Elmar Drieschner Erziehungsziel „Selbstständigkeit“
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Elmar Drieschner
Erziehungsziel „Selbstständigkeit“ Grundlage...
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Elmar Drieschner Erziehungsziel „Selbstständigkeit“
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Elmar Drieschner
Erziehungsziel „Selbstständigkeit“ Grundlagen, Theorien und Probleme eines Leitbildes der Pädagogik
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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel „Erziehungsziel ‚Selbstständigkeit’ – Eine Rekonstruktion und Problematisierung gesellschafts-, kultur- und erkenntnistheoretischer Diskurse über Erziehung und Unterricht als Anregung zur Selbsttätigkeit“ von der Fakultät Bildungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Lüneburg als Dissertation angenommen.
1. Auflage April 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15437-4
Danksagung
Meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. REINHARD UHLE möchte ich zuerst danken. Seine Förderung in Arbeits- und Seminarzusammenhängen und seine vielfältigen theoretischen Anregungen haben mich auf meinem Studienweg stets konstruktiv begleitet. Herzlichen Dank an Herrn Professor Dr. MATTHIAS VON SALDERN und Herrn Professor Dr. KARL NEUMANN, den weiteren Gutachtern dieser Dissertation. Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. THOMAS LEHMANN für seine freundliche Unterstützung durch wichtige Anmerkungen, Literaturhinweise und zur Verfügung gestellte Literatur. Herrn Dr. DETLEF GAUS danke ich herzlich, weil er durch viele anregende Gespräche zur Systematisierung und Weiterentwicklung meiner Gedanken beigetragen hat. Zu Dank verpflichtet bin ich auch meinen Eltern INGEBORG und HANS-JOACHIM DRIESCHNER, die das Projekt von Beginn an unterstützt haben. Es gab viele Gelegenheiten, über die Bezugstheorien und Thesen meiner Arbeit zu diskutieren. Allen Gesprächspartnern danke ich für ihr Interesse.
Lüneburg, im Januar 2007 ELMAR DRIESCHNER
Inhalt
1
Problemstellung und Vorgehensweise ..................................................................... 11
I
Selbstständigkeit als Zielnorm moderner Pädagogik ......................................... 17
2
Erziehung zur Selbstständigkeit in der Aufklärungs- und Reformpädagogik ........ 19
3
Das Selbstständigkeitsbild der soziologischen Individualisierungstheorie ............. 29
4
3.1
Individualisierung und reflexive Modernisierung ........................................ 30
3.2
Dimensionen von Individualisierung ........................................................... 34
3.3
Lesarten von Individualisierung ................................................................... 39
Die Selbstständigkeit individualisierter Kindheit und Jugend in erziehungswissenschaftlichen Zeitdiagnosen ...................................................... 43 4.1
Die neue Selbstständigkeit von Kindern im Strukturwandel der Erziehungswerte, -stile und –verhältnisse .................................................... 44
4.2
Selbstständigkeit als Strukturprinzip der Entwicklung von Kindern ........... 52
4.2.1 Die neue Selbstständigkeit von Kindern in der Sozialisationsforschung ..... 54 4.2.2 Die neue Selbstständigkeit von Kindern in der Soziologie der Kindheit ..... 57 4.2.3 Die neue Selbstständigkeit von Kindern in der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung ............................................................. 61 4.3
Selbstständigkeit aus identitätstheoretischer Sicht – Perspektiven der philosophischen Moderne-Postmoderne-Kontroverse ................................. 65
4.3.1 Individualisierungsdiagnosen in der Moderne-Postmoderne-Kontroverse ............................................................ 66 4.3.2 Zur Konzeptualisierung von Selbstständigkeit als ‚Ich-Identität’ ............... 70 4.3.3 Zur Konzeptualisierung von Selbstständigkeit als ‚dezentrierte Identität’ .................................................................................. 74 4.4
Lesarten der Selbstständigkeit individualisierter Kindheit und Jugend ....... 79
7
5
Die Selbstständigkeit individualisierter Schulkindheit ............................................ 87 5.1
Sozialhistorische und pädagogisch-theoriegeschichtliche Reflexionen zum Verhältnis von Kindheit, Jugend und Schule ....................................... 88
5.2
Schule und Unterricht als Individualisierungsfaktoren aus der Sicht der historischen Bildungssystemforschung .................................................. 94
5.3
Zum Umgang mit Individualisierungsansprüchen von Kindern und Jugendlichen in der Schulpädagogik .......................................................... 103
5.4
Zur didaktischen Förderung von Individualisierung durch selbstständiges Lernen im Unterricht ......................................................... 112
5.4.1 Didaktische Orientierungen und Unterrichtsmethoden im Wandel ........... 113 5.4.2 Individualisierung als kultureller Imperativ und als didaktisch-methodisches Prinzip von Unterricht ....................................... 115 5.4.3 Individualisierung als Sozialisationsmodus und das eigene Leben als Thema des Unterrichts .......................................................................... 119 5.4.4 Das Kind als Akteur seiner Entwicklung und als Konstrukteur seines Lernens – Zur Konvergenz kindheitstheoretischer und pädagogischdidaktischer Subjektmodelle ...................................................................... 121
II
Selbstständigkeit als selbstreferenzielles und selbstorganisiertes Lernen ..... 125
6
Konzepte konstruktivistischen Denkens ................................................................ 127 6.1
Zur wissenssoziologischen Deutung der Genese konstruktivistischen Denkens im Modernisierungsprozess ......................................................... 127
6.2
Varianten und Grundannahmen konstruktivistischen Denkens ................. 130
6.3
Zur Neurobiologie und Evolutionstheorie selbstreferenziellen Erkennens ................................................................................................... 133
6.4
Zur Systemtheorie selbstreferenziellen Erkennens .................................... 139
6.4.1 Theoriekonzepte des Beobachtens ............................................................. 140 6.4.2 Theoriekonzepte des Verstehens ................................................................ 147 7
Erziehung und Unterricht als Anregung selbstreferenziellen und selbstorganisierten Lernens im pädagogischen Konstruktivismus ................. 155 7.1
8
Grundlinien der Konstruktivismus-Rezeption in der Didaktik .................. 155
7.2
Zur Thematisierung des Übergangs von der intentionalistischen Sicht auf pädagogisches Handeln zur Selbstorganisation des Lernens als ‚konstruktivistische Wende’ ....................................................................... 161
7.3
Zur Konzeptualisierung von Bildung als Prozess der Selbsttransformation ................................................................................... 167
7.4
Zur konstruktivistischen Reformulierung des Gedankens der Erziehung zur Autonomie .......................................................................... 175
7.4.1 Subjekt- und erziehungsphilosophische Postulate des neurobiologischen Konstruktivismus ......................................................... 175 7.4.2 Zum Verhältnis von Autopoiesis und Abhängigkeit – Innere ‚Selbstmacht’ versus ‚Ohnmacht’ gegenüber sozialen Systemlogiken ............................. 182 7.5
Dimensionen konstruktivistischer Instruktionskritik – Von der Vermittlungs- zur Ermöglichungs- und Autodidaktik ............................... 186
7.5.1 Über den Zusammenhang von situiertem, selbstorganisiertem und handlungsbezogenem Wissenserwerb in konstruktivistischen Lerntheorien .............................................................. 186 7.5.2 Verstehen als ‚Erfinden’ oder ‚Entdecken’? Zur konstruktivistischen Kritik des sach- und instruktionslogischen Unterrichts am Beispiel allgemein-didaktischer und sprachdidaktischer Konzepte ......................... 196
III
Zusammenhänge und Problemfelder modernisierungstheoretischer und konstruktivistischer Diskurse über Selbstständigkeit und Selbstlernen ........ 205
8
Zur Bestimmung der theoretischen Kompatibilität von Diskursen über Selbstständigkeit und Selbstlernen ............................................... 205
9
Additive Verknüpfungen erkenntnis- und kulturtheoretischer Begründungen von Selbstlernen ............................................................................ 215
10
Problematisierungen der Legitimationen von Selbstständigkeit und Selbstlernen ..................................................................................................... 223 10.1
Problematisierung I: Zur Marginalisierung von Generationendifferenz .... 225
10.1.1 Generationendifferenz aus genealogischer Perspektive ............................. 229 10.1.2 Generationendifferenz aus sozialpolitischer Perspektive ........................... 230 10.1.3 Generationendifferenz aus historisch-soziologischer Perspektive ............. 231 10.1.4 Generationendifferenz aus psychoanalytischer Perspektive ...................... 233 9
10.1.5 Generationendifferenz aus bindungstheoretischer Perspektive ................. 234 10.1.6 Generationendifferenz aus kulturpädagogischer Perspektive .................... 238
11
10.2
Problematisierung II: Zur Ausklammerung von Erziehung als einem pädagogischen Verhältnis ........................................................................... 241
10.3
Problematisierung III: Zur Widersprüchlichkeit von Selbstorganisation als Voraussetzung, Methode und Ziel des Unterrichts ............................... 246
10.4
Problematisierung IV: Zur Ausklammerung von Bildungsinhalten .......... 252
Schlussbemerkung ................................................................................................. 259
Literaturverzeichnis ........................................................................................................... 263
10
1
Problemstellung und Vorgehensweise
Moderne Erziehung ist ohne die Förderung der Selbstständigkeit von Heranwachsenden nicht denkbar. Dies ist keine neue pädagogische Einsicht, vielmehr steht das Erziehungsziel Selbstständigkeit im Mittelpunkt der gesamten neuzeitlichen Tradition pädagogischen Denkens. In gegenwärtigen pädagogischen Diskursen über Kindheit, Erziehung, Bildung und Unterricht hat diese traditionelle pädagogische Kategorie erneut Hochkonjunktur. Das Leben und Aufwachsen von Kindern in der durch kontinuierliche Modernisierungsprozesse gekennzeichneten Gesellschaft, der Strukturwandel von Erziehungszielen, -stilen und -verhältnissen, die ‚zeitgemäße’ Konzeptualisierung schulischen Lernens und unterrichtlicher Bildungsgänge, die Herausforderungen lebenslangen Lernens usw. werden unter diesem Gesichtspunkt thematisiert und analysiert. Die Kategorie ‚Selbstständigkeit’ versteht sich jedoch nicht ohne weiteres von selbst, auch wenn mit ihr in pädagogischen Texten nicht selten der Anspruch auf unmittelbare Plausibilität und Überzeugungskraft erhoben wird. Das führt zuweilen zu einem problematischen Wortgebrauch, der sich in mangelnden begrifflichen und theoriegeleiteten Explikationen von Selbstständigkeit zeigt und diese Kategorie auf den Status einer pädagogischen Leerformel reduziert, die je nach Interesse anders konkretisiert werden kann (vgl. GRUNDER 2001, S. 90f.; GILLICH 1993). Insofern besteht eine zentrale erziehungswissenschaftliche Reflexionsaufgabe darin, der Frage nach den theoretischen und normativen Hintergründen von Selbstständigkeit als einem Kardinalbegriff modernen Lebens und moderner Erziehung nachzugehen, sowie seine Verwendung in pädagogischen Diskursen zu rekonstruieren und zu problematisieren. Um die Thematisierungsformen von ‚Selbstständigkeit’ zu systematisieren, betrachtet EWALD TERHART diese Kategorie als Oberbegriff eines Wortfeldes begrifflich unterschiedlich ausgedrückter pädagogischer „Motive, Annahmen und Prinzipien“ wie „‚Selbsttätigkeit’, ‚Selbstbetätigung’ ‚Selbstbestimmung’, ‚Selbsterziehung’, ‚Selbstbildung’, ‚autodidaktische Bildung’, ‚aktivistische Didaktik’, ‚entdeckendes’, ‚selbstorganisiertes’, ‚selbstgesteuertes’, ‚autonomes’, ‚handlungsorientiertes Lernen’, ‚Lernen lernen’ usw.“ (TERHART 1990, S. 6). Diese Begriffe sind übereinstimmend positiv konnotiert, wie eine einfache ‚Umkehrprobe’ zeigt: Die Betrachtung der entsprechenden Antonyme ‚Unselbstständigkeit’, ‚Fremdtätigkeit’, ‚Fremdbestimmung’, ‚Fremderziehung’ usw. macht deutlich, dass das Präfix ‚selbst’ anders als sein eher negativ besetztes Antonym ‚fremd’ positive Konnotationen auslöst. Angesichts der Vielfalt der unter der Kategorie ‚Selbstständigkeit’ subsumierten Begriffe und Themen stellt sich die Frage nach ihrem gemeinsamen Bedeutungskern unterhalb ihrer unmittelbaren positiven Suggestivkraft. Worin besteht, so lässt sich die Frage mit einer Formulierung DIETRICH BENNERs (1991, S. 9) präzisieren, „der pädagogische Grundgedanke“ einer am Prinzip der Selbstständigkeit orientierten Erziehung? In der neuzeitlichen Geschichte pädagogischen Denkens und Handelns wird der Gedanke der Selbstständigkeit in einem doppelten Sinne kategorial entfaltet. Zum einen gilt 11
Selbstständigkeit als oberste Zielperspektive von Erziehung. Menschen durch Erziehung aus ihrer Unmündigkeit herauszuführen (vgl. lat. educare) und sie zu einem selbstständigen und durch die eigene Vernunft geleiteten Leben zu befähigen, ist die Projektbeschreibung der Aufklärungsphilosophie und der sich mit ihr konstituierenden modernen Pädagogik. In dieser Zielperspektive liegt die Basis des modernen Verständnisses von Erziehung. Diese Zielformel für sich allein genommen birgt jedoch die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche als defizitär, heteronom, passiv und der pädagogischen Fremdbestimmung bedürftig betrachtet werden. Unbestritten kann Selbstständigkeit jedoch nicht pädagogisch ‚geschaffen’ oder ‚erzeugt’ werden. Insofern wird Selbstständigkeit im Sinne von Selbsttätigkeit zugleich als konstitutive Bedingung von Erziehung betrachtet. Erziehung ist demzufolge nicht nur fremdbestimmt als pädagogische Einwirkung von Erziehern zu verstehen, sondern zugleich als reflexive und eigenbestimmte Selbsterziehung der Heranwachsenden. In klassischer Wendung bringt BENNER (1991) diese konstitutive Grundparadoxie von Erziehung mit den ineinander verschränkten Prinzipien der „Bildsamkeit“ und der „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ zum Ausdruck. Erziehung, die im Dienst der Bildung steht, kann demnach nur durch das selbsttätige Mitwirken des Kindes verstanden werden. Bildsamkeit ist für BENNER ein universal gültiges, apriorisches Prinzip pädagogischer Praxis, das er bezogen auf pädagogische Interaktionen relational entfaltet als Anerkennung des ZuErziehenden als jemanden, „der an der Erlangung seiner humanen Bestimmtheit mitwirkt“ (ebd., S. 57). Mitwirkung ist nicht verkürzt als das Abtreten von Macht an den Erziehungsbedürftigen zu verstehen, sondern als pädagogische Begegnung in wechselseitiger Anerkennung „produktiver Freiheit“. Diese Freiheit erschließt sich für das Kind nicht bereits im Zugeständnis von Freiräumen, sondern erst in der Aneignung dieser Freiheit durch eigenständiges Denken und Handeln (ebd., S. 62). Erziehung hat folglich den Charakter der „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“. Dazu ist es erforderlich, produktiv an die bereits vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Kindes anzuknüpfen, diese in erzieherischen Aufforderungen zu überschreiten, ohne das Kind dabei zu überfordern. Pädagogisches Handeln ist angesichts der hier in Rede stehenden Prinzipien durch eine so genannte ‚AlsOb-Struktur’ gekennzeichnet, die darin besteht, „den Heranwachsenden zu etwas aufzufordern, was er – noch – nicht kann, und ihn als jemanden anzuerkennen, der er – noch – nicht ist. Diese Dialektik der beiden ersten Prinzipien führt keineswegs in einen Widerspruch pädagogischen Denkens und Handelns mit sich selbst, sondern bestimmt jene Grundparadoxie pädagogischer Praxis, der diese ihre spezifischen Wirkungsmöglichkeiten verdankt. Daß pädagogische Praxis, an die Bildsamkeit des ZuErziehenden anknüpfend, zur Selbsttätigkeit auffordert, besagt gerade, daß der Zu-Erziehende ohne eine entsprechende Aufforderung noch nicht selbsttätig sein kann, daß er dies auch nicht aufgrund einer solchen Aufforderung wird, sondern nur vermittels seiner eigenen Mitwirkung werden kann.“ (BENNER 1991, S. 71)
Der traditionelle Gedanke, dass die Grenzen pädagogischer Einwirkung in der Selbsttätigkeit des Zu-Erziehenden liegen, steht auch im Zentrum aktueller erziehungstheoretischer Theoriekonzepte und Konzeptualisierungen von Selbstständigkeit. Die Kontinuität zwischen der klassischen und der aktuellen Problemdiskussion gerät jedoch leicht in Vergessenheit, da in der wissenschaftlichen Praxis alte Theorien, Konzepte und Forschungsansätze nicht selten durch neue substituiert werden, ohne theorieübergreifend die wissenschaftliche 12
Kontinuität der Problembearbeitung zu rekonstruieren. Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, wie der Gedanke von Erziehung und Unterricht als Anregung zur Selbsttätigkeit in aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskursen neuen begrifflichen und theoretischen Ausdruck findet und welche Akzentverschiebungen und Folgeprobleme sich dabei im Vergleich zu traditioneller pädagogischer Theoriebildung ergeben. Mit dieser Zielformulierung bezieht sich die vorliegende Arbeit auf eine gegenwärtige Problemdiskussion im Überschneidungsfeld von Sozialisationstheorie, Kindheitsforschung, Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Schulpädagogik, Didaktik und Lerntheorie. In diesem die Subdisziplinen der Pädagogik übergreifenden Diskurs geht es um die theoretische Legitimation von Kindheits-, Erziehungs- und Bildungstheorien, die eher Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit akzentuieren, sowie um Unterrichts- und Lehrvorstellungen, die den ‚instruktionslogischen’ Gedanken der Angewiesenheit von Heranwachsenden auf Fremderziehung, Anleitung und Lehre ablösen sollen. Dieser Legitimationsdiskurs basiert seit den letzten zwanzig Jahren auf kultursoziologischen Theoremen gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse, bezieht sich auf Akteursmodelle der Kindheit- und Jugendforschung, auf postmoderne Bildungsphilosophie sowie konstruktivistisch-systemtheoretische Erkenntnisund Lerntheorie, um den klassischen Gedanken von Bildung als Anregung zur Selbsttätigkeit als Hilfe zu selbstgesteuertem, selbstreferenziellem und selbstbestimmtem Lernen umzuformulieren. Dieser heterogene, in unterschiedlichen Disziplinen geführte und auf verschiedene Theorieansätze referierende Diskurs und die in ihm hervorgebrachten Konzeptualisierungsformen von Selbstständigkeit sollen rekonstruiert und problematisiert werden. Das dabei zugrunde gelegte Verständnis von Rekonstruktion wird nicht als ‚Abbilden’ oder ‚Wiederherstellen’ aufgefasst, was angesichts der vielschichtig gelagerten Diskurslage auch schwerlich möglich wäre, sondern als ‚Reduktion von Komplexität’. Die Vielfalt des Diskurses wird durch einen modernisierungstheoretischen und einen konstruktivistischen Darstellungsstrang reduziert, die anschließend zusammengefügt werden. In diesem Rahmen werden idealtypische Konzeptualisierungs-, Deutungs- und Argumentationsmuster aktueller Diskussionen über Selbstständigkeit aufgezeigt. Insofern ist die Struktur der Arbeit als heuristisches Ordnungssystem zu verstehen, das die Diskussionslage nicht abzubilden, sondern theoriegeleitet nach Diskussionskernen zu systematisieren sucht. Herausgearbeitet werden soll, welchen Beitrag unterschiedliche Theorieperspektiven zu einer umfassenden Konzeptualisierung selbstständigen Lernens leisten. Unter der Metaüberschrift I: „Selbstständigkeit als Zielnorm moderner Pädagogik“ werden gesellschafts- und kulturtheoretisch fundierte Bilder von Selbstständigkeit rekonstruiert. Ausgehend von der Prämisse, dass die Programmformel ‚Erziehung zur Selbstständigkeit’ als pädagogische Antwort auf gesellschaftliche Modernisierungs-, insbesondere Individualisierungsprozesse verstanden werden kann, werden zunächst mit aufklärerischen und reformpädagogischen Perspektiven auf Selbstständigkeit ‚klassische’ Reflexionen des Zusammenhangs von Gesellschafts- und Erziehungsreform thematisiert (Kap. 2), um vor diesem Hintergrund das neue Verständnis von Selbstständigkeit als Akteurskompetenz und Selbstsozialisation individualisierter Kinder in soziologischen, sozialphilosophischen sowie sozialisations- und kindheitstheoretischen Theoriekonzepten zu explizieren (Kap. 3-4). Diese ‚neue Selbstständigkeit’ von Kindern wird u.a. thematisiert als sozialer Imperativ zur 13
Selbststeuerung des eigenen Lebens unter den Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierung sowie als zentrales Erziehungsziel angesichts des familialen Strukturwandels der Erziehungsstile und –verhältnisse. Eine subjekttheoretische Konzeptualisierung findet die neue Selbstständigkeit von Kindern in Akteursmodellen der Sozialisations- und Kindheitsforschung ebenso wie in identitätstheoretischen Konzepten der sozialphilosophischen Moderne-Postmoderne-Kontroverse. Im Zusammenhang empirischer Beschreibungen und subjekttheoretischer Konzeptualisierungen dieser neuen Selbstständigkeit wird auch die Rolle von Kindern und Jugendlichen als Schüler neu wahrgenommen. Überlegungen zum Verhältnis selbstständiger Kindheit, Jugend und Schule, insbesondere zur vielschichtigen Rolle von Schule und Unterricht in Prozessen der Individualisierung von Heranwachsenden, beschließen daher den ersten Themenkomplex dieser Arbeit (Kap. 5). Ergänzt werden diese sozialtheoretischen Reflexionen zur Akteurskompetenz durch den epistemologischen Gedanken des Ichs als Konstrukteur seiner kognitiven Wirklichkeit. Unter der Metaüberschrift II: „Selbstständigkeit als selbstorganisiertes und selbstreferenzielles Lernens“ wird diese – auf konstruktivistischen Erkenntnismodellen basierende – epistemologische und lerntheoretische Auffassung von Selbstständigkeit nachgezeichnet. Rekonstruiert wird der Kern des konstruktivistischen Erkenntnisprogramms, der in der Beschreibung und Analyse der selbstreferenziellen, phylo- und ontogenetisch determinierten sowie kontextuell und kulturell gebundenen Konstruktion des Wissens durch ein ‚autopoietisches’ Erkenntnissubjekt besteht. Wissen, so die provokante Konsequenz aus den konstruktivistischen Überlegungen, ist nicht in seinem Wahrheitsgehalt relevant, sondern in seiner Passung und Funktionalität in Handlungszusammenhängen. Dieser Themenkomplex der Untersuchung soll verdeutlichen, wie das Selbstständigkeitsbild konstruktivistischer Theorien zur Selbstreferenz des Erkennens, Lernens und Verstehens in philosophischen, neurobiologischen, evolutionstheoretischen und systemtheoretischen Zusammenhängen formuliert wird (Kap. 6) und wie es in pädagogischen Kontexten zur Betonung der Subjektivität und Selbsttätigkeit des Lernens und der pragmatischen Funktion des erworbenen Wissens Verwendung findet (Kap. 7). x
14
In den Rekonstruktionen dieser heterogenen Auffassungen von Selbstständigkeit soll zugleich gezeigt werden, welche Konzeptualisierungen pädagogischen Handelns und theoretischer Bestimmungen von Erziehung, Unterricht und Bildung mit diesen Theoriereflexionen legitimiert werden. Entfaltet wird die These, dass der klassische Gedanke der Selbsttätigkeit und das darauf bezogene Verständnis von Erziehung als „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ zugespitzt werden zur Formel der „Selbstmacht des Ichs und der Ohnmacht der Erziehung“, wie es REINHARD UHLE (2006) pointiert zum Ausdruck bringt. Macht versteht UHLE mit NIKLAS LUHMANN nicht als „Einsatz von Machtmitteln“, sondern als „’Neutralisierung des Willens’ von Anderen durch Begrenzung von deren Handlungsspielräumen“ (ebd., S. 1). Wie die aktuelle disziplinübergreifende Problemdiskussion über Selbstständigkeit vorgibt, ist eine solche erzieherische Begrenzung der Handlungs- und Erfahrungsspielräume durch Handlungsformen oder Beziehungsfigurationen wie Behüten, Gegenwirken, Grenzen setzen, Unterstützen, Zeigen, Lehranforderungen, Leistungs- und Sachansprüche durchsetzen, Disziplinieren usw. gegenwärtig angesichts des Strukturwandels der
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Erziehungsverhältnisse empirisch schwer möglich und in Anbetracht theoretischer Konzeptualisierungen ‚neuer Selbstständigkeit’ wenig erstrebenswert. Unterstellt der Gedanke von Erziehung als „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“, dass Heranwachsende aufgrund ihres Bildungswillens dieser Aufforderung folgen und damit selbst in die Begrenzung ihrer Handlungsmöglichkeiten zum Zweck der Bildung und des Lernens einwilligen, so betonen didaktische und erziehungstheoretische Konzepte im Zeichen der neuen Selbstständigkeit individualisierter Kindheit – in expliziter Abgrenzung zu traditionalen Bildern von Erziehungs-, Anleitungs- und Schonraumkindheit! – die eigenständigen Akteurskompetenzen und Individualisierungsansprüche von Kindern im Leben, Aufwachsen und Lernen. Die an diese Reflexionen anknüpfenden erziehungs-, lehr-, unterrichts- und bildungstheoretischen Motive, Annahmen und Prinzipien akzentuieren das Prinzip Selbsttätigkeit, ohne es rückzubinden an den Aufforderungscharakter pädagogischen Handelns. Ausgehend von diesen Zusammenhängen wird in der vorliegenden Arbeit aus erziehungstheoretischer Sicht rekonstruiert, wie über das Paradigma der Selbstsozialisation der gesellschaftliche Bedeutungsverlust und die Wirkungsohnmacht von Erziehung thematisiert wird, wie die Soziologie der Kindheit das kindliche Akteursparadigma in pädagogischen als auch politisch-rechtlichen Zusammenhängen als Forderung nach verstärkter gesellschaftlicher Partizipation von Kindern verwendet, dass die Lernkompetenz kindlicher Akteure in Paradigmen der Säuglings- und Kleinkindforschung zum Leitmodell für die Anforderungen lebenslangen Lernens stilisiert wird, dass postmoderne Konzepte dezentrierter Identität als Befreiung aus dem Konstrukt der kindlichen und Unselbstständigkeit suggerierenden Rollenidentität gedeutet werden und wie der klassische Gedanke der Erziehung zur Autonomie durch ‚Autarkie’ von Kindern suggerierende Akteursmodelle und konstruktivistische Theoreme reformuliert wird.
Aus lehr- und unterrichtstheoretischer Sicht ist sodann zu zeigen, wie die Selbstmacht und Selbsttätigkeit der Schüler thematisch wird als schulpädagogische Akzeptanz von Individualisierungsansprüchen und als Betonung subjektorientierten, selbstgesteuerten, selbstbestimmten und selbstreferenziellen Lernens im Unterricht. Im Anschluss hieran fokussieren bildungstheoretische Explikationen neuer Subjektivitäts- und Selbstständigkeitsverständnisse aus kulturtheoretischer und epistemologischer Sicht die Veräußerlichung des Wissens gegenüber dem Wissenden sowie die Notwendigkeit, Wissen pragmatisch in den Dienst der Handlungszwecke des Selbst zu stellen. Themenkomplex III über „Zusammenhänge und Problemfelder modernisierungstheoretischer und konstruktivistischer Diskurse über Selbstständigkeit und Selbstlernen“ analysiert hieran anschließend die innere Struktur des theorie- und subdisziplinübergreifenden Legitimationsdiskurses im Kontext von Kindheits-, Erziehungs- und Bildungs- und Unterrichtstheorien, die Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit signifikante Bedeutung zuweisen. Das Interesse richtet sich dabei auf die Frage, wie es durch die theoretische Verbindung und 15
additive Verknüpfung gesellschafts-, kultur- und konstruktivistischer Diskurse zur Herausbildung einer sich selbst stabilisierenden Diskurs- und Theorielage kommt (Kap. 8-9). In einem zweiten Schritt wird dieser Legitimationsdiskurs aus generations-, erziehungs-, unterrichts- und bildungstheoretischer Sicht problematisiert durch die Konfrontation des pädagogischen Grundgedankens der Selbsttätigkeit mit Prinzipien und Aufgaben pädagogischen Denkens und Handelns, die den Geltungsanspruch dieses Grundgedankens einschränken (Kap. 10). Rekurriert wird auf insgesamt vier zentrale Aspekte: 1. 2. 3.
4.
die Angewiesenheit von Kindern auf Erwachsene im Generationenverhältnis, die Notwendigkeit, Erziehung als Begrenzung von Selbstsozialisation in pädagogischen Verhältnissen aufzufassen, die unterrichtstheoretische Differenzierung der Selbsttätigkeit und Beteiligung von Kindern an der Gestaltung ihres Lernens durch die Unterscheidung von Selbstorganisation als Voraussetzung, Ziel und Methode des Unterrichts und die Notwendigkeit, die marginalisierte Frage nach Bildungsinhalten in das Zentrum didaktischer Reflexionen zu stellen.
Grundlegend hierfür ist der Gedanke, dass Bildung und Erziehung auch in ihrer Funktion als Element zur Erhaltung von Kultur begriffen werden müssen, da immer wieder Neuankömmlinge in Kultur und Gesellschaft zu initiieren sind. Mit Bezug auf traditionelle Überlegungen zur Dialektik von ‚Führen und Wachsenlassen’, von ‚Einwirken und Mitwirken’ wird der Frage nach Legitimationen für eine Brücke zwischen Anregungen zur Selbsttätigkeit und Lehren als Initiation in Kultur nachgegangen.
16
I
Selbstständigkeit als Zielnorm moderner Pädagogik
Aus der historischen Sozialisations- und Bildungsforschung, der historisch-pädagogischen Anthropologie, der Wissens- und Kultursoziologie und anderen historiographischen Disziplinen ist bekannt, dass Bildungs-, Erziehungs- und Unterrichtskonzepte und mit ihnen das sozial konstruierte Bild vom Kind als pädagogische Antworten auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse und Veränderungen der Lebensbedingungen von Kindern gelesen werden können. Damit ist nicht gemeint, dass die Lebensphase der Kindheit ebenso wie die pädagogische Praxis kulturelle Erfindungen der Moderne sind. Kindsein ist eine anthropologische Tatsache im Lebenslauf, wie auch Erziehung als Einführung junger Menschen in Kultur eine Grundtatsache menschlicher Existenz darstellt. Historisch wandelbar und kulturell verschieden sind jedoch die Ausprägungen erzieherischer Interaktionen und Ausgestaltungen dieser Lebensphase. In der Kindheitsforschung wird daher grundlegend unterschieden zwischen Kindheit als biologischer und als sozialer Tatsache. Die Rede von Kindheit als biologische Tatsache ist auf die anthropologische Natur des Menschen bezogen, dessen Verhalten nicht durch genetisch verankerte Programme instinktreguliert gesteuert, sondern über Lernprozesse den jeweiligen Umweltbedingungen angepasst wird (vgl. BRINKMANN 1987, S. 14; vgl. Kap. 3.1). Aus anthropologischer Sicht ist folglich eine nicht aufhebbare Generationendifferenz zwischen Kindern und Erwachsenen zu konstatieren, insofern Kinder ‚natürliche’ Lernrückstände erst durch selbsttätige Erfahrungsbildung und mit Hilfe der Erwachsenen ‚abbauen’ müssen. Das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen kann als evolutionär verankerte Lernbeziehung beschrieben werden, insofern sich Erwachsene in ihrem Verhalten auf das Lernen der Kinder beziehen (vgl. ELSCHENBROICH 2000, S. 428). Die jeweilige geschichtlich-kulturelle Ausgestaltung dieser Lernbeziehung wird mit der Kategorie Kindheit als soziale Tatsache in den Blick genommen. Kindheit als soziale Tatsache bezeichnet für WILHELM BRINKMANN daher das „komplexe System besonderer Vorkehrungen und Aufwendungen der Erwachsenen-Gesellschaft für ihre Nachkommen zum Zweck der Organisation und der pädagogischen Begleitung dieser Lernprozesse als ein je ort- und zeittypisches Bündel von Deutungen des Kindseins, von Einstellungen zur Kindheit (und) von Erwartungen an das Kind“ (BRINKMANN 1987, S. 14f.). In diesen Zusammenhang fällt die Rede von Kindheit als ‚sozialem Konstrukt’ wie auch die Diagnose einer historisch variablen, sozial präformierten ‚Kindheitssemantik’, die ‚vorgängig’ bestimmt, welche Bedeutung durch Erwachsene Kindern beigemessen wird (vgl. PRANGE 2000, S. 21). Auch die systemtheoretische Beschreibung des Kindes als „Medium der Erziehung“ bezieht sich auf dieses kultursoziologische Verständnis von Kindheit (vgl. LENZEN 1995; LUHMANN 1995). Die soziale Konstruktion der Kindheit dient primär der Legitimation von Erziehungsintentionen. Unter Erziehung und der damit verbundenen sozialen Konstruktion von Kindheit wird in diesen 17
Diskursen die „gesellschaftliche Reaktion auf die (sc. biologische) Entwicklungstatsache“ verstanden (BERNFELD 1925/1967, S. 51). Deutlich wird, dass die Begiffsverständnisse von Kindheit als soziale und biologische Tatsache strukturell aufeinander bezogen sind. Man kann auch sagen, dass das historische Theorem der variablen Kindheitssemantik kulturelle Wandlungen in der Ausgestaltung des biologisch grundgelegten Generationen- und Erziehungsverhältnisses und in der Wahrnehmung von Kindern als Lernwesen beschreibt. Galten Kinder etwa aufgrund ihrer Lernrückstände im Vergleich zu Erwachsenen lange Zeit als ‚Mängelwesen’, so setzt sich zunehmend in der Forschung wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung ein Bild des Kindes als „Erkenntniswesen“ (ELSCHENBROICH 2000) durch, das nicht die Defizite, sondern die enorme Lernfähigkeit der Kinder und die Komplexität ihrer forschend-explorativen Weltaneignung betont – eine kindliche Fähigkeit, die sich Erwachsene in der Kultur der Wissensund Informationsgesellschaft mit ihrer ‚Halbwertzeit’ des Wissens und den daraus folgenden Anforderungen an lebenslanges Lernen bewahren müssen (vgl. KRAPPMANN 2002, S. 97). In diesem Wandel der Kindheitssemantik ist auch die in den folgenden Kapiteln zu thematisierende Rede über die Selbstständigkeit des Kindes als Zielnorm moderner Pädagogik eingelagert. Auf der Grundlage aufklärerischer und reformpädagogischer Reflexionen zu dieser Thematik (Kap. 2) werden neue Erscheinungsformen und Bilder der Selbstständigkeit von Kindern im Zeichen von Individualisierung als Sozialisationsmodus thematisiert (Kap. 3-5).
18
2
Erziehung zur Selbstständigkeit in der Aufklärungs- und Reformpädagogik
Überlegungen zu theoretischen Hintergründen des Erziehungsziels Selbstständigkeit sind bereits seit Beginn der Moderne ein zentrales Thema pädagogischer Reflexion. Als klassische pädagogische Reflexionen gesellschaftlicher Transformationsprozesse, die das Engagement für Gesellschafts- und Erziehungsreform miteinander verbinden, gelten die Bildungsphilosophie der Aufklärung und die Reformpädagogik an der Schwelle des 20. Jahrhunderts. An der Philosophie und Pädagogik der Aufklärung wird deutlich, dass die Entstehung der modernen Pädagogik eng mit der Herausbildung der modernen Gesellschaft verbunden ist. Nicht zufällig wird das 18. Jahrhundert, in dem die Moderne durch den Übergang von der mittelalterlich-feudalen zur arbeitsteilig organisierten, funktional differenzierten Gesellschaft sozialstrukturell Konturen annimmt und ideengeschichtlich Reife im kulturellen Projekt der Aufklärungsphilosophie erlangt, auch als ‚pädagogisches Jahrhundert’ bezeichnet. Wie im Folgenden gezeigt wird, betrifft dieses hier in Rede gestellte Zusammenspiel von sozial- und ideengeschichtlichen Veränderungen im Besonderen die Genese des Zielbegriffs ‚Selbstständigkeit’ als Kennzeichen der modernen subjektorientierten Pädagogik. Betrachten wir in einem ersten Schritt Aspekte des sozialstrukturellen Wandels im Übergang von der vormodernen zur modernen Gesellschaft, die zur sozialen Konstruktion des modernen Verständnisses von Kindheit führten. In diesem Zusammenhang referiert die einschlägige soziologische Literatur die gesellschaftliche Umstellung auf Arbeitsteilung, die durch die Trennung von Arbeitsplatz, Produktion und Wohnung zu einer starken Veränderung des Zusammenlebens der Menschen führte. In politischer Hinsicht ging der Machtverlust des Adels mit dem Erstarken des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums einher. Die moderne bürgerliche Kleinfamilie als privater und intimisierter Lebensbereich löste im Prozess fortschreitender Modernisierung die räumlich verbundene vormoderne Lebens- und Arbeitsgemeinschaft des um mehrere Familien und Gesinde organisierten so genannten Ganzen Hauses als umfassenden Sozialisationszusammenhang ab (vgl. SHORTER 1977). Diese sozialgeschichtlich interessante Entwicklung beschreibt die sozialwissenschaftliche Kindheits- und Jugendforschung übereinstimmend als strukturelle Voraussetzung für die Entstehung der modernen, von den Zwängen der Erwerbstätigkeit befreiten und als Lebensphase der Vorbereitung verstandenen Familien-, Lern- und Erziehungskindheit (vgl. GILLIS 1974; ARIÈS 1960). In der bürgerlichen Kleinfamilie konnte der auf JEAN-JACQUES ROUSSEAU zurückgehende Gedanke von ‚Kindheit als pädagogischem Schonraum’ verwirklicht werden. Die Ausgliederung der Erwerbsarbeit aus dem häuslichen Lebenszusammenhang ermöglichte die Freisetzung der Heranwachsenden aus gesellschaftlichen Reproduktionsaufgaben und die erzieherische Ausrichtung an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen. Dies zeigte sich vor allem an der Einrichtung von Kinder- und Jugendzimmern, ausgestattet mit kindgerechtem Spiel19
zeug und pädagogischer Kinder- und Jugendliteratur. In diesem bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Milieu bildete sich die Vorstellung von Kindheit als Zeit des Spielens und Lernens heraus. Für PHILLIPE ARIÈS (1978), dem Gründervater der sozialhistorischen Kinderforschung, wurde dieses Kindheitskonzepts vor allem durch Scholarisierung von Kindheit, später auch Jugend, konstituiert. Höhere Qualifikationsanforderungen, d.h. anspruchsvolle und reflektierte Formen der Enkulturation, die nicht im gemeinsamen Lebensvollzug von Kindern und Erwachsenen in Familie und Werkstatt angeeignet werden können, geben dem Konzept moderner Kindheit eine institutionelle Grundlage. Die soziale Konstruktion einer Differenz zwischen den Generationen lässt sich so idealtypisch als Übergang von der vormodernen Kulturtradierung durch Mitahmung und Nachahmung zur reflektierten Aneignung von Kultur in institutionalisierten Lehr-Lernbeziehungen beschreiben. Zusammengefasst werden diese strukturellen Bedingungen der Entstehung von Kindheit und Jugend von JOHANNA MIERENDORFF und THOMAS OLK (2002, S. 125) wie folgt: „1) Prozesse der Arbeitsteilung, (2) Freisetzung von Kindern und Jugendlichen aus Erwerbsarbeit, 3) Entstehung von Schutz- und Vorbereitungsräumen sowie 4) Entstehung und Durchsetzung der bürgerlichen Familie“. Das aufstrebende Bürgertum als starker Kritiker des mittelalterlichen Feudalismus verband die sozialstrukturelle Ausdifferenzierung der Familien-, Lern- und Erziehungskindheit mit dem aufklärerischen Konzept von Bildung als „Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (IMMANUEL KANT 1991, S. 53). Mittelalterlichen Vorstellungen religiöser Abhängigkeit des verderbten Menschen und einer darauf bezogenen ‚schwarzen Pädagogik’ wurden Bildungsziele wie innerweltliche Selbstständigkeit und personale Autonomie entgegengesetzt. Erreicht werden sollten diese Bildungsziele durch die ‚Aneignung objektiver Kultur’, eine Programmformel moderner Pädagogik, die sich von der katechetischen Unterweisung der kirchlichen Lehre abgrenzt. Das aus den Fesseln ständischer Gebundenheit freigesetzte Ich (des männlichen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums) sollte die Fähigkeit erwerben, sein Leben selbst zu bestimmen und sich selbstständig an andere Menschen, Werthaltungen und Tätigkeiten binden zu können. Der Gedanke, Selbstentfaltung und Autonomie über die Aneignung objektiver Kultur zu befördern, findet klassischen Ausdruck in den Bildungskonzeptionen GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGELs und WILHELM VON HUMBOLDTs. Der als klassisch geltende Grundgedanke dieser Konzeptionen besteht darin, Bildung als Bearbeitung eines Spannungsverhältnisses von Ich, Du und Welt zu betrachten. Über die Aneignung von Welt entfremdet sich das Ich von seiner Subjektivität und tritt in den Bereich des Allgemeinen ein. Gelingende Bildung als Herausbildung eines reflexiven und autonomen Selbst- und Weltverhältnisses wird erreicht, wenn der Mensch aus dem Verstehen von Welt in sich zurückkehrt und „soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“ vermag (VON HUMBOLDT 1903). In dieser kulturpädagogischen Anschauung bedeutet Bildung nicht bloß Enkulturation, sondern steht unter dem Anspruch der individuellen und kollektiven Höherbildung und Vervollkommnung. Mit dem Gedanken der Höherbildung wird das Verhältnis der Generationen als Lernprozess beschrieben. Wie FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER deutlich gemacht hat, basiert dieses Verständnis von Bildung auf dem Bewusstsein einer Kulturdifferenz zwischen den Generationen. Durch die soziale Konstruktion von Kindheit und Jugend als Bildungsmoratorium 20
wird ein pädagogisches Generationenverhältnis konstituiert, das SCHLEIERMACHER in seiner bekannten Vorlesung „Einführung in die Pädagogik“ (1826/1961) mit der Differenz der Lebensalter in Bildung und kulturellem Wissen begründet. Das Generationenverhältnis wird als „Einführung der jüngeren Generation in die objektive Kultur“ begründet, so dass durch die kritische (und nicht bloß adaptive) Auseinandersetzung mit kulturellen Objektivationen Bildung als Aufbau subjektiver Kultur möglich wird. Dem Generationenverhältnis ist damit auch der Generationenkonflikt in Form einer diskursiven Auseinandersetzung über die Legitimität und den Veränderungsbedarf des kulturellen Erbes inhärent. „Das Verhältnis und der Konflikt zwischen den Generationen werden so der produktive Ort, an dem Selbstfindung, eigene Mündigkeit und Fortentwicklung der Kultur zugleich hervorgehen“ (MÜNCHMEIER 1997, S. 119). LUISE WINTERHAGER-SCHMID (2000, S. 28f) beschreibt diese konfliktive Ausprägung des generativen Verhältnis als eine für moderne Vergesellschaftung und Individuation unauflösbare Paradoxie zwischen (1) Erziehung und Bildung als Kulturerhaltung angesichts der anthropologischen Konstanten Tod und Geburt und (2) Bildung als selbsttätiger kultureller Innovationsleistung (‚Höherbildung’). Die Autorin konstatiert, dass im Zuge beschleunigter gesellschaftlicher Modernisierung der Innovations- gegenüber dem Tradierungsaspekt deutlich stärker gewichtet wird. Das Ideal der sozialen Autonomie, das durch Bildung und Erziehung als generationalen Verhältnissen befördert werden soll, korrespondiert mit der epistemologischen Autonomie des Subjekts. Nicht die dem Ich ontologisch vorgängigen Ordnungen des vormodernen Weltbildes, sondern seine Subjektivität, sein Verstand, seine Vernunft und seine Sinneseindrücke bilden den Bezugspunkt moderner Epistemologie. Mit der Begründung von Autonomie als zentralem Bildungsziel kann die Philosophie und Pädagogik der Aufklärung als erste Reflexionsform der modernen Gesellschaft und des modernen Konzepts von Kindheit begriffen werden. Diese Reflexion ist gekennzeichnet durch das intellektuelle und praktische Engagement für die Veränderung der sozialen Verhältnisse. Im Zuge der Abwendung vom vormodernen, kosmisch-religiös verankerten Weltbild wurde erkannt, dass Gesellschaftsordnung und Kultur vom Menschen selbst erzeugt werden. Aufklärung zielt daher auf die Lösung aus Abhängigkeiten von Natur, Religion und Tradition durch Rationalisierungsprozesse. Die Unterscheidung von Natur- und Kulturgeschichte bedingt die Vorstellung, Gesellschaft könne als Projekt intentionalistisch nach Vernunftprinzipien gestaltet werden. Moderne wird insofern sowohl als eine historische Epoche wie auch als zu gestaltendes Projekt begriffen. Was der Sozialphilosoph JÜRGEN HABERMAS (1983) das ‚unvollendete Projekt der Moderne’ nennt, ist mit ambitionierten Zielen verbunden: Fortschritt, Versittlichung der Menschheit, Wahrheit als Aufdecken einer erkennbaren Welt sowie die Emanzipation und die Freiheit des Individuums in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht. Der ideengeschichtliche Kern des Fortschrittsglaubens der Aufklärung besteht in einem neuen pädagogisch-anthropologischen Denken. Philosophen wie JOHN LOCKE oder ROUSSEAU überwanden den mittelalterlichen Glauben an die Verderbtheit und Erbsündhaftigkeit des Menschen qua Geburt, indem sie mit der ‚tabula rasa-Anthropologie’ den Umwelteinfluss der Entwicklung bzw. mit dem Konzept der perfectibilité die Entwicklungsplastizität und Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen hervorhoben (vgl. BENNER/ BRÜGGEN 1996; HERRMANN 1992). Als höchstes Entwicklungsideal der aufklärerischen 21
Bildungsphilosophie gilt seither die Selbstständigkeit und personale Autonomie des Ichs. ROUSSEAU unterscheidet an dieser Stelle zwischen einer vorgeordneten Erziehung zum Menschen und einer nachgeordneten Erziehung zum Bürger. Erziehung zur Autonomie habe der Natur des Kindes zu folgen, das heißt, seine Anlagen, Vermögen, Begabungen und Kräfte zu fördern und damit sein Eigenrecht gegenüber gesellschaftlichen Interessen, Zwecken und Zielen zu verteidigen. Der Zusammenhang zwischen individueller Höherentwicklung durch eine die menschlichen Anlagen fördernde Erziehung und gesellschaftlichen Fortschritt wird in einem utopischen Gesellschaftsprojekt formuliert, das bei KANT (1991, S. 700) so zur Sprache kommt: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit, und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.“ Es ist eine bestehende Herausforderung der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin, der Frage nachzugehen, wie die Erziehungsaufgabe, Vervollkommnung und Persönlichkeitsentwicklung zu fördern, inhaltlich zu bestimmen und als gesellschaftlicher Auftrag einzulösen ist. ‚Populärwissenschaftliche’ pädagogische Ratgeberliteratur reagiert auf dieses Desiderat, indem sie derzeit ein großes Angebot einfacher Antworten auf das, was KANT (ebd.) das „große Geheimnis der Vollkommenheit menschlicher Natur“ nennt, bereitstellt. Der Erfolg dieses Literaturgenres zeigt, dass sich das „Gebot der optimalen Förderung“ (BECK-GERNSHEIM 2000, S. 112ff.) als pädagogischer Imperativ der Moderne etabliert hat (vgl. dazu Kap. 4.1). Der Fortschrittsglaube der Aufklärungspädagogik findet nicht nur Ausdruck in anthropologischen Aussagen über Autonomie als erreichbares Ziel von Entwicklung, er äußert sich auch in einem darauf bezogenen ‚intentionalistischen Erziehungsbegriff’. Der Gedanke der ‚Machbarkeit’ des erziehungsbedürftigen Menschen wird charakteristisch im Diktum KANTs formuliert, „Der Mensch wird Mensch nur durch Erziehung“. An KANTs Frage, „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ kann die Paradoxie dieses an Autonomie als Zielkategorie orientierten und auf Intentionalität abstellenden Erziehungsbegriffs exemplarisch verdeutlicht werden (vgl. UHLE 2004; LUCKNER 2003; LÖWISCH 1998; ZIRFAS 2004). Hier wird das Problem angesprochen, wie es möglich sein soll, jemanden zur Autonomie zu führen. Anders ausgedrückt: Wie kann Selbstständigkeit fremdgesteuert bewirkt werden? Lässt sich ein intentionalistischer Erziehungsbegriff angesichts dieses Widerspruchs überhaupt legitimieren? KANT spitzt dieses Problem auf die generelle Frage zu, wie die notwendige Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang, zu dem auch die Unterweisung durch Lehrer gehört, mit dem Imperativ, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinbar ist. Die oben zitierte KANT-Literatur hebt hervor, dass sich für den Königsberger Philosophen Freiheit und Zwang wechselseitig bedingen. In seiner Moralphilosophie betont er, dass die Selbstständigkeit des Handelns ihre Grenze in der Unantastbarkeit der Handlungsfreiheit des Anderen findet. Freiheit besteht also darin, sich aus Einsicht in die Notwendigkeit, also auf Basis autonomen Erkennens, dem Moralgesetz zu unterwerfen, das er verdichtet im überzeitlich und kulturübergreifend geltenden Kategorischen Imperativ auf die Formel bringt: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzesgebung gelten könne.“ Moralische Selbstbestimmung wird hier als wechselseitig anerkannte Selbstgesetzgebung gedacht. Nach JÖRG ZIRFAS (2004, S. 161) ist Erziehung im Hinblick auf den Kategorischen Imperativ nur dann moralisch, wenn sie Bedingungen gestaltet, die es dem Educanden ermöglichen, sich selbst das Sittengesetz 22
aufzuerlegen. Dazu gehört für ihn nicht das „Unterwerfen“ unter gesetzlichen Zwang, sondern das „Begründen und Begreiflichmachen des Zwanges“, eine Position, die sich in modifizierter, moralphilosophisch reduzierter Form auch in der „Selbstbestimmungstheorie der (Lern-)Motivation“ von EDWARD DECI und RICHARD RYAN nachweisen lässt (vgl. Kap. 10.3). Zu diesen Bedingungen gelingender moralischer Entwicklung nach KANT gehört für REINHARD UHLE (2004) auch der „Widerpart von Anderen“, gerade weil „Selbstbestimmung, Selbstdenken und Selbsttätigkeit als Bedingungen von Handlungsfreiheit so wichtig sind. Selbstdenken braucht den Widerpart des Selbstdenkens von Anderen, um prüfen zu können, welches Denken dem Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit näher kommt. Selbsttätigkeit und Selbstverwirklichung braucht die Reaktion von Anderen, um zu prüfen, ob das eigene Selbst auch für Andere zumutbar ist, die ebenfalls ein eigenständiges Leben führen wollen.“ Um solches aufgeklärtes Wollen, Fühlen und Denken gegenüber ‚subjektivistischen Verengungen’ des Denkens herauszubilden, richtet sich an Erziehung die Aufgabe, einen solchen Widerpart zu realisieren, indem Kindern Grenzen ihres Wollens aufgezeigt werden und indem ihr Verständnis von Welt über wissenschaftliche und literarische Bildung mit anderen Perspektiven konfrontiert wird. Seine Legitimation findet der hier in Form von Disziplinierung, Lenkung und Unterweisung ausgeübte Zwang durch den Gedanken seiner nachträglichen Sanktionierung durch das dank Erziehung mündig gewordene Individuum. Als Stufen des Erziehungsprozesses auf dem Weg zur Autonomie nennt KANT (1) Disziplinierung im Sinne der eigenen Unterwerfung unter die eigene Vernunft, (2) Kultivierung durch Belehrung und Unterweisung in Kulturtechniken, die zu selbstbestimmter gesellschaftlicher Teilhabe befähigen, (3) Zivilisierung, verstanden als soziales Verhalten, z.B. Einsatz für Gemeinschaftsbelange und (4) Moralisierung als Einsicht in die kategorische Notwendigkeit bestimmter Handlungen. Wie wissenssoziologische Untersuchungen von KLAUS PLAKE (1991) zeigen, fällt KANTs Erziehungsverständnis, das die Pädagogik seines Königsberger Lehrstuhlnachfolgers JOHANN FRIEDRICH HERBART deutlich beeinflusst hat, mit einer bestimmten sozialstrukturellen und kulturellen Ausprägungsform der Moderne zusammen. Vereinfacht gesagt handelt es sich um die erste Entwicklungsphase der Moderne, die mit der Herausbildung der bürgerlichen Kultur beginnt und mit der ersten Phase der Industrialisierung endet. In dieser Anfangsphase sind wirtschaftliche, technische, soziale und ideengeschichtliche Modernisierungsprozesse noch vom Scheitern bedroht. Wie am vorherrschenden „Geist des Protestantischen Kapitalismus“ (MAX WEBER) deutlich wird, entspricht ein an Disziplin und Selbstkontrolle gekoppelter Autonomiebegriff aus dem Grunde gesellschaftlichen Anforderungen, weil die Umstrukturierung der Gesellschaft große individuelle und kollektive Anstrengungen bedingt. PLAKE konstatiert für das Ende des 19. Jahrhunderts einen Modernisierungsschub. Arbeitsteilung und funktionale Differenzierung setzen sich als primäre Organisationsform der Gesellschaft durch und mit ihr avanciert die bürgerliche Kleinfamilie zum schichtübergreifenden Leitmodell des privaten Zusammenlebens. Die Industriegesellschaft, deren Aufbau durch Askese, Mäßigung und Anstrengung vorangetrieben wurde, bedarf für die weitere Expansion nun der Weckung von Konsumansprüchen: „Lebensgenuss wird zu einem Erfordernis der Zeit. Ohne den Willen und die Fähigkeit zum Genuß würde sogar der erreichte Lebensstandard durch wirtschaftliche Krisen in Frage gestellt [...] 23
Ebenso wie die Pädagogik gefordert war, die innerweltliche Askese sicherzustellen, so ist es nun ihre Aufgabe, für konsum- und genussfreudige Einstellungen zu sorgen“ (ebd., S. 160f.). So ist z.B. die Kunsterziehungsbewegung, begründet von dem Kulturpädagogen und damaligen Direktor der Hamburger Kunsthalle ALFRED LICHTWARK, geprägt durch die Betonung der Kreativität, der Ästhetik und Körperlichkeit, des Empfindens und des eigenen künstlerischen Ausdrucks. Das Kind wurde als Künstler entdeckt. Gegenüber Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung rückt die Erlebnisorientierung und Ästhetisierung von Aneignungsprozessen in den Mittelpunkt schulpädagogischer Reflexionen. Der Tribut an gesellschaftliche Modernisierungsprozesse besteht folglich in der Entwicklung der Genussfähigkeit und Erlebnisorientierung als Voraussetzungen von Konsumorientierung. Analog werden auch gesellschaftlich-funktionalistische Gründe für die Betonung der Selbsttätigkeit des Lernens genannt. Dieses reformpädagogische Grundprinzip, das vor allem in den Arbeiten von JOHN DEWEY, GEORG KERSCHENSTEINER und HUGO GAUDIG entfaltet wird, entspricht dem zunehmenden Bedarf an flexiblen, kreativen, lernbereiten und lernfähigen Arbeitnehmern in fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Erkennbar ist die ökonomisch-strukturelle Relevanz dieser Lernform auch daran, dass eine „(...) – zumindest auf den ersten Blick – erstaunliche Parallelität in den Anforderungen besteht, die von Seiten der Wirtschaft heute an Bildung und Ausbildung gestellt werden, und pädagogischen Konzepten, die ihren Ursprung in der Reformpädagogik der 20er Jahre haben“ (VAUPEL 2004, S. 31). Die Betonung formaler Lernziele wie Selbstlernkompetenz und Selbstorganisationsfähigkeit kann insofern als pädagogische Reaktion auf Veränderungen des Arbeitslebens verstanden werden (vgl. PREUSS-LAUSITZ 1993, S. 17). Bezogen auf die oben erläuterte paradoxe Struktur des pädagogischen Generationenverhältnisses kann mit WINTERHAGER-SCHMID (2000, S. 29) davon ausgegangen werden, dass die ältere Generation mit der reformpädagogischen Gewichtung formaler Bildungsziele erstmals deutlich die Aufforderungen zu Innovationsleistungen über den Imperativ zur Nachfolge im Sinne „folgsamer Aneignung der Tradition“ stellt. Reformpädagogik als kulturelles Deutungsmuster ist dieser Betrachtung zufolge tief mit der Struktur gesellschaftlicher Modernisierungs- und Enttraditionalisierungsprozesse verwoben. Die Konfrontation aufklärerischer und reformpädagogischer Perspektiven zeigt, dass der klassische Gedanke von Bildung als Anregung zur Autonomie reformpädagogisch umformuliert wird als Ermöglichung und Unterstützung selbsttätigen, selbstgesteuerten und selbstbestimmten Lernens. Autonomie wird nicht wie bei KANT als Folge von Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung gesehen, sondern als Erziehung zur Selbsttätigkeit konzipiert (vgl. TERHART 1990, S. 8). Wenngleich wissenssoziologische Beobachter diese theoretische Trendwende als kulturellen Ausdruck eines gesellschaftlichökonomischen Wandels sehen, ist das Selbstverständnis der einzelnen reformpädagogischen Richtungen kultur- und erziehungskritisch. Wie auch in der Aufklärungspädagogik wird ein utopischer Zusammenhang von Erziehungs- und Gesellschaftsreform konstruiert. „Das Kind dient als Modell für ein besseres Leben: Am Kinde genesen, sich durch das Kind erlösen, sich aus den Zwängen des Erwerbslebens befreien“, so beschreibt DONATA ELSCHENBROICH (2000, S. 425) die Glückserwartung des Projekts der Reformpädagogik, das anders als das Projekt der Aufklärung nicht so sehr die Intentionalität und Instruktionslogik von Erziehung betont. Konträr zu wissenssoziologischen Überlegungen sieht die 24
reformpädagogische Bewegung ihre paradigmatische Grundlage übereinstimmend in einer ‚Pädagogik vom Kinde aus’. Diese basiert auf einem romantisch-mythologisch überhöhten Bild des ‚selbstständigen’ und ‚eigensinnigen’ Kindes und einem ‚reifungstheoretischen’ Verständnis von Entwicklung als Selbsthervorbringung, das in radikaler Ausprägung nur ein ‚Wachsenlassen’ fernab gesellschaftlicher und erzieherischer Einflussnahme zulässt. Wie MARIA FÖLLING-ALBERS (2005) erläutert, beruht dieses Erziehungsverständnis auf dem in der Aufklärung grundgelegten Verständnis von Schul- und Familienkindheit als Moratorium. Kinder, die gemäß der reformpädagogischen Anthropologie als ‚unfertige’ und zugleich ‚unverdorbene’ Wesen gesehen wurden, sollten in einer geschützten und den kindlichen Bedürfnissen entsprechenden Umwelt ohne störende Einflüsse heranreifen (vgl. OELKERS 1996). Im Unterschied zu Perspektiven der Aufklärungspädagogik wurde Kindheit jedoch nicht als Transitorium zum Erwachsenenstatus begriffen, sondern als Lebensphase aus eigenem Recht. Deutlich wird in diesem Zusammenhang der Übergang zu einem Erziehungsverständnis, das nicht auf pädagogische Intentionalität rekurriert, sondern auf die Selbstorganisation von Bildungsprozessen. Wie EWALD TERHART (1990) zeigt, ist auch diesem Verständnis von Erziehung zur Selbstständigkeit eine Paradoxie immanent. In der Akzentuierung von Schülerselbsttätigkeit bildet Selbstständigkeit sowohl eine Voraussetzung als auch Methode und Ziel von Unterricht. Lernkindheit steht hier insofern im Widerspruch, als das zu erreichende Bildungsziel in der Unterrichtsmethodik zur Voraussetzung des Bildungsprozesses erhoben wird (weiterführende pädagogisch-psychologische Problematisierungen dieses Unterrichtsverständnisses finden sich in Kap. 10.3). Am Beispiel von Aufklärungs- und Reformpädagogik sollte verdeutlicht werden, dass sozialgeschichtliche und pädagogisch-ideengeschichtlichen Veränderungen koevolvieren. TERHART spricht diesbezüglich vom „historischen Doppelgesicht“ der pädagogischen Zielnorm und „Programmformel“ ‚Selbstständigkeit’. Einerseits wird Selbstständigkeit in emanzipatorischer Wendung als „radikal-individualistisches Prinzip der Selbst-Konstitution von Persönlichkeit“ (ebd., S. 9) des modernen, aus traditionalen Bindungen gelösten und autonom gewordenen Menschen verwendet, andererseits ist dieser Begriff Ausdruck der gesellschaftlichen Erwartung und des sozialen Zwangs zur „Vermittlung von Fähigkeiten und Tugenden, die nach der Auf- und Ablösung traditioneller Lebensformen und Orientierungsmuster in der modernen, industriell verfassten Arbeitsgesellschaft benötigt werden (Arbeitswille, selbstständige Ausführung übertragener Aufgaben, autonome Lebenstüchtigkeit, heute: Flexibilität usw.)“ (ebd.). In der Literatur wird die Gewichtung des Verhältnisses von ideellen und materiell-sozialstrukturellen Faktoren, anders ausgedrückt: die Korrelation von „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ (vgl. LUHMANN 1989), unterschiedlich eingeschätzt. PLAKE geht von einer Priorität materieller Realfaktoren aus. In Anlehnung an die Wissenssoziologie MAX SCHELERs beschreibt er gesellschaftliche Strukturveränderungen als „Schleusen“, die Ideen kanalisieren, aber nicht determinieren. Kulturinhalte werden in dem Fall gesellschaftspolitisch einflussreich und mächtig, wenn sie sich mit vorgängigen Systemtendenzen verbinden. Auch NIKLAS LUHMANN (1989) vertritt die These, dass sozialstrukturelle Veränderungen der kulturellen Semantik vorausgehen. In der pädagogischen Tradition steht dieser wissenssoziologischen These das ‚Autonomiepostulat’ der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik gegenüber, nach dem die Eigenständigkeit und Geschlossenheit pädagogischer Reflexions- und Handlungssysteme mit der 25
Orientierung am Eigenrecht des Kindes begründet wird. Der Gedanke der Autonomie des Kindes wird mit dem der Autonomie der Pädagogik verbunden: Pädagogik erlangt Autonomie, so der Gedankengang, indem sie gegenüber anderen Kulturbereichen, die ihre Interessen auf Heranwachsende richten, das Eigenrecht des Kindes vertritt und sich zu dessen Anwalt macht (vgl. BOLLNOW 1989). Mit diesem Postulat verpflichtet sich Pädagogik zu einer grundsätzlich kritischen Reflexion gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und ihrer Konsequenzen für Erziehung, Bildung und Unterricht. Damit ist nicht ein einseitiges Eintreten für das Eigenrecht des Kindes gemeint, sondern eine Priorität des Eigenrechts gegenüber gesellschaftlichen Zwecken und Zielen von Erziehung. Generell bleibt die Ambivalenz zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Aspekt von Erziehung bestehen, d.h. Pädagogen sind nicht nur Anwalt des Kindes, sondern zugleich Anwalt der Kultur und müssen diese widersprüchlichen Aufgabenanforderungen aushalten und ausgestalten. HERMANN NOHL (1978) spricht in diesem Kontext von der „Grundantinomie des pädagogischen Lebens“, d.h. der Spannung zwischen dem Recht des Kindes auf Selbstentfaltung und der Orientierung an gesellschaftlichen Funktionen von Erziehung. Wie gezeigt wurde, ist die pädagogische Programmformel ‚Selbstständigkeit’ ein paradigmatisches Beispiel für diese Grundantinomie pädagogischen Denkens und Handelns. Dem Ideal des geisteswissenschaftlichen Autonomiepostulats folgend, kann es Pädagogen weder darum gehen, wissenssoziologisch einem ‚Vulgärmaterialismus’ der pädagogischen Ideengeschichte das Wort zu reden, noch auf kritische Reflexionen der gesellschaftlichen Voraussetzungen von Erziehungsideen zu verzichten. Erziehungsreformen müssen daraufhin befragt werden, ob sich hinter ihnen funktionale Reaktionen auf gesellschaftliche Veränderungen verbergen, oder ob in ihnen intentionales Engagement für praktische Veränderungen zum Wohle der Kinder zum Ausdruck kommt. In diesem Sinn stellt ANDREAS FLITNER folgenden Anspruch an pädagogische Antworten auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse: „Da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und mit ihnen die Lebensbedingungen der Kinder wie der Erziehenden weiter rapide verändern, ist immer wieder ‚Reform’ gefordert: Antwort auf die Modernisierungsprozesse, nicht nur als Zustimmung oder Widerspruch, sondern als Suche nach neuen Möglichkeiten der Erziehungsarbeit, Suche nach einer Sphäre, die den Kindern bekömmlich ist und die ihnen den Weg in die komplexe Welt der Erwachsenen erleichtert.“ (FLITNER 2001, S. 265)
Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass Selbstständigkeit als zentraler programmatischer Begriff die Geschichte der neuzeitlichen Pädagogik kennzeichnet. Mit Bezug auf wissenssoziologische Überlegungen von PLAKE und TERHART wurde das ‚historische Doppelgesicht’ dieser pädagogischen Leitkategorien verdeutlicht. Daran anschließend wurden an NOHL und FLITNER die Orientierung am Eigenrecht des Kindes gegenüber gesellschaftlichen Bedarfsstrukturen als Leitlinie und Prüfstein für pädagogische Reformen im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse betont. Zudem wurden grundsätzliche Paradoxien der Erziehung zur Selbstständigkeit herausgestellt, die sowohl Konzepte der Aufklärungs- als auch der Reformpädagogik betreffen. Diese Überlegungen bilden den Grundstein für die Reflexion aktueller, die Selbstständigkeit von Kindern und die Selbstbezüglichkeit
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des Lernens im Kontext gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse betonender pädagogischer Reformdiskurse.
