Risikofaktoren und Erkrankungen erweitert, indem sie Einflüsse in den frühen Lebensjahren in das Erklärungsmuster sozialer Ungleichheit im Erwachsenenalter mit einbezieht. Die ursächlichen Verbindungen werden sprichwörtlich von der Wiege bis zum Grab betrachtet, also von der Entwicklung im Mutterleib bis zum frühzeitigen Tod im mittleren oder höheren Erwachsenenalter. Dem liegen zwei Beobachtungen zugrunde: Erstens die Beobachtung, dass sich Belastungen, die zu Beginn des Lebens auftreten, noch Jahrzehnte später in manifesten Erkrankungen niederschlagen können, und zweitens die Feststellung, dass diese frühen Belastungen sozial ungleich verteilt sind, d.h. dass sie Kinder aus sozial benachteiligten Herkunftsfamilien häufiger treffen als solche aus besser gestellten Familien (Davey Smith et al. 2001, Kuh et al. 2005, Power & Matthews 1997). So ist beispielsweise in verschiedenen Studien gezeigt worden, dass Kinder, die mit einem niedrigen Geburtsgewicht auf die Welt kommen, als Erwachsene ein höheres Sterberisiko haben als vergleichbare Personen mit normalem Geburtsgewicht (Barker 1998). Das Gewicht ist in diesem Fall ein Indiz für Entwicklungsstörungen im Mutterleib, welche zu langfristigen, mitunter erst im Erwachsenenalter wirksam werdenden, körperlichen Schädigungen führen können. Nun ist das Geburtsgewicht nicht zufällig verteilt, sondern es folgt dem bekannten sozialen Ungleichheitsmuster, da Mütter mit relativ hohem sozialem Status auch die schwereren Kinder gebären. Somit kann angenommen werden, dass ein Teil der Varianz von Morbidität und Mortalität nach sozialem Status in der erwachsenen Bevölkerung auf Einflüsse zurückgeht, die bereits im Mutterleib gewirkt haben.
182
Nico Dragano, Johannes Siegrist
Das Beispiel stellt die Zusammenhänge zwar vereinfacht dar, denn es vernachlässigt die ebenfalls wichtigen genetischen Determinanten, die Sozialisationsbedingungen und den Beitrag medizinischer Versorgung, es verdeutlicht aber eine neuartige Akzentsetzung der Forschung, die zugleich methodische Herausforderungen mit sich bringt. Da die Zeiträume, die zwischen der möglichen Ursache und der Wirkung liegen, lang sind und sich in dieser Phase einschneidende Veränderungen auf verschiedenen Ebenen ergeben, ist der empirische Nachweis kausaler Zusammenhänge entsprechend kompliziert. Trotz ihrer Komplexität bietet diese Forschung aber wichtige Einsichten in die zeitliche Dynamik der Krankheitsentstehung. Zugleich demonstrieren Ergebnisse der Lebenslauf-Epidemiologie eindrucksvoll, wie variabel die Beziehung zwischen Risikofaktoren und insbesondere chronisch-degenerativen Erkrankungen ist. Verschiedene analytische Ansätze sind erforderlich, um die soziale Ungleichverteilung von Erkrankungen im Lebenslauf zu erklären. Die Lebenslaufperspektive wird erst seit relativ kurzer Zeit als konzeptueller Rahmen der gesundheitsbezogenen Ungleichheitsforschung verwandt, so dass die theoretischen und empirischen Grundlagen noch nicht als etabliert betrachtet werden sollten (Bartley 2004). In diesem Beitrag wird ein allgemeiner Überblick über den derzeitigen Stand der Forschung gegeben. Einleitend werden einige grundlegende epidemiologische Vorstellungen der Krankheitsentstehung im Lebenslauf skizziert. Sodann kommen soziale Unterschiede zur Sprache, indem zunächst ein einfaches Schema des Zusammenhangs zwischen sozialen Bedingungen in der Kindheit und Jugend, dem Auftreten von Risikofaktoren und späteren Erkrankungen vorgestellt und durch Studienergebnisse erhärtet wird. Abschließend wird dieses Schema um zwei weitere wichtige Aspekte ergänzt: soziale Verursachungsketten und Selektionsprozesse.
2
Schwangerschaft, Geburt und Gesundheit im Erwachsenenalter: Lebenslaufmodelle der Krankheitsentstehung
Zu Beginn der 1990er Jahre erregte der britische Epidemiologe David Barker mit seinen Forschungsarbeiten Aufsehen, in denen er durch die Kombination verschiedener Datenquellen zeigte, dass Kinder, die bei ihrer Geburt untergewichtig waren, als Erwachsene einem erhöhten Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen ausgesetzt waren (Barker 1991). Das Geburtsgewicht verstand Barker als einen Indikator für Fehl- bzw. Mangelernährung des Kindes während der Schwangerschaft. Diese Zustände würden wiederum, so die Hypothese, die fötale Entwicklung so weit reichend stören, dass bestimmte Organe in ihrer Struktur und Funktionalität dauerhaft eingeschränkt sind, wodurch sich langfristig die Wahrscheinlichkeit einer Organ- oder Systemerkrankung erhöht. Dieser Arbeit gingen zwar ähnliche Berichte voraus (lesenswert ist z.B. die Untersuchung von Zena Stein und Kollegen (1975) über die Folgen des „Hungerwinters“ der Kriegsjahre 1944-1945 in den Niederlanden), jedoch initiierte sie aufgrund ihrer expliziten pathogenetischen Modellvorstellung eine Reihe neuartiger Untersuchungen zu frühkindlichen Determinanten der Gesundheit (Graham 2002). Nach wenigen Jahren liegt heute bereits eine eindrucksvolle Fülle von Studienergebnissen vor, die in zwei informativen Übersichtsarbeiten zusammengefasst sind (Kuh & Ben-Shlomo 2005, Power & Kuh 2006). Dabei wird deutlich, dass die zeitliche Dynamik der pathogenetischen Entwicklung und ihrer Beeinflussung durch soziale Faktoren unter-
Die Lebenslaufperspektive gesundheitlicher Ungleichheit
183
schiedlich modelliert werden kann. Zwei Modellvorstellungen haben sich als besonders brauchbar erwiesen, das Modell kritischer Perioden und das Modell kumulativer Exposition. Bevor diese Modelle mit ihren weiteren Varianten vorgestellt werden, soll ein allgemeines Bezugssystem epidemiologischer Analysen von Krankheitsursachen als Hintergrundsinformation skizziert werden. Im Kern besagt das moderne epidemiologische Verständnis der Krankheitsentstehung, dass die Mehrzahl der Erkrankungen auf das Zusammenwirken mehrerer Ursachen (oder Risikofaktoren) zurückzuführen ist. Eine einfache Systematik dieses Faktums ist von Kenneth Rothmann und Sander Greenland (1998) vorgeschlagen worden. Sie unterscheiden zwei zentrale Charakteristika von Krankheitsursachen, nämlich, ob diese hinreichend und/oder notwendig für die Entstehung der Erkrankung sind. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich vier Kombinationsmöglichkeiten: 1. 2. 3. 4.
notwendige und hinreichende Ursachen notwendige, aber nicht hinreichende Ursachen nicht notwendige, aber hinreichende Ursachen nicht notwendige und nicht hinreichende Ursachen
„Notwendig“ meint, dass eine Ursache obligatorisch vorliegen muss, damit eine Erkrankung entsteht und „hinreichend“ meint, dass die Ursache für sich genommen ausreicht, um die Erkrankung auszulösen. In der 1. Kombination sind beide Bedingungen erfüllt. Das klassische Beispiel für eine solche Ursachenkette ist eine Erbkrankheit, bei der die Erkrankung exklusiv durch den entsprechenden Gendefekt ausgelöst wird und der Defekt zugleich keine weiteren „Hilfsfaktoren“ benötigt, um zur manifesten Erkrankung zu führen. In der 2. Kombination entsteht eine Erkrankung zwar nur dann, wenn die Ursache vorliegt, diese Ursache reicht aber für sich genommen nicht aus, um einen Ausbruch zu provozieren. Die Lungentuberkulose kann hier als Beispiel dienen: Für die Entstehung dieser Krankheit ist eine Infektion notwendig, die Erkrankung bricht aber in der Regel erst dann aus, wenn andere Faktoren wie Unterernährung oder ein allgemein geschwächtes Immunsystem hinzukommen. Im 3. Szenario verliert eine Ursache ihre Exklusivität, sie ist zwar in der Lage, eigenständig eine Erkrankung auszulösen, andere Faktoren können dies aber unabhängig davon auch. Beispielsweise kann eine familiäre Vorbelastung (genetische Faktoren) alleine ausreichen, um eine Herzkrankheit auszulösen, unabhängig davon ist aber auch Zigarettenrauchen in der Lage, dieselbe Krankheit zu verursachen. Dies leitet über zur 4. Kombination, in der es zahlreiche Ursachen gibt, die für sich genommen weder notwendig noch hinreichend sind. Erst die Kombination bestimmter Faktoren reicht als Erkrankungsursache aus. Unter den Bedingungen 2. bis 4. gibt es also Interaktionen zwischen Ursachen, die wiederum sehr unterschiedlicher Art sein können. So können sich z.B. Ursachen synergistisch verstärken, oder ein verursachender Faktor beeinflusst die Wirkung eines anderen Faktors der Krankheitsentstehung (Moderation bzw. Effektmodifikation). Dieses Verständnis kausaler Beziehungen (siehe auch Rothman & Greenland 1998) ist hilfreich, um zu konzeptionellen Aussagen über komplexe Zusammenhänge gesundheitsbezogener Lebenslaufforschung zu gelangen. Bei manchen weit verbreiteten Erkrankungen im Erwachsenenalter muss nämlich davon ausgegangen werden, dass es zahlreiche weder notwendige noch hinreichende Ursachen gibt. Vielmehr interagieren diese Ursachen mit-
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Nico Dragano, Johannes Siegrist
einander, wobei die zeitliche Sequenz dieser Interaktionen die Analyse zusätzlich erschwert. Wie bereits erwähnt, sind in der gesundheitsbezogenen Lebenslaufforschung bisher vor allem zwei Modellvorstellungen verfolgt worden, dass Modell kritischer Perioden und das Kumulationsmodell. Nachfolgend werden diese Modelle erläutert, während im dritten Abschnitt empirische Befunde zu den beiden Modellen vorgestellt und diskutiert werden.
2.1
Das Modell kritischer Perioden
Organe, Gewebe und funktionelle Systeme des menschlichen Körpers bilden sich erst in einer längeren Entwicklungsperiode zur vollen Reife aus. Besonders große Entwicklungsschritte werden dabei im Mutterleib, also während der fötalen Entwicklung, durchlaufen, aber auch im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter findet ein weiterer Wandel statt. In diesen Zeiten natürlichen Wachstums ist der Organismus in besonderem Maße verletzlich. Kritische Perioden bezeichnen solche Zeitfenster, in denen eine Störung des natürlichen Verlaufs zu bleibenden Schädigungen normaler Organstrukturen und -funktionen führt (Kuh et al. 2005). Als Beispiel sei der Zusammenhang zwischen Unterernährung während der Schwangerschaft und Ausbildung der Bauchspeicheldrüse erwähnt. Wird der Körper im entscheidenden Zeitfenster nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt, kann das Organ nicht zur vollen Reife ausgebildet werden und die Insulinausschüttung bleibt unter Umständen dauerhaft gestört (Forouhi et al. 2004). Die Folgen einer solchen Schädigung zeigen sich viele Jahre später in Form einer erhöhten Inzidenz von Typ-2 Diabetes. An diesem Beispiel kann noch ein anderes Prinzip verdeutlicht werden. Auch wenn eine Störung vorliegt, muss diese später nicht unbedingt in Krankheit münden. In einigen Fällen können im weiteren Zeitverlauf noch andere Einflüsse als Effektmodifikatoren wirken. Ein Effektmodifikator ist für sich genommen nicht krankheitswertig, er hat aber das Potential, die Wirkung eines anderen Risikofaktors zu beeinflussen (Kuh et al. 2005). So konnte im Kontext von Insulinsekretion und Typ-2 Diabetes gezeigt werden, dass eine starke Gewichtszunahme des bei der Geburt unterernährten Säuglings (sog. adiposity rebound-Effekt) die Wahrscheinlichkeit einer späteren Stoffwechselerkrankung stark erhöht (Forouhi et al. 2004). Davon unbenommen bleibt aber das Faktum bestehen, dass die in einer kritischen Periode erworbene Schädigung nicht reversibel ist. Daher spricht man auch von „biologischer Programmierung“. Wichtig für das Verständnis dieses Konzeptes ist weiterhin, dass außerhalb der kritischen Periode die Exposition keine Wirkung mehr hat, d.h. dass ein voll ausgebildetes Organ in seiner weiteren Entwicklung und Funktionsweise durch frühe Einflüsse nicht mehr beeinträchtigt wird. In diesem Zusammenhang haben einige Forscher vorgeschlagen, „kritische Perioden“ von „sensitiven Perioden“ zu unterscheiden, wobei sich letztere dadurch auszeichnen, dass die in dem entsprechenden Zeitfenster der Entwicklung erworbenen Schädigungen im späteren Lebensverlauf teilweise reversibel sind. Da jedoch die Forschungslage zu dieser Frage inkonsistent ist, verzichten wir nachfolgend auf die terminologische Differenzierung (vgl. Power & Kuh 2006).
Die Lebenslaufperspektive gesundheitlicher Ungleichheit
2.2
185
Das Kumulationsmodell
Wie oben beschrieben, werden chronische Erkrankungen häufig erst durch eine Kombination verschiedener Belastungsfaktoren ausgelöst. Dem trägt das Kumulationsmodell in der Lebenslaufperspektive Rechnung (Graham 2002). In diesem Modell summieren sich Belastungen über die Lebenszeit und beeinflussen die Gesundheit im Erwachsenenalter in Abhängigkeit von der Dauer und Intensität, mit der sie gemeinsam auf die Person einwirken. Ein Beispiel ist die typische Belastungsfolge „rauchende Mutter während der Schwangerschaft“ – „Passivrauchen des Säuglings und Kleinkinds“ – „frühe Raucherkarriere des Jugendlichen in der Adoleszenz“ (Power et al. 1997). Je nach Wirkungszusammenhang kann weiterhin nicht nur die Dauer der Belastung von Bedeutung sein, sondern auch die Reihenfolge, mit der die einzelnen Belastungen aufeinander folgen. Das Kumulationsmodell ist weiter differenziert worden anhand eines „Pfadmodells“ bzw. eines Modells von „Risikoketten“. Dieser Differenzierung liegt die Idee zugrunde, dass nicht nur eine additive Kumulation von Belastungen im Lebenslauf zu erwarten ist, sondern dass es bestimmte Wendepunkte gibt, welche die weitere Entwicklung – sei es in eine günstige oder ungünstige Richtung – bahnen (Power & Kuh 2006). Beispielsweise kann eine abgebrochene Schulbildung als Folge frühkindlicher Entwicklungsstörungen den beruflichen Werdegang entscheidend in Richtung belastungsreicher, gesundheitsgefährdender Arbeitsbedingungen bahnen. Wiederum ist es im konkreten Fall schwierig, die Modellspezifizierungen im Einzelnen deutlich zu trennen. Wir wollen daher im nachfolgenden Teil zu beiden orientierenden Modellen ausgewählte Forschungsbeispiele darstellen, die den Einfluss sozialer Ungleichheit demonstrieren.
3
Ausgewählte empirische Evidenz
3.1
Modell kritischer Perioden
Wenn Einflüsse im Lebenslauf die spätere Gesundheit beeinflussen, kann die soziale Verteilung solcher Einflüsse einen Beitrag zur Erklärung der sozialen Ungleichheit von Gesundheit und Krankheit leisten. Dass dem so ist, legen Befunde aus mehreren Studien nahe, die den sozialen Status der Herkunftsfamilie mit dem Auftreten von Belastungsfaktoren wie Unterernährung des Säuglings, Rauchen während der Schwangerschaft oder Entwicklungsstörungen des Kindes in Beziehung gesetzt haben. Diese Beziehung zwischen sozialer Schicht der Eltern und frühen Belastungen des Kindes kann anhand folgender Beispiele illustriert werden. In einer britischen Geburtskohortenstudie an Männern und Frauen, die im Jahr 1958 geboren worden waren, konnten Power und Matthews (1997) nachweisen, dass Kinder aus einfachen Arbeiterhaushalten bereits während der Schwangerschaft häufiger durch Tabakkonsum ihrer Mütter belastet waren als Kinder von Müttern aus Facharbeiter- oder Angestellten-Haushalten. Ähnliche Ergebnisse berichten Dolan-Mullen (1999) und Graham (1994). Die pathogenen Wirkungen, die von Zigarettenrauch auf den Fötus ausgehen, sind inzwischen eingehend untersucht (Spencer 2006, Kramer et al. 2000). Auch für ein niedriges Geburtsgewicht als Marker ungünstiger Einflüsse in einer kritischen Periode der fötalen Entwicklung wurde mehrfach ein sozialer Schichtgradient nach-
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gewiesen. So zeigte sich in der erwähnten britischen Geburtskohortenstudie von 1958, dass Jungen aus Familien, die der niedrigsten sozialen Schicht angehörten, im Durchschnitt 100 Gramm weniger wogen als Jungen aus der höchsten sozialen Statusgruppe (Power & Matthews 1997). Der Einfluss sozialer Herkunft bleibt nicht auf den engen Zeitraum intrauteriner Entwicklung beschränkt, sondern umfasst auch die sensitiven Jahre frühkindlicher Entwicklung. Hierzu zählen biologische Faktoren wie die postnatale Gewichtszunahme und das weitere Wachstum der Kinder (Größe und Gewicht). Hierzu zählen jedoch auch diejenigen materiellen (z.B. mangelnde Hygiene, feuchte Wohnung) und psychosozialen Belastungen (z.B. Scheidung der Eltern, unsichere Bindungsstile), welche akute oder später sich entwickelnde Krankheiten mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zum Ausbruch bringen (Graham 2002, Kuh et al. 2005). Diese Befunde stützen das Modell kritischer Perioden und bilden somit eine gute Basis für die weitergehende Prüfung eines Zusammenhangs mit manifesten, im Erwachsenenalter auftretenden Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken in Abhängigkeit von sozialer Benachteiligung am Beginn des Lebens. Fragen wir zunächst, ob das Risiko früher Sterblichkeit von der sozialen Herkunft direkt bestimmt wird.
3.2
„Vorzeitige“ Sterblichkeit im Erwachsenenalter
Kann der soziale Status in der Kindheit, beispielsweise gemessen über den Beruf des Vaters, die Wahrscheinlichkeit eines frühzeitigen Todes vorhersagen? Dieser Frage sind verschiedene Forscher nachgegangen. Beispielsweise betrachtete der Epidemiologie George Davey Smith und sein Team die Mortalität im Längsschnitt in einer Stichprobe von über 5500 schottischen Männern (Davey Smith et al. 2001). Als Prädiktor der Mortalität diente der Beruf des Vaters, und zwar grob unterschieden in „manuelle“ vs. „nicht-manuelle Berufstätigkeit“. Die Autoren berechneten relative altersstandardisierte Sterblichkeitsrisiken der Männer aus Arbeiterhaushalten im Vergleich zu Männern aus nicht-manuellen Haushalten. Das Alter der Studienpersonen schwankte zu Beginn eines 20-jährigen Beobachtungszeitraums zwischen 35 und 65 Jahren. 1580 Männer verstarben während der „follow-up“ Periode. Die wichtigsten Ergebnisse der Analyse sind in Abb. 10.1 dargestellt. Sie zeigen, dass sowohl für die Gesamtsterblichkeit als auch für einzelne häufige Todesursachen eine erhöhte Sterblichkeit bei Männern aus manuellen Haushalten beobachtet wird. So war das Mortalitätsrisiko bei Männern mit niedriger sozialer Herkunft insgesamt um 44% erhöht. Andere Studien kommen, unter Verwendung weiterer Indikatoren der sozialen Herkunft (z.B. Bildungsniveau der Eltern), zu vergleichbaren Ergebnissen (einen guten Studienüberblick bietet ein Beitrag von Davey Smith & Lynch 2004). Zusammenfassend können wir festhalten, dass die soziale Herkunft einen eigenständigen deutlichen Effekt auf die „vorzeitige“ Mortalität ausübt. Besonders ausgeprägt ist dieser Zusammenhang im Fall der kardiovaskulären Mortalität.
187
Die Lebenslaufperspektive gesundheitlicher Ungleichheit
Abbildung 10.1: Sterblichkeit in Abhängigkeit vom Beruf des Vaters. Relative Risiken (altersadjustiert) und 95% Konfidenzintervalle für den Vergleich „Vater in manuellem Beruf“ vs. „Vater in nicht-manuellem Beruf“ (RR= 1.0) 2
Relatives Risiko
1,5
1
0,5
0 Alle Todesursachen
kardiovaskuläre Erkrankungen
Krebserkrankungen
sonstige Erkrankungen
Quelle: Davey Smith et al. (2001)
3.3
Erkrankungen im Erwachsenenalter
Studien mit nicht-tödlichen Erkrankungen im Erwachsenenleben zeigen eine weitere Facette der Lebenslaufperspektive sozialer Ungleichheit. Wie schon bei den Sterblichkeitsdaten, stammen die Untersuchungen überwiegend aus Großbritannien und den skandinavischen Ländern, Angaben aus Deutschland liegen bisher kaum vor. Daher sollen hier einige neue, als vorläufig zu betrachtende Ergebnisse aus einer laufenden Kohortenstudie im Ruhrgebiet vorgestellt werden. Es handelt sich um die bevölkerungsbezogene Heinz Nixdorf Recall Studie, in der seit dem Winter 2000 eine Stichprobe von Männern und Frauen im Längsschnitt beobachtet wird. Im Zentrum steht die Untersuchung von koronaren Herzerkrankungen (KHK), insbesondere von Fragen der Prädiktion akuter Myokardinfarkte durch neue diagnostische Verfahren wie der Elektronenstrahl-Computer-Tomographie und Risikofaktoren. Eine genaue Studienbeschreibung findet sich bei Schmermund und Mitarbeitern (2002) sowie bei Stang und Mitarbeitern (2005). Die teilnehmenden Probanden im Alter von 45 bis 75 Jahren wurden zu Beginn einer eingehenden Untersuchung unterzogen, bei der neben verschiedenen medizinischen Untersuchungen auch Interviews mit den Probanden geführt wurden. Auch der Beruf des Vaters wurde auf diese Weise erfragt, und 4544 Probanden konnten hierzu vollständige Angaben machen. Mit dieser Information ist es möglich, den Beruf des Vaters als Indikator für den Status der Herkunftsfamilie mit Erkrankungen in Beziehung zu setzen. Die Klartextangabe des Berufs ist für diesen Zweck grob in eine vierstufige Variable kategorisiert worden: Einfache Arbeiter, Fach- und Vorarbeiter (Meister, Kolonnenführer etc.), einfache Angestellte, leitende Angestellte. Probanden, deren Väter selbständige Berufe ausübten, sind aber aus den im Folgenden vorgestellten Analysen ausgeschlossen worden, da aufgrund der Heterogenität der Berufe eine genauere Klassifikation bisher nicht möglich war. Somit
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Nico Dragano, Johannes Siegrist
konnten Daten von 4062 Personen ausgewertet werden. Als Erkrankungsmaße wurden vier Störungen aus dem weiteren Umfeld der Herz-Kreislauferkrankungen ausgewählt: Angina Pectoris, Diabetes, Übergewicht und ärztlich diagnostizierte Hypertonie. Eine einfache Ergebnisdarstellung findet sich in Abb. 10.2, in der in Abhängigkeit vom Beruf des Vaters der Anteil der als erkrankt eingestuften Probanden wiedergegeben wird. Die Verteilung fällt deutlich zuungunsten der Probanden aus, deren Vater einer manuellen Berufsgruppe angehörte, während die geringsten Erkrankungsraten durchgängig bei den Probanden zu finden sind, deren Väter als leitende Angestellte tätig waren. Der Befund trifft auf alle vier Erkrankungen zu, wobei die größten relativen Unterschiede beim Übergewicht auftreten. Somit ist in dieser interessanten Stichprobe der Allgemeinbevölkerung ein direkter Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und Krankheitshäufigkeit (speziell HerzKreislaufrisiken und -erkrankungen) im Erwachsenenalter zu beobachten, ein Befund, der mit den Ergebnissen der internationalen Forschung übereinstimmt (Davey Smith & Lynch 2004). Allerdings handelt es sich, wie erwähnt, derzeit noch um vorläufige Analysen, da eine genauere Klassifikation des väterlichen Berufs erforderlich ist. Zudem muss eine Absicherung der Befunde durch multivariate Verfahren erfolgen. Erste Anwendungen zeigen aber, dass einer Kontrolle für Alter und Geschlecht keine große statistische Wirkung zukommt. Weitere Berechnungen werden sich vor allem dem Einfluss des individuellen sozialen Status der Probanden im Erwachsenenalter widmen, jedoch zeigen auch hier erste Überprüfungen, dass die statistische Beziehung zwischen sozialer Herkunft und Krankheitshäufigkeit nach Kontrolle des Einflusses der Schulbildung von Probanden nicht verschwindet. Abbildung 10.2: Prävalenz ausgewählter Erkrankungen und KHK-Risikofaktoren in Abhängigkeit vom Beruf des Vaters. Unveröffentlichte Ergebnisse aus der Heinz Nixdorf Recall-Studie (N=4062 Männer und Frauen im Alter von 45-75 Jahren) einfacher Arbeiter
Fach- und Vorarbeiter
einfacher Angestellter
leitender Angestellter
50
Prävalenz (%)
40
30
20
10
0 Angina Pectoris
Quelle: eigene Abbildung
Diabetes
Übergewicht
Blutthochdruck
Die Lebenslaufperspektive gesundheitlicher Ungleichheit
3.4
189
Kumulationsmodell bzw. Modell sozialer Verursachungsketten
Der bisher vorgestellte analytische Brückenschlag vom sozialen Status der Herkunftsfamilie zur späteren Gesundheit folgt einem einfachen Schema: Die soziale Stellung der Eltern entscheidet darüber, ob ein Kind bestimmten Risikofaktoren ausgesetzt ist, und die Häufung solcher Risikoerfahrungen in unteren sozialen Schichten bildet sich dann im späteren Erkrankungsgeschehen ab. Auch wenn sich in Längsschnittstudien Verbindungen dieser Art nachweisen lassen, steht dahinter aber mit hoher Wahrscheinlichkeit ein weitaus komplexeres Gefüge aus Wirkungen und Wechselwirkungen, als das bisherig angedeutete Modell vermuten ließe (Kuh et al. 2005). Insbesondere bei chronischen Erkrankungen sind in der Regel nicht einmalige Ereignisse die Auslöser, also etwa in Form von frühkindlichen Entwicklungsstörungen, sondern ein Bündel von Faktoren, die in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter wirken, sich gegenseitig verstärken oder abschwächen und ganz bestimmten zeitlichen Sequenzen folgen (Blane 2006). Biologische, psychische und soziale Einflüsse interagieren also im Lebenslauf und bestimmen im Zusammenspiel über Gesundheitschancen und Erkrankungsrisiken. In der internationalen Forschung wird dieser vielfach verwobene Verursachungsweg als „chains of risk“ bezeichnet, an dessen Erforschung derzeit intensiv gearbeitet wird. Nachfolgend werden die wichtigsten „Ketten“ erläutert. Der soziale Status zu verschiedenen Phasen des Lebens ist hoch korreliert. So entscheidet der soziale Hintergrund wesentlich über die Chancen der schulischen Bildung und determiniert entsprechend auch die weiteren Schritte von der Berufsausbildung bis hin zur Berufswahl und dem sozialen Status im Erwachsenenalter (Blane 2006). In Deutschland sind die sozialen Selektionsprozesse, die in bestimmte soziale Positionen hineinführen, stark ausgeprägt. Ein aktuelles Beispiel sind die Ergebnisse der Internationalen GrundschulLese-Untersuchung (IGLU), in der festgestellt wurde, dass die Sozialschicht der Eltern einen großen Einfluss auf die Schulempfehlung für die weiterführenden Schulformen hat. Bei gleichen kognitiven Voraussetzung und Kompetenzen erhielten Kinder aus einfachen Arbeiterhaushalten signifikant seltener eine Empfehlung für ein Gymnasium als Kinder von Facharbeitern und leitenden Angestellten (Bos et al. 2004). Unabhängig davon fielen Kinder aus sozial benachteiligten Familien auch hinsichtlich wesentlicher Lernkompetenzen, wie Leseverständnis, mathematischem Denken und Allgemeinwissen im Vergleich zu ihren besser gestellten Klassenkameraden überdurchschnittlich häufig zurück, wie etwa die Ergebnisse der bekannten PISA-Studie 2003 zeigen (Prenzel et al. 2005). Geht man nun den nächsten Schritt, so bedeutet die Höhe des Schulabschlusses auch eine zentrale Weichenstellung für das spätere Berufsleben. Eine bereits während der schulischen Laufbahn sich manifestierende Benachteiligung schlägt sich entsprechend in verminderten Aussichten auf eine gehobene berufliche Ausbildung nieder. Entsprechend verwundert es wenig, wenn Kinder aus Arbeiterfamilien seltener ein Hochschulstudium beginnen als die Kinder von Angestellten, Beamten oder Selbständigen (Geißler 1996). Im letzten Schritt bestimmt dann der Beruf in signifikanter Weise die sozialen Lebensumstände im Erwachsenenalter. Aus Sicht der sozialepidemiologisch orientierten Lebenslaufforschung sind diese Zusammenhänge bedeutsam, da die soziale Position zu jedem einzelnen Lebensabschnitt mit bestimmten gesundheitlichen Risiken oder Chancen einhergeht. Insbesondere – dies belegen verschiedene Kapitel dieses Buches – ist der soziale Status im Erwachsenenalter mit weit verbreiteten gesundheitsrelevanten Einflüssen assoziiert, die sich von gesundheits-
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Nico Dragano, Johannes Siegrist
schädigenden Einflüssen im Alltag bis hin zu Gefahren am Arbeitsplatz erstrecken (vgl. auch Mielck 2000). Über diesen sozialen Vermittlungsweg können Erkrankungen im Erwachsenenalter als Produkt einer Folge von Risikoexpositionen interpretiert werden, die in zeitlicher Sequenz aufeinander folgen und untereinander über die Konstanz der sozialen Position in Beziehung stehen (Graham 2002). Diese „chains of risk“ wirken auf verschiedenen Wegen auf die physische und psychische Gesundheit ein. Besonders häufig erfolgt diese Wirkung über eine Kumulation von Risiken, bei der die über den Lebenslauf ‚gesammelte“ Belastung die Erkrankung zu einem bestimmten Zeitpunkt mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auslöst. Es ist aber auch möglich, dass einzelne Risiken in Interaktion den Krankheitsausbruch begünstigen. Ein interessantes Beispiel stellt die Interaktion von Körpergröße und psychosozialem Dauerstress bei der Erklärung von Herzinfarktrisiken bei Frauen dar. Wie eine umfangreiche schwedische Studie gezeigt hat, ist das Erkrankungsrisiko bei der Gruppe der Frauen mit geringem Körperwuchs (weniger als 160 cm) und einer Kumulation ungünstiger sozioökonomischer Lebensumstände im Erwachsenenalter mehr als viermal so hoch wie dasjenige größer gewachsener Frauen ohne eine entsprechende Kumulation von Belastungserfahrungen (Wamala et al. 2001). Für sich genommen erhöhte die Tatsache geringen Körperwuchses das Infarktrisiko zwar auch, aber erst durch die Interaktion beider Bedingungen kam diese hohe Vulnerabilität zustande.
3.5
Direkte und indirekte Selektion
Abschließend muss auf ein wichtiges methodisches Problem gesundheitsbezogener Lebenslaufforschung hingewiesen werden: Das Problem direkter und indirekter Selektion. Denn Krankheit ist nicht nur ein Endprodukt der geschilderten sozialen Prozesse, sie ist zugleich ein aktiver Part bei deren Zustandekommen. Gemeint sind krankheitsbedingte Selektionseffekte, also eine Rückwirkung der in Kindheit und Adoleszenz geprägten gesundheitlichen Konstitution auf den Erwerb und den Erhalt einer sozialen Position. Effekte der Gesundheit im Kindesalter auf die spätere soziale Mobilität sind in vereinzelten Studien nachgewiesen worden (Pensola 2003), allerdings ist der Einfluss bezogen auf die Bevölkerung insgesamt als eher gering zu veranschlagen. Der Grund hierfür ist, dass in der Lebensphase, in der die Positionierung im sozialen Gefüge stattfindet, numerisch gesehen nur relativ wenige Krankheiten auftreten, so dass eine soziale Verzerrung größeren Ausmaßes eher unwahrscheinlich ist (Fox et al. 1985, Adler et al. 1994). Betrachtet man krankheitsbedingte soziale Mobilität im Erwachsenenalter, so bestätigt sich diese Einschätzung auch hier. So schätzen beispielsweise Dahl und Kjaersgaard (1993) anhand einer Untersuchung mit norwegischen Zensusdaten den Einfluss der Selektion auf die soziale Ungleichverteilung von Krankheiten im Erwachsenenalter auf ca. 8%. Zu ähnlichen Einschätzungen kommen auch andere Untersuchungen (Lundberg 1991, van de Mheen et al. 1999). Eine weitere Möglichkeit, die Verbindung des sozialen Status in der Kindheit mit dem Erkrankungsgeschehen in Populationen im Erwachsenenalter zu erklären, sind indirekte Selektionsprozesse. Diese Form der Selektion beruht auf einer Mehrfachwirkung von übergeordneten Faktoren, die gleichzeitig die soziale Stellung und Mobilität sowie das Erkrankungsrisiko beeinflussen. Hierzu zählen u.a. persönliche Charakteristika, genetische Dispo-
Die Lebenslaufperspektive gesundheitlicher Ungleichheit
191
sitionen, Bewältigungsstile sowie die kognitive Entwicklung (Blane et al. 1993, Pensola 2003). Die Schwierigkeit bei der Einordnung der indirekten Selektion in das kausale Modell der Lebenslaufperspektive besteht aber darin, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit der „doppelten“ Einflussfaktoren wiederum häufig vom sozialen Status abhängig ist, es sich also mithin weniger um Selektion als vielmehr um eine indirekte soziale Verursachung handelt. Ein Beispiel sind kognitive Fähigkeiten in der Kindheit, die sowohl über den späteren sozialen Status mitbestimmen als auch direkt mit Krankheit und Sterblichkeit assoziiert sind (Osler et al. 2003). Berücksichtigt man nur diese Informationen, könnte man durchaus von indirekter Selektion sprechen, bedenkt man aber, dass kognitive Fähigkeiten in Kindheit und Adoleszenz stark vom sozialen Umfeld abhängig sind, so wird deutlich, dass es sich vielmehr um eine soziale Verursachungskette handelt (Jefferis et al. 2003). Insofern sollte man die Selektion nicht als ein konkurrierendes Erklärungsmuster sozialer Varianz des Krankheitsgeschehens im höheren Lebensalter ansehen, sondern als einen integralen Bestandteil der komplexen biologischen und sozialen Prozesse, die im Lebenslauf die Gesundheit mit beeinflussen (van de Mheen et al. 1998). Das gilt auch für direkte Selektionseffekte, denn auch in diesen Fällen ist die Erkrankung, die zu sozialer Abwärtsmobilität führt, häufig erst durch soziale Benachteiligung in jungen Lebensjahren verursacht worden.
4
Zusammenfassung
Die Lebenslaufperspektive macht deutlich, dass die Gesundheit des Menschen das Produkt einer Interaktion von biologischen und sozialen Einflüssen in verschiedenen Stadien des Lebens ist. Macht man sich diese Sichtweise zueigen, so erweitert sich das analytische Feld der Untersuchung sozialer Varianz von Krankheiten im Erwachsenenleben. Einflüsse, die bereits im Mutterleib auf den Organismus wirken, das Wachstum des Säuglings, seine ersten Sozialisationserfahrungen und die späteren Lebensbedingungen des Kindes, rücken in den Blickpunkt. Denn der Körper scheint negative wie positive Erfahrungen zu „erinnern“, und sie prägen seine Konstitution bis ins höhere Alter (Blane 2006). Für die Forschung bedeuten diese neuen, überwiegend aus Geburtskohortenstudien gewonnenen Erkenntnisse, dass sie von komplexen Wirkungsmodellen auszugehen hat. Insofern ist es wichtig, die in der Epidemiologie entwickelten theoretischen Vorstellungen über Krankheitsentstehung auch in der medizinsoziologischen Ungleichheitsforschung zu etablieren und für die spezifischen Zwecke zu adaptieren. Dazu gehört auch die Einsicht, dass hergebrachte Analysestrategien, wie beispielsweise die Korrelation zwischen dem höchsten Schulabschluss und einer Erkrankung im Erwachsenenleben, nur einen sehr begrenzten Blick auf die tatsächlichen, der statistischen Beziehung zugrunde liegenden Abläufe erlauben. Umso bedauerlicher ist, dass die Lebenslaufforschung in Deutschland im Vergleich zu den skandinavischen und angelsächsischen Ländern, aus denen die Mehrzahl der vorgestellten Studien stammt, noch kaum entwickelt ist. Als vorläufiges Fazit ist festzuhalten, dass die soziale Herkunft eines Menschen seine Gesundheitschancen in allen Lebensphasen prägt. Die Wege, die diese Prägung nimmt, sind vielfältig, und wie schwierig es ist, sie eindeutig auseinander zu halten, zeigt das Beispiel der krankheitsbedingten Selektion. Zudem sind sozial vermittelte Einflüsse auf die Gesund-
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Nico Dragano, Johannes Siegrist
heit im Lebenslauf nicht auf eine Generation beschränkt, sondern wirken offenbar vermittelt über drei und mehr Generationen hinweg (Kuh et al. 2005). So kann beispielsweise soziale Deprivation der Großeltern bereits bei der Mutter im Kindesalter zu Entwicklungsstörungen geführt haben, die sie dann während der eigenen Schwangerschaft weniger resistent gegenüber Belastungsfaktoren macht, sodass eine benachteiligte Entwicklung ihres Kindes sozial „vererbt“ ist. Wie vielfältig diese Prozesse ablaufen, wurde durch Forschungsergebnisse verdeutlicht, die sich am Modell kritischer Perioden und am Kumulationsmodell orientieren. Nicht nur für die Forschung, sondern auch für die politische Dimension des Problems gibt die Lebenslaufforschung neue Impulse. Sie zeigt, dass eine Politik, die es sich zur Aufgabe macht, sozial vermittelte Krankheitsrisiken zu bekämpfen, möglichst früh intervenieren muss und zwar bereits bei der Gesundheit von Müttern und bei den Lebensumständen der Säuglinge und Kleinkinder. Zudem verdeutlichen die Ergebnisse, dass Chancengleichheit in der Schulbildung und der Berufswahl auch hinsichtlich der späteren Gesundheit einen elementaren Wert darstellt. Soziale Aufwärtsmobilität zu ermöglichen, ist in diesem Sinne eine Maßnahme der Prävention von Erkrankungen. Vor diesem Hintergrund stimmen die Resultate der oben aufgeführten Schuluntersuchungen PISA und IGLU besonders nachdenklich. Stellt man außerdem den aktuellen Trend in Rechnung, dass sich die sozialen Unterschiede weiter verschärfen und dass eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen in relativer Armut aufwächst, wird klar, dass auf dem Gesundheitszustand der nachwachsenden Generation eine schwere Hypothek lastet.
Danksagung Wir danken der Heinz Nixdorf Stiftung (Vorsitzender des Stiftungsvorstands Dr. jur. G. Schmidt, Essen) für die Finanzierung der Heinz Nixdorf Recall Studie, aus der die Daten zur Korrelation des väterlichen Berufs und späteren Erkrankungen stammen. Wir danken der gesamten Investigatoren-Gruppe der Studie und dem Erhebungsteam.
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Kulturelles Kapital, kollektive Lebensstile und die soziale Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit
Thomas Abel, Andrea Abraham, Kathrin Sommerhalder
1
Einleitung
Trotz intensiver Bemühungen der empirischen Public Health Forschung und trotz wachsender Zahl statistischer Befunde zu einzelnen Zusammenhängen von sozialen Merkmalen und Gesundheit, sind eine Reihe grundlegender Fragen zur sozial ungleichen Verteilung von Gesundheit bis heute offen (Siegrist & Marmot 2004, Krieger 2003). Insbesondere für die Fragen zur sozialen Produktion und Reproduktion der gesundheitlichen Ungleichheit fehlen bis heute hinreichende Erklärungsmodelle. Theoretische Ansätze werden gebraucht um Ungleichverteilungen von Gesundheit und Krankheit besser beschreiben zu können und darin die Bedeutung der sozialen Benachteiligung zu erklären (Krieger 2003). Darüber hinaus sollten theoretische Zugänge aber auch unser Verständnis verbessern zur Frage, wie sich gesundheitliche Ungleichheit aktiv einpasst in die grundlegenden gesellschaftlichen Prozesse der sozialen Strukturierung und Differenzierung. Zur Frage nach der Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit in westlichen Gesellschaften werden heute neben sozial-differenziellen Belastungslagen und Risikokonstellationen immer häufiger auch Faktoren der Gesundheitserhaltung untersucht. Welche Bedeutung kommt der sozial unterschiedlichen Verteilung von ökonomisch, sozial und kulturell geprägten Gesundheitsressourcen bei der Reproduktion sozialer Ungleichheiten zu? Während sich insbesondere die sozialepidemiologische Forschung intensiv mit der Bedeutung ökonomischer Ressourcen und neuerdings auch der des sozialen Kapitals befasst hat (siehe Siegrist et al. in diesem Band), ist über die Bedeutung kultureller Ressourcen bei der Entstehung und Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit bis heute eher wenig bekannt. „Kultur“ als meist undefinierte Einflussgröße findet zwar vereinzelt in neueren Erklärungsmodellen zur sozialen Ungleichheit Erwähnung (Bartley 2005, Brunner & Marmot 1999), ihre genauere Bedeutung bleibt aber meist unspezifiziert oder auf Aspekte des gesundheitlichen Handelns reduziert. So finden sich beispielsweise in „Social Determinants of Health: The Solid Facts“ (Wilkinson & Marmot 2003) neben den strukturellen und verhaltensgebundenen Determinanten kaum noch Hinweise auf kulturelle Faktoren in der ungleichen Verteilung von Gesundheit und Krankheit. Eine Verkürzung der Erklärungen auf materielle Determinanten oder Verhaltenseinflüsse erscheinen aber problematisch angesichts der Komplexität struktureller Ungleichheiten in Gesundheit und Krankheit. Soziale Ungleichheiten, auch solche, die sich in gesundheitlichen Benachteiligungen ausdrücken, sind Teile der Strukturierungsprozesse moderner Gesellschaften, innerhalb derer die aktive Lebensgestaltung und reflexive Wissensaneignung der Menschen eine immer größere Bedeutung annimmt (u.a. Giddens 1991, siehe Hradil in diesem Band). Mit
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Thomas Abel, Andrea Abraham, Kathrin Sommerhalder
diesen neuen Anforderungen nimmt auch die Bedeutung kultureller Ressourcen für die Bewältigung von Alltagsanforderungen einschließlich des gesundheitsförderlichen Handelns zu (u.a. Kickbusch 2006). So wird es heute immer wichtiger, ob eine Person über den soziokulturell geprägten Zugang und über die Handlungskompetenzen verfügt, sich gesundheitsrelevantes Wissen mittels Kommunikation mit Fachpersonen, über soziale Netzwerke und über Medien anzueignen und für die eigene Gesundheit zu verwenden (Abel & Bruhin 2003). Vor diesem Hintergrund erscheint es angeraten, Fragen der sozialen Ungleichheit in Gesundheit und Krankheit heute stärker unter dem Blickwickel der soziokulturellen Prägung und Differenzierung zu betrachten. Innerhalb der Gesundheitswissenschaften bietet dazu der Lebensstilansatz einen geeigneten Ausgangspunkt. Die Ergebnisse sozialepidemiologischer Studien zeigen immer wieder vielfältige Zusammenhänge von modernen Lebensstilen und Erkrankungs- oder vorzeitigem Sterberisiko, subjektivem Gesundheitsstatus und Lebensqualität (u.a. Berkman & Kawachi 2000, Blaxter 1990). Als gesundheitsrelevante Elemente moderner Lebensstile werden in der Literatur unter anderem genannt: spezifische Verhaltensmuster, Einstellungen und Orientierungen, Wertvorstellungen zu Gesundheit und Körper, normative Verhaltensvorstellungen etc. Sie sind zentrale Bestandteile von Lebensstilen und in ihren Inhalten und Bedeutungen sehr eng mit den kulturellen Kontexten der Menschen verflochten. Gesundheitsrelevante Lebensstile sind zudem eng mit Mustern der sozio-strukturellen Differenzierung moderner Gesellschaften assoziiert. So zeigen sich in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen häufiger gesundheitsbelastende Verhaltens- und Einstellungsmuster. Auch gesundheitsrelevante Wertvorstellungen und Gesundheitsdefinitionen variieren nach den Merkmalen sozialer Ungleichheit (z.B. Abel et al. 2002, Siegrist & Marmot 2004, Berkman & Breslow 1983, Faltermaier 2003). Dementsprechend finden sich schon in den sozialepidemiologischen Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre Versuche, die Lebensstil-Perspektive zur Erklärung der Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit und Gesundheit heranzuziehen (Berkman & Breslow 1983, Blaxter 1990). Auffälligerweise wurde dabei den strukturierenden Aspekten von kulturellen Faktoren bis heute wenig Beachtung geschenkt. Auch die Bemühungen, struktur- und handlungstheoretische Erklärungsversuche zu einem erweiterten Verständnis gesundheitlicher Ungleichheit zusammenzuführen (z.B. Abel 1999, Cockerham et al. 1997), haben bisher zu wenig beachtet, dass nicht nur den ökonomischen sondern auch den kulturellen Ressourcen eine wichtige strukturierende Funktion zukommen kann. Archer (1996) bringt es auf den Punkt, wenn sie feststellt: „Culture is structured“ und damit auf die unmittelbaren Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit und Kultur verweist. Gesundheitsrelevante Lebensstile, mit ihren kulturgeprägten Elementen und ihrer sozialstrukturellen Ausdifferenzierung, bieten ein geeignetes Beispiel, den Fragen nach der grundlegenden Bedeutung kultureller Ressourcen für die Reproduktion sozialer Ungleichheit nachzugehen. Für die Suche nach geeigneten Erklärungsansätzen zu sozialer Ungleichheit und kultureller Differenzierung greifen wir hier auf die Kapitaltheorie von Pierre Bourdieu zurück. Die Arbeiten von Bourdieu finden in den Gesundheitswissenschaften seit den 1990er Jahren vermehrt Aufmerksamkeit. Seine Theorien wurden insbesondere in theoretischen und empirischen Lebensstil- und Habitusstudien gezielt angewendet (u.a. Cockerham et al. 1997, Williams 1995). Dabei wurde die weiterreichende Erklärungskraft des Kapitalansatzes für die Ungleichheitsthematik jedoch bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.
Kulturelles Kapital und die soziale Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit
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Im vorliegenden Kapitel wenden wir das Bourdieu’sche Konzept des kulturellen Kapitals zur Erklärung der Reproduktion sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit an. Unsere Anwendung zeigt,
dass kulturelle Ressourcen eine zentrale Bestimmungsgröße für die soziale Ausdifferenzierung von gesundheitsrelevanten Lebensstilen sind, dass kulturell geprägte Gesundheitsressourcen Bestandteile des kulturellen Kapitals sind und, dass das kulturelle Kapital neben dem ökonomischen und dem sozialen Kapital eine dritte und genuine Form des gesundheitsrelevanten Kapitals darstellt.
Nach einer komprimierten Diskussion von struktur- und handlungstheoretischen Aspekten innerhalb des Lebensstil-Ansatzes werden die wichtigsten Verbindungspunkte zwischen gesundheitsrelevanten Lebensstilen und dem Konzept des kulturellen Kapitals bei Bourdieu dargestellt. Eine eigentliche theoretische Ausarbeitung des Kulturkapital-Ansatzes und seine Anwendung in empirisch überprüfbaren gesundheitswissenschaftlichen Konzepten ist dann – entsprechend dem spezifischen Erkenntnisinteresse – jeweils zu leisten. Bezogen darauf werden im Schlussteil nach einer kurzen Zusammenfassung Implikationen für zukünftige Forschungen aufgezeigt.
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Gesundheitsrelevante Lebensstile und Habitus
Innerhalb der Arbeiten zur theoretischen Eingrenzung des Themas Lebensstile und Gesundheit stellt die Verbindung von struktur- und handlungsbezogenen Faktoren bis heute eine grosse Herausforderung dar (Abel 1999, Williams 1995). Bourdieu’s Konzept des Habitus bietet ein wichtiges Verbindungselement und trägt so erheblich zu einer theoretischen Fundierung des Konzeptes der Lebensstile bei. Lebensstile als expressive Form von Habitus Bourdieu beschreibt Lebensstile als systematische Produkte des Habitus. Der Habitus als ein System von Alltagsroutinen „[…] ist nicht nur eine strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur.“ (Bourdieu 1982: 279) Der Habitus prägt die gesundheitsrelevanten Lebensstile durch spezifische Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata (Abel 1999, Frohlich et al. 2001). Diese Schemata reproduzieren oder modifizieren wiederum den Habitus. Die Interaktion zwischen Habitus und Lebensstilen kann als Feedbackprozess verstanden werden (Cockerham 2005). Der Habitus seinerseits wird erzeugt und geformt durch spezifische Lebensbedingungen, die sich aus der Position innerhalb einer Gesellschaft und der damit verbundenen Ausstattung mit ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital ergeben (Williams 1995). Der Habitus stellt demnach eine Internalisierung von sozialen Bedingungen dar (Cockerham 2005). Da Lebensstile als expressive Form des Habitus verstanden werden, zeigt sich in den Lebensstilen die soziale Positionierung innerhalb einer Gesellschaft: „Insofern unterschiedliche Existenzbedingungen unterschiedliche Formen des Habitus hervorbringen, [...] erweisen sich die von den jeweiligen Habitus erzeugten Praxisformen als systematische Konfiguration von Eigenschaften und Merkmalen und darin als
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Ausdruck der Unterschiede, die [...] als Lebensstile fungieren.“ (Bourdieu 1982: 278f) Bourdieu hat die Verbindung zwischen sozialstruktureller Position, Ressourcen und Lebensstilen unter anderem mittels klassentypischer Unterschiede in Ernährungsgewohnheiten und Sportpraktiken zwischen verschiedenen Gruppen der französischen Gesellschaft beschrieben. So bevorzugten zum Beispiel Hochschullehrer eher Schach und Bergsteigen und Angehörige von Arbeiterschichten Fußball, Rugby und Angeln (Schwingel 1995). Die Einbettung des Konzeptes „Lebensstile“ in die Zusammenhänge von Habitus und Kapital bei Bourdieu verdeutlicht, dass Lebensstile nicht primär als individuell gewählte Verhaltensweisen, Handlungsmuster, etc. zu verstehen sind, sondern in erster Linie von spezifischen, sozial unterschiedlichen Lebensbedingungen geprägt werden. Der Habitus wird entsprechend der Ressourcenausstattung gebildet und fungiert so als Vermittlungskategorie zwischen der sozialen Position eines Menschen und seinem Lebensstil. Über ihren Habitus werden Individuen zu den Trägern und (Re-)Produzenten von kollektiven Lebensstilen. Gesundheitsrelevante Lebensstile und kulturelles Kapital Im Wettbewerb um soziale Positionen und Privilegien (einschließlich Gesundheit), kommt den kulturellen Ressourcen eine zentrale Bedeutung zu. Ähnlich wie ökonomische und soziale Ressourcen bestimmen sie die Chancen der sozialen Teilhabe und Nutzung gesellschaftlicher Güter und Leistungen. Für die soziale Ausdifferenzierung gesundheitsrelevanter Lebensstile sind eine Reihe von sozio-kulturell geprägten Gesundheitsressourcen von besonderer Bedeutung:
Wissen, zum Beispiel wie Gesundheit zustande kommt und wie sie verbessert werden kann Wahrnehmungen, zum Beispiel von Gesundheitsrisiken und deren Veränderbarkeit Werthaltungen, zum Beispiel zur Solidarität im Gesundheitswesen Einstellungen, zum Beispiel zum Gesundheitsverhalten Verhaltensrepertoire, zum Beispiel Auswahlmöglichkeiten aus sozial passenden und ökonomisch angemessenen Verhaltensoptionen
Solche kulturellen Ressourcen können direkt für Gesundheit eingesetzt werden. So zeigt beispielsweise Eysenbach (2003) auf, dass viele KrebspatientInnen das Internet als eine Ressource zur gezielten Informationsgewinnung nutzen. In vielen Fällen beeinflusst die Nutzung dieser Ressource ihren Umgang mit ihrem Krebsleiden positiv: „Provision of information to persons with cancer has been shown to help patients gain control, reduce anxiety, improve compliance, create realistic expectations, promote self-care and participation, and generate feelings of safety and security. Satisfaction with information has been shown to correlate with quality of life, and patients who feel satisfied with the adequacy of information given are more likely to feel happy with their level of participation in the overall process of decision making.” (ebd.: 365) Zugleich zeigen empirische Studien aber auch, dass die Nutzung von modernen Medien wie dem Internet von sozialen und kulturellen Lebensbedingungen der Menschen beeinflusst wird. Murray et al. (2003) zeigen anhand einer repräsentativen Befragung in der amerikanischen Bevölkerung, dass bei der Internetnutzung von Gesundheitsinformationen ein digitaler Graben zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen besteht: „Younger, wealthier, better educated people were most
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likely to have looked for information […]. African Americans were less likely than whites to look for information.” (ebd.: 1729f) Sozio-kulturell geprägte Gesundheitsressourcen erweitern den Handlungsraum zur Förderung der Gesundheit. Sie lassen darüber hinaus im Sinne von „investment and return“ einen Ertrag sowohl in Form von besserer Gesundheit als auch – wenn über sozial positiv sanktionierte Lebensstilmuster eingebracht – zur höheren sozialen Positionierung erwarten. In dieser doppelten Funktion werden kulturgeprägte Ressourcen zu gesundheitsrelevantem Kapital (Abel 2007). Wie sind Gesundheitsressourcen eingebunden in die grundlegenden Verteilungsprinzipien der sozialen Ungleichheit? Wie lassen sich solche Aspekte kultureller Einflüsse in eine Theorie der sozialen Ungleichheit integrieren? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es einer Weiterentwicklung der oben kurz beschriebenen Ansätze zur Habitus-Lebensstil Verbindung. Für diese theoretische Aufgabe greifen wir hier auf den Ansatz des kulturellen Kapitals von Pierre Bourdieu zurück.
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Kulturelles Kapital
Die oben vorgenommene Fokussierung der Ungleichheitsthematik auf sozial ungleich verteilte Ressourcen als Determinanten der gesundheitlichen Ungleichheit ist als solche in den Gesundheitswissenschaften keine Neuerung. Entsprechende Schwerpunkte sind in den einschlägigen Arbeiten bisher aber vorwiegend auf ökonomische und soziale Ressourcen gelegt worden (Berkman & Kawachi 2000, Marmot & Wilkinson 1999). Kulturelle Aspekte und Ressourcen werden, wenn überhaupt, meist im Sinne einer kulturellen Diversifikation diskutiert (Krieger 2001, Kunitz 1994). Dagegen nehmen wir hier die Position ein, dass kulturgeprägte Ressourcen, ähnlich wie ökonomische Mittel, einen distinkten Ungleichheitsfaktor darstellen. Die sozial-differentielle Wirkung kulturgeprägter Ressourcen bezieht sich zugleich auf die soziale und die gesundheitliche Benachteiligung (respektive Privilegierung). In diesem Sinne kann über die Konzeptualisierung von kulturellen Ressourcen als dritte Form des gesundheitsrelevanten Kapitals (neben ökonomischem und sozialem Kapital) eine Verbesserung unseres Verständnisses der komplexen Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit und Gesundheit erreicht werden. Formen des Kapitals Bourdieu versteht Kapital in seinen drei Formen grundsätzlich als soziale Energie und akkumulierte Arbeit, sei dies in objektivierter oder in inkorporierter, d.h. in verinnerlichter, einverleibter Form. Die Akkumulation geschieht dabei in ökonomischen, kulturellen und sozialen Austauschprozessen und dient der Positionierung von Akteurinnen und Akteuren im sozialen Raum (Bourdieu 1986). Mit der sozialen Position sind in der Regel Privilegien und systematische Vorteile bei der Durchsetzung von Interessen, der Umsetzung von Zielen und der Erreichung positiv besetzter Güter und Werte (einschließlich Gesundheit) verbunden. Die ungleiche Kapitalverteilung ist die konstituierende Grösse einer vorherrschenden Sozialstruktur (Bourdieu 1986). Bourdieus Verständnis von Kapital löst sich von einer rein ökonomischen Begriffsbestimmung und setzt Kapital in einen erweiterten Kontext, um auf diese Weise die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, einschließlich der unterschiedlich verteilten Teilhabe an
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Thomas Abel, Andrea Abraham, Kathrin Sommerhalder
und Aneignung von Gütern und Werten, zu beleuchten. Kapital ist demnach ein Faktor der sozialen Ungleichheit, der sowohl in objektivierter als auch in inkorporierter Form bestehen kann. Nur durch diese Erweiterung des Kapitalbegriffs sieht Bourdieu die Möglichkeit, soziale Strukturen und die darin wirkenden Dynamiken – einschließlich der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit – erklären zu können. Er unterscheidet dabei drei Arten von Kapital: 1. Ökonomisches Kapital Geld, Wertpapiere und andere direkt in finanzielle Mittel konvertierbare materielle Güter werden als ökonomisches Kapital bezeichnet. 2. Soziales Kapital Soziales Kapital umfasst immaterielle Ressourcen, welche aus spezifischen Formen sozialer Beziehungen und Netzwerken resultieren (Bourdieu 1986). Soziales Kapital dient Akteurinnen und Akteuren zur Erreichung gewisser Ziele, die ohne diese Ressource nicht oder erheblich schwerer erreichbar wären. Zentrale Merkmale von sozialkapitalreichen Beziehungen sind eine hohe Vertrauensdichte sowie Normen zur Regelung von Gegenseitigkeit, Verbindlichkeit, Kooperation, Solidarität, Unterstützung, Information und Reziprozität (vgl. Bourdieu 1983, Coleman 1988, Putnam 2000). 3. Kulturelles Kapital Kulturelles Kapital ist gemäss Bourdieu nebst sozialem und ökonomischem Kapital die dritte entscheidende Ressource, welche zur Positionierung von Akteurinnen und Akteuren im sozialen Raum beiträgt. Kulturelles Kapital weist eine grundsätzliche Körpergebundenheit und Verinnerlichung auf (Bourdieu 1983). Kulturelles Kapital umfasst mehr als die schulische Bildung erworbene Ressourcen (Bourdieu 1986). Wir definieren kulturelles Kapital hier als ein Gesamt aller nicht-ökonomischen, wertbesetzten Objekte, wertegebundenen Merkmale, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich im Besitz des Individuums für seine eigene soziale Positionierung wirksam sind. Kulturelles Kapital lässt sich in drei Grundformen unterscheiden und darin auf Gesundheit beziehen:
Inkorporiertes Kulturkapital: Inkorporiertes bzw. verinnerlichtes Kulturkapital bezeichnet den dauerhaften kognitiv, emotional und körperlich verankerten Besitz einer Person an Wissen und sozialen, kulturellen und technischen Fertigkeiten. Beispiele aus dem Gesundheitsbereich wären wissensbasierte Gesundheitskompetenzen, gesundheitsrelevante Wertvorstellungen und Körperschemata, Kommunikationsmittel zum Beispiel in der Arzt-Patienten Beziehung, etc. Im Gegensatz zu anderen Kapitalformen kann inkorporiertes Kulturkapital weder durch Vererbung, Schenkung noch durch Tausch weitergegeben werden, sondern muss von jeder Person selber mittels Lernprozessen erworben werden. Die Inkorporierung von Kulturkapital vollzieht sich nicht nur bewusst und zielgerichtet im Rahmen von institutionalisierten Erziehungsund Bildungsprogrammen. Zu einem Grossteil geschieht sie – insbesondere in ihrer Funktion als Prozess aktiver sozialer Differenzierung – meist unbewusst über milieuspezifische Sozialisationsprozesse. Inkorporiertes Kulturkapital wird gebildet über den Habitus, d.h. in einem System von spezifischen Verhaltens- und Orientierungsmustern oder Geschmacksvorlieben: Seien dies Sprachjargon, Wohnungseinrichtung, Kleidung
Kulturelles Kapital und die soziale Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit
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und anderes mehr. Inkorporiertes kulturelles Kapital findet seinen Ausdruck in gesundheitsrelevanten Lebensstilen. Darunter fallen Verhaltensmuster, die von direkter gesundheitlicher Relevanz sind, so Ernährung, gesundheitsförderliche Freizeitaktivitäten oder die selektive Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Solche Verhaltensmuster sind nicht individueller Natur sondern Teil kollektiver Verhaltensweisen und Vorlieben und spiegeln die soziale Herkunft, Bildungssozialisation und Ressourcenausstattung einer Person wider. Sie dienen zudem nicht lediglich einem Selbstzweck (z.B. Erholung, Gesundheitsförderung) sondern (häufig unbewusst) auch zur Symbolisierung und Rückverstärkung der eigenen sozialen Identität und sozialen Zugehörigkeit (z.B. zum Golfclub) und zur sozialen Abgrenzung von anderen Bevölkerungsgruppen und -schichten (vgl. Bartley 2005, Bourdieu 1982). Objektiviertes Kulturkapital: Kulturkapital existiert auch in verdinglichter Form (z.B. Bilder, Bücher, Wörterbücher, Instrumente, Maschinen, Sportartikel und anderem mehr). Es handelt sich dabei um kulturelle Güter einer Gesellschaft, die sich aus bestimmten Theorien oder Problemen herausbilden. Die Aneignung von objektiviertem Kulturkapital ist oft abhängig vom Besitzstand an ökonomischem Kapital: die Finanzierung eines Nachhilfeunterrichts der eigenen Kinder oder die Investition in gesundheitsförderliche Kurse oder auch nur der Kauf von Gesundheitsratgebern verweisen beispielhaft auf möglicherweise vorhandene ökonomische Grenzen der Aneignung von kulturellem Kapital. Im Weiteren kann die Nutzung von objektiviertem Kulturkapital (z.B. das gezielte Suchen von Gesundheitsinformationen in Büchern oder im Internet) auch nicht losgelöst von inkorporiertem Kulturkapital gedacht werden, da für die adäquate Verwendung von solchen Gütern spezifisches Wissen und Fertigkeiten gebraucht werden. Institutionalisiertes Kulturkapital: Berufsabschlüsse und -diplome, Bildungstitel und akademische Qualifikationen bescheinigen in offizieller Form ihren Besitzerinnen und Besitzern, dass sie über wertgeschätzte, kulturelle Ressourcen verfügen. Als Zertifikate für bildungsbasierte Kompetenzen können sie von ihren Besitzern als Kapital zum Beispiel im Wettbewerb um berufliche Positionen eingesetzt werden. Solches Kapital kann aber auch hilfreich sein bei der Durchsetzung bestimmter gesundheitsbezogener Interessen. So wird man davon ausgehen können, dass zum Beispiel eine Bürgerinitiative zur Verkehrsberuhigung in einem Stadtteil mehr politische Akzeptanz findet, wenn sie von Vertreterinnen und Vertretern mit höheren Bildungstiteln lanciert oder mitgetragen wird.
Akkumulation und Transformation von Kapital und die Reproduktion von Ungleichheiten
Kulturelles Kapital wird im Laufe der Sozialisation über die Familie, Schule und andere Institutionen der Sekundärsozialisation (z.B. Sportvereine, Berufswelt, etc.) erworben und weitergegeben. Die Akkumulation von Kapital ist ein komplexer Aneignungsprozess, bei dem meist alle drei Kapitalsorten direkt oder indirekt beteiligt sind. So bedarf es für die Aneignung von kulturellem Kapital neben dem zeitlichen Aufwand auch finanzielle Ressourcen und soziale Unterstützung. Die drei Kapitalsorten und ihre Unterformen interagieren untereinander in vielfältigen Akkumulations- und Übertragungsprozessen. So zeigt sich
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kulturelles Kapital meist auch von sozioökonomischen Kontextbedingungen abhängig. Dazu ein Beispiel: In einer empirischen Studie untersuchten Greenhalgh et al. (2004) die Wahrnehmungen und Erwartungen von 14- bis 16-Jährigen im Hinblick auf ein mögliches späteres Medizinstudium. Dabei zeigten sich systematische Unterschiede je nach ethnischer und sozioökonomischer Herkunft der Jugendlichen. Die Autorinnen kamen zu dem Schluss: „Underachievement by able pupils from poor backgrounds may be more to do with identity, motivation, and the cultural framing of career choices than with low levels of factual knowledge.” (ebd.: 1541) Im Rahmen der Kulturkapital-Theorie sind solche Effekte zu erwarten, denn: „Die subjektive Erwartung, die den einzelnen veranlasst, sich selbst auszuschließen, orientiert sich an einer Schätzung der objektiven Erfolgschancen seiner Klasse, wobei gerade dieser Mechanismus zur Verwirklichung der objektiven Wahrscheinlichkeiten beiträgt.“ (Bourdieu & Passeron 1971: 179) Auch für den Fall, dass begonnene Schulkarrieren in Gefahr geraten, sind es eher Eltern aus kapitalreichen Schichten, die ihren „strauchelnden“ Kindern die nötige Unterstützung zukommen lassen können. Zum Beispiel kann durch den Rückgriff auf Ressourcen im Bekanntenkreis (soziales Kapital) eine kompetente Lernhilfe gefunden werden oder mit dem Einsatz von Familiengeldern (ökonomisches Kapital) ein professioneller Nachhilfeunterricht ermöglicht werden. In beiden Fällen wird der Aufbau von kulturellem Kapital (des Kindes) mit dem Einsatz anderer Kapitalsorten gefördert. Wenn solche Investitionen erfolgreich verlaufen, dann kann die Tochter/der Sohn das erarbeitete inkorporierte (Bildungswissen) und institutionalisierte (Bildungsabschluss) kulturelle Kapital für den späteren Wettbewerb um höhere berufliche Positionen einsetzen, was bei Erfolg wiederum mit höherem Einkommen und sozialem Ansehen verbunden ist. Dabei wird das in die Ausbildung der Kinder investierte ökonomische Kapital in kulturelles Kapital transformiert, mit dem Potential einer erneuten Transformation in ökonomisches Kapital. Bestenfalls führt die Investition in die Bildungstitel über höhere Berufspositionen dann noch zu sozialkapitalreichen beruflichen Netzwerken und damit zu einer Erhöhung des sozialen Kapitals. Bezogen auf die Praxis gesundheitsrelevanter Lebensstile lassen sich andere Beispiele für das vielfältige Zusammenspiel der Kapitalsorten anführen. Gesundheitswissen und Gesundheitsmotivationen (als Indikatoren von inkorporiertem kulturellem Kapital) können über die Mitgliedschaft in Gesundheitssportgruppen, themenspezifischen Bürgerinitiativen, etc. zur sozialen Teilhabe und zur Verbesserung sozialer Kontakte führen. Andererseits ist eine bestimmte Grundausstattung an ökonomischem Kapital notwendig, um bestimmte gesundheitsförderliche Lebensstilgewohnheiten, wie das regelmäßige Wellness Wochenende, als realistisch wahrzunehmen und umzusetzen. In Verbindung mit Gesundheitswissen kann ökonomisches Kapital es ermöglichen, sich Objekte des kulturellen Kapitals zu Nutze zu machen, wie zum Beispiel das Mountainbike oder der Golf- oder Tennisschläger, und über die Ausübung bestimmter „sportiver Lebensstile“ nicht nur Gesundheitsgewinne zu erzielen, sondern auch Status und die Zugehörigkeit zu einer distinkten Bevölkerungsschicht kenntlich zu machen. In Abb. 11.1 wird die Einpassung des kulturellen Kapitals in die Prozesse der sozialen und der gesundheitlichen Differenzierung dargestellt. In diesen Prozessen kommt den (klassenspezifischem) Habitus und Lebensstilen eine zentrale Vermittlungsrolle zu. Darüber hinaus verdeutlicht die Abbildung, dass die Prozesse der sozialen und der gesundheitlichen Ausdifferenzierung auf den gleichen Prinzipien der Kapitalakkumulation und interaktion basieren. Entsprechend diesen Prinzipien führt eine bessere oder schlechtere
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Kulturelles Kapital und die soziale Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit
Ausstattung mit gesundheitsrelevantem kulturellem Kapital in Verbindung mit anderen Kapitalien zur Bildung kollektiver Muster gesundheitsrelevanter Lebensstile. Diese Lebensstile leisten ihrerseits dann aktive Beiträge zur sozialen Distinktion (Sozialstatus) und zugleich zur sozialen Differenzierung der Gesundheit (Gesundheitsstatus). Diese Betrachtungsweise bezieht sowohl wechselseitige als auch rekursive Effekte mit ein. Konkret gehen wir davon aus, dass ein hoher oder niedriger Sozialstatus die Wahrscheinlichkeiten für einen besseren oder schlechteren Gesundheitsstatus beeinflussen, und dass ein schlechterer Gesundheitsstatus auch die Chancen zum Sozialstatuserwerb verringert. Gesundheits- und Sozialstatus sind entsprechend diesem Modell nicht nur von der Ausstattung mit verschiedenen Kapitalsorten abhängig, sondern wirken selbst auch wieder auf die Chancen der Kapitalakkumulation und -transformation zurück. Abbildung 11.1: Kapitalinteraktion und gesundheitsrelevante Lebensstile Ökonomisches Kapital Soziales Kapital
Kulturelles Kapital
Gesundheitsstatus Habitus
Gesundheitsrelevante Lebensstile Sozialstatus
Inkorporiertes kult. Kapital
Institutionalisiertes kult. Kapital
Objektiviertes
Inkorporiertes kult. Kapital
Institutionalisiertes kult. Kapital
Objektiviertes kult. Kapital
Quelle: eigene Abbildung
Ohne hier weiter auf die Einzelheiten der Dynamiken des Kapitalaustausches eingehen zu können, sollte an den oben genannten Beispielen deutlich geworden sein, dass sowohl der Akkumulation als auch der Transformation von Kapitalsorten untereinander eine wichtige Bedeutung bei der Reproduktion sozialer und (z.B. über kollektive Lebensstile vermittelte) gesundheitlicher Ungleichheit zukommt. Sozial benachteiligte Menschen haben im Zusammenspiel der unterschiedlichen Kapitalien ungünstigere Voraussetzungen für eine effektive Kapitalumwandlung, was ihre Chancen sowohl im Hinblick für Statusverbesserung als auch im Hinblick auf Gesundheitsgewinne verringert.
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Zusammenfassung und Ausblick: Von den kollektiven Lebensstilen zum kulturellen Kapital
In den Beiträgen von Pierre Bourdieu zur Erklärung sozialer Ungleichheit wird heute, insbesondere in der Soziologie, dem Konzept des kulturellen Kapitals wachsende Beachtung
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Thomas Abel, Andrea Abraham, Kathrin Sommerhalder
geschenkt (u.a. Swartz 1997). In den Gesundheitswissenschaften und dort insbesondere den Arbeiten zur sozialen Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit sind dagegen noch kaum Anwendungen dieses Ansatzes auszumachen. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass Bourdieu – im Gegensatz zu Themen wie Bildung oder Kunst – sich selbst nicht explizit dem Gegenstand Gesundheit/Krankheit gewidmet hat. Die Übertragung des Konzeptes des kulturellen Kapitals auf das spezifische Problemfeld der gesundheitlichen Ungleichheit muss daher erst noch geleistet werden. Dazu hat das vorliegende Kapitel versucht, einen Einstieg zu liefern. Die dazu ausgebaute Argumentationslinie fassen wir wie folgt zusammen (siehe dazu auch Abel 2008):
Gesundheitsrelevante Lebensstile werden geprägt von Habitusformen, die ihrerseits den jeweiligen kulturellen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen der Menschen entsprechen. Kulturelle Ressourcen sind für gesundheitsrelevante Lebensstile von zweifacher Bedeutung: über gesundheitsrelevante Werte, Wahrnehmungen und Verhaltensnormen prägen sie das Gesundheitshandeln der Menschen und können damit direkt deren Gesundheitsstatus und -chancen beeinflussen. Zugleich tragen sie als zentrale Bestandteile des klassenspezifischen Habitus zur Reproduktion der jeweiligen sozialen Position im Ungleichheitsgefüge einer Gesellschaft bei. In dieser Doppelfunktion werden kulturelle Ressourcen zu gesundheitsrelevantem kulturellem Kapital. Sie interagieren mit ökonomischem und sozialem Kapital und werden so zum Treibstoff, der den Motor der sozialen Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit zum Laufen bringt. Die Akkumulation und Transformation der unterschiedlichen gesundheitsrelevanten Kapitalsorten rückt so in das Zentrum zukünftiger theoretischer und empirischer Forschungsfragen.
Die vorliegenden theoretischen Betrachtungen legen nahe, dass die sozial-differentielle Kraft gesundheitsrelevanter Lebensstile primär über die unterschiedliche Verteilung von spezifischen Ressourcen zu verstehen ist. Mit anderen Worten: Gesundheitsrelevante Lebensstile werden zu kollektiven Einheiten der sozialen Ungleichheit über die sozial differentiell unterschiedliche Verfügbarkeit und Anwendung von gesundheitsrelevantem kulturellem Kapital. Dies weist dem kulturellen Kapital eine Schlüsselrolle in der sozialen Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit zu. Bedingt durch den noch jungen Entwicklungsstand der gesundheitswissenschaftlichen Forschung zum kulturellen Kapital liegen heute noch keine gezielten Studien zur Bedeutung des kulturellen Kapitals für gesundheitliche Ungleichheit vor. Es lassen sich aber die Ergebnisse aktueller Studien zur Verdeutlichung der Relevanz dieser theoretischen Ausrichtung heranziehen. So etwa die Resultate der Studie „LifE“ der Universität Konstanz (Werner 2004), die WHO Studie „Health Behaviour in School-aged Children“ (Currie et al. 2004) oder die Publikation von SinghManoux & Marmot (2005). In ihnen wird aufgezeigt, dass kulturelles Kapital mittelfristig betrachtet sowohl für die späteren Berufs- als auch die späteren Gesundheitschancen von großer Bedeutung ist.
Kulturelles Kapital und die soziale Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit
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Aufgaben der theoretischen Weiterentwicklung Es werden weitere vertiefende theoretische Aufarbeitungen nötig sein, um die Potentiale dieses Ansatzes für die Erforschung gesundheitlicher Ungleichheit auszuschöpfen. Insbesondere Bourdieus Konzept der sozialen Felder (z.B. Martin 2003) erscheint eine wichtige, theoretische Größe, um die jeweilige Bedeutung unterschiedlicher Kapitalsorten für die ungleiche Verteilung von Gesundheitschancen zu explorieren. Des Weiteren sollten gezielte theoretische Vorarbeiten geleistet werden zur Einbeziehung bzw. Abgrenzung von weiteren Merkmalen sozialer Ungleichheit, wie zum Beispiel Gender oder ethnischer Hintergrund. Eine Ergänzung oder gar Neuausrichtung der Forschung könnte angezeigt sein, wenn die dynamischen Prozesse der Entstehung, des Erhaltes und der intergenerativen Weitergabe der Muster sozial-differentieller Ressourcenausstattungen in das Zentrum des Erkenntnisinteresses rücken. Hier deutet sich mit der Theorie des kulturellen Kapitals an, dass die heutigen Forschungsfragen über die relative Bedeutung einzelner sozialer Determinanten sinnvoll erweitert werden können. Die neue Leitfrage lautet dann: Wie und unter welchen kontextuellen Voraussetzungen bestimmt das Zusammenspiel der verschiedenen Kapitalsorten die Gesundheitschancen der Mitglieder unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen? Von der Theorie zur Empirie Um solche und ähnliche Fragen auch in empirischen Untersuchungen angehen zu können, kann es hilfreich sein, in einem ersten Schritt einen theoretischen Ausgangspunkt festzulegen. Davon ausgehend kann über Konzeptbildung und Operationalisierung bis hin zur Itementwicklung jeweils theoriegeleitet vorgegangen werden. In einem neueren Aufsatz von Frohlich et al. (2006) wird ein heuristisches Hilfsmittel zur Unterstützung dieses Vorgehens vorgestellt. Das sogenannte „template“ soll dazu dienen, Erklärungspfade zur Verbindung von strukturellen Lebensbedingungen und Gesundheit zu entwickeln. In einer Anwendung auf die Thematik des kulturellen Kapitals wird dazu hier ein erster Entwurf vorgestellt (siehe Tab. 11.1). Diese Übersicht dient dazu, Arbeiten im komplexen Themengebiet „Kulturelles Kapital und gesundheitliche Ungleichheit“ anzuleiten. Sie wird, wie auch hoffentlich die Ausführungen in diesem Kapitel insgesamt, einige Anregungen für die zukünftige Forschung zu den Zusammenhängen von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit bieten können.
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Thomas Abel, Andrea Abraham, Kathrin Sommerhalder
Tabelle 11.1: Kulturelles Kapital und gesundheitsrelevante Lebensstile: Von der Theorie zur Erfassung Grand Theory
Substantive Theory
Conceptual linkage
Construct
Indicator
Item
Bourdieus „Theorie der Praxis“ (zur Erklärung der Verteilung und Erhaltung von Macht und Privilegien)
Kapitaltheorie und die Reproduktion sozialer Ungleichheit
Kulturelles Kapital als Schlüsselelement der Produktion von Gesundheit und der sozialen Reproduktion ungleich verteilter Gesundheitschancen
z.B. Gesundheitsrelevante Lebensstile als Verbindungsglied zwischen Struktur und Handlung
z.B. Sozialdifferentielle Ressourcenmuster von gesundheitsrelevanten - Verhalten - Orientierungen - Handlungskompetenzen
z.B. - Ernährung - Selbstverantwortung - Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Interessensvertretung
Quelle: In Anlehnung an Frohlich et al. (2006)
Fazit Mit dem Konzept des kulturellen Kapitals steht der Gesundheitsforschung ein neuer Ansatzpunkt zum besseren Verständnis der sozialen Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit zur Verfügung. Das Konzept liefert eine theoretisch fundierte Verbindung von strukturund handlungsbedingten Determinanten der Gesundheit. Es verstärkt die Einbindung soziokulturell geprägter Ressourcen in den aktuellen Ungleichheitsdiskurs und verdeutlicht dabei die Strukturverflochtenheit auch nicht-materieller Gesundheitsdeterminanten. Mit dem Ansatz des kulturellen Kapitals steht damit für die Gesundheitswissenschaften ein neues und viel versprechendes Konzept auf dem Prüfstand theoretischer Weiterentwicklungen und empirischer Analysen.
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Kulturelles Kapital und die soziale Reproduktion gesundheitlicher Ungleichheit
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12 Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen Thomas Lampert, Matthias Richter
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Einleitung
Die Forschung und Berichterstattung zur gesundheitlichen Ungleichheit hat sich lange Zeit vorwiegend auf die Bevölkerung im Erwerbsalter konzentriert. Kinder und Jugendliche sind erst in den letzten Jahren in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Entscheidenden Anteil daran hatten Sozial- und Armutsberichte, die eine zunehmende Ungleichheit der Lebensverhältnisse in Deutschland konstatieren und in Kindern und Jugendlichen die Hauptleidtragenden dieser Entwicklung sehen (BMGS 2005, BMFSFJ 2005, AWO 2000). Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang u.a. auf das hohe Armutsrisiko der heranwachsenden Generation, das inzwischen deutlich über dem in der Erwachsenenbevölkerung liegt, weshalb bisweilen von einer „Infantilisierung der Armut“ (Hauser 1989) gesprochen wird. Weitere Anhaltspunkte geben die starke Abhängigkeit der Bildungsbeteiligung von der sozialen Herkunft und die hohe Jugendarbeitslosigkeit vor, die – aufgrund der Bedeutung für die spätere Positionierung auf dem Arbeitsmarkt und den resultierenden Einkommenschancen – auch unter dem Gesichtspunkt der Verfestigung sozialer Benachteiligung im Lebenslauf und „intergenerationaler Armutszirkel“ zu betrachtet sind (Altgeld et al. 2006). Das wachsende Interesse an Kindern und Jugendlichen ist außerdem darin begründet, dass die Forschung und Berichterstattung zur gesundheitlichen Ungleichheit nicht mehr nur auf die Ermittlung und Beschreibung von Zusammenhängen zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage zielt, sondern auch auf deren Erklärung und die Ableitung politischer Handlungsempfehlungen (Mielck 2000, 2001, Bauer et al. 2008, Richter et al. 2008, Lampert et al. 2009, siehe auch Richter & Hurrelmann in diesem Band). Für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit ist von Bedeutung, dass im Kindes- und Jugendalter wichtige Weichenstellungen für die gesundheitliche Entwicklung im weiteren Lebenslauf erfolgen und diese maßgeblich durch die Lebensumstände geprägt werden. Beispielsweise lässt sich eine Beziehung zwischen materieller Deprivation in jungen Jahren und dem Auftreten von Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen im mittleren und höheren Lebensalter herstellen (Barker 1991, 1992). Ebenso sind Auswirkungen auf die kognitive und geistige Entwicklung nachgewiesen, die wiederum in enger Beziehung zu den Bildungschancen und den daran geknüpften Gesundheitspotenzialen steht (Vagerö & Illsley 1995). Kommt es bereits in jungen Jahren zu Gesundheitsstörungen, dann setzen sich diese oftmals in späteren Lebensphasen fort, bisweilen mit einem progressiven Verlauf (Dragano & Siegrist in diesem Band). Gleiches gilt für Krankheitsrisiken wie Übergewicht, Bewegungsmangel oder Rauchen, da diesen zumeist habitualisierte Einstellungs- und Verhaltensmuster zugrunde liegen (Hurrelmann 2000).
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Thomas Lampert, Matthias Richter
Die Diskussion über Interventionsmöglichkeiten bezieht sich neben der Verbesserung der Lebensbedingungen und Teilhabechancen von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen zurzeit vor allem auf eine Stärkung der Prävention und Gesundheitsförderung. Beispielhaft sei auf die Neugestaltung des § 20 Abs. 1 SGB V, die Gründung des Deutschen Forums für Prävention und Gesundheitsförderung sowie die anhaltende Forderung nach einem Gesetz zur Verankerung der Prävention und Gesundheitsförderung als eigenständige Säule im Gesundheitswesen („Präventionsgesetz“) hingewiesen (Rosenbrock 2004, Altgeld et al. 2006). Angesichts der vorhandenen Erkenntnisse über die frühe Prägung von Krankheitsrisiken und Gesundheitschancen kann davon ausgegangen werden, dass präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen – auch im Hinblick auf ihr sozialkompensatorisches Potenzial – umso erfolgreicher sind, je früher im Leben sie ansetzen. Kinder und Jugendliche sind deshalb aus Sicht der Prävention und Gesundheitsförderung eine der wichtigsten, wenn nicht gar die wichtigste Zielgruppe (Jerusalem et al. 2003, Richter 2005a, Lampert 2007, Richter 2008). Im Folgenden wird ausgehend von einer kurzen Darstellung der sozialen Lage von Kindern und Jugendlichen in Deutschland der aktuelle Forschungs- und Erkenntnisstand zur gesundheitlichen Ungleichheit in der heranwachsenden Generation aufgearbeitet. Neben der Beschreibung von Zusammenhängen zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage schließt dies – entsprechend der erweiterten Forschungsperspektive – auch die Diskussion vorhandener Erklärungsansätze und Interventionsmöglichkeiten ein.
2
Soziale Lage von Kindern und Jugendlichen in Deutschland
Seit Anfang der 1970er Jahre hat der Bevölkerungsanteil der Heranwachsenden infolge des anhaltenden Anstiegs der Lebenserwartung und Rückgangs der Geburtenhäufigkeit sukzessive abgenommen. Im Jahr 2003 lebten in Deutschland etwa 15 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter bis 18 Jahre, was einem Anteil von 19% an der Gesamtbevölkerung entsprach. Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes zufolge wird der Altersstrukturwandel im Jahr 2050 soweit vorangeschritten sein, dass auf jedes Kind und jeden Jugendlichen mindestens zwei Menschen kommen, die 60 Jahre oder älter sind (Statistisches Bundesamt 2004). Umso problematischer erscheint die hohe Armutsbetroffenheit von Kindern und Jugendlichen. Einem Armutsrisiko, das gemäß einer auf EU-Ebene erzielten Vereinbarung an einem Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen unter 60% des gesamtgesellschaftlichen Medians festgemacht wird, waren im Jahr 2003 15,0% der bis 15-Jährigen und sogar 19,1% der 16- bis 24-Jährigen ausgesetzt. Das Armutsrisiko liegt damit in der heranwachsenden Generation über dem Bevölkerungsdurchschnitt von 13,5% (BMGS 2005). Im internationalen Vergleich belegt Deutschland damit einen Platz im Mittelfeld. Das macht eine Studie der UNICEF deutlich, die sich auf die Situation von Kindern und Jugendlichen in den Ländern der OECD bezieht. Um Armut abzugrenzen, wurde in dieser Studie die Grenze bei 50% des Medianeinkommens gezogen und damit von einem strengeren Kriterium ausgegangen. Im Jahr 2001 lebten demnach in Deutschland 10,2% der unter 18-Jährigen in Armut. Deutlich niedriger war die Kinder- und Jugendarmut in Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden mit jeweils unter 5%, höher war sie beispielsweise in den Vereinigten Staaten, Neuseeland, Großbritannien, Italien und Irland mit über 15%.
Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen
211
Noch schlechter schneidet Deutschland ab, wenn die zeitliche Entwicklung betrachtet wird. Während die Armutsquote hierzulande im Zeitraum 1991 bis 2001 um 2,7% stieg, war für die meisten anderen Wohlfahrtsstaaten eine weitaus geringere Zunahme oder sogar ein Rückgang, so z.B. in den USA, Großbritannien und Norwegen, zu beobachten (Corak et al. 2005). Die hohe Armutsbetroffenheit der Kinder und Jugendlichen ist vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels und den damit einhergehenden Veränderungen der Armutsrisiken zu sehen. Bis Mitte der 1980er Jahre lebten überwiegend ältere Menschen, insbesondere allein stehende ältere Frauen mit unzureichender Rente, in Armut. Heute ist Arbeitslosigkeit die Hauptursache für Armut, die vor allem Personen im jungen und mittleren Erwachsenenalter betrifft, also Personen, die überwiegend in Familien mit Kindern leben. Da Arbeitslose einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind, im Jahr 2003 betraf dies 40,9%, wachsen immer mehr Kinder über eine kürzere oder längere Zeit in Armut auf. Arbeitslosigkeit betrifft aber nicht nur die Eltern, sondern auch die Jugendlichen selbst. In den letzten 15 Jahren ist die Jugendarbeitslosigkeit gestiegen und lag am Ende des Jahres 2005 bei 12,4%. Viele Jugendliche werden auch bei erfolgreicher Ausbildung nicht oder nur in unsichere Arbeitsverhältnisse übernommen. Für einen Großteil der Jugendlichen bedeutet dies einen schlechten Start ins Berufsleben, der sich oftmals in Erwerbsbiographien fortsetzt, die durch Arbeitslosigkeitserfahrungen und Armutsepisoden gekennzeichnet sind (Klocke & Lampert 2005, BMGS 2005, Lampert et al. 2009). Eine wichtige Rolle spielt daneben der Wandel der Familien- und Lebensformen. Seit Anfang der 1970er Jahre ist die Zahl der Familien um rund ein Drittel gesunken, obwohl die Zahl junger Erwachsener, also der potenziellen Eltern, um mehr als 10% gestiegen ist (BMFSFJ 2005). Gleichzeitig haben die Diskontinuitäten in den familiären Konstellationen zugenommen. Immer mehr Ehen und Lebenspartnerschaften scheitern oder sind von vornherein nicht auf ein Zusammenleben angelegt. Für die Kinder bedeutet dies, dass sie häufig nur bei einem Elternteil aufwachsen und dass sie weniger Geschwister haben oder mit diesen nicht zusammen leben. Stattdessen sehen sich viele Kinder mit neuen Partnern der Eltern und bisweilen Kindern aus früheren Partnerschaften konfrontiert. Als sozial benachteiligt müssen vor allem die Familien von allein Erziehenden, insbesondere allein erziehende Mütter, gelten, deren Anteil an allen Familien seit den 1970er Jahren ständig zugenommen hat (Statistisches Bundesamt 2004). Wenn die Mutter langfristig alleine für die Erziehung der Kinder sorgen muss, verringert dies ihre Erwerbs- und Einkommenschancen, nicht nur aufgrund abweichender Arbeitszeiten und Arbeitszeitlagen sowie zunehmender Anforderungen an Flexibilität und Mobilität im Berufsleben, sondern auch weil Betreuungsmöglichkeiten der Kinder häufig nicht gegeben oder sehr kostenaufwendig sind. Damit nimmt unweigerlich auch das Armutsrisiko zu. Im Jahr 2003 waren 35,4% der Haushalte von allein Erziehenden betroffen, wobei sich dieser Anteil mit steigender Kinderzahl und abnehmendem Alter der Kinder weiter erhöht (BMGS 2005). Kinder aus sozial schwächeren Haushalten sehen sich der Gefahr gegenüber, später selbst in Arbeitslosigkeit oder Armut zu geraten. Eine Hauptursache für die „Vererbung von Armut“, die sich häufig über mehrere Generation hinweg beobachten lässt, wird in der engen Verknüpfung der sozialen Herkunft mit der Bildungsbeteiligung und dem Bildungserfolg gesehen. Bereits in Kindertagesstätten sind Kinder aus sozial benachteiligten Familien unterrepräsentiert, was die Möglichkeit der Kompensation von sozialen Nachteilen und Defiziten durch eine gezielte Frühförderung von vornherein vermindert. Auch das deutsche
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Thomas Lampert, Matthias Richter
Schulsystem trägt eher zu einer Verfestigung als zu einer Verringerung der Chancenungleichheit bei. Die relativ kurze Grundschulzeit reicht in der Regel nicht aus, um vorhandene Defizite auszugleichen und die Bildungsaspirationen von sozial benachteiligten Kindern und ihren Eltern soweit zu steigern, dass eine Empfehlung für die Realschule oder das Gymnasium erteilt wird (Edelstein 2006, Lehmann et al. 1997). Dass die Bildungsungleichheit auch im internationalen Vergleich stark ausgeprägt ist, wird durch die PISA-Studien regelmäßig verdeutlicht. Die Studie aus dem Jahr 2000 weist u.a. auf einen Zusammenhang zwischen der schulischen Leistung der Kinder und ihrer sozialen Herkunft hin, der deutlich stärker als in den meisten anderen Ländern ausgeprägt ist. Beispielsweise betrugen die Lesekompetenzunterschiede zwischen Kindern aus Familien des unteren und des oberen Viertels der Sozialstruktur umgerechnet mehr als zwei Schuljahre (Artelt et al. 2001). Nach der PISA-Studie aus dem Jahr 2003 hat sich Deutschlands Position im internationalen Vergleich zwar leicht verbessert, diese Verbesserung ist jedoch fast ausschließlich auf Leistungssteigerungen im Gymnasium und in der Realschule und dort eher bei Kindern aus sozial besser gestellten Familien zurückzuführen (Prenzel et al. 2004). Die unterschiedlichen Bildungswege münden letztlich in einen sozial differenziellen Zugang zur Hochschul- und Fachhochschulausbildung. Wie Daten des Deutschen Studentenwerks für das Jahr 2003 belegen, haben Kinder von Eltern mit einem niedrigen beruflichen Status eine um den Faktor 7,4 geringere Chance, ein Studium aufzunehmen, im Vergleich zu Kindern von Eltern mit hohem Berufsstatus (BMGS 2005). Der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildung scheint demnach ein kumulativer Prozess zu sein, der bereits im Vorschulalter einsetzt und an den Übergängen im Bildungssystem, insbesondere dem Wechsel auf eine weiterführende Schule und später dann auf eine Hoch- oder Fachhochschule, weiter verstärkt wird.
3
Empirische Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Lage bei Kindern und Jugendlichen
Dass Armut und soziale Benachteiligung erhebliche Konsequenzen für die gesundheitliche Entwicklung im Kindes- und Jugendalter hat, wird inzwischen durch eine Vielzahl empirischer Studien belegt (empirische Übersichten z.B. bei Jungbauer-Gans & Kriwy 2004, Klocke & Lampert 2005, Richter 2005a, Lampert & Kurth 2007, Richter et al. 2008). Im Hinblick auf das Kindesalter wurden bislang vor allem Entwicklungsstörungen und Unfallverletzungen untersucht, vereinzelt lassen sich auch Aussagen über die Säuglingssterblichkeit und chronische Krankheiten treffen. Bei Jugendlichen gilt das Interesse darüber hinaus der subjektiven Gesundheit, psychosomatischen Beschwerden und dem Gesundheitsverhalten. Ein unmittelbarer Vergleich der Forschungsergebnisse ist allerdings oftmals nicht möglich, u.a. aufgrund von Unterschieden im Studiendesign und in der Stichprobenkonstruktion. Weitere Einschränkungen ergeben sich durch eine uneinheitliche Erfassung der sozialen Lage von Kindern und Jugendlichen. Die hohe Übereinstimmung der anhand so unterschiedlicher Indikatoren wie berufliche Stellung der Eltern, Wohlstand der Familie oder Schulbildung der Kinder erzielten Ergebnisse kann andererseits als Beleg dafür angesehen werden, dass zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage der Heranwachsenden ein enger Zusammenhang besteht.
Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen
213
Säuglingssterblichkeit Noch zu Beginn der 1960er Jahre lag die Säuglingssterblichkeit in Deutschland bei 33,8 gestorbenen Säuglingen auf 1.000 Lebendgeborenen. Durch die Einführung der Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen, der Betreuung von Risikoschwangerschaften sowie der Fortschritte in der Gynäkologie und Perinatalmedizin konnte sie inzwischen auf 4,4 Sterbefälle je 1.000 Lebendgeburten und damit auf einen auch im internationalen Vergleich niedrigen Wert gesenkt werden (RKI 2004). Systematische Auswertungen der Säuglingssterblichkeit nach sozialen Merkmalen sind relativ selten und beschränken sich auf regionale Daten. Die vorhandenen Erkenntnisse sprechen dafür, dass die Säuglingssterblichkeit einem sozialen Gefälle folgt und dementsprechend in der unteren Sozialschicht am höchsten ist (Mielck 2000, Seifert 2002). Das gilt auch für ein niedriges Geburtsgewicht und angeborene Fehlbildungen, die Risikofaktoren der Sterblichkeit im Kindesalter darstellen. Als Gründe werden eine geringere oder spätere Wahrnehmung der Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen sowie das häufigere Rauchen von sozial benachteiligten Frauen während der Schwangerschaft diskutiert (RKI 2004). Entwicklungsstörungen Bei Kindern werden seit einigen Jahren vermehrt Entwicklungsverzögerungen und Gesundheitsstörungen diagnostiziert, die oftmals einen langfristigen Behandlungs- und Versorgungsbedarf nach sich ziehen. Das lässt sich z.B. mit Daten der Schuleingangsuntersuchungen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes belegen, die jährlich durchgeführt werden und damit Hinweise auf Veränderungen im Zeitverlauf liefern. Die Untersuchungen sollen klären, inwieweit die körperliche, kognitive und psychosoziale Entwicklung der Kinder eine Einschulung sinnvoll erscheinen lässt. Sofern medizinisch relevante Auffälligkeiten festgestellt werden oder sogar eine Rückstellung erforderlich ist, werden die Eltern über Beratungs-, Behandlungs- und Fördermöglichkeiten informiert. In einigen Kommunen und Bundesländern, z.B. Brandenburg, Berlin und Nordrhein-Westfalen, werden von den Eltern auch Angaben zu deren Erwerbsstatus und Schulbildung erhoben, so dass die Entwicklung der Kinder im Zusammenhang mit ihrer sozialen Herkunft betrachtet werden kann. In Brandenburg lag im Jahr 2005 bei 55,5% der Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus mindestens eine medizinisch relevante Entwicklungsstörung vor. Bei Kindern aus Familien mit mittlerem und höherem Sozialstatus traf dies auf 43,5% bzw. 39,0% zu. Besonders deutlich zeichnen sich die statusspezifischen Unterschiede bei Sehstörungen, Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen, Wahrnehmungs- und psychomotorischen Störungen, intellektuellen Entwicklungsverzögerungen, emotionalen und sozialen Störungen sowie psychiatrischen Auffälligkeiten ab (Landesgesundheitsamt Brandenburg 2005, Abb. 12.1).
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Thomas Lampert, Matthias Richter
Abbildung 12.1: Entwicklungsstörungen bei Einschülern und Einschülerinnen nach sozialem Status Sozialstatus hoch
Sozialstatus mittel
Sozialstatus niedrig
Sehstörungen
Sprach-, Sprech-, Stimmstörungen
Hörstörungen
Wahrnehmungs-, psychomotorische Störungen, Teilleistungsschwäche Intellektuelle Entwicklungsverzögerung
Emotionale und soziale Störungen
Psychiatrische Auffälligkeiten
0
5
10
15
20
Quelle: Landesgesundheitsamt Brandenburg (2005)
Seit 1971 gibt es in Deutschland ein Krankheitsfrüherkennungsprogramm für Kinder, das auf die Vorbeugung früher Entwicklungsstörungen zielt. Das Programm beinhaltet insgesamt neun Untersuchungen, die sich bis ins sechste Lebensjahr erstrecken und zumeist von einem niedergelassenen Kinderarzt durchgeführt werden. Obwohl die Vorsorgeuntersuchungen zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung gehören und viele Krankenkassen ihre Mitglieder mit Rundschreiben an die Untersuchungstermine erinnern, werden sie von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen seltener in Anspruch genommen. Von den im Jahr 2004 in Berlin eingeschulten Jungen und Mädchen der mittleren und höheren Statusgruppe haben 82,7% bzw. 82,3% alle Untersuchungen durchlaufen, während es in der unteren Statusgruppe lediglich 74,2% waren. Ein Vergleich mit früheren Jahrgängen zeigt aber auch, dass in den letzten Jahren insbesondere die Teilnahme von Kindern aus sozial schwächeren Familien gestiegen ist und infolge dessen die sozialen Unterschiede abgenommen haben (Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz 2006, Delekat & Kis 2001). Chronische Krankheiten Chronische Krankheiten kommen bei Kindern und Jugendlichen zwar weitaus seltener vor als bei Erwachsenen, die Folgen für die Betroffenen sind aber nicht minder gravierend. Am weitesten verbreitet sind allergische Erkrankungen, Atemwegserkrankungen und Stoffwechselstörungen (RKI 2004, Lampert et al. 2009). Nach der Befundung in der Brandenburger Einschulungsuntersuchung des Jahres 2005 sind insgesamt 14% der Kinder von mindestens einer chronischen Erkrankung betroffen. Ein Teil der erfassten Erkrankungen treten gehäuft bei Kindern aus sozial schwächeren Familien auf, so z.B. Diabetes mellitus,
215
Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen
Psoriasis, zerebrales Anfallsleiden, bronchitisches Syndrom sowie Fehler und Erkrankungen des Herzens. Erkrankungen des atopischen und allergischen Formenkreises betreffen hingegen verstärkt Kinder aus der mittleren und hohen Statusgruppe. Das gilt insbesondere für Neurodermitis, allergische Rhinitis und Kontaktdermatitis (Tab. 12.1). Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass das Immunsystem von Kindern, die behütet aufwachsen, zu wenig stimuliert wird und dadurch allergische Sensibilisierungen begünstigt werden (Strachan et al. 1996). Denkbar ist aber auch, dass die Symptome allergischer und atopischer Erkrankungen in den unteren Sozialschichten nicht erkannt oder unterschätzt werden. So wurde in einer Studie zum Vorkommen von Asthma kein Zusammenhang zum sozioökonomischen Status gefunden, wenn statt der Angabe der Eltern eine ärztliche Diagnose zugrunde gelegt wird (Ernst et al. 1995). Tabelle 12.1: Verbreitung ausgewählter chronischer Krankheiten bei Einschülern und Einschülerinnen nach sozialem Status (je 1.000 untersuchter Kinder). Sozialstatus
Fehler und Erkrankungen des Herzens
niedrig
mittel
hoch
19,1
19,7
15,9
Zerebrale Anfallsleiden
6,4
4,7
1,9
Diabetes mellitus Erkrankungen und Anomalien der Nieren und Harnwege Bronchitisches Syndrom
2,4
0,9
0,9
9,00
8,4
9,4
4,4
3,9
3,2
Asthma bronchiale
18,6
21,6
21,3
Allergische Rhinitis
9,2
18,1
21,5
Neurodermitis
66,0
74,2
89,0
Kontaktdermatitis
2,2
3,3
3,9
Psoriarsis, Ichtyosis
2,0
0,7
0,4
Andere chronische Ekzeme
3,3
2,1
1,4
Quelle: Landesgesundheitsamt Brandenburg (2005)
Ein weiterer Zugang für Analysen zum Zusammenhang zwischen sozialem Status und chronischer Krankheit eröffnet sich über die Routinedaten der Krankenkassen. Beispielsweise wurde mit Daten der AOK-Mettmann aus den Jahren 1987 bis 1995 untersucht, inwieweit Krankenhauseinweisungen und die zugrunde liegenden Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen im Alter bis 15 Jahre mit dem Berufsstatus der Hauptversicherten variieren. Für Erkrankungen der oberen Luftwege konnten dabei keine Unterschiede festgestellt werden. Allerdings wurden Kinder aus den unteren Statusgruppen länger im Krankenhaus behandelt, was auf einen höheren Schweregrad der Erkrankung schließen lässt. Für akute Infektionen der Atmungsorgane zeigte sich ein ähnliches Muster. Bezogen auf chronisch obstruktive Lungenkrankheit, Pneumonie und Grippe sowie Neurosen, nicht klassifizierbare depressive Zustandsbilder und spezifische emotionale Störungen des Kindes- und Ju-
216
Thomas Lampert, Matthias Richter
gendalters ließen sich weder in Bezug auf Krankenhauseinweisungen noch Verweildauern im Krankenhaus bedeutsame Unterschiede beobachten (Geyer et al. 2002). Unfälle und Verletzungen Unfälle und daraus resultierende Verletzungen stellen im Kindes- und Jugendalter den häufigsten Grund für eine Krankenhauseinweisung und die mit Abstand bedeutendste Todesursache dar (RKI 2004). Die größte Rolle spielen dabei Unfälle in der Schule bzw. Kindertagesstätte (KiTa), zu Hause, in der Freizeit und im Straßenverkehr. Schätzungen zufolge ist in diesen Bereichen von jährlich bis zu 2 Millionen Unfallverletzungen bei Kindern unter 15 Jahren auszugehen (Ellsäßer & Diepgen 2002). Zusammenhänge zur sozialen Lage der Heranwachsenden wurden bislang nur vereinzelt untersucht. Anhand von Routinedaten der AOK-Mettmann aus den Jahren 1987 bis 1996 konnte für die Altersgruppe der bis 16Jährigen gezeigt werden, dass Kinder von un- und angelernten Arbeitern und auch von Facharbeitern häufiger wegen einer Unfallverletzung im Krankenhaus behandelt werden als Kinder von Angestellten und Personen in höheren beruflichen Positionen. Vergleicht man die niedrigste mit der höchsten Statusgruppe, dann lässt sich von einem um den Faktor 1,4 erhöhtem Unfallrisiko ausgehen (Geyer & Peter 1998). Dass Kinder aus sozial schwächeren Familien einem erhöhten Unfallrisiko unterliegen, wird auch durch die Brandenburger Einschulungsuntersuchungen bestätigt. Die Ergebnisse für die Jahre 2001 bis 2005 sprechen dafür, dass Kinder aus der niedrigsten im Vergleich zu denen aus der höchsten Statusgruppe in den ersten Lebensjahren etwa doppelt so häufig im Straßenverkehr verunglücken. Ähnlich stark ausgeprägte Unterschiede finden sich bei Verbrühungen, die häufig mit entstellenden Narben und funktionellen Beeinträchtigungen verbunden sind und eine lange Nachsorge erforderlich machen (Landesgesundheitsamt Brandenburg 2005). Psychosoziale Gesundheit Um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen einschätzen zu können, ist neben der körperlichen und organischen die psychosoziale Gesundheit zu betrachten, die auch von vorhandenen sozialen Kontakten und Kompetenzen sowie subjektiven Wahrnehmungen, Einstellungen und Bewertungen abhängt (Ravens-Sieberer et al. 2003). Die beste Datengrundlage hierfür stellt zurzeit die von der WHO koordinierte Studie „Health Behaviour in School-aged Children (HBSC)“ dar, an der in Deutschland zuletzt Jugendliche im Alter zwischen 11 und 15 Jahren aus vier Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Hessen, Sachsen und Berlin) teilgenommen haben (Hurrelmann et al. 2003, Richter et al. 2008). Als Indikatoren sozialer Ungleichheit werden in der HBSC-Studie neben der beruflichen Stellung der Eltern und der von den Kindern besuchten Schulform auch der familiäre Wohlstand herangezogen, der anhand von Angaben zur Anzahl der Autos in der Familie, der Urlaubsreisen in den letzten 12 Monaten, der Computer im Haushalt und zum eigenen Zimmer der Jugendlichen ermittelt wird (Richter 2005a,b). Die Ergebnisse zeigen u.a., dass Jungen und Mädchen aus der niedrigsten Wohlstandsgruppe ihre eigene Gesundheit auf einer vierstufigen Skala 1,3- bis 1,9-mal häufiger als weniger gut oder schlecht bewerten als diejenigen mit mittlerem bzw. höherem Wohlstand. Ganz ähnliche Unterschiede finden sich im Hinblick auf das Vorkommen psychosomatischer Beschwerden, wie z.B. Kopf-, Bauch-, Rückenschmerzen, Gereiztheit, Übellaunigkeit und Schlafstörungen, sowie die mentale Ge-
217
Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen
sundheit, die über Items zum emotionalen und sozialen Befinden und zum Selbstwert erfasst wurde (Tab. 12.2). Tabelle 12.2: Psychosoziale Gesundheit von 11- bis 15-jährigen Jugendlichen nach familiärem Wohlstand Selbsteinschätzung der Gesundheit (weniger gut/schlecht) %
Psychosomatische Beschwerden (zwei oder mehr wöchentlich)
OR (95 %-KI)
%
OR (95 %-KI)
Mentale Gesundheit (unterstes Quartil) %
OR (95 %-KI)
Jungen hoher Wohlstand (Ref.)