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Das Selbstständigkeitsbild der soziologischen Individualisierungstheorie
In der soziologischen und sozialphilosophischen Literatur wird übereinstimmend ein in den 1970er Jahren einsetzender massiver gesellschaftlicher Modernisierungsschub festgestellt, der in seinen Auswirkungen die Lebenswelten aller Lebensalter, gesellschaftlicher Schichten und Milieus betrifft. Die konstatierten Veränderungen des Zusammenlebens der Menschen werden heute als Umbruch innerhalb der modernen Gesellschaft wahrgenommen. Als Katalysatoren des gesellschaftlichen Strukturwandels werden sich beschleunigende Individualisierungs-, Pluralisierungs-, Enttraditionalisierungs- und Entstrukturierungsprozesse genannt, die zunehmend die Konturen der modernen Industriegesellschaft auflösen. Diskutiert wird ein Übergang in eine andere Moderne, deren Strukturmerkmale mit gegenwartsdiagnostischen Etiketten wie ‚Risikogesellschaft’, ‚reflexive Moderne’, ‚Spätmoderne’, ‚Erlebnisgesellschaft’, ‚Multioptionsgesellschaft’, ‚Dienstleistungsgesellschaft’, ‚globales Informationszeitalter’, ‚postfordistisches Zeitalter’, ‚posttraditionale Gesellschaft’, ‚Postmoderne’, etc. erfasst werden sollen. Diese Pluralität konkurrierender bzw. synonym verwendeter Gesellschaftsbegriffe spiegelt sich in aktueller erziehungswissenschaftlicher Literatur. Hier werden Bezeichnungen wie „Weltgesellschaft“ (vgl. KAISER/PECH 2004), „Wissensgesellschaft“ (vgl. RÖHNER 2004; HÖHNE 2003), „mitteleuropäische Wohlstandsgesellschaft“ (vgl. MAIER 2004), „plurale Krisengesellschaft“ (vgl. PREUSS-LAUSITZ 1993), „moderne Risikogesellschaft“ (vgl. KUHN 2004), „Kaufrauschglitzercybergesellschaft“ (vgl. TÜGEL 1996), „Postmoderne“ (vgl. KECK 1999), etc. verwendet. Die Begriffsvielfalt der soziologischen und pädagogischen Gegenwartsdiagnostik resultiert naturgemäß aus den jeweiligen Akzentuierungen und Bewertungen einzelner gesellschaftlicher Veränderungstrends, die auch die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern in ihren unterschiedlichen Lebensbereichen betreffen. Analog zur gesellschaftstheoretischen Gegenwartsdiagnostik versucht die moderne Kindheitsforschung der 1980er und 1990er Jahre den sozialen Wandel der Lebenswelten von Kindern auf eingängige Begriffe zu bringen. Dabei werden zwangsläufig einzelne Veränderungen, die im Grunde lediglich verschiedene gesellschaftliche Entwicklungstrends indizieren, generalisiert bzw. verabsolutiert, wie u.a. deutlich wird an Begriffsbildungen wie „Medienkindheit“ (vgl. LANGE 1995), „Generation @“ (OPASCHOWSKI 1999), „Terminkalenderkindheit“, „Konsumkindheit“ (vgl. FRIESEN 1994), „verinselte Kindheit“ (vgl. ZEIHER 1994), „verhäuslichte Kindheit“, „institutionalisierte Kindheit“ (vgl. NÄSMAN 1994). In Bezeichnungen wie „Kinder der Freiheit“ oder „Krisenkinder“ kommt eine positive bzw. negative Bewertung des sozialen Wandels von Kindheit zum Ausdruck (vgl. CLOER 1999). In Anlehnung an ASTRID KAISER können die oben angesprochenen Diskurse über Gesellschaft und Kindheit im Wandel als Teilgesellschaftstheorien bzw. Teilmodernisierungstheorien von Kindheit kritisiert werden, die für didaktische Reflexionen weniger geeignet 29
sind, weil sie „die Vielfalt (sc. gesellschaftlicher Transformationsprozesse und ihrer Konsequenzen für Kinder, E.D.) geradezu ausklammern, die für didaktisches Denken in die breite Gegenwart und Zukunft hinein geradezu unerlässlich ist“ (KAISER 1999, S. 105). Des Weiteren konnte in einer Metaanalyse einschlägiger Forschungsarbeiten gezeigt werden, dass entsprechende monistische Erklärungsmuster für den Wandel von Kindheit und Jugend einer gesicherten empirischen Grundlage entbehren (vgl. BUHREN/WITJES/ZIMMERMANN 2002). Vielmehr könne davon ausgegangen werden, so die Autoren der Metastudie, dass Veränderungen im Verhalten und Erleben von Kindern und Jugendlichen auf gesamtgesellschaftliche Liberalisierungs- und Individualisierungsprozesse zurückgehen (ebd., S. 357). Aus diesen Gründen soll im Folgenden mit der soziologischen Individualisierungstheorie die gemeinsame gesellschaftstheoretische Grundlage der verschiedenen Varianten sozialwissenschaftlicher Kindheits- und Gegenwartsdiagnostik in ihren zentralen Theoremen, Dimensionen und Lesarten dargestellt werden. Die Individualisierungstheorie beschreibt die Veränderungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft als Prozess der Freisetzung des Ichs aus den traditionellen sozialen Strukturvorgaben und Prozessabläufen des Zusammenlebens. Aufgrund des Verlustes traditioneller biographischer Vorgaben wird das Individuum als Gestalter seiner Biographie und als eigenverantwortlicher Akteur in seiner Lebenswelt beschrieben. Selbstständigkeit als Programm- und Zielbegriff moderner Pädagogik wird hier mit Bezug auf das individualisierungstheoretische Subjektmodell des Planers, Gestalters und Akteurs seiner Lebenswelten und seines Lebenslaufs ausformuliert.
3.1
Individualisierung und reflexive Modernisierung
Wie in der aktuellen Sekundärliteratur zur soziologischen Individualisierungsdiskussion übereinstimmend konstatiert wird, steht der Begriff ‚Individualisierung’ für den Versuch einer pointierten Zeitdiagnose (vgl. JUNGE 2002, S. 8; KRON 2000, S. 7; SCHROER 2000, S. 9). Die neuere Individualisierungsdebatte in der deutschen Soziologie wurde vor allem durch die Arbeiten des Ehepaars ULRICH BECK und ELISABETH BECK-GERNSHEIM in den 1980er Jahren ausgelöst. Seitdem darf der Begriff Individualisierung „in keiner Gegenwartsbetrachtung, die Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, mehr fehlen“ (KRON 2002, S. 259f.). BECK und BECK-GERNSHEIM (1994, S. 16) wollen ihre These von der Individualisierung heutiger Gesellschaft als Trendaussage verstanden wissen. In seinem Aufsatz „Jenseits von Stand und Klasse“ (1983) sowie in dem vielbeachteten Buch „Risikogesellschaft“ (1986) – beides zentrale Bezugstexte der aktuellen Individualisierungsdebatte – konstatiert BECK einen seit den 1950er Jahren zunehmenden Prozess der Freisetzung der Individuen aus sozialen Gruppen, fest gefügten Rollenmustern und deren determinierenden Einflüssen auf Verhalten, Einstellungen und Prozessabläufe des Zusammenlebens. Diese vor zwanzig Jahren getroffenen Aussagen stellen bis heute zentrale Grundannahmen der soziologischen Individualisierungsdiskussion dar. In Anlehnung an ein berühmtes Zitat von JEAN-PAUL SARTRE beschreiben BECK und BECK-GERNSHEIM die Konsequenz gesellschaftlicher Indi30
vidualisierungsprozesse für die Individuen als Verdammung zum eigenen Leben. Das so beschriebene Phänomen der Individualisierung stellt Menschen aus allen sozialen Schichten und Klassen vor schwierige biographische Aufgaben: „Individualisierung ist ein Zwang, ein paradoxer Zwang allerdings, zur Herstellung, Selbstgestaltung, Selbstinszenierung nicht nur der eigenen Biographie, sondern auch ihrer Einbindungen und Netzwerke, und dies im Wechsel der Präferenzen und Lebensphasen und unter dauernder Abstimmung mit anderen und den Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat usw.“ (BECK/BECK-GERNSHEIM 1994, S. 14). Das Zitat macht deutlich, dass Individualisierung nicht einseitig als Befreiung von gesellschaftlichen Vorgaben zu verstehen ist, sondern selbst als gesellschaftliche Vorgabe, als kultureller Imperativ der Moderne. Die institutionellen Anforderungen der modernen, hochdifferenzierten Gesellschaft erzwingen die „Selbstorganisation des Lebenslaufs und die Selbstthematisierung der Biographie“ (BECK 1996, S. 42). THOMAS ZIEHE (1992, S. 103) spricht in diesem Zusammenhang von Individualisierung als „intersubjektivem Selbstanspruch“ und bringt damit zum Ausdruck, dass Individualisierung als gesellschaftlich erforderter Sozialisationsmodus durch gegenseitige Unterstellung im sozialen Miteinander in die eigene Selbstdefinition übernommen wird. Das individualisierte Ich ist demnach ein sozial konstruiertes Ich-Ideal. Individualisierung bezeichnet für ZIEHE (ebd.) das Bestreben, „Mich – unter Anerkennungsverhältnissen – verwirklichen zu wollen.“ Die Selbststeuerung des eigenen Lebens kommt aber nicht nur als gesellschaftlich erforderter und internalisierter Sozialisationsmodus in den Blick. Sie unterliegt, wie aus dem Zitat von BECK und BECK-GERNSHEIM ebenfalls deutlich wird, wiederum institutionellen Vorgaben und Kontrollen des Arbeitsmarktes, des Bildungssystems, des Wohlfahrtsstaates, etc. Wie BECK in vielen seiner Schriften hervorhebt, ist das moderne institutionenabhängige Leben im Unterschied zu traditionellen Lebensverläufen nicht mehr auf eine Normalbiographie festgelegt. Moderne Vorgaben stellen vielmehr „Bausätze biographischer Kombinationsmöglichkeiten“ (BECK 1986, S. 217) dar, welche die Normalbiographie zur „Wahlbiographie“, zur „Bastelbiographie“, zur „Risikobiographie“, aber auch zur „Bruch- oder Zusammenbruchsbiographie“ werden lassen (vgl. BECK 1996, S. 42; HITZLER 1994; HITZLER/HONER 1994). Die geschichtlich neuen Ausmaße des Individualisierungsschubes der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts sehen BECK und BECKGERNSHEIM (1994, S. 21) darin, „(...) dass das, was früher wenigen zugemutet wurde – ein eigenes Leben zu führen – nun mehr und mehr Menschen, im Grenzfall allen abverlangt wird.“ Diese Herauslösung aus historisch vorgegebenen sozialen Bindungen und Rollenmustern heißt bei BECK (1986, S. 206) „Freisetzungsdimension“ der Individualisierung. Um zu zeigen, dass Freisetzung im Verlauf der gesellschaftlichen Modernisierung zunehmend alle Individuen betrifft, d.h. nicht nur alle sozialen Gruppen, sondern auch alle Lebensalter (vgl. GESTRICH 2001; EWERS 1995, S. 13ff.) und beide Geschlechter (vgl. DIEZINGER 1991), stellt er Individualisierungsschübe in den Kontext zweier Modernisierungsprozesse, die er einfache und reflexive Modernisierung nennt. Einfache Modernisierung bezieht sich auf die Herauslösung des Ichs aus den Kollektivität erzeugenden vormodernen Abhängigkeiten von Religion, Natur und Traditionen durch Rationalisierungsprozesse und markiert den Übergang von der Stände- zur Industriegesellschaft. Die Industriegesellschaft ist für BECK (1993, S. 94) nur eine halbmoderne Gesellschaft, weil sie über gesellschaftliche Schichtun31
gen und Geschlechtergegensätze neue Formen hierarchischer Gesellschaftsordnung erzeugt und damit in Widerspruch gerät zum Freiheits- und Individualisierungsanspruch der Moderne. Diese These veranschaulichen BECK und BECK-GERNSHEIM am Beispiel der modernen Kleinfamilie: Die in der bürgerlichen Gesellschaft vollzogene Trennung zwischen Produktion und Familie und die damit verbundene Entstehung der modernen Kleinfamilie führte zur Herausbildung der geschlechtsspezifischen Zuweisung des Mannes in die Erwerbstätigenrolle und der Frau in die Hausfrauenrolle. Insofern stecken in der Industriegesellschaft mit ihrem männlich ausgerichteten Arbeitsmarkt neue Formen ständischer „Zuweisungen qua Geburt“ (BECK/BECK-GERNSHEIM 1990, S. 39). Aufgrund solcher Zuweisungen zu „modernen Ständen“, die Individualisierung, Freiheitsrechte und Autonomie nur dem männlichen Teil der bürgerlichen Gesellschaft zubilligen, erachtet das Soziologenpaar die Moderne in Form der klassischen Industriegesellschaft als noch nicht vollendet. Die ungleiche Lage der Geschlechter und Klassen, auf welche die Industriegesellschaft in ihrer Funktionsweise angewiesen war, wird im Laufe der weitergehenden Modernisierung problematisch und allmählich aufgelöst (vgl. ebd., S. 36). Infolgedessen erlangen die in der Philosophie der Aufklärung vertretenen Freiheitsrechte und der Gedanke der Autonomie des Ichs, die ursprünglich nur für das männliche Wirtschafts- und Bildungsbürgertum formuliert wurden, zunehmend für alle Bevölkerungsteile Bedeutung. In dieser Entwicklung sieht BECK (1994) einen Gestaltwandel der Moderne, den er als „reflexive Modernisierung“ bezeichnet und als Übergang von der „klassischen Industriegesellschaft“ zur „modernen Risikogesellschaft“ beschreibt. Obgleich auch das in der Philosophie der Aufklärung grundgelegte Projekt der Moderne auf die Herauslösung des Ichs aus Abhängigkeiten von Natur, Religion und Tradition zielt, sieht BECK den Übergang in eine andere Moderne nicht als Einlösung der Ideale der Aufklärung. Die Modernisierung der Moderne geht für ihn nicht auf eine intentionalistische und fortschrittsutopische Gestaltung von Gesellschaft als Projekt zurück, sondern ist vielmehr Resultat der Risken und Nebenwirkungen einfacher Modernisierung. Nicht die Vervollkommnung der Gesellschaft gemäß des Fortschrittspostulats der Aufklärung, sondern eine „Vervollkommnung der Unsicherheit“ kennzeichnet fortschreitende Modernisierung (BECK 2005, S. 98). Während einfache Modernisierung mit Rationalisierungsprozessen zusammenhängt, handelt es sich beim Übergang in die andere Moderne um die „Rationalisierung der Rationalisierung“ (UHLE 1995, S. 73), also um den reflexiven Umgang mit den durch einfache Modernisierung hervorgebrachten Formen und Folgeproblemen moderner Sozialität. Risiken, Gefahren, Individualisierung und Globalisierung sind Nebenfolgen und Widersprüche gesellschaftlicher Modernisierung und bilden die Triebkraft dieses Gesellschaftswandels (vgl. BECK 1993, S. 71). Mit dem Begriff der „reflexiven Modernisierung“ verweist BECK sowohl auf sozialstrukturelle als auch auf mentalitätsgeschichtliche Veränderungen: „Reflexartige Selbstgefährdung industriegesellschaftlicher Grundlagen durch erfolgreich, gefahrenblinde Weitermodernisierung einerseits und das Bewusstwerden, die Reflexion dieses Verhältnisses “ (ebd., S. 56). Das Reflexiv-Werden der Moderne und die Freisetzung der Menschen aus den Vorgaben der Industriegesellschaft werden vor allem auf folgende Vorgänge der weitergehenden Modernisierung zurückgeführt: Die zentrale Ursache für diese gesellschaftliche Entwicklung wird in der „wohlfahrtstaatlichen Modernisierung“ der Industriegesellschaft gesehen, deren Teilprozesse in einer allgemeinen Wohlstandssteigerung („Fahrstuhlef32
fekt“), einer Dynamik der Arbeitsmarktentwicklung, der Durchsetzung der modernen Wohlfahrtsgesellschaft über die Geschlechtergrenzen hinweg, einem Massenkonsum an höherer Bildung und einer daraus folgenden zunehmenden geographischen und sozialen Mobilität bestehen (vgl. BECK 1986, S. 116; TILLMANN 2001, S. 263f.). Reflexive Modernisierung – welche das Verständnis von Individualisierung bei Beck grundlegt – hebt die sozialen Bindungen von Klassen, regionalen Verbänden und Familien auf. Es kommt zu einer Freisetzung der Individuen, die einerseits deren Handlungsspielräume erweitert, die andererseits auch zu neuen Formen von Angst und Unsicherheit führt. Der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen ist ein Problem immanent, das vielfach auch als ‚biographische Kontingenz’ bezeichnet worden ist (vgl. SCHIMANK 2000, S. 113). Biographische Kontingenz verweist auf den Gedanken des ‚Zufall-Ichs’. Nichts ist mehr gewiss, die Vervielfältigung von Daseinsmöglichkeiten erweist sich als ein Entstehungsort von Unsicherheiten, denen sich das Individuum mit selbstverantworteten Entscheidungen stellen muss. Durch Optionenvielfalt muss sich das Individuum selbst zum zentralen Anhaltspunkt machen, um vielfältige Entscheidungen in Bezug auf Lebensform, Konsum, Geschmack, Freizeitgestaltung, etc. ohne Rückgriff auf verbindliche Normen treffen zu können. Diese Ambivalenz von zunehmender Handlungsfreiheit und dem Verlust Sicherheit spendender Traditionen heißt bei BECK „Riskante Freiheiten“ (1994) oder „Entzauberungsdimension“ von Individualisierung (1986, S. 206). Im Unterschied zur Kulturkritik leitet das BECKsche Individualisierungstheorem aus dem modernisierten Leben jenseits von Klasse, Stand und traditionalen Geschlechtsrollen keine Beschreibungen kultureller Modernisierungsverluste oder gesellschaftlicher Anomie ab. Zwar wird die Gefahr der Isolation der Individuen erkannt, analog zur kommunitaristischen Sozialtheorie fokussiert Beck aber die Herausbildung posttraditionaler Gemeinschaftsformen. Er konstatiert die „Entstehung neuer soziokultureller Gemeinsamkeiten“, die er z.B. in Bürgerbewegungen, Interessengruppen oder anderen Wahl- und Kooperationsgemeinschaften sieht, und als „Reintegrationsdimension“ von Individualisierung bezeichnet (BECK 1986, S. 206). Da Gesellungsformen in der Reflexiven Moderne durch den Verlust von Gemeinsamkeit stiftenden Vorgaben gekennzeichnet sind, müssen die Gemeinsamkeiten von den Individuen durch das Aushandeln eigener Ansprüche gegenüber denen des Anderen selbst hergestellt werden. Der Übergang in ein gemeinsames Wollen ist eine Funktion von Aushandlungsprozessen. Diese neue Gesellungsform wird bei REINHARD UHLE charakterisiert „als eine des Gewinnens, Streitens, Erfindens und Aushandelns ‚von unten’, d.h. nicht durch staatliche oder andere Vorgaben, sondern in der Lebenswelt der Menschen“ (UHLE 1995). Dieser ambivalente Zusammenhang von zunehmender Schwierigkeit und gleichzeitiger emotionaler Wichtigkeit des Übertritts hochindividualisierter Individuen in ein gemeinsames Wir, wird in Bezug auf Familienbeziehungen und Kindererziehung mit dem Begriff des „Verhandlungshaushalts“ (vgl. BÜCHNER 1983; DU BOIS-REYMOND 1998) belegt und in Bezug auf Intimbeziehungen als „ganz normales Chaos der Liebe“ (BECK/BECK-GERNSHEIM 1990) beschrieben (weiterführend zum Familienmodell des Verhandlungshaushaltes vgl. Kap. 4.1).
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3.2
Dimensionen von Individualisierung
Die Rede von der individualisierten Gesellschaft ist bei BECK als zeitdiagnostische Trendaussage angelegt. Die mangelnde theoretische Eindeutigkeit und empirische Fundierung der These – die sowohl von soziologischen Interpreten kritisiert als auch von BECK und BECKGERNSHEIM selbst eingeräumt wird (vgl. BECK/BECK-GERNSHEIM 1990; KRON 2000, S. 7; SCHROER 2000a, S. 14) – ergibt sich aus ihrer Zugehörigkeit zum Genre der soziologischen Gegenwartsdiagnostik. Diese soziologische Literaturgattung versucht, wie UWE SCHIMANK und UTE VOLKMANN (1999, S. 43) erläutern, „auf eher spekulative Weise ein Gesamtbild der je aktuellen oder antizipierten gesellschaftlichen Situation zu skizzieren.“ Aber gerade in diesem wissenschaftstheoretisch problematischen Sachverhalt dürfte der Grund für die Faszination liegen, die von der Individualisierungsthese ausgeht und die zu einer breiten öffentlichen und wissenschaftlichen Rezeption geführt hat. Wie THOMAS KRON mit Bezug auf PETER A. BERGER zeigt, stellt die Individualisierungsthese aus wissenssoziologischer Sicht „ein Beispiel für Komplexitätssteigerung durch Komplexitätsreduktion“ dar. „Sie bündelt einerseits eine Vielzahl von Einzelbeobachtungen in einem Begriff zusammen, der in seiner Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit andererseits zu neuen Missverständnissen, aber auch zu produktiven Kontroversen Anlass gibt“ (BERGER 1996, S. 279, zit. nach KRON 2000, S. 8). Die von BECK postulierte Universalität gegenwärtiger Individualisierungsprozesse führt zu einem hohen Maß wissenschaftlicher Anschlusskommunikation und trägt damit zur Autopoiesis des wissenschaftlichen Diskurses bei (zu diesen Zusammenhängen weiterführend vgl. Kapitel 6.4.2). In Weiterführung der Annahmen KRONS (2000) können hierfür zwei Gründe unterschieden werden: (1) Die Unschärfe und Mehrdeutigkeit des Begriffs Individualisierung wie auch die These BECKs, die Herauslösung aus Bindungsprägungen betreffe zunehmend alle Menschen in der modernisierten Moderne, ermöglichen eine generalisierende Verwendung des Individualisierungstheorems als Deutungsmuster für Veränderungen auf der Ebene der Gesamtgesellschaft und Kultur, der Institutionen, der Interaktionen sowie der Persönlichkeit. Durch ihre vielseitige Verwendbarkeit wird die These anschlussfähig für Diskurse in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (vgl. HEITMEYER/OLK 1990, S. 12; JUNGE 2002, S. 15f.). Intensiv rezipiert wird das Individualisierungstheorem vor allem in der pädagogischen Kindheits- und Jugendforschung (vgl. SCHRÖDER 1995; TILLMANN 2000, S. 257) und in der Familiensoziologie (vgl. BECK/BECKGERNSHEIM 1990; BECK-GERNSHEIM 1994; ESSER 2004). Das Konzept der Individualisierung wird hier als Interpretationsfolie für den zeitgeschichtlichen Wandel der Familie und des Aufwachsens in der Gesellschaft verwendet. (2) Im systemtheoretischen Verständnis orientiert sich wissenschaftliche Kommunikation neben dem Kriterium der Anschlussfähigkeit am Code wahr/unwahr. In dieser Hinsicht werden gerade gegen die vielseitige subund interdisziplinäre Anschlussfähigkeit der These, die sich aus ihrer theoretischen und begrifflichen Unschärfe ergibt, Einwände erhoben. Die soziologische Diskussion reproduziert sich in dieser Beziehung durch die Problematisierung der empirischen und theoretischen Tragweite des Individualisierungstheorems (vgl. FRIEDRICHS 1998, S. 7; BURKHART 1998, S. 128). So gesehen trägt die Individualisierungsdebatte durch zwei gegenläufige Bewegungen zur Autopoiesis des wissenschaftlichen Kommunikationszusammenhangs bei. Die Breite und Unübersichtlichkeit der Diskussion hat verschiedene Systematisierungsver34
suche hervorgerufen. Die folgenden Ausführungen sollen einen Einblick geben, wie in der Soziologie versucht wird, die Debatte durch die Unterscheidung verschiedener Dimensionen von Individualisierung zu systematisieren und das Verständnis des Individualisierungsbegriffs durch die Abgrenzung verschiedener theoretischer Zugangsweisen zu präzisieren. Im Zentrum der gegenwärtigen kritisch-konstruktiven Diskussion der Individualisierungsthese, die sich um eine Überwindung der Vagheit und Mehrdeutigkeit von Individualisierungsdiagnosen bemüht, stehen Versuche, den Individualisierungsbegriff durch die Systematisierung verschiedener soziologischer Individualisierungsverständnisse zu präzisieren (vgl. EBERS 1995; KIPPELE 1999; KRON 2000; SCHROER 2000a/b). Als vielversprechend erweist sich eine Unterscheidung verschiedener Dimension von Individualisierung wie Emanzipation von traditionellen Bindungen, Autonomie, persönliche Eigenart, soziale Vernetzung, innerpsychische Differenzierung, Isolation, Ohnmacht, etc., die FLAVIA KIPPELE (1999, S. 200ff.) auf Basis einer vergleichenden Analyse der Individualisierungsverständnisse soziologischer Klassiker herausgearbeitet hat. Insgesamt kann KIPPELE 24 verschiedene Dimensionen von Individualisierung ausfindig machen und damit eine Grundlage für eine differenzierte Verständigung schaffen über das, was Individualisierung neben den BECKschen Dimensionen Freisetzung, Entzauberung und Reintegration heißen kann. Durch die Auseinandersetzung mit den Klassikern der Soziologie wird zudem deutlich, dass Individualisierung ein geschichtliches Phänomen ist, dass nicht nur auf den bei BECK im Mittelpunkt stehenden Individualisierungsschub ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts reduziert werden darf. Die Thematik der Individualisierung ist also nicht neu, auch wenn sie erst durch BECK zum gegenwartsdiagnostischen Kernbegriff avanciert ist. Wie ARMIN NASSEHI hervorhebt, ist die mit dem Begriff Individualisierung intendierte subjektorientierte Beschreibung und Deutung der zeitgeschichtlichen Veränderungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft nicht eine theoretische Neuorientierung der Soziologie, sondern ein Schlüsselthema aller wichtigen soziologischen Theorien. Für NASSEHI ist es sogar der Geist der Individualität, aus dem die Soziologie als Disziplin erst hervorging: „Womöglich ist Soziologie nichts anderes als eine Reaktion auf das Problem, wie Soziales trotz der Individualität sozialer Akteure möglich ist.“ Im Rahmen systemtheoretischer Überlegungen kann der Autor verdeutlichen, dass Individualisierung nicht nur als fortdauernder Gegenstand, sondern auch als Entstehungsbedingung der Soziologie reflektiert werden muss (NASSEHI 2000, S. 45). Die Unterscheidung verschiedener Dimensionen von Individualisierung hat sich nicht nur für die Explikation der Erscheinungsformen des veränderten Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft durchgesetzt, sondern auch für die differenzierte Beschreibung der Anstöße der Veränderungen. Autoren wie KRON (2002) und MONIKA WOHLRAB-SAHR (1997) beschreiben Ursachen und Merkmale von Individualisierungsprozessen anhand einer sozialstrukturellen und einer kulturellen Dimension. Mit dieser Unterscheidung schließen sie an differenzierungs- und kulturtheoretische Traditionen ihres Faches an. Die enge Verflechtung von sozialstrukturellen und kulturellen Modernisierungsprozessen, die für die soziale Entstehung des selbstbezogenen Individuums und die Semantik des Individualismus verantwortlich sind, wird besonders deutlich in der Modernisierungstheorie von HANS VAN DER LOO und WILLEM VAN REIJEN (1992). Die niederländischen Soziologen analysieren Modernisierungsprozesse vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Struk35
tur, Kultur, Person und Natur als Dimensionen gesellschaftlicher Wirklichkeit. Auf Basis dieser Grundunterscheidung unterscheiden sie zwischen struktureller Differenzierung, kultureller Rationalisierung, Individualisierung der Person und Domestizierung der Natur als Teilprozesse gesellschaftlicher Modernisierung. Einzelne Teilprozesse der Modernisierung wie die Individualisierung können – so ihre Kernaussage – nur in ihrer Verwobenheit mit anderen Teilprozessen angemessen verstanden werden. Die Perspektive auf die sozialstrukturelle und die kulturelle Dimension von Individualisierung greift diesen Gedanken der Interdependenz verschiedener Modernisierungsprozesse auf. Aus der Perspektive der sozialstrukturellen Dimension von Individualisierung wird die „Herausbildung von Individualität im Sinne einer unterscheidbaren, besonderen Persönlichkeit“ vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse interpretiert (WOHLRAB-SAHR 1997, S. 25f.). Der Kern dieser Perspektive besteht in der Annahme, dass die gesellschaftliche Verortung, d.h. die soziale Lage und Stellung des Individuums, von der jeweiligen gesellschaftlichen Differenzierungsform abhängt (vgl. SCHROER 2000a; LUHMANN 1995, S. 125ff.). Das moderne Verständnis von Selbstbezüglichkeit, Individualität und Individualismus ergibt sich demnach aus dem Primat einer bestimmten Differenzierungsform moderner Gesellschaften, die in der Soziologie übereinstimmend als funktionale Differenzierung bezeichnet wird. Funktional differenzierte Gesellschaften sind gekennzeichnet durch ein Nebeneinander verschiedener sozialer Teilsysteme wie Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft, Kunst oder Erziehung, die jeweils eine spezifische Funktion zur Reproduktion des gesellschaftlichen Ganzen einnehmen. Kein Teilsystem kann die Funktion eines anderen ersetzen. In dieser prinzipiellen Gleichrangigkeit funktional ungleichartiger sozialer Subsysteme liegt der zentrale Unterschied zu primären Differenzierungsformen vormoderner Gesellschaften. So sind etwa die sozialen Einheiten archaischer Gesellschaften in gleiche Teile segmentiert (Familien, Clans, Stämme), während sich stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften in hierarchisch geordnete Einheiten wie Stände, Schichten und Klassen gliedern (vgl. LUHMANN 1997, S. 743ff.; SCHIMANK/VOLKMANN 1999, S. 6f.). In der Tradition differenzierungstheoretischen Denkens in der Soziologie wurde die funktional differenzierte Gesellschaft u.a. rollentheoretisch als arbeitsteilige Gesellschaft (DURKHEIM), als strukturfunktional integrierte Gesellschaft (PARSONS) und als polykontexturale Gesellschaft (LUHMANN) beschrieben. EMIL DURKHEIM – der Begründer der soziologischen Differenzierungstheorie – geht davon aus, dass die arbeitsteilige Gesellschaft mehr Individualität verspricht und erzeugt als jede Gesellschaft vor ihr. Damit unterstellt er ein Steigerungsverhältnis von gesellschaftlicher Komplexität und Individualisierung, das bis heute das Basistheorem der sozialstrukturellen Dimension von Individualisierung bildet. Begründet wird diese Steigerungsthese mit der Abnahme eines ‚kulturellen Kollektivbewusstseins’ der Gesellschaftsmitglieder im Zuge zunehmender funktionaler Differenzierung. Ein gemeinsames Hintergrundeinverständnis, wie es in den traditionellen Werten, Glaubensinhalten und tradierten Wissensbeständen vormoderner Gesellschaften gegeben ist, weicht einem vergrößerten Spielraums zur Entfaltung des individuellen Bewusstseins. Eigeninitiative, Eigenverantwortlichkeit, Autonomie und Flexibilität der Individuen betrachtet er als Funktionserfordernis von Arbeitsteilung. In seinen moralphilosophischen Überlegungen zum Integrationsproblem arbeitsteiliger Gesellschaften sieht er im ‚Kult des 36
Individuums’ den neuen, sozialen Zusammenhalt stiftenden Inhalt des Kollektivbewusstseins moderner Gesellschaften (vgl. DURKHEIM 1988). Aktuelle systemtheoretische Perspektiven auf Individualisierung knüpfen an die DURKHEIMsche Steigerungshypothese an, beziehen sich aber mit der Vorstellung der Polykontexturalität von Gesellschaft auf ein anderes Verständnis funktionaler Differenzierung. Im Unterschied zu DURKHEIM versteht die moderne Systemtheorie sozialstrukturelle Differenzierung nicht als Dekomposition eines gesellschaftlichen Ganzen durch Arbeitsteilung, sondern als Ausdifferenzierung autopoietischer, funktional spezialisierter Systeme. NIKLAS LUHMANN (1984) definiert diese Systeme als Kommunikationszusammenhänge, die sich rekursiv und selbstreferenziell nach Maßgabe binär codierter Leitdifferenzen wie z.B. zahlen/nicht zahlen als Code des Wirtschaftssystems oder gut lernen/schlecht lernen als Pendant des Erziehungssystems reproduzieren (vgl. Kap. 6.4). Dieser Theorieperspektive zufolge bildet funktionale Differenzierung kein organisches Ganzes komplementärer Rollendifferenzierung, sondern eine gesellschaftliche Vielzahl sinnhafter Perspektiven auf Welt. Perspektiven auf Welt verlaufen entlang der Leitdifferenzen, mit denen Systeme sich selbst und ihre Umwelt beobachten. Der Begriff Polykontexturalität verweist in diesem Zusammenhang auf die Vielfalt und Kontingenz von Kommunikationszusammenhängen und Beobachtungsverhältnissen. Einfach ausgedrückt: Die Gesellschaft vervielfältigt sich (vgl. LUHMANN 1997, S. 892). Deutlich wird, dass LUHMANN im Unterschied zu DURKHEIM sozialstrukturelle Differenzierung primär als Systemdifferenzierung betrachtet. Er vertritt die These, dass sich andere Differenzierungen wie Rollendifferenzierung oder innerpsychische Differenzierung als „Folge von Systemdifferenzierung einstellen, also durch Systemdifferenzierungen erklärt werden können“ (LUHMANN 1997, S. 597). Die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen bedingt aus dem Grunde Rollendifferenzierung, weil das Individuum nunmehr nicht nur einem Teilsystem zugeordnet werden kann – wie es in vormodernen Gesellschaften der Fall ist – sondern sich in vielfältige soziale Systeme einbringen muss. Dies geschieht durch die Einnahme systemdefinierter Leistungs- bzw. Publikumsrollen (vgl. STICHWEH 1988, S. 261). Da sich Individuen in vielfältigen gesellschaftlichen Subsystemen bewegen müssen, dafür aber nur ein funktionsrelevanter Ausschnitt ihrer Persönlichkeit erforderlich ist, vermag kein System den gesamten Menschen an sich zu binden. Aus diesem Grund betrachtet LUHMANN (1982, S. 16) das moderne Individuum als „sozial ortlos“. Soziale Ortlosigkeit wird von LUHMANN (1989, S. 158) auch als „Exklusionsindividualität“ beschrieben: Funktionale Differenzierung exkludiert das Individuum aus der Gesellschaft, um es dann wieder unter spezifischer Perspektive in unterschiedlichen Rollen, z.B. als Vater, Handwerker, Student, Beamter, Konsument, etc. in soziale Systeme zu inkludieren. Dieser Sicht zufolge ist Individualisierung in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft durch Exklusionsindividualität bestimmt, da das Individuum seine Identität nicht mehr fremdreferenziell durch soziale Zugehörigkeit als Inklusionsindividualität beziehen kann. Mit der Umstellung von Inkusions- auf Exklusionsindividualität reformuliert und präzisiert die soziologische Systemtheorie die Steigerungshypothese von Individualisierung und Differenzierung. Wie bereits GEORG SIMMEL vor LUHMANN klar aufzeigte, entsteht Individualität, d.h. die Einzigartigkeit eines Individuums, durch die je individuelle Kombinatorik verschiedener sozialer Beziehungen (SIMMEL 1908, S. 304ff.). Individualität 37
entsteht so betrachtet durch die Teilhabe an unterschiedlichen sozialen Systemen durch die Wahrnehmung von Inklusionsangeboten. Gegenwärtige Systemtheorie beschreibt diese Form von Individualisierung als „Anspruchsindividualismus“. LUHMANN konstatiert einen Steigerungszusammenhang zwischen den Inklusionsaussichten, die soziale Systeme eröffnen, und den Anspruchshaltungen der Individuen. Anspruchshaltungen offerieren dem Individuum Identifikationsmöglichkeiten, denn „im Geltendmachen eines Anspruchs orientiert es sich an einer Differenz zwischen dem, was momentan besteht und dem, was sein soll, hergestellt werden soll, erreicht werden soll“ (LUHMANN 1995, S. 135). Anspruchsindividualismus ist Ausdruck der Tatsache, dass Identität und Individualität nicht mehr durch soziale Verortung fremdreferenziell vorgegeben sind, sondern durch Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen selbstreferenziell konstruiert werden müssen. Die Schattenseite von Exklusionsindividualität besteht im Gefühl der Entfremdung. Dadurch, dass Personen vielfältige, z.T. sich widersprechende Rollen einnehmen müssen, sich empirisch also als ‚Dividuen’ erleben, werden Selbstreflexion und Selbstbestimmung häufig als Last empfunden und durch das „Copieren vorgegebener Muster“, d.h. durch die Wahl von gesellschaftlich vorgefertigten Identitätsangeboten, ersetzt. Infolgedessen wird – in der Regel unbemerkt – der Anspruch auf persönliche Einzigartigkeit verfehlt und folglich die Semantik des Individualismus falsifiziert (LUHMANN 1989, 1994a). Wie WOHLRAB-SAHR hervorhebt, stellt funktionale Differenzierung zwar die Grundlage, aber nicht die hinreichende Erklärung von Individualisierung als Vergesellschaftungsmodus dar. An dieser Stelle kommt die kulturelle Dimension der Individualisierung in den Blick, welche die Autorin mit Bezug auf LUHMANN als „Veränderung des gesellschaftlichen Zurechnungsmodus in Richtung auf Ver-Innerlichung und Subjektivierung“ beschreibt (WOHLRAB-SAHR 1997, S. 28). Individualisierung hängt demnach nicht allein von der Bandbreite der Unterschiedlichkeit von Personen in einer Gesellschaft ab, sondern von der Attribution der Verschiedenheit. Die Tatsache, dass auch vormoderne Gesellschaften eine empirisch gegebene Individualität und Pluralität von Lebensverläufen aufweisen, wird häufig als Kritik an der Gegenwartsdiagnose der individualisierten Gesellschaft angeführt. So wendet ROSEMARIE NAVE-HERZ gegen die mit Bezug auf die Individualisierungsthese behauptete Pluralisierung von Familienformen ein, dass es sich hierbei nicht erst um ein Phänomen reflexiver Modernisierung handelt. Im Gegenteil gab es schon immer und in vorigen Jahrhunderten noch weitaus verbreiteter „Mutter- und auch Vater-Familien“; „Adoptions-, Pflege-, und Stieffamilien“ (NAVE-HERZ 2002, S. 22f). Soziale Veränderungen bestehen demnach nicht so sehr in der gestiegenen Pluralität der Lebensformen, sondern vielmehr in ihrer individuellen und sozialen Bewertung. Anders als die in vormodernen Gesellschaften verbreitete externale Attribution, welche die Pluralität von Lebensformen äußeren Umständen wie Normen, Schicksalsmächten, Natur- oder Gesellschaftsbedingungen zuschreibt, meint Individualisierung als subjektiver Zurechnungsmodus „eine qualitative Veränderung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft und ein damit einhergehendes Deutungsmuster, das Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und Selbststeuerung akzentuiert“ (WOHLRAB-SAHR 1997, S. 28). Mit der kulturellen Dimension wird Individualisierung folglich als Deutungsmuster und als handlungsleitende Bewusstseinsform thematisch. In Rede steht hier eine Kultur des Individualismus und der Selbstthematisierung. Diese Selbst-Kultur kann insofern als Teil der von VAN DER LOO und VAN REIJEN beschrie38
benen kulturellen Rationalisierungsprozesse gelten, als dass Deutungen, die den Menschen auf sich selbst verweisen, zunehmend vormoderne Deutungsschemata ersetzen, die Welt in festgefügte religiöse und natürliche Ordnungen eingebunden sehen: Menschen begreifen sich zunehmend als Erzeuger ihrer selbst und ihrer Kultur und lernen, zwischen Kultur- und Naturgeschichte zu differenzieren. Die Zuschreibung von Verhalten als eigenverantwortliches Handeln bedingt zudem eine Zivilisierung und Rationalisierung des eigenen Lebensstils: „Der moderne Mensch versucht seine oder ihre Triebe so gut wie möglich zu kontrollieren: Er oder sie handelt nicht impulsiv und kopflos, sondern rational und wohlüberlegt.“ (VAN DER LOO/VAN REIJEN 1992, S. 145; weiterführend vgl. ELIAS 2005). Eine Reihe soziologischer Individualisierungstheoretiker plädiert dafür, den Akzent weitergehender kultursoziologischer Theoriebildung auf die Entwicklung der von BECK und BECK-GERNSHEIM programmatisch geforderten „Soziologie des Individuums“ zu legen, in der auf Basis eines angemessenen Subjekt- und Subjektivitätsbegriffs die Subjektivität sozial handelnder und reflektierender Individuen stärker theoretisch hervorgehoben werden soll. Die individuelle Bedeutung und der Umgang mit Individualisierungsanforderungen kann auf dieser theoretischen Basis deutlicher herausgearbeitet werden. Wie MATTHIAS JUNGE (1998) zeigt, verfolgt BECK indes das Ziel der subjekttheoretischen Fundierung der Individualisierungsthese nicht weiter. Sein Forschungsinteresse richtet sich hingegen zunehmend auf die Auseinandersetzung mit der Re-Integrationsdimension von Individualisierung. JUNGE kritisiert die damit verbundene Verengung des Vergesellschaftungsbegriffs und die Tendenz zur Moralisierung der Soziologie. Re-Integration in das Zentrum von Vergesellschaftung zu rücken sei nur so lange notwendig, „wie die Individualisierungsthese über einen nur unvollständig ausgearbeiteten Vergesellschaftungsbegriff und Subjektbegriff verfügt, und sich daraus ergebend folgerichtig auch nur einen unvollständig ausgearbeiteten Begriff der Subjektivierung von Vergesellschaftung vorschlägt. So wichtig und wegweisend die Überlegungen von Ulrich Beck in Hinblick auf die Annahme einer Subjektivierung der Vergesellschaftung und auf die Zielsetzung einer Subjektivierung der soziologischen Theorie auch sind, so wird dieses Ziel nicht erreicht, weil Ulrich Beck sein Interesse zu sehr auf Prozesse der Sozialintegration gerichtet hat“ (ebd., S. 60). In Kapitel 4.2 wird gezeigt, wie eine solche, in den Arbeiten BECKs vernachlässigte Subjekttheorie im Zeichen von Individualisierung als Vergesellschaftungsmodus in Subjektbegriffen und Selbstständigkeitsbildern von Kindern in der Sozialisations- und Kindheitsforschung konzeptionell aufgegriffen und theoretisch ausgearbeitet wird.
3.3
Lesarten von Individualisierung
Bis hierhin wurden verschiedene Dimensionen und theoretische Konzeptualisierungen der Individualisierungsthese unterschieden. Die Thematisierung von Individualisierung beschränkt sich jedoch nicht auf die wertfreie Deskription der Erscheinungsformen und die Erklärung der Ursachen von Individualisierung. Vielmehr enthalten diesbezügliche Diagnosen auch wertbasierte Deutungen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses. Solche
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Lesarten von Individualisierungsprozessen konstituieren sich vor allem entlang zweier Fragestellungen. (1)
Sind die Freisetzung des Ichs aus traditionellen Bindungen und damit die Subjektivierung von Vergesellschaftung tatsächlich als Bedingungen oder eher als Bedrohungen von Individualität einzuschätzen? Unter dem Titel „Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende“ (BROSE/HILDENBRAND 1988) wird das Problem in einem Sammelband von Aufsätzen auf die Frage zugespitzt, inwieweit die gesellschaftliche Freisetzung des Ichs überhaupt angemessen als Individualisierung beschrieben werden kann oder ob nicht vielmehr von einem Verschwinden des Individuums ausgegangen werden muss.
(2)
Die Bewertung von Individualisierung entscheidet sich zudem am Problem der gesellschaftlichen Integration. Unter den Leitfragen „Was treibt die Gesellschaft auseinander?“ und „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ (HEITMEYER 1997) stehen zwei Aufsatzbände, die sich mit der Frage beschäftigen, inwieweit Individualisierung zum Problem gesellschaftlicher Desintegration beiträgt und gegebenenfalls die Stärkung gesellschaftlicher Bindekräfte erfordert.
MARKUS SCHROER (2000a/b) macht es sich zur Aufgabe, klassische wie auch gegenwärtige Gesellschaftstheorien in Hinblick auf ihre Lesart von Individualisierungsprozessen zu systematisieren. Seine Systematik berücksichtigt gleichermaßen Lesarten, die sich auf die Chancen und Gefahren von Individualisierung für das Individuum wie auch für die Gesellschaft beziehen. Auf der Basis theoriediachroner Analysen arbeitet er drei Traditionslinien heraus, in denen Individualisierung als positive, negative oder ambivalente Entwicklung gedeutet wird. Ein negatives Verständnis von Individualisierung, das SCHROER (2000b, S. 124ff.) mit den Namen MAX WEBER, THEODOR W. ADORNO/MAX HORKHEIMER und MICHEL FOUCAULT verbindet, hat seinen Referenzpunkt im „gefährdeten Individuum“. Aus dieser Perspektive bedeutet Individualisierung nicht Autonomie durch Freisetzung aus traditionellen Bindungen, sondern Disziplinierung durch Rationalisierung und Bürokratisierung. Wie vor allem FOUCAULT (1977) in seinen frühen Schriften betont, steht Individualisierung im Dienst einer perfektionierten Überwachung und Kontrolle des Menschen. In der Formulierung von Auswegen aus der Unterdrückung des Ichs durch gesellschaftliche Machtmechanismen sieht SCHROER eine weitere Gemeinsamkeit dieser Theorietradition. Unterschiede in der Begründung der Emanzipation des Individuums ergeben sich durch den Bezug auf verschiedene subjektphilosophische Hintergrundannahmen: Anders als WEBER und ADORNO, die gesellschaftlichen Machtverhältnissen die moderne Vorstellung eines nichtentfremdeten, autonomen Subjekts entgegensetzen, „liegt der postmoderne Ausgangspunkt Foucaults darin, diese Individualisierungsstrategie als Disziplinierungsmechanismus zurückzuweisen und ein Konzept der ständigen Selbstüberschreitung und Selbstveränderung dem Konzept der stabilen Ich-Identität entgegenzuhalten“ (SCHROER 2000b, S. 131ff.). Im klaren Unterschied zu dieser negativen Ausdeutung gesellschaftlicher Modernisierung, welche die Zunahme subtiler Unterdrückungsmechanismen akzentuiert, verwendet 40
SCHROER (2000b, S. 274ff.) „positive Individualisierung“ als Sammelbegriff für Interpretationen, die wie LUHMANN und TALCOTT PARSONS im Anschluss an DURKHEIM einen prinzipiellen Steigerungszusammenhang zwischen sozialstruktureller Differenzierung und Individualisierung annehmen. Individualisierung als Herauslösung der Individuen aus festen sozialen Verortungen wird hier schlicht als Funktionserfordernis der gesellschaftlichen Umstellung auf funktionale Differenzierung betrachtet. Der differenzierungstheoretischen Perspektive zufolge ermöglicht die moderne Gesellschaft nicht nur den Anspruch auf Einzigartigkeit und Selbstbestimmung, sondern verlangt geradezu eine derartige Selbstthematisierung. Im Gegensatz zu solchen Individualisierungsdiagnosen, die mikrosoziologisch vor allem die subjektiven Gefahren gesellschaftlicher Enttraditionalisierungsprozesse im Blick haben, fokussiert die makrologisch-differenzierungstheoretische Perspektive DURKHEIMs, PARSONS und mit Einschränkung auch LUHMANN dysfunktionale Folgen eines übersteigerten Individualismus für die gesellschaftliche Integration. Im Zentrum des Problemhorizonts steht nicht das „gefährdete“, sondern das „gefährliche Individuum“. Für die Traditionslinie der Soziologen SIMMEL, NORBERT ELIAS und BECK, der SCHROER (2000b, S. 429ff.) ein ambivalentes Individualisierungsverständnis nachweist, stellt sich weder das Problem sozialer Desintegration noch die Gefahr eines Niedergangs des Individuums. Vielmehr wird von diesen Theoretikern die Ambivalenz von Chancen zu selbstbestimmter Lebensführung und Gefahren durch Standardisierungsprozesse wie z.B. Arbeitsmarktvorgaben thematisiert. Chancen zur individuellen Lebensgestaltung stehen der Gefahr des Scheiterns gegenüber. Das Scheitern kann angesichts der Abnahme gesellschaftlicher Bindungskräfte zunehmend weniger external attribuiert werden und wird daher als selbst verantwortet erlebt. Die verschiedenen Traditionen soziologischer Theoriebildung zeigen, dass das individualisierte Individuum im Spannungsverhältnis von einerseits Zwang, Isolierung und Disziplinierung und andererseits Freiheit, Emanzipation und Autonomie steht. Ungeachtet ihrer eher positiven, ambivalenten oder negativen Einschätzung der Folgen gesellschaftlicher Individualisierung besteht eine grundlegende Übereinstimmung in aktuellen soziologischen Theorien: Wie SCHROER (2000a, S. 37) in einem gegenwartsdiagnostisch aufschlussreichen Vergleich der Individualisierungsverständnisse LUHMANNs, BECKs und des späten FOUCAULTs zeigt, gehen alle Theoretiker von einer stärkeren Beteiligung des Einzelnen an der Bestimmung und Gestaltung seiner Lage aus. Grundlegende Übereinstimmung über die einzelnen Theoriegrenzen hinweg besteht demnach darin, Individualisierung als Freisetzung aus fest gefügten und verhaltensdeterminierenden Bindungen zu denken.
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4
Die Selbstständigkeit individualisierter Kindheit und Jugend in erziehungswissenschaftlichen Zeitdiagnosen
Die soziologische Individualisierungstheorie ist eine zentrale Bezugstheorie der neueren sozialwissenschaftlichen Kindheits- und Jugendforschung. Rezipiert wird sie vor allem im Anschluss an die Arbeiten von BECK (vgl. WINTERHAGER-SCHMID 2002, S. 20). Forschungen zum sozialen Wandel von Kindheit und Jugend in den 1990er Jahren weisen darauf hin, dass die von BECK postulierte Individualisierungsdynamik auch das Leben der Heranwachsenden betrifft (vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND 1998a, S. 97). Wie oben gezeigt wurde, beschreibt das soziologische Individualisierungstheorem die Modernisierung der modernen Gesellschaft als Auflösung traditioneller Milieus, aus der eine Individualisierung der Lebensläufe resultiert. Der Druck zur Selbstgestaltung des eigenen Lebens im Kontext institutioneller Vorgaben sowie die Zurechnung biographischer Entscheidungen als selbst zu verantwortende Handlungen wurden als sozialstrukturelle und kulturelle Dimensionen von Individualisierung gekennzeichnet. Die Individualisierungstheorie beschreibt die Individuen der modernisierten Moderne als Planer, Regisseure und Konstrukteure ihres eigenen Lebens. Ein in diesem Sinne selbstständiges Ich, das die Chancen seiner Freisetzung aus Milieuprägungen zu nutzen weiß, gilt als Modernisierungsgewinner. Individuen, denen diese Selbststeuerungskompetenz fehlt, werden als Modernisierungsverlierer bezeichnet (vgl. FÖLLING-ALBERS 2005, S. 161). Dieser Nexus von Enttraditionalisierung und sozialem Imperativ zur Selbstständigkeit wird als Beschreibungsfolie für den Wandel von Kindheit und Jugend verwendet. In diesem Zusammenhang stehen Thesen einer ‚Destandardisierung’, ‚Entstrukturierung’, ‚Pluralisierung’ und ‚Diversifikation’ kindlicher und jugendlicher Lebenslagen und der Auflösung traditioneller Generationsverhältnisse (vgl. JUNGE 2004, S. 39; HEITMEYER/OLK 1990; SCHRÖDER 1995; FÖLLING-ALBERS 2005). Verwiesen wird auf die Erosion kindlicher Schonräume, die, wie in Kapitel 2 gezeigt wurde, konstitutiv für die gesellschaftliche Konstruktion moderner Kindheit sind (vgl. POSTMAN 1983; HURRELMANN 1994). Früh vorausgesetzte Selbstständigkeit wird damit zum Wesenmerkmal „hochmodern-individualisierter Kinder“ (vgl. DU BOIS-REYMOND et al. 1994, S. 276; EGGERT-SCHMIDT NOERR 2002; S. 27; JOSTOCK 1999; S. 95ff.). In den folgenden Kapiteln wird der Frage nachgegangen, wie Pädagogen die Selbstständigkeit individualisierter Kinder verstehen. Angesichts der Fülle theoretischer und empirischer Arbeiten zu diesem Themenzusammenhang kann nicht der Anspruch erhoben werden, diesen vielschichtigen Diskurs vollständig und in seinen systematischen Zusammenhängen darzustellen. Der zwangsläufig heuristische Systematisierungsversuch erfolgt in Anlehnung an die oben beschriebenen Perspektiven der soziologischen Individualisierungsdebatte. Zunächst (Kap. 4.1) werden neue Selbstständigkeitsbilder von Kindern als Folge des Strukturwandels familialer und schulischer Erziehungsverhältnisse beschrieben. 43
Verdeutlicht wird, dass augenscheinlich ein Zusammenhang zwischen ‚strukturellen’ Freisetzungen von Kindern aus traditionellen Lebensformen und Rollenmustern und einer ‚kulturellen’ Orientierung am Leitwert der Selbstständigkeit zu verzeichnen ist. Daran anschließend (Kap. 4.2) wird gezeigt, dass sich der Wandel von Kindheit als sozialer Tatsache auch in der Theorieentwicklung der Kindheitsforschung widerspiegelt. Hier ist zu beobachten, dass das Kind zunehmend als Akteur in seiner Lebenswelt und als Subjekt seiner eigenen Entwicklung und Weltaneignung gesehen wird. Diese theoretische Orientierung wird an neuen Paradigmen der Sozialisationstheorie, der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung und korrespondierenden Ansätzen biowissenschaftlicher Kinderforschung nachgewiesen, die Selbstständigkeit und Selbststeuerung als Strukturprinzipien kindlicher Entwicklung ausweisen. Die Analyse ergänzen identitätstheoretische Perspektiven der philosophischen Moderne-Postmoderne Kontroverse (Kap. 4.3). Es handelt sich hierbei um eine Auseinandersetzung über das Selbst in der modernisierten Moderne, die in ihrer Bedeutung für die Thematik der Selbstständigkeit von Heranwachsenden skizziert werden soll. Abschließend werden die diskutierten Theorieperspektiven noch einmal grundlegend aufgegriffen und hinsichtlich der ihnen inhärenten Lesarten von Individualisierung voneinander unterschieden (Kap. 4.4). Die über das Muster der Akteurskindheit und über postmoderne Modelle des dezentrierten Selbst erfolgte positive Lesart von Individualisierung wird abwägend in den Kontext anderer, modernitätskritischer Kindheitsdiagnosen gestellt. Da Individualisierung grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis von Zugeständnis und Zumutung steht, wird für eine ambivalente Lesart plädiert und problematisiert, dass diese kritische Dimension der Individualisierungstheorie in theoretischen Konzepten der Kindheitsforschung oftmals unberücksichtigt bleibt.
4.1
Die neue Selbstständigkeit von Kindern im Strukturwandel der Erziehungswerte, -stile und -verhältnisse
Für TOBIAS RÜLCKER (1990, S. 20) liegt die Popularität der Kategorie ‚Selbstständigkeit’ in der Beschreibung „der faktischen und intendierten Resultate von Erziehungsprozessen“ darin, dass sich in ihr „empirisch aufweisbare alltagsweltliche Elemente mit (sc. pädagogischen, E.D.) Zielnormen“ und gesellschaftlichen Anforderungen verbinden. Diese Verwobenheit zwischen empirischen und normativen Tendenzen in der Rede von Selbstständigkeit sei im Folgenden thematisiert. In diesem Zusammenhang wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise Kindern unter Individualisierungsbedingungen und dem Wandel von Familie und Erziehung frühzeitig Eigenständigkeit abverlangt wird. In Publikationen wie „Was kommt nach der Familie“ (BECK-GERNSHEIM 2000) und „Das ganz normale Chaos der Liebe“ (BECK/BECK-GERNSHEIM 1990) wird der Wandel von Liebe, Ehe, Elternschaft und Familienkindheit auf Basis des Individualisierungstheorems als theoretischem Erklärungsansatz beschrieben. Aspekte der Ambivalenz sehen die Autoren unter anderem in der Durchsetzung des romantischen Liebesideals und der Egalisierung der Beziehungsstrukturen zwischen den Geschlechtern bei gleichzeitiger Normalisierung von Scheidung, dem Spannungsverhältnis zwischen individualisiertem Lebensentwurf und Familienbindung, 44
unter dem insbesondere Frauen in der Doppelbelastung von Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung leiden und in dem Wandel von der ökonomischen zur emotional-sinnstiftenden Bedeutung eigener Kinder, die mit dem Gebot der optimalen Förderung von Kindern korrespondiert, das vielfach zur emotionalen Belastung und Überforderung von Kindern und Erwachsenen führt. Diese Ambivalenzen spiegeln sich in widersprüchlichen Anforderungen an die Selbstständigkeit von Kindern. Wie empirische Untersuchungen zeigen, richtet sich das Gebot der optimalen Förderung besonders auf Selbstständigkeit als oberstes Erziehungsziel. Übereinstimmend wird in der Literatur ein Wandel der Erziehungswerte, der Erziehungsstile und der Erziehungsverhältnisse konstatiert. Galten noch in den 1950er Jahren Ordnungsliebe, Fleiß, Unterordnung und Respekt als wichtige Erziehungsziele, so rangierten bereits in den 1980er Jahren Selbstständigkeit und freier Wille schichtübergreifend als zentrale Erziehungsnormen (vgl. FEND 1988, S. 114; REUBAND 1997, S. 133ff.; NAVE-HERZ 2004, S. 198). Dieser Wandel schlägt sich auch im geltenden Recht nieder. So heißt es in §1626, Abs. 2 des bürgerlichen Gesetzbuches: „Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an.“ Individualisierung als Erlangung von Selbstbestimmung über die Gestaltung und Planung des eigenen Lebens gilt insofern als wichtigstes derzeitiges Erziehungsziel. Familienerziehung als kulturelle Praxis folgt hier mehr oder weniger bewusst einem sozialstrukturellen Erfordernis. Dies wird an der Tatsache sichtbar, dass gesellschaftliche Anforderungen an die Selbstständigkeit von Individuen unter Bedingungen der Individualisierung mit gegenwärtigen Erziehungsnormen der Eltern konvergieren (zum Zusammenhang der sozialstrukturellen und der kulturellen Dimension von Individualisierung vgl. Kap. 3.2). Das normative Sozialisationsziel Selbstständigkeit ist also nicht nur auf die Selbstbestimmung des Lebens und die freie Entfaltung der Persönlichkeit gerichtet, sondern auch funktional auf die bessere ökonomische Verwertbarkeit der Ressource Mensch bezogen. Augenscheinlich besteht damit eine Gleichzeitigkeit zweier ineinander verschobener Dimensionen von Selbstständigkeit, die zur Verwirrung des Diskurses über die Individualisierung von Kindheit führt. Während Selbstständigkeit als Charakteristikum modernen Kinderlebens als kulturelle Errungenschaft gefeiert wird, lässt sich dieses Kindheitsleitbild gleichzeitig als Scheinfreiheit demontieren. Über dieses Problem wird weiter unten noch zu sprechen sein. In zeitlicher Hinsicht lassen sich zwei Begründungen für die Erziehungsziele Selbstständigkeit und freier Wille unterscheiden. Im Hinblick auf die Zukunft der Kinder wird Selbstständigkeit als wichtige Schlüsselqualifikation in der individualisierten Gesellschaft verstanden (vgl. HASCHER 1996; RÜLCKER 1990; VAUPEL 2004, S. 31). Wo Arbeitsmarktvorgaben traditionelle Milieuprägungen und Lebensformen ablösen, sind Heranwachsende spätestens im Jugendalter direkt und selbstschaffend mit der Frage konfrontiert: ‚Wer bin ich und wo will ich hin?’ An die Stelle einer standardisierten Chronologie von Übergangsereignissen (Schulzeit, Ausbildung und Eintritt in die Erwerbsarbeit, Auszug aus dem Elternhaus und Heirat) sind individualisierte Übergangsprozesse getreten. Aus sozialpsychologischer Sicht verändert sich damit auch die Abfolge der Auseinandersetzung mit Entwicklungsaufgaben des Jugendalters wie der Lösung vom Elternhaus, der Partnerfindung, 45
der Ausbildung der Geschlechtsrollenidentität und die Entwicklung der eigenen Norm- und Wertorientierungen. In Anbetracht dieser Destandardisierung des Aufwachsens wird möglichst frühzeitig die Ausbildung von Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen wichtig, die zentral durch psycho-soziale Selbstständigkeit bestimmt sind. Bezogen auf die Gegenwart muss Selbstständigkeit als Charakteristikum des Lebens vieler Kinder bereits vorausgesetzt werden. Aufgrund der zeitlichen Einschränkung erwerbstätiger Eltern bei der Betreuung ihrer Kinder sowie aufgrund frühzeitiger Institutionalisierung von Kindern muss Selbstständigkeit im Sinne von Alleinsein-Können, Getrenntsein-Können von den Eltern und Akzeptanz externer Betreuung gewährleistet sein (vgl. NÄSMAN 1994). RÜLCKER bringt den Zusammenhang von Selbstständigkeit als zugleich Erziehungsnorm und Funktionserfordernis der modernen Familie pointiert zum Ausdruck: „Frühe Selbstständigkeit bezeugt unübersehbar die Erziehungstüchtigkeit der Familie; sie reduziert zugleich die Angewiesenheit des Kindes auf die Erwachsenen und befreit diese schrittweise von bestimmten Verpflichtungen. Selbstständige Kinder können z.B. leichter in Krippen, Tagespflegestellen und später in Kindergärten gegeben werden. Die Gewährung von Selbstständigkeit geschieht also häufig mit Hintergedanken.“ (RÜLCKER 1990, S. 21)
Eine frühzeitige Trennung von den Eltern, insbesondere über längere Zeiträume wie z.B. in Feriencamps, setzt, wie modernisierungskritische Forschungen zeigen, die Entwicklung von ‚emotionaler Objektkonstanz’ voraus, die abhängig vom psycho-sozialen Entwicklungsstand des Kindes nicht immer gefestigt genug ist, um das geforderte Maß an Selbstständigkeit produktiv bewältigen zu können (vgl. GÖPPEL 2002). Neuere Forschungsergebnisse legitimieren jedoch prinzipiell eine frühzeitige Institutionalisierung von Kindern, indem sie, entgegen früheren Annahmen der psychologischen Bindungsforschung, nicht die Länge der gemeinsam verbrachten Zeit von Kindern und Eltern als wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung erachten, sondern ihre ‚Qualität’, d.h. ihre emotionale wie auch pädagogische Intensität sowie die Einstellung und die Persönlichkeit der Eltern (vgl. LEHR 1975; BECK-GERNSHEIM 1985). Auf Kontroversen über das altersbezogen erwartbare und zumutbare Maß an Selbstständigkeit wird ebenfalls weiter unten näher eingegangen (vgl. Kap. 4.4). Die hier in Rede gestellten veränderten Erziehungswerte korrespondieren mit einer Liberalisierung des Erziehungsstils ab den 1970er Jahren, der zunächst in der Orientierung an antiautoritären Erziehungskonzepten (z.B. NEIL 1970) oder der antipädagogischen Absage an den Erziehungsanspruch (z.B. VON BRAUNMÜHL 1975) auf eine kleine Gruppe gebildeter, links-alternativ eingestellter Eltern der 68er Generation beschränkt blieb. Ab den 1980er Jahren setzt sich diese Liberalisierung zunehmend schichtübergreifend durch und wird in der Forschung als Übergang vom „Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ (vgl. BÜCHNER 1983) oder von der „Erziehung zur Beziehung“ (vgl. GÖPPEL 2002, S. 42; ROGGE 2004) beschrieben. Zugestanden wird den Kindern ein Zuwachs an Entscheidungskompetenz und Mitbestimmungsrecht. Die Kindheitsforschung berichtet, dass Heranwachsenden bei Familienangelegenheiten und bei Entscheidungen, die das Kind selbst betreffen, in Bereichen wie Konsum, Kleidung, Mediennutzung mehr Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden. Auch bei der Planung und Gestaltung ihrer Freizeitaktivitäten wird Kindern Selbstständigkeit gewährt (vgl. du BOIS-REYMOND et al. 1994; ALT/TEUBNER/WINKEL46
2005). Wie ANDREAS GESTRICH (2001, S. 465) erläutert, „signalisieren Eltern Respekt vor den Bedürfnissen, Vorlieben und Eigenheiten der Kinder. Die Fähigkeit, Bedürfnisse formulieren, durchsetzen und selbstständig Entscheidungen treffen zu können, soll heute bei Kindern und Jugendlichen früh gefördert werden.“ Kindheitsforscher wie MARIA FÖLLING-ALBERS (1993) und LUISE WINTERHAGER-SCHMID (2002, S. 17) weisen auf die zunehmende Selbstverständlichkeit hin, dass Kinder ihre Bedürfnisse nicht nur in der Familie, sondern auch in der Schule selbstbewusst zum Ausdruck bringen. Die Liberalisierung des Erziehungsstils ist demnach auf Individualisierung als Kultivierung persönlicher Einzigartigkeit gerichtet. Idealtypisch entspricht der Stil der ‚Aushandlungserziehung’ dem Kommunikationsmodell des „herrschaftsfreien Diskurses“ und der „idealen Sprechsituation“ (HABERMAS 1981). Wie HELMUT FEND (1988, S. 123) in diesem Zusammenhang erläutert, werden „Argumentationsbeschränkungen aufgrund des Alters und des familialen Status [...] immer weniger als gerechtfertigt empfunden werden.“ Dass viele Heranwachsende geschickt ihre Verhandlungschancen zu nutzen und ihre Interessen durchzusetzen wissen, verdeutlicht FÖLLING-ALBERS (1993, S. 469f.) am „Individualisierungsanspruch“ von Kindern. Das spontane und direkte Verhalten von Kindern als ‚Austesten von Verhaltensweisen’ resultiert für die Autorin aus der wenig normativ, aber situativ geprägten Aushandlungskultur der Erziehung. In dieser Hinsicht können Familien, Kindergärten und Schulen nicht mehr als Institutionen behüteter Kindheit gelten, sondern als Orte, an denen sich individualisierte Lebenslinien treffen, die durch Aushandlungsprozesse in ein gemeinsames Wir überführt werden müssen (weiterführend zu dieser Problematik vgl. Kap. 5.3). KLAUS SCHNEEWIND und STEFAN RUPPERT (1995, S. 151) berichten, dass die Liberalisierung des Erziehungsstils mit der Intimisierung des Erziehungsverhältnisses einhergeht. HEINZ GÜNTER HOLTAPPELS und PETER ZIMMERMANN (1990, S. 151) sprechen von einer grundlegenden Veränderung des Eltern-Kind-Verhältnisss. Nicht ökonomischer Nutzen oder soziale Konventionen, sondern emotional-sinnstifende Motive liegen in der enttraditionalisierten Gesellschaft dem Kinderwunsch zugrunde (ähnlich vgl. BECK/BECKGERNSHEIM 1990). Mit zunehmender psychologischer Bedeutung von Kindern steigt die Neigung Erwachsener, Kindheit und Kindliches zu glorifizieren und zu „mythologisieren“ (LENZEN 1985). Diese durch Liberalisierung, Intimisierung, Individualisierung und Partizipation von Kindern gekennzeichnete Familienkultur umfasst sowohl positive als auch negative Seiten. Als positiv hervorzuheben ist, dass barbarische Strafmaßnahmen als Auswuchs autoritärer Erziehung- und Umgangsformen ihre legitimatorische Grundlage in der Gesellschaft verloren haben. ROSEMARIE NAVE-HERZ berichtet, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein repressive Methoden wie Kinderarbeit als Erziehungsmittel, Kinder schlagen, einschließen, in kaltes Wasser tauchen bei Bettnässen, Angstmachen durch Androhung von Strafen durch fiktive Wesen wie ‚Gespenster’, ‚schwarze Männer’, ‚Kobolde’ oder ‚Kinderfresser’ üblich waren (NAVE-HERZ 2004, S. 199). Dagegen erleben Kinder derzeit tendenziell ein historisch beispielloses Maß an Aufmerksamkeit, Verständnis und familialen Partizipationsmöglichkeiten, das die Grundlage für stabile Bindungen zu ihren Eltern bildet. Folgeprobleme der neuen auf Verhandlung basierenden Familienkultur und kindorientierten Erziehung zeigen sich indes in der hohen Selbstkontrolle, die Kindern abverlangt wird, sowie in der Angst der Eltern vor erzieherischem Versagen. In der Literatur werden zwei unterschiedliche Konsequenzen beschrieben, die sich aus der gewandelten Bedeutung HOFER
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von Kindern für die Struktur des Erziehungsverhältnisses ergeben. Es handelt sich zum einen um das Problem der „Erziehungsvergessenheit“ von Eltern, um in Anschluss an BERND AHRBECK (2004, S. 7) einen Begriff von JOHANNES SCHWARTE aufzugreifen, zum anderen um die ‚Pädagogisierung’ und ‚Inszenierung’ von Kindheit. Beide Tendenzen sind typisierte Phänomene, die nicht nur in dieser Trennung, sondern auch wechselseitig verwoben auftreten. Erziehungsvergessenheit resultiert aus der Spannung zwischen alten und neuen Werten von Erziehung. Die Schwierigkeit einer Erziehung als Beziehung, die sich am Zentralwert der Selbstständigkeit orientiert, beschreibt FEND (1988, S. 115) bereits in den 1980er Jahren wie folgt: „Kinder zu erziehen, die aus freien Stücken und innerer Selbstständigkeit ordnungsliebend und fleißig sind, dies scheint die schwierige Erziehungsaufgabe zu sein, die sich Eltern heute stellen.“ Das Zitat verdeutlicht, dass das Verhältnis zwischen ‚Selbstständigkeit’ und ‚freiem Willen’ als neuen Erziehungswerten, mit alten, auch als Sekundärtugenden abgewerteten Erziehungswerten wie ‚Fleißigkeit’, ‚Pünktlichkeit’ und ‚Ordnungsliebe’ nicht geklärt ist. Die Schwierigkeit liegt in der Vermittlung und Durchsetzung asketischer Werte, die auf Verzicht und auf Aufschub von Bedürfnissen bezogen sind. In der wissenschaftlichen Literatur über Erziehung werden Gründe aufgezeigt, warum es Eltern schwer fällt, eine Balance zwischen beiden, für das gesellschaftliche Leben notwendigen Wertdimensionen zu halten. Wie AHRBECK (2005, S. 180) erläutert, resultiert Erziehungsvergessenheit aus der Furcht der Erwachsenden „die Kinder durch ein ‚Nein’ in ganz basaler Weise und auf Dauer gegen sich aufzubringen.“ Aus Scheu vor Konflikten fällt heutigen Eltern tendenziell der Aspekt von Erziehung schwer, der als ‚Gegenwirken’ und ‚Grenzen setzen’ bezeichnet wird. Der Grund hierfür liegt in der Verkehrung der emotionalsinnstiftenden Funktion von Kindern in eine emotionale Abhängigkeit der Eltern von ihren Kindern. Zudem lässt die Angst des Versagens vor dem über Erziehungsratgebern und durch Erziehungsexperten, derzeit auch in TV-Sendungen wie der ‚Supernanny’ und dem ‚großen Erziehungstest’ verbreiteten ‚Gebot der optimalen Förderung’ Eltern in die Erziehungsverweigerung flüchten. In diesem Kontext berichtet VOLKER LADENTHIN (2005, S. 185), dass Eltern gerne emotional belastende Teile ihrer Erziehungsaufgabe an die Schule delegieren. Sie konzentrieren sich auf den Zentralwert Selbstständigkeit, in der Schule hingegen „soll man sich darum kümmern, ob die Hausaufgaben erledigt sind. Dort soll man auf angemessene Umgangsformen achten.“ Diese Funktionsverlagerung von Erziehungsaufgaben von der primären Sozialisationsinstanz Familie an die Schule wird bildungspolitisch, schulpädagogisch und didaktisch verstärkt, indem der Schule die (Sozial-)Pädagogisierung immer neuer gesellschaftlicher Probleme aufgebürdet wird. Soll Schule umfangreiche Hilfestellung bei der Bewältigung der alltäglichen Lebensprobleme von Kindern leisten, lässt sie sich darauf ein, dass mit moralisierender Umwelt-, Sicherheits-, Friedens-, Bewegungs-, Erährungs-, Toleranz-, Nachhaltigkeitserziehung usw. gesellschaftspolitische Problemfelder einseitig einer professionell pädagogischen Bearbeitung zugewiesen werden, dann wird Schule zunehmend als verantwortlicher Erziehungsdienstleister wahrgenommen und die Erziehungsvergessenheit von Eltern findet eine institutionelle Legitimation. Wie THOMAS LEHMANN (1999) erläutert, muss Schule an diesem Anspruch und an dieser Erwartungshaltung scheitern. Die Summe erzieherischer Aufgabenzuschreibungen überfordert die Leistungsfähigkeit der Institution, verstellt den Blick auf ihren Bildungsauf48
trag und untergräbt die professionell-pädagogischen Handlungsmöglichkeiten der Lehrer. Aus überzogenen Pädagogisierungsambitionen resultiert auch eine Verschiebung der institutionellen Verantwortlichkeit für Erziehungsprobleme von der Familie zur Schule: „Wer mehr verspricht als das, was Schule und Unterricht wirklich einlösen können, wird einzig erreichen, dass die Lehrerschaft außer der öffentlichen Prügel für Wissens- und Kompetenzdefizite der Schüler künftig auch noch für die emotionale Unterversorgung und soziale Heimatlosigkeit ihrer Klientel zur Verantwortung gezogen wird“ (LEHMANN 1999, S. 48). Radikalen Ausdruck finden diese Vergessenheit und der Bedeutungsverlust von Erziehung in den Thesen vom ‚Ende der Erziehung’ (GIESECKE 1985; POSTMAN 1995) und vom ‚Verschwinden der Kindheit’ (POSTMAN 1983; HENGST 1981). Hier werden veränderte Sozialisationsbedingungen als Erosion des pädagogischen Generationenverhältnisses interpretiert, welches in der Tradition pädagogischen Denkens als strukturelle Grundlage der Erziehung gilt (vgl. Kap. 2.1; 10.1). Rekurriert wird auf die Verbreitung der neuen Bild- und Informationsmedien, die den Informationsvorsprung und die Deutungshoheit von Erwachsenen schwinden lassen und zunehmend das Ausmaß „nicht pädagogisch gefilterter Lernprozesse“ erhöhen (HENGST 1981, S. 104). Zudem zeige sich in der Nutzungskompetenz neuer Medien, dass sich der traditionelle Könnens-Vorsprung von Erwachsenen in sein Gegenteil verkehrt. HERRMANN GIESECKE verweist des weiteren auf die Kontingenz der Zukunft in der modernisierten Moderne, welche die Überlegenheit der Erwachsenengeneration bei gleichzeitiger Stärkung der Sozialisationswirkung der Peers insofern demontiert, als dass die Erwachsenen Heranwachsenden keine verbindlichen Orientierungsvorgaben mehr geben können. Als kulturell überholt gelte insofern die Vorstellung von der Kindlichkeit des Kindes, da Kinder für ihre Zukunft selbstständig Verantwortung zu übernehmen hätten und ihnen daher auch in pädagogischen Kontexten entsprechende Selbstständigkeit zuzugestehen sei. Während sich NEIL POSTMAN kritisch gegenüber dieser kulturellen Entwicklung gibt, verfällt GIESECKE nicht ins Lamentieren, sondern verweist auf die Grenzen pädagogischen Handelns. Er grenzt sich von überzogenen Pädagogisierungs- und Erziehungsambitionen ab und will pädagogisches Handeln auf partikulare und als Lernhilfe gedachte Handlungsmuster wie informieren, animieren, aufklären, beraten und unterweisen beschränkt wissen (vgl. GIESECKE 1987a). Seine Kernthese lautet: Pädagogen sind gezwungen, „die Selbstständigkeit und Autonomie der Kinder nicht nur zu fördern, sondern auch zu fordern, weil die sozialen Kontexte, Milieus und Verbindlichkeiten fehlen, die früher zur Entlastung bereitstanden. Die Grundidee der bürgerlichen Gesellschaft, die Radikalisierung der Individualität durch ihre Emanzipation von solchen sozialen Kontexten, hat inzwischen auch die Altersphase zumindest der späten Kindheit erfasst“ (GIESECKE 1987b, S. 405). Einen anderen Akzent setzt KLAUS HURRELMANN (1994), wenn er mit veränderten Sozialisationsbedingungen, die er als Destruktion des kindlichen Moratoriums in seiner Funktion als „soziale Ozonschicht“ (ebd., S. 74) wertet, sein Plädoyer für eine rechtliche Gleichstellung von Kindern begründet. Kinder seien wie Erwachsene „ohne Filter sozialen, politischen, wirtschaftlichen und auch ökologischen Umwälzungen ausgesetzt“ (ebd., S. 72) und müssten, so die Argumentation HURRELMANNs, im Gegenzug wenigstens dieselben politischen Rechte zugesprochen bekommen. Folgt man den Überlegungen zur Erziehungsvergessenheit von Eltern und dem theoretischen Postulat des Endes der Erziehung, dann scheint das Bewusstsein darüber, dass zur 49
Erziehung nicht nur Unterstützung von Selbstständigkeit, sondern auch Gegenwirkung und Grenzen setzen gehört, dass Autonomie und Zwang, wie in der Pädagogik der Aufklärung klar aufgezeigt wurde, wechselseitig aufeinander bezogen sind und durch dieses Spannungsverhältnis die Struktur der Erziehung konstituieren, bei vielen Eltern und Pädagogen derzeit nicht ausgeprägt zu sein. Unklar erscheinen ebenso die Grenzen der Kultur des Verhandlungshaushaltes, die sich etwa in der Notwendigkeit des Aussprechens von Verboten zeigen. In der neuen familialen Erziehungskultur wird vielfach vergessen, dass Kinder und Eltern mit unterschiedlichen kognitiven und emotionalen Kompetenzen verhandeln, so dass die Gefahr besteht, „dass Eltern ihre Vorstellungen durch Manipulation mit Sprache und weniger aufgrund von Einsichten seitens des Kindes durchsetzen“, wodurch kindorientierte Pädagogik „in den Verdacht einer ideologischen Verschleierung von altersspezifischen und sozialen Unterschieden“ gerät. Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn „Kindern durch dieses Erziehungskonzept in sehr frühem Alter Entscheidungen zugemutet (werden), häufig sogar trotz ihrer inhaltlichen Unkenntnis über die zur Wahl stehenden Alternativen“ (NAVE-HERZ 2004, S. 203). Wieder hervorgehoben wird daher in der neueren wissenschaftlichen Diskussion über Erziehung, dass Kinder altersgemäße Regeln brauchen sowie Zugeständnisse von Freiheiten in Abhängigkeit von ihren Entwicklungsvoraussetzungen und Bedürfnissen (vgl. FUHRER 2005). Der Verhandlungshaushalt kann folglich nicht als erzieherisches Leitmodell für den Umgang mit Kleinkindern gelten, da „da ein Kind in diesem Alter nur sehr bedingt zu den dafür erforderlichen vernünftigen Verhandlungen fähig ist“ (SCHLEIDT 2001, S. 103). In Abgrenzung zum Verhandlungsmodell wird daher auch wieder auf die Vorteile eines autoritativen, d.h. auf konsequenter und flexibler Kontrolle sowie emotionaler Wärme beruhenden Erziehungsstils aufmerksam gemacht: „Autoritativ erzogene Kinder verfügen im Vergleich zu Kindern, deren Eltern andere Erziehungsmuster ausüben, über das höchste Maß an kognitiven und sozialen Kompetenzen und zeichnen sich durch das geringste Problemverhalten aus. Wenn diese Kinder ins Jugendalter kommen, zeigen sie ein hohes Selbstwertgefühl und vielfältige soziale Fertigkeiten, besitzen eine hohe moralische und prosoziale Haltung und zeigen die besten Schulleistungen“ (FUHRER 2005, S. 232). Als entgegengesetzte Tendenz zur Vergessenheit und zum Bedeutungsverlust von Erziehung konstatieren Familien- und Kindheitsforscher eine Inszenierung und Pädagogisierung der Kindheit (vgl. BECK/BECK-GERNSHEIM 1990, S. 172; HOLTAPPELS/ZIMMERMANN 1990, S. 160). In diesem Kontext wird die oben berichtete Reduzierung der erzieherischen Autorität und Machtausübung subversiv durch Versuche der Standardisierung von Kindheit im Hinblick auf Vorgaben von Medizin, Pädagogik, Psychologie und neoliberaler Bildungspolitik ersetzt. In der Terminologie von HABERMAS kann hier von einer Kolonialisierung der Erziehung gesprochen werden. Zuweilen ist auch von einer Verwissenschaftlichung der Erziehung und der Versozialwissenschaftlichung der Identität der Eltern die Rede, wenn diese nicht mehr ihrer „intuitiven Elternvernunft“ vertrauen, wie es SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER (2003) ausdrückt, sondern ihren Erziehungserfolg an den Vorgaben der Ratgeberliteratur messen. In dieser Orientierung sieht ULRICH OEVERMANN (1985, S. 463) die „Flucht vor der bewussten Wahrnehmung einer lebenspraktischen Autonomie, deren Verpflichtung zu materialer Rationalität durch die bloße Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse grundsätzlich nicht abgelegt werden kann.“ Kinder, deren Kindheit in50
szeniert und pädagogisiert wird, werden zum Objekt erzieherischer Perfektionierungsambitionen. Der Erziehungswert Selbstständigkeit wird hier als Beseitigung und Korrektur von ‚Mängeln’ und als Stärkung möglichst aller Anlagen und Fähigkeiten verstanden. HOLTAPPELS und ZIMMERMANN berichten davon, dass „[...] nicht wenige Kinder heute zahlreiche Trainings, Kurse und Förderprogramme (absolvieren). Dies betrifft sicherlich in erster Linie Kinder von meist gut verdienenden Eltern. Solche Kinder haben alles, was zur modernen Kindheit gehört: pädagogisch wertvolles Spielzeug, Computer-Lernsysteme, aber auch eine schicke Garderobe. In den internationalen, unverschämt teuren ‚Learning Centers’ werden vierjährige ‚Genies’ am Flügel oder an der Geige ausgebildet. Es gibt Eltern, die wollen schon ihren acht Monate alten Säuglingen mit Lernkarten das Zählen beibringen. ‚Head start’ heißt das Zauberwort. Im Kleinkindalter werden heutige Kinder zum Karrierevorsprung angetrieben, und Erziehung verkommt dann zum Wettrennen um die ersten Plätze in unserer Gesellschaftshierarchie.“ (HOLTAPPELS/ZIMMERMANN 1990, S. 166)
Die Liste der Förderungsambitionen ließe sich noch um ein Vielfaches erweitern. Sicherlich ist es angesichts des Gebots der optimalen ‚Förderung als head-start’ auch kein Zufall, dass in entsprechenden Elternkreisen Hochbegabung zum Modethema avanciert und so viele Kinder wie noch nie trotz fehlender emotionaler und sozialer Reife Klassen überspringen und ihre Identität am Geniegedanken der Eltern ausrichten müssen. Ohne diese Problematik weiter aufnehmen zu können, ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass unter Selbstständigkeit im Zusammenhang von Pädagogisierungs- und Förderungsambitionen etwas völlig anderes zu verstehen ist als das eigenständige Management des Alltags, das Schlüsselkindern frühzeitig abverlangt wird. Selbstständigkeit bezieht sich hier auf den Erwerb von Kompetenzen, um die Chancen von Individualisierung nutzen zu können. Zur Orientierung dienen hier die (vermeintlichen) Anforderungen des Arbeitsmarktes. Die Pädagogisierungsambitionen der Eltern basieren also auf der Sorge um Aufstiegswunsch, Statuserhalt und Abstiegsbedrohung im Konkurrenzkampf um soziale Platzierung. Diese funktionale Reaktion von Eltern auf die mobile Gesellschaft wird im neuen wissenschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bildungsdiskurs intentional verstärkt. Wie später gezeigt wird, wird das Bild des ‚modernisierungskompatiblen’ Kindes durch dessen Beschreibung als „hochtourigen Lerner“ (vgl. ELSCHENBROICH 2001; KLUGE 2003, S. 15) in der Kindheitsforschung und der Elementar- wie Primarpädagogik gestützt. Volkswirtschaftliche Bildungsdiskurse wie ‚MCKINSEY bildet’ schließen hieran an, indem sie den modernisierungskompatiblen Arbeitsnehmer als intentionales Sozialisationsziel von Erziehung und Bildung fordern. Dieser Persönlichkeitstyp verfügt vor allem über formale Lernkompetenz, da die Organisation von Wissen, Können und Lernens wichtig ist, um zum Unternehmenserfolg beitragen zu können. Denn, wie JÜRGEN KLUGE, Mitarbeiter der Unternehmensberatung MCKINSEY und Company betont, kann sich keiner mehr „auf den Lorbeeren früherer Lebensphasen ausruhen, selbstorganisiertes Lernen – und zwar lebenslang – wird zum Muss.“ Die anwendungsbezogene Vermittlung von Wissen, die Schulung ökonomischen Denkens wie auch die Förderung von Selbstbestimmung werden als wichtige Lernziele der Schule erachtet (vgl. KLUGE 2003, S. 45). Kinder müssen dieser Argumentation zufolge frühzeitig lernen, ihre selbstständigen und eigenverantwortlichen ‚Lebensunternehmer’ zu werden. Zwei aufeinander bezogene Gründe, die hier abschließend herausgestellt werden sollen, werden im neueren neoliberalen ökonomisch-bildungspolitischen Dis51
kurs für den eigenverantwortlichen Lebensunternehmer als normatives Sozialisationsziel genannt. Erstens ist es zur Aufgabe des Lebensunternehmers geworden, den Verlust sicherheitsspendender Milieubindungen und die zunehmende Freisetzung aus sozialstaatlichen Sicherheiten individuell zu kompensieren. Er darf zunehmend weniger auf solidargemeinschaftliche Unterstützung hoffen, denn die Bewältigung sozialer Unsicherheiten und Widersprüche wird durch einen sich selbst dekonstruierenden und aus seiner Verantwortung entlassenden Staat zunehmend den Individuen aufgebürdet. Zweitens werden lebensunternehmerische Qualitäten als humane wirtschaftliche Ressource bedeutsam. Wie BECK erläutert, werden in der Weltwirtschaft Arbeitnehmer benötigt, die als „schöpferisch handelnde Grenzgänger“ beschrieben werden können. „Die Betonung von Individualität, Kreativität, Selbstbewusstsein und Selbstverantwortung ist kein Relikt des Idealismus der Aufklärung, sondern wird notwendig wegen der Realitäten der Weltwirtschaft und des sich zurückziehenden Staats“ (BECK 2005, S. 101).
4.2
Selbstständigkeit als Strukturprinzip der Entwicklung von Kindern
Der vorige Literaturreport zeigt, dass aus verschiedenen Perspektiven über die Selbstständigkeit von Kindern unter den Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierung diskutiert wird. Erstens ist die Rede von einer faktischen Steigerung der Selbstständigkeit im Leben der Kinder. Selbstständigkeit meint hier, etwa bei Kindern erwerbstätiger Eltern, eine früh vorausgesetzte Fähigkeit zur unbeaufsichtigten Bewältigung des Alltages und der Gestaltung der Freizeit. Zweitens wird Selbstständigkeit als wichtige Schlüsselkompetenz im zukünftigen Leben der Kinder thematisiert. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Dynamik des Arbeitsmarktes und dem daraus resultierenden Mobilitäts- und Flexibilitätszwang sowohl in sozialer, geographischer wie auch kognitiver und emotionaler Hinsicht. Quer zu diesen Erscheinungsformen von und Anforderungen an die Selbstständigkeit Heranwachsender wird drittens gezeigt, dass Selbstständigkeit zur zentralen pädagogischen Erziehungsnorm avanciert ist, sei es als Interesse der Eltern, sich von ihren Versorgungspflichten partiell zu entlasten oder sei es als Bestreben, Kinder optimal auf die Anforderungen der individualisierten Gesellschaft vorzubereiten. Im Folgenden sei eine weitere Perspektive auf diesen Themenkomplex eingeführt. Selbstständigkeit von Kindern ist nicht nur zur erzieherischen Norm, zum Funktionserfordernis moderner Familien und zur gesellschaftlichen Erwartung an faktische und intendierte Sozialisation aufgerückt, sondern mithin auch zum „Strukturprinzip“ der wissenschaftlichen Erklärung der kindlichen Entwicklung in der Gesellschaft (EGGERT-SCHMID NOERR 2002, S. 10). In Anbetracht des hermeneutischen Theorems der Eingebundenheit von Forschung in die geschichtlich-kulturelle-soziale Welt von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen sowie in Anbetracht des wissenssoziologischen Theorems der Reziprozität von Ideen- und Sozialgeschichte, wird davon ausgegangen, dass kulturelle Leitwerte wie Individualisierung als Deutungsmuster und handlungsleitende Bewusstseinsform wissenschaftliche Theoriebildung beeinflussen (vgl. Kap. 3.2). Für HERMANN VEITH (2001) sind Sozialisationskonzepte daher nicht Beschreibungen universeller Strukturmerkmale von Persön52
lichkeitsentwicklung durch Vergesellschaftung, sondern wissenschaftlicher Ausdruck zeittypischer Sichtweisen und Selbstverständnisse moderner Individuen. In dieser Hinsicht kann WINTERHAGER-SCHMID (2002) in ihrem Aufsatz „Beschleunigung der Kindheit“ eindrücklich zeigen, dass die soziologisch diagnostizierte Veränderung der Erziehungsnormen im normativ-forschungsleitenden Konzept des „hochmodern-individualisierten Kindes“ der aktuellen Kindheitsforschung wissenschaftlichen Ausdruck findet. Mit Bezug auf HELGA KELLE (1996) vertritt sie folgende These: „In dem Maße, in dem sich die Erziehungspraxis (west-)deutscher Familien (teilweise auch in der Schule) in Richtung eines Aushandlungsstils von Interessen und Bedürfnissen zwischen Erwachsenen und Kindern veränderte, bewegte sich auch der interdisziplinäre wissenschaftliche Kindheitsdiskurs weg von älteren Auffassungen der Kindheit als Anleitungs- und Erziehungskindheit hin zu einem neuen Bild moderner pluralisierter Kindheiten“ (WINTERHAGER-SCHMID 2002, S. 18). Sowohl auf theoretischer und methodologischer Ebene wie auch im Hinblick auf die gewählten Forschungsfragen zeigt sich eine paradigmatische Orientierung am Bild von Kindern als kompetenten Akteuren ihrer Lebenswelt, „die sich innerhalb der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer von Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen geprägten enttraditionalisierten Gesellschaft sehr eigenständig zu bewegen und zu behaupten wissen“ (ebd.). Dieses Individualisierung positiv ausdeutende Kindheitsmuster gilt als neues Paradigma des seit den 1990er Jahren international vollzogenen Konzept- und Perspektivwechsels der Kindheitsforschung (vgl. QVORTRUP 1993; JAMES/JENKS/PROUT 1998; BEHNKEN/ZINNECKER 2001), der ältere kulturkritische Verlust- und Verfallsbeschreibungen von moderner Kindheit wie z.B. „Das Verschwinden der Kindheit“ (POSTMAN 1983) ablösen soll. Im Unterschied zum älteren auf DURKHEIM zurückgehenden, in strukturfunktionalistischer Tradition stehenden Sozialisationsparadigma wird Kindheit nicht demarkationstheoretisch als ‚unfertige’, ‚abhängige’, ‚unmündige’ und in sozialen Schonräumen lokalisierte Lebensphase begriffen. Das ‚neue’ individualisierte Verständnis begreift Kinder als gesellschaftlich aktiv handelnde Gestalter ihrer eigenen sozialen und kulturellen Lebenswelt und nicht nur in der traditionalen generationalen Struktur als Anzuleitende und zu Erziehende. Methodologisch ist in diesem Zusammenhang ein fallbezogenes Interesse an der Perspektive von Kindern festzustellen. Die Forschungsambitionen richten sich auf die qualitative bzw. ethnographische Rekonstruktion der Wirklichkeitskonstruktionen von Kindern in ihren vielfältigen Alltagsaktivitäten (vgl. RENNER/SCHNEIDER 2002). In diesem neuen Paradigma der interdisziplinären Kindheitsforschung treten Reifungsprozesse wie auch der Bezug auf soziale und materielle Umweltfaktoren, die zu einer ‚Fremdsozialisation’ führen, gegenüber der Betonung der aktiven Auseinandersetzung Heranwachsender mit komplexen Problemsituationen in ihrer Umwelt in den Hintergrund. Dieses neue Verständnis des Aufwachsens kommt in einer Fülle theoretischer Konzepte und Leitbegriffe in den unterschiedlichen Subdisziplinen der Kindheitsforschung zum Ausdruck. JÜRGEN REYER (2004) ordnet das komplexe Diskursfeld der Kindheitsforschung, indem er zwischen sozialwissenschaftlichen, entwicklungspsychologischen und biowissenschaftlichen Perspektiven unterscheidet. In Bezug auf die hier in Rede stehende Neukonzeptualisierung von Kindheit gibt es in diesen Einzeldisziplinen eine Reihe von Parallelen und komplementären Positionen, die allerdings, wie REYER kritisiert, bisher nur unzureichend durch integrative Perspektiven verbunden wurden, um dem programmatischen An53
spruch einer „bio-psycho-sozialen“ (HURRELMANN 1991) Kindheitsforschung zu genügen. Auch hier muss sich die Darstellung darauf beschränken, Konvergenzen zwischen dem Paradigma der ‚individualisierten Akteurskindheit’ aus sozial- und aus biowissenschaftlicher Sicht zu skizzieren. Die ‚Soziologie der Kindheit’ sowie neuere sozialisationstheoretische Paradigmen wie etwa das „produktiv realitätsverarbeitende Subjekt“ (vgl. HURRELMANN 1983), das „produktiv realitätserzeugende Subjekt“ (vgl. BEER 2002) und das Paradigma der „Selbstsozialisation“ (vgl. ZINNECKER 2000) korrespondieren mit dem „Kind als Turbolerner“ (vgl. ELSCHENBROICH 2000; KLUGE 2003, S. 15), wie es derzeit in der biowissenschaftlichen Kindheitsforschung in Anlehnung an die moderne Hirnforschung thematisiert wird.
4.2.1
Die neue Selbstständigkeit von Kindern in der Sozialisationsforschung
Der Übergang von traditionell strukturfunktionalistischen und behavioristischen Konzeptionen der Sozialisationsforschung zur Entwicklung aktiver, epistemologischer Subjektmodelle wird in der Literatur übereinstimmend in der Ausformulierung des theorie- und forschungsleitenden Modells des „produktiven Realitätsverarbeiters“ (HURRELMANN 1983) gesehen. Dieses Modell trägt der gesellschaftlichen Dynamisierung im Zuge des in den 1970er Jahren einsetzenden Modernisierungsschubs Rechnung. Die Beschleunigung der gesellschaftlichen Modernisierung konnte mit den zuvor in der Sozialisationstheorie dominierenden strukturfunktionalistischen und behavioristischen Konzepten und ihren statischen Gesellschafts- und Menschenbildern theoretisch nicht überzeugend begriffen werden konnte. Wie RAPHAEL BEER (2002, S. 417) in diesem Zusammenhang erläutert, ist es die zunehmende gesellschaftliche Individualisierung, mit der sich der Perspektivwechsel von der strukturfunktionalistischen Übernahme von Normen durch den Sozialisanden zur autonomen Individualität durchsetzt. Betont wird in diesem neuen Subjektmodell, als dessen theoretische Basis die Handlungstheorie des Symbolischen Interaktionismus gilt, dagegen die Dynamik und Reziprozität von Gesellschafts- und Persönlichkeitsentwicklung, die KLAUS HURRELMANN (ebd., S. 91) in seiner Definition von Sozialisation als „Prozess der Entstehung und Entwicklung von Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“ zum Ausdruck bringt. Mit der Beschreibung des Subjekts als realitätsverarbeitend wird das aktive Moment von Sozialisation betont. Nicht nur die Anpassung der Subjekte an die gesellschaftliche Realität wird in Rechnung gestellt, sondern vor allem das Arrangement, die Veränderung und die Bearbeitung von Umwelten gemäß eigener Bedürfnisse und Ansprüche im Rahmen biologischer und sozialer Grenzen (vgl. POPP 2004, S. 131). Die Definition Hurrelmanns liegt bis dato aktuellen Lehrbüchern zum Thema Sozialisation zugrunde (vgl. TILLMANN 2000; FAULSTICH-WIELAND 2000; ZIMMERMANN 2000). Doch der Anschein einer stabilen paradigmatischen Grundlage der Sozialisationsforschung trügt. In der wissenschaftlichen Diskursliteratur wurde das Modell des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ problematisiert und z.T. durch andere Konzepte ersetzt. Wie ULRIKE POPP (2002, S. 899) in einer Rekonstruktion der Kontroverse um den Sozialisati54
onsbegriff zeigt, geriet dieser Begriff – auch in seiner interaktionistischen Reformulierung – grundsätzlich in die Kritik. So problematisiert etwa HELGA BILDEN die dem Sozialisationsbegriff inhärente Trennung von Individuum und Gesellschaft und die Vorstellung, das „sich bildende Individuum sei Objekt von Sozialisationsprozessen“. Kritiken dieser Art bescheinigen dem Sozialisationsbegriff eine zu funktionalistische Ausrichtung, die stärker den Aspekt der Vergesellschaftung betone, als Kinder in ihrer alltagskulturellen Akteurskompetenz konsequent und systematisch in den Blick zu nehmen. Als Reaktion auf diesen Vorwurf hielten Ende der 1990er Jahre Begriffe wie das „produktiv realitätserzeugende Subjekt“ und die Rede von „Selbstsozialisation“ Einzug in den Sozialisationsdiskurs, mit denen der Eigenanteil von Kindern und Jugendlichen in der Planung und Gestaltung ihrer Lebensführung systematisch herausgestellt werden soll. Getragen wurde diese theoretische Neuorientierung von dem Bestreben, die faktische und intendierte Selbstständigkeit von Kindheit unter den Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierung theoretisch stärker zum Ausdruck kommen zu lassen. Das Konzept der ‚produktiven Realitätserzeugung’ akzentuiert die Eigenkonstruktivität des Sozialisationsprozesses. Hier werden die eigenen Konstruktionen, Kompetenz- und Wissensstrukturen des Ichs und nicht so sehr externe Sozialisationsfaktoren als wesentliche Größe der Sozialisation bestimmt. Der Sozialisationskontext wird als Optionenraum aufgefasst, der keine verbindlichen Vorgaben hinsichtlich der Übernahme von Normen, Handlungswissen, etc. macht und von daher durch subjektive Erfahrungshorizonte erfasst und mit Bedeutungsgehalt versehen werden muss (vgl. BEER 2002, S. 411). BEER (ebd., S. 417) grenzt das Modell des ‚produktiv realitätserzeugenden Subjekts’ vom Konzept des ‚produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts’ ab. Seiner Auffassung zufolge ist das Modell HURRELMANNs wenig geeignet für eine handlungstheoretische Subjektbestimmung. Obgleich es von einem Subjekt ausgehe, das seiner Umwelt aktiv gegenübersteht, würden subjektive Konstruktionsleistungen und Sinngebungsprozesse in der Persönlichkeitsentwicklung hinter gesellschaftliche Einflüsse zurückgestellt. Die Aktivität des Subjekts beschränke sich nur auf die produktive Verarbeitung vorgängiger sozialer Wirklichkeiten und nehme nicht so sehr ihre eigenaktive und soziale Konstruktivität in den Blick. Ein Kerngedanke seiner Argumentation ist, dass mit dem konstruktivistischen Subjektmodell des „produktivrealitätserzeugenden Subjekts“ der Fokus auf die autonome Individualität des Ichs, der sich mit zunehmender gesellschaftlicher Individualisierung in der Sozialisationsforschung durchgesetzt hat, auch subjekttheoretisch einen klaren Ausdruck finden kann. Die epistemologische Rede von der Realitätserzeugung wird hier als subjekttheoretische Grundlage des modernen, individualisierten Individuums ausgewiesen. Die daran anschließende „forschungsleitende Fragestellung ist dann nicht nur die nach dem Umgang mit und der Verarbeitung von der sozialen Umwelt durch ein Individuum, sondern nach der Art und Weise der Konstruktion dieser Lebenswelt und eines daraus ableitbaren Kompetenzbegriffs“ (ebd., S. 418). Konkret bedeutet diese Zuspitzung der Eigenaktivität in Subjektmodellen etwa, dass der Fokus nicht auf der produktiven Ausgestaltung sozial präformierter Geschlechterrollen liegt, sondern dass die aktive Herstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit im Sinne eines ‚doing gender’ betont wird. Denn, so die Kritik an traditioneller geschlechtsspezifischer Sozialisationsforschung, die Rekonstruktion geschlechtsdifferenzierter Sozialisationsbedingungen und typischer Unterschiede im Verhalten und Denken von Männern 55
und Frauen reproduziere unkritisch die soziale Konstruktion der Geschechter (zu diesen Zusammenhängen weiterführend vgl. POPP 2004; BILDEN 1991). In ähnlicher Weise wird auch mit der Verwendung des Begriffs ‚Selbstsozialisation’ die sozialisationstheoretische Akzentuierung dessen intendiert, was BECK aus sozialstruktureller Sicht Individualisierung nennt. Dieser Versuch der konzeptionellen Erneuerung des Sozialisationsparadigmas betont ebenfalls den Eigenanteil der Individuen in der Planung und Gestaltung ihres eigenen Lebens in Abgrenzung zu Faktoren der Fremdsozialisation. Wie auch das Modell des produktiv realitätserzeugenden Subjekts ist das Konzept der Selbstsozialisation handlungstheoretisch fundiert (vgl. ZINNECKER 2000, S. 279). JÜRGEN ZINNECKER (ebd.) zufolge sozialisieren Kinder sich selbst, „indem sie erstens den Dingen und sich selbst eine Bedeutung zuschreiben; indem sie zweitens eine eigene Handlungslogik für sich entwerfen; und indem sie drittens eigene Ziele für ihr Handeln formulieren.“ Angesichts der Destandardisierung, Entstrukturierung und Entritualisierung des Lebenslaufs wird Selbstsozialisation auch als Selbstinitiation begriffen, d.h. als selbstverantwortliche Gestaltung der Statuspassagen des Aufwachsens. Zudem ist Selbstsozialisation für ZINNECKER Selbstkultivierung im Sinne einer eigenständigen Auseinandersetzung mit kulturellen Objektivationen. Auch die Erzeugung eigener Entwicklungsumwelten wird als entwicklungspsychologische Dimension von Selbstsozialisation genannt. Neben diesen Erscheinungsformen von Selbstsozialisation verweisen ZINNECKER (ebd., S. 278), wie zuvor auch HANS-JOACHIM SCHULZE und JAN KÜNZLER (1991), auf die systemtheoretische Ausformulierung dieses Konzepts. In seiner erkenntnistheoretischzeitdiagnostischen Trennung von psychischen und sozialen Systemen, die in Kap. 3.2 unter den Leitbegriffen ‚soziale Ortlosigkeit’ und ‚Exklusionsindividualität’ thematisiert wurde, zeigt LUHMANN, dass gesellschaftliche Individualisierungsprozesse Individuen aus der festen Eingebundenheit in gesellschaftliche Teilsysteme freisetzen. Angesichts der funktionalen Differenzierung der Sozialstruktur und der damit verbundenen Pluralisierung kultureller Wissens- und Sinnsysteme ist das Individuum vor die Aufgabe gestellt, sich in vielfältigen sozialen Systemen mit je eigenen Codes und Programmen unter Einbringung des jeweils funktionsrelevanten Ausschnittes seiner Persönlichkeit zu bewegen. Gesellschaftliche Reproduktion ist unter diesen Bedingungen nicht mehr auf (Fremd-)Sozialisation im Sinne einer Prägung des Individuums durch die Gesellschaft, d.h. einer Internalisierung eines einheitlichen gesellschaftsübergreifenden Codex von handlungsleitenden Normen, Werten und Wissensbeständen angewiesen. Gesellschaftlich erforderlich ist hingegen die Flexibilität des Individuums im Sinne einer Anpassungsfähigkeit an heterogene Systemerwartungen. ALBERT SCHERR erläutert in diesem Zusammenhang, dass „Sozialisation als Aneignung und Verinnerlichung stabiler Verhaltensmuster sowie als Aufbau einer starren Identität, die in allen sozialen Kontexten durchgehalten wird, unter diesen Bedingungen dysfunktional ist. Funktional ist dagegen die Aneignung solcher Kompetenzen, die vielseitig verwendbar sind und eine innere Motivstruktur aufweisen, die als generalisierte Anpassungs- und Leistungsbereitschaft charakterisiert werden kann.“ Bei Selbstsozialisation handelt es sich folglich um einen „in jedem sozialen Kontext mitlaufenden Vorgang der Selbstausrichtung auf soziale Erwartungen“ (SCHERR 2004, S. 229f.) Das Verständnis von Sozialisation wird hier grundsätzlich umdeterminiert. Es geht nicht um die Vergesellschaftung und Individuation Heranwachsender, sondern um eine lebenslang geforderte Selbst56
ständigkeit, die dem Verhaltensmuster und Persönlichkeitstyp des pluralen, flexiblen und für Differenzwahrnehmung sensibilisierten Selbst entspricht und in der Trennung von Personen und sozialen Systemen theoretischen Ausdruck findet (zur erkenntnistheoretischen Radikalisierung dieser zeitdiagnostischen Trennung personaler und sozialer Systeme im modernen Konstruktivismus vgl. Kap. 6.2 u. 6.4.2).
4.2.2
Die neue Selbstständigkeit von Kindern in der Soziologie der Kindheit
Neben der Sozialisationsforschung hat sich im skandinavischen, angelsächsischen und deutschen Raum eine neue Soziologie der Kindheit etabliert. Ihr zentrales Kennzeichen ist die Lösung vom Sozialisations- und Entwicklungsbegriff (vgl. QVORTRUP 1993; ZEIHER 1996), der auch in den oben erläuterten neuen Konzepten als zu funktionalistisch und reproduktionsorientiert zurückgewiesen wird. Am Begriff der Selbstsozialisation wird die Angriffsfläche dieser Kritik sichtbar. Auch wenn Kindheit nicht mehr einseitig als Transitionsphase gesehen, ein deterministisches Person-Umwelt-Verständnis ad acta gelegt und die Alltags- und Akteursbezogenheit dieser Altersphase berücksichtigt wird, so wird doch das unter dem Begriff Selbstsozialisation subsumierte Verhaltensrepertoire auch aus der Perspektive gesellschaftlicher Bedarfsstrukturen reflektiert. Anders dagegen ist der Blick der Kindheitsforschung ausschließlich auf das Kind als ‚Akteur seiner Lebenswelt’ zentriert. Programmatisch verabschiedet wird eine erwachsenenorientierte und zukunftsbezogene Perspektive auf Kindheit, wie sie Sozialisations- und Entwicklungsparadigmen innewohnt. Die Soziologie der Kindheit ist mithin durch eine antipädagogische Haltung gekennzeichnet (vgl. ZINNECKER 1996, S. 45ff.), rekapituliert man, dass die Frage nach der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine Säule pädagogischen Denkens der Moderne ist. Bekanntlich hat die kulturelle Entdeckung der Kindheit und mit ihr das Verständnis für kindliche Entwicklung das 18. Jahrhundert zum pädagogischen Jahrhundert gemacht. Die Erkenntnis, dass Kindheit der Status einer eigenständigen Entwicklungsphase zukommt, führte zu der für modernes pädagogisches Denken zentralen Einsicht, Erziehung auf die natürliche Entwicklung des Kindes zu beziehen und Kindheit in Schutz- und Vorbereitungsräumen zu lokalisieren (vgl. Kap. 2). Mit dem Verweis auf sich erst entwickelnde Fähigkeiten, auf Reifungs- und Sozialisationsprozesse und einer erst im Werden begriffenen Mündigkeit und gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit sind jedoch zugleich Reflexionskategorien gegeben, die soziologischen Kindheitsforschern „suspekt“ und „herrschaftsverdächtig“ sind (HERZBERG 2003, S. 46). Der von ihnen propagierte Perspektivwechsel besteht darin, Kinder als „kleine Menschen“ zu betrachten, „die bereits in ihrer Gegenwart kompetent handeln und sich in eigensinniger Weise in einer gewandelten Welt bewegen“ (ebd., S. 37). Weniger den sozialstrukturellen Ursachen dieser gewandelten Welt als dem Fokus auf die Herausforderungen und Kompetenzen, mit denen Kinder die Ambiguitäten der modernisierten Moderne in ihren eigenen Kinderkulturen produktiv bewältigen, gilt das Interesse dieser Forschungsrichtung. Mit dem Begriff ‚Akteurskindheit’ ist die Vorstellung verbunden, dass Kinder nicht von vorgegebenen Sozialisationsbedingungen determiniert
57
werden, sondern ihre soziale und kulturelle Um- und Mitwelt produktiv verarbeiten wie auch auch eigenaktiv in Gleichaltrigengruppen konstruieren. Wie REYER (2004, S. 341) und MICHAEL-SEBASTIAN HONIG (1999, S. 66ff.) übereinstimmend erläutern, bilden vor allem sozial-dekonstruktivistische Positionen den paradigmatischen Überbau dieses forschungsleitenden Perspektivwechsels. Die Neukonzeptionalisierung der Kindheit geschieht vor dem Hintergrund der Dekonstruktion überlieferter Kinderbilder, indem die ihnen zugrunde liegende ‚Künstlichkeit’ kultureller Sinnzuweisungen demonstriert wird. Die Basis dieses dekonstruktivistischen Vorgehens besteht in der Annahme, Sozialisation sei ein soziales Konstrukt, mit dem die psychologisch-physiologische Besonderheit von Kindern zu ihrer gesellschaftlichen Demarkation verwendet wird. Der mit dem Sozialisations- und Entwicklungsbegriff postulierte Verweisungszusammenhang von Kindheit als biologischer und sozialer Tatsache (vgl. Kap. 2.1) wird als arbiträr ‚entlarvt’. Insofern legitimiere die Andersheit von Kindern nicht soziologische Unterscheidungen zwischen den Lebensaltern (vgl. QVORTRUP 1993). Die Erwachsenen-Kind-Differenz wird als „ein Konstrukt der traditionellen Deutungsmächte“ gesehen, „vor allem der SozialAnthropologie, Sozialisationstheorie, Erziehungswissenschaft, aber auch anderer gesellschaftlicher Praxen“ (vgl. REYER 2004, S. 342). In diesen Deutungsmächten werden im Anschluss an die Machtanalytik FOUCAULTs verdeckte Überwachungs- und Disziplinarmechanismen ausfindig gemacht. Die kulturelle Vorstellung der Unmündigkeit betraf in der Kulturgeschichte der modernen Gesellschaft neben Kindern auch Naturvölker und Frauen und diene hier wie dort dazu, Herrschaft auszuüben und als naturgegeben zu verschleiern. HONIG (1999, S. 69) verweist in diesem Zusammenhang auf CHRIS JENKS, der „Entwicklung in der Tradition der Foucaultschen Kritik des Wissens als ein Dispositiv begreift, das Maßstäbe für Rationalität und Normalität gewissermaßen in die Körper einschreibt und damit nicht nur Kinder betrifft, sondern den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen normiert.“ In ähnlicher Weise beziehen sich GUNILLA DAHLBERG, PETER MOSS und ALAN PENCE (1999, S. 35ff.) auf die Machtanalysen FOUCAULTs, um zu zeigen, dass mit Bezug auf normative und dekontextualisierte Sozialisations- und Entwicklungstheorien das Kind in Richtung auf vorgegebene Standards geformt wird. Die Kindheitsforscher bestreiten nicht, dass Kindheit wie auch die ganze Lebensspanne eine Zeit der Entwicklung ist, bisherige Entwicklungs- und Sozialisationstheorien werden jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass sie Ausdruck falscher generationaler Machtverhältnisse seien. In pädagogisch angewandter Entwicklungspsychologie werde Macht insofern ausgeübt, als dass die Individualität des Kindes nicht berücksichtigt wird und stattdessen Heranwachsende nach wissenschaftlichen Kriterien hierarchisiert, selektiert und erzogen werden. Die Kritik an der Normierung kindlicher Entwicklungsverläufe steht für DAHLBERG et al. in engem Zusammenhang mit der Dekonstruktion der traditionellen Demarkation von Kindern auf Basis der Vorstellung von Kindheit als ‚Schonraum’. Kindheit in der Postmoderne wird von den Autoren nicht als Vorbereitung auf das Erwachsenenleben verstanden, sondern als gleichberechtigter Lebensabschnitt, der nicht länger in einem Schutz- und Vorbereitungsraum lokalisiert werden kann, sondern als integraler Bestandteil der postmodernen Gesellschaft anerkannt werden muss. So gelten Kinder etwa auch in ökonomischer Hinsicht als produktive Mitglieder der Gesellschaft, insofern ihre Lernarbeit als Teil gesellschaftlicher Arbeitsteilung aufzufassen sei. Programmatisch angestrebt wird in diesem Zusammenhang eine 58
antinaturalistische Theoriebildung, die Kindheit ausschließlich als soziale Konstruktion auffasst, denn der Rekurs auf die Entwicklungstatsache würde Kindern Selbstbestimmung und gesellschaftliche Partizipation verweigern (vgl. dazu REICH 2005). Mit diesem Anspruch tritt die Soziologie der Kindheit nicht nur als ein wissenschaftliches, sondern auch als ein politisches, eng mit der Kinderrechtsbewegung verknüpftes Projekt auf, das sich mittels der Dekonstruktion der Generationenordnung für die Emanzipation von Kindern einsetzt. Die Soziologie der Kindheit mit ihrem neuen Paradigma der modernen, gesellschaftlich handelnden ‚Akteurskindheit’ sieht sich als legitimer Nachfolger des dekonstruierten Sozialisations- und Entwicklungsparadigmas (vgl. ZINNECKER 1996). Im Vordergrund des Forschungsinteresses steht die Rekonstruktion des Lebens von Kindern aus ihrer Perspektive, sei es aus sozialhermeneutischem Interesse (vgl. KRAPPMANN/OSWALD 1995), sei es im Interesse didaktischer Rekonstruktionen des Vorwissens von Kindern zu Themen und Inhalten des Unterrichts und schulpädagogisch relevanter Rekonstruktionen der Kinderperspektive im Unterricht (vgl. BREIDENSTEIN 2002) oder sei es im Sinne einer politischen Anwaltschaft für die Interessen und Belange von Kindern (vgl. QVORTRUP 1997). Rekonstruiert wird in diesen Zusammenhängen die Handlungs- und Reflexionskompetenz der modernen Akteurskindheit. Wie IRENE HERZBERG (2003, S. 40) erläutert, ist man bemüht, die Modernisierungen des Kinderlebens nicht strukturell „als veränderte, vorgegebene Sozialisationsbedingungen zu begreifen, denen Kinder unterworfen sind und an die sie sich anpassen, sondern sie als Ergebnis des aktiven Handelns von Kindern, ihrer sozialen und kulturellen Praxis zu verstehen.“ Im Anschluss an die konstruktivistische These der individuellen und sozialen Konstruktivität von Wirklichkeit wird davon ausgegangen, dass Kinder durch gesellschaftliche Umwelt nicht determiniert werden, sondern sich ihre Wirklichkeiten in Interaktionen selbst konstruieren und sich dabei selbst bzw. untereinander sozialisieren (vgl. Teil II dieser Arbeit). Rekonstruierende Zugänge zu den Perspektiven von Kindern werden in Bezug auf die unterschiedlichsten Alltagsbereiche von Kindern gesucht. Gegenstand kindzentrierter Forschungen sind etwa das kommunikative Verhalten von Kindern in Gleichaltrigengruppen, die Konstruktion von Bedeutungen, von sozialen Regeln und Prozessabläufen in Kinderkulturen, die Selbstdarstellung von Kindern in schwierigen Situation sowie Einstellungen, Werthaltungen und Wissensbestände zu gesellschaftlich relevanten Fragen. Beobachtet wird auch, wie Kinder soziale Netzwerke herstellen und welche Bedeutung sie ihrer sozialräumlichen, kommerziellen und medialen Umwelt beimessen. Der enge Bezug der Soziologie der Kindheit zur Kinderrechtsbewegung wird deutlich an ihrer normativen Zielsetzung, die soziale Lage von Kindern in der Gesellschaft zu verbessern. Dazu setzen beide Ansätze auf die politische Partizipation von Kindern. Wichtiger Bezugspunkt ist dabei die Achtung vor der Meinung des Kindes, die in Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben ist. Die ‚National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland’ betrachtet Kinder folglich als politische Subjekte, eine Setzung, die sich nahtlos in das Akteursparadigma der Kindheitsforschung einfügt. Die politische Aufgabe der Kindheitsforschung besteht folglich darin, den Kindern eine Stimme zu geben. Dazu bedient sie sich methodischer Instrumente wie Kindersurveys oder Aktionsforschungsprojekten zur kommunalen Partizipation von Kindern (ZINNECKER 59
1999, S. 76). Normativ unterstellt wird dabei, dass Kinder eine politische Meinung haben müssen. Kinder werden in den entsprechenden Forschungsdesigns als „kompetente Bürger (konstruiert), die meinungsbildend am demokratischen Politikprozess teilhaben können und wollen“ (ebd., S. 80) – eine Annahme, die der Idee der Schonraumkindheit mit ihrer Entlassung aus gesellschaftlichen und politischen Aufgaben und Pflichten diametral entgegensteht. Mit dem Paradigma der Akteurskindheit betont und bewundert die Kindheitsforschung die Kompetenzen wie auch die eigene gesellschaftspolitische Meinung, über die Kinder im Umgang mit neuen gesellschaftlichen Freiheiten und Ambiguitäten verfügen. Akzentuiert werden die Chancen, die Individualisierung der modernen Akteurskindheit eröffnet. So heißt es etwa im zehnten Kinder- und Jugendbericht (1998, S. 23): „Die Selbstständigkeit, die den meisten Kindern gewährt, aber auch auferlegt wird, wird immer früher erwartet und auf immer größere Lebensbereiche ausgedehnt. Daraus resultieren Chancen für eine individualisierte Biographie für viele, wenn nicht sogar für die meisten Kinder“. An der von MANUELA DU BOIS-REYMOND, PETER BÜCHNER, HEINZ-HERMANN KRÜGER, JUTTA ECARIUS und BURKHARD FUHS (1994) durchgeführten Studie „Kinderleben. Modernisierung von Kindheit im interkulturellen Vergleich“ zeigt WINTERHAGER-SCHMID (2002), dass das Paradigma der Akteurskindheit als theoretische und methodologische Wertbasis der neuen Kindheitsforschung in wertbasierte Aussagen über den Objektbereich der Untersuchungen hinausreicht. So erhielten Kinder, die entsprechend dem Akteurskonzept über ein „hohes Aktivitätsprofil“, ein „ausgeprägtes Beziehungsprofil“, eine „hohe Belastungsfähigkeit“ und über einen hohen Grad an biographischer Reflexionskompetenz verfügten, das Prädikat „hoch-modernes individualisiertes Kind“. Kinder, bei denen die Akteurskompetenz noch nicht so ausgebildet ist, die eine gering ausgeprägt biographische Selbstreflexion zeigen und die sich eher als anhänglich, schutzbedürftig und unselbstständig erweisen (im Übrigen der überwiegende Teil der Befragten), gelten als teil- oder unmodern. Wie an diesen Bezeichnungen deutlich wird, läuft Kindheitsforschung augenscheinlich Gefahr, mit dem Konzept der Akteurskindheit die Norm des ‚modernisierungskompatiblen’ Kindes zu konstruieren. Diese bedarf jedoch ihrerseits dringend einer Dekonstruktion, denn mit ihr wird nicht minder gesellschaftlichen Bedarfsstrukturen das Wort geredet als in traditionellen Sozialisationstheorien. Wie HERZBERG (2003, S. 45f.) kritisch einwendet, sollte moderne Akteurskindheit nicht so umfassend gedacht werden, dass Kinder grundsätzlich als „Autoritäten in eigener Sache“ gelten. Wieder positiv als kulturelle Errungenschaft wahrgenommen werden sollte das Recht von Kindern auf eine geschützte, nachhaltige Entwicklungszeit. Als notwendig erachtet die Autorin das Austarieren zwischen dem älteren Entwicklungsparadigma und den politischen Implikationen des Akteurskonzepts: „Kinder brauchen (sc. einerseits) die Hilfe, Fürsorge, auch den Wissensvorsprung Erwachsener, der ihnen Sicherheit geben kann. Sie brauchen (sc. andererseits) Autonomie, Mit- und Selbstbestimmung in allen Belangen, die sie betreffen, die sie verstehen und überblicken können“ (ebd.).