9,9
1,00
12,1
1,00
13,8
1,00
mittlerer Wohlstand
12,3
1,29 (0,99-1,68)
12,6
1,04 (0,81-1,34)
15,5
1,15 (0,91-1,45)
niedriger Wohlstand
14,5
1,57 (1,11-2,23)
19,9
1,80 (1,31-2,47)
22,3
1,80 (1,33-2,43)
hoher Wohlstand (Ref.)
14,2
1,00
20,2
1,00
24,6
1,00
mittlerer Wohlstand
19,2
1,46 (1,16-1,83)
23,4
1,21 (0,98-1,48)
33,0
1,54 (1,27-1,86)
niedriger Wohlstand
23,2
1,85 (1,41-2,43)
32,4
1,90 (1,49-2,41)
36,1
1,76 (1,39-2,22)
Mädchen
%=Häufigkeiten in Prozent; OR=Odds Ratio nach Adjustierung für Alter; 95%-KI=Konfidenzintervalle zu den Odds Ratio; Ref.=Referenzkategorie
Quelle: Richter (2005b), Datenbasis: HBSC-Studie 2002
Gesundheitsverhalten Ein weiterer wesentlicher Aspekt der gesundheitlichen Situation von Kindern und Jugendlichen ist ihr Gesundheitsverhalten, zumal viele im mittleren und höheren Lebensalter auftretende Krankheiten und Beschwerden auf Verhaltensroutinen zurückgeführt werden können, die bereits in jungen Jahren ausgebildet wurden. Im Kindesalter stehen dabei vor allem die Ernährungsweise und die körperliche Aktivität im Vordergrund, im Jugendalter zudem der Gebrauch psychoaktiver Substanzen wie Tabak, Alkohol und illegale Drogen (Richter & Settertobulte 2003, Richter & Lampert 2008). Die Ergebnisse der HBSC-Studie zeigen hierzu, dass die Ernährung von Jugendlichen aus sozial schlechter gestellten Familien seltener frisches Obst, Gemüse und Salat umfasst. Außerdem gehen sie an Schultagen häufiger ohne Frühstück aus dem Haus und sie konsumieren vermehrt Süßgetränke und Süßigkeiten. Soziale Unterschiede im Bewegungsverhalten lassen sich neben der sportlichen Aktivität auch am Fernseh- und Videokonsum festmachen. Da Ernährung und Bewegung einen erheblichen Einfluss auf die Gewichtsentwicklung haben, verwundert es nicht, dass sozial benachteiligte Jugendliche zwei- bis dreimal häufiger übergewichtig sind (Klocke & Lampert 2005). Soziale Unterschiede treten zudem im Tabak- und Alkoholkonsum der Jugendlichen zutage. So belegt die „Europäische Schülerstudie zu Alkohol und anderen Drogen (ESPAD)“, die im Jahr 2003 in sechs Bundesländern (Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen) durchgeführt wurde, dass 15- bis 16-jährige Haupt-, Real- und Gesamtschüler häufiger rauchen als gleichaltrige Gymnasiasten (Abb.
218
Thomas Lampert, Matthias Richter
12.2). Außerdem gehören sie vermehrt zu den starken Rauchern, beginnen im jüngeren Alter mit dem Konsum und unterschätzen häufiger das mit dem Rauchen verbundene Gesundheitsrisiko. Der Anteil der Jugendlichen, die regelmäßig alkoholhaltige Getränke konsumieren, variiert nicht mit der besuchten Schulform. Auch im Hinblick auf die bevorzugte Getränkesorte und dem Alter bei Erstkonsum zeigen sich keine bedeutsamen Unterschiede. Haupt-, Real- und Gesamtschüler neigen jedoch eher als Gymnasiasten zu riskantem Trinkverhalten, was sich u.a. an der Alkoholmenge und den Rauscherfahrungen festmachen lässt. Darüber hinaus berichten sie häufiger von sozialen Problemen infolge des Alkoholkonsums, z.B. Unfälle, Verletzungen oder Probleme mit Gleichaltrigen (BMGS 2004). Abbildung 12.2: Tabakkonsum von 15- bis 16-Jährigen nach besuchter Schulform Jemals
Letzte 30 Tage
Täglich
100
80
60
40
20
0
Hauptschule
Realschule
Gesamtschule
Gymnasium
Quelle: BMGS (2004), Datenbasis: ESPAD-Studie 2003
4
Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen
Die Erklärung der Zusammenhänge zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen muss an verschiedenen Stellen ansetzen, u.a. an der Einkommenssituation des Haushaltes, dem elterlichen Erziehungsstil, den Erfahrungen in der Gleichaltrigengruppe, den sozialen und personalen Ressourcen der Heranwachsenden und nicht zuletzt an ihren Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Deutungsschemata. Eine umfassende empirische Analyse dieser Mechanismen und ihrer relativen Bedeutung ist wegen der Komplexität der Zusammenhänge kaum möglich. Durch Zusammenführung der vorliegenden Forschungsergebnisse und Berücksichtigung weiterführender Erkenntnisse und Perspektiven, z.B. der Sozialisationsforschung und Entwicklungspsychologie, ergeben sich aber zahlreiche Erklärungsmöglichkeiten. Lampert und Schenk (2004) haben dazu ein Modell vorgeschlagen, das auf die Systematisierung des bisherigen Kenntnis- und Wissenstan-
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Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen
des zielt und eine Mehrebenenbetrachtung der gesundheitlichen Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen nahe legt (vgl. Mielck 2000, Steinkamp 1993) (siehe Abb 12.3). Abbildung 12.3: Mehrebenenmodell zur Systematisierung bisheriger Erklärungsansätze der gesundheitlichen Ungleichheit in der heranwachsenden Generation
Soziale Ungleichheit Soziale Lage des Haushaltes, z.B. Arbeitslosigkeit Alleinerziehend
Schichtzugehörigkeit Einkommenssituation
Lebensbedingungen und Teilhabechancen, z.B. Schule bzw. Kindertagesstätte Freizeit und Gleichaltrigengruppe Gesundheitsversorgung
Materielle Versorgung Familiensituation Wohnverhältnisse
Gesundheitsverhalten, z.B.
Persönlichkeit, z.B.
Selbstwertgefühl Kontrollüberzeugung Optimismus Ängstlichkeit Aggressivität
Ernährung Körperliche Aktivität Rauchen, Alkoholkonsum Mundhygiene Arzneimittelgebrauch
Gesundheitliche Ungleichheit, z.B. Krankheiten Beschwerden Schmerzen
Behinderungen Unfallverletzungen Subjektive Gesundheit
Psychische Gesundheit Verhaltensauffälligkeiten Essstörungen
Haupteinflusspfade („social causation“) Rückkopplungen („health selection“)
Quelle: Lampert & Schenk (2004)
Differenziert wird dabei zwischen sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Problemen (Makroebene), Lebenskontexten und Versorgungsbereichen (Mesoebene) sowie Persönlichkeit und individuellem Verhalten (Mikroebene). Die gesundheitliche Ungleichheit ist als das zu erklärende gesellschaftliche Problem (Explanandum) auf der Makroebene zu verorten und kann angesichts der vorhandenen Forschungsbefunde z.B. an der sozial ungleichen Verteilung von Entwicklungsstörungen, Krankheiten, Unfallverletzungen und Beeinträchtigungen der psychosozialen Gesundheit festgemacht werden. Erklärungsansätze gesundheitlicher Ungleichheit müssen dem Modell zur Folge verdeutlichen, wie sich die soziale Herkunft der Heranwachsenden auf ihre Lebensbedingungen und Teilhabechancen sowie auf ihre Persönlichkeitsentwicklung und ihr gesundheitsrelevantes Verhalten aus-
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Thomas Lampert, Matthias Richter
wirkt (Explanans). Die Aussagekraft und Reichweite der Erklärungsansätze hängt dabei maßgeblich davon ab, inwieweit es gelingt, die Übertragungswege und Wechselwirkungen zwischen diesen erklärenden Mechanismen unter Berücksichtigung alters- und auch geschlechtsspezifischer Besonderheiten verständlich zu machen und empirisch zu belegen. Materielle Versorgung Eine benachteiligte Lebenslage drückt sich für die betroffenen Kinder und Jugendlichen u.a. darin aus, dass sie sich viele Dinge nicht leisten können, die für andere selbstverständlich sind. Ist der finanzielle Spielraum des Haushaltes begrenzt, dann folgt daraus zumeist, dass die Familie weniger Urlaubsreisen macht, die Kinder weniger Taschengeld erhalten, kein Geld für kostspielige Anschaffungen da ist und oftmals auch an basalen Dingen wie Kleidung und Ernährung gespart werden muss (Krappmann 2001, AWO 2000). Die Heranwachsenden erleben dies als Ausgrenzung und Zurücksetzung, die häufig schmerzlich empfunden werden und mit Verunsicherungen und einer Minderung des Selbstwertgefühls einhergehen. Neben der unmittelbar praktischen Bedeutung spielt dabei auch der symbolische Wert der Teilhabechancen eine Rolle. Kinder und Jugendliche verfügen über ein ausgeprägtes Gespür für soziale Ungleichheiten und reagieren sehr sensibel auf Standards, denen sie nicht gerecht werden. Auch weil sie weitere Zurücksetzungen und Ausgrenzungen befürchten, ziehen sie sich häufig aus sozialen Bezügen zurück, wenn sie nicht mithalten können (Hurrelmann 2000). Familiensituation Viele Eltern bemühen sich darum, die notwendigen Einsparungen so vorzunehmen, dass sich die nachteiligen Auswirkungen für das Leben der Kinder in Grenzen halten (Baarda et al. 1990). Bei andauernder Armut oder Arbeitslosigkeit ist dies allerdings oftmals nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Inwieweit sich Defizite in der materiellen Versorgung auf das psychosoziale Wohlbefinden und die Gesundheit der Heranwachsenden auswirken, hängt u.a. vom Familienklima und dem elterlichen Erziehungsstil ab. Gelingt es den Eltern trotz knapper finanzieller Ressourcen gezielt auf die Interessen und Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen und ihnen gleichwertige Entwicklungs- und Erfahrungsanreize zu schaffen, dann kann die Bedeutung der materiellen Deprivation zurücktreten. Am ehesten dürfte dies Eltern mit höherer Bildung möglich sein, u.a. aufgrund einer höheren emotionalen Stabilität, stärker ausgeprägten Handlungskompetenzen und einer besseren sozialen Einbindung (Mansel 1993). Fehlen Handlungskompetenz und soziale Unterstützung, dann entlädt sich die angespannte finanzielle Situation oftmals in familiären Konflikten und einem restriktiven Erziehungsstil gegenüber den Kindern, schlimmstenfalls in Gewaltanwendung und Misshandlung. Besondere Belastungen für das Familienklima ergeben sich durch zusätzliche Problemlagen der Eltern, z.B. einer Suchtverstrickung oder schweren Erkrankung (Walper 1988, 1999). Wohnverhältnisse Das Familienleben spielt sich zum Großteil in der Wohnung ab. Die Größe der Wohnung, die Raumaufteilung und die Wohnumgebung sind deshalb wichtige Bestimmungsfaktoren der sozialen, emotionalen und gesundheitlichen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Sozial benachteiligte Familien leben in kleineren und schlechter ausgestatteten Wohnungen, die bisweilen auch gesundheitsschädigende Mängel aufweisen, z.B. feuchte Wän-
Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen
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de, Zugluft, Kälte oder Schadstoffbelastung (Statistisches Bundesamt 1998, Lampert 2008). Die Kinder haben seltener ein eigenes Zimmer, in das sie sich zurückziehen und in dem sie ungestört sein können, was gerade bei einem angespannten Familienklima bedeutsam ist. Außerdem ist die Möglichkeit, Freunde einzuladen, vermindert, wobei auch das häufig durch Rückzugs- und Abgrenzungstendenzen gekennzeichnete Verhalten der Eltern zum Tragen kommt (Krappmann 2001, Walper 1999). Die sozialräumliche Benachteiligung lässt sich an dem schlechteren Zugang zu z.B. Spielplätzen, Sportstätten oder Schwimmbädern festmachen. Darüber hinaus ergeben sich Nachteile durch ein erhöhtes Verkehrsaufkommen, die Nähe zu Industrieanlagen und daraus resultierende Umweltbelastungen (Bolte et al. 2004). Kindertagesstätte und Schule Neben der Familie sind die KiTa und Schule die wohl wichtigsten Sozialisationsinstanzen von Kindern und Jugendlichen (Hurrelmann 1999, 2000, Dür & Griebler in diesem Band). Die Vermittlung von Wissen ist dabei ebenso von Bedeutung wie das Erlernen von Kompetenzen, z.B. Selbstständigkeit, kritisches Denken und Kooperationsfähigkeit. Außerdem lassen sich positive Beziehungen zu Lehrern und Erziehern als wichtige Unterstützungsressourcen ansehen. Da Kinder und Jugendliche viel Zeit in der KiTa bzw. Schule verbringen und sie sich dort spezifischen Anforderungen gegenüber sehen, werden vorhandene Stärken und Schwächen schnell sichtbar. Sofern Lehrer und Erzieher über entsprechende Qualifikationen verfügen und die Rahmenbedingungen dies zulassen, ist eine auf die individuellen Belange abgestimmte Förderung der Heranwachsenden möglich. Empirische Studien verweisen darauf, dass die Wahrnehmung der schulischen Situation nicht nur den Lernerfolg der Heranwachsenden, sondern auch ihr psychosoziales Wohlbefinden beeinflusst. Als relevant erwiesen sich u.a. die Unterrichtsqualität, die Lehrerunterstützung, das Klassenklima und die Partizipationsmöglichkeiten (Bilz et al. 2004, Richter 2005a). Eine gelungene Sozialisation in der KiTa und Schule kann zu einem Ausgleich der Lebens- und Gesundheitschancen beitragen, wenn familiäre Defizite kompensiert und die Heranwachsenden dazu befähigt werden, sich eine eigene Lebensperspektive zu erschließen. Aufgrund des evidenten Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung ist jedoch davon auszugehen, dass Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Familien in geringerem Maße von den Ressourcen und Fördermöglichkeiten in den Bildungseinrichtungen profitieren. Die Bildungsaspiration der Eltern hat nicht nur einen Einfluss auf die Entscheidung für eine bestimmte KiTa oder Schule, sondern auch auf die Kommunikation zwischen Eltern und Pädagogen und somit die Verknüpfung der in der Familie und den Bildungseinrichtungen erbrachten Sozialisationsleistungen (Grundmann et al. 1994). Freizeit und Gleichaltrigengruppe Ob und inwieweit eine benachteiligte Lebenslage von den Heranwachsenden als belastend empfunden wird und ein Risiko für ihre Entwicklung darstellt, hängt darüber hinaus von den Reaktionen der Gleichaltrigen ab. Während die sozialen Kontakte von Kindern noch stark der elterlichen Kontrolle unterliegen, bestimmen Jugendliche zunehmend selbst, mit wem sie ihren Alltag und ihre Freizeit verbringen. Durch den Kontakt und Austausch mit Gleichaltrigen werden ein umfassendes Bezugs- und Vertrauenssystem geschaffen, das Interessen, Kompetenzen und Einstellungen prägt und familiäre Einflüsse überlagern oder
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Thomas Lampert, Matthias Richter
sogar substituieren kann (Hurrelmann 1985, Hurrelmann & Richter 2006). Damit stellt auch die Gleichaltrigengruppe einen Kontext dar, in dem soziale Nachteile der Herkunftsfamilie kompensiert werden können, wenn die Jugendlichen gut integriert sind und Bestätigung erfahren. Jugendliche aus sozial schwächeren Familien machen allerdings vermehrt die Erfahrungen, dass sie Standards nicht erfüllen, die für die Gruppe konstituierend und stabilisierend sind. Besonders belastend werden daraus resultierende Zurücksetzungen und Ausgrenzungen erlebt, wenn sie mit Stigmatisierungen einhergehen, die nicht selten direkt am Beruf der Eltern oder den finanziellen Mitteln des Haushaltes festgemacht werden (Schindler & Wetzels 1985). Der Gleichaltrigengruppe kommt zudem ein hoher Stellenwert für das Gesundheitsverhalten von Jugendlichen zu. Besonders deutlich wird dies beim Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum, der für die Heranwachsenden u.a. die Funktion erfüllt, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Jugendkultur auszudrücken. Die Probier- und Konsumbereitschaft ist dabei im engen Zusammenhang mit den altersspezifischen Entwicklungsaufgaben zu sehen, etwa der Ausprägung eines persönlichen Lebensstils, dem Ausloten des eigenen Handlungs- und Entscheidungsspielraums, der Auseinandersetzung mit der Geschlechtsrolle und nicht zuletzt der Bewältigung von schulischen und familiären Problemen (Richter et al. 2004, Richter 2005a). Verkehren Jugendliche mit Gleichaltrigen, die den Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum als „normal“ betrachten, dann ergeben sich vermehrt Gelegenheiten, wächst der soziale Druck und sinkt die Hemmschwelle. Gleichzeitig werden Einstellungen gegenüber dem Substanzkonsum und Einschätzungen zur Verbreitung und den möglichen gesundheitlichen Folgen geprägt, die sich im weiteren Lebenslauf als sehr überdauernd erweisen. Die vorliegenden Studien sprechen dafür, dass der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Substanzkonsum neben der Interaktion in der Gleichaltrigengruppe auch durch das Schulklima und den Lernerfolg sowie den Erziehungsstil und die Vorbildfunktion der Eltern beeinflusst wird (Paulus 2002, Bilz et al. 2004). Gesundheitsversorgung Wenn eine Beeinträchtigung der Gesundheit vorliegt, ist eine frühzeitige Erkennung und Behandlung eine wichtige Voraussetzung dafür, dass einer Verfestigung sowie möglichen sozialen und psychosozialen Folgen entgegengewirkt wird. Über soziale Unterschiede in der Versorgung liegen für Deutschland bislang keine aussagekräftigen empirischen Ergebnisse vor. Dafür lässt sich zeigen, dass die vorhandenen präventiven und gesundheitsfördernden Angebote von den unteren Statusgruppen seltener in Anspruch genommen werden. Das gilt z.B. für die Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen und das Krankheitsfrüherkennungsprogramm für Kinder. Es gibt allerdings auch positive Beispiele wie die Teilnahme an der zahnärztlichen Prophylaxe, bei der mittlerweile keine sozialen Unterschiede mehr bestehen (Schiffner & Reich 1999). Ebenso lässt sich für den empfohlenen Impfschutz gegen Keuchhusten, Kinderlähmung und Hib feststellen, dass die noch vor einigen Jahren vorhandenen Unterschiede nicht mehr zu beobachten sind (Landesgesundheitsamt Brandenburg 1999, 2005). Im Zusammenhang mit bevölkerungsbezogenen Aufklärungskampagnen zur Gesundheit wird eine „Mittelschichtsorientierung“ konstatiert, die sich sowohl an den Inhalten als auch an den Kommunikationswegen festmachen lässt. Gleiches gilt für „settingbezogene Ansätze“ zur Suchtprävention oder Förderung einer gesunden Ernährung und des Bewegungsverhaltens. Dies ist schon deshalb der Fall, weil sozial benachteiligte
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Kinder und Jugendliche über die im Mittelpunkt stehenden Settings Schule, KiTa, Vereine und Jugendreisen schlechter erreicht werden (Pott & Lehmann 2002). Rückwirkungen der Gesundheit auf Lebensbedingungen und Teilhabechancen Letztlich berücksichtigt das Modell in Abbildung 12.3 die Möglichkeit von Rückkopplungen. So können sich Entwicklungsdefizite und Gesundheitsstörungen nachteilig auf die Persönlichkeitsentwicklung und auf das Gesundheitsverhalten der Heranwachsenden auswirken. Ebenso lassen sich gesundheitliche Beeinträchtigungen als potenzielles Hindernis für die soziale Teilhabe, z.B. den Schulerfolg oder den Kontakt mit Gleichaltrigen, begreifen. Selbst auf die materielle Lage des Haushaltes sind Rückwirkungen denkbar, etwa wenn die Sorge für ein krankes oder behindertes Kind mit zusätzlichen Kosten verbunden ist oder die Eltern von einer Erwerbstätigkeit abhält. Die vorliegenden Erkenntnisse sprechen jedoch dafür, dass der Erklärungswert dieser Rückkopplungen, die in der Literatur unter dem Stichwort der „gesundheitsbedingten sozialen Selektion“ („health selection“) diskutiert werden, im Vergleich zur strukturellen Prägung der Lebensbedingungen und Teilhabechancen, der Persönlichkeitsentwicklung sowie des Gesundheitsverhaltens („social causation“) begrenzt ist (Mielck 2000, Richter 2005a).
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Politische Interventionen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit in der heranwachsenden Generation
Wenn es um die Entwicklung und Erprobung konkreter Interventionen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit geht, muss für Deutschland im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern ein Nachholbedarf konstatiert werden (Mielck 2001, 2005, Richter & Mielck 2006). Am weitesten vorangeschritten ist die Entwicklung in Großbritannien, den Niederlanden und Schweden. In diesen Ländern wurden in den vergangenen Jahren offizielle Berichte zu Ausmaß und Ursachen der gesundheitlichen Ungleichheit vorgelegt, politische Empfehlungen und Zielvorgaben formuliert und an diesen ausgerichtete Maßnahmen und Programme entwickelt, umgesetzt und zum Teil auch evaluiert (Mackenbach et al. 2003, Mielck in diesem Band). Für Deutschland lassen sich in den letzten Jahren zumindest im Hinblick auf die Berichterstattung Fortschritte beobachten. Bezogen auf Kinder und Jugendliche sind hier u.a. die Berichte „Armut bei Kindern und Jugendlichen und ihre Auswirkung auf die Gesundheit“ (Klocke & Lampert 2005) und „Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit“ (Lampert et al. 2005), die beide im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes erstellt wurden, zu nennen. Letzterer hat zudem Eingang in die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung gefunden, die sich zunehmend stärker mit der sozial ungleichen Verteilung von Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken befasst (BMGS 2005). Die Berichte nehmen eine Bestandsaufnahme der bisherigen Forschungsergebnisse und Erkenntnisse zu gesundheitsbezogenen Problemlagen und Verteilungsungleichheiten vor und stellen damit eine wichtige Grundlage für die Ableitung von Handlungsstrategien und Zielvorgaben dar. Einen Widerhall haben sie im Projekt „gesundheitsziele.de“ gefunden, das gemeinsam vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und der Gesellschaft für Versicherungswesen und -gestaltung e.V. (GVG) durchgeführt wird und mit dem Gesundheitsziele als politisches Steuerungsinstrument verankert werden sollen (BMGS 2003).
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In einem ersten Schritt wurden in dem Projekt sechs Themenbereiche ausgewählt, zu denen Zielstellungen formuliert und Basismaßnahmen zu deren Umsetzung entwickelt wurden. Dazu zählt auch die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, wobei der Schwerpunkt zunächst auf die Bewegung, Ernährung und Stressbewältigung der Heranwachsenden als zentrale Handlungsfelder der Prävention und Gesundheitsförderung gelegt wurde. Die Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit wird in dem Projekt als Querschnittsanforderung begriffen, was sich in den bislang formulierten Zielen und Maßnahmen jedoch noch nicht in ausreichendem Maße widerspiegelt. Um eine nachhaltige Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit zu erreichen, muss sichergestellt werden, dass die auf der Grundlage von vorliegenden Forschungsergebnissen entwickelten politischen Zielvorgaben und Handlungsstrategien in politische Interventionen münden, deren Wirksamkeit erwiesen und flächendeckende Durchführung auf lange Sicht gewährleistet ist. Die neuralgischen Übergänge in diesem gesundheitspolitischen Regelkreis bestehen in Deutschland wie auch in vielen anderen Ländern in dem systematischen Transfer der vorhandenen Erkenntnisse und der Evaluation der eingeleiteten Maßnahmen und Programme. Ein wichtiger Beitrag stellt deshalb die von der BZgA aufgebaute Internet-Plattform „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ dar, die umfassende Informationen über vorhandene Projekte, unter Berücksichtigung der jeweiligen Zielstellungen und Zielgruppen, liefert (www.datenbank-gesundheitsprojekte.de). Auf diese Weise ist es möglich, Beispiele „guter Praxis“ und Hinweise für deren Übertragbarkeit zu identifizieren. Als sehr vorteilhaft erwies sich dabei, dass dieses Projekt durch eine im Jahr 2004 gewährte EU-Förderung auf andere Länder ausgeweitet und damit ein internationaler Erfahrungsaustausch unterstützt werden konnte („Closing the Gap: Strategies for Action to Tackle Health Inequalities in Europe“). Angesichts der zu beobachtenden gesundheitsbezogenen Problemlagen und Verteilungsungleichheiten bei Kindern und Jugendlichen sowie der vorhandenen Erkenntnisse über deren Ursachen und Beispiele erfolgreicher Interventionen, lässt sich schlussfolgern, dass nur ein Bündel von an verschiedenen Stellen ansetzender, gleichwohl aufeinander abgestimmter Maßnahmen zu einer nachhaltigen Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit in der heranwachsenden Generation beitragen kann (Pott & Lehmann 2002). Einen wichtigen Anknüpfungspunkt gibt dabei die Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit vor. Weitgehend unstrittig ist, dass sozialpolitische Bemühungen stärker als bisher darauf zielen sollten, die höheren ökonomischen und materiellen Belastungen in sozial schwachen Familien zu verringern. Die Erziehung von Kindern ist mit Kosten verbunden, die durch den Familienlastenausgleich nicht annähernd gedeckt werden und auch für viele kinderreiche Familien im mittleren Einkommensbereich eine Belastung darstellen. Neben umfassenden steuerlichen Entlastungen von Familien ist dabei auch an eine weitere Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderzuschlags zu denken. Diese familienpolitischen Instrumente reichen aber nicht aus, um die aus einer Armutslage resultierenden Entwicklungsrisiken für Kinder abzufedern. Wie Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigen, haben von den Erhöhungen des Kindergeldes in der Vergangenheit vor allem Familien an der Grenze des Armutsbereichs profitiert, während bei den aus sozialpolitischer Sicht besonders zu beachtenden Familien von Arbeitslosen und allein Erziehenden das Armutsrisiko nicht entscheidend vermindert werden konnte (Grabka & Krause 2005). Erfolgversprechender sind wahrscheinlich Maßnahmen, die auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zielen. Betreuungsangebote für Kinder und flexible Firmen-
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konzepte ermöglichen z.B. allein erziehenden Müttern oftmals erst einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Ein positiver Impuls könnte hier von dem im Jahr 2005 in Kraft getretenen Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) ausgehen, mit dem sicher gestellt werden soll, dass künftig ein größerer Anteil der Kinder einen wesentlichen Teil des Tages in öffentlich organisierten und verantworteten Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen verbringen kann. Die Unterstützung für sozial benachteiligte Familien sollte aber nicht nur an finanziellen Transfers und der Verbesserung der Betreuungsangebote für Kinder ansetzen, sondern auch auf eine Stärkung des Zusammenhalts und der psychosozialen Ressourcen der Familie zielen. Durch aktive familien- und jugendpolitische Vorkehrungen müssen Familien in die Lage versetzt werden, auch in Krisensituationen ein verlässlicher Rückhalt für die Heranwachsenden zu sein. Von der Kinder- und Jugendhilfe ist dementsprechend zu erwarten, dass sie verstärkt für sozial schwächere Familien eintritt und sich nicht auf die Hilfe in Krisen- und Notsituationen beschränkt. Wie die bisherigen Erfahrungen zeigen, sind familienbasierte Förderprogramme insbesondere dann erfolgreich, wenn sie sich von Resozialisierungs- und Normalisierungsansprüchen lösen und stärker auf die Steigerung der Selbsthilfekompetenzen von Familien konzentrieren (Palentien et al. 1999, Kamensky 2003). Gefordert ist darüber hinaus die Bildungspolitik. Eine gute schulische und berufliche Ausbildung ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich die Heranwachsenden eine eigene Lebensperspektive erschließen und später einen ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechenden Platz in der Gesellschaft einnehmen. Der beobachtete Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Bildungsbeteiligung stellt damit ebenso wie die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die zuvorderst Jugendliche mit geringer schulischer und beruflicher Qualifikation betrifft, ein vorrangiges Handlungsproblem dar. Welche Impulse vom Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ ausgehen werden, das den flächendeckenden Auf- und Ausbau von Ganztagsschule vorsieht, bleibt abzuwarten, da dadurch nicht zwangsläufig eine Verbesserung der Unterrichtsqualität und ein sozialer Ausgleich der Bildungschancen erreicht wird. Jedenfalls nimmt die Bedeutung der Schule als Sozialisationsinstanz weiter zu, wenn künftig mehr Kinder auch am Nachmittag unterrichtet und betreut werden. Gleichzeitig wird dadurch der Stellenwert der Schule als „Setting“ für die Gesundheitsförderung unterstrichen (Dür & Griebler in diesem Band). Neben dem unmittelbaren Zugang zu den Jugendlichen gestattet die Schule eine Beeinflussung von Gruppennormen in den jeweiligen Klassen, die für Verhaltensgewohnheiten und Lebensstile der Heranwachsenden prägend sind. Darüber hinaus bildet die Schule in der Regel das Umfeld, aus dem sich die Gleichaltrigengruppe zusammensetzt. Über die schulische Gesundheitsförderung können damit auch Aspekte des Peereinflusses angesprochen und positiv beeinflusst werden. Deshalb wäre eine stärkere Verankerung von Programmen zur Förderung sozialer Kompetenzen und des Gesundheitswissens im Unterricht wünschenswert, was allerdings eine entsprechende Weiterqualifizierung der Lehrer voraussetzt (Geyer 2003, Jerusalem et al. 2003). Auch außerhalb des Unterrichts ergeben sich zahlreiche Ansatzpunkte, die von der baulichen Substanz und materiellen Ausstattung über Angebote zur gesunden Ernährung und körperlichen Aktivität bis hin zu Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Eltern und Lehrer reichen. Gesundheitsförderung sollte aber nicht erst in der Schule beginnen. Da sich Einstellungen und Verhaltenskompetenzen sehr früh entwickeln, sind auch Programme erforderlich, die in der KiTa umgesetzt werden können. Gerade im Hinblick auf die Möglichkeit, familiäre Defizite zu kompensieren, erscheint ein
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Thomas Lampert, Matthias Richter
frühes Einsetzen der Förderung angezeigt. Daneben sind Vereine, Jugendreisen und die Nachbarschaft wichtige „Orte“ der Gesundheitsförderung (Pott & Lehmann 2002). Dass Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Familien durch die vorhandenen Maßnahmen und Programme schlechter erreicht werden, weist auf die Notwendigkeit hin, neue Konzepte und spezifische Zugangswege zu erproben. Gründe für die geringere Inanspruchnahme von präventiven und gesundheitsfördernden Angeboten sind neben fehlender Kenntnis und geringem Interesse zum Teil auch Ängste, Unsicherheit oder Überforderung z.B. als Folge von Stress und Zeitmangel. Zudem ist von einer anderen Problemwahrnehmung und anderen Kommunikationsformen als bei sozial besser gestellten Familien auszugehen. Gesundheitsförderung hat diese hemmenden Faktoren der Inanspruchnahme in geeignete Strategien für sozial benachteiligte Familien mit einzubeziehen. So sollten stärker als bisher niedrigschwellige und wenig zeitintensive Angebote entwickelt und besser in das alltägliche Leben von Kindern und Jugendlichen integriert werden (Kamensky 2003). Eine übergeordnete Bedeutung kommt dabei der Kooperation und Vernetzung von Akteuren in sozialen Brennpunkten, z.B. zwischen Schulen, KiTas, Sportvereinen, Kinderärzten und der Kinder- und Jugendhilfe, zu. Der Politik fällt die Aufgabe zu, die erforderlichen Rahmenbedingungen für den Austausch und die Arbeitsteilung zwischen den Akteuren zu schaffen. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass eine nachhaltige Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit in der heranwachsenden Generation eine gemeinsame Aufgabe von Sozial-, Familien-, Bildungs-, Finanz-, Arbeitsmarkt-, Städtebau- und Gesundheitspolitik unter Einbeziehung zahlreicher Akteure, wie z.B. dem Öffentlichen Gesundheitsdienst, der Krankenkassen, der Kinder- und Jugendhilfe oder den KiTas und Schulen, ist. Ausgehend von einer detaillierten Beschreibung und Analyse der vorhandenen Problemlagen und Verteilungsungleichheiten müssen politische Handlungsstrategien entwickelt und Zielvorgaben formuliert werden, die auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene unterschiedlich ausgestaltet und konkretisiert werden können. Sie sollten sich sowohl auf gesundheitliche Belange beziehen, die alle Kinder und Jugendliche betreffen, als auch auf spezifische Probleme in den sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, da nur so das übergeordnete Ziel einer allgemeinen Verbesserung der Gesundheit der Heranwachsenden bei gleichzeitiger Verringerung der vorhanden gesundheitlichen Ungleichheit erreicht werden kann. Während im Hinblick auf die Berichterstattung und Zieldefinition in den letzten Jahren deutliche Fortschritte zu beobachten sind, mangelt es nach wie vor an der praktischen Umsetzung und der Evaluation der eingeleiteten Interventionen, auch und gerade im Hinblick auf mögliche sozial differenzielle Wirkungen. Die Entwicklung eines umfassenden Konzeptes zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen, das einen effektiven und effizienten Praxistransfer gesicherter Erkenntnisse gewährleistet, steht damit in Deutschland noch aus.
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80,9 Jahre
85,3 Jahre
Gesunde Lebenserwartung
1
0-60 %
56,8 Jahre
60,8 Jahre
> 150 %
71,2 Jahre
71 Jahre
Abgrenzung erfolgt am Median der Gesamtbevölkerung,
Quelle: Lampert et al. (2007), Datenbasis: Sozio-oekonomisches Panel (SOEP), 1984-1997
Ähnliche Mortalitätsunterschiede nach Einkommen fanden Voges (1996). In allen Analysen waren die Differenzen in der Lebenserwartung bei Männern stärker als bei Frauen ausgeprägt. Ein Grund hierfür wird in der geringeren Lebenserwartung der Männer unterer Sozialschichten gesehen. Studien, die über eine Beschreibung des Zusammenhangs hinaus einen Beitrag zu den Wirkmechanismen leisten, sind für Deutschland äußerst selten. Als wichtigen Erklärungsfaktor für die sozial bedingten Unterschiede in der Mortalität betrachten Klein et al. (2001) sowie Schneider (2003) das Gesundheitsverhalten, insbesondere bei der Analyse bildungsbedingter Unterschiede. Zudem hatten die materiellen Bedingungen (Berücksichtigung des
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Birgit Babitsch, Thomas Lampert, Stephan Müters, Matthias Morfeld
Einkommens) eine vermittelnde Wirkung zwischen Bildung und Mortalität und weisen damit auf die hohe Relevanz monetärer Faktoren hin (Schneider 2003). Demgegenüber trägt das Gesundheitsverhalten in der Studie von Müters & Lampert (2006) einen deutlich geringeren Beitrag zur Erklärung des bildungsspezifischen Mortalitätsrisikos von Männern bei. Internationaler Forschungsstand/Forschungsbedarf für Deutschland Analysen zu sozial bedingten Unterschieden in der Mortalität wurden vor allem in Großbritannien, in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Skandinavien und in den Niederlanden durchgeführt. In allen Ländern bestehen zum Teil erhebliche sozioökonomische Unterschiede in der Mortalität (Gregorio et al. 1997, Mackenbach et al. 1997, Kunst et al. 1998, Mheen et al. 1998, Backlund et al. 1999, Mustard & Etches 2003). Die Studien von Mackenbach et al. (1997) und Kunst et al. (1998) zeigen für 11 bzw. 9 europäische Staaten ein 1,4-fach erhöhtes Mortalitätsrisiko von manuell im Vergleich zu nicht-manuell beschäftigten Männern im Alter von 45 bis 59 Jahren. Für Frankreich ist dieses Risiko höher; hier ließ sich ein 1,7-faches Risiko feststellen. Die schichtspezifischen Risiken in den untersuchten europäischen Staaten sind prinzipiell vergleichbar für die 30bis 44-jährigen Männer; jedoch sind die schichtspezifischen Differenzen in der Mortalität in der jüngeren Altersgruppe insgesamt etwas höher (in der Altersgruppe der 30- bis 44jährigen bestand für Finnland ein stärkerer Zusammenhang als in den anderen Staaten, für Frankreich lagen keine Daten vor). Eine solche Eingruppierung konnte für Deutschland in den genannten Studien aufgrund fehlender Vergleichsdaten nicht vorgenommen werden. Ein Vergleich europäischer mit amerikanischen Daten zeigte für die USA eine höhere bildungsspezifische Ungleichheit in der Mortalität, ähnlich der in Frankreich (Kunst & Mackenbach 1994). Gerade im Vergleich zu Studien aus Großbritannien, Skandinavien, den Niederlanden oder den Vereinigten Staaten von Amerika wird deutlich, welche Fragen für Deutschland bislang unbeantwortet geblieben sind. Exemplarisch werden im Folgenden zentrale, in der internationalen Debatte diskutierte Fragen erörtert: 1. 2. 3.
Zeitliche Trends im sozialen Gradienten Erklärungsfaktoren für zeitliche Trends im sozialen Gradienten Mögliche Erklärungsfaktoren für den sozialen Gradienten in der Mortalität.
Viele Studien zeigen eindrücklich, dass sozial bedingte Unterschiede in den Mortalitätsrisiken einem zeitlichen Trend unterliegen. Über die Jahre konnte eine Vergrößerung des sozialen Gradienten in der Mortalität beispielsweise für Großbritannien (Whitehead 1990, Mheen et al. 1998), die Vereinigten Staaten von Amerika (Pappas et al. 1993, Preston & Elo 1995) oder Skandinavien (Valkonen 1998, Mackenbach et al. 2003) festgestellt werden. Für eine differenzierte Beschreibung zeitlicher Trends ist die Erfassung und Analyse von Todesursachen aufschlussreich. So demonstrierten Mackenbach et al. (2003) für Großbritannien und Skandinavien, dass die Vergrößerung schichtspezifischer Mortalitätsrisiken von 1981/85 bis 1991/95 insbesondere aufgrund einer schneller sinkenden Herz-KreislaufMortalität in den oberen im Vergleich zu den unteren Sozialschichten zurückzuführen ist. Gleichzeitig kam es in den unteren sozialen Schichten zu einer Zunahme der Mortalität, die sich auf Lungenkrebs, Brustkrebs, Atemwegserkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen
Ungleiche Gesundheitschancen bei Erwachsenen
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und Unfälle zurückführen lässt. Auch in den Vereinigten Staaten von Amerika konnte ein schnellerer Rückgang der Herz-Kreislauf-Mortalität im Zeitraum von 1984 bis 1997 in den höheren sozialen Schichten (um 45%) als in den unteren sozialen Schichten (um 25%) festgestellt werden (Steenland et al. 2004). Im Unterschied dazu können für Deutschland nur begrenzte Aussagen zu zeitlichen Trends in der Mortalität sowie zu sozial bedingten Unterschieden bei einzelnen Todesursachen getroffen werden. Voges und Schmidt (1996) zeigen anhand eines Vergleichs der Untersuchungszeiträume 1984-1988 und 1989-1993 mit den Daten des SOEP, dass die Unterschiede im Mortalitätsrisiko bei einem Vergleich der unteren mit den oberen Einkommensgruppen größer geworden sind. Zugleich scheint es für Deutschland, dass die Herz-Kreislauf-Mortalität weniger als die Krebsmortalität nach der Sozialschichtzugehörigkeit variiert (Helmert 2000, Klein et al. 2001). Die dargestellten Ergebnisse zeigen, dass es erhebliche, sozial bedingte Unterschiede in der Mortalität gibt. Im Gegensatz zu den international vorhandenen Studienergebnissen fällt es für Deutschland schwerer, Aussagen z.B. über zeitliche Trends zu treffen und sozial bedingte Unterschiede in der Mortalität differenziert zu beschreiben. Auch kann bezüglich der Erklärungsmechanismen – aufgrund der bestehenden Datenlage – nur wenig ausgesagt werden. Hinweise liegen für den Einfluss der frühen Kindheit, der Lebensbedingungen, des Gesundheitsverhaltens sowie psychosozialer Faktoren auf die Entstehung von sozial bedingten Unterschieden in der Mortalität vor (Schrijvers et al. 1999, Galobardes et al. 2004, van Oort et al. 2005). Die berichteten Ergebnisse haben zudem gezeigt, dass sowohl in Deutschland als auch in internationalen Studien die Analysen häufig nur für Männer durchgeführt wurden und damit größere Defizite in der Beschreibung sozialer Unterschiede in der Mortalität bei Frauen bestehen. Gründe hierfür sind u. a. methodische Schwierigkeiten bei der Zuordnung des Sozialstatus von Frauen sowie die höhere Lebenserwartung von Frauen, die dazu führt, dass in statistischen Analysen der Anteil der Frauen häufig (zu) gering ist (siehe auch Babitsch in diesem Band).
3
Sozial bedingte Unterschiede in der Morbidität und bei Risikofaktoren
Der Forschungsstand zu sozialen Unterschieden in der Verbreitung von Risikofaktoren und Krankheiten ist weitaus besser als zu sozialen Unterschieden in der Mortalität. Zu verdanken ist dies in erster Linie groß angelegten epidemiologischen Studien, die zunächst ihren Schwerpunkt auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen legten, deren Themenspektrum aber im Laufe der Zeit sukzessive erweitert wurde, z. B. die MONICA Augsburg-Studie (Monitoring Trends and Determinants in Cardiovascular Disease) und die Deutsche HerzkreislaufPräventionsstudie (DHP). Ergänzt werden diese inzwischen durch bundesweit repräsentative Gesundheitssurveys, die neben Krankheiten und Risikofaktoren auch Informationen zur subjektiven Gesundheit, gesundheitsbezogenen Lebensqualität, Gesundheitsverhalten und Gesundheitsversorgung bereitstellen und damit eine breite Grundlage für epidemiologische Forschung, Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitspolitik schaffen. Zu nennen sind hier u. a. der Bundes-Gesundheitssurvey 1998 und die telefonischen Gesundheitssurveys, die vom Robert Koch-Institut durchgeführt wurden (Bellach 1999, Ziese & Neuhauser 2005). Beginnend mit den Daten der DHP-Studie wurden schichtspezifische Unterschiede im Auftreten chronischer Krankheiten anhand einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe
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Birgit Babitsch, Thomas Lampert, Stephan Müters, Matthias Morfeld
untersucht. Die Schichtzugehörigkeit wurde dabei über einen Index erfasst, der auf Angaben zum höchsten allgemein bildenden Schulabschluss, zum monatlichen Haushaltsnettoeinkommen und zur beruflichen Stellung des Hauptverdieners im Haushalt basiert. Für die Jahre 1984 bis 1991 standen Informationen von insgesamt 44.147 Männern und Frauen aus den alten Bundesländern im Alter von 25 bis 69 Jahren zur Verfügung. In der Lebenszeitprävalenz von Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes mellitus und chronischer Bronchitis zeigten sich deutliche Unterschiede zu Ungunsten der Angehörigen der unteren Sozialschicht; bei Männern außerdem für Bandscheibenverletzungen und Magengeschwüre, bei Frauen für Gicht. Die größeren Gesundheitsprobleme der Personen aus der unteren Sozialschicht wurden auch dadurch deutlich, dass bei ihnen häufiger mehrere chronische Krankheiten gleichzeitig auftraten (Helmert & Shea 1994). Diese schichtspezifischen Differenzen bestehen weiter fort – wie u.a. die Analysen des Telefonischen Gesundheitssurvey 2003 (RKI 2007) zeigen (siehe Tabelle 13.2). Männer aus der unteren Sozialschicht (US) haben ein 2,6-fach höheres Risiko einen Schlaganfall zu erleiden bzw. ein 2-fach höheres Risiko an einer Depression zu erkranken verglichen mit Männern der oberen Sozialschicht (OS). Das geringe Risiko für Diabetes Mellitus bei Männern der unteren Sozialschicht überrascht, und wird von den Autoren/-innen durch einen geringeren Bekanntheitsgrad der Erkrankung in dieser Bevölkerungsgruppe erklärt. Ein 2,2-fach höheres Risiko für einen Herzinfarkt bzw. ein 2-fach höheres Risiko für einen Schlaganfall bzw. einen Diabetes Mellitus weisen Frauen aus der unteren verglichen mit der oberen Sozialschicht auf. Tabelle 13.2: Signifikante schichtspezifische Unterschiede bei chronischen Krankheiten (Odds Ratio US vs. OS) Odds Ratio (OS:US) Erkrankungen
Männer
Frauen
Herzinfarkt
1,56
2,15*
Schlaganfall
2,56***
2,01
Diabetes Mellitus
0,39**
2,02**
Chronische Bronchitis
1,51*
1,52*
Rückenschmerzen
1,49**
1,44***
Schwindel
1,76***
1,52***
Depression
2,01***
1,58***
Quelle: RKI (2007), Datenbasis: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003; Signifikanzniveaus: *** p < 0,001 ** p < 0,01 * p < 0,05; (US:OS): Quotient der Odds Ratios aus unterer Sozialschicht zu oberer Sozialschicht; Adjustierung nach Alter;
Allerdings zeigt sich bei manchen Einzelerkrankungen auch ein inverser sozialer Gradient. Dies trifft für Allergien und Heuschnupfen zu. Diese kommen bei Angehörigen aus den höheren Sozialschichten vermehrt vor, was durch andere Studien bestätigt wird (Heinrich et al. 1998, Knopf et al. 1999). Schneider et al. (2006) zeigte darüber hinaus auch für Hepati-
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Ungleiche Gesundheitschancen bei Erwachsenen
tis, Gastritis und Nierenkolik/-steine signifikant höhere Odds Ratios für die Mittel- und Oberschicht auf. Auch Routinedaten der Gesetzlichen Krankenkassen werden bisweilen für die Analyse der sozialen Ungleichheit in der Morbidität herangezogen. Auf Basis der Daten der AOKMettmann wurde z. B. die Inzidenz des ersten akuten Myokardinfarktes nach Schul- und Berufsbildung sowie beruflicher Stellung untersucht. In die Analyse von Peter & Geyer (1999) gingen Informationen von 132.255 Männern und Frauen ein, die zwischen 1987 und 1996 für mindestens 12 Monate bei der Krankenkasse als Hauptversicherte geführt wurden. Bei Männern lag das Infarktrisiko in der niedrigsten Bildungsgruppe viermal höher als in der höchsten Bildungsgruppe. Un- und angelernte Arbeiter unterlagen einem doppelt so hohen Infarktrisiko wie Angestellte und Führungskräfte. Bei Frauen ging nur von der beruflichen Stellung ein signifikanter Einfluss auf das Infarktrisiko aus, der zudem schwächer ausgeprägt war als bei Männern (Peter & Geyer 1999). Seit einigen Jahren befasst sich die sozialepidemiologische Forschung zunehmend mit der subjektiven Gesundheit, die nicht nur von vorhandenen Krankheiten und Risikofaktoren, sondern auch von gesundheitsbezogenen Einstellungen und Wahrnehmungen, individuellen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten sowie Bewältigungsressourcen abhängt (Bjoner et al. 1996). Im telefonischen Gesundheitssurvey 2003, an dem 8.318 Männer und Frauen im Alter ab 18 Jahren teilgenommen haben, wurden die Befragten gebeten, ihren allgemeinen Gesundheitszustand auf einer fünfstufigen Skala mit den Antwortkategorien „sehr gut“, „gut“, „mittelmäßig“, „schlecht“ und „sehr schlecht“ zu beurteilen. Abbildung 13.1: Anteil der Männer und Frauen, die ihren allgemeinen Gesundheitszustand als „sehr gut“ einschätzen, nach sozialer Schichtzugehörigkeit Unterschicht
Mittelschicht
Oberschicht
60
Männer
Frauen
50 40 30 20 10 0
18-29
30-44
45-64
65+
18-29
30-44
45-64
65+
Quelle: Lampert et al. (2006), Datenbasis: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003
Unter den Angehörigen der oberen Sozialschicht war der Anteil derjenigen, die ihre eigene Gesundheit als sehr gut einschätzen deutlich höher als in der mittleren und insbesondere als
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Birgit Babitsch, Thomas Lampert, Stephan Müters, Matthias Morfeld
in der unteren Sozialschicht (siehe Abbildung 13.1). Für Frauen zeigte sich dies in allen betrachteten Altersgruppen sehr deutlich, für Männer spätestens ab dem 30. Lebensjahr. Bei statistischer Kontrolle des Alterseffekts war die Chance einer sehr guten Selbsteinschätzung der Gesundheit bei Männern wie Frauen aus der oberen im Verhältnis zur unteren Sozialschicht um den Faktor 2,4 erhöht (Lampert et al. 2006). Auch hinsichtlich verhaltensbedingter Risikofaktoren, wie u. a. Rauchen, körperliche Inaktivität, Alkoholkonsum, lassen sich sozial bedingte Unterschiede erkennen. Eine der wenigen systematischen Analysen zur ungleichen Verteilung verhaltenskorrelierter Risikofaktoren nach Berufsgruppen basiert auf den Daten der DHP-Studie. Derartige Analysen sind von großem Nutzen, weil sie Ansatzpunkte für zielgruppenorientierte Interventionsmaßnahmen aufzeigen. Untersucht wurden die Risikofaktoren Zigarettenrauchen, Hypertonie, Hypercholesterolinämie, niedriges HDL-Cholesterin, Übergewicht, Diabetes mellitus, Bewegungsarmut und Typ-A-Verhalten. Für die meisten Risikofaktoren konnte eine höhere Prävalenz in schlechter qualifizierten Berufen, insbesondere in manuellen, einfachen Dienstleistungs- und Agrarberufen festgestellt werden. Am deutlichsten tritt die Benachteiligung dieser Gruppen im Bewegungsmangel und im Übergewicht zutage (Helmert 1996). Aktuelle Ergebnisse zur Verbreitung der Gesundheitsrisiken Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel liegen zudem aus dem telefonischen Gesundheitssurvey 2003 vor (Tabelle 13.3). Tabelle 13.3: Verhaltenskorrelierte Gesundheitsrisiken nach sozialer Schichtzugehörigkeit bei 18bis 79-jährigen Männern und Frauen Adipositas (BMI >30)
Rauchen OR1
95% KI
OR
Sportliche Inaktivität 95% KI
OR
95% KI
Männer (n=3.872) Oberschicht (Ref.)
1,00
--
1,00
--
1,00
--
Mittelschicht
1,70
(1,43-2,02)
1,68
(1,35-2,10)
1,67
(1,41-1,98)
Unterschicht
1,90
(1,58-2,29)
1,79
(1,41-2,26)
2,39
(1,99-2,87)
Oberschicht
1,00
--
1,00
--
1,00
--
Mittelschicht
1,44
(1,17-1,77)
2,12
(1,60-2,83)
1,51
(1,25-1,83)
Unterschicht
1,73
(1,39-2,14)
3,43
(2,58-4,58)
2,26
(1,85-2,74)
Frauen (n=4.446)
1 OR: Odds Ratio mit 95% Konfidenzintervall (Ergebnisse binär logistischer Regressionen bei Kontrolle des Alterseffekts)
Quelle: Lampert (2005), Datenbasis: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003
Sie geben einen Hinweis darauf, dass zumindest ein Teil der schichtspezifischen Unterschiede im Auftreten chronischer Krankheiten auf ein riskanteres Gesundheitsverhalten zurückgeführt werden könnte. So war beispielsweise die Chance zu rauchen bei Männern aus der Unterschicht um Faktor 1,9 und bei Frauen um den Faktor 1,7 im Vergleich zu denjenigen aus der Oberschicht erhöht. Bei der Verbreitung von Adipositas und sportlicher
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Ungleiche Gesundheitschancen bei Erwachsenen
Inaktivität zeichneten sich ähnliche oder sogar noch stärker ausgeprägte Unterschiede ab (Lampert 2005). Internationaler Forschungsstand Mittlerweile werden in zahlreichen Ländern bevölkerungsrepräsentative Erhebungen durchgeführt, die ermöglichen, sozial bedingte Unterschiede in der Morbidität und bei verhaltenskorrelierten Risikofaktoren zu analysieren. Die Ergebnisse entsprechen weitgehend den für Deutschland berichteten und unterstreichen die gesundheitliche Benachteiligung der unteren Statusgruppen. So belegte eine aktuelle europäische Vergleichsstudie, die sich auf Daten aus Finnland, Dänemark, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Belgien und den Niederlanden stützt, deutlich ausgeprägte soziale Unterschiede im Vorkommen von Schlaganfall, Hypertonie, Diabetes mellitus, Arthritis, Osteoarthrose sowie Erkrankungen des Nervensystems, der Atemwege und der Verdauungsorgane. Keine Unterschiede zeigten sich einzig bei Nieren- und Hauterkrankungen (Dalstra et al. 2005). Uneinheitlich waren die Ergebnisse zu Krebserkrankungen. Während Lungen- und Magenkrebs häufiger in den unteren Statusgruppen auftraten, waren Hautkrebs und bei Frauen auch Brust- und Gebärmutterkrebs stärker in den sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen verbreitet (Mackenbach 2006). Tabelle 13.4: Zeitliche Entwicklung der Einkommensunterschiede in der Selbsteinschätzung der Gesundheit in fünf europäischen Länder Odds Ratio (95%-Konfidenzintervall) Männer
Frauen
1980er Jahre
1990er Jahre
1980er Jahre
1990er Jahre
Finnland
2,92 (2,29-3,71)
3,09 (2,42-3,94)
2,65 (2,09-3,35)
2,43 (1,86-3,18)
Schweden
3,93 (3,45-7,15)
4,11 (2,82-6,04)
2,16 (1,48-3,16)
2,80 (1,92-4,09)
Großbritannien
3,65 (2,83-4,70)
3,88 (3,09-4,88)
3,12 (2,49-3,92)
3,92 (3,21-4,79)
Niederlande
3,68 (3,00-4,50
4,50 (3,66-5,52)
2,21 (1,84-2,67)
3,01 (2,49-3,63)
Deutschland (West)
1,79 (1,33-2,39)
2,05 (1,55-2,72)
2,11 (1,53-2,91)
2,40 (1,81-3,18)
Quelle: Kunst et al. (2005)
Als einer der Hauptgründe für die ungleich verteilte Krankheitslast wird in den meisten Ländern das Rauchen diskutiert. Für Männer werden in ganz Europa deutlich höhere Raucherquoten in den sozial benachteiligten Gruppen berichtet. Bei Frauen findet sich dieses Muster in Nord-, Mittel- und Osteuropa. In einigen südeuropäischen Ländern, u.a. Spanien, Portugal und Griechenland, war das Rauchen hingegen in den höheren Statusgruppen stärker verbreitet (Cavelaars et al. 2000a, Mackenbach 2006). Neben dem Rauchen ließen sich auch für den Bewegungsmangel und das Übergewicht ein deutlicher Zusammenhang zum Sozialstatus herstellen, der in vielen Ländern, so z.B. in Großbritannien, Dänemark, Bel-
240
Birgit Babitsch, Thomas Lampert, Stephan Müters, Matthias Morfeld
gien, den Niederlanden, Portugal und Griechenland, bei Frauen noch deutlicher zum Ausdruck kommt als bei Männern (Cavelaars et al. 2000b). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass erhebliche sozial bedingte Unterschiede bei den verhaltenskorrelierten Risikofaktoren und der Morbidität bestehen – dies gilt sowohl für Frauen wie für Männer. Auch wird bei der Analyse europäischer Daten die Konstanz gesundheitlicher Ungleichheit – trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturen – deutlich. Im europäischen Vergleich nimmt Deutschland im Hinblick auf die sozial ungleiche Verteilung von chronischen Krankheiten und verhaltenskorrelierten Risikofaktoren einen Mittelplatz ein (Mackenbach 2006). Insgesamt betrachtet ist von einer Ausweitung gesundheitlicher Ungleichheit auszugehen. Aufschluss darüber gibt die Studie von Kunst et al. (2005) zu Einkommensunterschieden in der Selbsteinschätzung der Gesundheit (siehe Tabelle 13.4). Demnach lässt sich für Finnland, Schweden, Großbritannien, die Niederlande und Deutschland (West) feststellen, dass die Unterschiede im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre weiter zugenommen haben (Kunst et al. 2005).
4
Sozial bedingte Unterschiede in der gesundheitsbezogene Lebensqualität
Die Analyse von sozial bedingten Unterschieden in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ist ein jüngerer Forschungsgegenstand im Themenfeld gesundheitlicher Ungleichheit. Erst in den letzten Jahren wird die gesundheitsbezogene Lebensqualität zum Bezugspunkt in den Analysen (siehe auch Erhardt et al. in diesem Band); dementsprechend liegen bis dato vergleichsweise wenige Studien vor, die jedoch ebenfalls auf das Vorhandensein eines sozialen Gradienten hindeuten. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Abschnitt zunächst das Konzept der gesundheitlichen Lebensqualität kurz vorgestellt und daran anschließend auf den Zusammenhang zur sozioökonomischen Lage eingegangen. Gesundheitsbezogene Lebensqualität Gesundheitsbezogene Lebensqualität bezeichnet ein multidimensionales Konstrukt, das durch die vier Komponenten ‚Psychisches Befinden’, ‚Körperliche Verfassung’, ‚Soziale Beziehungen’ und ‚Funktionale Kompetenz’ der Befragten zu operationalisieren ist (Bullinger, 1994) und welches sich inzwischen in der Gesundheitsforschung und der Medizin etabliert hat. Die Operationalisierung und Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ist grundsätzlich gekennzeichnet durch zwei Bereiche. Der erste Bereich betrifft die Differenzierung zwischen Instrumenten, die die gesundheitsbezogene Lebensqualität krankheitsübergreifend erheben – so genannte generische Instrumente. Diese Instrumente gehen nicht auf krankheitsspezifische Symptome ein und sind so auch für die Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität gesunder Populationen geeignet. Demgegenüber stehen Instrumente, die die krankheitsspezifische Lebensqualität erfassen – diese sind so konstruiert, dass sie auf ganz spezifische Aspekte der jeweiligen Erkrankung abheben. Als Beispiele seien hier Asthma bronchiale (Morfeld & Wewel 2000) oder Schlaganfall genannt (Petersen, Morfeld & Bullinger 2001). Der zweite Bereich setzt sich mit der Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen auseinander, der besondere methodische Entwicklungsarbeit erfordert, für den aber die Aspekte des ersten Bereichs ebenso Gültigkeit besitzen (Ravens-Sieberer 2000).
Ungleiche Gesundheitschancen bei Erwachsenen
241
International am häufigsten wird als krankheitsübergreifendes Instrument der SF-36 Health Survey eingesetzt. Der SF-36 (Bullinger, Kirchberger & Ware 1995, Bullinger & Kirchberger 1998) stellt einen Fragebogen zur Selbst- und Fremdeinschätzung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität durch die Probanden bzw. durch eine andere Person dar (Bullinger & Kirchberger 1998). Er dient der krankheitsübergreifenden Erfassung des subjektiven Gesundheitszustandes in Bezug auf psychische, körperliche und soziale Aspekte. Die 36 Items beziehen sich auf verschiedene Themenbereiche und können den folgenden acht Dimensionen subjektiver Gesundheit zugeordnet werden: ‚Körperliche Funktionsfähigkeit’, ‚Körperliche Rollenfunktion’, ‚Schmerz’, ‚Allgemeine Gesundheitswahrnehmung’, ‚Vitalität’, ‚Soziale Funktionsfähigkeit’, ‚Emotionale Rollenfunktion’ und ‚Psychisches Wohlbefinden’ (Kirchberger 2000). 1994 wurde die Normierung des SF-36 in Deutschland durchgeführt. Somit liegen Referenzwerte vor, die nach entsprechender Stratifizierung mit anderen Werten verglichen werden können. Der SF-36 wurde 1998 auch in den Bundes-Gesundheitssurvey als Lebensqualitätsinstrument aufgenommen. Diese Daten stellen eine neue repräsentative Datenbasis für den SF-36 dar (Radoschewski & Bellach 1999). Sozial bedingte Unterschiede in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität: Ergebnisse aus nationalen und internationalen Studien Radoschewski und Bellach (1999) untersuchten in einer multivariaten Analyse den Einfluss der sozialen Schicht, des Alters, der Lebensregion (alte vs. neue Bundesländer) sowie des im Selbstbericht erhobenen Vorhandenseins einer Erkrankung in den letzten vier Wochen bzw. in den letzten zwölf Monaten auf jede der acht Subskalen des SF-36. Grundlage bildeten die Daten des Bundes-Gesundheitssurveys 1998. Es zeigte sich bezogen auf die Referenzgruppe Oberschicht ein sozialer Gradient mit einer schlechteren Lebensqualität für die untere soziale Schicht. Eine Ausnahme stellen die Subskalen Schmerz und Soziale Funktionsfähigkeit dar, bei denen eine schlechtere Einschätzung der Angehörigen der Mittelschicht im Vergleich zur Unterschicht besteht (Radoschewski & Bellach 1999). In einer Untersuchung, die die Daten aus der britischen Whitehall II Studie (Männer: n=5.763, Frauen: n=2.586) verwendete, wurde in einem Längsschnittdesign die Veränderung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität mit dem SF-36 unter Berücksichtigung selbstberichteter physischer und psychischer Erkrankungen gemessen (Hemingway et al. 1997a). Die Studie bestand aus vier Messzeitpunkten: Die Baseline wurde zwischen August 1991 und Mai 1993 erhoben – der vierte Messzeitpunkt lag zwischen April 1995 und Juni 1996. Die dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf die Veränderungsmessung zwischen Messzeitpunkt 1 (baseline) und dem Messzeitpunkt 4 (follow-up). Die Einteilung in die sozialen Statusgruppen erfolgt in Abweichung zu dem von Marmot et al. (1978) vorgeschlagenen Beschäftigtenstatus über das Einkommen. Differenziert wurden zwölf Gruppen hinsichtlich des Einkommensstatus. Um möglichst vergleichbar stark besetzte Gruppen zu erhalten, wurden die bezogen auf das Einkommen am besten ausgestatteten Gruppen der Kategorie 1 und die beiden Gruppen mit dem geringstem Einkommen der Kategorie 6 zugeordnet. Zu allen Messzeitpunkten wurde der SF-36 eingesetzt. Zudem lagen für alle Probanden basale medizinische Untersuchungsparameter, wie beispielsweise das EKG, vor. Des Weiteren wurden während der Baseline Erhebung die Studienteilnehmer in vier unterschiedliche Gruppen entsprechend ihres Gesundheitsstatus eingeteilt (1: „gesund“, 2: „ausschließlich physische Erkrankungen“, 3: „schwach (‚minor’) ausgeprägte psychische Störungen“, 4: „physische Erkrankung und psychische Störungen“). Die Ergebnisse zeigten,
242
Birgit Babitsch, Thomas Lampert, Stephan Müters, Matthias Morfeld
dass zum Follow-up (t4, mean 36 Monate) alle Skalenwerte des SF-36 aller Untersuchungspersonen im Mittel niedriger waren und somit für eine schlechtere Lebensqualität sprechen. Dabei fiel auf, dass Männer der unteren Einkommensgruppen stärkere Rückgänge auf allen Skalen im Zeitverlauf aufzeigten als die der höheren – somit eine Verschlechterung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität aufwiesen, die auch nach Kontrolle auf Alter und Zusammensetzung der Diagnosegruppe – also unabhängig von der jeweiligen Diagnose (s. o.) – Bestand hatte. Bei den Frauen zeigte sich dieser Effekt nicht so deutlich mit Ausnahme der Skala ‚Körperliche Schmerzen’. Hier lag die Effektstärke (zwischen Statusgruppe 6 und 1) für die Männer bei d=.33 und bei den Frauen bei d=.40. In einer weiteren Arbeit berichten Hemingway et al. (1997b) Odds Ratios von 1.42 (KI: 1.11; 1.82) für die beiden mittleren Einkommensgruppen sowie 2.49 (KI: 1.62; 3.85) für die beiden niedrigsten Einkommensgruppen gegenüber den beiden höchsten Einkommensgruppen (Referenzgruppe, OR=1) bei Männern, die zum Befragungszeitpunkt keine der oben angegeben Krankheiten hatten (siehe Tabelle 13.5). Erstaunlicherweise veränderten sich diese Risikokonstellation für die Personen, die eine oder mehr der oben genannten Krankheiten aufwiesen, zum Positiven, d. h. die Odds Ratios verringern sich auf 1,32 (KI 1.11; 1.57) für die beiden mittleren Einkommensgruppen sowie 1.92 (KI 1.42; 2.58) für die beiden niedrigsten Einkommensgruppen gegenüber der Referenzgruppe. Der soziale Gradient ist zwischen den drei Einkommensgruppen weniger deutlich ausgeprägt, wenn man die Anzahl der selbstberichteten Erkrankungen mitberücksichtigt. In der Tendenz ähnliche, jedoch stärker prononcierte soziale Unterschiede finden sich für Frauen (Hemingway et al. 1997b). Tabelle 13.5: Einkommensbezogene Unterschiede in der gesundheitlichen Lebensqualität (Odds Ratios) Männer (n1=2.861, n2=2.868) 1
Frauen (n1=1.353, n2=1.212)
OR
95%-KI
OR
95%-KI
Statusgruppe 1 und 2
1,00
--
1,00
--
Statusgruppe 3 und 4
1,42
(1.11 - 1.82)
2.80
(1,46 - 5.37)
Statusgruppe 5 und 6
2,49
(1.62 - 3.85)
4.11
(2.14 - 7.90)
Statusgruppe 1 und 2
1,00
--
1.00
--
Statusgruppe 3 und 4
1,32
(1.11 - 1.57)
1.59
(1.06 - 2.38)
Statusgruppe 5 und 6
1.92
(1.42 - 2.58)
2.50
(1.67 - 3.73)
Modell 12
Modell 23
1 OR: Odds Ratio mit 95%-Konfidenzintervall (Ergebnisse binär logistischer Regressionen bei Kontrolle des Alterseffekts), 2 Logistische Regression kontrolliert für Alter, ohne Erkrankungen, 3 Logistische Regression kontrolliert für Alter, eine oder mehrere der o. g. Erkrankungen (aktuell vorhanden)
Quelle: Hemingway et al. (1997b), Datenbasis: Whitehall Studie
Zusammenfassend berichten die Autoren bezogen auf die unterschiedlichen Belastungen durch die erhobenen Erkrankungen, dass der soziale Gradient nicht durch das Vorhandensein einer Erkrankung erklärt werden kann – dies bezieht sich nicht nur auf die Skala ‚Kör-
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Ungleiche Gesundheitschancen bei Erwachsenen
perliche Funktionsfähigkeit’ sondern auch auf die der ‚Vitalität’ und der ‚Allgemeinen Gesundheitswahrnehmung’. Zu einer Reihe vergleichbarer Ergebnisse gelangen auch Kempen et al. (1999) in ihrer Untersuchung. Eingeschlossen wurden 5.279 Personen, die 57 Jahre und älter waren. Der Anteil der Frauen in der Studienpopulation lag bei 56%. Als Maß der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wurde der SF-20 eingesetzt, der eine Verkürzung des SF-36 auf zwanzig Items darstellt. Dieser erhebt die Skalen ‚Körperliche Funktionsfähigkeit’, ‚Körperliche Rollenfunktion’, ‚Soziale Funktionsfähigkeit’, ‚Allgemeine Gesundheitswahrnehmung’, ‚Schmerzen’ sowie ‚Psychisches Wohlbefinden’ (Kempen et al. 1999: 144). Als Maß der chronischen Morbidität wurde den Studienteilnehmern/innen eine Liste mit achtzehn chronischen Erkrankungen vorgelegt und abgefragt, ob sie eine dieser Krankheiten aktuell haben bzw. in den letzten 12 Monaten vor dem Interview gehabt haben. Um den Bias zu reduzieren, wurden nur solche Angaben als valide angenommen, bei denen der Befragte auch angab, deswegen in ärztlicher Behandlung gewesen zu sein. Von den Autoren wurden zwei unterschiedliche Auswertungsstrategien verfolgt. In der ersten wurde die Anzahl der genannten Krankheiten als Roh-Index für die Morbidität angenommen. Dabei gaben 32,9% (n=1.738) der Befragten an, wenigstens eine der abgefragten Erkrankungen zu haben, 18,4% (n=969) gaben zwei und 13,7% (n=721) berichteten von drei und mehr Erkrankungen. Für die zweite Auswertungsstrategie wurden Krankheiten entsprechend der körperlichen Systematik wie folgt zusammengefasst: respiratorische, muskuloskeletale, kardiovaskuläre und metabolische Erkrankungen. Als Indikator sozialer Ungleichheit wurde die Bildung verwendet, da hierdurch in erster Linie sozio-kulturelle Ungleichheiten abgebildet werden können. Als Maß wurde das von der UNESCO vorgeschlagene Klassifikationsverfahren ISCED herangezogen, welches sechs verschiedene Bildungsgrade unterscheidet und deren prozentuale Verteilung in der Stichprobe in Klammern angegeben ist:
keine Bildung Grundschule (elementary) Berufsschule (vocational training) Gymnasium (highschool) Fachhochschule (undergraduate degree) Universität (graduate degree)
(3%) (33%) (27%) (26%) (9%) (2%)
Die Ergebnisse zeigten, dass es zwar einen signifikanten jedoch moderaten Einfluss der Bildung auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität gibt. Am höchsten korrelierten dabei die ‚Körperliche Funktionsfähigkeit’ (r=.199) und die ‚Soziale Funktionsfähigkeit’ (r=.162) mit der Bildung – je höher diese ist, desto besser ist die gesundheitsbezogene Lebensqualität (Kempen et al. 1999). Erwartungsgemäß zeigte sich der Index der chronischen Erkrankung als stärkster Prädiktor für die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Auch die Hinzunahme des Interaktionsterms „Bildung x Chronischer Erkrankung“ verändert die Einzeleinflüsse nur unwesentlich. Als Fazit kann hier zusammengefasst werden, dass eine systematische Analyse eines sozialen Gradienten und der Bezugsgröße ‚Gesundheitsbezogene Lebensqualität’ für den deutschen Sprachraum bis dato noch nicht vorliegt, so wie dies beispielsweise für die Morbidität und Mortalität bereits vorgenommen wurde (Mielck 2000). Die hier nur aus-
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Birgit Babitsch, Thomas Lampert, Stephan Müters, Matthias Morfeld
schnitthaft, jedoch als programmatisch für weitere vorgelegte Forschungsarbeiten anzusehende Ergebnisse zeigen jedoch, dass sich ein sozialer Gradient mit unterschiedlichen Ausprägungen für Männer und Frauen absichern lässt. Ein interkultureller Vergleich steht jedoch ebenso aus, wie Bemühungen, die mittlerweile in Deutschland vorliegenden Daten systematisch zusammenzuführen und in diesem Zusammenhang eine methodisch adäquate Analyse vorzunehmen.
5
Erklärungsansätze
Eine Vielzahl von Faktoren zur Erklärung der Ursachen von gesundheitlicher Ungleichheit konnten inzwischen beschrieben und wissenschaftlich abgesichert werden. Mögliche Wirkungszusammenhänge wurden in Modellannahmen dargestellt, deren empirische Überprüfung jedoch noch zu leisten ist (Mielck 2000, Babitsch 2005, siehe auch Behrens in diesem Band). Im Wesentlichen fußen diese Erklärungsansätze auf der Altersgruppe der Erwachsenen, deren Gültigkeit für die Kindheit und Jugend bzw. für das hohe Alter es noch zu überprüfen gilt. Einen Meilenstein für die Entwicklung von Erklärungsansätzen stellte der Black Report dar, der folgende Bereiche differenzierte: materielle Bedingungen, kulturelle und verhaltensbedingte Faktoren, Artefakte und soziale Selektion (Townsend, Davidson & Whitehead 1990). Hinsichtlich ihres Erklärungsbeitrages differieren diese Faktoren jedoch beträchtlich. Studien weisen auf eine geringere Bedeutung von Artefakten und sozialen Selektionsprozessen hin (Davey Smith et al. 1994, Bartley & Plewis 1997, Marmot 1999). Demgegenüber erklären materielle Faktoren sowie kulturelle und verhaltensbedingte Faktoren sozial bedingte Unterschiede in Morbidität und Mortalität in weitaus größerem Maße. Inzwischen werden über die im Black Report genannten Aspekte hinaus weitere Faktoren diskutiert, die einen Einfluss auf den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Morbidität bzw. Mortalität haben. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um psychosoziale Faktoren, um Lebensereignisse, um die medizinische Versorgung und um Einflüsse aus der frühen Kindheit bzw. aus dem sozialen Lebensumfeld (vgl. u. a. Marmot 1999, Steinkamp 1999, Schrijvers et al. 1999, von Oort et al. 2005, siehe auch die Beiträge von Peter sowie Dragano & Siegrist in diesem Band). Siegrist (2005) differenziert vier Hypothesen zur Erklärung des sozialen Gradienten und schätzt deren Beitrag zur Varianzerklärung ab. Er kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Selektionseffekte nur zu einem geringen Maße zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen (5 bis 10%). Während hingegen die schichtspezifischen Belastungen und die schichtspezifische Verteilung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen mit 30 bis 40% bzw. 40 bis 50% einen weitaus größeren Beitrag zur Erklärung sozialer Unterschiede in der Morbidität und Mortalität leisten. Zudem wird dem unterschiedlichen Zugang zur medizinischen Versorgung ein Anteil von 10 bis 15% an der Varianzerklärung zugesprochen. Der Frage nach dem Einfluss der unterschiedlichen Erklärungsfaktoren gingen auch Stronks et al. (1996) und Richter und Mielck (2000) nach. Bei der statistischen Analyse wurden folgende Einflussfaktoren für bildungsbezogene Unterschiede bei gesundheitlichen Beschwerden (Referenz: mehr als 3 gesundheitliche Beschwerden) differenziert: Lebensbedingungen unabhängig vom Gesundheitsverhalten, Gesundheitsverhalten unabhängig von den Lebensbedingungen, durch Lebensbedingungen bedingtes Gesundheitsverhalten. Im Unterschied zu der von Siegrist vorgenommenen Schätzung stehen in dieser
Ungleiche Gesundheitschancen bei Erwachsenen
245
Studie die Lebensbedingungen mit ca. 35% als Erklärungsfaktor an erster Stelle gefolgt vom Gesundheitsverhalten, welches zu ca. 15% den sozialen Gradienten erklärt. Hervorzuheben ist, dass das durch die Lebensbedingungen bedingte Gesundheitsverhalten mit ca. 20% ein bedeutsamer Erklärungsfaktor ist. Ein Anteil von ca. 30% kann durch die verwendeten Einflussfaktoren jedoch nicht erklärt werden. Ähnliche Ergebnisse wie Stronks konnten Richter und Mielck (2000) bei ihrer Analyse der Daten des 3. Nationalen Untersuchungssurvey 1990/1991 finden. Untersucht wurden der Einfluss der Sozialschichtzugehörigkeit auf die subjektive Gesundheit sowie der Einfluss der in der Studie bei Stronks et al. (1996) differenzierten Faktoren. Für alle Einflussfaktoren (einzeln und zusammen) konnte ein etwas höherer Erklärungsbeitrag ermittelt werden. Nur 20% der Varianz ließ sich durch diese Faktoren nicht erklären: den größten Erklärungsbeitrag hatten die strukturellen Faktoren mit 43%, gefolgt von dem durch die Lebensbedingungen bedingten Gesundheitsverhalten mit 21%. Das Schlusslicht stellte das Gesundheitsverhalten unabhängig von den Lebensbedingungen mit einem Erklärungsanteil von 20% dar (siehe auch Giesecke & Müters in diesem Band). Insgesamt können in den beiden genannten Studien somit ca. drei Viertel der erklärten Unterschiede in der Gesundheit auf strukturelle und ein Viertel auf verhaltensbedingte Faktoren zurück geführt werden. Diese Ergebnisse verdeutlichen, wie wichtig der Kontextbezug bei der Analyse der Auswirkungen gesundheitsschädlichen Verhaltens auf die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit ist. Auch hinsichtlich dessen, wie häufig die einzelnen Erklärungsfaktoren Gegenstand wissenschaftlicher Studien waren, lassen sich große Differenzen erkennen. Viele Studien haben sich explizit mit dem Einfluss erwerbsbezogener Merkmale und ihrem Einfluss auf die Gesundheit bzw. den sozialen Gradienten befasst. Hohe Belastungen in der Erwerbsarbeit – ausgelöst durch ein breites Spektrum an Einflussfaktoren – sind sozial ungleich verteilt und haben damit nicht nur eine unmittelbare negative Wirkung auf die Gesundheit, sondern verstärken auch die Ausprägung sozialer Unterschiede in der Morbidität und Mortalität (siehe Beitrag von Peter in diesem Band). Andere Einflussfaktoren, wie das gesellschaftliche Lebensumfeld (soziales Kapital) oder die Einflüsse der frühen Kindheit, haben in der jüngeren wissenschaftlichen Debatte an Aufmerksamkeit gewonnen und inzwischen konnten bei beiden Aspekten eindrucksvolle Belege für ihren Beitrag zur Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit erbracht werden (Robert 1999, Galobardes et al. 2004, siehe auch Dragano & Siegrist in diesem Band). Auch wenn inzwischen international einige Studien vorliegen, die gleichzeitig in komplexen Analysen den Einfluss verschiedener Faktoren berücksichtigen bzw. eine Lebenslaufperspektive einnehmen, besteht insbesondere in Deutschland noch erheblicher Nachholbedarf. Derzeit ist häufig nur eine globale Abschätzung der verschiedenen, derzeit bekannten Einflussfaktoren möglich. Es lässt sich zudem auch eher eine statische Betrachtung gesundheitlicher Ungleichheit in der wissenschaftlichen Literatur finden, die bspw. Veränderungen bzw. Kumulationen im Lebenslauf außer Acht lässt, und damit nur ein Abbild der gegenwärtigen Lebenssituation darstellt. Fragestellungen in diesem Sinne können nur durch Längsschnittstudien beantwortet werden, die aber bislang in weitaus geringerem Maße, insbesondere in Deutschland, durchgeführt worden sind (siehe ausführlich Dragano & Siegrist in diesem Band). Weiterer Forschungsbedarf existiert auch hinsichtlich der Interaktion zwischen den einzelnen Erklärungsfaktoren sowie dem Zusammenhang zwischen den Einflussfaktoren und sozialer Ungleichheit, Gesundheit (rsp. Krankheit) und dem sozialen Gradienten. Es ist zu
246
Birgit Babitsch, Thomas Lampert, Stephan Müters, Matthias Morfeld
hinterfragen, ob die Erklärungsfaktoren in den verschiedenen sozialen Schichten die gleiche oder eine unterschiedliche Bedeutung haben (Macintyre 1997,siehe auch Peter in diesem Band). Hierzu steht eine empirische Überprüfung noch aus, wie auch für Unterschiede nach Geschlecht, Nationalität und Alter. “The importance of social context needs continually to be taken into account and is likely to result in more differentiated models (there is no a priori reason to suppose that the processes generating inequalities are the same at the top as at the bottom of the social scale, among men compared to women, or in Northern Europe as compared with Mediterranean countries, the U.S.A., or the Far East)” (Macintyre 1997: 740, Hervorhebung im Original).
6
Fazit
Im Erwachsenenalter bestehen erhebliche, sozial bedingte Unterschiede, die sich sowohl für Krankheiten als auch für die Sterblichkeit zeigen. Je nach betrachteter Erkrankung haben Menschen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status ein um das zweifach bis vierfach erhöhtes Risiko. Die gesundheitsbezogene Schlechterstellung spitzt sich in einer erheblichen Reduktion der Lebenserwartung, insbesondere bei Männern, zu. Die vorhandenen Erklärungsansätze zeigen eindrücklich, welch komplexes Zusammenspiel von gesellschaftlichen und individuellen Faktoren gesundheitliche Ungleichheit bedingen. Die Herauslösung eines einzelnen Erklärungsfaktors, bspw. des Gesundheitsverhaltens, greift zu kurz und lenkt von den für die Zielgruppen jeweils angemessenen Interventionen und Unterstützungsangeboten ab. Dies umso mehr, wenn man um die Bedeutung des Einflusses struktureller Gegebenheiten auf das Gesundheitsverhalten weiß – wie die Ergebnisse von Stronks et al. (1996) oder Richter und Mielck (2000) eindrücklich zeigen. Vor diesem Hintergrund sind Angebote der Gesundheitsförderung und der Prävention kritisch zu prüfen, ob sie den Grad der Niedrigschwelligkeit bzw. der Zielgruppenangemessenheit erfüllen, da sie häufig eher an den Bedürfnissen der Mittelschicht orientiert sind bzw. waren. In verschiedenen Ländern, insbesondere in Großbritannien und in den Niederlanden, gibt es inzwischen eine gute Expertise, wie ein Abbau gesundheitlicher Ungleichheit erreicht werden kann (Mielck 2000). Auf europäischer Ebene wird seit 2004, und bis 2007 gefördert, das Projekt „Closing the Gap: Strategies for Action to Tackle Health Inequalities” durchgeführt, mit dem Ziel eine Internet-Plattform aufzubauen, die eine Datenbank von good-practice Beispielen sowie Informationen zu den einzelnen Ländern hinsichtlich ihrer Politikansätze, den Akteuren und den Instrumenten zum Abbau gesundheitlicher Ungleichheit liefern (Health Inequalities Portal 2008, siehe auch Lehmann und Mielck et al. in diesem Band). Auch in Deutschland sind in den letzten Jahren verschiedene Anstrengungen unternommen worden, sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit abzubauen. Ein wichtiger Schritt hierfür war, dass mit der Änderung des §20 SGB V der Abbau gesundheitlicher Ungleichheit ein expliziter Bestandteil der Sozialgesetzgebung wurde. Dennoch muss kritisch hinterfragt werden, ob hierdurch bereits ausreichende (gesetzgeberische) Impulse gesetzt wurden. Rosenbrock (2004) wie auch Gerlinger (2007) kommen eher zu einer kritischen Einschätzung und schlussfolgern, dass die Möglichkeiten im Hinblick auf eine Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit nicht ausgeschöpft sind, so dass die derzeitige
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Umsetzung als nicht zufrieden stellend zu beurteilen bzw. in ihrer Wirkung nicht unkritisch zu betrachten sind. Wichtige Impulse zum Abbau gesundheitlicher Ungleichheit gehen in Deutschland z.B. von dem von der BKK geförderten Modell soziallagenbezogener Gesundheitsförderung (Geene & Phillipi 2004, Geene & Steinkühler 2005) sowie von der inzwischen etablierten Plattform „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ mit der Einrichtung von regionalen Knoten in derzeit 11 Bundesländern aus (BZgA 2006, international: WHO 2008, siehe auch Lehmann in diesem Band). Die Beschreibung von good-practice Beispielen ist hierfür sicherlich eine große Hilfe und Unterstützung. Dennoch bleibt festzuhalten, bis das WHOZiel „Gesundheit für alle“ erreicht ist, sind noch viele Anstrengungen in Forschung und Praxis zu unternehmen. Einen ausführlichen Fahrplan dafür, hat auch die „‚Commission on Social Determinants of Health“ in ihrem Abschlussbericht vorlegt (WHO 2008).
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14 Gesundheitliche Ungleichheit im höheren Lebensalter Olaf von dem Knesebeck, Ingmar Schäfer
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Einleitung
In der Öffentlichkeit wird verstärkt über Ausprägung und Konsequenzen der demografischen Alterung diskutiert. Mit diesem Begriff wird auf die Tatsache hingewiesen, dass der Anteil der älteren Menschen in der Bevölkerung immer größer wird. Während im Jahr 1950 etwa 14,5% der Bevölkerung Deutschlands 60 Jahre oder älter waren, mussten im Jahr 2001 etwa 24,1% dieser Altersgruppe zugerechnet werden. Nach einer Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird sich der Anteil der über 60-Jährigen im Jahr 2050 vermutlich auf etwa 36,7% belaufen (Statistisches Bundesamt 2003). Eine ähnliche Entwicklung lässt sich mit wenigen Ausnahmen in unterschiedlich starker Ausprägung in allen Industrieländern beobachten. Die Gründe für diese Entwicklung liegen hauptsächlich in niedrigen Geburtenraten und einer steigenden Lebenserwartung, die wir vor allem verbesserten Lebensbedingungen, dem medizinischen Fortschritt und einem höheren Maß an gesundheitsfördernden Lebensweisen zu verdanken haben. Eine Konsequenz der steigenden Lebenserwartung besteht darin, dass der Anteil derjenigen, die das Rentenalter erreichen und dann auch in den Ruhestand gehen, immer größer wird. Der Berufsaustritt bedeutet eine einschneidende Veränderung – vor allem hinsichtlich der sozialen Partizipation – die eine individuelle Neugestaltung vieler Aspekte des Lebens notwendig macht. Neben Kindheit und Jugend einerseits und dem Erwerbsleben andererseits bildet der Ruhestand damit für den größten Teil der Bevölkerung eine eigenständige Altersphase im Lebenslauf, die es zu gestalten gilt (Kohli 2001). Von dem Begriff des „Alters“, der mit der Lebensphase in den Blick genommen wird, muss der Begriff des „Alterns“ unterschieden werden. Das Altern bezeichnet den Prozess des Älterwerdens und die damit verbundenen körperlichen, geistigen und sozialen Veränderungen für den Menschen. Das Altern kann individuell in physischer und psychischer, aber auch in sozialer Hinsicht sehr unterschiedlich verlaufen, so dass auf diesen Gebieten auch jeweils andere Kapazitäten bestehen. Dieses Phänomen wird häufig als „differentielles Altern“ bezeichnet. Bei den individuellen Alterungsprozessen spielen nicht nur genetische Faktoren eine Rolle; vielmehr wird davon ausgegangen, dass eine Kombination von Anlage- und Umweltbedingungen verantwortlich ist. Mit dem Konzept des „erfolgreichen Alterns“ wird betrachtet, inwieweit es dem Einzelnen gelingt, Krankheit und Behinderung zu vermeiden, die kognitive und physische Funktionsfähigkeit zu erhalten und sozial eingebunden zu bleiben (Rowe & Kahn 1998). Krankheit und Hinfälligkeit werden nicht als unvermeidliche Folgen des Alterns an sich angesehen. Vielmehr können die individuelle Lebensführung, Lebensbedingungen, Bewältigungspotenziale sowie adäquate medizinische und soziale Betreuung den Gesundheitszu-
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Olaf von dem Knesebeck, Ingmar Schäfer
stand, die Lebensqualität und das Wohlbefinden im höheren Lebensalter erheblich beeinflussen. Da das höhere Alter zunehmend als eine Lebensphase anerkannt wird, die durch deutliche interindividuelle und soziale Unterschiede gekennzeichnet ist, erscheint es angemessen und notwendig, das Ausmaß und die Wirkung sozialer Differenzierungen in dieser Lebensphase zu beschreiben und zu verstehen. Hierbei stellt sich auch die Frage, inwieweit Merkmale wie Bildung, Beruf oder Einkommen als soziale Differenzierungskriterien im höheren Lebensalter relevant und angemessen sind bzw. welche anderen Merkmale den sozialen Status alter Menschen konstituieren und für diese spezielle Population gesellschaftlich prägende Kraft besitzen. Im Hinblick auf die Untersuchung von sozialen Einflüssen auf Gesundheit und Krankheit muss man konstatieren, dass die meisten medizinsoziologischen bzw. sozialepidemiologischen Untersuchungen zur gesundheitlichen Ungleichheit sich auf das mittlere Erwachsenenalter beziehen, dass das höhere Lebensalter aus vielen Studien sogar ausgeschlossen wird und die gerontologische Forschung die Auseinandersetzung mit sozialen Einflüssen auf Gesundheit und Krankheit lange Zeit vernachlässigt hat (Knesebeck 2005a). Im ersten Abschnitt dieses Beitrags erfolgt eine alterssoziologische Betrachtung von Ungleichheitsstrukturen, indem der Frage nachgegangen wird, wie sich die sozialen Ungleichheiten im Verlauf des höheren Lebensalters verändern und welche Indikatoren zur Beschreibung von sozialer Ungleichheit im Alter angemessen sind. Im zweiten Abschnitt wird anhand ausgewählter nationaler und internationaler Studien, die Bedeutung sozialer Ungleichheit für die Gesundheit und Krankheit im höheren Lebensalter aufgezeigt. Darüber hinaus werden mögliche Erklärungsfaktoren für die gesundheitliche Ungleichheit im höheren Lebensalter dargestellt und hinsichtlich ihrer Bedeutung diskutiert.
2
Soziale Ungleichheit im Alter
Bei der alterssoziologischen Betrachtung von Ungleichheitsstrukturen lassen sich grundsätzlich zwei analytische Ebenen unterscheiden: Die eine betrifft die Ungleichheit des Alters und die andere die Ungleichheit im Alter. Die Beschäftigung mit der Frage nach der Ungleichheit des Alters hat eine lange Tradition, da in zahlreichen Theorien über die Sozialstruktur von Gesellschaften der Status des Alters als eine fundamentale Kategorie nicht nur sozialer Differenzierung im Sinne sozialer Ungleichartigkeit, sondern auch als eine Kategorie sozialer Ungleichheit im Sinne von Ungleichwertigkeit gilt (Mayer & Wagner 1999). Betrachtet man Gesellschaften unter einem solchen Aspekt der Altersschichtung, so stellt man fest, dass der Status alter Menschen historisch und interkulturell variabel ist: In einigen Gesellschaften nehmen Personen höheren Alters einen vergleichsweise hohen Status ein, während in anderen Gesellschaften zunehmendes Lebensalter bzw. Hochaltrigkeit mit sozialem Abstieg verbunden ist (Ehmer 1990). Darüber hinaus ist der Status alter Menschen vor dem Hintergrund struktureller Wandlungsprozesse und historischer Entwicklungen zu sehen. Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein arbeiteten die Menschen, solange sie dazu gesundheitlich in der Lage waren. Menschen galten als alt, wenn ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten so weit nachließen, dass sie nicht mehr arbeiten konnten. In modernen Gesellschaften wird die gesellschaftliche Definition des Alters von einem sich verschlechternden Gesundheitszustand losgelöst; vielmehr beginnt das Alter mit dem Über-
Gesundheitliche Ungleichheit im höheren Lebensalter
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gang in den Ruhestand, der nicht unbedingt mit einer Abnahme der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit verbunden ist. Dadurch kommt es zu einer zeitlichen Ausweitung und verstärkten Heterogenität dieser Lebensphase, d.h. es kann immer weniger davon ausgegangen werden, dass der soziale Status alter Menschen einheitlich ist. Bei der Beschäftigung mit der Ungleichheit im Alter wird diese Erkenntnis aufgegriffen, indem zum einen nach dem Grad der Ungleichverteilung von statusrelevanten Merkmalen innerhalb der Gruppe der Älteren und zum anderen nach möglichen Veränderungen von relativen Ungleichheitspositionen im Verlauf des höheren Lebensalters gefragt wird. Die Ergebnisse der empirischen Forschung zur sozialen Ungleichheit im Alter weisen darauf hin, dass im Hinblick auf vertikale Statusdimensionen deutliche Differenzen zwischen älteren Menschen in Deutschland (Mayer & Wagner 1999; Kohli et al. 2000) zu erkennen sind. Aktuelle Analysen des Alterssurvey zeigen beispielsweise hinsichtlich der materiellen Lage älterer Menschen, dass die höheren Altersgruppen (55 bis 69 Jahre und 70 bis 85 Jahre) insgesamt ein Einkommen haben, das nur wenig unter dem des mittleren Erwachsenenalters (40 bis 54 Jahre) liegt, dass es aber bestimmte Gruppen älterer Personen gibt (vor allem 70- bis 85-jährige Frauen aus Ostdeutschland), deren Einkommen weit unter dem Durchschnitt liegt (Motel-Klingebiel 2006). Hinsichtlich möglicher Veränderungen der Struktur und Wirkung von sozialer Ungleichheit im höheren Lebensalter werden unterschiedliche Hypothesen diskutiert (O’Rand & Henretta 1999, siehe auch Dragano & Siegrist in diesem Band). Die Kontinuitätsthese behauptet, dass der im vorangegangenen Lebenslauf, insbesondere im Erwerbsleben eingenommene soziale Status auch im Alter Geltung besitzt. Auch wenn die Älteren im Ruhestand nicht mehr erwerbstätig sind, geht ihre Ungleichheitsposition auf das Erwerbsleben und den Arbeitsmarkt zurück. Zudem wird von einem kontinuierlichen Einfluss sozioökonomischer Unterschiede auf Lebenschancen, Lebensformen und Aktivitäten im Alter ausgegangen. Die Destrukturierungsthese unterstellt, dass Statusunterschiede im höheren Lebensalter weniger stark ausgeprägt sind und an Bedeutung verlieren. Zur Begründung dieser Hypothese werden im Allgemeinen die zunehmende Bedeutung altersbedingter biologischer bzw. gesundheitsbezogener Faktoren, der nivellierende Einfluss der staatlichen Alterssicherungssysteme sowie die selektive, vorzeitige Sterblichkeit benachteiligter sozialer Gruppen herangezogen. In ähnlicher Weise argumentiert die These der Altersbedingtheit, nach der das Alter und die damit verbundenen physiologischen und psychischen Veränderungen die Bedingungen für die soziale Lage darstellen, während sozioökonomische Faktoren an Bedeutung verlieren. Gemäß der Kumulationsthese wird schließlich davon ausgegangen, dass sich sozioökonomische Differenzierungen im Lebensverlauf aufgrund einer Anhäufung von Benachteiligungen und Belastungen in den unteren sozialen Gruppen verstärken. Es wird darüber hinaus argumentiert, dass höhere Einkommensgruppen eher die Möglichkeit haben, durch Bildung von finanziellen Rücklagen (Ersparnisse, Lebensversicherungen, private Rentenversicherungen) im mittleren Alter eventuelle Einkommenseinbußen im höheren Lebensalter zu kompensieren als niedrigere Einkommensgruppen. Die Hypothesen sind in verschiedenen Untersuchungen empirisch geprüft worden. Insgesamt deuten die dabei erzielten Ergebnisse darauf hin, dass generalisierende Aussagen über die Veränderungen der Struktur und Wirkung von sozialer Ungleichheit im höheren Alter kaum möglich sind. Wahrscheinlich entspricht eine Mischung von Kontinuität, Kumulation und Destrukturierung in verschiedenen Lebensbereichen am ehesten der Realität.
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Im Zuge der in der deutschen Soziologie seit Mitte der1980er Jahre geführten Diskussion über die Bedeutung vertikaler Statusdimensionen und „neue“ Ungleichheiten ist von verschiedenen Seiten vorgebracht worden, dass die in der Ungleichheitsforschung häufig eingesetzten berufsbezogenen Merkmale nicht auf alle Teile der Bevölkerung in gleichem Maße anwendbar sind (Kreckel 1992, Hradil 1999, Geißler 2002, siehe auch Lampert & Kroll in diesem Band). Dies trifft auch auf die Population der älteren Menschen zu, die das Erwerbssystem verlassen haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit klassische Schichtmerkmale wie Bildung, Beruf oder Einkommen als soziale Differenzierungskriterien im höheren Lebensalter relevant und angemessen sind bzw. welche anderen Merkmale die soziale Position alter Menschen konstituieren und für diese spezielle Population gesellschaftlich prägende Kraft besitzen (O’Reilly 2002). Obgleich die klassischen Schichtindikatoren in der empirischen Erforschung von Ungleichheitslagen im höheren Lebensalter weit verbreitet sind, muss diese Frage als bislang nicht hinreichend geklärt angesehen werden, so dass die von Martin Kohli bereits 1990 getroffene Feststellung, dass das Alter eine Herausforderung für die Theorie der sozialen Ungleichheit darstellt, auch heute noch gilt (Kohli 1990). In der internationalen Forschung wird allerdings zunehmend dafür plädiert, sich in empirischen Studien nicht nur auf einen Ungleichheitsindikator zu stützen, sondern mehrere Merkmale zu erheben, um der Mehrdimensionalität der sozialen Position alter Menschen gerecht werden zu können (Huisman et al. 2003). Zudem wird vorgeschlagen, Indikatoren wie Vermögen oder Immobilienbesitz einzubeziehen, da diese geeignet erscheinen, im Zuge des Lebenslaufs kumulierte materielle Benachteiligungen zu erfassen (Robert & House 1996, McMunn et al. 2006).
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Soziale Ungleichheit und Gesundheit im Alter
3.1
Studien zur Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit im höheren Lebensalter
In der wissenschaftlichen Diskussion über den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit spielen ältere Menschen eine eher untergeordnete Rolle. Dies lässt sich daran erkennen, dass die meisten Studien zum sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität mit Populationen unterhalb des Rentenalters durchgeführt wurden und die Forschung zu gesundheitlichen Ungleichheiten im höheren Lebensalter etwa ein bis zwei Dekaden später begonnen hat als die Forschung zu gesundheitlichen Ungleichheiten im mittleren Erwachsenenalter (McMunn et al. 2006). So liegen bislang erst vergleichsweise wenige Untersuchungen vor, die sich damit beschäftigen, ob diese Ungleichheiten auch im höheren Lebensalter nachweisbar sind und ob bzw. in welcher Weise sich der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit mit zunehmendem Alter verändert. Trotz einiger Inkonsistenzen weisen diese empirischen Studien insgesamt darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und Gesundheit auch im höheren Lebensalter existiert (Knesebeck 2005a, McMunn et al. 2006). Huisman et al. (2005) stellten bei einer Analyse von bildungsabhängigen Mortalitätsungleichheiten in acht westeuropäischen Ländern fest, dass Personen mit niedriger Bildung im Alter von 60 bis 74 Jahren, wie auch im Alter von 75 Jahren und älter, höhere Sterblichkeitsraten aufweisen. Bei älteren Männern sind diese Ungleichheiten vor allem auf zunehmende Unterschiede in der Sterblichkeit in Folge von kardiovaskulären Erkrankun-
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gen, Pneumonien und chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen zurückzuführen, während der Erklärungsbeitrag von Krebserkrankungen und äußeren Todesursachen im höheren Alter abnimmt. Bei älteren Frauen sind die bildungsbedingten Mortalitätsdifferenzen vor allem auf zunehmende Sterblichkeitsunterschiede durch kardiovaskuläre Erkrankungen und Pneumonien zurückzuführen, während der Beitrag von Krebserkrankungen und chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen im höheren Alter abnimmt. In einer aktuellen Studie mit Personen im Alter von 50 Jahren und älter in 10 europäischen Ländern (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE)) wurden sozioökonomische Unterschiede bei der subjektiven Gesundheit und bei gesundheitlichen Einschränkungen gefunden (Avendano et al. 2005). Auch im Hinblick auf einige chronische Erkrankungen und Symptome fanden sich höhere Risiken bei niedrigeren Bildungs- und Einkommensgruppen. Ähnliche Ergebnisse ergaben sich bei funktionalen Einschränkungen, die im allgemeinen durch Instrumente erfasst werden, welche die körperliche Beweglichkeit und die Fähigkeit zur Bewältigung verschiedener alltagsrelevanter Aktivitäten bzw. die Fähigkeit zur selbständigen Alltagsgestaltung abbilden. So hatten niedrige Statusgruppen erhöhte Risiken für Mobilitätseinschränkungen, Seh-, Hör- und Kauprobleme sowie für eine verminderte Stärke des Handgriffes und für eine verminderte Gehgeschwindigkeit. Zur Veranschaulichung sollen an dieser Stelle Ergebnisse aus eigenen Analysen des European Social Survey dargestellt werden (Jowell & the Central Co-ordinating Team 2003)2. Aus 22 Ländern liegen Daten aus persönlichen Interviews vor, die auf Wahrscheinlichkeitsauswahlen von Personen im Alter von 15 Jahren und älter basieren. In den folgenden Analysen wurden die insgesamt etwa 42.000 Fälle reduziert, indem ausschließlich Personen berücksichtigt wurden, die über 60 Jahre alt sind. Daraus ergibt sich eine Fallzahl von insgesamt 10.407. Als Ungleichheitsindikator wird der Bildungsabschluss anhand der International Standard Classification of Education (ISCED-97) verwendet. Bei dieser Klassifikation wird der höchste Bildungsabschluss auf einer 7-Punkt-Skala von „kein Abschluss“ bis „Tertiärbereich“ (entspricht Fachhochschul- und Universitätsabschluss) verortet. Für die Analysen wurde die Variable dichotomisiert, indem die unteren drei und die oberen vier Skalenwerte jeweils zusammengefasst wurden. Als Gesundheitsindikatoren werden die subjektive Gesundheit und funktionale Einschränkungen verwendet. Die subjektive Gesundheit wurde erhoben durch die Frage, wie die Befragten ihre Gesundheit auf einer 5-Punkt-Skala einschätzen. Auch diese Variable wurde dichotomisiert, wobei die Antworten „mittelmäßig“, „schlecht“ und „sehr schlecht“ als Anzeichen einer eingeschränkten Gesundheit zusammengefasst wurden. Funktionale Einschränkungen wurden durch die folgende Frage erfasst: „Sind Sie bei der Erfüllung alltäglicher Aufgaben durch Ihren Gesundheitszustand eingeschränkt?“ In den folgenden Analysen werden Befragte, die angaben, sehr oder etwas eingeschränkt zu sein mit Befragten ohne funktionale Einschränkungen verglichen. Aufgrund zu geringer Fallzahlen bei den über 60-Jährigen in einigen Ländern wird der Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit nicht für Männer und Frauen getrennt analysiert. Wie Abb. 14.1 zu entnehmen ist, weisen Personen im Alter von über 60 Jahren mit vergleichsweise niedriger Bildung in den meisten Ländern erhöhte Risiken auf, ihren Gesundheitszustand als schlecht einzuschätzen. Besonders starke Zusammenhänge zwischen Bildung und subjektiver Gesundheit finden sich in Finnland, Griechenland, Polen, Slowe-
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Für weitere Informationen siehe auch http://www.europeansocialsurvey.org/.