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4.2.3
Die neue Selbstständigkeit von Kindern in der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung
Unterstützung findet das Bild des individualisierten Kindes als Akteur seiner Entwicklung in neuen Erkenntnissen der empirischen, neurophysiologisch fundierten Säuglings- und Kleinkindforschung, die das Kind als „hochtourigen Lerner“ mit zukunftsweisenden Kompetenzen (vgl. ELSCHENBROICH 2000; 2001, S. 46) ausweisen. Augenscheinlich besteht ein Komplementärverhältnis zwischen sozial- und biowissenschaftlichen Perspektiven der Kindheitsforschung, dem im Folgenden ansatzweise nachgespürt werden soll. Im Vordergrund des Interesses steht also die veränderte kulturelle Sicht auf Kindheit als biologische Tatsache. Im Rahmen dieser Arbeit ist diese Frage insofern interessant, als im Kontext der neueren empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung Kinder zum Prototyp des modernen, individualisierten Menschen ernannt werden, zum Modell „für den Wissenserwerb, für das Forschen, für die Art und Weise, wie der Mensch Lernstrategien ausbildet“ (ELSCHENBROICH 2000, S. 426). In Buchtiteln wie „The scientist in the crib“ (GOPNIK/MELTZOFF/ KUHL 1999), der „kompetente Säugling“ (DORNES 1993) oder „das kompetente Kind“ (JUUL 2003) wird kindliches Lernen z.T. explizit, z.T. subluminal zum Leitmodell für die Anforderungen lebenslangen Lernens erhoben. Das Problem vieler Erwachsener besteht gegenwärtig in der kognitiven Überforderung, sich zeitlebens auf neue Anforderungen einzustellen, sich permanent neue Kompetenzen anzueignen und bewährte Weltbilder aufzugeben bzw. zu modifizieren. In diesem Zusammenhang ist ein stetiges Interesse an der Weltbewältigung von Babys zu konstatieren. Gefragt wird, wie es diesen „Ankunftswesen“ (SLOTERDIJK) gelingt, sich als Anfänger in einer völlig neuen Welt zurechtzufinden, aus vielfältigen, auf sie einströmenden Reizen diejenigen auszuwählen, die zu ihrer Orientierung dienen. Wenn Kinder evolutionsbiologisch als ausgezeichnete Lerner gelten, dann wird Erwachsenen unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Dynamisierung des Arbeitsmarkts und dem daraus folgenden Zwang zur sozialen, geographischen, emotionalen und kognitiven Flexibilität (vgl. Kap. 3.1) abverlangt, sich diese kindliche Fähigkeit zu bewahren (vgl. ELSCHENBROICH 2000; vgl. ähnlich KRAPPMANN 2002, S. 97). Im romantisch-emphatischen Gestus – diesmal jedoch unter naturwissenschaftlich-empirischem Vorzeichen – wird das Kind wieder zum Ideal des menschlichen Lebens mythisiert, da man in ihm Lernpotentiale erblickt, die bei heutigen erwerbstätigen Erwachsenen vielfach verschüttet seien (vgl. BAADER 2004). Damit wird eine deterministische Vorstellung der frühen Kindheit befördert, nach der alle kognitiven und emotionalen Lernprozesse der ersten Jahre folgenreich für das weitere Leben sind (kritisch zum „Mythos der ersten drei Jahre“ vgl. BRUER 2003). Ausgeblendet werden bei derartigen Konzeptualisierungen des Kindes als ‚Turbolerner’ die von der Psychoanalyse und der Bindungsforschung herausgestellte Abhängigkeit von Kleinkindern und die Konfliktbeladenheit ihrer Entwicklung. Nicht zufällig wird die Psychoanalyse von einigen Vertretern der modernen Säuglings- und Kleinkindforschung auch als unzeitgemäße Wissenschaft diskreditiert (vgl. AHRBECK 2004, S. 31). Mit der Betonung der Selbstständigkeit von Kindern und der Vernachlässigung von Entwicklungskonflikten liefert die Säuglingsforschung überaus anschlussfähiges Legitima-
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tionswissen für früh vorauszusetzende kognitive und emotionale Selbstständigkeit von Kindern (vgl. Kap. 4.1). Als empirische Hintergründe der Thesen vom „kompetenten Säugling“ (DORNES 1994) und vom „scientist in the crib“ (GOPNIK/MELTZOFF/KUHL 1999) gelten Forschungsergebnisse, die darauf hinweisen, dass Säuglinge ihre Umwelt viel differenzierter wahrnehmen als zuvor angenommen. Im Unterschied zum klassischen tiefenpsychologischen Vorgehen werden Daten in der neueren Säuglingsforschung nicht durch Analysen retrospektiv rekonstruiert, sondern durch direkte Beobachtung erhoben. Daher finden sich für diese Forschungsrichtung auch Bezeichnungen wie „direkte Säuglingsforschung“ und „Kleinkindbeobachtung“ (vgl. LENKITSCH-GNÄDINGER 2003, S. 21). Säuglinge zu beobachten ist eine große forschungsmethodische Herausforderung, insofern verbale Befragungstechniken naturgemäß ausscheiden. Fragen, wie z.B. die, ab wann Säuglinge ihre Mutter als Mutter erkennen können oder welches Motiv aus einer Auswahl an Bildern am stärksten auf sie wirkt, müssen so gestellt werden, dass sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten (saugen, greifen, strampeln, Kopf zur Seite drehen, etc.) beantwortet werden können. Eine Reihe ausgeklügelter Methoden wurde hierzu entwickelt. So legte DANIEL STERN gerade geborenen Säuglingen Stilleinlagen ihrer Mutter und der einer anderen Frau vor und konnte beobachten, dass sie sich immer zu den Stilleinlagen ihrer Mutter wenden. Er schlussfolgert daraus, dass die Neugeborenen ihre Mutter am Geruch erkennen können und eindeutig gegenüber anderen Personen präferieren. Zu den aufwändigeren Verfahren zählen dagegen speziell konstruierte Schnuller, die elektronisch mit Diaprojektoren, Kassettenrekordern, etc. verbunden sind und mit denen das Baby durch die Intensität des Saugens aus einer Reihe angebotener optischer oder akustischer Reize selektieren kann. Auf diese Weise konnte u.a. herausgefunden werden, welche farblichen Muster und Kontraste Babys bevorzugen und dass sie in der Lage sind, die Stimme ihrer Mutter zu erkennen (vgl. DORNES 1993). Ohne an dieser Stelle ausführlicher auf forschungsmethodische Aspekte eingehen zu können, konzentrieren wir uns im Folgenden auf die Forschungsergebnisse. Mit verbesserten experimentellen Beobachtungsverfahren der oben genannten Art kann etwa gezeigt werden, dass Säuglinge in der Lage sind, aktiv und nach eigenen Präferenzkriterien auf äußere Reize zu reagieren. Sie sind insofern entgegen der klassischen psychoanalytischen Position nicht ihren Reflexen und Trieben ausgeliefert. Akzentuiert wird in neueren Forschungsarbeiten zudem die scheinbar unersättliche Lernmotivation von Kleinkindern. Sie erforschen von Anfang an ihre Umwelt explorativ und können erworbenes Wissen frühzeitig kognitiv strukturieren. Bei der kognitiven Elaboration des Wissens und der Ordnung der einströmenden Sinnesreize kommt augenscheinlich Affekten eine wichtige Organisatorwirkung zu. In diesem Zusammenhang wurde dokumentiert, dass Neugeborene Informationen aus unterschiedlichen Sinnesmodalitäten koordinieren können, ein Prozess, der als „intersensorische Koordination“ bzw. „kreuzmodale Wahrnehmung“ bezeichnet wird. Anders als in der klassischen Psychoanalyse wird damit die These vertreten, dass Säuglinge Sinneseindrücke nicht separiert und damit gleichsam ‚chaotisch’ erleben, sondern in einer kohärenten Welt mit einheitlichen Erscheinungen leben. Im Zentrum des Forschungsinteresses steht auch das kindliche Interaktionsverhalten. Durch mikroanalytische Auswertungsverfahren von Filmaufnahmen wurde deutlich, dass Säuglinge einen aktiven, gleichberechtig62
ten Part im Interaktionsgeschehen einnehmen. Sie sind in der Lage, Interaktionen zu initiieren, zu kontrollieren und auch zu beenden. Wie ELSBETH STERN (2002) berichtet, weisen neuere Forschungen auch darauf hin, dass Säuglinge bereits kognitive Abstraktionsleistungen erbringen können. Zurückgewiesen wird die den klassischen Entwicklungsparadigmen zugrunde liegende Annahme einer nicht a priorisch vorgegebenen, sondern erst im Zuge der kognitiven Entwicklung sich herausbildenden kognitiven und emotionalen Objektkonstanz als elementarste Form von Abstraktion. Die These, dass Säuglinge über keine kognitive Abstraktionsfähigkeit verfügen, begründet JEAN PIAGET mit der Beobachtung, dass sie nicht nach einem attraktiven Gegenstand greifen, der vor ihren Augen verdeckt wurde. Analog wird in der Psychoanalyse davon ausgegangen, dass emotionale Objektkonstanz erst sukzessive im Zuge der Herauslösung des Kindes aus der symbiotischen Verbindung mit seinen Bezugspersonen entsteht. Im Unterschied zu diesen Theorieannahmen lassen Ergebnisse der empirischen Säuglingsforschung vermuten, dass Säuglinge über ein genetisch dispositioniertes, der Erfahrung vorgängiges Abstraktionsvermögen verfügen, dass sich etwa in ihrem Erstaunen über physikalisch unmögliche, unter experimentellen Bedingungen simulierte Ereignisse zeigt (z.B. Säuglinge sind überrascht, wenn in der Simulation der Eindruck entsteht, dass ein Ball durch eine Mauer hindurch geworfen wird). Die demgegenüber konträre Beobachtung PIAGETs wird in der Säuglingsforschung uminterpretiert als durch mangelnde Koordination von Handlungsplänen und nicht durch fehlende Objektkonstanz bedingt. Schließlich kommt der Wandel des Kinderbildes in der biowissenschaftlichen Forschung besonders markant in der These zum Ausdruck, das Kind sei Initiator seiner Geburt. Anders als der passivische Sprachgebrauch suggeriert, wird das Kind dieser Annahme zufolge nicht einfach nur geboren, sondern es ist an diesem Vorgang aktiv beteiligt, indem es Signale sendet, mit denen es bei der Mutter die Wehen auslöst. So heißt es bei ELSCHENBROICH (2000, S. 430): „Shiwa ist der, ‚der sich selbst geboren hat’. Im deutschen gibt es kein aktives Verb für dieses Verständnis von Geburt“. In den referierten Forschungen wird konträr zum klassischen Sozialisations- und Entwicklungsparadigma davon ausgegangen, dass es vor allen Entwicklungsschritten und vor allen Sozialisationserfahrungen ein Zentrum, eine Potenz, anders ausgedrückt: einen ‚Subjektkern’ gibt, von dem aus das Kind seine Umwelt eigenaktiv wahrnimmt, organisiert und interpretiert. Zum Vergleich: Sozialisationstheorie beschäftigt sich nach der Definition von KLAUS HURRELMANN und DIETER GEULEN (1980, S. 51) mit dem „Prozess der Entstehung und Entwicklung von Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten materiellen und sozialen Umwelt.“ Der Sozialisationsprozess setzt nicht bei der Persönlichkeit an. Die Persönlichkeit und das Subjekt entstehen der sozialisationstheoretischen Axiomatik zufolge erst durch den Austausch mit der sozialen und materiellen Umwelt. Im Unterschied hierzu wird in der neueren Säuglings- und Kleinkindforschung aus den experimentell beobachteten Gefühlsäußerungen, den mimischen Ausdrücken für Interesse, Neugier und Überraschung, der differenzierten Wahrnehmung und dem aktiven Kommunikationsverhalten auf eine psychische Repräsentanz dieses Verhaltens im Sinne eines elementaren Selbstbewusstseins, eines Selbstkonzepts und eines Objektbezuges geschlossen. Die Grundannahme lautet daher: Einem differenzierten äußeren Verhalten muss ein differenziertes inneres Erleben entsprechen (DORNES 2001, S. 612). So spricht 63
DANIEL STERN (2000) von einem bereits pränatal emergierenden Selbstempfinden und verweist damit auf die Fähigkeit des kindlichen Subjekts, verschiedene Sinneseindrücke intersensorisch zu koordinieren. Bezogen auf die Erlebensqualität schlussfolgert STERN, dass sich das Kind von Anfang an als Akteur seiner Handlungen fühlt, insofern es z.B. klar unterscheiden kann, ob es sich selbst einen Schnuller in den Mund steckt oder ob dieses jemand anderes tut. Dieses basale Selbsterleben geht mit dem voll ausgeprägten Unterscheidenkönnen von Sich und Anderen im zweiten postnatalen Lebensmonat in ein eigenständiges Persönlichkeitsempfinden über. Zwischen dem siebten und neunten Lebensmonat differenziert sich das kindliche Selbst weiter aus, indem es nun zwischen eigenen psychischen Zuständen und denen von anderen unterscheiden kann. In dieser Phase sieht STERN den ontogenetischen Ursprung von Intersubjektivität und Empathie. Das Kind versteht, dass das Erleben anderer nicht mit den eigenen Gefühlen identisch ist. Ohne Zweifel sind dies wichtige und überraschende Erkenntnisse, die zu einem besseren Verständnis von und zu einer respektvollen und liebevollen Haltung gegenüber Kleinkindern beitragen können (vgl. ELSCHENBROICH 2000, S. 430f.). Wichtig sind jedoch auch die wenigen kritische Stimmen gegenüber dieser Forschungsrichtung, die vor allem aus den Rängen der Psychoanalyse und der Bindungsforschung kommen – den ‚klassischen Wissenschaften von der Unselbstständigkeit’ des Menschen (vgl. AHRBECK 2004; GÖPPEL 2002; METZGER 1999). Problematisiert wird u.a., dass forschungsleitende (normative) Bilder wie das Paradigma des ‚kompetenten Säuglings’ zu einer einseitigen Interpretation von erhobenen Daten führen. Die These, einem differenzierten äußeren Verhalten entspreche ein differenziertes inneres Erleben (‚Konkordanzthese’), sei keine empirische Wahrheit, sondern höchst hypothetisch, weil sich aus der Beobachtung äußeren Verhaltens nicht auf die Qualität des inneren Erlebens schließen lässt. Es ist unklar, ob und welche Bedeutung ein Säugling seinem Handeln beimisst. Zudem wird kritisiert, dass diese Forschung ein zu einseitiges Bild des Säuglings zeichne, indem sie sich systematisch Säuglingen mit mittlerem Aktivitätsniveau zuwendet und konfliktträchtige körperlich-psychische Spannungszustände nicht in den Blick nimmt. Der traditionellen psychoanalytischen Position zufolge können Säuglinge in den ersten Monaten noch nicht zwischen Selbst und Objekt unterscheiden. Sie erleben sich weder psychisch noch physisch als einzelne Subjekte, sondern als Ensemble von inneren Impulsen, als „eine Vielfalt von Zentren des Lust- UnlustErlebens“ (SCHÄFER 1995, S. 39). Integrität in Abgrenzung zur Umwelt erlebt der Säugling in der ‚Symbiose’ mit der fürsorgenden Mutter oder der engsten Bezugsperson, aus der er sich im Laufe des Selbstbildungsprozesses befreit. Säuglinge können diesem Erklärungsmodell zufolge zunächst nicht Erfahrungen psychisch repräsentieren. Erst langsam entwickelt sich die emotionale und kognitive Objektkonstanz. Dies ist ein Grund für Trennungsängste und Trennungsschmerzen von Kindern als Zeugnis ihrer Abhängigkeit und Schutzbedürftigkeit. Für die Psychoanalyse sind Abhängigkeit und Schutzbedürftigkeit zentrale Wesensmerkmale des Kindes. Erst vor dem Hintergrund einer stabilen und schützenden Bindung erweisen sich Kinder als kompetent. Dem Bild des ‚modernisierungskompatiblen’ Kindes als ‚Lerngenie’ und ‚hochtourigem Lerner’ setzt die Psychoanalyse in modernisierungskritischer Weise die Abhängigkeit und Schutzbedürftigkeit von Kindern entgegen, die diese Lebensphase – mit einem Ausdruck von HONIG (1999, S. 105) gesagt – als „retardierendes Moment der Modernisierung“ kennzeichnen. 64
4.3
Selbstständigkeit aus identitätstheoretischer Sicht – Perspektiven der philosophischen Moderne-Postmoderne-Kontroverse
Im Vorigen wurde verdeutlicht, dass sowohl in der neueren sozial- wie auch biowissenschaftlichen Kindheitsforschung ein verstärktes Interesse an der ‚Selbstständigkeit’ von Heranwachsenden zu konstatieren ist. In Abhängigkeit von dem jeweiligen disziplinären, theoretischen und empirischen Zugriff konnten unterschiedliche wissenschaftliche Thematisierungsformen von Selbstständigkeit unterschieden werden. Selbstständigkeit wird sowohl gegenwartsbezogen als empirisches Merkmal des Alltagslebens von Kindern wie auch zukunftsorientiert als Erwartung der gesellschaftlichen Systemumwelt an die Sozialisation Heranwachsender beschrieben. Zudem findet die zunehmende kulturelle Akzentuierung von Selbstständigkeit Ausdruck in neueren Subjektmodellen der Kindheitsforschung. In der Sozialisationstheorie, der Soziologie der Kindheit sowie in der biowissenschaftlich ausgerichteten Kindheitsforschung ist die Rede von Kindern als Akteuren ihrer Entwicklung. Die Akzentuierung von Selbstständigkeit zeigt sich hier u.a. in der geringeren theoretischen Gewichtung externer Einflüsse auf die Entwicklung von Kindern, der Betonung ihres Aktivitätsprofils, ihrer Beziehungsdichte, ihres Explorations- und Neugierverhaltens sowie ihrer hohen Lernkompetenz. In den Hintergrund geraten ihre natürlichen, lebenszeitlich bedingten Lernrückstände und mithin die Fokussierung des Generationenverhältnis als Grundmaß pädagogischen Handelns. Auf Basis der grundlegenden Unterscheidung von sozialstrukturellen Hintergründen und kulturellen Erscheinungsformen von Individualisierung wurden die verschiedenen Diskurse über Selbstständigkeit von Kindern wissenssoziologisch als kultureller Ausdruck sozialstruktureller Freisetzungsprozesse von Individuen aus traditionellen, Sicherheit spendenden Sozialvorgaben interpretiert. Im Folgenden werden diese modernisierungstheoretischen Analysen weitergeführt und ergänzt um Perspektiven der philosophischen Moderne-Postmoderne-Kontroverse. Es handelt sich hierbei um eine seit den 1980er Jahren ausgetragene Auseinandersetzung über das ‚Selbst’ in der modernisierten Moderne, die hier in ihrer Bedeutung für die Thematik der Selbstständigkeit von Heranwachsenden skizziert werden soll. Im Zentrum dieser gegenwartsphilosophischen Reflexionen steht die Umbrucherfahrung. Gefragt wird, wie der sozialstrukturelle und kulturelle Modernisierungsschub ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts sozialphilosophisch zu interpretieren ist. Deutlichen Ausdruck findet die Annahme einer historisch-philosophischen Zäsur im Begriff der ‚Postmoderne’. Postmoderne Philosophie geht davon aus, dass sich die gesellschaftliche Modernisierungsdynamik durch Individualisierung-, Pluralisierungs- und Enttraditionalisierungsprozesse derart einschneidend verändert hat, dass nunmehr angemessener von einer Postmodernisierung zu sprechen sei. Die zunehmende funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft als sozialstrukturelle Grundlage von Individualisierung führt zu einer Pluralisierung der Lebenswelten. Zwar gilt in der soziologischen Fachdiskussion funktionale Differenzierung übereinstimmend als strukturelle Grundlage der modernen Gesellschaft, konstatiert wird jedoch eine Beschleunigung des Differenzierungsprozesses, die als Umschlagen von Modernisierung in Postmodernisierung interpretiert werden kann. Postmoderne-Reflexionen richten ihren Fokus vor allem auf die kulturellen und personalen Folgen dieses Strukturwandels der Moderne. Auf
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der Ebene kulturphilosophischer Reflexionen artikuliert sich im Begriff Postmoderne das Empfinden, dass die Vision von Gesellschaft an ihr Ende gekommen ist, die „Habermas das ‚Projekt der Moderne’ genannt hat: der Versuch, die Ziele der Aufklärung: Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung durchzusetzen“ (NUNNER-WINKLER 1991, S. 113). Diese auf subjektphilosophischer Ebene auch in den Wendungen ‚Ende des Individuums’ und ‚Tod des Subjekts’ bekannt gewordene Diagnose irritiert auf den ersten Blick, rekapituliert man, dass sich die Erziehungsnorm Selbstständigkeit und die Autonomie des Kindes als Leitkategorien modernen pädagogischen Denkens sowohl in erziehungswissenschaftlichen Diskursen als auch in heutiger Kindererziehung grundlegend durchgesetzt haben (vgl. Kap. 4.1; 4.2). Postmoderne Perspektiven in der Philosophie konstatieren jedoch zumeist nicht schlechthin das Ende des Subjektiven und Individuellen (im Sinne einer einseitig negativen Lesart von Individualisierung als Disziplinierung und Ausgeliefertsein an Formen perfektionierter Überwachung und Kontrolle), sondern negieren ein bestimmtes Konzept von moderner Subjektivität, das Autonomie an innere Kohärenz, Ich-Identität und instrumentalisierten Vernunftgebrauch bindet. Problematisiert werden sozusagen die unterschiedlichen Varianten des modernen Akteurs-Individualismus als kulturelle Dimension von Individualisierung, die mit der Vorstellung des sich selbst setzenden Subjekts sozialstrukturelle Dezentrierung und Fragmentarisierung an Vorstellungen von personaler Einheit rückbinden. Im Namen einer Philosophie der Differenz und der Pluralität wird für ein Verständnis von Subjektivität als ‚Identität im Übergang’ eingetreten, in dem ‚transversale Vernunft’ die entscheidende postmoderne Kompetenz der produktiven Verarbeitung von Pluralität bildet. Die Theoretiker, die sich dem Projekt der Moderne zuordnen, halten indessen am Konstrukt des ich-identischen Subjekts fest. In einer gelungenen Identitätsentwicklung sehen sie die Einlösung des Emanzipationsanspruchs der Moderne. Der näheren Diskussion dieser in unterschiedlichen philosophischen Denksystemen stehenden Konzepte spätmoderner Identitätsarbeit sei eine kurze Annäherung an das Verhältnis von philosophischer Moderne und Postmoderne vorangestellt.
4.3.1
Individualisierungsdiagnosen in der Moderne-Postmoderne-Kontroverse
Zunächst ist zu konstatieren, dass ‚Postmoderne’ und ‚Postmodernisierung’ uneinheitliche Begriffe sind, die je nach System unterschiedlich verwendet werden. In Abhängigkeit vom jeweiligen gesellschaftstheoretischen Theoriekontext, in dem diese Begriffe auftauchen, wird unter Postmoderne ein Zustand der Moderne, eine Gesellschaftsform nach der Moderne oder eine Theorie der Moderne verstanden. Daneben ist unter anderem die Rede vom postmodernen Stil in der Architektur und der Kunst, von postmoderner Erzähltechnik in der Literatur, vom postmodernen Wissen in der Philosophie und vom postmodernen Lebensstil in der Lebenslaufforschung (zur Begriffsgeschichte vgl. WELSCH 1987). Angesichts der Vielfalt der Begriffsverwendungen zur Beschreibung unterschiedlicher kultureller Phänomene charakterisiert ROGER BEHRENDS Postmoderne als einen „ambivalenten Begriff, der genauso ambivalent ist wie die postmoderne Zeit, die schließlich die Postmoderne hervor-
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gebracht, verbreitet und zur Mode erklärt hat. Die Unmöglichkeit einer eindeutigen Definition der Postmoderne ist zugleich ihre einzig mögliche Definition“ (BEHRENDS 2004, S. 8). Augenscheinlich ist es diese gesellschaftliche Ambivalenz, von der aus der Begriff der Postmoderne erschlossen werden muss. Die Zunahme von Aspekten der Ambivalenz, in der ein Übergang in eine postmodern gesellschaftliche Verfasstheit gesehen wird, resultiert aus Paradoxien des Modernisierungsprozesses. Grundsätzlich unterschieden wird zwischen dem Rationalisierungs-, dem Differenzierungs-, dem Domestizierungs- und dem Individualisierungsparadox (VAN DER LOO/VAN REIJEN 1992). So konstatiert MATTHIAS JUNGE „im Rahmen der Rationalisierung einerseits Generalisierung und zugleich andererseits Pluralisierung – etwa von Werten, Normen und Orientierungen. Im Bereich der Differenzierung wären einerseits eine Tendenz zur Maßstabvergrößerung ausdifferenzierter Systeme und andererseits auch eine Tendenz zur Maßstabverkleinerung wie auch zur Interpenetration sozialer Systeme zu erwähnen. Domestizierung umfasst zugleich Konditionierungsprozesse und Dekonditionierungsprozesse. Und Individualisierung schließlich bedeutet Freisetzung und Einbindung“ (JUNGE 2004, S. 37). Es sind vor allem die Paradoxien der Individualisierung, die als Merkmale von Postmodernisierung interpretiert werden. Wie in Kap. 3 erläutert, stehen Individualisierungsprozesse in der Ambivalenz von Freiheit und Zwang zum eigenen Leben, von Freisetzung zur ‚Individualität’ und empirisch erfahrender ‚Dividualität’ sowie von Lösung aus traditionellen Abhängigkeiten und damit einhergehender eigenverantwortlicher Zurechnung der Wahlen aus dem Angebot von „Bausätzen biographischer Kombinationsmöglichkeiten“ (BECK 1986, S. 217). Der systemische Rahmen individueller Selbstkonstitution, den BECK meint, wenn er von biographischen Bausätzen redet, hat sich – und hierin liegt die Grundparadoxie von Individualisierung – mit seinen selbstreferenziell gewordenen Eigenlogiken entkoppelt und immunisiert gegenüber Wirkungen individuellen Handelns und Entscheidens. Systemische Widersprüche können zusehends schwerer sozial reguliert werden und müssen folglich von Individuen auf Basis der ihnen zur Verfügung stehenden personalen, sozialen und materiellen Ressourcen bewältigt werden. Es ist dieses Scheitern der modernen Vorstellung intentionalistischer Gesellschaftsgestaltung, das zu dem viel beklagten „Unbehagen an der Postmoderne“ (vgl. BAUMANN 1999; 2000) führt. In der modernisierten Moderne wird Ambivalenzbewältigung folglich zur gesellschaftlich vorgegebenen Kernaufgabe individueller Lebensführung und Sozialisation. Wie zu zeigen sein wird, unterscheiden sich moderne und postmoderne Perspektiven auf Identität und Subjektivität im Umgang mit diesen gesellschaftlichen Ambivalenzproblemen. Moderne Vorstellungen des autonom entscheidenden und selbstbestimmten Subjekts liegen der Rede vom Ich als ‚Planer’, ‚Regisseur’, ‚Architekten’ und ‚Akteur’ der eigenen Biographie zugrunde. Diese Metaphern stehen in der Tradition aufklärerischen Glaubens an die rationale Planbarkeit und Gestaltbarkeit des eigenen Lebens wie der sozialen Welt (vgl. Kap. 2). Neben Systemtheoretikern und Konstruktivisten (vgl. Kap. 6) bezweifeln vor allem die Denker der Postmoderne die gesellschaftliche Passung dieses Subjekt- und Weltbildes grundlegend. Metaphorisch wird darauf verwiesen, dass sich Individuen in der fragmentierten Sozialwelt vielfach nicht als souverän planende Architekten des Hauses ihres eigenen Lebens erfahren, sondern als laienhafte ‚Bastler’, die provisorisch aus gesellschaftlichen Sinn- und Inklusionsangeboten eine vorläufige, zusammenbruchsgefährdete Lebenskonstruktion zimmern. Angesichts des in den oben beschriebenen Paradoxien sichtbar wer67
denden Ambivalenzproblems der Moderne wenden sich sozialphilosophische PostmoderneTheoretiker grundsätzlich von Einheits- und Ganzheitsvisionen ab, die das moderne Verständnis des Subjekts kennzeichnen. Augenscheinlich ist diese Abwendung von ModernePerspektiven konstitutiv für postmodernes Denken. Insofern nimmt das Verstehen von Postmoderne-Diagnosen seinen Anfang bei den ihnen zugrunde liegenden Verständnissen von Moderne (vgl. FECHNER 1990). Grundsätzlich schließen Postmodernisten an Varianten moderner Selbstkritik von so unterschiedlichen Autoren wie FRIEDRICH NIETZSCHE, SIGMUND FREUD, JACQUES LACAN oder THEODOR W. ADORNO an, radikalisieren diese Kritik aber insofern, als dass sie zentrale Begriffe und Reflexionskategorien wie Individuum, Subjekt, Objektivität und Utopie, an denen Modernisten noch festhielten, nicht mehr akzeptieren. So konstatiert FRANCOIS LYOTARD, einer der Protagonisten postmodernen Denkens in der neueren französischen Philosophie: „Die Postmoderne ist keine neue Epoche, sondern das Redigieren einiger Charakterzüge, die die Moderne für sich in Anspruch genommen hat, vor allem aber ihre Anmaßung, die ganze Menschheit durch die Wissenschaft und die Technik zu emanzipieren. Doch dieses Redigieren ist, wie gesagt, schon seit langem in der Moderne selbst am Werk.“ (LYOTARD 1989, S. 68)
WOLFGANG WELSCH (1987), an LYOTARDs Gedanken der Radikalisierung der Moderne anknüpfend, spricht daher in seinem gleichnamigen Buch von „unserer postmodernen Moderne“. Gesellschaftliche Ambivalenz und Pluralität, so das Zentrum postmodernen Denkens, werde dem modernen, die Einheit des Subjekts unterstellenden Bezug auf Rationalität und Wahrheit nicht gerecht und führe zur Ausgrenzung und Unterdrückung nicht akzeptierter Rationalitäten wie auch des Anderen der Vernunft. Die Entstrukturierung der Lebensformen, die als enttraditionalisiert, individualisiert und kontingent beschrieben werden sowie die Folgewirkungen der Moderne, die als ökologische, wirtschaftliche und politische Risiken an den Tag treten, werden als Versagen des universalistischen Vernunftprinzips und mithin als Destruktion der Moderne interpretiert (vgl. WELSCH 1988, S. 39f; FROMME 1999). Der Philosophie der Aufklärung als erste Selbstbeschreibung der Moderne galt die Vernunft autonomer Subjekte als Erkenntnisgrundlage, als Quelle moralischer Gewissheit und Sitz des Verantwortungsbewusstseins. Das Vertrauen der Aufklärung in die Vernunftfähigkeit des Menschen führte zur Hochschätzung des autonom denkenden, erkennenden und handelnden Subjekts in der Erkenntnistheorie und zur Konstituierung des sich selbst erschaffenden und über Bildung vervollkommnenden Subjekts in der Bildungsphilosophie (vgl. Kap. 2). Dieser Vernunftoptimismus wird im Diskurs der Postmoderne verworfen. Zurückgewiesen wird, wie KIRSTEN FERNANDEZ (2003) erläutert, die Vorstellung des zentrierten Ichs, das durch seine einheitsstiftende Vernunft die Erscheinungen von Welt auf sich zu vereinen und nach Verstandesbegriffen zu ordnen vermag und so das Allgemeine der menschlichen Existenz zum Ausdruck bringen kann. Die postmoderne Kritik der Erkenntnis- und Vervollkommnungsfähigkeit des Subjekts steht im Zusammenhang einer Problematisierung der Einheitsperspektiven moderner Erfahrungswissenschaft. Ein bekannter Vertreter dieser Kritik ist LYOTARD, der die Paradigmen der Moderne, er nennt explizit die Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns und die Emanzipation des Subjekts, als „große Erzählungen“ zurückweist. In seinem 68
Grundlagenwerk „Das postmoderne Wissen“ verdeutlicht er, dass Pluralität im Kontext wissenschaftlicher Ausdifferenzierung zum Grundprinzip von Wissenschaft wurde. Angesichts der Pluralisierung von Wissensformen kann es für LYOTARD keine Metadiskurse geben, die den Sinn einzelner Wissensbestände bestimmen und diese untereinander zu universellen Bedeutungseinheiten verbinden, sondern nur gleichberechtigt nebeneinander bestehende Wissens- und Sinnsysteme, die jeweils entsprechend ihrer Eigenregeln und Ansprüche in ihren Differenzen wahrgenommen werden müssen (LYOTARD 1986; in Bezug auf Erziehungswissenschaft vgl. UHLE/HOFFMANN 1994). Wie WELSCH (1988, S. 33) im Anschluss an LYOTARD erläutert, kennzeichnen „Pluralität und Dissens [...] – in heutiger naturwissenschaftlicher ebenso wie geisteswissenschaftlicher Sicht – die Grundstruktur von Wirklichkeit. Diese ist nicht homogen, sondern heterogen, nicht harmonisch, sondern dramatisch, nicht einheitlich, sondern divers verfasst.“ Wissenschaftliche Metadiskurse, die Anspruch auf Universalität erheben, werden konsequent abgelehnt. Entsprechendes gilt für uneingeschränkte Gültigkeit beanspruchende und die kulturelle Identität der Moderne verbürgende Ideen wie ‚Fortschritt durch Aufklärung und Wachstum’ und ‚Wachstum durch Rationalisierung’. Diese Ablehnung gründet sich auf der Überzeugung, dass universalistische Denkentwürfe Heterogenität ausschließen und mit der Suche nach verallgemeinerungsfähigen Sätzen das Partikulare und Abweichende unterdrückt wird. Heterogenität, Differenz, Partikularität und Lokalität werden im postmodernen Wissen hingegen zentral. Zur Anerkennung und Begrüßung von Komplexität und Vielheit von Wirklichkeit schreibt WELSCH: „Die Postmoderne bejaht den Übergang in die Pluralität und bewertet ihn positiv, sie erprobt den Gedanken, dass Vielheit vielleicht eine Glücksgestalt sein könnte. Dieser Wechsel von Einheitssehnsucht zum Vielheitsplädoyer ist die einschneidendste der Veränderungen im Übergang von Moderne zu Postmoderne.“ (WELSCH 1987, S. 26)
An diesem Zitat wird deutlich, dass Pluralität nicht nur Realität der postmodernen Gesellschaft ist, sondern zugleich eine postmoderne Werthaltung, die sich gegen die Instrumentalisierung moderner Vernunftprinzipien richtet. Erst durch die Anerkennung und Ästhetisierung von Pluralität als postmoderner Werthaltung könne der Verschiedenheit, Komplexität und Kontingenz der Wirklichkeit Rechnung getragen werden. An die Stelle zunehmender Rationalisierung soll die Ästhetisierung von Wirklichkeiten treten, die sich in der Sensibilisierung für die Unterschiede differenter Lebenskonzepte sowie Wissens- und Rationalitätsformen zeigt. Nach Ansicht vieler Postmodernisten wird Pluralität durch die Einnahme einer solchen ästhetischen Perspektive zu einer unhintergehbaren Selbstverständlichkeit. In diesem Denken weicht die wissenschaftlich-rationale Weltsicht dem Fokus auf die Fiktionalität und ästhetische Konstruktivität von Wirklichkeit. Insofern die Wirklichkeit nicht ontologisch gegeben ist, sondern durch fiktionale Mittel wie „Grundbilder, Anschauungsformen, Metaphern, Stile, Phantasmen, Projektionen“ (CHRISTIAN BECK 1993, S. 83) hervorgebracht und durch neue Medien zusätzlich verstärkt werde, zeige sich die Welt als poietisch, künstlerisch und bildhaft verfasst, kurzum als ästhetisch konstituiert. Aus der ästhetischen Konstituierung der Wirklichkeit ergebe sich notwendig die Pluralität der Wirklichkeitsausprägungen (vgl. ebd.).
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4.3.2
Zur Konzeptualisierung von Selbstständigkeit als ‚Ich-Identität’
Ambivalenzbewältigung gilt angesichts der Pluralität der Wirklichkeitsausprägungen und der Paradoxien fortschreitender Modernisierung als Grundanforderung spätmoderner Sozialisation und Lebensführung. Im Kontext von Modernisierungstheorien, die sich dem ‚Projekt der Moderne’ und dem ihm zugrunde liegenden Anspruch der ‚Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit’ (IMMANUEL KANT) zuordnen, wird das Konzept der Ich-Identität verwendet, um das Problem gelingender Individualisierung angesichts sozialer Paradoxien und Ambivalenzen theoretisch und empirisch zu klären. Gefragt wird, so kann man modernisierungstheoretisch formulieren, wie Individualisierung gemäß der Tradition aufklärerischen Denkens als Hervorbringung des autonomen Ichs begriffen und realisiert werden kann. Im Gedanken der Selbstidentität und eben nicht der Übereinstimmung mit sozialen Erwartungen setzt sich die aufklärerische Vorstellung von Autonomie fort. Die hier in Rede gestellte ideengeschichtliche Kontinuität zwischen dem autonomen Subjekt der Aufklärung und dem Identitätsbegriff wird in theoretisch-systematischen Analysen als sozialwissenschaftliche Weiterführung des im Zuge der „realistischen Wende“ (ROTH 1962) in die Kritik geratenen Bildungsbegriffs beschrieben (vgl. UHLE 1993/1997; NEUMANN 1997). Mit dem Begriff der Identität wird versucht, die bildungsphilosophische Vorstellung des autonomen Selbst sozialwissenschaftlich operationalisierbar, empirischen Untersuchungen zugänglich und mithin transparenter werden zu lassen. Grundsätzlich beinhaltet der ursprünglich aus der Logik stammende Begriff Identität zwei Bedeutungsdimensionen. Erstens bezeichnet er die Zugehörigkeit eines Exemplars zu einer Gattung, zweitens weist er dieses Exemplar als ein bestimmtes, besonderes und einzigartiges aus. Im Kontext kritischer sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien werden diese Bedeutungsebenen des Identitätsbegriffs verwendet, um Ich-Konstruktionen zu beschreiben, die aus der ambivalenten Anforderung der Moderne resultieren, einerseits unterschiedlichen sozialen Erwartungen und Ich-Zuweisungen im Rollenhandeln entsprechen zu müssen, andererseits sich im Kontext von Individualisierung als kulturellem Deutungsmuster und handlungsleitender Bewusstseinform (vgl. Kap. 3.2) als besonderes und selbstbestimmtes Ich zu präsentieren, das mehr und anderes ist als das Konglomerat heterogener Rollenzuschreibungen. Aufgabe der Identitätsentwicklung ist es, eine Balance zwischen Person (Selbstdeutung) und äußeren Ich-Zuweisungen im Rollenhandeln in der gemeinsamen Welt herzustellen. Prominent geworden ist in diesem Zusammenhang die Rede von ‚Ich-Identität’ in soziologischen Rollen- und Interaktionstheorien von GEORG HERBERT MEAD, ERVING GOFFMAN, RALF DAHRENDORF, LOTHAR KRAPPMANN, JÜRGEN HABERMAS, GERTRUD NUNNERWINKLER u.a. und in psychologischen Persönlichkeits- bzw. Kognitionstheorien SIGMUND FREUDs, JEAN PIAGETs, LAURENCE KOHLBERGs, ERIK ERIKSONs und ALFRED LORENZERS (vgl. UHLE 1997, S. 17). Wie REINHARD UHLE (ebd.) erläutert, beschäftigen sich diese Theorien mit dem oben angesprochenem Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner sozialen Umwelt. In Abgrenzung zum funktionalistischen Verständnis von Sozialisation als Kulturübertragung wird an die Vorstellung produktiver Subjektivität aufklärerischer Konzepte von Bildung und Entwicklung angeknüpft, in deren Lichte sich das Subjekt aktiv im
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Sinne einer Selbststeigerung Kultur aneignet und nicht von der Gesellschaft determiniert wird. So greifen psychologische Versionen des Identitätskonzepts den in der Philosophie und Pädagogik der Aufklärung begründeten Gedanken individueller Höherentwicklung auf, indem sie Identitätsentwicklung als stufenweise verlaufenden Prozess konzeptualisieren. Das Verhältnis von Selbst und Anderen wird als Abfolge von Phasen kognitiver, emotionaler oder psychosexueller Entwicklung beschrieben. Im Spiegel dieser Theorien erscheint Identitätsentwicklung als dynamischer Prozess, in dem sich „eine Form von Subjektsein konstituiert, die sich durch Vollständigkeit von Handlungsfähigkeiten bzw. Kompetenzen sowie dauerhafte Einheitlichkeit und Kontinuität auszeichnet“ (NEUMANN 1997, S. 421). So besteht etwa nach ERIKSON die zentrale Aufgabe der Identitätsentwicklung in der Jugend in der Integration der bisher in verschiedenen Rollensituationen und Identifikationen mit kulturellen Werten gesammelten Ich-Werte in einer beständigen Ich-Identität: „Das Gefühl der Ich-Identität ist also das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten“ (ERIKSON 1966, S. 107; zitiert nach NEUMANN 1997, S. 421). Komplementär dazu beschreiben soziologische Theorien die Entwicklung von IchIdentität im Kontext sozialer Interaktionen. Kohärenz, Kontinuität und Konsistenz der Identität wird hier als gelungener Ausgleich zwischen sozialen Rollenerwartungen (fremden Bedürfnissen) und eigener Ausgestaltung und Hierarchisierung der Rollenbezüge (eigener Bedürfnisse) bestimmt. In dieser Balance zwischen „sozialer“ und „personaler Identität“ (vgl. GOFFMAN 1967; MEAD 1973) wird der Kern moderner Identitätsarbeit gesehen. Der gesellschafts- und modernisierungstheoretische Bezugspunkt dieser Bestimmung von Identität ist der Zwang zur Wahl des eigenen Lebens unter den Bedingungen sozialstruktureller und kultureller Individualisierung. Dieser Zwang betrifft vor allem das Jugendalter, das in der Moderne insofern nicht zufällig als krisenhaftes aber produktives Lebensalter, „zweite Geburt“ (ROUSSEAU) oder als Phase der „Konstituierung der Ich-Identität“ (ERIKSON) betrachtet wird. Identitätsarbeit in der Adoleszenz wird im Zuge fortschreitender Modernisierung zunehmend prekär. Im Zuge der Entstrukturierung und Entgrenzung der Lebensphasen weicht der traditionelle Verlauf von Jugend, d.h. das Beenden der Schule, der Einstieg in die Erwerbstätigkeit, die Heirat und damit das Verlassen des Elternhauses, das Eingehen neuer Bindungen und die Lockerung der Bindung zu den Eltern, individuellen Formen und Möglichkeiten des Übergangs in die ökonomische und psychosoziale Stabilität, welche man mit dem Erwachsenenleben verbindet. Neben der Auflösung klarer Alterskonturen als Orientierungsrahmen für die Identitätsentwicklung verliert mit der Freisetzung des Ichs aus traditionellen Gemeinschaftsformen und Rollenmustern auch die soziale Herkunft an Bedeutung für die Identitätsbestimmung. Aus diesen Gründen sind Jugendliche direkt und selbstschaffend mit der Frage konfrontiert: „Wer bin ich und wo will ich hin?“ Wenn gesellschaftliche Strukturierungen als Orientierungspunkte für die Identitätsentwicklung schwinden und sich in pluralen Gesellschaften keine einheitlichen Kriterien für ein ‚gutes Leben’ finden lassen, ist das Ich zur Ausbildung seiner Identität vor die Aufgabe gestellt, sich selbst zu wählen, gemäß Kriterien, die es sich selbst setzt (vgl. UHLE 1995, S. 75f.). Moderne Identität kann insofern als „reflexives Projekt in einer reflexiv gewordenen Gesellschaft“ beschrieben werden (LOHAUß 1995, S. 215). 71
Diese Wahlentscheidungen sind notwendigerweise abhängig von den zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten. Das Ich kann sich z.B. über seine Selbstwahrnehmung, seine Biographie, seine Zukunftspläne, Gedanken, Einstellungen, etc. definieren (persönliche Identität), daneben ist es aber auch auf ‚Ich-Zuweisungen’ durch das Wahrgenommenwerden von Anderen verwiesen (soziale Identität). Die verschiedenen Rollenbeziehungen, die das Ich in der enttraditionalisierten Gesellschaft unterhalten muss, machen es erforderlich, die Erwartungen Anderer zu erkennen und im eigenen Selbstentwurf zu verarbeiten. Das durch diesen Perspektivenwechsel hergestellte soziale Selbstkonzept tritt nun zur Herausbildung eigenständiger Identität in einen Vermittlungsprozess mit dem persönlichen Selbstkonzept, d.h. der eigenen Selbstwahrnehmung und den individuellen Identitätsvorstellungen, um so eine Identität zu entwickeln, die durch sozial erwartete und persönlich angestrebte Selbstgleichheit gekennzeichnet ist. Selbstkohärenz unter den Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierung auszubilden und aufrechtzuerhalten verweist auf ein Ich-kontrolliertes Subjekt, das bewusst wählt, was es für sich und für andere sein möchte, indem es eigene Autonomieansprüche und soziale Abhängigkeitsverhältnisse in ein balanciertes Verhältnis bringt (vgl. KRAPPMANN 1993). LOHAUß macht deutlich, dass das Erleben von Wahlfreiheit als Ausdruck von Autonomie mit dem Gefühl authentisch zu sein zusammenhängt. Diese Authentizität als wichtiges Merkmal von Ich-Identität sieht er bedroht bei Missverhältnissen zwischen eigenen Wertorientierungen und Lebenszielen und alltagspraktischen Zwängen: „Wenn die Lebensführung durch die Umstände bestimmt wird und von eigenen Wertprioritäten abweicht, fühlt man sich nicht authentisch, an der inneren Erfüllung gehindert und unglücklich. Man lebt ein falsches Leben, ob das nun in erster Linie durch eine ‚falsche’ Arbeit, den ‚falschen’ Partner oder die ‚falsche’ soziale Lage hervorgerufen wird“ (LOHAUß 1995, S. 199). Umfassende Identitätstheorien, welche die hier referierten psychologischen und soziologischen Perspektiven auf Identität systematisch aufeinander beziehen, wurden u.a. von HABERMAS und GERTRUD NUNNER-WINKLER erarbeitet. Ich-Identität ist für die Autoren gleichbedeutend mit kommunikativer Kompetenz, d.h. der Fähigkeit, im Rollenhandeln durch Frustrationstoleranz, Ambiguitätstoleranz und Rollendistanz auch in widersprüchlichen Sozialbeziehungen eigene und fremde Bedürfnisse sowie gesellschaftliche Erwartungsstrukturen miteinander zu vermitteln. Ich-Identität wird hier als „Fähigkeit zur prinzipiengeleiteten Balance zwischen unterschiedlichen Erwartungen im Rollenhandeln“ verstanden (TILLMANN 2000, S. 224). In makrosoziologischen Analysen wird gezeigt, dass eine nicht-reflexive Identifikation mit Rollenerwartungen (Rollenidentität) angesichts der in Legitimationskrisen geratenen kulturellen Ideologien der Moderne (Leistungsideologie, Ideologie der Partizipation an Gesellschaftsgestaltung durch Politik), der sozialen Ungleichheit und der unkontrollierten Bedrohungen durch marktradikal-neoliberale Entwicklungen nicht nur grundsätzlich abzulehnen (vgl. HABERMAS 1989), sondern aufgrund konfligierender Rollenerwartungen sowie der Gefahr der Freisetzung aus festen Berufsrollen durch Massenarbeitslosigkeit und durch die Dynamisierung von Erwerbsbiographien auch gar nicht ohne psychopathologische Gefahren möglich ist (vgl. NUNNER-WINKLER 2000). Ich-Identität als prinzipiengeleitete Flexibilität wird folglich als notwendige Persönlichkeitsstruktur in der modernisierten Moderne erachtet. RAINER DÖBERT, HABERMAS und NUNNER-WINKLER (1980) verbinden ontogenetische und phylogenetische Perspektiven in 72
der Entwicklungsabfolge von Identität: Aus der natürlichen Identität des Kleinkindes entwickelt sich die traditionale Gesellschaften kennzeichnende Rollenidentität (Deckungsgleichheit von sozialer und persönlicher Identität), der bei gelingender Lösung der Adoleszenzkrise die für moderne Gesellschaften notwendige Ich-Identität folgt. Als Kern von IchIdentität sehen die Autoren – und damit stehen sie unverkennbar in der Tradition der Moralphilosophie KANTs – die autonome Bindung an universelle moralische Prinzipien, denn diese „Prinzipien erlauben, Identität (im Sinne von Konsistenz und Kontinuität) und Intersubjektivität (im Sinne wechselseitiger Verlässlichkeit und Verständigungsbereitschaft) zugleich aufrechtzuerhalten“. Verdeutlicht sei dieser Identität konstituierende Zusammenhang von Bindung und Autonomie an der Metapher von „Theseus Schiff“, die NUNNERWINKLER (2000, S. 308) im Anschluss an NOZICKS aufgreift: „Gegeben sei Theseus’ Schiff im Hafen. Mit der Zeit verrotten einzelne Balken und Bretter und werden ersetzt, bis schließlich alle ausgetauscht sind. Was ist nun Theseus Schiff? Das runderneuerte Boot im Hafen oder der Stapel ursprünglicher Planken im Bootshaus? Wir würden wohl eher das Boot im Hafen als Theseus’ Schiff bezeichnen, weil – trotz des Austausches der Einzelteile – die Kontinuität der Gestalt gewahrt und die Lückenlosigkeit der Transformation gesichert ist.“ Analog verstehen wir auch einen Organismus trotz permanenter Zellerneuerung als gleichbleibend. Das gilt auch für Personen, denen man auch dann ein stabiles und kohärentes Selbst bescheinigt, wenn sie bestimmte Einstellungen, Ansichten, Werthaltungen ändern – vorausgesetzt sie tun dies nicht als soziale ‚Chamäleons’ oder ‚Marionetten’ in der unreflektierten Übernahme fremder Erwartungen, sondern auf Basis autonomer Entscheidungen, die durch die rationale Abwägung von Gründen gekennzeichnet sind. Augenscheinlich ist es die Autonomie der eigenen Lerngeschichte, die als Grundstruktur erhalten bleiben muss, um Identität aufrechtzuerhalten. Identifikationsinhalte menschlicher Identität sind diesem Bild zufolge austauschbar wie Balken und Bretter von Theseus’ Schiff. Es ist jedoch die Struktur, die über den Transformationsprozess hinweg konstant gehalten werden muss. Wie die Identität des Schiffes durch den Erhalt seiner baulichen Struktur gewährleistet wird, so wird die Identität des Menschen durch den Erhalt seiner Autonomie als Grundstruktur von Identität gesichert. Die Bedeutung der hier in Rede gestellten autonomen Wertbindungen für die Entfaltung von Ich-Identität erläutert NUNNER-WINKLER (1991) im Kontext einer universalistischen, kognitivitische und psychoanalytische Perspektiven integrierenden Entwicklungstheorie. Die Entfaltung von Autonomie im theoretischen und praktischen Urteilen, im Wollen sowie im Handeln ist für die Autorin in erster Linie eine Funktion kognitiver und emotionaler Dezentrierung im Sinn der Entwicklungsmodelle JEAN PIAGETs, LAURENCE KOHLBERGs und SIGMUND FREUDs. Selbstbestimmtes Denken zeigt sich hier in der kognitiven und emotionalen Distanzierungsfähigkeit gegenüber unmittelbar Vorgegebenem. Diese als ‚second order thinking’ bezeichnete Denkqualität fußt auf einem grundsätzlichen Kontingenzbewusstsein, d.h. der Fähigkeit, Sachverhalte auf ihre Notwendigkeit sowie Normen, Erwartungen und Geltungsansprüche auf ihre Universalisierbarkeit und Unvoreingenommenheit hin zu überprüfen. Analog basiert selbstbestimmtes Wollen und Fühlen auf der kritisch-reflexiven Distanzierung gegenüber unmittelbaren Bedürfnissen, spontanen Impulsen (Es-Einschränkungen) und inneren Zäsuren (Überich-Einschränkungen). Der psychoanalytischen Entwicklungstheorie zufolge werden Es-Einschränkungen in der Kindheit und 73
Überich-Einschränkungen in der Jugend bearbeitet. Gelingt dieser Prozess der kritischen Selbstaufklärung, so treten an die Stelle des Es und des Überichs so genannte ‚second order desires’. In diesem übergeordneten, reflektierten Wollen entscheidet das Ich, ob es unmittelbare Wollensäußerungen wirklich wollen will. Von Selbstbestimmung kann dann gesprochen werden, so fasst NUNNER-WINKLER (ebd, S. 124) das normative Ziel ihrer Sozialisationstheorie zusammen, wenn Handeln flexibel und situationsangemessen „an Prinzipien orientiert ist, die das Subjekt als richtig erkennt und im Interesse der Erhaltung der eigenen Ich-Integrität befolgen will.“ Das Subjekt ist sich selbst gegenüber zur Wahl fähig, indem es mit eigenen Bedürfnissen und fremden Erwartungen autonom umgehen kann, indem es sich selbst als universell verbindlich erachtete Kriterien für sein Wollen setzen kann. Anders als in den Akteurs-Paradigmen aktueller sozial- und biowissenschaftlicher Kindheitsforschung (vgl. Kap. 4.2) wird hier ein Autonomieverständnis vertreten, das Selbstständigkeit nicht aus dem Aktivitätsprofil, der Lernkompetenz und der Beziehungsdichte von Kindern ableitet, sondern als normativ-moralphilosophisch Anspruch an die Subjektentwicklung formuliert. Das sich selbst wählende Subjekt ist insofern autonom in der KANTischen Vorstellung, als dass es sich selbst Kriterien für sein Wollen auferlegen kann. Autonomie und Ich-Stärke des modernen Subjekts werden vor diesem Hintergrund als geeignete Persönlichkeitsstrukturen ausgewiesen, um die Ambivalenzen zwischen Ich und Anderen, zwischen Selbst- und Weltverhältnis ohne Preisgabe der gesellschaftlichen Pluralität in ein individuell integriertes Verhältnis zu bringen. Die Chance zur Ausbildung von Ich-Identität als Leistung des Jugendalters – und hier werden wiederum psychologische und soziologische Perspektiven aufeinander bezogen – steigen nach Einschätzung NUNNERWINKLERS im Zuge fortschreitender Modernisierung. Es ist vor allem die Pluralisierung von Werten und Normen, die grundsätzlich die Legitimation von Handlungen erforderlich macht. Auch traditionelle Handlungsmuster werden begründungspflichtig, „denn das Individuum selbst – und nicht die Tradition – bestimmt, welche Wertorientierungen es übernehmen will“. Und folgt es auch den Traditionen ,,so geschieht dies nicht aus dumpfer Eingewöhnung, sondern als Ergebnis einer bewussten Wahl“ (ebd., S. 122).
4.3.3
Zur Konzeptualisierung von Selbstständigkeit als ‚dezentrierte Identität’
Im vorigen Kapitel wurde erläutert, dass das sozialwissenschaftliche Modell der IchIdentität ideengeschichtlich in der Tradition moderner Subjektphilosophie steht. Subjekt zu sein wie auch Identität zu haben bedeutet in diesem Denkzusammenhang, sich nur der Bestimmung seines eigenen vernünftigen Willens zu unterwerfen und sich jeder Form von innerer und äußerer Fremdbestimmung zu widersetzen. Postmoderne Denker dekonstruieren diese privilegierte Stellung des sozial und epistemologisch autonomen Subjekts. Wie in Kapitel 4.3.1 erläutert, ist die postmoderne These vom ‚Tod des Subjekts’ radikaler Ausdruck des Bewusstseins der Dialektik der Aufklärung und der Ambivalenz der Moderne. Deutlich wurde, dass diese These eingelagert ist in eine grundsätzliche Auseinandersetzung um das Problem von Einheit vs. Differenz. Als ‚Einheitsdenken’ wird der aufklärerische Glaube an die rationale Gestaltbarkeit der sozialen Welt wie des eigenen Lebens diskredi74
tiert. Hierin wird eine Disziplinierung der inneren und äußeren Natur des Menschen gesehen, die das ‚Andere der Vernunft’, d.h. alles Widersprüchliche, Heterogene und Fremde verdrängt. Das ‚Projekt der Postmoderne’ versteht sich als Widerstand im Zeichen von Pluralität und Differenz gegenüber dem als totalitär empfundenen Ordnungsdenken und den Uniformierungszwängen der Moderne, zu dem auch der ‚Identitätszwang’ zugeordnet wird. Im Kontext eines Plädoyers für uneingeschränkte Anerkennung von Pluralität wird der als ‚Versöhnungssemantik’ charakterisierte Gedanke zurückgewiesen, die zerbrochene Einheit und Kohärenz der Lebenswelt durch die Ausbildung von Ich-Identität im Subjekt wiederherzustellen. Die postmoderne Kritik am Begriff der Ich-Identität richtet sich in diesem Sinn vornehmlich gegen den unterstellten Nexus von Autonomie, innerer Kohärenz und Kontinuität. Im Unterschied zu den Konzeptionen von HABERMAS und NUNNER-WINKLER wird die These vertreten, dass in der pluralisierten und fragmentarisierten Sozialwelt der Postmoderne das Modell der Ich-Identität sowohl empirisch als auch normativ seine Passung verloren hat. In Frage gestellt sind damit zum einen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Chancen zur Entwicklung von Ich-Identität. Angenommen wird, dass sich die Dynamisierung, Pluralisierung und Fragmentarisierung gesellschaftlicher Lebensformen, Wissensund Sinnsysteme unmittelbar in den Identitätsbildungsprozessen niederschlägt. Folglich sei Identität durch Brüchigkeit, Fragmentierung und Dezentrierung gekennzeichnet (vgl. WELSCH 1990; GERGEN 1990; KEUPP 1999; KLIKA 2000; EICKELPASCH/RADEMACHER 2004). Der Philosoph WELSCH (1990, S. 171) stellt diesbezüglich fest: „Die Pluralisierung der Gesellschaft betrifft seit langem und betrifft heute allgemein auch die Individuen. Identität ist immer weniger monolithisch, sondern nur noch plural möglich. Leben unter heutigen Bedingungen ist Leben im Plural, will sagen: Leben im Übergang zwischen unterschiedlichsten Lebensformen.“ Die identitätstheoretische Pluralismusthese kommt bei KENNETH GERGEN (1990; 1995) als „soziale Sättigung“ des Selbst zur Sprache. Durch die Zunahme der Beziehungsdichte in der globalisierten und vernetzten Welt der Postmoderne lernen wir, so GERGEN, die Einstellungen, Werthaltungen, Deutungsmuster und Lebensweisen anderer Menschen in ihren jeweiligen soziokulturellen Hintergründen kennen. „Wir werden hierdurch in die Lage versetzt, die Welt mit ihren Augen zu sehen. Mit zunehmendem sozialem Kontakt nehmen wir die anderen sozusagen in uns auf [...] Tatsächlich werden wir in zunehmendem Maße mit anderen Menschen ‚besetzt’. Jeder von uns wird zunehmend eine bunte Mischung von Potentialen, wobei jedes Potential eine oder mehrere der Beziehungen, in die wir uns einlassen, darstellt. Zur Verdeutlichung: nach einem ernsthaften Gedankenaustausch mit einem Kommunisten aus Bologna erscheint eine bestimmte Form des Kommunismus durchaus als plausibel; nach einem exquisiten Abendessen mit einem Pariser büßt die enthaltsamgesunde Lebens- und Ernährungsweise enorm an Anziehungskraft ein; lernt man die Lebenswelt der Japaner kennen, wird das Ideal von individueller Leistung fraglich.“ (GERGEN 1990, S. 195)
Als soziale Sättigung wird hier die Vereinigung heterogener, aber jeweils plausibler und daher je Geltung beanspruchender Überzeugungen, Werthaltungen und Einstellung im postmodernen Menschen verstanden. Für GERGEN wird durch soziale Sättigung ein konsensueller Wahrheitsbegriff ebenso obsolet wie die Annahme einer einheitsstiftenden Vernunft im Subjekt. Ein stabiler Identitätskern und damit die Vorstellung eines persönlichen Wesens weichen im Pluralisierungstheorem einer relationalen Sicht auf das Selbst. Das Selbst 75
wird nicht als Träger bestimmter Persönlichkeitsdispositionen und als Besitzer von Identität begriffen, sondern verschwimmt im heterogenen und inkohärenten Beziehungsgeflecht der Postmoderne. In dieser relationalen Sicht spiegelt sich äußere Pluralität in multiplen Identitätscollagen, ohne dass ein Subjektkern das Monitoring, d.h. die Integration und Hierarchisierung heterogener Identitätsanteile leisten kann. Folgt man postmodernen Zeitdiagnosen, dann betrifft die Pluralisierung von Identität bereits das Kindesalter, dem in traditionellen Theorien der Identitätsentwicklung der Status von Rollenidentität zugeschrieben wird. Die Kindheitsforscher DAHLBERG, MOSS und PENCE (1999, S. 43) sprechen vom „decentred child“. Im Gegensatz zum Begriff der ‚Kindzentrierung’, welcher die moderne Konstruktion des Kindes als „unified, reified and essentialized subject” (ebd., S. 43) – “whose inherent and preordained human nature is revealed through processes of development and maturity” (ebd., S.48) beinhaltet, betrachtet das postmoderne Verständnis des „decentred child“ modernisierte Kindheit als eingebunden in eine Vielfalt von Beziehungen in verschiedenen Kontexten. So gesehen wird auch davon ausgegangen, dass Kinder verschiedene und sich überschneidende Identitäten konstruieren und nicht auf einen stabilen Identitätskern und eine universelle Entwicklungslogik festgelegt werden können (ebd., S. 57). Analog betont der Zehnte Kinder- und Jugendbericht: „Kindheit findet für immer weniger Kinder in gesellschaftlich oder subkulturell zugewiesenen und für immer mehr Kinder in individuell erworbenen Rollen statt“ (BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND 1998a S. 97). In den Zitaten wird die Erosion der traditionell qua Geburt zugewiesenen und im Generationenverhältnis verankerten Rolle des Kindes als hilfsbedürftiges Entwicklungswesen postuliert, das auf Schutz, Fürsorge und Förderung durch Erwachsene angewiesen ist. Angenommen wird, dass Kinder aufgrund ihres gestiegenen Aktivitätsprofils und der Dichte ihrer sozialen Beziehungen nicht mehr auf diese Rollenidentität reduziert werden können. Auch sie sind vom Phänomen der sozialen Sättigung betroffen, konstruieren multiple Identitäten und bringen diese kompetent im sozialen Rollenhandeln ein. Die hier in Rede gestellte Freisetzung des Kindes aus seiner traditionellen Identität verspottet geradezu das moderne Bild der Erziehungs- und Anleitungskindheit, das auch hinter den auf einer klaren Entwicklungslogik beruhenden Konzepten der Ich-Identitätsentwicklung steht. Nicht reflektiert werden in Postmoderne-Perspektiven jedoch die Grenzen der sozialen Freisetzung aus traditionellen Rollenvorgaben, die bei Kindern in ihrer anthropologisch verankerten generationalen „Struktur der Angewiesenheit“ (HONIG 1999) liegen. Wie Ergebnisse aus der psychoanalytischen Bindungsforschung zeigen, ist gerade eine nicht modernisierte Kindheit, d.h. die Gewährung von Unterstützung, Hilfe und Schutz im Kontext einer Konzedierung kindlicher Abhängigkeit und einer Kompensierung kindlicher Unselbstständigkeit in pädagogischen Räumen der Grundstock einer späteren Herausbildung eines starken und selbstständigen Ichs (vgl. Kap. 4.4). Für postmoderne Theoretiker entbehrt das Konzept der Ich-Identität nicht nur der empirischen Passung in der fragmentierten Sozialwelt, auch in normativer Hinsicht als anzustrebende Persönlichkeitsstruktur gilt es als überholt. Ambivalenzbewältigung als Kernaufgabe postmoderner Lebensführung sei nicht durch einen starren „Identitätszwang“ (BILDEN 1997, S. 228) oder durch ein „stahlhartes Gehäuse der Zugehörigkeit“ fest gefügter Identitäten (NASSEHI 1997, S. 177) zu realisieren, sondern durch einen kompetenten Umgang mit innerer Pluralität. Postuliert wird ein Zusammenhang von innerer Pluralität und äußerer 76
Pluralitätskompetenz, der sich in biographischer, emotionaler und kognitiver Flexibilität sowie in der Anerkennung kultureller Pluralität dokumentiert. Innere Vielfalt wird so zur „Voraussetzung für die Handlungskompetenz unter den Bedingungen von Vielfalt, von Widersprüchen und Diskontinuitäten in Gesellschaft und individueller Biographie“ (BILDEN 1997, S. 228). Ebenso wie kulturelle Pluralisierung gilt auch innere Vielfalt als Glücksgestalt, insofern mit ihr „ein Bekenntnis zur Pluralität der Lebensstile, die Suche nach Individualität statt Identität, die Selbstinszenierung, Bereitschaft, verschiedene Identitäten in der eigenen Person zu realisieren, die Forderung nach Konfliktfähigkeit und Toleranz gegenüber den Individualitäten der anderen“ (LENZEN 1992, S. 75) einhergeht. Oder wie GERGEN (1994, S. 36) in einem Interview formuliert: „Wir erkennen die Vergeblichkeit von ‚Autonomie’ und die Grenzen logischer Kohärenz, und allmählich lernen wir es zu schätzen, in die Vielfalt kultureller Sinn-Systeme eingebunden zu sein, die uns untereinander verbinden.“ Die begriffliche Annäherung an ein pluralisiertes Verständnis von Identität erfolgt vielfach durch metaphorische Suchbewegungen. Die Lebenssituation der Menschen in der Postmoderne fängt ZYGMUNT BAUMANN (1997) in den Bildern des ‚Touristen’, des ‚Vagabunden’ und des ‚Nomaden’ ein. Wie ‚Nomaden’ nach BAUMANN ohne feste zeitliche, soziale und personale Bindung ruhelos ihre Aufenthaltsorte wechseln, so kann das postmoderne Ich im übertragenden Sinne keine dauernde und stabile Identität aufbauen. Die Ursache hierfür liegt in der Gegenwartszentrierung postmodernen Lebens – ein kulturelles Phänomen, das aus der Erosion gesellschaftlich vorgegebener biographischer Muster, der Kontingenz der Zukunft und vor allem der kurzfristigen Stimulation von Bedürfnissen durch die Modetrends der Konsumsysteme resultiert. Das Individuum definiert sich durch die Formulierung und Befriedigung kurzfristig wechselnder Ansprüche an Lebensstile und Sinnangebote, die jedoch nicht Ausdruck autonomen Entscheidens sind, sondern durch Marktangebote geweckt werden. Der gesellschaftliche Imperativ, eigenständig zwischen den Inklusionsofferten der Konsumsysteme zu wählen und sich von Identitätsfestlegungen fernzuhalten, führt (1) zur Identitätsform des mobilen, genussfreudigen und erlebnishungrigen Touristen in seinem ungerichteten Streben nach Selbstverwirklichung und (2) zur Existenzform des rastlosen Vagabunden, dem aus sozialen Sicherungssystemen freigesetzten Individualisierungsverlierer, der kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen auf dem so genannten „brasilianisierten“ Arbeitsmarkt nachgeht (vgl. EICKELPASCH/RADEMACHER 2004, S. 37ff.). Mit dem Bild der patchwork- bzw. der crazy quilt-Identität bringt HEINER KEUPP (1999) die von Touristen und Vagabunden zu leistende Identitätsarbeit zum Ausdruck. Diese Metapher versinnbildlicht die Transformation von Alltagserfahrungen zu Identitätsfragmenten und ihre kreative Verknüpfung zu Identitätsmustern. KEUPP et al. (1999, S. 10) wollen mit diesem Begriff „die Aufmerksamkeit auf die aktive und oft sehr kreative Eigenleistung der Subjekte bei der Arbeit an ihrer Identität richten. Das kann in seiner spezifischen Ästhetik farbig und bunt erscheinen, und einige dieser Produkte können Bewunderung und Faszination auslösen.“ Mit der Betrachtung von Identitätsarbeit als ästhetisch-künstlerisch-kreativem Prozess der Selbstorganisation ist ein Kernelement postmoderner Subjektphilosophie angesprochen, das nach WELSCH bereits seit langem in der Kunst gespiegelt wird. So sind etwa die einzelnen Bilder einer Serie photographischer Selbstportraits von CINDY SHERMAN in Audruck, 77
Stimmung, dargestelltem Typ und Rolle so unterschiedlich, dass nicht von einer mit sich selbst identischen Person ausgegangen werden kann. SHERMANs Photographien sind radikaler Ausdruck der vielfältigen Identitäten, die ein Mensch annehmen kann. Für WELSCH (1990, S. 178) führt „Sherman die positiven Möglichkeiten eines neuen, nicht mehr an die Identität einer Person gebundenen Identitätsverständnisses vor Augen. Sherman zeigt, wie ein und derselbe Mensch verschiedenste Identitäten annehmen und verkörpern kann.“ Diese Ästhetisierung der Brüche des Selbst überschreitet sogar die Grenzen der körperlichen Identität. Nicht nur der in den Selbstporträts dargestellte Typ, die Rolle und die Stimmung differieren, sondern auch die Ästhetisierung des Körpers. Die sich in der Zeit nur langsam verändernden Konturen körperlicher Identität lösen sich in künstlerisch-ästhetischen Installationen auf. Diese – das Krankheitsbild der Schizophrenie unterlaufende – Ästhetisierung innerer und äußerer Pluralität redet einer grundsätzlichen künstlerischen Verfasstheit der Postmoderne das Wort. Es ist für WELSCH (1987, S. 194) daher der künstlerische Mensch, der sich im „postmodernen Pluralismus wie der Fisch im Wasser“ fühlt. Auch der Philosoph MICHEL FOUCAULT verfolgt das Motiv der Ästhetik des Lebens. Übereinstimmend mit den bereits genannten postmodernen Denkern distanziert sich FOUCAULT vom modernen Subjekt- und Identitätsbegriff. In machtanalytischen Untersuchungen zur historischkulturellen Genese der Beicht- und Geständnispraxis enttarnt er die Autonomie des Subjekts als soziales Konstrukt, als Resultat eines gesellschaftlichen Disziplinierungsprozesses, der äußere Herrschaft in inneren Selbstzwang umwandelt (vgl. FOUCAULT 1977). Ausgehend von der These, dass sich das Subjekt durch kulturelle Praktiken konstituiert, plädiert er für das Erfinden neuer Praktiken, die ihres Zeichens Praktiken der Befreiung und nicht der Unterwerfung und Versklavung sind. Diese Praktiken nach dem Vorbild der antiken ‚Ästhetik der Existenz’ führen zu Selbsttransformation, zur Modifikation und Pluralisierung des eigenen Seins. So konstatiert FOUCAULT: „Ich halte es nicht für erforderlich, genau zu wissen, was ich bin. Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war: Wenn Sie ein Buch beginnen und wissen schon am Anfang, was Sie am Ende sagen werden, hätten Sie dann noch den Mut, es zu schreiben? Was für das Schreiben gilt und für eine Liebesbeziehung, das gilt auch für das Leben überhaupt. Das Spiel ist deshalb lohnend, weil wir nicht wissen, was am Ende dabei herauskommt“ (FOUCAULT, zit. nach SCHROER 2000). Die dezentrierten Subjektmodelle sprechen in neuer Weise über Subjektivität. Freiheit und Selbstbestimmung bleiben als subjekttheoretische Leitmotive erhalten, an die Stelle ihrer Rückbindung an das Theorem der Selbst-Identität tritt jedoch die Goutierung und Ästhetisierung innerer Pluralität. Freiheit heißt hier, die Vielfalt möglicher Selbst zu leben. Wie der Jugendforscher WERNER HELSPER (1991, S. 75) feststellt, deuten sich in diesen Reflexionen „Konturen einer ‚Autonomie’ ohne Selbst-Identität“ an. Daher bezeichnet die Kindheits- und Jugendforschung das Spiel Jugendlicher mit möglichen Identitäten und ihre Ablehnung, auf feste Lebensformen und Identitäten festgelegt zu werden als postmodern (vgl. FERCHHOFF/NEUBAUER 1997). An Stelle der Suche des modernen Ichs nach sich selbst und seiner gesellschaftlichen Integration, wird als neuer postmoderner Habitus die Neigung der Jugendlichen angegeben, „sich auf experimentelle Daseinsformen einzulassen und spielerisch fremde Rollenvorgaben zu übernehmen, die mit einem offenen und kontingenten Wertbewusstsein ausgefüllt werden“ (FERCHHOFF/NEUBAUER 1997, S. 27). Bei 78
WELSCH wird diese postmoderne Subjektform mit einem pluralen Vernunftbegriff begründet, der auf subjektive Kompetenzen des Übergangs zwischen pluralen Sinnwelten und Identitätsanteilen rekurriert. Die Pluralität von Identitätsproduktionen könne nicht in einer personalen Einheit zusammengefügt werden, eher sei von einem perspektivischen Identitätsmodell auszugehen, bei dem verschiedene Identitätsanteile horizontal interagieren. Zwischen diesen Identitätsanteilen bestünden allerdings in Teilen Parallelen, so dass das Subjekt auch in verschiedenen sozialen Situationen als wiedererkennbare Größe auftreten kann, auch wenn es sich jeweils im unterschiedlichen Licht präsentiert. Personale Integrität weicht in dieser Konzeption der Kompetenz im Übergang zwischen den verschiedenen Identitätskonstruktionen. Diese Fähigkeit des Übergangs wird von WELSCH (1987) als „transversale Vernunft“ bezeichnet. Mit diesem Begriff entwickelt WELSCH eine Alternative zum modernen Vernunftbegriff. Perspektivische Identität und transversale Vernunft stellen nach WELSCH Persönlichkeitsstrukturen dar, die einen kompetenten Umgang mit Pluralität ermöglichen. Die durch Akzentuierung von Autonomie und pluraler Besonderheit begründete spielerische Ambivalenzbewältigung ist allerdings fraglich, zieht sie doch die Modernisierungsparadoxien, die das soziale Leben erschweren, vollends in das Subjekt hinein. Kritisch zu fragen wäre, ob dieses Subjektmodell nicht den sozialstrukturellen Zwang zu ‚Dividualität’ semantisch überhöht und einseitig als Freiheitsgewinn ausweist, anstatt die Dezentierung des Ichs neutral als Erfordernis funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung auszuweisen und kritisch zu reflektieren. Das folgende Kapitel greift unter dieser Frage und Problematisierung alle bisher diskutierten Thematisierungsformen des Selbst und seiner Eigenschaft der Selbstständigkeit nochmals auf.
4.4
Lesarten der Selbstständigkeit individualisierter Kindheit und Jugend
Soziologische, philosophische und erziehungswissenschaftliche Gegenwartsdiagnostik konvergiert in der These, dass der Eigenanteil in der Bestimmung und Gestaltung des Lebens sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen ist. Unumstritten ist insofern der Teilaspekt von Individualisierung, der bei BECK ‚Freisetzungsdimension’ heißt und auf die Herauslösung des Ichs aus festgefügten verhaltensdeterminierenden Sozialbindungen verweist. Deutliche Unterschiede bestehen in soziologischen Reflexionen hingegen in ihrer Bewertung der Individualisierungsprozesse als positiv, negativ oder ambivalent. Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgegangen ist, überwiegt in der neueren Theoriebildung und Forschung der modernen Kindheitswissenschaften indes eine positive Lesart von Individualisierung. Die bisherigen Analysen ergaben, dass der in so unterschiedlichen Kulturbereichen wie Familie, Institutionen für Kinder und Jugendliche, Wirtschaft, Politik, Philosophie und Wissenschaft hervorgebrachten Semantik des ‚selbstständigen Kindes’ sozialstrukturelle Modernisierungsprozesse zugrunde liegen. Gesellschaftliche Modernisierung, so kann dieser Zusammenhang mit THOMAS ZIEHE (2002, S. 924) auf die Formel gebracht werden, führt zu einer „Zunahme der Strukturen der Selbstbezüglichkeit“, die sich auch in einer Umstellung wissenschaftlicher Theoriebildung auf Selbstreferenz bemerkbar macht. Deutlich wurde, dass die Beto79
nung der Selbstständigkeit von Kindern auf der Ebene von Erziehungsnormen wie auch auf der Ebene wissenschaftlicher Strukturmuster zur Erklärung kindlicher Entwicklung fest in der Tradition modernen pädagogischen Denkens verwurzelt und positiv konnotiert ist. Modernisierungsoptimistische Kindheitsmuster wie das Paradigma der ‚Selbstsozialisation’, das Modell des ‚produktiv realitätserzeugenden Subjekts’, das Kind als ‚Akteur seiner Lebenswelt’ und das Kind als ‚selbstständiger Turbolerner’ verkörpern in diesem Sinne eine positive Lesart moderner, individualisierter Kindheit. Zeitgleich wird unter postmodernen Vorzeichen Selbstständigkeit im Modus innerer Pluralisierung und Flexibilisierung neu konzeptionalisiert und ebenfalls als positive Entwicklung interpretiert. Diese Genese pädagogischer Theoriebildung, „nach der im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend Kinder und Jugendliche von der Forschung und in der öffentlichen Wahrnehmung als kompetente Subjekte gesehen werden, die über ihr Leben und Erleben, ihre Entwürfe zu zukünftigen Lern- und Lebenswelten Auskunft geben“, wird im pädagogischen ‚Reformmilieu’ als Errungenschaft, als Zugeständnis und als neue Freiheit unter den Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierung begrüßt (VOß 2005, S. 41). Wie des Weiteren erläutert wurde, richten entsprechende Forschungsarbeiten ihren Blick stärker auf die Chancen von Individualisierung und die Kompetenzen der Heranwachsenden im Umgang mit gesellschaftlichen Ambivalenzen. Besonders deutlich ist eine Idealisierung des Kindes im Bild des ‚hochtourigen Lerners’ zu erkennen, das die generationale Abhängigkeit von Kinder unterbestimmt und statt dessen ihre Lernkompetenz zum Leitbild menschlicher Modernisierungskompatibilität stilisiert. ‚Modernisierungskritische’ Kindheitsmuster, wie an den Beispielen der Theorien zur Entwicklung von Ich-Identität und der psychoanalytisch orientierten Entwicklungspsychologie erläutert wurde, betonen dagegen die generationale Erziehungs- und Anleitungsbezogenheit von Kindern und vertreten ein in die Zukunft verlagertes, durch Mündigkeit als Zielnorm qualifiziertes Verständnis von Selbstständigkeit, das durch Bildung und Entwicklung erreichbar ist. Im Folgenden soll das bisher Erarbeitete nochmals unter der Frage und Problematisierung aufgegriffen werden, ob das Konzept der Akteurskindheit als einseitig positive Ausdeutung von Individualisierung tatsächlich die gesellschaftliche Situation von Kindern und Jugendlichen subjekttheoretisch angemessen zum Ausdruck bringt. Es drängt sich der Verdacht auf, dass diese Antwort erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse nicht dem bei NOHL und FLITNER begründeten Anspruch kritischer Reflexivität im Dienst der Suche nach neuen erzieherischen Möglichkeiten in der Gestaltung eines kindgerechten Übergangs in die komplexe Welt der Erwachsenen genügt (vgl. Kap. 2). Um sich diesem Anspruch zu nähern, ist es erforderlich, die Bedeutungsebenen und normativen Implikationen der Begriffe ‚Selbstständigkeit’ und ‚Individualisierung’ differenziert zu betrachten. In der Soziologie ist dieses bereits durch die Unterscheidung und Systematisierung von positiven, negativen und ambivalenten Lesarten von Individualisierung erfolgt (vgl. Kap. 3.3). Eine vergleichbar umfassende Systematik fehlt bislang für pädagogische Theoriediskurse. Ein solcher Systematisierungsversuch ist freilich schwierig, da sich in erziehungswissenschaftlicher Zeitdiagnostik und Subjekttheorie sozialwissenschaftliche, biowissenschaftliche und philosophische Positionen vermischen und Koalitionen eingehen mit unterschiedlichen bildungsökonomischen Interessen und bildungstheoretischen Ansätzen. Wichtige Schritte hin zu mehr Klarheit über die Be80
deutungsfacetten der pädagogischen Semantik des Selbsts wurden jedoch bereits von unterschiedlichen Autoren unternommen. Differenzierungs- und Systematisierungsversuche dessen, was unter Selbstständigkeit und Individualisierung der Heranwachsenden normativ verstanden wird, orientieren sich an der Frage, welches Maß an Selbstständigkeit altersbezogen erwartbar und zumutbar ist. Problematisiert wird die in unserer Kultur lebenszeitlich immer früher vorausgesetzte Selbstständigkeit. WINTERHAGER-SCHMID (2002, S. 20) unterscheidet diesbezüglich zwischen zwei Kindheitsmustern, dem „optimistischen Muster der modernen Akteurskindheit“, wie es in den oben diskutierten neueren Kindheitstheorien zum Ausdruck kommt, und dem „modernisierungskritischen“ Kindheitsmuster der „Erziehungs- und Anleitungskindheit“. Diese Kindheitsmuster sind standpunktgebundene Konstruktionen. Modernisierungsbefürworter bewerten die zunehmende Sensibilisierung für die Potentiale und Kompetenzen von Kindern als positive kulturelle Entwicklung. Modernisierungskritiker weisen zu Recht auf die Schutzbedürftigkeit sowie die physische, kognitive und emotionale Abhängigkeit von Kindern hin, die im Kontext der Individualisierungsdynamik und den darauf bezogenen Diskursen über die Selbstständigkeit von Kindern aus dem Blickfeld gerät. Diese Auseinandersetzung über positive und kritische Lesarten von Selbstständigkeit kann präzisiert werden durch eine qualitative Graduierung verschiedener Dimensionen dieses kulturellen Deutungsmusters. RÜLCKER (1990, S. 22ff.) unterscheidet hierzu zwischen „funktionaler“ und „produktiver Selbstständigkeit“. GÖPPEL (2002, S. 42) ergänzt, dass in der neueren Kindheitsforschung auch „resignative Selbstständigkeit“ eine wichtige Rolle spielt. Diese Unterscheidungen dienen im Folgenden als Hintergrund für eine vergleichende Analyse der bisher diskutierten Kindheitsmuster. Funktionale Selbstständigkeit steht nicht im Zeichen eines Freiheitsgewinns, sondern führt zur verbesserten Verwert- und Verfügbarkeit des Menschen. Hier wird die soziale Existenz, die grundsätzliche Angewiesenheit des Menschen auf Hilfe und Unterstützung zugunsten einer Selbstständigkeitsideologie ‚verleugnet’. Der zur Selbstständigkeit fähige Mensch ist diesem Kalkül zufolge besser auf das Leben in der modernisierten Moderne mit seiner Freisetzung aus stabilen und lebenslangen Formen der Erwerbsarbeit, der sozialen Sicherung und der familiären Eingebundenheit vorbereitet. Zeitkritisch und in der von ihm bekannten Schärfe bemerkt HEINER GEIßLER (2005, S. 27) zum Rekurs auf ‚Selbstständigkeit’ im Kontext des Abbaus sozialstaatlicher Versorgungsstrukturen: „Er (sc. der Mensch) kann ohne andere Menschen nicht leben. Sogar die Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, in der Regel besondere Sozialabbauspezialisten, haben sich nach ihrer Geburt nicht selber gefüttert, sondern waren auf die Mitwirkung anderer Menschen angewiesen, um überleben zu können. So ist es bis auf den heutigen Tage geblieben.“ Folgt man dem GEIßLER-Zitat, das makrostrukturelle Anforderungen an Selbstständigkeit rückbindet an existenzielle Angewiesenheitsstrukturen des Menschen, dann hat funktionale Selbstständigkeit etwas zu tun mit der Ausblendung eben dieser Abhängigkeit. Unter dem Verdacht, bewusst oder unbewusst einer funktionalen Selbstständigkeit das Wort zu reden, stehen demnach alle Kindheitsmuster und Erziehungsnormen, welche sich dem gesellschaftlichen Imperativ zu frühzeitiger Selbstständigkeit resignierend ergeben oder durch die glorifizierte Betonung der Akteurs- und Lernkompetenz einseitig zum ‚natürlichen’ Charakteristikum des Lebens von Kindern zu erheben. Hier ist die Rede von der Akteurskindheit so weit 81
gefasst, dass sie das Recht des Kindes auf die sukzessive und geschützte Entwicklung dieser Akteurskompetenzen im Zuge einer allmählichen Herauslösung aus der generationalen Struktur der Abhängigkeit bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. Produktive Selbstständigkeit hat im Umkehrschluss zur Voraussetzung, den Zusammenhang von Selbstständigkeit und Angewiesenheit in ein entwicklungstheoretisches Verhältnis zu bringen. Der Mensch als ‚instinktreduzierte, extra-uterine Frühgeburt’, wie der Anthropologe ADOLF PORTMANN sagt, ist nicht nur auf die von GEIßLER angesprochene körperliche Pflege und Unterstützung angewiesen. Auch bezogen auf die Anlage des Menschen, sich als Subjekt aufbauen zu können, genügt nicht der Verweis auf seine natürliche Lernkompetenz. Der Mensch bedarf zwingend sozialer, emotionaler und kultureller Bezüge. Er ist in seiner Entwicklung auf emotionale und soziale Bindungen angewiesen. Bindung ist die soziale Voraussetzung von Entwicklung. Insofern ist es unerlässlich, Selbstständigkeit und Akteurskompetenz entwicklungsbezogen als Funktionen stabiler Bindungen zu thematisieren. Die bei HERZBERG (2003, S. 67) referierten Studien aus der Bindungsforschung zeigen, dass kindliche Akteurskompetenzen wie eigenständige Verabredungen, Vereins- und Gruppentätigkeiten, Zeitplanung, Umgang mit Geld und der Wechsel zwischen vielfältigen Beziehungsformen in unterschiedlichen Institutionen auf der stabilen Beziehung der Kinder zu ihren Eltern beruhen und dem, „was sie ihren Kindern ermöglichen, zu was sie ihnen raten, was sie unterstützen und was sie gut heißen.“ An anderer Stelle führt die Autorin aus, dass ungeachtet der zu Recht betonten Eigenständigkeit nicht zu verkennen sei, „wie stark die Tätigkeiten von Kindern gebunden sind an das, was in ihrem Elternhaus (vor)gelebt wird“ (HERZBERG 2001, S. 79). Freilich sei das Kind Architekt seiner selbst und Sozialisation sei stets Selbstsozialisation, „gleichwohl sind Kinder nicht allein aus sich heraus und kraft ihrer genetischen Mitgift eigenständige und kompetente Lebenskonstrukteure. Lieferanten für Bausteine und Mörtel zur Selbstkonstruktion sind vor und neben den Peers Erwachsene mit ihren Anregungen, Unterstützungen, ihrer gewährten Zuwendung und Verlässlichkeit, ihrer Förderung oder Behinderung der sozialen Eigenständigkeit und Selbstentfaltung des Kindes“ (ebd., S. 357). Auch Negativbeispiele zeigen, dass Selbstständigkeit aus festen Bindungen resultiert. So berichtet GÖPPEL (2002, S. 35) über Kleinkinder mit „unsicher-vermeidender“ Bindung zu ihren Eltern, die vordergründig selbstständig erscheinen, da sie beim Fortgehen der Mütter nicht protestieren, ihr Spiel fortsetzen und unproblematisch mit fremdem Personen interagieren können, in der Kindertagesstätte jedoch durch besondere Anhänglichkeit an die Erzieherinnen auffallen sowie durch mangelndes Vermögen, selbstständig auf produktive Weise Konflikte zu lösen. Produktive Selbstständigkeit entwickelt sich folglich aus stabilen Bindungen. Aufgrund der interindividuellen Varianz in der Herausbildung von Selbstständigkeit kann Pädagogik keine Kriterien und technologische Handlungsanleitungen darüber bereitstellen, welche Aufgaben ab welchem Alter in die Eigenverantwortung der Kinder übergehen sollten, sondern muss hier auf die intuitive Vernunft und den pädagogischen Takt aufgeklärter Eltern und anderer Bezugspersonen setzen. Dabei gilt es gegenüber Bestimmungen von Säuglingen und Kindern als kompetenten und selbstständigen Akteuren mit GÖPPEL Folgendes als erzieherische Herausforderung zu bedenken:
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„Das eigentliche Problem besteht viel eher darin, (...) das rechte Maß an Selbstständigkeitsgewährung, Selbstständigkeitszumutung und Selbstständigkeitsbeschränkung zu bestimmen, das dem angepeilten Endziel förderlich ist. Denn ‚Selbstständigkeit’ ist, zumindest in Hinblick auf Kinder und Jugendliche, ein relationales Konstrukt. Es bedeutet für einen Dreijährigen zwangsläufig etwas anderes als für einen Dreizehnjährigen.“ (GÖPPEL 2002, S. 41)
Die hier in Rede gestellte Dialektik von Selbstständigkeit und Abhängigkeit lässt sich in verschiedenen aktuellen pädagogischen Fachtexten nachweisen. Sie kennzeichnet z.B. den Zwölften Kinder- und Jugendbericht. Im Kontext eines Plädoyers für eine geteilte öffentliche und private Verantwortung für die Bildung, Betreuung und Erziehung von Heranwachsenden wird über Bildung in der frühen Kindheit gesagt, dass „[...] die Entwicklung in dieser Lebensphase ausgesprochen robust (ist); Kinder gehen Beziehungen ein, sie lernen ihre Fähigkeiten zu entwickeln und sich ihre Lebenswelt anzueignen. Zum anderen sind sie in dieser frühen Phase aber auch überaus verletzlich; Entwicklungs- und Bildungsprozesse kleiner Kinder sind in jeder Hinsicht abhängig von der Lebensumwelt, die ihre primären Bezugspersonen und andere Erwachsene ihnen bereitstellen“ (BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND 2005, S. 26). Selbststeuerungskompetenz als Imperativ der Moderne, so der hier vertretene Grundgedanke, entwickelt sich nicht selbstreguliert, sondern ist auf ‚unmoderne’ Beziehungsformen angewiesen, auf enge psychischphysische Bindungsbeziehungen, die sich von allen späteren individualisierten Beziehungsformen unterscheiden. Kindheit gilt grundsätzlich als begrenzt modernisierbare Altersphase, insofern „der Entwicklungs- und Bildungsverlauf des Kindes [...] in hohem Maße von fürsorglichen, pflegenden und betreuenden Beziehungen in verlässlichen, emotional sicheren und beschützenden Settings zu wenigen erwachsenen Bezugspersonen abhängt“ (ebd.). Es spricht einiges dafür, diese Dialektik von einerseits neuer kindlicher Eigenständigkeit und anderseits kindlicher Schützbedürftigkeit und Angewiesenheit auf verantwortungsvolle Erziehung, Bildung und Betreuung in die Mitte kindheits- und erziehungstheoretischer Reflexionen zu stellen. Nur so ist es möglich, die gestiegene Selbstständigkeit von Kindern theoretisch zu berücksichtigen, ohne in einer einseitigen Betonung der Subjektseite zu enden, welche die gesellschaftliche und kulturelle Rahmung, insbesondere den maßgeblichen Einfluss von pädagogischer Fürsorge, Erziehung und Bildung und mithin unterschiedliche Chancen zur Bildung des Subjekts aus dem Blick verliert. Dafür ist ein Festhalten am interaktionistisch fundierten Entwicklungs- und Sozialisationsparadigma unumgänglich, jedoch ohne die damit thematisierte Abhängigkeit von Kindern an den Gedanken ihrer Unterordnung zu binden. Entwicklung und Sozialisation werden in der wissenschaftlichen Diskussion übereinstimmend als lebenslanger, transaktionaler Prozess von Person und Umwelt begriffen (vgl. HURRELMANN 1983). Neuere Konzeptionen der Kindheitsforschung blenden diese Bezogenheit des Kindes auf Entwicklungsumwelten aus. Da die Struktur des Werdens aus dem Akteurskonzept aufgrund programmatischer kultur- und erziehungskritischer Setzungen ausgeklammert bleibt, kann als Nebenfolge auch nicht der Frage kritischer Entwicklungs- und Sozialisationstheorie nachgegangen werden, in welchen Sozialisationsumwelten die Fähigkeit zu autonomem und selbstgesteuertem Handeln hervorgebracht werden kann. Wie vielfach kritisiert wurde, leistet die Selbstständigkeitsideologie damit erzieherischem Disengagement und der Freisetzung aus der erzieherischen Verantwortung für die 83
Förderung kindlicher Persönlichkeitsentwicklung Vorschub (vgl. DOLLASE 1999; BAUER 2002; KRAPPMANN 2002; HERZBERG 2003). Bisher wurde produktive Selbstständigkeit aus einer entwicklungsbezogenen Perspektive thematisiert. Sie zeigt, dass der Gedanke der produktiven Selbstständigkeit nicht ausschließlich an gesellschaftlichen Verwertungslogiken orientiert sein darf und folglich die Eigenständigkeit des Selbst nicht gegen dessen soziale Abhängigkeit und Angewiesenheit ausspielen werden kann. Die Frage, was produktive Selbstständigkeit als normatives Sozialisationsziel und als anzustrebende Persönlichkeitsstruktur konkret bedeutet, wurde noch nicht geklärt. RÜLCKER (1990, S. 23ff.) verweist hier auf die Idee der ‚Mündigkeit’, d.h. auf die Fähigkeit zur Durchsetzung eigener Interessen sowie der Wahrnehmung und Erschließung von Handlungsspielräumen. Er orientiert dieses Verständnis von Selbstständigkeit an der Freiheit des Ichs, d.h. an der Realisierung eigenständigen Denkens und Lebens. Welches Persönlichkeitsmodell die Selbstständigkeit am besten zum Ausdruck bringt, ist strittig. Mit den Konzepten des ich-identischen und des dezentrierten Ichs wurden in Kapitel 4.3 zwei Identitätsparadigmen gegenübergestellt, die jeweils für sich beanspruchen, subjekttheoretische Perspektiven produktiver Selbstständigkeit aufzuzeigen und einander die Gültigkeit dieses Anspruchs streitig machen. Die Dimension produktiver Selbstständigkeit erster Konzeption liegt, wie gezeigt wurde, im Begriff der Autonomie. Ich-Identität gewinnt für NUNNER-WINKLER (1990, S. 675), „wer die Frage nach der eigenen Identität autonom stellt und beantwortet.“ Damit wird Autonomie als Kern von Identität bestimmt. Wer autonom die Frage stellt: „Wer bin ich und wer will ich für mich und andere sein?“, vollzieht einen Schritt zur solidarischen Selbststeuerung des Lebens, d.h. der Realisierung eines eigenen Stücks Lebens und Denkens. Diese Fähigkeit wird auch als „Selbsttechnokratisierung“ oder „biographische Rationalität“ bezeichnet. Diese Beschreibungen autonomer Identität verweisen auf einen kohärenten Lebensentwurf und einen stabilen Kern der Persönlichkeit. Das Modell der IchIdentität erklärt, wie ein einheitlicher Kern der Persönlichkeit unter den Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierung und Pluralisierung denkbar ist. Die mit der Entstehung des bürgerlichen Subjekts einsetzende Identitätsreflexion ist insofern konstitutiv mit gesellschaftlichen Pluralisierungsprozessen verbunden. Postmoderne Kritiker werten die Autonomie des Subjekts im aufklärerischen Verständnis indes als Scheinfreiheit, die vielmehr als eine funktionale Reaktion auf gesellschaftliche Rationalisierungsprozesse zu verstehen sei. Der Abbau direkter gesellschaftlicher Repressionen werde überführt in inneren Selbstzwang, der analog zur technischen Unterwerfung der äußeren Natur und ihren ökologischen Folgeproblemen zu Unterdrückung der inneren Natur, der menschlichen Neigungen und Gefühlen führt und als Folgewirkung in Abarten instrumentalistischer, gefühlskalter Rationalität ausarten kann. Die Dezentrierung des Subjekts in der Postmoderne wird demgegenüber als Freiheitsgestalt propagiert, insofern sie das Ich vor gesellschaftlichen Zugriffen bewahre und zur wirklichen und nicht durch Rationalisierung unterdrückten Anerkennung der innerlichen und äußerlichen Pluralität führe. Aus der Perspektive moderner Subjektphilosophie ist die Verbindung des Identitätsbegriffs mit Attributen wie ‚multiple’, ‚plural’ und ‚dezentriert’ nicht nur in etymologischer Hinsicht geradezu paradox. Wie ARMIN BERNHARD (1999, S. 269) erläutert, „dementieren (diese Attribute, E.D.) genau das, was den Identitätsbegriff erst konstituiert, was er inhaltlich zu seiner Voraussetzung hat: die 84
Entfaltung einer einheitlichen Persönlichkeit, die in Auseinandersetzung mit den heteronomen Zwängen der Gesellschaft permanent um diese Einheit zu ringen gezwungen ist.“ In der Entwicklung der neuzeitlichen Gesellschaft wird zwar deutlich, dass diese Bindung an Eigenständigkeit als Umwandlung von Fremdzwang in Selbstzwang zu begreifen ist. Identitätssicherung über die Internalisierung von Selbstzwang ist jedoch die Grundvoraussetzung der kulturellen Existenz des Menschen. Wie BERNHARD (ebd., S. 295) zeigt, übersehen postmoderne Kritiker des modernen Subjekt- und Identitätsbegriffs, dass mit Selbstzwang immer auch die Möglichkeit der emanzipativen Freisetzung des Subjekts in Sinne kompetenter Selbsttechnokratisierung des eigenen Lebens gegeben ist (produktive Selbstständigkeit). Entscheidend ist, wie sich Menschen mit dem gesellschaftlichen Imperativ zur Selbstständigkeit auseinander setzen, ob sie sich mit „flottierenden Identitätskernen“ funktional den „wechselseitigen Anforderungen der Gesellschaft flexibel anpassen“ oder ob sie im Sinne von Ich-Identität gesellschaftskritische „Widerständigkeit gegen die in den gesellschaftlichen Anforderungen liegenden irrationalen Zumutungen aufbauen (ebd.)“. Funktionalistisch ist der Bezug auf die Persönlichkeitsstruktur des pluralen Selbst insofern, als dass sie im postmodernen Theoriekontext gewissermaßen parallel verwendet wird zum Begriff der Rollenkonformität im Strukturfunktionalismus von TALCOTT PARSONS. Die Konvergenz dieser zunächst völlig heterogen erscheinenden Theorieansätze besteht in der gemeinsamen Frage nach gesellschaftlich angemessenen Persönlichkeitsstrukturen und Beziehungsmustern. Anders als der eher statische Gesellschaftsbegriff von PARSONS, der in Rollenkonformität ein erstes ordnendes Element der Sozialstruktur sieht, ist in postmodernen pluralistischen Gesellschaften ein Persönlichkeitstyp funktional, der dem pluralen, flexiblen und für Differenzwahrnehmung sensibilisierten Selbst entspricht. Problematisch an der postmodernen Subjekttheorie ist, dass sie die Flexibilität und Dividualität des Individuums nicht neutral als Erfordernis funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung beschreibt und kritisch reflektiert, sondern einseitig als Freiheitsgewinn ausweist (weiterführend zu dieser Kritik vgl. SENNETT 1998).
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Die Selbstständigkeit individualisierter Schulkindheit
Wie bisher gezeigt wurde, durchziehen den neueren Kindheitsdiskurs Bilder ‚selbstständiger Kindheit’. In den Hintergrund treten eher traditionelle und modernisierungskritische Muster der ‚Erziehungs- und Anleitungskindheit’. Die Semantik des individualisierten Kindes als selbstständiger Akteur in seiner Lebenswelt wurde als kultureller Ausdruck und als positive Lesart gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse gedeutet. Modernisierungskompatibilität von Kindern wird in verschiedenen Kompetenzen und Eigenschaften gesehen wie z.B. in ihrer Fähigkeit, eigene Bedürfnisse in Verhandlungen durchzusetzen, in ihrem Lerneifer und ihrer Lernfähigkeit, in ihrer aktiven Beziehungsgestaltung zu Erwachsenen oder zu anderen Kindern in eigenständigen so genannten Kinderkulturen. Diese modernisierungskompatiblen Kompetenzen gelten auch für das Jugendleben, wie etwa mit dem Paradigma der Selbstsozialisation hervorgehoben wird. In diesen Diskursen ändert sich auch die Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen in ihrer Rolle als Schüler. Wie WINTERHAGER-SCHMID (2002, S. 22) erläutert, „begegnet uns ein früh verselbstständigtes Kind, das mit den Angeboten institutionalisierter Pädagogik ebenso souverän umzugehen versteht, wie es die Konsummöglichkeiten und Medienangebote nach eigenem Geschmack für sich nutzen kann, ohne sich Beschränkungen durch Erwachsene aufzuerlegen." Dieser Wandel von Schulkindheit steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Gefragt wird, in welchem systematischen Zusammenhang die Institution Schule mit der Individualisierung von Kindheit und Jugend steht. Dazu ist es in einem ersten Schritt (Kap. 5.1) erforderlich, das Verhältnis von Kindheit, Jugend und Schule theoretisch näher zu beleuchten. Die drei folgenden Kapitel zeigen, dass Schule und Unterricht sowohl eine ‚aktive’ wie auch eine ‚reaktive’ Rolle im Individualisierungsprozess von Kindheit und Jugend beigemessen wird. Zunächst (Kap. 5.2) wird aus der Sicht der historischen Bildungssystemforschung gezeigt, dass das Bildungswachstum der Moderne Individualisierung maßgeblich strukturell befördert. In den weiteren Abschnitten wird erläutert, wie (Kap. 5.3) schulpädagogisch auf Individualisierung von Kindheit und Jugend reagiert wird und wie (Kap. 5.4) in diesem Zusammenhang Selbstständigkeit lehr-lerntheoretisch gefördert wird.
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5.1
Sozialhistorische und pädagogisch-theoriegeschichtliche Reflexionen zum Verhältnis von Kindheit, Jugend und Schule
Die Institution Schule ist konstitutiv für die Etablierung von Kindheit und Jugend als soziale Lebensphasen. Erst durch die historische Ausdifferenzierung des Bildungssystems als eigenständiger Kulturbereich konnte ein Schonraum für das Reifen und Lernen von Kindern schichtübergreifend institutionalisiert werden. Diese strukturelle Bedeutung von Schule ist vor allem daran zu erkennen, dass sich Kindheit und Jugend im Zuge des Bildungswachstums in der Moderne zeitlich verlängern. In der Weimarer Republik war die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen zwischen dem sechzehnten und dem zwanzigsten Lebensjahr bereits berufstätig. War noch in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts für einen Großteil der Mädchen und Jungen die Schulzeit mit vierzehn Jahren beendet, so ist dieses in den 90er Jahren erst bei den 16-17jährigen der Fall, wobei auch noch viele 18jährige allgemein bildende Schulen besuchen. Parallel zur Zunahme der lebensgeschichtlichen Schulverweildauer kam es auch zu einer alltäglichen Ausdehnung der Schulzeit u.a. durch die Erhöhung der Unterrichtszeit, durch schulische Fahrt- und Wartezeiten, ein erhöhtes Hausaufgabenpensum und Verschulungstendenzen im Freizeitbereich (vgl. MELZER/HURRELMANN 1990). Insgesamt kommt der Schule eine immer größere Bedeutung im Leben der Heranwachsenden zu. Scholarisierung bildet somit – neben der Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie und der Freisetzung der Heranwachsenden aus den Zwängen der Erwerbsarbeit – aus sozialhistorischer Sicht die strukturelle Grundlage für die Entstehung von Kindheit und Jugend als soziale Lebensphasen (vgl. ARIÈS 1978; HONIG 1999, S. 92; MIERENDORF/OLK 2002, S. 125). Infolgedessen trug die Organisationsstruktur der Schule in entscheidendem Maße zur Konstituierung des pädagogischen Generationenverhältnisses bei. Hierzu ist bei WINTERHAGER-SCHMID (2000, S. 20) zu lesen: „Mit ihrer Kohortenformierung in Jahrgangsklassen, mit der kollektiven Zusammenfassung von Altersgleichen und Herkunftsähnlichen an öffentlichen Orten der Erziehung und Bildung betonte die Institution Schule – wesentlich deutlicher als die Familie – Unterschiede in den Altersrollen Kindheit, Jugend und Erwachsenensein als Ausdruck eines ‚Reife’- und Kompetenzgefälles. Schule als Lern- und Lehrort wurde in der Moderne die soziale Organisationsform, deren Existenzberechtigung auf der Tatsache der kulturellen Differenz von Altersungleichen aufbaute.“ Die begriffliche Unterscheidung von ‚Kindheit’ und ‚Schulkindheit’ deutet hingegen auf eine Differenz zwischen Kindheit, Jugend und Schule hin. Aus theoriegeschichtlicher und systematischer Sicht kann rekonstruiert werden, dass Kindheit, Jugend und Schule seit Beginn pädagogischer Reflexionen in einem schwierigen Spannungsverhältnis zueinander gesehen werden (vgl. OELKERS 1989; GIESECKE 1998). Nicht zuletzt ist es der Kindheit erst konstituierende Aspekt der generationalen Bezogenheit von Heranwachsenden, den Schulkritik im Namen einer Pädagogik vom Kinde aus problematisiert. Der Widerspruch zwischen Kindheit und Schule wird in der Ambivalenz von unmittelbaren kindlichen Bedürfnissen, Interessen und Selbstentfaltungsbestrebungen in ihrer Eigenwelt (Gegenwartsorientierung) und den an sie gestellten gesellschaftlichen Reproduktionsaufgaben (Zukunftsorientierung) gesehen.
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Um das Verhältnis von Kindheit und Schule näher zu ergründen, ist es erforderlich, diese Dialektik von Schule als einerseits Konstitutivum von und andererseits Widerspruch zu Kindheit näher zu betrachten. Im Folgenden werden daher sozialstrukturelle Überlegungen der historischen Kindheitsforschung in einen Zusammenhang gestellt mit Perspektiven der Schulkritik. Zunächst sollen diese Perspektiven getrennt voneinander gehalten und präzisiert werden, bevor anschließend eine Vermittlung sozialhistorischer und theoriegeschichtlicher Zugriffe versucht wird. Diese grundlegende Verhältnisbestimmung soll ermöglichen, den Einfluss der Schule auf die Individualisierungsdynamik von Kindheit und Jugend näher zu bestimmen. Wie bereits dargelegt, spielt aus sozialgeschichtlicher Sicht die gesellschaftliche Institutionalisierung des Lernens in Schulen eine wichtige Rolle in der Modernisierungsgeschichte von Kindheit und Jugend. Der theoretische Hintergrund dieses Zugriffs besteht in der bereits in Kapitel 2 eingeführten Unterscheidung von Kindheit als biologischer und als sozialer Tatsache. Pädagogische Anthropologie thematisiert diesen biologischen und sozialen Aspekt von Kindsein im Besonderen und Menschsein im Allgemeinen, indem sie den Menschen als Lern- und als Kulturwesen bestimmt. So verdeutlicht etwa HEINRICH ROTH (1966, S. 166) diesen Verweisungszusammenhang, indem er schreibt, „ob der (sc. biologische) Mangel (sc. Instinktarmut) oder der Reichtum des Menschen (sc. Lernfähigkeit) zum anthropologischen Ausgangspunkt genommen wird, was seine Mängel ausmacht, ist gleichzeitig sein Reichtum: die Kehrseite seiner Lern- und Erziehungsbedürftigkeit ist seine unendliche Lern- und Erziehungsfähigkeit.“ Pädagogen sprechen in diesem Zusammenhang in Anlehnung an JOHANN GOTTLIEB FICHTE und JOHANN FRIEDRICH HERBART von der ‚Bildsamkeit’ des Menschen, d.h. seiner Fülle von Anlagen und Potentialen, die zum Großteil nicht aus sich selbst heraus reifen, sondern sich in aktiver Auseinandersetzung mit seiner kulturell geschaffenen und gewordenen sozialen und materiellen Umwelt entfalten. Folglich ist die pädagogische Grundstruktur dem Umstand geschuldet, dass Menschen der Einführung in Kultur bedürfen, um ihre individuellen Anlagen entwickeln zu können. Die hier in Rede gestellte Individuation des Menschen erfordert als Gegenstück die Reproduktion der kulturellen und sozialen Umwelt durch die Weitergabe von Kenntnissen, Fertigkeiten und Kompetenzen an immer wieder neue Generationen. Pädagogik als Lernhilfe und Initiation in Kultur ist aus dieser Sicht eine kulturelle Praxis, die konstitutiv zum Menschsein dazugehört. Insofern kann Kindheit als biologische Zeit des Lernens und der Entwicklung begriffen werden, denn der Mensch muss, wie die Anthropologie lehrt, zu seinem Überleben in kulturelle Wissens-, Sinn- und Deutungssysteme eingeführt werden. Das Hineinwachsen in Kultur geschieht in vormodernen Gesellschaften für den Großteil der Kinder beiläufig und unbewusst durch den gemeinsamen Lebensvollzug mit Erwachsenen. Erst in der Moderne hat sich durch die Pluralisierung von Wissens- und Sinnbeständen ein Schul- und Bildungssystem ausdifferenziert, das Heranwachsende systematisch in Kultur einführt und die Lern- und Entwicklungszeit ‚Kindheit’ als soziale Lebensphase im Kontext einer lebenszeitlichen, leiblich und kulturellen Generationendifferenz institutionalisiert. Begreift man Kindheit und Jugend in diesem Sinne als „Summe der Reaktion der ‚aufgeklärten’ europäischen Gesellschaften auf die Entwicklungstatsache“ (ZINNECKER 2000b, S. 36), dann ist Schule ein zentraler Faktor für die Konstituierung dieser sozialen Lebenspha-
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sen. Der Terminus ‚Schulkindheit’ steht dieser Lesart zufolge in einem Verweisungszusammenhang mit dem Begriff ‚Kindheit’. Mit der sozialstrukturellen Ausdifferenzierung von Kindheit lässt sich ein zunehmendes kulturelles Interesse für die Eigenheit und Besonderheit kindlicher Weltaneignung konstatieren. So wurde die Expansion wissenschaftlicher Kinderforschung, deren Ergebnisse das Bild vom Kind schärfen und die zur Kritik an Schulpraxis herangezogen werden, erst durch die funktional-strukturelle Ausdifferenzierung organisierter Bildung in pädagogischen Moratorien möglich. Der Wachstumsschub des Bildungssystems Anfang des 20. Jahrhundert ist für HELGA KELLE (2005) die strukturelle Ursache für das ausgeprägte wissenschaftliche Interesse an Kindheit zu dieser Zeit. Dazu schreibt die Autorin: „Nicht nur ist also historisch die Institutionalisierung der Kindheit als solche nicht von der Etablierung der Schulkindheit zu trennen. Auch erscheint eine Ausweitung der wissenschaftlichen Forschung, die ganz allgemein dem Gegenstand ‚Kindheit’ und Kindern gilt, erst mit der gesellschaftlichen Ausbreitung des sozialen Phänomens plausibel, dass ‚man’ eine Kindheit hat“ (KELLE 2005, S. 140). Die wissenschaftliche Erforschung der Kindheit wurde zudem direkt gestützt durch die Professionalisierungsstrategie der pädagogischen Berufe Anfang des 20. Jahrhunderts, die ihre Autonomiebestrebungen mit der Programmformel von Pädagogik als Anwaltschaft für Kinder begründeten. Damit wurde eine „Allianz zwischen pädagogischer Profession und Wissenschaft“ grundgelegt, insofern Pädagogen sich als Anwälte für Kinder und mithin als Experten für kindliche Eigenwelten deuteten und das dazu notwendige Wissen aus den aufstrebenden Kindheitswissenschaften bezogen (GIESECKE 1996). Konträr zu diesem sozialgeschichtlichen Zugriff durchzieht die Geschichte pädagogischer Theoriebildung die Konstatierung eines Gegensatzes von Kindheit, Jugend und Schule. Hier wird das – durch die sukzessive Inklusion aller Heranwachsenden in das Bildungssystem institutionell verankerte und dadurch schichtenübergreifend generalisierte – Konzept von Kindheit als Lern- und Entwicklungszeit in einer generationalen Ordnung als Kritik auf pädagogischen Institutionen rückbezogen. Kindheit wird als etwas von der Schule ‚Getrenntes’ und ihr gegenüber ‚Fremdes’ wahrgenommen. Kernthema der Kritik ist der Verweis auf die mangelnde Passung zwischen den Anlagen, Fähigkeiten, Begabungen, Interessen, Lebenswelten und kulturellen Orientierungen der Heranwachsenden und den Anforderungen schulischen Lernens. Mit der Trennung von Kindsein und Schülersein wird, wie BURKHARD FUHS deutlich macht, eine bipolare kindliche Lebenswelt konstruiert: „Die Schulwelt als ernste, Lebenslauf bestimmende Lernwelt steht einer Kindheit gegenüber, die als frei und glücklich gedacht wird“ (FUHS 2005, S. 164). Gespeist wird diese Kritik vor allem durch Ergebnisse der sich ausdifferenzierenden und von genuin pädagogischen Fragestellungen emanzipierenden Kindheitsforschung. Die Polarisierung von Kindsein und Schülersein findet insofern auf wissenschaftssystematischer Ebene ihre Entsprechung in der Ausdifferenzierung der voneinander getrennten Disziplinen Schulforschung und Kindheitsforschung. Einen Höhepunkt erreichte die Konstruktion des Dualismus von Kindsein und Schülersein in der Schulkritik der pädagogischen Bewegung Anfang letzten Jahrhunderts. So schreibt etwa die schwedische Reformpädagogin ELLEN KEY in einer Abhandlung über „Seelenmorde in den Schulen“: 90
„Der Schule der Jetztzeit ist etwas gelungen, das nach den Naturgesetzen unmöglich sein soll: die Vernichtung eines einmal vorhanden gewesenen Stoffes. Der Kenntnisdrang, die Selbstthätigkeit und die Beobachtungsgabe, die Kinder dorthin mitbringen, sind nach Schluß der Schulzeit in der Regel verschwunden, ohne sich in Kenntnisse oder Interessen umgesetzt zu haben.“ (KEY 1902/1978, S. 95)
Kern der Schulkritik in der Tradition reformpädagogischen Denkens ist die klare Gegenüberstellung von Schule und Kindheit und mithin von Kindheit als biologischer und als sozialer Tatsache. Unterricht, der nicht auf die Individualität der kindlichen Entwicklung eingeht, entspreche einem „Seelenmord“. Pädagogen, die nicht vom Kinde, d.h. von seiner Individualität aus unterrichten, erziehen und bilden, sondern instruktions- und institutionslogisch handeln, kommen KEY zufolge „Seelenmördern“ gleich. Für JÜRGEN OELKERS (1989, S. 9f.) wird hier eine „antiinstitutionelle Haltung“ vertreten, insofern sich diese radikale Formulierung einer ‚Pädagogik vom Kinde aus’ in keinem vorstellbaren institutionellen Modell von Schule realisieren lässt. Das zeigt sich daran, dass nicht die Anpassung der Kinder an die Anforderungen schulischen Lernens, sondern einseitig die Anpassung der Schule an die Eigenheit der Kinder den Kern reformpädagogischer Ambitionen bildet. Die Individualität des Kindes wird gegen die ausschließlich negativ als „Lernfabrik“ wahrgenommene Institution Schule gewendet. Diese antiinstitutionelle Haltung zeigt sich auch in der Verbindung der reformpädagogischen Programmformel ‚vom Kinde aus’ mit der Klage über die sich angeblich stetig vergrößernde Distanz zwischen der ‚künstlichen’ Schule und dem ‚wirklichen’ Leben. Auf diese als Problem wahrgenommene Trennung wird in klassischen wie auch in aktuellen reformpädagogischen Diskursen mit dem Ruf nach mehr Lebensweltorientierung, Anwendungsbezug und Kindorientierung durch Öffnung von Schule und Unterricht geantwortet (vgl. WALLRABENSTEIN 2001). Aufgrund der Kontinuität der vorgebrachten Forderungen des pädagogischen Reformdiskurses im 20. Jahrhundert spricht JÖRG RAMSEGER (1993) „vom wiederkehrenden Streit zwischen Reformpädagogik und Herbartianismus“. Wie der Grundschulpädagoge GÜNTHER SCHORCH (1998, S. 27) erläutert, ist „Kindgemäßheit“ ein normativer und präskriptiver Begriff, der in der schulpädagogischen Systematik „ein allgemein-didaktisches Prinzip“ bezeichnet, das „im Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Sach- bzw. Fachgemäßheit steht.“ Alle Konzeptualisierungen reformädagogischen Unterrichts stimmen darin überein, dass sie die Eigenwelten und die Ansprüche der Kinder vor den aus der Sache resultierenden Ansprüchen auf Objektivität und Systematik betonen. Ein Blick auf die Geschichte schulpädagogischen Denkens zeigt, dass die theoretischen Hintergründe des reformpädagogischen Prinzips ‚Kindgemäßheit’ historisch variieren. Zur geschichtlichen Kontingenz seiner theoretischen Legitimationen schreibt P. HELBIG: „In der Regel wird kaum Rechenschaft darüber abgelegt, was genau ‚am’ oder ‚im’ Kind welche Forderungen und Ansprüche rechtfertigt, welche sozusagen ‚allgemein-kindliche’, quasi ‚natürliche’ Wesensart oder Lebensweise ‚dem Kind’ unterstellt wird. Es macht offenbar den Gebrauchswert des Topos ‚Kindorientierung’ aus, als Leerformel relativ beliebig interpretiert und somit durchaus unterschiedlichen, heterogenen, ggf. sogar gegenläufigen Auffassungen und Intentionen unterlegt werden zu können“ (HELBIG 1994, S. 2; zit. nach SCHORCH 1998, S. 27). Es würde an dieser Stelle zu weit führen, einen systematischen Überblick über die in der Schulpädagogik verwendeten Kindheitskonstruktionen als Leitlinien von Kindgemäß91
heit zu geben (vgl. dazu SCHORCH 1998). Es soll daher ausreichen, auf einen grundlegenden Wandel in der Forschung und Theoriebildung aufmerksam zu machen. Nicht mehr reifungstheoretische Entwicklungskonzepte, wie in der klassischen Reformpädagogik Anfang des letzten Jahrhunderts, sondern Ergebnisse der in Kapitel 4 diskutierten modernisierungstheoretischen Kindheitsforschung werden seit Mitte der 80er Jahre zur Begründung einer vom Kinde ausgehenden Pädagogik herangezogen, wobei der Bundesgrundschulkongress 1989 über „Kindheit heute – Herausforderung für die Schule“ als äußeres symbolisches Ereignis dieser Neuausrichtung betrachtet wird (FAUST-SIEHL u.a. 1990). Im vorigen Kapitel wurde herausgearbeitet, dass Kern des Modernisierungsparadigmas ein Individualisierungsdiskurs ist, der in sozialwissenschaftlichen, sozialphilosophischen und biowissenschaftlichen Perspektiven der neueren Kindheits- und Sozialisationsforschung entfaltet wird. Insbesondere im Kontext der darin eingelagerten zeitgeschichtlich diagnostizierten und normativ geforderten Selbstständigkeit wird die Diskussion um das Spannungsverhältnis zwischen Heranwachsenden und Schule in der Schulpädagogik und Didaktik virulent. Als Beispiel sei mit dem Zehnten Kinder- und Jugendbericht auf ein wichtiges Dokument aktueller Forschung und Politik für Kinder verwiesen. Hier wird vor dem Hintergrund der Modernisierung von Kindheit die Antiquiertheit der tradierten Auffassung der Schülerrolle postuliert: „Schule muß nach neuen Wegen suchen, auf die Modernisierungsfolgen zu reagieren. Die gestiegene Erwartung von Kindern an einen selbst verantworteten Lebensstil paßt offenbar immer weniger zu den traditionellen Vorstellungen von der Schülerrolle“ (BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIEN, FRAUEN, SENIOREN UND JUGEND 1998a). Kindheit und Schulkindheit stehen dieser Argumentation zufolge in Differenz. Veränderte Kindheit zeige sich in einem Wandel von der Unterordnung zu einem „selbstverantworteten Lebensstil“. Schule wird in diesem Prozess eine reaktive Rolle zugeschrieben. Schulpädagogik und Didaktik haben auf den Wandel von Kindheit zu reagieren, indem nun nachfolgend auch in Unterrichtstheorien Schulkindheit als „selbstverantworteter Lebensstil“ begriffen und mithin die Differenz von Kindern und Erwachsenen im pädagogischen Generationenverhältnis abgebaut werden soll. Eine ähnliche Position vertreten IMBKE BEHNKEN und OLGA JAUMANN in der Einleitung zu ihrem Band „Kindheit und Schule“: „Kindheit und Grundschule, Kinder und ihre LehrerInnen stehen in den 90er Jahren vor bedeutsamen Wandlungen, die miteinander verschränkt sind: Eine neue – moderne, postmoderne – Kindergeneration wächst heran, die in der alten Grundschule schlecht aufgehoben ist und die das ihre LehrerInnen spüren lässt. Die eingespielte Passung zwischen Kindheit und Schule scheint zu zerbrechen“ (BEHNKEN/JAUMANN 1995, S. 7). Folgt man OELKERS und HELBIG, die Kindgemäßheit als „antiinstitutionelle Haltung“ bzw. als nicht operationalisierbare „Leerformel“ kennzeichnen, stellt sich die Frage, ob diese Passung tatsächlich jemals bestanden hat und überhaupt als Ziel anzustreben ist. Auch wenn sich die Kindheitskonstruktionen in aktuellen Reformdiskursen gewandelt haben, die daraus geschlussfolgerten didaktischen Konsequenzen schließen an bekannte Themen pädagogischer Reformsemantik an: „Erfahrungsoffener Unterricht – Soziales Lernen – Lebensnaher Unterricht“ (SCHMITT 1999, S. 13). Nicht reflektiert und gewürdigt wird in diesen Diskursen über die Öffnung von Schule und Unterricht und über Lernen in ‚authentischen’ Lebenssituationen das soziale Privileg einer von den Zwängen des außerschu-
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lischen Lebens getrennten Schule wie auch die Tatsache, dass Scholarisierung den strukturellen Kern der Ausdifferenzierung von Kindheit als sozialer Lebensphase bildet. Halten wir fest: Parallel zur Institutionalisierung von Kindheit als sozialer Lebensphase durch Scholarisierung und zur Expansion wissenschaftlicher Forschung über Kindheit und Kinder breitete sich eine reformpädagogische Schulkritik aus, die auf die mangelnde Passung einer vom Leben und der Eigenart von Kindern getrennten Schule rekurriert. Die Etablierung von Kindheit als sozialer Lebensphase, die kulturelle Genese der pädagogischen Leitvorstellung ‚Kindgemäßheit’ und der Beginn einer kontinuierlichen Schulkritik fallen zusammen. Angesichts der Verwobenheit dieser Prozesse ist eine eindimensionale Deduktion schulpädagogischer Konsequenzen aus dem außerschulisch lokalisierten Wandel von Kindheit nicht nur aus logischer Sicht problematisch (‚naturalistischer Fehlschluss’), sondern auch eine verkürzte Problemsicht. Mit in die Reflexionen einbezogen werden muss der Beitrag öffentlicher Erziehung auf den Wandel der Kindheit, der eine systematische Kooperation der Disziplinen Kindheits- und Jugendforschung und Schulpädagogik erforderlich macht (vgl. BREIDENSTEIN/PRENGEL 2005; PANAGIOTOPOULOU/BRÜGELMANN 2003). HELGA ZEIHER (1996) kennzeichnet diesen Beitrag als Spannungsprozess von Expansion und Erosion der Kindheit als soziales Moratorium. Expansion ist zeitlich bezogen auf die Ausdehnung im Lebenslauf zu verstehen wie auch struktur-funktional bezogen auf die Verteilung von Lebenschancen angesichts der Selektions- und Qualifikationsfunktion von Schule. Zugleich führt die strukturelle Ausdifferenzierung und funktionale Spezialisierung des öffentlichen Bildungssystems in unterschiedlichste Schulformen wie auch die Diversifikation privater Bildungs- und Freizeitangebote zu einer Fragmentasierung des kindlichen Lebenszusammenhangs und mithin zu einer Minderung der Sozialisationseinflüsse einzelner Bildungsräume. Bezogen auf die Begriffe Individualisierung und Selbstständigkeit, die derzeit bevorzugt zur Charakterisierung von Kindheit und Jugend herangezogen werden und im Zentrum dieser Arbeit stehen, ist zu konstatieren, dass äußere Differenzierung des Bildungssystems und innere Differenzierung des Unterrichts sich nicht nur durch gesellschaftliche Individualisierungsprozesse begründen, sondern selbst zur Individualisierung beitragen (vgl. KELLE 2005, S. 156). Der Gegenstand dieses Kapitels, die „Selbstständigkeit individualisierter Schulkindheit“, muss folglich multiperspektivisch erschlossen werden. Zunächst werden die innere und äußere Differenzierung des Bildungssystems als strukturelle Bedingungen der Individualisierung von Kindheit gedeutet. Individualisierung erscheint aus dieser Sicht der historischen Bildungssystemforschung als eine funktionale Konsequenz des modernen Bildungswachstums. Kindheit kann in diesem Zusammenhang mit FUHS (2005, S. 171) als „gesellschaftliche Konstruktion der Lebenswelt, in der Kinder aufwachsen“ verstanden werden. Aus dieser Sicht „wären Schule und Kindheit keineswegs zu trennen. Schule und Schulforschung müssen [...] als originäre Kinderforschung verstanden werden.“ Die daran anschließend zu rekonstruierende reformpädagogische Perspektive der Schulpädagogik, welche Kindsein und Schulkindheit stärker trennt und Individualisierung als neuen reformpädagogischen Maßstab einer ‚Pädagogik vom Kinde aus’ begreift, wird als intentionale Forcierung der Individualisierung von Kindheit verstanden. Während in schulpädagogischen Zusammenhängen der Frage nachgegangen wird, wie Schule auf Individualisierung reagiert, konzentrieren sich die abschließend diskutierten methodisch-didaktischen Perspektiven auf das Problem, wie Selbstständigkeit ange93
sichts gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse im schulischen Unterricht gefördert werden kann. Mit der Zusammenschau dieser Perspektiven wird versucht, dem vielschichtigen Sachverhalt nahe zu kommen, dass Schule zum einen funktional zur Individualisierung von Kindheit beiträgt, zum anderen in Schulpädagogik und Didaktik intentional auf Individualisierungstendenzen des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens von Heranwachsenden reagiert wird. Die Integration der Perspektiven ist mit dem Plädoyer verbunden, weder Schulkindheit und Kindheit bipolar voneinander zu trennen noch gleichzusetzen, sondern als unauflösbares sozialanthropologisch bedingtes Spannungsverhältnis des institutionenbedürftigen Menschen zu begreifen. Der Institutionalisierung als Bedingung der Ausdifferenzierung sozialer Lebensphasen entspricht auf der Kehrseite das Passungsproblem von Mensch und Institution.