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nien und Ungarn. Hingegen sind die Zusammenhänge in Dänemark, Großbritannien, Israel, Luxemburg, Österreich, Schweden und Tschechien schwach. Abbildung 14.1: Niedrige Bildung (ISCED-97) und eingeschränkte subjektive Gesundheit bei über 60-Jährigen in 22 Ländern: Odds Ratios und Konfidenzintervalle (kontrolliert für Alter und Geschlecht) 6
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Darüber hinaus zeigen sich in vielen Ländern erhöhte Risiken für funktionale Einschränkungen bei älteren Personen mit niedriger Bildung (vgl. Abb. 14.2). Allerdings sind die Zusammenhänge insgesamt weniger stark ausgeprägt als bei der subjektiven Gesundheit. Zudem zeigen sich wiederum länderspezifische Unterschiede, so dass davon auszugehen ist, dass das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit im höheren Lebensalter in Abhängigkeit vom jeweils untersuchten Land und vom verwendeten Gesundheitsindikator variiert. Dies stimmt mit Ergebnissen aus anderen Studien überein, in denen zusätzlich Variationen in Abhängigkeit vom Ungleichheitsindikator gefunden wurden (Knesebeck 2005a, McMunn et al. 2006). In den Untersuchungen zu möglichen Veränderungen der gesundheitsrelevanten Statuseinflüsse im höheren Alter werden die mit der Kontinuitäts-, Kumulations- und Destrukturierungshypothese (siehe oben) verbundenen Fragestellungen aufgegriffen. Das heißt, im Allgemeinen geht es um die Frage, ob sich im Hinblick auf den sozialen Gradienten in höheren Altersgruppen eine Kontinuität der gesundheitsbezogenen Wirkungen, eine Verschärfung im Sinne einer Kumulation von Benachteiligungen oder aber eine Abschwächung der Effekte ergibt. Zur empirischen Untersuchung solcher Veränderungen werden
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vergleichende Analysen für verschiedene Altersgruppen durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Studien sind uneinheitlich. Abbildung 14.2: Niedrige Bildung (ISCED-97) und funktionale Einschränkungen bei über 60Jährigen in 22 Ländern: Odds Ratios und Konfidenzintervalle (kontrolliert für Alter und Geschlecht) 6
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Quelle: eigene Abbildung
In Übereinstimmung mit der Destrukturierungsthese zeigte eine Auswertung von regionalen und nationalen Befragungen, die im Rahmen der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie durchgeführt wurden, bei einem Vergleich dreier Altersgruppen (40 bis 49 Jahre, 50 bis 59 Jahre und 60 bis 69 Jahre) eine deutliche Abnahme der schichtspezifischen Unterschiede bei Herzinfarkt und Schlaganfall mit zunehmendem Alter (Helmert et al. 1993). In eine ähnliche Richtung weisen Ergebnisse aus amerikanischen Studien, die zeigen, dass die Morbiditätsdifferenzen zwischen Statusgruppen (definiert durch Bildung und Einkommen) im jüngeren Erwachsenenalter relativ gering sind, diese dann im mittleren und höheren Alter bis etwa zum 75. Lebensjahr stärker werden, während sie sich im hohen Alter wieder abschwächen (House et al. 1994). Auch auf der Basis des telefonischen Gesundheitssurveys 2003 ergab sich, dass die soziale Schichtzugehörigkeit Gesundheit und Krankheit im höheren Alter weniger stark beeinflusst als im mittleren Lebensalter (Lampert & Ziese 2005). Anhand von Mortalitätsdaten aus elf europäischen Ländern bzw. Regionen kommen Huisman et al. (2004) zu dem Ergebnis, dass die relativen Bildungsungleichheiten mit zunehmendem Alter geringer werden, ohne allerdings zu verschwinden. Eine Analyse von Befra-
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gungsdaten aus 22 europäischen Ländern ergab, dass die Bildungseinflüsse auf Gesundheit im Alter zwischen 25 und 55 Jahren stärker sind als in den darüber liegenden Altersgruppen (Knesebeck et al. 2006). Allerdings variierten die Altersunterschiede je nach Geschlecht, Land und verwendetem Gesundheitsindikator. In einer Analyse, basierend auf der britischen Whitehall-Studie, ergab sich, dass der Einfluss der beruflichen Stellung auf die allgemeine Mortalität in höheren Altersgruppen (65 bis 89 Jahre) verglichen mit jüngeren Untersuchungsteilnehmern (40 bis 64 Jahre) zwar etwas schwächer wird, aber substantiell erhalten bleibt (Marmot & Shipley 1996). Zudem war die altersbedingte Abschwächung des Effektes bei Verwendung eines weniger berufsbezogenen Statusindikators (Autobesitz) geringer. Auch in einer deutschen Studie ergaben sich im Sinne der Kontinuitätshypothese nur geringfügige altersspezifische Veränderungen des Zusammenhanges zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit (Knesebeck 2005a). Im deutschen Alterssurvey fanden sich sogar Hinweise auf Kumulation, d.h. die Unterschiede hinsichtlich gesundheitlicher Einschränkungen zwischen der Unter- und Oberschicht nehmen bei den 55- bis 69-Jährigen und den 70- bis 85-Jährigen gegenüber der jüngeren Altersgruppe (40 bis 54 Jahre) zu (Kohli et al. 2000). Auch Ross und Wu (1996) stellten auf der Basis von amerikanischen Befragungen eine Zunahme von Bildungsungleichheiten bei verschiedenen Gesundheitsindikatoren mit zunehmendem Alter fest. Zusammengefasst kommen die meisten Studien, die sich mit der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheiten im Alter beschäftigen, zu dem Ergebnis, dass es auch in dieser Altersgruppe einen sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität gibt, der aber weniger stark ausgeprägt ist als im mittleren Erwachsenenalter. Allerdings scheint sowohl die Ausprägung des Zusammenhanges zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit im Alter wie auch das Ausmaß altersspezifischer Veränderungen des sozialen Gradienten bei Verwendung unterschiedlicher sozialer und gesundheitlicher Indikatoren zu variieren. Ob sich im Hinblick auf den sozialen Gradienten in höheren Altersgruppen eine Kontinuität der gesundheitsbezogenen Wirkungen, eine Verschärfung im Sinne einer Kumulation von Benachteiligungen oder aber eine Abschwächung etwa in Folge selektiver Mortalität benachteiligter sozialer Gruppen ergibt, hängt demnach auch von den verwendeten sozialen und gesundheitlichen Indikatoren ab (siehe auch Dragano & Siegrist in diesem Band). Zudem ist das Ergebnis der Analysen zu altersspezifischen Veränderungen davon abhängig, wie differenziert die Alterskategorisierung gerade in den höheren Altersgruppen ausfällt. Dies verweist auf die von der einleitend angesprochenen „differentiellen Gerontologie“ betonte Erkenntnis, dass das höhere Lebensalter keine homogene Kategorie darstellt. Um also altersbedingte Veränderungen des Zusammenhanges zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit zu untersuchen, reicht es nicht, die Älteren in einer Alterskategorie zusammenzufassen und mit jüngeren Untersuchungsteilnehmern zu vergleichen, vielmehr ist es notwendig auch das höhere Lebensalter zu differenzieren. 3.2
Studien zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten im höheren Lebensalter
Bislang liegen kaum Erkenntnisse darüber vor, welche spezifischen Erklärungsansätze für den sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität im höheren Lebensalter in Frage kommen bzw. welchen Beitrag die vorwiegend in Bezug auf das mittlere Erwachsenenalter diskutierten Faktoren (soziale Selektion, materielle Lebensbedingungen, gesundheitliche
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Versorgung, Gesundheitsverhalten, psychosoziale Faktoren) zur Erklärung von sozial bedingten Morbiditäts- und Mortalitätsunterschieden im höheren Lebensalter leisten. Im Hinblick auf materielle Lebensbedingungen ist die Frage, inwieweit Zugang, Qualität und Inanspruchnahme der gesundheitlichen Versorgung zu gesundheitlichen Ungleichheiten beitragen, von besonderer gesundheitspolitischer Relevanz. Die Antwort auf diese Frage ist abhängig davon, welches Land, welche Erkrankung und welcher Ungleichheitsindikator analysiert wird (van der Meer 1998, van Doorslaer et al. 2006). Im Hinblick auf die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen zeigen sich in einer europäischen Studie mit Personen im höheren Lebensalter nur geringfügige Unterschiede zwischen Bildungsgruppen bei der Anzahl von Arztbesuchen; allerdings geben höhere Bildungsgruppen mehr Krankenhauseinweisungen und Operationen an (Santos-Eggimann et al. 2005). In einer deutschen Studie wurden Personen im Alter von 60 Jahren oder älter zur Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass ältere Frauen und Männer mit vergleichsweise hohem Einkommen, hoher Bildung, hohem beruflichen Status und Vermögen häufiger an Brustkrebsvorsorge- und Prostatauntersuchungen teilnehmen als Personen mit niedrigem sozialen Status (Knesebeck 2005b). Um zu bestimmen, inwieweit solche Unterschiede bei der Inanspruchnahme gesundheitlicher Versorgungsleistungen auf die Zugänglichkeit und Qualität solcher Leistungen übertragbar sind und welchen Beitrag die gesundheitliche Versorgung insgesamt zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten im Alter leistet, sind weitergehende Untersuchungen notwendig. Während die Ungleichverteilung gesundheitsschädigender Verhaltensweisen im mittleren Erwachsenenalter als einer der wesentlichen Erklärungsfaktoren für den sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität gilt (siehe Helmert & Schorb in diesem Band), ist die Befundlage bei älteren Menschen weniger eindeutig. Gründe mögen darin liegen, dass besonders gefährdete Personen versterben, bevor sie das höhere Lebensalter erreichen und dass die Prävalenz verschiedener gesundheitsschädigender Verhaltensweisen im höheren Alter abnimmt (Aro et al. 2005, McMunn et al. 2006). Eine Analyse von aktuellen Daten aus einer Befragung von Personen im Alter von 50 Jahren und älter in 10 europäischen Ländern ergab nur geringfügige sozioökonomische Unterschiede beim Rauchen, während niedrigere Bildungs- und Einkommensgruppen deutlich häufiger Bewegungsmangel angaben und von Übergewicht betroffen waren als besser gestellte Gruppen (Aro et al. 2005). Dagegen zeigte sich, dass höhere soziale Schichten häufiger und mehr Alkohol zu sich nehmen als niedrigere. Es ist wiederholt vermutet worden, dass die für das höhere Lebensalter relevanten psychosozialen Belastungen und Ressourcen wie z.B. die Qualität und Häufigkeit zwischenmenschlicher Kontakte besonders bedeutsam für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheiten sein könnten (House et al. 1994). Diese Vermutung baut auf den gesicherten Befund auf, dass sowohl quantitative (soziales Netzwerk, soziale Kontakte) als auch qualitative Merkmale sozialer Beziehungen (soziale Unterstützung) mit Morbidität und Mortalität assoziiert sind (Berkman & Glass 2000). Im Hinblick auf das höhere Lebensalter finden sich direkte Effekte von sozialen Beziehungen auf Behinderungen und funktionale Einschränkungen, aber auch Hinweise auf eine mildernde Wirkung von sozialen Beziehungen in Stresssituationen, die im Zuge kritischer Lebensereignisse wie z.B. beim Tod des Lebenspartners auftreten (Krause 2001). Allerdings ist die Frage, wie soziale Ungleichheit, soziale Beziehungen und Gesundheit im höheren Lebensalter zusammenhängen, bislang weitgehend ungeklärt.
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Es lassen sich zwei Formen unterscheiden, in denen sich dieser Zusammenhang manifestieren kann: Zum einen wäre denkbar, dass sich Differenzen zwischen Statusgruppen im Hinblick auf das Ausmaß sozialer Beziehungen ergeben; zum anderen wäre es möglich, dass sich die gesundheitsrelevanten Wirkungen sozialer Beziehungen zwischen Statusgruppen unterscheiden. Im erstgenannten Fall wird im Allgemeinen unterstellt, dass untere soziale Schichten über weniger bzw. schlechtere soziale Beziehungen verfügen und der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit durch soziale Beziehungen vermittelt wird. Im letztgenannten Fall wird von einer erhöhten Vulnerabilität gegenüber den gesundheitsschädigenden Folgen von psychosozialen Belastungen bzw. fehlenden Ressourcen (z.B. mangelhafter Quantität und Qualität sozialer Beziehungen) in den unteren sozialen Schichten ausgegangen. Die wenigen empirischen Untersuchungen zu diesem Thema lassen keine eindeutige Beantwortung der Frage zu, wie soziale Ungleichheit, soziale Beziehungen und Gesundheit zusammenhängen (Knesebeck 2005a). Anhand des bereits oben kurz beschriebenen European Social Survey (Jowell & the Central Co-ordinating Team 2003) soll vor diesem Hintergrund der Frage nachgegangen werden, inwieweit der Bildungsabschluss mit verschiedenen Merkmalen sozialer Beziehungen bei älteren Personen (> 60 Jahre) in europäischen Ländern zusammenhängt. Zur Einordnung der Bildungsabschlüsse wird wiederum die Internationale Standard Klassifikation (ISCED-97) verwendet. Darüber hinaus gehen zwei Indikatoren für soziale Beziehungen in die Analysen ein: 1. die Häufigkeit persönlicher Kontakte mit Freunden, Verwandten und Kollegen, wobei Personen, die angaben, dass diese Kontakte mindestens einmal pro Woche vorkommen, mit solchen verglichen werden, die seltenere Kontakte haben; 2. die Frage nach der Existenz einer Vertrauensperson als Indikator für emotionale Unterstützung. Abb. 14.3 zeigt, dass ältere Personen mit vergleichsweise hoher Bildung in einigen Ländern eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit aufweisen, über emotionale Unterstützung zu verfügen. Dies trifft insbesondere auf Österreich und Spanien zu, während sich in anderen Ländern nur schwache oder gar keine Zusammenhänge zwischen Bildung und emotionaler Unterstützung zeigen. Die Ergebnisse im Hinblick auf die Häufigkeit sozialer Kontakte sind noch weniger eindeutig (vgl. Abb. 14.4). In den meisten Ländern finden sich nur geringe oder keine Bildungsungleichheiten, in Deutschland haben Personen mit höherer Bildung signifikant mehr soziale Kontakte, in Norwegen haben sie signifikant weniger soziale Kontakte. Eine hier nicht dokumentierte multivariate Analyse zu den vermittelnden Effekten sozialer Beziehungen ergab, dass sich der Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit in den 22 Ländern nur geringfügig verändert, wenn die beiden Indikatoren für soziale Beziehungen kontrolliert werden. Diese Ergebnisse weisen nicht darauf hin, dass der soziale Gradient der Gesundheit im Alter durch soziale Beziehungen erklärt werden kann.
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Abbildung 14.3: Hohe Bildung (ISCED-97) und emotionale Unterstützung bei über 60-Jährigen in 22 Ländern: Odds Ratios und Konfidenzintervalle (kontrolliert für Alter und Geschlecht)
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Quelle: eigene Abbildung
Abbildung 14.4: Hohe Bildung (ISCED-97) und soziale Kontakte bei über 60-Jährigen in 22 Ländern: Odds Ratios und Konfidenzintervalle (kontrolliert für Alter und Geschlecht) 4
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Quelle: eigene Abbildung
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Fazit
Während in den letzten Jahren einige nationale und internationale Studien durchgeführt worden sind, die sich damit beschäftigen, ob gesundheitliche Ungleichheiten auch im höheren Lebensalter nachweisbar sind und ob bzw. in welcher Weise sich der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit mit zunehmendem Alter verändert, besteht hinsichtlich der Frage, welche spezifischen Erklärungsansätze für den sozialen Gradienten von Morbidität und Mortalität im höheren Lebensalter in Frage kommen, eine erhebliche Forschungslücke. So ist es bislang weitgehend ungeklärt, welchen Beitrag die vorwiegend in Bezug auf das mittlere Erwachsenenalter untersuchten Faktoren (soziale Selektion, materielle Lebensbedingungen, gesundheitliche Versorgung, Gesundheitsverhalten, psychosoziale Faktoren) zur Erklärung von sozial bedingten Morbiditäts- und Mortalitätsunterschieden im höheren Lebensalter leisten. Forschung auf diesem Gebiet kann auch Hinweise darauf geben, wie sich gesundheitliche Ungleichheiten verringern lassen, da die Erklärungsfaktoren ihrerseits Ansatzpunkte für Interventionen und politische Maßnahmen bieten. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass bei der Diskussion über das einleitend angesprochene Konzept des „erfolgreichen Alterns“ soziale Differenzierungen häufig vernachlässigt werden. Die in diesem Beitrag dargestellten Befunde verdeutlichen die Notwendigkeit, bei der Gestaltung von Gesundheitsförderungs- und Präventionsmaßnahmen für Personen im höheren Lebensalter sozioökonomische Lebensbedingungen zu berücksichtigen und Maßnahmen zu entwickeln, die ältere Menschen aus unteren sozialen Schichten ansprechen.
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Migration, Mortalität und der Healthy-migrant-Effekt1
Oliver Razum
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Die niedrige Sterblichkeit erwachsener Migranten – ein Paradox
Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden – dies stellte 2001 die unabhängige Kommission „Zuwanderung“ fest. Migrantinnen und Migranten kommen bereits seit Jahrzehnten in großer Zahl nach Deutschland. In den vergangenen 40 Jahren hat sich die ausländische Bevölkerung in Deutschland auf 6,7 Millionen Menschen verdoppelt; ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug im Jahr 2004 etwa 8,3%. Bezieht man alle Menschen mit Migrationshintergrund ein, also Migranten (gemeint sind hier und im Folgenden Frauen und Männer) mit deutscher Staatsangehörigkeit und Kinder aus Migrantenfamilien, so steigt dieser Anteil auf fast ein Fünftel (19%) der Bevölkerung (Duschek et al. 2006). Die größte Gruppe einer ausländischen Nationalität sind mit 1,8 Millionen Menschen die türkischen Staatsbürger. Viele von ihnen kamen in den 1960er Jahren als so genannte „Gastarbeiter“ nach Deutschland oder sind nach dem Anwerbestopp 1973 als Familienangehörige nachgezogen. Auch die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Ausländern steigt. Vielfach wächst eine in Deutschland geborene „2.“ oder sogar „3.“ Generation heran und eine zunehmende Zahl von Migranten der 1. Generation verbleibt auch im Rentenalter in Deutschland. Aus „Gastarbeitern“ und ihren Familien sind de facto Zuwanderer geworden. Migration bietet vielen Migrantinnen und Migranten Chancen in wirtschaftlicher und in gesundheitlicher Hinsicht – insbesondere im Vergleich mit ihrem Herkunftsland. Im Zielland der Migration sind Migranten aber meist besonderen gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Belastungen ausgesetzt (Razum et al. 2004, Geiger & Razum 2006). Aus nicht migrierten Bevölkerungsgruppen ist bekannt, dass ein niedriger sozioökonomischer Status mit einer erhöhten Prävalenz kardiovaskulärer Risikofaktoren, erhöhter Morbidität und Mortalität assoziiert ist. Wer sozial oder ökonomisch benachteiligt ist, hat also ein höheres Risiko zu erkranken oder vorzeitig zu versterben (siehe die Beiträge in diesem Band). Dennoch weisen erwachsene Migranten aus vielen Herkunftsländern in europäischen Ländern und den USA (im Weiteren als „Zielländer“ bezeichnet) eine vergleichsweise niedrige Sterblichkeit auf. Tabelle 15.1 zeigt, dass der Mortalitätsvorteil relativ zur Allgemeinbevölkerung des Ziellandes rund 50% betragen kann. Dieser Mortalitätsvorteil der Migranten wird in der Literatur als Healthy-migrant-Effekt bezeichnet, frei übersetzt das „Phänomen des gesunden Migranten“. Angesichts der inversen Assoziation zwischen sozioökonomischem Status und Mortalität stellt der Healthy-migrant-Effekt ein Paradox dar. Das diesem Phänomen zu Grunde liegende Erklärungsmodell wird meist nicht spezifiziert, was eine kritische Auseinandersetzung erschwert. 1
Das vorliegende Kapitel ist eine gekürzte und aktualisierte Fassung der Habilitationsschrift „Der Healthymigrant-Effekt in Epidemiologie und öffentlicher Gesundheitspflege“
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Oliver Razum
Tabelle 15.1: Altersadjustiertes Mortalitätsrisiko von Migranten relativ zur Bevölkerung des Ziellandes Datenquelle
Maß
Relatives Risiko Männer Frauen
RR
0,55
0,63
HR
0,57
0,60
SMR
0,64
0,56
Herkunft
Zielland
China
Kanada
Mexiko
USA
Vietnam
England
Südeuropa 1
Deutschland
Ehem. UdSSR 2
Deutschland (NordrheinWestfalen)
Bevölkerungs- und Todesursachenstatistik
SMR
0,89
0,81
(Ronellenfitsch et al. 2006)
v.a. Lateinamerika, Asien
USA
Nationale Mortalitätsdaten
RR
0,77
0,84
(Singh & Hiatt 2006)
Canadian Mortality Database National Longitudinal Mortality Study National Health Service Register Sozio-ökonomisches Panel (SOEP)
RR
0,68
Referenz (Sheth et al. 1999) (Abraido-Lanza et al. 1999) (Swerdlow 1991) (Razum et al. 2000)
1 „Gastarbeiter”-Anwerbeländer im Mittelmeerraum (Türkei, Jugoslawien, Italien, Spanien, Portugal); Männer und Frauen zusammengefasst 2 Aussiedler / Spätaussiedler. RR: Relatives Risiko; HR: Hazard Ratio; SMR: Standardised Mortality Ratio
Quelle: eigene Tabelle
2
Das „gängige“ Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes
Der Healthy-migrant-Effekt wird – oft nur implizit – als ein vorübergehender Mortalitätsvorteil von Migranten relativ zur Bevölkerung des Ziellandes verstanden. Ein Erklärungsmodell für dieses Phänomen muss also zumindest zwei Komponenten beinhalten: eine, welche die zunächst niedrige Mortalität erklärt; und eine zweite, welche den Anstieg der Mortalität über die Zeit begründet. Als erste Komponente wird eine (Selbst-)Auswahl besonders gesunder Personen bei der Migration vermutet. Diese Vorstellung ist konzeptionell dem aus der Epidemiologie bekannten Healthy-worker-Effekt entlehnt. Auch in Arbeiterkohorten wird oft eine niedrige Sterblichkeit beobachtet. Sie wird u.a. erklärt mit der im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung überdurchschnittlich guten Gesundheit von Personen, die Anstellung finden (McMichael 1976). Der sich daraus ergebende Vorteil, oft auch als Healthy-hire-Effekt bezeichnet, klingt allerdings innerhalb weniger Jahre ab (Lea et al. 1999, Fox & Collier 1976). Die zweite Komponente wird aus der bekannten Assoziation von sozioökonomischer Benachteiligung und erhöhter Mortalität hergeleitet. Dabei wird – implizit – ein Modell zu Grunde gelegt, das diese Assoziation über die Zwischenstufe einer höheren gesundheitlichen Belastung von benachteiligten Gruppen (hier von Migranten) und einen schlechteren Zugang zu den Gesundheitsdiensten erklärt, z.B. Elkeles & Mielck (1997). Aus der Synthese der beiden Komponenten ergibt sich das „gängige“ Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes: Migranten haben zum Zeitpunkt der Zuwanderung auf Grund der (Selbst-) Auswahl besonders gesunder Individuen eine niedrigere Sterblichkeit als die Bevölkerung des Ziellandes; dieser Vorteil klingt aber schnell ab. Gleichzeitig
269
Migration, Mortalität und der Healthy-migrant-Effekt
kommt es in Folge von sozioökonomischer Benachteiligung, schlechtem Zugang zu bzw. geringer Nutzung von Gesundheitsdiensten sowie gesundheitlichen Belastungen zu einem Anstieg der Sterblichkeit. Da sich die „negativen“ Effekte der beiden Komponenten gleichsinnig überlagern, müssten sie zu einem rapiden Anstieg der Sterblichkeit von Migranten innerhalb von wenigen Jahren nach der Migration führen, schließlich bis über das Niveau der Zielbevölkerung hinaus. Abb. 15.1 veranschaulicht diesen Prozess in seinem zeitlichen Verlauf, sowohl für den einzelnen Migranten wie für eine ganze Migrantenbevölkerung. Das gängige Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes weist Probleme auf, wenn es mit empirischen Beobachtungen konfrontiert wird. Insbesondere kann es nicht erklären, warum die beobachtete Sterblichkeit erwachsener Migranten vielfach über Jahre oder sogar Jahrzehnte niedrig bleibt (vgl. Tab. 15.1). Im weiteren Verlauf werden die Probleme des gängigen Erklärungsmodells des Healthy-migrant-Effektes aufgezeigt und ein neues Erklärungsmodell unter Bezugnahme auf den „gesundheitlichen Übergang“ hergeleitet. Abbildung 15.1: Schematische Darstellung der Mortalität von Migranten im zeitlichen Verlauf („gängiges“ Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes)
Mortalität Migranten
Bevölkerung Zielland
Zeit Migration Quelle: eigene Abbildung
3
Widersprüche im „gängigen“ Erklärungsmodell
Einige empirische Befunde sprechen für das „gängige“ Erklärungsmodell des Healthymigrant-Effektes. Entsprechend der theoretischen Voraussage eines Auswahleffektes bei der Migration finden sich z.B. Hinweise, dass sich türkische Migranten in Deutschland in vielfältiger Weise von der Herkunftsbevölkerung unterscheiden, auch hinsichtlich von Persönlichkeitsmerkmalen wie Offenheit gegenüber Neuem, der Bereitschaft Risiken einzugehen usw. Daten zur Mortalität einzelner Nationalitätengruppen lagen in Deutschland nicht vor. In anderen Zielländern wie z.B. den USA und England wurde entsprechend des postulierten Anstiegs der Sterblichkeit über die Zeit in der 2. und 3. Migrantengeneration
270
Oliver Razum
eine gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhte Mortalität beobachtet (Wei et al. 1996, Harding & Balarajan 2001). Andere empirische Beobachtungen entsprachen allerdings nicht den theoretischen Voraussagen des Modells. Insbesondere die vielfach beobachtete anhaltend niedrige Mortalität von erwachsenen Migranten der 1. Generation bereitete Schwierigkeiten. Zur Erklärung wurde eine zusätzliche Hypothese eingeführt, die eine selektive Rückkehr in das Herkunftsland bei schwerer Erkrankung postuliert (siehe z.B. Weber et al. 1990). Dies war für die Frühphase der Arbeitsmigration nach Westdeutschland, als zunächst nur einzelne Familienmitglieder migrierten, sicher zutreffend. Seit dem Anwerbestopp 1973 und dem Nachzug vieler Familien kann man eine Rückkehr bei Krankheit nicht mehr als den Regelfall annehmen; auch nimmt die Anzahl und der Anteil älterer türkischer Migranten zu, die in Deutschland bei ihren Familien bleiben oder die bessere Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen möchten (Razum et al. 2005). Ein weiterer Erklärungsversuch postuliert, dass die Größe der Migrantenbevölkerung auf Grund von (nicht-selektiver) Rückkehr ohne Abmeldung zahlenmäßig überschätzt wird, was zu einer falsch niedrigen Berechnung der Mortalitätsraten führen würde (Ringbäck Weitoft et al. 1999). Dieses Problem besteht vor allem bei Ausländern aus benachbarten EU-Staaten, ist aber bei der türkischen Bevölkerung in Deutschland viel zu klein, um den beobachteten Mortalitätsvorteil zu erklären (Fleischer 1989). Aus der (im Prinzip schlüssigen) Überlegung heraus, dass Migranten angesichts einer unzweifelhaft vorhandenen Benachteiligung keinen Mortalitätsvorteil haben können, kommt es zu einer wenig konstruktiven Reiteration der oben genannten (und im Prinzip ebenfalls schlüssigen) Erklärungsversuche, die damit zu Schutzhypothesen werden. Währenddessen zeigen neuere Studien eine niedrige Sterblichkeit von Migranten auch nach Ausschluss von Rückkehr (Abraido-Lanza et al. 1999) und bei Anwendung eines Kohortendesigns, d.h. bei präzisem Denominator (Swerdlow 1991, Ronellenfitsch et al. 2006). Es werden weitere Schutzhypothesen erforderlich, um Post-hoc-Erklärungen für diese empirischen Ergebnisse zu finden, die das gängige Erklärungsmodell nicht vorausgesagt hatte. So wird die Chance verpasst, andere oder neue Erklärungen (die auch einen tatsächlichen Mortalitätsvorteil von Migranten umfassen könnten) in Betracht zu ziehen.
4
Schritte zum neuen Erklärungsmodell
Die Entwicklung des neuen Erklärungsmodells erfolgte in einem inkrementellen Forschungsprozess aus einer Abfolge von Modell, entsprechend dessen Vorhersagen gesammelter empirischer Evidenz (in Abschnitt 6 und folgenden dargelegt) und daraufhin verbessertem Modell usw.:
Anhaltend niedrige Mortalität: Entgegen den Vorhersagen des gängigen Erklärungsmodells liegt die beobachtete Sterblichkeit erwachsener Migranten in Studien über viele Jahre niedriger als die der Bevölkerung des Ziellandes. Empirische Befunde zeigen, dass dies nicht allein durch Artefakte erklärbar ist. Rolle der Gesundheitsdienste: Empirische Daten geben Hinweise auf zunehmend besseren Zugang zu den Gesundheitsdiensten und Qualität der Versorgung – was nach dem gängigen Erklärungsmodells nicht erwartet wurde.
Migration, Mortalität und der Healthy-migrant-Effekt
5
271
Logische Inkonsistenz des herkömmlichen Erklärungsmodells des Healthy-migrantEffektes: Entsprechend der Herleitung aus dem Healthy-worker-Effekt müsste der Vergleich der Mortalität relativ zur Bevölkerung des Herkunfts- und nicht des Ziellandes erfolgen. Gegenüber dem Zielland kann ein Mortalitätsvorteil von Migranten auch ohne Auswahlprozesse, allein durch die großen internationalen Unterschiede in den Mortalitätsraten zustande kommen. Rolle des „gesundheitlichen Übergangs“: Für internationale Unterschiede in der Mortalität sind u.a. unterschiedliche Stadien im Voranschreiten des „gesundheitlichen Übergangs“ zwischen Ziel- und Herkunftsland entscheidend. Einfluss des Herkunftslandes: Dieser bedingt, dass Migranten nicht bei allen Todesursachen eine niedrige Inzidenz bzw. Mortalität aufweisen werden. Bias: Eine anhaltend niedrige Sterblichkeit entsteht beim Healthy-worker-Effekt durch Auswahlprozesse nach der Einstellung, dem Late-entry-Bias.
Gleichheit bezüglich der Mortalität als Voraussetzung für Gerechtigkeit?
Eine Handlungswissenschaft wie Public Health soll zu größerer Gerechtigkeit hinsichtlich der Gesundheit und damit indirekt auch hinsichtlich von Lebenschancen im ökonomischen wie im politischen Sinne beitragen. Daher kann sich Public Health nicht damit begnügen, mittels epidemiologischer Methoden Unterschiede in der Mortalität von Bevölkerungsgruppen festzustellen bzw. zu quantifizieren. Sie muss auch eine Bewertung evtl. gefundener Unterschiede vornehmen, um Prioritäten setzen und Anleitung zum Handeln geben zu können. Eine Bewertung setzt das Vorhandensein akzeptierter Maßstäbe voraus. Einen heute häufig angelegten Maßstab bietet der Egalitarismus. Egalitaristen möchten Gleichheit (z.B. hinsichtlich der Lebenschancen) unter den Menschen verwirklichen, in dem Verständnis, dass dies der Weg sei, um Gerechtigkeit zu schaffen. Im egalitaristischen Verständnis wird Gerechtigkeit also wesentlich als Gleichheit interpretiert, Gleichheit erhält somit einen Eigenwert (Krebs 2000), angelehnt an John Rawls’ Theory of Justice, 1971. Der Ansatz des Egalitarismus ist relational, d.h. es wird das Niveau, auf dem eine Person (oder Gruppe) sich befindet, mit dem Niveau aller anderen Mitglieder einer Gesellschaft verglichen. Auch dem gängigen Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes liegt offensichtlich ein egalitaristisches Denken zu Grunde. In den unten aufgeführten empirischen Arbeiten wird meist mit relativen Risiken argumentiert. Das Sterberisiko von Migranten wird also nicht absolut betrachtet, sondern im Vergleich zu einer anderen Bevölkerungsgruppe – entweder zur Allgemeinbevölkerung des Ziellandes oder zu der des Herkunftslandes. Die gängige, dahinter stehende Überlegung ist egalitaristisch, sie nimmt an, dass Gleichheit in diesem Fall gleichzeitig Grundlage und Maß für Gerechtigkeit ist. Im Umkehrschluss führt dies zu der Annahme, dass eine Bevölkerungsgruppe, die relativ zur Bevölkerungsmajorität eine höhere Sterblichkeit aufweist, offenbar auch sozialen und ökonomischen Ungleichheiten ausgesetzt sein muss (Ungleichheit als Indikator); sie hat also nicht die gleichen Chancen bzw. ist einer Ungerechtigkeit ausgesetzt. Würde die Sterblichkeit der betroffenen Gruppe auf das Niveau der Mehrheitsbevölkerung gesenkt, so wäre dies als Zunahme an Gerechtigkeit zu bewerten.
272
Oliver Razum
Dieser zunächst einleuchtenden Interpretation stehen drei Probleme entgegen:
Die niedrigere Mortalität der Migranten (aus egalitaristischer Sicht eine Erfüllung von Gleichheit) bedeutet nicht die Anwesenheit von Gerechtigkeit; und sie bedeutet auch nicht, dass die Prävalenz von Risikofaktoren niedrig ist und daher keine präventiven Interventionen erforderlich sind. Bei bestimmten Todesursachen wie z.B. Magenkrebs wird Gleichheit bezüglich der Mortalität aufgrund der Lebens- bzw. Expositionsgeschichte der Migranten in näherer Zukunft kaum erreichbar sein. Schließlich kann das Paradox einer subjektiv empfundenen Gerechtigkeit ohne Gleichheit auftreten, wenn Migranten Gesellschaften oder Kulturen vergleichen (die Teilnehmer der Focus-group-Interviews berichteten wiederholt, dass sie in Deutschland mehr „Gerechtigkeit“ empfunden und erlebt hätten als in der Türkei (Razum et al. 2005)).
Man wird sich bei der Beurteilung von Unterschieden in der Mortalität zwischen Migranten und Deutschen also von einer populären egalitaristischen Interpretation (wie sie implizit im gängigen Erklärungsmodell vorhanden ist) lösen müssen. Einem Vertreter der neuen Egalitarismuskritik, Harry Frankfurt, zu Folge kommt es vielmehr darauf an, „[…] ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht.“ (Frankfurt 2000) Wichtig für das Wohlergehen von Menschen sei vor allem, dass sie mit Achtung behandelt würden. Gleichheit könne hierfür eine Voraussetzung sein; einen eigenständigen Wert stellt Gleichheit laut Frankfurt jedoch nicht dar. Auf die Fragen, ob Migranten ein gutes Leben führen und ob sie mit Achtung behandelt werden, geben Mortalitätsdaten nur bei ausgewählten Todesursachen (z.B. Müttersterblichkeit) und auch dann nur indirekt Auskunft. Zur Beantwortung dieser Fragen sind andere Forschungsansätze erforderlich, beispielsweise Studien zur psychischen Befindlichkeit und zur sozialen Lage von Migranten.
6
Empirische Belege
6.1
Gesamtsterblichkeit
Türkische Staatsbürger in Deutschland im Alter von 25 bis 64 Jahren weisen für die Jahre 1980-1994 eine durchweg niedrigere Sterblichkeit auf als Deutsche (Razum et al. 1998a). In höheren Altersgruppen ist der Mortalitätsvorteil stärker ausgeprägt als in niedrigen. Im Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) lassen sich diese Ergebnisse für Personen aus ehemaligen „Gastarbeiter“-Anwerbeländern weitgehend replizieren (Razum et al. 2000). Entgegen der Voraussagen des gängigen Erklärungsmodells ist in keiner der Studien im Untersuchungszeitraum ein Anstieg der Mortalität festzustellen. Könnte diesen Zahlen eine Verzerrung, etwa durch Rückkehr bei schwerer Erkrankung, zu Grunde liegen? Angesichts eines geringen oder fehlenden Mortalitätsvorteils türkischer Migranten in den Niederlanden (Bos et al. 2004) könnte man dies vermuten. Allerdings ist es lediglich für die der Frühphase der Arbeitsmigration vorstellbar, dass türkische Migranten bei schwerer Erkrankung regelmäßig in die Türkei zurückkehrten. Seit dem Anwerbestopp 1973 und dem Nachzug vieler Familien trifft dies offenbar in immer gerin-
Migration, Mortalität und der Healthy-migrant-Effekt
273
gerem Maße zu. Es mehren sich die Belege, dass heute sehr viele türkische Migranten der 1. Generation zumindest bis zur Berentung oder sogar darüber hinaus in Deutschland bleiben; einerseits, um bei ihren Familien zu sein, andererseits wegen der gut zugänglichen Gesundheitsdienste (White 1997, Razum et al. 2005). Diese Entwicklung spiegelt sich in einer steigenden Anzahl älterer türkischer Migranten wider. Viele türkische Rentner verbringen allerdings einige Monate des Jahres in der Türkei. Da Todesfälle im Ausland (auch von Deutschen) in der deutschen Todesursachenstatistik nicht berücksichtigt werden (Neumann 1991), muss der Eintritt des Todes in der Türkei als Ursache für eine Untererfassung in den höheren Altersgruppen bedacht werden. Ungenauigkeiten in den Bevölkerungszahlen auf Grund (nicht-selektiver) Rückkehr ohne Abmeldung dürften hingegen für die Erklärung des Mortalitätsvorteils türkischer Migranten kaum eine Rolle spielen. Bei der Volkszählung 1987 betrug die Abweichung des Zählergebnisses von der Bevölkerungsfortschreibung des Ausländer-Zentralregisters seit 1970 lediglich -1,9% (Fleischer 1989).
6.2
Trends in der Müttersterblichkeit
Die Müttersterblichkeit (angegeben je 100.000 Lebendgeburten) ist ein empfindlicher Indikator für Ungleichheit in der sozialen und gesundheitlichen Versorgung. Mütterliche Todesfälle können vermieden bzw. auf ein Mindestmaß reduziert werden, wenn jede Frau Zugang zu medizinischer Grundversorgung in ausreichender Qualität hat und vorhandene Zugangsmöglichkeiten auch nutzen kann. Die Müttersterblichkeit in einer Untergruppe der Bevölkerung liegt um so höher, je weniger gut ihre Möglichkeiten hinsichtlich Zugang bzw. Nutzung sind. So haben z.B. Afroamerikanerinnen und Frauen aus anderen Minoritätengruppen in den USA eine 2,5 bzw. 3,8 mal so hohe Müttersterblichkeit wie weiße Amerikanerinnen (Atrash et al. 1990). In Deutschland haben rund 18% aller Neugeborenen eine ausländische Mutter, meist aus Südeuropa. Zwischen 1980 und 1996 hatten ausländische Frauen in Westdeutschland ein 1,7 Mal so hohes altersadjustiertes Risiko eines mütterlichen Sterbefalles wie deutsche Frauen (Razum et al. 1999). In diesem Zeitraum ging die Müttersterblichkeit allerdings insgesamt zurück. Davon profitieren ausländische und deutsche Frauen gleichermaßen. Dabei ist insbesondere ein Rückgang der Übersterblichkeit ausländischer Frauen durch Fehlgeburt zu beobachten. Dies deutet auf eine zunehmend bessere Nutzung der Gesundheitsdienste durch ausländische Frauen (und damit einen zunehmend besseren Zugang) hin. Diese Interpretation wird gestützt durch die Beobachtung, dass ledige deutsche Frauen, die im Durchschnitt sozial schlechter gestellt sind als verheiratete Frauen, im gleichen Zeitraum ein gleichbleibend erhöhtes Risiko eines mütterlichen Todesfalles, insbesondere auch eines Todesfalles durch Fehlgeburt/Blutung hatten (Razum & Jahn 2000). Dies unterstreicht die Leistung der Gesundheitsdienste und der Migrantinnen, Verbesserungen bei Zugang und Nutzung der Gesundheitsdienste zu schaffen – eine positive Entwicklung, die nicht den Voraussagen des gängigen Erklärungsmodells entspricht. Eine Analyse der Müttersterblichkeit türkischer Frauen in Deutschland zeigt einen Rückgang über die Zeit, der dem unter ausländischen Frauen insgesamt vergleichbar ist (Razum & Zeeb 2004). Auffallend ist der Unterschied im mütterlichen Risiko zwischen Herkunfts- und Zielland: es liegt in der Türkei fünfmal so hoch wie in Deutschland. Türkische Frauen können also durch die Migration eine erhebliche Senkung des Risikos eines
274
Oliver Razum
mütterlichen Todesfalls erreichen, offenbar eine Folge des in Deutschland besseren Zugangs zu den Gesundheitsdiensten, was durch das gängige Erklärungsmodell nicht vorausgesagt wird.
6.3
Trends in der Herz-Kreislauf-Sterblichkeit
Morbidität und Mortalität an koronarer Herzkrankheit (KHK) werden durch Verhaltens-, Umwelt- und genetische Faktoren sowie durch Zugänglichkeit und Qualität der medizinischen Versorgung determiniert. So entwickelten japanische Zuwanderer in den USA mit Übernahme des dortigen Lebensstils auch graduell ein höheres KHK-Risiko (Benfante 1992). Die Whitehall-Studien belegten einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Benachteiligung und ungünstigen Arbeitsbedingungen einerseits sowie Mortalität bzw. Morbidität an Herzinfarkt andererseits (Marmot et al. 1997). Nach dem gängigen Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes würde man also eine höhere KHK-Sterblichkeit von Migranten verglichen mit der deutschen Bevölkerung erwarten, zumindest aber müsste sich ein Anstieg über die Zeit beobachten lassen. Ein Rückgang ihrer KHK-Sterblichkeit könnte sich lediglich dann ergeben, wenn sie in zunehmendem Maße von den in den letzten Jahren stark verbesserten Behandlungsmöglichkeiten der KHK profitieren. Diese „revolution in coronary care“ (Tunstall-Pedoe et al. 2000) trägt zu dem starken Rückgang der KHKSterblichkeit in Deutschland seit 1980 bei (Tunstall-Pedoe et al. 1999). Im Falle eines Rückgangs auch bei Migranten ließen sich also indirekt Schlussfolgerungen über deren Zugang zu bzw. Nutzung von Gesundheitsdiensten ziehen. Eine Analyse der Sterblichkeit an akutem Herzinfarkt unter türkischen Männern in Deutschland im Alter von 25-64 Jahren zeigt einen signifikanten Rückgang um 24% bei den altersstandardisierten Sterberaten zwischen den Zeitperioden 1980-85 und 1994-97 (Razum & Zeeb 2000). Die beobachteten altersspezifischen KHK-Mortalitätsraten türkischer Männer in den Altersgruppen 35-54 Jahren liegen im Mittel um 25-40% niedriger als bei Deutschen (Razum et al. 1998b). Die Mortalitätsraten türkischer und deutscher Männer konvergieren, jedoch ist die Verkleinerung des Unterschiedes bislang ausschließlich auf den bekannten deutlichen Rückgang der KHK-Sterblichkeit unter deutschen Männern im Untersuchungszeitraum zurückzuführen (-41% im eigenen Datensatz). Der laut dem gängigen Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes zu erwartende Anstieg der KHK-Sterblichkeit lässt sich bei türkischen Männern in Deutschland also (noch) nicht beobachten. Eine nahe liegende Interpretation ist, dass die sinkende Sterblichkeit durch verbesserte Therapiemöglichkeiten (deren Effekt nach 2 Jahren sein Maximum erreicht) gegenüber einem Anstieg auf Grund der steigenden Prävalenz von Risikofaktoren (mit einer Latenzzeit von 25-35 Jahren) bislang überwiegt (Law & Wald 1999). Die Prävalenz einzelner KHK-Risikofaktoren liegt bei Türken jetzt schon höher als bei Deutschen (Porsch-Oezcueruemez et al. 1999). Beim Auftreten einer manifesten KHK ist eine Rückkehr in die Türkei nicht auszuschließen. Allerdings sind Behandlungsangebote in Deutschland finanziell wie geografisch besser zugänglich und die Qualität der deutschen Gesundheitsdienste wird als sehr gut empfunden (Razum et al. 2005). Zusammengenommen ergibt dies für KHK-Patienten ein zusätzliches Motiv zum Bleiben, über die familiäre Anbindung hinaus. Darüber hinaus liegt die Frühsterblichkeit bei Herzinfarkt in Deutschland mit rund 50% bis 55% immer noch
Migration, Mortalität und der Healthy-migrant-Effekt
275
relativ hoch (Tunstall-Pedoe et al. 1999). Eine selektive Re-Migration Erkrankter dürfte im Vergleich zu anderen chronischen Erkrankungen des Erwachsenenalters also eher geringen Einfluss auf die beobachteten Mortalitätsraten haben. Angesichts des möglichen Bias liegt der Schwerpunkt der Analyse dennoch auf der zeitlichen Entwicklung der Mortalitätsraten, nicht auf einem Vergleich mit der Mortalität Deutscher. Kann eine im Vergleich zu Deutschen zunächst niedrigere KHK-Sterblichkeit von Migranten als Beleg für einen Auswahleffekt bei der Migration gewertet werden? Bei dieser Frage zeigt sich eine logische Inkonsistenz bei der Herleitung des Healthy-migrantEffektes aus dem des Healthy-worker-Effekt. Bei letzterem ergibt sich der Vorteil der Arbeiter relativ zu der Bevölkerung, aus der sie rekrutiert werden. Entsprechend kann auch beim Healthy-migrant-Effekt ein Auswahleffekt naturgemäß nur relativ zur Herkunftsbevölkerung auftreten (z.B. der eines ehemaligen „Gastarbeiter“-Anwerbelandes), nicht aber zur Bevölkerung des Ziellandes (z.B. Deutschland). Die altersstandardisierten KHKMortalitätsraten in ehemaligen „Gastarbeiter“-Anwerbeländern des Mittelmeerraumes liegen aber um bis zu 55% niedriger als in Deutschland (Razum & Twardella 2002). Migranten aus diesen Ländern würden also bei der Einreise auch ohne Auswahleffekt eine erheblich niedrigere ursachenspezifische Sterblichkeit aufweisen als die deutsche Bevölkerung und sie voraussichtlich auch über 2-3 Jahrzehnte beibehalten (Benfante 1992, Law & Wald 1999) – wiederum nicht vorausgesagt durch das gängige Erklärungsmodell des Healthymigrant-Effektes. Beim Schlaganfall ist der Unterschied in der Sterblichkeit zwischen Türken und Deutschen über den gesamten Untersuchungszeitraum geringer als bei KHK; türkische Frauen weisen sogar nahezu die gleiche Schlaganfall-Sterblichkeit auf wie deutsche Frauen, bei allerdings insgesamt kleinen Fallzahlen (Razum et al. 1998b). Zieht man eine mögliche Untererfassung durch Rückkehr Erkrankter in Betracht, so ergeben sich u.U. sogar höhere Mortalitätsraten als bei Deutschen. Ursache könnten Expositionen während der Kindheit im Herkunftsland sein (Davey Smith et al. 1998, Leon & Davey Smith 2000). Auch diese Beobachtung wurde wiederum nicht durch das gängige Erklärungsmodell des Healthy-migrantEffektes vorausgesagt.
6.4
Krebserkrankungen
Falls es zutrifft, dass Risiken auf Grund früherer Expositionen im Herkunftsland auch nach der Migration bestehen bleiben, so müssten bei türkischen Migranten solche Erkrankungen häufiger auftreten, die mit ungünstigen Lebensbedingungen in der Kindheit assoziiert sind. Neben Schlaganfall (s.o.) wäre das z.B. auch Magenkrebs (Davey Smith et al. 1998, Leon & Davey Smith 2000) – wiederum nicht vorausgesagt durch das gängige Erklärungsmodell. Brustkrebs dagegen, der in industrialisierten Ländern häufiger ist als in Ländern mit eher traditionellem Lebensstil (Jasienska & Thune 2001), müsste bei türkischen Frauen seltener auftreten als bei deutschen Frauen. Es bietet sich an, mit Hilfe eines Krebsregisters inzidente Krebsfälle unter türkischen Migranten zu erfassen, was einen Bias durch Rückkehr Erkrankter weitgehend ausschließt.
276
Oliver Razum
Die im Saarland beobachtete proportionale Krebsinzidenz (PCIR)2 für Magenkrebs beträgt bei türkischen Männern 2,9; bei ihnen ist der Anteil von Magenkrebs an allen Krebsfällen also deutlich höher als bei deutschen Männern. Die PCIR für Brustkrebs bei türkischen Frauen beträgt 0,65; der Anteil ist somit viel niedriger als bei deutschen Frauen (Zeeb et al. 2002). Dies sind weitere Hinweise auf eine anhaltende Bedeutung von RisikofaktorenExposition (bzw. Nicht-Exposition) während der Kindheit bzw. dem Leben im Herkunftsland, zusätzlich zu der oben berichteten vergleichsweise hohen Sterblichkeit an Schlaganfall. Der Lebensstil von Migranten und damit die Risikofaktoren-Exposition im Zielland können noch über Jahre der des Herkunftslandes ähneln, wodurch die entsprechenden Folgeerkrankungen weiter propagiert werden (Rothenbacher et al. 1998). Das Verständnis des niedrigen Risikos z.B. für KHK und des gleichzeitig vergleichsweise hohen Risikos für Magenkrebs und Schlaganfall, das Migranten aus wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern aufweisen, erfordert also eine lebensgeschichtliche Betrachtungsweise.
6.5
Auswahleffekte im Zielland
Warum bleibt die Sterblichkeit in Arbeiterkohorten über längere Zeit niedrig, wenn der Auswahleffekt bei der Einstellung (Healthy-hire-Effekt) nur kurze Zeit anhält? Der Healthy-worker-Effekt kommt nur zu Beginn durch Auswahl gesunder Arbeiter bei der Einstellung zustande. Eine größere Rolle spielt, dass Studien mit Arbeiterkohorten oft erst Jahre nach dem Zeitpunkt beginnen, zu dem die Arbeit aufgenommen wurde. Erkrankte oder invalide Arbeiter sind dann bereits ausgeschieden. Die Studienpopulation stellt somit auf Grund eines kontinuierlichen Auswahlprozesses nach der Einstellung (aber vor Studienbeginn) eine besonders gesunde Auswahl aus allen Personen dar, die einst die Arbeit aufnahmen, mit entsprechend niedriger Mortalität. Dies bezeichnet man als Late-entryBias, da die Arbeiter in der verbliebenen Studienpopulation erst spät in ihrer Expositionsgeschichte unter Beobachtung kommen. Auch Migranten werden oft erst Jahre nach der Einreise (und damit nach Beginn der Exposition) in Studien aufgenommen, wenn sozioökonomisch erfolglose oder kranke Personen möglicherweise ins Herkunftsland re-migriert sind. Träfe diese Annahme zu, so müsste das Sterberisiko von Migranten, die sich vor Studieneintritt schon länger im Zielland aufgehalten haben (Gruppe B in Abb. 15.2), deutlich niedriger sein als das von gleich alten Migranten, die erst kürzere Zeit vor Studieneintritt eingereist sind (Gruppe A). Dieser Auswahleffekt im Zielland müsste ggf. als weitere mögliche Erklärung für eine anhaltend niedrige beobachtete Sterblichkeit bedacht werden, neben einem zunehmend besseren Zugang zu den Gesundheitsdiensten und der langen Latenzzeit zwischen RisikofaktorExposition und Auftreten einer KHK.
2
Da die Größe der Bezugsbevölkerung nicht bestimmt werden konnte, wurden altersadjustierte proportionale Krebsinzidenzquoten (proportional cancer incidence ratio; PCIR) berechnet. Dazu wird der Anteil einer einzelnen Tumorlokalisation an allen inzidenten Krebserkrankungen jeweils bei türkischen Migranten und bei Deutschen berechnet und dann zueinander ins Verhältnis gesetzt. Die PCIR gibt also an, um wie viel Mal größer bzw. kleiner der Anteil einer bestimmten Tumorart an allen diagnostizierten Krebsfällen bei türkischen Migranten im Vergleich zu Deutschen ist.
277
Migration, Mortalität und der Healthy-migrant-Effekt
Abbildung 15.2: Zeitpunkt von Migration und Studieneintritt in 2 Migrantengruppen, A und B Studieneintritt
A Herkunftsland
Zielland
Studie
B evtl. Re-Migration
: Zeitpunkt der Migration Quelle: eigene Abbildung
Diese Hypothese konnte anhand der Gesamtsterblichkeit von Zuwanderern der 1. Generation aus ehemaligen „Gastarbeiter“-Anwerbeländern im SOEP untersucht werden (Razum & Rohrmann 2002). Bei Personen im Alter von 50 Jahren und darüber (nicht aber bei jüngeren Personen) fand sich ein signifikanter Rückgang des Sterberisikos um 50% pro zusätzliche 10 Jahre Aufenthalt in Deutschland vor Studieneintritt. Dieses Ergebnis stützt die Hypothese, dass auch Auswahlprozesse nach der Migration, aber vor Studieneintritt (also ein Late-entry-Bias) zur anhaltend niedrigen Sterblichkeit von Migranten der 1. Generation beitragen können. In der Studie zur Gesamtsterblichkeit türkischer Migranten auf der Basis der amtlichen Statistik fiel ein mit dem Lebensalter zunehmender Unterschied in der beobachteten Sterblichkeit türkischer Migranten und Deutscher auf. Hierfür bietet ein kontinuierlicher Auswahlprozess im Zielland im Sinne eines Late-entry-Bias eine mögliche Erklärung (wobei das Lebensalter mangels besserer Daten als Proxy für die Aufenthaltsdauer zu interpretieren wäre). Konzeptionell stellt dies eine Präzisierung des „unhealthy remigration effect“ dar; dieser postulierte eine bevorzugte Rückkehr der sozioökonomisch erfolglosen oder mit besonderen gesundheitlichen Risiken belasteten Migranten in ihr Herkunftsland (Razum et al. 1998a). Beide Studien zeigen, dass sich dieser Auswahlprozess und daraus resultierende Verzerrungen aber mittlerweile auf die höheren Altersgruppen beschränken.
7
Das neue Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes
Unterschiede in der Mortalität zwischen Herkunfts- und Zielland Die aufgeführten empirischen Belege zeigen, dass das „gängige“ Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes die beobachteten Muster und Trends in der Mortalität von Migranten nicht zufriedenstellend erklären kann. Ein Auswahlprozess bei der Migration kann nur relativ zur Bevölkerung des Herkunftslandes stattfinden, nicht zu der des Ziellandes. Da Gesamt- wie auch ursachenspezifische Mortalitätsraten international erheblich variieren, können zum Zeitpunkt der Migration auch unabhängig von einem Auswahlprozess Unterschiede in der Mortalität zwischen Migranten und der Bevölkerung des Ziellandes auftreten. Waren Migranten während der Kindheit im Herkunftsland ungünstigeren
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Lebensbedingungen ausgesetzt als die entsprechende Alterskohorte im Zielland, so kann die Inzidenz bzw. Sterblichkeit an einzelnen Todesursachen wie z.B. Magenkrebs und Schlaganfall im Vergleich höher liegen, d.h. bei diesen Todesursachen besteht kein Vorteil gegenüber der Bevölkerung des Ziellandes. Unterschiede in den Gesundheitsdiensten zwischen Herkunfts- und Zielland Internationale Unterschiede bestehen nicht nur bei der Mortalität, sondern auch im Zugang zu und der Qualität von Gesundheitsdiensten. Erfolgt die Migration in ein Land, dessen Gesundheitsdienste finanziell oder geografisch besser zugänglich sind als die des Herkunftslandes, so ergibt sich für die Migranten potenziell ein Vorteil in der Mortalität gegenüber ihrer Herkunftsbevölkerung – wiederum unabhängig von einem Auswahleffekt. Ein solcher Vorteil kann selbst dann bestehen, wenn eine Chancengleichheit relativ zur Bevölkerung des Ziellandes noch nicht erreicht ist (vgl. das Beispiel der Müttersterblichkeit). Gelingt es Migranten z.B. aus sprachlichen oder kulturellen Gründen nicht, von den Sozial- und Gesundheitsdiensten des Ziellandes zu profitieren, so wird sich ihre sozioökonomische und gesundheitliche Situation perspektivisch verschlechtern – wiederum relativ zum Herkunftsland bzw. zu erfolgreicheren Migranten. Kehren die weniger erfolgreichen Migranten bevorzugt ins Herkunftsland zurück, so wird die verbliebene Migrantenbevölkerung mit der Zeit ein zunehmend geringeres Sterberisiko aufweisen – aufgrund eines Auswahleffektes nach der Migration, der nicht nur einmalig wirkt, wie der vom gängigen Erklärungsmodell bei der Migration postulierte Effekt, sondern kontinuierlich. Bezug auf den gesundheitlichen Übergang Diese Überlegungen lassen sich anhand des Konzeptes des „gesundheitlichen Übergangs“ (Health transition) zu einem neuen Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes zusammenfassen (Razum & Twardella 2002). Mit „gesundheitlichem Übergang“ wird der allmähliche Wechsel von einer hohen Gesamtsterblichkeit vorwiegend an Infektionskrankheiten sowie an mütterlichen und kindlichen Ursachen zu einer niedrigeren Sterblichkeit vorwiegend an nichtübertragbaren Krankheiten bezeichnet. Der gesundheitliche Übergang kommt zustande, weil sich die relative Bedeutung wichtiger Risikofaktoren verändert – die so genannte „Risikofaktoren-Komponente“; beispielsweise helfen Impfungen, Todesfälle an häufigen Infektionskrankheiten zu verhindern, aber es beginnen mehr Heranwachsende mit dem Rauchen. Darüber hinaus sinkt durch effektivere Behandlungsmöglichkeiten die Sterblichkeit an vielen Infektionskrankheiten – die „therapeutische“ Komponente (Feachem et al. 1992). Der Prozess des gesundheitlichen Übergangs ist in Industrieländern bereits weit fortgeschritten, während sich Entwicklungsländer noch in frühen Stadien befinden. Im neuen Erklärungsmodell des Healthy-migrant-Effektes wird internationale Migration als gesundheitlicher Übergang interpretiert, den eine Migrantenpopulation durchläuft. Die Risikofaktoren-Komponente erklärt, dass durch Unterschiede im Stadium des gesundheitlichen Übergangs (und damit des Risiko- und Mortalitätsprofils) zwischen Herkunftsund Zielland ein echter Mortalitätsvorteil von Migranten zustande kommen kann. Auf Grund der langen Latenzzeit vieler nicht-übertragbarer Erkrankungen bleibt ein solcher Vorteil selbst dann über Jahre oder sogar Jahrzehnte bestehen, wenn Migranten ihren Lebensstil schnell an den der Bevölkerung des Ziellandes anpassen. Zusätzlich können Auswahlprozesse nach der Migration dazu beitragen, dass der Mortalitätsvorteil über längere Zeit erhalten bleibt. Die therapeutische Komponente beschreibt die Folgen eines besseren
Migration, Mortalität und der Healthy-migrant-Effekt
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Zugangs und einer besseren Qualität der Gesundheitsdienste im Zielland verglichen mit dem Herkunftsland. Sie kann dazu führen, dass Migranten bereits nach kurzer Zeit einen Mortalitätsvorteil gegenüber ihrer Herkunftsbevölkerung entwickeln. Bei Todesursachen wie der KHK kann sich dieser Vorteil innerhalb weniger Jahre bemerkbar machen, lange bevor Änderungen im Lebensstil zu einem Anstieg der Mortalität führen (Law & Wald 1999). Entsprechend trägt die therapeutische Komponente dazu bei, dass ein auf Grund von internationalen Unterschieden im Risiko- bzw. Mortalitätsprofil bestehender Vorteil von Migranten gegenüber der Bevölkerung des Ziellandes über längere Zeit anhalten oder sich sogar vorübergehend vergrößern kann. Bei einzelnen Todesursachen wie z.B. Magenkrebs und Schlaganfall wirken Risiken auf Grund ungünstigerer Lebensbedingungen im Herkunftsland allerdings noch im Zielland nach; hier haben Migranten keinen Vorteil gegenüber der Bevölkerung des Ziellandes – die „unfinished agenda“ des gesundheitlichen Übergangs durch Migration. Aus dem neuen Erklärungsmodell ergibt sich, dass eine konstruktive Bewertung von Unterschieden in der Mortalität zwischen Migranten und der Mehrheitsbevölkerung eine separate Betrachtung der einzelnen Todesursachen erfordert. Ist deren Auftreten primär von Zugang, Nutzung bzw. Qualität der Gesundheitsdienste abhängig wie z.B. bei der Müttersterblichkeit, so ist Gleichheit in der Mortalität zwischen Migranten und der Mehrheitsbevölkerung eine Voraussetzung für die Möglichkeit, ein gutes Leben führen zu können (im Sinne von H. Frankfurt, siehe oben) und damit auch für Gerechtigkeit. Bei anderen Todesursachen wie z.B. Magenkrebs wird Gleichheit auf Grund der unterschiedlichen Expositionsgeschichte zunächst nur schwer erreichbar sein. Gründe für einen möglichen Anstieg der Mortalität von Migranten Aus einer aktuell niedrigen Sterblichkeit erwachsener Migranten der 1. Generation darf nicht auf eine auch in Zukunft niedrige Sterblichkeit geschlossen werden. Aus dem neuen Erklärungsmodell lassen sich Gründe für einen möglichen zukünftigen Anstieg der Mortalität herleiten:
Die jahrzehntelange Latenzzeit vieler chronischer, nichtübertragbarer Krankheiten wie z.B. KHK ist für Migranten der 1. Generation, die vor 25-35 Jahren eingereist sind, läuft ab. In den wachsenden Altersgruppen über 65 Jahre werden sich Risiken aus dem Heimatland (z.B. hinsichtlich von Schlaganfall und Magenkrebs, also der „unfinished agenda“) stärker als bei Jüngeren bemerkbar machen. Die 2. oder 3. Migrantengeneration verändert ihren Lebensstil so weit, dass ihr Risikound Mortalitätsprofil mehr dem der Bevölkerung des Ziellandes gleicht als dem des Herkunftslandes. Late-entry-Bias bzw. „unhealthy remigration effect“ sind ab der 2. oder 3. Generation weniger oder nicht mehr wirksam; die Konsequenzen von sozioökonomischer Benachteiligung werden dann sichtbar.
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Oliver Razum
Konsequenzen für Epidemiologie und Public Health
Effektmodifikation Aus den Voraussagen des neuen Erklärungsmodells für den Healthy-migrant-Effekt ergibt sich, dass erwachsene Migranten, deren sozioökonomischer Status im Mittel niedrig ist, dennoch eine im Vergleich zur Bevölkerung des Ziellandes niedrige Mortalität haben können; hingegen weisen sozioökonomisch benachteiligte Untergruppen der Bevölkerung des Ziellandes eine überdurchschnittlich hohe Mortalität auf. Der Effekt der Variable „sozioökonomischer Status“ auf die Mortalität ist also nicht konsistent, sondern variiert in verschiedenen Untergruppen der Studienbevölkerung. Dies wird als „effect modification“ (Effektmodifikation) bezeichnet. In Ländern mit hohem Migrantenanteil könnten sich allein aus einer ungleichmäßigen geografischen Verteilung der Migrantenbevölkerung regionale Unterschiede in der Mortalität ergeben; gleichzeitig würde die Assoziation zwischen sozioökonomischem Status und Mortalität „verdünnt“. Dies muss bei der Interpretation der Ergebnisse von epidemiologischen Studien berücksichtigt werden, insbesondere von solchen Studien, die den Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Benachteiligung und Mortalität untersuchen. Late-entry-Bias Das neue Erklärungsmodell postuliert, dass sich in Migrantenstudien selbst dann eine niedrige Sterblichkeit finden würde, wenn ein (historisches oder prospektives) Kohortendesign zur Anwendung käme und ab dem Zeitpunkt des Studienbeginns, aber oft erst 10 oder mehr Jahre nach der Einreise, auch Todesfälle im Herkunftsland erfasst werden könnten. Der Grund dafür liegt im Auftreten eines Late-entry-Bias. Wenn eine Rückkehr sozioökonomisch erfolgloser oder kranker Personen in den Jahren zwischen Migration und Studienbeginn nicht erfasst wird, so stellen die zu Studienbeginn im Zielland verbliebenen Migranten eine Vorauswahl besonders erfolgreicher bzw. gesunder Personen dar. Ermittlung des Bedarfs von Interventionen und deren Evaluierung Nach den Voraussagen des neuen Erklärungsmodells ist eine Zunahme der Prävalenz z.B. von KHK-Risikofaktoren unter Migranten möglich, während ihre ursachenspezifische Mortalität noch für begrenzte Zeit zurückgeht. Daher sollte der Bedarf an Interventionen sowie ihr Erfolg nicht mit Hilfe des Ergebnis-Indikators Mortalität ermittelt werden. Stattdessen sollten Prozessindikatoren wie z.B. Teilnahme an präventiven Aktivitäten und Produktindikatoren wie z.B. Rückgang der Raucherquote eingesetzt werden. Die vorhandenen Daten zur Prävalenz von KHK-Risikofaktoren unter türkischen Migranten deuten darauf hin, dass erheblicher Interventionsbedarf besteht, u.a. hinsichtlich des Rauchens.
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Die Kategorie Geschlecht: Theoretische und empirische Implikationen für den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit
Birgit Babitsch
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Einleitung
Seit den 1970er Jahren hat das Thema Geschlecht und Gesundheit erheblich an Bedeutung gewonnen (vgl. u. a. Hunt & Annandale 1999, Annandale & Hunt 2000, Babitsch et al. 2006). Als horizontale Dimension durchzieht die Kategorie Geschlecht sämtliche Lebensbereiche und stellt damit auch für die Gesundheit eine zentrale Kategorie dar. Evident ist, dass zwischen Frauen und Männern erhebliche Unterschiede in der Morbidität bzw. Mortalität sowie in den Entstehungsprozessen von Erkrankungen und in den Krankheitsverläufen bestehen (vgl. u.a. Babitsch et al. 2006). Frauen haben eine um 6 Jahre höhere Lebenserwartung als Männer; jedoch differieren die Genusgruppen in Hinblick auf die in Gesundheit verbrachten Lebensjahre nur geringfügig. Als wesentliche Ursache für die geringere Lebenserwartung der Männer wird die Frühsterblichkeit an verhaltensbedingten Erkrankungen angesehen (Überblick s. z.B. Maschewsky-Schneider 1997, Verbundprojekt 2001, Babitsch et al. 2006). Jedoch lassen sich bei einer Betrachtung der einzelnen Todesursachen bezogen auf das Alter zahlreiche geschlechtsspezifische Unterschiede identifizieren. So überwiegt der Anteil der Männer in der Altersgruppe der 35- bis 64-jährigen, die an ischämischen Herzkrankheiten verstarben (Männer: 14,6%; Frauen: 6,9%); bei den 80-jährigen und Älteren kehrt sich das Verhältnis in eine deutlich höhere Betroffenheit bei den Frauen um. Sich der potentiellen wie faktischen Unterschiedlichkeit von Frauen und Männern bewusst zu sein und diese in der Forschung und Praxis zu berücksichtigen, d. h. die Geschlechterperspektive systematisch einzubeziehen, trägt zur wissenschaftlichen Genauigkeit bei und verbessert die Angemessenheit von Maßnahmen der Gesundheitsförderung bzw. Prävention und der gesundheitlichen Versorgung. Derzeit zeichnet sich jedoch der Forschungsstand in den Gesundheitswissenschaften und der Medizin durch zahlreiche geschlechtsblinde Flecken und ein hohes Maß an Gender Bias, d. h. Verzerrungen nach Geschlecht, aus (Eichler 1998, Bolte 2000, Maschewsky-Schneider & Fuchs 2002, Babitsch 2005). Auch für das Forschungsfeld soziale Ungleichheit und Gesundheit können solche Defizite festgestellt werden, obgleich in den letzten Jahren vermehrt Publikationen mit einem expliziten Fokus auf geschlechterbezogene Fragestellungen veröffentlicht wurden (u. a. Babitsch 1998, 2001, 2005, Macintyre & Hunt 1997, Matthews et al. 1999, McDonough et al. 1999, Mustard & Etches 2003). Als gesichert kann ein sozialer Gradient für Frauen wie für Männer angenommen werden; jedoch bestehen darin erhebliche Differenzen zwischen
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Birgit Babitsch
den Genusgruppen. Eine Erklärung dessen steht noch aus. Derzeit gibt es mehr Fragen als Antworten, u. a. wie lässt sich erklären, dass der soziale Gradient bei bestimmten Erkrankungen bei den Frauen schwächer als bei den Männern ausgeprägt ist, während sich bei anderen Erkrankungen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigen? Haben die beschriebenen Erklärungsfaktoren und die angenommenen Wirkungspfade bei Frauen und Männern die gleiche Gültigkeit? Sind die vorhandenen Erklärungsmodelle für Frauen und Männer in gleicher Weise geeignet, gesundheitliche Ungleichheit zu erklären? Wie sollte die Beschreibung sozialer Ungleichheit vorgenommen werden, um sowohl für Frauen als auch für Männer angemessen zu sein (Babitsch 2005). In diesem Kapitel wird ein systematischer Überblick über die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Analyse gesundheitlicher Ungleichheit gegeben. Orientiert an den oben genannten Fragen werden erste Antworten geliefert, die jedoch an vielen Stellen – aufgrund der noch bestehenden Lücken im Forschungsstand – unvollständig bleiben müssen. Im ersten Abschnitt wird eine kurze theoretische Verortung der Kategorie Geschlecht sowie eine Beschreibung der sozialen Lebenslage von Frauen und Männern vorgenommen. Daran anschließend wird der Forschungsstand zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit unter einer Geschlechterperspektive diskutiert und mögliche Erklärungsansätze für die vorhandenen Geschlechterunterschiede vorgestellt, um daran anschließend auf ein Erklärungsmodell, in welchem Geschlecht systematisch integriert ist, einzugehen. Den Abschluss bildet ein Fazit, in welchem relevante Forschungsbedarfe sowie -fragestellungen benannt werden.
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Die Kategorie Geschlecht: Theoretische Ansatzpunkte
Die Kategorie Geschlecht wird zunehmend als wichtige Kategorie im wissenschaftlichen Diskurs berücksichtigt. Herausgearbeitet wurde, dass das Geschlecht als horizontale Dimension sämtliche Lebensbereiche durchzieht und dass das Geschlechterverhältnis, welches die strukturelle Beziehung zwischen den Geschlechtern beschreibt, die Ausgestaltung der Geschlechterrollen prägt. Hierfür war es wichtig, die Kategorie Geschlecht analytisch in zwei Komponenten – ein biologisches (‚sex’) und ein soziales Geschlecht (‚gender’) – aufzubrechen, was die Voraussetzung lieferte, die mit dem biologischen Geschlecht verbundene Vorstellung von naturgegebenen Unterschieden zwischen Frauen und Männern in Frage zu stellen und im Kontext der gesellschaftlichen Herstellungsmodi zu reflektieren. Biologische und körperliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern werden mit der biologischen Kategorie beschrieben, während das soziale Geschlecht auf Unterschiede in den Geschlechterbildern und -rollen fokussiert. Diese Differenzierung verdeutlicht, dass erstens zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht kein kausaler Zusammenhang besteht, d. h. dass die (soziale) Ungleichheit der Geschlechter nicht durch die biologische Geschlechterdifferenz begründet werden kann (Maihofer 1995). Zweitens determiniert die biologische Geschlechterdifferenz nur begrenzt das tatsächliche Verhalten der Geschlechter. Entsprechend ist das Verständnis typisch weiblicher oder typisch männlicher Praxen sozial geprägt und steht in enger Verbindung mit den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Vorstellung von Geschlecht ist demnach sozial konstruiert und historisch gewachsen (Honegger 1991, Laqueur 1992). Galt es in den Anfängen der Frauenforschung (und gilt in verschiedenen Disziplinen, wie u. a. der Medizin, noch immer) zunächst, die Geschlechterneutralität und den Andro-
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zentrismus der in der Forschung etablierten Ansätze und Begrifflichkeiten deutlich zu machen, stehen heute in der Frauen- und Geschlechterforschung auch die Ansätze der Frauenforschung selbst in der Diskussion. Insbesondere an der Annahme der Zweigeschlechtlichkeit, d.h. zwei Geschlechter – Frauen und Männer – lassen sich eindeutig unterscheiden, und an der Dualität des Geschlechterbegriffs (sex und gender) wurde grundlegende Kritik geäußert. Hiervon gingen/gehen wichtige Impulse für theoretische wie empirische Arbeiten aus, indem zum einen Geschlecht nicht nur als Struktur- sondern auch als Prozesskategorie konzeptualisiert wird, und hierdurch die Herstellungsmodi von Geschlecht, zu verstehen als interaktiver und situationsspezifischer Prozess, in den Mittelpunkt rücken (Gildemeister & Wetterer 1992). Zum anderen wird zunehmend die Heterogenität in den Genusgruppen bedingt durch andere soziale Merkmale, wie sozioökonomischer Status, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Alter in Diversity-Ansätzen betont und deren gleichzeitige Berücksichtigung gefordert. Die in dieser Debatte aufgeworfenen Aspekte und Kritikpunkte bieten gute Ansatzpunkte; sie lassen aber auch Fragen unbeantwortet, wie z.B. deren methodische Umsetzung (Kuhlmann & Babitsch 2000, 2002). Einen guten Ansatz, die geschlechterspezifischen Differenzen, die häufig auch in Benachteiligungen von Frauen münden, herauszuarbeiten und im politischen bzw. im gesellschaftlichen Diskurs zu thematisieren, stellt der Abschlussbericht „Women and Gender Equity“ published by the Commission on Social Determinants of Health (Sen, Östlin & George 2007) vor, indem er Geschlechtergerechtigkeit explizit in den Kontext von human rights stellt. Hieraus resultiert eine andere Perspektive, die die Existenz geschlechterspezifischer Ungleichheiten grundsätzlich als ungerechtes und abzuschaffendes Moment gesellschaftlicher Realität begreift und ausschließlich nach Möglichkeit zur Abschaffung derselben sucht.
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Geschlechtsspezifische Unterschiede in der sozialen Lage: Einige Fakten
Frauen und Männer unterscheiden sich in modernen Gesellschaften in ihrer sozialen und gesundheitlichen Lage, auch wenn Angleichungen zwischen den Genusgruppen zu verzeichnen sind. Am Beispiel einzelner Befunde, die sich für die soziale Lage an den klassischen Dimensionen sozialer Ungleichheit orientieren, werden geschlechtsspezifische Differenzen und Gemeinsamkeiten für Deutschland dargestellt. Dies liefert die Grundlage, die Erscheinungsform gesundheitlicher Ungleichheit und die vorhandenen Erklärungsansätze kontextuell einbetten zu können. Im Mittelpunkt der Beschreibung sozialer Ungleichheit stehen folgende Dimensionen: Schul- und Berufsausbildung, beruflicher Status bzw. berufliches Prestige und das Einkommen (siehe Lampert & Kroll in diesem Band). Bei der Schulbildung in Deutschland hat nicht nur eine Angleichung zwischen den Geschlechtern in Deutschland stattgefunden, sondern junge Frauen haben junge Männer sogar überholt (Statistisches Bundesamt 2004, 2005a, Stürzer 2005). Mit der Bildungsexpansion in den 1960er Jahren nahmen die Anteile der Mädchen an Gymnasien deutlich zu: 1960/61 lag ihr Anteil bei 40% und erhöhte sich auf 54,5% in 2004/05. Der Anteil der Jungen an Gymnasien verringerte sich im gleichen Zeitraum von 60% auf 46%. Zugleich ist im gleichen Zeitraum der Anteil der jungen Männer in den Hauptschulen angestiegen. Diese Entwicklungstrends werden auch bei der Betrachtung der Schulabschlüsse erkennbar und zeigen sich in einem höheren Anteil junger
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Birgit Babitsch
Männer mit keinem Hauptschulabschluss bzw. mit Hauptschulabschluss im Vergleich zu den jungen Frauen (Stürzer 2005). Im Unterschied dazu lassen sich bei der Berufsausbildung ungebrochene geschlechtsspezifische Differenzen erkennen. Hinsichtlich der außeruniversitären Ausbildungswege zeigt sich, dass mehr junge Männer als Frauen Berufsschulen im dualen System besuchen (59,4% zu 40,6%), während bei den Schulen des Gesundheitswesens es genau umgekehrt ist (19,4% zu 80,4%) (Stürzer 2005). Hierin spiegeln sich auch die beruflichen Präferenzen von jungen Frauen und Männern wider, die häufig Ausdruck der in der Gesellschaft vorherrschenden Geschlechterstereotypen sind, aber auch von den Strukturen des Ausbildungsund Stellenmarktes mitbestimmt werden. Junge Frauen konzentrieren sich im Unterschied zu jungen Männern auf wenige Ausbildungsberufe. Im Vordergrund stehen dabei Arzthelferin, Bürokauffrau und Kauffrau im Einzelhandel; bei den jungen Männern: Kraftfahrzeugmechatroniker, Anlagen- und Industriemechaniker (Statistisches Bundesamt 2007). Etwas geringere geschlechtsspezifische Unterschiede finden sich bei der Hochschulausbildung. An erster Stelle steht bei jungen Frauen und Männern die Betriebswirtschaftslehre und an zweiter Stelle bei den Frauen Germanistik gefolgt von den Rechtswissenschaften. Bei den jungen Männern steht an Platz 2 die Informatik und an Platz 3 der Maschinenbau (Statistisches Bundesamt 2004, 2005a, Stürzer 2005). Insgesamt betrachtet kann festgehalten werden, dass Studentinnen in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Studiengängen dominieren, während Studenten in den naturwissenschaftlichen und technischen Studiengängen den größeren prozentualen Anteil stellen. Die Angleichungen in den schulischen und beruflichen Bildungsabschlüssen von Frauen und Männern haben jedoch nur eine begrenzte Entsprechung in der beruflichen Stellung von Frauen. Frauen finden sich häufiger als Männer in den einfachen und schlechter bezahlten Berufssegmenten, während nach wie vor in der oberen beruflichen Hierarchie der Anteil der Männer überwiegt. So liegt der Anteil der Frauen bei den Führungskräften nach Auswertungen des Mikrozensus 2004 bei 33%; noch geringer ist er bei den TopFührungskräften mit nur noch 21% (Statistisches Bundesamt 2005b, siehe auch Dressel 2005). Bei einer Betrachtung verschiedener erwerbsbezogener Faktoren wie u. a. Teilzeitarbeit, Anteil in niedrigen beruflichen Positionen, dem Umfang von Abwärtsmobilität, d. h. denjenigen, die in Berufen arbeiten, die unter ihrer beruflichen Qualifizierung liegen, wird deutlich, dass sich überall eine Schlechterstellung von Frauen findet, die zusammenfassend Facetten geschlechtsbezogener Ungleichheit beschreiben. Diese Aspekte fließen jedoch bis heute unzureichend in die Beschreibung sozialer Ungleichheitslagen ein. Auch hinsichtlich des Erwerbseinkommens lässt sich eine hohe Konstanz der Effekte bestehender Geschlechterungleichheit feststellen. Nach den Daten von Eurostat lagen in 2006 die Entgelte von Frauen im Mittel 15% unter den Einkünften der Männer. Die Anteile schwanken zwischen 3% (Malta) und 25% (Estland) (BMFSFJ 2008). Deutschland liegt auf dem drittletzten Platz gemeinsam mit der Slowakei. Hier liegt das Erwerbseinkommen der Frauen bei ähnlicher Arbeitszeit 22% unter dem Einkommen der Männer. Gründe hierfür liegen in der nach Geschlecht unterschiedlichen Verteilung der reproduktiven Aufgaben, dem nach Geschlecht segregierten Erwerbsarbeitsmarkt sowie den geringeren „Erlösen“ aus der erworbenen Qualifizierung von Frauen im Vergleich zu Männern („economic return“). „Die ungleiche Beteiligung von Frauen und Männern am Erwerbsleben und die für Frauen ungünstigen Einkommensrelationen erzeugen ein Wohlstandsgefälle zwischen Frauen und Männern. […] Frauen besitzen allerdings nur etwa 70 Prozent der Vermögens-
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summen, über die Männer im Schnitt verfügen.“ (Cornelißen et al. 2005: 220) In Deutschland leben unter der Armutsgrenze 16% der Frauen und 11% der Männer (Lampert et al. 2005). Ein deutlich höheres Risiko besteht in Ostdeutschland mit einem prozentualen Anteil von 21% bei den Frauen und 17% bei den Männern. Zudem leben Frauen häufiger als Männer in dauerhafter Armut (7,5% vs. 10,9%) und beziehen im erwerbsfähigen Alter häufiger Sozialhilfe (3,7% vs. 2,5%) (Cornelißen et al. 2005). Ein besonders hoher Anteil von Armut Betroffener findet sich in der Gruppe der Alleinerziehenden: Ihr Anteil lag unter den Sozialhilfeempfängern bei 35%, der bei den Frauen mit 26,3% aufgrund der Geschlechterverteilung wesentlich höher als bei den Männern mit 6,1% ist. Jedoch sind die Risiken zu verarmen, nicht zwangsweise an das biologische Geschlecht gebunden, sondern Ausdruck des sozialen Geschlechts und demnach der in der Gesellschaft unterschiedlich verteilten Aufgaben. Insbesondere stellen das Mutter-Sein und die Zuständigkeit für Kinder einen wichtigen Risikofaktor für Armut von Frauen dar (Cornelißen et al. 2005). Als eine Hauptursache für Armut wird die Erwerbslosigkeit betrachtet. Der Anteil der Erwerbslosen in Deutschland lag 2007 bei 10,1% (BMAS 2008). Er war bei den Männern mit 9,8% (West: 8,1%; Ost: 16,7%) etwas niedriger als bei den Frauen mit 10,4% (West: 8,7%; Ost: 16,8%). Der Anteil der Langzeiterwerbslosen an den Erwerbslosen insgesamt liegt bei 41,7%. Frauen waren mit 43,5% etwas häufiger betroffen als Männer mit 40,4%. Zudem bedingt die schlechtere soziale Absicherung von Frauen eine höhere Armutsquote im Falle der Erwerbslosigkeit. 4
Gesundheitliche Ungleichheit: Welche Rolle spielt Geschlecht?
Die vorhandenen Forschungsergebnisse belegen sozioökonomische Unterschiede in der Morbidität und Mortalität von Frauen und Männern. Allerdings weisen die Befunde zum Teil erhebliche geschlechtsspezifische Differenzen auf, insbesondere sind die Ergebnisse bei den Frauen weniger konsistent und zeigen ein vielschichtigeres Bild als die Ergebnisse bei den Männern. Bei einem systematischen Überblick wird deutlich, dass der soziale Gradient bei den Frauen schwächer, gleich stark oder sogar stärker als bei den Männern ausgeprägt ist (Macintyre & Hunt 1997, Matthews et al. 1999, Feinleib & Ingster 1999, Mustard & Etches 2003, Babitsch 2005). Eine Erklärung dessen kann derzeit nicht abschließend vorgenommen werden, da sich diese Unterschiede auch bei ähnlichen sozioökonomischen und gesundheitsbezogenen Indikatoren zeigen. Jedoch sind verschiedene Erklärungsfaktoren inzwischen beschrieben worden, auf die im Abschnitt 4.3 eingegangen wird.
4.1
Mortalität
Die Mehrzahl der Studien deutet auf größere sozial bedingte Unterschiede in der Mortalität bei Männern im Vergleich zu den Frauen hin; dennoch liegen auch Studienergebnisse vor, die einen stärkeren sozialen Gradienten bei Frauen aufzeigen konnten (Babitsch 2005; siehe auch Babitsch et al. in diesem Band). Koskinen und Martelin (1994) fanden einen stärkeren sozialen Gradienten bei Männern im Vergleich zu Frauen für die Gesamtmortalität unabhängig vom Indikator sozialer Ungleichheit. Die größten geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigten sich bei dem Berufsstatus: Die Mortalität der Männer mit einem niedrigen Berufsstatus („blue collar worker“) war um 87% höher als bei den Männern mit einem
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Birgit Babitsch
hohen Berufsstatus („upper white collar workern“); bei den Frauen betrug der Unterschied nur 33%. Auch Martikainen et al. (2001) fanden größere sozial bedingte Unterschiede in der Lebenserwartung bei den Männern. Verglichen wurde die Lebenserwartung von 35jährigen Männern und Frauen mit manuellem und nicht-manuellem Berufsstatus. Die Lebenserwartung der Männer mit einem nicht-manuellen Berufsstatus lag um 4,4 Jahre höher als in der Gruppe mit manuellem Berufsstatus. Bei den Frauen betrug der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen diesen beiden Gruppen 1,9 Jahren. Zugleich zeigten die AutorInnen auf, dass die Geschlechterdifferenz in der Lebenserwartung zwischen dem manuellen Berufsstatus mit 7,6 Jahren größer als mit einem nicht-manuellen Berufsstatus mit 5,3 Jahren war. Auch Reil-Held (2000) fand in der Lebenserwartung größere einkommensbezogene Unterschiede für Männer als für Frauen. Um 10 Jahre ist die Lebenserwartung bei Männern im untersten im Vergleich zum obersten Einkommensquartil reduziert – bei den Frauen beträgt der Unterschied 5 Jahre. Geringe geschlechtsspezifische Unterschiede im sozialen Gradienten der Mortalität fanden demgegenüber Lampert et al. (2007). Demgegenüber weisen die Ergebnisse von Chenet (2000) auf größere bildungsbezogene Unterschiede für einzelne Todesursachen bei Frauen im Vergleich zu Männern hin. Frauen mit niedriger Bildung hatten in der Stadt Moskau (1993-1995) ein 4-fach erhöhtes Risiko an kardiovaskulären Erkrankungen zu versterben; bei den Männern war es um das 1,9-fache erhöht. Auch Klein (1996) zeigte in seiner Analyse größere bildungsbezogene Unterschiede bei Frauen im Vergleich zu Männern auf. Ab dem 16. Lebensjahr reduzierte sich die Lebenserwartung von Männern und Frauen ohne Abitur im Vergleich zu Abiturienten/-innen um 3,3 Jahre bzw. um 3,9 Jahre. Auf einen geringen Einfluss des Geschlechts auf die sozial bedingten Unterschiede in der Mortalität deuten die Studien von McDonough et al. (1999) sowie Sacker et al. (2000) hin. Für Frauen wie Männer geht mit jedem zusätzlichen Bildungsjahr eine Verringerung der Gesamtmortalitätsrate um 3% einher (McDonough et al. 1999). Bei ihrer Auswertung verglichen Sacker et al. (2000) zwei verschiedene Indikatoren sozialer Ungleichheit („ONS socioeconomic classification“: bezieht sich auf die Erwerbsarbeit und differenziert zwischen sieben und 13 Berufsklassen, die auf der Basis verschiedener Faktoren, wie u. a. Gestaltungsmöglichkeiten, Arbeitsplatzsicherheit, gebildet werden; „Cambridge Scale“ bezieht sich nur indirekt auf die Erwerbsarbeit und ordnet die genannten Berufe (engste drei Freunde/innen und Partner/in) nach der genannten Häufigkeit auf einer Skala und ist damit ein Ausdruck der Hierarchie sozialer Beziehungen (Sacker et al. 2000)). Beide Indikatoren eigneten sich zur Beschreibung sozial bedingter Unterschiede bei den Männern, nicht aber bei den Frauen, wo sich nur für die „Cambridge Scale“ ein sozialer Gradient abbilden ließ. Das Mortalitätsrisiko war im Vergleich zwischen der niedrigsten und der höchsten Klasse der „Cambridge Scale“, um das 1,8-fache bei den Frauen erhöht – ein ähnlicher Unterschied bestand bei den Männern für die „ONS socioeconomic classification“. 4.2
Morbidität
Auch für die Morbidität lässt sich ein uneinheitliches Bild hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Unterschiede im sozialen Gradienten erkennen. Rahkonen et al. (2000) stellten größere einkommensbezogene Unterschiede in der subjektiven Einschätzung des Gesundheitszustandes bei Männern im Vergleich zu Frauen fest. Gleichzeitig wurden mit den Ergebnissen auch Unterschiede innerhalb der Genusgruppen deutlich. Das Risiko für einen
Geschlecht und gesundheitliche Ungleichheit
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schlechten Gesundheitszustand war in der untersten im Vergleich zur höchsten Einkommensgruppe bei allen Männern (Finnen und Briten) um das 4-fache, bei den finnischen Frauen um das 3,5-fache und bei den britischen Frauen um das 1,6fache höher. Auch die Studienergebnisse von Borell et al. (2004) und Drever et al. (2004) zeigten ebenfalls stärkere soziale Gradienten bei den Männern als bei den Frauen. Im Vergleich mit dem höchsten Berufsstatus „managers and supervisior experts“ bestand für alle anderen Gruppen eine negativere Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes für die Männer (Borell et al. 2004). Dies war besonders stark für die „workers unskilled“ mit einem Odds Ratio von 7,69 und die „unskilled supervisors“ mit einem Odds Ratio von 6,74 ausgeprägt. Deutlich niedrigere Odds Ratios fanden sich für die Frauen, bei denen sich auch für die „unskilled workers“ mit 3,25 und die „unskilled supervisors“ mit 2,76 die höchsten Werte zeigten. Drever et al. (2004) untersuchten den Zusammenhang zwischen der sozialen Klasse und der selbsteingeschätzten Gesundheit. Im Vergleich zwischen der höchsten und der niedrigsten sozialen Klasse fand sich ein Rate Ratio für eine negative Einschätzung des Gesundheitszustandes bei den Männern von 2,7 und bei den Frauen von 2,2. Des Weiteren besteht bei den Frauen im Unterschied zu den Männern kein eindeutig monoton ansteigender sozialer Gradient – ein Befund, der sich auch in anderen Studien (vgl. u.a. Arber 1997, Rahkonen et al. 2000, Babitsch 2005) wieder findet. In der Analyse von Lahelma et al. (2004) zeigte sich für die Bildung und den Berufsstatus ein stärkerer sozialer Gradient bei den Männern – nicht jedoch für Haushaltseinkommen, wo ein stärkerer sozialer Gradient bei den Frauen bestand. Dieser Befund wurde für lang andauernde Erkrankungen berichtet. Dagegen wurden für den Zusammenhang zwischen dem Haushaltseinkommen und der selbsteingeschätzten Gesundheit keine geschlechtsspezifischen Differenzen im Einfluss sozialer Ungleichheit erkennbar. Auf geringfügige geschlechtsspezifische Unterschiede im sozialen Gradienten deuten ebenfalls die Ergebnisse von Graham (2000) hin. Hinweise auf einen stärkeren sozialen Gradienten bei den Frauen liefern die Studienergebnisse von Schrijvers et al. (1998). Ein 3,3-fach erhöhtes Risiko für einen schlechten Gesundheitszustand hatten Frauen mit dem niedrigsten im Vergleich zum höchsten Berufsstatus – bei den Männern war dagegen das Risiko um das 2,9-fache erhöht. Knesebeck et al. (2006) fand ebenfalls bei der Analyse von bildungsbedingten Unterschieden in der selbsteingeschätzten Gesundheit in 22 europäischen Ländern größere Unterschiede bei den Frauen im Vergleich zu den Männern. Dagegen sind die Befunde einer anderen europäischen Studie (Kunst et al. 2005) in Hinblick auf die Geschlechterdifferenz im sozialen Gradienten uneinheitlich. Ein eindeutig negativer Zusammenhang besteht zwischen Armut und Gesundheit. 27,2% der Frauen und 21,2% der Männer in der Armutsrisikogruppe beurteilen im Vergleich zu 18,4% der Frauen und 11,3% der Männer in der einkommensstärksten Gruppe ihren Gesundheitszustand als weniger gut bzw. schlecht (Lampert et al. 2005). Auch erwerbslose Frauen und Männer haben im Vergleich zu Erwerbstätigen einen schlechteren Gesundheitszustand, wobei ein enger Zusammenhang zwischen der Dauer der Erwerbslosigkeit und dem Grad der gesundheitlichen Belastung besteht (Bammann & Helmert 2000). Erwerbslose beurteilen ihre eigene Gesundheit deutlich schlechter als die Berufstätigen. Dies korrespondiert mit einer höheren Belastung durch Beschwerden und Erkrankungen wie die Analysen der Daten des telefonischen Bundes-Gesundheitssurveys 2003 zeigten. Bei den langzeiterwerbslosen Männern im Vergleich zu den erwerbstätigen Männern fanden sich die höchsten Odds Ratios (OR) für chronische Bronchitis (OR=3,41), Depression
290
Birgit Babitsch
(OR= 3,36) und Arthrose (OR= 2,14); bei den langzeiterwerbslosen Frauen für Depression (OR= 2,74), Hypertonie (OR= 2,16) und für Herzrhythmusstörungen (OR= 2,14) (BMGS 2005).
4.3
Erklärungsfaktoren für geschlechtsspezifische Differenzen im sozialen Gradienten
Verschiedene Erklärungsstränge für die geschlechtsspezifischen Differenzen im sozialen Gradienten wurden inzwischen formuliert. Nach Matthews et al. (1999: 50f) lassen sich folgende Aspekte differenzieren: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Wahl des Indikators sozialer Ungleichheit Einfluss anderer Faktoren der sozialen Lebenslage Geschlechtsspezifische Unterschiede in den Belastungen, Risiken und Ressourcen Unterschiedliche Auswirkung sozialer Ungleichheit auf die Gesundheit von Frauen und Männern Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Mortalität und Morbidität Zeitliche Trends.
Für alle genannten Erklärungsfaktoren konnten in verschiedenen Studien Belege erbracht werden, die im Folgenden exemplarisch dargestellt werden. Die Verwendung unterschiedlicher Indikatoren sozialer Ungleichheit hat, wie in den vorangegangenen Abschnitten dargestellt, einen Einfluss auf den Umfang gesundheitlicher Ungleichheit und den darin dargestellten geschlechtsspezifischen Unterschieden. In verschiedenen Studien wurde dies explizit überprüft (vgl. u.a. Arber 1989, 1997, Koskinen & Martelin 1994, Sacker et al. 2000, Babitsch, 2000, 2005, Mustard & Etches 2003, Lahelma et al. 2004). So zeigten die Ergebnisse von Sacker et al. (2000) für die Mortalität, dass die „ONS socioeconomic classification“ nur bei den Männern einen linearen Gradienten abbildet, nicht aber bei den Frauen. Die „Cambridge scale“ ist dagegen bei Frauen wie bei Männern geeignet, gesundheitliche Ungleichheit darzustellen. Die AutorInnen erklären diese Unterschiede so, dass „[…] the social basis for health inequalities still seems to differ according to sex“ (Sacker et al. 2000: 1306) und schlussfolgern, dass die auf die Erwerbsarbeit bezogenen Maße sozialer Ungleichheit das Ausmaß gesundheitlicher Ungleichheit von Frauen unterschätzen. Auf die Bedeutung des jeweils verwendeten Indikators sozialer Ungleichheit deuten auch die Analysen von Mustard und Etches (2003), Huismann et al. (2005) und Rognerud und Zahl (2005) hin. Arber (1997) kommt bei einem Vergleich verschiedener Indikatoren sozialer Ungleichheit zu dem Ergebnis, dass gesundheitliche Ungleichheit bei den Männern eindeutiger über die berufsbezogene soziale Klasse und bei den Frauen über die Bildung zu erfassen ist. Auch die Analysen von Babitsch (2000, 2005) belegen für Deutschland den Einfluss des jeweils betrachteten Indikators sozialer Ungleichheit auf den sozialen Gradienten und die darin bestehenden Geschlechterunterschiede. Bei der Analyse der Daten des BundesGesundheitssurvey 1998 wurden verschiedene Indikatoren sozialer Ungleichheit verwendet und der Zusammenhang zur selbsteingeschätzten Gesundheit analysiert (Babitsch 2005). Im Vergleich zwischen der höchsten und der jeweils niedrigsten Stufe des jeweiligen Indikators sozialer Ungleichheit finden sich größere soziale Unterschiede bei den Männern für die
Geschlecht und gesundheitliche Ungleichheit
291
Schulbildung und das Einkommen, nicht jedoch für die berufliche Stellung, wo sich ein größerer sozialer Unterschied bei den Frauen zeigt. Geringe geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen dagegen bei der Berufsausbildung. Der Einfluss der Operationalisierung sozialer Ungleichheit auf den sozialen Gradienten sowie die darin bestehenden Geschlechterunterschiede wurde zudem durch einen Vergleich von vier verschiedenen Modellvarianten des Sozialschichtindex deutlich. Hierbei ging neben der Schul- und Berufsausbildung und dem monatlichen Haushaltseinkommen, die berufliche Stellung (eigene oder die des/r Partners/in) in unterschiedlicher Weise ein (siehe ausführlich Babitsch 2005). Die Odds Ratios für einen schlechten Gesundheitszustand variieren zwischen den Modellen und differieren auch erheblich zwischen den Genusgruppen. Frauen hatten in drei Modellvarianten ein Odds Ratio von über 3 – nur in der vierten Modellvariante (die eigene berufliche Stellung wird nur berücksichtigt, wenn eine aktuelle Erwerbstätigkeit vorliegt) lag das Odds Ratio bei 2,46. Bei den Männern ließen sich deutlich geringe Differenzen zwischen den Modellen erkennen (Odds Ratio von 2,79 und 3,08). Interessanterweise verändert sich auch in den verschiedenen Modellvarianten das Geschlechterverhältnis in der Stärke des sozialen Gradienten: Besteht in den Modellannahmen 1 bis 3 ein stärkerer sozialer Gradient bei den Frauen, so kehrt sich dies in der vierten Modellannahme um und weist auf einen stärkeren Zusammenhang bei den Männern hin. Auch hinsichtlich des Verlaufs des Gradienten sind in dieser Untersuchung – wie auch in anderen Studien (vgl. z. B. Arber 1989) – geschlechtsspezifische Unterschiede erkennbar. Während sich bei den Männern ein eher kontinuierlicher Anstieg des Risikos von der oberen zur unteren Sozialschicht abzeichnet, stellt sich der Verlauf bei den Frauen eher als starker Risikoanstieg von der Mittel- hin zur Unterschicht dar (Babitsch 2005). Die Frage, welcher Indikator sozialer Ungleichheit zur Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit für Frauen und Männer angemessen ist, die auch Gegenstand intensiver Debatten war, konnte bis dato noch nicht abschließend beantwortet werden. Die Analysen haben jedoch gezeigt, dass mit der Operationalisierung sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft vorhandene geschlechtsspezifische Unterschiede abgebildet bzw. nivelliert werden können, je nachdem ob ein individueller bzw. ein haushaltsbezogener Ansatz gewählt wird. Die Berücksichtigung der eigenen beruflichen Stellung bspw. im Schichtindex trägt dazu bei, dass geschlechtsspezifische Unterschiede „erhalten“ werden, während zum Beispiel die Verwendung der höchsten beruflichen Stellung im Haushalt zur Angleichung von Geschlechterdifferenzen beiträgt (Babitsch 2005). Als wichtige Erklärungsfaktoren für die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der gesundheitlichen Ungleichheit haben sich auch andere soziale und soziodemographische Faktoren erwiesen. In ihrer Wirkungsweise beeinflussen sie zum einen unmittelbar die sozioökonomische Lage und differieren in diesen zudem erheblich. Zum anderen haben sie einen eigenständigen Einfluss auf die Gesundheit. So ist die Frage des Sozialstatus eng mit dem Erwerbsstatus und auch mit dem Familienstatus verknüpft. Koskinen und Martelin (1994) stellten zum Beispiel Differenzen im Familienstand zwischen den einzelnen Bildungsgruppen fest: In der Gruppe der Hochgebildeten waren 11% der Männer, und 33% der Frauen nicht verheiratet. In der Gruppe mit geringerer Bildung bestanden dagegen kaum geschlechtsspezifische Unterschiede. Diese Differenzen beeinflussen auch den sozialen Gradienten in der Mortalität. Der stärkere soziale Gradient bei den Männern besteht nach einer Differenzierung nur noch für die verheirateten Männer. Bei den Singles und den Geschiedenen bzw. Verwitweten ist der soziale Gradient für Frauen und Männer vergleich-
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Birgit Babitsch
bar. Auch Arber (1989) konnte Unterschiede im sozialen Gradienten nach dem Familienstand bei Frauen und Männern herausarbeiten. Geschlechtsspezifische Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen und Ressourcen sind evident (Babitsch et al. 2006). Nur wenige Studien haben bislang den Einfluss dieser auf den sozialen Gradienten getrennt für Frauen und Männer untersucht. Schrijvers et al. (1998) fanden in ihrer Studie nur geringe geschlechtsspezifische Unterschiede sowohl in den Arbeitsbedingungen („hazardous physical conditions“, „job demands“) als auch in deren Bedeutung für den sozialen Gradienten (siehe auch Peter in diesem Band). Allerdings scheint bei den Männern die Kontrolle der Arbeitsbedingungen einen größeren Einfluss auf den Zusammenhang zwischen sozialer Klasse und der Einschätzung des Gesundheitszustandes zu haben. Den Einfluss von „job control“ und „job demand“ auf den Zusammenhang zwischen sozialer Klasse und der subjektiven Gesundheit untersuchten Rahkonen et al. (2005). Bei einer gleichzeitigen Berücksichtigung der sozialen Klasse und des „job strain“ erhöhten sich die Odds Ratios (OR) bei den Männern um 43% und bei den Frauen um 33% (OR= 3,03 vs. OR= 2,62). Wurde in das Modell auch „job demand“ aufgenommen, verringerten sich die Odds Ratio um 25% bei den Männern und um 33% bei den Frauen (OR= 2,06 vs. OR= 1,82). Eher geringe geschlechtsspezifische Unterschiede zeigten sich auch in der Studie von Matthews et al. (1999) hinsichtlich verschiedener Aspekte des Gesundheitsverhaltens, der familiären Struktur und der sozialen Unterstützung, der Arbeitsbedingungen und ihrem Einfluss auf den sozialen Gradienten. Die hieraus ermittelte Rangfolge der Einflussfaktoren stimmt bei Frauen und Männern weitgehend überein. Jedoch leisten die familienbezogenen Variablen bei den Frauen und die erwerbsarbeitsbezogenen Variablen bei den Männern einen größeren Erklärungsbeitrag für den sozialen Gradienten. Als weiterer Erklärungsansatz wird eine differierende Wirkung gleicher sozialer Faktoren formuliert. Hierbei wird von einer unterschiedlichen Vulnerabilität von Frauen und Männern bedingt durch biologische und/oder kulturelle Unterschiede ausgegangen. Damit können ähnliche soziale Lebensbedingungen aufgrund geschlechtsspezifischer Unterschiede im Zugang zu materiellen, sozialen und psychologischen Ressourcen eine andere Bedeutung für Frauen und Männer erhalten. Empirische Hinweise darauf gibt die Sekundäranalyse der Daten des Dritten Nationalen Gesundheitssurveys von Richter und Mielck (2000) wie auch der Daten des Bundes-Gesundheitssurveys 1998 (Babitsch 2005). Die erstgenannte Studie konnte die unterschiedliche Bedeutung verschiedener Einflussfaktoren (strukturell, verhaltensbezogen, strukturell und verhaltensbezogen) für verschiedene Gesundheitsindikatoren für Frauen und Männer aufzeigen. Nicht nur ist bei allen Modellen die durch die ausgewählten Faktoren nicht erklärte Varianz bei den Frauen größer als bei den Männern, sondern auch die Bedeutsamkeit der o. g. Faktorengruppen verschieden. Auch hinsichtlich der Bedeutsamkeit der ausgewählten Erklärungsfaktoren ließen sich in der Analyse von Babitsch (2005) geschlechtsspezifische Differenzen erkennen; jedoch hinsichtlich des Erklärungsbeitrages der nach Makro-, Meso-, und Mikroebene gebündelten Einflussfaktoren stimmten die Ergebnisse für Frauen und Männer weitgehend überein. Des Weiteren konnte Möller-Leimkühler (1999) aufzeigen, dass eine höhere Belastung durch negative Lebensereignisse in den unteren sozialen Schichten vorhanden ist, die zwischen den Genusgruppen allerdings differiert. Bei Frauen scheint eine höhere Vulnerabilität für negative Ereignisse in ihrem sozialen Umfeld und bei Männern bei finanziellen und berufsbezogenen Ereignissen zu bestehen.
Geschlecht und gesundheitliche Ungleichheit
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Für die geschlechtsspezifischen Unterschiede im sozialen Gradienten werden auch die Differenzen in der Morbidität und Mortalität nach Geschlecht als Erklärungsansatz berücksichtigt. Hinweise darauf gibt die Studie von Koskinen und Martelin (1994). Bei der Analyse einzelner Todesursachen konnten sie feststellen, dass der stärkere soziale Gradient in der Gesamtmortalität bei den Männern sich nicht durchgängig bei den einzelnen Todesursachen wieder findet. Als mögliche Erklärung führen die AutorInnen drei Punkte an: Erstens, die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Todesursachen und sozialer Ungleichheit sind unterschiedlich; zweitens, die Todesursachen bei Frauen und Männern treten unterschiedlich häufig auf; und drittens, unterscheiden sich die Häufigkeiten der Todesursachen, die einen starken sozialen Gradienten aufweisen zwischen den Genusgruppen. Die Studie von Leclerc et al. (2006) belegt diese Annahme, da ihre Ergebnisse ebenfalls auf unterschiedliche soziale Gradienten und zeitliche Trends für einzelne Todesursachen von Frauen und Männern hinweisen (für die Morbidität siehe z. B. Knesebeck et al. 2006). Diese Erklärungsansätze, ebenso wie die berichteten empirischen Ergebnisse, machen deutlich wie komplex der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit, Geschlecht und Gesundheit ist. Wenngleich für alle der oben genannten Erklärungsansätze empirische Belege gefunden werden können, steht eine abschließende Bewertung der einzelnen Erklärungsstränge hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Gesamtzusammenhang noch aus.
5
Erklärungsmodell
Verschiedene Erklärungsfaktoren, wie materielle Bedingungen, kulturelle und verhaltensbedingte Faktoren, psychosoziale Faktoren, Lebensereignisse, medizinische Versorgung und Einflüsse aus der frühen Kindheit bzw. aus dem sozialen Lebensumfeld konnten inzwischen zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit exploriert und überwiegend wissenschaftlich abgesichert werden (siehe die Beiträge in Kapitel 3 dieses Bandes). Ihr Erklärungsbeitrag zur Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit ist allerdings unterschiedlich und auch zwischen Frauen und Männern verschieden. Inzwischen wurden diverse Erklärungsmodelle entwickelt, die viele der oben genannten Einflussfaktoren berücksichtigen. Jedoch werden horizontale Ungleichheitsstrukturen, wie u. a. Alter, Geschlecht, Nationalität, deren Einfluss sowohl auf die soziale als auch auf die gesundheitliche Lage und auf die gesundheitliche Ungleichheit belegt ist, meist nicht systematisch integriert. Die wenigen vorliegenden Ansätze machen deutlich, was eine systematische Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht bedeutet, da sowohl bei den einzelnen Einflussfaktoren als auch bei der Interaktion zwischen den Einflussfaktoren und möglichen Wirkungspfaden Unterschiede zwischen den Genusgruppen zum Tragen kommen können (Arber 1997, Robert 1999, Sperlich & Mielck 2000, Babitsch 2005). Neben den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der sozialen Lebenslage und den daraus resultierenden Belastungen und Ressourcen sollten auch gesellschaftliche Normen und ihr Einfluss auf das Geschlechterverhältnis berücksichtigt werden.