5.2
Schule und Unterricht als Individualisierungsfaktoren aus der Sicht der historischen Bildungssystemforschung
Schule ist eine Institution gesellschaftlich veranstalteter Sozialisation, die aus struktursoziologischer Sicht der Bearbeitung von drei zentralen gesellschaftlichen Problemen dient: (1) der „Reproduktion kultureller Systeme“ durch Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten, (2) der „Reproduktion der Sozialstruktur der Gesellschaft“ durch Selektion sowie (3) der „gesellschaftlichen Integration“ der Subjekte durch die Reproduktion kultureller Werte, Normen, Sinnbestände und Deutungsmuster (FEND 1980, S. 235f.). Öffnet man das Zeitfenster und ergänzt die struktursoziologische Momentaufnahme um eine Evolutionstheorie, dann werden zeitgeschichtliche Veränderungen dieser gesellschaftlichen Funktionen der Schule erkennbar. Das Interesse dieses Kapitels richtet sich auf die historische Entwicklung der schulischen Selektion. Wie AXEL NATH (2003) erläutert, ist das Bildungswachstum der Moderne durch die Öffnung der schulischen Selektionsfunktion gekennzeichnet, die als wichtige Triebkraft gesellschaftlicher Individualisierung, insbesondere der Individualisierung von Kindheit und Jugend, gedeutet werden kann. Individualisierung hat auch in diesem Kontext eine sozialstrukturelle und eine kulturelle Dimension (vgl. Kap. 3.2). Die strukturelle Grundlage der Individualisierung der Bildungskarrieren besteht in der Differenzierung der Schulstruktur in eine Vielfalt unterschiedlicher Schulformen. Der Motor dieser Entwicklung ist die Expansion des Bildungssystems in der Moderne. NATH (2003. S. 8) zufolge verlief diese „in Preußen und in der alten Bundesrepublik in den letzten 200 Jahren in vier regelmäßigen Schüben der relativen Bildungsbeteiligung, denen jeweils Stagnationsphasen folgten“. Expansion vollzieht sich durch die Öffnung der Selektionsfunktion, die als Übergang von der ‚Auslese qua Geburt’ zur modernen ‚Bildungsselektion’ beschreibbar ist. Diese strukturellen Veränderungen führten dazu, dass Bildungskarrieren kultursoziologisch zunehmend als Wahlentscheidungen mit Chancen und Risiken interpretiert werden können. Es gibt für die Schullaufbahnen keine regional- und milieuspezifischen Selbstverständlichkeiten mehr. Vielmehr ist individuell zu entscheiden, welche Bildungswege an welchen Schulen eingeschlagen werden. Dabei ist nicht nur an die Unterschiedlichkeit der Schulformen im gegliederten Schulsys94
tem zu denken, sondern auch an die Differenz der Einzelschulen mit ihrem je spezifischen Profil, ihrem Ruf und ihrer Schulkultur. Die Öffnung der schulischen Selektionsfunktion als Beförderung von Individualisierung zeigt sich sowohl auf der Ebene äußerer Schulreformen als auch in schulpädagogischen Diskursen über die Reform von Unterricht. Beide Aspekte seien im Folgenden thematisiert. Bis ins ausgehende 18. Jahrhundert waren der Ausschluss von und die Partizipation an höherer Bildung abhängig von der sozialen Platzierung in der ständisch-hierarchisch gegliederten Gesellschaftsstruktur. Die geschlossene ständische Gesellschaftsform mit dem Bildungsmonopol der höheren Stände wurde naturrechtlich und ontologisch legitimiert. Die stratifikatorische Gesellschaftsordnung galt als göttlich festgelegte Seinsordnung. In diesem Zusammenhang wurde auch Bildungsfähigkeit als Korrelat sozialer Positionierung aufgefasst. Eingelassen in die ontologisch manifestierte geschlossene Gesellschafts- und Naturdeutung war somit ein statisch-anlageorientierter Begabungsbegriff, der soziale Ungleichheit genetisch legitimiert, mit FOUCAULT ausgedrückt: gewissermaßen in die Körper einschreibt. Die Zuweisung gesellschaftlicher Positionen erfolgte somit vorgeblich natürlich qua Geburt. Diese Exklusion breiter Bevölkerungsanteile von höherer Bildung wurde im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung dysfunktional und mithin politisch nicht mehr legitimierbar. Funktionale Differenzierung als Strukturierungsform der Moderne basiert sowohl funktionell als auch legitimatorisch auf universellen Inklusionsangeboten. Wie PARSONS und LUHMANN hervorheben, ist Inklusion ein normatives Prinzip der Moderne. Es resultiert aus der Verknüpfung von Gleichheits- und Fortschrittsidee (SCHIMANK 2005, S. 242). So war bereits in der Bildungsdiskussion des Vormärz der Ausschluss von Söhnen unterer Schichten von höherer Bildung aufgrund der Legitimationsschwäche der Sonderrechte der Stände nicht mehr vertretbar. Seitdem konnten sich mehr und mehr Heranwachsende am Bildungssystem, insbesondere auch an höherer Bildung, beteiligen. Die Freisetzung aus ständischer Gebundenheit und der Übergang in ein allgemeines Staatsbürgertum bilden die Voraussetzung für die Etablierung der Bildungsselektion und des Bildungs- und Aufstiegsstrebens des 19. und 20. Jahrhunderts. RUDOLF STICHWEH (1988, S. 287) bezeichnet „Nation“ als erfolgreichsten Inklusionsbegriff der Moderne. Durch die Ausbildung der Staatsidee in 19. Jahrhundert werden Sonderrechte einzelner sozialer Schichten und Gruppen zu Disprivilegierungen der Nation, sie sind also inklusionswidrig und daher nicht mehr tragbar. Mithin lässt sich auch ein kultureller Wandel in der Wahrnehmung des gesellschaftlichen Akademikerbedarfs konstatieren. HARTMUT TITZE erläutert, dass die zunehmende Studenten- und Schülerzahl erstmals nicht wie noch im 18. Jahrhundert als „Störung des Gleichgewichts der Stände“ wahrgenommen wurde. Der Akademikerbedarf wurde nicht mehr als statische, sondern als dynamische, zeitgeschichtlich variierende Größe begriffen (TITZE 1996, S. 391). Fasst man die hier angesprochenen strukturellen und kulturellen Hintergründe des Bildungswachstums zusammen, kann Modernisierung rekonstruiert werden als Abbau der Exklusion weiter Bevölkerungsteile von (höherer) Bildung, als Übergang von der natürlichen Auslese zur modernen Bildungsselektion. Im Unterschied zur natürlichen Auslese erfolgt Vergesellschaftung durch Bildungsselektion nicht durch funktionale Erziehung zum ständisch verorteten „Gruppenselbst“, sondern durch die Beförderung persönlicher Bildung. Wie TITZE erläutert, versetzt die durch Bildungsselektion möglich gewordene reflexiv-symbolische Aneignung von Kultur die Heranwachsenden in ein dis95
tanziertes Verhältnis zur Tradition. Damit werden die Konstituierung einer Differenz zwischen den Generationen und ein individualisierter Lebenslauf befördert (TITZE 2005, S. 164f.). Nicht zufällig ist es also die gebildete Jugend, die sich in der emanzipatorischen Jugendbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts im Sinne KARL MANNHEIMs als „Generation“ deutete und „nicht Stand oder Klasse, sondern sich selbst als Bezugsgruppe (wählte): nicht die Erfahrungen früherer Generationen zählten, sondern das eigene Lebensgefühl, die eigene Erfahrung.“ Individualisierungsbestrebungen zeigen sich darin, „dass diese Jugendgeneration ein Gegenprogramm zum sich langsam auflösenden kulturellen Normalentwurf der ständischen Gesellschaft zu verwirklichen“ suchte (ebd., S. 12). Zeitlich grenzt NATH (2003, S. 15) den Übergang von der Selektion qua Geburt zur modernen Bildungsauslese in den Jahrzehnten zwischen 1780-1830 ein, der ersten Periode einer Reihe von Wellen des Bildungswachstums. Seitdem ist ein Prozess der Expansion des Bildungssystems zu beobachten, der sich bislang in vier ziemlich lang anhaltenden Wachstumsschüben der relativen Beteiligung an differenzierten, berechtigenden Schulen und Universitäten vollzogen hat, denen dann jeweils Stagnationsphasen folgten. NATH (2000, S. 65) bezeichnet diesen Trend zur Öffnung der Bildungsselektion als „Indikator für die Modernisierung“, weil auch in den Stagnationsphasen, die den Wachstumsphasen folgen, die Bildungsbeteiligung in etwa erhalten bleibt. Während im 19. Jahrhundert besonders die Volksschule durch das Bildungswachstum und die fast vollständige Erfüllung der Schulpflicht profitierte, waren die Bildungswachstumsschübe des 20. Jahrhunderts ausschließlich jene der weiterführenden Schulen, die relative Volksschulbeteiligung ging drastisch zurück. Was die Teilhabe von Kindern aus bildungsfernen Sozialmilieus an höherer Bildung anbelangt, so lässt sich ein Trend der sukzessiven Inklusion in das höhere Bildungssystem feststellen. In Bezug auf die sozialspezifische Beteiligung beim Abitur konstatiert NATH (ebd., S. 75), dass der Anteil der Akademikerkinder in der letzten 200 Jahren der Bildungsöffnung von drei Vierteln auf etwa ein Viertel gefallen ist. Demgegenüber haben die Wachstumsschübe des Bildungswesens die Kinder der anderen Sozialschichten schrittweise in das höhere Bildungswesen inkludiert. Vom ersten Wachstumsschub zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnten vor allem die Söhne des Wirtschaftsbürgertums profitieren, vom zweiten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Söhne der kleinen und mittleren Gewerbetreibenden. Der Wachstumsschub Anfang des 20. Jahrhunderts führte dann zur Inklusion der Söhne der mittleren und unteren Beamten und vom letzten Wachstumsschub in den 60er/70er Jahren profitierten schließlich auch die Mädchen und die Arbeiterkinder. Nochmals hervorzuheben ist, dass die Öffnung der Bildungsselektion nur auf Wachstum und nicht auf Umverteilung basiert. Das bedeutet, dass Frauen und Arbeiterkindern Zugang zu höherer Bildung gewährt wird, ohne dass dafür im Gegenzug junge Männer aus der Oberschicht weichen mussten. Analysen sozialer Ungleichheit konstatieren daher, dass „das sozialintegrative Problem, das die Ungleichheit sozialer Lagen in der modernen Gesellschaft schafft, [...] gleichsam in einer Flucht nach vorn bewältigt (wird): durch Wachstum der Leistungsproduktion in den betreffenden Teilsystemen, was (angesichts des normativen Inklusionspostulats der Moderne, E.D.) eine partielle Befriedigung der Ansprüche der Schlechtergestellten ohne Leistungseinbußen auf Seiten der Bessergestellten ermöglicht“ (SCHIMANK 2005, S. 249).
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Der letzte Wachstumsschub wurde von einer intensiven Bildungsreformdiskussion begleitet, deren ideengeschichtlicher Kern im Wandel des Begabungskonzepts liegt. Autoren wie GEORG PICHT (1964) und RALF DAHRENDORF (1965) attackierten die schichtenspezifische Begabungsverteilung der Kinder im dreigliedrigen Schulsystem. Sie setzen sich für die Mobilisierung von Begabungsreserven ein, also für die Diagnose und Förderung der in unteren Sozialschichten vielfach verkannten Begabungen. Für einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Begabungstheorie von statisch-anlageorientierten zu dynamischumweltbezogenen Konzepten machte sich der Göttinger Erziehungswissenschaftler HEINRICH ROTH (1969) stark. Seine These, dass pädagogische Förderung stärkeren Einfluss auf die intellektuelle Entwicklung habe als Veranlagung, entfaltete er in dem Gutachten „Begabung und Lernen“, das bildungspolitisch sehr einflussreich war. ROTH überführte den passivischen Begriff ‚Begabung’ sozusagen in eine aktive Form. Über die von PICHT und DAHRENDORF geforderte Mobilisierung bisher verkannter Begabungen hinaus ging es ihm darum, Begabung pädagogisch zu fördern und mehr Schüler an höherer Bildung zu beteiligen. Mit dem Wachstum der Bildungsbeteiligung und der damit einhergehenden Dynamisierung des Begabungskonzepts sind strukturelle Hintergründe und kulturelle Deutungen der gesellschaftlichen Ausweitung der positiven Auswahl benannt. Seit etwa 1990 stagniert das Bildungswachstum wiederum und mithin die relative Beteiligung an höherer Bildung. Diese Entwicklung schlägt sich auch in der pädagogischen Reformsemantik nieder, wie besonders deutlich am Selektionsverhalten der Lehrer abzulesen ist (vgl. TERHART 2001; NATH 1999). Augenscheinlich resultiert aus der Tiefenstruktur des Bildungswachstums ein „Selektionsklima“, wie es TITZE und NATH ausdrücken, das vorgängig die Beurteilungspraxis von Lehrern bestimmt. Tendenziell kann man sagen, dass sich das Selektionsklima in Abhängigkeit von Wachstums- oder Stagnationsphasen der Bildungsbeteiligung schließt oder öffnet. Gymnasiallehrer vertreten in diesem Prozess mit einem eher anlageorientierten Begabungsbegriff strukturkonservative Meinungen. Sie tragen so zu einer Konsolidierung der erreichten Selektivität des Bildungswesens bei. Grund-, Haupt und Realschullehrer betonen stärker die offene Lernfähigkeit von Schülern und sehen ihre Aufgabe in der Lernförderung. Sie reagieren vermehrt mit Enttäuschung auf das sich schließende Selektionsklima, das pädagogische Reformambitionen einer Pädagogik vom Kinde aus hemmt (vgl. NATH 1999). In diesen Zusammenhang einzuordnen ist auch die wissenssoziologische These NATHs (2003, S. 69), dass Diskussionen über die Sozialstruktur höherer Bildung in den Wachstumsphasen des Bildungssystems optimistische und in den Stagnationsphasen eher pessimistische Züge tragen. So wird in der gegenwärtigen Stagnationsphase das Prinzip Chancengleichheit im Bildungssystem oft pauschalisierend als leere Anspruchsformel, die jeglicher empirischen Grundlage entbehre, kritisiert, ohne sich den historischen Inklusionstrend durch die Öffnung der Bildungsselektion und die Dynamisierung des Begabungsbegriffs bewusst zu machen. Dennoch erscheint Problembewusstsein hinsichtlich der Sozialstruktur der höheren Bildung angebracht, denn Arbeiterkinder sind beispielsweise im wissenschaftlichen Studium noch immer unterrepräsentiert. Auch zeigt die internationale Vergleichsstudie PISA 2000, dass der Bildungserfolg im deutschen Schulsystem immer noch stark mit der sozialen Herkunft der Schüler korreliert und so herkunftsbedingte soziale Ungleichheiten im Bildungssystem reproduziert werden (DEUTSCHES PISA-KONSORTIUM 97
2001, S. 351-371). Dieser Befund erhärtet die bereits von PIERRE BOURDIEU in den 70er Jahren aufgestellte sozialkritische These, dass der Besitz ‚ökonomischen’, ‚sozialen’ und ‚kulturellen’ Kapitals häufig zusammengeht und gemeinsam ‚sozial vererbt’ wird (vgl. BOURDIEU/PASSERON 1971). Dies führt zu Legitimationsproblemen der bürgerlichen Leistungsideologie, die Gleichheit in Chancengleichheit umdefiniert. Die Programmformel ‚Chancengleichheit’ als Legitimationsgrundlage der Bildungsselektion trägt aus dieser Problemsicht zur individuellen Zuschreibung und Verantwortung sozial präformierter Ungleichheit bei (vgl. DIEDERICH/TENORTH 1997, S.122). Folgt man den Analysen NATHs (2000, S. 77), dann steht dieses Problem in einem engen Zusammenhang mit Stagnationsphasen des Bildungswachstums. Anders als Akademikerfamilien reagieren bildungsfernere Sozialmilieus aufgrund geringer ausgeprägter Bildungsaspiration sensibler auf das sich schließende Selektionsklima. Ungeachtet dessen ist der gesellschaftliche Modernisierungsprozess durch eine zunehmende Inklusion in das System höherer Bildung gekennzeichnet, die zwar nicht linear verläuft, sondern durch Stagnationsphasen unterbrochen wird, sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach fortsetzen wird. Denn, wie alle ausdifferenzierten Sozialsysteme, kennt auch das Bildungssystem keine Stoppregeln der Inklusion und der Perfektionierung der Systemleistung: „Wissenschaftliche Wahrheitssuche, wirtschaftliches Gewinnstreben oder der Erziehungsauftrag des Bildungssystems: In allen drei Fällen – und bei den anderen teilsystemischen Leitwerten ebenso – handelt es sich um unendliche Geschichten in dem Sinne, dass qualitative Perfektionierbarkeit ein unerreichbares Ideal im Sinne eines ‚moving target’ vorhält. Gleichzeitig kommt eine quantitative Erweiterung des Kreises derer, die der qualitativen Leistungssteigerung teilhaftig werden sollen, hinzu. Rationalisierung paart sich mit Inklusion, Fortschritts- mit Gleichheitsbestreben: Das immer bessere für immer mehr Menschen“ (SCHIMANK 2005, S. 173)! Aus dieser Differenzierungsdynamik resultiert ein „Inklusionsdilemma“ (ebd.). Je stärker die Inklusion in soziale Systeme, so z.B. die zunehmende Partizipation an höherer Bildung, durch Wachstumsinteressen und Gleichheitsvorstellungen forciert wird, desto mehr müssen codefremden Erwartungen der Inkludierten an die Systemleistung konzediert werden. Das Inklusionsverhältnis ändert sich: Nicht mehr so sehr die Leistungsrollenträger, sondern die Publikumsrollenträger bestimmen die „terms of trade“, und treiben damit den Ausverkauf des Teilsystems voran (ebd., S. 174). Im Bildungssystem findet diese Entwicklung augenfälligen Ausdruck in Debatten über Schulen als ‚Bildungs- und Erziehungsdienstleister’ und Kinder und Eltern als ‚Kunden’. Befördert wird auf Seiten der Publikumsrollenträger ein Anspruchsindividualismus (vgl. Kap. 3.2). Ansprüche werden u.a. an die Erweiterung der Erziehungsfunktion der Schule gestellt, an die didaktische Perfektionierung schülerorientierten Unterrichts und an Vergabe guter Noten und hoher Bildungspatente. Wie ULRICH GREINER (1999, S. 61) hierzu bemerkt, hat das Abitur „den Status eines Grundrechts für alle angenommen.“ Der Zusammenhang von erwarteter qualitativer Perfektionierung der Bildungsdienstleistungsangebote und der quantitativen Ausweitung der Bildungsbeteiligung hat Konsequenzen für die historische Entwicklung der schulischen und unterrichtlichen Organisation. Inklusionssteigerung basiert auf der zunehmenden Integration und Differenzierung der Schulstruktur (vgl. NATH 2003, S. 15). Die Tendenz zur Integration zeigt sich in der steigenden Durchlässigkeit der Schularten, die den Übergang von einer niedrigeren Schul98
form zu einer höheren und umgekehrt erleichtert. Durch die Differenzierung der Schulstruktur wird das Bildungsangebot breitflächiger und fachlich differenzierter. Die Möglichkeit zur Wahl der eigenen Schule aus einem vorgehaltenen Angebot ist gegeben. Zudem differenziert sich auch die Unterrichtsorganisation. Dieser Prozess zeigt sich nicht nur in gestiegenen Fächerwahlmöglichkeiten (vornehmlich in Sekundarbereich I und II), sondern auch in der Reform des Unterrichts durch binnendifferenziertes Lernen. Wie REINHARD UHLE (1995, S. 92) erläutert, „haben Schulreformen Akzente auf selbstständiges und nicht bloß rezipierendes Lernen, auf selbstständige Wahlen von Lernangeboten neben Pflichtauflagen, auf nicht-einheitliche Lehrmittel usw. gelegt, was zu Flexibilisierung, Individualisierung und Begründungspflicht des Lernens geführt hat.“ Diese schulreformerischen Impulse sind Versuche der Steigerung der Systemleistung, die notwendigerweise aus der Zunahme von Inkludierten und ihren Anspruchshaltungen resultieren. Erkennbar wird diese Entwicklung in der historischen Genese der Unterrichtsreflexion. Unterricht, der historisch als gesellschaftliche Reaktion auf das Vergessensproblem entstand, fokussierte in seinen ersten geschichtlichen Ausprägungen bei den Sumerern auf das Lehren als Tradieren von akkumulierten und über Sozialisation nicht mehr übermittelbaren kulturellen Wissensbeständen. Inhalts- und Zieldimension von Unterricht sind hier deckungsgleich. Kurzum: Inhalte sollen tradiert, verinnerlicht und gelernt werden (vgl. GAUS 2005a). Moderne Reflexionen des Unterrichts und des Unterrichtens erschöpfen sich indes nicht in dieser Inhaltsdimension, sondern ziehen auch die Aneignungs- und Bildungsdimension in Betracht. Ziel von Unterricht ist die Optimierung der Übermittlung von Inhalten und Kompetenzen durch individualisierte Formen des Lernens. Voraussetzung der Individualisierung des Lernens ist die Binnendifferenzierung der Lerngruppe durch die Öffnung des Unterrichts. Schüler können durch vermehrte Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten in einer stark differenzierten Schul- und Unterrichtsstruktur auf ihren eigenen Bildungsweg Einfluss nehmen. Schule trägt somit zur Individualisierung von Kindheit und Jugend bei, stellt man in Rechnung, dass Schüler in der individuellen Nutzung schulischer Lernangebote aktiv ihren Lebenslauf, speziell ihre Bildungsbiographie konstruieren. Diese Impulse der Unterrichts- und Schulreform werden zwar in der Regel mit Verweis auf außerschulische Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern oder mit veränderten gesellschaftlichen Qualifikationserwartungen begründet, sie stehen aber auch in engem Zusammenhang mit der Eigendynamik des Bildungswachstums der Moderne und der Öffnung der schulischen Selektionsfunktion. Der Übergang von der Auslese qua Geburt zur modernen Bildungsselektion durch Vollinklusion in das Bildungssystem lässt sich auch als Übergang von der Fremd- zur Selbstselektion deuten. Auf der Ebene der Schulstruktur zeigen sich Momente der Selbstselektion etwa darin, dass Kindern und Eltern die Wahl der weiterführenden Schulform freigestellt ist, d.h. dass Lehrer nach der Grundschule nicht über Bildungslaufbahnen entscheiden, sondern nur Empfehlungen aussprechen. Momente der Selbstselektion kennzeichnen auch die Theorie und Praxis reformorientierten Unterrichts, wie Überlegungen zur Eigenauswahl von Bildungsinhalten (z.B. BANNACH 2002) oder zur Beteilung der Schüler an der Leistungsbewertung ihres Lernprozesses durch Selbstevaluation (z.B. BILDUNGSKOMMISSION NRW 1995, S. 97ff.) zeigen. Diese didaktischen und schulpädagogischen Orientierungen wären nicht möglich ohne die historische Öffnung der schulischen Selektionsfunktion. Didaktische Reformdiskurse verstärken intentional diese eigendynamische Entwicklung des Bil99
dungssystems, wenn sie die Individualisierung des Lernens grundsätzlich gegen die schulische Selektionsfunktion wenden. Kern dieser Argumentationen ist die Annahme, „Selektion sei in sich unpädagogisch“ (TERHART 2001, S. 90). Gefordert wird eine individualisierte Bezugsnormorientierung in der Bewertung von Leistungen und der Auswahl von Lerngegenständen. Wie alle Individualisierungsprozesse kann auch der Übergang von der Fremd- zur Selbstselektion als ambivalente und paradoxe Entwicklung gedeutet werden. Grundsätzlich können Bildungswachstum und erhöhte Beteiligung an höheren Bildungsgängen nur begrüßt werden kann, denn die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich nicht zu letzt in dem Maße, wie sie Bildung als anspruchsvolle Form der Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht. Auf der Makroebene resultiert aus der Ausweitung höher berechtigender Schulabschlüsse jedoch zugleich deren Entwertung. Unter dem Begriff ‚Bildungsinflation’ wird die partielle Entkoppelung des schulischen Berechtigungssystems und des Arbeitsmarkts kritisiert, d.h., es besteht ein Missverhältnis zwischen den Stellenangeboten und den für einen Berufsbereich Berechtigten. Zu konstatieren ist insofern ein paradoxer Zusammenhang von gleichzeitiger Eröffnung und Wiedereinebnung von Individualisierungschancen. Die Schüler tragen die psycho-sozialen Kosten dieser Paradoxie. Der Trend zu höheren Bildungsabschlüssen führt zur Bedeutungssteigerung und gleichzeitigen sozialen Entwertung des eigenen Leistungserfolges. Als Folge nehmen Leistungsdruck und Leistungsängstlichkeit zu (vgl. MELZER/HURRELMANN 1990; GIESECKE 1999, S. 24). Schulleistungen sind zu einem Hauptauslöser innerfamilialer Konflikte geworden (vgl. SHELL 2002, S. 68). Wer trotz Bildungsexpansion Individualisierungschancen nicht geschickt nutzen kann, wird zusätzlich stigmatisiert. Dahinter steht die Tendenz zur individuellen Attribution der Gründe und Folgen eigenen Handelns. Individualisierung als gängiges kulturelles Deutungsmuster erschwert, das eigene Scheitern auf strukturelle Widrigkeiten zurückzuführen. Nicht verwunderlich also, dass in Folge dieser Zusammenhänge sowohl der Leistungsgedanke, die Eigenverantwortung und Selbstentfaltung wie auch nur scheinbar konträr das Bedürfnis nach Sicherheit auf der Werteskala der Jugendlichen deutlich an Gewicht gewonnen haben (vgl. ZERZER/LEBOK 2005). Aus dem Bewusstsein darüber, dass weder ein Schulabschluss noch ein erfolgreiches Studium Garantien für gewünschte berufliche Positionen sind, inszenieren zunehmend mehr junge Menschen ihre Bildungsbiographien. Distinktive Merkmale wie Auslandsaufenthalte, mehrere, oftmals unbezahlte Praktika, Beteiligung an Projekten und Workshops, Mitgliedschaften in Fachverbänden, Parteien und Vereinen, Sprachkenntnisse, Werthaltungen, kurzum: die Anhäufung kulturellen und sozialen Kapitals werden wichtig und verweisen das Individuum wieder zurück auf die finanziellen, sozialen und kulturellen Ressourcen seines sozialen Hintergrunds (vgl. UHLE 1995, S. 94f.). Deutlich wird an dieser Stelle, dass durch die Öffnung der Selektionsfunktion von Schule soziale Lebenschancen unter den Bevölkerungsschichten nicht egalisiert werden können. Das Gegenstück stilisierter, hoch individualisierter Bildungsbiographien ist die Resignation, schulische Verweigerung und gegenwartszentrierte Erlebnishaltung eines Hauptschülers, der erkannt hat, dass seine Schulform durch Bildungsexpansion zur so genannten ‚Restschule’ abgewertet wurde. Verhaltensökologisch und -ökonomisch betrachtet ist diese Verweigerungshaltung durchaus verständlich, im Einzelfall sogar als psychischer Schutzmechanismus notwendig, und durch das Missverhältnis zwischen schulischen Leistungsanforderungen, erwartbarem 100
Nutzen und individuellem und sozialen Wert der Zeugnisse und Zensuren erklärbar. Grundsätzlich scheint mit der Bedeutungssteigerung von Bildungspatenten schulformübergreifend eine am Tauschwert orientierte Einstellung zum schulischen Lernen befördert zu werden. Der Wert des Lernens wird so primär nicht in seinem Bildungspotential gesehen, sondern in seiner symbolischen Entlohnung durch Noten. Dies ist zwar legitim, problematisch für ein Verständnis von Schule als Bildungseinrichtung ist es jedoch, wenn es laut Umfragen rund drei Vierteln der “Kinder und Jugendlichen nicht in den Sinn (kommt), dass Lernen zu den positiven Erfahrungsmöglichkeiten in der Schule gehören könnte“ (ZINNECKER 2002, S. 43). Die Öffnung der Selektion birgt noch weitere Ambivalenzen in sich. So lässt sich auch die zeitliche Verlängerung des schulischen Moratoriums durch die zunehmende Partizipation an höherer Bildung mit dem modernisierungstheoretischen Erklärungsmuster der Ambivalenz deuten. Die verlängerte Entpflichtung der Bildungsjugend von produktiver Arbeit eröffnet einerseits Verselbstständigungsmöglichkeiten und Spielräume, durch reflexiv-distanzierte Kulturaneignung hochindividualisierte Identitäten auszubilden. Wie bereits weiter oben angemerkt wurde, setzt die Aneignung von Kultur durch Unterricht die Heranwachsenden in ein distanziertes Verhältnis zur Tradition. Nicht das Gruppenselbst, sondern das individualisierte Selbst ist funktionales Erziehungsziel dieses Tradierungsmodus von Kultur. Reflexive Kulturaneignung durch schulisches Lernen erhöht so die Chance zur Wahl eigener Lebensziele und -orientierungen und befördert damit Individualisierung. Wie MARTIN BAETHGE (1986) zu bedenken gibt, resultiert aus der zeitlichen Verlängerung des Bildungsmoratoriums jedoch auch die Abnahme produktiver Erfahrungen sozialer und gemeinschaftlicher Eingebundenheit in die arbeitsteilige Solidargemeinschaft. Für WILHELM HEITMEYER und THOMAS OLK (1990, S. 26) problematisiert BAETHGE die soziale Vermittlung der Individualisierungsansprüche der Individuen: „So sieht er eine Situation entstehen, in der Jugendliche zwar hohe Ansprüche an ihr Leben bzw. an die Inhalte einer sie befriedigenden Erwerbsarbeit entwickeln, sie aber immer weniger über die Solidaritätsbereitschaft verfügen, um diese Ansprüche gemeinsam mit Gleichbetroffenen gegen real existierende Ungleichheiten bei der Zuteilung solch begehrter Lebenschancen bzw. Erwerbstätigkeiten auf dem Wege kollektiven Organisationshandelns durchzusetzen.“ Angesichts der Erschwerung der Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben unter den Bedingungen des neuen marktradikalen Kapitalismus ist Solidaritätsbereitschaft jedoch konstitutiv für die Verwirklichung von Individualisierungsansprüchen. Problematisiert wird die Verlängerung des schulischen Bildungsmoratoriums auch in der ‚Soziologie der Kindheit’ (vgl. Kap. 4.2.2). Dies geschieht jedoch nicht mit Verweis auf gesellschaftliche Integrationsprobleme. Der antipädagogischen Ausrichtung dieser Forschungsrichtung zufolge werden außerschulische Lebenswelten durch schulische Systemzwänge wie Leistungsdruck und Konkurrenzverhalten kolonialisiert. Die Konstitution der sozialen Lebensphase Kindheit durch Scholarisierung wird grundsätzlich problematisiert, denn sie sei Grund für die kulturellen Konstruktionen von Heranwachsenden gegenüber Erwachsenen als defizitär und heteronom (vgl. HELSPER/BÖHME 2002, S. 572). (zu Aspekten der Ambivalenz bei individualisierter Jugend vgl. auch UHLE 1995). Paradoxien zeigen sich auch auf der Mikroebene schulischer Selbstselektion. Dies soll beispielhaft an der Selbstevaluation von Schülern gezeigt werden. Wie weiter oben darge101
legt wurde, kann Selbstevaluation aus mikrologischer Perspektive als schulpädagogischer Ausdruck eines sich öffnenden Selektionsklimas gedeutet werden. Die Öffnung des Selektionsklimas hängt, daran sei nochmals erinnert, mit strukturellen Wachstumsschüben auf der Makroebene des Bildungssystems zusammen. In der Beurteilungspraxis der Selbstevaluation spiegelt sich die historische Öffnung der Bildungsselektion in ihrer Bedeutung für die Unterrichtspraxis besonders deutlich. ANNEDORE PRENGEL und MAREN THIEL (2005) erläutern die Paradoxie des Individualisierungsfaktors Selbstevaluation am Beispiel von Kindern aus der Montessori-Gesamtschule Potsdam. Die Schüler erhalten mit so genannten „Pensenbüchern“ ein Instrument zur leistungsbezogenen Selbstevaluation. In diesen Büchern befinden sich eine ausführliche Auflistung der gemäß Lehrplan zu erwerbenden Kompetenzen sowie Felder zur Eintragung selbst gewählter Themen und individueller Lernziele. In fächerübergreifender Freiarbeit bearbeitet jedes Kind „hoch individualisiert“ den jeweils von ihm ausgewählten Lernbereich. Dazu wählt es nach MONTESSORI-Tradition aus einem bereitgestellten Fundus an Lernmaterialen selbst aus. Die Leistungsdokumentation erfolgt nach Rücksprache mit dem Lehrer – ohne Ziffernoten und Vergleich mit dem Klassendurchschnitt – durch selbstständiges Eintragen der erzielten Leistung in das Pensenbuch. In einer Befragung der Jahrgänge 4-6 zu ihren Erfahrungen mit dieser Form der Leistungsdokumentation konnten PRENGEL und THIEL zeigen, dass Schüler die paradoxen Auswirkungen dieser Form von Selbstsozialisation klar reflektieren. Als paradox verstanden wurde, dass selbstständiges Lernen auf die Auswahl und individuelle Aneignung vorgegebener Inhalte bezogen wird, also Individualisierung mit Standardisierung einhergeht. Diese Standardisierung wird überwiegend positiv bewertet. In der reformpädagogischen Lernumwelt, in der zuvor vor allem die „Freiheit selbstbestimmten Lernens betont wurde“ und derartige Standardisierungen völlig fehlten, wird die Offenlegung der Lernerwartungen in den Pensenbüchern als wichtige Orientierung und Strukturierungshilfe erlebt. Denn schlecht strukturierte Freiarbeit, bei der die Leistungserwartungen unklar sind, verunsichert, frustriert und überfordert Kinder. Dieser Befund wird bestätigt durch Ergebnisse motivationspsychologischer Forschungen, die darauf hinweisen, dass gerade schwächere und misserfolgsorientierte Lerner Schwierigkeiten haben, Aufgaben mit passendem Anspruchsniveau im offenen Unterricht auszuwählen. Misserfolgsorientierte Lerner wählen seltener Aufgaben mit mittlerem subjektivem Schwierigkeitsgrad, der die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöht und die Lösung der Aufgabe auf die eigene Anstrengung zurückführen lässt. Sie tendieren dazu, weitaus weniger realistische Anforderungsniveaus zu wählen, weil ein Scheitern an diesen Aufgaben Untüchtigkeit weniger klar markiert (vgl. HECKHAUSEN 1975). Wichtige Schritte der Lernentwicklung, die aus einer wohl dosierten Diskrepanz zwischen Anforderungen und Ressourcen resultieren, werden so vertan. Selbstselektion ohne vorgegebene Orientierungsrahmen und Leistungsstandards widerspricht der kindlichen Erwartung an schulisches Lernen und benachteiligt misserfolgsorientierte Schüler systematisch. Auch individualisierte Bezugsnormenorientierung für die Leistungsevaluation muss sich an einem transparent formulierten Aufgabenprofil messen, denn ohne Differenzwahrnehmung mit Anderen und Anderem können Schüler nicht zu einer realistischen Einschätzung ihres Fähigkeitsprofils, ihrer noch zu überwindenden ‚Defizite’ und der nächsten Stufe ihrer Lernentwicklung gelangen. In diesen Punkten findet die Zunahme von Momenten der Selbstselektion im Wachstumsprozess des Bildungssystems ihre Grenzen. 102
5.3
Zum Umgang mit Individualisierungsansprüchen von Kindern und Jugendlichen in der Schulpädagogik
Die Öffnung der schulischen Selektionsfunktion ist, wie die vorigen Rekonstruktionen zeigen, ein zentraler Individualisierungsfaktor. Nicht nur die zeitliche Verlängerung, sondern auch qualitative Veränderungen des Lebens von Kindern und Jugendlichen werden aus Sicht der historischen Bildungssystemforschung maßgeblich durch die Expansion des Bildungssystems beeinflusst. Kindheit und Schule stehen hier in einem Verweisungszusammenhang. Eine stärkere Trennung von Kindheit und Schule ist indes charakteristisch für neuere schulpädagogische Reflexionen. Hier werden Gründe für die Individualisierung von Kindheit überwiegend außerhalb der Institution Schule lokalisiert. Dahinter steht die in der Schulpädagogik und der Schulforschung vielfach verwendete Unterscheidung zwischen „der inneren Welt der Schule und der äußeren Welt, aus der die Kinder ‚in die Schule’ kommen und in der sie als Erwachsene zukünftig leben werden.“ (WIESEMANN 2005, S. 16f.). Weiter oben wurde bereits erläutert, dass der traditionelle reformpädagogische Topos ‚Kindgemäßheit’ den ideengeschichtlichen Hintergrund dieser bipolaren Konstruktion des kindlichen Lebenszusammenhangs bildet (vgl. Kap. 5.1). Aktuelle schulpädagogische Diskurse konstituieren diesen traditionellen Dualismus mit Bezug auf Forschungsbefunde, die indizieren, dass Veränderungen im Sozial-, Lern- und Arbeitsverhalten der Heranwachsenden vor allem auf außerschulische Erfahrungen und Einflüsse zurückgehen (vgl. FÖLLINGALBERS 2003, S. 35). Schulpädagogik müsse darauf reagieren, dass Heranwachsende ihre kinder- und jugendkulturellen Erfahrungen und Verhaltensmuster in die Schule hineintragen und zunehmend weniger bereit sind, sich auf die Rolle von Schülern ‚reduzieren’ zu lassen. Intensiv diskutiert wird in diesen Zusammenhängen die ‚Passung’ zwischen Schule und modernisiertem Kinder- und Jugendleben. Problematisiert wird, dass Lehrer vielfach nicht mehr zwischen der inneren Welt der Schule und der äußeren Welt vermitteln können. So konstatiert die Schulreformerin FEE CZISCH (2005, S. 28): „Die erlernten Methoden und die Ziele der Schule passen nicht zu den Kindern, die vor ihr sitzen.“ Zuweilen ist auch von einer „Irritation“ der Schule durch Kindheit die Rede (vgl. HEINZEL 2005). Durch die Öffnung von Schule und Unterricht, durch die Gestaltung von Schule als Lern- und Lebensraum und mit sozialpädagogischen Zusatzanforderungen an die Lehrerarbeit soll die Passung zwischen Kindern, Jugendlichen und Schule wieder hergestellt werden. Die Rezeption des in der empirischen Kindheitsforschung beschriebenen Wandels der Kindheit avancierte zu einem populären schulpädagogischen Deutungsmuster für Zustandsbeschreibungen von und Reformforderungen an Schule und Unterricht. Die Anzahl pädagogisch-didaktischer Veröffentlichungen, die sich auf das Thema ‚veränderte Kindheit’ beziehen, ist angesichts der seit nunmehr zwanzig Jahren andauernden Diskussion nur noch schwer zu überschauen. Kaum ein Standardwerk der Grundschulpädagogik kommt heute noch ohne die Auseinandersetzung mit pädagogischen Herausforderungen der veränderten Kindheit aus (vgl. SCHORCH 1998; HANKE 2002; TOPSCH 2004; EINSIEDLER et al. 2005). Die Popularität dieser Deutung besteht in ihrem vermeintlich hohen Potential, plausible schulexterne Ursachenerklärungen und schulinterne Lösungsmöglichen der zunehmenden Schwierigkeiten von Pädagogen mit ihren Schülern bereitzustellen (vgl. HEINZEL 2005, S. 37). Doch die Plausibilität der Argumentationen ist nicht selten einer verkürzten 103
Problemsicht geschuldet. Mit veränderten Bedingungen des Aufwachsens in der außerschulischen Lebenswelt werden Probleme und neue Herausforderungen pädagogischen Handelns zwar kausal erklärt, die Erklärungen bleiben jedoch häufig monofaktoriell und daher in ihrer Aussagekraft beschränkt. Gegenüber der verkürzten Stigmatisierung von Modernisierungsphänomen des Kinderlebens wie sie in Begriffen wie ‚Konsumkindheit’, ‚Stadtkindheit’ oder ‚verinselter Kindheit’ auftauchen und darauf bezogenen Pädagogisierungsbestrebungen ist mit GÜNTHER SCHORCH einzuwenden: „Die Schule hat es mit individuellen Verhaltensweisen zu tun, und diese sind in der Regel nicht Ergebnis nur einer Ursache, sondern ergeben sich aus der Vielschichtigkeit des sozialen Systems“ (SCHORCH 1998, S. 56). Dazu gehört auch der eigene Einfluss der Schule auf die Modernisierung des Kinderlebens und den gesellschaftlichen Wandel des Bildes vom Kind, der in vielen Diagnosen der Kindheitsforschung und der Schulpädagogik ausgeklammert wird. Eine lineare Deduktion pädagogischer Konsequenzen aus dem außerschulischen Wandel von Kindheit und Jugend greift zu kurz, wie an folgendem Zitat demonstriert werden kann: „Die Behauptung, Schule könne nicht ‚Reparaturbetrieb der Gesellschaft’ sein, entlarvt die schiere Verantwortungslosigkeit. Die Schule ist ein Teil der Gesellschaft, ist Gesellschaft im Kleinen, und sie bereitet Kinder auf die Gesellschaft vor. Ob ihr das passt oder nicht, sie muss die gegenwärtigen Lebensbedingungen der Kinder wahrnehmen und darauf reagieren. In den alten Strukturen und mit den alten Methoden kann das nicht gelingen.“ (CZISCH 2005, S. 29)
Schule scheint dieser Einschätzung nach nicht in die gesellschaftliche Modernisierungsdynamik insbesondere des Kinderlebens involviert zu sein, sie ist vielmehr durch ein Modernisierungsdefizit gekennzeichnet. Längst überfällig sei eine Reaktion der Schule auf die Individualisierung ihrer Klientel. Übersehen wird, dass das Bildungswachstum der Moderne und mithin die erfolgten Schul- und Unterrichtsreformen strukturelle Grundlagen für die Individualisierung von Kindheit bilden. Die Modernisierung von Kindheit und die Entwicklung von Schule und Unterricht können daher nicht antagonistisch gegeneinander ausgespielt werden. Schule selbst befördert strukturell Individualisierung. Die Ursachen für die so genannte Irritation der Schule durch individualisierte Kindheit sind also nicht nur außerschulischer Herkunft, sondern werden auch von der Schule selbst hervorgebracht und wirken auf sie zurück. Zudem ist es fraglich, mit Verweis auf Ergebnisse modernisierungstheoretischer Kindheitsforschung einem pädagogischen Aktionismus das Wort zu reden. Wissenschaftstheoretisch ist Kindheitsforschung auf den Status einer ausschließlich theoretischen Disziplin zu begrenzen. Pädagogische Ziele und handlungspraktische Konsequenzen lassen sich nicht linear aus ihren Ergebnissen ableiten, sondern müssen diskursiv mit allen an Bildungsaufgaben Beteiligten ausgehandelt werden (vgl. FÖLLING-ALBERS 2005, S. 165). Setzt man also voraus, dass die Individualisierung von Kindheit und Jugend aus gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozessen resultiert und bedenkt man, dass postulierte Konsequenzen nicht nomologisch aus den Forschungsbefunden deduziert werden können, sondern wertbasierte Aussagen sind, dann stellen sich zwei Anschlussfragen, die im Mittelpunkt der weiteren Überlegungen stehen: Wie lässt sich das veränderte Verhalten von Kindern und Jugendlichen beschreiben? Welche wertbasierten Vorstellungen von gelingender Persönlichkeitsentwicklung stehen hinter den vorgeschlagenen pädagogischen Konsequenzen? 104
MARIA FÖLLING-ALBERS (1993) bringt das veränderte Lern-, Sozial- und Arbeitsverhalten von Kindern auf den Begriff des „Individualisierungsanspruchs“ und setzt damit in der Debatte über schulpädagogische Reaktionen auf den Wandel von Kindheit einschlägige Akzente. Damit stellt sie eine Ausprägung der für moderne Gesellschaften charakteristischen Identitätsform des ‚Anspruchsindividualismus’ in Rede. (vgl. Kap. 3.2). Die unter dem Begriff ‚Individualisierungsanspruch’ subsumierten Veränderungen im Verhalten von Kindern wurden durch eine Reihe wissenschaftlicher Befragungen (vgl. FÖLLING-ALBERS 1989; 1992, 2005) und Erfahrungsberichten von Lehrern (vgl. GEBAUER et al. 1991; KELLER 1993) ermittelt. FÖLLING-ALBERS (1993, S. 465) erläutert, dass Kinder aufgrund Selbstständigkeit akzentuierender Erziehungswerte, liberalisierter Erziehungsstile und intimisierter Erziehungsverhältnisse in der Familie vielfach die Erfahrung machen, dass ihren Ansprüchen Rechnung getragen wird (vgl. dazu Kap. 4.1). Insofern mehrt sich die Zahl der Schulanfänger, die selbstständig und selbstbewusst ihre Anliegen, Fragen und Ansichten in der Schule vorbringen. Zudem kommt das Kind mit der eindringlich vorgetragenen Erwartung in die Schule, als „besondere und einzigartige Person von der Lehrerin erkannt und behandelt zu werden. [...] Die Selbstverständlichkeit und Nachdrücklichkeit, mit der heute viele Kinder die individuelle Aufmerksamkeit der Lehrerin einfordern, ist historisch gesehen neu und deutet auf eine andere Qualität in der Beziehung des Kindes zum Erwachsenen, zunächst aber erst einmal auf ein verändertes Eltern-Kind-Verhältnis hin“ (ebd. S. 466). Gegenüber früheren Schülergenerationen mangelt es individualisierten Schulkindern an der Bereitschaft, eigene Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen und sich auf die Anforderungen schulischen Lernens und Soziallebens einzustellen. Die Anspruchshaltung der Kinder auf Anerkennung ihrer Bedürfnisse und kultureller Orientierungen äußert sich auf der Verhaltensebene unterschiedlich. FÖLLING-ALBERS (ebd. S. 466ff.) grenzt zwei „Grundmuster des Individualisierungsanspruchs“ voneinander ab. Das erste Muster bezeichnet das „Im-Mittelpunkt-Stehen-wollen“ des eigenen Ichs. Typische Merkmale dieses Verhaltensmusters sind das Einfordern ungeteilter Aufmerksamkeit und die Erwartung, dass persönliche Wünsche erfüllt werden. Dazu gehört auch die Selbstverständlichkeit, mit der unmittelbare Befindlichkeiten wie Lust, Unlust und Spaß bekundet werden und umgekehrt die Schwierigkeit, augenblickliche Bedürfnisse zugunsten späterer Gratifikationen zurückzustellen. Das zweite Muster sieht FÖLLING-ALBERS in auffälligem Verhalten, das die beschriebene Ich-Zentrierung und Spontaneität übersteigt. Individuelle Zuwendung und Aufmerksamkeit wird hier provoziert durch prinzipiell unkontrolliertes Verhalten. Hierunter fallen wiederum unterschiedliche Verhaltensbekundungen wie Aggressivität und Gewaltbereitschaft, Störungen des Unterrichts durch ‚Klassenclowns’, soziophobisches Verhalten, Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten, etc. Gemeinsam ist beiden analytisch voneinander getrennten Kindergruppen die Unfähigkeit bzw. mangelnde Bereitschaft, die Schülerrolle einzunehmen und sich unterrichten zu lassen. Denn: Die Schülerrolle und der Unterricht „waren ja gerade dadurch charakterisiert, dass Kinder in der Schule auf einen großen Teil ihres individuellen Kind-Seins verzichteten und spontane, situative Bedürfnisse zurückstellten zugunsten solcher, die im schulischen Unterrichts- und Bildungsgang erwartet oder gefordert werden“ (ebd., S. 468). Bezeichnend ist das Tempus des vorigen Zitates. Die klassische Schülerrolle, die aufgrund des von ihr verlangten Bedürfnisaufschubs der Anspruchshaltung vieler heutiger 105
Schulkinder diametral entgegensteht, wird im Präteritum charakterisiert. Folgende Frage stellt sich an dieser Stelle: Ist die klassische Schülerrolle bereits sozialgeschichtlich erodiert, d.h., eine kulturelle Konstruktion, die praktische Pädagogen tatsächlich nicht mehr voraussetzen können? In der Literatur finden sich Hinweise, die in diese Richtung zeigen (vgl. HENSEL 1995). Verdeutlicht sei die Erosion der klassischen Schülerrolle am Phänomen der Lernmotivation. Der Erwerb kulturellen Wissens in der Schule basiert strukturell auf späterer Gratifikation durch Kompetenzsteigerung, Befriedigung von Neugier, symbolischer Entlohnung durch die Vergabe von Noten und sozialer Anerkennung individueller Leistungen in der Lerngruppe. Diese Zukunftsdimension schulischer Lernmotivation gerät in Konflikt mit der auf Unmittelbarkeit bezogenen Anspruchshaltung von Kindern, die FÖLLING-ALBERS beschreibt. Die Förderung der Lernmotivation wurde infolgedessen zu einer zentralen Aufgabe und zu einem Evaluationskriterium für professionelles pädagogisches Handeln. Im Schulalltag von Lehrern (insbesondere von Anwärtern und Referendaren) zeigt sich dies nicht selten in ‚Materialschlachten’, ‚bunten Schulbüchern’ und in erlebnis- und handlungsorientierter Unterrichtsgestaltung, die sich durch mehr ‚Lebensweltnähe’ auszeichnet. Wie Lehrer selbstironisierend bemerken, werden sogenannte didaktische Feuerwerke gezündet, die zum Lernen motivieren sollen. Setzen Pädagogen dabei um jeden Preis auf intrinsische Motivation und kommen damit der Anspruchs- und Erwartungshaltung von Kindern entgegen, laufen sie Gefahr, Verengungen des Bewusstseins auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu unterstützen. Genauer zu prüfen wäre, ob dieser verbreitete Rekurs auf intrinsische Lernmotivation als Indikator für eine pädagogische Reaktion auf den Individualisierungsanspruch von Kindern gedeutet werden kann. KLAUS WESTPHALENs Überlegungen zum augenblicklichen „pädagogischen Zeitgeist“ weisen in diese Richtung. Als Beispiel für die pädagogische Verschleierung des schulischen Sach- und Leistungsanspruch, der die heraufbeschworene intrinsische Motivation begrenzt und schulisches Lernen durchaus auch schmerzhaft sein lässt, zitiert WESTPHALEN aus einer Rede, mit der Schulanfänger in einer Grundschule in Schleswig-Holstein begrüßt wurden: „Liebe Schulanfänger, liebe Eltern und Verwandte...! Ich verspreche euch, dass ihr hier viel lernen könnt, und ich verspreche euch auch, dass das Lernen meistens Spaß bringen wird, meistens leicht ist und meistens auch interessant und nur manchmal schwer und zum Ärgern. Zur Schule gehen ist mehr als lesen, schreiben, rechnen, singen, malen, turnen und Hausaugaben machen, obwohl das die Hauptsachen sind. In die Schule gehen bedeutet auch, die Welt erkunden, gemeinsam unterwegs sein, bedeutet auch, Feste feiern, mit anderen Spielen, bedeutet auch: Viel erleben und viel tun, größer, stärker und selbstständig werden.“ (zitiert nach WESTPHALEN 1998, S. 83)
Individualisierungsansprüche werden durch die hier zum Ausdruck kommende pädagogische Orientierung befördert. Was in der Rede als Versprechen formuliert ist, versucht FÖLLING-ALBERS (1993, S. 474ff.) theoretisch zu begründen. Sie schlägt vor, das reformpädagogische Prinzip ‚Kindgemäßheit’ vom Individualisierungsanspruch aus zu denken. Das bedeutet, die Kinder mit ihren Anspruchshaltungen zu akzeptieren und so auf sie einzugehen, wie sie sind. Als Konsequenz hieraus wird Unterricht gefordert, der das Kind nicht auf seine Schülerrolle reduziert, sondern als ganze Person in den Blick nimmt. Für Grundschulunterricht bedeutet das, Kinder in inhaltliche und methodische Entscheidungen 106
einzubeziehen sowie durch offene Lernformen individuelle Zugänge zu Lerninhalten und individuelle Zuwendung zum Kind zu ermöglichen. Überzogenen Selbstbestimmungsansprüchen soll durch soziales Lernen als gemeinsames Aushandeln von Verhaltensregeln Einhalt geboten werden. Rekurriert wird in Begründungen offenen Unterrichts auch auf die Heterogenität individualisierter Kinder in Hinblick auf ihre (kinder-)kulturellen Erfahrungen und Praktiken, ihre familiale Herkunft, ihre Migrationshintergründe, ihre Entwicklungs- und Leistungsdifferenzen. Pädagogiken und Didaktiken der Vielfalt werden entworfen, die sich mit der Herausforderung von Pluralität und Multiperspektivität beschäftigen (vgl. PRENGEL 1993, PREUSS-LAUSITZ 1993; KÖSEL 1995). Dabei wird zum Teil deutlich gegen direkte Instruktion Stellung bezogen. Für CZISCH (2005, S. 31) kann durch diese Vermittlungsform Heterogenität nicht positiv genutzt werden: „So vollkommen unterschiedliche Kinder wie die heutigen schaffen den Gleichschritt einfach nicht [...] Frontalunterricht als gängiges Instrument der Auslese gehört aus der Methodenlehre der Grundschule getilgt.“ Diese Vorschläge basieren auf einem Deutungsmuster, das aus der Individualisierung und der Heterogenität der Schüler (1) eine Erhöhung der subjektiven Dimension des Unterrichts, also einen Abbau von ‚Fremdheitserfahrungen’ zwischen Alltagskultur und schulischen Lernanforderungen, und (2) eine Herauslösung des Schülers/der Schülerin aus der Kollektivität der Klassengemeinschaft ableitet. Subjektive Zugänge zum Lernen sowie individualisierte Lehrer-Schüler-Beziehungen sollen hergestellt werden durch Formen selbstgesteuerten und selbstbestimmten Lernens im offenen Unterricht, welche an die Stelle des instruktionslogisch am Sachanspruch orientierten Lehrgangsunterrichts treten. Empirisch nicht geklärt ist allerdings, ob ein solcher Unterricht nicht nur Individualisierungsansprüche deutlicher zu Tage treten lässt, sondern „in mancher Hinsicht vielleicht auch miterschafft: Offener Unterricht begründet sich über individuelle Differenzen, aber er individualisiert auch“ (KELLE 2004, S. 92). Wie bemängelt wurde, bestehen der Widerspruch und die Problematik forcierter Individualisierungstendenzen im offener Lernformen zum einen darin, (1) dass individuelle Wünsche und Bedürfnisse von Schülern zulasten der Ansprüche der Gruppe betont werden, d.h. eine „Nachgiebigkeit gegenüber kleinen Individualisten“ kultiviert wird, die den Kindern das Erlernen eines angemessenen Umgangs mit den Emotionen und Ansprüchen anderer Menschen erschwert (vgl. SCHREIER 1994), zum anderen Aneignungsformen durch subjektive Engführung trivialisiert werden, weil Individualisierung nicht als Bildungsaufgabe, sondern als Wahlfreiheit und freie Kultivierung von Subjektivität missverstanden wird (vgl. VON REEKEN 2001, S. 77) (vgl. auch Kap. 5.2). Vergleichbare modernisierungstheoretische Diskussionen werden über das Differenzverhältnis von Jugend und Schule geführt. Einschlägig sind die mentalitätsgeschichtlichen Analysen von THOMAS ZIEHE zur Enttraditionalisierung von Jugend und Schule (vgl. ZIEHE 1991, 1996, 2002; 2006). Die mentalitätsgeschichtliche Perspektive hat den Vorteil, nicht von einer bipolaren Trennung zwischen außerschulischen und schulischen Lebenswelten auszugehen, aus der fast unweigerlich die Bescheinigung eines schulischen Modernisierungsdefizits resultiert. Vielmehr wird angenommen, dass Jugendliche und Schule in Modernisierungsprozesse verwickelt sind, die in die „Poren der Schulen, des Unterrichts und der Administration eindringen“ (ebd. 1991, S. 53). Kulturelle Modernisierung bleibt also dem Schulalltag nicht äußerlich, sondern prägt ihn deutlich. Aus dieser Perspektive gelingt 107
es ZIEHE, das Lamento schulpädagogischer Reformdiskussionen zu überwinden, nach denen sich Schule nicht verändert habe und noch immer eine repressive, kalte, lehrerzentrierte „Lernvollzugsanstalt“ (CZISCH 2005) sei. ZIEHE konstatiert, dass der Mentalitätswandel von Jugendlichen in der modernisierten Moderne zu einer Entzauberung der traditionellen Grundfesten der Schule geführt hat (zur Entzauberungsdimension von Individualisierung vgl. Kap. 3.1). Zu diesen ehemaligen kulturellen, quasi sakralen schulischen Selbstverständlichkeiten gehörte erstens die Legitimität und Verbindlichkeit eines Kanons, zweitens die durch Respekt gegenüber der Erwachsenenwelt geprägte Aura der schulischen Atmosphäre wie auch drittens der von der Schülerrolle erwartete asketische Bedürfnisaufschub, von dessen Verschwinden bereits oben die Rede war. Diese Grundsäulen der traditionellen Schule wurden nach ZIEHE (1999, S. 23ff; 1996; 2006) durch folgende Dimensionen des Mentalitätswandels aufgelöst: (1)
Das Alltagswissen der Jugendlichen orientiert sich nicht so sehr an kulturellen Überlieferungen, sondern an den Wirklichkeitskonstruktionen der Medien und der Jugendkulturen. Jugendlichen bauen an der Altersgruppe orientierte „Relevanzen und Wahrnehmungskorridore“ auf, die in Distanz stehen zu Normen und kulturellen Überlieferungen. Mithin entmächtigt die aufstrebende ‚Alltagskultur’ die traditionell selbstverständliche normative Kraft, Autorität und Leitfunktion der ‚Hochkultur’. Aus dem Verlust dieses gesellschaftlichen Grundkonsenses resultieren die derzeitigen Schwierigkeiten von Kulturvermittlungsarbeit. Diese zeigen sich zum einen in der erhöhten Begründungs- und Rechtfertigungspflicht in Bezug auf die Auswahl von Unterrichtsinhalten und deren Vermittlungsmethoden, zum anderen in der Überbrückung der auseinander klaffenden alltagskulturellen Orientierungen der Jugendlichen und den Bildungszielen der Schule. Zerfallen angesichts der ‚postmodernen’ Pluralisierung von Wissens- und Sinnsystemen kulturelle Selbstverständlichkeiten, die Vermittlungsarbeit entlasten, muss die Lehrerin erst die „Plausibilität des Lehrstoffs herstellen, eine personale Beziehung zwischen sich und den Schülern aufbauen, zur Selbstmotivation anregen und Lernsituationen arrangieren. In dieser Weise die symbolischen, intersubjektiven und empirischen Voraussetzungen für Unterricht erst herstellen und immer erneut sichern zu müssen macht die Lehrtätigkeit heute so komplex, so verletzlich und so anstrengend“ (ZIEHE 1996, S. 37). Unbefriedigend ist die Tatsache, dass Lehrer diese schwierige Aufgabe ohne hinreichenden administrativen und bildungspolitischen Rückenhalt und Unterstützung durch die Eltern leisten müssen.
(2)
Die modernisierte Alltagskultur ist durch eine Informalisierung der Sozialbeziehungen gekennzeichnet, die unlängst auch gesellschaftliche Institutionen wie die Schule erreicht hat. Stark konventionalisierte soziale Verhaltensmuster und rigide Rollenerwartungen sind erodiert. Infolgedessen können Jugendliche länger ihre jugendkulturellen Orientierungen behalten und jenseits von traditionellen sozialen Verhaltensnormierungen ihr eigenes Verhältnis zur Erwachsenenwelt selektiv konstruieren. Für Schule resultiert daraus ein Verlust von ‚Aura’ und ‚Autorität’ im pädagogischen Generationenverhältnis. Dieser Abbau pädagogischer Autorität durch die Informali-
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sierung der Sozialbeziehungen ist eng verbunden mit den oben beschriebenen Schwierigkeiten kultureller Vermittlungsarbeit. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis basiert nicht mehr auf einer kulturell selbstverständlichen Respektsbeziehung gegenüber Lehrern als Repräsentanten der Hochkultur. Zusehends schwieriger wird es folglich, stark formalisierte und asymmetrische Erziehungs- und Bildungsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Maßgebliche Konzepte der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wie der pädagogische Bezug als Bildungs- und Erziehungsgemeinschaft, die von einer Vermittlung der kulturellen Tradition an die jüngere durch die ältere Generation ausgehen, können im pädagogischen Diskurs nicht mehr per se Plausibilität beanspruchen, sondern müssen neu legitimiert werden (vgl. Kap. 10.2). Anders als die Generationen des mittleren und älteren Erwachsenenalters, der die meisten der derzeitig beschäftigten Lehrer angehören, sind heutige Jugendliche bereits in einer durchmodernisierten Alltagskultur aufgewachsen. Sie nehmen die Informalisierung des Zusammenlebens folglich nicht als kulturelle Errungenschaft, sondern als Normalität wahr. Die Generationserfahrungen der im Geist der kulturellen und pädagogischen Reformbewegung der 1970er Jahre geschulten Lehrer entsprechen nicht dem Lebensgefühl der Jugendlichen. Die Erwartung von Dankbarkeit für kulturelle Veränderungen wie für den Abbau autoritärer Distanz zwischen Schülern und Lehrern erreicht die Schüler nicht. Die reformpädagogische Erwartung, „Schüler sollen Alliierte der Schul- und Unterrichtsreform sein“, schlägt fehl: „Sie sollen sich freuen, daß die Traditionen abgebaut sind, daß sich die Schule öffnet, daß soziale Prozesse wichtiger genommen werden, daß die Lehrer sich bemühen, authentisch zu sein, daß die Themen lebensnäher werden, daß sie mitbestimmen können. Und was machen die Kinder der zweiten Modernisierung? Sie fragen die Lehrerin: Müssen wir heute schon wieder machen, was wir wollen?“ (ZIEHE 1996, S. 36). (3)
Das Verhältnis zum Selbst ändert sich. Affekte, Stimmungen und Identitätsbedürfnisse gewinnen gegenüber Askese und Selbstdisziplin, den Konstituenten der traditionellen Schülerrolle, an Gewicht. Wie bereits in Kapitel 3 erläutert, resultiert aus strukturellen und kulturellen Individualisierungsprozessen der Zwang zur Selbstbeobachtung der Individuen. Angesichts des Wegschmelzens traditioneller sozialer Verortungen in der Pluralität von Systemperspektiven ist das Ich gezwungen, seine Identität über Selbstbeobachtung und Selbstreflexion zu beziehen. Diese erhöhte subjektive Dimension der Identitätsarbeit hat im Zuge weitergehender Modernisierung ihren pathetischen subjektphilosphischen und identitätstheoretischen Überbau verloren. Hierzu konstatiert ZIEHE: „Die eigene Befindlichkeit wahrzunehmen ist nicht mehr, wie in den 70er Jahren, als der Durchbruch zu einem neuen Sensibilitätsniveau zu sehen, sondern ist eher zu einem trivialen Selbstzwang geworden“ (ZIEHE 1999, S. 625). Anspruchsvolle philosophische Konzepte von der Entfaltung des Menschen und der Bildung des Subjekts sind alltagskulturell entkleidet, normativ entwertet und auf erlebnisorientiertes Selbstverwirklichungsbestreben reduziert. Während etwa WILHELM VON HUMBOLDT noch im Geist des Aufbruchs der Moderne über die Entfaltung von Individualität als Bildungsaufgabe des Menschen reflektierte, problematisieren aktuelle identitätstheoretische Diskurse vor allem die 109
Schwierigkeiten von Identitätsarbeit in der modernisierten Moderne. Wie in Kapitel 4.3 erläutert, werden als Probleme vor allem das Auseinanderdriften von sozialer und persönlicher, öffentlicher und privater Identität im Kontext heterogener kultureller Pluralisierungsprozesse genannt. Den theoretischen Hintergrund dieser Problematisierungen bilden Postmoderne-Diagnosen, die konstatieren, dass bereits die Moderne – und nun schneller voranschreitend die modernisierte Moderne – eine Vervielfältigung heterogener und in sich widersprüchlicher kultureller Horizonte und sozialer Rollenerwartungen hervorgebracht hat. Aufgrund der Zersplitterung kultureller und sozialer Horizonte wird die Möglichkeit der Ausbildung einer einheitlichen Identität bestritten und die Ästhetisierung kultureller und psychischer Pluralität als Gewinn gefeiert. Diese Ästhetisierung und Goutierung von Pluralität trifft allerdings die alltagskulturellen Analysen ZIEHEs nur begrenzt. Selbstbeobachtungen und Selbstreflexionen aufgrund erodierter soziokultureller Identitätsanker erscheinen hier als triviale Selbstzwänge. Selbstverhältnisse von Jugendlichen sind für ZIEHE gekennzeichnet durch Selbstnötigungen „zu einer Überaufmerksamkeit für die affektive Innenwelt“ und durch „Selbstinstrumentalisierung“ von Identitätszielen. Während die erste Struktur der Selbstbeobachtung im Kern das Gefühl des trivalen Selbstzwangs repräsentiert, ist dem Anspruchsindividualismus der Selbstinstrumentalisierung das Problem der Verfehlung von Identitätszielen inhärent. Für ZIEHE liegt das Problem dieser Struktur darin, dass „Identitätsziele direkt und intentional angestrebt werden – etwa individuelle Unverwechselbarkeit, Sinnhaltigkeit, Spontaneität, Verliebtheit oder gesteigertes Selbstwertgefühl. Es sind nämlich, wie Jon Elster überzeugend dargelegt hat, Selbstzustände, die ‚wesentlich Nebenprodukte sind’. Sie können willentlich nicht hervorgebracht werden, da sie nur als Begleitumstände von Handlungen entstehen, die zu anderen Zwecken unternommen werden“ (ZIEHE 2002, S. 934f.). Ähnlich wie die These vom Individualisierungsanspruch von Kindern verweisen auch die mentalitätsgeschichtlichen Analysen ZIEHEs auf eine Abstandsvergrößerung von Schule und Heranwachsenden. Anders als viele Ansätze der Grundschulpädagogik begründet der Jugendforscher ZIEHE hiermit jedoch keine Reformprogrammatik zur Überwindung der alten Schule, denn der alltagskulturelle Kontext von Schule habe sich auch unabhängig von Schul- und Unterrichtsreformen einschneidend verändert. Die Irritationen pädagogischer Arbeit resultieren aus der ‚Entmachtung der Hochkultur’, der ‚Informalisierung der Sozialbeziehungen’ und der ‚Subjektivierung der Selbstverhältnisse’ und werden als unhintergehbare „Normalschwierigkeiten“ von Schule erkannt, die nicht durch weitere Annäherungen zwischen Schule und Heranwachsenden gelöst werden können. Die Anerkennung dieser Differenz und der daraus resultierenden Fremdheitserfahrungen wird dagegen aus bildungstheoretischen und entwicklungspsychologischen Gründen gefordert. Hintergrund dieser These ist eine ambivalente Lesart der Modernisierung von Jugend. Die Veränderung des Alltagswissens, der Sozialformen und des Verhältnisses zum Selbst werden in der Ambivalenz von Erfahrungserweiterungen einerseits und frühzeitiger subjektiver Identitäts- und Mentalitätsverengung andererseits gesehen. Daraus resultiert die entwicklungspsychologische Bedeutung selten gewordener Fremdheitserfahrungen, die reformpädagogische Kon110
zepte zur Annäherung von Schule und Heranwachsenden verkennen. Die Inhaltsseite schulischen Lernens betreffend kann gerade die theoretische und abstrakte Auseinandersetzung mit Sachfragen der Gefahr einer subjektiven Verengung des jugendlichen Blickfeldes vorbeugen (ZIEHE 1999, S. 626). Analog argumentiert HEINER ULLRICH, dass die Subjektivierung der Lerninhalte und die Familiarisierung der Rollenbeziehungen anspruchvolle Formen kultureller Aneignung schlichtweg verhindern können. Der schulpädagogischen Reformdiskussion entgegnet er, dass es nicht um die „Öffnung der Schule zu einer Erlebnisgesellschaft“ gehen könne, sondern dass die zentrale Aufgabe der Schule vielmehr in der „Öffnung des Schülers für die Phänomene, Werke und Taten, an denen er seine Anschauungskraft und Urteilsfähigkeit ausbilden kann“, bestehen müsse (ULLRICH 1999, S. 594). In Bezug auf die Sozialformen schulischen Lernens spricht sich ZIEHE (1999, S. 626f.; 2006, S. 33) gegen eine pädagogisch-intentionale Verstärkung des ohnehin schon kulturell informalisierten Rollenverhältnisses von Lehrern und Schülern aus und plädiert stattdessen für klare Strukturierungen und Rahmensetzungen im pädagogischen setting. Es ist ihm wichtig, dass die Implementierung von Regeln und Ritualen nicht als Einschränkung missverstanden wird, sondern als notwendige Stabilisierung und Orientierung angesichts vielfältiger Kontingenzerfahrungen in der enttraditionalisierten Gesellschaft. Was nun den Bereich des Selbstverhältnisses anbelangt, so weist ZIEHE (1999, S. 627f.) darauf hin, dass nicht nur die Orientierung an subjektiven Vorlieben und alltagskulturellen Wahrnehmungsgewohnheiten, sondern vor allem die aus Fremdheitserfahrungen resultierende Fähigkeit zur „Dezentrierung“ ein gegenwärtig wichtiges Selbstverhältnis kennzeichnet. Im Unterschied zur postmodernen Verwendung des Begriffs ‚Dezentrierung’ ist hier nicht die Pluralisierung von Identität gemeint, sondern der mit aufklärerischen Vorstellungen von Autonomie unauflösbar verbundene Gedanke der kognitiven und affektiven Lösung des Ichs aus unmittelbaren Befindlichkeiten und unreflektiert übernommenen lebensweltlichen Orientierungen. Es geht um die Fähigkeit, mit eigenen Bedürfnissen autonom umgehen zu können, d.h. sich selbst als universell verbindlich betrachtete Kriterien für das eigene Wollen setzen zu können. In dieser KANTianischen Vorstellung vom autonomen moralischen Handeln liegt die „lebensästhetische“ Freude, „sich selbst gegenüber zur Wahl fähig zu werden“ (ebd., S. 627; vgl. dazu Kap. 4.3.2). Seine Ausführungen zeigen, dass sich ZIEHE nicht mit elegant formulierten postmodernen Auswegen aus der Identitätsproblematik abgefunden hat, sondern bildungswissenschaftlich am modernen Subjektbegriff und Emanzipationsgedanken festhält. Ein produktiver pädagogischer Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler ist augenscheinlich nicht damit geleistet, mit der Einlösung von Individualisierungsansprüchen das Differenzverhältnis von Schule und Alltagskultur zu verwischen. Vielmehr erfordert die Entwicklung von Ich-Stärke, Autonomie und moralischer Urteilskraft offensichtlich auch Fremdheitserfahrungen im inhaltlichen Bereich schulischen Lernens und klare Orientierungsmöglichkeiten in den Sozialformen des Unterrichts. Diese Auffassung findet sich im Übrigen mittlerweile auch in den traditionell eher reformorientierten grundschulpädagogischen Diskussionen. Ein Abbau fester institutioneller Strukturen und Erwartungen zugunsten von Individualisierungsansprüchen von Kindern nimmt Heranwachsenden verlässliche Strukturen. Insofern kommt auch die vom Individualisierungsanspruch ausgehende Pädagogik etwa bei FÖLLING-ALBERS nicht ohne kompensatorische Formen sozialen Lernens aus. Deutlicher lässt sich mit LUISE WINTERHAGER-SCHMID (1994, S. 302) sagen, dass 111
„Schule ein Ort (ist), an dem Kinder auch universalistische Regeln lernen sollen, d.h. Regeln, an die jede und jeder sich auch halten sollte, damit gemeinschaftliches Leben in der Gesellschaft eingeübt werden kann.“ Dies ergänzend bemerkt SUSANNE GASCHKE (2003, S. 17.): Das Kind „muss umso mehr zum Selbstzwang fähig sein, je größer seine Freiheit ist. Eine Persönlichkeit, die aus freien Stücken darauf verzichtet, sich auf Kosten anderer zu entfalten, wäre eine reife Persönlichkeit. Diese Reife kann man von Erwachsenen (mit einigem Optimismus) verlangen, von Kindern noch nicht. Eine Erziehung, die Kinder mit Freiheiten überfordert [...] ist fast sicher geeignet zu verhindern, dass sie reife Persönlichkeiten, Charaktere, werden. Es ist ein fundamentaler Irrtum, [...] das Erziehungsziel, den freien verantwortungsvollen Menschen, mit dem Weg zu diesem Ziel verwechselt zu haben.“ Diese Äußerung lässt sich als Plädoyer für Fremdheitserfahrungen lesen, für eine Differenz zwischen alltagskulturellen, ich-nahen Sozialformen und Aneignungsmustern sowie schulischen Lernformen und Interaktionsstilen. Die Rede von schulischer Bildung schließt ein, sich aus der eigenen Subjektivität durch die Auseinandersetzung mit bereits erschlossenen Weltsichten zu dezentrieren. Nicht-subjektivistisches Lernen und der Umgang mit neuen Sichtweisen, die sich von Alltagserfahrungen unterscheiden, ermöglichen den Aufbau kognitiver und affektiver Distanz, die als Voraussetzung von autonomem Entscheiden und Urteilen betrachtet werden können (vgl. Kap. 4.3.2).
5.4
Zur didaktischen Förderung von Individualisierung durch selbstständiges Lernen im Unterricht
Während im vorigen Kapitel Veränderungen des Sozial-, Lern- und Arbeitsverhaltens von individualisierter Kindheit und Jugend und die damit verbundenen ‚Normalschwierigkeiten’ von Schule und Unterricht als schulpädagogische Herausforderungen thematisiert wurden, wenden sich die folgenden Abschnitte pädagogisch-didaktischen Reflexionen zum Verhältnis des Aufwachsens, Lebens und Lernens in der durch Individualisierungsprozesse gekennzeichneten Gesellschaft zu. Gesellschaftstheoretische und kulturphilosophische Individualisierungsdiagnosen und mithin das Erstarken des Akteurparadigmas in der Sozialisationstheorie und der neueren Kindheitsforschung wurden in der unterrichtstheoretischen Fachdiskussion breit rezipiert und führten zu einer deutlichen Verschiebung pädagogischdidaktischer Orientierungen. Deren Inbegriff sieht KLAUS WESTPHALEN (1998, S. 94) in der visionären Formel „durch Selbsttätigkeit erlangt das lernende Subjekt Selbstbestimmung“. In einem ersten Schritt (Kap. 5.4.1) sollen deskriptive Annäherungen an diese Vorstellungen einer neuen Schul- und Lernkultur gefunden werden. Daran anschließend (Kap. 5.4.2–5.4.4) wird die systematische Verbundenheit dieser Neuerungsversuche mit Diskussionen über die neue Selbstständigkeit individualisierter Kindheit und Jugend angesprochen.
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5.4.1
Didaktische Orientierungen und Unterrichtsmethoden im Wandel
Die Verschiebung pädagogisch-didaktischer Orientierungen zeigt sich besonders augenfällig in einem methodischen Trend, der sich holzschnittartig mit der Formulierung „weg vom frontal organisierten, lehrerzentrierten und lehrgangssystematischen hin zu subjektorientierten, offen strukturierten Unterrichtsformen“ (SEIBERT 2000, S. 18) zusammenfassen lässt. In didaktischer und pädagogisch-psychologischer Fachliteratur, in Praxishilfen für den Unterricht und in neuerer schulpädagogischer Einführungsliteratur wird diese didaktische Orientierung als „Wandel der Lernkulturen“ (ARNOLD/SCHÜßLER 1998), „neue Reformpädagogik“ (JÜRGENS 1998) oder „traditioneller Unterricht im Wandel“ (TOPSCH 2004, S. 63ff.) beschrieben. Diese Vorstellungen einer neuen subjektorientierten Schul- und Lernkultur konstituieren sich durch eine antinomische Abgrenzung von der ‚alten traditionellen Schule’. Gegenüber darbietenden Lehrmethoden und einem Verständnis von Lernen und Bildung, das den schulischen Sachanspruch in den Vordergrund stellt, wird in didaktischen Reformdiskursen Wissenserwerb als ‚subjektive Praktik des Selbst’ verstanden. Die Akzentuierung des ‚Selbst’ in Überlegungen zu einer neuen Schul- und Lernkultur konstruiert eine Polarisierung zweier methodischer Ausrichtungen von Unterricht: Methoden selbstgesteuerten, selbstständigen Lernens in einer subjektorientierten Unterrichtskultur werden abgegrenzt von eher ‚objektivitätsorientierter’, dem Anspruch der Sache folgender Instruktion, wobei Schul- und Unterrichtsreformer den Befürwortern dieser Praxis vielfach unkritische Vorstellungen einer Fremdsteuerung und Außendeterminierung des Lernens unterstellen (vgl. KÖSEL 1995, S. 18ff.). In Leitbegriffen wie ‚Schlüsselqualifikationen’ oder ‚Lernkompetenzen’ zeigt sich eine Verlagerung des Gewichts vom Sachanspruch des Lerngegenstandes zur individuellen und sozialen Bedeutung des Wissens für die Schüler. Diese Tendenz zur Betonung formaler Elemente in schulischen Aneignungs- und Bildungsprozessen kommt in Konzepten ‚selbstgesteuerten Lernens’ (vgl. BÖNSCH 2002) ebenso wie in der Forderung nach ‚Selbsttätigkeit im Unterricht’ (vgl. EICKHORST 1998) zum Ausdruck. Angestrebt wird nichts Geringeres, so lässt sich mit MEINERT MEYER festhalten, als „eine neue Schulkultur, die Lernen nicht auf Belehrtwerden reduziert und deshalb das aktive, eigenständige Lernen zum Ausgangspunkt aller curricularen und unterrichtlichen Anstrengungen nimmt. Lernwelten sollen geschaffen werden, learning environments, die Schüler vom bookish learning und von der Rezeptivität des Lernprozesses befreien und Erfahrungslernen, reflexive experiments ermöglichen“ (MEYER 2005, S. 8). Termini mit der Vorsilbe ‚Selbst-’ sind im Reformmilieu positiv konnotiert. WESTPHALEN sieht in der didaktischen Betonung der Selbststeuerung, Selbstreferenz und Selbstbestimmung des Lernens Kennzeichen eines utopische Züge tragenden pädagogischen Zeitgeistes, in dem auf Basis von Instruktionskritik der schulische Sachanspruch als Bildung im Medium ‚objektiver Welt’ ersetzt werden soll durch ‚subjektive Zugänge’ zum Lernen. Wie bereits erwähnt, verdichtet er die dem pädagogischen Zeitgeist entsprechenden Ideen zu der Formel: „Durch Selbsttätigkeit erlangt das lernende Subjekt Selbstbestimmung.“ Dieser gängigen Deutung zufolge ist Selbstbestimmung durch Selbsttätigkeit konstituiert. Genauer definiert HANS BRÜGELMANN (2001, S. 48) Selbstbestimmung als eine „besondere Qualität von Selbsttätigkeit: die Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortung
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bei der Wahl und Ausgestaltung von Aktivitäten.“ Eine verkürzte Interpretation besteht in der Gleichsetzung von Selbsttätigkeit mit motorischer Aktivität. BRÜGELMANN macht deutlich, dass es vor allem der Bezug zum Selbst im Sinne persönlichen Interesses und persönlicher Bedeutung der Lernarbeit ist, der anspruchvolle Formen von Selbsttätigkeit kennzeichnet und als Selbstbestimmung qualifiziert. In Bezug auf den Zusammenhang von gesellschaftlicher Modernisierung und der Reform von Erziehung, Bildung und Unterricht interessiert die Popularität der skizzierten pädagogischen Orientierungen und präferierten Lernformen als ‚kulturelle Deutungsmuster’. Ausgangspunkt der folgenden Analysen ist die Hypothese, dass Subjektorientierung und die Selbstbezüglichkeit von Aneignungsprozessen im Unterricht als didaktischer Ausdruck kulturtheoretischer Sichtweisen der späten Moderne bzw. Postmoderne gedeutet werden können. Mit EWALD TERHART (1997, S. 12) wird angenommen, dass neue methodisch-didaktische Ideen im direkten Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungen und dem Wandel von Welt- und Menschenbildern stehen. Das besondere Interesse gilt daher der Frage, in welchem Verhältnis soziologische und philosophische Theoriebildung zum Leben und Aufwachsen des Menschen in der modernisierten Moderne bezogen auf didaktische Konzepte stehen, welche die Eigenaktivität und Selbstständigkeit des Lernens betonen. Zur Beantwortung der Frage muss nachvollzogen werden, wie die in den Kapiteln 3 und 4 beschriebenen soziologischen und erziehungswissenschaftlichen Zeitdiagnosen Eingang in didaktische Fachdiskussionen finden. Dazu werden in den folgenden drei Kapiteln verschiedene didaktische Rezeptionsmuster analytisch unterschieden und getrennt voneinander rekonstruiert. Unterschiede werden entlang zweier theoretischer Schneidungen festgemacht. Erstens werden makrosoziologische von micrologisch-akteurstheoretisch orientierten Deduktionsschlüssen unterschieden. Gefragt wird also, ob Veränderungen didaktisch-methodischer Orientierungen eher mit gesamtgesellschaftlichen Strukturveränderungen auf der Ebene sozialer Systeme begründet werden oder ob neuere microsoziologische Akteursmodelle als Referenzrahmen dienen. Zweitens werden die oben skizzierten methodischen Reaktionen auf den Wandel des Aufwachsens und Lernens unterschieden von der inhaltlichen Thematisierung des eigenen Lebens unter den Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierung in den Fächern des gesellschaftlich-politischen Lernbereichs der Schule. Vorab sei darauf verwiesen, dass dieser Systematisierungsversuch eine Rekonstruktion idealtypischer Argumentationsstränge intendiert, die in pädagogischen Texten vielfach parallel auftreten. Insofern ist er als heuristische Ordnungskategorie zu verstehen, die nicht die didaktische Diskussionslage abbildet, sondern an Textwirklichkeit herangetragen wird, um verschiedene gesellschaftstheoretische Ansatzpunkte pädagogischer Argumentationen sichtbar zu machen.
114
5.4.2
Individualisierung als kultureller Imperativ und als didaktisch-methodisches Prinzip von Unterricht
Zunächst sei auf ein in der didaktischen Fachliteratur gängiges Argumentationsmuster verwiesen, das in der Ableitung reformpädagogischer Prinzipien individualisierten und selbsttätigen Lernens aus gesamtgesellschaftlichen Individualisierungsprozessen besteht. Individualisierung wird hier makrosoziologisch als Anforderungsstruktur der modernen Gesellschaft beschrieben. Rekurriert wird in diesen Zusammenhängen auf den von Schülern erlebten Widerspruch zwischen der Offenheit des sich zunehmend aus soziokulturell prädeterminierten Bahnen herauslösenden Sozialisationsprozesses, dem daraus resultierenden gesellschaftlichen Imperativ „das eigene Leben in die eigene Hand zu nehmen“ (vgl. BECK 1996) und der Fremdbestimmung und mangelnden Partizipation in der lebensfernen ‚Lehrund Buchschule’, die auf rezeptives Lernen ausgerichtet ist und insofern als antiquiert gilt. An schulischen Unterricht wird die Forderung nach ‚Selbstorganisation des Lernens’ herangetragen, die sich auf ein Leben als „Bastelexistenz“ richtet, in dem das Selbst „Handlungs- und Planungszentrum in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf“ ist (BECK 1986, S. 271). Mit selbstorganisiertem Lernen ist dann ein Vorgehen gemeint, bei dem der Schüler „die wesentlichen Entscheidungen, ob, was, wann, wie und woraufhin er lernt, gravierend und folgenreich beeinflussen kann“ (WEINERT 1982, S. 102). Das formale Lernziel ‚Selbstorganisationsfähigkeit’ bezieht sich nicht nur auf das spätere Leben der Schüler, denn soziologische Fachdiskussion betonen, dass Individualisierungsprozesse bereits die Lebensphasen Kindheit und Jugend betreffen. Das bedeutet, dass biographische Konstruktionsanforderungen bereits Kindern abverlangt werden, da sich ihnen vermehrt Gestaltungsmöglichkeiten für ihr eigenes Leben bieten. Dieser Sachverhalt ist Anlass zu didaktischen Reflexionen über das den Schülern einzuräumende Maß an Selbstständigkeit und Freiheit im Lernprozess. Wenn Lebensläufe zunehmend selbstgesteuert zu gestalten sind, dann, so die Folgerung, müssen schulische Lern- und Bildungsprozesse auch auf diese Weise angelegt werden. So vertritt etwa REINHARD VOß (2005, S. 41) die Auffassung, dass Schule den Schülern die Entwicklung von grundlegenden Fähigkeiten und Eigenschaften des Handelns unter Individualisierungsbedingungen ermöglichen muss. Diese Qualifikationen bestimmt er in Anlehnung an MICHAEL BRATER als „subjektive Fähigkeiten [...], die den Einzelnen in die Lage versetzen, sich selbst gültige Orientierungen zu setzen“(BRATER 1997, S. 155; zit. nach VOß 2005, S. 41). Die Betonung selbstgesteuerten Lernens, mithin die Hinwendung zur Subjektivität und zur Lebenswelt des Schülers sowie das sich daraus ergebende Prinzip, lehrenden Unterricht zugunsten der Erfahrungen und Erprobungen der Schüler in den Hintergrund treten zu lassen, tragen zur Entwicklung jener subjektiver Fähigkeiten und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen bei, die kompetentes Handeln unter den Bedingungen gesellschaftlicher Individualisierung ermöglichen. Grundsätzlich wird hier angenommen, dass selbstgesteuertes und eigenverantwortliches Lernen den Umgang mit Freiheit in der individualisierten Gesellschaft einüben. Im Erfahrungsraum Schule soll das dafür erforderliche Gefühl der Selbstwirksamkeit erlebt werden. Zu vermerken ist, dass der traditionelle pädagogische Begriff ‚Individualisierung’ im Kontext selbstgesteuerten Lernen eine soziologisch inspirierte Bedeutungserweiterung bzw. Bedeutungsumformung erfährt. Wurde er
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ursprünglich zur Bezeichnung didaktisch und methodisch geplanter Maßnahmen der Lehrer verwendet, die auf individuelle Lernstile, Aneignungsweisen und Lernschwierigkeiten abgestimmt sind, so bezeichnet er in Diskursen über selbstorganisiertes Lernen den Prozess der Selbstbestimmung des Lernens durch die Schüler. Der fundamentale Unterschied des Vorstellungsinhalts dieser zwei Verwendungen des Individualisierungsbegriffs besteht folglich in der Verlagerung der Verantwortung für die Gestaltung von Lernprozessen von den Lehrenden auf die Subjekte des Lernens. Getragen wird diese pädagogische Orientierung durch die Erosion eines kulturell verbindlichen Kanons zu überliefernder Wissensbestände und Deutungsmuster. Mit der Akzentuierung von Selbststeuerung als Methode und als Ziel von Unterricht verliert aus der Perspektive des pädagogischen Generationenverhältnisses der Imperativ zur Nachfolge im Sinne der Aneignung von Kultur an Gewicht gegenüber der Aufforderung, durch subjektive Fähigkeiten und formale Lernkompetenz Innovationsbereitschaft und Innovationsfähigkeit auszubilden. Der SCHLEIERMACHERsche Gedanke verschiedener Graduierungen des Initiiert-Seins in Kultur als Differenz zwischen den Generationen schwindet zunehmend aus dem Horizont pädagogischer Reflexionen. Wie LUISE WINTERHAGER-SCHMID (2000, S. 29) hierzu bemerkt, scheinen Pädagogen „heute eher davon auszugehen, die Heranwachsenden könnten sich in den Beschleunigungen und Verwerfungen des zugespitzten Modernisierungsprozesses leichter zurechtfinden, wenn sich die Erwachsenen aus dem Geschäft der Erziehung und Bildung frühzeitig zurückziehen.“ In diese Zusammenhänge fügen sich pädagogische Deutungen der philosophischen Moderne-Postmoderne-Kontroverse ein (vgl. Kap. 4.3). Als zentrale philosophischer Hintergründe und Legitimationshorizonte für selbstgesteuerte und eigenverantwortliche Lernformen erweisen sich die postmoderne Subjekttheorie und Wissensphilosophie. Wie bereits oben erläutert, betrifft die gesellschaftliche Dynamik der Pluralisierung im Verständnis postmoderner Subjekttheorie auch die Individuen. Kritisiert werden aus dieser Perspektive bildungsphilosophische Vorstellungen eines autonomen Selbst bzw. stabiler Ich-Identität. Vielmehr sei Identität durch Brüchigkeit, Fragmentierung und Dezentrierung gekennzeichnet und Autonomie als das Resultat gesellschaftlicher Disziplinierung zu enttarnen, die äußere Herrschaft in inneren Selbstzwang umwandelt. In diesem Zusammenhang wird die Idee der ‚einheitsstiftenden’ Vernunft des zentrierten und autonomen Ichs in ModerneTheorien verworfen und durch Denkfiguren wie das Konzept der „transversalen Vernunft“ von WOLFGANG WELSCH (1996) ersetzt, welche nicht auf universelle Rationalitätsprinzipien, sondern auf subjektive Kompetenzen des Übergangs zwischen pluralen Sinnwelten und Identitätsanteilen rekurrieren. Anders als das im ‚Projekt der Moderne’ fest verwurzelte bildungsphilosophische Prinzip der Selbstbildung, nach dem die Aneignung von Wissen in unzertrennlichem Zusammenhang mit der Bildung des Geistes, der Person und der Gestaltung ‚vernünftiger’ Lebensverhältnisse gesehen wird (vgl. UHLE 1993), ist bei postmodernen Theoretikern die Rede von Überkomplexität und Veräußerlichung des Wissens gegenüber dem Wissenden und der Unmöglichkeit, Bildungsinhalte kanonisch festzulegen. Inhalte verlieren in diesen Diskussionen ihren Stellenwert als ‚kulturelle Objektivationen’, an denen sich Subjekte ‚abarbeiten’ und dadurch in einen Bildungsprozess eintreten. Dieser Bedeutungsverlust zeigt sich in der Abnahme des dafür erforderlichen innerlichen Bezugs zu den Inhalten, wie ihn etwa LYOTARD beschreibt: 116
„Man kann [...] auf eine starke Veräußerlichung des Wissens gegenüber dem ‚Wissenden gefasst sein [...]. Das alte Prinzip, wonach der Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung des Geistes und selbst der Person verbunden ist, verfällt mehr und mehr.“ (LYOTARD 1979, S. 24)
Angesichts der Pluralisierung von Wissensformen kann es für LYOTARD (vgl. Kap. 4.3.1) keine Metadiskurse geben, die den Sinn einzelner Wissensbestände bestimmen und diese untereinander zu universellen Bedeutungseinheiten verbinden, sondern nur gleichberechtigt nebeneinander stehende Wissenssysteme und folglich ist auch Bildung nur als Pluralisierung von Bildung denkbar. Analog zum Modell der dezentrierten Identität kann das Individuum dieser Diskursmeinung zufolge weniger in einen kulturellen Horizont geteilter Wissensbestände und Deutungsmuster eingeführt werden, sondern nur durch den Erwerb von ‚life skills’ dazu befähigt werden, sich angesichts des beschleunigten sozialen Wandels immer wieder neu als Selbst hervorzubringen. In Anbetracht dieser Sachlage deklarieren diese modernisierungstheoretischen Diskussionen das Ende materialer Bildungstheorien und markieren damit den gesellschaftlichen Kontext selbstorganisierten Lernens. Ein materialer Bildungskanon, so der Grundgedanke, ist nur in relativ geschlossenen Gesellschaftsformationen denkbar, in denen sich durch den Bezug auf inhaltlich festlegbare Wissens-, Kenntnis- und Fähigkeitsbestände ein gemeinsames Lebensgefühl und ein relativ geteilter Deutungshorizont herausbilden können. Versuchte DENIS DIDEROT etwa noch, das gesamte Weltwissen seiner Zeit in der großen französischen Enzyklopädie zu versammeln oder konnte noch der kleine Kreis der Gebildeten in der Berliner Salonkultur um 1800 auf kulturelle Gemeinsamkeiten bauen, die sie als Gebildete identifizierbar machten (vgl. GAUS 1998), so gibt es heute zu jedem Fach, zu jeder Subdisziplin und zu jedem theoretischen Ansatz eine Vielzahl von Einzelpublikationen, Sammelbänden, Zeitschriften und Lexika. Die Expansion der Wissensbestände führte dazu, dass im Unterschied zur Salonkultur der Gebildeten die Gemeinsamkeiten zwischen den heute an höheren Bildungsgängen partizipierenden Menschen abnehmen. BERNHARD GRILL (2005, S. 284) fragt angesichts der Tatsache, dass sich in der Wissensgesellschaft „selbst der belesenste Mensch keinen Überblick mehr verschaffen kann“, ob „jemand ungebildet (ist), nur weil er ein bestimmtes Buch nicht kennt – bloß weil ich dieses Buch zufällig gelesen habe und wichtig finde?“ Bildungstheoretische Didaktik in der Tradition der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik reagiert auf die Pluralisierung des Wissens mit besonderen Akzentuierungen in der Auswahl der Bildungsinhalte. Fundamental, klassisch und exemplarisch soll das in der Schule vermittelte Wissen sein. Wegweisend blieb dabei der Gedanke, über den Kanon schulischer Fächer verschiedene sprachliche, mathematische, ästhetische, religiöse etc. Zugangsweisen zur Welt zu entfalten. Demgegenüber lässt sich in neueren didaktischen und curricularen Entwürfen mit der Akzentuierung von Lern-, Schlüsselkompetenzen und selbstgesteuerten Lernformen ein Wandel der ‚Grundphilosophie’ von Unterricht erkennen. Mit der postulierten Erosion des materialen kulturellen Kanons wendet sich der Blick vom Primat der Didaktik als Auswahlproblem über die bloße Stoffsystematik hinaus hin zur Frage, welche fachgebundenen und fächerübergreifenden Kompetenzen Schüler erwerben sollen. Wichtige Eckpfeiler dieser Debatte sind das vieldiskutierte Konzept anwendungsbezogener Schlüsselqualifikationen, konstruktivistisch fundierte Konzepte selbstorganisierten Lernens und neuerdings Kompetenzmodelle, die als Bildungsstandards die gegenwärtige bildungspolitische Diskus117
sion bestimmen. Gemeinsam ist diesen Konzepten ein bildungstheoretischer Pragmatismus, der im Verdacht eines ökonomischen Reduktionismus steht, weil sich die Schwerpunkte der Reflexion verlagert haben von der Bildung der Individualität im HUMBOLDTschen Sinne zugunsten funktionaler Qualifikationsanforderungen der modernisierten Lebens- und Arbeitswelt (vgl. JÜRGENS 2004). Nicht zufällig kam dieser neue Pragmatismus daher zuerst in der Berufsausbildung mit dem Konzept der Schlüsselqualifikationen auf und findet hier auch seine stärkste Ausprägung. In der Berufsbildungs- und Wirtschaftsdidaktik bezieht man sich auf Ergebnisse der Qualifikationsforschung, die auf den schnellen technologischen und organisatorischen Wandel beruflicher Anforderungen und die Schwierigkeiten ihrer inhaltlichen Konkretisierung verweisen. Begriffe wie Problemlösefähigkeit, Kooperationsfähigkeit, Flexibilität, Transferfähigkeit, Selbstständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisationsfähigkeit halten im Gefolge dieser Befunde Einzug in Lehrpläne beruflicher Bildung und greifen auch auf die schulische Bildungsdiskussion über. Legitimationsgrundlage der Entmaterialisierung schulischer Bildung und ihrer pragmatischen Reduktion auf Selbstlernfähigkeit ist der Verweis auf die Pluralisierung und schnelle Veralterung der Wissensbestände. Bildungspolitisch wirksam ist dabei weniger der Rekurs auf kulturelle Transformationen der modernisierten Moderne im Allgemeinen als der Bezug auf ökonomische Wandlungsprozesse im Besonderen. Mit dem Verweis auf die schnelle Veralterung des Wissens ist im Kern seine „betriebswirtschaftliche Verwertbarkeit auf dem Markt“ gemeint (GIESECKE 2004, S. 380). Die Anforderungen des neuen Arbeitsmarktes in die an Schule gerichteten Qualifikationserwartungen zeigen sich z.B. im Sammelband „Jugend und Arbeit“ der Bertelsmann Stiftung. Die hier zusammengestellten Beiträge befassen sich mit der Frage, wie in der ‚Wissensgesellschaft’ Beschäftigungsfähigkeit gesichert werden kann. Wie die meisten Aufsätzen konstatieren, ist dazu erhöhte Eigeninitiative und Eigenverantwortung in der Lebensplanung nötig, die durch schulische Ausbildung grundgelegt werden soll. Von schulischem Lernen für die Zukunft, d.h. für die Sicherung von Beschäftigungsfähigkeit, wird von den Autoren die Ausbildung von Lernfähigkeit, Lernkompetenz, Methodenkompetenz, selbstständigem Lernen, Problemlösefähigkeit und anderen Fähigkeiten des individualisierten ‚Selbstunternehmers’ als Vorbereitung für lebenslanges Lernen gefordert (vgl. BERTELSMANN STIFTUNG 2005). Ausgehend von einem pragmatischfunktionalistisch rekonstruierten Bildungsbegriff werden Selbstständigkeit und Selbstorganisationsfähigkeit als gesellschaftlich erforderte Schlüsselqualifikationen ausgewiesen (vgl. dazu auch HEURSEN 1996; BOENICKE 2000; SCHUMACHER 2003). Problematisiert werden im Umkehrschluss schulische Orientierungen am „protestantischen Arbeitsethos“ mit seiner Betonung von Disziplin, Zielstrebigkeit und Gehorsam. So kritisiert THOMAS OLK die „soziale Ungleichzeitigkeit“ zwischen den Modi schulischer Lernarbeit und der Welt der modernen Erwerbsarbeit, die nur durch eine „Neugestaltung der kindlichen Arbeitszeit“ überwunden werden könne (OLK 2003, S. 114). Wie bereits in anderen Zusammenhängen dieser Arbeit betont wurde, ist diese bildungstheoretisch-pragmatische Redeweise über Selbstständigkeit doppelbödig. Die in der Aufklärungsphilosophie als Autonomie des Subjekts und in der pädagogischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts als Selbsttätigkeit artikulierte pädagogische Vision einer Erziehung und Bildung zur Selbstständigkeit wird ihres subjekt- und gesellschaftsphilosophischen Utopiegehaltes entkleidet und nüchtern als Qualifikationsanforderungen des Wirt118
schaftssystems reformuliert (vgl. SCHELTEN 2003, S. 285; NEUMANN 2005, S. 687). Zuweilen ist auch von einer Auflösung der Emanzipationsidee die Rede, denn der Rekurs auf formale Lern- und Schlüsselkompetenzen steht im Zeichen der Anforderungen lebenslangen Lernens, die Lernende permanent als defizitär klassifizieren und unmündig halten. Die in Konzepten des bildungstheoretischen Pragmatismus enthaltenden humanen Befähigungen wie Selbstständigkeit und Kooperationsfähigkeit dienen zwar auch dem Individuum zur gelingenden Planung eines glücklichen Lebens, sie finden jedoch im bildungspolitischen Diskurs vor allem Gehör als Qualifikationserwartungen, die das Beschäftigungssystem an das Erziehungssystem stellt. Hierbei handelt es sich um eine als Humanisierung getarnte Rationalisierung, mit der die im sozialen Kapitalismus hochgehaltene ökonomische Verantwortung von Kapitaleigentümern und Managern mit Berufung auf die Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit der Arbeitnehmer im neuen neoliberalen Kapitalismus abgebaut wird. Auf diese Weise werden gesellschaftliche Probleme in Lernprobleme transformiert und dadurch verschleiert, denn „es wird so getan, als seien die Probleme der Arbeitswelt Lerndefizite der Einzelnen“ (GEIßLER/ORTHEY 2000, S. 41). Lehr-lerntheoretische Konzeptualisierungen dieses mit gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturveränderungen begründeten bildungstheoretischen Pragmatismus seien in Teil II dieser Arbeit am Beispiel konstruktivistischer Konzepte selbstgesteuerten Lernens thematisiert und problematisiert.
5.4.3
Individualisierung als Sozialisationsmodus und das eigene Leben als Thema des Unterrichts
Nicht nur veränderte didaktisch-methodische Orientierungen der Unterrichtsorganisation sollen den gesellschaftlichen Strukturvorgaben des Lebens und Aufwachsens unter den Bedingungen von Individualisierung gerecht werden. Komplementär dazu wird das eigene Leben als Konstruktion auch in den Fächern des politisch-gesellschaftlichen Lernbereichs der Schule explizit zum Unterrichtsgegenstand erhoben. Im Folgenden sei als Beispiel das Unterrichtsfach Sachunterricht herangezogen. Unter einer sozialwissenschaftlichen Perspektive spielt gerade in diesem Unterrichtsfach „biographisches Lernen“ (KIPER 1997) oder das „eigene Leben als Thema“ (HEMPEL 2004) eine wichtige didaktische Rolle. MARLIES HEMPEL (2004, S. 146) erläutert, dass ausgehend von Lebensentwürfen der Kinder die Probleme des eigenen Lebens aufgegriffen und zu „Anhaltspunkten für kultur- und sozialwissenschaftliches Lernen werden und eine subjektorientierte Auseinandersetzung mit Problemen der komplexen widersprüchlichen Welt ermöglichen können“. Nach HEMPEL enthalten Lebensentwürfe Selbstbilder der Kinder, ihre biographisch geprägten Werteverständnisse, Orientierungen, Handlungsstrategien sowie subjektive Deutungen und Interpretationen ihrer sozialen Umwelt. Lebensentwürfe von Grundschülern und Grundschülerinnen tragen insofern didaktisch zur Unterstützung der Konstruktionsanforderungen des eigenen Lebens bei, als sie zur Reflexion eigener Fähigkeiten, Interessen und Wünsche im Zusammenhang gesellschaftlicher Rahmenbedingungen anregen. Durch ihre doppelte Codierung von Individuation und Vergesellschaftung tragen die biographischen Entwürfe 119
und Selbstreflexionen zur Entwicklung und Austarierung persönlicher wie auch sozialer Identität bei und befördern somit die Herausbildung von Ich-Identität, einer Persönlichkeitseigenschaft, die wesentlich zur Bewältigung der Ambivalenzen der modernisierten Moderne beiträgt (vgl. Kap. 4.3.2). Über die Reflexion von Lebensentwürfen sollen die Kinder verstehen, dass äußere Bedingungen, aber vor allem eigene Entscheidungen und Unterlassungen den Lebenslauf konstituieren, „denn jeder Mensch konstruiert – unter Berücksichtigung des Bedingungsgefüges – im Wesentlichen seine persönliche Lebensgeschichte selbst“ (ebd., S. 148). Insofern wird als wichtige Aufgabe des politischen und gesellschaftlichen Lernbereiches des Sachunterrichts hervorgehoben, Kinder dazu zu befähigen, „das eigene Leben und Lernen zu reflektieren und zu verstehen, selbst Entscheidungen zu treffen, den eigenen Handlungskontext (z.B. in Familie, Schule, Arbeit, Umwelt) zu analysieren“ und „Folgen des eigenen Handelns im sozialen Kontext auszuloten“ (ebd.). Größtmögliche Selbstbestimmung und Subjektorientierung des Lernens gilt hierbei als methodische Voraussetzung. Ein geeigneter Ansatzpunkt für die Auseinandersetzung mit der bisherigen und dem Entwurf der zukünftigen Lebensgeschichte ist das Verfassen eigener Lebensentwürfe im freien Schreiben. Das Konzept des freien Schreibens ist im Integrationsbereich von Sprach, Literatur- und Sachunterrichtsdidaktik angesiedelt. Das Prinzip der Selbstbestimmung des Lernens zeigt sich hier im Unterschied zur traditionellen wie auch zur kommunikationsorientierten Aufsatzdidaktik darin, dass Texte nicht nach den Strukturen vorgegebener Kriterien verfasst bzw. auf den Aspekt der Informationsvermittlung reduziert werden, sondern dem freien nach außen gewendeten Ausdruck eigener Gefühle und Gedanken dienen (vgl. SENNLAUB 1980). Diese Bedeutung freier Texte für biographisches Lernen hat bereits der Reformpädagoge CELESTIN FREINET klar erkannt. Er macht deutlich, dass freies Schreiben den Kindern ermöglicht, „[...] ihre eigenen Gefühle und Gedanken auszudrücken, sich nach außen zu wenden, in Verbindung zu treten mit entfernten Personen“ (FREINET 1980, S. 45). Dieser Gedanke steht in der Tradition der klassischen Hermeneutik. In der Terminologie WILHELM DILTHEYs können die freien Texte von Kindern zu lebensweltlichen Erfahrungen und Lebensentwürfen als „Objektivationen“ bzw. „dauernd fixierte Lebensäußerungen“ beschrieben werden, die nach hermeneutischem Verständnis die Grundlage sowohl für tieferes Selbstverstehen der Kinder als auch für pädagogisches Verstehen bilden (vgl. dazu UHLE 2003). In der modernen Schreibforschung und Aufsatzdidaktik wird diese Bedeutung des Schreibens ebenfalls hervorgehoben und mit dem Begriff der narrativen ‚Vergegenständlichung’ der häufig noch nicht rational durchdrungenen und artikulierbaren Gefühle, Wünsche und Träume des Schreibenden belegt. Innere Zustände werden externalisiert und gerinnen in einer festen Form. Damit vergegenständlicht der Schreiber in gewisser Weise sich selbst und tritt im Prozess des Schreibens in einen Dialog mit sich selbst. Introspektion und Selbsterforschung als Anforderungen der Identitätsarbeit in der modernisierten Moderne werden auf diese Weise gefördert. Wie durch inhaltsanalytische Forschungen und hermeneutische Analysen belegt wurde, nutzen Kinder dieses Potential freien Schreibens zu biographisch-lebensgeschichtlichen Reflexionen. Thematisiert werden vor allem innere Entwicklungsthemen wie die anthropologisch-entwicklungspsychologische und z.T. mit Angst und Abwehrreaktionen besetzte Machtasymmetrie zwischen Kindern und Erwachsenen (vgl. FATKE 1993). Ebenso bedeutsam erscheinen lebensweltliche Sozialisationsthemen 120
wie Familie, Freundschaft, Natur und Tiere sowie die Ausgestaltung der Geschlechtsrollenidentität (vgl. RÖHNER 1997). Werden Kinder zum Verfassen von Lebenswürfen aufgefordert, ist im Sinne der Prinzipien freien Schreibens darauf zu achten, dass die Authentizität der Texte als Ausdruck eines Inneren in einem Äußeren nicht zu stark durch inhaltlich festgelegte Eingangsimpulse eingeschränkt wird. Zudem ist ein sensibler und respektvoller Umgang mit den fertigen Textprodukten geboten. Die Anknüpfung sozial- und kulturwissenschaftlicher Lernprozesse an die Lebensentwürfe und Lebensprobleme der Kinder und die darin eingelagerten soziokulturellen und geschlechtsspezifischen Deutungsmuster kann erfolgen als sozialwissenschaftsorientierte Auseinandersetzung mit den in diesen Zusammenhängen relevanten Themen wie z.%dem historischen Wandel und der Bedeutung der Arbeitswelt für den Menschen, dem Zusammenleben in der Familie, dem Verhältnis der Geschlechter.
5.4.4
Das Kind als Akteur seiner Entwicklung und als Konstrukteur seines Lernens – Zur Konvergenz kindheitstheoretischer und pädagogischdidaktischer Subjektmodelle
In den vorigen Kapiteln wurde ein pädagogischer Rezeptionsmodus thematisiert, der Individualisierung und Selbstständigkeit als didaktisch-methodische Prinzipien und als Gegenstände des Unterrichts aus makrologischen Strukturvorgaben des Lebens und Aufwachsens in der modernisierten Moderne ableitet. Aus erhöhter Eigenaktivität, Eigenleistung und Eigensteuerung des Ichs in der Gestaltung des Lebens werden als pädagogische Konsequenzen die methodische Öffnung des Unterrichts und die Thematisierung des eigenen Lebens in den Fächern des politisch-gesellschaftlichen Lernbereichs der Schule geschlussfolgert. Parallel hierzu findet das in den verschiedenen Ansätzen der neueren Kindheitsforschung konzeptionalisierte Paradigma der Akteurskindheit Eingang in die Unterrichtstheorie. Diese insbesondere in der Elementar- und Primarpädagogik forcierte Rezeption sozialwissenschaftlicher Subjektmodelle dient ebenfalls als Ansatzpunkt zur Formulierung pädagogisch-didaktischer Antworten auf gesellschaftliche Veränderungen des Kinder- und Jugendlebens, wie im Folgenden erläutert wird. In dieser Ableitung pädagogischer Konsequenzen aus sozialen Wandlungsprozessen bilden nicht makrosoziologische Analysen den gesellschaftstheoretischen Hintergrund für Reformvorschläge schulischen Lernens, sondern aktuelle Kinderbilder der Kindheitswissenschaften, die in 4.2 als positive subjekttheoretische Ausdeutung gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse interpretiert wurden. Gesamtgesellschaftliche Veränderungen der sozialen, ökonomischen und politischen Struktur finden hier Ausdruck in forschungsleitenden Menschen- und Kindheitsbildern und wirken so vermittelt auf pädagogische Theoriebildung und pädagogische Handlungsorientierungen ein. Hierin besteht die Gefahr, den ‚Sitz im Leben’, d.h. die kulturelle und gesellschaftliche Verortung dieser Kinderbilder zu übersehen und sie verkürzt als universelle Charakteristik des Kinderlebens zu deuten. So kann es leicht zu einer ideologischen Überhöhung der Selbstständigkeit von Kindern kommen. Im Ansatz der Selbstsozialisation, in der Soziologie der Kindheit und in der neueren 121
Säuglings- und Kleinkindforschung wird die Demarkation von Kindheit im Generationenverhältnis als unfertige, abhängige, unmündige und in Schon- und Schutzräumen lokalisierte Lebensphase überwunden und somit die Selbstsozialisation als Errungenschaft gefeiert. Wie kritisch angemerkt wurde, wird dadurch die Struktur des Werdens in der wissenschaftlichen Diskussion über das Leben und Aufwachsen von Kindern vernachlässigt. Das führt zu einer einseitigen Auflösung der doppelten Bestimmung von Selbstständigkeit als Voraussetzung und Ziel von Erziehung. Die Spannung zwischen kindlicher Eigenständigkeit, Schutzbedürftigkeit und Angewiesenheit kann aus dieser Perspektive nicht angemessen als Herausforderung und unhintergehbare Grundparadoxie pädagogischen Handelns theoretisch sichtbar gemacht werden. In der pädagogisch-didaktischen Rezeption dieser Theoreme spiegelt sich diese Problematik in der Spannung zwischen Selbstaneignung als Lernen und Lehren als Initiation in Kultur, wie im Folgenden thematisiert wird. Im Kontext der Rezeption des Paradigmas der Akteurskindheit in der Didaktik muss sich zunächst allgemein über die pädagogische Wirkungsmächtigkeit von Kinderbildern verständigt werden. In seinen historisch-anthropologischen Analysen zur Bedeutung von Kinderbildern geht HARTMUT GRIESE (2001, S. 32) davon aus, dass sie festlegen, „wie ein Kind ist bzw. sein soll und wie pädagogisch darauf zu reagieren ist.“ In Übereinstimmung mit der These, dass in wissenschaftlichen Subjektmodellen zeittypische Sichtweisen und Selbstverständnisse der Individuen Ausdruck finden, sind für GRIESE Kinderbilder „Bilder von Erwachsenen (!) über (!) Kinder, die meist Widerspiegelung allgemeiner gesellschaftlicher oder biographischer Erfahrungen sind. Kinder selbst sehen sich nie so“ (ebd.). Entscheidend ist, so die Grundannahme, dass Bilder von Kindheit Konstruktionen von Erwachsenen sind, die pädagogische Forschung und Praxis maßgeblich mitbestimmen (so auch BEHNKEN 2004). Folgt man nun dem entpädagogisierten und in neueren Ansätzen der Kindheitsforschung vermittelten Bild der ‚modernen Akteurskindheit’, das den Einfluss von Pädagogik als Instanz der Fremdsozialisation marginalisiert, resultiert daraus eine grundsätzliche Neubestimmung des traditionellen Verständnisses schulischen Lernens als Initiation in Kultur. So vertritt JÜRGEN ZINNECKER die These, dass sich die Bildungsziele des Ichs „unter dem Druck der Selbstsozialisation versubjektivieren“. Pädagogik könne sich daher nicht mehr als Instanz der Fremdsozialisation begreifen, sondern als Instanz der „Hilfe zu Selbsterziehung / Selbstbildung“ (ZINNECKER 2000, S. 286). In einer ersten Bedeutungsschicht sind hier zunächst allgemeine Bedingungen des Aufwachsens in der modernisierten Gesellschaft in Rede gestellt. Da sich in funktional differenzierten und polykontexturalen Gesellschaften heterogene Sinnstrukturen und selbstreferenzielle Kommunikationszusammenhänge herausgebildet haben und mithin ehemals universelle Weltdeutungen im kulturellen Relativismus versinken, ist für die gesellschaftliche Reproduktion und Integration nicht mehr die Übernahme eines verbindlichen Sets von Werten, Normen und Verhaltensmustern erforderlich. Wie bereits oben erläutert, geht die Bedeutung eines objektiven kulturellen Bildungskanons im ‚Meer der Kontingenz’ unter. Unter dem Druck beschleunigter sozialer Veränderungen werden demgegenüber Flexibilität, Lernfähigkeit und Differenzwahrnehmung im Sinne von Selbstsozialisation als lebenszeitliche Auseinandersetzung mit sozialen Erwartungen wichtig. Mit der Subjektivierung der Bildungsziele, und hier gehen wir über zur zweiten Bedeutungsebene, subjektivieren sich auch die Aneigungsprozesse. Pädagogisch122
didaktisch gewendet, wird die Selbstsozialisation kindlicher Akteure nicht nur als allgemeine „Verfasstheit des heutigen Aufwachsens“ betrachtet, sondern, wie CHARLOTTE RÖHNER (2003, S. 12) ergänzt, auch des Lernens. Gingen im traditionellen Integrationsparadigma der Sozialisationsforschung Strukturfunktionalismus und Behaviorismus eine Koalition ein, so korrespondieren aktuelle Akteursmodelle des Aufwachsens mit neueren Lernbegriffen, welche die kognitive Eigentätigkeit und Selbstreferenz des Subjekts betonen. Mit dem Verweis auf die Selbstsozialisation des Lerners wird der systematische Zusammenhang zwischen Kindheitsforschung, Lern- und Unterrichtstheorie deutlich. Das Modell des Kindes als Akteurs seiner Lebenswelt wird in die neuere schulpädagogische Diskussion übernommen und lerntheoretisch konzeptualisiert. Das Kind wird als eigenaktiver Lerner und als Konstrukteur seiner kognitiven Entwicklung betrachtet. Es steuert seinen Lernprozess im Sinne von Selbstsozialisation eigenmächtig (RÖHNER 2003, S. 11). Da Sozialisation grundsätzlich als Selbstsozialisation aufgefasst wird, kann auch pädagogisches Handeln, das traditionell als intentionale Sozialisation begriffen wird, nur Irritation autonomer kindlicher Akteure und ihrer eigenen Perspektiven sein. Konstruktivistische Theorien, welche die psychischen Prozesse Wahrnehmung, Erkennen und Lernen als subjektive Konstruktionsleistungen betrachten, bilden den erkenntnis- und lerntheoretischen Hintergrund dieser Konzeptualisierung des Akteurparadigmas. So konstatiert FRIEDERIKE HEINZEL (2002, S. 550), dass mit der Rezeption der Kindheitsforschung in der Grundschulpädagogik auch die Anwendung konstruktivistischer Theorieperspektiven auf schulische Fragen des Lehren und Lernens korrelativ steigt. Mit dem Akteurskonzept kindlichen Lernens werden sowohl die Selbsttätigkeit im offenen Unterricht wie auch das Unterrichten aus der Perspektive von Kindern begründet. Mit der Konzentration auf die Perspektive des Kindes in schulischen Lernprozessen ist ein weiterer methodischer Konvergenzpunkt zwischen Kindheits- und Schulforschung benannt. Im Zusammenhang dieser Neuperspektivierung des Unterrichts steht auch die verstärkte didaktische Hinwendung zu den alltagskulturellen Erfahrungen der Kinder, die insbesondere von der Soziologie der Kindheit erforscht und in Abgrenzung zur ‚Kultur der Erwachsenen’ und der von ihnen gestalteten ‚Kultur für Kinder’ beschrieben werden. Hier eröffnet sich ein neuer Integrationsbereich zwischen Unterrichts- und Schulforschung. So konstatiert etwa PETER BÜCHNER (1996, S. 158) für die Grundschulpädagogik einen stärkeren Wechsel der Perspektive vom Schüler zum Kind. Das Kind soll nicht auf die Schülerrolle reduziert werden, sondern sich in der Schule als Person darstellen können. Insofern Schule nicht mehr als ‚Lernfabrik’, sondern als ‚Ort der Kinderwelt’ gesehen wird, nähert sich Schul- und Unterrichtsforschung der Kindheitsforschung. Der nun folgende zweite Teil dieser Arbeit sucht zu zeigen, wie diese Hinwendung zum Kind als selbstständiger Akteur in seiner Lebenswirklichkeit in der Schulpädagogik und Didaktik im Rahmen konstruktivistischer Theoriekonzepte lehr-lerntheoretisch konkretisiert und konzeptualisiert wird.
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II
Selbstständigkeit als selbstreferenzielles und selbstorganisiertes Lernen
Der zweite Teil dieser Arbeit ergänzt die bisher dargestellten gesellschafts- und kulturtheoretischen Konzepte über Individualisierung und Selbstständigkeit von Kindern um erkenntnistheoretische und lernpsychologische Konzepte selbstbezüglichen Lernens. Die Ausführungen schließen an die Frage an, wie gesellschaftstheoretisch begründete Forderungen nach selbstgesteuertem Lernen und das Bild des modernen Kindes als eigenständiger Akteur seiner Lebenswelt epistemologisch fundiert und lehr-lerntheoretisch konzeptualisiert werden. Angenommen wird eine Kontinuität zwischen einerseits gesellschafts- und kulturtheoretischen sowie andererseits erkenntnis- und lerntheoretischen Sichtweisen auf das Leben, Lernen und Aufwachsen in der modernisierten Moderne. Diese Kontinuität zeigt sich darin, dass neuere Lerntheorien verschiedene Ausprägungen selbsttätigen, selbstständigen, selbstorganisierten, selbstmotivierten, kooperativen, situierten und anwendungsbezogenen Lernens in ihren Mittelpunkt stellen, die mit den gesellschaftlichen Anforderungen des Lebens und Aufwachsens in der modernisierten Moderne korrespondieren (zum Überblick über „neue Lerntheorie“ vgl. WEINERT 1996). Aus dem Fundus neuerer Lerntheorien wird mit dem modernen Konstruktivismus exemplarisch ein aktueller, vielschichtig gelagerter und auf unterschiedliche pädagogische Fragestellungen bezogener Theoriezusammenhang aufgegriffen, welcher die aktive, gestaltende und interpretierende Rolle des Ichs in Aneignungsprozessen aus der Perspektive einer subjektorientierten Lern- und Erkenntnistheorie thematisiert. Paradigmatisch kann an der erziehungswissenschaftlichen Konstruktivismus-Rezeption die pädagogische Umstellung auf das Akteursparadigma des kindlichen Lernens verdeutlicht werden. Konstruktivistische Theorien finden vor allem das Interesse der Didaktik und der Fachdidaktiken. Auf Basis konstruktivistischer Theoreme werden in diesen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen allgemeine Didaktiken (vgl. KÖSEL 1995; REICH 2002; SIEBERT 2003), fachdidaktische Konzepte (vgl. MEIXNER 1997; BRÜGELMANN 2002; OSBURG 2002) und instruktionspsychologische Ansätze situierten Lernens (vgl. GERSTENMEYER/MANDL 1995, S. 874) formuliert. Einige Autoren bemühen sich darüber hinaus um eine Übertragung konstruktivistischer Theorieannahmen in die Allgemeine Pädagogik (vgl. VON SALDERN 1991; LENZEN 1997; HUSCHKE-RHEIN 2003; TREML 2004). Hier werden pädagogische Grundbegriffe wie Erziehung und Bildung sowie wissenschaftstheoretische Grundlagen der Erziehungswissenschaft konstruktivistisch rekonstruiert. Grundlegender Modus der Konstruktivismus-Rezeption in den genannten erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen ist der Versuch, pädagogische Handlungsprinzipien, Unterrichtsmethoden und wissenschaftstheoretische Metareflexionen aus konstruktivistischen Theorieannahmen zur Frage des Lernens und Erkennens abzuleiten. Um an ausgewählten erziehungswissenschaftlichen Verwendungen konstruktivistischer Theoriekonzepte modellhaft zu demonst125
rieren, wie die ‚neue Selbstständigkeit moderner Kindheit’ konstruktivistisch als Selbstreferenzialität und Selbstorganisation des Lernens und Verstehens thematisiert wird, seien in einem ersten Schritt (Kap. 6) wissenssoziologische Überlegungen zur Genese konstruktivistischen Denkens im kulturellen Modernisierungsprozess sowie Grundannahmen und Varianten konstruktivistischen Denkens rekonstruiert, um dann vor diesem Hintergrund (Kap. 7) die Übernahme konstruktivistischer Theoreme in didaktische, erziehungs- und bildungstheoretische Reflexionen über Pädagogik als Anregung zur Selbsttätigkeit nachzuzeichnen.