294
Birgit Babitsch
Abb. 16.1: Geschlechtsdifferenziertes Modell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit
Soziale Ungleichheit
Gesellschaftliche Normen und Werte
Individuell
Belastungen
G E S C H L E C H T
Gesellschaftlich
Ressourcen
Soziale Lebenssit. (Arbeit, Familie)
Soziale Lebenssit. (Arbeit, Familie)
Personale Ressourcen
Gesundheitsverhalten
Kognitionen, Kontrollüberzeugungen, Risikowahrnehmung
Protektiv- und Risikofaktoren für die Gesundheit
Aspekte der sozialen Lebenslage
Systemische Ressourcen
Psychosoziale Ressourcen
Zugang zum und Versorgung durch das Gesundheitssystem
Inanspruchnahme med. Versorgung Inanspruchnahme
Erfahrung mit Versorgung
M A K R O
M E S O
Indiv. Umgang mit Gesundheit und Krankheit Wahrnehmung, Health Bewertung und reporting Bewältigung behavior
Organismus
Gesundheitliche Lage
(physiologische Prozesse, genetische Dispositionen)
(Gesundheitszustand, Krankheiten, Todesursachen)
M I K R O
Quelle: Babitsch (2005)
In Abbildung 16.1 ist ein geschlechtsdifferenziertes Modell zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit (Babitsch 2005) dargestellt, welches die oben angeführten Anforderungen umsetzt. Aufbauend auf den vorliegenden theoretischen Erklärungsmodellen, insbesondere den Arbeiten von Elkeles und Mielck (1997) sowie Steinkamp (1999), wird in diesem Mo-
Geschlecht und gesundheitliche Ungleichheit
295
dell ebenso von einer hierarchischen Wirkungskette auf drei Wirkungsebenen, der Makro-, der Meso- und der Mikroebene, ausgegangen. Hierdurch wird die klare Zuordnung der einzelnen Faktoren möglich. Geschlecht wirkt auf jeden einzelnen Einflussfaktor sowie auf die Interaktionen in den jeweiligen sowie zwischen den Ebenen ein. Für eine ausführliche Beschreibung des Modells ist auf die Publikation von Babitsch (2005) verwiesen. Die empirische Absicherung des Modells steht allerdings noch aus.
6
Fazit
Die Ausführungen haben den Einfluss von Geschlecht auf die soziale und gesundheitliche Lage sowie auf den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit verdeutlicht. Als horizontale Dimension formt die Kategorie die gesellschaftlichen Strukturen bzw. das individuelle Leben und repliziert somit das in der Gesellschaft vorherrschende Geschlechterverhältnis. Insbesondere die Darstellung zur sozialen Lage von Frauen und Männern in Deutschland demonstrieren die Konstanz vorhandener Geschlechterunterschiede – auch wenn Angleichungen zu verzeichnen sind. Damit ist eng die Frage nach einer für beide Geschlechter angemessenen Operationalisierung sozialer Ungleichheit verbunden. Wesentliches Kennzeichen der Messung sozialer Ungleichheit ist nach wie vor ihre Orientierung an der Erwerbsarbeit sowie bei den aggregierten Schichtindices die Annahme einer Statuskonsistenz (siehe auch Lampert & Kroll in diesem Band). Beide Perspektiven fußen auf der Vorstellung männlicher Erwerbsbiographien, und ihre Übertragbarkeit auf die Lebenssituation von Frauen sowie auf gegenwärtige Gesellschaftsstrukturen ist zu hinterfragen sowie ihre Auswirkungen auf die Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund sollten bei der Verwendung der Indikatoren sozialer Ungleichheit, die Differenzen zwischen Frauen und Männern in der Verteilung sowie in ihrer Bedeutung für die jeweilige soziale Lage geprüft und ihre Angemessenheit kritisch betrachtet werden. Bislang findet sich dieser kritische Umgang mit den Indikatoren sozialer Ungleichheit sowie eine systematische Integration geschlechtsspezifischer Ansätze nur selten in den Publikationen zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit, wie eine Analyse der Geschlechterangemessenheit in diesem Forschungsgebiet gezeigt hat (Babitsch 2005). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass zwar eine verstärkte Aufmerksamkeit für Geschlechterdifferenzen in der Literatur zu gesundheitlicher Ungleichheit festzustellen ist, die Konzeptualisierung von Geschlecht jedoch eher im Sinne einer biologischen Differenzierung erfolgt. Damit bestehen bis dato erhebliche Defizite in der Einbindung des sozialen Geschlechts in diesem Forschungsbereich. Auch hier stellt die Beschreibung sozialer Ungleichheit von Frauen und Männern einen wesentlichen Aspekt dar. Diesbezüglich sollten nicht nur die nach wie vor vorhandenen quantitativen Unterschiede in der sozialen Lebenssituation von Frauen und Männern berücksichtigt, sondern vor allem ihre qualitative Bedeutung für die soziale wie gesundheitliche Ungleichheit reflektiert werden. Damit steht im Vordergrund, zu hinterfragen, ob gleiche Schul- und Berufsausbildungsabschlüsse oder ein ähnlich hohes Haushaltseinkommen das Gleiche für Frauen und Männer bedeuten. Auch sollte auf die Kumulation von sozialer Benachteiligung wie sie bei einzelnen, besonders vulnerablen Gruppen zu finden sind, ein besonderes Augenmerk gelegt werden.
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Birgit Babitsch
Eine systematische Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht in der Forschung zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit macht sicherlich die Bearbeitung dieses Forschungsfeldes ungleich komplexer. Die Anstrengung lohnt sich jedoch, da als Belohnung nicht nur eine genauere Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit ermöglicht, sondern hierdurch auch das Verständnis der zugrunde liegenden Wirkungspfade eröffnet wird. Insbesondere sollte der Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit unter Einbeziehung der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der zukünftigen Forschung eine hohe Priorität eingeräumt werden. Dies stellt die Basis dar, geschlechterangemessene Maßnahmen zu entwickeln, die zu einer gezielten Veränderung von Belastungen wie auch zu einer Förderung von Ressourcen beitragen können.
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Geschlecht und gesundheitliche Ungleichheit
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Geschlecht und gesundheitliche Ungleichheit
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17
Vulnerable Gruppen: „Verwundbarkeit“ als politiksensibilisierende Metapher in der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit
Waldemar Streich
„Man kann einen Menschen mit einer Axt erschlagen, aber man kann ihn auch mit einer Wohnung erschlagen.” (Heinrich Zille) 1
Einleitung
Die gesundheitliche Bedeutung von Unterschieden in den materiellen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen einer Bevölkerung ist mit einem „mountain of evidence“ als Ergebnis unzähliger sozialepidemiologischer Studien belegt worden. Vor diesem Hintergrund konnten sich englische, amerikanische, niederländische und skandinavische Sozialund Gesundheitsforscher in den 1990er Jahren der Frage zuwenden, wie den gesundheitlichen Auswirkungen sozialer Ungleichheit möglichst wirksam zu begegnen ist (Whitehead & Dahlgren 1991, Benzeval et al. 1995, Gepkens & Gunning-Schepers 1998, Syme 1998). Die Suche nach effizienten Maßnahmen hat grundsätzliche Fragen nach dem Wirkungszusammenhang von sozialer Lage und Gesundheit aufgeworfen. Wilkinson löste 1996 mit seiner bahnbrechenden Veröffentlichung „Unhealthy Societies“ eine Debatte darüber aus, inwieweit eine ausgeprägte sozioökonomische Ungleichheit in der Gesellschaft die gesamte Bevölkerung gesundheitlich beeinträchtigt, indem sie weit über die materiellen Lebensbedingungen hinausgehende, psychosoziale Folgen hat. Ihm wurde unter anderem mit Hinweis auf die Verschärfung der sozialen Gegensätze in England („The widening gap“) entgegen gehalten, dass die materielle Armut auch in den entwickelten Ländern Nordamerikas und Westeuropas wieder ein ernstes Gesundheitsproblem darstellt (Shaw et al. 1999, Lampert 2005, Mielck 2005). Diese Debatte soll hier nicht noch einmal nachgezeichnet werden (Streich 2001). Die WHO hat in ihrem Rahmenkonzept „Gesundheit21“ eine pragmatische Formel gefunden, die beide Positionen berücksichtigt: „In der nationalen Gesundheitspolitik sollten die am schlechtesten Gestellten zwar absoluten Vorrang haben, man sollte sich jedoch auch mit den Verteilungsungerechtigkeiten in allen sozialen Gruppierungen befassen […].“ (WHO 1999: 16). Ein aktuelleres WHO-Dokument wiederholt diese grundsätzliche Orientierung (Whitehead & Dahlgren 2006). In der Praxis hat die nationale Gesundheitspolitik der Zunahme sozial bedingter Ungleichheit auf gesundheitlichem Gebiet aber immer weniger entgegen zu setzen. Was bleibt, ist eine Gesundheitsförderung, die sich sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen zuwendet, immer verzweifelter darum bemüht, gemäß § 20.1 SGB V einen „Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen“ zu erbringen.
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Waldemar Streich
Für die Identifikation der „am schlechtesten Gestellten“ ist eine differenzierte Analyse der Lebenslagen von Bevölkerungsgruppen notwendig, die mit den Standardmerkmalen der Sozialstatistik allein nicht zu leisten ist. Deshalb stehen der als vorbildlich anzusehenden Sozialberichterstattung Schwedens folgende Merkmale zur Verfügung (vgl. Nygren 2004, die Ausführungen in den Klammern nennen Beispiele zu den verwendeten Indikatoren): 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Finanzielle Probleme (kein oder geringes Einkommen) Wohnungsprobleme (kein Mietvertrag für eine Wohnung oder ein Haus) Schwache Sozialbeziehungen (keine engen Freunde oder irgendjemanden, mit dem ein Gespräch über irgendetwas geführt werden kann) Betroffenheit von kriminellen Handlungen (Diebstahl oder Beschädigung persönlichen Eigentums) Problematische Lebensführung (tägliches Rauchen, Alkoholkonsum von wöchentlich mehr als 3,5 Flaschen Wein bei Männern bzw. 2,5 Flaschen bei Frauen) Gesundheitsprobleme (chronische Krankheit mit starken Schmerzen oder problematischen Symptomen) Psychologische Symptome oder psychosomatische Schwierigkeiten (häufige Müdigkeit oder Schlafprobleme) Unbefriedigter Versorgungsbedarf (Bedarf für eine ärztliche Behandlung während der letzten 3 Monate, ohne dass diese durchgeführt wurde).
Bei aller Akribie in der Analyse gesundheitsriskanter, sozialer Lebenslagen zeigen die Berichte verschiedener Länder immer wieder sehr ähnliche Ergebnisse. Danach steigen die Risiken deutlich, wenn Armut mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Altersgruppen (Kinder, Alte), mit Arbeitslosigkeit, der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit (Migrationshintergrund), dem Status als Alleinerziehende oder mit bereits beeinträchtigter Gesundheit einhergeht. Bevölkerungsgruppen, für die solche Bedingungen zutreffen, werden häufig übergreifend als benachteiligte oder vulnerable Gruppen charakterisiert. In den folgenden Ausführungen soll es nun nicht darum gehen, die genannten Gruppen (noch einmal) genauer zu beschreiben und empirische Ergebnisse zu ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu präsentieren. Dies geschieht ausführlich in anderen Beiträgen dieses Bandes. Stattdessen soll hier der Versuch unternommen werden, den Bedeutungsgehalt des Begriffs „Verwundbarkeit“ auszuloten und seinen Nutzen in einem sozial- und gesundheitspolitischen Kontext zu diskutieren. Hierbei – das sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen – wird sich zeigen, dass „starke Begriffe“ ganz wie „starke Medikamente“ zu behandeln sind, da sie nicht nur beabsichtigte Wirkungen sondern gegebenenfalls auch unerwünschte Nebenwirkungen haben können.
2
Vulnerabilität: Verwundbarkeit als Metapher
Vulnerabilität ist ein zentrales Konzept der Medizin und Psychiatrie zur Beschreibung einer besonderen Anfälligkeit gegenüber bestimmten Erkrankungen, z.B. Alzheimer, Schizophrenie oder Suchtkrankheiten. Die zugrunde liegenden Risiken können auf verschiedenen Gebieten liegen: (Psycho-)Pathologie, Epidemiologie, Genetik, Biochemie und Psychologie oder eben auch in den sozialen Lebensbedingungen (Obrist & van Eeuwijk 2006). In analy-
Vulnerable Gruppen: „Verwundbarkeit“ als politik-sensibilisierende Methapher
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tischer Perspektive geht es vielfach um ein hinsichtlich seiner Kausalität weitgehend unaufgeklärtes Missverhältnis von potenziell krankmachenden oder krankheitsbegünstigenden Faktoren auf der einen und von Widerstandskräften auf der anderen Seite. In dieser Perspektive ist jeder Kranke ein Opfer seiner Vulnerabilität. Wenn darüber hinaus verschiedentlich darauf hingewiesen wird, dass jeder Patient durch seine Krankheit als (in erhöhtem Maße) vulnerabel zu betrachten ist, klingt eine medizinsoziologische Dimension des Begriffs an. Patienten sind vulnerabel, weil sie als Kranke hilfs- und schutzbedürftig sind. Diesen Aspekt betont beispielsweise Raspe (1999) in seiner Auseinandersetzung mit alternativen Bezeichnungen und Charakterisierungen der sog. Nutzer des Gesundheitssystems (Patienten, Klienten, Kunden, Verbraucher). Wären die Nutzer nicht schutzbedürftig sondern souverän, gäbe es keinen Bedarf für vielfältige normative Sicherungen: Hippokratischer Eid, Deklarationen des Weltärztebundes zu Patientenrechten (im Sinne einer ethischen Selbstbindung der ärztlichen Profession) sowie haftungs-, sozial- und strafrechtliche Bestimmungen. Die vollständige Übertragung des Begriffs in einen sozialen Kontext sieht ausgewählte Existenzgrundlagen, wie die Fähigkeit zum Erwerb des Lebensunterhalts oder die Teilhabe am sozio-kulturellen Leben ebenso als Objekt von Gefährdungen wie im Falle der Gesundheit an. Demnach sind beispielsweise Geringqualifizierte gegenüber Arbeitslosigkeit vulnerabel, Alleinlebende in Bezug auf soziale Isolation usw. Bei den letztgenannten Verwendungen spielt eine spezifische Qualität des Begriffs eine Rolle, die in einem politischen Kontext offensichtlich besonders geschätzt wird. Ganz im Sinne des Zille´schen Eingangsmottos soll verdeutlicht werden, dass Menschen in vielerlei Hinsicht verwundbar sind – mehr noch: dass in zivilisierten Gesellschaften die Gefahr einer Verwundung weniger durch unmittelbare physische Gewalt (mittels Waffen), als durch (un-)soziale Verhältnisse, Mangelsituationen und hierdurch hervorgerufene, widrige Lebensbedingungen (Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, soziale Diskriminierung etc.) besteht. Und so wie die Medizin ethisch verpflichtet ist, Verwundeten zu helfen und ihre Wunden zu heilen, ist es ein ethisches Gebot sozial(staatlich)en Handelns, sozial Schwachen, um hier einen gebräuchlicheren Begriff zu verwenden, der das Gleiche meint, zu helfen. Die anthropologische Konstante der Verwundbarkeit des Menschen wird zur Metapher für ihre Abhängigkeit von einer sozialen Ausgestaltung gesellschaftlicher Strukturen im Sinne dessen, was gemeinhin mit den Begriffen der Zivilisation oder des Sozialstaats assoziiert wird.
3
Victimisierung, Stigmatisierung und Diskriminierung: Gefahren einer Akzentuierung der Betroffenenperspektive
Der Begriff der Verwundbarkeit lenkt den Blick auf die betroffenen Personen und gibt dem Risiko, dem sie aufgrund ihrer Lebenslage ausgesetzt sind, eine Bedeutung, die imstande ist, soziale Reflexe, sprich: Soziales Handeln auszulösen. Er kommt damit einer von Dahlgren (1996) gegebenen Empfehlung entgegen, bei der Analyse und Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit politik-sensibilisierende Indikatoren und Begriffe zu benutzen. Die empathische Zuwendung zu den potenziellen Opfern vernachlässigt allerdings die Aufmerksamkeit für das soziale Geschehen, welches für die Verwundbarkeit gegebenenfalls zumindestens mitverantwortlich zu machen ist. Diese perspektivische Vereinseitigung kann
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Waldemar Streich
dazu führen, die Verantwortung bei den Opfern selbst zu sehen, was im Ergebnis eine (zusätzliche) Diskriminierung im Sinne des „blaming of the victims“ darstellt. Im medizinisch-gesundheitlichen Kontext wird die Opferperspektive durch eine Erweiterung um den Aspekt der Resilienz (Widerstandsfähigkeit) abgeschwächt, welche ganz im Antonovsky´schen Sinne auf eine Identifikation salutogener Potenziale gerichtet ist (Weiss 2006). Noch einen Schritt weiter in dem Bemühen, die viktimisierende Tendenz des Vulnerabilitätsbegriffs abzuschwächen, gehen einige Autoren, indem sie Vulnerabilität in ausgewählten Bereichen chronischer Krankheit und Behinderung als Stärke betrachten (Malterud & Solvang 2005). Im hier interessierenden sozialepidemiologischen Kontext sozial bedingter, gesundheitlicher Ungleichheit muss diese Perspektiverweiterung aber immer noch als ungenügend bezeichnet werden, weil sie bei der Beschreibung von Eigenschaften vulnerabler Gruppen verbleibt. Eine Gegenüberstellung mit dem eingangs erwähnten und häufig synonym verwendeten Begriff der „Benachteiligung“ kann dieses Defizit verdeutlichen. Benachteiligung ist zwar zunächst auch als ein Attribut verschiedener Bevölkerungsgruppen zu interpretieren. Sie weist aber auf gesellschaftliche Faktoren hin, aus denen die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe resultiert: ungenügende Teilhabe an den materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen als Ergebnis der vorhandenen Verteilungs- und Beteiligungsstrukturen und -prozesse. Benachteiligung nimmt sich im Vergleich zu Vulnerabilität eher harmlos aus. Verschiedentlich tauchen deshalb im Zusammenhang mit der Verwendung des Begriffs Wertungen auf, die den sozial- und gesundheitspolitischen Handlungsbedarf hervorzuheben suchen, etwa indem von „unfairen“ oder „ungerechten“ Benachteiligungen die Rede ist (Whitehead & Dahlgren 1991, 2006). In Zeiten, in denen die Vorstellungen über Verteilungsgerechtigkeit und die Toleranz von Ungleichheit in der Gesellschaft auf breiter Ebene neu bestimmt werden, befinden sich solche Versuche aber eindeutig in der Defensive. Die Stärken und Schwächen beider Begriffe sind also „ungleich verteilt“, was dafür spricht, sie unter Ausnutzung ihrer jeweiligen Stärken zu benutzen. Dazu zwei Beispiele:
Wenn es um die gesundheitliche Gefährdung von Kindern geht, die unter den Bedingungen von Armut aufwachsen, dürfte die Bezeichnung der Betroffenen als „vulnerable Gruppe“ passend erscheinen. Kinder sind in besonderer Weise von der sozialen Umgebung abhängig, in der sie leben (müssen). Zwar ist die Gefahr einer Diskriminierung jenseits der Zuweisung einer persönlichen Verantwortung für ihr Schicksal gegeben. Sie ist jedoch nur ein weiteres Element ihrer vulnerablen Situation. Es gehört deshalb zur Grundausstattung sozialstaatlicher Institutionen und Programme, die Armut von Kindern zu bekämpfen und eine dauerhafte Stigmatisierung und Diskriminierung zu verhindern. Wenn es um die gesundheitliche Gefährdung von jugendlichen und erwachsenen Langzeitarbeitslosen geht, ist eine Charakterisierung als „benachteiligte Gruppe“ eher angebracht. Zwar können auch hier Merkmale gefunden werden, welche als Ursache für das erhöhte Risiko der Arbeitslosigkeit und die geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt (mit-)verantwortlich zu machen sind (European Foundation 2002). Dennoch zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre, dass hier ein strukturelles Problem des Arbeitsmarktes vorliegt, das nicht, zumindestens nicht allein durch gruppenspezifische Förderungsmaßnahmen bewältigt werden kann. Die Akzentuierung als „vulne-
Vulnerable Gruppen: „Verwundbarkeit“ als politik-sensibilisierende Methapher
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rable Gruppe“ ist im Hinblick auf Diskriminierungsgefahren vielmehr eindeutig kontraproduktiv. Der knappe Versuch einer Demonstration sinnvoller Begriffsverwendungen zeigt indessen Grenzen auf. Stigmatisierende und diskriminierende Effekte sind nie gänzlich auszuschließen.
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Strategien des sozialen Ausgleichs als Weg aus der EffizienzsteigerungsDiskriminierungs-Falle
Die Gefahr liegt in der Suche nach speziellen Gruppen selbst begründet und kann als ein sozial- und gesundheitspolitisches Dilemma bezeichnet werden. Es tritt umso schärfer hervor, je weiter die Suche nach maximaler Bedürftigkeit als Weg der Effizienzsteigerung potenzieller Interventionen getrieben wird. Nygren (2004) illustriert dies am Beispiel des schwedischen Sozialreports aus dem Jahre 2001. Dort werden Alkohol- und Drogenabhängige, Kriminelle, Obdachlose und Prostituierte als in höchstem Maße vulnerabel bezeichnet. Die Differenzierung zwischen allgemeiner und höchster Vulnerabilität sei – so Nygren – eine delikate Angelegenheit gewesen, mit der die Autoren des Berichts einigermaßen zu kämpfen hatten. Andererseits sei man zu dem Schluss gelangt, dass eine Vernachlässigung der genannten Gruppen nur dazu führt, eindeutig unzumutbare und veränderungsbedürftige Lebensbedingungen vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen. Mit ähnlichen Intentionen ist die Gesundheit sozialer Randgruppen auch in Deutschland beschrieben worden (Weber 1997). Spätestens an diesem Punkt wird aber auch deutlich, dass eine einseitige Strategie der Konzentration auf gruppenspezifische Problemlagen von den allgemeinen Strukturen sozialer Ungleichheit wegführt. Die Verbesserung der sozialen und gesundheitlichen Situation der „am schlechtesten Gestellten“ mag ein substanzieller Beitrag zur Verminderung der aus allgemeiner sozialer Ungleichheit resultierenden Probleme sein, eine umfassende Problemlösung ist damit aber ganz offensichtlich nicht zu erreichen. Wilkinson geht sogar noch einen Schritt weiter und sieht eine allgemeine Tendenz, die Folgen sozialer Ungleichheit mit immer neuen sozialen Diensten, etwa mit mehr Sozialarbeitern, Gesundheitsdiensten, Beratern und Therapeuten zu behandeln. Aber selbst wenn ganze Armeen von solchen Spezialisten aufgeboten werden, ist es aus seiner Sicht unmöglich, die sozialen Symptome von ihren strukturellen Ursachen abzutrennen und letztere unangetastet zu lassen (Wilkinson 1996: 230). Eine Politik des sozialen Ausgleichs, welche die Einkommensunterschiede in der Gesellschaft angreift, bleibt damit unverzichtbar. Der mehrfach ausgezeichnete New Yorker Cartoonist, Erzähler und Dramatiker Jules Feiffer formulierte einmal: “I used to think I was poor. Then they told me I wasn't poor, I was needy. They told me it was self-defeating to think of myself as needy, I was deprived. Then they told me underprivileged was overused. I was disadvantaged. I still don't have a dime. But I have a great vocabulary.”1 Starke Begriffe sollten der Politik Impulse geben, um praktische Veränderungen herbei zu führen. Leisten sie dies nicht, werden sie wertlos. Vor diesem Schicksal ist kein noch so treffender Begriff geschützt. Es mag nicht zu den Kernaufgaben der Sozial- und Gesundheitsforschung gehören, die politische Wirkung der 1
Feiffer J. Online: http://www.whatquote.com/quotes/Jules-Feiffer/24183-I-used-to-think-I-wa.htm
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Waldemar Streich
von ihr verwendeten Begriffe zu verfolgen. Eine gewisse Aufmerksamkeit kann aber im Interesse der Handlungsrelevanz ihrer Ergebnisse nicht schaden.2
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Nach Fertigstellung des Textes fiel dem Autor eher zufällig ein Aufsatz von Robert Castel (2000) in die Hände, in dem er die Bedeutung und Verwendung des Begriffs „Soziale Exklusion“ in nahezu gleicher Form reflektiert.
Vulnerable Gruppen: „Verwundbarkeit“ als politik-sensibilisierende Methapher
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Die Messung des sozioökonomischen Status in sozialepidemiologischen Studien
Thomas Lampert, Lars E. Kroll
1
Ausgangslage
Seit etwa 20 Jahren lässt sich ein ständig wachsendes Interesse der epidemiologischen Forschung und der Gesundheitsberichterstattung am Einfluss des sozioökonomischen Status auf die Gesundheit und Lebenserwartung feststellen. Mit der Sozialepidemiologie hat sich inzwischen eine eigene Fachrichtung etabliert, die sich schwerpunktmäßig mit der sozial ungleichen Verteilung von Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken, die auch auf den Begriff der „gesundheitlichen Ungleichheit“ gebracht wird, befasst (Mielck & Bloomfield 2001). Die vorliegenden Studien zeigen in großer Überstimmung, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status häufiger von Krankheiten, Beschwerden, Behinderungen und Unfallverletzungen betroffen sind, die eigene Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität schlechter einschätzen und zu einem größeren Anteil vorzeitig sterben. Auch in Risiko- und Belastungsexpositionen, gesundheitsrelevanten Einstellungen und Verhaltensweisen sowie in der Bewältigung von Gesundheitsproblemen treten deutliche sozioökonomische Unterschiede hervor (Übersichten zum Forschungsstand z.B. bei Mielck 2000, 2005, Helmert 2003, Lampert et al. 2005). Ein unmittelbarer Vergleich der Forschungsergebnisse ist jedoch oftmals nicht möglich, was neben Unterschieden im Studiendesign und in der Untersuchungspopulation vor allem auf verschiedene Vorgehensweisen bei der Messung des sozioökonomischen Status zurückzuführen ist. Deutlich wird dies sowohl auf der Ebene der Konzeptualisierung, ausgehend von der Begriffsklärung und theoretischen Einbindung bis hin zur Formulierung von Forschungsfragen und Untersuchungshypothesen, als auch auf der Ebene der Operationalisierung, also der Umsetzung in Erhebungsinstrumente und der Konstruktbildung für statistische Analysen. Mit zunehmender Forschungstätigkeit und Erweiterung der Forschungsperspektive, z.B. auf die psychische und psychosoziale Gesundheit oder auf umweltbedingte Erkrankungen, hat die Heterogenität der Messung des sozioökonomischen Status weiter zugenommen. Eine systematische Bewertung des Forschungsstandes, die nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, sondern auch für die Ableitung praktischer Handlungsempfehlungen darstellt, ist deshalb bislang nur eingeschränkt möglich. Um dieser Entwicklung entgegen zu wirken, hat die Fachgesellschaften übergreifende Arbeitsgruppe (AG) „Epidemiologische Methoden“ im Jahr 1998 eine Empfehlung zur „Messung und Quantifizierung soziodemographischer Merkmale in epidemiologischen Studien“ unter besonderer Berücksichtigung des sozioökonomischen Status veröffentlicht
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Thomas Lampert, Lars E. Kroll
(Jöckel et al. 1998).1 Die Empfehlung beansprucht keine absolute Verbindlichkeit, was schon aufgrund der häufig sehr unterschiedlichen Begründungs- und Verwertungszusammenhänge, in die die Erhebungen von Gesundheitsdaten gestellt sind, kaum möglich erscheint. Sie stellt aber eine konkrete Handreichung für die Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung dar und gibt damit einen Standard für die Forschung und die Vergleichbarkeit von Studien zum Einfluss des sozioökonomischen Status auf die Gesundheit und Lebenserwartung vor. Ausgehend von der vorliegenden Empfehlung wird im Folgenden der Rahmen für eine an den Schwerpunkten und Perspektiven der sozialepidemiologischen Forschung ausgerichtete Konzeptualisierung und Operationalisierung des sozioökonomischen Status abgesteckt. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie der sozioökonomische Status in sozialepidemiologischen Studien erhoben werden sollte, um die gesundheitliche Ungleichheit umfassend und differenziert beschreiben und analysieren zu können. Eingegangen wird außerdem auf einige bislang nicht ausreichend geklärte Fragen, die zugleich einen Ausgangspunkt für die Aktualisierung und Weiterentwicklung der Empfehlung der AG Epidemiologische Methoden sein könnten.
2
Konzeptualisierung des sozioökonomischen Status
Mit dem Begriff des sozioökonomischen Status wird in der Regel die individuelle Position in einem durch soziale Ungleichheit gekennzeichneten Gesellschaftsgefüge beschrieben (Duncan 1961, Geißler 1994). Die gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge bringen eine Struktur sozialer Positionen hervor, die durch politische und gesetzgeberische Rahmenbedingungen stabilisiert und weiter ausdifferenziert wird. Von sozialer Ungleichheit wird vor allem dann gesprochen, wenn diese Positionen regelmäßig mit sozialen Vor- und Nachteilen einhergehen, die sich an der Verfügung über knappe und allgemein hoch bewertete Güter wie Einkommen, Vermögen, Macht, Sozialprestige, Bildung oder Wissen, einschließlich ungleicher Zugangswege zu diesen, festmachen lassen (Bolte & Hradil 1988, Borgers & Steinkamp 1994). Mit der Vor- und Nachteilsbedingung, die sich nicht nur in der Verfügung über wertvolle Güter und den daraus resultierenden Lebensbedingungen abzeichnet, sondern auch – so zumindest die Annahme vieler Ungleichheitsforscher – in den Einstellungen, Werthaltungen und Verhaltensgewohnheiten der Menschen zum Ausdruck kommt, verbindet sich die Vorstellung eines vertikalen, hierarchisch gegliederten Gesellschaftsaufbaus im Sinne einer sozialen Besser- oder Schlechterstellung (Hradil 2008). Das Interesse der soziologischen wie auch der sozialepidemiologischen Ungleichheitsforschung richtet sich zuvorderst auf soziale Vor- und Nachteile, die durch die Stellung in der Arbeitswelt und berufliche Positionen bestimmt sind. Den deutlichsten Niederschlag findet dies im schichtungssoziologischen Ansatz, dessen Fokus sich ausgehend von einer starken Prestigeorientierung im Laufe der 1960er Jahre, unter dem Eindruck der Kritik am damaligen Bildungswesen und der sich zunehmend abzeichnenden Differenzierung der 1
Die AG „Epidemiologische Methoden“ ist eine gemeinsame Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi), der Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) und der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) und damit das zentrale Forum für die Diskussion epidemiologischer Methoden und Standards in Deutschland.
Die Messung des sozioökonomischen Status
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Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzrisiken der unselbstständig Beschäftigten, mehr und mehr auf die Dimensionen Bildung, Berufsstatus und Einkommen erweitert hat (Berger & Hradil 1990, Hradil 1994). Als richtungweisend für diese Perspektiverweiterung kann die Studie „Sozialprestige und soziale Schichtung“ von Erwin K. Scheuch gelten, die von der Grundannahme ausging, dass die häufig unterstellte „Alternative einer Betrachtung von Sozialprestige oder von sozialer Schichtung irreführend ist, dass man hierin zwei Aspekte des gleichen Sachverhalts sehen kann“ (Scheuch 1970: 67). Sein Konzept der sozialen Schicht umfasst drei Dimensionen, die er als „wirtschaftliche Lage“, „Berufszugehörigkeit“ und „kulturelles Niveau“ kennzeichnet. In seinen empirischen Untersuchungen ordnete er diesen Dimensionen anfänglich jeweils mehrere Indikatoren zu, von denen sich letztlich das persönliche Einkommen des Haushaltsvorstandes, das Sozialprestige des Berufs und die schulische Bildung als besonders aussagekräftig und ausreichend für die Beschreibung der gesellschaftlichen Ungleichheit erwiesen (Scheuch 1970).2 Seit einigen Jahren werden auch soziale Unterschiede nach Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Wohnort, Herkunft oder ethnischer Zugehörigkeit wieder unter dem Ungleichheitsaspekt diskutiert (Hradil 1994, 2008). Begünstigungen und Benachteiligungen, die sich an diesen Merkmalen festmachen, sind in allen Lebensbereichen sichtbar und verlaufen sozusagen „horizontal“ zu den hierarchisch strukturierten, berufsbezogenen Ungleichheiten. Rechnung getragen wird dem insbesondere in Konzepten der „sozialen Lage“ (Hradil 1987, Schwenk 1999) oder „Lebenslage“ (Clemens 1994, Voges 2002), die auf die Ermittlung typischer Konstellationen von Handlungsbedingungen und Lebenschancen zielen und dabei neben Bildung, Beruf und Einkommen weitere Lebensbereiche, wie z.B. Wohnsituation, Freizeitgestaltung, kulturelle Teilhabe und soziale Integration, berücksichtigen. Aus Perspektive der soziologischen Theorie lassen sich hierarchische und horizontale Ungleichheiten zwischen sozialen Akteuren zusammen betrachten (Esser 2004). Sie werden als Folge der Integration oder Exklusion von Akteuren in gesellschaftliche Funktionssysteme interpretiert. Exklusionen können dabei die Folge von horizontalen oder vertikalen Merkmalen der Akteure sein. So können junge Migranten vom Zugang zu höherer Bildung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder auch wegen des fehlenden kulturellen Kapitals ihrer Familie ausgegrenzt werden. Exklusionen in einem Teilsystem können auch Exklusionen in einem anderen Teilsystem bedingen. Etwa wenn sich ungleiche Bildungschancen auf dem Arbeitsmarkt reproduzieren. Soziale Ungleichheit ist damit einerseits Ausdruck der Stellung von Akteuren zu Funktionssystemen und andererseits Folge der Interdependenz dieser Systeme. Die Konzentration auf einen schichtungssoziologischen Zugang erscheint nur insofern gerechtfertigt, wie Lebenschancen homogen durch die Arbeitswelt vermittelt werden, also enge Kopplungen zwischen der Arbeitswelt und anderen Teilsystemen, wie etwa dem Bildungssystem, dem Sozialstaat oder der Wissenschaft, bestehen. Sie ist dagegen irreführend, wenn über andere Differenzierungen – etwa nach sozialstaatlichen Transfers, Vermögen oder auch Wissen – unabhängig vom Berufsstatus Lebenschancen vermit-
2
Für die Entwicklung und Fundierung des schichtungssoziologischen Ansatzes sind daneben eine Vielzahl anderer theoretischer und empirischer Arbeiten relevant (siehe hierzu z.B. Geißler 1994, Hradil 1987, 2008). Die Studie „Sozialprestige und soziale Schichtung“ wird hier hervorgehoben, da sie bis heute für die Operationalisierung des sozioökonomischen Status, gerade in der sozialepidemiologischen Forschung, einen wichtigen Ausgangs- und Bezugspunkt darstellt (siehe auch Abschnitt 5).
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Thomas Lampert, Lars E. Kroll
telt werden. Alternative Szenarien zur Vermittlung von Lebenschancen sind unter Begriffen wie „Statusinkonsistenz“ oder „working poor“ in der Diskussion.3 Wenn jedoch vom sozioökonomischen Status die Rede ist, dann wird der Bezug zum schichtungssoziologischen Ansatz hergestellt. Der sozioökonomische Status kann dabei als Bestimmungs- bzw. Zuordnungskriterium der Schichtzugehörigkeit aufgefasst werden. Als soziale Schichten lassen sich dementsprechend Gruppen von Personen bezeichnen, die sich im Hinblick auf ihren sozioökonomischen Status und damit ihrem Rang, den sie in einem vertikal gegliederten gesellschaftlichen Ungleichheitsgefüge einnehmen, weitgehend entsprechen (Hradil 2008).4
3
Sozioökonomischer Status als erklärende Variable gesundheitlicher Ungleichheit
Die sozialepidemiologische Forschung zielt nicht nur auf die Ermittlung und Beschreibung von sozioökonomischen Unterschieden im Krankheits- und Sterbegeschehen, sondern auch auf deren Erklärung (Mielck 2000, Geyer 1997, siehe auch Richter & Hurrelmann in diesem Band). Der sozioökonomische Status stellt damit – anders als beispielsweise in der Herz-Kreislauf-, Krebs- oder Umweltepidemiologie, die häufig spezifische Risikofaktoren in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken und vor allem an einer Kontrolle möglicher Confounder interessiert sind – eine erklärende Variable dar. Die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit setzt ein Theoriemodell voraus, das einen Zusammenhang zwischen der Position in der Sozialhierarchie einerseits und der Gesundheit und Lebenserwartung andererseits herstellt, und zwar unter Berücksichtigung der vielfältigen Interdependenzen und Wechselwirkungen zwischen den vermittelnden materiellen, sozialen und psychosozialen Mechanismen. Von deutschen Sozialepidemiologen wurden bis heute vor allem zwei Beiträge veröffentlicht, die sich für die Theoriebildung als anschlussfähig erweisen könnten. Beiden Beiträgen ist gemein, dass sie eine soziologische Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit anstreben und dazu ein hierarchisches Mehrebenenmodell vorschlagen, das zwischen einer „makro-“, „meso-“ und „mikrosoziologischen“ Ebene differenziert, wobei die jeweils höhere Ebene die Voraussetzungen auf den nachgeordneten Ebenen vorgibt (Steinkamp 1993, Elkeles & Mielck 1997). Als „soziologisch“ sind diese Modelle zu bezeichnen, weil sie in ihrer Grundstruktur der verstehenden Soziologie Max Webers folgen und auf der zwischen Gesellschaft und Individuum anzusiedelnden Analyseebene („Mesoebene“) auf strukturell geprägte Lebenskontexte fokussieren (vgl. Esser 1993, Coleman 1995).
3 4
So zeigen beispielsweise aktuelle Analysen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels, dass Vollzeiterwerbwerbstätigkeit alleine immer weniger vor Einkommensarmut schützt (Frick & Grabka 2008). Die Begriffe sozioökonomischer Status und Schichtzugehörigkeit sowie sozioökonomische Statusgruppe und Sozialschicht werden deshalb häufig synonym verwendet. Wolfgang Slesina (1991) weist allerdings zurecht darauf hin, dass der Begriff des sozioökonomischen Status den Fokus eher auf die individuelle Position im Ungleichheitsgefüge einstellt, während der Begriff der sozialen Schicht den Blick stärker auf den hierarchischen Gesellschaftsaufbau selbst lenkt. Außerdem verbindet sich mit dem sozioökonomischen Status eher die Vorstellung fließender Übergänge zwischen sozialen Positionen, während die Schichtzugehörigkeit zumeist die Assoziation einer Abgrenzung hervorruft, die angesichts der gesellschaftlichen Realität in den heutigen Wohlfahrtsstaaten von vielen Forschern als zu starr empfunden wird.
Die Messung des sozioökonomischen Status
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Der Vorschlag von Günther Steinkamp (1993) basiert auf einer fundamentalen Kritik des sozialepidemiologischen Zugangs zur gesundheitlichen Ungleichheit, die er u.a. an der ausbleibenden theoriegeleiteten Konzeptualisierung der Beziehung zwischen der Position im Ungleichheitsgefüge und der Gesundheit, der unzureichenden Erfassung ungleicher Lebensbedingungen anhand von Schichtmodellen, der fehlenden Subjektperspektive sowie der Vernachlässigung der Zeitdimension festmacht. Zur Überwindung dieser Defizite schlägt er ein hierarchisch strukturiertes Mehrebenenmodell vor, in dem die Lage im System der sozialen Ungleichheit (Makroebene) mit der Ebene der Handlungskontexte (Mesoebene) und diese wiederum mit der Ebene des Organismus und der Persönlichkeit (Mikoebene) systematisch verknüpft wird. Auf der Makroebene siedelt er die Ungleichheit objektiver Lebensbedingungen an, die den Rahmen für die Realisierung von Lebenszielen bildet. Er fordert dabei die schichtungssoziologische Perspektive zu erweitern und die makrostrukturellen Rahmenbedingungen als gruppenspezifische Bündelungen typischer Konstellationen ungleicher Lebensbedingungen, also eher orientiert am Lebenslagenansatz, zu konzeptualisieren. Die Mesoebene wird in dem Modell von Steinkamp durch konkrete Lebenskontexte wie Familie, Freundeskreise oder Arbeitsverhältnisse, „[…] in denen das alltägliche Leben von Menschen sich abspielt und über die strukturell vermittelte ungleiche Vorgaben erst ihre Wirkung entfalten“ (Steinkamp 1993: 115), repräsentiert. Die konzeptionelle Ausgestaltung dieser Ebene erfolgt anhand des Belastungs-Ressourcen-Konzepts, wobei kritische Lebensereignisse, Dauerbelastungen und kleinere Arbeitsbelastungen sowie soziale Ressourcen, allen voran Netzwerkbeziehungen und daraus resultierende Unterstützungsleistungen, gegenüber gestellt werden. Auf der Ebene von Persönlichkeit und Organismus richtet sich der Blick auf die vorhandenen personalen Ressourcen sowie die organischen und psychischen Prozesse, die bei der Konfrontation mit den situativen Bedingungen ausgelöst werden. Der kognitiven Bewertung und Einschätzung von potenziell stressauslösenden Belastungen sowie dem Umgang und der Bewältigung mit Stresserfahrungen wird dabei in enger Anlehnung an kognitiv-transaktionale Stressmodelle (vgl. Lazarus 1981, Lazarus & Folkman 1984) ein hoher Stellenwert eingeräumt. Eine negative Bilanz von Belastungen und sozialen Ressourcen schlägt sich demzufolge in gesundheitlichen Beeinträchtigungen nieder, wenn die personalen Ressourcen nicht ausreichen, um mit den belastenden Ereignissen und Situationen fertig zu werden. Auch in dem von Thomas Elkeles und Andreas Mielck (1997) unterbreiteten Modellvorschlag werden mehrere Analyseebenen unterschieden (siehe auch Mielck 2000, 2005). Ausgangspunkt ist auf der Makroebene die Struktur ungleicher Verteilung von Wissen, Macht, Geld und Prestige sowie daraus resultierende soziale Vor- und Nachteilsbedingungen. Damit wird im Gegensatz zum Modell von Steinkamp unterstellt, dass die schichtbildenden Ungleichheitsdimensionen nach wie vor für die Lebenssituation und die Lebensqualität in modernen Gesellschaften ausschlaggebend sind und den nachhaltigsten Einfluss auf die Gesundheit und Lebensspanne ausüben. Auf der vermittelnden Mesoebene richtet sich der Blick auf gesundheitliche Belastungen und Ressourcen, die in verschiedenen Lebenskontexten relevant sein können. Der Ressourcenbegriff wird dabei nicht nur auf die Stressbewältigung bezogen, sondern in Richtung gesundheitsrelevanter Handlungskompetenzen und Kontrollmöglichkeiten erweitert. Neben der Bilanz aus Belastungen und Ressourcen werden in der gesundheitlichen Versorgung, vor allem im Hinblick auf Unterschiede in der Qualität von Prävention, Kuration und Rehabilitation, sowie im Gesundheits- und Krankheitsverhalten zentrale Vermittlungsinstanzen von gesundheitlichen Wirkungen sozialstruk-
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tureller Bedingungen gesehen. Betrachtet wird letztlich das strukturelle Problem gesundheitlicher Ungleichheit, worunter Elkeles und Mielck als ungerecht empfundene Unterschiede in der Morbidität und Mortalität verstehen. Die Grundannahme des Modells legt nahe, dass die in der Gesellschaft bestehende soziale Ungleichheit im Krankheits- und Sterbegeschehen der Bevölkerung einen Ausdruck findet, weil die Angehörigen der sozial benachteiligten Gruppen stärkeren gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt sind, über geringere Bewältigungsressourcen verfügen, schlechter gesundheitlich versorgt werden und sich in geringerem Maße gesundheitsbewusst verhalten. Dabei wird hervorgehoben, dass die Lebensbedingungen einen Teil ihres Einflusses über das Gesundheits- und Krankheitsverhalten entfalten. Indem die Beziehung zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit über mehrere Ebenen entwickelt wird, unterstützen die Modelle von Steinkamp sowie Elkeles und Mielck eine theoriegeleitete Betrachtung des Zustandekommens gesundheitlicher Ungleichheit. Gemessen an methodologischen Kriterien lassen sie sich als Ordnungsmodelle einstufen. Sie geben einen systematischen Überblick über vorhandene Forschungsbefunde und Erklärungsansätze und bilden durch deren Zusammenführung eine gute Grundlage für theoretische Weiterentwicklungen. Ein möglicher Ansatzpunkt hierfür ist eine differenzierte Betrachtung von Bildung, Berufsstatus und Einkommen und deren spezifischen Wirkungen und Einflusspfade auf die Gesundheit. So können der Bildung und an diese geknüpfte Einstellungen, Überzeugungen und Kompetenzen ein hoher Stellenwert für das gesundheitsrelevante Verhalten sowie die Bewältigung von Stressbelastungen und vorhandenen Gesundheitsproblemen zugesprochen werden. Im Zusammenhang mit dem Berufsstatus ist u.a. nach gesundheitlichen Belastungen und Risiken am Arbeitsplatz, gleichzeitig aber auch nach Entwicklungs- und Gratifikationsmöglichkeiten, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken können, zu fragen. Wenn sich der Blick auf das Einkommen richtet, rücken hingegen der finanzielle Spielraum, der materielle Lebensstandard, zum Teil auch die soziale Sicherung, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Weiterführende theoretische Überlegungen sollten sich außerdem mit der Frage befassen, welche Bedeutung den so genannten „Statusinkonsistenzen“ (Hradil 2008, Kohler 2005) für die Gesundheit zukommt. Während am oberen und unteren Ende des Ungleichheitsgefüges eine große Übereinstimmung in der Höhe der Bildung, des Berufsstatus und des Einkommens beobachtet werden kann, trifft dies auf die gesellschaftlichen Mittellagen häufig nicht zu. Viel spricht dafür, dass z.B. eine hohe Bildung bei gleichzeitig niedrigem Berufsstatus und geringem Einkommen zu psychosozialen Belastungen führen kann (siehe Peter in diesem Band). Mögliche Gründe dafür sind nicht erfüllte Erwartungen, berufliche Gratifikationskrisen und negative soziale Vergleichsprozesse. Welche gesundheitlichen Auswirkungen solche Statusinkonsistenzen haben, wird bisher weder systematisch untersucht noch diskutiert. Das größte latente Erklärungspotenzial macht sich aber sicherlich an der Frage fest, welche Mechanismen und Prozesse dafür verantwortlich sind, dass sich Menschen unter gegebenen strukturellen und situativen Bedingungen für eine der Gesundheit förderliche oder abträgliche Lebensweise entscheiden. In den Modellen von Elkeles und Mielck sowie Steinkamp wird der Belastungs-Ressourcen-Ansatz als zentrales „Brückenkonzept“ eingeführt. Dessen Erklärungswert bleibt aber ohne weitere konzeptionelle Ausgestaltung begrenzt. Ansetzen könnte diese an gesundheitspsychologischen Konzepten wie „Sense of Coherence“, „Health Belief Model“ oder „Locus of Control“, die aber erst seit kurzem in
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der sozialepidemiologischen Forschung berücksichtigt werden (Janßen 2001, Geyer 2001, siehe auch Hradil in diesem Band). Ein zweiter konzeptioneller Zugang eröffnet sich über den Bourdieu’schen Habitusbegriff, sofern es gelingt, die habituelle Prägung von gesundheitsbezogenen Einstellungen, Werthaltungen und Verhaltensmustern plausibel zu machen und die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit entlang der Wirkungsachse „StrukturHabitus-Praxis“ zu verdeutlichen (Sperlich & Mielck 2000, Winkler 2000, Abel 2007). Auch dem Wechselspiel zwischen sozialen Normen und Formen sozialer Integration, das unter dem Begriff des Sozialkapitals diskutiert wird, ist eine gewisse Bedeutung beizumessen (Kroll & Lampert 2007, siehe hierzu auch Siegrist et al. in diesem Band).
4
Operationalisierung und Indikatorenbildung entlang der Einzeldimensionen Bildung, Berufsstatus und Einkommen
Ausgangspunkt jeder empirischen Analyse zum Einfluss des sozioökonomischen Status auf die Gesundheit und Lebenserwartung ist die Erhebung der Merkmale Bildung, Berufsstatus und Einkommen. Nach der Empfehlung der AG Epidemiologische Methoden sollte dabei von den Demographischen Standards des Arbeitskreises Deutscher Marktforschungsinstitute (ADM), der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute (ASI) und des Statistischen Bundesamtes ausgegangen werden (Jöckel et al. 1998). Die Demographischen Standards, die regelmäßig aktualisiert werden, dienen dem Zweck, sozialstrukturelle Erhebungsmerkmale in Interviews und Befragungen zu vereinheitlichen, um eine größtmögliche Vergleichbarkeit herzustellen. Die aktuelle Version, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, stammt aus dem Jahr 2004 (Statistisches Bundesamt 2004).5 In sozialepidemiologischen Studien gibt es bei der Wahl von Erhebungsinstrumenten und im Hinblick auf die Indikatorenbildung für statistische Analysen bisher viele unterschiedliche Vorgehensweisen. Nachfolgend wird auf Klassifikationen und Skalen zu Bildung, Berufsstatus und Einkommen verwiesen, deren Umsetzung zu einer besseren Vergleichbarkeit sozialepidemiologischer Forschungsbefunde – im nationalen und internationalen Kontext – beitragen würde.
4.1
Bildung
Eine angemessene Beschreibung des Merkmals Bildung setzt Angaben zur schulischen Bildung und zur beruflichen Qualifikation voraus. Nach den Demographischen Standards sollte die schulische Bildung über den höchsten allgemein bildenden Schulabschluss erfasst werden. Angesichts des dreigliedrigen deutschen Schulsystems und der geltenden Schulpflicht lassen sich im Wesentlichen vier Schulabschlüsse unterscheiden: Hauptschulabschluss, Realschulabschluss (Mittlere Reife), Abschluss des Gymnasiums mit der Fachhochschulreife (Fachabitur) und Abschluss des Gymnasiums mit der allgemeinen Hochschulreife (Abitur). Daneben sind einige Sonderformen zu berücksichtigen, die häufig auf ländersspezifische Regelungen zurückgehen, ebenso Schulabgänge ohne Abschluss einer weiterführenden Schule und die Möglichkeit eines noch andauernden Schulbesuchs. Mit Blick auf Personen, die in der DDR ihren Schulabschluss erworben haben, sind die Abschlüsse der Polytechni5
Für das Jahr 2009 ist eine Überarbeitung der demographischen Standards geplant.
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schen Oberschule (POS) und der Erweiterten Oberschule (EOS) einzubeziehen. Außerdem sollte eine offene Antwortkategorie vorgegeben werden, um im Ausland erworbene Abschlüsse erfassen zu können. Vor diesem Hintergrund geben die Demographischen Standards folgendes Erhebungsschema vor (Statistisches Bundesamt 2004)6: Welchen höchsten allgemein bildenden Schulabschluss haben Sie? Sagen Sie es mir bitte anhand dieser Liste: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Schüler/in, besuche eine allgemein bildende Vollzeitschule Schüler/in, besuche eine berufsorientierte Aufbau-, Fachschule o. ä. Von der Schule abgegangen ohne Hauptschulabschluss (Volksschulabschluss) Hauptschulabschluss (Volksschulabschluss) Realschulabschluss (Mittlere Reife) Abschluss der Polytechnischen Oberschule 10. Klasse (vor 1965: 8. Klasse) Fachhochschulreife, Abschluss Fachoberschule Allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife/Abitur (Gymnasium bzw. EOS, auch EOS mit Lehre) Einen anderen Schulabschluss, und zwar:
Im Hinblick auf die berufliche Ausbildung wird empfohlen, nicht nur den höchsten, sondern alle erworbenen Abschlüsse zu erheben. Begründet wird dies mit der Komplexität des deutschen Ausbildungssystems und den aus zusätzlichen Abschlüssen resultierenden Qualifikationsvorteilen. Dieses Verfahren lässt die Möglichkeit offen, den Befragten im Nachhinein den höchsten Ausbildungsabschluss zuzuordnen (Statistisches Bundesamt 2004): Welchen beruflichen Ausbildungsabschluss haben Sie? Was alles auf dieser Liste trifft auf Sie zu? 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Noch in beruflicher Ausbildung (Auszubildende/r, Student/in) Keinen beruflichen Abschluss und bin nicht in beruflicher Ausbildung Beruflich-betriebliche Berufsausbildung (Lehre) abgeschlossen Beruflich-schulische Ausbildung (Berufsfachschule, Handelsschule) abgeschlossen Ausbildung an einer Fachschule, Meister-, Technikerschule, Berufs- oder Fachakademie abgeschlossen Fachhochschulabschluss Hochschulabschluss Einen anderen beruflichen Abschluss, und zwar:
Für sozialepidemiologische Analysen wird zumeist eine einfache Kategorisierung der Variablen vorgenommen. So wird bezüglich des höchsten allgemein bildenden Schulabschlusses häufig zwischen „Volks-/Hauptschulabschluss/kein Abschluss“, „Realschulabschluss/ POS“ und „Fachhochschulreife/Abitur/EOS“ differenziert. Im Hinblick auf die berufliche 6
Die Darstellung der Erhebungsschemata geht von einer Face-to-face- oder schriftlichen Befragung aus. Für telefonische oder Online-Befragungen sind unter Umständen Anpassungen der Frageformulierung und Antwortkategorien vorzunehmen. Ebenso können verschiedene Untersuchungsziele und Themenschwerpunkte eine unterschiedlich differenzierte Erfassung der Merkmale erforderlich machen (siehe hierzu Statistisches Bundesamt 2004).
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Qualifikation bietet sich die Unterscheidung zwischen „kein Ausbildungsabschluss“, „beruflich-betrieblicher Ausbildungsabschluss“,„beruflich-schulischer Ausbildungsabschluss“, „Fachhochschul-/Hochschulabschluss“ an. Für Personen, die ihre schulische bzw. berufliche Ausbildung noch nicht abgeschlossen haben, kann keine Zuordnung vorgenommen werden. Daneben gibt es eine Reihe von Verfahren, die auf der Kombination der Angaben zur schulischen und beruflichen Ausbildung basieren und die zudem den Vorteil haben, dass sie internationale Vergleiche ermöglichen. Ein Indikator, der diese Kriterien erfüllt und zudem relativ leicht bestimmt werden kann, ist die „Ausbildungsdauer (Bildungsjahre)“. Als Berechnungsgrundlage dient dabei die Zahl der Jahre, die üblicherweise aufgewandt werden müssen, um die jeweiligen Abschlüsse zu erwerben.7 Die Bestimmung der Ausbildungsdauer hat allerdings den Nachteil, dass qualitative Unterschiede, die auch bei der gleichen Anzahl der Bildungsjahre bestehen können, nicht erfasst werden. Beispielsweise kann in Deutschland eine Ausbildungsdauer von 12 Jahren sowohl durch den Erwerb der Fachhochschulreife am Gymnasium als auch durch Abschlüsse an Haupt- und Berufsschule erreicht werden (Bloomfield 1998). Mit der „International Standard Classification of Education“ (ISCED) und der Klassifikation „Comparative Analyses of Social Mobility in Industrial Nations“ (CASMIN) liegen zwei Klassifikationssysteme vor, die qualitative Unterschiede in der schulischen und beruflichen Ausbildung berücksichtigen. ISCED wurde Anfang der 1970er von der UNESCO als internationaler Standard entwickelt und zuletzt im Jahr 1997 überarbeitet (UNESCO 2003). Eine Besonderheit dieser Klassifikation ist, dass auch Personen, die sich noch in der Ausbildung befinden, zugeordnet werden können. Insgesamt werden sieben hierarchisch angeordnete Stufen unterschieden; die Skala reicht von 0 (Vorschule) bis 6 (Promotion).
ISCED-Klassifikation 0
Vorschule
1
Grundschule
2
Hauptschule, Realschule
3
Hauptschule, Realschule und • Beruflich-betriebliche Ausbildung (Lehre) abgeschlossen • Beruflich-schulische Ausbildung (Berufsfachschule, Handelsschule) abgeschlossen Gymnasium
4
Fachhochschulreife/Abitur/EOS und beruflicher Abschluss
5
Ausbildung an einer Fachschule, Meister-, Technikerschule, Berufs- oder Fachakademie Hochschulabschluss/Fachhochschulabschluss Promotion
6
Die CASMIN-Klassifikation wurde in den 1970er Jahren für international vergleichende Analysen zur sozialen Mobilität entwickelt. Im Jahr 2003 wurde eine überarbeitete Version 7
Eine direkte Erhebung der Ausbildungsdauer ist nicht sinnvoll, weil diese zu Verzerrungen führen kann, etwa wenn von den Befragten die Wiederholung von Klassenstufen oder Ausbildungsunterbrechungen einbezogen werden.
318
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vorgestellt, die aktuellen Entwicklungen der Bildungssysteme, insbesondere in Großbritannien, Frankreich und Deutschland, Rechnung trägt (Brauns et al. 2003). CASMIN-Klassifikation 1a
Ohne Abschluss
1b
Hauptschule
1c
Hauptschule und • Beruflich-betriebliche Ausbildung (Lehre) abgeschlossen • Beruflich-schulische Ausbildung (Berufsfachschule, Handelsschule) abgeschlossen • Ausbildung an einer Fachschule, Meister-, Technikerschule, Berufs- oder Fachakademie abgeschlossen
2a
Realschule/POS und • Beruflich-betriebliche Ausbildung (Lehre) abgeschlossen • Beruflich-schulische Ausbildung (Berufsfachschule, Handelsschule) abgeschlossen • Ausbildung an einer Fachschule, Meister-, Technikerschule, Berufs- oder Fachakademie abgeschlossen
2b
Realschule
2c_gen
Fachhochschulreife/Abitur/EOS
2c_voc
Fachhochschulreife/Abitur und • Beruflich-betriebliche Ausbildung (Lehre) abgeschlossen • Beruflich-schulische Ausbildung (Berufsfachschule, Handelsschule) abgeschlossen • Ausbildung an einer Fachschule, Meister-, Technikerschule, Berufs- oder Fachakademie abgeschlossen
3a
Fachhochschulabschluss, Ingenieurschule
3b
Hochschulabschluss
Wie ISCED ist CASMIN an Bildungszertifikaten orientiert; diese werden im Hinblick auf ihre funktionale Äquivalenz im Ländervergleich drei Kategorien, unter Berücksichtigung mehrerer Zwischenstufen, zugeordnet. Auf diese Weise werden qualitative Unterschiede zwischen den Ausbildungen sehr gut erfasst. Ein offensichtlicher Nachteil der CASMINKlassifikation ist, dass die Zwischenstufen innerhalb der Hauptkategorien nicht eindeutig nach Rang geordnet sind, was sowohl bei der Auswahl des statistischen Auswertungsverfahrens als auch bei der Interpretation der Analyseergebnisse zu berücksichtigen ist (Bloomfield 1998). Die CASMIN-Klassifikation und der Indikator Ausbildungsdauer (Bildungsjahre) lassen sich auf der Grundlage von Angaben zur schulischen und beruflichen Ausbildung, die gemäß der Demographischen Standards erhoben worden sind, problemlos umsetzen. Für die ISCED-Klassifikation gilt dies nur eingeschränkt, da in den demographischen Standards keine differenzierte Erfassung von noch nicht abgeschlossenen Ausbildungen erfolgt und die Promotion als Bildungsabschluss unberücksichtigt bleibt. Aktuelle Analysen zu Bildungsdisparitäten in Europa beschreiben für Deutschland einige Probleme hinsichtlich der internationalen Vergleichbarkeit von Bildungsklassifikationen (Müller & Klein 2008). Die Zuordnungsregeln der ISCED-Klassifikation werden dabei besonders kritisiert, weil die in Deutschland häufige Qualifikation „Ausbildung an Fachschulen“ (ISCED-5) als tertiärer und nicht – wie in der CASMIN-Klassifikation – als sekundärer Bildungsabschluss gewertet wird. Die soziale Heterogenität der Kategorie ISCED-5 ist dadurch deutlich größer als die Heterogenität der Gruppe CASMIN-3. Dies führt
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319
in Deutschland – auf Basis der ISCED-Klassifikation – zu einer Unterschätzung bildungsbezogener Ungleichheiten.8
4.2
Berufsstatus
In Deutschland wird der Berufsstatus in der Regel über Angaben zur beruflichen Tätigkeit und zur Stellung im Beruf erfasst. Die Erhebung der beruflichen Tätigkeit sollte nach den Demographischen Standards über drei offene Fragen erfolgen, die sich auf die „ausgeübte Tätigkeit“, die „genaue Beschreibung der Tätigkeit“ und die „Benennung besonderer Namensbezeichnungen der Tätigkeit“ beziehen (Statistisches Bundesamt 2004): 1. Welche berufliche Tätigkeit üben Sie derzeit hauptsächlich aus? Wenn Sie nicht mehr erwerbstätig sind, welche Tätigkeit haben Sie bei Ihrer früheren hauptsächlichen Erwerbstätigkeit zuletzt ausgeübt? 2. Bitte beschreiben Sie mir diese berufliche Tätigkeit genau. 3. Hat dieser Beruf noch einen besonderen Namen?
Auf dieser Grundlage kann eine Einteilung der mittlerweile 30.000 in Deutschland registrierten Bezeichnungen von Berufen in überschaubare Gruppen gleichartiger Tätigkeiten erfolgen. Dazu wird gegenwärtig entweder auf die „Klassifikation der Berufe“ des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 1992 (KldB-92) oder – insbesondere für den internationalen Vergleich – auf die „International Standard Classification of Occupations“ der International Labour Organization (ILO), die Ende der 1950er Jahre entwickelt und in den Jahren 1968 (ISCO-68) und 1988 (ISCO-88) grundsätzlich überarbeitet wurde, zurückgegriffen (Geis & Hoffmeyer-Zlotnik 2001, Hoffmann 2003). Die KldB-92 umfasst insgesamt 2.287 Tätigkeiten, beim ISCO-68 und ISCO-88 sind es 1.881 bzw. 390. Zur Erfassung der Stellung im Beruf, die nicht alternativ zur offenen Berufsabfrage zu sehen ist, sondern eine notwendige Voraussetzung für die Berufsvercodung darstellt, sollte nach den Demographischen Standards ein Instrument verwendet werden, das für die Mikrozensus-Zusatzerhebung 1971 entwickelt wurde (Statistisches Bundesamt 2004).
8
So weisen die Ergebnisse des EU-SILC anhand des ISCED-Indikators für Deutschland geringe soziale Unterschiede in der Bildungsbeteiligung auf und stehen damit im Widerspruch zu den Ergebnissen der PISA-Studien (Prenzel et al. 2007, Müller & Klein 2008).
320
Thomas Lampert, Lars E. Kroll
1. Welche berufliche Stellung trifft derzeit auf Ihre hauptsächlich ausgeübte Erwerbstätigkeit zu bzw. welche berufliche Stellung hatten Sie zuletzt bei Ihrer früheren hauptsächlich ausgeübten Erwerbstätigkeit? Nennen Sie mir bitte zunächst Ihre genaue Berufsbezeichnung. 2. Und dann sagen Sie mir bitte nach dieser Liste hier, zu welcher Gruppe dieser Beruf gehört: Selbständige/r Landwirt/in bzw. Genossenschaftsbauer/-bäuerin ... mit einer landwirtschaftlich genutzten Fläche bis unter 10 ha ... mit einer landwirtschaftlich genutzten Fläche von 10 und mehr ha ... Genossenschaftsbauer/-bäuerin (ehemals LPG) Akademiker/in in freiem Beruf (Arzt/Ärztin, Rechtsanwalt/-anwältin, Steuerberater/in u. ä.) und habe/hatte ... ... keine weiteren Mitarbeiter/innen ... 1 bis 4 Mitarbeiter/innen ... 5 und mehr Mitarbeiter/innen Selbständig im Handel, Gewerbe, Handwerk, Industrie, Dienstleistung, auch Ich-AG oder PGH-Mitglied und habe/hatte ... ... keine weiteren Mitarbeiter/innen ... 1 bis 4 Mitarbeiter/innen ... 5 und mehr Mitarbeiter/innen ... PGH-Mitglied Beamter/Beamtin, Richter/in, Berufssoldat/in, und zwar ... ... im einfachen Dienst (bis einschl. Oberamtsmeister/in) ... im mittleren Dienst (von Assistent/in bis einschl. Hauptsekretär/in, Amtsinspektor/in) ... im gehobenen Dienst (von Inspektor/in bis einschl. Oberamtsrat/-rätin) ... im höheren Dienst, Richter/in (von Rat/Rätin aufwärts) Angestellte/r, und zwar ... ... mit ausführender Tätigkeit nach allgemeinen Anweisung (z. B. Verkäufer/in, Kontorist/in, Datentypist/in) ... mit einer qualifizierten Tätigkeit, die ich nach Anweisung erledige (z. B. Sachbearbeiter/in, Buchhalter/in, technische/r Zeichner/in) ... mit eigenständiger Leistung in verantwortlicher Tätigkeit bzw. mit Fachverantwortung für Personal (z. B. wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in, Prokurist/in, Abteilungsleiter/in bzw. Meister/in) im Angestelltenverhältnis ... mit umfassenden Führungsaufgaben und Entscheidungsbefugnissen (z. B. Direktor/in, Geschäftsführer/in, Mitglied des Vorstandes) Arbeiter/in, und zwar ... ... ungelernt ... angelernt ... Facharbeiter/in ... Vorarbeiter/in, Kolonnenführer/in ... Meister/in, Polier/in, Brigadier/in Ausbildung, und zwar ... ... als kaufmännisch-technische/r Auszubildende/r ... als gewerbliche/r Auszubildende/r ... in sonstiger Ausbildungsrichtung Mithelfende/r Familienangehörige/r
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Die vorangestellte offene Berufsabfrage ist, wenn keine differenzierte Erfassung der beruflichen Tätigkeit erfolgt, für Kontrollzwecke bei der Datenaufbereitung notwendig. Sofern auch die zuvor genannten drei Fragen zur Art der beruflichen Tätigkeit gestellt werden, kann sie dagegen entfallen.9 Mit der Erhebung der beruflichen Tätigkeit und der Stellung im Beruf sind unterschiedliche Analysemöglichkeiten verbunden. In Bezug auf die berufliche Tätigkeit ist vor allem auf Prestige- und Status-Skalen zu verweisen, die ausgehend von der ISCO-68 ermittelt werden (Übersichten bei Hoffmeyer-Zlotnik & Geis 2003, Ganzeboom & Treimann 2003). Die Prestigeskalen messen das soziale Ansehen von Berufen und bringen diese in eine hierarchische Ordnung. Für internationale Vergleiche wird vor allem auf die „Standard International Occupational Prestige Scale (SIOPS)“ zurückgegriffen, die auf dem ISCO-68 basiert und durch eine Meta-Analyse gewonnen wurde, in die Ergebnisse von 60 nationalen und regionalen Studien eingegangen sind (Treimann 1977). In Deutschland ist die „Magnitude Prestige Skala (MPS)“ das wichtigste Instrument zur Erfassung des beruflichen Prestiges. Sie geht ebenfalls vom ISCO-68 aus und basiert auf zwei Befragungen zum sozialen Ansehen und der Rangordnung von Berufen, die in den Jahren 1979 und 1980 durchgeführt wurden (Wegener 1988). Von den vorhandenen Status-Skalen erfahren in der internationalen Forschung der „International Socio-Economic-Index of Occupational Status (ISEI)“ (Ganzeboom et al. 1992) und die „Erikson-Goldthorpe-Portocarero-Klassifikation (EGP)“ (Erikson et al. 1979, Erikson & Goldthorpe 1992), die wie die Prestige-Skalen auf dem ISCO-68 beruhen, die größte Aufmerksamkeit.10 Für die ISEI-Skala werden außerdem Informationen zur Bildung und zum Einkommen herangezogen. Dahinter steht die Überlegung, dass jede berufliche Tätigkeit einen bestimmten Bildungsgrad erfordert und durch ein bestimmtes Lohnniveau gekennzeichnet ist. Grundlage für die Entwicklung der Skala waren 31 Untersuchungen aus 16 verschiedenen Ländern. Die EGP-Klassifikation basiert hingegen auf der Kombination von Angaben zur beruflichen Tätigkeit mit Informationen zur beruflichen Stellung und zielt auf die Ermittlung von Klassenlagen, die sich auf die Position im Spannungsverhältnis von Marktlage und Arbeitssituation beziehen. Unter Berücksichtigung der Merkmale Wirtschaftssektor, Position im Wirtschaftssektor, Ausmaß der Personalverantwortung sowie abhängige Beschäftigung vs. Selbstständigkeit werden 11 Klassenlagen gebildet, die aber – im Unterschied zu den anderen Skalen – in keiner eindeutigen Rangfolge stehen. Ausgehend von der EGP-Klassifikation gab es in den letzten Jahren Anstrengungen, diese auch in die Sozialberichterstattung der Europäischen Union eingehen zu lassen (Müller et al. 2007). In einem internationalen Forschungsprojekt wurde dazu die sogenannte European Socioeconomic Classification (ESeC) entwickelt. Im Unterschied zum EGP-Schema wurde das Instrument für viele Mitgliedsstaaten der EU einheitlich operationalisiert und validiert. ESeC kann auf Basis vieler Datensätze gebildet werden. Das Projekt stellt dazu die Syntax für gängige Statistikpakete auf Basis der ISCO-88 Codes der beruflichen Tätigkeit bereit.11 9
10 11
Sofern nicht die personellen Ressourcen für eine eigene Codierung der Angaben zur beruflichen Tätigkeit vorhanden sind oder besondere Anforderungen an die Datenqualität gestellt werden, besteht die Möglichkeit diese durch die GESIS durchführen zu lassen (GESIS 2008). Die GESIS – ein gemeinnütziger Verein – führt diese Vercodungen seit den 1970er Jahren durch. Für 1.000 Befragte entstehen Kosten von etwa 400 bis 500 Euro (Stand: September 2008). Für die SIOPS-, ISEI- und EGP-Skala liegt inzwischen eine Anpassung an den ISCO-88 vor (Ganzeboom et al. 1996), für die MPS-Skala ist bislang keine Umstellung erfolgt. Vgl. http://www.iser.essex.ac.uk/esec/
322
Thomas Lampert, Lars E. Kroll
Da die Vercodung der Klartextangaben zur beruflichen Tätigkeit mit einem erheblichen Zeit- und Kostenaufwand verbunden ist, wurde zusätzlich zu den ISCO-basierten Prestigeund Statusskalen ein Indikator des beruflichen Status entwickelt, der einzig auf Angaben zur beruflichen Stellung beruht und an der Autonomie des beruflichen Handelns anknüpft. Entscheidendes Zuordnungskriterium zu einer der fünf hierarchisch angeordneten Gruppen sind entsprechend die mit der jeweiligen Stellung im Beruf verbundenen Entscheidungsbefugnisse und Verantwortlichkeiten (Hoffmeyer-Zlotnik 1993, 2003). Eine Validitätsprüfung anhand von Daten für die Jahre 1980 bis 1992 erbrachte hohe Korrelationen zwischen der Skala „Autonomie des beruflichen Handelns“ und SIOPS, MPS und ISEI (jeweils etwa r=0,6; Wolf 1998). Bei der Anwendung der dargestellten Instrumente zur Beschreibung des Berufsstatus treten bei Erwerbslosen und Nicht-Erwerbspersonen Zuordnungsprobleme auf. Um diesen ebenfalls einen Berufsstatus zuweisen zu können, empfiehlt die AG Epidemiologische Methoden Erwerbslosen und Nichterwerbspersonen ihren eigenen ehemaligen Berufsstatus oder den Status ihrer nächsten Angehörigen zuzuweisen.12 Auf Basis eines entsprechend konstruierten Berufsstatus können allerdings keine berufsspezifischen Hypothesen zu den direkten und indirekten Einflüssen des Arbeitsplatzes auf die Gesundheit überprüft werden. Er ist vielmehr ein allgemeiner Indikator des sozioökonomischen Status. Sofern keine Hypothesen untersucht werden, die sich direkt oder indirekt an der Arbeitswelt festmachen, empfiehlt sich darum eine bildungs- oder einkommensbezogene Messung des sozioökonomischen Status. Diese kann auch auf Erwerbslose und Nichterwerbstätige angewendet werden.
4.3
Einkommen
In Bezug auf das Einkommen ist aus Sicht der sozialepidemiologischen Forschung vor allem das Haushaltsnettoeinkommen, das den finanziellen Handlungsspielraum des Haushaltes absteckt, von Bedeutung.13 Das Haushaltsnettoeinkommen ergibt sich aus der Summe der durch die Teilnahme am Wirtschaftsprozess erzielten Einkommen aller Haushaltsmitglieder zuzüglich öffentlicher und nicht-öffentlicher Transferzahlungen nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Da in der Erhebungspraxis beim Haushaltsnettoeinkommen mit einer höheren Antwortverweigerung gerechnet werden muss als bei der schulischen und beruflichen Ausbildung sowie der beruflichen Tätigkeit und der Stellung im Beruf, wird in den Demographischen Standards eine zweistufige Abfrage empfohlen. Dabei werden die Befragungspersonen zunächst gebeten, den genauen Betrag des monatlichen Haushaltsnettoeinkommens anzugeben. Wenn Sie dazu keine Auskunft geben können oder wollen, wird die Frage mit Hinweis auf den Verwendungszweck und die Anonymität der Auswertung wiederholt und eine Liste mit Kategorien, die durch zufällig vergebene Buchstaben gekennzeichnet sind, vorgelegt (Statistisches Bundesamt 2004):
12 13
Zum Vorgehen vgl. Jöckel et al. (1998). Für bestimmte Fragestellungen kann auch die Erhebung des persönlichen Nettoeinkommens, das z.B. Rückschlüsse auf die Stellung in der Arbeitswelt und damit verbundene Belastungen und Belohnungen zulässt, sinnvoll sein. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass nicht alle Personen über ein eigenes Einkommen verfügen und viele Einkommensbezieher ihr Einkommen mit anderen Personen im Haushalt teilen. Das persönliche Einkommen sollte deshalb nur ergänzend und nicht anstelle des Haushaltseinkommens erhoben werden (vgl. Jöckel 1998).
323
Die Messung des sozioökonomischen Status
1. Wie hoch ist das monatliche Nettoeinkommen Ihres Haushaltes insgesamt? Ich meine dabei die Summe, die sich aus Lohn, Gehalt, Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, Rente oder Pension ergibt. Rechnen Sie bitte auch die Einkünfte aus öffentlichen Beihilfen, Einkommen aus Vermietung, Verpachtung, Wohngeld, Kindergeld und sonstige Einkünfte hinzu und ziehen Sie dann Steuern und Sozialversicherungsbeiträge ab. 2. Auch bei dieser Frage geht es darum, Gruppen in der Bevölkerung mit z.B. hohem, mittlerem oder niedrigem Einkommen auswerten zu können. Es würde uns daher sehr helfen, wenn Sie die Einkommensgruppe nennen würden zu der Ihr Haushalt gehört. Sie können sicher sein, dass Ihre Antwort nicht in Verbindung mit Ihrem Namen ausgewertet wird. Bitte sagen Sie mir, welcher Buchstabe von dieser Liste14 hier auf das Netto-Einkommen Ihres Haushalts zutrifft. Monatlich netto: B P 150 T 400 F 500 . . . W 7.500 D 10.000 Y 20.000
unter bis unter bis unter bis unter
bis unter bis unter und mehr
150 Euro 400 Euro 500 Euro 1.000 Euro
10.000 Euro 20.000 Euro
Für die statistische Auswertung müssen die zweistufig erhobenen Angaben in eine Variable überführt werden. Dazu können die genauen Beträge den vorgegebenen Kategorien zugeordnet werden, was allerdings mit einem Informationsverlust verbunden ist. Soll eine metrische Einkommensskala konstruiert werden, müssen die fehlenden Werte ausgehend von den kategorialen Angaben geschätzt werden, z.B. über die auf die vorgegebenen Kategorien bezogenen Mittelwerte (Mean oder Median), die auf der Grundlage der vorhandenen (genauen) Einkommenswerte ermittelt werden können. Für die Befragten, die keine Angaben zu ihren Einkommen machen wollen, besteht die Möglichkeit, die Einkommenswerte auf Basis anderer soziodemographischer Merkmale und – im Fall von Längsschnittstudien – anhand früherer Einkommensangaben statistisch zu schätzen (vgl. Frick & Grabka 2005). Darüber hinaus empfiehlt sich eine Äquivalenzbilanzierung des Haushaltsnettoeinkommens. Auf diese Weise werden Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in einem Mehr-Personen-Haushalt und unterschiedliche Einkommensbedarfe der Haushaltsmitglieder berücksichtigt (Hauser 1996). Zur Berechnung des Netto-Äquivalenz-einkommens wird für jedes Haushaltsmitglied ein Bedarfsgewicht angesetzt, das sich am Alter festmacht und den angenommenen Einkommensbedarf in Relation zum Haushaltsvorstand wiedergibt. In den letzten Jahren wurden verschiedene Skalen zur Bedarfsgewichtung entwickelt, von denen sich die neue OECD-Skala inzwischen als Standard durchgesetzt hat 14
Die Zahl der Antwortkategorien hängt vom jeweiligen Erkenntnisinteresse ab. In den Demographischen Standards wird eine Liste mit insgesamt 25 Kategorien vorgeschlagen. Für die meisten sozialepidemiologischen Studien reicht eine gröbere Einteilung aus. Allerdings sollte darauf geachtet werden, dass die Einkommensverteilung hinreichend differenziert beschrieben werden kann und auch sehr niedrige und sehr hohe Einkommen erfasst werden.
324
Thomas Lampert, Lars E. Kroll
(Ausschuss für Sozialschutz 2001, BMAS 2008). Demnach ist dem Haushaltsvorstand ein Bedarfsgewicht von 1, jeder weiteren Personen ab 14 Jahren ein Bedarfsgewicht von 0,5 sowie Kindern und Jugendlichen unter 14 Jahren ein Bedarfsgewicht von 0,3 zuzuweisen (DIW et al. 2007).15,16 Ausgehend vom Äquivalenzeinkommen werden für statistische Analysen verschiedene Indikatoren vorgeschlagen, die auch für sozialepidemiologische Fragestellungen aussagekräftig sind. Ein Beispiel ist das „relative Armutsrisiko“, das sich gemäß einer auf EUEbene erzielten Vereinbarung durch ein Netto-Äquivalenzeinkommen unterhalb von 60% des gesellschaftlichen Medians bestimmt (Ausschuss für Sozialschutz 2001). Die Verwendung dieses Indikators in sozialepidemiologischen Studien hat den Vorteil, dass sich die Ergebnisse in Zusammenhang mit der amtlichen Statistik und Berichterstattung zu Ausmaß und Entwicklung der Armut in Deutschland bringen lassen (BMAS 2008, BMGS 2005, Lampert et al. 2005). Für die Analyse der Einkommensungleichheit, die auch die Verteilung der Einkommen oberhalb der Armutsgrenze berücksichtigt, wurde vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) der Indikator „relative Einkommensposition“ entwickelt (Grabka & Krause 2005, vgl. auch Hübinger 1996), der bisweilen auch für sozialepidemiologische Studien herangezogen wird (Lampert et al. 2007). Dazu werden ausgehend vom gesellschaftlichen Median des Netto-Äquivalenzeinkommens neben der Armutsrisikogruppe (weniger als 60%) vier weitere Einkommensgruppen unterschieden: 60% bis unter 80%, 80% bis unter 100%, 100% bis unter 150% sowie 150% und mehr. Alternativ kann die relative Einkommensungleichheit über empirisch ermittelte Quintile oder Quartile abgebildet werden, ein Vorgehen, das in der Armutsforschung eine lange Tradition hat.
5
Konstruktion mehrdimensionaler Indices
In vielen sozialepidemiologischen Studien werden zur Messung des sozioökonomischen Status mehrdimensionale Indices verwendet, die auf einer Aggregation der Angaben zu Bildung, Berufsstatus und Einkommen basieren. Begründet wird dieses Vorgehen mit der Mehrdimensionalität und Vielschichtigkeit des gesellschaftlichen Ungleichheitsgefüges, das durch einzelne Indikatoren, auch wenn diese nebeneinander betrachtet werden, nur unzureichend abgebildet wird. Ein frühes Beispiel ist der Sozialprestige-Index von Scheuch, der aus der bereits erwähnten Studie „Sozialprestige und soziale Schichtung“ hervorgegangen ist (Scheuch 1970). Aktuell wird in der sozialepidemiologischen Forschung der im Rahmen der „Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie (DHP)“ entwickelte Schicht-Index am häufigsten verwendet (Hoffmeister et al. 1992).
15
16
Beispielsweise ergibt sich für einen Paarhaushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren und einem Haushaltsnettoeinkommen von 4.200 Euro aus der Summe der Bedarfsgewichte (1+0,5+0,3+0,3) ein Einkommensbedarf vom 2,1-fachen eines Singlehaushaltes und ein Netto-Äquivalenzeinkommen von 2.000 Euro. Für die Berechnung des Netto-Äquivalenzeinkommens sind demzufolge neben der Angabe zum Haushaltsnettoeinkommen (genauer Betrag) auch Informationen zur Haushaltsgröße und zum Alter der Haushaltsmitglieder erforderlich. Wenn die Altersstruktur der Haushaltsmitglieder nicht bekannt ist, kann eine behelfsmäßige Gewichtung anhand der Quadratwurzel der Haushaltsgröße vorgenommen werden (Hauser 1996).
325
Die Messung des sozioökonomischen Status
Tabelle 18.1: Berechnungsgrundlage für den Schichtindex in den telefonischen Gesundheitssurveys 2003-2006 Schulbildung Schüler Ohne Abschluss, Haupt-/ Volksschule, Realschule/ mittlere Reife, POS/10. Klasse, Fachhochschulreife/Fachoberschule, anderer Schulabschluss
Berufliche Qualifikation
Einkommen
Berufliche Stellung
Punktwert
unter 1.250 Euro
Schüler, in Lehre, in Berufsausbildung, Studenten, ungelernte Arbeiter
1
und
Keinen Berufsabschluss, anderer Berufsabschluss, in Lehre, in Berufsausbildung
Ohne Abschluss, Haupt-/ Volksschule, anderer Schulabschluss
und
Lehre, Berufsfachschule, Handelsschule, Fachschule
1.250 – 1.749 Euro
Angelernte Arbeiter, gelernte oder Facharbeiter, sonstige Arbeiter, Landwirte, Genossenschaftsbauern
2
Realschule/mittlere Reife
und
Lehre, Berufsfachschule, Handelsschule, Fachschule, Studenten
1.750 – 2.249 Euro
Vorarbeiter/Kolonnenführer/ Meister/ Poliere/Brigadiere, Angestellte mit einfacher Tätigkeit, Beamte im einfachen Dienst, mithelfende Familienangehörige
3
POS/10. Klasse, Fachhochschulreife/ Fachoberschule
und
Lehre, Berufsfachschule, Handelsschule, Fachschule, Studenten
2.250 – 2.999 Euro
Angestellte Industrie-/Werkmeister, Angestellte mit qualifizierter Tätigkeit, sonstige Angestellte, Beamte im mittleren Dienst
4
Abitur/EOS
und
Keinen Berufsabschluss, Lehre, Berufsfachschule, Handelsschule, Fachschule, in Lehre, Studenten
3.000 – 3.999 Euro
Selbstständige mit bis zu 9 Mitarbeitern
5
Abitur/EOS
und
Fachhochschule/ Ingenieurschule
4.000 – 4.999 Euro
Angestellte mit hochqualifizierter Tätigkeit, Beamte im gehobenen Dienst, Freiberufllich/selbstständige Akademiker/Künstler/Publizist, Selbstständige ohne weitere Angaben
6
Abitur/EOS
und
Universität/Hochschule
über 5.000 Euro
Angestellte mit umfassender Führungstätigkeit, Beamte im höheren Dienst, Selbstständige mit 10 und mehr Mitarbeitern
7
POS=Polytechnische Oberschule, EOS=Erweiterte Oberschule
Quelle: eigene Abbildung
Der Index wurde später von Joachim Winkler für den Bundes-Gesundheitssurvey 1998 und die telefonischen Gesundheitssurveys 2003 bis 2007, welche vom Robert Koch-Institut durchgeführt wurden, an die jeweils veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere die Entwicklung der nominalen Einkommen und der Bildungsbeteiligung der Bevölkerung, angepasst (Winkler & Stolzenberg 1999, Lampert 2005). Die zentralen Dimensionen der Schichtzugehörigkeit werden dabei über die Indikatoren schulische und berufliche Bildung, Haushaltsnettoeinkommen und berufliche Stellung abgebildet, die mit gleichem Gewicht in den Index eingehen. Dazu werden die Ausgangsvariablen in ordinale Skalen mit jeweils sieben Kategorien überführt und diesen Punktwerte von 1 bis 7 zugewiesen (siehe Tabelle 18.1). Liegen zu allen drei Variablen gültige Angaben vor, ergibt sich der Indexwert aus der Summe der einzelnen Punktwerte. Der Index kann dementsprechend Werte zwischen 3 und 21 annehmen. Fehlt bei einer Variablen ein Wert, wird er durch das
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Thomas Lampert, Lars E. Kroll
arithmetische Mittel der Werte der beiden anderen Variablen ersetzt. Wenn mehr als ein Wert fehlt, wird der Indexwert nicht berechnet. Durch dieses Verfahren kann die Zahl der fehlenden Werte sehr gering gehalten werden; in den Gesundheitssurveys des Robert KochInstituts liegt der Anteil fehlender Werte beim Schichtindex regelmäßig unter 2% (Winkler & Stolzenberg 1999, Lampert 2005).17 Der so konstruierte Schicht-Index kann in multivariaten Analysen als (quasi) metrische Variable behandelt werden. Für deskriptive Darstellungen erfolgt zumeist eine Gruppierung der Punktwerte und Einteilung in soziale Schichten. Wie viele soziale Schichten abgegrenzt werden, hängt von der jeweiligen Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse ab. Im Rahmen der Gesundheitssurveys des RKI werden zumeist drei Gruppen unterschieden, wobei die Einteilung in der Regel so vorgenommen wird, dass jede Schicht ungefähr die gleiche Anzahl von Indexwerten umfasst (Unterschicht: 3 bis 8, Mittelschicht: 9 bis 14, Oberschicht: 15 bis 21; Winkler & Stolzenberg 1999). Zu berücksichtigen ist dabei, dass sich für eine solche Gruppierung keine theoretische Begründung finden lässt und diese deshalb immer willkürlich bleibt. Besonders problematisch erscheint ein solches Vorgehen, wenn die gebildeten Gruppen mit Bezeichnungen wie Unter- oder Oberschicht belegt werden, die nicht nur darüber hinwegtäuschen, dass es sich um statistische Konstrukte handelt, sondern zugleich im hohen Maße normativ behaftet sind. Häufig wird auch ein alternativer Schichtindex verwendet, der heute u.a. im Bertelsmann Gesundheitsmonitor Anwendung findet (Helmert & Buitkamp 2008). Es handelt sich, analog zum Schichtindex in den Gesundheitssurveys des RKI, um einen additiven Index. Der Index basiert ebenfalls auf Angaben zu Bildung, Berufsstatus und Einkommen. Im Unterschied zum Schichtindex nach Winkler und Stolzenberg (1999) wird das Einkommen auf Basis des bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens ermittelt. Das bedarfsgewichtete Haushaltsnettoeinkommen repräsentiert die materielle Lage besser als ungewichtete Einkommensangaben. In den letzten Jahren wurden in der Sozialepidemiologie verschiedene Alternativen zur additiven Indexbildung erprobt. So wurde in der internationalen Studie „Gender, Alcohol and Culture (GENACIS)“ die Methode der optimalen Skalierung (kategoriale Hauptkomponentenanalyse) verwendet, um einen empirisch bestimmten Schicht-Index zu entwickeln (Grittner et al. 2006). Einbezogen wurden Angaben zur schulischen und beruflichen Bildung, zur beruflichen Stellung sowie zum Netto-Äquivalenzeinkommen. Ergebnis der optimalen Skalierung war ein zweidimensionaler Index: Die erste Dimension klärte mehr als 60% der Gesamtvarianz auf und war im hohen Maße durch die Korrespondenz zwischen den Ausgangsvariablen bestimmt. Die zweite Dimension, die weitere 25% zur Varianzaufklärung beitrug, resultierte hingegen daraus, dass bei einigen Personen die Korrelationen zwischen den einbezogenen Variablen nur gering waren, was sich vor allem in Divergenzen zwischen der Höhe der Bildung bzw. beruflichen Stellung und der Höhe des Einkommens 17
Für den Schicht-Index liegen Validitätsprüfungen vor, die von Christof Wolf unter Einbeziehung weiterer Statusmaße, u.a. International Socioeconomic Index nach Ganzeboom et al. (1992), Berufsprestige nach Mayer (1977), Berufsprestige nach Wolf (1998) und Autonomie des beruflichen Handelns nach HoffmeyerZlotnik (1998) durchgeführt wurden (Wolf 1998). Dabei ergaben sich hohe Korrelationen zwischen den Statusmaßen (r=0,63 bis r=0,97), was als Beleg dafür angesehen werden kann, dass sie den gleichen Gegenstand messen. Bezüglich der Prüfung der Diskriminationskraft bei bekannten empirischen Zusammenhängen zu den Risikomerkmalen Bewegungsmangel und Body-Mass-Index (Übergewicht) zeigten sich für den Schicht-Index stärkere Korrelationen als für die meisten anderen Statusmaße (r=-0,30 beim Bewegungsmangel und r=-0,20 beim Body-Mass-Index).
Die Messung des sozioökonomischen Status
327
ausdrückte. Ein Vorteil dieser zweidimensionalen Betrachtung ist somit, dass auch Statusinkonsistenzen berücksichtigt werden, die bei Verwendung eines additiven, auf eine eindimensionale Skala bezogenen Index verborgen bleiben. Welcher praktische Nutzen sich damit verbindet, wird in der GENACIS-Studie am Beispiel von Personen mit niedriger und mittlerer beruflicher Stellung bei gleichzeitig hohem Einkommen demonstriert, die überproportional häufig zu einem riskanten Alkoholkonsum (regelmäßiges Rauschtrinken) neigen (Grittner et al. 2006). Im Kontext der verstärkten Orientierung sozialepidemiologischer Forschung an lebenslaufbezogenen Ansätzen (siehe hierzu auch Dragano & Siegrist in diesem Band) besteht zunehmender Bedarf, den sozioökonomischen Status bereits bei Kindern und Jugendlichen zu operationalisieren. Im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch-Instituts werden dazu – analog zum Vorgehen in den telefonischen Gesundheitssurveys – die Angaben der Eltern zu ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung, ihrer beruflichen Stellung und zum Haushaltsnettoeinkommen herangezogen (Lange et al. 2007, Lampert & Kurth 2007). Da in KiGGS die Informationen von beiden Elternteilen vorliegen, wird der Statusindex für Vater und Mutter getrennt berechnet. Bei zusammen lebenden Eltern wird der Familie und den Kindern der Indexwert des Elternteils mit dem höheren Status zugewiesen, bei getrennt lebenden Eltern erhalten die Kinder den Wert des Elternteils, bei dem sie überwiegend leben. Auch in den Schuleingangsuntersuchungen des Landes Brandenburg wird der sozioökonomische Status der Kinder anhand von Angaben der Eltern operationalisiert (LGA Brandenburg 2007). Als Teil der Sozialanamnese bei den kinderärztlichen Einschulungsuntersuchungen werden Fragen nach der Schulbildung und dem Erwerbsstatus der Eltern gestellt. Aus den Antworten der Eltern wird ein additiver Index gebildet. Unterschieden wird zwischen niedriger (weniger als 10 Schuljahre, 1 Punkt), mittlerer (10 Schuljahre, 2 Punkte) und höherer Schulbildung (mehr als 10 Schuljahre, 3 Punkte) beziehungsweise Erwerbslosigkeit (1 Punkt) und Teilzeit- oder Vollzeiterwerbstätigkeit (2 Punkte). Die Werte beider Eltern werden anschließend addiert. Liegen nur die Angaben eines Elternteils vor, werden dessen Punkte verdoppelt. Auf Basis der Punktwerte werden drei Gruppen unterschieden, die als niedriger (4 bis 6 Punkte), mittlerer (7 bis 8 Punkte) und hoher Sozialstatus (9 bis 10 Punkte) bezeichnet werden. In vielen Studien kann jedoch nur auf die Angaben der Kinder oder Jugendlichen zurückgegriffen werden, um den sozioökonomischen Status zu ermitteln. Beispielhaft sei auf die von der WHO unterstützten Studie „Health Behaviour in School-Aged Children“ (HBSC) verwiesen (Currie et al. 2008a/b, Richter 2005, Richter 2008). In dieser Studie wird mit der sogenannten „Family Affluence Scale“ (FAS) ein additiver Index des familiären Wohlstands verwendet. Der Index basiert auf Angaben zu vier Items, die auch durch Kinder einfach zu beantworten sind (vgl. Tabelle 18.2). Dabei lässt sich der Index auf verschiedene Arten bilden und klassifizieren. Eine Möglichkeit ist, auf Basis der summierten Punktwerte drei Gruppen des familiären Wohlstands zu unterschieden. Sie beschreiben niedrigen (0 bis 3 Punkte), mittleren (4 bis 5 Punkte) und hohen familiären Wohlstand (6 bis 7 Punkte).
328
Thomas Lampert, Lars E. Kroll
Tabelle 18.2: Family Affluence Scale (FAS) Item
Antwortvorgaben
Anzahl der Autos in der Familie
0
Anzahl der Urlaubsreisen in den letzten 12 Monaten Eigenes Zimmer des Jugendlichen Anzahl der Computer im Haushalt Punkte:
1
2 oder mehr 2 oder mehr
0
1
Nein
Ja
0
1
2 oder mehr
0
1
2
Quelle: eigene Abbildung
Den genannten Sozialprestige- und Schicht-Indices ist gemeinsam, dass ihre Messung des sozioökonomischen Status auf der Individualebene ansetzt. Für die sozialepidemiologische Forschung sind daneben aber auch Indices relevant, die sich auf Merkmale des Sozialraumes beziehen und z.B. ermöglichen, Unterschiede in der Lebenserwartung auf kommunaler, regionaler oder Länderebene zu analysieren. Solchen Analysen liegt die Annahme zugrunde, dass sozialräumliche Belastungen und Risiken für sich gesehen, also unabhängig von der individuellen sozioökonomischen Position, einen Einfluss auf die Gesundheit und Lebenserwartung haben. Beispielhaft sei auf den Sozial-Index verwiesen, der von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales in Berlin entwickelt wurde, um die sozialräumliche Struktur der Berliner Bezirke zu charakterisieren (Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz 2004). Ermittelt wird dieser Index durch eine Faktorenanalyse, also mittels eines statistischen Verfahrens, das wie die Methode der optimalen Skalierung explorativen Charakter hat. In die Analyse gingen 25 soziale Kenngrößen ein, die überwiegend aus amtlichen Statistiken und dem Mikrozensus stammen, u.a. Arbeitslosenquote, Anteil der Arbeiter, Angestellten bzw. Selbstständigen an den Erwerbstätigen, Sozialhilfeempfängerquote, mittleres Pro-Kopf- und Haushaltsnettoeinkommen, Anteil der Personen mit Volks-/Hauptschulabschluss, ohne Ausbildungsabschluss bzw. mit (Fach-)Hochschulreife an der Bevölkerung, Anteil der allein Erziehenden mit Kindern unter 18 Jahren an allen Familien mit Kindern im entsprechenden Alter, Anteil ausländischer Personen an der Bevölkerung, vorzeitige Sterblichkeit und mittlere Lebenserwartung. Das Ergebnis waren zwei Faktoren, anhand derer sich die sozialräumliche Struktur der Berliner Bezirke adäquat beschreiben lässt. Der erste Faktor, der als Sozial-Index interpretiert wird, klärte mehr als 42% der Gesamtvarianz auf und wurde insbesondere durch die Kenngrößen bestimmt, die eine soziale Betroffenheit der Bezirke anzeigen. Der zweite Faktor, der vor allem Unterschiede in schulischen und Ausbildungsabschlüssen zum Ausdruck bringt, trug weitere 25% zur Varianzaufklärung bei (ebd.).
6
Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass mit den Demographischen Standards eine Empfehlung zur Erhebung der Merkmale Bildung, Berufsstatus und Einkommen vorliegt, die auch für die sozialepidemiologische Forschung gut geeignet ist. Da die Operationalisie-
Die Messung des sozioökonomischen Status
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rung anhand weniger einfacher Fragen möglich ist, die sich relativ leicht in Erhebungsprogramme integrieren lassen, bleibt unverständlich, warum in vielen Studien der sozioökonomische Status auf andere Weise gemessen wird. Um Indikatoren und Konstrukte für statistische Auswertungen zu generieren, müssen zwar zusätzliche Informationen erhoben werden, z.B. zum Erwerbsstatus und zum Berufsstatus des Partners und Vaters, wenn es um die Ermittlung von Prestige- und Statusskalen geht, oder zur Haushaltsgröße und der Altersstruktur der Haushaltsmitglieder für die Ermittlung des Netto-Äquivalenzeinkommens, aber auch diese sind vergleichsweise einfach und mit geringem Aufwand zu gewinnen. Auch wenn eine unmittelbare Umsetzung der Demographischen Standards aus forschungsökonomischen Gesichtspunkten nicht in Frage kommt oder aufgrund des Studiendesigns oder Themenschwerpunktes nicht sinnvoll erscheint, sollten sie als Ausgangspunkt dienen. Die Gesellschaft sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen (GESIS) in Mannheim ist ein kompetenter Ansprechpartner für Fragen zur Entwicklung von „sparsamen“ Erhebungsinstrumenten, die mit Daten, die gemäß den Demographischen Standards erhoben worden sind, weitestgehend vergleichbar sind. Darüber hinaus ist die häufig ausschließliche Verwendung mehrdimensionaler Indices in sozialepidemiologischen Studien zu kritisieren. Anhand dieser lässt sich zwar zeigen, dass der sozioökonomische Status einen Einfluss auf die Gesundheit und Lebenserwartung hat und wie stark dieser ausgeprägt ist, es ergeben sich aber nur wenige Anhaltspunkte für die Erklärung der beobachteten gesundheitlichen Ungleichheit. Analysen anhand der Einzelindikatoren Bildung, Berufsstatus und Einkommen sind hier weitaus aussagekräftiger, da sie Rückschlüsse auf die Bedeutung von z.B. gesundheitsrelevanten Einstellungen und Verhaltensmustern, berufsbezogenen Belastungen und Ressourcen oder materiellen Lebensbedingungen zulassen (Jöckel et al. 1998). Für eine umfassende Erklärung reicht aber auch die Einzelindikatorenbetrachtung nicht aus. Hierzu ist eine Erweiterung des schichtungssoziologischen Ansatzes auf z.B. Lebenslagen-, Lebensstil- und Milieukonzepte erforderlich, die jedoch zumeist schon an nicht vorhandenen Daten oder angemessenen Operationalisierungen scheitert (siehe hierzu auch Hradil in diesem Band). Aufgrund der konzeptionellen Ausrichtung an den berufsnahen Dimensionen sozialer Ungleichheit ist der sozioökonomische Status vor allem geeignet, um die Lebensbedingungen und daraus resultierende Gesundheitschancen der Bevölkerung im Erwerbsalter zu beschreiben.18 Bei Kindern setzt die Erhebung des sozioökonomischen Status zumeist bei den Eltern an und zielt damit auf die Beschreibung des familiären Hintergrundes. Unberücksichtigt bleibt damit, dass sich u.a. über Schule, Sportvereine und Gleichaltrigengruppe vielfältige, auch für die Gesundheit relevante Lebensbedingungen und Teilhabechancen erschließen, die unabhängig von der sozialen Herkunft der Heranwachsenden zu sehen sind (siehe Lampert & Richter in diesem Band). Für ältere Menschen verlieren Belastungen und Ressourcen, die sich unmittelbar an der Stellung in der Arbeitswelt festmachen, mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben an Bedeutung. Auch darüber hinaus ergeben sich zahlreiche Veränderungen der Lebenssituation, die über den sozioökonomischen Status nicht
18
Im Grunde lässt sich eine Einschränkung auf die erwerbstätige Bevölkerung vornehmen. Bei Erwerbslosen und Nicht-Erwerbspersonen stellt sich zumindest mit Blick auf den Berufsstatus die Frage nach der Relevanz für die Gesundheit, wenn auf Angaben zum zuletzt ausgeübten Beruf oder – bei Personen, die selbst nie erwerbstätig waren – zum Beruf des Partners oder Vaters zurückgegriffen werden muss.
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Thomas Lampert, Lars E. Kroll
adäquat erfasst werden (Mayer & Baltes 1996, siehe Knesebeck & Schäfer in diesem Band).19 Wenn altersspezifische Unterschiede im sozioökonomischen Status und dessen Auswirkungen auf die Gesundheit betrachtet werden, dann ist die Möglichkeit von Kohorteneffekten einzubeziehen. Wie stark der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Gesundheit ist, welche Gesundheitsrelevanz der Arbeitswelt zukommt und welche Veränderungen sich mit dem Übergang in den Ruhestand ergeben, hängt maßgeblich von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab, die sich im Laufe der Zeit erheblich verändert haben. Der gesellschaftliche Wandel in Deutschland lässt sich einerseits durch allgemeine Wohlstandsgewinne charakterisieren, andererseits zeichnet sich seit längerem eine Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse ab, z.B. in der Einkommensverteilung, der Bildungsbeteiligung den Beschäftigungsverhältnissen und der sozialen Sicherung (BMAS 2008). In sozialepidemiologischen Studien werden diese Entwicklungen und die damit verbundenen „Kohortenschicksale“ zumeist weder untersucht noch diskutiert. Sie sind aber zu berücksichtigen, um Unterschiede zwischen Altersgruppen einordnen und künftige Entwicklungen und Trends abschätzen zu können. Neben der Betrachtung von Lebensphasen und Kohorten lässt sich in der sozialepidemiologischen Forschung, trotz der in Deutschland nur spärlich vorhandenen Längsschnittdaten, ein zunehmendes Interesse an individuellen Lebensläufen feststellen (siehe Dragano & Siegrist in diesem Band). Ein wichtiger Aspekt ist dabei die soziale Mobilität. Vieles spricht dafür, dass sich soziale Auf- und Abstiegsprozesse positiv bzw. negativ auf die Gesundheit auswirken können. Andererseits kann eine länger andauernde Krankheit oder Behinderung zu einer Minderung der Erwerbs- und Einkommenschancen – wenn sie früh im Leben auftritt auch der Bildungschancen – führen. Bislang gibt es in der Sozialepidemiologie allerdings keine Verständigung darüber, wie solche mit der Gesundheit in Zusammenhang stehenden sozialen Mobilitätsprozesse angemessen erfasst werden können. Vor diesem Hintergrund stellt sich im Hinblick auf die Aktualisierung der Empfehlung der AG Epidemiologische Methoden zur Messung des sozioökonomischen Status also nicht nur die Aufgabe der Vereinheitlichung der Erhebungsinstrumente und Indikatoren, sondern auch die Notwendigkeit einer Anpassung an neue bzw. weiter entwickelte Forschungsperspektiven und Fragestellungen.
Literatur Abel T (2007). Cultural Capital in Health Promotion. In: McQueen DV, Kickbusch I, Potvin L eds. Health and Modernity: The Role of Theory in Health Promotion. Springer: New York: 43-73. Ausschuss für Sozialschutz (2001). Bericht über Indikatoren im Bereich Armut und soziale Ausgrenzung. Berger PA, Hradil S, eds. (1990). Lebenslage, Lebensläufe, Lebensstile. Soziale Welt, Sonderband 2. Göttingen: Schwartz.
19
Der häufig berichtete Befund relativ geringer sozioökonomischer Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung von Kindern und Jugendlichen sowie älteren Menschen (Mielck 2000, Richter 2005, Lampert et al. 2005) könnte deshalb zumindest teilweise damit zusammenhängen, dass gesundheitsrelevante Lebensbedingungen und -chancen nicht angemessen erfasst werden.
Die Messung des sozioökonomischen Status
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Die Messung der subjektiven Gesundheit: Stand der Forschung und Herausforderungen
Michael Erhart, Nora Wille, Ulrike Ravens-Sieberer
1
Einleitung
Die Bedeutung der individuellen Gesundheit wie auch der gesundheitlichen Situation von Bevölkerungsgruppen ist vor dem Hintergrund knapper werdender Ressourcen für Gesundheitsdienstleistungen in den letzten Jahren immer stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, der Medien und der politischen Entscheidungsträger gerückt. Epidemiologische Studien zur gesundheitlichen Situation der Bevölkerung bzw. einzelner Bevölkerungsgruppen können durch die Erfassung gesundheitlicher Unterschiede der Identifikation von Risikogruppen und Risikofaktoren aber auch der Bestimmung des Behandlungs- oder Versorgungsbedarfes dienen und z.B. eine Unterversorgung aufdecken. Die Erfassung der Mortalität und Morbidität im Rahmen statistischer Routinedaten etwa ermöglicht es die Bedeutung sozialer Ungleichheit für den Gesundheitszustand der Bevölkerung abzuschätzen. Wiederholte Erhebungen können Gesundheitstrends erkennen lassen, die beispielsweise mit Veränderungen der sozialen Lage von Bevölkerungsgruppen verbunden sind. Für das Individuum wiederum ist die eigene Gesundheit insbesondere von großer Bedeutung, da sie sich maßgeblich auf das persönliche Wohlbefinden und die Möglichkeiten zur Verwirklichung von Lebensplänen auswirkt. Die Erfassung des aktuellen und vergangenen Gesundheitszustandes bildet die Grundlage für Behandlungszuweisung, -entscheidung, -steuerung und -bewertung. Somit kommt der Gesundheitsmessung eine bedeutende Rolle als Kriterium für die Konzeption, den Einsatz und die Bewertung von Behandlungsund Versorgungsmaßnahmen zu.
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Konzeptualisierung der subjektiven Gesundheit
Eine Sichtung der vorhandenen relevanten Literatur zeigt, dass eine allgemein anerkannte Definition von Gesundheit und Krankheit derzeit nicht vorliegt (Zemp-Stutz & BuddebergFischer 2004, Ziegelmann 2002), sondern vielmehr beide Begriffe je nach kulturellem Hintergrund und Betrachtungsperspektive (medizinisch, psychologisch, soziologisch, ethnologisch, philosophisch, juristisch) unterschiedlich definiert werden (Schumacher & Brähler 2004). Besondere Bedeutung kommt hierbei dem zugrunde liegenden Bezugssystem zu. Im Folgenden sollen die diesbezüglichen Perspektiven (1) der naturwissenschaftlich-
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Michael Erhart, Nora Wille, Ulrike Ravens-Sieberer
biologisch orientierten Medizin, (2) der Gesellschaft und (3) der betroffenen Person dargestellt werden:1 Naturwissenschaftlich-biologisch orientierte Medizin. In der naturwissenschaftlich-biologisch orientierten Medizin werden Krankheiten und Krankheitssymptome als Abweichungen von einem physiologischen Gleichgewicht, biologischen Regelgrößen oder von Organfunktionen und -strukturen verstanden. Referenzpunkte sind biologische Normen, die auf der Häufigkeitsverteilung von biologischen und physiologischen Parametern basieren (Schumacher & Brähler 2004). Krankheiten werden als medizinische Befunde bzw. Kategorien entsprechender Klassifikationssysteme wie z.B. der International Classification of Disease (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgefasst. Angenommen wird dabei, dass jeder Manifestation einer Erkrankung ein pathoanatomisches, histologisches oder pathophysiologisches Geschehen zugrunde liegt (Zemp-Stutz & Buddeberg-Fischer 2004). Gesundheit könnte aus dieser Perspektive als „Fehlen von Normabweichungen“ aufgefasst werden. Gesellschaftliche Perspektive Aus gesellschaftlicher Sicht stellen Erkrankungen Abweichung von „sozialen“ Normen dar. Hinsichtlich psychischer Erkrankungen spielen dabei insbesondere verhaltensbezogene Normen eine Rolle. Juristisch wird von einer Erkrankung gesprochen, wenn ein von den Normen abweichender Zustand des Körpers, des Geistes oder der Seele vorliegt, der eine Heilbehandlung erforderlich macht. Aus dem gesellschaftlichen Blickwinkel spielen auch Aspekte wie Leistungsminderung (z.B. Arbeitsunfähigkeit) sowie die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen oder ähnlichem eine bedeutende Rolle (Schumacher & Brähler 2004, Buser et al. 2003). Aus dieser soziologischen Perspektive könnte Gesundheit etwa als „Zustand der optimalen Leistungsfähigkeit eines Individuums für die Rollen und Aufgaben für die es sozialisiert worden ist“ definiert werden (Zemp-Stutz & BuddebergFischer 2004). Individuelle subjektive Perspektive Für die individuell betroffene Person steht das subjektive Erleben von Krankheit und Gesundheit – auch oft als „Kranksein“ und „Gesundsein“ – bezeichnet im Mittelpunkt (Schumacher & Brähler 2004). Die Wahrnehmung des eigenen Körpers sowie das subjektive Wohlbefinden als wesentliche Determinanten des sich als krank oder gesund Erlebens hängt dabei unter anderem von individuellen Krankheitstheorien ab. Hierbei handelt es sich um komplexe Annahmen, Vermutungen und Überzeugungen über die Bedingtheit von Gesundheit sowie über Ursachen und Folgen einer Krankheit (Büchi & Buddeberg 2004, Filipp & Aymanns 1997) und Gesundheitsvorstellungen, d.h. alle kognitiven Repräsentationen, die sich auf Gesundheit und Krankheit beziehen (Bengel & Belz-Merk 1997, Faltermeier 2002). In den vergangenen Jahrzehnten ist diese subjektive Sichtweise zunehmend berücksichtigt worden. Unter anderem beinhaltet auch die 1947 von der Weltgesundheits1
Neben dem Bezugssystem bedeutsame Aspekte, die in diesem Kapitel nicht behandelt werden, betreffen Krankheits- und Gesundheitsmodelle aus unterschiedlichen Disziplinen, das ICF-Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Konzeption von Krankheit und Gesundheit als Dichotomie bzw. kontinuierlicher Übergang sowie die Gegenüberstellung von „objektiver“ Gesundheit/Krankheit (Befund) und „subjektiver“ Gesundheit/Krankheit in einem 4-Felder Schema.
Die Messung der subjektiven Gesundheit
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organisation lancierte Definition von Gesundheit als „Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit“ (WHO 1948) eine starke subjektive Perspektive. Konzeption der Subjektiven Gesundheit Die aus verschiedenen Disziplinen (Psychologie, Medizin) stammenden Konzepte „subjektive Gesundheit“, „Gesundheitsbezogene Lebensqualität“ und „Wohlbefinden“ sind nur schwer voneinander zu trennen (Schumacher et al. 2003, Radoschewski 2000) und werden daher im Folgenden synonym verwendet werden wenn von subjektiver Gesundheit die Rede ist (vgl. Leplege & Hunt 1997). Als Arbeitsdefinition für die subjektive Gesundheit eignet sich die Definition der Gesundheitsbezogenen Lebensqualität als „ein multidimensionales Konstrukt, welches körperliche, emotionale, mentale, soziale, spirituelle und verhaltensbezogene Komponenten des Wohlbefindens und der Funktionsfähigkeit (des Handlungsvermögens) aus der subjektiven Sicht der Betroffenen beinhaltet. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität bezieht sich somit auf den subjektiv wahrgenommenen Gesundheitszustand bzw. die erlebte Gesundheit“ (Schumacher et al. 2003: 10-11, vgl. Büchi & Scheuer 2004). Ebenso zugrundegelegt werden kann die WHO-Definition subjektiver Gesundheit (Gesundheitsbezogener Lebensqualität) als „subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertesystemen, in denen sie lebt und in Bezug ihrer Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen. Es handelt sich um ein Arbeitskonzept das in komplexer Weise beeinflusst wird durch die körperliche Gesundheit, den psychologischen Zustand, den Grad der Unabhängigkeit, die sozialen Beziehungen und den hervorstechendsten Eigenschaften der Umwelt“ (WHOQOL Group 1995). Vor- und Nachteile einer subjektiven Gesundheitskonzeption Gegenüber den herkömmlichen Kriterien wie z.B. der Überlebenszeit, Laborwerten, Funktionstests oder klinischen Beobachtungen (Wasem & Hessel 2000), bietet die Berücksichtigung der subjektiven Gesundheit den Vorteil, die für viele Aspekte – wie z.B. Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen, Compliance (Dominick et al. 2002) und sogar die Vorhersage von Mortalität (Müters et al. 2005) – relevante Sichtweise der Betroffenen zu erfassen. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung von chronischen Erkrankungen und Behinderungen im Krankheitsprofil der Bevölkerung ist es erforderlich, neben unmittelbaren krankheitsbezogenen Kriterien auch die allgemeine Lebenssituation der Patienten zu berücksichtigen (Mattejat & Remschmidt 1998). Die Messung der subjektiven Gesundheit ist sensitiv für jene Lebensbereiche wie z.B. soziale Beziehungen und Aktivitäten sowie die soziale Stellung, welche bedeutsam für die gesundheitliche Situation und Behandlung sind bzw. mit diesen in Zusammenhang stehen. Zusätzlich ermöglicht sie die Identifikation nicht diagnostizierter Morbidität bzw. prämorbider Zustände (vgl. Varni et al. 2005). Die Berücksichtigung des subjektiven Befindens in Ergänzung zum „objektiven“ medizinischen Befund hat sich daher mittlerweile weitgehend durchgesetzt (Buser et al. 2003, Bullinger 1997). Nachteile der subjektiven Gesundheit liegen in konzeptuellen Unsicherheiten hinsichtlich der Inhalte, der Struktur und der konstituierenden Prozesse (Leplege & Hunt 1997). Hieraus resultieren auch Fragen nach der angemessenen Form ihrer Erfassung (siehe unten). Die subjektive Konzeption limitiert die Möglichkeit einer Erhebung analog statistischer Routinedaten.
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Michael Erhart, Nora Wille, Ulrike Ravens-Sieberer
Zugänge zur subjektiven Gesundheit
Ein für die Erfassung der subjektiven Gesundheit wichtiger konzeptueller Aspekt ist, dass es sich um ein latentes, nicht direkt beobachtbares Konstrukt handelt, welches nur indirekt über Indikatoren operationalisiert und gemessen werden kann (Schumacher et al. 2003). Die Erfassung der subjektiven Gesundheit kann mit Hilfe einer Selbst- oder einer Fremdeinschätzung erfolgen. Bei einer Fremdbeurteilung wird die subjektive Gesundheit oder das Vorhandensein und die Wirkung von Einflussfaktoren von außen beurteilt und erfasst. Ein im Rahmen einer Fremdbeurteilung einsetzbarer Fragebogen ist z.B. der „Spitzer Quality of Life Index“ (QLI) von Spitzer et al. (1981), bei dem verschiedene Lebensqualitätskomponenten durch einen Betrachter beurteilt werden. Selten wird mittels Betrachtung des Verhaltens, der Funktionsfähigkeit, der Lebenssituation oder physiologischer Maße einer Person, auf das Ausmaß ihrer Lebenszufriedenheit geschlossen (Leplege & Hunt 1997). Erfassungsmethoden mit Hilfe von Selbsteinschätzungen basieren auf einer Beurteilung der subjektiven Gesundheit oder deren Einflussfaktoren aus Sicht der Betroffenen und lassen die Erfassung der individuellen Bedeutsamkeit zu (Eiser & Morse 2001, Testa & Simonson 1996). Potentielle Verzerrungen bei Selbstauskünften können durch Einflüsse wie z.B. das Bemühen, durch die Antworten zu gefallen (vgl. Bortz und Döring 2002) entstehen. Auch affektive Prozesse (vgl. Schwarz & Strack 1991,1999) oder die Tagesstimmung (Schumacher et al. 2003, Schwarz 1987) können eine schlechtere Reliabilität und Verzerrungen der Messung verursachen. Auch die unentwirrbare Vermischung persönlicher Einschätzungen mit Persönlichkeitszügen (Cella 1994) den Wert von Selbsteinschätzungen beeinträchtigen. Allerdings weisen die z.B. als Alternative in Frage kommenden medizinischen Parameter oft ebenfalls geringe Reliabilität auf, während für die Messung der subjektiven Gesundheit trotz der oben genannten Schwierigkeiten viele getestete und als brauchbar erwiesene Instrumente vorliegen (Radoschewski 2000). Es spricht einiges dafür, dass Patienten durchaus in der Lage sind, ihre Symptome und Beeinträchtigungen zuverlässig zu beurteilen. Wie bereits erwähnt stellen patientenorientierte Messungen z.B. zuverlässige Prädiktoren von Sterblichkeit und der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen dar. Da das Konzept der subjektiven Gesundheit nicht offen zugängliche psychosoziale Aspekte beinhaltet und der ‚objektive’ Gesundheitsstatus von verschiedenen Menschen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich bewertet wird (Cella 1994), erscheint eine Erfassung mit Hilfe einer Fremdeinschätzung nicht gegenstandsadäquat. Prinzipiell mutet es logisch an, dass bei einem subjektiv konzipierten Konstrukt auch das Subjekt selbst der Berichterstatter sein sollte (De Leval 1995). Mittlerweile ist daher weitestgehend akzeptiert, dass die Lebensqualität von Personen aus ihrer eigenen Sicht, d.h. im Selbstbericht zu erfassen ist (Bullinger 2000). Nach Schumacher et al. (2003) etwa, würde eine Einschätzung durch Außenstehende eine normative Setzung dessen, was Lebensqualität ausmacht und woran man sie erkennen kann, erforderlich machen. Da die Lebensqualität jedoch ein subjektives Phänomen darstellt, sei eine solche normative Definition nicht im Sinne ihrer Erfassung (vgl. Filipp & Ferring 1991). In bisherigen Untersuchungen gefundene konsistente Differenzen zwischen selbstberichteter HRQoL und ihrer Beurteilung durch Fremde stellen die Brauchbarkeit der Fremdbeurteilungen zusätzlich in Frage (Wilson & Cleary 1995). Beispielsweise zeigen verschie-
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dene Studien, dass Pflegepersonal, medizinische Betreuer sowie Angehörige oder wichtige Dritte die Lebensqualität von Patienten systematisch unterschätzen (Sneeuw et al. 1997, Ubel, Loewenstein & Jepson 2003).
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Operationales-, Individualisiertes und Nutzentheoretisches Mess-Modell der subjektiven Gesundheit
Auf konzeptueller Ebene lassen sich drei für die Operationalisierung der subjektiven Gesundheit bedeutende Modelle unterscheiden: Operationales Modell Generell stellt die subjektive Gesundheit ein komplexes, abstraktes und mehrdimensionales Konstrukt dar – eine einheitliche nominale Definition existiert daher nach wie vor nicht. Ein internationaler Konsens besteht allerdings darin, dass „[…] körperliche, psychische und soziale Dimensionen von Gesundheit aus der individuellen Sicht des Betroffenen bei der Erfassung des Konstruktes ... berücksichtigt werden müssen“ (Büchi & Scheuer 2004, S. 435). Es wird somit davon ausgegangen, dass die subjektive Gesundheit mit Hilfe einer begrenzten Anzahl von Dimensionen für verschiedene Personen beschreibbar ist. Dieses Modell stellt die Grundlage für die meisten der derzeit verfügbaren Messverfahren dar, nämlich Instrumente mit fester Itemvorgabe und geschlossenen Antwortvorgaben, die nach einer bestimmten Vorschrift in Zahlenwerte kodiert und zu Messwerten zusammengerechnet werden. Individualisiertes Modell Daneben existieren Arbeiten welche eher eine individualisierte Definition vertreten und Lebensqualität als eine individuelle Angelegenheit auffassen (Carr & Higginson 2001, Joyce et al. 1999). Entsprechend dieser Ansätze variiert die Lebensqualität in ihren relevanten Dimensionen von Person zu Person, so dass sie grundsätzlich nicht zwischen verschiedenen Personen verglichen werden kann sondern lediglich intraindividuell beschreibbar ist. Eine über Personen hinausgehende Definition und Operationalisierung der Lebensqualität müsste die Differenzen zwischen den angestrebten individuellen Zielen und ihrer Realisierung erfassen, z.B. die Differenz zwischen Ist und Soll des individuellen Gesundheitszustandes (vgl. Schumacher et al. 2003), außerdem die individuelle Wahrnehmung von Lebenssituationen im Kontext von Kultur und Wertesystem des betroffenen Menschen (Büchi & Scheuer 2004). Aus dieser individualisierten Definition wurden Messverfahren mit individueller Vorgabe und Gewichtung von Problembereichen zur Erfassung der subjektiven Gesundheit konzipiert. Nutzentheoretisches Modell Ein dritter Ansatz zur Definition bzw. Messung der subjektiven Gesundheit stellen die so genannten nutzentheoretischen oder Präferenzwertverfahren (Utility Modell, Kaplan 1989) dar. Diese stehen in der Tradition der Entscheidungs- und Nutzen-Theorie (z.B. Neumann & Morgenstern 1953). Ein zentraler Aspekt dieses Ansatzes ist die Bewertung von verschiedenen Gesundheitszuständen bzw. das Abwägen zwischen Lebens-Quantität und Lebens-Qualität. Verschiedene psychometrische Techniken wurden hierfür entwickelt:
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Ein direktes Präferenzwertverfahren ist das „Standard Gamble“, hier soll der Befragte eine (fiktive) Entscheidung zwischen einem bestimmten chronischen Gesundheitszustand und einer Behandlung treffen, die mit der Wahrscheinlichkeit von p zur vollständigen Heilung und mit der Gegenwahrscheinlichkeit von 1-p zum sofortigen Tod führt. Die Höhe der Erfolgswahrscheinlichkeit ab der der Befragte sich für die Behandlung entscheidet stellt den Präferenzwert dar (Böhmer & Kohlmann 2000). Die „Time-Trade-Off Technik“ (Torrance et al. 1972) stellt den (gesunden oder kranken) Probanden vor zwei (fiktive) Alternativen: Entweder verbleibt er für eine bestimmte Zeit in einem bestimmten chronischen Krankheitszustand und stirbt dann – oder er wird sofort gesund und stirbt nach einer gewissen aber kürzeren Zeit. Der Präferenzwert des chronischen Krankheitszustandes entspricht jenem Quotient aus Zeitraum des Gesundseins durch Zeitraum des chronisch Krankseins, bei dem der Patient eine Lebenszeitverkürzung für sein Gesundsein in Kauf nehmen würde (Böhmer & Kohlmann 2000). Weitere Präferenzwertverfahren werden in der Literatur beschrieben. Im engeren Sinne nicht zu den Präferenzwertverfahren, zählt die “Visuelle Analogskala“ bzw. “Rating-Scale“, bei der die Befragten z.B. auf einer vertikalen 20cm langen Skala, die von 0 (=der schlechteste vorstellbare Gesundheitszustand) bis 100 (=der beste vorstellbare Gesundheitszustand) reicht, ihren aktuellen Gesundheitszustand angeben sollen (Schuhmacher et al. 2003). Ein verwandtes Verfahren ist die Frage nach der Einschätzung des allgemeinen eigenen Gesundheitszustandes mit Antwortvorgaben von beispielsweise „ausgezeichnet“ bis „schlecht“ (Fayers & Spranger 2002). Die Brauchbarkeit der Globalfragen zur selbsteingeschätzten Gesundheit konnte in verschiedenen Untersuchungen nachgewiesen werden (Fayers & Sprangers, 2002). Starke Belege fanden sich etwa für die prädiktive Qualität globaler selbsteingeschätzter Gesundheit hinsichtlich zukünftiger Gesundheits-Ergebnisse, insbesondere aber auch das Überleben in verschiedenen Studien (z.B. Idler & Benyamini 1997). Teilweise wenig positiv fallen dagegen die empirischen Befunde zu den Präferenzwertverfahren aus. Berichtet wurden geringe Korrelationen ihrer Messresultate mit Lebensqualitäts-Instrumenten (de Wit et al. 2002) oder mit verschiedenen theoretisch relevanten Prädiktoren subjektiver Gesundheit wie z.B. dem Krankheitsschweregrad, den Komorbiditäten, Depressionen, Labordaten, der sozialen Unterstützung und dem sozioökonomischen Status (Maor et al. 2001). Letzterer Befund lässt die Brauchbarkeit von Präferenzwertverfahren zur Aufdeckung der Bedeutung sozialer Ungleichheit fraglich erscheinen. Auch die Sensitivität gegenüber Veränderungen konnte z.T. nicht nachgewiesen werden (z.B. Goossens et al. 1999). Präferenzwertverfahren stellen außerdem an die Befragten hohe Anforderungen z.B. bezüglich ihrer rechnerischen Fähigkeiten (Woloshin et al. 2001) und erfordern es, über die verschiedenen Lebensbereiche zu einer integrativen Gesamtbewertung zu kommen. Neben den direkten Präferenzwertverfahren stehen die so genannten “Health state classification systems“ zur Verfügung, bei denen der Gesundheitszustand des Betroffenen mittels Fragebögen ermittelt wird, die ähnlich den generischen Lebensqualitäts-Instrumenten aufgebaut sind, in der Regel jedoch weniger Items enthalten. Anschließend werden den individuellen Gesundheitsprofilen Nutzwerte zugeordnet, die in einer Referenzgruppe durch direkte Präferenzwertverfahren ermittelt wurden. Eines der prominentesten Verfahren ist der EQ-5D (EUROQoL-Group 1990; deutsch von Schulenburg et al. 1998). Die 5 Items des EQ-5D können als einzelne 3-stufige Indikatoren unterschiedlicher Dimensionen der subjektiven Gesundheit verwendet werden, zuzüglich einer Visuellen Analogskala zur Erfassung des allgemeinen Gesundheitszustandes. Darüber hinaus kann aber den unter-
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schiedlichen Konfigurationen der 5 Items auch ein sog. Lebensqualitätsindex-Score (LQI) zugeordnet werden, welcher die Ausprägung der generellen Lebensqualität indiziert (Greiner & Uber 2000).
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Idiografische und nomothetische Erfassung der subjektiven Gesundheit
Eine weitere Dimension entlang derer die Erfassungsmethoden der subjektiven Gesundheit eingeordnet werden können, betrifft die Unterscheidung zwischen einer eher idiografischen Erfassung, d.h. im Sinne eines einmaligen sich nicht wiederholenden Geschehnisses, und einer nomothetischen Erfassung im Sinne des Aufstellens allgemeiner Gesetze (vgl. Bech 1990). Diese Unterscheidung deckt sich partiell mit der im vorigen Abschnitt vorgestellten Unterscheidung zwischen einer individualisierten Definition und einer operationalen Definition der subjektiven Gesundheit. Innerhalb dieses Kontinuums lassen sich die verschiedenen Ansätze zur Operationalisierung der subjektiven Gesundheit verorten: Zu den idiografischen Methoden zählt z.B. das qualitative Interview, im Rahmen nomothetischer Ansätze werden standardisierte Interviews oder Fragebögen verwendet. Zwischen beiden Polen angesiedelte Verfahren sind Fragebögen mit individueller Bedeutungsgewichtung der Items sowie computeradaptive Fragebögen. Unstandardisierte Interviews Eine weitestgehend idiografische Methode zur Erfassung der subjektiven Gesundheit ist z.B. eine mündliche persönliche Befragung im Rahmen eines unstandardisierten, qualitativen Interviews. Hierbei orientiert sich die interviewende Person hinsichtlich der Strukturierung des Interviews und der Formulierung seiner Fragen bewusst am Orientierungsrahmen und der Sichtweise des individuellen Gesprächpartners (Buser et al. 2003). Im Rahmen eines „neutralen“ bis „weichen“ (Entwicklung eines Vertrauensverhältnisses indem Sympathie demonstriert wird) Interviewstils werden dabei offene Fragen gestellt. Hierdurch sollen die Alltagsvorstellungen des Befragten über Zusammenhänge in der sozialen Wirklichkeit in der Gründlichkeit, Ausführlichkeit, Tiefe und Breite dargestellt, erläutert und erklärt werden, so dass sie für den Forscher eine brauchbare Interpretationsgrundlage bilden (Lamnek 2005). Weitere Vorteile dieser Erhebungsform sind Flexibilität, Spontaneität, Erfassung nichtverbaler Reaktionen und die Identifikation des Befragten. Demgegenüber stehen die Nachteile des hohen Kosten- und Zeitaufwandes, geringer Anonymität, möglicher Belästigung, sowie der so genannte Interviewereffekt (Schwarzer 1983). Diese Schwierigkeit betrifft die Beeinflussung der Ergebnisse durch Aspekte der interviewenden Person, deren Alter, Geschlecht, Aussehen, Kleidung und Haarmode aber auch Persönlichkeit, Einstellungen und Erwartungen Verzerrungen bedingen können. Da auch eine intensive Vorbereitung keine hinreichend verzerrungsfreie Erhebung garantieren kann (Bortz & Döring 2006), bleiben Zweifel bzgl. der Objektivität bestehen, die das Problem betreffen inwieweit das Untersuchungsergebnis vom jeweiligen Untersucher abhängt. Neben dem ausgeführten Objektivitätsproblem können auch Antwortverweigerungen und mehr oder weniger bewusste Antwortverfälschungen die Brauchbarkeit der Ergebnisse von Interviews mindern (Bortz & Döring 2006). Ein Beispiel der Interview-basierten Messung der subjektiven Gesundheit ist
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je nach Intention und Durchführung das klassische Arztgespräch. Zumeist wird dieses im Wechsel sowohl non-direktiv als auch direktiv d.h. mit klar vorstrukturierten Konzepten und Zielen durchgeführt, jedoch dennoch auf den individuellen Patienten zugeschnitten (Buser et al. 2003). Schriftliche Befragungen mit offenen Antwortvorgaben können ebenfalls zu den eher idiografischen Verfahren gezählt werden. Weniger idiografisch sind stärker standardisierte persönliche Interviews wie z.B. der „Oregon Quality of Life Questionnaire“ von Mercier (1994) oder verschiedene Fragebogeninstrumente, die als mündliche Interviewform vorliegen. Diese Verfahren wären eher dem nomothetischen Ansatz zuzuordnen. Standardisierte Fragebogeninstrumente Den nomothetischen Pol der Messung subjektiver Gesundheit stellen standardisierte Fragebogeninstrumente dar: Den Befragten werden Fragen oder Aussagen vorgelegt und ihre Zustimmung zu diesen bzw. das Ausmaß des Zutreffens der Aussagen wird mithilfe von vorgegebenen Antwortkategorien erfragt. Der Begriff Item bezeichnet dabei eine Aussage und die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten. Die hierdurch gewährleistete hohe Standardisierung bietet eine höhere Objektivität und ermöglicht damit eine bessere Vergleichbarkeit der Messresultate. Nachteilig ist die geringe Flexibilität und die in der Regel nicht kontrollierte Erhebungssituation bei Selbstauskunftsfragebögen (Bortz & Döring, 2006). Außerdem können auch bei schriftlicher Befragung die Form und Formulierung der Items zu Ablehnung und Antwortverfälschung führen. Auch der kognitive Prozess der Antwortfindung selbst ist fehleranfällig: Die gestellte Frage muss verstanden und richtig interpretiert werden; die zur Beantwortung der Frage relevanten Informationen müssen aus dem Gedächtnis abgerufen werden; die relevanten Informationen müssen bewertet und zu einem Urteil verdichtet werden; und schließlich muss eine Antwortkategorie gewählt werden, die dem gebildeten Urteil am besten entspricht (vgl. Bortz & Döring 2006). Ein großer Kritikpunkt standardisierter Befragungen betrifft die weitestgehende Außerachtlassung des individuellen Kontextes sowie des individuellen Werte- und Verständnissystems (Lamnek 2005, Atteslander & Kopp 1995). Eine Vielzahl von Fragebogenverfahren zur Messung der subjektiven Gesundheit wurden in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt. Die beiden international derzeit am weitesten verbreiteten Instrumente sind der Short Form Health State Classification (SF-36) und der World Health Organization Quality of Life Projekt (WHOQOL): Der SF-36 von Ware & Sherbourne (1992) wurde ursprünglich als 108 Items umfassende Testbatterie entwickelt und dann mithilfe pfadanalytischer Verfahren auf 36 Items reduziert. Das Instrument orientiert sich an der Erfassung theoretisch angenommener latenter psychischer und körperlicher Gesundheitsdimensionen. Der SF-36 bietet die Erfassung eines aus 8 Messwerten bestehenden Gesundheitsprofils an (körperliche Funktionsfähigkeit, körperliche Rollenfunktion, Schmerz, allgemeine Gesundheitswahrnehmung, Vitalität, soziale Funktionsfähigkeit, emotionale Rollenfunktion, psychisches Wohlbefinden). Basierend auf den Ergebnissen faktorenanalytischer Untersuchungen können die 8 Skalen darüber hinaus zu zwei Hauptkomponenten – der körperlichen und der psychischen Summenskala zusammengefasst werden. Dies geschieht indem die Skalenwerte mit den Koeffizienten einer varimax-rotierten 2-Hauptkomponentenlösung gewichtet und anschließend aufsummiert werden (Ware et al. 1994). In jüngerer Zeit wurde der SF-36 weiter reduziert: Mit dem aus 12 Items bestehenden SF-12 (Ware et al. 1996), dem aus 6 Items bestehenden SF-6, sowie
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dem 8 Items umfassenden SF-8 (Ware et al. 1999) stehen mittlerweile Alternativformen zur Verfügung, die im wesentlichen der Erhebung des mentalen und des physischen Summenwertes dienen. Der in den 90er Jahren von einer umfangreichen Gruppe von Lebensqualitätsforschern und -forscherinnen der WHO entwickelte WHOQoL, erfasst mittels 100 Items 24 Facetten der subjektiven Gesundheit welche zu 6 Domänen (physische Lebensqualität, psychische Lebensqualität, soziale Beziehungen, Unabhängigkeit, soziale und physikalische Umwelt, Religion/Spiritualität) gruppiert werden, sowie eine Facette genereller Lebensqualität und Gesundheit (WHOQoL Group 1998a). Die zeitnah konstruierte Kurzversion WHOQoL-Bref enthält hingegen nur 26 Items, welche die 24 Facetten der Langversion messen und zu nur 4 Domänen zusammengefasst werden, zuzüglich der Facette der generellen Lebensqualität (2 Items) (WHOQoL Group 1998b). Aus der Arbeitsgruppe liegt mittlerweile auch die Entwicklung eines aus 8 Items bestehenden Instrumentes (EUROHIS) vor, welcher die Berechnung eines singulären Index der HRQoL ermöglicht (Power 2003). Diese und ähnliche Instrumente mit fester Itemvorgabe erwiesen sich in verschiedenen Studien als zuverlässige und gültige Verfahren, die auch sensitiv für Veränderungen sind. Auch die Bedeutung sozialer Ungleichheit konnte in bisherigen Studien mit solchen Instrumenten nachgewiesen werden wobei etwa Europäische (AT, CH, DE, ES, FR, NL, UK) Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status eine statistisch signifikant und praktisch bedeutsam geringere subjektive Gesundheit auf den physischen, psychischen und psychosozialen Messdimensionen eines standardisierten Fragebogens für ihre Population (Ravens-Sieberer et al. 2005) angaben (von Rüden et al. 2006). Nach Radoschewski (2000) kann zwar generell keines der existierenden Instrumente für sich in Anspruch nehmen, alle Facetten der subjektiven Gesundheit abzudecken – die Messung der für ein bestimmtes Untersuchungsziel bedeutsamsten Dimensionen erscheint dagegen möglich. Individuelle Vorgabe und Gewichtung von Problembereichen und Computeradaptive Testverfahren Eine Zwischenstellung zwischen idiografischen und nomothetischen Methoden nehmen zwei Gruppen von Verfahren ein: Fragebögen mit individueller Vorgabe und Gewichtung von Problembereichen und computeradaptive Testverfahren. Individuelle Vorgabe und Gewichtung von Problembereichen Instrumente mit individualisierter Vorgabe von Problembereichen versuchen gesundheitsrelevante Beeinträchtigungen individualisiert zu messen, indem die Befragten die für sie wichtigen Problembereiche nennen und anschließend bewerten oder aber vorgegebene bzw. selbst bestimmte Problembereiche hinsichtlich ihrer individuellen Bedeutung gewichten können. Beispiele hierfür sind der Patient-generated Index (PGI) und die Schedule for Evaluation of Individual Quality of Life – Direct Weighting (SEIQoL-DW) Bei der Anwendung des in Interview- und Fragebogenform vorliegenden PGI von Ruta et al. (1994) werden die Patienten zunächst gebeten die 5 wichtigsten Bereiche oder Aktivitäten aufzulisten, die durch ihren Gesundheitszustand beeinträchtigt sind. Zur Unterstützung bekommen sie eine Liste der Bereiche die von Patienten mit gleicher Erkrankung am häufigsten genannt werden. Ein zusätzlicher sechster Bereich, welcher alle anderen nicht bereits in den ersten fünf genannten Lebensaspekten repräsentiert wird ebenfalls präsentiert. Diese insgesamt sechs Bereiche werden dann hinsichtlich der Beeinträchtigung und ihrer Wichtigkeit bewer-
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tet. Ein Summenwert wird über die hinsichtlich ihrer Bedeutung gewichteten Ausprägungen in den einzelnen Bereichen berechnet. Das interviewbasierte Instrument SEIQoL-DW von McGee et al. (1991) wird in drei Stufen beantwortet. Zunächst sollen die Befragten 5 Lebensbereiche auswählen, welche am bedeutsamsten für ihre Lebensqualität sind. Danach sollen die Befragten jeden der Bereiche sowie ihr Leben insgesamt auf einer Skala bewerten. Im dritten Stadium bewerten die Befragten 30 zufällig generierte hypothetische Profile hinsichtlich ihrer generellen Lebensqualität wodurch die Bedeutung der einzelnen Bereiche für die befragte Person unter Verwendung einer multiplen Regressionsanalyse ermittelt wird. Bisherige Studien belegen die Zuverlässigkeit, Gültigkeit und Sensitivität für Veränderungen des SEIQoL, jedoch nicht der PGI. Beide Verfahren sind eher unpraktikabel, darüber hinaus mangelt es ihnen und anderen ähnlichen Verfahren an der nötigen Standardisierung zur Anwendung in klinischen Studien (Patel et al. 2003). In wie weit diese Verfahren in der Lage sind die Auswirkungen sozialer Ungleichheit abzubilden ist ungeklärt. Computeradaptive Testverfahren Ein zentrales Problem der heutzutage hauptsächlich benutzten Fragebögen ist, dass diese auf einer festen Anzahl von Fragen basieren, die nicht für alle Patienten und Zwecke zutreffen. Die meisten Fragebögen enthalten Items, welche auf einen bestimmten Bereich der Gesundheitsausprägung fokussieren und daher anfällig für Boden oder Deckeneffekte sind, wenn diese z.B. neben der klinischen Anwendung zum Screening eingesetzt werden. Andere Instrumente streuen die Fragen über einen breiten Bereich, woraus Lücken und geringe Messpräzision resultieren. Beiden Ansätzen gemeinsam ist die Präsentation von Items, welche für den individuellen Befragten nur geringe oder keine Relevanz haben, wodurch neben der Messpräzision auch das Antwortverhalten beeinträchtigt wird (Nunnally & Bernstein 1994). Die erfolgsversprechendste Möglichkeit zur Erlangung einer hohen Messgenauigkeit mit geringer Itemanzahl ist die Konzentration aller Items auf einen speziellen Bereich der Merkmalsausprägung. Dies heißt, dass jedem Befragten ein individuell auf ihn zugeschnittener Fragebogen vorgelegt werden muss. Die methodische Umsetzung dessen wird seit den 70er Jahren erfolgreich in der Pädagogik und im Bildungsbereich in Form Computer Adaptiver Tests (CATs) angewandt (Wainer et al. 2000). In jüngerer Zeit wurde CATs auch in die Gesundheitsmessung eingeführt (Bjorner et al. 2004, 2007, Haley et al. 2005, Rose et al., 2007; Simms 2005). Die Grundidee eines CATs ist es, die Vorgehensweise eines Klinikers bei der Einschätzung des funktionalen Status eines Patienten zu imitieren. Dessen Fragen sind vor allem dann informativ, wenn sie zu dem ungefähren individuellen Funktionslevel des Patienten passen. Die Verwendung von Fragen, die zu schwer oder zu leicht sind, liefert dagegen nur geringe Information. CATs benutzen verschiedene Algorithmen, um die Fragen auszuwählen, die direkt auf die Testperson zugeschnitten sind und verlängern oder verkürzen den Test bis die erwünschte Messpräzision erreicht ist. Die Getesteten werden auf einer gemeinsamen Metrik gemessen, so dass alle Resultate vergleichbar sind. Der Tests passt sich dabei der Merkmalsausprägung der Testperson automatisch an. Beispielsweise wird ein Kind, welches angibt “in der Lage zu sein, 400 Meter zu rennen“ nicht gebeten auf eine Frage zu antworten ob es “100 Meter rennen kann“. Bisherige Studien belegen, dass dieser
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Ansatz die Anzahl der individuell vorgelegten Items minimiert und gleichzeitig eine erhöhte Messpräzision erzielt (Hart 2005, Walter et al. 2005, Ware et al. 2003). Die meisten CATs basieren auf der Item Response Theorie (IRT), auch als probabilistische Testtheorie bezeichnet (Nunnally & Bernstein 1994). Kern der bis heute im wesentlichen verwendeten unidimensionalen IRT Testmodelle ist die Annahme eines latenten Merkmalskontinuums, auf denen die Befragten hinsichtlich ihrer Merkmalsausprägung sowie die Item-Antwortkategorien hinsichtlich ihrer “Position“ lokalisiert werden können (Fissini 1997). Die Wahrscheinlichkeit eine Antwortkategorie zu wählen, wird mittels einer mathematischen Formulierung als Funktion des Abstandes von den zwischen den ItemAntwortkategorien liegenden “Schwellen“ und der Merkmalsausprägung einer Person modelliert. Andere probabilistische Testmodelle enthalten darüber hinaus noch weitere Charakteristiken der Items als Modellparameter, wie z.B. die Diskriminationsfähigkeit (Steigungsparameter) der Items (Embretson & Reise 2000). Aus den Antworten einer befragten Person wird dann auf die zugrunde liegende Merkmalsausprägung geschlossen, eine Vorgehensweise, die dem Schlussfolgern in der klinischen Diagnostik entspricht. Die Verwendung probabilistischer Testmodelle bei der Entwicklung von psychosozialen Messinstrumenten bietet im Vergleich zu den bisher hauptsächlich angewandten Verfahren der klassischen Testtheorie verschiedene Vorteile wie z.B. die Möglichkeit Skalenwerte über den klinisch bedeutungsvollen Iteminhalt zu definieren2, individuelle Messfehler zu berechnen, eine intervallskalierte Messung durchzuführen und Messresultate unterschiedlicher Instrumente vergleichbar zu machen (Embretson & Reise 2000).
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Übergreifend vergleichbare Messung nach Sozialschicht, Alter, Geschlecht und Kultur
Eine über verschiedene Personengruppen vergleichbare Messung erfordert, dass Personen die Items eines Instrumentes in der gleichen Art und Weise verstehen, und dass Personen mit gleicher Merkmalsausprägung die Items eines Instrumentes mit derselben Wahrscheinlichkeit beantworten (kein Differential Item- Functioning [DIF, Camilli & Sheppard 1994]), unabhängig von ihrer Kultur, ihrem Alter, ihrem Geschlecht, aber auch ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit. Die linguistische, konzeptuelle und psychometrische Äquivalenz von Items und Messwerten ist eine Voraussetzung für brauchbare Schlussfolgerungen hinsichtlich der individuellen Merkmalsausprägung sowie den Verhältnissen innerhalb und zwischen Populationen (Zumbo 1999). Bis vor kurzem wurden multinational verfügbare Lebensqualitäts-Instrumente für Erwachsene wie Kinder vornehmlich durch Übersetzungen bereits existierender Instrumente entwickelt, eine Vorgehensweise, die verschiedene Schwierigkeiten beinhaltet (SwaineVerdier et al., 2004). Idealerweise sollten daher kulturübergreifend verwendbare Instrumente im Rahmen eines simultanen multinationalen Entwicklungsansatzes konstruiert, harmonisiert und getestet werden (vgl. Ravens-Sieberer et al. 2001). Beispiele für diesen bis heute 2
Grundlage hierfür und für die prinzipielle Durchführbarkeit von CATs ist die so genannte spezifische Objektivität (Rasch 1977) wonach die Schätzung der Item-Parameter (z.B. Schwellen) unabhängig von der jeweiligen Personen-Stichprobe ist und andererseits die Schätzung der Personen-Parameter (Testwerte) unabhängig von den jeweils verwendeten Items ist, vorausgesetzt ein gegebener Satz von Items erfüllt die Annahmen des probabilistischen Testmodells (wobei sich diese Ausführungen im strengeren Sinne nur auf die so genannten Rasch-Modelle beziehen).
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selten verfolgten Ansatz sind die beiden Instrumente DISABKIDS (Petersen et al. 2005; Schmidt et al. 2006) und KIDSCREEN (Ravens-Sieberer et al. 2005, 2007, 2008). Die Entwicklung des KIDSCREEN Fragebogens wurde von der Europäischen Union gefördert, mit dem Ziel, einen Selbstauskunftsfragebogen für gesunde und chronisch kranke Kinder und Jugendliche zu konstruieren. Die Generierung der Items basierte auf einem umfangreichen Literaturreview, Experten-Konsultationen und Fokusgruppen-Interviews mit Kindern und Jugendlichen aus allen teilnehmenden Ländern und mit unterschiedlichem sozialen Schichthintergrund zwecks Identifikation der relevanten Dimensionen und Items (RavensSieberer et al. 2001, Ravens-Sieberer et al. 2006). Die Festlegung der Instrumentenstruktur sowie die Feinabstimmung der Skalen erfolgten in einer multinationalen Pilotstudie unter Anwendung aktueller psychometrischer Verfahren der klassischen und der probabilistischen Testtheorie (Embretson & Reise 2000). Zur Sicherstellung einer kulturübergreifend vergleichbaren Erfassung wurde unter anderem überprüft, ob Befragte mit der gleichen Merkmalsausprägung die Items mit der gleichen Wahrscheinlichkeit beantworten, unabhängig von ihrer Nationalität (kein DIF [vgl. oben]). Die Ergebnisse zeigen, dass es durchaus möglich ist, die HRQoL entlang verschiedener Dimensionen kulturübergreifend vergleichbar zu erfassen (Ravens-Sieberer et al. 2005, 2008). Das finale KIDSCREEN Instrument wurde in repräsentativen Gesundheitsstudien in allen 13 beteiligten Ländern eingesetzt, überprüft und normiert. Solche umfassenden interkulturelle und simultane Entwicklungsansätze stellen jedoch nach wie vor die Ausnahme dar und sind außerdem mit einem enormen Kosten und Arbeitsaufwand verbunden. Die Berücksichtigung konzeptueller und psychometrischer Äquivalenz von Testindikatoren der subjektiven Gesundheit betrifft auch z.B. das Geschlecht und das Alter der Befragten. Eine wesentliche Bedingung für eine alters-, geschlechts- und kulturübergreifend akzeptierte Erfassung der subjektiven Gesundheit stellt die Einbeziehung der Betroffenen in den Entwicklungsprozess eines Instrumentes dar: Die Inhalte eines HRQoL Instrumentes sollten idealerweise direkt von den zu Befragenden gewonnen werden (Doward et al. 2004). Mithilfe qualitativer Forschungsmethoden wie z.B. mehrere Focusgruppen Interviews mit Vertretern der unterschiedlichen kulturellen-, Geschlechts oder Altersgruppen, können gruppenübergreifend akzeptierte, relevante und in gleicher Art und Weise verstandene Indikatoren generiert werden (Dalton et al. 2001). Von großer Bedeutung ist dabei die Miteinbeziehung von Betroffenen aus verschiedenen Sozialschichten, und insbesondere aus niedrigeren sozialen Schichten, da diese Gruppe in Befragungsstudien häufig unterrepräsentiert ist und oftmals eine geringere Teilnahmenbereitschaft festzustellen ist (Berra et al. 2007).
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Struktur und Dimensionalität der subjektiven Gesundheit und ihrer Erfassung
Trotz weitgehenden Konsenses, subjektive Gesundheit als multidimensionales Konstrukt zu verstehen, welche minimal eine physische, eine psychologische und eine soziale Dimension beinhaltet (Bullinger 2000; Radoschewski 2000, Schumacher et al. 2003, WHOQOL Group 1995), besteht Uneinigkeit einerseits darüber, entlang wie vieler und welcher Dimensionen die Betroffenen ihre subjektive Gesundheit beurteilen, und andererseits darüber, welche Bedeutung die angenommene Multidimensionalität für die Messung hat: Muss die subjektive Gesundheit aufgrund ihrer Mehrdimensionalität notwendigerweise auch über mehrere
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Messwerte abgebildet werden? Oder kann sie auch durch einen Globalwert abgebildet werden? (vgl. Radoschewski 2000). Bereits 1989 konstatierte Bullinger einen Konsens darüber, dass gesundheitsbezogene Lebensqualität sowohl über einzelne Komponenten operationalisiert werden könne als auch global beurteilbar sei. Rogerson (1995) sieht eine weitgehende Akzeptanz der Präsentation von Lebensqualitäts-Maßen sowohl als aggregierter Index als auch als Profil (vgl. Radoschewski 2000). Eine im Rahmen des KIDSCREEN Projektes durchgeführte Expertenbefragung ergab einen Konsensus dahingehend, dass ein Lebensqualitäts-Instrument für Kinder und Jugendliche neben einem Profil auch einen Indexwert bereitstellen sollte (Herdmann et al. 2002). Auch in der gängigen Praxis ist die globale Erfassung der subjektiven Gesundheit weit verbreitet, die Mehrzahl der Instrumente bieten neben einem Profil häufig auch die Möglichkeit einen oder zwei summative Messwerte zu bilden (Schumacher et al. 2003). Die Verwendung singulärer Indexwerte erscheint außerdem unumgänglich, sofern Fragen der Kosteneffizienz bzw. Prioritätensetzungen durch Kosten-Nutzen-Vergleiche alternativer Maßnahmen betroffen sind (Murray 1997, Greiner & Uber 2000). Die globale Messung eines Sachverhaltes durch einen singulären Index ist allerdings an strenge psychometrische Voraussetzungen gebunden: Nur bei Beschränkung der Messung auf ein Merkmalskontinuum kann geschlussfolgert werden, dass zwei Befragte mit dem gleichen Messwert quantitativ und mit Einschränkungen auch qualitativ gleichartig hinsichtlich ihrer Einstellung gegenüber einem gegebenen Aspekt sind (McNemar 1946). Erfasst ein Test nur einen Merkmalszug, dann kann jedem Befragten ein einzelner Messwert zugeordnet werden, dessen Interpretation eindeutig ist. Messen die Items eines Tests dagegen verschiedene Merkmale, dann kann derselbe Testwert auf unterschiedliche Art und Weise, z.B. über die Kompensation einer niedrigen Merkmalsausprägung in einem Merkmal durch hohe Ausprägungen auf einem anderen Merkmal zustande gekommen sein (Abswoude 2004). Die Interpretation eines Gesamtwertes ist dann schwierig, ebenso wie das In-Beziehung-Setzen des Testwertes mit anderen Variablen oder die Interpretation individueller Unterschiede (Hattie et al. 1996). Allerdings betonen Reise et al. (2000), dass eine Skala trotz nachgewiesener Multidimensionalität nicht notwendigerweise in Subskalen aufgeteilt werden muss, sofern sie einen starken gemeinsamen Faktor besitzt. Grundsätzlich sind genaue Kenntnisse hinsichtlich der Dimensionalität eines Sachverhaltes von großer Bedeutung für seine adäquate Erfassung. Die Unterschätzung der Anzahl zu messender Dimensionen kann entweder zum Ignorieren bedeutsamer Information oder zu der Kombination von Faktoren führen, die dann nicht mehr interpretiert werden können. Die Überschätzung der Anzahl zu messender Dimensionen führt dagegen zur Aufspaltung in nicht interpretierbare und unreliable Messdimensionen (Coste et al. 2005).
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Diskussion und Fazit
Die Erfassung der subjektiven Gesundheit berücksichtigt die für viele Aspekte relevante Sichtweise der Betroffenen und vermag die Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf die wahrgenommene gesundheitliche Lebenssituation abzubilden. Ihre zunehmende Berücksichtigung als Bewertungskriterium zur gesundheitlichen Situation ermöglicht dabei die Vorhersage von Morbidität und Mortalität und könnte damit die Basis für frühzeitige Präventionsplanung, -steuerung und -bewertung sein.
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Trotz nach wie vor existierenden Herausforderungen hinsichtlich der Konzeptualisierung und Operationalisierung der subjektiven Gesundheit stehen mittlerweile zuverlässige und gültige Verfahren zu ihrer Erfassung bereit, welche zumindest in Bezug auf das jeweilige Untersuchungsziel eine brauchbare Erfassung der subjektiven Gesundheit erlauben. Neuere Entwicklungen im Bereich psychometrischer Erfassungsmethoden bieten die Möglichkeit instrumentenübergreifende Dimensionen der subjektiven Gesundheit zu identifizieren. Ihre Anwendung bietet die Möglichkeit einer individuell zugeschnittenen Messung, die dennoch individuen- und gruppenübergreifend vergleichbar ist. Herausforderungen bestehen nach wie vor hinsichtlich der Entwicklung einer fundierten konzeptuellen Basis (Leplege & Hunt 1997) und der Konstruktion von Instrumenten welche die Vielfalt menschlichen Daseins berücksichtigen und dennoch eine vergleichbare Erfassung ermöglichen (Dalton et al. 2001). Insbesondere die Berücksichtigung der mit sozialer Ungleichheit eventuell einhergehenden unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben, Antworttendenzen und bestimmten Aspekten zugesprochenen Relevanzen muss von entsprechenden Instrumenten geleistet werden.
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20 Strukturelle und verhaltensbezogene Faktoren gesundheitlicher Ungleichheit: Methodische Überlegungen zur Ermittlung der Erklärungsanteile Johannes Giesecke, Stephan Müters
1
Einleitung
Der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit wurde häufig nachgewiesen (vgl. z.B. Helmert 2003, Helmert et al. 2000, Kunst et al. 2005, Mackenbach et al. 1997, Mielck 2000, Bauer et al. 2008), der Befund gesundheitlicher Ungleichheit ist in den Gesundheitswissenschaften unbestritten. Dagegen sind die Wirkungsmechanismen für diesen Zusammenhang bislang nicht geklärt. So stellen Marmot et al. (1997: 901) fest: „[The] relationship between socio-economic status and health […] is the major unsolved public health problem of the industrialised world.” Insbesondere für Deutschland sind empirische Überprüfungen zu den Erklärungsmechanismen äußerst selten. Im Mittelpunkt internationaler Forschungsarbeiten stehen insbesondere zwei Erklärungsansätze, die sich auf den Regierungsbericht der Arbeitsgruppe um Sir Douglas Black in Großbritannien zurückführen lassen. Dieser so genannte Black Report (Townsend & Davidson 1982) verwies bezüglich potentieller Erklärungsfaktoren auf die materiellen/strukturellen Lebensbedingungen (materialist or structuralist explanation) sowie auf das Gesundheitsverhalten (cultural/behavioral explanation), wobei erstere als die wichtigste Ursache eingeschätzt wurde und das Gesundheitsverhalten hierzu ergänzend wirke (siehe die Beiträge von Bolte & Kohlhuber und Helmert & Schorb in diesem Band). Zusätzlich müsse bedacht werden, dass das Gesundheitsverhalten in die jeweiligen Lebensbedingungen eingebettet sei: Normen, Werte und Verhaltensweisen werden durch strukturelle Bedingungen geprägt und beeinflusst und weisen daher klassen- bzw. schichtspezifische Muster auf. Aufgrund des Konnex zwischen strukturellen Faktoren auf der einen Seite und konkreten Verhaltensweisen auf der anderen Seite sei davon auszugehen, dass schlechtere Lebensbedingungen eher zu gesundheitsgefährdendem Verhalten führen (transmitted deprivation, Townsend & Davidson 1982: 121). Eine empirische Analyse dieses postulierten Zusammenhangs wurde im Black Report allerdings nicht vorgenommen. Empirische Überprüfungen dieser zu den Zusammenhängen gesundheitlicher Ungleichheit postulierten Wirkungsmechanismen sind unter anderem deshalb überaus wichtig, da sich hieraus Implikationen für Präventionskonzepte und die Gesundheitspolitik ergeben. Die Diskussion um diese beiden Verursachungsmechanismen lässt sich so zuspitzen, dass sich ein Spannungsfeld zwischen individueller und gesellschaftlicher Interpretation bzw. Verantwortung für schlechte Gesundheit ergibt (Townsend 1990). Hebt man die Bedeutung des Gesundheitsverhaltens als erklärenden Mechanismus hervor und vernachlässigt dabei die strukturelle Einbettung dieser Verhaltensweisen in die individuellen Lebensbedingun-
354
Johannes Giesecke, Stephan Müters
gen, besteht die Gefahr eines „blaming the victim“: Es erfolgt eine individuelle Zuschreibung von Verantwortung, die tatsächlich gesellschaftlichen bzw. strukturellen Mechanismen zuzuordnen ist und keiner individuellen Kontrolle unterliegt. Dies gilt um so mehr, wenn festgestellt werden kann, dass sich die Forschung bezüglich der Erklärungsfaktoren gesundheitlicher Ungleichheit stärker auf das Gesundheitsverhalten konzentriert (Blane et al. 1997). Polarisierende Darstellungen zwischen unterschiedlichen Erklärungsansätzen erscheinen in diesem Zusammenhang wenig hilfreich, es kommt eher darauf an, zu welchen Anteilen unterschiedliche Wirkungsmechanismen für sozialschichtspezifische Unterschiede in der Gesundheit verantwortlich sind (vgl. Macintyre 1997). Eine solche Quantifizierung relativer Erklärungsanteile der Lebensbedingungen bzw. des Gesundheitsverhaltens für gesundheitliche Ungleichheit ist in verschiedenen Studien mit einer von Stronks et al. (1996) verwendeten Berechnungsmethode vorgenommen worden (Laaksonen et al. 2005, Richter & Mielck 2000, Schrijvers et al. 1999, van Lenthe et al. 2002). Diese berücksichtigen in ihren Modellannahmen auch die Wirkung der Lebensbedingungen auf das Gesundheitsverhalten. Der vorliegende Beitrag soll einerseits die in den genannten Studien durchgeführten Analysen für Deutschland mit aktuellen Daten replizieren. Andererseits werden einige methodische Probleme, die im Zusammenhang mit der Berechnungsmethode stehen, diskutiert und entsprechende Lösungsvorschläge aufgezeigt.
2
Forschungsstand
Als Ausgangspunkt für die Quantifizierung von Erklärungsanteilen gilt für die vorliegende Arbeit die Studie von Stronks et al. (1996) mit der darin verwendeten Berechnungsmethode. Im Rahmen der niederländischen „Longitudinal Study on Socio-economic Health Differences“ (ca. 16.000 Männer und Frauen zwischen 15 und 74 Jahren) wurde in dieser Studie gezeigt, dass bildungsspezifische Unterschiede in der selbst eingeschätzten Gesundheit zu 35% sozioökonomischen Lebensbedingungen (Wohn- und Wohnumfeldbedingungen, Arbeitsbedingungen, Erwerbsstatus und finanzielle Belastungen) und zu 15% dem Gesundheitsverhalten (Rauchen, Alkoholkonsum, sportliche Aktivität und Body-Mass-Index) zugeschrieben werden können. Weitere 20% ließen sich als durch die Lebensbedingungen bedingtes Gesundheitsverhalten interpretieren (30% der bildungsspezifischen gesundheitlichen Ungleichheit konnten nicht aufgeklärt werden). Dieses Ergebnis unterstützt die These der hohen Relevanz des materiellen bzw. strukturellen Erklärungsansatzes einschließlich der Relevanz einer Wechselwirkung zwischen Lebensbedingungen und Gesundheitsverhalten. Dieser Studie lag ein Untersuchungsmodell zugrunde, welches drei unterschiedliche Erklärungspfade für schichtspezifische Gesundheitsunterschiede beinhaltet (siehe Abb. 20.1). Anhand dieses Modells und der hierfür vorgeschlagenen Berechnungsmethode (siehe Abschnitt 3) wurde die Studie von Stronks et al. für die Niederlande (Schrijvers et al. 1999, van Lenthe et al. 2002), für Deutschland (Richter & Mielck 2000) und für Finnland (Laaksonen et al. 2005) repliziert. Die Ergebnisse der Studien sind in Tab. 20.1 wiedergegeben. Zunächst wird deutlich, dass der gesamte Erklärungsanteil struktureller und verhaltensbezogener Faktoren in den Studien unterschiedlich ausfällt (Spalte 1). Während in der Studie von Laaksonen et al. nur 37% der schichtspezifischen Differenzen im Gesundheitszustand aufgeklärt werden können, liegt der Anteil bei van Lenthe et al. bei 100%. Den auffällig geringen Erklärungsanteil in ihrer Studie führen Laaksonen et al. auf eine sehr
355
Strukturelle und verhaltensbezogene Faktoren gesundheitlicher Ungleichheit
homogene Untersuchungsgruppe berufstätiger Personen mittleren Alters aus Helsinki zurück (Helsinki Health Study). Insgesamt liegen die Gesamterklärungsanteile in den Studien jedoch relativ hoch. Abbildung 20.1: Untersuchungsmodell
1
Sozioökonomischer Status
2a/ 2b
Gesundheitsverhalten
1 / 2a
Gesundheitszustand 2a materielle/ strukturelle Faktoren
2b
unerklärter Anteil Pfad 1: Erklärungsanteil des Gesundheitsverhaltens unabhängig von strukturellen Faktoren. Pfad 2a: Erklärungsanteil struktureller Faktoren, die sich über das Gesundheitsverhalten vermitteln. Pfad 2b: Erklärungsanteil, der sich direkt auf strukturelle Faktoren zurückführen lässt. Quelle: Stronks et al. (1996)
Gemeinsam ist den Studien, dass die relativen Erklärungsanteile des Struktureffekts, verglichen mit jenem des von strukturellen Faktoren unabhängigen Gesundheitsverhaltens (siehe Tab. 20.1: Vergleich der Spalte 2 bzw. 4 mit Spalte 1) deutlich größer sind. Während ca. drei Viertel des gesamten Erklärungsanteils über strukturelle Faktoren erklärt werden können, liegt der Erklärungsanteil über das Gesundheitsverhalten bei ca. einem Viertel. Diese Ergebnisse stützen die These, dass die Lebensbedingungen zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit einen größeren Anteil leisten als das Gesundheitsverhalten. Es zeigt sich weiterhin, dass ein wesentlicher Anteil struktureller Effekte indirekt über das Gesundheitsverhalten vermittelt wird: 30% bis 50% des Struktureffekts verläuft indirekt über das Gesundheitsverhalten (Spalte 3). Vernachlässigt man diesen Zusammenhang, so wird der Einfluss des Gesundheitsverhaltens deutlich überschätzt (er würde dann aus Spalte 5, sozusagen als „Bruttoverhaltenseffekt“ geschätzt werden). Im Sinne des Black Report können diese Ergebnisse als eine Bestätigung der „culture of poverty thesis“ interpretiert werden. Daraus folgt, dass Modelle zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit mit verhaltensbezogenen Faktoren immer auch strukturelle Komponenten einbeziehen sollten. Es ist wichtig zu beachten, dass in den Studien sowohl bezüglich der abhängigen Variablen als auch bei der Messung des sozioökonomischen Status unterschiedliche Indikatoren verwendet wurden. Auch die jeweils benutzten Indikatoren für die strukturellen Faktoren und das Gesundheitsverhalten unterscheiden sich deutlich. Aus diesen Gründen erscheint es notwendig, weitere Replikationsstudien durchzuführen, um die bisher gewonnen Erkenntnisse hinreichend abzusichern. Insbesondere für Frauen ist der Erkenntnisstand defizitär. Des Weiteren basiert die für Deutschland vorliegende Studie von Richter & Mielck auf den
356
Johannes Giesecke, Stephan Müters
Daten des 3. Nationalen Gesundheitssurvey aus dem Jahre 1990/91, eine Aktualisierung der Berechnungen erscheint daher sinnvoll. Der vorliegende Beitrag soll die vorhandenen Analysen für Deutschland replizieren und darüber hinaus die methodische Herangehensweise kritisch diskutieren. Es wird eine verbesserte Berechnungsmethode für die Aufteilung der Struktureffekte in direkte und indirekte Anteile vorgeschlagen, deren Ergebnisse mit denen der anderen Studien verglichen werden Tabelle 20.1: Erklärungsanteile verschiedener Studien zur gesundheitlichen Ungleichheit im Vergleich der jeweils untersten mit der obersten operationalisierten sozioökonomischen Statusgruppe (Angaben in Prozent)
1
gesamter Erklärungsanteil
Struktur insgesamt
(1)
(2)
(3)
(4)
Verhalten einschließlich Struktur indirekt (5)
Stronks et al. (1996), Männer
70
56
33 23
14
37
Richter & Mielck (2000), Männer
84
64
43 21
20
41
Laaksonen et al. (2005), Männer
37
20
13 7
17
24
Laaksonen et al. (2005), Frauen
57
38
27 11
19
30
Schrijvers et al. (1999)1
92
67
39 28
25
53
van Lenthe et al. (2002) 1
100
76
40 36
24
60
Struktur direkt Struktur indirekt
Verhalten, unabhängig von Struktur
Die Studien von Schrijvers et al. (1999) und van Lenthe et al. (2002) nehmen statt einer Stratifizierung nach Geschlecht die Geschlechtsvariable als Kontrollvariable auf.
Die jeweils verwendeten abhängigen Variablen der Gesundheit sowie die Messung des sozioökonomischen Status sind: Stronks et al. 1996: Vorhandensein chronischer Beschwerden (Selbstauskunft) und Bildung (Ausgangswert: Odds-Ratio = 3.51) Schrijvers et al. 1999: Mortalität und Bildung (Ausgangswert: Odds-Ratio = 1.64) Richter & Mielck 2000: Subjektive Gesundheitseinschätzung und additiver Sozialschichtindex (Ausgangswert: Odds-Ratio = 2.55) van Lenthe 2002: Herzinfarkt und Bildung (Ausgangswert: Odds-Ratio = 1.85) Laaksonen et al. 2005: Subjektive Gesundheitseinschätzung und beruflicher Status (Ausgangswert: Odds-Ratio Männer = 2.51, Frauen = 2.28)
Quelle: eigene Abbildung
3
Methode
Im Folgenden soll die Berechnung der Erklärungsanteile dargestellt werden, wie sie in den oben genannten Studien verwendet wurde. Da in der Mehrheit dieser Studien der sozioökonomische Status anhand der Bildung gemessen wurde, basieren die hier durchgeführten
Strukturelle und verhaltensbezogene Faktoren gesundheitlicher Ungleichheit
357
Analysen ebenfalls auf dieser Operationalisierung. Für die Schätzung der relativen Erklärungsanteile gesundheitlicher Ungleichheit wurden unterschiedliche Modelle berechnet. Da die abhängigen Variablen jeweils in dichotomer Form vorlagen, wurden logistische Regressionen geschätzt, bei denen die Effekte der unabhängigen Variablen in der Regel mit Hilfe von Odds-Ratios interpretiert werden. Zunächst wird jeweils ein Ausgangsmodell berechnet, welches neben der Gesundheit als abhängiger und der Bildung als unabhängige Variable relevante Kontrollvariablen1 (z.B. Alter) einschließt: Ausgangsmodell: Bildung In diesem Modell wird der Einfluss der Bildung auf die Gesundheit geschätzt. Dieser Zusammenhang ist im Rahmen des theoretischen Modells die aufzuklärende Größe. Anschließend wird ein Modell berechnet, welches alle Struktur- und Verhaltensvariablen beinhaltet: Modell 1: Bildung + strukturelle Faktoren + Gesundheitsverhalten Der Vergleich des Modells 1 mit allen Struktur- und Verhaltensvariablen mit dem Ausgangsmodell gibt Auskunft darüber, inwieweit der Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit durch strukturelle sowie verhaltensbezogene Merkmale erklärt werden kann. Hiermit kann der gesamte Erklärungsanteil berechnet werden, der im Untersuchungsmodell (siehe Abb. 20.1) über die Pfade 1, 2a und 2b verläuft. Kann der ursprüngliche Zusammenhang durch die im Modell 1 aufgenommenen Variablen nicht vollständig aufgeklärt werden, bleibt ein Resteffekt der Bildung auf Gesundheit bestehen, der im Modell als unerklärter Anteil definiert ist. Zur Ermittlung des gesamten Erklärungsanteils wird der prozentuale Rückgang des Effekts der Bildung (gemessen als relativer Rückgang im Odds-Ratio) im Modell 1 im Vergleich zum Ausgangsmodell mit folgender Formel berechnet: (OR Ausgangsmodell – OR Modell 1)/(OR Ausgangsmodell – 1) Für die Differenzierung der Erklärungsbeiträge im Sinne des Untersuchungsmodells sind weitere Modellschätzungen notwendig. Zur Ermittlung des Gesamtanteils der Strukturvariablen (Erklärungsanteile über die Pfade 2a und 2b) sowie der unabhängig von strukturellen Faktoren wirkenden Effekte des Gesundheitsverhaltens (Erklärungsanteil über Pfad 1) wird ein Modell geschätzt, das zusätzlich zur Bildung alle Strukturmerkmale, aber nicht die verhaltensbezogenen Variablen beinhaltet: Modell 2: Bildung + strukturelle Faktoren Durch die Kontrolle struktureller Faktoren im Modell 2 kann der Erklärungsanteil berechnet werden, der im Untersuchungsmodell über die Pfade 2a und 2b repräsentiert ist.2 Die Differenz aus den Erklärungsanteilen des Modells 1 (gesamter Erklärungsanteil) und des Modells 2 (Erklärungsanteil der strukturellen Faktoren) ergibt den Erklärungsanteil des von der Struktur unabhängigen Verhaltens (Erklärungsanteil über Pfad 1). Um schließlich den direkten sowie den indirekten Struktureffekt zu quantifizieren, wird in den Studien ein Modell verwendet, das die verhaltensbezogenen Variablen, nicht aber die strukturellen Merkmale beinhaltet. 1 2
Da die Kontrollvariablen in allen berechneten Modellen enthalten sind, werden sie in den folgenden Darstellungen nicht weiter aufgeführt. In Analogie zur obigen Berechnung wird der Erklärungsanteil mit der Formel: (OR Ausgangsmodell – OR Modell 2)/(OR Ausgangsmodell – 1) berechnet.
358
Johannes Giesecke, Stephan Müters
Modell 3: Bildung + Gesundheitsverhalten Durch das Modell 3 sollen die Erklärungsanteile der Pfade 1 und 2a berechnet werden.3 Wiederum durch Differenzenbildung von Erklärungsanteilen wird der Effekt struktureller Faktoren in direkte und indirekte Wirkungen zerlegt. So kann der indirekte Struktureffekt (über den Pfad 2a) dadurch berechnet werden, dass der bereits im vorherigen Schritt ermittelte Erklärungsanteil über den Pfad 1 von dem des Modells 3 abgezogen wird. Anschließend kann dieser Erklärungsanteil indirekter Struktur von dem des Modells 2 (gesamter Struktureffekt) abgezogen werden, um den direkten Struktureffekt (vermittelt über den Pfad 2b) zu erhalten.Die beschriebenen Berechnungsschritte sind in Tab. 20.2 zusammenfassend dargestellt. Tabelle 20.2: Übersicht zur Aufteilung des Gesamterklärungsanteils nach der in den Studien verwendeten Methode 1. Schritt:
EA Modell 1 (Pfad 1 + 2a + 2b)
–
EA Modell 2 (Pfad 2a + 2b)
= EA Pfad 1
2. Schritt:
EA Modell 3 (Pfad 1 + 2a)
–
EA Pfad 1
= EA Pfad 2a
3. Schritt:
EA Modell 2 (Pfad 2a + 2b)
–
EA Pfad 2a
= EA Pfad 2b
EA = Erklärungsanteil; in Klammern die entsprechenden Pfade im Untersuchungsmodell
Quelle: eigene Abbildung
Aus unserer Sicht führt diese Vorgehensweise allerdings zu verzerrten Schätzungen für den direkten bzw. den indirekten Struktureffekt. Durch die alleinige Kontrolle der Verhaltensmerkmale (Modell 3) wird ein Bildungskoeffizient geschätzt, der einem Modell entspricht, in dem das Verhalten einen kausalen Effekt auf die Struktur und nicht wie im theoretischen Modell postuliert, gerade umgekehrt die Struktur einen kausalen Effekt auf das Verhalten ausübt.4 Die Konsequenz daraus ist, dass direkte und indirekte Effekte der Struktur miteinander vermengt werden, und so eine verlässliche Abschätzung dieser beiden Erklärungsanteile im Rahmen dieses Ansatzes nicht möglich ist. Richtung und Ausmaß dieser Verzerrung hängen von der statistischen Assoziation zwischen Struktur- und Verhaltensvariablen sowie von der Assoziation zwischen der Bildung und den Strukturmerkmalen ab, so dass nicht pauschal von einer Über- oder einer Unterschätzung des direkten bzw. indirekten Struktureffekts durch diese Methode gesprochen werden kann. Unterstellt man jedoch für die Beziehungen Bildung-Struktur, Bildung-Verhalten sowie Struktur-Verhalten positive Assoziationen (wie sie auch dem theoretischen Modell zugrunde liegen) führt die genannte 3 4
Die Formel dafür lautet: (OR Ausgangsmodell – OR Modell 3)/(OR Ausgangsmodell – 1). Nimmt man beispielsweise an, dass zwischen dem Gesundheitsverhalten und der Gesundheit kein Zusammenhang besteht, müsste der Erklärungsanteil über die Pfade 1 und 2a gleich Null sein. Eine Berechnung des 3. Modells mit Bildung, Gesundheitsverhalten und Gesundheit würde aber einen solchen Erklärungsanteil berechnen, weil das statistische Verfahren (Regression) in diesem Fall die theoretische Modellannahme der einseitigen kausalen Beziehung zwischen Struktur und Gesundheitsverhalten nicht nachvollzieht, sondern die bestehende Assoziation von Gesundheitsverhalten und strukturellen Faktoren bei der Berechung des Modells mit einbezieht und damit auch einen Erklärungsanteil über das Gesundheitsverhalten feststellt.
359
Strukturelle und verhaltensbezogene Faktoren gesundheitlicher Ungleichheit
Methode zu einer Überschätzung des Erklärungsanteils des Modells 3 (über die Pfade 1 und 2a). Dies führt dann zwangsläufig zu einer Überschätzung des indirekten bzw. zu einer Unterschätzung des direkten Struktureffekts aufgrund der entsprechenden Differenzenbildung (vgl. Tab. 20.2). Vor dem Hintergrund dieses Problems schlagen wir einen alternativen Berechnungsweg vor. Anstelle eines Modells mit Bildung und Verhaltensfaktoren kann ein Modell geschätzt werden, das Bildung und Struktur als unabhängige Variablen beinhaltet, jedoch die Koeffizienten der Strukturvariablen auf die Gesundheit numerisch auf diejenigen Werte fixiert5, wie sie im Gesamtmodell (Modell 1) für die Strukturvariablen geschätzt wurden (dieses Modell wird im Folgenden als Modell 3’ bezeichnet). Modell 3’: Bildung + strukturelle Faktoren (mit numerischer Fixierung der Koeffizienten auf die Parameter aus Modell 1) Hier wird demzufolge der Effekt der Bildung auf die Gesundheit jenseits (unter Kontrolle) des direkten Struktureffekts modelliert. Der so geschätzte Bildungskoeffizient repräsentiert dann den unerklärten Anteil zuzüglich des direkt über Verhalten (Pfad 1) sowie des indirekt über Struktur und Verhalten wirkenden Bildungseffekts (Pfad 2a). Damit lässt sich der Erklärungsanteil der direkten Struktureffekte nach der in Fußnote 3 angegebenen Formel berechnen. Durch einfache Differenzenbildungen mit den bereits ermittelten Erklärungsanteilen lassen sich somit direkte und indirekte Struktureffekte voneinander trennen (siehe Tab. 20.3). Tabelle 20.3: Übersicht zur Berechnung der Erklärungsanteile mit neuer Berechnungsmethode 1. Schritt:
EA Modell 1 (Pfad 1 + 2a + 2b)
2. Schritt:
EA Modell 3' (Pfad 2b)
3. Schritt:
EA Modell 2 (Pfad 2a + 2b)
–
EA Modell 2 (Pfad 2a + 2b)
= EA Pfad 1 = EA Pfad 2b
–
EA Pfad 2b
= EA Pfad 2a
EA = Erklärungsanteil; in Klammern die entsprechenden Pfade im Untersuchungsmodell
Quelle: eigene Abbildung
Die beiden Berechnungsmethoden werden im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit miteinander verglichen. Über die Modellberechnungen hinaus soll die Verwendung logistischer Regressionsmodelle zur Ermittlung der Erklärungsanteile hinterfragt werden. Zwar weisen die jeweiligen abhängigen Variablen in den oben genannten Studien eine dichotome Form auf, was die Verwendung logistischer Regressionen rechtfertigt, im vorliegenden Fall ergibt sich aber für die Ermittlung von Erklärungsanteilen eine modellspezifische Besonderheit. In logistischen Regressionen werden nicht-lineare Zusammenhänge zwischen den unabhängigen Merkmalen und der abhängigen Variable, die nun als Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines bestimmten Ereignisses (in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit eines als schlecht bewerteten Gesundheitszustands) aufgefasst wird, modelliert. Problematisch hierbei ist, dass sich der geschätzte Einfluss einer unabhängigen Variablen aufgrund des modellbasierten nicht-linearen Zusammenhangs in seiner Größenordnung auch dann verändert, 5
Im Statistikpaket STATA kann dies beispielsweise mit Hilfe so genannter „constraints“ erreicht werden.
360
Johannes Giesecke, Stephan Müters
wenn weitere unabhängige Merkmale in das Modell aufgenommen werden, die mit der spezifischen unabhängigen Variable (im vorliegenden Fall die Bildung) statistisch nicht assoziiert sind. Es kann gezeigt werden, dass diese Veränderung sowohl von der Streuung als auch von der Einflussstärke der neu aufgenommenen Variablen abhängt (vgl. z.B. Wooldridge 2002: 470 für den Fall eines probit-Modells). Ein solches Verhalten von Modellparametern ist für die hier angestrebten Berechnungen von Erklärungsanteilen, die ja gerade auf der sukzessiven Aufnahme verschiedener Variablenblöcke beruht, sehr nachteilig: sowohl aus theoretischer als auch aus empirischer Sicht ist es nicht wünschenswert, dass sich die geschätzten Effekte (hier konkret der Effekt der Bildung auf die Gesundheit) durch die Aufnahme von Variablen, denen ein Erklärungspotenzial für den Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit zugeschrieben wird, auch dann verändern, wenn diese Variablen zwar mit der Gesundheit, nicht aber mit der Bildung korreliert sind. Selbst wenn die erklärenden Variablen mit der Bildung korrelieren, bleibt unklar, zu welchen Anteilen die Veränderungen der Odds-Ratios auf tatsächlich erklärende Mechanismen oder vielmehr auf modellspezifische Eigenschaften logistischer Regressionen zurückzuführen sind. Demzufolge können Veränderungen von Odds-Ratios durch die Aufnahme erklärender Variablen nicht ohne weiteres zur Berechnung von Erklärungsanteilen verwendet werden. Um dieses Problem zu umgehen, schlagen wir die Berechnung linearer Wahrscheinlichkeitsmodelle vor. Diese Modelle, die durch einfache lineare Regressionen mit der dichotomisierten abhängigen Variable und den jeweiligen unabhängigen Merkmalen geschätzt werden können, haben den großen Vorteil, dass bei Aufnahme weiterer unabhängiger Merkmale Änderungen in den Koeffizienten nur dann zu verzeichnen sind, wenn die aufgenommenen Merkmale tatsächlich sowohl mit der abhängigen als auch mit den unabhängigen Variablen statistisch assoziiert sind. In der oben beschriebenen Vorgehensweise der sukzessiven Aufnahme von strukturellen und verhaltensbezogenen Merkmalen können Veränderungen im Effekt der Bildung auf die Gesundheit dann auch als Erklärungsbeitrag durch diese Merkmale verstanden werden. Für die Ermittlung der Erklärungsanteile können die gleichen Berechnungsschritte wie für die logistische Regression angewendet werden.6 Die entsprechenden Ergebnisse werden im empirischen Teil des Beitrags vergleichend dargestellt.
4
Operationalisierung
4.1
Daten
Die nachfolgenden Analysen basieren auf Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP). Das SOEP ist eine jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte in Deutschland mit Themenschwerpunkten in den Bereichen Erwerbsbeteiligung, berufliche Mobilität,
6
In linearen Wahrscheinlichkeitsmodellen werden die Koeffizienten nicht wie im logistischen Regressionsmodell mit Hilfe von Odds-Ratios sondern als Differenz zwischen Wahrscheinlichkeitswerten interpretiert. So bedeutet z.B. für die vorliegenden Analysen ein Koeffizient von 0.3 eine um 30 Prozentpunkte erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine schlechte Gesundheit im Vergleich der betrachteten Bildungsgruppen. Die Erklärungsanteile berechnen sich entsprechend mit der Formel (Bildungskoeffizient Ausgangsmodell – Bildungskoeffizient Modell 1, 2 oder 3)/(Bildungskoeffizient Ausgangsmodell).
Strukturelle und verhaltensbezogene Faktoren gesundheitlicher Ungleichheit
361
Erwerbs- und Familienbiografie.7 Der Umfang der erhobenen gesundheitsbezogenen Merkmale variiert über die einzelnen Erhebungszeitpunkte stark, so dass nicht alle vorliegenden Erhebungswellen für gesundheitssoziologische Fragestellungen genutzt werden können. Die hier dargestellten Analysen beziehen sich auf über 18-jährige Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft im Jahre 2004.
4.2
Verwendete Variablen
Als abhängige Variable fungiert die subjektive Gesundheitseinschätzung („Wie würden Sie Ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand beschreiben?“, die als 5-stufige Variable vorliegt, hier jedoch dichotomisiert wurde (0=sehr gut/gut; 1=zufrieden stellend/weniger gut/ schlecht). Eine derartige Operationalisierung der abhängigen Variablen entspricht dem Vorgehen der Mehrheit der oben genannten Studien und wurde hier insbesondere aus Gründen der Vergleichbarkeit der jeweiligen Ergebnisse gewählt. Die für die in dieser Arbeit angestrebte Untersuchung zentrale Variable „Bildung“ wird durch eine 6-stufige Variable repräsentiert, die zwischen Befragten mit Hauptschulabschluss, Realschulabschluss, Abitur, Fachhochschulabschluss, Universitätsabschluss oder keinem Abschluss unterscheidet. Die Wahl des Merkmals Bildung zur Messung des sozioökonomischen Status erfolgte wiederum aus Gründen der Vergleichbarkeit. Darüber hinaus lässt sich durch die Verwendung der Bildung das Problem einer „health selection“ (kausale Wirkung von Gesundheit auf den sozioökonomischen Status) wenn auch nicht vollständig ausschließen so doch zumindest reduzieren. Da Bildungsabschlüsse in der Regel in frühen Lebensphasen erworben werden, ist eine Beeinflussung der Bildung durch eine sich verschlechternde Gesundheit weniger wahrscheinlich als eine Veränderung im Einkommen oder der beruflichen Stellung. Um den Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit nicht verzerrt zu schätzen, ist es notwendig, in die Modelle solche Variablen aufzunehmen, die einerseits für das Erreichen eines bestimmten Bildungsniveaus wichtig sind, andererseits aber auch die Gesundheit beeinflussen. Eine typische Kontrollvariable in diesem Bereich ist das Alter, da sich sowohl die Verteilung der Bildungstitel als auch die Gesundheit deutlich zwischen den Kohorten bzw. Altersgruppen unterscheidet. Eine weitere Kontrollvariable stellt die Information dar, zu welcher Unterstichprobe des SOEP der/die Befragte gehört.8 Die weiteren verwendeten unabhängigen Variablen sollen sowohl wichtige strukturelle als auch verhaltensbezogene Merkmale erfassen, die einen Erklärungsbeitrag für den Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit liefern können. Als strukturelle Merkmale fungieren der Erwerbsstatus, das Haushaltseinkommen (bedarfsgewichtet), Wohneigentum, die Anzahl der Kinder im Haushalt, Partnerschaft, verschiedene Indikatoren für die Qualität der Wohnung sowie der Wohnumgebung, die subjektive Zufriedenheit mit dem Lebensstandard und eine Variable, die die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation widerspiegelt. Variablen die das individuelle Gesundheitsverhalten erfassen sind der Tabakkonsum, die Häufig-
7 8
Für weitere Informationen zum SOEP vgl. SOEP Group (2001) oder die Seiten der SOEP-Gruppe im Internet (www.diw.de/deutsch/sop/index.html). Das SOEP setzt sich aus verschiedenen Unterstichproben (z.B. Stichprobe Westdeutschland 1984 oder Stichprobe Ostdeutschland 1990/91) zusammen. Es ist deshalb wichtig, diese Information in den Modellen statistisch zu kontrollieren, da auch hier davon ausgegangen werden muss, dass die Verteilungen der beiden Merkmale Bildung und Gesundheit mit der Stichprobenzugehörigkeit variiert.
362
Johannes Giesecke, Stephan Müters
keit sportlicher Aktivität, ein Indikator für das Achten auf gesunde Ernährung sowie der Body-Mass-Index. Die verwendeten Variablen sind in der Tabelle 20.4 dargestellt. Tabelle 20.4: Überblick über die verwendeten Variablen Variable
Beschreibung/Operationalisierung
Subjektiver Gesundheitszustand
sehr gut/gut (Referenzkategorie); zufrieden stellend/weniger gut/schlecht
Bildung
ohne Abschluss; Hauptschule; Realschule; Abitur; Fachhochschule; Universität (Referenzkategorie)
Alter
Alterskategorien: 18-30 Jahre (Referenzkategorie); 31-80 Jahre (in 10-JahresSchritten); über 80 Jahre
Erwerbsstatus
vollzeit erwerbstätig (Referenzkategorie); teilzeit erwerbstätig; geringfügig oder unregelmäßig erwerbstätig; in Berufsausbildung; Wehr-/Zivildienst; arbeitslos gemeldet; nicht erwerbstätig
Haushaltseinkommen
bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen (OECD-Skala, Gewichte: Haushaltsvorstand=1; jede weitere Person ab 16 Jahre=0,7; jede weitere Person unter 16 Jahre=0,5), kategorisiert in 5%-Perzentile der Ausgangsverteilung
Wohneigentum
vorhanden (Referenzkategorie); nicht vorhanden
Anzahl der Kinder unter 16 Jahre im Haushalt
null (Referenzkategorie); eins; zwei; drei; mehr als drei
Partnerschaft
keine/n Partner/in (Referenzkategorie); in fester Partnerschaft
Wohnungsgröße
Wohnungsgröße in qm pro Person
Zustand des Hauses (subjektive Einschätzung)
guter Zustand (Referenzkategorie); teilweise renovierungsbedürftig/ganz renovierungsbedürftig/abbruchreif
Zentral- oder Etagenheizung
vorhanden (Referenzkategorie); nicht vorhanden
Balkon
vorhanden (Referenzkategorie); nicht vorhanden
Beeinträchtigung durch: Lärm; Luft; Kriminalität; fehlende Grünflächen
jeweils: gar nicht; gering; gerade erträglich; stark; sehr stark
Sorgen um eigene wirtschaftliche Situation
große Sorgen; einige Sorgen; keine Sorgen (Referenzkategorie)
Zufriedenheit mit dem Lebensstandard
11er-Likertskala von ganz und gar unzufrieden bis ganz und gar zufrieden
Tabakkonsum
Nichtraucher; Wenigraucher (1- 19 Tabakeinheiten pro Tag); Vielraucher (mehr als 19 Tabakeinheiten pro Tag); Exraucher. Die Tabakeinheiten wurden als gewichteter Index aus der Anzahl an Zigaretten, Zigarren und Pfeifen gebildet, vgl. Latza et al. (2005)
Body-Mass-Index
Berechnet nach: BMI=Gewicht in kg/(Körpergröße in m)²; hier kategorisiert in Untergewicht (unter18.5); Normalgewicht (18.5 bis unter 25); Übergewicht (25 bis unter 30); Adipositas Grad I (30 bis unter 35); Adipositas Grad II oder III (über 35), (vgl. WHO 1998), wobei Adipositas Grad II und III zusammengefasst sind
Sportliche Aktivität
regelmäßig (Referenzkategorie); gelegentlich; nie
Ernährungsbewusstsein
Achten auf gesundheitsbewusste Ernährung in den Kategorien sehr stark; stark; ein wenig; gar nicht
Quelle: eigene Abbildung
363
Strukturelle und verhaltensbezogene Faktoren gesundheitlicher Ungleichheit
5
Ergebnisse
In Tab. 20.5 sind die Ergebnisse der Berechnungen mit dem SOEP wiedergegeben. Um den Unterschied bei der Aufteilung des Struktureffekts ablesen zu können, wurden diejenigen Ergebnisse in Klammern dargestellt, die nach der von den oben genannten Studien verwendeten Berechnungsmethode erzielt wurden. Insgesamt sollen vier Punkte hervorgehoben werden. Erstens lässt sich feststellen, dass sowohl für Männer als auch für Frauen ein deutlicher Anteil bildungsspezifischer Unterschiede in der Gesundheit durch die aufgenommenen Variablen erklärt werden kann. Für Männer beträgt dieser Anteil je nach verwendetem Modell (logistisches bzw. lineares Modell) 76% bzw. 72%. Für Frauen liegt dieser Anteil mit 57% bzw. 50% etwas geringer. Offenbar lassen sich bildungsspezifische Ungleichheiten in der Gesundheit durch die in der Analyse verwendeten Variablen der Lebensbedingungen und des Gesundheitsverhaltens für Frauen nicht im gleichen Maße aufklären wie für Männer. Tabelle 20.5: Ergebnisse für die Berechnung der Erklärungsanteile in Prozent a
1 a
gesamter Erklärungsanteil
Struktur insgesamt
(1)
(2)
Männer, logistisches Modell
76
48
Männer, lineares Modell
72
Frauen, logistisches Modell
57
Frauen, lineares Modell
50
Struktur direkt Struktur indirekt (3)
43 (29)1
Verhalten, unabhängig von Struktur (4)
Verhalten einschließlich Struktur indirekt (5)
28
33 (47)
28
33
20
29 (37)
18
26
5 (19) 44
39 5
37
28 (18) 9 (19)
33
25 8
In Klammern die Erklärungsanteile nach der in den oben genannten Studien verwendeten Methode Abweichungen aufgrund von Rundungen möglich
Die betrachteten Vergleichsgruppen sind Personen mit Hauptschulabschluss und Personen mit Universitätsabschluss. Für die Ausgangsmodelle ergeben sich folgende Werte: logistische Modelle: Odds-Ratio im Ausgangsmodell für Männer 2.0; für Frauen 1.9 lineare Modelle: Differenzen (Prozentpunkte) im Ausgangsmodell: für Männer 0.15; für Frauen 0.14
Quelle: eigene Abbildung
Zweitens zeigen die Ergebnisse, dass sich sowohl für Männer als auch für Frauen ungefähr zwei Drittel der gesamten Erklärung auf strukturelle Faktoren zurückführen lassen. Demgegenüber beträgt der Anteil des Gesundheitsverhaltens unabhängig von strukturellen Faktoren ca. ein Drittel. Strukturelle Faktoren scheinen eine deutlich größere Rolle für den Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit als das Gesundheitsverhalten zu spielen. Im Vergleich zu den oben genannten Studien, die ein entsprechendes Verhältnis von drei
364
Johannes Giesecke, Stephan Müters
Vierteln zu einem Viertel ausweisen (siehe Abschnitt 2), zeigen unsere Ergebnisse jedoch einen etwas geringeren Erklärungsanteil struktureller Faktoren (Spalte 2) und einen folglich stärkeren Effekt über das Gesundheitsverhalten (Spalte 4). Dieser Unterschied beruht nicht auf der Berechnungsweise, da diese Anteile in gleicher Art und Weise berechnet wurden. Drittens lässt sich jedoch ein deutlicher Unterschied aufgrund der verschiedenen Berechnungsmethoden bezüglich der Aufteilung des Struktureffektes in direkte und indirekte Erklärungsanteile (Spalte 3) feststellen. Nach der von uns vorgeschlagenen Berechnungsmethode mit fixierten Koeffizienten fällt der Effekt, der durch die Struktur über das Gesundheitsverhalten vermittelt wird, deutlich geringer aus. Während der Erklärungsanteil über indirekte Struktureffekte mit der in den Vergleichsstudien verwendeten Berechnungsmethode bei 19% liegt, verringert sich dieser in der hier vorgeschlagenen Methode auf lediglich 5% für Männer und auf 9% für Frauen. Der Erklärungsanteil über direkte Struktureffekte ist entsprechend größer (er steigt von 29% auf 43% für Männer bzw. von 18% auf 28% für Frauen). Aufgrund dieser Unterschiede fällt auch der insgesamt über das Gesundheitsverhalten wirkende Effekt (siehe Spalte 5) deutlich geringer aus als in den Vergleichsstudien. Dieses Ergebnis bestätigt, wie im methodischen Teil argumentiert, die Überschätzung der Relevanz indirekter Struktureffekte für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit bei der Verwendung der Berechnungsmethode der oben genannten Studien. Viertens schließlich wird deutlich, dass der Unterschied zwischen logistischen und linearen Modellen relativ gering ausfällt. Der Gesamterklärungsanteil liegt im logistischen Modell etwas höher, jedoch unterscheiden sich die Relationen der Erklärungsanteile kaum. Daraus lässt sich ableiten, dass die dargestellten methodischen Probleme bei der Verwendung logistischer Regression für die vorliegende Analyse von eher geringer Bedeutung sind. Da grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Unterschiede in anderen Analysen ebenfalls gering ausfallen, sollte dieses Problem nicht als vollkommen vernachlässigbar bewertet werden. Aus unserer Sicht ist deshalb ein Vergleich der Ergebnisse logistischer und linearer Modelle in diesem Zusammenhang sinnvoll.
6
Diskussion
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass gesundheitliche Ungleichheit zu einem sehr großen Teil durch strukturelle und verhaltensbezogene Faktoren erklärt werden kann. Dabei fällt der Erklärungsanteil struktureller Merkmale deutlich größer aus. In diesem Punkt ähneln die hier dargestellten Ergebnisse denen der vorliegenden Studien: Bildungsspezifische Unterschiede in den Lebensbedingungen wie z.B. unterschiedliche Erwerbschancen, Wohnbedingungen oder ökonomische Ressourcen haben eine höhere Erklärungskraft für Bildungsunterschiede in der Gesundheit als bildungsspezifisches Gesundheitsverhalten wie z.B. Unterschiede im Tabakkonsum oder der sportlichen Aktivität. Hinsichtlich der Zerlegung der Struktureffekte in direkte und indirekte Komponenten lassen sich interessante Unterschiede zum bisherigen Forschungsstand aufzeigen. Aufgrund der veränderten Berechnungsmethode ergibt sich ein deutlich geringerer Erklärungsanteil indirekter Struktureffekte. Im Gegensatz zu den Ergebnissen der anderen Studien legen diese Resultate den Schluss nahe, dass bildungsbedingte schlechte Lebensbedingungen sich in einem weitaus geringeren Ausmaß über ein ungesünderes Verhalten auf die Gesundheit auswirken. Vielmehr wirken sich diese Lebensbedingungen größtenteils unabhängig vom
Strukturelle und verhaltensbezogene Faktoren gesundheitlicher Ungleichheit
365
Gesundheitsverhalten aus. Inwieweit diese direkten Struktureffekte über andere nicht im Modell enthaltende Faktoren wie z.B. psychologische oder psycho-soziale Bedingungen mediiert werden, muss in weiteren Studien eruiert werden (siehe z.B. van Oort et al. 2005). Der geringe Effekt der Lebensbedingungen auf die Gesundheit über das Gesundheitsverhalten bedeutet, dass bildungsspezifische Unterschiede in der Gesundheit in unseren Modellen zu einem geringeren Anteil durch das Gesundheitsverhalten insgesamt (sowohl abhängig als auch unabhängig von strukturellen Bedingungen) erklärt werden kann. Während z.B. bei den Männern dieser Anteil nach der in den Vergleichsstudien verwendeten Berechnungsmethode 47% beträgt, beläuft er sich nach unserer Berechnungsvorschrift auf 33% (siehe Spalte 5 in Tab. 20.5). Dies bedeutet, dass primärpräventive Ansätze bezüglich der Veränderung des Gesundheitsverhaltens zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen können, aber denen zur Veränderung der Lebensbedingungen deutlich nachgeordnet sind. Gleichzeitig wird deutlich, dass eine Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit durch Verbesserungen in den Lebensbedingungen nur zu einem sehr kleinen Teil über eine damit einhergehende Änderung des Gesundheitsverhaltens erreicht wird. Es ist wichtig zu betonen, dass der berichtete geringe Erklärungsanteil struktureller Faktoren über das Gesundheitsverhalten nicht den Befunden eines von sozioökonomischen Ressourcen abhängigen Gesundheitsverhaltens (z.B. Blaxter 1990) widerspricht. Fasst man Bildung als eine solche Ressource auf, zeigen die Ergebnisse ja gerade einen deutlichen Effekt der Bildung auf das Gesundheitsverhalten und somit einen klaren Zusammenhang im Sinne der genannten Befunde. Für die Interpretation der Ergebnisse sollte beachtet werden, dass sowohl die Lebensbedingungen als auch das Gesundheitsverhalten, wenn auch vergleichbar zu den anderen Studien, dennoch nicht erschöpfend operationalisiert werden konnten. Die Quantifizierung der Erklärungsanteile ist deshalb mit der nötigen Vorsicht zu interpretieren, da diese auch von der Anzahl und der Qualität der im Modell verwendeten Indikatoren abhängig ist. An dieser Stelle soll deshalb die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen betont werden. Weiterer Forschungsbedarf besteht aus unserer Sicht für die Erklärung gesundheitlichen Ungleichheit bei Frauen. Über den bereits festgestellten defizitären Forschungsstand hinaus legen die Ergebnisse eines im Vergleich zu den Männern geringeren Gesamterklärungsanteils weitere detaillierte Analysen nahe.
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21
Herausforderungen bei der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit in Europa: Ein Überblick aktueller Studien 1
Anton E. Kunst
1
Einleitung
Sozioökonomische Ungleichheiten in der Gesundheit sind ein beharrliches Phänomen moderner, industrialisierter Gesellschaften. Ein frühes Beispiel ist der Untergang der „Titanic“ im Jahre 1914 (Hall 1986), bei dem nur ein Teil der Passagiere das Unglück überlebte. Nicht nur waren die Überlebenschancen für Frauen viel größer als für Männer, es gab auch deutliche Unterschiede zwischen den Passagierklassen. Während in der ersten Klasse fast alle Frauen das Unglück überlebten, waren es in der dritten Klasse nur sechs von zehn Frauen. Spätere Untersuchungen ergaben, dass viele Passagiere aus der dritten Klasse gestorben waren, weil sie einen schlechteren Zugang zu den Rettungsbooten hatten, kaum Unterstützung durch das Schiffpersonal erhielten, Fluchtmöglichkeiten versperrt waren und andere Umstände vorlagen, die zu einer Benachteiligung dieser Personen führten. Wie bei anderen vermeidbaren Ungleichheiten, wurden diese Ungleichheiten als unakzeptabel empfunden und Empfehlungen formuliert, um eine Wiederholung der Ereignisse zu vermeiden (ebd.). Analog zu den sozioökonomischen Ungleichheiten in der Gesundheit in der kleinen Welt der sinkenden Titanic, existieren diese Ungleichheiten auch in der größeren Gesellschaft. Eine Vielzahl an Studien im späten 20. Jahrhundert hat unter Politikern und Praktikern das Bewusstsein für solche Ungleichheiten geschärft. So hat der Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten in Ländern wie Großbritannien und Schweden eine hohe Priorität bei politischen Entscheidungen, sowohl auf nationaler als auch auf kommunaler Ebene (Mackenbach et al. 2002). Im Jahr 1998 machte das WHO Regionalbüro für Europa auf die internationale Dimension dieses Themas aufmerksam, als sie mit „Gesundheit21“ eine aktualisierte Fassung des gesundheitspolitischen Rahmenkonzeptes „Gesundheit für alle“ zum Beginn des 21. Jahrhunderts vorlegte (WHO 1998). Von den beiden Hauptzielen besagte das zweite Ziel, dass bis zum Jahr 2020 das Gefälle in der Gesundheit zwischen den sozioökonomischen Gruppen um mindestens 25% reduziert werden sollte (siehe auch Mielck et al. in diesem Band). Dieses Ziel unterstrich, dass das Hauptaugenmerk auf die breiten Gesundheitsunterschiede entlang der gesamten sozialen Hierarchie und nicht nur auf die Gesundheit sozial benachteiligter Gruppen, wie zum Beispiel Obdachlose oder Flüchtlinge, ausgerichtet sein sollte. Allgemein wurde nicht davon ausgegangen, dass gesundheitliche Ungleichheit abgeschafft werden kann, vielmehr wurde die Reduzierung als 1
Übersetzung aus dem Englischen von Veronika Ottova und Matthias Richter
368
Anton E. Kunst
das Hauptziel genannt, was allerdings immer noch als sehr ehrgeizig zu betrachten ist. Diese Reduzierung soll dabei mittels einer Anhebung der gesundheitlichen Lage („leveling up“) stattfinden, d.h. dass untere sozioökonomische Statusgruppen mindestens genau so viel von gesundheitlichen Verbesserungen profitieren, wie höher gestellte Gruppen (WHO 1998). Die Forschung zu sozioökonomischen Unterschieden in der Gesundheit wurde nicht nur durch das wissenschaftliche Interesse an diesem hartnäckigen Phänomen angeregt, sondern auch durch den Wunsch, Maßnahmen entwickeln zu können, die langfristig zu einer Reduzierung dieser Ungleichheiten beitragen. Drei komplementäre Forschungsrichtungen sollten dazu dienen, diesen Beitrag zu leisten (siehe auch Richter & Hurrelmann in diesem Band):
Die deskriptive Forschung identifiziert über die Fragen „wer“ (welche sozioökonomische Gruppen), „was“ (welche gesundheitlichen Probleme und Risikofaktoren) und „wann“ (Änderungen im zeitlichen Verlauf) zunächst das Ausmaß des Problems. Die Forschung über Erklärungsmöglichkeiten gesundheitlicher Ungleichheit zielt darauf ab, die beobachteten sozioökonomischen Unterschiede in der Gesundheit zu verstehen, indem sie die wesentlichen Prozesse und Mechanismen offen legt, über die soziale Ungleichheit mit schlechter Gesundheit verknüpft ist. Die Interventionsforschung evaluierte wiederum Strategien, Programme und Maßnahmen in Hinblick auf ihren Effekt auf gesundheitliche Ungleichheiten. Ziel war es, Möglichkeiten zu identifizieren, die diese Maßnahmen wirksamer für untere sozioökonomische Statusgruppen machen.
Die drei Forschungsrichtungen sind vollständig komplementär, d.h. jede Richtung ist notwendig, um Ungleichheiten in der Gesundheit zu erkennen, um ihre Existenz zu verstehen und um Möglichkeiten zur Reduzierung zu identifizieren. Das vorliegende Kapitel thematisiert den Beitrag der deskriptiven Forschung in diesem Forschungsprozess. Er entstand aus der Erkenntnis, dass gesundheitliche Ungleichheiten in Europa bereits in unzähligen Studien belegt wurden. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob überhaupt noch weitere deskriptive Forschung notwendig ist und wenn ja, worauf sich diese Forschung konzentrieren sollte. In diesem Beitrag wird argumentiert, dass weitere beschreibende Forschung eine wichtige Rolle spielen kann, wenn sie sich auf vier Hauptaufgaben konzentriert. Erstens ist es wichtig, den bekannten Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit für alle die Bevölkerungsgruppen, geographische Einheiten und Zeiträume zu dokumentieren, für welche sie bisher noch nicht beschrieben wurden. Zweitens, und noch wichtiger ist es, dass die deskriptive Forschung Prioritäten für die erklärende Forschung und die Interventionsforschung aufzeigt, indem sie die Krankheiten und Risikofaktoren identifiziert, bei denen gesundheitliche Ungleichheiten am größten sind. Dabei ist es von zentraler Bedeutung a) die Krankheiten zu identifizieren, die den größten Beitrag zur Genese von gesundheitlichen Ungleichheiten leisten und b) Ungleichheiten in den spezifischen Risikofaktoren eben dieser Krankheiten zu beschreiben. Zuletzt wird eine verbesserte Messung des sozioökonomischen Status (SES) helfen, die sozioökonomischen Gruppen genauer zu identifizieren, in denen sich Krankheiten und Risikofaktoren konzentrieren.
Herausforderungen bei der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit in Europa
369
Im Folgenden werden für diese vier Herausforderungen der deskriptiven Forschung aktuelle Erkenntnisse und Fortschritte der Forschung auf europäischer Ebene vorgestellt und diskutiert. Ziel ist es, auf Studien einzugehen, die einen Impuls für vergleichbare Forschungen bei anderen Wissenschaftlern geben. Den Ausführungen ist gemein, dass sie Daten verwenden, die in vielen europäischen Ländern zur Verfügung stehen. Einige empirische Beispiele verwenden neuartige Ansätze und Methoden, um so neue Erkenntnisse aus bereits vorhandenen Daten zu gewinnen. Die meisten Beispiele basieren auf internationalen Studien, es wird aber auch auf einige nationale Studien eingegangen, die auf andere Länder übertragbar sind.
2
Aktuelle Forschungsrichtungen und Herausforderungen
2.1
Herausforderung 1: Die Dokumentation gesundheitlicher Ungleichheit
Das Interesse für gesundheitliche Ungleichheit beruht im Wesentlichen auf der Tatsache, dass Personen aus benachteiligten sozioökonomischen Gruppen eine kürzere Lebensdauer aufweisen und dass sie während ihres Lebens häufiger unter physischen und psychischen Beeinträchtigungen leiden. Ungleichheiten in der Länge und der Qualität des Lebens konnten bisher für jede Population beobachtet werden, für die Daten vorlagen. Trotz zahlreicher deskriptiver Studien gibt es viele Populationen, Gebiete und Zeiträume, für welche gesundheitliche Ungleichheiten bisher noch nicht dokumentiert wurden. Auch wenn der Nachweis gesundheitlicher Ungleichheiten in diesen Bereichen keine große Überraschung sein dürfte, sollten sie dennoch dokumentiert werden bevor weitere Forschung geplant und Maßnahmen ergriffen werden. Während die ersten Belege über sozioökonomische Unterschiede in der Mortalität und der allgemeinen Gesundheit sich auf erwerbsfähige Männer konzentrierten, wurde der Fokus in nachfolgenden Studien zunehmend auch auf Frauen, Kinder und Ältere ausgeweitet. Im Hinblick auf das höhere Lebensalter hat eine aktuelle Serie europäischer Überblicksarbeiten beispielsweise beträchtliche Ungleichheiten sowohl in der Mortalität als auch in der subjektiven Gesundheit dokumentieren können. Bildungsspezifische Unterschiede in der Mortalität waren sogar bei 90-Jährigen und Älteren zu beobachten (Huisman et al. 2004, siehe auch Knesebeck & Schäfer in diesem Band). Im Vergleich zum mittleren Erwachsenenalter waren die Ungleichheiten in der Mortalität im höheren Lebensalter in relativen Maßstäben kleiner (bei Männern, aber nicht bei Frauen). Im absoluten Vergleich waren sie dagegen aber viel größer. Eine weitere internationale Überblicksarbeit demonstrierte substantielle Ungleichheiten in der Selbsteinschätzung der Gesundheit im hohen Lebensalter für elf europäische Länder (Huismann et al. 2003). Selbst für die Altersgruppe der über 80Jährigen, zeigte sich – sowohl für Männer als auch für Frauen – ein deutlicher Zusammenhang zwischen einer negativen Selbsteinschätzung der Gesundheit und dem Bildungsniveau sowie dem Einkommen. Diese Studien unterstreichen die Bedeutung einer Beschreibung sozioökonomischer Ungleichheiten in der Gesundheit über die gesamte Lebensspanne. Während gesundheitliche Ungleichheiten in den meisten westeuropäischen Ländern sehr detailliert dokumentiert wurden, ist über die Situation in Osteuropa weit weniger bekannt. Das Gleiche trifft auch für Teile Südeuropas zu, wo keine nationalen Längsschnittstudien zur Mortalität zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund wurden in den letzten Jah-
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Anton E. Kunst
ren zunehmend Anstrengungen unternommen, gesundheitliche Ungleichheiten in den Ländern und Regionen zu dokumentieren, in denen diese bisher nicht beschrieben wurden. Ein Beispiel hierfür ist Estland, wo entsprechende Mortalitätsdaten seit 1990 zur Verfügung stehen, und der erste nationale Gesundheitssurvey im Jahr 1996 durchgeführt wurde. Eine detaillierte Beschreibung sozioökonomischer Ungleichheiten in der Mortalität und in der allgemeinen Gesundheit wurde vor kurzem für die gesamte Population von Estland vorgelegt, und zwar für beide Geschlechter und alle Altersgruppen (Leinsalu 2002, Leinsalu et al. 2003). Die zentralen Ergebnisse sind in Tab. 21.1 zusammengefasst. Es zeigten sich erhebliche bildungsspezifische Unterschiede in der Lebenserwartung. Für die Lebenserwartung am 25. Geburtstag konnten zwischen der höchsten und der niedrigsten Bildungsgruppe Unterschiede von 11 Jahren bei Männern und 6 Jahren bei Frauen nachgewiesen werden. In Bezug auf die „Lebenserwartung bei guter Gesundheit“ (d.h. die Anzahl der Jahre, die man erwarten kann, in guter Gesundheit zu verbringen) fanden sich sogar noch größere Unterschiede: 12,6 Jahre für Männer und fast 10 Jahre für Frauen. Auch wenn Indikatoren wie „health expectancy“ mit Vorsicht zu interpretieren sind (Cambois et al. 2001), zeigen diese Ergebnisse, dass sozioökonomische Ungleichheiten in der Gesundheit in Estland, auch zehn Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit, ein gravierendes Ausmaß besitzen. Dieses einfache Beispiel unterstreicht die Dringlichkeit, diese Ungleichheiten zu verstehen und zu reduzieren. Tabelle 21.1: Lebenserwartung und Lebenserwartung in guter Gesundheit nach Bildungsstatus in der Altersgruppe der 25- bis 80-Jährigen (d.h. maximal 55 Lebensjahre), Schätzungen für Estland in den späten 1990er Jahren Differenz hoch minus niedrig
Anzahl der Jahre Bildungsstatus hoch
mittel
niedrig
Lebenserwartung (gesamt)
47.3
41.0
36.3
11.0
davon in „guter” Gesundheit
44.2
36.9
31.6
12.6
Lebenserwartung (gesamt)
51.0
48.8
44.9
6.1
davon in „guter” Gesundheit
46.7
42.0
36.9
9.8
Männer
Frauen
Quelle: Kunst (2002)
Eine dritte Möglichkeit, die Dokumentation gesundheitlicher Ungleichheiten zu erweitern, besteht in der Beschreibung von Veränderungen im Zeitverlauf. Da gesundheitliche Ungleichheiten ein dynamisches Phänomen sind, besteht ein permanenter Bedarf, Änderungen zu beobachten und aktuelle Informationen zur Verfügung zu stellen. Eine Serie europäischer Studien wurde dazu mit dem spezifischen Ziel durchgeführt, zeitliche Trends in der gesundheitlichen Ungleichheit zu erfassen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Ungleichheiten in der Mortalität unter Männern und Frauen mittleren Alters (zwischen den 1980er und den
Herausforderungen bei der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit in Europa
371
1990er Jahren) – relativ betrachtet – angestiegen sind, obwohl sie absolut gesehen, etwa gleich geblieben sind (Mackenbach et al. 2003, Davey-Smith et al. 2002). Anzumerken ist dabei, dass die Trends für die sozioökonomischen Unterschiede in der Mortalität zwischen den Ländern deutlich variierten. Zahlreiche andere Studien haben mit Hilfe von Daten nationaler Gesundheitssurveys Trends für sozioökonomische Unterschiede in der subjektiven Gesundheit analysiert (Kunst et al. 2005a, Lahelma et al. 2001, siehe auch Babitsch et al. in diesem Band). Die Studien ergaben jedoch kein konsistentes Bild, was teilweise auf methodische Einschränkungen zurückzuführen war (wie z.B. die begrenzte statistische Aussagekraft vieler nationaler Surveys). In einigen Ländern zeigten sich dennoch deutliche Hinweise, die einen Anstieg der Ungleichheiten in der subjektiven Gesundheit in den 1990er Jahren nahe legen (Kunst et al. 2005a). Zumindest konnte durch diese Ergebnisse gezeigt werden, dass sozioökonomische Ungleichheiten sowohl in der Mortalität, als auch in der subjektiven Gesundheit, ein beständiges Problem aller europäischen Gesellschaften sind.
2.2
Herausforderung 2: Von der allgemeinen Gesundheit zu spezifischen Krankheiten
Der vorherige Abschnitt konzentrierte sich auf die Gesamtmortalität und die Selbsteinschätzung der Gesundheit, da diese Indikatoren einen direkten Einfluss auf das haben, was den Menschen wichtig ist: Nämlich ein langes und gesundes Leben. In diesem Abschnitt soll über diese globalen Indikatoren hinausgegangen und die Bedeutung spezifischer Erkrankungen und Unfälle thematisiert werden. Im Mittelpunkt stehen dabei aktuelle Fortschritte bei der Erforschung sozioökonomischer Unterschiede in der ursachenspezifischen Mortalität und der Prävalenz unterschiedlicher Krankheiten auf europäischer Ebene. Die meisten krankheitsspezifischen Informationen stammen traditionell aus Analysen zu sozioökonomischen Unterschieden bei einzelnen Todesursachen. Mit einigen Ausnahmen, wie die französischen Längsschnittstudien, ist die ursachenspezifische Sterblichkeit ein integraler Bestandteil der Mortalitätsstudien. Auf europäischer Ebene wurde der bemerkenswerte Befund gemacht, dass die Mortalität aufgrund ischämischer Herzkrankheiten (IHK) in Skandinavien in einer inversen Beziehung zum sozioökonomischen Status steht, während sich in Südeuropa ein umgekehrter Effekt zeigt (Kunst et al. 1999). Dieses internationale Muster konnte in den 1980er Jahren zuerst für Männer mittleren Alters gezeigt werden. Neuere Studien haben bestätigt, dass dieses Muster bis in den 1990er konstant blieb, und wenn auch mit einigen Variationen ebenfalls unter älteren Männern und Frauen vorlag (Avendano et al. 2006). Ähnliche Nord-Süd Muster wurden auch für die Sterblichkeit an Lungenkrebs beobachtet, jedoch nicht für die Schlaganfallmortalität und zahlreiche andere Todesursachen (Huisman et al. 2005a). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass sozioökonomische Unterschiede in der Mortalität in Nord- und Südeuropa zumindest teilweise auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen sind (siehe den nächsten Abschnitt für das Beispiel Rauchen), auch wenn viele andere Einflussfaktoren in beiden Regionen gleich sind. Daten zu Todesursachen können nur ein Teil des Gesamtbildes erfassen, da sie die Bedeutung von Erkrankungen mit einer niedrigen Letalität nicht adäquat abbilden. Diese Krankheiten bringen jedoch eine starke Einschränkung in der Lebensqualität mit sich. Eine Ergänzung bietet deshalb die Messung der Inzidenz oder Prävalenz von Krankheiten in „lebenden“ Populationen. Eine sehr hilfreiche und weit verbreitete Datenquelle sind nationale Gesundheitssurveys, die Daten zur Prävalenz einer Vielzahl chronischer Erkrankungen
372
Anton E. Kunst
bereitstellen. In einer aktuellen Studie wurden Daten nationaler Gesundheitssurveys aus neun europäischen Ländern verwendet, um einen internationalen Überblick über bildungsspezifische Unterschiede in der Prävalenz ausgewählter Erkrankungen zu erhalten (Dalstra et al. 2005). Die größten gesundheitlichen Ungleichheiten wurden dabei für die Prävalenz von Schlaganfall, Diabetes, Arthritis und Arthrose beobachtet. Etwas schwächere Ungleichheiten waren bei der Hypertonie, bei chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen, und bei Migräne zu finden. Ungleichheiten in der Prävalenz von Herzkrankheiten waren – gerade in südeuropäischen Ländern – relativ schwach ausgeprägt. Für Krebs oder für Allergien wurden entweder keine Unterschiede beobachtet oder sie standen in einer inversen Beziehung zum Bildungsstatus. Die vorgestellten Ergebnisse dokumentieren somit große Ungleichheiten für eine Reihe beeinträchtigender Erkrankungen mit einer niedrigen Letalität. Die Bedeutung dieser Ungleichheiten wäre weitgehend unbeachtet geblieben, hätte man nur Daten zur Mortalität betrachtet. Die zwei vorangegangenen Abschnitte werfen die Frage auf, wie wichtig einzelne Erkrankungen erscheinen würden, wenn man sie in Bezug auf ihre Wirkung auf die Gesamtmortalität und die allgemeine Gesundheit beurteilen würde. Dieser kombinierte Effekt kann am besten mit Hilfe verschiedener Indikatoren zur „Lebenserwartung bei guter Gesundheit“ (health expectancy) gemessen werden (Cambois et al. 2001). Ein Beispiel für eine derartige Evaluation ist in Tab. 21.2 zu finden. Tabelle 21.2: Der Beitrag spezifischer Erkrankungen zu Bildungsunterschieden in der Lebenserwartung und der beschwerdefreien Lebenserwartung in Belgien, Männer und Frauen, 30 Jahre oder älter, 1990er Erkrankung
a
Beitrag zur Lebenserwartung (Anzahl der Jahre)
Beitrag zur behinderungsfreien Lebenserwartung (Anzahl der Jahre)
Männer
Frauen
Männer
Frauen
Krebs
1,0
0,3
0,6
0,5
Herzerkrankungen
0,9
1,2
1,5
1,6
Asthma, Bronchitis, usw.
0,5
0,2
1,2
1,5
Arthritis, Rückenbeschwerden
0,0
0,0
3,4
2,0
Andere Erkrankungen und Unfälle
1,2
0,9
1,3
0,3
Gesamtdifferenz in der Lebenserwartung a
3,6
2,6
8,0
5,9
Differenz zwischen Personen mit hoher und niedriger Bildung
Quelle: Nusselder (2005)
Die Darstellung basiert auf einer „Aufschlüsselung“ von Mortalitätsdaten und Daten des „Health Interview Survey“ aus Belgien (Nusselder et al. 2005). Wie die Ergebnisse zeigen, ist die Lebenserwartung bei niedrig gebildeten Männern und Frauen um 3,6 bzw. 2,6 Jahre niedriger als bei höher gebildeten Personen. Die Hauptursachen für diese Unterschiede
Herausforderungen bei der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit in Europa
373
waren Herzerkrankungen und Krebs. Im Sinne einer behinderungsfreien Lebenserwartung waren die Unterschiede viel größer (8,0 bzw. 5,9 Jahre). Hauptursachen waren hier nicht nur Herzerkrankungen, sondern auch Asthma/Bronchitis und Arthritis bzw. Rückenbeschwerden. Mit Hilfe dieser Berechnungsmethode war es möglich, Erkrankungen zu identifizieren, die am stärksten zu sozioökonomischen Unterschieden in den Chancen auf ein langes und gesundes Leben beitragen. Dieses Ergebnis weist darauf hin, dass sowohl fatale als auch nicht-fatale Krankheiten eine gleichberechtigte Priorität in der weiteren Forschung verdienen.
2.3
Herausforderung 3: Von Krankheiten zur ihren Risikofaktoren
Der große Beitrag einiger Erkrankungen zu Ungleichheiten in der Mortalität wirft die Frage nach sozioökonomischen Unterschieden bei den Risikofaktoren für diese Krankheiten auf. Mit dem Begriff „Risikofaktoren“ sind „proximale“ Determinanten für die Inzidenz und Prognose von Erkrankungen gemeint, welche als intermediäre Faktoren in der Beziehung zwischen Erkrankungen und „distalen“ Determinanten (wie z.B. der sozioökonomischen Stellung) auftreten. Diese „proximalen“ Determinanten lassen sich dabei in verhaltens-, umwelt-, psychosoziale und biologische Faktoren differenzieren (Elstad 2000, siehe auch die Beiträge im zweiten Teil des Bandes). Eine detaillierte Beschreibung und Analyse sozioökonomischer Unterschiede bei diesen Faktoren kann helfen, gesundheitliche Ungleichheiten zu erklären und Möglichkeiten zur Verringerung zu identifizieren. Im Folgenden wird am Beispiel Rauchen mit Hilfe einer Serie aktueller Studien der wissenschaftliche Fortschritt auf diesem Gebiet nachgezeichnet. Dabei wird zunächst mit einer Beschreibung sozioökonomischer Unterschiede in der Prävalenz des Tabakkonsums für verschiedene Populationen, geographische Einheiten und Zeiträume begonnen. Giskes et al. (2005) haben zum Beispiel einen Überblick über sozioökonomische Unterschiede in der Prävalenz des Tabakkonsums nach Bildungsstatus in sieben europäischen Ländern zu vier unterschiedlichen Zeitpunkten vorgelegt. Diese Ergebnisse zeigen in den späten 1980er Jahren einen Nord-Süd Gradienten im Muster dieser Ungleichheiten, mit geringen oder teilweise sogar inversen Ungleichheiten in Südeuropa, vor allem bei Frauen (Huisman et al. 2005b). Die große Ähnlichkeit mit dem Nord-Süd Muster für sozioökonomische Unterschiede in der Mortalität an ischämischen Herzerkrankungen in den 1990er Jahren (siehe vorherigen Abschnitt) deutet darauf hin, dass der soziale Gradient im Rauchen großen Einfluss auf das gesellschaftliche Muster dieser Todesursachen haben kann. Die Ergebnisse von Giskes et al. (2005) verdeutlichen weiter, dass die ausgeprägten Ungleichheiten im Rauchen bei Männern zwischen 1985 und 2000 zeitlich stabil geblieben sind, während die ursprünglich eher schwachen Unterschiede bei Frauen im Laufe der Zeit zunehmend größer geworden sind. Dieser Befund unterstreicht die dynamische Eigenschaft gesundheitlicher Ungleichheiten im Rauchen und betont die Notwendigkeit eines kontinuierlichen Monitoring. Detaillierte deskriptive Analysen von Risikofaktoren können zusätzliche Erkenntnisse geben. In Bezug auf den Tabakkonsum gibt es beispielsweise den Ansatz, zwischen Raten zum Einstieg (gemessen für die Altersgruppe 10 bis 25 Jahre) und zum Ausstieg (gemessen für das Alter 20 Jahre oder mehr) zu differenzieren. Tab. 21.3 stellt diesen „aufschlüsselnden Ansatz“ am Beispiel zweier Studien mit italienischer Geburtskohorten dar (Federico et
374
Anton E. Kunst
al. 2006). Altersspezifische Raten im Einstiegs- und Ausstiegsverhalten ließen sich mittels retrospektiver Fragen zur Raucherbiographie in nationalen Gesundheitssurveys im Jahr 2000 analysieren. Im Vergleich zu den älteren Kohorten hatten jüngere Geburtskohorten ein vorteilhafteres Raucherprofil: Die Einstiegsraten waren niedriger und auch die Raten zum Fortsetzen des Rauchens waren niedriger (d.h. die Ausstiegsraten waren höher). Während sich der Rückgang der Raten zum Fortsetzen des Rauchens sowohl bei höher als auch bei niedriger gebildeten Personen zeigte, war der Rückgang der Einstiegsraten unter höher gebildeten Personen viel ausgeprägter. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Bildungsunterschiede in der Prävalenz des Rauchens im Laufe der Zeit zugenommen haben, hauptsächlich aufgrund der unterschiedlichen Trends in den Einstiegsraten (ebd.). Die jüngeren Geburtskohorten weisen darüber hinaus ausgeprägte bildungsbezogene Unterschiede im Einstiegsverhalten auf, die durch zusätzliche Ungleichheiten in den Raten zum Fortsetzen des Rauchens ergänzt werden. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Einstiegsverhalten in das Rauchen bei weniger gebildeten Jugendlichen ein wichtiges Feld darstellt, um die wachsenden Ungleichheiten im Tabakkonsum in Italien zu verstehen und anzugehen. Tabelle 21.3: Unterschiede im Einstiegs- und Ausstiegsverhalten im Tabakkonsum zwischen zwei Geburtskohorten nach Bildungsstatus in Italien. Männliche und weibliche Kohorten, geboren 1940 bis 1949 und 1960 bis 1969 Rauchen
Männer 1940-49
1960-69
Frauen Veränderung
1940-49
1960-69
Veränderung
Wahrscheinlichkeit (%) mit dem Rauchen anzufangen hohe Bildung
50,9
37,2
-13,7
35,2
30,6
-4,6
niedrige Bildung
51,9
52,6
0,7
28,3
34,0
5,7
Wahrscheinlichkeit (%) das Rauchen bis zum 40. Lebensjahr fortzusetzen hohe Bildung
79,4
64,0
-15,4
71,7
57,8
-13,9
niedrige Bildung
83,7
70,4
-13,3
85,8
68,3
-17,5
Quelle: Federico (2006)
In Tabelle 21.2 wurden bereits einige Analysen präsentiert, die das Ziel hatten, den Beitrag spezifischer Erkrankungen zu sozioökonomischen Unterschieden in der Lebenserwartung abzuschätzen. Auf ähnliche Weise können Schätzungen zum Einfluss des Rauchens auf Ungleichheiten in der Mortalität oder anderen Gesundheitsindikatoren vorgenommen werden. In einer Studie wurde dieser Beitrag unter Anwendung der so genannten „Peto“Methode (Peto 1996) für unterschiedliche Gruppen des Bildungsstatus in zehn europäischen Ländern/Städten geschätzt. Diese Analyse war möglich, weil Daten zur Gesamtmortalität und zur Mortalität an Lungenkrebs getrennt nach Bildungsstatus zur Verfügung standen (Mackenbach et al. 2004). Die Ergebnisse zeigen, dass der Beitrag des Tabakkonsums für die bildungsspezifischen Unterschiede in der Gesamtmortalität bei Männern im Durchschnitt bei etwa 20% lag. Dieser Beitrag war relativ groß in England und Turin (ca. 30%)
Herausforderungen bei der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit in Europa
375
und dagegen eher klein in Madrid (6%). Für Frauen konnte ein deutlicher Nord-SüdGradient festgestellt werden mit inversen Beiträgen (d.h. mehr tabakbezogene Mortalität in höheren Bildungsgruppen) in Österreich, Turin, Barcelona und Madrid. Obwohl diese Angaben nur ungefähre Schätzungen darstellen, zeigen sie, dass Rauchen entscheidend zu sozioökonomischen Unterschieden in der Gesamtmortalität in vielen – wenn auch nicht allen – europäischen Ländern beiträgt.
2.4
Herausforderung 4: Verbesserung der Messung des sozioökonomischen Status
Die oben vorgestellten Beispiele verwendeten ausschließlich das Bildungsniveau als SESIndikator. Der sozioökonomische Status ist jedoch ein komplexes, multidimensionales Konzept, in dem das Bildungsniveau eher die kulturellen und kognitiven Aspekte betont. Zwei komplementäre und häufig angewandte Indikatoren des sozioökonomischen Status sind der Berufsstatus und das gegenwärtige Einkommen (Grundy & Holt 2001, Lynch & Kaplan 2000, Krieger et al. 1997). Allgemein besteht wenig Konsens darüber, welches nun der „beste“ Indikator des sozioökonomischen Status ist, außer der Erkenntnis, dass diese Wahl stark von den spezifischen Forschungszielen abhängt. Darüber hinaus kann die Wahl auch durch die Verfügbarkeit von Indikatoren und Klassifikationen auf nationaler und internationaler Ebene eingeschränkt sein. Aus diesem Grund, sind die Wissenschaftler dazu aufgefordert, die eigene Messung des sozioökonomischen Status zu hinterfragen und die Verwendung anderer Klassifikationen und Indikatoren in Erwägung zu ziehen. Vor allem in England, aber auch in einigen anderen europäischen Ländern waren berufsbasierte Klassifikationen nach „sozialen Klassen“ oder „sozio-professionellen Kategorien“ Gegenstand der Evaluation und Revision (Craig & Forbes 2005, Drever et al. 2004). Die verschiedenen Methoden der Klassifizierung von Berufen unterscheiden sich auf nationaler Ebene sehr stark voneinander. Zudem haben viele europäische Länder gar keine oder nur eine recht grobe Klassifikation ohne theoretische Basis. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass zurzeit eine neue Klassifikation für europäische Länder, die „European Socio-Economic Classification (ESEC)“, entwickelt wird.2 Bei dieser Klassifikation werden „soziale Klassen“ auf Basis von „employment relationships“ der Arbeitnehmer definiert. Tab. 21.4 zeigt die Anwendung eines Prototyps dieser Klassifikation auf gesundheitsrelevante Indikatoren (Kunst et al. 2006). Die Klassifikation wurde dabei auf aggregierte Daten aus neun Ländern angewendet, die am European Community Household Panel (ECHP) teilnahmen. Die Daten zeigen große sozioökonomische Unterschiede zwischen den sozialen Klassen in Bezug auf die Prävalenz einer „negativen“ Einschätzung der Gesundheit, sowohl bei Männern als auch bei Frauen (siehe erste Spalte). Kleinere, aber dennoch bedeutsame Ungleichheiten, zeigten sich unter Kontrolle der Bildung und des Einkommen (siehe zweite Spalte). Dieser restliche, unabhängige Effekt des Berufsstatus war in erster Linie auf die höheren Prävalenzraten bei „technical and routine workers“ (classes 6, 8 und 9) im Vergleich zur Referenzgruppe zurückzuführen. Ähnliche Muster wurden auch für einzelne Länder beobachtet, u.a. für Frankreich, Deutschland, Italien und Großbritannien, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Diese Klassifikation stellt – zusätzlich zu den Indikatoren Bildungsstatus und Einkommen – ein neues Instrument zur Verfügung, welches für die
2
Weitere Informationen finden sich unter http://www.iser.essex.ac.uk/esec
376
Anton E. Kunst
Identifikation sozioökonomischer Statusgruppen mit einem erhöhten gesundheitlichen Risiko genutzt werden kann (Craig & Forbes 2005, Drever et al. 2004, Kunst et al. 2006). Tabelle 21.4: Unterschiede in der Selbsteinschätzung der Gesundheit „weniger als gut“ nach ESEC Klassifikation. Regressionsschätzungen mit und ohne Kontrolle der Bildung und des Einkommens. Männer und Frauen, 25-64 Jahre, 11 europäische Länder, 1994 Keine Kontrolle a ESEC Klasse
Prävalenz Rate Ratio
(95% Konfidenzintervall)
Kontrolle b Prävalenz Rate Ratio
(95% Konfidenzintervall)
Männer 1: Higher professionals and managers
1.00
--
1.00
--
2: Lower professionals and managers
1.11
(1.03-1.20)
1.10
(1.02-1.19)
3: Upper clerical, service etc workers
1.29
(1.20-1.40)
1.17
(1.08-1.27)
4: Self employed and small employers
1.47
(1.37-1.57)
1.10
(1.03-1.18)
5: Farmers etc
1.65
(1.53-1.79)
1.03
(0.94-1.12)
6: Supervisors and technicians
1.58
(1.46-1.70)
1.31
(1.21-1.42)
7: Lower service, sales, etc workers
1.48
(1.35-1.63)
1.21
(1.10-1.33)
8: Lower technical workers
1.70
(1.60-1.81)
1.33
(1.25-1.43)
9: Routine, unskilled workers
1.75
(1.64-1.86)
1.28
(1.20-1.37)
1: Higher professionals and managers
1.00
--
1.00
--
2: Lower professionals and managers
1.16
(1.06-1.26)
1.14
(1.05-1.24)
3: Upper clerical, service etc workers
1.20
(1.11-1.31)
1.05
(0.97-1.15)
4: Self employed and small employers
1.49
(1.78-1.63)
1.18
(1.08-1.30)
5: Farmers etc
1.96
(1.78-2.13)
1.38
(1.26-1.52)
6: Supervisors and technicians
1.60
(1.43-1.80)
1.25
(1.11-1.41)
7: Lower service, sales, etc workers
1.41
(1.30-1.54)
1.10
(1.01-1.20)
8: Lower technical workers
2.06
(1.88-2.25)
1.48
(1.34-1.62)
9: Routine, unskilled workers
1.85
(1.71-1.99)
1.34
(1.23-1.46)
Frauen
a
Die Schätzungen basieren auf einer Serie von drei Regressionsmodellen (für jeden SES-Indikator ein Modell) unter Kontrolle des Alters (5-Jahres-Altersgruppen) und Land. b Die Schätzungen basieren auf einem Regressionsmodell unter Kontrolle des Alters (5-Jahres-Altersgruppen), Land, ESEC class, Bildungsstatus, individuelles und haushaltsbezogenes Einkommen.
Quelle: Kunst (2006)
Eine Weiterentwicklung der deskriptiven Forschung ist aber nicht nur durch die Verwendung neuartiger Klassifikationen bereits etablierter SES-Indikatoren möglich (siehe oben), sondern auch durch das „Experimentieren“ mit neuartigen Indikatoren. Ein besonderer Bedarf scheint hier für Indikatoren zum materiellen Wohlstand oder zur ökonomischen
Herausforderungen bei der Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit in Europa
377
Deprivation zu bestehen. So sind die häufig verwendeten Indikatoren zur aktuellen Einkommenssituation teilweise inadäquat, da sie weder das Langzeiteinkommen noch den Wohlstand, der über den Lebenslauf akkumuliert wird, direkt messen (Grundy & Holt 2001, Lynch & Kaplan 2000, Krieger et al. 1997). Indikatoren zu Hausbesitz/Wohneigentum und zum „Wert der Immobilie“ können diesem Zweck dienen und wurden bereits erfolgreich in aktuellen europäischen Übersichtsarbeiten zu sozioökonomischen Unterschieden in der Mortalität und Morbidität verwendet (Dalstra et al. 2005, Huisman et al. 2004). Eine weitere Möglichkeit, die sozioökonomische Lage zu erfassen, besteht in der Berücksichtigung der Anzahl verschiedener „langlebiger“ Gütern (z.B. Autos, Computer, neue Möbel) und Aktivitäten (z.B. Reisen ins Ausland), die sich Personen leisten können. Aus diesen Angaben wird dann ein „Wohlstandsindex“ bzw. „Deprivationsindex“ erstellt. In zurzeit laufenden Analysen der ECHP Daten konnte beispielsweise für neun europäische Länder gezeigt werden werden, dass die Prävalenzraten für das Rauchen sowohl stark mit dem Hausbesitz als auch mit einem Wohlstandsindex korrelieren (Schaap et al. 2008). Diese Unterschiede blieben auch unter Kontrolle des Bildungsniveaus, des Berufsstatus und des Einkommens erhalten. Der unabhängige Effekt des Wohlstandsindikators war etwa gleich stark wie der Effekt der Bildung und des Berufsstatus. Das Einkommen dagegen hatte keinen Effekt. Wie eine ähnliche Studie aus Finnland (Laaksonen et al. 2005) unterstreicht diese Analyse die potentielle Bedeutung der Verwendung von Indikatoren zum akkumulierten Wohlstand, wie z.B. Hausbesitz und Besitz von langlebigen Gütern. In den meisten Studien wurden SES-Indikatoren bisher unabhängig voneinander analysiert. Die meisten multivariaten Regressionsmodelle behandeln z.B. jeden SES-Indikator als einen unabhängigen Prädiktor der Gesundheit. In manchen Situationen erscheint es jedoch zielführender, die Personen „quer zu klassifizieren“, je nach ihrer Position in zwei oder mehr sozioökonomischen Indikatoren. Eine aktuelle Studie aus den Niederlanden analysierte zum Beispiel die Prävalenz einer negativen Selbsteinschätzung der Gesundheit im Zusammenhang mit dem Haushaltseinkommen und einem Wohlstandsindikator, der auf verschiedenen Charakteristika zum Wohneigentum basiert (Kunst et al. 2005). Eine „negative“ Gesundheit wurde nicht nur häufiger von Personen mit einem niedrigen Einkommen berichtet, sondern auch von Personen, die in billigen Mietshäusern wohnten. Bedeutend ist dabei, dass eine starke Interaktion zwischen diesen beiden Indikatoren beobachtet wurde. Wenn die Personen nach beiden Indikatoren klassifiziert wurden, war eine „schlechte“ Gesundheit am häufigsten unter denjenigen Personen aufzufinden, die ein niedriges Einkommen hatten und zusätzlich in billigen Mietshäusern wohnten. Prävalenzraten für eine „negative“ Selbsteinschätzung der Gesundheit waren in dieser spezifischen Gruppe höher als 30%. In allen anderen Gruppen (inklusive Personen mit einem niedrigen Einkommen aber einem adäquaten Zuhause, und Personen in einer schlechten Wohnsituation aber mit einem mittleren oder hohem Einkommen) lag die Prävalenz einer negativen Einschätzung der Gesundheit dagegen unter 20%. Dieses Beispiel zeigt, dass eine differenzierte, querliegende Klassifikation von Personen in Bezug auf zwei oder mehr sozioökonomische Dimensionen helfen kann, die spezifischen Bevölkerungsgruppen zu identifizieren, bei denen sich gesundheitliche Probleme konzentrieren.
378 3
Anton E. Kunst
Die Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheit und ihre Beziehung zur Forschung zu Erklärungsansätzen und Interventionsmöglichkeiten
Der vorliegende Beitrag soll nicht fälschlicherweise den Eindruck vermitteln, dass ein kompletter Überblick über die deskriptive Forschung zur gesundheitlichen Ungleichheit gegeben wurde. So wurden zum Beispiel keine Indikatoren für sozioökonomischen Unterschiede in der Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen unter dem wichtigen Aspekt der Kontrolle des gesundheitsbezogenen Bedarfs diskutiert (van Doorslaer et al. 2006, Habicht & Kunst 2005). Darüber hinaus wurden auch keine sozialökologischen Ungleichheiten in der Gesundheit diskutiert, welche als „Hilfsansatz“ dienen können, wenn Daten auf Individualebene nicht verfügbar sind; die aber auch für sich genommen einen viel versprechenden und interessanten Ansatz darstellen (Benach et al. 2003). Ähnlich wurde auch keine deskriptive Forschung zur Gesundheit von Migranten, ethnischen Minderheiten, allein erziehenden Müttern oder anderer sozial benachteiligter Gruppen diskutiert (Smith 2000). Für all diese Aspekte bleibt die Hauptaufgabe im Prinzip eine deskriptive, d.h. Unterschiede in der Gesundheit (oder bei Risikofaktoren und/oder Versorgungsleistungen) im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Stellung der Personen (in sozioökonomischen, geographischen oder anderem Sinne) zu beschreiben. Weitere Herausforderungen bestehen aber auch auf „technischer“ Ebene, wie etwa die Verwendung von Mehrebenenanalysen bei sozialökologischen Forschungsansätzen (Diez-Roux 2000). Im Vergleich zu den o.g. deskriptiven Studien ist die Forschung zu Erklärungsansätzen gesundheitlicher Ungleichheit grundlegend anders. Diese Forschungsrichtung beschäftigt sich mit der grundlegenden Frage, warum und wie sozioökonomische Faktoren die Gesundheit beeinflussen bzw. umgekehrt. Sie zielt letztlich darauf ab, ursächliche Faktoren, Mechanismen und Prozesse zu identifizieren und ihren Beitrag zu den beobachteten gesundheitlichen Ungleichheiten abzuschätzen (Elstad 2000). In seiner direkten Form ist die „erklärende“ Forschung eine multivariate Erweiterung der oben beschriebenen deskriptiven Analysen. Zahlreiche Studien haben beispielsweise analysiert, inwieweit sozioökonomische Unterschiede in der Mortalität an ischämischen Herzerkrankungen auf das Rauchen oder durch andere klassische Risikofaktoren zurückgeführt werden kann. In diesen Studien wird dabei üblicherweise ein Ansatz verwendet, der abschätzt, inwieweit statistische Kennwerte für Ungleichheiten in der Mortalität durch die Hinzunahme verschiedener Variablen (Rauchen oder andere Erklärungsfaktoren) in ein Regressionsmodell reduziert werden. Studien aus nordeuropäischen Ländern zeigen allgemein, dass ein Drittel bis etwa die Hälfte der Unterschiede in der Mortalität an ischämischen Herzerkrankungen durch Tabakkonsum oder andere Faktoren, wie zum Beispiel Übergewicht und (hohem) Blutdruck, erklärt werden können (Lynch et al. 1996). Ein erheblicher Teil der sozioökonomischen Unterschiede in der Gesundheit bleibt jedoch unerklärt, was darauf hindeutet, dass andere Risikofaktoren, wie zum Beispiel psychosoziale und umweltbedingte Faktoren sowie Determinanten aus früheren Lebensabschnitten berücksichtigt werden müssen (Hallqvist et al. 2004, siehe auch Giesecke & Müters in diesem Band)). Weiter ausdifferenzierte Formen der erklärenden Forschung berücksichtigen den kompletten ursächlichen Verlauf und versuchen beispielsweise die Frage zu beantworten, warum Raucher mit einem niedrigen SES seltener mit dem Rauchen aufhören. Zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen sind Theorien der Verhaltensänderung erforderlich, wie zum Beispiel die Theorie des geplanten Verhaltens. Eine Anwendung dieser Theorie in
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einer Längsschnittstudie zum Rauchverhalten in den Niederlanden konnte zum Beispiel zeigen, dass sozioökonomische Unterschiede im Ausstiegsverhalten in keiner Beziehung zur Absicht mit dem Rauchen aufzuhören standen. Personen mit einer niedrigen Bildung waren einfach weniger erfolgreich mit dem Aufhören (Droomers et al. 2004). Sie verfügten dabei auch über keine „negativere“ Einstellung oder andere soziale Normen gegenüber dem Ausstieg aus dem Rauchen, sie hatten aber eine deutlich schwächere Selbstwirksamkeitserwartung. Weitere Erkenntnisse über die Wahrnehmungen, Beweggründe und Schwierigkeiten dieser Personen konnten durch qualitative Studien ermittelt werden. Eine qualitative Studie zu armen, allein erziehenden Frauen in England konnte feststellen, dass der höhere Tabakkonsum auf den täglichen Stress bei der Kinderbetreuung in der ökonomisch schwierigen Situation zurückzuführen war. Ein Großteil dieser Mütter hatte das Vertrauen in ihre Fähigkeiten verloren, erfolgreich beim Aufhören mit dem Rauchen zu sein (Graham 1993). Im Vergleich zur deskriptiven und erklärenden Forschung, ist die Forschung zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit immer noch sehr lückenhaft (Mackenbach et al. 2002, siehe auch Mielck et al. in diesem Band). Diese spezielle Forschungsrichtung hat das Ziel, Interventionen (d.h. Programme oder Maßnahmen) im Hinblick auf ihre Effektivität in unteren sozioökonomischen Statusgruppen zu evaluieren. Die entscheidenden Fragen dabei sind, welche Interventionen sind in unteren sozioökonomischen Gruppen effektiv, und welche dieser Interventionen sind in diesen Statusgruppen mindestens genauso effektiv wie in höher gestellten Gruppen. Die bisherigen Belege sind eher bescheiden und bieten keine ausreichende Grundlage für Richtlinien zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten (Mackenbach 2003). Während Interventionsstudien in vielen Public Health-Bereichen weit verbreitet sind, stellen die publizierten Evaluationen selten die Frage, ob die Effektivität in höher und niedriger gestellten sozioökonomischen Gruppen Unterschiede aufweist. Gerade aus Großbritannien kommen jedoch einige positive Beispiele zum Rauchen bzw. zum Ausstieg aus dem Tabakkonsum. Diese Beispiele zeigen nicht nur die verschiedenen Ebenen auf, auf denen Maßnahmen stattfinden können, sondern auch die entsprechenden Unterschiede in den Evaluationsmethoden:
Auf nationaler Ebene liegt das Hauptinteresse auf der Effektivität nationaler Tabakkontrollmaßnahmen und -politik, wie zum Beispiel Preisgestaltung, Kampagnen und gesetzgebenden Maßnahmen. Die Wirkung nationaler Maßnahmen in den 1970er und 1980er Jahren wurde mit Hilfe einer Zeitreihenanalyse von Trends im Zigarettenkonsum evaluiert (Townsend 1994). Die Ergebnisse zeigen, dass Preisgestaltungen einen größeren Effekt in unteren sozioökonomischen Statusgruppen hatten, während Kampagnen einen stärkeren Effekt bei sozial besser gestellten Gruppen aufwiesen. Auf der lokalen Ebene liegt das derzeitige Hauptinteresse in Großbritannien auf einem neuen System von lokalen Angeboten zum Ausstieg aus dem Rauchen, wobei insbesondere auf die Bereitstellung dieser Angebote in benachteiligten Gebieten geachtet wird. Die Effekte dieses Programms wurden durch eine Längsschnittsstudie in ausgewählten Interventionsgebieten evaluiert (Chesterman et al. 2005). Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Personen mit einem niedrigen sozioökonomischem Status die neuen Angebote viel häufiger in Anspruch nahmen. Ausschlaggebend war hierbei die Vielfalt der Maßnahmen, die diese Angebote zugänglicher, bezahlbarer und annehmbarer machten.
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Auf der individuellen Ebene der Raucher lag das Hauptaugenmerk auf der Effektivität verschiedener Beratungsmöglichkeiten, Therapien und medizinischen Behandlungen. Effekte dieser Maßnahmen werden allgemein über Fall-Kontroll-Studien in ausgesuchten Raucherpopulationen gemessen. Ein interessantes Beispiel hierfür ist eine Interventionsstudie, die eine neue kognitive Verhaltenstherapie für Raucher in benachteiligten Stadtteilen von London entwickelte (Sykes & Marks 2001). Diese Methode erwies sich bei Rauchern in den benachteiligten Stadtteilen als effektiv; auch auf individueller Ebene, d.h. bei Rauchern mit einem niedrigen sozioökonomischen Status in den benachteiligten Stadtteilen.
Dieser kurze Überblick illustriert die große Bandbreite an Studien, die sowohl für das Verständnis als auch für die Schaffung einer soliden Beweisgrundlage für Strategien und Maßnahmen der Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten notwendig sind. Dieses fast unbegrenzte Forschungsfeld erfordert intensive Anstrengungen der Forschung im Verbund mit einer internationalen Kooperation und einem Austausch relevanter Forschungsergebnissen. Zugleich ist es wichtig, Prioritäten zu setzen und die Bevölkerungsgruppen, Erkrankungen und Faktoren in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, für die sich die größten gesundheitlichen Ungleichheiten finden. Die deskriptive Forschung wird hier gebraucht, um die richtigen Prioritäten zu setzen.
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Diskussion
Bislang wurde die Forschung zur gesundheitlichen Ungleichheit durch die deskriptive Forschung dominiert. Während für deskriptive Analysen zahlreiche Datenquellen zur Verfügung stehen, ist es viel schwieriger die Daten zu erhalten, die notwendig sind, um Aussagen über die Erklärung oder die Reduzierung sozioökonomischer Unterschiede machen zu können. Trotz dieser Schwierigkeiten bedarf es einer allgemeinen Verlagerung von der deskriptiven zu einer erklärenden bzw. Interventionsforschung, um so Informationen bereitzustellen, die für die Entwicklung von Maßnahmen zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten notwendig sind. Die Hauptaufgabe der deskriptiven Forschung in diesem Prozess ist es, gesundheitliche Ungleichheiten in den Bereichen zu dokumentieren, in denen sie bisher nicht beschrieben worden sind und prioritäre Handlungsfelder für die weitere Forschung aufzudecken. Die vorangegangenen Ausführungen deuten zum Beispiel auf die Relevanz sozioökonomischer Unterschiede im Ausstiegsverhalten beim Rauchen in jüngeren Altersgruppen hin, und die Schwierigkeiten, die Frauen und Männer unter einer langfristigen sozioökonomischen Benachteiligung haben, mit dem Rauchen aufzuhören. Eine integrierte Forschung zu gesundheitlichen Ungleichheiten sollte durch unterschiedliche konzeptionelle Modelle geleitet sein, die die Rolle bzw. den Beitrag verschiedenen Faktoren zur Erklärung von sozioökonomischen Ungleichheiten in der Gesundheit spezifizieren. Einige solche Modelle sind bereits in der Literatur zu finden (Mackenbach et al. 2002, Elstad 2000, Hallqvist et al. 2004, Smith 2000). Allgemein sollte dabei jedes Modell berücksichtigen, dass sich die gesellschaftliche Stellung im Laufe des Lebens in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status der Eltern, dem eigenen Bildungsniveau, dem Beruf, und der Agglomeration von Wohlstand entwickelt. Diese sozioökonomische „Karriere“ sollte zusammen mit anderen Veränderungen im Lebenslauf, wie zum Beispiel einem
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Wechsel des Wohnsitzes oder Veränderungen in der Familiensituation, betrachtet werden. Am wichtigsten erscheint es aber herauszuarbeiten, wie die sozioökonomische Position mit dem jeweils betrachteten gesundheitlichen „Outcome“ verbunden ist, zum Beispiel dem Rauchen. Abhängig von den jeweils relevanten Zielgrößen sollte der konzeptionelle Rahmen spezifizieren, welche umweltbezogenen, psychosozialen und biologischen Determinanten dabei eine Rolle spielen. Dabei können bereits vorliegende Theorien dazu dienen, die Entwicklung solcher Konzeptionen zu leiten (Droomers et al. 2004). Die Ausführungen haben gezeigt, wie vorliegende Datenquellen zur Beschreibung gesundheitlicher Ungleichheiten verwendet werden können. Einige Beispiele haben gezeigt, dass sich mit Hilfe neuer Ansätze und Methoden auch aus älteren Datensätzen noch neue Erkenntnisse gewinnen lassen. Diese Ansätze lassen sich auf viele Daten anwenden, die bereits in zahlreichen europäischen Ländern zur Verfügung stehen. Dabei wird die Verfügbarkeit zweier Typen von Datenquellen vorausgesetzt: ein Todesursachenregister, das sich mit Angaben über SES-Indikatoren verknüpfen lässt und Interviewsurveys mit einer detaillierten Messung der sozioökonomischen Stellung und verschiedenen Gesundheitsindikatoren. Für viele europäische Länder oder Regionen liegen diese Datenquellen vor und bieten damit eine solide Basis für die deskriptive Forschung. Zugleich ist es jedoch wichtig, die Möglichkeiten zukünftiger Forschung zu erweitern. Ein großer Schritt in diese Richtung wäre die Verknüpfung sozioökonomischer Daten mit Registern im Bereich der gesundheitlichen Versorgung (z.B. einem Patientenregister in der Primärversorgung und Krankenhausentlassungsdaten) oder mit krankheitsspezifischen Registern (z.B. Krebsregister, Register zu übertragbaren Krankheiten oder zur psychischen Gesundheit). Nicht explizit diskutiert wurden in diesem Beitrag verschiedene „Indices zur Messung gesundheitlicher Ungleichheit“, die das Ausmaß der Ungleichheit beschreiben. Die verschiedenen Methoden sind in der Literatur ausführlich beschrieben (Regidor 2004). Es ist allgemein bekannt, dass die Wahl dieser Indices stark von der jeweiligen Forschungsfrage und den verwendeten SES- und Gesundheitsindikatoren abhängt. Weiterhin ist es auch bekannt, dass die Darstellung gesundheitlicher Ungleichheiten sowohl absolute Raten nach sozioökonomischen Statusgruppen als auch Indikatoren berücksichtigen sollte, die die relativen Unterschiede zwischen den Gruppen quantifizieren. Unabhängig davon, welcher Indikator zur Messung gesundheitlicher Ungleichheit angewendet wird, ist es wichtig, analytische Methoden aus anderen Forschungsfeldern zu berücksichtigen. Die hier genannten Beispiele verdeutlichen die neuen Erkenntnisse, die durch die Anwendung verschiedener Techniken der Analyse von Sterbetafeln (Cambois et al. 2001, Nusselder et al. 2005), Methoden der „Datenzerlegung“ (van Doorslaer 2004), der „Peto“-Methode (Peto et al. 1996, Mackenbach et al. 2004) und durch die retrospektive Messung von Raucherbiografien (Federico 2006) gewonnen werden können. Eine Intensivierung der Anwendung solcher Methoden, inklusive epidemiologischer Modelle zur bevölkerungsbezogenen Gesundheit (Bemelmans et al. 2006), kann dazu beitragen, prioritäre Handlungsfelder der analytischen Forschung und der Interventionsforschung aufzudecken.
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Primärprävention als Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen
Rolf Rosenbrock, Susanne Kümpers
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Einleitung
Public Health – bevölkerungsbezogene Gesundheitssicherung – beschäftigt sich mit der Gesundheit und Krankheit von Populationen, nicht mit der von Individuen. Darin unterscheidet sie sich von der Medizin. Public Health fragt u.a. danach, wie die Gesundheit einer Gesamtpopulation entsteht und gefördert werden kann und wie die Wahrscheinlichkeit von Krankheiten auf Populationsniveau gesenkt werden kann: Sie fragt damit nach Chancen, Möglichkeiten und Strategien für erfolgreiche Prävention. Nach viel versprechenden Entwicklungen in der Sozialepidemiologie und strategischer Umsetzung in der Sozialhygiene in Deutschland in den 1920er Jahren, nach der Pervertierung des Gesundheitsschutzes zur „Rassenhygiene“ während des Faschismus und der nach 1945 folgenden Marginalisierung der Public-Health-Perspektive und des öffentlichen Gesundheitsdienstes in der Bundesrepublik wurden Public-Health-Studiengänge erst seit Anfang der 1990er Jahre wieder in Deutschland etabliert. Deshalb haben Public Health und damit auch das Feld der Prävention es in Deutschland noch immer schwer, in Politik und Öffentlichkeit ein Verständnis dafür zu erreichen, wie vielfältig, umfassend und gestaltbar die Determinanten von Gesundheit auch jenseits der medizinischen Versorgung sind. Im internationalen Zusammenhang hat Public Health – zumindest konzeptionell – eine dynamische Entwicklung erlebt, seit mit der Programmatik von „healthy public policy“ und „health promotion“ (Milio 1987, WHO Europa 1986/2005) strategische Konzepte zur Beeinflussung der Determinanten von Gesundheit im weitesten Sinne weltweit verbreitet und diskutiert wurden. Folgerichtig beziehen sich die gesundheitspolitischen Zielsysteme in etlichen europäischen Ländern, aber nicht in Deutschland, nicht mehr auf einzelne Krankheiten, sondern auf die Gestaltung jener Politikfelder, auf denen über die gesellschaftliche – und damit auch über die gesundheitliche – Teilhabe entschieden wird (SVR 2007). Dem korrespondieren auf wissenschaftlicher Ebene Bemühungen mit Hilfe von Methoden des health impact assessment die gesundheitlichen Folgen von Entwicklungen zum Beispiel in der Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Wohnungspolitik auf die Gesundheit der Bevölkerung abzuschätzen (Stahl et al. 2006). Eine oft zitierte Untersuchung der historischen Epidemiologie u.a. der Tuberkulose des britischen Sozialmediziners McKeown illustriert und unterstreicht die Bedeutung des Public-Health-Ansatzes (siehe Abb. 22.1). McKeown zeigte, dass es vor allem Verbesserungen in der Ernährung und der Bildung, sowie technischen und sozialen Reformen in der Arbeitswelt und v. a. städtischen Umwelt zu verdanken war, dass zumindest in industrialisierten Ländern die Verheerungen durch die Infektionsseuchen entscheidend gemindert wurden. Die naturwissenschaftliche Medizin mit ihren Instrumenten der Immunisierung und Therapie konnte diesen Erfolg dann befestigen und sichern.
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Rolf Rosenbrock, Susanne Kümpers
Abbildung 22.1: Entwicklung der Epidemiologie der Tuberkulose in Großbritannien 4000 3500 3000
Identifikation des Tuberkulosebazillus 2500 2000
Chemotherapie 1500
BCG-Impfung 1000 500 0
1838
1860
1880
1900
1920
1940
1960
Quelle: McKeown (1982)
Im Hinblick auf aktuelle Debatten und Kontroversen zur Prävention ist ein weiterer Befund von McKeown besonders wichtig: Es waren die Änderungen der Lebensverhältnisse, die ihrerseits für die Prävention unverzichtbare Veränderungen im Verhalten vor allem der unteren Sozialschichten bewirkten: Zu nennen sind hier u.a. persönliche Hygiene, ausgleichendes Freizeitverhalten und die Abnahme des Alkoholkonsums, die sich im Wechselverhältnis mit politisch bewirkten Fortschritten in den Lebensverhältnissen einstellten. Gesundheitswissenschaftlich ausgedrückt: Es war Verhältnisprävention in den Lebenskontexten (siehe unten), die zu belastungssenkenden und ressourcenfördernden Verhaltensmodifikationen führte („verhältnisgestützte Verhaltensmodifikation“). Befunde wie diese unterstreichen die große Bedeutung von Faktoren und Determinanten für die Gesundheit der Bevölkerung, die nicht im Gestaltungsbereich von Gesundheitspolitik liegen („soziale Determinanten der Gesundheit“). Die Thematisierung und Umsetzung von Präventionspolitik hätte demzufolge bei Problemen des Arbeitsmarktes, der Bildung, der Sozialleistungen, der Steuergestaltung und der Versorgung mit Wohnungen und Freizeiteinrichtungen anzusetzen: über die Gesundheit der Bevölkerung sowie insbesondere die Verteilung von Gesundheits- und Lebenschancen wird primär in diesen Bereichen entschieden. Da diese Bereiche nicht der Gesundheitspolitik zugerechnet werden, bezeichnen wir sie als „implizite Gesundheitspolitik“. Implizite Gesundheitspolitik wirkt aber nicht nur 1 auf Interventionen vor Risiko-Eintritt , also auf die Chancen, gesund zu bleiben, sondern auch auf Interventionen nach Risikoeintritt, also auf die Versorgungschancen. Zu nennen sind die gesellschaftliche Akzeptanz von Krankheit und Kranken, aber auch die gesellschaftliche Gewichtung der Zugangsgerechtigkeit, die wiederum Wahrnehmung und Handeln der Akteure der Krankenversorgung beeinflusst (Rosenbrock 2004). 1
Risikoeintritt ist der Krankheitsfall.
Primärprävention als Beitrag zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit
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Im Folgenden werden die wichtigsten Definitionen und Konzepte der Prävention eingeführt (2), und danach der Kontext der aktuell wichtigsten epidemiologischen Trends in Deutschland beschrieben: Die Alterung der Gesellschaft, die sozioökonomische Ungleichheit der Gesundheitschancen und die wachsende Bedeutung chronischer Krankheiten (3). Abschnitt 4 geht auf das Zustandekommen gesundheitlicher Ungleichheit ein und weist der Primärprävention eine Rolle bei deren Abbau zu. Abschnitt 5 skizziert die wichtigsten Merkmale, die dementsprechende Präventionsprogramme nach heutigen Erkenntnissen erfüllen sollten; auf diesem Hintergrund wird in Abschnitt 6 die Entwicklung gesundheitsförderlicher Settings und die Auswahl bestimmter Settings für spezifische Zielgruppen thematisiert. In Abschnitt 7 werden Fragen der Evidenz und Qualitätssicherung diskutiert. In den Schlussbemerkungen (8) werden Konsequenzen für Wissenschaft und Praxis gezogen.
2
Zur Klärung des Konzepts „Primärprävention“
Strategien und Maßnahmen der Prävention (vgl. SVR 2002a: Kap. 2, SVR 2005: Kap. 4) zielen generell auf die Vermeidung eines schlechteren Zustandes, während Kuration und Rehabilitation einen besseren Zustand zu erreichen suchen. Prävention setzt zeitlich vor Eintritt eines Risikos an, Therapie danach. Bei der Primärprävention geht es um die „generelle Vermeidung [...] bestimmter Erkrankungen [...] vor Eintritt einer fassbaren biologischen Schädigung“ und damit um „die Senkung der Inzidenzrate oder der Eintrittswahrscheinlichkeit bei einem Individuum oder einer (Teil-)Population“ (SVR 2002a: Ziff. 110). Sekundärprävention ist die Entdeckung von symptomlosen, aber biomedizinisch eindeutigen Frühstadien einer Erkrankung und die dadurch ermöglichte erfolgreiche Frühtherapie. Gelegentlich wird unter Sekundärprävention auch die Verhinderung des Wiedereintritts eines Krankheitsereignisses verstanden, zum Beispiel die Verhütung des Re-Infarktes sowie allgemein Rezidivprophylaxe. Unter Tertiärprävention kann sowohl die wirksame Verhütung bzw. Verzögerung der Verschlimmerung einer manifesten Erkrankung (weites Konzept, umschließt die medizinische Behandlung chronischer Krankheiten einschließlich der Rezidivprophylaxe) als auch die Verhinderung bzw. Milderung bleibender, v.a. sozialer Funktionseinbußen infolge einer Erkrankung (enges Konzept, bezieht sich v.a. auf Rehabilitation) verstanden werden. Sowohl Strategien der Verhaltensbeeinflussung bzw. Gesundheitserziehung als auch solche der gesundheitsgerechten Gestaltung von materiellen und sozialen Umwelten zielen darauf ab, Gesundheitsbelastungen zu senken und gesundheitsdienliche Ressourcen der betroffenen Individuen bzw. Zielgruppen zu verstärken bzw. zu vermehren (s.u.). Die Stärkung bzw. Vermehrung von Ressourcen entspricht dem Ansatz der Gesundheitsförderung. Seit der Ottawa-Charta der WHO zur Gesundheitsförderung von 1986 bezeichnet Gesundheitsförderung Prozesse, die Individuen oder Zielgruppen zu mehr Partizipation und Selbstbestimmung über ihre Gesundheit verhelfen (empowerment); damit einher ging eine Änderung der Sichtweise von der Dichotomie – gesund oder krank – zu einem Kontinuum mit graduellen Unterschieden. Der Ottawa-Charta folgend geht es bei der Gesundheitsförderung um die Stärkung der individuellen und kollektiven Gesundheitsressourcen im Sinne des Erwerbs von spezifischen und unspezifischen Kompetenzen durch Partizipation und praktische Befähigung. Gesundheitsförderung bezeichnet im Kontext der Primärprävention das Korrelat zur Belas-
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Rolf Rosenbrock, Susanne Kümpers
tungssenkung und bildet erst zusammen mit der Belastungssenkung moderne, gesundheitswissenschaftlich fundierte Primärprävention. „Gesundheitsförderung“ ist also für sich genommen weder eine eigenständige Strategie noch ein spezifischer Handlungstyp, sondern ein Aspekt von Strategien zur Verminderung der Eintrittswahrscheinlichkeit von Krankheit (Risikosenkung) (siehe Abb. 22.2). Abbildung 22.2: Primärprävention Risikosenkung
Belastungen senken
Ressourcen stärken (Gesundheitsförderung)
Quelle: eigene Abbildung
Die häufige Verwendung des Begriffs „Gesundheitsförderung“ anstelle von Prävention (z. B. Altgeld in diesem Band) oder als Zusatz zur Prävention ist deshalb weder begrifflich logisch noch praktisch zielführend: Gesundheitsförderung ist ein Querschnittsaspekt jeder modernen Gesundheitssicherung, dessen Förderung und Ausbau nicht nur in der Prävention, sondern ebenso auch in der Kuration, in der Pflege wie in der Rehabilitation notwendig ist. Das Konzept der Gesundheitsförderung als Komplement zur Belastungssenkung beinhaltet Instrumente, die zur Erzielung des jeweils angestrebten Gesundheitsergebnisses (Krankheitsvermeidung, Heilung, Bewältigung) wirksam, wichtig und in vielen Fällen unverzichtbar sind. Moderne Primärprävention schließt Gesundheitsförderung im Sinne von Ressourcensteigerung in aller Regel ein.2 Der Zusatz „und Gesundheitsförderung“ im Zusammenhang mit Primärprävention ist insofern pleonastisch, verhindert aber, bei der Primärprävention den Aspekt der Ressourcenstärkung aus den Augen zu verlieren (Glaeske & Kolip 2004) und markiert auf diese Weise wichtige Merkmale von „New Public Health“.
3
Zum epidemiologischen Kontext der Primärprävention
Stabile Befunde aus der Sozialepidemiologie und aus Bereichen von Public Health verweisen auf drei zentrale Entwicklungen hinsichtlich der gesundheitlichen Lage in industrialisierten reichen Ländern:
2
Ausnahmen bilden im Wesentlichen technische Interventionen, durch die ohne Mitwirkung (u. U. auch ohne Wissen) der Betroffenen z. B. Schadstoffe, schädliche Strahlen o. ä. aus der physischen Umwelt eliminiert werden.
Primärprävention als Beitrag zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit
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a) Die durchschnittliche Lebenserwartung wächst in reichen Industrieländern pro Jahrzehnt bislang um etwas mehr als ein Jahr, die älter werdenden Menschen werden dabei im Durchschnitt immer gesünder älter. Deutschland bewegt sich im Hinblick auf die durchschnittliche Lebenserwartung und ihre Entwicklung – je nach Berechnung – knapp über oder knapp unter dem Durchschnitt der OECD-Länder (SVR 2002a: Ziff. 26-35). Von diesen im Durchschnitt kontinuierlich anfallenden Gesundheitsgewinnen sind bei Männern 10% bis 30%, bei Frauen 20% bis 40% auf das Wirken der klinischen Medizin zurückzuführen (SVR 2002a: Ziff. 95). Auf die Konten der Verbesserung der Lebensbedingungen und des verbesserten Gesundheitsverhaltens geht also in jedem Falle wesentlich mehr als die Hälfte der Gewinne an Gesundheit und Lebenszeit. Auch für Deutschland konnte mittlerweile empirisch gezeigt werden (Kroll et al. 2008), dass sich im Bevölkerungsdurchschnitt, zumindest in den letzen 20 Jahren, der Eintritt chronischer Erkrankung im Lebensalter schneller nach hinten verschiebt als die durchschnittliche Lebenserwartung zunimmt, und die Lebensphase mit chronischer Erkrankung im Bevölkerungsdurchschnitt kürzer wird. Diesen Prozess der compression of morbidity gilt es besonders für untere Sozialschichten zu verstärken, bewusst zu gestalten und zu organisieren. b) Die Gesundheitsgewinne – und damit auch die Geschwindigkeit der compression of morbidity – sind stabil ungleich verteilt: Die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen ist auch in reichen Ländern groß und nimmt in den meisten dieser Länder zu (SVR 2005, Kap. 2). Für Deutschland nachgewiesen ist das relativ stabile Grundmuster: Wenn man die gesamte hier lebende Bevölkerung nach ihrer Ausbildung, der Stellung im Beruf und dem Einkommen in fünf gleich große Teile („Schichten“) teilt, so ergibt sich für Gesundheit und Lebenserwartung ein Bild, das sich im Gegensatz zu den Durchschnittsziffern für die Gesamtbevölkerung leider seit Jahrzehnten nicht verbessert: Angehörige des untersten Quintils (Fünftel) tragen in jedem Lebensalter – von der Wiege bis zur Bahre – statistisch betrachtet ein ungefähr doppelt so hohes Risiko, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben wie Angehörige des obersten Quintils (SVR 2005, Kap. 2, siehe auch Babitsch et al. in diesem Band). Nur zum geringeren Teil (Lantz et al. 1998) ist dies auf das – ebenfalls durch die soziale Lage stark beeinflusste und deshalb isoliert nur bedingt beeinflussbare – riskantere Gesundheitsverhalten in sozial weniger privilegierten Schichten und Gruppen zurückzuführen. Wie groß der Teil der Unterschiede der Gesundheits- und Lebenschancen zu veranschlagen ist, der durch Verhaltensunterschiede zu erklären ist, ist auch in der Epidemiologie strittig (siehe auch Giesecke & Müters in diesem Band). c) Das heutige Krankheits- und Sterbegeschehen wird in industrialisierten Ländern zu ca. drei Vierteln von chronischen, überwiegend degenerativ verlaufenden Krankheiten und den Unfällen bestimmt. Diese sind trotz der in der Vergangenheit erzielten und für die Zukunft zu erwartenden Fortschritte in der kurativen Medizin in der großen Mehrzahl der Fälle nicht heilbar im Sinne einer „restitutio ad integrum“, sondern verlangen nach langfristiger, oft lebenslanger Begleitung (SVR 2002b). Von chronischen Erkrankungen sind je nach Berechnung 20% bis über 50% der Bevölkerung betroffen. Dies führt auch zu einer entsprechenden Konzentration der Versorgungskosten: Ca. 80% der Kosten für Krankenversorgung in der GKV werden für ca. 20% der Versicherten aufgewendet (Winkelhake et al. 2002). Dabei handelt es sich überwiegend um chronisch Kranke, unter denen Menschen aus unteren Sozialschichten überrepräsentiert sind (SVR 2002b).
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Aus diesen – fortschreitenden – Entwicklungen ergeben sich die beiden zentralen gesundheitspolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte: Die Schaffung integrierter Versorgungsformen für chronisch Erkrankte, und die Entwicklung und Verstärkung primärer Prävention als essentiellem Bestandteil des Gesundheitssystems, jeweils unter besonderer Beachtung der Lebenslagen und des Bedarfs sozial benachteiligter Gruppen und Schichten. Beide Herausforderungen erfordern mehr als die Weiterentwicklung von Bekanntem und Bewährtem, nämlich Neuentwicklungen im Sinne sozialer Innovationen (Zapf 1994). Im Hinblick darauf müssen Suchprozesse organisiert und Experimente zugelassen werden. Die beschriebenen Trends – die Dominanz chronischer, medizinisch nicht heilbarer, aber im Prinzip weitgehend prävenierbarer Erkrankungen in einer alternden Gesellschaft, und sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen aufgrund ungleicher Verteilung von Belastungen und Ressourcen – bestimmen das Feld der Prävention. Deutlich wird bereits an diesem Punkt, dass Prävention populationsbezogen desto größere Gesundheitsgewinne erbringt, je mehr sie zur Verringerung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen beiträgt.
4
Primärprävention als Strategie zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheiten
Die Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit, die begrenzte Rolle der Medizin sowie die Rolle von Belastungen und Ressourcen für die Gesundheit sind im folgenden Schema (Abb. 22.3) stark vereinfacht wiedergegeben. Die Abbildung 22.3 lässt sich wie folgt lesen: Die Ungleichheit in den zentralen gesellschaftlichen Ressourcen „Wissen, Geld, Macht und Prestige“ führt zu unterschiedlichen gesundheitlichen Beanspruchungen (verstanden als Bilanz aus gesundheitlich relevanten Belastungen und Ressourcen) und zu Unterschieden im Zugang und der Qualität gesundheitlicher Versorgung. Beanspruchungen, also Gesundheitsbelastungen (z.B. chemische, physikalische und biologische Belastungen, Disstress, körperliche und seelische Erschöpfungszustände, geringe Verhaltensspielräume, soziale Isolierung) und Gesundheitsressourcen (z.B. Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit, Kompetenzen, Information, Bildung, Handlungswissen, Einkommen, angemessene Partizipation, Verhaltensspielräume, soziale Unterstützung, Erholung) sind in diesem Konzept so weit gefasst, wie die sozialepidemiologische Forschung trägt. Einige Faktoren sind bei (zu) niedriger Ausprägung Gesundheitsbelastungen und ab einem (nicht immer exakt zu beschreibenden) Schwellenwert Gesundheitsressourcen (z.B. soziale Unterstützung).
Primärprävention als Beitrag zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit
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Abbildung 22.3: Zusammenhänge zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit
Soziale Ungleichheit (Unterschiede in Wissen, Geld, Macht und Prestige)
Unterschiedliche gesundheitliche Beanspruchungen
Unterschiedliche gesundheitliche Versorgung
Bilanz aus
gesundheitliche Belastungen
gesundheitliche Ressourcen
(biologische, chemische und physikalische Belastungen, Distress, soziale Exklusion etc.)
(Selbstbewusstsein, Bildung, Einkommen, Transparenz, Partizipations- und Handlungsspielräume, soziale Netzwerke, Erholung t )
(Qualität und Gesundheitsförderlichkeit von Prävention, Kuration, Pflege, Rehabilita-tion)
Unterschiedliche gesundheitsrelevante Lebensstile (Gesundheitsrelevantes Verhalten, Bewältigungsstrategien bei Krise und Krankheit, Inanspruchnahme von Gesundheitsversorgung etc.)
Gesundheitliche Ungleichheit (Unterschiede in Morbidität und Mortalität)
Quelle: modifiziert nach Elkeles & Mielck (1993)
Die Verteilung der zentralen gesellschaftlichen Ressourcen, die Gesundheitsbeanspruchungen und die Versorgungsqualität beeinflussen wesentlich den Lebensstil, der das gesundheitsrelevante Verhalten (insbesondere Ernährung, Bewegung, Umgang mit Suchtmitteln), die Bewältigungsstrategien bei Krankheit und Krise und das Inanspruchnahmeverhalten von Gesundheitsversorgung einschließt. Die unterschiedlichen gesundheitlichen Lebensstile erklären aber wiederum nur einen Teil der gesundheitlichen Ungleichheiten, die, wie oben beschrieben, auch direkt auf Unterschiede in Beanspruchungen und Versorgung sowie auf die soziale Ungleichheit an sich zurückzuführen sind (siehe Giesecke & Müters in diesem Band). Die gesundheitliche Ungleichheit ergibt sich damit aus dem komplexen, zum Teil synergetisch, zum Teil kompensatorisch wirkenden Zusammenspiel von direkten Auswirkungen sozialer Ungleichheit mit Unterschieden der gesundheitlichen Beanspruchungen wie auch der gesundheitlichen Versorgung, die ihrerseits zum Teil direkt und zum Teil vermittelt über unterschiedliche Lebensstile auf die gesundheitliche Ungleichheit einwirken. Der Pfeil von „Gesundheitlicher Ungleichheit“ zurück zu „Sozialer Ungleichheit“ verweist auf die Tatsache, dass Gesundheit und Krankheit ihrerseits die individuelle soziale
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Lage beeinflussen; allerdings erklärt die „These der umgekehrten Kausalität“ nur einen geringen Teil der gesundheitlichen Ungleichheit (Mackenbach et al. 2002). Alle Gesundheitsbelastungen und Gesundheitsressourcen sowie das gesundheitsrelevante Verhalten bilden – zumeist in Kombinationen – Ansatzpunkte für primärpräventive Strategien. Zumindest in den meisten, wahrscheinlich sogar in allen europäischen Ländern nimmt die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen weiterhin zu (Mielck 2005). Auch hierzulande erscheint bei gegebener Zunahme der Ungleichheit in der Einkommensund Vermögensverteilung (Bundesregierung 2001, 2005, Deutscher Bundestag 2008) eine solche Entwicklung als wahrscheinlich. Insbesondere im Bereich sozial Benachteiligter (Arbeitslose, allein Erziehende, kinderreiche Familien, Menschen mit Migrationshintergrund und niedriger Bildung) ist im Zuge der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialpolitik mit weiteren Verschärfungen zu rechnen. In der Politik wird allerdings nach wie vor häufig primär der Zusammenhang zwischen Lebensstil und Gesundheit betont und daraus – zu kurz – geschlossen, dass die sozial weniger gut Gestellten selbst Schuld an ihrem kürzeren Leben und ihrem Mehr an Krankheit sind („blaming the victims“, vgl. Crawford 1979, Schmidt 2008). Dabei werden die oben beschriebenen Zusammenhänge ignoriert, und so wird der Blick auf essentielle Fragen und Lösungen verstellt. Zielführende Präventionspolitik hingegen erfordert Bemühungen zum Abbau von Gesundheitsbelastungen, zur Verringerung bzw. Kompensation von Statusunterschieden und zur Förderung von Gesundheitsressourcen. Tatsächlich hat das Thema der Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheit in vielen anderen reichen Ländern und auf EU-Ebene (Mackenbach & Bakker 2002), und mittlerweile auch in Deutschland in den letzten Jahren stark an Aufmerksamkeit in der gesundheitspolitischen Diskussion gewonnen (SVR 2005, 2007), und sind diesem Thema Forschungs- und Entwicklungsprojekte (EUProjekt: „Tackling Inequalities of Health“, BZgA 2002) gewidmet worden.
5
Der „state of the art“ für Primärprävention
Das im letzten Kapitel eingeführte Modell über die (ungleichen) Bedingungen von Gesundheit verweist gleichzeitig auf eine Vielzahl möglicher Ansatzpunkte für Primärprävention. Das in ihm reflektierte Grundverständnis von den Bedingungen für Gesundheit und Krankheit liegt auch der Entwicklung von Methoden und Strategien der Primärprävention zugrunde, die in den letzten Jahrzehnten international einen deutlichen Aufschwung genommen hat. Gegenüber der hergebrachten Praxis der Gesundheitserziehung und „Old Public Health“ erbrachten die Ottawa Charta von 1986 und die ihr folgende Praxis vier Innovationen:3
3
Gleiche oder ähnliche Merkmale weisen nicht nur Projekte der Betrieblichen Gesundheitsförderung (Rosenbrock 2004, 79 ff.), sondern auch Interventionskonzepte auf, die sich – z. B. in der Jugendpolitik bzw. Pädagogik – unspezifisch auf die Entwicklung von „life skills“ oder auf spezifische soziale bzw. gesundheitliche Risiken (Drogengebrauch, Gewalt) (Altgeld 2006) oder – z. B. in der Stadtpolitik – auf die Verbesserung der Lebensbedingungen an sozialen Brennpunkten (Bär et al. 2004) beziehen. Unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und kulturellen Kontexten entstammend zeichnet sich damit der Umriss eines verallgemeinerbaren humanwissenschaftlichen Paradigmas gesundheitsförderlicher und produktiver Lebensund Arbeitsgestaltung ab (Rosenbrock & Gerlinger 2006).
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Belastungssenkung und Ressourcenförderung Sowohl Strategien der Verhaltensbeeinflussung bzw. Gesundheitserziehung als auch solche der gesundheitsgerechten Gestaltung von materiellen und sozialen Umwelten können sich zwar in manchen Fällen darauf beschränken, tatsächliche oder mögliche Gesundheitsbelastungen zu beeinflussen. Meist wird es jedoch zugleich auch darauf ankommen, die Vermehrung von gesundheitsdienlichen Ressourcen der betroffenen Individuen bzw. Zielgruppen anzustreben (s.o. Abschnitt 2.), zumal dadurch auch die Chancen erfolgreicher Belastungssenkung steigen. Aufwertung unspezifischer Interventionen Die Beeinflussung von scheinbar weit von den unmittelbaren Krankheitsursachen angesiedelten („distalen“) Faktoren (Partizipation, soziale Unterstützung), deren Beitrag zur Krankheitsentstehung in vielen Fällen noch nicht hinreichend erforscht ist, kann einen größeren präventiven Effekt haben – sowohl im Hinblick auf bestimmte Zielkrankheiten als auch im Hinblick auf die Gesamtmorbidität/-mortalität – als die Bearbeitung von Faktoren, deren kausale Beziehung zu Krankheitsentstehung sehr viel enger ist. Mit ein und derselben Intervention (z. B. Stadtsanierung, allgemeine Bildung etc.) können Beiträge zur Senkung der Inzidenz mehrerer und verschiedener Krankheiten erzielt werden. Der gleiche Effekt zeigt sich zum Beispiel auch bei der Anwendung integrierter Strategien betrieblicher Gesundheitsförderung (Lenhardt et al. 1997, Lenhardt 2003, Bertelsmann Stiftung, HansBöckler-Stiftung 2004). Priorität für Kontextbeeinflussung Um eine möglichst große Wirkung bei sozial benachteiligten Zielgruppen zu erzielen, reicht es nicht aus, Interventionen auf die Anwendung der Instrumente „Information, Aufklärung und Beratung“ zu beschränken. Die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs steigt mit der Beeinflussung des Verhaltenskontextes auf individueller Ebene, im Setting und auch im Rahmen von integrierten, multimodalen und intersektoralen Kampagnen für die gesamte Bevölkerung oder definierte Teilgruppen. Da Interventionen ohne Kontextbeeinflussung wegen ihrer geringeren Komplexität, Konfliktivität und Kosten leichter durchzusetzen, aber regelmäßig auch weniger wirksam und nachhaltig sind, sollte als Policy-Leitlinie die Orientierung auf die Einbeziehung und Veränderung des Kontextes gelten („gegentendenzielle Politik“, Kühn & Rosenbrock 1994). Priorität für Partizipation Gesundheitsprojekte müssen auf allen Stufen der Planung und Durchführung partizipativ gestaltet werden: Einerseits, damit an den tatsächlichen Bedürfnissen der Zielgruppen angesetzt werden kann, und andererseits, weil die mangelnde Teilhabe an der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen selbst eine Gesundheitsbelastung und einen Ressourcenmangel darstellt. Auch an dem Leitbeispiel erfolgreicher Primärprävention im Setting, der betrieblichen Gesundheitsförderung, hat sich bestätigt, dass Verhaltens- und Verhältnisänderungen desto erfolgreicher und nachhaltiger sind, je stärker die Beteiligten an der Problemeinschätzung, der Konzipierung und Implementation der Veränderungen sowie auch an der Qualitätssicherung direkt beteiligt sind.
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Qualitätssicherung Um die Potenziale dieser vier Innovationen der Primärprävention nachhaltig zur Gestaltung zu bringen und zu verallgemeinern, tritt Qualitätssicherung als Querschnittserfordernis hinzu.
6
Auswahl und Entwicklung geeigneter Interventionen und Zielgruppen
Primärpräventive, d.h. Belastungen senkende und Ressourcen vermehrende Aktivitäten und Strategien lassen sich drei Interventionsebenen zuordnen: Dem Individuum, dem Setting und der Bevölkerung. Je nachdem, ob die Intervention sich auf Information, Aufklärung und Beratung beschränkt oder ob sie auch Interventionen zur Veränderung gesundheitsbelastender bzw. ressourcenhemmender Faktoren der jeweiligen Umwelt/des jeweiligen Kontextes einschließt, ergeben sich sechs Strategietypen, zu denen in Tab. 22.1 jeweils ein Beispiel gegeben wird. Tabelle 22.1: Typen und Arten der Primärprävention Information, Aufklärung, Beratung
Beeinflussung des Kontexts
Individuum
I. ansetzende Primärprävention ohne Kontextbeeinflussung z.B. Ärztliche Gesundheitsberatung, Gesundheitskurse
II. Individuell ansetzende Primärprävention mit Kontextbeeinflussung z.B. „präventiver Hausbesuch“
Setting
III. Primärprävention im Setting z.B. Anti-Tabak Aufklärung in Schulen
IV. Entwicklung eines gesundheitsförderlichen Settings z.B. betriebl. Gesundheitsförderung als Organisationsentwicklung
Bevölkerung
V. Kampagnen ohne Kontextbezug z.B. „Esst mehr Obst“, „Sport tut gut“, „Rauchen gefährdet die Gesundheit“
VI. Kampagnen mit Kontextbezug z.B. HIV/Aids-Kampagne, Trimming 130
Quelle: eigene Abbildung
Für jeden dieser sechs Strategietypen lassen sich zweckmäßige Einsatzfelder identifizieren, jeder erfordert unterschiedliche Instrumente, Ressourcen, Akteurkonstellationen und Methoden der Qualitätssicherung. Es ist eine zentrale gesundheitspolitische Steuerungsaufgabe, dafür zu sorgen, dass je nach Zielgruppe und Gesundheitsrisiko der jeweils angemessene Strategietyp zum Einsatz kommt. Die folgenden Leitfragen können die entsprechenden Entscheidungen unterstützen:
Welche Interventionen vermindern sozial bedingte Ungleichheit, d.h. verbessern zumindest überproportional die Gesundheitschancen von eindeutig unterprivilegierten Gruppen?
Primärprävention als Beitrag zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit
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Welche Interventionen führen zur Aktivierung von und Vernetzung mit weiteren relevanten Akteuren und haben damit die Chance, dauerhaft selbst tragend zu werden (sustainability)?4
Präventionspolitik muss darauf abzielen, dass durch perspektivisch möglichst selbst tragende Interventionen der Verhaltens- wie der Verhältnisprävention Gesundheitsbelastungen von Menschen in sozial benachteiligten Lebenslagen verringert und ihre Gesundheitsressourcen vermehrt werden, das heißt vor allem, dass die Entwicklung von entsprechenden Kompetenzen unterstützt wird. An anderer Stelle wurden die Grenzen und Möglichkeiten der oben angeführten Strategien der Primärprävention ausführlich im einzelnen untersucht (Rosenbrock 2004), hier wird im Folgenden nur jene Strategie kurz erläutert, die derzeit im Mittelpunkt der Diskussion um Primärprävention zur Verminderung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit steht: die Entwicklung gesundheitsförderlicher Settings. „Ein Setting ist ein durch formale Organisation, durch regionale Situation und/oder durch gleiche Erfahrung und/oder gleiche Lebenslage und/oder gemeinsame Werte bzw. Präferenzen definierter und auch den Nutzern/Bewohnern subjektiv bewusster sowie relativ dauerhafter Sozialzusammenhang, von dem wichtige Impulse bzw. Einflüsse auf die Wahrnehmung von Gesundheit, auf Gesundheitsbelastungen und/ oder Gesundheitsressourcen sowie auf (alle Formen der) Bewältigung von Gesundheitsrisiken (Balance zwischen Belastungen und Ressourcen) ausgehen können.“ (Rosenbrock 2004: 71) Im Gegensatz zur Gesundheitsförderung im Setting stehen bei der Schaffung eines gesundheitsförderlichen Settings Partizipation und Prozesse der Organisationsentwicklung konzeptionell im Mittelpunkt. Im Kern steht der Gedanke, durch ermöglichende, initiierende und begleitende Intervention von außen Prozesse im Setting auszulösen, mit denen die Nutzer des Settings dieses tatsächlich nach ihren Bedürfnissen mitgestalten (empowerment). Das Setting erfüllt besser als alle bekannten Ansätze der Verhaltensprävention Voraussetzungen für Lernen bei geringer formaler Bildung: Informationen und Aktivitäten knüpfen am Alltag und an den vorhandenen Ressourcen an, gemeinsam werden eigene Vorstellungen zum Belastungsabbau und zur Ressourcenmehrung entwickelt und in einem gemeinsamen Lernprozess so weit wie möglich umgesetzt (Freire 1980, Baric, Conrad 2000). Zudem scheinen gesundheitliche Erfolge bei Setting-Interventionen auch zumindest über mehrere Jahre relativ stabil bleiben zu können (Minkler 1997, Lenhardt 2003). Angesichts der geringen für die Verminderung gesundheitlicher Chancenungleichheit zur Verfügung stehenden Ressourcen muss zunächst mit Priorität dort interveniert werden, wo der Bedarf und die Erfolgssausichten am größten sind. In diesem Zusammenhang können die folgenden Fragen – in Kombination – richtungweisend sein:
Welche Gruppen/Personen leben in prekären sozioökonomischen Situationen? Welche Gruppen/Personen tragen besondere Gesundheitsrisiken?
4
Dieses Kriterium ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen den begrenzten Ressourcen und Instrumenten und der Größe der gesundheitspolitischen Herausforderung, die gesundheitliche Ungleichheit insgesamt zu verringern.
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Für welche Interventionsmethoden und -bereiche bestehen Erfolgswahrscheinlichkeiten?
Die bisherige Erfahrung und Evidenz der Machbarkeit und Wirksamkeit der setting-bezogenen Gesundheitsförderung in Deutschland bezieht sich weitgehend auf betriebliche Gesundheitsförderung (Lenhardt et al. 1997, Lenhardt 2003). Hierfür konnte eine strukturierte Interventionsstrategie (definierte Voraussetzungen, Methoden und Instrumente, Abfolgen) entwickelt und beschrieben werden, die sich in unterschiedlichen betrieblichen Situationen anwenden lässt. Der Erfolg des Ansatzes basiert auf der Identifizierbarkeit der Akteure und Stakeholder, der Identifikation der Nutzer mit dem Setting, der Stabilität von Strukturen und Interaktionen, der Verbindlichkeit aller Handelnden und ihrer geringen Fluktuation (Rosenbrock & Gerlinger 2006). Die Entwicklungsaufgabe besteht nun darin, die hier gewonnenen Erkenntnisse – unter Einbezug von internationalen Befunden – auf andere Settings zu übertragen: Für die Übertragung des Ansatzes „gesundheitsförderliches Setting“ auf die Schule und bedingt auch auf Kindergärten und -tagesstätten sprechen ähnlich verbindliche und hierarchische Strukturen wie im Betrieb, sowie die Aktualität der Debatte über die Probleme der Schulen und die Relevanz des öffentlichen Bildungssektors für Gesundheitsförderung und Prävention. Die Entwicklung und Erprobung spezifischer Interventionsmethoden in diesen Bereichen hat begonnen. Im Rahmen der Umsetzung des § 20 SGB V fördern die Spitzenverbände der GKV seit 2003 z. B. einen Modellversuch in drei Bundesländern (‚Gesund leben lernen’), bei dem in mehr als 60 Bildungsreinrichtungen mit überdurchschnittlich vielen Schülerinnen und Schülern aus sozial benachteiligenden Verhältnissen unterschiedliche Ansätze erprobt werden, um dem Leitbild von Schule als gesundheitsförderlichem Setting näher zu kommen (SVR 2007). Relevante Settings, um benachteiligte Ältere, Arbeitslose und MigrantInnen zu erreichen, sind Stadtteile oder Dörfer, Nachbarschaften oder soziale Brennpunkte. Diese sind oft nicht selbstverständlich mit ihren Grenzen definiert, und verfügen auch nicht über eine klare organisationelle oder institutionelle Struktur, durch die wesentliche Abläufe, oder auch nur der Zugang zu den Bewohnern geregelt wären. Die Konzeptualisierung und Reformulierung des Settingansatzes ist hier noch weitgehend zu leisten, ebenso seine Spezifizierung für die einzelnen Zielgruppen (vgl. z. B. Kümpers 2008). Hier insbesondere sind auch Erkenntnisse aus anderen Ländern heranzuziehen und auf ihre Übertragbarkeit hin zu untersuchen, insbesondere Erkenntnisse der Community-Ansätze in angelsächsischen Ländern (z. B. Minkler 1997). Zudem hat das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ günstige Ausgangslagen entwickelt, um Aspekte der Primärprävention mit „sozialer Stadterneuerung“ zu verbinden (Böhme et al. 2003). Gleichzeitig werden im Rahmen der Forschungsförderung des BMBF zur Primärprävention auch einige Projekte gefördert, die stadtteilbasierte Ansätze untersuchen. Insofern ist für die kommenden Jahre ein deutlicher Erkenntniszuwachs zu erwarten.
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Wirksamkeitsbestimmung und Qualitätssicherung
Die Befundlage zur gesundheitlichen Wirksamkeit für primärpräventive Interventionen ist noch immer unübersichtlich und widersprüchlich. Grundsätzlich (d. h. mit Ausnahmen) gilt: Je weniger komplex eine Intervention ist und je spezifischer sowie zeitnäher das Inter-
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ventionsziel ist, desto leichter ist die Wirksamkeit festzustellen. Und umgekehrt: Je komplexer die Intervention, je unspezifischer das Präventionsziel und je länger die Zeitachse, desto schwieriger der Wirksamkeitsnachweis (Nutbeam 2004, Abbema et al. 2004). Typisch für die angemessen erscheinenden, komplexen Interventionen auf der Setting-Ebene ist auch, dass nicht ermittelt werden kann, welche Komponenten der Intervention für welche Teile der Effekte „verantwortlich“ sind. Zum Entwicklungsstand der setting-basierten Prävention in Deutschland in Konzeption und Praxis ergaben Auswertungen der Datenbanken von Gesundheit Berlin wie auch von Soziale Stadt übereinstimmend, dass eine Systematisierung „ […] in der Konzeptentwicklung, beim Zielgruppenbezug, in der Methodenkompetenz (und) der Qualitätsorientierung […]“ (Kilian et al. 2004: 211) in vielen Projekten erst im Aufbau ist. Fragen der Wirksamkeitsbestimmung und der Qualitätsentwicklung sind deshalb hochaktuell. Für die Wirksamkeitsbestimmung von biomedizinischen Interventionen haben sich die Maßstäbe der „evidenzbasierten Medizin“ eingebürgert. Die offenkundigen Probleme, die dort entwickelten Standardisierungsgrade von Interventionen und Interventionswirkungen aus der naturwissenschaftlich fundierten Individualmedizin auf komplexe bevölkerungsbezogene Interventionen zu übertragen, haben zu Versuchen geführt, für die Primärprävention eigene Skalen der Wirksamkeitsmessung zu bilden (Jackson 2004, Øvretveit 2002). In Deutschland ist ein sehr differenziertes Konzept zur Evidenzbewertung und Qualitätsentwicklung in der Prävention mit dem Anspruch entwickelt worden, die Komplexität der Wirksamkeit von Setting-Projekten abbilden und wesentliche Aspekte verallgemeinern zu können (Kliche et al. 2004, Kliche et al. 2006), und damit doch dem Cochrane-Ansatz nachgebildete und dem Gegenstand der Prävention angemessene Evidenzkriterien bereitstellen zu können. Die im Auftrag des schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit von der Stiftung „Gesundheitsförderung Schweiz“ betriebene Datenbank „quint-essenz“ (www. quint-essenz.ch/de) enthält ebenfalls besonders differenzierte Formulierungs- und Handlungsvorschläge für Qualitätsziele, Qualitätskriterien und Qualitätsindikatoren. An solchen Ansätzen wird kritisiert (Wright 2004), dass auch eine Standardisierung auf hoch differenziertem Niveau den lokalen Besonderheiten nicht Rechnung trägt; dass so komplexe Verfahren für die (oft notwendig kleinräumigen) Ansätze vor Ort nicht handhabbar sind; und dass die top-down definierten Kriterien dem erforderlichen partizipativen Charakter der Setting-Projekte zuwiderlaufen – mit anderen Worten, dass in dieser Weise von der Wissenschaft vorgegebene Qualitätssysteme Entwicklungsprozesse der Praxis wesentlich behindern können. Als weitere Ansätze zur Wirksamkeitsbestimmung und Qualitätsentwicklung werden derzeit diskutiert und erprobt: Als Instrument zur konzeptionellen Weiterentwicklung und Qualitätssicherung die „Kriterien guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ (Lehmann et al. 2006, siehe auch Lehmann in diesem Band), die auf Initiative der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) veröffentlicht wurden; ein Ansatz der partizipativen Qualitätsentwicklung, bei dem einerseits die Erfolgsparameter aus der Praxis heraus entwickelt werden, und andererseits ein Peer-reviewVerfahren mit festgelegten Plausibilitätskriterien eingesetzt wird (Wright 2006). In Zusammenhang damit hat sich im Jahr 2007 in Berlin ein ‚Netzwerk für partizipative Gesundheitsforschung’ gegründet, dass sich u.a. zum Ziel gesetzt hat, zusammen mit Partnern5 in USA und Kanada analog zum Cochrane-Prozess wissenschaftliche Evidenzkriterien für 5
Community-Campus Partnerships for Health (CCPH), http://depts.washington.edu/ccph/commbas.html Wellesley-Institut, http://wellesleyinstitute.com/research/overview
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partizipative Gesundheitsforschung in den Bereichen Intervention, Wirksamkeit und Qualitätsentwicklung zu entwickeln. Die zuletzt genannten Ansätze zielen in erster Linie auf die Verbesserung der Qualität der Intervention und damit auch auf höhere Wirksamkeit. Das Problem der quantitativen Bestimmung gerade längerfristiger Gesundheitseffekte wird damit zunächst nicht gelöst. Das ist nicht nur wissenschaftlich unbefriedigend, sondern daraus ergeben sich auch Legitimationsprobleme, vor allem wenn es um Entscheidungen des Ressourceneinsatzes geht. In einer Denkschrift des US-amerikanischen Institute of Medicine wird deshalb empfohlen, neben erwiesen wirksamen (d. h. in der Primärprävention meist: einfachen, verhaltensbezogenen) Interventionen (proven interventions) auch solche öffentlich zu fördern, die ‚viel versprechend‘ (promising interventions) sind (Smedley & Syme 2001). Dieser Sichtweise hat sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen angeschlossen (SVR 2007, Kap. 6.2). Promising interventions werden dabei als solche definiert, die „[…] sowohl auf einer theoretischen Basis für ihre Wirksamkeit beruhen als auch empirische Evidenz aufweisen, welche zumindest Teile des theoretischen Modells stützt. Viel versprechende Interventionen können durch Studien nachgewiesen werden, die günstige Interventionseffekte bei ausgewählten Gruppen zeigen und zugleich ein theoretisches Modell enthalten, das die Ausdehnung der Intervention auf andere Gruppen nahe legt. Das Kriterium ‚viel versprechend’ wird auch von Interventionen erfüllt, die eine nur bescheidene Wirkung auf eine größere Bevölkerung ausweisen, bei denen aber andererseits eine starke theoretische Basis für die Annahme besteht, dass die Wirksamkeit durch eine Veränderung der Intervention erheblich gesteigert werden kann“ (Smedley & Syme 2001: 9, Übers. d. Verf.). Das Konzept der ‚promising interventions’ operationalisiert die bislang für komplexe und in ihren gesundheitlichen Wirkungen nicht eindeutig zu quantifizierende Interventionen vorgeschlagenen Qualitätskriterien ‚Plausibilität’ und ‚Analogie’ (Rosenbrock 2004). Die Diskussion um notwendige und angemessene Ansätze zur Evaluation und Qualitätsentwicklung und -sicherung ist somit noch im Prozess, und die Herausforderung für Wissenschaftler und Praktiker bleibt, im Spannungsfeld zwischen (natur)wissenschaftlichen Objektivierungsbemühungen und komplexen und nur bedingt standardisierbaren Praxisfeldern solche Methoden, Instrumente und Verfahren zu entwickeln, die die Wirksamkeit von Interventionen abbilden und beeinflussen, ohne zur Fessel der notwendigen kreativen Weiterentwicklung von komplexen populations- und settingbezogenen Interventionen zu werden. Probleme sowohl der systematischen Qualitätsverbesserung als auch der Wirkungsmessung dürften weiterhin in der mangelnden Kapazität der Akteure liegen, solche Instrumente in die konkreten Bedingungen ihrer Intervention zu integrieren, sowie in dem Mangel an ausreichenden Ressourcen, die zur Durchführung einer angemessenen Qualitätssicherung erforderlich sind (bis zu 10% der Interventionskosten werden dafür veranschlagt, WHO/Health Canada/CDC 1998).
8
Ausblick
Wie in diesem Beitrag beschrieben ist der größte Ertrag im Hinblick auf Gesundheit und Lebenserwartung von Strategien, Projekten und Maßnahmen zu erwarten, die wesentliche Lebenszusammenhänge, Lebenswelten und Settings zum Ansatzpunkt nehmen, in denen
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Angehörige sozial benachteiligter Gruppen einen relevanten Anteil ihrer sozialen Bindungen haben. Das können außer Betrieben auch Stadtteile, Quartiere, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, Heime u.ä. sein. Zur Identifikation geeigneter Settings sind deduktive und induktive Herangehensweisen denkbar. Bei der deduktiven Herangehensweise könnte man so etwas wie ein – sozialräumlich oder sozialstrukturell organisiertes – Kataster anlegen, mit dem geklärt werden kann, in welchen Lebenszusammenhängen/Settings möglichst viele Menschen zu erreichen sind, die eines oder mehrere der folgenden vier Kriterien aufweisen: Sehr niedriges Einkommen, sehr niedriger sozialer Status, sehr niedrige Schulbildung oder andere soziale Benachteiligungen. Eine solche Herangehensweise hätte zwar den Vorteil der Systematik und der Flächendeckung. Die Datenvoraussetzungen sind aber aufwändig und nur in wenigen Regionen gegeben (z. B. Senatsverwaltung für Gesundheit 2004). Das weiter oben in Abschnitt 6 erwähnte GKV-Projekt ‚Gesund leben lernen’ folgte bei der Auswahl der Interventionsschulen ansatzweise dieser Logik. Angesichts der weithin noch experimentellen Praxis bei komplexen Setting-Interventionen spricht deshalb gegenwärtig viel für die Alternative einer induktiven Herangehensweise. Da Primärprävention ein gesellschaftlicher Entwicklungsauftrag, aber noch keine wissenschaftlich und praktisch weitgehend ausgereifte Strategie ist, liegt es nahe, mit bestehenden Ansätzen zu arbeiten und diese dann auszubauen. Gesundheit Berlin e. V. hat seit 2002 mit Unterstützung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auf Basis einer umfangreichen Befragung im Schneeballverfahren zunächst ca. 2.800 Sozial- und Gesundheitsprojekte identifiziert, die sich mit sozial Benachteiligten beschäftigen. Ein Blick auf die Datenbank zeigt hohe Kreativität, hohe kontext- bzw. kulturspezifische Sensibilität und eine erstaunliche Fantasie, den ubiquitären Ressourcenmangel zu überbrücken. Auf der anderen Seite zeigt sich auch, dass nur wenige dieser Projekte eine Wirksamkeitsbestimmung versuchen oder gar Qualitätssicherung betreiben (Kilian et al. 2004). Von daher erscheint es sinnvoll, anhand bestehender Projekte die Potentiale des Settingansatzes zu beschreiben und zu systematisieren, zu verallgemeinern sowie verallgemeinerbare Verfahren der Projektsteuerung und Qualitätssicherung zu entwickeln. Ein partnerschaftlicher Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis ist erforderlich, um die Erkenntnisse aus solchen Projekten zu sichern und ihre Qualitätspotentiale zu mobilisieren. Dies wird zurzeit auf zwei Wegen versucht: Im Rahmen des bundesweiten Kooperationsverbundes „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“6 arbeiten derzeit in allen 16 Bundesländern so genannte „Regionale Knoten“, die vor Ort und bedarfsorientiert gesundheitsfördernde Aktivitäten für sozial benachteiligte Zielgruppen unterstützen, koordinieren und vernetzen und anhand der Kriterien guter Praxis (s. o. 6) fördern (Steinkühler 2006, siehe auch Lehmann in diesem Band). Am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung werden derzeit ausgewählte Projekte mit einem partizipativen Ansatz wissenschaftlich bei der Qualitätsentwicklung begleitet (Wright 2006, Wright & Block 2005). Freilich kann nicht angenommen werden, dass auch eine ausgebaute Strategie der Schaffung gesundheitsförderlicher Settings mit und für sozial Benachteiligte die sozial bedingten Ungleichheiten von Gesundheitschancen auch nur annähernd kompensieren könnte: Die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland zeigt seit vielen Jah6
Beteiligt sind u. a. alle Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenversicherung, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die Landesvereinigungen für Gesundheit, einzelne Länderministerien, die Bundesärztekammer sowie die Forschungsgruppe Public Health im WZB.
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ren eine sich öffnende Schere, die Lohnquote sinkt beständig. Sie fiel von 72,2% im Jahr 2000 auf den historischen Tiefststand von 64,6% im Jahre 2007 (Arbeitsgruppe 2008: 26f). Mittlerweile arbeitet mehr als ein Viertel der abhängig Arbeitenden in Deutschland in prekären Beschäftigungsverhältnissen (Statistisches Bundesamt 2008). Allein im Jahre 2005 stiegen die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 16%, während der Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit sogar nominell erstmals um 0,5% abnahm. Die Bruttolöhne und -gehälter gingen in den Jahren zwischen 2002 und 2005 real von durchschnittlich 24.873 Euro auf 23.684 Euro und damit um 4,8% zurück (Deutscher Bundestag 2008). Auch die Sekundärverteilung vermag diese Schieflage nicht wesentlich zu korrigieren: Während der Spitzensatz der Einkommenssteuer von 48,5% auf 42% fiel, nahm die Anzahl von Kindern an und unter der Armutsgrenze um 500.000 zu (Martens et al. 2003). Im Falle des Elterngeldes verschärft eine sozialpolitische Reform sogar die Ungleichverteilung: „Vom Elterngeld profitieren deshalb vor allem erwerbstätige Eltern aus dem mittleren und oberen Einkommensbereich, die bislang nicht anspruchberechtigt waren und nun bis zu 1.800 Euro erhalten. Eltern ohne oder mit Niedrigeinkommen sind die Verlierer der Reform, da sie durch die Verkürzung der Bezugsdauer von bisher 24 auf maximal 12 (bzw. 14) Monate zumeist deutlich weniger Geld erhalten.“ (Wimbauer & Henninger 2008: 71f.) Hinzu kommt die Massenarbeitslosigkeit mit auch im Aufschwung von ca. 3,8 Millionen Menschen (Deutscher Bundestag 2008) (mit Familienangehörigen muss mit mehr als der doppelten Anzahl von Betroffenen gerechnet werden). Der Anteil der von Armut betroffenen Haushalte ist in den letzten Jahren von 12,1% (1998) weiter auf 13%gestiegen (Deutscher Bundestag 2008). Im Hinblick auf die Einkommensentwicklung fasst Hauser (2005: 2) zusammen: „Wir sehen uns einem Prozess der zunehmenden Ungleichheitsentwicklung bei den Einkommen gegenüber, der kurz nach dem Beginn der Massenarbeitslosigkeit im Jahr 1974 eingesetzt hat und der nur bei kurzzeitigen, mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit verbundenen Konjunkturentwicklungen unterbrochen wurde. Diese Entwicklung vollzog sich bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1990 nur in Westdeutschland, hat aber nach der Wiedervereinigung verschärft auf Ostdeutschland übergegriffen. Es gibt überdies aufgrund der im Rahmen der Agenda 2010 vorgenommenen Reformen – v. a. die Hartz IV-Gesetze – gut begründete Argumente, dass diese Entwicklung noch längere Zeit anhalten wird.“ Im Hinblick auf die Bildungschancen belegen auch die neueren internationalen Vergleiche im Rahmen der PISA-Studien, dass in keinem anderen vergleichbaren Staat der Welt der Schulerfolg so stark von Einkommen und Bildung der Eltern abhängt wie in Deutschland (Prenzel et al. 2004). Zusammengefasst: Die Schere zwischen oben und unten öffnet sich in Deutschland auch im Hinblick auf die Gesundheitschancen, von einer Sektoren übergreifenden und auch die ‚implizite Gesundheitspolitik’ einbeziehenden ‚healthy public policy’ ist Deutschland noch weit entfernt. Mit gesundheitsbezogener Primärprävention können also allenfalls Bruchteile der in den Bereichen der impliziten Gesundheitspolitik entstehenden problematischen Lebenssituationen bearbeitet bzw. kompensiert werden. Dennoch bleibt die Primärprävention wichtig: Einerseits können auf diese Weise konkrete Menschen unterstützt und befähigt werden; und zum anderen bleibt die zunehmend ungleiche Verteilung von Gesundheits- und Lebenschancen, die in der Perspektive das gesellschaftliche Zusammenleben bedroht, auf der Agenda.
Primärprävention als Beitrag zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit
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Gesundheitsförderung: Eine Strategie für mehr gesundheitliche Chancengleichheit jenseits von kassenfinanzierten Wellnessangeboten und wirkungslosen Kampagnen
Thomas Altgeld
1
Einleitung
Bereits die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation hat deutlich gemacht, dass Gesundheit nicht in der Alleinverantwortung mehr oder weniger gesundheitsbewusster Individuen liegt, sondern wesentlich auch ein Produkt der gesellschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen ist. „Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente der Gesundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Ökosystem, eine sorgfältige Behandlung der vorhandenen Energiequellen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit.“ (Franzkowiak & Sabo 1993: 96) Folgerichtig ist auch Gesundheitsförderung quasi konstitutiv primär ein sozial-emanzipatorisches Projekt, eine Zieldimension, die angesichts von Wellnessboom und vor allem von Marketingfachleuten entwickelten gut gemeinten, aber wirkungslosen „Gesundheits“-kampagnen leicht in Vergessenheit geraten kann. Die mehr als 20-jährige Umsetzungsgeschichte der Ottawa-Charta hat deutlich gemacht, dass insbesondere der Anspruch der dort formulierten, zentralen Handlungsebene einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik nur schwer zu realisieren ist. Entsprechend langsam findet diese Handlungsebene Eingang in die unterschiedlichen Politikbereiche jenseits der Gesundheitspolitik. In Deutschland hat sich die Diskussion zur Umsetzung der Gesundheitsförderung in den letzten fünf Jahren allzu sehr verengt auf die Maßnahmen und Aktivitäten der gesetzlichen Krankenversicherungen und die Frage, ob Deutschland ähnlich wie Österreich und die Schweiz ein eigenständiges Präventionsgesetz braucht. In den mittlerweile zwei ergebnislosen Debatten um die 2005 und 2007 als Referentenentwürfe des Bundesgesundheitsministeriums vorgelegten Gesetze zur Stärkung der gesundheitlichen Prävention wurde Gesundheitsförderung nur als semantisches Anhängsel an die Prävention benutzt. Schon der Titel des Gesetzesentwurfes von 2005 mit der Wortneuschöpfung der „gesundheitlichen Prävention“ macht deutlich, dass Gesundheitsförderung durch den medizinischen Präventionsbegriff geradezu „kolonisiert“ wurde (vgl. Schnabel 2006). Aber: „Gesundheitsförderung ist nicht eine andere Facette der Prävention oder gar mit ihr identisch, sondern impliziert einen radikalen Perspektivenwechsel, der nicht die Krankheiten in den Blick nimmt, sondern die Determinanten für Gesundheit und Wohlbefinden.“ (Altgeld & Kolip 2004: 42) Gesundheitsförderung ist mehr als Ressourcenstärkung, auch wenn verschiedene Handlungsebenen der Gesundheitsförderung bei den Ressourcen der Menschen ansetzen und diese stärken wollen. Eine abschließende theoretische Fundierung der Gesundheitsför-
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Thomas Altgeld
derung ist bislang noch nicht erfolgt, weshalb verschiedene Autoren (siehe Rosenbrock in diesem Band) sie einfach weiterhin unter Primärprävention als Ressourcenstärkungsstrategie subsumiert. Diese Sichtweise greift zu kurz, denn Gesundheitsförderung verfolgt das Ziel, die Gesundheit und das Wohlbefinden zu steigern, nicht nur auf der individuellen Verhaltens- und der eher kleinräumigen Verhältnisebene des gesundheitsfördernden Settings, sondern eben auch auf den Ebenen einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik, der Entwicklung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen vor Ort und der Neuorientierung der Gesundheitsberufe (vgl. Franzkowiak & Sabo 1993: 96ff). Mit diesen in der Ottawa-Charta definierten fünf Handlungsebenen wurde erstmals ein integriertes Konzept zur Gestaltung wirksamer Gesundheitsförderung vorgelegt, das nicht in wie auch immer zielgruppengerecht und effektiv gestalteter Primärprävention aufgeht. Was theoretisch aufgrund seiner verknappenden Kohärenz seinen Charme haben mag, die Weiterentwicklung eines sechsfeldrigen Primärpräventionskonzeptes (siehe Rosenbrock in diesem Band) erweist sich gesundheitspolitisch als zu kurz gegriffen. Gesundheitsförderung ist eine integrierte Handlungsstrategie, deren Wirkungsradius durch den Verzicht auf eine Handlungsebene beschränkt wird. Nachfolgend soll deshalb zunächst die Entwicklungsgeschichte und Zielstellungen der Gesundheitsförderung auf WHO-Ebene nachvollzogen werden. Dann werden zwei erfolgreiche Beispiele für die Ausgestaltung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik in Deutschland näher erläutert. Im Hauptteil wird der Stand der Umsetzung in den für Gesundheitsförderung mit und für Kinder und Jugendliche zentralen Settings Familie/Freizeit, Kindertagesstätten und Schule verdeutlicht. Im letzen Kapitel werden darauf aufbauend die Handlungsbedarfe für Gesundheitsförderung, die dem Ziel der gesundheitlichen Chancengleichheit verpflichtet ist, kurz skizziert.
2
Perspektivenwechsel – Ansätze zur Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik
2.1
Chancengleichheit als zentrale Forderung und Politikstrategie der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Seit der Konferenz von Alma-Ata (1978) hat sich gesundheitliche Chancengleichheit als zentrales Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in verschiedenen Erklärungen und globalen Strategien durchgesetzt. Dabei wurde bereits 1978 die verschiedenen Ebenen der Ungleichheit definiert, deren gesundheitliche Folgen bekämpft werden sollen, nämlich sowohl die Kluft zwischen besser gestellten und schlechter gestellten sozialen Schichten innerhalb einzelner Gesellschaften als auch die Unterschiede zwischen ärmeren und reicherer Ländern. In dem Gesundheitszielkatalog „Gesundheit für alle in Europa bis zum Jahr 2000“, der 1985 vom WHO-Regionalkomittee für Europa verabschiedet wurde, wurden erstmals konkrete Vorgaben gemacht und Chancengleichheit als erstes Ziel definiert: „Bis zum Jahr 2000 sollten die derzeit bestehenden Unterschiede im Gesundheitszustand zwischen den Ländern sowie zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der Länder um mindestens 25 Prozent verringert werden, und zwar durch eine Verbesserung des Gesundheitsniveaus der benachteiligten Völker und Gruppen.“ (Franzkowiak & Sabo 1993: 84) Auf der 1. Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung in Ottawa wurde diese Strategie weiter ent-
Gesundheitsförderung: Eine Strategie für mehr gesundheitliche Chancengleichheit
407
wickelt. Dort verabschiedeten die Mitgliedstaaten der WHO die „Ottawa-Charta“ zur Gesundheitsförderung auch als Umsetzungsstrategie für „Gesundheit für alle“. In allen weiteren Empfehlungen der nachfolgenden internationalen Konferenzen zur Gesundheitsförderung (Adelaide 1988, Sundsvall 1991, Jakarta 1997, Mexiko 2000 und Bangkok 2005) wird das Ziel der gesundheitlichen Chancengleichheit prioritär behandelt und weiter ausdifferenziert. In Empfehlungen von Adelaide 1988 werden ethnische Minderheiten und Migranten besonders hervorgehoben: „Darüber hinaus berücksichtigt eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik die jeweils eigenständigen Kulturen traditioneller Bevölkerungsgruppen, ethnischer Minderheiten und Einwanderer. Gleichberechtigter Zugang zu Gesundheitsdiensten, besonders in der gemeindenahen Gesundheitsversorgung, ist ein entscheidender Bestandteil von Chancengleichheit im Gesundheitsbereich.“ (ebd.: 102) In der Stellungnahme der 3. Internationalen Konferenz für gesundheitsförderliche Lebenswelten (Sundsvall 1991), wird eine Verknüpfung zum Umweltbereich erstmals hergestellt. Die Jakarta Erklärung zur Gesundheitsförderung für das 21. Jahrhundert, 1997, stellt erstmals ein konkretes Instrument zur Herstellung von Chancengleichheit heraus, danach sollen „auf gesundheitliche Chancengleichheit ausgerichtete Gesundheitsverträglichkeitsprüfungen als einen festen Bestandteil von Politikentwicklung mit einschließen“. In der Erklärung der Minister zur Gesundheitsförderung auf der Konferenz von Mexiko 2000 „Chancengleichheit und Gesundheit“ wird bekräftigt: „Um Gesundheit für alle zu erreichen ist es unbedingt erforderlich, die Bemühungen auf die Verbesserung der Lebensbedingungen für die Unterprivilegierten und Randgruppen sowohl in den Entwicklungs- als auch in den Industrieländern zu konzentrieren. Die Gesundheitsförderung hat beim Schließen der Lücke in der Chancengleichheit sowie bei der Beschäftigung mit den Hauptdeterminanten für die Gesundheit einen wichtigen Beitrag zu leisten. Ein solcher Beitrag kann am besten durch gemeinsam erarbeitete Planung und daraus resultierende Überlegungen und Maßnahmen geleistet werden. Man sollte diese landesweiten Pläne im Gesamtzusammenhang sehen, weltweite Chancengleichheit auf dem Gebiet der Gesundheit zu erreichen.“1 In der Bangkok-Charta „Gesundheitsförderung in einer globalisierten Welt“ von 2005 werden die bisherigen Versäumnisse auf dem Feld der Politikstrategieentwicklung beklagt: „Seit Verabschiedung der Ottawa-Charta wurde auf nationaler und globaler Ebene eine bemerkenswerte Anzahl von Gesundheitsförderungsresolutionen unterzeichnet, aber nicht immer folgten darauf konkrete Maßnahmen“2. Gleichzeitig wird die Regierungsverantwortung für die Herstellung von gesundheitlicher Chancengleichheit nachdrücklich erneut bekräftigt: Alle Regierungen aller Ebenen müssen Gesundheitsmängel und gesundheitliche Ungleichheiten mit größter Dringlichkeit behandeln, weil Gesundheit eine wesentliche Determinante sozio-ökonomischer und politischer Entwicklungsmöglichkeiten darstellt. Lokale, Regionale und Nationale Regierungen müssen daher:
Investitionen in Gesundheit priorisieren, und zwar innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens, eine nachhaltige Finanzierungsbasis zur Gesundheitsförderung zur Verfügung stellen.
Um dies sicherzustellen, sollten alle Regierungsebenen die Gesundheitskonsequenzen von Politik und Gesetzgebung mit Hilfe von Werkzeugen wie Health Impact Assessments über1 2
http://www.apug.de/archiv/pdf/who_mexico.pdf http://www.who.int/healthpromotion/conferences/6gchp/BCHP_German_version.pdf
408
Thomas Altgeld
prüfen und sichtbar machen, und zwar mit einem expliziten Fokus auf Gleichheit/Ungleichheit. Außerdem wird an die Verantwortung des Privatsektors im Rahmen der Globalisierung appelliert. In den Mitgliedsstaaten und der WHO sollen die bisherigen Umsetzungslücken geschlossen werden und Schritte in die „Richtung handlungsorientierter Politiken und Partnerschaften“ gegangen werden.
2.2
Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik für Kinder und Jugendliche in Deutschland
In Deutschland ist es bislang zu keiner Schließung dieser Umsetzungslücken und der Ausformulierung nationaler Programme zur gesundheitsfördernden Gesamtpolitik für alle Bevölkerungsgruppen gekommen. Allerdings wurde die Forderung nach gesundheitlicher Chancengleichheit erstmals in der im Jahr 2000 in Kraft getretenen Neufassung des § 20, SGB V innerhalb eines Gesetzestextes festgehalten. Dort wird „Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen“ als Ziel für die Präventionsaktivitäten der gesetzlichen Krankenversicherer festgeschrieben. Was auf der Zielebene klar formuliert wurde, kann innerhalb des Kassenwettbewerbs nur schwer umgesetzt werden. Die absolute Mehrzahl der Kassenangebote ist nach wie vor mittelschichtsorientiert und leistet damit eher einen Beitrag zur Vermehrung gesundheitlicher Ungleichheiten als einen Beitrag zu deren Abbau. Jedoch sind in anderen Politikbereichen interessante Entwicklungen zu verzeichnen. Insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik sind deutliche Anzeichen für eine Aufwertung des Themas gesundheitliche Chancengleichheit und die Entwicklung integrierter Politikkonzepte zu erkennen. Altgeld (2005) hat die Wechselwirkungen von Armutslagen, Bildung und Gesundheit als „Armutsspirale“ charakterisiert (siehe Abb. 23.1). Abbildung 23.1: Wechselwirkungen zwischen Armut, Gesundheit und Bildung
Gesundheitsförderung: Eine Strategie für mehr gesundheitliche Chancengleichheit
409
Die Geburt von Kindern stellt in Deutschland für bestimmte armutsnahe Bevölkerungsgruppen ein Armutsrisiko dar, aber nicht nur deshalb ist die Armutsrate von Kindern unter 14 Jahren in Deutschland schneller angestiegen als die Armutsrate der Gesamtbevölkerung. Im Frühjahr 2008 konnte man einen absurden über die Medien ausgetragenen Streit zweier Fachministerien erleben, wie hoch die Armutsquote von Kindern denn nun tatsächlich in Deutschland sei. Während das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in seinen Armuts- und Reichtumsbericht (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008) von Armutsquote von 12% bei Kindern im Alter zwischen 0 und 15 Jahren ausging, führte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die deutlich höher liegenden Zahlen der UNICEF-Studie mit 14% ins Feld (Bertram 2008). Selbst die konservativeren Zahlen des 3. Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung zeigen ein hohes Ausmaß an (nicht bekämpfter) Kinderarmut in Deutschland. Mehr als jedes zehnte Kind ist demnach von Armutslagen betroffen. Arme Familien, insbesondere arme Familien mit Migrationshintergrund weisen höhere Reproduktionsraten als besser gestellte Familien auf. Kinder sind deshalb häufiger arm als Erwachsene. Kleinkinder unter drei Jahren hatten 2003 mit 11,1% etwa die höchste Sozialhilfequote aller Bevölkerungsgruppen (vgl. Statistisches Bundesamt 2004). Bislang sind die Folgen, die Armut für die Bildungs- und Gesundheitschancen dieser Kinder haben kann zu wenig betrachtet worden (siehe auch Lampert & Richter in diesem Band). Bestimmte körperliche Entwicklungsreifen sind Voraussetzung für Schulfähigkeit und Schulerfolg. Niedrige Bildungsabschlüsse bedingen häufig eine vermehrte Bereitschaft für gesundheitsbezogenes und andere Formen von Risikoverhalten. Durch Armut reduzierte Bildungs- und Gesundheitschancen stehen damit in einem engen sich hochschaukelndem Wechselverhältnis miteinander (vgl. auch Altgeld & Hofrichter 2000). Deutschland ist, wie die Ergebnisse des Programms for International Student Assessment (PISA) deutlich zeigen, ein Land mit größten sozialen Disparitäten in den Bildungschancen. Diese sind in Deutschland sogar weit mehr ausgeprägt als in Staaten mit größeren sozialen Ungleichheiten wie beispielsweise die USA, Mexiko oder Brasilien, d.h. in diesen Staaten entscheidet der Status der Herkunftsfamilie deutlich weniger über den Bildungserfolg als in Deutschland. Insbesondere der Frühförderung sozial benachteiligter Kinder kommt eine wesentliche Bedeutung zu (vgl. Artelt et al. 2001). Bildungsferne Schichten sind für alle Formen von Präventions- und Gesundheitsförderungsangeboten bislang am schwersten zu erreichen. Nachfolgende Beispiele reagieren erstmals sektorübergreifend auf diese Problemlagen von Kindern und Jugendlichen. 2.2.1 Nationaler Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010 Der Nationale Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010 bekennt sich erstmals zu einer umfassend verstandenen „öffentlichen Verantwortung für die nachwachsende Generation“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2005: 6). Damit erfüllt die Bundesrepublik die von ihr mitratifizierten UN-Kinderrechtskonvention von 1992. In dieser Grundrechte-Charta für Kinder wurden u.a. das Recht eines jeden Kindes auf Überleben, Entwicklung und Gesundheit festgehalten.3 Auf dem UN-Kindergipfel im Mai 2002 in New York wurde die Verpflichtung auf die Kinderrechtskonvention bekräftigt. Bis auf die USA haben alle westlichen Industrienationen die Konvention mittlerweile 3
http://www.unicef.at/kinderrechte/download/crcger.doc
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ratifiziert, insgesamt ist die Konvention von 189 Staaten anerkannt worden. Die Bundesregierung hatte sich auf der Konferenz 2002 ebenfalls verpflichtet, die Rechte der Kinder uneingeschränkt auf nationaler Ebene umzusetzen und den geforderten nationalen Aktionsplan vorzulegen. Der Nationale Aktionsplan strebt die Schaffung einer kindergerechten Welt an und umfasst sechs zentrale Handlungsfelder (vgl. ebd.: 11ff):
Chancengleichheit durch Bildung Aufwachsen ohne Gewalt Förderung eines gesunden Lebens und gesunder Umweltbedingungen Beteiligung von Kindern und Jugendlichen Entwicklung eines angemessenen Lebensstandards für alle Kinder und Jugendliche Internationale Verpflichtungen
Damit werden sowohl Ziele und Handlungsstrategien für Armutsbekämpfung bei Kindern, für mehr Bildungsgerechtigkeit und Gesundheit gleichzeitig formuliert. Diese Verknüpfung unterschiedlicher Politikfelder und damit auch Zuständigkeiten, orientiert an den Lebenslagen einer Zielgruppe ist neuartig und erfüllt die Forderung der Ottawa-Charta nach der Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik vollständig. Für den Bereich der Gesundheit wird festgehalten: „Die bestmögliche Förderung der Gesundheit ist ein zentrales Recht aller Kinder und Jugendlichen. Sie stellt eine wichtige Zielsetzung der Bundesregierung dar.“ (ebd.: 37) Von der Reduktion von Umweltbelastungen, über Unfallprävention und Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten und Schulen bis zur Verbesserung der Datenlage wird eine umfassende Politikstrategie entwickelt. Es wird sogar der neue Terminus technicus einer „kindergerechten Versorgung“ (ebd.: 47) eingeführt, der umreißt, wie auch der Kernbereich der Gesundheitspolitik selbst, die Gesundheitsversorgung, kindgerechter gestaltet werden kann. Dazu gehört die Stärkung der Patientenrechte von Kindern und Jugendlichen sowie die interkulturelle Kompetenz der Ärzteschaft genauso wie die Arzneimittelsicherheit für diese Altersgruppen. 2.2.2 Beschlüsse der Jugendministerkonferenzen 2005 und 2006 Weitere Beispiele für die Entdeckung der Gesundheitsförderung im Bereich der Kinder und Jugendpolitik sind die Beschlüsse der Jugendministerkonferenzen 2005 und 2006. Die deutsche Jugendministerkonferenz hat in ihrer Sitzung am 12./13. Mai 2005 in München einstimmig eine Entschließung zur „Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ verabschiedet und die „Mitverantwortung der Kinder- und Jugendhilfe“ dabei definiert. In Punkt 2 der Entschließung heißt es: „Die Jugendministerinnen und Jugendminister werden insbesondere darauf hinwirken, dass die Kinder- und Jugendhilfe von der Jugendarbeit, der Eltern- und Familienbildung bis hin zu den Hilfen zur Erziehung gesundheitliche Belange konsequent berücksichtigt und gesundheitsfördernde Potenziale und Kompetenzen junger Menschen und ihrer Eltern stärkt“.4 4
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Gesundheitsförderung: Eine Strategie für mehr gesundheitliche Chancengleichheit
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Die Entschließung ist sehr eindeutig, sowohl was den Stellenwert von Kindertagesstätten im Rahmen der Gesundheitsförderung, als auch was die Notwendigkeit sektorübergreifender Aufgabenstellungen anbelangt. Besonders richtungweisend ist die Entschließung was die Forderung nach intersektoraler Zusammenarbeit anbelangt: „Die Jugendministerkonferenz setzt sich im Sinne einer umfassenden Gesundheitsförderung als Querschnittsaufgabe für eine ressortübergreifende Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe, Bildung, Schule, Sport, Umwelt, Verkehr und Verbraucherschutz gemeinsam mit der Gesundheitspolitik ein. Sie hält es für erforderlich, Gesundheitsförderung interdisziplinär und sozialraumorientiert in Kooperationsstrukturen auszubauen.“ (ebd.) Die Entschließung der Jugendministerkonferenz „Kinder und Gesundheit“ am 18./19. Mai 2006 in Hamburg5 geht noch weiter: „Die Jugendministerkonferenz tritt dafür ein, bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung aller beteiligten Professionen gesundheitsrelevante Aspekte, Kenntnisse der vorhandenen Hilfesysteme und konkreter Ansprechpartner stärker einzubeziehen. Dabei geht es in erster Linie um die Sensibilisierung für gesundheitsfördernde soziale, psychosoziale und sozialpädagogische und sozialpädiatrische Zusammenhänge, die Vermittlung von Grundkompetenzen und der Fähigkeit, in Netzwerken zusammenzuarbeiten.“ (ebd.) Auch die Weiterentwicklung der qualifizierten Gesundheits- und Sozialberichterstattung sowie die stärkere Rezeption der Berichte aus dem jeweils anderen Sektor wird gefordert: „Vorhandene Berichte im Gesundheitswesen sowie in der Kinderund Jugendhilfe sollten künftig gegenseitig stärker wahrgenommen werden, um Synergieeffekte zu erzielen. Die Jugendministerkonferenz hält es für zielführend, eine qualifizierte Gesundheits- und Sozialberichterstattung als Grundlage einer wirksamen Bedarfs- und Hilfeplanung zu entwickeln. Dabei sollten Daten aus dem Gesundheitswesen und der Kinder- und Jugendhilfe miteinander abgeglichen, verknüpft und zusammengeführt werden. Die Daten, die auf unterschiedlichen Ebenen erhoben werden, sollten kompatibel sein.“ (ebd.) Der im Jahr 2009 erscheinende 13. Kinder- und Jugendbericht wird diese Annäherung zwischen dem Kinder- und Jugendsektor und dem Gesundheitsbereich noch fortsetzen. Im Mittelpunkt des Berichtes der Bundesregierung stehen Angebote und Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe im Bereich gesundheitsbezogener Prävention und Gesundheitsförderung.
3
Zentrale Settings zur Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche
Neben der Ausformulierung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik wird in der Ottawa-Charta die Bedeutung der unmittelbaren Lebenswelt für die Gesundheitsförderung als zentrale Handlungsebene hervorgehoben. Umgesetzt wurde der Anspruch, auf diese Lebenswelten gesundheitsfördernd einzuwirken, mit der Konzeption des Settingansatzes. „Um eine möglichst große Wirkung zu erreichen, reicht es nicht aus, die Intervention auf die Anwendung der traditionellen Instrumente „Information, Aufklärung und Beratung“ zu beschränken. Die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs steigt mit der Beeinflussung des jeweiligen Verhaltenskontextes (z.B. in der Schule, im Betrieb, im Stadtteil, beim Konsum in der Erholung).“ (Altgeld 2004a: 13) 5
http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/behoerden/soziales-familie/aktuelles/konferenzen/jmk2006/beschluesse. html (06/2006)
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Thomas Altgeld
In Deutschland sind vor allem in den Settings Städte, Schulen, Betriebe, Krankenhäuser und Kindertagesstätten vielfältige Umsetzungsaktivitäten sowie die Gründungen nationaler und regionaler Netzwerke zu verzeichnen. Der bisherige Beitrag der klassischen gesundheitsfördernden Settings zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheiten ist kaum diskutiert worden. In der Konzeptionsphase einzelner Settingansätze spielte gesundheitliche Chancengleichheit oft eine wichtige Rolle. Der gesundheitliche Outcome der Settingprojekte für sozial benachteiligte Gruppen ist bislang nicht untersucht worden. Bereits 1994 haben Kühn und Rosenbrock auf eine gewisse Selektion von Präventionsprogrammen hingewiesen: „Es lassen sich Regelmäßigkeiten einer „Zuchtwahl“ von Präventionskonzepten erkennen. Die soziale Umwelt selektiert und mutiert präventive Ideen, Ansätze und Konzepte in einer Weise, in der die Angepasstesten überleben.“ (Kühn & Rosenbrock 1994: 40) Diese „Zuchtwahl“ angepasster, leicht realisierbarer Präventions- und Gesundheitsförderungsprogramme lässt sich bislang auch für Kindertagesstätten und Schulen festhalten. Sowohl in der Gesundheitspolitik als auch bei den Trägern der Einrichtungen herrscht ein verkürztes, individualistisches Präventionsverständnis, das sich am Bildungsbürgertum orientiert (vgl. Schnabel 2006). Seit der Wiedereinführung des § 20, SBV, der primärpräventive Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung seit dem Jahr 2000 wieder zulässt, haben sich die Ausgaben in diesem Bereich verfünffacht. Allerdings investieren die gesetzlichen Krankenversicherungen vor allem in den Bereich der Individualprävention. Im Jahr 2007 lagen die durchschnittlichen Leistungsausgaben aller Kassen für diesen vom Präventionsnutzen her höchst umstrittenen Bereich bei 3,55 Euro. In andere Bereiche wird dagegen nur marginal investiert. Die Leistungsausgaben für alle nichtbetrieblichen Settings (von Stadtteilen, Altenheimen über Sportvereine bis hin zu Kindertagessstätten und Schulen) lagen dagegen 2007 bei 0,25 Euro. Am erfolgreichsten ist der Settingansatz in Deutschland in dem Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung umgesetzt worden, auch weil allein in dieses Setting kassenseitig doppelt so viel investiert wird wie in alle anderen Settings zusammen. Die betriebliche Gesundheitsförderung leistet innerhalb der sich engagierenden Betriebe sicherlich einen Beitrag zur Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit (vgl. u.a. Lehnhardt 1999, Kreis & Bödecker 2004). Angesichts konstant hoher Arbeitslosenquoten ist das betriebliche Setting gesamtgesellschaftlich gesehen vergleichsweise privilegiert. Für die Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit sind daher eher andere Settings gefordert. Das Prinzip der Freiwilligkeit führt dazu, dass in diesen Settings auch eine soziale Selektion eingetreten ist und insbesondere Schulen und Kindertagesstätten mit besseren Ausgangslagen, was etwa die soziale Herkunft der Kinder und die Motivation der Mitarbeiterschaft anbelangt, gesundheitsfördernde Ansätze realisieren. Dieser Trend lässt sich nur durch verbesserte politische Rahmenbedingungen und gezielte Rekrutierung und Förderung von Kindertagesstätten und Schulen in sozial benachteiligten Stadtteilen umkehren. Notwendig ist zudem eine abgestimmte Vorgehensweise zwischen den verschiedenen Settings. Idealerweise bauen Gesundheitsförderung rund um die Geburt in Familien sowie die einrichtungsbezogenen Strategien in Kindertagesstätten und Schulen unmittelbar aufeinander auf. Nachfolgend sollen einige Modelle guter Praxis in diesen Bereichen beschrieben werden.
Gesundheitsförderung: Eine Strategie für mehr gesundheitliche Chancengleichheit
3.1
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Soziale Frühwarnsysteme – Gesundheitsförderung rund um die Geburt und in Familien
Der Zeitraum rund um die Geburt ist kaum als Interventionszeitraum zur Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit beachtet worden. Familien wurden quasi als privater Ort und Erziehungskompetenzen von Eltern – wenn schon nicht als naturgegeben – dann dochzial tradiert betrachtet. Nennenswerte Ansätze zur Weiterentwicklung eines Settings „Gesunde Familien“ wurden weder von der WHO noch von den Familienministerien vorangetrieben. Das Gros der Maßnahmen konzentrierte sich auf die Settings Kindertagesstätten und Schulen, was jedoch für viele Kinder schon einen relativ später Interventionszeitpunkt ist. „Sozialisationsprozesse von Kindern finden im sozialen Raum statt, d.h. die dort zur Verfügung stehenden Ressourcen bzw. die dort vorhandenen Benachteiligungsstrukturen beeinflussen das Aufwachsen von Kindern maßgeblich. Insofern stellen zunehmende Segregationstendenzen und sozialräumliche Konzentrationen von ökonomisch abgekoppelten Gruppen ein großes Problem für die Entfaltung von Lebenschancen und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen dar.“ (Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen 2002: ohne Seitenangabe) Deshalb wurde in Nordrhein-Westfalen ein Modellprojekt „Soziale Frühwarnsysteme in Nordrhein-Westfalen“ an sechs Projektstandorten zwischen 2001 und 2004 realisiert. „Sozialraumbezogene soziale Frühwarnsysteme können hier zur Verbesserung der rechtzeitigen Problemerkennung und zur Aktivierung hierauf bezogener sozialer und sozialpädagogischer Hilfen und damit zugleich zu einer ‚Revitalisierung’ sozial benachteiligter Regionen und zu einer Verbesserung der Lebenschancen ihrer BewohnerInnen beitragen.“ (ebd.) Die bisherigen Ergebnisse der Entwicklungs- und Erprobungsphase haben gezeigt, „[…] dass strukturierte, verlässliche und berechenbare Kooperationen von Fachkräften bei öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, des Gesundheitssystems und von anderen familienbezogenen Dienstleistern einen wichtigen und sinnvollen Beitrag dazu leisten, riskante Lebenssituationen bei Kindern und Familien und in einem Sozialraum frühzeitiger wahrzunehmen, zu beurteilen und entsprechend zu handeln.“6 Deshalb wird jetzt der landesweite Aufbau sozialer Frühwarnsysteme in NRW betrieben. In den Modellkommunen wurden je nach Ausgangslage vor Ort alle relevanten Kinder- und Familienhilfeeinrichtungen wie Jugendamt, Allgemeiner Sozialer Dienst, Familienberatung und die Gesundheitsdienste mit eingebunden. In Gütersloh wird beispielsweise jede Familie drei bis sechs Wochen nach der Geburt des ersten Kindes von einer Kinderkrankenschwester besucht, bei Bedarf auch mehrmals. Auch bei einem Altersabstand von fünf Jahren zum erstgeborenen Kind oder bei Familien, die hilfebedürftig sind, kommt eine Kinderkrankenschwester nach der Geburt ins Haus der Familie. Die Kinderkrankenschwestern verschaffen sich einen Überblick über die Situation vor Ort, überbringen die ersten Elternbriefe, geben Hinweise und stehen für Fragen zur Verfügung. An anderen Standorten stehen Familien in schwierigen Wohnverhältnissen im Vordergrund. Ein Kreis nutzt die Methode für eine präventiv angelegte Analyse des Sozialraums von Familien. Häufig geht es um die Entwicklung von Hilfelösungen von Familien mit Kindern in Tageseinrichtungen (vgl. ebd.). Auch im Rahmen der Datenbank gesundheitliche-chancengleichheit.de wurden frühzeitig Modelle guter (Frühförderungs-)praxis gesammelt (siehe auch Lehmann in diesem 6
http://www.soziales-fruehwarnsystem.de/ (6/2006)
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Thomas Altgeld
Band). Das Hamburger Familienprojekt ADEBAR wurde dort bereits 2005 (vgl. BZgA 2005) vorgestellt. Das Projekt ADEBAR wendet sich an (werdende) Familien mit Kindern im Alter bis zu zehn Jahren in den benachteiligten Stadtgebieten St. Pauli Süd und AltonaAltstadt. „Es bietet den Familien niedrigschwellige Unterstützung durch Angebote der familiären Krisenhilfe, des Familiencafés, der Hebammenhilfe und der Stadtteilentwicklung an.“ (BZgA 2005: 62) Empowermentstrategien für die Familien spielen dabei eine wichtige Rolle: „Die Mitarbeiterinnen von ADEBAR zielen mit einer ressourcenorientierten Arbeitsweise darauf ab, bei den Familien die oft verschütteten individuellen Stärken, Fähigkeiten und Möglichkeiten aufzuzeigen und zu fördern. Die Vernetzung und Unterstützung von Selbsthilfeaktivitäten oder Selbstorganisation im Stadtteil genießt immer erste Priorität; betreuende und programmorientierte Intervention wird dem nachgestellt.“ (ebd.) Beide Beispiele wie auch die Preisträger des Deutschen Präventionspreises 2006 zeigen, dass Familien früh gestärkt werden müssen und können. In skandinavischen Ländern ist das, was in Deutschland sich noch auf Einzelprojekte beschränkt, in den dortigen Familien- und Jugendhilfestrukturen fest verankert. Ähnliche Weichenstellungen für Deutschland fehlen leider noch vollständig.
3.2
Kindertagesstätten als Schlüsselsetting für bessere Bildungs- und Gesundheitschancen
Kindertagesstätten sind ein Schlüsselsetting zur Herstellung der gesundheitlichen Chancengleichheit, weil hier frühe, familiär bedingte Sozialisationsdefizite kompensiert werden können. Bei den gesundheitsbezogenen Aktivitäten dominieren Programme, die Einzelaspekte der Prävention und Gesundheitserziehung in den Vordergrund stellen. Am häufigsten wurden Programme zur Bewegungs- und Sprachförderung, Ernährungs-, Verkehrserziehung und Suchprävention entwickelt. Die Zahl der für diese Einzelpräventionsthemen konzipierten Programme, Materialien und Manuale für Erzieherinnen lässt sich schwerlich quantifizieren und würde sicherlich für den Aufbau von Bibliotheken in Kindertagesstätten ausreichen, wenn sie denn flächendeckend an die etwa 49.000 Kindertagesstätten in Deutschland (Statistisches Bundesamt 2001) verteilt worden wären. Aber sie weisen meist nur eine geringe Reichweite auf. Beispielsweise erfolgte sowohl die Programm- als auch die Materialentwicklung der beiden größten kassengetragenen Präventionsansätze für Kindertagesstätten „Tigerkids“ (der AOK – Die Gesundheitskasse) und „Fit von klein auf – Der Gesundheitskoffer“ (des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen) ohne nachhaltigen Einbezug der Kindertagesstätten. Beide Ansätze zusammen erreichen nicht einmal 5 Prozent aller Kinderstagen. Zudem interessieren sich eher Kindertagsstätten mit hohen Anteilen von Mittelschichtskindern für diese Materialflut. Die beiden Beispiele ließen sich ohne weiteres ergänzen durch ähnlich angelegte, materialorientierte Aktivitäten anderer Krankenkassen und sollten nur das Strickmuster kassengetragener Prävention in Kindertagesstätten verdeutlichen. Allerdings werden Kindertagesstätten mit ihren Chancen und Potenzialen als ein wertvoller, eigenständiger Bildungsbereich, der auch gesundheitsrelevant sein kann, in Deutschland erst langsam entdeckt. Allein der Besuch einer Kindertagesstätte selbst verbessert die Gesundheitschancen sozial benachteiligter Kinder, wie Hock et al. (2000) nachgewiesen haben. Nach Fuchs nimmt „[…] bei Kindern im Kindergartenalter die Besuchsquote mit
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steigendem Nettoeinkommen zu, von 74 % in der niedrigsten auf 83% in der höchsten Einkommensgruppe.“ (Fuchs 2005: 164) Fuchs konstatiert deshalb eine „Unterrepräsentanz bildungsferner Milieus“ (ebd.: 169) im vorschulischen Bereich. Diese Unterrepräsentanz und die bisher kaum vorhandenen, integrierten Konzepte zur gesundheitsfördernden Kindertagesstätte minimierten die Beiträge von Kindertagesstätten zur Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit bislang. Eine programmatische Weiterentwicklung des Settings Kindertagesstätte erfolgte seit 2002 durch verschiedene Projekte in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Sachsen. In Nordrhein-Westfalen wurde im Kreis Neuss ein Kompetenznetzwerk zur Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten gegründet. Auf Landesebene wurde in Nordrhein-Westfalen das bislang im Schulbereich arbeitende Netzwerk zur Gesundheitsförderung „OPUS-NRW“ um den Elementarbereich erweitert. „Im OPUS Netzwerk Gesundheit und Bildung sollen die beteiligten Kindertagesstätten den gesundheitsfördernden Settingansatz für ihren Standort systematisch (weiter)entwickeln.“ (Netzwerk OPUS NRW 2005: 18) Dies soll sich in drei Dimensionen vollziehen:
Gesundheitsförderndes Klima und Ethos in der KiTa Gesundheitsressourcen der Kinder stärken durch die Förderung positiver Selbstkonzepte und Stärkung des Selbstwertgefühls Gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen
An der Technischen Universität Dresden wurde 2003 ein Netzwerk zur Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz „Kindertagesstätte“ gegründet, bei dem die Analyse und Verbesserung von Arbeitsbedingungen der ErzieherInnen fokussiert wird. Dabei wurden auch bereits Hemmnisse auf dem Weg zur Umsetzung betrieblicher Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten aufgezeigt: „Die Grenzen der betrieblichen Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten sind vor allem durch fehlende Ressourcen wie Personal, Finanzen, Zeit oder dem Zugang zu Informationen bestimmt. Oft verfügen die Leiterinnen auch nicht über die notwendige Entscheidungskompetenz, um Arbeitsbedingungen zu verbessern. Zu dem sind viele Erzieherinnen nicht bereit, sich auf Veränderungen einzulassen und banalisieren sowohl ihre Arbeitsbedingungen als auch die begonnenen Problemlösungen. Es fällt vielen Erzieherinnen schwer, ihre Arbeitssituation kritisch wahrzunehmen, da sie sich inzwischen mit den Bedingungen arrangiert haben.“ (Khan 2005: 5) In Niedersachsen wurde von der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. in Kooperation mit dem Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) und dem Bundesverband der Betriebskrankenkassen das Konzept „Gesund in allen Lebenslagen“ entwickelt, das den ersten umfassenden Handlungsansatz zum Setting „Gesundheitsfördernde Kindertagesstätte“ darstellt. Dabei wurde die Förderung von Gesundheitspotentialen sozial benachteiligter Mädchen und Jungen sowie deren Eltern in den Vordergrund der Konzeptentwicklung gestellt (vgl. Richter et al. 2004). Zentrale Zielstellung des Projektes war es, den anwachsenden armutsbedingten Risiken für Kinder durch frühzeitige Interventionen im Setting „Gesundheitsfördernde Kindertagesstätte“ entgegenzuwirken. Das unter Beteiligung von Fachkräften aus Kindertagesstätten entwickelte Handlungskonzept reagiert auf Veränderungsbedarfe und -potenziale in Kindertagesstätten, in denen gehäuft Gesundheitsrisiken vorliegen. In dem Konzept werden u.a. beispielhafte Leitziele zur Gesundheitsförderung vorgegeben. Daran orientiert werden Interventionsmöglichkeiten in den vier
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Handlungsfeldern „Gesundheit am Arbeitsplatz“, „sozial benachteiligte Mädchen und Jungen“, „sozial benachteiligte Mütter und Väter“ und „soziales Umfeld“ entwickelt. Innerhalb des anschließenden Manuals wird eine Checkliste zur Umsetzung gesundheitsfördernder Maßnahmen im Team einer Kindertagesstätte vorgeschlagen und Anwendungsbeispiele mit Verweisen auf Literatur, Materialien und Modellbeispiele gegeben. Das Konzept überträgt Erfahrungen aus dem Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagement auf die Organisation von Gesundheitsförderung in Kindertagesstätten. Das Beispiel zeigt auch, dass eine Übertragbarkeit von Strategien zwischen verschiedenen Settings gegeben ist, diese settingübergreifende Zusammenarbeit ist noch ein relativ neuartiger Ansatz.
3.3
„Gesund leben lernen“ – Nicht-mittelschichtsorientierte Gesundheitsförderung in Schulen
Für den Bereich der Prävention in Schulen hat Bauer (2005) auf das enge Zusammenwirken zwischen den strukturellen Rahmenbedingungen des deutschen, stark sortierenden Bildungssystems und dem Versagen breit angelegter Präventionsprogramme bei niedrigeren Bildungsstufen hingewiesen. Er hat dafür den Begriff des „Präventionsdilemmas“ geprägt. „Im deutschen gegliederten Bildungswesen setzt mit dem Eintritt in die Sekundarstufe der allgemeinbildenden Schulen eine extreme Spannung ein: Bildungsgänge, die wie die Hauptschulen nur zu einem geringen Abschlussniveau qualifizieren können, bündeln und potenzieren damit die Probleme einer Schülerschaft, die um so mehr auf ein besonderes Förderungs- und Kompensationsprogramm angewiesen ist.“ (Bauer 2005: 73) Aber genau diese besonderen Förderungs- und Kompensationsprogramme werden in der Regel nicht angeboten, weil auch für Primärprävention und Gesundheitsförderung das Prinzip der Freiwilligkeit gilt. Allein die Schulformen, die freiwillig an solchen Programmen teilnehmen differenzieren sozial (Altgeld 2004a). Mehrere große Modellversuche im deutschsprachigen Raum (u.a Barkholz & Homfeld 1994, Barkholz et al. 2002) haben trotz umfangreicher Evaluationen nicht untersucht, welches gesundheitlichen Outcome sich für die Modellschulen bei den involvierten Zielgruppen nachweisen lässt. Wenn in den deutschen Modellversuchen überhaupt Zielgruppenbefragungen vorgenommen wurden, dann wurden lediglich Struktur- und Prozessqualitätsmerkmale gemessen oder Veranstaltungserfolge abgefragt. Soziale Benachteiligung taucht als Stichwort oder Untersuchungsaspekt weder in der Modellkonzeption noch innerhalb der initiierten Prozesse noch in der Ergebnisevaluation auf. Bestenfalls gehen die Modellinitiatoren und -träger aufgrund des umfassenden Settingansatzes davon aus, dass sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche von den Modellversuchen genauso profitieren wie andere Kinder und Jugendliche. Da auch bei der Auswahl der Modellschulen der bundesdeutschen Modellversuche das Interesse der Schulen allein ausschlaggebend ist, ist eine Akzentuierung in Richtung gesundheitlicher Chancengleichheit nicht erfolgt. Die vergleichsweise geringe Beteiligung von Haupt-, Sonder- und Berufsbildenden Schulen an den Modellversuchen, für die Übersichten nach Schulformen vorliegen, zeigt auch, dass für diese Schulformen ein breiter Ansatz, der auf freiwilligen Interessenbekundungen der Kollegien beruht, kaum greift. Diese Auswahlprozedur reproduziert soziale Ungleichheiten, weil Gymnasien beispielsweise überproportional häufig vertreten waren. Hier muss über spezielle Anreizsysteme, auch
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in Form materieller Ressourcen nachgedacht werden, wenn Schulformen, die besonders geeignet sind, sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche zu erreichen, stärker als bisher in die Modellversuche einbezogen werden sollen. „Gesund leben lernen“ ist ein Kooperationsprojekt zwischen den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen und den Landesvereinigungen für Gesundheit in Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz mit einer Laufzeit von drei Jahren (2003-2006), das genau hier ansetzt. Ziele innovativer schulischer Gesundheitsförderung sind immer eng mit der Weiterentwicklung der Schule und der Verbesserung ihrer Bildungsqualität verbunden. Neben der klaren Orientierung an den Dimensionen der Schulentwicklung ist die Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen und -risiken ein wesentliches Ziel von „Gesund leben lernen“ in Niedersachsen. Deshalb sind im ersten Schritt nur Grund-, Haupt- und Förderschulen aus Stadtteilen und Regionen mit erhöhtem Entwicklungsbedarf aufgenommen worden. Ein besonderes Gewicht wird auf die Verbesserung der Gesundheit von Lehrkräften gelegt, weil das Konzept davon ausgeht, dass zuerst deren Ressourcen gestärkt und Über- bzw. Fehlbelastungen abgebaut werden müssen, damit neue Kräfte zur Durchführung von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung für und mit Schülerinnen und Schülern frei werden. Das Projekt folgt dem Settingansatz und den Prinzipien des betrieblichen Gesundheitsmanagements: Ganzheitlichkeit, Partizipation, Integration und Projektmanagement. Gesundheitsfördernde Schulentwicklung wird als Lernprozess aufgefasst, der aus den folgenden Schritten besteht (siehe Abb. 23.2). Wichtig ist dabei das prozessorientierte Vorgehen. Die Sensibilisierungsphase dient dazu möglichst alle relevanten Gruppen in der Schule einzubeziehen. Der Aufbau von prozessbegleitenden bzw. -relevanten Strukturen (Steuerungsgruppe, Gesundheitszirkel). Die Definition und Umsetzung konkreter Maßnahmen hat zugleich motivierende Wirkung auf die Prozessbeteiligten, weil Änderungen im Schulalltag dadurch greifbar werden. Die entwickelten Instrumente wie Steuerungsgruppen Gesundheit, Gesundheitszirkel und schulinterne Befragungen von Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern werden von den Modellschulen gut angenommen. Die guten Erfahrungen der ersten Modellphase werden seit 2006 auf weitere Schularten ausgeweitet. Mittlerweile wurden allein über das Teilprojekt in Niedersachsen 104 Schulen erreicht. Bei der Ausweitung der Projektergebnisse werden die Fachkräfte der gesetzlichen Krankenversicherung zudem in die Prozessbegleitung der Schulen einbezogen und somit gewährleistet, dass in Niedersachsen eine Beratungsinfrastruktur für interessierte Schulen vor Ort abrufbar bist. Das Beispiel „Gesund leben lernen“ zeigt zudem, dass eine Zusammenarbeit von Sozialversicherungsträgern und Schulen sehr erfolgreich gestaltet werden kann, wenn nicht mit fertigen Programmen an Schulen als reiner Interventionsort von außen herangetreten wird, sondern vor Ort die Problemlagen und Interventionen gemeinsam definiert werden. Die Bereitschaft der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherungen, sich für eine Ausweitung des Modellversuches in andere Bundesländer zu engagieren, ist trotz guter Evaluationsergebnisse des Projektes, nicht gegeben. Die Modellförderung der Spitzenverbände erfolgte bereits in der zweiten Projektphase nur mit minimalen Mitteleinsatz. Das Denken in befristeten, möglichst nur Einzelkassen bezogenen Modellen ist auf der Ebene der Spitzenverbände nach wie vor dominierend.
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Abbildung 23.2: Gesundheitsmanagement in Schulen als kontinuierlicher Lernprozess Sensibilisierung Gesundheit zum Thema machen
Steuerungsgruppe Planung u. Lenkung des Umsetzungsprozesses
Bestandsaufnahme Ermittlung des Handlungsbedarfs Evaluation
Ursachenanalyse und Entwicklung von Maßnahmen in Gesundheitszirkeln Umsetzung der Maßnahmen
Entscheidung über Umsetzung von Maßnahmen
Quelle: eigene Abbildung
4
Gesundheitsförderung als Beitrag zur gesundheitlichen Chancengleichheit
Die Beispiele aus allen drei Settings (Familie, Kindertagesstätte und Schule) zeigen, dass ohne frühzeitigen Einbezug der Zielgruppen Maßnahmen nicht wirkungsvoll sein können. Zudem machen sie deutlich, dass dem „Präventionsdilemma“ entgegengewirkt werden kann, wenn der gesundheitspolitische Wille auf Politik- und Akteursebene vorhanden ist. In Deutschland gibt es noch keine politisch gewollte Konzentration von Gesundheitsförderung und gesundheitsbezogener Prävention auf die Zielgruppen mit den größten Bedarfen. Die Konzepte und Programme sind bislang nicht zielgruppengenau auf benachteiligte Gruppen hin angelegt. Die Strukturen des Bildungs-, des Gesundheitssystems sowie der Jugend- und Familienhilfe sind kaum aufeinander abgestimmt und vernetzt miteinander. Eine besondere Rolle für mehr Zielgruppengerechtigkeit spielt auch die Ausschöpfung geschlechterspezifischer Präventionspotenziale. Die Daten zum Drogenkonsum und verhaltensbedingten Erkrankungen zeigen, dass Männer eine zentrale Zielgruppe der Präventionsbemühungen sein sollten (vgl. Altgeld & Kolip 2006). Dies ist aber nicht der Fall, denn die Ansprache der männlichen Bevölkerung gelingt nicht. Mit Ausnahme der Maßnahmen zum verantwortlichen Konsum von Sucht- und Genussmitteln (hier ist vor allem die Tabakentwöhnung gemeint), bei denen das Geschlechterverhältnis nahezu ausgewogen ist, werden die Maßnahmen der gesetzlichen Krankenversicherer überwiegend von Frauen genutzt (vgl. Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen 2006). Wenn geschlechtsspezifische Programme angeboten werden, dann für Frauen und Mädchen. Altgeld (2004b) hat dies als „Gesundheitsförderungsparadox“ bezeichnet. Die Strategie des Gender
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Mainstreamings, d.h. die Überprüfung der Relevanz und Auswirkungen von Programmen und Maßnahmen für beide Geschlechter ist weder in der Gesundheitsförderung noch in den frühen Bildungsbereichen auch nur ansatzweise verankert (vgl. Altgeld 2007). Gesundheitliche Chancenungleichheit spielt in sozial benachteiligten Stadtteilen eine besondere Rolle. Hier ballen sich die Bevölkerungsgruppen mit dem größten Präventionsbedarf, aber auch den größten Gesundheitspotenzialen. Dem Bedarf steht allerdings eine völlig zersplitterte Präventionslandschaft gegenüber. Von der Kriminal-, Sucht-, Gewalt- und Unfallprävention bis hin zur Gesundheitsförderung in Settings reicht die Angebotspalette. Dabei ist für alle genannten Ansätze die Steigerung von Lebenskompetenzen ein wesentliches Ziel. Außerdem hat sich in allen Handlungsfeldern das Prinzip der möglichst frühen Intervention als Kernstrategie durchgesetzt. Deshalb sind Kindertagesstätten und Schulen auch die beliebtesten Interventionsorte fast aller Präventionsakteure geworden. In den meisten Fällen werden jedoch fertige Programme von außen an diese Settings herangetragen. Das unübersichtliche Angebot ist von einem absoluten Nebeneinander unterschiedlicher Präventionsansätze gekennzeichnet. Gerade dieses Nebeneinander heterogener Präventionsansätze macht bestimmte Settings mittlerweile präventionsmüde (vgl. Altgeld, 2005). Die zentrale Herausforderung bleibt die Weiterentwicklung integrierter, und vor allem sozialraum- und zielgruppenorientierter Ansätze. Die Einsicht, dass mehr Vernetzung notwendig ist, wird von verschiedenen Präventionsträgern mittlerweile zumindest auf Programmebene betont. Dies hat aber bisher noch nicht dazu geführt, auch von monothematischen Präventionskonzepten abzurücken und Ressourcen gemeinsam einzusetzen. Die Vermeidung von Parallelstrukturen scheitert häufig an der Eigenlogik unterschiedlicher Sektoren und am grünen Tisch entwickelten Konzepten. Das Ziel „Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit“ könnte quer über die unvernetzten Präventions- und Gesundheitsförderungsstränge zu einer effektiven Neuorientierung des Bereiches beitragen. Zusammen mit vernetzten Hilfestrukturen können so die Gesundheitschancen nachwachsender Generationen entscheidend verbessert werden.
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Strategien der Schule zur Kompensation importierter und Reduktion intern erzeugter gesundheitlicher Unterschiede bei Kindern und Jugendlichen
Wolfgang Dür, Kristina Fürth, Robert Griebler
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Vulnerable Gruppen und Risiken: zwei Herausforderungen für die Schule
Die Mitgliedsstaaten der europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben im Mai 2006 auf dem 59. Weltgesundheitsgipfel1 Wissenschaft und Politik dazu aufgefordert, erneut die Ideen der Alma Ata Deklaration von 1978 (WHO 1991) aufzugreifen und den sozialen Determinanten der Gesundheit, vor allem den verschiedenen Formen der Ungleichheit, höhere Aufmerksamkeit beizumessen. In modernen, hoch entwickelten Gesellschaften muss diese Forderung besonders für Kinder und Jugendliche gelten, da in dieser Lebensphase die Weichen für die Gesundheit und die Lebensqualität in höheren Lebensabschnitten gestellt werden: Gesundheitsrelevante Verhaltensweisen werden zum Guten oder Schlechten erworben und eingeübt, psychische und physische Gesundheitsressourcen werden in hohen oder geringen Maßen aufgebaut. Aber nicht nur pro futuro, sondern schon für den gegebenen Prozess des Aufwachsens muss Gesundheit das zentrale Thema sein, wenn stimmt, dass Gesundheit die „[…] Fähigkeit zur Problemlösung und Gefühlsregulierung (ist), durch die ein positives seelisches und körperliches Befinden und ein unterstützendes Netzwerk sozialer Beziehungen erhalten oder wieder hergestellt wird.“ (Badura & Hehlmann 2003:18) Denn dann ist Gesundheit nicht nur das Ergebnis eines günstigen Entwicklungs- und Entfaltungsprozesses der jungen Menschen, sondern im Sinne einer Ressource überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit eines solchen. Diese Logik eines sich selbst verstärkenden Zirkels – dem systemischen Denken gerade beim Thema Gesundheit inhärent (z.B. Simon 1995, Heim & Willi 1986) – ist irritierend, wenn es um Gesundheitsunterschiede geht und darum, diese zu überwinden, da die Anfangsbedingungen für das Ergebnis eines Prozesses offensichtlich eine große Rolle spielen. Wenn man schon gesund sein muss, um gesund werden zu können, was ist dann mit denen, die nun einmal nicht oder nicht sehr gesund sind? Werden die auch nie ihr persönliches Gesundheits-Optimum erreichen? Es stellt sich also die Frage, ob einmal erworbene Rückstände wieder ausgeglichen bzw. kompensiert werden können und was der Beitrag der Gesellschaft bzw. der sozialen Umwelten junger Menschen dabei sein kann. Kinder und Jugendliche werden – zu allen schon angeborenen Unterschieden – aus Sicht ihrer optimalen Entwicklung auch noch in günstigere und weniger günstige familiäre Umwelten hineingeboren. Sie weisen daher schon im Vorschulalter gesundheitliche Unter1
„Managing the Politics of Equity and Social Determinants of Health” - Informal briefing of the Commission held at the 59th World Health Assembly
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schiede auf, die für ihre weitere Entwicklung zu förderlichen oder hemmenden Bedingungen werden. Solche Unterschiede sind in ihrer psychischen Entwicklung zu finden, im Sprachvermögen, in der sozialen Kompetenz, in körperlichen Voraussetzungen im Sinne von Fitness, in Ernährungs- oder Schlafgewohnheiten usw. Bezogen auf solche Unterschiede muss man schon bei Schuleintritt von vulnerablen Gruppen sprechen, die bereits ungünstige, manchmal regelrecht schlechte Voraussetzungen für eine gute Entwicklung in die Schule mitbringen. Die Schule muss sich mit diesen Unterschieden auseinandersetzen, obwohl sie auf die dafür ursächlichen ökonomischen, ethnischen, kulturellen, sozialen, familialen Bedingungen natürlich keinen unmittelbaren Einfluss hat. Die Erwartung der Gesellschaft ist, dass die Schule entscheidend dazu beiträgt, die Schwere der individuellen Folgen der sozialen Herkunft für das Kind abzumildern. Am Ende der Schulzeit sollen gesunde, lebenstüchtige, für wirtschaftliche Bedarfe ebenso wie für die Teilnahme an Politik qualifizierte Menschen stehen. Dem gerecht zu werden ist für die Schulen aus zwei Gründen schwierig: Zum einen, weil Gleichbehandlung aller SchülerInnen traditionellerweise ein hoch gehaltenes pädagogisches Prinzip ist und die Schule sich mit dem Paradox schwer tut, die Ungleichbehandlung von Ungleichen im Sinne spezieller Förderungen als Gleichbehandlung zu begreifen, zum anderen, weil die Schule auch Stress, Leiden und Kränkung erzeugt und dadurch ihrerseits für potenziell alle SchülerInnen ein Risiko darstellt. Sie muss also nicht nur eine Form für den Umgang mit vulnerablen Gruppen finden, sondern überhaupt eine Form und ein Setting für Lernen bereit stellen, die so geartet sind, dass die Teilnahme an schulischen Lernprozessen nicht zum Risiko, sondern zur Gesundheitschance wird.
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Welche gesundheitlichen Unterschiede importiert die Schule?
Der Komplexität des modernen Gesundheitsbegriffs folgend, lassen sich die zum Teil gravierenden gesundheitlichen Unterschiede, die schon bei Vorschulkindern zu finden sind, folgendermaßen zusammenfassen (siehe auch Lampert & Richter in diesem Band):
Defizite in der körperlichen Gesundheit, wie zum Beispiel ein eingeschränktes Sehoder Hörvermögen, Erkrankungen des Bewegungsapparates (z.B. Skoliose, Fußdeformitäten etc.), im Bereich der Mundgesundheit (Karies) sowie chronische Erkrankungen und/oder Behinderungen, wobei Neurodermitis, allergische Rhinokonjunktivitis („Heuschnupfen“), Asthma bronchiale die häufigsten chronischen Krankheiten bei Schulkindern darstellen (Prendergast et al. 1997, Robke 1999, MASGF Brandenburg 2004, Ravens-Sieberer et al. 2003). Defizite in der psychischen Gesundheit, wie zum Beispiel Entwicklungsstörungen (Teilleistungsstörungen, wie Legasthenie und Dyskalkulie), Entwicklungsdefizite im Sprachbereich und Entwicklungsrückstände der Grob- und Feinmotorik, worunter am häufigsten Koordinationsstörungen zu verstehen sind (Straßburg et al. 2003, Krombholz 2005, MASGF Brandenburg 2004). Des weiteren werden die psychischen Ressourcen auch durch Störungen oder manifeste Erkrankungen eingeschränkt, wie zum Beispiel Angststörungen, aggressiv-dissoziale Störungen, depressive Störungen und
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ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom), die vielfach kombiniert vorliegen (Wittchen 2000, Steinhausen 2002, Ihle & Esser 2002). Mängel im Gesundheitsverhalten, primär unausgewogene oder falsche Ernährung und Bewegungsmangel, was bereits bei SchulanfängerInnen häufig zu Übergewicht und Adipositas führt (MASGF Brandenburg 2004, BFSFJ 2002). Interessanterweise korreliert das Übergewicht auch deutlich mit Defiziten in der psychischen und der Entwicklung der Grobmotorik oder Koordination. Umgekehrt besteht ein Problem der Untergewichtigkeit bei Schulanfängern durch chronische Erkrankungen, häufige Infektanfälligkeit, Appetitmangel oder durch Störungen der psychosozialen Entwicklung (MASGF Brandenburg 2004).
Welche externen Ursachen haben die importierten Gesundheitsprobleme?
Es gehört mittlerweile zum weithin akzeptierten wissenschaftlichen Wissensfundus, dass für Gesundheitsprobleme neben genetischen Faktoren vor allem vielfältige soziale Ursachen verantwortlich sind, wobei eine immer größere Zahl an ForscherInnen in der sozioökonomischen Ungleichheit in der Gesellschaft den wichtigsten Faktor sieht. Demnach wird die Gesundheit durch eine Kumulation aus Nachteilen, die mit Armut, Arbeitslosigkeit, niedrigem Bildungsniveau der Eltern, ausländischer Nationalität, beengten Wohnverhältnissen und dem Status der Ein-Eltern-Familie zusammenhängen, besonders beeinträchtigt (Taylor et al. 2000, Hashima & Amato 1994, Foster 2002, Due et al. 2003, Costello et al. 2003, McLeod & Nonnemaker 2000, Duncan & Brooks-Gunn 1997). Eine kaum weniger bedeutende Determinante stellt jedoch auch die Familie dar: Instabilität der Familie, Vernachlässigung und Unerwünschtheit des Kindes, mangelnde Versorgung, Suchterkrankungen der Eltern, wenige oder einseitige Anregungen, Gewalthandlungen oder Überforderung durch zu hohe Erwartungen führen bei Kindern und Jugendlichen zu gesundheitlichen Belastungen und verweigern den Schutz, den sie benötigen würden (Ellsäßer 2002, Luoma et al. 2001, Pettersen & Albers 2001). Auch ökologische Faktoren wie die Umweltbedingungen der Wohngebiete (ökologische Ungleichheit), besonders die Schadstoff- und Lärmbelastungen durch Straßenverkehr, spielen für die Gesundheit in immunologischer, endokriner und neurologischer Hinsicht eine wichtige Rolle (WHO 2003, Schettler et al. 2000, Repetto et al. 1996, siehe auch Bolte & Kohlhuber in diesem Band). Nicht zu vergessen die Beschaffenheit des Wohnraumes (Größe und Lage der Wohnung, Qualität der Bausubstanz etc.), was nicht nur für die Entstehung von Krankheiten (insbesondere Allergien), sondern auch für Verhaltensstörungen wie Hyperaktivität, Aggression oder Oppositionsstörungen (jeweils unabhängig von der Qualität der Familienbeziehungen!) von Bedeutung ist (Mielck & Heinrich 2002, Peeples & Loeber 1994). 4
Warum kann die Schule die importierten gesundheitlichen Unterschiede nicht einfach ausblenden?
Der methodisch geführte Umgang mit solchen vulnerablen Gruppen und das Angebot von Lernprozessen, die für die SchülerInnen zur Gesundheitschance werden anstatt zum weiteren Gesundheitsrisiko, sind für die Schule heute zwingende Aufgabenstellungen, da die
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Zahl der SchülerInnen, die dem klassischen Unterrichtsmodell nicht mehr folgen wollen oder können, stark zugenommen hat. Diesem Faktum können sich Schulsysteme heute nicht mehr verschließen, auch wenn die Versuchung nach wie vor groß ist, sich der Probleme mit der klassischen Attributionsraffinesse zu entledigen, wonach alle günstigen Verhaltensweisen von SchülerInnen der Schule als Erziehungsleistung, alle ungünstigen dem Kind selber, seinen Eltern, den Medien oder gleich „der Gesellschaft“ als irgendein Mangel zugeschrieben werden. Dieses Muster scheint nur so lange legitimatorisch funktioniert zu haben, als die Probleme die Ausnahme, Erziehungserfolge jedoch der Normalfall waren. Davon scheinen wir uns heute in Zeiten von Bildungsexplosion und PISA jedoch mehr und mehr zu entfernen. Nicht nur weisen offizielle Statistiken einen starken Anstieg an mentalen Problemen bereits im Kindes- und Jugendalter aus (Steinhausen 2002). Auch die Klagen von Pädagogen über die Zunahme an SchülerInnen mit störenden Verhaltensauffälligkeiten sind mittlerweile amtlich (Niedersächsisches MSFFG 2005). Die PISA-Studien (OECD 2004) haben sowohl für Deutschland als auch für Österreich einen sehr ernüchternden Befund erhoben, der wohl dahingehend zu interpretieren ist, dass die Jugend nicht mehr in ausreichendem Maße von den Investitionen in Bildung und von den im Bildungssystem gemachten Angeboten profitieren kann. Und schließlich ist auf jene Fälle von Gewalthandlungen und Mordtaten im Schulkontext hinzuweisen, die als die Spitze des Eisbergs in den Massenmedien großen Widerhall gefunden haben. Vor allem das Beispiel der Berliner Rütli-Schule zeigt eindrücklich, warum die Schulen diesen Problemen nicht mehr ausweichen können: Es ist unter gewissen Bedingungen, die in manchen Schulen hochkonzentriert, in vielen anderen aber in ausreichend hohem Maße gegeben sind, die Durchführung eines Regelunterrichts klassischer Prägung nur mehr sehr eingeschränkt möglich. Ein immer größerer Teil der Zeit und der Energie der Lehrenden wird dafür benötigt, die Bedingungen für Unterricht herzustellen (Moser et al. 2003, Riedo 2000), wobei dann auch noch häufig Formen zum Einsatz kommen, die das Problem eher verstärken als lösen.
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Warum haben die Schulen so große Schwierigkeiten, sich auf die gesundheitlichen Probleme der SchülerInnen einzustellen?
Eine der Kernaussagen der systemtheoretischen Analyse des Erziehungssystems moderner Gesellschaften durch Niklas Luhmann (Luhmann 2001, 2004) stellt fest, dass eine Voraussetzung für die Autonomisierung der Erziehung im Zuge der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft darin besteht, einen eigenen, erziehungsspezifischen Startpunkt zu setzen, ab dem alle im System relevanten Ereignisse dem System selbst zugeschrieben und als Systemereignis behandelt werden können. Dadurch erscheint das System für sich und andere als autonom und selbstaktiv und nicht als ein Vollzugsorgan anderer Systeme, namentlich der Politik. Gerade das Freisetzen von politischer Einflussnahme war und ist eine wesentliche Bedingung dafür, dass Eltern ihre Kinder überhaupt dem Staat anvertrauen. Das moderne Erziehungssystem setzt diesen Startpunkt, indem es bei Schuleintritt alle aus Sicht der Pädagogik nicht relevanten Unterschiede an den Kindern ausblendet, dadurch eine künstliche Gleichheit der Kinder erzeugt und allen Gleichbehandlung in Bezug auf die pädagogischen Interventionen garantiert: alle SchülerInnen bekommen den gleichen Unter-
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richt.2 Ab nun kann das System alle Fortschritte des Kindes sich selbst als Erziehungserfolg verrechnen, deren Ausbleiben dem Kind und seiner Umwelt. Ähnlich wie auch die Medizin alle Heilungserfolge dem ärztlichen Handeln, deren Ausbleiben der Besonderheit des Patienten oder der Situation zuschreibt. Um so vorgehen zu können, werden besonders schwerwiegende Unterschiede in der Intelligenzleistung oder in der individuellen psychischen und physischen Entwicklung in Schuleignungstests erhoben, um Kinder mit ungünstigen Voraussetzungen in den vorschulischen oder sonder- und heilpädagogischen Bereich zuweisen zu können.3 Für alle anderen geht man davon aus, dass sie auch tatsächlich schulfähig, d.h. kognitiv, psychosozial und körperlich in der Lage sind, am Unterricht teilzunehmen und positive Lernleistungen zu erbringen. Das heißt: Alle, die genommen wurden, können es grundsätzlich schaffen, wenn sie nur wollen. Schaffen sie es nicht, lag es am Mangel an Fleiß und Ehrgeiz. Um dieses Wollen zu gewährleisten, wird ihm mittels ständiger Prüfungen und Tests auf die Sprünge geholfen: indem regelmäßiges Versagen zur Beendigung der Schulkarriere und damit zu einem Selektionseffekt führt, der für das gesamte weitere Leben unwünschbare Folgen hat, wird die Annahme des Wissens mit dem Versprechen einer guten Zukunft belohnt. Luhmann schlägt daher vor, den Code, auf dessen Basis die Schule ihre Autonomie operativ herstellt, als bestanden/nicht bestanden zu fassen. Die stetige Wiederholung der impliziten Drohung, Lernversagen als Faulheit und als abweichendes Verhalten individuell-schuldhaft zugeschrieben zu bekommen und dafür mit verringerten Lebenschancen und einem niedrigen sozialen Status büßen zu müssen, soll bei den SchülerInnen die Motivation herstellen, sich mehrere Stunden täglich an Kommunikationen zu beteiligen, die weder angenehm noch interessant genug sind. Diese Funktionsform der Schule ist heute offenkundig an ihre Grenzen geraten. Die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte taugt nicht mehr als Drohkulisse, denn weder ist man heute bei geringer schulischer Qualifikation notwendigerweise zu Fabrikarbeit und niederen Diensten verurteilt noch garantieren Hochschulabschlüsse auch schon hoch bezahlte Berufspositionen. Einerseits ist das Sozialkapital in Form von Netzwerken und Seilschaften für Karrieren ebenso wichtig wie Bildung (Bourdieu 1987), andererseits ist die Zukunft insgesamt so ungewiss und undurchschaubar geworden, dass sich die Schule kaum mehr in glaubhafter Weise als Kupplung zwischen Heute und Morgen positionieren kann. Je mehr die SchülerInnen dieses realisieren, desto sinnloser kann ihnen der Aufenthalt in der Schule erscheinen, desto mehr kämpft die Schule mit einem grundlegenden Motivationsproblem, das sie nun auch intern als Systemleistung lösen muss. Je mehr die Schule dabei auf die Neigungen, Interessen und Fähigkeiten der einzelnen SchülerInnen zielt, um so die Teilnahme an Lehr-/Lernprozessen zu gewährleisten – was wäre eine Alternative? – desto mehr werden die realen Unterschiede zwischen den Kindern in den erworbenen bzw. entwickelten psychischen und begabungsmäßigen Voraussetzungen sichtbar und desto mehr entzieht die Schule der Idee der Gleichbehandlung im System ihre Grundlagen. Denn nun müssen Unterschiede zwischen den SchülerInnen kommuniziert 2 3
Die Tatsache, dass Schichtunterschiede über die Hintertüre der Mehrstufigkeit unserer Schulsysteme (Haupt-, mittlere, höhere Schule) wieder hereinkopiert werden, widerspricht dem nicht. Für diese Gruppen werden dann zusätzlich vielfältige Fördermaßnahmen im außerschulischen Bereich zur Verfügung gestellt (logopädische, physiotherapeutische, kinderpsychiatrische Angebote, Familien- und Erziehungsberatung, etc.).
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werden, müssen für immer mehr Einzelinteressen und Sonderfälle, ob Verhaltensauffälligkeit, Lernschwierigkeit, mangelnde Deutschkenntnisse oder Hochbegabung, Sonderlösungen bereit gestellt werden. Übrig zu sagen, dass es bei den jetzt auf den Monitoren des Systems auftauchenden Unterschieden nicht allein um die Verschiedenartigkeit von Interessen geht – das wäre geradezu ein Asset –, sondern vor allem um Defizite in Gesundheit, Wohlbefinden und psychosozialem Entwicklungsstand, wodurch gerade die grundlegenden Fähigkeiten der Kinder beeinträchtigt werden, die für die Teilnahme an traditionellen Unterrichtsformen benötigt werden: Konzentration, Geduld, Gefühlskontrolle, Frustrationstoleranz, Soziabilität und die Fähigkeit, überhaupt anhaltende Interessen für irgendetwas zu entwickeln (Brooks-Gunn & Markman 2005, Haskins & Rouse 2005). Die Schule reagiert auf diese Situation im Regelfall mit immer mehr Notmaßnahmen und Kriseninterventionen, Projekten und zusätzlichen Angeboten, die einerseits die Gesundheitsprobleme bei SchülerInnen nicht beheben, geschweige denn diesbezügliche Unterschiede ausgleichen, andererseits zusehends zur Überfrachtung des Unterrichts mit Themen und zur Überlastung von LehrerInnen und SchülerInnen gleichermaßen führt.
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Wie hängt die Schule mit der Gesundheit von SchülerInnen zusammen?
Schulen sind sich häufig ihrer Rolle in der Verursachung von Gesundheitsproblemen bei SchülerInnen und LehrerInnen nicht bewusst. Sie können aber auf verschiedene Weise ein Gesundheitsrisiko darstellen: aufgrund (a) ökologischer Bedingungen (Hygiene, Raumluft, Mobiliar, Lärm etc.), (b) psychosozialer und organisationaler Bedingungen sowie (c) durch die Lehr-/Lernprozesse selbst, die mit schädlicher Über- oder Unterforderung verbunden sein können.
6.1
Ökologische Beschaffenheit der Schule
Bereits das Raumklima, die Luftqualität und der Lärmpegel üben einen negativen Einfluss auf Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsvermögen von SchülerInnen und LehrerInnen aus (Berry 2002). Ebenso stellen chemische und biologische Kontaminationen innerhalb des Schulgebäudes (Schimmel, Staubmilben etc.) gesundheitliche Risiken dar. So sind bestimmte Pestizide, wie Organophosphate und Carbamate dafür bekannt, dass sie sowohl Asthma (Box & Lee 1996, WHO 2003) als auch genetische Schäden verursachen können, die wiederum in Verbindung mit neurologischen Störungen, wie zum Beispiel ADHS stehen (Eskenazi et al. 1999, Winrow et al. 2003, Whitney et al. 1995). Eine effektive Gestaltung der schulischen Ausstattung verfügt dagegen über gute hygienische Bedingungen, hohe Luftqualität, Lärmschutz, gute Lichtverhältnisse, beruhigende Farben und ein angenehmes Raumklima (Berry 2002).
Strategien der Schule zur Reduktion gesundheitlicher Unterschiede
6.2
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Psychosoziale und organisationale Bedingungen der Schule
Auch das Schulklima trägt zur Gesundheit von SchülerInnen bei. Während ein positives Schulklima das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten reduziert und einen günstigen Einfluss auf die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten von SchülerInnen ausübt (Kuperminc et al. 2001, Nutbeam et al. 1993, Samdal et al. 2000), spielt ein negatives Schulklima (schlechtes Klassenklima, mangelndes Vertrauensverhältnis zwischen den Schulpartnern, hoher Aggressionspegel in der Klasse) nachweislich eine signifikante Rolle für die Entstehung von gewalttätigem Verhalten (Thomas et al. 2006, Natvig et al. 2001, Schäfer & Korn 2001). Darüber hinaus hat ein negatives Klima auch einen starken Einfluss auf den Tabakund Alkoholkonsum (Schmidt et al. 2001). Soziale Beziehungen haben einen stresspuffernden Effekt, wenn sie eine unterstützende, integrierende und einbindende Qualität besitzen (Cole et al. 1997, Gore & Aseltine 1995). So sind SchülerInnen, die ausreichend Unterstützung und Akzeptanz durch ihren MitschülerInnen und LehrerInnen erfahren, seltener von psychosomatischen Symptomen und Depression betroffen (Cheung 1995, Natvig et al. 2003) und greifen seltener zur Zigarette (Botvin 1999). Hingegen begünstigt ein negatives Lehrer-Schüler-Verhältnis, ein ungünstiges soziales Klima in der Klasse und eine niedrige Schulzufriedenheit eine Motivlage, die zum Rauchen beiträgt. Gleiches gilt für den Alkoholkonsum: Jugendliche, die nur ungern zur Schule gehen und die ihre LehrerInnen als unfreundlich, unfair oder wenig hilfsbereit erleben, trinken signifikant häufiger regelmäßig Alkohol (BMGF & LBIMGS 2003). Das Auftreten von gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen kann insgesamt als eine Reaktion auf eine Schulumwelt verstanden werden, die den Bedürfnissen der SchülerInnen nicht gerecht wird (Baumeister & Leary 1995). Teils auslösend, teils verstärkend ist die Schule auch für das Auftreten von psychiatrischen Diagnosen mit verantwortlich. Rund 10% der Schulkinder leiden unter Sozialphobie, Schulangst oder bleiben der Schule gezielt fern (Steinhausen 2002). Kinder, die unter Schulangst leiden, fürchten sich vor Ausgrenzungen und Diskriminierungen durch MitschülerInnen oder LehrerInnen. Die Sozialphobie beginnt zumeist im Alter von 11 bis 15 Jahren und hängt eng mit Schulerfahrungen zusammen (BMGF & LBIMGS 2004). 5% bis 7% aller Kinder und Jugendlichen äußern eine aggressiv-oppositionelle Verhaltensstörung, die sich ebenfalls im Schulkontext exprimiert. Typisch für diese Störung sind aggressives Verhalten gegenüber anderen, Betrug, Vandalismus, Schuleschwänzen etc., was auch eine spätere Straffälligkeit wahrscheinlich macht (Steinhausen 2002, Funk & Passenberger 1997, Schäfer & Korn 2001). Auch das erlebte Ausmaß an Mitsprache, sowohl in schulischen als auch den Unterricht betreffenden Fragen, wirkt sich nicht nur auf die Anpassung der SchülerInnen an die Schule (Mortimore 1998), sondern auch auf ihr Gesundheitsempfinden, ihr Wohlbefinden und ihr Gesundheitsverhalten aus (Samdal et al. 1999, Samdal & Dür 2000, Wold & Currie 2001).
6.3
Lehr-/Lernprozesse
Nicht überraschend ist, dass Gesundheit (Roeser et al. 2000, Samdal & Dür 2000), Gesundheitsverhalten (Seiffge-Krenke et al. 2001) und das allgemeine Wohlbefinden von SchülerInnen (Coleman & Collinge 1991, Mortimore 1998, Schrunk & Zimmerman 1994) auch
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von ihrem Schulerfolg und dem erlebten Ausmaß an Belastungen bestimmt wird. Je weniger es den SchülerInnen in der Schule gefällt, umso eher haben sie eine schlechte Performance und fühlen sich durch das, was in der Schule von ihnen verlangt wird, überfordert (Moon & Callahan 1999), wobei dieser Zusammenhang auch in die andere Richtung gedacht werden kann (Roeser et al. 2000). Ergebnisse der internationalen HBSC-Studie (Currie et al. 2004) zeigen, dass sich in Österreich und Deutschland rund 10% bis 30% der 11- bis 15-jährigen SchülerInnen – je nach Alter und Geschlecht – durch die Schule stark belastet fühlen (vgl. Samdal et al. 2004). Dieser Schulstress führt sowohl zu einem vermehrten Auftreten psychosomatischer Symptome als auch zu einem vermehrten Suchtmittelkonsum (Natvig et al. 1999, Torsheim & Wold 2001). Das subjektiv erlebte Ausmaß an Belastung hängt einerseits davon ab, ob die Anforderungen des Unterrichts den eigenen Fähigkeiten entsprechen, andererseits aber eben auch davon, inwieweit die SchülerInnen selber Einfluss auf die Gestaltung des Unterrichts und der eigenen Arbeitsbedingungen haben (Steptoe 1991, Wentzel 1998). So spielt ein autoritärer, restriktiver Unterrichtsstil nachweislich eine signifikante Rolle für die Entstehung von gewalttätigem Verhalten (Thomas et al. 2006, Natvig et al. 2001, Schäfer & Korn 2001). Im Jahr 2002 waren an österreichischen Schulen rund 30% der 11-, 13- und 15jährigen SchülerInnen entweder als Opfer, TäterInnen oder aber in beiden Rollen in Gewalthandlungen verstrickt. Diese reichen von körperlicher Gewalt bis hin zu subtileren Formen des Schikanierens (z.B. Ausgrenzung, üble Nachrede, soziale Isolierung etc.) (Petermann 1995), wobei die Opfer dieser Gewaltattacken in der Folge häufig unter Stress, Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhter Ängstlichkeit, Leistungsabfall, psychosomatischen Beschwerden leiden oder sogar eine Schulangst entwickeln (Hodges & Perry 1996, Olweus 1993). Kinder und Jugendliche, die aus „Unterschichtfamilien“ stammen, treten dabei deutlich häufiger sowohl als Opfer als auch als TäterInnen derartiger Gewalthandlungen in Erscheinung.
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Mit welchen Strategien begegnen die Schulen den importierten und selbsterzeugten Gesundheitsunterschieden bei SchülerInnen?
Da die gesundheitliche Ungleichheit in Schulen Folgeprobleme aufwirft, welche den schulischen Kernprozess gefährden, haben viele Schulen und die Schulsysteme insgesamt in den vergangenen zwei Dekaden eine Vielzahl an Strategien und Maßnahmen entwickelt, die unter verschiedenen Titeln Ursachen beseitigen, Folgeprobleme abmildern und insgesamt die Qualität der Schule steigern sollen. Diese reichen von punktuellen Interventionen zur Krisenbewältigung in Einzelfällen bis zu nachhaltigen, hochkomplexen, die gesamte Schule und alle Prozesse umgreifenden Maßnahmen. Eine mögliche Typologie dieser Interventionen wird im Anschluss an und in Weiterführung von Unterscheidungen der WHO (WHO 2006a) in Tab. 24.1 angeboten.
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Strategien der Schule zur Reduktion gesundheitlicher Unterschiede
Tabelle 24.1: Typologie der schulischen Interventionen zur Reduktion von gesundheitlicher Ungleichheit Interventionstyp
Merkmale
Beschreibung/Beispiel
Einzelmaßnahme Individuum
fallorientiert, themenspezifisch, spontan, punktuell
Akute Krisenintervention für einen Schüler mit einem Alkoholproblem (Eltern verständigen)
Einzelmaßnahme für Zielgruppe
problemorientiert, themenspezifisch, informell geregelt
bei Auftreten eines Falles Unterrichtseinheit zum Thema Alkohol
Projekt
themenspezifisch, zielorientiert, zeitlich begrenzt, gruppenbezogen
klassische Schulprojekte zur Ernährung, Bewegung, Rauchen etc.
Organisationsentwicklung Kultur (Regeln, Policies, Beziehungen)
zielorientiert, zeitlich unbegrenzt, themenspezifisch, fächerübergreifend, nachhaltig Interventionen in strukturelle Gegebenheiten der Schule, in Kultur (Regelbildung), umfassend und nachhaltig, partizipativ
Organisationsentwicklung Kernprozess (Unterricht)
Interventionen in Lehr/Lernprozesse, partizipativ und empowernd, thematisch unspezifisch
Programm
Programm zur gesunden Ernährung: das gesunde Schulbuffett; Förderunterricht Regelentwicklung (Regel zur rauchfreien Schule, Regel zu Gewalt); Kulturentwicklung (Mediatoren, Mentoren, soziales Lernen) Veränderung des Kernprozesses Unterricht in gesundheitsförderlicher Richtung, z.B. Einführung von offenem, eigenverantwortlichem Lernen nach Klippert
Quelle: eigene Abbildung
Einzelmaßnahmen Der häufigste Typus von Interventionen im Schulkontext ist wahrscheinlich die Einzelmaßnahme. Das entspricht der noch immer vorherrschenden Selbstbeschreibung von Schulen, dass der Alltag im Grunde intakt sei und Probleme nur Ausnahmen und Abweichungen darstellten. Die Einzelmaßnahme ist daher zumeist fallspezifisch und wird in einer akuten Situation häufig reaktiv abgerufen oder gar erst entwickelt. Sinn der Einzelmaßnahme ist es, für einen akuten Krisenfall möglichst schnell eine Lösung anzubieten und das Problem zu eliminieren, ohne sich tiefer gehend damit auseinander setzen zu müssen. Beispiele sind schulpsychologische Beratungsangebote, kurzfristige Unterrichtseinheiten zum Thema Drogen, Alkohol etc. Projekte Ein zweiter Interventionstypus mit inflationärer Verbreitung im Schulkontext ist das Projekt. Gegenüber der Einzelmaßnahme haben Projekte den Vorteil, dass sie eine größere Gruppe von (potenziell) betroffenen Personen einbeziehen und das gegebene Thema sowohl breit wie auch in Tiefenschichten behandeln können. Gleichzeitig können sie Querbezüge zu anderen Themen herstellen und damit ein komplexeres Bild (etwa von „Sucht“) vermitteln. Außerdem können Projekte neben Wissen auch soziale Kompetenzen vermitteln (BZgA 2005). Dennoch sind Projekte immer zeitlich begrenzt, wobei die durchschnittliche Projektdauer in Schulen von wenigen Tagen oder Wochen eher gering ist (Dietscher & Dür 2005, Dietscher et al. 2004).
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Programme Unter Programmen werden zielorientierte, themenspezifische und fächerübergreifende Interventionen verstanden, die eine dauerhafte Verbesserung eines bestimmten Aspektes der Schule oder des Schülerverhaltens bewirken sollen. Im Gegensatz zu Projekten, die meist nur lose an Strukturen und Prozesse der Schule angeschlossen sind, greifen Programme in diese ein und sind schon von daher nachhaltiger. Beispiele sind etwa ein Ernährungsprogramm, das verschiedene Module verbindet wie Unterricht über gesunde Ernährung, Einbezug der Eltern, Schaffung eines gesunden Schulbuffetts etc. Auch Förderunterricht, der dazu dient, Defizite auszugleichen und ein mögliches Schulversagen zu verhindern, wäre ein Schulprogramm. Im Bedarfsfall wird der Förderunterricht auch als ein verpflichtendes Angebot der Schule etabliert (z.B. zusätzlicher Deutschunterricht für Kinder mit anderen Muttersprachen; Kahlhammer 2004). Organisationsentwicklung als Kultur- und Strukturentwicklung Hier geht es um die Entwicklung und Umsetzung von festen Regeln und standardisierten Vorgangsweisen (Policies) zu bestimmten Bereichen an der Schule wie beispielsweise Gewalt, Rauchen, Bewegung, Fragen der Schulordnung. Policies verändern nicht nur den Umgang mit solchen konkreten Themen und Problemen, sondern, indem sie etwas partizipativ entwickeln, verbindlich festlegen und gegenseitig einforderbar machen, auch die Kultur der gegenseitigen Anerkennung und des Zusammenlebens. Gleichzeitig zielen Policies auch auf strukturelle Veränderungen ab, wenn diese für die Umsetzung einer Regel oder einer Zielsetzung gefordert sind. So ist die Schaffung eines gesunden Schulbuffetts die Voraussetzung für die Umsetzung des Zieles, dass die Kinder während der fünf oder sechs Schulstunden regelmäßig essen und trinken sollen. Organisationsentwicklung als Qualitätsentwicklung Bei der Organisationsentwicklung im Bereich des Unterrichts als weitest gehende Maßnahme in der Schule werden Interventionen gesetzt, die den Kernprozess des Lehrens und Lernens verändern sollen. Letztlich geht es dabei um eine Qualitätsentwicklung, weil von der Verbesserung des Kernprozesses auch eine Verbesserung der Ergebnisse – sprich der Lernleistungen der SchülerInnen – erwartet werden kann. Sofern die Schule dabei auf die Konzepte und Methoden der Gesundheitsförderung setzt, werden die Lehr-/Lernprozesse in Richtung Partizipation und Empowerment verändert. Ein Beispiel dafür ist die Einführung von offenen Lernformen wie etwa das Eigenverantwortliche Arbeiten nach Klippert (2002). Schulentwicklung im Sinne der Gesundheitsförderung Die „Gesundheitsfördernde Schule“ ist das zentrale Konzept der Gesundheitsförderungsstrategie der WHO im Schulbereich. Gesundheitsförderung als ganzheitliches Konzept benutzt alle genannten Interventionstypen und verbindet sie zu einem umfassenden Konzept der Schulentwicklung. Dabei gehen die gesundheitsförderlichen Ansätze der Organisationsentwicklung von der Schule nicht nur als Ort des Lernens aus, sondern wollen der Schule insgesamt eine „neue Dimension“ (Barkholz & Paulus 1998) verleihen, indem sie das Schulmanagement, die Öffnung der Schule nach außen, die Gestaltung des Unterrichts unter gesundheitsförderlichen Gesichtspunkten, die Gestaltung der ökologischen und psychosozialen Bedingungen der Schule mit einander verbinden. Mit der Gesundheitsfördernden Schule soll ein Entwicklungsprozess eingeleitet werden mit dem Ziel, ein Schulsetting
Strategien der Schule zur Reduktion gesundheitlicher Unterschiede
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zu schaffen, das zur Stärkung der gesundheitsbezogenen Kompetenzen der SchülerInnen beiträgt und die auf die Schule bezogene Gesundheit aller Beteiligten fördert, wobei die Steigerung der Erziehungs- und Bildungsqualität der Schule übergeordnetes Ziel ist (Paulus & Brückner 2000). Letzteres deckt sich mit den tief greifenden Umorientierungen in den basalen pädagogischen Operationen der Schulen, wie sie auch in Forderungen der Zukunftskommission des Österreichischen Bildungsministeriums (Haider et al. 2005) und der Empfehlung der deutschen Bildungskommission (Heinrich Böll-Stiftung 2002) laut wurden, welche die Umstellung der pädagogischen Programme auf Individualisierung des Unterrichts fordern.
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Wie erfolgreich sind diese Strategien zur Kompensation und Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit?
Will man den Erfolg dieser verschiedenen Strategien bewerten, steht man zunächst vor dem Problem, dass viele Maßnahmen an Schulen sich aufgrund fehlender Evaluationen einer Bewertung entziehen, so dass noch immer ein großer Forschungsbedarf in Bezug auf die Effektivität der Gesundheitsförderung in den Schulen gegeben ist (WHO 2006a). Darüber hinaus ist es aus methodischer Sicht schwer, bei der vorliegenden Heterogenität der schulischen Initiativen eine Basis für Vergleiche zu finden und Qualitätsstandards abzuleiten. Trotz dieser Schwierigkeiten lassen sich Ergebnisse aus aktuellen Evaluationen (vgl. WHO 2006a, WHO 2006b, Dietscher & Dür 2005, Erlacher 2002, Paulus 2003, Burgher et al. 1999, Denman et al. 2001, IUHPE 1999) finden, die sich nach der dargestellten Typologie der gesundheitsfördernden Maßnahmen in der Schule folgendermaßen zusammen fassen lassen:
Die Gesundheitsfördernde Schule scheint gegenüber der traditionellen Gesundheitserziehung und auch gegenüber den „Life-Skills“-Ansätzen die geeignetere Strategie zu sein, Gesundheitsthemen nachhaltig wirksam in der Schule zu verankern (Burgher et al. 1999, IUPHE 1999, Denman et al. 2001). Das kann jedoch nur dann erfolgreich geschehen, wenn Gesundheit nicht ein zusätzlich angelagertes Thema ist, sondern wenn sie die Schule durchdringt und in ihrem Charakter verändert. Und das passiert durch einen Organisations- und Schulentwicklungsprozess (Johannsen 2003). Die erfolgreichen gesundheitsfördernden Maßnahmen in Bezug auf die (psychische) Gesundheit und das Gesundheitsverhalten von Jugendlichen (besonders Ernährung und Bewegung) sind eher komplex, multifaktoriell, die ganze Schule umfassend, lang andauernd und beinhalten übergreifende Aktivitäten in verschiedenen Bereichen (Curriculum, Schulumwelt und Gemeinde; WHO 2006). So sind zum Beispiel Projekte zur Suchtprävention nicht oder nur wenig effektiv, aber strukturelle Veränderungen in der Schule („Rauchfreie Schule“) sehr wohl (Faggiano et al. 2005, Wold & Currie 2001, Dür et al. 2001, Wold et al. 2000). Die überwiegende Mehrzahl von Projekten an den Schulen – und das gilt auch für die Gesundheitsfördernden Schulen! – sind jedoch zeitlich begrenzte Maßnahmen in einzelnen Klassen, die entweder gesundheitsrelevantes Wissen oder entsprechende Kompetenzen vermitteln sollen (Dietscher & Dür 2005, Erlacher 2002, WHO 2006a). Diese Einzelprojekte, vor allem im Bereich der Suchtprävention, gehören aber bekann-
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termaßen zu den ineffektivsten (WHO 2006a) und stoßen dann an eine Grenze, wenn es gilt, den schulischen Alltag insgesamt gesundheitsförderlicher zu gestalten. Als ein wichtiger determinierender Faktor ist das persönliche Engagement der einzelnen Lehrkraft anzusehen (Johannsen 2003). Es ist derzeit ungeklärt, ob gesundheitsfördernde Projekte an Schulen überhaupt nachhaltig effektiv sein können, wenn sie nicht gleichzeitig von Änderungen in den Lehr-/ Lernprozessen begleitet werden. Ein Alarmsignal in diese Richtung liefern die Ergebnisse des sehr aufwändigen „Hutchinson Smoking Prevention Project“ (Petersen 2000). Dieses fand nach 15 Jahren stetiger, multifaktorieller und komplexer Interventionen zur Suchtprävention in Schulen keinerlei Unterschiede in den Raucherprävalenzen zwischen der nunmehr 20-jährigen Interventions- und der gleichaltrigen Kontrollgruppe. Da die meisten Organisationsentwicklungsmaßnahmen zur Gesundheitsförderung nicht in den Kernprozess der Schule, nämlich den täglichen Unterricht intervenieren, sondern entweder die Organisationsebene der Schule ansprechen oder aber – wenn sie auf Klassenebene stattfinden – nicht gut in die alltäglichen Routinen integriert sind, sondern zusätzliche Projekte und Aktivitäten darstellen (WHO 2006a, Dietscher & Dür 2005), bieten ihre Evaluationen nur sehr vage Informationen, welche Rolle die Kernprozesse des Unterrichts an erfolgreichen Interventionen spielen (Clift & Jensen 2005). Es ist aber bekannt, dass Interventionen zum Empowerment von Jugendlichen ihre Selbstwirksamkeit verstärken, zur Stärkung von Gruppen führen, die Partizipation an Aktivitäten, wie zum Beispiel sozialen oder politischen Projekten erhöhen und vor allem (!) zu einer Verbesserung der psychischen Gesundheit und der Schulperformance führen (WHO 2006b). Hier scheint auch der Schlüssel zur Kompensation von Gesundheitsunterschieden und gesundheitlichen Benachteiligungen bestimmter Schülergruppen zu liegen.
Schlussbetrachtung
Eine vorsichtige Bewertung dieser Evaluationsergebnisse legt nahe, dass die vielen verschiedenen Aktivitäten und Notfallprogramme der Schulen im Umgang mit gesundheitlichen Unterschieden und deren Folgen bei Kindern und Jugendlichen keinesfalls hinreichend sind. Was Sinn macht und Not tut, ist die Einführung von Strategien des Empowerments, die den SchülerInnen helfen, mehr Kontrolle über sich und über ihr Lernen zu gewinnen. Das erfordert allerdings eine tief greifende Umgestaltung von Unterrichtsprozessen und daher eine breite, die gesamte Schulorganisation erfassende Organisationsentwicklung, die auch die Kooperation zwischen den LehrerInnen, die Einrichtung von Jahrgangsklassen, die sture Abfolge der Stundenpläne, die monotone Abfolge von Unterrichts- und Pausenzeiten, das Verhältnis von Unterrichts- und Betreuungszeiten u.v.m. in Frage stellt und neu überdenkt. Gesundheitsförderung bietet sich dafür als leitendes oder begleitendes Konzept und als Methode an, hat aber bislang nicht den Anklang gefunden, den sie verdiente. Im Österreichischen Netzwerk der Gesundheitsfördernden Schulen befinden sich etwa 110 von etwa 6.000 Schulen, was einem Anteil von nicht einmal 2% entspricht. Viele von diesen bewegen sich noch dazu auf dem Niveau von Einzelmaßnahmen und (Klein-)Projekten und sind von einer ganzheitlichen Umsetzung weit entfernt. Tröstlich ist nur, dass es auch andere
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Schulen gibt, die diesen Zielen inzwischen sehr viel näher gerückt sind, ohne unter der Fahne der Gesundheitsförderung zu segeln. Diese marginale Positionierung der Gesundheitsförderung in der Schule hängt ganz entscheidend damit zusammen, dass der kausale Zusammenhang von Gesundheit und Lernleistung, mithin von Gesundheitsförderung und Schulentwicklung noch unzureichend erforscht, erkannt und akzeptiert ist (vgl. dazu Konu & Lintonen 2006).
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Kooperationsverbund zur Realisierung der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten in Deutschland
Frank Lehmann
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Ausgangslage und grundlegende Strategie
Sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit ist eine große Herausforderung für die Prävention und Gesundheitsförderung. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) nimmt diese Herausforderung an durch Analyse des Handlungsbedarfs und bedarfsgerechte Intervention in folgenden Bereichen:
Dokumentation vorhandener Regelmaßnahmen und Projekte bundesweit, Verstärkung der Kooperation und Vernetzung auf europäischer und deutscher Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sowie partizipative Qualitätsentwicklung im Bereich „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“.
Sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit ist in Deutschland nachgewiesen für gesundheitsrelevante Verhaltensweisen, viele Erkrankungen und Mortalität. So haben Männer aus der niedrigsten Einkommensgruppe eine um 10,8 Jahre kürzere mittlere Lebenserwartung als Männer aus der höchsten Einkommensgruppe. Bei Frauen beträgt dieser Unterschied 8,4 Jahre. Für die gesunden Lebensjahre beträgt dieser Unterschied sogar 14, 3 Jahre bei Männern und 10,2 Jahre bei Frauen (Lampert et al. 2007, siehe auch Babitsch et al. in diesem Band). Einen Beitrag zur Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheit leisten Arbeitsbedingungen, Wohnbedingungen, gesundheitliche Versorgung, Vorsorgeverhalten und gesundheitsgefährdendes Verhalten. Dies bedeutet, dass Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten nicht nur eine Aufgabe des Gesundheitswesens sondern vieler Politikbereiche ist. Besonders großen sozialen und gesundheitlichen Belastungen sind Personen mit sehr niedrigem Einkommen, beruflichem Status und/oder Schulbildung, Personen, die in sozialen Brennpunkten wohnen, Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Erwachsene und Kinder in kinderreichen Familien, Menschen mit Migrationshintergrund, Prostituierte, Strafgefangene und Wohnungslose ausgesetzt (Mielck 2003, siehe dazu auch Streich in diesem Band). Diese Menschen werden im Folgenden als sozial Benachteiligte bezeichnet. Die Bezeichnung „sozial Benachteiligte“ soll für die professionellen Akteure im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung den Fokus auf diejenigen Zielgruppen richten, bei denen ein besonders hoher Handlungsbedarf besteht. Diese Gruppen sind bisher in Präventions- und Gesundheitsförderungsstrategien vernachlässigt worden (Kirschner et al. 1995). Die Betroffenen selber sollten allerdings in der Ansprache nicht zusätzlich durch die Bezeichnung „soziale Benachteiligung“ diskriminiert werden, sondern in ihrem jeweiligen
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Frank Lehmann
Lebensumfeld (Kita, Schule, Stadtteil, Betrieb, Seniorenheim u.a.) wie andere Zielgruppen auch angesprochen werden. Die Ansprache im jeweiligen Lebensumfeld oder Setting wird im o.g. Kooperationsprojekt durch die Präposition bei ausgedrückt. Gesundheitsförderung findet nicht ausschließlich für oder mit sozial Benachteiligten statt sondern bei ihnen im jeweiligen Lebensumfeld. Hierdurch profitieren nicht nur sozial Benachteiligte aber diese aufgrund des sozialräumlichen Ansatzes besonders. Drei verschiedene Strategien im Handlungsfeld „gesundheitliche Ungleichheit“ werden diskutiert (Graham 2004, siehe auch Mielck et al. in diesem Band): 1. 2. 3.
Verbesserung der Gesundheit der besonders stark sozial Benachteiligten, Verminderung der gesundheitlichen Ungleichheit zwischen den besonders stark sozial Benachteiligten und einer besser gestellten Bevölkerungsgruppe sowie Reduktion des gesundheitlichen Schichtgradienten in der Gesamtbevölkerung.
Die dritte Strategie erfordert differenzierte Maßnahmen für verschiedene Bevölkerungsgruppen, die zwar allen Gruppen Gesundheitsförderung ermöglicht, die aber bei der jeweilig schlechter gestellten einen größeren Gesundheitsförderungseffekt als der jeweilig besser gestellten bewirkt. Die hier skizzierte Strategie einer Verstärkung des Fokus auf sozial Benachteiligte für Akteure der Gesundheitsförderung und Prävention stellt insofern die Realisierung der ersten Strategie dar. Sie drückt insgesamt den bestehenden Nachholbedarf auf dieser Handlungsebene aus, in Deutschland beispielsweise sichtbar geworden durch die Abschaffung von § 20 SGB V 1996. Ist der Nachholbedarf an effektiven Strategien und Maßnahmen für sozial Benachteiligte in der Zukunft einmal aufgeholt, so kann die zweite oder dritte Strategie eingesetzt werden. Es kann dann in der Bezeichnung der Zusatz bei sozial Benachteiligten durchaus weggelassen werden und eine Strategie verfolgt werden, die für jede soziale Schicht diejenigen Interventionen vorhält, die erforderlich und effizient sind. Dies führt insgesamt zu einer Verringerung des sozial bedingten gesundheitlichen Schichtgradienten. Die Ausrichtung auf soziale Chancengleichheit ist originär schon immer in der Definition der Gesundheitsförderung enthalten (WHO 1986, WHO 1999, siehe auch Altgeld in diesem Band). Der Umfang des bestehenden Gesundheitsproblems bei sozial Benachteiligten kann gemäß der dritten Strategie ermessen werden, wenn man berücksichtigt, dass gesundheitliche Ungleichheit nicht nur zwischen den Extremen (z.B. extremem Reichtum und extremer Armut) besteht, sondern sich durch alle Schichten als sozialer Schichtgradient zieht. Allein die Anzahl der Menschen mit Armutsrisiko (Äquivalenzeinkommen von weniger als 60% des gesamtgesellschaftlichen Medians) beträgt 11 Mio. Menschen und zeigt zudem im Vergleich von 1998 zu 2003 einen ansteigenden Trend (Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Deutscher Bundestag 2005). Das Gesundheitsproblem sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit in Deutschland ist wie in anderen Ländern groß und komplex. Es kann aber glücklicherweise inzwischen deutlich besser beschrieben werden als noch vor 10 Jahren. Es wird auch sichtlich besser in seinen Verursachungszusammenhängen verstanden. Vielfältige Initiativen und Projekte zur Lösung dieses Gesundheitsproblems sind entstanden (siehe die Beiträge in diesem Buch). Es fehlt jedoch eine bevölkerungsweite Bund, Länder, Kommunen sowie
Kooperationsverbund zur Realisierung der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten
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Nicht-Regierungsorganisationen umfassende Initiative, die nachweislich größere gesundheitliche Chancengleichheit herstellt (siehe auch Pott & Lehmann 2002).
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Vorbereitung einer nationalen Strategie „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ in Deutschland
Das föderale System in der Bundesrepublik Deutschland überträgt den Bundesländern Zuständigkeiten in vielen für Prävention und Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten ausschlaggebenden Bereichen. Die Länderebene hat sich daher als ein wesentlicher Impulsgeber für die Diskussion um gesundheitliche Chancengleichheit erwiesen. Altgeld & Leykamm (2003) haben den Stand hierzu unter vier Gesichtspunkten dargestellt:
Politische Entschließungen auf der Ebene der Gesundheitsministerkonferenz der Länder, Aufbau von Sozial- und Berichterstattungssystemen, die eine Verknüpfung von Sozial- und Gesundheitsdaten ermöglichen, Aufbau bzw. Förderung von Strukturen, die Angebote vorhalten und Vernetzung zwischen dem Sozial-, Gesundheits-, Jugendhilfe- und Bildungsbereich herstellen und Erstellung von Bestandsaufnahmen von Projekten, die gesundheitliche Chancengleichheit herstellen.
Hierzu gehört der Aufbau von Arbeitsschwerpunkten zur gesundheitlichen Chancengleichheit in Landesgesundheitsämtern, der Aufbau von Arbeitsschwerpunkten zur gesundheitlichen Chancengleichheit in den jeweiligen Landesvereinigungen für Gesundheit und gesundheitliche Chancengleichheit als Themenfeld von Gesundheitskonferenzen oder innerhalb der Gesundheitszielformulierung auf Landesebene. Auf der nationalen Ebene gibt es bisher keine quantifizierbaren Ziele oder eine z.B. im Bundestag beschlossene umfassende Strategie zur Vermindung gesundheitlicher Ungleichheit wie z.B. in England und Norwegen (Judge et al. 2006, Norwegian Ministry of Health and Care Services 2007, siehe auch Mielck et al. in diesem Band). Dennoch ist gesundheitliche Chancengleichheit ein wichtiger Aspekt in der nationalen Gesundheitspolitik und findet in verschiedenen Gesetzen und Initiativen Berücksichtigung (siehe auch Weyers et al. 2006):
§ 20 Abs. 1 im SGB V sieht vor, dass die von den Krankenkassen vorgesehenen Leistungen zur Primärprävention den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern, insbesondere aber einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen erbringen sollen. Im Leitfaden Prävention (zuletzt überarbeitet im Februar 2006) werden Maßnahmen in Settings (neu kommunale Settings) als förderungswürdige Maßnahmen zur Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten definiert. Im Jahr 2000 wurde eine Arbeitsgruppe „Armut und Gesundheit“ beim Bundesgesundheitsministerium eingerichtet. Empfehlungspapiere liegen zu den Themen „Gesundheitliche Versorgung Obdachloser“ und „Migration und Gesundheit“ vor.
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Frank Lehmann
Mit gesundheitsziele.de wurde von der Bundesregierung ein Prozess initiiert, in dem beispielhaft geprüft werden soll, inwieweit Gesundheitsziele ein geeignetes Steuerungsinstrument im deutschen Gesundheitswesen darstellen können. Eine Querschnittsanforderung aller erarbeiteten Gesundheitsziele (bisherige Themen: Diabetes, Brustkrebs, Tabakkonsum, Kinder und Gesundheit, Patientenkompetenzen und Depression) ist gesundheitliche Chancengleichheit. In der Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung werden im ehemaligen Forum Prävention und Gesundheitsförderung, welches von der Bundesregierung initiiert wurde, die Themen „Gesunde Kindergärten und Schulen“, „Betriebliche Gesundheitsförderung“ und „Gesund Altern“ in Arbeitsgruppen gesundheitspolitischer Akteure bearbeitet und der Aspekt der Chancengleichheit berücksichtigt. Der deutsche Bundestag hat einen nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung im Rahmen der offenen Koordinierungsmethode der EU beschlossen. Die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung (zuletzt 2008) bearbeiten ausführlich das Thema „Soziale Lage und Gesundheit“. Der Sachverständigen Rat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2005, 2007) behandelt den sozioökonomischen Status und die Beteiligung von Mortalität, Morbidität und Risikofaktoren sowie die Strategien der Primärprävention auch mit Blick auf soziale Benachteiligung und gibt eine wissenschaftliche Grundlage wie Primärprävention in vulnerablen Gruppen in Deutschland gestaltet werden sollte. Seit 1995 findet jährlich in Berlin der bundesweite Kongress „Armut und Gesundheit“ statt, auf dem Vertretungen aus Politik, Krankenkassen, Wissenschaft, öffentlicher Gesundheitsdienst und Ärzteschaft mit praktisch tätigen Betroffenen und Betreuenden zusammentreffen. Im Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ werden derzeit mehr als 498 Programmgebiete in 318 deutschen Städten gefördert, die einen besonderen Entwicklungsbedarf haben. Auf Initiative des Gesundheitsministeriums (BMG) soll in einer Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und dem BMG über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) der Aspekt der Gesundheitsförderung in das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ verankert werden. Die Bundesregierung hat zwei ressortübergreifende Strategien beschlossen, die jeweils die gesundheitliche Chancengleichheit berücksichtigen: Strategie der Bundesregierung zur Förderung der Kindergesundheit (BMG gemeinsam mit dem Bundeskanzleramt und den Bundesministerien für Arbeit und Soziales, Bildung und Forschung, Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie Verkehr, Bau und Stadtentwicklung) und Nationaler Aktionsplan zur Prävention von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und damit zusammenhängenden Krankheiten (IN FORM) (BMG und Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz).
Ergänzend, diese Entwicklungen und Initiativen integrierend und die zuvor beschriebene Ausgangslage berücksichtigend hat die BZgA 2001 einen Kooperationsverbund initiiert, der auf der Grundlage einer bundesweiten Dokumentation von Maßnahmen und Projekten der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten die Zusammenarbeit auf Bundes- und
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Landesebene stärken und den Transfer guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten vergrößern soll.
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Aufbau des Kooperationsverbundes „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“
Der bundesweite Kooperationsverbund besteht zurzeit aus 52 Partnerorganisationen, aus dem Gesundheits- und Wohlfahrtsbereich sowie Bund, Ländern und Kommunen. Einmal jährlich findet ein Kooperationstreffen aller Partnerorganisationen im Kooperationsverbund statt, um grundsätzliche Rahmenbedingungen gemeinsam zu beschließen. Thematische Arbeitsgruppen (z.B. „gute Praxis verbreiten“ oder „Zusammenarbeit Gesundheit und Wohlfahrt“) bereiten im Verlauf des Jahres die Kooperationstreffen vor (siehe Abb. 25.1). Der Kooperationsverbund wird getragen und maßgeblich finanziert durch den Steuerungskreis aus BZgA, BKK-Bundesverband, Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V. (VdAK) und der Arbeiter-Ersatzkassen Verband e.V. (AEV), und Gesundheit Berlin e.V. und einer Vertreterin der weiteren Landesvereinigungen für Gesundheit. Abbildung 25.1: Gesamtstruktur Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“
Steuerungskreis (BZgA, BKK-BV, VdAK/AEC, Gesundheit Berlin, Landesvereinigungen für Gesundheit)
Tagt mindestens einmal jährlich
Kooperationstreffen (alle Partner)
einmal jährlich
anlassbezogen Information, Austausch Projektentwicklung, inhaltliche Arbeit
Strategische Entscheidungen
Organisation, Verwaltung Inhaltliche Arbeit, Initiative, Öffentlichkeitsarbeit
Fachliche Empfehlungen
Beratener Arbeitskreis (Expertinnen/Experten)
Workshop/Arbeitsgruppen (Kooperationspartner)
Regionale Verankerung Inhaltliche Arbeit
Tagt mindestens zweimal jährlich
Geschäftsstelle (Gesundheits Berlin)
kontinuierlich Regionale Knoten (LVGs und weitere Akteure)
Arbeitstreffen zweimal einmal jährlich
Quelle: eigene Abbildung
Das zentrale Ziel des Kooperationsverbundes ist die Stärkung und Verbreitung guter Praxis in Projekten und Maßnahmen der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten sowie die Stärkung des Handlungsfeldes „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ durch Kooperation und partizipative Qualitätsentwicklung. Vier Komponenten wurden bisher aufgebaut: Datenbank, Internetplattform, regionale Knoten und Good Practice (s. Abb. 25.2).
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Das Kooperationsprojekt ist eingebunden in die von der EU-Kommission geförderten Projekte „Closing the Gap“, in dem im Austausch zwischen 22 europäischen Partnerländern im Rahmen des Aktionsprogramms „Öffentliche Gesundheit“ der EU gemeinsame Strategien auf europäischer, nationaler und regionaler Ebene entwickelt wurden und „Determine“ mit 26 europäischen Partnerländern (s. Abb. 25.3). Die (zunehmende) Komplexität und Größe des Kooperationsprojekts, mit der allerdings lediglich adäquat und dynamisch auf die Komplexität und Größe des anzugehenden Gesundheitsproblems reagiert wird, empfiehlt eine Beschreibung sehr nah an den drei oben identifizierten Handlungsbedarfen: Dokumentation vorhandener Maßnahmen, Verstärkung von Kooperation und Vernetzung sowie Qualitätsentwicklung. Abbildung 25.2: Zentrale Leistungskomponenten Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“
Quelle: eigene Abbildung
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Abbildung 25.3: Vernetzungsebenen Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ Vernetzung „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ www.gesundheitliche-chancengleichheit.de und www.health-inequalities.org
EU- Aktionsprogramm Öffentliche Gesundheit Projekt „Determine“
26 Länder
Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ Deutschland
52 Organisationen auf Bundesebene
„Regionale Knoten“ Arbeistkreise z.B. „Armut und Gesundheit“ und Geschäftsstelle
16 Bundesländer
1700 Projekte und Regelangebote dokumentiert
Projekt- und Maßnahmeträger auf kommunaler Ebene
Quelle: eigene Abbildung
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Dokumentation vorhandener Maßnahmen
Im Fachbereich Marktbeobachtung/Marktanalyse der BZgA wurde die Fachdatenbank „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ entwickelt (Meyer-Nürnberger 2004). Im Auftrag der BZgA hat die Landesvereinigung Gesundheit Berlin eine bundesweite Erhebung von Projekten und Maßnahmen auf der Basis von mehr als 10.000 Aussendungen an Institutionen und Verbände aus dem Gesundheits- und Wohlfahrtsbereich auf Bundes-, Landes- und Kreisebene durchgeführt. 2007 erfolgte die letzte Aktualisierungserhebung. Derzeit sind ca. 1.700 Projekte und Regelmaßnahmen der „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ auf der Internetplattform „gesundheitliche-chancengleichheit.de“ recherchierbar nach Settings, Handlungsfeldern, Angebotsart, Zielgruppen, Altersgruppen, Träger oder Projektnamen sowie nach Bundesland und Ort (siehe Abb. 25.4). In der Datenbank können Projekte und Regelangebote aus dem Gesundheits- und Sozialbereich für alle o.g. sozial benachteiligten Zielgruppen recherchiert werden. Der sozial kompensatorische Charakter der gemeldeten Angebote macht sich daran deutlich, dass als häufigstes Handlungsfeld Bewältigungsressourcen, als Hauptangebotsart Beratungsangebote und als häufigste Multiplikatorengruppe Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter bzw. Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen genannt werden (Kilian et al. 2003). Nachdem somit eine große Anzahl von Trägerorganisationen sich als Anbieter für Maßnahmen und Regelangebote der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten zu erkennen gegeben und ausführliche Informationen zur Verfügung gestellt hat, geht es nun darum, für den
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Transfer geeignete Eigenschaften gemeinsam zu identifizieren, gemeinsam weiter zu entwickeln und der Fachöffentlichkeit bekannt zu machen. Abbildung 25.4: Screenshot Datenbank www.gesundheitliche-chancengleichheit.de, ca. 1.700 Angebote der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten
Quelle: eigene Abbildung
Eine große Herausforderung ist es, die zurzeit noch sehr heterogenen Angaben der verschiedenen Angebote konsistent und unter dem Gesichtspunkt weniger zentraler Handlungsfelder darzustellen. So haben viele Anbieter/innen die Tendenz im Erhebungsbogen eine Vielzahl von Zielgruppen und Aktivitäten anzukreuzen. Dies wirft jedoch Probleme der späteren Recherchierbarkeit in der Datenbank auf.
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Verstärkung von Kooperation und Vernetzung
Zentrales Vernetzungselement sind sog. „Regionale Knoten“ auf Länderebene, weil hier die Zuständigkeit für Aktivitäten aus dem Gesundheitswesen und der Wohlfahrt am ehesten verortet werden kann. Es gibt inzwischen regionale Knoten in allen 16 Bundesländern. Die regionalen Knoten haben das Ziel, in den Bundesländern und ihren Regionen die bedarfsorientierte Koordination von Ansätzen und Akteuren im Handlungsfeld „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ zu initiieren, zu begleiten und zu fördern. Träger der regionalen Knoten sind Koordinierungsakteure auf Länderebene, in der Regel die Landesvereinigungen für Gesundheit. Die Arbeit der regionalen Knoten wird in der Regel hälftig vom jeweiligen Bundesland und den Krankenkassen finanziert. Die Arbeit in den regionalen Knoten soll den Besonderheiten in den Bundesländern Rechnung tragen. Inhaltliche Schwerpunktsetzung hinsichtlich der bearbeitenden Handlungsfelder (z.B. Stärkung psychosozialer Ressourcen, Bewegung und Ernährung), Lebenslage (z.B. Alleinerziehende oder Wohnungslose) und Zielgruppen (z.B. Kinder und Jugendliche) liegen in der Verantwortung der regionalen Knoten. Ungeachtet der inhaltlichen Schwerpunktsetzung orientieren sich die regionalen Knoten an gemeinsam entwickelten Referenzzielen: 1. 2. 3. 4. 5.
Strukturbildung und Vernetzung stärken (insbesondere Aufbau regionaler Arbeitskreise, soweit vor dem Hintergrund der regionalen Strukturen möglich und sinnvoll), Transfer verbessern (insbesondere Durchführung von Fachkonferenzen), Qualitätsentwicklung fördern (insbesondere Auswahl und Darstellung von guten Praxisbeispielen), Knoten bekannt machen (insbesondere öffentlichkeitswirksame Aktivitäten) und Informationspool Gesundheitsförderung optimieren (insbesondere Pflege und Weiterentwicklung der Datenbank).
Die Arbeit in den regionalen Knoten wird unterstützt durch einen Qualitätssicherungs- und Steuerungselement (abgeleitet aus dem logischen Modell, angelehnt an Kellogg Foundation 2001). Dies ermöglicht insbesondere eine Selbstbeurteilung und Steuerung in Bezug auf die zu erreichenden Ziele durch den regionalen Knoten, jedoch auch eine vergleichende Betrachtung zwischen den regionalen Knoten und eine Zusammenschau der Aktivitäten aller regionalen Knoten auf Bundesebene mit Bezug auf die gemeinsam beschlossenen Referenzziele. Weitere Kooperations- und Vernetzungsebenen sind die kommunale Ebene, in der zukünftig anhand von Good-Practice-Projekten (siehe unten) erfolgreiche Kooperationsstrukturen verbreitet werden können, die Bundesebene, auf der, wie oben beschrieben ein bisher einmaliges umfangreiches Netzwerk aus dem Gesundheits- und dem Wohlfahrtsbereich gegründet wurde sowie die bereits erwähnte europäische Ebene (näheres hierzu in Weyers et al. 2006 sowie Lehmann & Weyers 2007). Die Kommunikation der verschiedenen Netzwerke wird durch die Internetplattformen www.gesundheitliche-chancengleichheit.de und www.health-inequalities.eu unterstützt. Die konkrete Position der regionalen Knoten innerhalb der „Präventions- und Gesundheitsförderungslandschaft“ in Deutschland stabilisiert sich zunehmend. So wurden der
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Bund und die Länder von der Gesundheitsministerkonferenz gebeten, den Kooperationsverbund und die Regionalen Knoten weiter auszubauen. Allerdings ist die Frage offen, inwieweit die Regionalen Knoten beim Einsatz der Projektförderungen nach § 20 SGB V insbesondere im Bereich kommunaler Settings in größerem Umfang ggf. sogar flächendeckend einen Beitrag leisten werden.
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Qualitätsentwicklung
Das Kooperationsprojekt wird von Beginn an durch einen beratenden Arbeitskreis der BZgA „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ begleitet. Er setzt sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern der Praxis, Wissenschaft, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Das Verfahren baut auf dem Ansatz der promising-evidence (SVR 2007) auf. Projekte werden anhand von Kriterien überprüft, ob sie einerseits eine theoretische Grundlage für Wirksamkeit in der Gesundheitsförderung haben und andererseits in der praktischen Umsetzung erfolgreich sind. Diese Beispielprojekte werden bekannt gemacht, so dass von ihnen gelernt werden kann und sie verbreitet werden. Hierzu wurden im beratenden Arbeitskreis 2004 Kriterien guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten konsentiert (s. Abb. 25.5). Abbildung 25.5: Kriterien guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten 12 Kriterien guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten (konsentiert im beratenden Arbeitskreis der BZgA) 1. klarer Zielbezug (Gesundheitsförderung, Prävention) 2. Zielgruppe (sozial Benachteiligte/präzise eingegrenzt) 3. Innovation und Nachhaltigkeit 4. Multiplikatorenkonzept 5. niedrigschwellige Arbeitsweise 6. Partizipation der Zielgruppe 7. Empowerment 8. Setting – Ansatz 9. Integriertes Handlungskonzept/Vernetzung 10. Qualitätsmanagement/Qualitätsentwicklung 11. Dokumentation/Evaluation 12. Kosten – Nutzen – Relation
Quelle: eigene Abbildung
Die Entwicklung der Good Practice Kriterien ist ausführlicher beschrieben in Lehmann (2004). Basis für die Entwicklung der Kriterien waren:
Die nationale und internationale Forschung zum Bereich „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ (Helmert 2003, Mielk 2000, Mackenbach & Bakker 2002, International Union for Health Education 1999, Gepkens & Gunning-Schepers 1996) Die guten Praxiskriterien des Bund-Länder-Programms „Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt – des Deutschen Instituts für Urbanistik (2003)
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Die Qualitätssicherungsinstrumente der BZgA in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (Kliche et al. 2004) Die Erfahrung aus der Qualitätssicherungsentwicklung des deutschen paritätischen Wohlfahrtsverbands Die Erfahrung aus der direkten halbstandardisierten Befragung von Vertreterinnen und Vertretern und Praxisprojekten der Projektdatenbank
Im Rahmen eines standardisierten Auswahlverfahrens werden gute Praxisprojekte durch die regionalen Knoten identifiziert, veröffentlicht und in der Datenbank kenntlich gemacht. Ein Beispiel für ein Good Practice Projekt ist das Familienprojekt ADEBAR, welches sowohl vom BKK-Bundesverband als „vorbildliches Projekt 2005“ als auch mit dem Deutschen Präventionspreis 2006 ausgezeichnet wurde. Es wird im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt. Regionaler Knoten Hamburg Familienprojekt ADEBAR (aus BZgA 2005) Gute Praxisbereiche: Niedrigschwelligkeit – Multiplikatorenkonzept – Empowerment Abstract Kinder aus sozial benachteiligten Familien weisen mehr gesundheitliche Belastungen auf als andere; dazu gehören beispielsweise Defizite im Bereich der Wahrnehmung, der Motorik, der Sprachentwicklung, der Zahngesundheit und des Ernährungsverhaltens. Mangelnde Inanspruchnahme von Präventionsangeboten und fehlende Bewältigungsressourcen der Eltern wirken sich negativ auf die Entwicklung der Kinder aus. Möglichst früher Kontakt mit den (werdenden) Eltern erhöht die Gesundheitschancen von sozial benachteiligten Kindern und ihren Familien. Das Familienprojekt ADEBAR wendet sich an (werdende) Familien (mit Kindern im Alter von bis zu zehn Jahren), die in den sozial benachteiligten Stadtteilen St. Pauli Süd und Altona-Altstadt in Hamburg leben. Es bietet den Familien niedrigschwellige Unterstützung durch Angebote der familiären Krisenhilfe, des Familiencafés, der Hebammenhilfe und der Stadtteilentwicklung an. Die Angebote des Projekts setzen an den Lebenswelten der Betroffenen an mit dem Ziel, die Familien in das bestehende Hilfesystem zu integrieren und ihnen, wenn nötig, individuelle Unterstützung zu geben. Förderung, Aktivierung und Befähigung der Familien spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Veränderung der Strukturen des Stadtteils und der Aufbau von interdisziplinären Kooperationsbeziehungen. Durch den sehr niedrigschwelligen Zugang und die aktive Einbeziehung von Eltern und Kindern kann eine Stärkung der gesundheitsförderlichen Handlungsfähigkeit erwartet werden. Hintergrund St. Pauli Süd und Altona-Altstadt sind zwei der 24 Hamburger Stadtteile, die im letzten Gesundheitsbericht (Stadtdiagnose 2, April 2001) als Stadtteile mit schlechter sozialer Lage identifiziert wurden. Anhand der Gesundheitsdaten wird deutlich, dass Kinder aus sozial benachteiligten Stadtteilen in ihrer gesundheitlichen Entwicklung wesentlich höheren Risiken ausgesetzt sind als Kinder aus reicheren Stadtgebieten. Dazu gehören zum Beispiel ungünstige Entwicklungsbedingungen beim Start ins Leben, Rauchen der Mutter während der Schwangerschaft, Ernährungsmangel oder mangelnde Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen. Von der Zahngesundheit über Unfälle bis hin zum Übergewicht bestimmen die Einkommensverhältnisse der Eltern die Erkrankungs- bzw. Unfallwahrscheinlichkeit mehr als alle anderen Faktoren. St. Pauli Süd ist einer der einkommensschwächsten Stadtteile Hamburgs: Das durchschnittliche steuerpflichtige Einkommen ist sehr niedrig. Der Anteil der Arbeitslosen beträgt 10,1%. Der Anteil der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger lag 2003 bei 11,4%. Der Anteil von Migrantinnen und Migranten betrug 2003 31,2%; 54,1% der Schülerinnen und Schüler haben keinen deutschen Pass. Viele Familien in St. Pauli Süd leben von Transferleistungen. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: in der örtlichen Ganztagsschule bekamen im Schuljahr 2004/2005 mehr als 80 % der Kinder einen Zuschuss zum Essensgeld. Dieser wird gezahlt bei Bezug von ALG II oder vergleichbar niedrigem Einkommen. Die Zielgruppe von ADEBAR sind Schwangere und Familien mit Kindern im Alter von bis zu zehn Jahren. Projektpartner sind die Gemeinwesenarbeit St. Pauli Süd, das Kinderhaus am Pinnasberg, der Kreisel e.V., das Nachbarschaftsheim St. Pauli sowie der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) Altona und der ASD St. Pauli. Es gibt vier Arbeitsbereiche mit jeweils einer Teilzeitstelle und zusätzlichen Honorarkräften. ADEBAR hat den Auftrag, eine integrative, flexible, sozialraumorientierte Angebotsstruktur zur Förderung der Erziehung in der Familie und der
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Gesundheitsförderung zu etablieren. Mithilfe unterschiedlicher Angebote sollen Familien in ihrem Alltag unterstützt, ihre Erziehungskompetenz gestärkt und Selbsthilfepotenziale aktiviert werden. Auffallend ist, dass viele Frauen in St. Pauli sehr jung ihr erstes Kind bekommen. Der Anteil von Kindern, die in Ein-Eltern-Familien aufwachsen, liegt bei 36,9 %. Ein Großteil der Familien ist also bei der Bewältigung ihres Alltags starken Belastungen ausgesetzt. Im Bereich der Wohnraumversorgung lässt sich ein Prozess der Mieterhöhung und Verdrängung beobachten; familiengerechter Wohnraum wird knapp. Wirtschaftlich besser gestellte Familien verlassen oft vor der Einschulung ihrer Kinder den Stadtteil. St. Pauli Süd zählt zu den am dichtesten bewohnten Stadtteilen Hamburgs (Einwohnerdichte pro Hektar in 2002: 223, der Hamburger Durchschnitt liegt bei 27). Es besteht ein Mangel an Grün- und öffentlichen Freiflächen; spezifisch für den Stadtteil sind auch die Auswirkungen ansässiger Vergnügungsbetriebe und Großevents, die jährlich 25 bis 30 Millionen Menschen anziehen. Das Familienprojekt ADEBAR in St. Pauli Süd ist aus dem ehemaligen Schnittstellenprojekt zur Förderung der Kinder- und Jugendhilfe im Stadtteil nach zweijähriger Modellprojektphase entstanden. 2004 wurde die Finanzierung durch Gelder aus der Rahmenzuweisung für die Weiterentwicklung der Jugendhilfe bzw. für sozialräumliche Angebotsentwicklung vom Bezirk Altona übernommen. Vorgehen Das Familienprojekt ADEBAR ist ein sozialraumorientiertes Projekt der Gesundheitsförderung und der Sozialarbeit mit dem Ziel, die soziale und gesundheitliche Situation der (werdenden) Familien aus St. Pauli Süd und Altona-Altstadt zu verbessern und deren Kompetenzen zu stärken. Im Projekt sind vier Arbeitsbereiche integriert: Stadtteilentwicklung, Familienhebammenangebot, Familiencafé und Familiäre flexible Krisenhilfe. 1. Stadtteilentwicklung: Im Stadtteil werden Bedarfe nach Unterstützungsangeboten ermittelt und aktuelle Themen aufgegriffen wie zum Beispiel „Kinderbetreuung ohne Kita“, „Betreuter Spielplatz“ oder Schulprojekte zu „Familiengeschichten, Eltern-Liebe-Zukunft“. ADEBAR arbeitet in verschiedenen Arbeitskreisen und Gremien auf Stadtteil- und Bezirksebene mit und trägt zur Vernetzung der sozialen Einrichtungen bei. Grundlagen des Arbeitsbereiches Stadtteilentwicklung sind die Arbeitsprinzipien der Gemeinwesenarbeit. „Aktivierende Befragungen“ oder „Planning for real“ sind Methoden, die in diesem Bereich angewendet werden, um Bedarfe und Ressourcen der Anwohnerschaft zu ermitteln und sie in den Planungs- und Umsetzungsprozess zu integrieren. 2. Familienhebammenangebot: Die Familienhebammen betreuen Frauen und Familien in St. Pauli Süd und AltonaAltstadt während der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr des Kindes. Zum Angebotsspektrum zählen Beratung und Unterstützung während der Schwangerschaft, Geburtsvorbereitung, Hausbesuche, Rückbildungsgymnastik, Babymassage, Stillberatung, Beratung bei Schreikindern, Früherkennung von Entwicklungsverzögerungen und eine Gesprächsgruppe für Frauen nach der Geburt. Die Kursangebote richten sich an alle Familien im Stadtteil, die Hausbesuche nur an Frauen/Familien in besonders belasteten Lebenslagen. Dazu gehören sehr junge bzw. minderjährige Mütter, Familien mit Suchtproblemen, Familien mit großen finanziellen oder sozialen Schwierigkeiten, Familien, denen das Sorgerecht für ein voriges Kind entzogen wurde, und Schwangere bzw. Mütter, die psychisch belastet oder psychisch erkrankt sind. Die Familienhebammen arbeiten eng mit den Sozialpädagoginnen und -pädagogen bei ADEBAR zusammen und sind mit anderen Einrichtungen des Stadtteils vernetzt. 3. Familiencafé: Das ADEBAR Familiencafé ist eine niedrigschwellige Einrichtung, die sich an Schwangere sowie Väter und Mütter mit Kindern im Stadtteil wendet. Nachbarschaftlicher Kontakt wird gefördert, die Beratung durch sozialpädagogische Fachkräfte kann bei Bedarf in Anspruch genommen werden. Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Angeboten wie zum Beispiel Krabbelgruppen, Singen und Bewegen, Babymassage oder Alleinerziehendentreff. Ziel ist es, die Alltagsbewältigungs- und Erziehungskompetenz zu stärken und die Familien aus der Isolation zu locken, wobei der Fokus auf den Ressourcen der Eltern liegt. ADEBAR versteht sich als Multiplikator und Vermittler im Stadtteil. Das Café bietet die Möglichkeit der niedrigschwelligen Kontaktaufnahme zur Familienhebamme und zur sozialpädagogischen Beratung. Auch das Familiencafé arbeitet integrativ, das heißt es wendet sich an alle, die im Stadtteil wohnen, was nicht zuletzt mit dem Ziel verbunden ist, der Viertelflucht von sozial stärkeren Familien entgegenzuwirken. 4. Familiäre flexible Krisenhilfe: Die familiäre flexible Krisenhilfe unterstützt Schwangere sowie Mütter und Väter mit Kindern im Alter von bis zu zehn Jahren, die sich in akuten Krisensituationen befinden, und bietet ihnen eine zeitnahe, flexible und bedarfsgerechte Unterstützung an. Ziel ist die Vermeidung von Eskalation und Verfestigung von Schwierigkeiten. Auch in diesem Arbeitsfeld von ADEBAR steht die „Hilfe zur Selbsthilfe“, das Orientieren an den Ressourcen der Hilfesuchenden, im Mittelpunkt. Guter Praxisbereich „Niedrigschwelligkeit“ Die Erreichbarkeit der Zielgruppe spielt im Familienprojekt ADEBAR eine wichtige Rolle. Das Angebot von ADEBAR richtet sich in erster Linie an Schwangere und Familien, unabhängig davon, ob es sich um Ein-Eltern-,
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Stief-, Patchwork-, Pflege- oder Adoptivfamilien handelt, die in den oben genannten Stadtteilen leben. Die Bedürfnisse von minderjährigen Schwangeren bzw. Müttern finden besondere Berücksichtigung. Um die (werdenden) Familien zu erreichen, ist es wichtig, auf unterschiedlichen Ebenen im Stadtteil präsent zu sein. Dazu zählt das Angebot einer niedrigschwelligen Einrichtung wie das Familiencafé ebenso wie der persönliche Kontakt im Stadtalltag oder die Arbeit in interdisziplinären Netzwerken. Die Erreichbarkeit von sozial benachteiligten Familien wird erhöht durch folgende Standards: -
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Die Angebote sind offen und nicht stigmatisierend, sondern integrativ angelegt. Wenig Anmeldeformalitäten (Inanspruchnahme der Beratung ohne lange Wartezeiten, kurzfristige Termine, keine Antragstellung) und die Tatsache, sich nicht zu einer regelmäßigen Teilnahme verpflichten zu müssen, erleichtern den Familien den Zugang zur Beratung sowie die Teilnahme an Gruppenangeboten. ADEBAR organisiert Veranstaltungen mit großer Öffentlichkeit, etwa Flohmärkte mit Kindersachen, die von allen Anwohnerinnen und Anwohnern gern besucht werden, da sie nicht stigmatisieren und an den Bedürfnissen der Menschen ansetzen. Das Mitbringen von Kindern ist immer möglich; die Angebote sind kostenlos oder auf Spendenbasis. Erfolgreiche Kooperation mit anderen Stadtteileinrichtungen trägt dazu bei, den Bekanntheitsgrad von ADEBAR zu erhöhen, und ermöglicht die Vermittlung von Familien an/durch andere Einrichtungen des Stadtteils. Aufsuchende Arbeit ermöglicht die Kontaktaufnahme zu Familien, die von sich aus den Kontakt nicht aufnehmen Die Variationsbreite von offenem Treffpunkt, Gruppenangeboten und Einzelfallhilfen erleichtert die Kontaktaufnahme. Je nach Problemlage und Interesse können die Bewohnerinnen und Bewohner unterschiedliche Unterstützungsangebote in Anspruch nehmen. Ein multidisziplinäres Team aus Sozialpädagogik und Gesundheitsförderung innerhalb eines Projekts ermöglicht die Unterstützung von Familien auf mehreren Ebenen. Gesundheitliche Ungleichheit hängt direkt mit sozialer Benachteiligung zusammen: Unabhängig davon, ob bei der Familie soziale oder gesundheitliche Probleme im Vordergrund stehen, findet sie eine Ansprechperson im Team.
Das Wichtigste für die Erreichbarkeit der Zielgruppe ist, dass die Mitarbeiterinnen den Betroffenen mit einer positiven, respektvollen und integrativen Haltung entgegentreten: Die Projektmitarbeiterinnen sehen sich grundsätzlich zuständig als Ansprechpartnerinnen für Schwangere und Familien mit kleinen Kindern. Niemand wird weggeschickt, jede Anfrage nach Unterstützung wird zumindest in Form einer einmaligen Beratung beantwortet, ggf. mit Überleitung in andere Regelangebote. Eine wertschätzende Haltung gegenüber den Familien ist elementar. Defizite müssen wahrgenommen und ggf. thematisiert werden, Unterstützungsleistungen müssen jedoch an den Ressourcen der Betroffenen ansetzen. Sämtliche Angebote basieren auf Freiwilligkeit in der Teilnahme. Ressourcenorientiertes Arbeiten mit extrem belasteten Familien ist nur zu realisieren, wenn auch die Mitarbeiterinnen mit ihren eigenen Ressourcen bewusst umgehen; bei ADEBAR haben die Mitarbeiterinnen die Möglichkeiten zur Fortbildung und Supervision. 1) die Angebote sind offen und nicht stigmatisierend, sondern integrativ angelegt, 2) erfolgreiche Kooperation mit anderen Stadtteileinrichtungen, 3) aufsuchende Arbeit, 4) die Variationsbreite von offenem Treffpunkt, Gruppenangeboten und Einzelfallhilfen und 5) ein multidisziplinäres Team. Guter Praxisbereich „Multiplikatorenkonzept“ Die Familienhebammen nehmen am „Runden Tisch Altona – St. Pauli“ teil, an dem sich regelmäßig und erfolgreich Fachkräfte aus Gynäkologie, Geburtshilfe und Kinderheilkunde, aus Krankengymnastik und Ergotherapie sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Beratungsstellen, sozialen Diensten, Kinderkrankenhaus u. a. zum gemeinsamen Austausch und zu gegenseitiger Fortbildung treffen. Ziel ist, die Versorgung von Frauen rund um die Geburt in den Stadtteilen St. Pauli und Altona zu verbessern und Versorgungslücken zu schließen. Eine weitere Ebene der Multiplikation besteht aus der Mitarbeit im Netzwerk der Hamburger Familienhebammen, das sich auch für die Beratung von neu entstehenden Familienhebammenprojekten einsetzt. Im Bereich Stadtteilentwicklung bietet ADEBAR Qualifizierungsbausteine für Beratung und Selbsthilfe an, zum Beispiel zu Hartz IV. Konzepte wie etwa das Schulprojekt „Familiengeschichten, Eltern-Liebe-Zukunft“ werden anderen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Guter Praxisbereich „Empowerment“ Empowerment, die Befähigung der Familien im Stadtteil, gehört zu den Grundprinzipien der Arbeit von ADEBAR. Die Mitarbeiterinnen von ADEBAR zielen mit einer ressourcenorientierten Arbeitsweise darauf ab, bei den Familien die oft verschütteten individuellen Stärken, Fähigkeiten und Möglichkeiten aufzudecken und zu fördern. Die Vernetzung und Unterstützung von Selbsthilfeaktivitäten oder Selbstorganisation im Stadtteil genießt immer erste Priorität; betreuende und programmorientierte Intervention wird dem nachgestellt. Im Familiencafé wird informiert, qualifiziert und fortgebildet. Dazu zählten im Jahr 2004 Informationsveranstaltungen und Fortbil-
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dungseinheiten zum Beispiel zu erster Hilfe am Kind, gesundem Ernährungsverhalten, Schlafverhalten von Kindern oder Hartz IV. Auch in der Arbeit der Familienhebammen werden die Mütter qualifiziert. Dabei steht die Stärkung der Mutter im selbstständigen Umgang mit ihrem Kind im Vordergrund. Weitere Themen sind: Geburtsvorbereitung, Stillförderung, Prävention des plötzlichen Säuglingstods, Wahrnehmen der Bedürfnisse des Babys, Rauchen in der Schwangerschaft, Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen und Stärken der MutterKind-Bindung. Integratives Arbeiten bedeutet, im Rahmen der Angebote an den Lebenswelten aller Betroffenen anzusetzen. Neben fachlicher Kompetenz bedarf es einer hohen sozialen Sensibilität, um allen Beteiligten gerecht zu werden und in den heterogenen Gruppen niemanden auszugrenzen. Im Bereich der Stadtteilentwicklung ist die Befähigung der dort Lebenden ein zentraler Schwerpunkt: Dazu zählt der Ansatz, die Veränderungsbedarfe aus Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner zu erheben und sie bei der Artikulation ihrer Interessen und in dem praktischen Engagement für ihre Durchsetzung zu unterstützen. Das Selbsthilfepotenzial und die Selbsthilfeorganisation werden gestärkt. ADEBAR setzt Beteiligungsmethoden wie „Planning for Real“ ein und orientiert sich konsequent am vorhandenen Niveau der Problemwahrnehmung und -artikulation der Anwohnerschaft. Kontakt Mirjam Hartmann Familienprojekt ADEBAR Große Bergstraße 177 22767 Hamburg Bundesland: Hamburg Telefon: 040-3179 8166 oder 040-300 89 688, Telefax: 040-3179 8167 E-Mail:
[email protected] Website: www.adebar-hamburgaltona.de
Des Konzept und der Ansatz der Arbeit mit Kriterien guter Praxis, die konsentierten Kriterien sowie viele Good Practice Projekte erscheinen regelmäßig aktualisiert in der gelben Reihe der BZgA „Gesundheitsförderung konkret“ (Lehmann et al. 2007). Im Bereich der Qualitätsentwicklung ist eine besondere Problemstellung dadurch gegeben, dass national und international nur wenig Interventionsstudien veröffentlicht sind und insofern evidenzbasierte Bedingungen zur Erreichung „harter Qutcomes“ (z.B. Verringerung des sozialen Schichtgradienten in Bezug auf Sterblichkeit, Morbidität oder Verhalten) aufgrund von Plausibilitäten aus der Praxis heraus entwickelt werden müssen. Hier ist auf jeden Fall weiterer Forschungsbedarf gegeben, der teilweise im Bereich des Förderschwerpunkts „Präventionsforschung“ der Bundesministerin für Bildung und Forschung aufgegriffen worden ist. Die Tätigkeiten des Kooperationsverbundes wurden in Form einer Spiegelbilderhebung evaluiert. Sowohl die Kooperationspartner des Verbundes als auch die Projektträger der auf der Datenbank eingestellten Projekte wurden zur Internetplattform sowie zum Good Practice Verfahren befragt und die Ergebnisse gegenübergestellt. Es wurde deutlich, dass beide Seiten das Good Practice Verfahren positiv beurteilen, wohingegen bezüglich der eingestellten Projekte auf der Internetplattform unterschiedliche Auffassungen vorherrschten. Die Kooperationspartner betrachten diese insgesamt sehr kritisch, die Projektträger unterschiedlich von gut handhabbar bis unübersichtlich. Für den Kooperationsverbund wurde eine stärkere Verständigung über die zentralen Ziele und eine grundsätzliche Rollenklärung empfohlen (Conrad & Hucker 2007). Diese Kritikpunkte wurden inzwischen aufgegriffen, ein Usabilitytest der Internetplattform durchgeführt und im Rahmen der letzten Aktualisierungserhebung eine deutlich klarere Recherchierbarkeit der Projekte hergestellt. Die Zielsetzungen des Kooperationsverbundes und der Regionalen Knoten wurden im Kooperationsverbund intensiv diskutiert und 2007 gemeinsame Grundsätze der Zusammenarbeit beschlossen. Die klarere Positionierung dieses nationalen Projektes ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass sich sowohl die Spitzenverbände der Krankenkassen als auch die
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Gesundheitsministerkonferenz und der Sachverständigenrat für die Förderung des Projektes ausgesprochen haben.
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Perspektiven
Der Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ hat durch seine klare Vorgehensweise: 1) Dokumentation vorhandener Maßnahmen, 2) Kooperation und Vernetzung stärken sowie 3) Qualitätssicherung in Projekten und Regelangeboten der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten eine Grundlage gelegt für die Entwicklung einer nationalen Strategie zur Verminderung des sozialen Schichtgradienten bei gesundheitlicher Ungleichheit. Die Fokussierung zunächst auf die Zielgruppe sozial Benachteiligter soll der Beginn sein, um das Präventionsdilemma (Bauer 2005) zu lösen, welches bisher zu einer Vergrößerung des Schichtgradienten auch durch Prävention und Gesundheitsförderung geführt hat. Sobald Strategien zur Gesundheitsförderung der Bevölkerungsgruppen mit dem größten Gesundheitsförderungsbedarf etabliert sind, sollte ein Strategiewechsel zu einem bevölkerungsweiten Ansatz erfolgen. Hier wären für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen differenzierte Maßnahmen durchzuführen. Natürlich ist hierzu eine deutlich bessere finanzielle Basis der Prävention und Gesundheitsförderung erforderlich. Auf der Basis einer Dokumentation bestehender Aktivitäten auf kommunaler Ebene (Projekte, Regelangebote) wird Vernetzung und Transfer auf Bundesländerebene durch regionale Knoten gefördert unter Anwendung konsentierter Kriterien guter Praxis. Die Bundesebene kann auf Grund der umfassenden Kooperation zwischen Gesundheits- und Wohlfahrtsbereich Rahmenbedingungen günstig gestalten. In allen Bundesländern sind inzwischen Netzwerke für die Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten (Regionale Knoten) aufgebaut. Das Auswahlverfahren zur Identifizierung guter Praxis wird in größeren Abständen an neue Erfordernisse angepasst. Über 70 Projekte und Maßnahmen sind bisher identifiziert und im Rahmen der Gelben Reihe der BZgA sowie der Internetplattform www.gesundheitliche-chancengleichheit.de veröffentlicht worden. Die beteiligten Krankenkassen sowie ihre Spitzenverbände haben die Kriterien guter Praxis des Kooperationsverbundes in den Leitfaden Prävention aufgenommen. Geprüft wird zusätzlich, in wie weit der Kooperationsverbund geeignet ist, Projekte guter Praxis nicht nur zu identifizieren sondern auch abzuschätzen, welche Projekte entwicklungs- und förderungswürdig sind („rapid assessment“) sowie deren weitere Unterstützung in der Weiterentwicklung durch eine partizipative Qualitätsentwicklung zu gewährleisten (Rosenbrock 2004). Eine substanzielle Stärkung der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten in Deutschland wäre dann erreicht, wenn ein Prozess gewährleistet ist, der Qualitätsoptimierung durch einen Austausch zwischen den Projekten, Forschung und Praxis sowie Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene erlaubt. Im Fall des dargestellten Familienprojekts ADEBAR würde dies bedeuten, dass ähnliche Projekte in anderen sozialen Brennpunkten von den Erfahrungen des Präventionspreisgewinners lernen oder dort, wo es einen Bedarf aber keine entsprechende Projekte gibt, über die verschiedenen Vernetzungsebenen deren Initiierung angeregt wird. Gleichzeitig sollten Problemlagen und Handlungsbedarfe besser identifiziert und im Sinne einer Advocacy-Funktion von kommunaler über Landes- und Bundes-
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ebene gebündelt und einer effektiven Problemlösung zugeführt werden. Dies würde mit Blick auf das geschilderte Familienprojekt ADEBAR z.B. bedeuten, dass auf Bundes- und Länderebene eine zielspezifische engere Verzahnung zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Sozialdiensten und Gesundheitsbereich gefördert und letztlich besser finanziell ausgestattet wird. Hierzu ist ein intersektoraler Ansatz erforderlich, der die zu Beginn genannten Einflussfaktoren (Arbeitsbedingungen, Wohnbedingungen, gesundheitliche Versorgung, Vorsorgeverhalten und gesundheitsgefährdendes Verhalten) durch die jeweilig zuständigen politischen und Verwaltungs-Ressorts in Richtung auf mehr Gesundheit weiter entwickelt. Die Bundesregierung hat durch die Verabschiedung der ressortübergreifenden Strategie zur Förderung der Kindergesundheit und des Nationalen Aktionsplans „IN FORM“ hierzu auf nationaler Ebene bereits grundlegenden Schritte getan. Mittelfristig sollten steuerungsrelevante Indikatoren entwickelt werden, die ein Monitoring der Wirkungen des Kooperationsprojekts „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ in Bezug auf die Veränderung gesundheitlicher Ungleichheit in Deutschland erlauben.
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Quantitative Zielvorgaben zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit. Lernen von England und anderen westeuropäischen Staaten
Andreas Mielck, Thomas Altgeld, Veronika Reisig, Susanne Kümpers
1
Einleitung
In einigen westeuropäischen Staaten wird schon seit geraumer Zeit versucht, das Ziel „Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit“ so genau wie möglich zu definieren. Dabei wird auch vor einer Quantifizierung dieser Zielsetzung nicht zurückgeschreckt. Mit 'Quantifizierung' sind hier zahlenmäßig fixierte Vorgaben gemeint wie: Die zurzeit vorhandenen Unterschiede in der Mortalität zwischen Statusgruppe A und Statusgruppe B sollen in 10 Jahren um 15% kleiner sein. Derartige Vorgaben bergen erhebliche Risiken, aber auch Möglichkeiten. Die Risiken sind primär politischer Natur: Nach Ablauf der gesetzten Frist ist gut zu überprüfen, wie gut dieses Ziel erreicht worden ist, und auch schon in den Jahren bis zum Ablauf der Frist ist gut zu sehen, ob die Entwicklung in die vorgesehene Richtung geht. Diese Überprüfung bietet wenig Spielraum für Verschleierungen oder Verharmlosungen. Den Risiken steht jedoch ein wichtiger Vorteil gegenüber: Die Planung von Maßnahmen kann sehr zielgerichtet erfolgen. Misserfolge können zu einer neuen und besseren Ausrichtung der Maßnahmen führen. Quasi von selbst stellen sich sehr praxisnahe konkrete Fragen wie z.B.: Welche Maßnahme hat welchen Effekt auf die gesundheitliche Ungleichheit? Wer ist für welche Maßnahme verantwortlich? Wie können diese Maßnahmen fachlich und zeitlich koordiniert werden? Wer ist für die Koordination verantwortlich? Wie kann der Erfolg der Maßnahmen dadurch abgesichert werden, dass die Personengruppe, deren Gesundheitszustand verbessert werden soll, in die Planung und Durchführung der Maßnahmen eingebunden wird? Wie wirken sich die sozialen und politischen Entwicklungen, die außerhalb des geplanten Maßnahme-Katalogs liegen (Arbeitsmarkt, Reform der Krankenversicherung etc.) auf die gesundheitliche Ungleichheit aus? Eine schnelle und klare Antwort auf diese Fragen ist nicht zu erwarten; für zu viele Fragen gibt es noch keine wissenschaftlich oder erfahrungsmäßig abgesicherten Antworten. Es ist auch gut möglich, dass neue Formen der Kooperation zwischen Wissenschaft und Politik gefunden werden müssen. Trotz dieser diversen Risiken und Unsicherheiten ist zumindest in einigen westeuropäischen Staaten von politischer Seite aus entschieden worden, dass eine Quantifizierung sinnvoll ist. In Deutschland ist diese Diskussion bisher jedoch kaum zur Kenntnis genommen worden. Der folgende Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die aus verschiedenen westeuropäischen Staaten vorliegenden Erfahrungen, als Anregung für eine vergleichbare Diskussion auch in Deutschland. Betont werden dabei vor allem die Erfahrungen aus England, weil von dort vergleichsweise viele Berichte über die Möglichkeiten und Probleme einer derartigen Quantifizierung vorliegen.
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Andreas Mielck, Thomas Altgeld, Veronika Reisig, Susanne Kümpers
Stand der Diskussion in den Staaten der Europäischen Union (EU)
Für ihre EU-Präsidentschaft im Jahr 2005 hat die Regierung des Vereinigten Königreiches (UK) das Thema „Tackling Health Inequalities“ (Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit) als eines der zentralen Themen bestimmt. Sichtbarer Höhepunkt dieser Schwerpunktsetzung war eine große internationale Tagung, die im Oktober 2005 in London stattfand (Tackling Health Inequalities: Governing for Health Summit1). An der Tagung nahmen nicht nur hochrangige Politiker und Vertreter verschiedener Verbände aus allen Staaten der EU teil, sondern auch viele Wissenschaftler. Das Hauptanliegen war die Entwicklung von Strategien zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit. Im Vorfeld dieser Tagung sind zwei Berichte in Auftrag gegeben worden. Der erste konzentriert sich auf die empirischen Ergebnisse zu Ausmaß und Trends der gesundheitlichen Ungleichheit in den Staaten der EU (Mackenbach 2006). Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen (ebenda: 3; Übersetzung durch A.M.):
„Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind alle europäischen Staaten damit konfrontiert, dass in ihrer Bevölkerung eine große gesundheitliche Ungleichheit vorhanden ist. Menschen mit geringer Bildung, niedrigem beruflichen Status oder geringem Einkommen sterben oft früher, und bei den meisten gesundheitlichen Problemen weisen sie höhere Prävalenzen auf.“ „Bezogen auf die Mortalität sind diese Ungleichheiten nicht nur sehr groß, sondern in vielen europäischen Staaten haben sie in den letzten Jahren auch noch zugenommen. Die Mortalitäts-Unterschiede beginnen bereits im frühen Lebensalter und finden sich auch bei alten Menschen, sie sind bei Männern und Frauen vorhanden (bei Männern sind sie jedoch zumeist etwas größer), und sie lassen sich für die meisten (aber nicht für alle) Todesursachen nachweisen.“ „Auch die Morbidität ist zumeist besonders hoch bei den Personen mit geringer Bildung, niedrigem beruflichen Status oder geringem Einkommen. […] Daraus folgt, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status nicht nur kürzer leben, sondern zudem auch einen größeren Teil ihrer Lebenszeit krank sind.“
Deutschland ist hier keine Ausnahme. Der Bericht enthält zwar keine Daten zu MortalitätsUnterschieden aus Deutschland. Diese Informationslücke ist schlicht und einfach darin begründet, dass beim Thema 'Sozialer Status und Mortalität' hierzulande keine so differenzierten Analysen möglich sind wie in vielen anderen europäischen Staaten. Die Daten zur Morbidität lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland ein ebenso großes Problem ist wie in den anderen europäischen Staaten (Mielck 2008a). Der Bericht schließt mit einer Warnung und einem Appell (ebenda: 3; Übersetzung durch A.M.): „Die gesundheitliche Ungleichheit ist in allen Staaten und zu allen Zeiten zu beobachten. Dies ist eine deutliche Warnung vor unrealistischen Erwartungen in Bezug auf die Möglichkeit, diese Ungleichheit in einer relativ kurzen Zeit – mit den bisher üblicherweise dafür verwendeten Ansätzen – erheblich reduzieren zu können. Es müssen neue 1
http://www.dh.gov.uk/en/Healthcare/International/EuropeanUnion/EUPresidency2005/DH_4119613
Quantitative Zielvorgaben zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit
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und effektivere Ansätze entwickelt werden. Dabei kann die Lerngeschwindigkeit erhöht werden, wenn die Staaten ihre Erfahrungen beim Thema 'Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit' in einer systematischeren Weise austauschen würden als bisher.“ An diesem Punkt setzt der zweite Bericht an (Judge et al. 2006). Hier ist zum ersten Mal ein Überblick über die politischen Programme und Strategien publiziert worden, mit denen in Europa versucht wird, die gesundheitliche Ungleichheit zu verringern. Diese Programme und Strategien werden selten in wissenschaftlichen Fachzeitschriften und -büchern veröffentlicht, ein derartiger Überblick lässt sich daher nicht auf Basis einer reinen LiteraturRecherche erstellen. Die Autoren haben sich vor allem auf eine Befragung von (und intensive Diskussion mit) Experten aus allen Ländern gestützt. Die Befragung erfolgte im Rahmen des durch die EU geförderten Projektes „Closing the Gap“2. Hier wurden aus jedem EU-Mitgliedsstaat die Aktivitäten zum Thema 'Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit' zusammengetragen; dies umfasst auch die Beschreibung von 'Beispielen Guter Praxis'. Ein weiteres wichtiges Netzwerk für die Diskussion mit Experten aus den verschiedenen Staaten war durch das EUROTHINE-Projekt gegeben, welches ebenfalls durch die EU gefördert wurde3. In diesem Projekt steht die weitergehende empirische Analyse der gesundheitlichen Ungleichheit im Vordergrund, und die Ableitung von gesundheitspolitischen Empfehlungen. In dem zweiten Bericht für die Tagung „Tackling Health Inequalities: Governing for Health Summit“ (Judge et al. 2006) werden die europäischen Staaten in vier Gruppen eingeteilt: 1.
2.
3.
4.
Staaten, in denen zwar versucht wird, die sozialen Ursachen der gesundheitlichen Ungleichheit (z.B. Ungleichheit bei Bildung und Einkommen) zu verringern, in denen jedoch kein spezieller Fokus auf die Reduzierung der gesundheitlichen Ungleichheit zu erkennen ist (z.B. Griechenland und Zypern). Staaten, in denen zwar einzelne gezielte Aktivitäten zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit vorhanden sind, in denen jedoch keine Gesamtstrategie zur Erreichung dieses Ziels zu erkennen ist (z.B. Belgien, Frankreich, Deutschland, Polen). Staaten mit einem klaren politischen Bekenntnis zum Ziel 'Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit', die schon erste Schritte unternommen haben zur Integration dieses Ziels in eine politische Gesamtstrategie (z.B. die Niederlande, Finnland, Dänemark, Ungarn). Staaten mit einem gut integrierten und gut koordinierten Aktionsplan zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit (z.B. England, Republik Irland, Schottland).
Die Grenzen zwischen diesen vier Typen sind fließend, und die Eingruppierung der Staaten erscheint daher manchmal etwas willkürlich. Das Schema an sich ist jedoch sehr hilfreich. Zum einen verdeutlicht es die vier Stufen, die bei der Entwicklung einer ungleichheitsreduzierenden Gesamtpolitik von Stufe zu Stufe üblicherweise durchschritten werden. Zum anderen zeigt es, wo Deutschland auf dieser Stufenleiter steht (vgl. zweite Stufe) und welche Schritte bei uns jetzt notwendig sind. 2 3
http://www.health-inequalities.org http://mgzlx4.erasmusmc.nl/eurothine/index.php?ind
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Andreas Mielck, Thomas Altgeld, Veronika Reisig, Susanne Kümpers
In dem Bericht wird betont, dass der 'politische Wille' zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit in Deutschland zum Beispiel durch die folgenden Punkte deutlich wird:
Solidaritätsprinzip der Gesetzlichen Krankenversicherung (wobei die Existenz der privaten Krankenversicherung und die Leistungsunterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten außer Acht gelassen werden), Schwerpunktsetzung im Paragraphen zur Prävention, d.h. nach § 20, SGB V, sollen die Leistungen zur Primärprävention „insbesondere einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen erbringen.“ (wobei die eher 'gesetzes-inverse' Praxis der Krankenversicherung bei der Umsetzung nicht beachtet wird), Förderung der jährlichen Tagung 'Armut und Gesundheit'4, Aufbau einer Internetplattform zur Bekanntmachung von Praxisprojekten und zur Identifizierung von 'Good Practice' – Beispielen5 (BZgA 2007), Schwerpunkt 'Sozioökonomischer Status und Verteilung von Mortalität, Morbidität und Risikofaktoren' im Gutachten des Sachverständigenrates aus dem Jahr 2006 (Sachverständigenrat 2006), Integration von Gesundheitszielen in das Programm 'Soziale Stadt'6.
So wichtig diese Schritte auch sind, von einer Integration in eine politische Gesamtstrategie kann bisher aber kaum gesprochen werden (vgl. dritte Stufe), und erst Recht nicht von einem gut integrierten und gut koordinierten Aktionsplan zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit (vgl. vierte Stufe). Auf die Frage nach den grundlegenden Elementen für eine erfolgreiche Strategie antworten die Autoren (ebd.: 7): „Je klarer die Ziele spezifiziert werden, und je stärker die Aktivitäten der verschiedenen Politikbereiche in einem Gesamtkonzept miteinander verknüpft sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit für eine Veränderung in die gewünschte Richtung.“ Im Folgenden soll näher auf diese Ziele-Diskussion eingegangen werden, d.h. auf die Frage, wie wichtig die Einigung auf quantitative Zielvorgaben für Maßnahmen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit sind.
3
Quantitative Zielvorgaben in den westeuropäischen Staaten
Die Staaten, in denen das Ziel 'Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit' mit Hilfe quantitativer Zielvorgaben konkretisiert wird, lassen sich in zwei Gruppen unterteilen (Judge et al. 2006): Staaten mit nur einem allgemeinen quantitativen Ziel (z.B. Finnland und die Niederlande); Staaten mit mehreren spezifischen quantitativen Zielen (z.B. die Republik Irland und die vier Landesteile des Vereinigten Königreiches (UK), d.h. England, Schottland, Wales und Nordirland). Um die mit diesen quantitativen Zielvorgaben verbundenen Möglichkeiten und Probleme zu veranschaulichen, soll im Folgenden auf jedes die4 5 6
http://www.gesundheitberlin.de http://www.gesundheitliche-chancengleichheit.de http://www.sozialestadt.de
Quantitative Zielvorgaben zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit
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ser Beispiele eingegangen werden, bei den meisten Staaten nur kurz und bei England etwas ausführlicher. Das Beispiel England wird hier hervorgehoben, weil dort besonders intensiv über die Erfolge und Misserfolge bei der Zielerreichung diskutiert wird. Finnland In dem aktuellen Public Health-Programm bekräftigt die finnische Regierung ihr Ziel, dass die gesundheitliche Ungleichheit verringert werden soll (Ministry of Social Affairs and Health 2001). Dies will sie erreichen durch eine allgemeine Politik zur Verbesserung der Gesundheit in der Bevölkerung. Die Zielsetzung lautet (bezogen auf das Basisjahr 2000): Verringerung der Mortalitäts-Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen bis zum Jahr 2015 um 20%. Ein spezielles Maßnahmebündel zur Erreichung dieses Ziels wird nicht genannt. Die Niederlande Im Mittelpunkt steht hier der Indikator 'Lebenserwartung bei guter Gesundheit' (healthy life expectancy). Dieser Indikator besteht aus zwei Elementen, der Lebenserwartung (gemessen in Jahren) und der Morbidität. Mit Hilfe von Angaben zur Morbidität wird dabei berechnet, wie viele der Lebensjahre bei guter bzw. schlechter Gesundheit verbracht werden. Das Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheit wird dann gemessen als Unterschied zwischen der unteren und der oberen Statusgruppe bezogen auf die Lebensjahre, in denen von einem guten Gesundheitszustand gesprochen werden kann. Das Ziel in den Niederlanden lautet (Mackenbach & Stronks 2002/2004; Übersetzung durch A.M.): „Bezogen auf den Indikator 'Lebenserwartung bei guter Gesundheit' soll der Unterschied zwischen der unteren und der oberen Statusgruppe von 12 Jahren (Stand im Jahr 2000) bis zum Jahr 2020 auf 9 Jahre reduziert werden, und zwar durch eine Verbesserung in der unteren Statusgruppe.“ Republik Irland Im aktuellen Public Health-Programm aus dem Jahr 2001 werden mehrere Ansatzpunkte zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit unterschieden (z.B. Verringerung der Einkommensarmut, Abbau der Arbeitslosigkeit, Verbesserung der Bildungs-Chancen in den unteren Statusgruppen). Das Programm enthält auch die beiden folgenden sehr spezifischen Zielsetzungen (Department of Health and Children 2001): (a) Bezogen auf die Todesfälle durch Herzkreislauf-Erkrankungen, Krebs, Unfälle und Verletzungen: Verringerung der im Jahr 2001 vorhandenen Mortalitäts-Unterschiede zwischen der unteren und der oberen Statusgruppe bis zum Jahr 2007 um 10%. (b) Bezogen auf das niedrige Geburtsgewicht: Verringerung der im Jahr 2001 vorhandenen Unterschiede zwischen der unteren und der oberen Statusgruppe bis zum Jahr 2007 um 10%. Im „Action Plan Progress Report 2003“7 werden viele Maßnahmen aufgelistet, die zur Erreichung dieser Ziele durchgeführt wurden. Die Frage, ob und wie sich das Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheit verändert hat, wird jedoch nicht untersucht. Schottland Die meisten Staaten mit einer quantitativen Zielsetzung beziehen sich dabei auf die Verringerung des Abstandes zwischen der unteren und der oberen Statusgruppe. In Schottland konzentriert sich die Formulierung des Ziels jedoch 'nur' auf die Verbesserung des Gesund7
http://www.dohc.ie/publications/strategy_progress_2003.html
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Andreas Mielck, Thomas Altgeld, Veronika Reisig, Susanne Kümpers
heitszustandes in der unteren Statusgruppe. Demnach sollen bei den besonders benachteiligten Bevölkerungsgruppen bis zum Jahr 2008 die folgenden Indikatoren um 15% verbessert werden (Scottish Executive 2004): Bei Erwachsenen die Prävalenz von HerzkreislaufErkrankungen, Krebs und Rauchen; bei Jugendlichen die Prävalenz von TeenageSchwangerschaften und von Selbstmorden. Das Regierungsprogramm umfasst eine Vielzahl von Zielen, auf der offiziellen Homepage werden z.B. auch die folgenden genannt8: (a) Verlängerung der 'Lebenserwartung bei guter Gesundheit' (healthy life expectancy) in den am stärksten benachteiligten Regionen; (b) Verringerung der Herzkreislauf-Mortalität bei den unter 75-Jährigen in den benachteiligten Regionen. Auf der Homepage findet man auch aktuelle Informationen über den Grad der Zielerreichung. Wales Auch in Wales wurden die quantitativen Ziele nicht explizit im Sinne von 'Verringerung der Unterschiede zwischen der unteren und der oberen Statusgruppe' definiert. Ähnlich wie in Schottland steht auch hier 'nur' die Verbesserung des Gesundheitszustandes der unteren Statusgruppe im Vordergrund. In dem Bericht wird spezifiziert, welche Verbesserungen zwischen 2002 und 2012 erreicht werden sollen (Welsh Assembly 2005). Ein Ziel lautet z.B.: In der Altersgruppe 65-74 Jahre soll die Mortalität an Herzkreislauf-Erkrankungen bis zum Jahr 2012 auf 400 reduziert werden (die Zahl 400 orientiert sich am Indikator 'European Age Standardised Rate, EASR'). Des Weiteren wird betont, dass die Mortalitätsrate am stärksten in der unteren Statusgruppe sinken soll. Hier wird das Ziel 'Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit' also nicht explizit quantifiziert. Genauso ist es bei den Zielen, die sich auf andere Krankheiten beziehen (z.B. Krebs).9 Im Jahr 2006 sind Ziele zur Bekämpfung der Kinderarmut hinzugekommen (Welsh Assembly 2006). Quantitative Ziele zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit sind hier ebenfalls enthalten, wie z.B.: Bis zum Jahr 2020 soll die Karies-Prävalenz bei den 5 Jahre alten Kindern aus der untersten Statusgruppe bei maximal 55,3% liegen. Nordirland Ähnlich wie in Schottland und England wird auch hier die regionale Manifestation der gesundheitlichen Ungleichheit betont. Dabei wird die Lebenserwartung der Menschen, die in den am meisten benachteiligten Regionen leben, mit der durchschnittlichen Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung verglichen. Die Zielsetzung lautet (Department of Health, Social Services and Public Safety 2002): Verringerung der Unterschiede in der Lebenserwartung, die im Jahr 2000 vorhanden waren, bis zum Jahr 2010 um 50%. Zudem wird auch ein Ziel definiert, das sich auf die Morbidität bezieht, und zwar auf den Anteil chronisch kranker Personen in der unteren bzw. der oberen Statusgruppe: Verringerung des Unterschiedes, der im Jahr 2000 vorhanden war, bis zum Jahr 2010 um 20%. England In England sind Diskussion und Umsetzung der quantitativen Zielsetzung besonders weit entwickelt. Ein Meilenstein in dieser Entwicklung ist die Publikation des 'Acheson Reports' im Jahr 1998. Der ausführliche Titel lautet 'Independent Inquiry into Inequalities in Health' (auf Deutsch: Unabhängige Untersuchung über die gesundheitliche Ungleichheit). Aus8 9
http://www.scotland.gov.uk/About/scotPerforms/outcomes http://new.wales.gov.uk/topics/health/ocmo/research/health-gain/targets/?lang=en
Quantitative Zielvorgaben zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit
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gangspunkt des Berichtes ist ein Auftrag der Regierung an eine unabhängige Kommission unter Leitung von Sir Donald Acheson. Die Kommission wurde gebeten, einen Bericht über die beiden folgenden Themen vorzulegen: aktueller Forschungsstand zur gesundheitlichen Ungleichheit in Großbritannien, Identifikation von gesundheitspolitischen Interventionsmöglichkeiten zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit. Im Abschnitt 'gesundheitspolitische Empfehlungen' werden sehr unterschiedliche Themen angesprochen wie z.B. die Verringerung der Armut von Familien mit Kindern und die Verringerung des Rauchens auch und vor allem in der unteren sozialen Schicht. Quantitative Ziele werden hier noch nicht spezifiziert. Im Jahr 2003 wurde von der Regierung das Vorhaben 'Tackling Health Inequalities: a Programme for Action' (Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit: ein Aktionsprogramm) verkündet (Department of Health 2003). Hier wird das Ziel spezifiziert, die Mortalitätsunterschiede zwischen der unteren und der oberen Statusgruppe bis zum Jahr 2010 um 10% zu verringern. Dabei stehen die beiden folgenden Indikatoren im Vordergrund: Säuglingssterblichkeit, Lebenserwartung ab Geburt. Im Jahr 2004 sind dann noch weitere quantitative Ziele in Bezug auf die regionalen Unterschiede in der Mortalität ergänzt worden (Judge et al. 2006): Dafür wurden in einem ersten Schritt die Merkmale des sozialen Status und des Gesundheitszustandes pro Region erhoben. Im zweiten Schritt sind alle Regionen in eine Rangfolge von „sehr gut“ bis hin zu „sehr schlecht“ eingruppiert worden. Im letzten Schritt wurde dann das Ziel definiert als „Verringerung des Abstandes, den die unteren 20% der Regionen vom Durchschnitt aller Regionen haben“. Konkret wird gefordert (bezogen auf die Personen unter 74 Jahren), den Abstand bei der HerzkreislaufMortalität um 40% zu reduzieren, und bei der Krebs-Mortalität um 6%. Ein weiteres Ziel bezieht sich auf den Risikofaktor 'Rauchen'. Hier wird spezifiziert: Verringerung des Rauchens bei Erwachsenen aus der unteren Statusgruppe bis zum Jahr 2010 um 26%. Im Jahr 2005 wurde der erste Fortschrittsbericht über die Erreichung dieser Ziele veröffentlicht (Department of Health 2005). Dort wird gezeigt, dass die gesundheitliche Ungleichheit in den letzten Jahren nicht abgenommen, sondern sogar noch etwas zugenommen hat. Es ist jedoch von vornherein nicht erwartet worden, dass die gesundheitspolitischen Anstrengungen zur Verringerung der Ungleichheit kurzfristig zu einem messbaren Erfolg führen. So zeigt dieser Bericht dann auch vor allem das Bestreben, kontinuierlich die Zielerreichung zu überprüfen. Der nachfolgende 'Status-Report' wurde im März 2008 publiziert (Department of Health 2008a); einbezogen wurden hier Daten bis zum Zeitraum 2004-2006. Die folgenden Ergebnisse lassen sich hervorheben:
Bezogen auf die Regionen, in denen die Menschen leben: Die Unterschiede in der Lebenserwartung (zwischen dem landesweiten Durchschnitt einerseits und den am stärksten benachteiligten Regionen andererseits) haben weiter zugenommen. Unabhängig von den Regionen: Die Ungleichheit bei der Säuglingssterblichkeit hat sich etwas verringert. Bezogen auf Männer ist die Ungleichheit bei der Lebenserwartung praktisch unverändert geblieben, bezogen auf Frauen hat sie etwas zugenommen. Eine Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit ist zu erkennen bei der Herzkreislauf- und der Krebsmortalität, und auch bei den Kinderunfällen im Straßenverkehr. Diese Verringerung zeigt sich jedoch nur bei der 'absoluten' Ungleichheit; bei der 'relativen' Ungleichheit sind keine größeren Veränderungen zu beobachten. Beim
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Rauchen ist die Prävalenz allgemein etwas zurückgegangen, das Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheit hat sich jedoch kaum geändert. Hier wird deutlich, dass es bei der Interpretation von Veränderungen im Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheit zu erheblichen Problemen kommen kann. Entsprechend schwierig ist die Beantwortung der Frage, ob und wie gut ein quantitatives Ziel erreicht wurde. Von grundlegender Bedeutung ist – wie das obige Beispiel aus England zeigt – die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer gesundheitlicher Ungleichheit. „Absolute“ Ungleichheit wird gemessen als Differenz (z.B. „Prävalenz in der unteren – minus – Prävalenz in der oberen Statusgruppe“). „Relative' Ungleichheit wird gemessen als Quotient (z.B. „Prävalenz in der unteren – geteilt durch – Prävalenz in der oberen Statusgruppe“). Wenn für eine bestimmte Erkrankung die Prävalenz in der unteren Statusgruppe z.B. von 20% auf 15% sinkt, und in der oberen Statusgruppe von 10% auf 5%, dann ergeben sich die folgenden Maßzahlen für die gesundheitliche Ungleichheit: Die absolute Ungleichheit bleibt bei 10% (20-10; bzw. 15-5), und die relative Ungleichheit steigt von 2,0 (20/10) auf 3,0 (15/5). Beide Aussagen sind wichtig und spiegeln jeweils einen bestimmten Aspekt der Entwicklung wider. Ganz explizit sollten daher Ziele sowohl für die absolute als auch für die relative Ungleichheit festgelegt werden. In seinem Vorwort zum Bericht aus dem Jahr 2007 weist Michael Marmot deutlich auf die Probleme bei der Interpretation der empirischen Analysen hin. Da diese Diskussion von zentraler Bedeutung ist, soll hier eine etwas längere Passage aus dem Vorwort zitiert werden (Übersetzung durch A.M.): „In unserem ersten Bericht aus dem Jahr 2005 haben wir darauf hingewiesen, dass die Zeit wohl zu kurz ist, um Effekte des Programms erkennen zu können. Jetzt, zwei Jahre später, ist dies immer noch ein wesentlicher Punkt. Es ist einfach noch zu früh um sagen zu können, ob zu wenig getan wurde oder ob die richtigen Maßnahmen ergriffen worden sind. […] Im Zeitraum 1995/97 lag die Lebenserwartung in den am stärksten benachteiligten Regionen ('the spearhead group') bei 72,7 Jahren für Männer und 78,3 Jahren für Frauen. Damals war kaum zu vermuten, dass die Lebenserwartung bei dieser besonders benachteiligten Gruppe auf 75,3 (Männer) und 80,0 (Frauen) im Jahr 2004/6 anwachsen würde. Es gab jedoch eine ähnliche Verbesserung auch in der Gesamtbevölkerung. Das gleiche Bild zeigt sich bei der Säuglingssterblichkeit: Sowohl für die untere Statusgruppe als auch für die Gesamtbevölkerung zeigt sich eine Verbesserung, am Ausmaß der gesundheitlichen Ungleichheit hat sich daher wenig geändert. Wir sind der festen Überzeugung, dass es zwei zentrale Zielsetzungen der Gesundheitspolitik geben sollte: Verbesserung des bevölkerungsweiten Gesundheitszustandes, und Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit. Die empirischen Analysen zeigen, dass Erfolge bisher vor allem bei der ersten Zielsetzung erreicht wurden, kaum jedoch bei der zweiten (trotz der Verbesserung des Gesundheitszustandes in der unteren Statusgruppe). Es gibt jedoch einige ermutigende Anzeichen. Die Gesundheitsziele sind ursprünglich als 'relative' Unterschiede definiert worden […]. Es ist aber auch sinnvoll, die 'absoluten' Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen zu betrachten. […] Diese zeigen eine Verringerung der gesund-
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heitlichen Ungleichheit bei zwei der großen 'Killer': Krebs und HerzkreislaufErkrankungen. Aus dem Report ist auch zu ersehen, dass Politik viel bewirken kann. In den sieben Jahren seit 1998/99 hat sich die Zahl der Kinder, die in Armut leben, um 600.000 verringert. Das Regierungsziel 'Halbierung der Kinderarmut bis zum Jahr 2010/11' stellt eine große und schwierige Herausforderung dar, aber der gesundheitliche Nutzen der Kinder wird enorm sein, jetzt und in Zukunft“. Die empirische Überprüfung der Frage, ob und wie gut die quantitativen Ziele erreicht wurden, ist demnach eine anspruchsvolle und etwas heikle Aufgabe. Je nach Standpunkt des Betrachters lassen sich die gleichen Daten unterschiedlich interpretieren. Die Bewertung dieser empirischen Analysen sollte daher in einem breiten wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs stattfinden. Im Juni 2008 ist vom Gesundheitsministerium der Bericht 'Gesundheitliche Ungleichheit: Entwicklung und nächste Schritte' publiziert worden (Department of Health 2008b). Dort wird zugesagt, die Anstrengungen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit in den nächsten Jahren weiter zu verstärken, und dafür erhebliche zusätzliche Mittel bereit zu stellen (Cohen 2008). Als Reaktion auf die erkennbaren Probleme beim Erreichen der quantitativ spezifizierten Ziele werden also die Bemühungen intensiviert (und nicht die Ziele des Programms insgesamt in Frage gestellt). Auf dem 13. bundesweiten Kongress 'Armut und Gesundheit' (2007 in Berlin) hat Ken Judge (School for Health, University of Bath), ein ausgewiesener Kenner der Diskussion in England, in einem Vortrag ausführlich über die dortigen Erfahrungen mit den quantitativ fixierten Zielvorgaben berichtet. Besonders wichtig sind dabei die folgenden Punkte (zitiert aus Mielck et al. 2008):
Das bisherige Monitoring hat gezeigt, dass hinsichtlich der Ziele bisher fast kein Fortschritt stattgefunden hat. Die wichtigsten Gründe dafür sind: (a) Beim Prozess der Zielsetzung wurde nicht sorgfältig genug überlegt, warum ein spezifisches Ziel aufgenommen werden sollte und ob das Ziel in dem vorgesehenen Zeitraum auch erreicht werden kann. (b) Die Indikatoren zur empirischen Messung von Zielen und Zielerreichung wurden zum Teil nicht genau genug definiert. (c) Der Frage, wie die nationale Zielsetzung im regionalen Kontext praktisch umgesetzt und implementiert werden kann, wurde zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. (d) Derartige Ziele lassen sich nur langfristig erreichen, kurzfristige Erfolge sind kaum zu erwarten. Die Evaluation der Zielerreichung hat mehrere methodische und auch politische Probleme deutlich gemacht. Zu nennen sind hier zum Beispiel: stellenweise unangemessene empirische Erfassung der Indikatoren, 'beschönigende' Analyse und Interpretation der Daten. Die Festlegung auf quantitative Ziele (im Gegensatz zu semi-quantitativen bzw. qualitativen Zielen) ist vor allem eine politische Willenserklärung, eine Reaktion auf den öffentlichen Druck, der konkrete Maßnahmen fordert. Positiv am Vorgehen Englands ist vor allem, dass die Diskussion über diese Ziele und das Monitoring der Zielerreichung öffentlich erfolgt und in der Bevölkerung auf großes Interesse stößt. Damit ist die zentrale Grundlage für die Schaffung von Transparenz und Partizipation gelegt worden.
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Im Vereinigten Königreich (UK) ist die Gesundheitsziele-Bewegung dadurch relativ nachhaltig, dass eine 'top-down response' auf einen 'bottom-up demand' erfolgte. Mit anderen Worten: Die nationale Regierung hat ein Thema in die regionalen Strukturen eingebracht (top-down), dass von den Akteuren 'vor Ort' schon lange als ein wichtiges Thema angesehen worden ist (bottom-up). Ein top-down-Ansatz kann nur dann funktionieren, wenn die Umsetzung partizipativ gestaltet wird. Die Implementierungs-Prozesse müssen daher in eine breite öffentliche Diskussion eingebettet sein und durch sorgfältiges Monitoring begleitet werden. Entscheidend in allen Phasen (Planung, Zielformulierung, Umsetzung, Evaluation) sind vor allem zwei Elemente: Zum einen das 'commitment' (d.h. das Engagement) der politischen Akteure, und zum anderen die aktive Einbeziehung der Öffentlichkeit auf der jeweils adressierten Ebene (national, regional, kommunal). Der Prozess muss begleitet werden von einem 'independent public monitoring', d.h. von einer unabhängigen öffentlichen Berichterstattung und Diskussion.
Als Fazit des Vortrages lassen sich insbesondere die folgenden Botschaften festhalten: Die Festlegung von quantitativen Zielen ist schwierig und nicht ohne methodische Probleme, ebenso wie das Erheben, Analysieren und Interpretieren von Daten zur Überprüfung der Zielerreichung. Quantitative Ziele haben vor allem eine politische Signalwirkung. Entscheidend für den Erfolg ist jedoch die Ausarbeitung einer expliziten Strategie zur Zielerreichung, die von den relevanten Akteuren mitgetragen wird, partizipativ umgesetzt wird sowie von einer öffentlichen und unabhängigen Diskussion der erhobenen Daten zur Zielerreichung begleitet wird. Ziele können entweder qualitativ definiert werden (z.B.: Der Gesundheitszustand der unteren Statusgruppen soll verbessert werden.) oder quantitativ (z.B.: Die gesundheitliche Ungleichheit soll in 5 Jahren um 10% verringert werden.). Die Frage, welche dieser beiden Strategien wann Erfolg versprechender ist, lässt sich aufgrund der Erfahrungen in England bisher noch nicht zufriedenstellend beantworten.
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Definition quantitativer Zielvorgaben: Probleme und Lösungsvorschläge
Die oben angesprochenen Erfahrungen haben eine intensive Diskussion darüber ausgelöst, was bei der Definition derartiger quantitativer Zielvorgaben beachtet werden sollte (Bauld et al. 2008). Die zentralen Ergebnisse dieser Diskussion sollen im Folgenden noch einmal kurz zusammengestellt werden. Wichtig zu betonen ist beispielsweise, dass nur solche Ziele quantitativ spezifiziert werden können, zu denen eine verlässliche Datenbasis existiert. Zudem muss bereits bei der Zieldefinition selbst genau festgelegt werden, mit welchen Daten und mit welchen statistischen Analysen überprüft werden soll, ob und in welchem Ausmaß die Ziele erreicht wurden. Erheblich schwieriger zu lösen ist das Problem, dass die Zielvorgaben nur selten durch eine Strategie untermauert werden, die verbindlich festlegt, wer welche konkreten Interventionsmaßnahmen durchführen soll und welchen Beitrag diese einzelnen Maßnahmen zur Erreichung des Gesamtziels leisten können. Dieser Mangel an Spezifität und konsentierter Aufgabenverteilung ist u.a. darin begründet, dass noch sehr wenig darüber bekannt ist, mit welchen Maßnahmen die gesundheitliche Ungleichheit wie stark verringert werden kann. Dennoch sollte so weit wie möglich versucht werden, die einzelnen Akteure in den Prozess
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der Zielentwicklung einzubinden, und ihre Verantwortlichkeiten bereits bei der Zieldefinition so klar wie möglich zu benennen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die (bereits oben erwähnte) notwendige Unterscheidung zwischen absoluter und relativer gesundheitlicher Ungleichheit. Das Beispiel England zeigt, dass eine Verringerung der absoluten Ungleichheit durchaus mit einer Vergrößerung der relativen Ungleichheit einhergehen kann. Es besteht Einigkeit darin, dass beide Formen der Ungleichheit verringert werden sollen. Quantitative Ziele sollten dementsprechend sowohl für die absoluten als auch für die relativen Ungleichheiten formuliert werden. Mit dem Begriff 'gesundheitliche Ungleichheit' können drei unterschiedliche Problemdefinitionen verbunden sein, die unterschiedliche politische Strategien nach sich ziehen. H. Graham und M. Kelly (2004) betonen in einem Bericht für die Regierung in London, dass häufig nicht ganz klar ist, welche dieser Definitionen im Vordergrund steht. Sie lassen sich wie folgt beschreiben:
schlechter Gesundheitszustand in der unteren Statusgruppe Unterschiede im Gesundheitszustand zwischen der unteren und der oberen Statusgruppe Gradient der gesundheitlichen Ungleichheit in der Gesamtbevölkerung (d.h. stufenweise schlechter werdender Gesundheitszustand mit abnehmendem sozialen Status)
Diese Unterscheidung ist keine akademische Spielerei. Die Entwicklung einer Strategie zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit hängt entscheidend davon ab, wie das Problem definiert wird. Entsprechend der obigen Einteilung können sich die Anstrengungen auf drei unterschiedliche Zielsetzungen konzentrieren:
Verbesserung des Gesundheitszustandes in der unteren Statusgruppe (z.B. durch Schaffung zusätzlicher Gesundheitsförderungsangebote speziell für diese Personengruppe) Verringerung des Unterschiedes zwischen der unteren und der oberen Statusgruppe (z.B. durch Verlagerung von Ressourcen für Gesundheitsförderung hin zu solchen Maßnahmen, von denen vor allem die unteren Statusgruppen profitieren) Verringerung des Gradienten (z.B. durch Maßnahmen, die darauf abzielen, dass in allen Statusgruppen nur noch so wenig geraucht wird wie jetzt in der oberen Statusgruppe)
Die erste Zielsetzung mag auf den ersten Blick ausreichend erscheinen. Es ist jedoch durchaus möglich, dass die gesundheitliche Ungleichheit zunimmt, obwohl der Gesundheitszustand in der unteren Statusgruppe verbessert worden ist (siehe das oben zitierte Beispiel aus England). Es kann z.B. sein, dass im Rahmen eines Interventionsprogramms die sportliche Betätigung in der unteren Statusgruppe erfolgreich gefördert wird. Wenn aber im Rahmen des allgemeinen Fitness-Ideals die sportliche Betätigung in der oberen Statusgruppe sogar noch stärker zunimmt, dann kann die gesundheitliche Ungleichheit kaum abnehmen. Eine Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit ist nur möglich, wenn der Gesundheitszustand in der unteren Statusgruppe mehr verbessert wird als in der oberen. Mit der zweiten Zielsetzung wird der angestrebte Effekt daher sehr viel genauer erfasst.
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Die dritte Zielsetzung ist die radikalste, weil sie bevölkerungsweite Maßnahmen erfordert, deren Wirkung mit abnehmendem sozialem Status immer größer wird. Auf diese Weise würde nicht nur die gesundheitliche Ungleichheit zwischen der unteren und der oberen Statusgruppe reduziert werden, sondern z.B. auch die gesundheitliche Ungleichheit zwischen der mittleren und der oberen Statusgruppe. Wenn die oben genannten Staaten, in denen quantitative Ziele definiert wurden, in dieses Schema eingeordnet werden, dann zeigt sich das folgende Bild: Auf die erste Zielsetzung beschränkt haben sich nur Schottland und Wales, alle anderen Staaten haben die zweite Zielsetzung gewählt. Eine ernsthafte Anstrengung zur quantitativen Konkretisierung der dritten Zielsetzung ist in keinem der Staaten zu erkennen. Von Seiten der Wissenschaft wird jedoch immer wieder gefordert, dass alle drei Ansätze kombiniert werden sollten, weil so die größten Effekte zu erwarten sind (Graham & Kelly 2004). Eng damit zusammen hängen die folgenden Begriffe: In der englischsprachigen Diskussion wird unterschieden zwischen „universalistic policies“ einerseits und „targeted approaches“ andererseits (Mielck et al. 2002). Der erste Begriff bezieht sich auf die Interventionsmaßnahmen, die sich an die gesamte Bevölkerung richten (zum Beispiel an alle Kinder unabhängig vom sozialen Status ihrer Eltern). Der zweite Begriff dient zur Beschreibung der Maßnahmen, mit denen nur spezifisch ausgewählte Zielgruppen erreicht werden sollen (zum Beispiel Kinder aus einkommensschwachen Familien). Auch hier wird immer wieder betont, dass der größte Effekt dann erreicht werden kann, wenn beide Ansätze miteinander kombiniert werden. In einer vergleichbaren Diskussion werden die Begriffe „Upstream/Downstream“ verwendet. „Upstream“ bezeichnet dabei die „Quelle“ eines Problems (z.B. Arbeitslosigkeit oder geringes Einkommen). Mit „Downstream“ sind die Folgen gemeint, die sich am Ende des „kausalen Flusses“ als gesundheitliches Problem manifestieren. Auch hier besteht Einigkeit darin, dass Upstream-Interventionen mit Downstream-Interventionen kombiniert werden müssen, dass auf allen Ebenen der Kausalkette eingegriffen werden sollte. Diese Aussagen bergen erhebliches Konfliktpotential. Upstream-Interventionen beziehen sich zumeist auf grundlegende Strukturen der Gesellschaft, sie können z.B. die Erhöhung des Einkommens von Alleinerziehenden oder die bessere Ausstattung von Kindergärten und Schulen in 'sozialen Brennpunkten' umfassen. Derartige Interventionen sind häufig nur nach mehr oder weniger langen politischen Kontroversen durchzusetzen. Gesundheitliche Effekte dieser Interventionen sind zudem nur mittelbar zu erwarten, und sie werden in Evaluationsstudien nur schwer nachweisbar sein. Entsprechend der obigen Argumentation sind diese Interventionsmaßnahmen dennoch unerlässlich, weil sie auf die Quelle der gesundheitlichen Probleme abzielen. Downstream-Interventionen (z.B. bessere zahnärztliche Versorgung von Kindern aus unteren Einkommensgruppen) können dagegen relativ schnell zu messbaren Erfolgen führen; die „Upstream-Ursachen“ des Problems werden dadurch jedoch kaum behoben. Zusammenfassend lassen sich aus diesen Erfahrungen vor allem drei Empfehlungen ableiten:
So weit wie möglich quantifizierte Ziele sollten auf allen Ebenen – von 'Downstream' bis hin zu „Upstream“ – definiert werden. Diese einzelnen Ziele sollten zu einem Gesamtkonzept integriert werden.
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Die entscheidende Hürde ist nicht die Einigung auf diese Ziele, sondern die Untermauerung der Ziele durch realistische Umsetzungsstrategien. Deshalb sollte die Implementierung sehr genau geplant und kontinuierlich evaluiert werden.
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Förderung der Diskussion in Deutschland
Die Entwicklung konkreter Ziele zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit in Europa ist seit Ende der 80er Jahre vor allem durch das WHO-Regionalbüro in Kopenhagen vorangetrieben worden. Im Jahr 1998 wurde von allen Mitgliedstaaten der europäischen Region (also auch von Deutschland!) das Programm 'Gesundheit für alle im 21. Jahrhundert' (Gesundheit 21) verabschiedet.10 Das zweite Ziel (von insgesamt 21) trägt die Überschrift 'Gesundheitliche Chancengleichheit'. Es wird wie folgt konkretisiert: „Bis zum Jahr 2020 sollte das Gesundheitsgefälle zwischen den sozioökonomischen Gruppen innerhalb der Länder – durch eine wesentliche Verbesserung der Gesundheit von benachteiligten Gruppen – in allen Mitgliedstaaten um mindestens ein Viertel verringert werden. In diesem Zusammenhang sollten insbesondere folgende Teilziele erreicht werden: Das Gefälle in der Lebenserwartung zwischen sozio-ökonomischen Gruppen sollte um mindestens 25% reduziert werden. Die Werte für die wichtigsten Indikatoren von Morbidität, Behinderungen und Mortalität sollten sich gleichmäßiger auf die verschiedenen Statusgruppen verteilen“. Es ist kein Geheimnis, dass die quantitative Festlegung auf den Wert 'um 25% bis zum Jahr 2020' nur ansatzweise auf wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Erfolgsaussichten konkreter Interventionsmaßnahmen beruht. Wie auch bei den oben genannten Beispielen aus anderen westeuropäischen Staaten drückt diese Festlegung vor allem den politischen Willen aus, dass messbare Erfolge erzielt und die Zielerreichung überprüft werden sollen. Dennoch müssen sich die politisch Verantwortlichen in Deutschland fragen lassen, wie sie diese (im Rahmen der WHO-Vereinbarung eingegangene) Selbstverpflichtung erfüllen wollen. Fortschrittsberichte zur Beantwortung der Frage, ob wir uns der quantitativen Zielvorgabe schrittweise nähern, liegen u.W. aus Deutschland bisher nicht vor. Inzwischen gibt es aber auch in Deutschland verschiedene Stellungnahmen, in denen die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit gefordert wird (Mielck 2008b). Sie stammen z.B. aus dem bereits oben erwähnten „Kooperationsverbund Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“11 (siehe auch Lehmann in diesem Band). Um nur einige weitere Beispiele zu nennen:
Die Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK)12 hat wiederholt auf die Probleme der gesundheitlichen Ungleichheit hingewiesen, z.B. auf der letzten Konferenz im Juli 2007 (80. GMK). In den Beschlüssen wird dort auch auf die Aktivitäten der BZgA im „Kooperationsverbund Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ hingewiesen. Die GMK „empfiehlt den Ländern, zum Ausbau des Kooperations-
10 11 12
http://www.euro.who.int/document/health21/wa540ga199heger.pdf http://www.gesundheitliche-chancengleichheit.de http://www.gmkonline.de
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verbunds und der Regionalen Knoten in geeigneter Weise beizutragen“. Am intensivsten hat sich die GMK bisher im Jahr 2001 (74. GMK) mit den Fragen der gesundheitlichen Ungleichheit beschäftigt. Dort gab es einen eigenen Tagungsordnungspunkt 'Soziale Lage und Gesundheit'. In den Beschlüssen wird dazu aufgerufen, die sozialen Unterschiede im Gesundheitszustand zügig zu verringern. Auf dem 108. Deutsche Ärztetag (Mai 2005 in Berlin) war das Thema „gesundheitliche Ungleichheit“ eines der zentralen Themen. Im Beschlussprotokoll wird deutlich Stellung bezogen. „Um die gesundheitlichen Defizite unterprivilegierter Patientinnen und Patienten ausgleichen zu können, benennt der Deutsche Ärztetag folgende Maßnahmen: […] Die Diskussion um neue Versorgungs- und Kooperationsformen und entsprechende Modellprojekte sollte nicht allein der Verbesserung einzelner Krankheitsbilder, sondern der Verbesserung der Gesundheitsversorgung unterprivilegierter Regionen/Lebenswelten Aufmerksamkeit widmen“.13 Wie bereits erwähnt, beinhaltet das Gutachten des Sachverständigenrates aus dem Jahr 2006 ein großes Kapitel mit der Überschrift 'Sozioökonomischer Status und Verteilung von Mortalität, Morbidität und Risikofaktoren'. Gemessen an den detaillierten Beschreibungen der gesundheitlichen Ungleichheit wird dort relativ wenig gesagt zu den sich daraus ergebenden konkreten Forderungen; es wird aber gesagt: „Die Verminderung dieser statusbedingten Ungleichheiten von Gesundheitschancen bildet eine prioritäre Aufgabe der Gesundheitspolitik“ (Sachverständigenrat 2006). Im Gutachten aus dem Jahr 2007 (Sachverständigenrat 2007) wird erneut auf die Dringlichkeit des Themas „gesundheitliche Ungleichheit“ hingewiesen. Der Blick richtet sich dabei auf die gesundheitspolitischen Aktivitäten in verschiedenen westeuropäischen Staaten. Ein klares Bekenntnis zur Quantifizierung des Ziels 'Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit in Deutschland' ist auch hier nicht zu finden. Im Abschnitt 1103 wird jedoch betont: „Die […] Lösung, nach der alle öffentlich geförderte Prävention insbesondere einen Beitrag zur Verminderung sozial oder durch Geschlecht bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen zu leisten hat, sollte beibehalten werden. Zugleich sollte festgelegt werden, ob und ggf. wie diese allgemeine Orientierung durch konkrete Präventionsziele bzw. Zielsysteme wie z.B. in Großbritannien, Schweden oder den Niederlanden unterbaut werden könnte.“
Offenbar scheuen die Akteure bei uns (noch) die Festlegung auf quantitative Zielgrößen. Diese Scheu mag zum einen damit zusammenhängen, dass auch aus wissenschaftlicher Sicht noch nicht gesagt werden kann, welche Verringerung der Ungleichheit mit welcher Maßnahme zu erwarten ist. Der Hauptgrund ist jedoch vermutlich, dass bei einer quantitativen Festlegung genau geprüft werden kann, ob dieses Ziel auch erreicht wurde, und dass unbefriedigende Ergebnisse gerechtfertigt werden müssten. Die derzeitigen Bemühungen um die Definition von nationalen Gesundheitszielen konzentrieren sich seit dem Jahr 2000 vor allem auf den Kooperationsverbund 'gesundheitsziele.de', der sich als Plattform zur Definition und Umsetzung von nationalen Gesundheitszielen versteht und bei der Gesellschaft für Versicherungswesen und Gestaltung (gvg) angesiedelt wurde14. Gefördert durch das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) sowie Sozialversicherungsträgern und Leistungserbringern wird dort in 13 14
http://www.bundesaerztekammer.de http://www.gesundheitsziele.de/
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Kooperation mit vielen Partnern versucht, auf wissenschaftlicher Basis konsentierte, konkrete Zielsetzungen zu formulieren. In den Prozess eingebunden sind alle wesentlichen Strukturen der Gesundheitsversorgung, Sozialversicherungsträger und Gesundheitsbehörden auf nationaler, Landes- und kommunaler Ebene. Die bisher erarbeiteten exemplarischen Gesundheitsziele beziehen sich auf die folgenden Themen: Diabetes, Brustkrebs, Tabakkonsum, Gesund aufwachsen, Patientensouveränität, depressive Erkrankungen. Alle Zielformulierungen sind qualitativ und nicht quantitativ ausgerichtet. Fragen der gesundheitlichen Ungleichheit sollten im Rahmen der 'QuerschnittsAnforderungen' bei der Erarbeitung der Gesundheitsziele berücksichtigt werden, d.h. sie sollten bei keinem der Ziele außer Acht bleiben. Diese relativ unspezifische Aufforderung ist jedoch offenbar in den institutionsübergreifenden Arbeitsgruppen zur Zielformulierung insgesamt auf wenig Resonanz gestoßen. Nur in der Arbeitsgruppe 'Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung bei Kindern und Jugendlichen' ist ein größeres Engagement für Fragen der gesundheitlichen Ungleichheit zu erkennen. Bei den übergreifenden Teilzielen für die Settings Familie/Freizeit, Kindertagesstätten und Schulen spielt die Definition von Maßnahmen für schwer erreichbare, sozial benachteiligte Zielgruppen dort eine wesentliche Rolle. Die Gesundheitsziele für das Kindes- und Jugendalter verstehen sich damit auch als ein Beitrag zur gesundheitlichen Chancengleichheit (Altgeld 2003). Quantitative Ziele werden jedoch auch hier nicht genannt. Unterhalb der nationalen Diskussion finden in Deutschland die Auseinandersetzungen über Gesundheitsziele zur Verringerung der gesundheitlichen Chancengleichheit vor allem auf Länderebene statt (entsprechend der Länderverantwortung für Gesundheitspolitik). So wurde z.B. in Berlin im Jahr 2004 eine Landesgesundheitskonferenz gesetzlich installiert und mit Experten und hochrangigen Entscheidungsträgern besetzt. Dabei sind mehrere thematische Arbeitsgruppen eingesetzt worden, zu Themen wie: Prävention bei Kindern und Jugendlichen, Migration und Gesundheit, Gesundheitsmonitoring, Qualitätssicherung und Evaluation. Für den Themenbereich 'Kinder und Jugendliche' wurden im Jahr 2007 mehrere quantifizierte Ziele zu verschiedenen Handlungsfeldern formuliert (z.B. zu „Bewegung und Ernährung“). Die Ziele beziehen sich zum Einen auf die Verbesserung bei der Gesamtpopulation aller Kinder und Jugendlichen, zum Anderen aber auch auf die Reduzierung des Unterschieds zwischen Kindern aus verschiedenen sozialen Gruppen (Meinlschmidt 2008, Senatsverwaltung für Gesundheit 2007). Wichtig ist hier die Feststellung, dass auch in Berlin – ähnlich wie in England – auf das folgende Problem hingewiesen wird (Meinlschmidt 2007): Zwischen der Zielfestsetzung einerseits und der Entwicklung und Implementierung von Strategien zur Erreichung dieser Ziele andererseits besteht ein großer „gap“. Große Mängel gibt es auch beim dafür notwendigen integrierten und koordinierten Handeln der beteiligten Akteure. Hier zeigt sich erneut die Gefahr: Wenn das Beschließen von Gesundheitszielen zu keinen evidenzbasierten, konsistenten und von den Akteuren mitgetragenen und mitverantworteten Handlungsstrategien führt, dann ist dies reine 'Symbolpolitik'. Quantifizierte Gesundheitsziele auf Länderebene bilden ansonsten eher die Ausnahme. So wurden z.B. in Sachsen-Anhalt zwei von fünf Zielbereichen quantifiziert (z.B. Erreichen eines altersgemäßen Impfstatus bei 90 Prozent der Bevölkerung)15. Obwohl Zielkonzepte mittlerweile in fast allen Bundesländern vorliegen, haben sich – nach ersten, eher negativen Erfahrungen mit quantifizierten von der WHO übernommenen Gesundheitszielen in Nord15
http://www.sachsen-anhalt.de/LPSA/index.php?id=1078
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rhein-Westfalen Mitte der 90er Jahre – qualitative Zielformulierungsstrategien durchgesetzt. Da sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene auf konsentierte Zieldefinitionsprozesse gesetzt wurde (d.h. die wesentlichen Akteure des Gesundheitssektors und der Wissenschaft wurden in den gesamten Prozess einbezogen), scheint die qualitative Zielformulierungsstrategie leichter konsensfähig zu sein. Die überwiegende Mehrzahl der Gesundheitsziele auf Landesebene ist für die Gesamtbevölkerung formuliert. Nur selten – z.B. in Niedersachsen, Sachsen und eben in Berlin (siehe oben) – werden Ziele explizit für sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen formuliert (in Niedersachsen für sozial benachteiligte Kinder16 und in Sachsen für Arbeitslose17). Bei der Zielformulierung auf Länderebene steht die Verbesserung des Gesundheitszustandes der sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen sonst nicht klar im Fokus (und damit auch nicht das Ziel 'Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit'). Die zentrale Frage lautet: Wie kann die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland verringert werden, welche Strategien sind Erfolg versprechend, und was kann die Festlegung auf quantitative Zielvorgaben dazu beitragen? Auf einer Sitzung der WHO „Commission on Social Determinants of Health“ (Kommission zu den sozialen Determinanten von Gesundheit) im Mai 2005 hat der Vertreter aus England, Liam Donaldson, die zentralen Elemente einer erfolgreichen Strategie zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit wie folgt zusammengefasst18:
Man braucht einen Plan und klare messbare Ziele. Man braucht Überzeugung. Jede Aktion beginnt mit der Überzeugung, dass man etwas zur Verringerung des Problems tun kann. Alle Ministerien müssen in die Planung einbezogen sein, auch das Finanzministerium. Obwohl es hier nicht nur um die Gesundheitsversorgung geht, müssen die Akteure der gesundheitlichen Versorgung eine führende Rolle übernehmen. Es muss ein Gesamtkonzept von Planung und Finanzierung geben, auch und vor allem auf regionaler Ebene.
Oben wurde bereits deutlich, wie stark sich die Strategien und Erfahrungen von Staat zu Staat unterscheiden, dass in jedem Staat andere Rahmenbedingungen vorhanden sind, und dass die Erfahrungen aus einem Staat nie direkt von einem anderen kopiert werden können. Die Erfahrungen aus England sind jedoch so allgemein gültig, dass wir auch in Deutschland viel davon lernen können. Ausgangspunkt sind offenbar „klare messbare Ziele“. Bei der praktischen Entwicklung dieser quantitativen Zielvorgaben müssen vor allem die folgenden fünf Fragen beantwortet werden:
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Welche? (Wie lässt sich die gesundheitliche Ungleichheit, die verringert werden soll, exakt definieren? Wie kann diese Auswahl begründet werden?) Um wie viel? (Um wie viel Prozent soll die gesundheitliche Ungleichheit verringert werden? Wie kann diese Festlegung begründet werden?) http://www.gesundheit-nds.de/arbeitsschwerpunkte/uebersicht/gesundheitsziele.htm http://www.gesunde.sachsen.de/98.html http://www.who.int/social_determinants/advocacy/wha_csdh/en/
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Bis wann? (Bis wann soll dieses Ziel erreicht werden? Wie kann diese Festlegung begründet werden?) Durch wen? (Wer ist verantwortlich für die Erreichung dieses Ziels? Welche Akteure sollen welchen Teil der Umsetzung praktisch durchführen?) Wie? (Durch welche konkreten Maßnahmen soll das Ziel erreicht werden? Wie sollen diese Maßnahmen koordiniert werden?)
Wie oben bereits betont, sind die beiden letzten Fragen besonders schwer zu beantworten. Notwendig sind dafür nicht nur viel Engagement und Kooperationsbereitschaft, sondern auch umfangreiches Wissen und praktische Erfahrung. Für die Entwicklung und Umsetzung dieser Zielsetzung ist ein System der fortlaufenden Evaluation unverzichtbar. Es müssen Daten zur Verfügung stehen, die mit hinreichender Genauigkeit beschreiben, wie sich die gesundheitliche Ungleichheit im Laufe der Zeit verändert. Relativ einfach und präzise zu erfassen ist z.B. das Rauchen. In vielen empirischen Studien ist belegt worden, dass in den unteren Statusgruppen erheblich mehr geraucht wird als in den oberen (Mielck 2005, Schulze & Lampert 2006), und an der gesundheitsschädigenden Wirkung des Rauchens besteht kein Zweifel. Das Rauchen könnte daher ein gutes Modell sein für die Entwicklung von quantitativen Zielen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit. Die Erfahrungen, die mit einem relativ einfachen Beispiel wie dem Rauchen gewonnen werden, könnten dann für die Entwicklung von anderen, komplexeren Zielen genutzt werden. Dabei sollte mehr als bisher versucht werden, von den Erfahrungen zu profitieren, die in den anderen westeuropäischen Staaten gemacht worden sind. Es gibt dort eine zum Teil sehr rege Diskussion zum Thema 'gesundheitliche Ungleichheit' (auf Englisch wird dieses Thema zumeist mit den folgenden Begriffen umschrieben: health inequalities, health inequities, health gap, health gradient). In Deutschland wird diese Diskussion bisher leider nur sehr bruchstückhaft und unzureichend wahrgenommen, sie bietet jedoch eine hervorragende Basis auch für die Entwicklung von Strategien zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit. Dies gilt auch und vor allem für die Definition quantitativer Zielsetzungen. Zusätzlich zu den bereits oben erwähnten Projekten und Initiativen können hier vor allem die folgenden genannt werden:
Das im Vereinigten Königreich (UK) eingeführte Verfahren von 'Health Equity Audits' für die Festlegung von Zielen zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit auf regionaler Ebene Die WHO 'Commission on Social Determinants of Health' (Kommission zu den sozialen Determinanten von Gesundheit) unter dem Vorsitz von Michael Marmot Die Diskussion über die Abschätzung der Effekte politischer Entscheidungen auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit (z.B. Health Inequality Impact Assessment, Health Impact Assessment Consortium, European Policy Health Impact Assessment) Die praktischen Erfahrungen im Vereinigten Königreich (UK) mit der Gesundheitsförderung in besonders benachteiligten Regionen (Health Action Zones)
Last but not least muss betont werden, dass Gesundheitsziele nur in einem intensiven Diskussionsprozess mit allen Beteiligten entwickelt und umgesetzt werden können. Daran
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müssen auch und vor allem die Personengruppen beteiligt werden, deren Gesundheitszustand verbessert werden soll.
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(Alle Internet-Adressen: Zugriff im September 2008)
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Abel, Thomas, geb. 1956, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, Professor am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Lebensstile, Prävention und Gesundheitsförderung, Gesundheitssurvey Forschung. Anschrift: Universität Bern, Institut für Sozial- und Präventivmedizin, Abteilung Gesundheitsforschung, Niesenweg 6, CH-3012 Bern, email: abel@ispm. unibe.ch. Abraham, Andrea, geb. 1978, Ethnologin, assoziierte Forscherin am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Arbeitsschwerpunkte: Medizinanthropologie, Qualitätsdiskurse in der Allgemeinmedizin, soziale Ungleichheit und Gesundheit. Anschrift: Universität Bern, Institut für Sozialanthropologie, Längassstraße 49a, CH-3000 Bern 9, email:
[email protected]. Altgeld, Thomas, geb. 1963, Diplompsychologe, Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit Niedersachsen e.V. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitliche Chancengleichheit, Gesundheitsfördernde Settingarbeit, Männergesundheit. Anschrift: Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V., Fenskeweg 2, 30165 Hannover, email:
[email protected]. Babitsch, Birgit, geb. 1967, Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin, Dr. P.H., Wissenschaftliche Assistentin am Berliner Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM), Charité – Universitätsmedizin Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechterforschung, Migration und Gesundheit, Sozialepidemiologie, Versorgungsforschung. Anschrift: Zentrum für Geschlechterforschung in der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Luisenstr. 65, 10117 Berlin, email:
[email protected]. Behrens, Johann, geb. 1949, Soziologe und Gesundheitswissenschaftler, Professor und Gründungsdirektor des Institutes für Gesundheits- und Pflegewissenschaften der Medizinischen Fakultät Halle-Wittenberg. Arbeitsschwerpunkte: Evidenz (Qualität) für klinische und systemische Gesundheitsinterventionen, Soziologie sozialer Ungleichheit in der Gesundheit, Pflegeforschung, Versorgungsforschung und Sozialökonomie. Anschrift: Medizinische Fakultät der MLU, DFG-Sonderforschungsbereich 580, Magdeburger Straße 8, 06097 Halle, email:
[email protected]. Bolte, Gabriele, geb. 1966, Immunologin, Umweltepidemiologin und Gesundheitswissenschaftlerin, PD Dr. rer. physiol., MPH, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (Sachgebiet Umweltmedizin), Dozentin für Epidemiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Ulm. Arbeitsschwerpunkte: Umwelt und Gesundheit, Kindergesundheit, Umweltgerechtigkeit. Anschrift: Bayerisches
480 Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Sachgebiet Umweltmedizin, Veterinärstr. 2, 85764 Oberschleißheim, email:
[email protected]. Dinger, Hanna, geb. 1987, stud.med., Studentin im Modellstudiengang Humanmedizin an der Universität zu Köln. Anschrift: Abt. Medizinische Soziologie, Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Sozialhygiene des Klinikums der Universität zu Köln, Eupener Str. 129, 50933 Köln, email:
[email protected]. Dragano, Nico, geb. 1972, Sozialwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Soziologie der Universität Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit, Herz-Kreislauf-Epidemiologie, Arbeitsstress. Anschrift: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Universitätsklinikum, Universitätsstraße 1, 40225 Düsseldorf, email:
[email protected]. Dür, Wolfgang, geb. 1954, Sozialwissenschaftler, Privatdozent, Dr. phil., Leiter des Ludwig Boltzmann Institute Health Promotion Research. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitsförderung, Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Schule, Gesundheit in sexuellen Beziehungen, Systemtheorie, Evaluation. Anschrift: Ludwig Boltzmann Institute Health Promotion Research, Untere Donaustraße 47, 1020 Wien; email:
[email protected]. Erhart, Michael, geb. 1970, Diplompsychologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Hambur-Eppendorf. Forschungsgruppe „Child Public Health“. Arbeitsschwerpunkte: Lebensqualität, statistische Modellierung, Psychometrie und Epidemiologie. Anschrift: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik, Forschungsgruppe „Child Public Health“, Gebäude W29 (Erikahaus), Martinstr. 52, 20246 Hamburg, email:
[email protected]. Fürth, Kristina, geb. 1969, Soziologin, Dr. phil., ehem. wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Medizin- und Gesundheitssoziologie. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheit und Gesundheitsverhalten bei Kindern und Jugendlichen, Gesundheitsförderung im Setting Schule, Betriebliche Gesundheitsförderung, Evaluationsforschung. Anschrift: Ludwig Boltzmann Institut für Medizin und Gesundheitssoziologie (LBIMGS), Rooseveltplatz 2/4, A-1090 Wien, email:
[email protected]. Giesecke, Johannes, geb. 1973, Sozialwissenschaftler, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit, Schichtung und Mobilität, Arbeitsmarktforschung, Methoden der empirischen Sozialforschung. Anschrift: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin, email:
[email protected]. Griebler, Robert, geb. 1979, Medizin- und Gesundheitssoziologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann Institute Health Promotion Research. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheit und Gesundheitsverhalten bei Kindern und Jugendlichen, Gesundheitsförderung im Setting Schule, Betriebliche Gesundheitsförderung, Evaluationsforschung. An-
481 schrift: Ludwig Boltzmann Institute Health Promotion Research, Untere Donaustraße 47, 1020 Wien, email:
[email protected]. Gross, Christiane, geb. 1977, Soziologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Kiel. Arbeitsschwerpunkte: Medizin- und Gesundheitssoziologie, Methodologie, abweichendes Verhalten. Anschrift: Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel, Institut für Sozialwissenschaften, Westring 400, 24098 Kiel, email:
[email protected]. Grosse Frie, Kirstin, geb. 1979, Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitsbezogene Lebensstile, Sozial-Epidemiologie, Versorgungsforschung. Anschrift: Abt. Medizinische Soziologie, Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Sozialhygiene des Klinikums der Universität zu Köln, Eupener Str. 129, 50933 Köln, email:
[email protected]. Helmert, Uwe, geb. 1952, Sozialepidemiologe, Prof, Dr. rer. pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen und am DFGSonderforschungsbereich 597 „Staatlichkeit im Wandel“. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Sozialepidemiologie, Internationaler Vergleich von Gesundheitssystemen. Anschrift: Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen, Parkallee 39, 28203 Bremen, email:
[email protected]. Hradil, Stefan, geb. 1946, Professor für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Sozialstruktur, soziale Milieus und Lebensstile, zukünftige Entwicklung moderner Gesellschaften. Anschrift: Universität Mainz, Fachbereich 02 Sozialwissenschaften, Medien und Sport, 55099 Mainz, email:
[email protected]. Hurrelmann, Klaus, geb. 1944, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, Professor a.D. an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendgesundheit, Sozialisation, Prävention und Gesundheitsförderung. Anschrift: Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, email:
[email protected]. Janßen, Christian, geb. 1965, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abt. Medizinische Soziologie, Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Sozialhygiene des Klinikums der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Prävention und Gesundheitsförderung, Sozial-Epidemiologie, Versorgungsforschung, Methoden der empirischen Sozialforschung. Anschrift: Abt. Medizinische Soziologie, Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Sozialhygiene des Klinikums der Universität zu Köln, Eupener Str. 129, 50933 Köln, email:
[email protected]. Jungbauer-Gans, Monika, geb. 1963, Soziologin, Professorin für Soziologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Arbeitsschwerpunkte: Medizin- und Gesundheitssoziologie, Soziale Ungleichheit, Existenzgründungsforschung, Methoden der empirischen Sozialforschung. Anschrift: Christian-
482 Albrechts-Universität zu Kiel, Institut für Sozialwissenschaften, Westring 400, 24098 Kiel, email:
[email protected]. Knesebeck, Olaf v.d., geb. 1966, Medizinsoziologe, Professor am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Einflüsse auf Gesundheit und Versorgung, Alterssoziologie, international vergleichende Sozialforschung, Evaluationsforschung. Anschrift: Institut für Medizin-Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martinistr. 52, 20246 Hamburg, email:
[email protected]. Kohlhuber, Martina, geb. 1975, Diplomsoziologin und Gesundheitswissenschaftlerin (MPH), Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (Sachgebiet Umweltmedizin). Arbeitsschwerpunkte: Umweltepidemiologie, soziale und gesundheitliche Ungleichheit. Anschrift: Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Sachgebiet Umweltmedizin, Veterinärstr. 2, 85764 Oberschleißheim, email: martina.kohl-huber@lgl. bayern.de. Kroll, Lars Eric, geb. 1980, Diplomsoziologe, Doktorand am Robert Koch-Institut in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Empirische Sozialforschung, soziale Ungleichheit und Gesundheit, soziales Kapital und Gesundheit. Anschrift: Robert Koch-Institut, Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Seestr. 10, 13353 Berlin, email:
[email protected] Kümpers, Susanne, geb. 1956, Erziehungswissenschaftlerin, MPH, Dr. (Universität Maastricht), Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe Public Health, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Arbeitsschwerpunkte: Alter, soziale Ungleichheit und Gesundheit (vergleichende Präventions- und Versorgungsforschung, Gesundheitspolitik). Anschrift: WZB, Forschungsgruppe Public Health, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin, email:
[email protected]. Kunst, Anton Eduard, geb. 1960, Medical Demographer, Assistant Professor am Department of Public Health, Erasmus MC, University Medical Centre Rotterdam. Arbeitsschwerpunkte: Sozioökonomische, ethnische und geographische Ungleichheiten in der Gesundheit, Trends in der bevölkerungsbezogenen Gesundheit. Anschrift: Department of Public Health, Erasmus MC, PO Box 2040, 3000 CA Rotterdam, Niederlande, email:
[email protected]. Lampert, Thomas, geb. 1970, Diplomsoziologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Robert Koch-Institut in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendgesundheit, soziale Ungleichheit und Gesundheit, Gesundheitsverhalten. Anschrift: Robert Koch-Institut, Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Seestr. 10, 13353 Berlin, email:
[email protected]. Lehmann, Frank, geb. 1955, Arzt für Allgemeinmedizin, Dr. med., MPH, Leiter des Referats Planung und Koordinierung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Anschrift: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Ostmerheimer Str. 220, 51109 Köln, email:
[email protected] 483 Mielck, Andreas, geb. 1951, Soziologe und Epidemiologe, Dr. phil., MPH (in Epidemiologie), wissenschaftlicher Angestellter am Helmholtz Zentrum München – Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen. Arbeitsschwerpunkt: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Anschrift: Helmholtz Zentrum München – Institut für Gesundheitsökonomie und Management im Gesundheitswesen, Postfach 1129, 85758 Neuherberg, email:
[email protected]. Morfeld, Matthias, geb. 1964, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, Dr. PH., Professor für Rehabilitationspsychologie; System der Rehabilitation, Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften, Hochschule Magdeburg-Stendal (FH). Arbeitsschwerpunkte: Rehabilitationsforschung, Versorgungsforschung, Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Anschrift: Hochschule Magdeburg-Stendal, Osterburger Str. 25, 39576 Stendal, email:
[email protected]. Müters, Stephan, geb. 1973, Sozialwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gesundheitswissenschaften der Technischen Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitliche Ungleichheit, Prävention und Gesundheitsförderung, Methoden der empirischen Sozialforschung. Anschrift: Technische Universität Berlin, Institut für Gesundheitswissenschaften, Ernst Reuter-Platz 7, 10587 Berlin, email:
[email protected]. Ommen, Oliver, geb. 1974, Arzt und Gesundheitswissenschaftler, Dr. med., MPH, wissenschaftlicher Koordinator am Zentrum für Versorgungsforschung Köln (ZVFK). Arbeitsschwerpunkte: Versorgungsforschung, Arzt-Patient-Interaktion, Psychosoziale Versorgung, Arbeit und Gesundheit. Anschrift: Zentrum für Versorgungsforschung Köln, Eupener Str. 129, 50933 Köln, email:
[email protected]. Peter, Richard, geb. 1957, Sozialwissenschaftler, Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichverteilung von Gesundheit, psychosoziale Belastungen und Gesundheit, Gesundheitsförderung. Anschrift: Arbeitsgruppe Medizinische Soziologie, Abt. Epidemiologie, Universitätsklinikum Ulm, Helmholtzstrasse 22, 89081 Ulm, email:
[email protected]. Ravens-Sieberer, Ulrike, geb. 1964, Psychologin und Gesundheitswissenschaftlerin, Professorin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Arbeitsschwerpunkte: Lebensqualität, Kinder- und Jugendgesundheit, Psychische Gesundheit und Epidemiologie, Chronische Erkrankungen. Anschrift: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik für Kinderund Jugendpsychosomatik, Forschungsgruppe „Child Public Health“, Gebäude W29 (Erikahaus), Martinistr. 52, 20246 Hamburg, email:
[email protected]. Razum, Oliver, geb. 1960, Mediziner und Epidemiologe, Professor für Epidemiologie und International Public Health an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Migrantengesundheit, International Public Health. Anschrift: Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, email:
[email protected].
484 Reisig, Veronika, geb. 1965, Public Health Ärztin, Dr. med, MPH, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (Sachgebiet Public Health). Arbeitsschwerpunkte: Prävention und Gesundheitsförderung. Anschrift: Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Sachgebiet Public Health, Veterinärstr. 2, 85764 Oberschleißheim, email:
[email protected]. Richter, Matthias, geb. 1971, Medizin- und Gesundheitssoziologe, Dr. rer.soc., Vertretungsprofessor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheit- und Gesundheitsverhalten im Kindes- und Jugendalter, Sozialepidemiologie, Prävention und Gesundheitsförderung. Anschrift: Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, email:
[email protected]. Rosenbrock, Rolf, geb. 1945, Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, Professor für Gesundheitspolitik an der Berlin School of Public Health in der Charité Universitätsmedizin Berlin, Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Arbeitsschwerpunkte: Sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen, Primärprävention, Steuerung und Finanzierung der Krankenversicherung, Gesundheitspolitik. Anschrift: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, FG Public Health, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin, email:
[email protected]. Schäfer, Ingmar, geb. 1974, Diplomsoziologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizin-Soziologie der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Prävention und Gesundheitsförderung, Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Anschrift: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für psychosoziale Medizin, Institut für MedizinSoziologie, Martinistr. 52, 20246 Hamburg, email:
[email protected]. Schiffmann, Lars, geb. 1986, stud.med., Student im Modellstudiengang Humanmedizin an der Universität zu Köln. Anschrift: Abt. Medizinische Soziologie, Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Sozialhygiene des Klinikums der Universität zu Köln, Eupener Str. 129, 50933 Köln,E-Mail:
[email protected]. Schorb, Friedrich, geb. 1977, Soziologe, Doktorand am Fachbereich 11: Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie sozialer Kontrolle, Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Anschrift: Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen, Parkallee 39, 28203 Bremen, email:
[email protected]. Siegrist, Johannes, geb. 1943, Medizinsoziologe, Professor an der Medizinischen Fakultät der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit, soziale Ungleichheit und Gesundheit, Soziologie der Gesundheit im höheren Lebensalter. Anschrift: Institut für Medizinische Soziologie der Heinrich HeineUniversität Düsseldorf, Universitätsstr. 1, 40225 Düsseldorf, email:
[email protected]. Sommerhalder, Kathrin, geb. 1976, diplomierte Gesundheits- und Pflegeexpertin FH, European MA in Health Promotion, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berner Fachhoch-
485 schule Gesundheit. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Health Literacy, Gesundheitsförderung. Anschrift: Berner Fachhochschule, Fachbereich Gesundheit, Murtenstrasse 10, CH-3008 Bern, email:
[email protected]. Streich, Waldemar, geb. 1952, Sozialwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Landesinstituts für Gesundheit und Arbeit, NRW sowie der Abteilung für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Düsseldorf, Arbeitsschwerpunkte: Surveys in der Versorgungsforschung, soziale Ungleichheit, Gesundheitsberichterstattung. Anschrift: AugustBebel-Str. 64, 33602 Bielefeld, email:
[email protected]. Wille, Nora, geb. 1978, Psychologin und Gesundheitswissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Forschungsgruppe „Child Public Health“. Arbeitsschwerpunkte: Psychische Gesundheit, Epidemiologie und Lebensqualität. Anschrift: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik, Forschungsgruppe „Child Public Health“, Gebäude W29 (Erikahaus), Martinistr. 52, 20246 Hamburg, email:
[email protected].