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6
Konzepte konstruktivistischen Denkens
6.1
Zur wissenssoziologischen Deutung der Genese konstruktivistischen Denkens im Modernisierungsprozess
Die systematische Verbundenheit von gesellschafts- und kulturtheoretischen Reflexionen von Modernisierung einerseits und neueren Lern- und Erkenntnisbegriffen andererseits wird an der Genese konstruktivistischen Denkens deutlich. Diese historische Perspektive fokussiert den Zusammenhang von Kultur und Kognition. Die Entstehung von Lern- und Erkenntnismodellen in den Neuro- und Kognitionswissenschaften kann so als Teil der geistigen Kultur der Gesellschaft aufgefasst werden (vgl. REICH 2005, S. 93f.). Deutet man vor diesem Hintergrund die historische Entwicklung epistemologischen Denkens wissenssoziologisch als ideengeschichtliche Konsequenz gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse, zeigt sich im konstruktivistischen Denken ein kultureller Wandel in der Sicht auf soziale Wirklichkeit. DETLEF HORSTER versucht im Anschluss an LUHMANN, der in seiner Gesellschaftstheorie konstruktivistisch-systemische Theoriebausteine und soziologisch-modernisierungstheoretische Reflexionen aufeinander bezieht, diesen Zusammenhang aufzuhellen (vgl. SIEBERT 2003, S. 46). In seinen Grundzügen stellt er sich folgendermaßen dar: In der mittelalterlichen, stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft bildeten die Individuen mit der christlichen Gemeinde eine Einheit, ihre personale und soziale Identität überschnitten sich größtenteils. Ihrer festen sozialen Verortung entsprachen ein geschlossenes Weltbild und eine objektivistische Erkenntnistheorie, die Wahrheit als Übereinstimmung von Erkanntem und zu Erkennendem begriff und dementsprechend von einer Universalität und Subjektunabhängigkeit von Erkenntnisprozessen ausging. Das bedeutet nicht, dass es keinen Raum für die Subjektivität und die Selbstversicherung des Erkennens gab, doch kam dieser prinzipiell nur so weit zum Tragen, wie die geschlossene Weltdeutung nicht gefährdet wurde. Demgegenüber ist gesellschaftliche Modernisierung durch die zunehmende Auflösung gemeinschaftlicher Formen der Eingebundenheit der Individuen gekennzeichnet. Mit der sukzessiven Umstellung auf funktionale Differenzierung im gesellschaftlichen Evolutionsprozess treten soziale Ortlosigkeit und Exlusionsindividualität an die Stelle des vormodernen Gruppenselbst. Die übergreifende gesellschaftliche Grundsymbolik und fest gefügte kosmisch-religiöse Identitätsbestimmungen in stratifikatorischen Gesellschaften weichen in der modernen Gesellschaft Eigenbegründungen des Staates, der Wirtschaft, der Moral und des Erkennens. Einen ersten Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung (vgl. Kap. 2). Im Mittelpunkt der Aufklärung stand die Vorstellung von gesellschaftlichem, kulturellem und sittlichem Fortschritt durch technischrationale und objektive wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung. WINFRIED BÖHM (2004, S. 127
57) bezeichnet die Devise dieses Verständnisses von Aufklärung als „Wahrheit durch Klarheit“. Aufklärung zielte auf die Lösung aus vormodernen Abhängigkeiten von Natur, Religion und Tradition durch Rationalisierungsprozesse. Die ideengeschichtliche Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturgeschichte, d.h. die Erkenntnis, dass Gesellschaftsordnung und Kultur nicht ontisch vorgegeben, sondern von den Menschen selbst erzeugt sind, bedingt die Vorstellung, Gesellschaft könne als Projekt nach Vernunftprinzipien intentionalistisch gestaltet werden. In diesem Prozess der Säkularisierung hat man der objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis eine zentrale Bedeutung beigemessen. Die klassische Erkenntnisrelation moderner Wissenschaft besteht in der Trennung eines Objekts von einem Subjekt, wobei das Subjekt das Ziel verfolgt, Dinge ‚objektiv’ zu erfahren, um so bisher verborgene Phänome ‚entdecken’ zu können. Wahrheit wird dementsprechend als Übereinstimmung, Abbildung, Spiegelung oder Korrespondenz von Wissen und Welt betrachtet (vgl. HABERMAS 1973). Bekräftigung erfuhr diese Vorstellung durch bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse wie die ‚Entdeckung’ der Gravitationsgesetze durch ISAAC B. NEWTON. Gegen diese Relationierung von Subjekt und Objekt trifft man in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder auf Einwände, die sich als Vorläufer konstruktivistischen Denkens deuten lassen (zum Überblick: vgl. RUNKEL 2002). In der geisteswissenschaftlichen Traditionslinie kann beispielhaft FRIEDRICH NIETZSCHE genannt werden, der den Gedanken der Lebensdienlichkeit gegen den der Objektivität von Erkenntnis wandte. In der naturwissenschaftliche Denktradition wird immer wieder auf ALBERT EINSTEINs These der Standpunktrelativität von Beobachtungen verwiesen, die WERNER HEISENBERG zu der weitergehenden Annahme führte, dass die Beobachtung das Beobachtete beeinflusst - ein Phänomen, das im Übrigen auch in der sozialwissenschaftlicher Forschung bekannt ist und sich hier zum Beispiel im Problem der Verhaltensausrichtung von Probanden an Kriterien ‚sozialer Erwünschtheit’ zeigt (vgl. RUNKEL 2002). Obgleich die Problematisierung objektiver Erkenntnis die moderne Wissenschaftsgeschichte begleitet, gewinnt sie erst in Form aktueller konstruktivistische Theorien größere Bedeutung, die nun als Einschnitt in der Kultur- und Ideengeschichte der Moderne aufgefasst werden. Konstruktivistische Epistemologie bestreitet grundsätzlich die Möglichkeit eines objektiven Zugangs zur Wirklichkeit und bestimmt die Funktion von Wissen und Erkenntnis neu: Der systematische Kern konstruktivistischer Theorien besteht in der Grundüberzeugung, dass Erkennen, Lernen und Verstehen aktive, lebensgeschichtlich geprägte und selbsttätige Konstruktionsleistungen sind, die zur Erzeugung eigener ‚viabler’ Wirklichkeiten führen. Der von HUMBERTO R. MATURANA und ERNST VON GLASERSFELD geprägte Begriff ‚Viabilität’ bezeichnet ein Bewertungskriterium für subjektgebundene bzw. soziale Wirklichkeitskonstruktionen, das anders als der Wahrheitsbegriff nicht auf die Objektivität des Wissens verweist, sondern die Passung von Wissenskonstruktion und Erfahrung in Handlungszusammenhängen akzentuiert. Dieser pragmatischen Vorstellung zufolge vollzieht sich Wirklichkeitskonstruktion als Einschlagen passender (nützlicher) bzw. nicht passender Wege (via = lat. Weg; Viabilität = ‚Weg-barkeit’) durch eine an sich unkenntlich bleibende Realität. Metaphorisch spricht DETLEF GAUS (2005, S. 276) in diesem Zusammenhang von einer „’Pfadfindefähigkeit’ im Lebensdschungel“. Ähnlich vergleicht VON GLASERSFELD (1992a, S. 19) den Erkennenden mit einem blinden Wanderer, 128
den viele passende Wege durch einen Wald zu seinem Ziel führen, ohne dass er ein Bild des Waldes vor Augen hätte. Seine mentale Landkarte enthält keine Information über die Gestalt der Bäume, sie dient nur dazu, ihm Wege zwischen den Bäumen zu weisen. Dieses auf Funktionalität und nicht auf Objektivität ausgerichtete Wirklichkeitsverständnis bildet den Grundgedanken der konstruktivistischen Weltanschauung. Wissen ist folglich nicht in seinem Wahrheitsgehalt relevant, sondern in seiner individuellen und sozialen Bedeutung. Der Konstruktivismus bildet mit diesem Grundprinzip den Endpunkt einer Verschiebung der epistemologischen Fragestellung vom ‚Was’ zum ‚Wie’ und zur Funktionalität der Erkenntnis. Anders als das moderne Wissenschaftsverständnis, das am Leitwert der Wahrheit entlang sowohl den Inhalts- als auch den wissenschaftstheoretischen und methodologischen Form-Aspekt von Erkenntnis reflektiert, konzentriert sich der erkenntnistheoretische Konstruktivismus in seiner Betonung der neuronalen, psychischen und sozialen Erkenntnisvoraussetzungen ausschließlich auf das ‚Wie’ der Erkenntnis sowie ihrer Nützlichkeit. Der konstruktivistischen Weltsicht ist somit eine Pluralisierung, Subjektivierung und Funktionalisierung sozialer Wirklichkeit immanent, die mit der gesellschaftlichen Struktur und Kultur der modernisierten Moderne übereinstimmt. Der Rekurs auf die Viabilität von Erkenntnis entspricht dem Selbstverständnis des Menschen in der modernisierten Moderne, dessen Konstruktion des eigenen Lebens in der so genannten ‚Kultur des Relativismus’ nicht auf Gewissheit verbürgenden kulturellen Lebensvorgaben aufbauen kann, sondern immer wieder Passung zwischen unübersichtlichen und raschem Wandel unterliegenden gesellschaftlichen Strukturvorgaben und individuellen Ressourcen anstreben muss. Vor diesem Hintergrund lässt sich diese Parallele zwischen erkenntnistheoretischen und sozialstrukturellen Entwicklungen holzschnittartig auf folgendes Grundprinzip verkürzen: Das Ich, das zunehmend zum Konstrukteur seiner kontingenten sozialen Wirklichkeit wird, bringt eine Erkenntnistheorie hervor, in der es sich als Konstrukteur seiner kognitiven Wirklichkeit wieder findet. In ihrer gemeinsamen Thematisierung des kulturellen Relativismus zeigt sich eine grundsätzliche Affinität zwischen konstruktivistischem und postmodernem Denken. Da mit dem Konstruktivismus eine erkenntnistheoretische und mit der Philosophie der Postmoderne eine sozialphilosophische Begründung und Bejahung von Pluralität gegeben ist, stehen beide Diskurse in einem komplementären Verhältnis. Mit dem Plädoyer für die Akzeptanz von Pluralität und gegen den universalistischen Vernunftbegriff der Aufklärung sprechen sich sozialphilosophische Postmoderne-Theoretiker wie auch Konstruktivisten gegen die Möglichkeit objektiver Erkenntnis und Wahrheitsansprüche und für eine positive Interpretation kultureller Pluralisierungsprozesse aus. Um den Zusammenhang der Diskurse zu verdeutlichen, verweist HORST SIEBERT (1994, S. 30) auf grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen dem radikalen Konstruktivisten SIEGFRIED J. SCHMIDT und dem postmodernen Philosophen WOLFGANG WELSCH. Beide betrachten Wirklichkeit als Resultat kreativer Konstruktionsprozesse, indem sie von der „ästhetischen Verfassung unserer Wirklichkeit“ sprechen. In Anbetracht der Krise der ‚großen Metaerzählungen’ scheint die Betrachtung von Wirklichkeit als ästhetisches Konstrukt eine angemessene Erkenntniskonzeption zu sein. Die im Radikalen Konstruktivismus vertretende Vorstellung von der Subjektgebundenheit des Wissens entspricht der postmodernen Vorstellung von der Partikularität, Vielfältigkeit und Lokalität des Wissens. Postmoderne und Konstruktivismus konvergieren also in der Akzentuierung der Subjektivität, Pluralität und somit der Relativi129
tät des Wissens. Eine systematische Verhältnisbestimmung und Integration dieser Diskurse steht jedoch noch aus.
6.2
Varianten und Grundannahmen konstruktivistischen Denkens
Mit dem in Kapitel 6.1 beschriebenen Wirklichkeitsverständnis grenzt sich konstruktivistisches Denken von erkenntnistheoretischen Positionen wie dem Realismus, Objektivismus und Empirismus ab, die – trotz der Beschränkungen menschlicher Erkenntnisfähigkeit – das Erkannte primär auf das bewusstseinsunabhängige Objekt und nicht auf das Subjekt der Erkenntnis zurückführen. Die lern- und erkenntnistheoretischen Thesen des Konstruktivismus werden in einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen etwa auf Basis unterschiedlicher philosophischer, neurobiologischer, evolutionstheoretischer, systemtheoretischer Hintergrundtheorien formuliert. Konstruktivismus ist insofern ein Sammelbegriff zur Bezeichnung einer theoretischen Richtung, die eine Fülle unterschiedlicher Einzelpositionen umfasst (vgl. DRIESCHNER 2004). Um die Struktur des konstruktivistischen Diskursfeldes zu skizzieren, gilt es grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Konstruktivismus einerseits als allgemeine Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, dem so genannten ‚Radikalen Konstruktivismus’, und andererseits als neues Paradigma in einzelnen Disziplinen wie Soziologie, Kognitionswissenschaft, Sprachwissenschaft, Evolutionstheorie, Emotionsforschung, Psychologie, dem so genannten ‚neuen’, ‚gemäßigten’ Konstruktivismus (vgl. GERSTENMEYER/ MANDL 1995; SIEBERT 2003, S. 7). Radikaler Konstruktivismus beschäftigt sich mit der erkenntnistheoretischen Frage der Objektivität des Wissens und der Relation zwischen Erkenntnissubjekt und Welt. Die Grundüberzeugung radikal konstruktivistischer Positionen besteht in der Negation der Möglichkeit objektiver Erkenntnis und nicht, wie häufig missverstanden, in solipsistischen Aussagen über eine denkbare Nichtexistenz der ontologischen Realität. Aufgrund der angenommenen kognitiven Unzugänglichkeit der Realität wird der psychische Prozess der Wahrnehmung gleichgesetzt mit Konstruktion und Interpretation. In konstruktivistischer Literatur wird daher unterscheiden zwischen der Realität als einer objektiven, subjektunabhängigen und folglich unzugänglichen Größe und der Wirklichkeit als einem subjektiven Produkt unserer Erkenntnis (vgl. ROTH 1994). Wirklichkeit wird erzeugt in Form handlungs- und denkleitender ‚innerer Bilder’, ‚Begriffe’ und ‚psychischer Strukturen’. Seinen bildlichen Ausdruck findet die Eigenkonstruktion von Wirklichkeit in der ‚sich selbst zeichnenden Hand’ (MAURITS CORNELIS ESCHER: „Drawing Hands“), die daher für Covergestaltungen von konstruktivistischer Monographien gewählt wurde. Im subjektiven Erleben stellt sich die Konstruktion von Wirklichkeit jedoch als objektive Realität dar. Wirklichkeit lässt sich nach PAUL WATZLAWICK wiederum hinsichtlich zweier Ebenen differenzieren. Als „Wirklichkeit erster Ordnung“ bezeichnet der konstruktivistische Kommunikationsforscher und Psychiater die Konstruktion physischer Eigenschaften von Objekten wie Form, Farbe und Beschaffenheit, die intersubjektiv weitestgehend vergleichbar ist. Die dieser Wirklichkeit zugeschriebenen Sinn-, Bedeutungs- und Wertzusammenhänge bilden die „Wirklichkeit zweiter Ordnung“. Diese Wirklichkeitsebene ist „Resultat höchst kom130
plexer Kommunikationsvorgänge“ und entzieht sich jeglicher Objektreferenz (WATZLAWICK 2005, S. 126). Neuer gemäßigter Konstruktivismus möchte dagegen explizite epistemologische Thesen vermeiden und richtet sein Augenmerk primär auf die „theoretische Modellierung des Wissens“ und seine „kontextuelle und kulturelle Einbettung“ (GERSTENMEYER/MANDL 1995). Die in diesem Zusammenhang etwa über wissenschaftstheoretische, lernpsychologische und kulturtheoretische Untersuchungen gewonnenen Einsichten in die theoretischen und sozialen Voraussetzungen der kulturellen Genese des Wissens und menschlicher Erkenntnisstrukturen führen jedoch zu einer radikal-konstruktivistischen Thesen ähnlichen Objektivitäts-Kritik, indem die Vorläufigkeit und Relativität allen Wissens betont wird, ohne der kulturellen Wissensproduktion normativ einen Richtungssinn zu geben. An die Stelle des modernetheoretischen Gedankens der ‚Vervollkommnung’, d.h. der nach Vernunftprinzipien intentionalistischen Gestaltung gesellschaftlichen, kulturellen und sittlichen Fortschritts durch zunehmend objektivere Erkenntnis der Außenwelt, tritt die Auffassung von Entwicklung als funktionalistische Evolution. Sozial wie auch individuell hervorgebrachte Wirklichkeiten gelten hier als geschichtlich-kulturell relative Funktionen des Wissens in der Zeit. Bereits aus der hier angedeuteten Interdisziplinarität und Heterogenität des konstruktivistischen Diskurses wird deutlich, dass sich hinter dem Begriff ‚Konstruktivismus’ nicht so sehr ein einheitliches Theoriedesign verbirgt, sondern eine Pluralität verschiedener theoretischer Spielarten, in die Erkenntnisse der Einzeldisziplinen einfließen und konstruktivistisch gedeutet werden. In Anbetracht dieser Diskursstruktur stellt sich die Frage, welche konstruktivistischen Theoriekontexte derzeit Eingang in pädagogische Diskussionen finden. Wie EWALD TERHART (2002, S. 15ff; 2005, S. 5) zeigt, werden in konstruktivistischen Didaktiken und Fachdidaktiken in unterschiedlicher Akzentuierung Theoreme des Radikalen Konstruktivismus, allgemeiner Systemtheorien sowie des wissenspsychologischen und emotionstheoretischen Konstruktivismus rezipiert. Im Zuge der jüngsten Fortschritte der Hirnforschung konzentriert sich das pädagogische Interesse besonders auf neurophsysiologische Spielarten des Konstruktivismus, die zentrale erziehungsphilosophische und didaktische Fragen wie z.B. die Grundlagen von Lernprozessen und das Verhältnis von Geist und Gehirn, Bewusstsein und Unbewusstsein, Autonomie und Determinismus aufgreifen und in die naturwissenschaftliche Perspektive der Bio- und Neurowissenschaften rücken. Übereinstimmend erweisen sich die verschiedenen konstruktivistischen Theoreme als in hohem Maße anschlussfähig an den reformpädagogischen Gedanken subjektorientierten Unterrichts als Anregung zu selbstgesteuertem und selbstbestimmten Lernen (vgl. WERNING 1998, S. 41). Dieses didaktische Leitprinzip beansprucht, der aktiven Rolle des wissenskonstruierenden Subjekts in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Radikal-konstruktivistische Theoreme dienen in didaktischen Fachdiskussionen primär zur Begründung der Subjektorientierung schulischer Lehr-Lernprozesse. Mit Begriffen wie ‚Selbstorganisation’, ‚Autopoiesis’ und ‚Emergenz’ treten subjektive, die Selbsttätigkeit der Schüler akzentuierende Kategorien an die Stelle des klassischen Gedankens der Bildung im Medium objektiver Kultur, zu der die systematische und instruktionslogisch angeleitete Auseinandersetzung mit kulturellen Objektivationen im Kontext objektiver Leistungsanforderungen und objektiv verankerter curricularer Vorgaben gehört. Auf der 131
Grundlage der These der Selbstreferenz des Erkennens, Lernens und Verstehens sowie der darauf aufbauenden radikal-konstruktivistischen Wissenstheorie wird eine grundsätzliche Autonomie des Subjekts in Lernprozessen postuliert, die einer verbindlichen Festlegung von Bildungs- und Erziehungszielen und einer intentionalistischen Auffassung pädagogischen Handelns zuwiderläuft, die in pädagogischen Grundbegriffen wie Erziehen oder Unterrichten zum Ausdruck kommt. An die Stelle des Verständnisses von Unterricht als instruktionslogischer Wissensvermittlung tritt in konstruktivistischen Didaktiken und Fachdidaktiken die schülerorientierte Perspektive der subjektiven und selbsttätigen Konstruktion von Wirklichkeit. Die Bezugnahme auf die Selbstreferenz und Selbsttätigkeit des Lernens in konstruktivistischen Grundlagentheorien und Didaktiken basiert auf einem bisher nicht hinreichend problematisierten funktionalistischen Wirklichkeitsverständnis, das aus der Akzentuierung der ‚Viabilität’ gegenüber der ‚Objektivität’ und dem ‚kulturellen Eigenwert’ des Wissens resultiert. Mit diesem Wirklichkeitsverständnis korrespondiert ein pragmatisch-funktionalistisch reformulierter Bildungsbegriff. Anders als radikal-konstruktivistische Theoreme dienen Ergebnisse des wissenspsychologischen Konstruktivismus nicht primär zur metatheoretischen Begründung bestimmter Unterrichtsprinzipien, sondern werden hauptsächlich praxeologisch für unterrichtsmethodische Fragen des Erwerbs und der Anwendung des Wissen genutzt. Die Wissenspsychologie gehört zu den oben aufgeführten neuen und gemäßigten Konstruktivismusansätzen (vgl. MÜLLER 1996a, S. 71; 2004; REINMANN-ROTHMEIER/MANDL 2001, S. 614). Ihre paradigmatische Begründung beruht nicht auf epistemologischen Konzepten wie dem AutopoiesisModell, sondern auf dem Paradigma der ‚situated cognition’ (vgl. CLANCEY 1993; GREENO 1993). Die Ansätze zur situierten Kognition stehen in einer anderen Theorietradition als der erkenntnistheoretische Konstruktivismus. Sie verstehen sich als Weiterentwicklung des informationstheoretisch-kognitiven zum konstruktivistisch-kognitiven Lernparadigma. Wissen wird hier ebenfalls als Konstruktion betrachtet. Der Fokus liegt aber nicht so sehr auf den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Wissenserwerbs, im Zentrum des Interesses steht vielmehr die kontextuelle Eingebundenheit des aktiv handelnden Lerners. Die Gemeinsamkeit des radikalen und des wissenspsychologischen Konstruktivismus in der Didaktik besteht darin, dass Wissen instrumentalistisch-pragmatisch in den Dienst der Handlungszwecke des Selbst gestellt wird. Mit Bezug auf die konstruktivistischen Thesen der Situiertheit und Subjektivität des Wissens wird ein Bildungsverständnis entfaltet, nach dem Wissenserwerb zum individuell kompetenten Problemhandeln im eigenen Leben befähigen soll und nicht primär zu einem abstrakten, vertieften Verständnis von Welt. Die Funktion von Wissen als Bildungs- oder Reflexionswissen tritt dabei in den Hintergrund (zum Unterschied von Handlungs- und Bildungswissen vgl. GIESECKE 1998, S. 46f.). Der hier zunächst nur einführend skizzierte Beitrag des Konstruktivismus zur Theorie selbstbezüglichen Lernens wird in den folgenden Kapiteln ausführlicher herausgearbeitet. Zunächst sollen (Kap. 6.3-6.4) neurobiologische, evolutionstheoretische und systemtheoretische Konzeptualisierungen von Erkenntnis- und Lernprozessen im Allgemeinen und Verstehensprozessen im Besonderen rekonstruiert werden. Anschließend werden (Kap. 7.1) Rezeptionsmodi konstruktivistischer Theoreme in der Didaktik dargestellt und problematisiert. Der Kern des Wirklichkeitsverständnisses konstruktivistischer Pädagogiken (Kap. 7.2) wird in Postulaten zur Selbstorganisation des Lernens gesehen, mit denen intentionalis132
tische Annahmen pädagogischen Handelns abgelöst werden sollen. Die systematische Entfaltung dieses Wirklichkeitsverständnisses wird schließlich im Kontinuum von (Kap. 7.3) Bildungskritik, (Kap. 7.4) Erziehungskritik und (Kap. 7.5) Instruktionskritik rekonstruiert.
6.3
Zur Neurobiologie und Evolutionstheorie selbstreferenziellen Erkennens
Die Feststellung, dass Wirklichkeit nicht unabhängig von einem erkennenden Subjekt zu denken ist, hat in der philosophischen Erkenntnistheorie eine lange Tradition. Wie KLAUS MÜLLER (1996b, S. 24) erläutert, wird das Grundproblem der Epistemologie bereits in der griechischen Philosophie bei PLATON formuliert: „Ist Wahrnehmung eine Quelle der Erkenntnis und des Wissens oder nicht?“ In der Philosophiegeschichte bildeten sich zwei in Opposition zueinander stehende Traditionen heraus, die Lösungswege aus dem Problem der Erkenntnisfähigkeit der Sinne entwickeln: Die Rationalisten vertreten die Lehrmeinung, dass ausschließlich der Verstand und die Vernunft als Erkenntnisquellen, als Zugänge zur Wahrheit, gelten können und nicht die durch die Sinne vermittelten Erfahrungen. Dagegen betont der Empirismus das Erkenntnispotential der Sinneseindrücke. Empiristen begründen die Auffassung, dass alle Begriffe und jegliches Wissen aus der sensorischen Wahrnehmung abgeleitet sind. In der Philosophiegeschichte wird IMMANUEL KANT die Überwindung des Dualismus von Rationalismus und Empirismus zugeschrieben. Für den Königsberger Philosophen speist sich menschliches Erkennen sowohl aus der Sinneswahrnehmung als empirischem Anteil der Erkenntnis als auch aus anthropologischen Kategorien des Denkens wie Quantität, Qualität, Relation, Modalität und Formen der Anschauung wie Raum und Zeit, die er als apriorische Erkenntniskategorien bezeichnet. Diese apriorischen Kategorien strukturieren die Vielfältigkeit der Sinneserfahrung. Sie sind die Bedingung dafür, dass Gegenstände überhaupt als Objekte erfahrbar sind. „Nur durch die (auf apriorischen Prinzipien beruhende, E.D.) Arbeit des Verstandes wird aus der ungeordneten sinnlichen Erfahrung geordnete und sichere Erkenntnis“ (ROTH 2004a, S. 132; weiterführend zu KANTs Erkenntnistheorie vgl. HÖFFE 1996). Diese Auffassung KANTs ist häufig als konstruktivistisch interpretiert worden, da angesichts der apriorischen Kategorien ‚objektive’ Erkenntnis nicht möglich ist. Es gibt keinen von den Bedingungen der menschlichen Anschauung unabhängigen Zugang zu den ‚Dingen an sich’, gegeben sind nur ihre Erscheinungen (vgl. ROTH 2004a, S. 133; VON GLASERSFELD 2001; VON AMELN 2004, S. 13f.). Zudem entspricht die bei KANT eingeleitete und als ‚kopernikanische Wende’ der Philosophie bezeichnete Verschiebung der epistemologischen Fragestellung vom ‚Was’ zum ‚Wie’ des Erkennens dem Selbstverständnis des modernen Konstruktivismus, der sich primär für die neuronalen, psychischen und sozialen Erkenntnisvoraussetzungen interessiert und die Frage nach der ontologischen Qualität des Erkenntnissubjekts ausschließt. Der Verhaltensphysiologe und Entwicklungsneurobiologe GERHARD ROTH zeigt, dass KANTs Konzeptualisierung von empirischer Erkenntnis als Resultat des Zusammenwirkens von Sinneserfahrung und Verstandesarbeit von der modernen Hirnforschung grundsätzlich bestätigt wird und dem neurobiologischem Konstruktivismus zugrunde liegt (ROTH 2004a, 133
S. 132). Mit der neurobiologischen Perspektive auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ‚naturalisiert’ der moderne Konstruktivismus die philosophische Frage nach den Bedingungen der Erkenntnis. Die ‚apriorischen Kategorien’ der Erkenntnis, die KANT als logische Urteilsfähigkeit des Vernunftwesens Mensch beschreibt, sind für den Konstruktivismus phylogenetisch vorstrukturierte Ausformungen des Erkenntnisapparates und ontogenetisch herausgebildete neuronale Strukturen. Im engeren Sinne konstruktivistisch neu konzeptualisiert wird das Verhältnis von empirischer und apriorischer Erkenntnis durch die These der Selbstreferenz des Erkennens, Lernens und Verstehens. Sie besagt, dass bedeutungsneutrale Reize aus der Außenwelt als ‚empirischer Anteil der Erkenntnis’ im Gehirn auf Basis der bis dato über neuronale Verschaltungen ausgebildeten kognitiv-emotionalen Strukturen, die als ‚apriorischer Anteil der Erkenntnis’ wirken, interpretiert werden. Neu im erkenntnistheoretischen Diskurs ist die biologische These, dass Sinnesdaten neutrale neuronale Reize sind, die weder qualitativ noch quantitativ mit Außenweltereignissen korrelieren und insofern keine ontischen Bezüge aufweisen (vgl. ROTH 2000, S. 233). Erst im Gehirn wird den semantisch undifferenzierten Reizen eine Bedeutung zugewiesen. Wie ROTH deutlich macht, ist Wahrnehmung aus konstruktivistischer Sicht „Bedeutungszuweisung zu an sich bedeutungsfreien neuronalen Prozessen, ist Konstruktion und Interpretation“ (ROTH 1986, S. 14). Es sind demnach bestehende neuronale Verknüpfungen im Gehirn, die darüber entscheiden, welchen Sinnesreizen eine Bedeutung zugewiesen wird und welche erst gar nicht in das Bewusstsein gelangen. Dazu werden Sinnesdaten mit Gedächtnisinhalten nach den Relevanzkritierien bekannt/unbekannt und wichtig/unwichtig abgeglichen. Angenommen wird ein unterschiedliches Ausmaß der Begleitung von Wahrnehmungen und damit verbundenen Verhaltensaufgaben durch Bewusstsein. Dieses verläuft auf einem Kontinuum von völliger Bewusstseinsunabhängigkeit bei Reizen, die als unbekannt und unwichtig eingestuft werden, bis zu höchtem Aufmerksamkeitsbewusstsein bei Wahrnehmungen, die als neu und wichtig erkannt werden. Diese Graduierungen von Aufmerksamkeitsbewusstsein werden erklärt mit dem Vorliegen bzw. dem Fehlen neuronaler Netzwerke, die Wahrnehmungen und Handlungen routinemäßig leiten. Für ROTH ist Bewusstsein ein Epiphänomen neuronaler Aktivität, das aus dem Anlegen neuer Nervenverknüpfungen resultiert. Je höher der damit verbundene Aufwand ausfällt, desto bewusster wird ein Vorgang. Umgekehrt gilt, dass je mehr auf bereits angelegte Netzwerke zurückgegriffen werden kann, desto routinierter und unbewusster verläuft eine Tätigkeit. Bewusstsein erfüllt aus dieser Sicht die Funktion eines notwendigen „Eigensignals des Gehirns für die Bewältigung eines neuen Problems (ob sensorisch, motorisch oder intern-kognitiv) und des Anlegens entsprechender neuer Netzwerke; es ist das charakteristische Merkmal, um diese Zustände von anderen unterscheiden zu können (ROTH 1994, S. 213). Folglich kann nach konstruktivistischem Verständnis ‚nichts Neues’ gedacht und verstanden, sondern können nur ausgehend von bestehenden neuronalen Netzen neue Verknüpfungen erstellt werden. Lernen und Verstehen sind daher immer auf kognitive Anschlussfähigkeit angewiesen. Die innere Konstruktion der Wirklichkeit wird allerdings ‚naiv realistisch’ als empirisch gegebene, äußerlich verstehbare Realität erlebt. Mit einem bekannten Zitat von HEINZ VON FOERSTER (2001) gesagt: „Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen.“ Für konstruktivistische Hirnforscher ist dieser subjektive Eindruck ein Beleg für die neuronale Konstruktion der Wirklichkeit, da die Vollkommenheit der Konstruktion die Brüche, Verzerrungen und 134
Leerstellen, die sich aus der undifferenzierten Codierung äußerer Reize ergeben, ausblendet (vgl. ROTH 2000). Die kognitive Welt wird als komplexer Zustand neuronaler Aktivität verstanden. Das bedeutet, dass kognitive Strukturen, seien es innere Bilder, sensomotorische Schemata oder Begriffe, durch das Zusammenspiel ontogenetisch erworbener und im Gehirn verankerter Verschaltungsmuster von Nervenzellen entstehen, die menschliches Denken, Fühlen und Handeln leiten. Die kognitive Welt ist zwar auf die Hirntätigkeit angewiesen, aber nicht mit ihr identisch. WOLF SINGER spricht in diesem Zusammenhang von Bewusstsein und Verhalten als gegenüber dem Gehirn übergeordneten Ordnungsebenen und vertritt damit die These, dass „kognitive Funktionen mit den physiko-chemischen Interaktionen in den Nervennetzen nicht gleichzusetzen sind, aber dennoch kausal erklärbar aus diesen hervorgehen“ (SINGER 2004, S. 36). Für ROTH ist somit die Wirklichkeit das Konstrukt realer Gehirne, in der die neurophysiologischen Grundlagen der Wirlichkeit selbst nicht auftauchen. Folglich sind nicht nur die Dinge der Außenwelt Konstrukte der Wirklichkeit des Gehirns, sondern auch das Ich, das sich dieser Wirklichkeit zuordnet und sich als Subjekt seines Bewusstseins, seiner Handlungen und Wahrnehmungen erfährt (ROTH 1994, S. 293). Entlang dieses Ich-Bewusstseins strukturiert sich die Wirklichkeit in die Bereiche der Außenwelt, der Körperwelt und der geistigen und emotionalen Welt. Belegt wird die Konstruktivität der Wirklichkeit u.a. mit dem Verweis auf die unterschiedliche Repräsentation der Wirklichkeitsbereiche im Gehirn. So kann es etwa bei Verletzungen in den „körperbezogenen motorischen corticalen“ oder „somatosensorischen Arealen“ zu erheblichen „Störungen des Körperschemas“ kommen, die sich bei Neglect-Patienten in der fehlenden Identifikation mit dem eigenen Körper oder einzelnen Körperteilen äußert (vgl. ebd., S. 281). Anders als KANTs Transzendentalphilosophie setzt die Neurobiologie des Erkennens die apriorischen Erkenntnisvoraussetzungen des Gehirns nicht als anthropologische Konstanten voraus, sondern akzentuiert ihr Gewordensein. Zuvor beschäftigte sich bereits der Neukantianismus mit der Frage des kulturgeschichtlichen Gewordenseins der apriorischen Erkenntnisvoraussetzungen. Gegenüber dieser philosophischen Richtung thematisiert der moderne Konstruktivismus die Genese der Struktur des Erkennens nicht aus historischkultureller Sicht, sondern aus der evolutionstheoretischen Perspektive der Biologie. Für Konstruktivisten geht die Struktur des Erkenntnisapparats auf phylogenetische Entwicklungen zurück, die neuronalen Verknüpfungen des Gehirns sind hingegen Resultat ontogenetischer Lernentwicklungen. Im Vergleich zum Neukantianismus werden die Prozesse des Erkennens und Lernens somit weit hinter die traditionell geisteswissenschaftliche Kulturperspektive in die Naturgeschichte der Lebewesen gerückt. Wie ROTH erläutert, kann als apriorisch im streng genetischen Verständnis nur die Funktionsweise der Sinnesorgane gelten. „Komplexere Prozesse der Gestaltung und Bedeutungszuweisung, wie sie in ‚höheren’ oder ‚assoziativen’ Hirnarealen ablaufen, sind hingegen ontogenetisch erfahrungsabhängig, wobei es sich neben aktueller Erfahrung um eine teils vor der Geburt, teils in den ersten Lebensjahren erworbene Erfahrung handelt, die sich so weit verfestigt, dass sie wie ‚apriorisch’ im Kantschen Sinne aussieht“ (ROTH 2004a, S. 133). So müssen auch grundlegende Strukturierungen der Wirklichkeit wie die Unterscheidung von Körper und Außenwelt erlernt werden, auch wenn solche fundamentalen Lernprozesse „genetisch erleitert“ sind (vgl. ROTH 1994, S. 282). Deutlich wird, dass der von ROTH vertretene neurobiologi135
sche Konstruktivismus die ontogenetische Perspektive des Lernens gegenüber genetischen Determinationen betont. Der Grund hierfür liegt in der gemeinsamen Einsicht von Gehirnforschung, Evolutionstheorie und Kulturanthropologie, dass der Offenheit und Plastizität des menschlichen Gehirns eine wichtige Überlebensfunktion zukommt, weil dadurch Anpassung an wechselnde Umwelten möglich wird. Im Unterschied zu anderen Organen des Körpers ist das Gehirn besonders deutlich durch einen nutzungsabhängigen Aufbau gekennzeichnet. Der Hirnforscher GERALD HÜTHER spricht in diesem Zusammenhang von Gehirnen als „zeitlebens programmierbaren Konstruktionen“ (HÜTHER 2004, S. 53). Er verdeutlicht, dass das überlebensrelevante Wissen und Können, je nach historischen und soziokulturellen Umweltbedingungen, in die man hineingeboren wird, ontogenetisch durch die Art der Nutzung bestimmter Verschaltungen im Gehirn verankert wird. Über institutionalisierte Erziehung und die gemeinsame Eingebundenheit von Erwachsenen und Kindern in Arbeits- und Lebenszusammenhängen können erworbene Eigenschaften an die nächste Generation weitergegeben werden. Die Anpassungsflexibilität des Gehirns ist so gesehen die anthropologische Voraussetzung für die Herausbildung von Kultur als evolutionärer Überlebensstrategie. Es besteht aus dieser Sicht ein Verweisungszusammenhang zwischen dem individuellen Lernen und dem Lernen der Generationen, der die paradigmatische Grundlage eines aktuellen Konzepts der historischen Bildungsforschung bildet (vgl. TITZE 2004). Neben der Betonung der grundsätzlichen Plastizität des menschlichen Gehirns wird aus biologischer Sicht auch auf die evolutionäre Herausbildung der anatomischen Struktur des Gehirns verwiesen, die sich in der Zeit nur langsam verändert und immer noch vorwiegend an die Bedingungen des Pleistozäns als längster Periode der Gattungsgeschichte des Menschen anpasst ist. Vereinfacht gesagt lässt sich so ein gewissermaßen ‚invarianter’ von einem ‚varianten’ Teil des Gehirns unterscheiden: D.h. die festgelegte Struktur des Erkenntnisapparats, die räumlich wie auch zeitlich „nahbereichsfokussiert“ auf das Leben in kleinen sozialen Verbänden ausgelegt ist, bildet den Rahmen für flexible NeuronenVerknüpfungen in Lernprozessen. Aus dieser Perspektive kann verdeutlicht werden, warum Menschen bestimmte Verstehensprozesse als schwer (abstrakt) und andere als leicht (konkret) erscheinen (vgl. SCHEUNPFLUG 2000). Vor dem Hintergrund dieser evolutionstheoretischen Perspektive divergieren die epistemologischen Positionen des Konstruktivismus-Vorläufers KANTs und des modernen Konstruktivismus hinsichtlich der Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit intersubjektiver Erkenntnis. KANT hält die Intersubjektivität und Objektivität des Erkennens nach den Regeln des Verstandes für möglich. Objektivität beruht für ihn auf den universellen Kategorien des Verstandes, die das diffuse Sinnesmaterial so strukturieren, dass es intersubjektiv überprüfbar ist. KANT geht davon aus, dass es die Vernunft ist, die den Menschen nach Allgemeinsystematisierung streben lässt. Im Unterschied zu KANT akzentuiert der moderne Konstruktivismus nicht so sehr die Universalität von Formen der Anschauung und des Denkens. Neuronale Verknüpfungen werden als individuell-biographische Entwicklungen in bestimmten geschichtlich-kulturellen Kontexten beschrieben. Angesichts der Heterogenität von Lernentwicklungen wird die Möglichkeit intersubjektiver Erkenntnis und gesicherten Wissens bezweifelt. Durch das Phänomen der Koevolution von Lebewesen kommt es aber zur Ausbildung ähnlicher, jedoch nicht identischer Strukturen des Erkennens und Denkens. 136
Die ontogenetische und phylogenetische Herausbildung kognitiver Strukturen ist aus konstruktivistischer Sicht eine funktionale Anpassung aktiv handelnder Lebewesen an ihre Umwelt nach dem Prinzip der Viabilität. Funktionalität und Viabilität stehen hier als Gegenbegriffe zu Objektivität. Aus der Evolution von Kognition im Prozess des Überlebens lässt sich nicht auf eine zunehmende Objektivität des Wissens schließen, sondern nur auf seine Überlebensdienlichkeit als alleinigem Gütekriterium von Erkenntnis. Im Unterschied zur Tradition der Evolutionstheorie in der DARWINschen Prägung wird funktionale Anpassung nicht als Umweltdetermination durch natürliche Auslese verstanden, sondern als viable Selbsterzeugung innerhalb der Schranken, welche die Umwelt dem Organismus setzt. Zur Bezeichnung der Selbsterzeugung und Selbsterhaltung als Prinzip alles Lebendigen prägt der chilenische Biologe MATURANA den Begriff der Autopoiesis. Die aus dem Griechischen stammende Wortbildung bringt ein stark ausgeprägtes individualistisches Wirklichkeitsverständnis zum Ausdruck. Selbsttätigkeit („ich selbst“ = „auto“ „bin tätig/mache etwas“ = „poiesis“) ist das konstitutive Merkmal alles Lebendigen. Der Aspekt der Funktionalität bezieht sich insofern auf die Lebensdienlichkeit selbst hervorgebrachter kognitiver und organischer Strukturen (vgl. GLASERSFELD 1992a, S. 23). Hinter dieser Theorieannahme steht der Gedanke, dass innere Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit trotz Anpassung an die Umwelt gegeben ist, denn autopoietische Systeme gelten angesichts ihrer operationalen Geschlossenheit und ihrer ‚Selbstentfaltungskraft’ als autonom und das nicht nur in einem operativen, sondern auch in einem subjektphilosophischen Sinn. So reformuliert ROTH mit der Vorstellung sich selbst hervorbringender Systeme die philosophische Frage nach der Autonomie des Subjekts. Im Unterschied zur philosophischen, juristischen und pädagogischen Tradition bezweifelt er die anthropologische Annahme, Willensfreiheit sei Wesensmerkmal und Kern der Autonomie und Ich-Identität des Menschen, denn IchBewusstsein wie auch Aufmerksamkeitsbewusstsein sind als Epiphänome kausal durch neuronale Prozesse determiniert. Das sich als Subjekt erlebende Ich ist Teil der vom Gehirn konstruierten Wirklichkeit. Vor dem Hintergrund der neurophysiologischen Beobachtung der zeitlichen Priorität neuronaler Prozesse vor der „bewussten Erlebnisform von Hirnprozessen“ in den bekannt gewordenen Experimenten von BENJAMIN LIBET (vgl. LIBET 2004) schlussfolgert ROTH, dass das Gehirn bestimmt, was das Ich später als Willensentscheidung deutet: „Nicht das bewusste Ich, sondern das Gehirn hat entschieden“, ist für ihn eine korrekte Beschreibung der neuronalen Determiniertheit des Menschen (ROTH 2004b, S. 133; zum Deutungsproblem dieser neurobiologischen Experimente vgl. GEYER 2004). Für ROTH liegt dagegen die Autonomie des Menschen in seiner radikalen Erfahrungs- bzw. Innensteuerung, d.h. in der „Fähigkeit unseres ganzen Wesens, d.h. Bewusstsein, Unbewusstes, das ganze Gehirn und den ganzen Körper zusammengenommen, innengeleitet, aus individueller Erfahrung heraus zu handeln“ (ROTH 2003, S. 533). Kritisch zu fragen wäre, ob hier nicht ein ‚innerer Determinismus’ fälschlich als Autonomie ausgewiesen wird. Der konstruktivistische Rekurs auf die Strukturdeterminiertheit des Gehirns besagt, dass psychische Prozesse wie Wahrnehmen, Denken, Lernen, Fühlen nicht äußerlich, sondern innerlich determiniert werden durch bestehende kognitive und emotionale Strukturen. In dieser Strukturdeterminiertheit des autopoietischen Systems ist das Ich befangen, ohne wirklich geistige Freiheit zu erlangen, wonach sich Strukturveränderungen nicht auf neuronale Ursachen, sondern auf kritische Selbstaufklärung, autonomes Entscheiden und rationaler Ein137
sicht, d.h. auf Gründe einer selbstverantwortlichen Person zurückführen lassen. Reflexive Distanz zur biographischen Erfahrung und nicht ausschließlich erfahrungsgesteuertes Handeln ist gerade bei problematischen Selbstentwicklungen eine wichtige Voraussetzung für die Ausbildung eines autonomes Selbst- und Weltverhältnis (zu erzieherischen Konsequenzen der konstruktivistisch-neurophysiologischen Reformulierung des Autonomiebegriffs vgl. Kap. 7.4.1). Anders als die ausschließlich mentale Erkenntniskategorien akzentuierende Transzendentalphilosophie KANTs betont das neurobiologische Konzept der Autopoiesis den Zusammenhang von Erkennen und Handeln. MATURANA und FRANCISCO VARELA (1987, S. 32) stellen sich das Verhältnis von Handeln und Erkennen als Wechselbeziehung vor: „Jedes Tun ist Erkennen und jedes Erkennen ist Tun.“ Mit dem Terminus ‚Kognition’ bezeichnen die Autoren den Zusammenhang von Handeln und Erkennen als zwei Seiten des biologischen Prinzips der Autopoiesis. Kognition ist für sie die Gesamtheit aller Handlungen eines Organismus, mit denen er sich in einem Medium selbst erzeugt und erhält, d.h. seine Autopoiesis realisiert. Wie bereits aus dem amerikanischen Pragmatismus bekannt, resultiert aus der Einführung des Handlungsbegriffs in die Erkenntnistheorie eine Akzentuierung des Nützlichkeitsaspekts von Erkenntnis (vgl. DEWEY 1981). Viabilität wird als funktionales Äquivalent für den Begriff der objektiven Wahrheit verwendet und bezeichnet die (Über-)Lebensdienlichkeit von kognitiven Wirklichkeiten. Die Funktion der ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklung des Erkennens wird hier vor dem Hintergrund der evolutionstheoretischen Perspektive des Überlebens gedacht. An dieser Stelle stellt sich die Frage, was ‚Überleben’ in der kulturellen und sozialen Welt der Moderne als ‚Emergenz’ von Natur bedeutet. Augenscheinlich können viable Wirklichkeitskonstruktionen hier nur im übertragenen Sinne als überlebensdienlich gedeutet werden. Was bleibt, ist die Rede von der Funktionalität kognitiver Strukturen im Leben. Viabilität meint hier das ‚Überleben im Alltag’, d.h. die Fähigkeit zum lösungsorientierten Handeln in individuellen Problemsituationen und die Passung von Verstehenskonstrukten selbstreferenzieller Subjekte zum Zwecke der kommunikativen Verhaltenskoordination in der arbeitsteiligen Welt. Einige Zitate sollen verdeutlichen, wie diese funktionalistische Sicht auf soziale Wirklichkeit in konstruktivistischen Texten formuliert wird: „Man muss die Welt nicht mehr (sc. objektiv) verstehen [...], es reicht, sich in ihr zu Recht, die jeweilige ‚Passung’ zu finden“ (VOß 2000, S. 33). Wissen existiert so gesehen nicht als objektive Entität, sondern nur als „Welt im Kopf“ (RENK 1999) und fungiert als „Schlüssel, der uns mögliche Wege erschließt“ (VON GLASERSFELD 2004, S. 17). Die phylogenetische Entwicklung des Erkenntnisapparats wie auch individuell-biographische Wirklichkeitskonstruktionen führen nicht zu einer Verbesserung der mentalen Repräsentationen von Realität, sondern zu einer „Zunahme und/oder Veränderung der kognitiven Möglichkeiten zur Erzeugung neuer und überlebensrelevanter Wirklichkeiten“ (SCHMIDT 1992, S. 432; zitiert nach SIEBERT 1998, S. 282). Erkenntnis dient für die genannten Autoren der biologischen Funktion des Überlebens, die sich übertragen auf die gesellschaftliche Situation der modernisierten Moderne als Problem des Bestehens in einer unkenntlichen, hoch komplexen und risikoreichen Welt äußert. Wie in Rekonstruktionen gesellschaftstheoretischer und sozialphilosophischer Begründungsformen konstruktivistischer Didaktiken gezeigt werden konnte, trifft die konstruktivistische Position vor dem Hintergrund ‚postmoderner’ Zeitdiagnosen auf erhebliche Resonanz (vgl. 138
DRIESCHNER 2004, S. 97ff.). Unter den Bedingungen des individualisierten und pluralen, sich ständig wandelnden und dezentrierten ‚Dschungels’ der postmodernen Welt erscheint ein Wirklichkeitsverständnis funktional, das mit dem Begriff der Viabilität das Einschlagen individuell passender Wege durch das ‚Dickicht’ heterogener Wissens- und Sinnbestände in der Gesellschaft betont (vgl. Kap. 4.3.1). Das Prinzip der Viabilität verweist insofern auf ein – gegenüber dem klassischen Bildungsgedanken – pragmatisch-funktionalistisches Weltverhältnis. Nicht der Aufbau von vertieftem Weltwissen im Bildungsprozess wird postuliert, aus dem sich sozusagen eine asymptotische Annäherung an ein objektives Verständnis von Welt ergibt, sondern die Passung eigener Wirklichkeitskonstruktionen im alltäglichen Problemhandeln. Die Selbsttätigkeit (=Autopoiesis) des lernenden Organismus ist demnach als „flexible Anpassung an sich schnell wandelnde Umwelten“ zu verstehen (AHRBECK 2004, S. 92). Die Verwendung konstruktivistischer Sichtweisen als didaktische Metabegründung für selbsttätiges und selbstgesteuertes Lernen steht insofern primär in einem biologisch-funktionalistischen und nicht in einem emanzipatorischen Bedeutungszusammenhang, wie in der pädagogischen Rezeption häufig übersehen wird (vgl. Kap. 7). Die Autonomie des Lerners im Sinne seiner Innensteuerung und Nicht-Determinierbarkeit liegt auf einer qualitativ anderen Ebene als die klassische Vorstellung der Autonomie des Subjekts und der Erziehung zur Mündigkeit. Zusammenfassend gesagt ist der konstruktivistischen Position ein Realismuskritisches und funktionalistisch-instrumentalistisches Wirklichkeitsverständnis immanent. Wie im Folgenden gezeigt wird, findet dieses Wirklichkeitsverständnis in konstruktivistischen Systemtheorien eine Form mit großer Reichweite und Erklärungspotential, die es je nach Forschungsinteresse erlaubt, sowohl die Zelle eines Organismus als auch die gesamte menschliche Gesellschaft als autopoietisches System zu beschreiben.
6.4
Zur Systemtheorie selbstreferenziellen Erkennens
Im Anschluss an NIKLAS LUHMANN überträgt die konstruktivistische Systemtheorie das in der Biologie entwickelte Konzept der Autopoiesis prinzipiell auf alle als System vorstellbaren biologischen, psychischen und sozialen Einheiten, vorausgesetzt, es lässt sich zeigen, dass diese autopoietisch operieren (vgl. LUHMANN 1995, S. 12). Damit wird der Differenz zwischen autopoietischen Systemen und ihren Umwelten eine große Erklärungskraft beigemessen. Auf Grundlage dieser Unterscheidung werden erkenntnis-, lern- und verstehenstheoretische Aussagen formuliert. Das bedeutet, dass der systemtheoretische Konstruktivismus die zuvor getrennten und unterschiedlichen Disziplinen angehörigen Bereiche Erkenntnistheorie, Verstehenstheorie und Lerntheorie in einem gemeinsamen wissenschaftlichen Paradigma integriert und damit gegenüber dem klassischen und logischen Empirismus ein neues Programm der ‚Einheitswissenschaft’ begründet. In diesem Paradigma werden traditionell heterogene Wissenschaftsauffassungen überwunden. So spielt etwa der Dualismus zwischen Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften in der wissenschaftstheoretischen Grundlegung des modernen Konstruktivismus keine Rolle. Es wird versucht, diesen Wissenschaftsrichtungen eine gemeinsame theoretische und methodologische Basis zu 139
geben. Programmatisch angestrebt wird eine Interdisziplinarität des Diskurses, die ihre Grundlage in der Annahme eines strukturellen Kontinuums zwischen dem biologischen, psychischen und sozial-kulturellen Bereich findet. Menschliches Wahrnehmen, Lernen und Verstehen erscheinen vor dem Hintergrund der Leitdifferenz von System und Umwelt grundsätzlich als systemrelative, selbsttätige Konstruktionsprozesse. Die traditional zweifache Bestimmung dieser Prozesse sowohl durch ein Subjekt als auch durch ein Erkenntnisobjekt bzw. Ko-Subjekt in Verstehensprozessen wird durch die System-Umwelt-Differenz nicht erfasst, da es für ein autopoietisches System keine objektiven, sondern nur systemrelative Größen in seiner Umwelt gibt. Daher interessiert sich der moderne Konstruktivismus primär für die jeweilige Referenz und Spezifik der Konstruktion und nicht für den Gegenstand des Lernens, Erkennens und Verstehens. Die Objektreferenz dieser Prozesse, die als Sachanspruch objektiven Erkennens, Bildungslernens und höheren Verstehens in klassischen erkenntnis-, wissenschafts- bzw. lerntheoretischen Positionen Ausdruck findet, wird nicht berücksichtigt. Da ‚der Beobachter’ im Mittelpunkt konstruktivistischer Epistemologie steht und Prozesse des Lernens und Verstehens als beobachtungsabhängige Konstruktionen aufgefasst werden, wird zunächst (Kap. 6.4.1) die Theorie des Beobachtens in ihren Grundzügen dargestellt, daran anschließend (Kap. 6.4.2) systemtheoretische Theoriekonzepte des Verstehens.
6.4.1
Theoriekonzepte des Beobachtens
Die Trennung eines Erkenntnissubjekts von einem Erkenntnisobjekt – oder anders ausgedrückt: von Forscher und Forschungsgegenstand – ist konstitutiv für den erkenntnistheoretischen Realismus, dem Erkenntnisprogramm empirischer Wissenschaften. Durch Distanz und methodisch kontrolliertes Vorgehen versucht empirische Forschung, das Erkenntnisobjekt wertfrei bzw. werturteilsfrei und objektiv zu erfahren. Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis ist insofern die objektive Wirklichkeit. Während der Zugang zur Welt der Tatsachen nach Auffassung des klassischen und logischen Empirismus durch Verifikation von Aussagen über die Wirklichkeit direkt möglich ist, gibt es für den Kritischen Rationalismus nur eine indirekte Erkenntnis durch strenge Prüfung von Hypothesen an der Wirklichkeit. Diese Veränderung im Wirklichkeitsverständnis empirischer Wissenschaften resultiert aus der Problematisierung des Induktionsschlusses von Einzelbeobachtungen auf generelle Gesetzesaussagen. Dennoch bleibt das Ziel der objektiven Erkenntnis im Kritischen Rationalismus bestehen, auch wenn Zugänge zur Wahrheit nicht im positiven Sinne, sondern nur ex negativo durch die Falsifikation von Hypothesen am Prüfstein der Realität gefunden werden können. Es genügt an dieser Stelle festzuhalten, dass sich Erkenntnis im empirischen Wahrheitsbegriff auf die objektive Wirklichkeit bezieht. Der Anspruch wissenschaftlicher Forschung besteht darin, einen Gegenstand in seiner Objektivität und nicht im Spiegel subjektiver Wahrnehmung zu erkennen. Konstruktivistische Systemtheorien setzen an die Stelle der klassischen forschungsleitenden Trennung eines Erkenntnissubjekts von einem Erkenntnisobjekt die SystemUmwelt-Unterscheidung. Diese Erkenntnisrelation geht von einer grundlegenden und un140
überwindbaren Differenz zwischen ‚Beobachter’ und ‚Beobachtetem’ aus. Aufgrund ihrer informationellen Geschlossenheit verfügen autopoietische Systeme über keinen direkten Umweltkontakt. Sie stehen durch ihre operative Geschlossenheit in Differenz zu ihrer Umwelt. Autopoietische Systeme kopieren ihre System-Umwelt-Differenz in sich hinein und benutzen diese als grundlegende Beobachtungskategorie – eine epistemologische Voraussetzung, die in systemtheoretischer Terminologie als ‚re-entry’ bezeichnet wird. LUHMANN drückt dies so aus: „Die Operationen des Systems erzeugen die Differenz von System und Umwelt; die Beobachtungen kopieren diese Differenz in sich hinein und benutzen sie als Unterscheidung mit Verfügungsmöglichkeiten für beide Seiten“ (LUHMANN 1994b, S. 8f.). Die traditionelle epistemologische Unterscheidung subjektiv vs. objektiv wird hier durch die im System erzeugte Unterscheidung selbstreferenziell vs. fremdreferenziell ersetzt. LUHMANN entwickelt dieses Beobachtungsverständnis im Anschluss an GEORGE SPENCERBROWN als ‚operative Einheit von Unterscheiden und Bezeichnen’. Wie LUHMANN betont, „ist dabei keines Wegs (!) nur an Bewusstseinsprozesse, also nicht nur an psychische Systeme zu denken“ (1997, S. 69), auch soziale und biologische Systeme können beobachten. So bekämpft beispielsweise ein gesundes Immunsystem nur Krankheitserreger und nicht sich selbst, da es zwischen Antikörpern und Antigenen unterscheiden kann. An die Grundunterscheidung ‚selbstreferenziell/fremdreferenziell’ können je nach Komplexität des beobachtenden Systems andere Unterscheidungen wie z.B. internal/external, wahr/unwahr, gut/schlecht, körperlich/mental, schön/hässlich, haben/sein, geben/nehmen, Heil/Verdammnis etc. anschließen, um differenzierte Umwelt- und Selbstbezüge zu konstruieren. Das beobachtende System ist durch die Zweiseitigkeit der Beobachtung gezwungen, die eine und nicht die andere Seite zu bezeichnen. Die Unterscheidung selbst kann jedoch nicht in derselben Beobachtung beobachtet werden und wird von LUHMANN (ebd. S. 70; 1991, S. 65) daher als „blinder Fleck“ bezeichnet. Anders als KANT transzendentalisiert LUHMANN nicht die Bedingungen von Erkenntnis, sondern stellt durch diese theoretische Setzung ihre Selbstreferenz heraus. Dadurch eröffnet sich ihm eine Beobachtungsperspektive zweiter Ordnung. Die Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet die einer anderen Beobachtung zugrunde liegende Unterscheidung. Der blinde Fleck der Beobachtung erster Ordnung wird dadurch sichtbar. Unhintergehbar ist jedoch die Selbstreferenz des Beobachtens, also die grundsätzliche Gebundenheit an subjektive Unterscheidungen, denn „jede weitere Reflexion des Beobachtens (sc. Beobachtungen höherer Ordnung, E.D.) führt auf die mit dem Beobachten erzeugte Differenz zurück – auch dann, wenn man die Unterscheidungen auswechselt, mit denen die Beobachtungen arbeiten, also z.B. die Moralisten psychologisch oder soziologisch entlarvt als in Wahrheit durch Triebdifferenzen oder durch Klassenunterschiede motiviert“ (LUHMANN 1990c, S. 127f.). Fremd- und Selbstbeobachtungen haben demnach keine ontische Referenz. Sie sind Attributionen, Sinnzuschreibungen oder negativ ausgedrückt: Unterstellungen. Verschiedene Beobachter treffen verschiedene Unterscheidungen. Aussagen über die Welt können daher der systemtheoretischen Sicht zufolge nur mit anderen Wirklichkeitskonstruktionen, aber nie mit der Realität an sich verglichen werden. Konstruktivistische Autoren wie MATURANA, LUHMANN und LUC CIOMPI betonen, dass die Konstruktion beobachtungsleitender Unterscheidungen psychischer Systeme biographisch geprägt, soziokulturell beeinflusst und vom jeweiligen Zustand des ‚Selbst’ ab141
hängig ist. So hängt beispielsweise die kausale Attribution der Ursache eines Lernerfolges als internal (bedingt durch Fleiß, Können, o.ä.) oder external (bedingt durch Glück, Zufall, Aufgabenleichtigkeit, o.ä.) von den im Verlauf der Ontogenese erworbenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen ab. Das Gleiche gilt für die den Selbstbewertungsprozess begleitenden Emotionen Zufriedenheit/Unzufriedenheit. Besonders eindrücklich thematisiert CIOMPI diesen Zusammenhang von Kognition und Emotion. In seinem Buch „Die emotionalen Grundlagen des Denkens“ (1999) betont er die affektive Grundlage psychischer Prozesse des Wahrnehmens und Denkens. Die Begriffe ‚Emotion’ und ‚Affekt’ werden hier wie häufig in der Psychologie synonym verwendet. Für CIOMPI sind kognitive und emotionale Systeme strukturell gekoppelt. Aus evolutionstheoretischer Sicht fasst er das kognitive System als eine gegenüber dem emotionalen System emergente Ebene, denn das ‚Denksystem’ ist phylo- und ontogenetisch jünger als das ‚Fühlsystem’. Affekte als Form passiven Erlebens sind CIOMPI zufolge die Quelle psychischer Energie, bestimmen den Fokus der Aufmerksamkeit, eröffnen den Zugriff auf Gedächtnisspeicher und sind maßgeblich an der Ordnung und Integration von Informationen und Erinnerungen zur Konstituierung eines stimmigen, in sich konsistenten Weltbildes beteiligt (ebd. S. 95ff). In diesem Zusammenhang spielen Affekte auch eine wichtige Rolle in der Handlungssteuerung von Menschen. Aus der Alltagssprache ist die Formulierung bekannt, man müsse ‚mit einer Entscheidung leben können’. Damit ist ihre emotionale Verträglichkeit in Hinblick auf die Gesamterfahrung des Menschen gemeint. Als „innengeleitetes Wesen“ (ROTH 2003, S. 533) handeln Menschen auf Basis ihrer gesamten Erfahrung, die überwiegend unbewusst und emotional besetzt gespeichert ist. Insofern spricht man auch von Entscheidungen ‚aus dem Bauch heraus’ bzw. rät alltagspsychologisch, man ‚soll auf sein Herz hören’. Nicht zufällig werden in diesen Redewendungen Emotionen mit bestimmten somatischen Regionen bzw. Reaktionen in Verbindung gebracht. Als psychisch-leibliches Geschehen sind Emotionen stark mit körperlichen Reaktionen verbunden. Psychische Systeme konstruieren Wirklichkeit also auf der Grundlage emotionaler Zustände. In der Umwelt gibt es keine ontische Referenz, die dieser affektiv gefärbten Weltsicht entspricht. CIOMPI geht davon aus, dass der emotionalen Konstruktion von Wirklichkeit eine überlebensrelevante Funktion in der Menschheitsgeschichte zukommt. So dient etwa das Gefühl von Interesse dem Neugier- und Explorationsverhalten des Menschen; Angst warnt und schützt vor Gefahr; Freude, Liebe und Vergnügen evoziert das Schaffen von Bindungen (CIOMPI 1999, S. 100ff.). Eine realistische, nicht durch Affekte gefilterte Weltsicht ist nach diesem Verständnis biologisch nicht erforderlich. Um zum pädagogischen Beispiel der Zuschreibung von Lernerfolgen zurückzukehren: Es sind aus dieser Theorieperspektive so genannte „kognitiv-emotionale Bezugssysteme“, auf deren Grundlage Schüler Leistungen attribuieren. Ebenso sind die von Lehrern eingesetzten beobachtungsleitenden Unterscheidungen gut/schlecht, fleißig/faul, begabt/unbegabt, interessiert/desinteressiert, etc. von individuell konstruierten und sozial präformierten Leistungsmaßstäben und Begabungsbegriffen getragen. Wie in der historischen Bildungsforschung nachgewiesen werden konnte, variiert die soziale Konstruktion von Leistungs- und Begabungsbegriffen in Abhängigkeit von Wachstums- und Stagnationsphasen des modernen Bildungssystems. Die Eigenkonstruktion des Selbstkonzepts der Leistungsfähigkeit durch
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Selbst- und Fremdzuschreibungen geschieht folglich auf Basis eines vorgängigen „sozialen Selektionsklimas“ (TITZE 2000; vgl. dazu Kap. 5.2). Die hier angeführten Beispiele verweisen auf die enge Verbindung von Attributionsforschung und konstruktivistischer Erkenntnistheorie. Attributionsforschung sucht nach Antworten auf die Frage, wie Beobachter Welt konstruieren. Dieses Forschungsziel erschließt sich bereits aus der Bedeutung des Wortes attribuieren (lat. attribuere = zuschreiben). Der Begriff Attribution wird durch die erkenntnistheoretische Annahme konstituiert, dass Gründe, Zusammenhänge, Eigenschaften etc. nicht objektiv in der Welt existieren, sondern Ergebnis subjektiver bzw. kollektiver Zuschreibungen sind. Aus konstruktivistischer Sicht kann ein Beobachter Persönlichkeitseigenschaften nur attribuieren, nicht diagnostizieren und attestieren. Radikal-konstruktivistisch gedacht ist es somit unmöglich, zu einer realistischen Einschätzung des eigenen Fähigkeitsprofils bzw. der Kompetenzen anderer zu gelangen. Konstruktivistische Pädagogik und Therapie vermeidet daher Fragen nach dem stabilen Kern des Subjekts. So steht etwa in der Psychotherapie WATZLAWICKs und der systemischen Kurztherapie nicht das zwangsläufig eine Attribution bleibende ‚Verstehen’ intrapsychischer Gründe für seelische Störungen im Vordergrund, sondern der pragmatische Versuch, gemeinsam mit dem Patienten lebensdienlichere, d.h. viablere Wirklichkeitsfiktionen in seinem Beziehungsumfeld zu erfinden bzw. vorhandene Wirklichkeitskonstruktionen umzudeuten, ihnen sozusagen einen neuen Rahmen zu verleihen („Reframing“), wie es bei WATZLAWICK heißt (vgl. WATZLAWICK 2005; SHAZER 1993). Wie LUHMANN zeigt, sind auch die Umweltperspektiven sozialer Systeme konstruiert. In seiner Theorie der Gesellschaft nimmt die Frage, mit welchen Unterscheidungen soziale Systeme beobachten, einen hohen Stellenwert ein. Aus unterschiedlichen Systemperspektiven wird ein Ereignis anders beobachtet. So beobachtet das Rechtssystem eine Straftat von Jugendlichen mit Hilfe der Unterscheidung Recht/Unrecht, das System sozialer Hilfe verwendet dagegen den Code Helfen/nicht Helfen, während das System der Massenmedien dasselbe Ereignis mit der Unterscheidung Information/Nichtinformation erfasst. Auch wissenschaftliche Beobachtungen, die sich auf der Grundlage von Theorien und Methoden an der beobachtungsleitenden Unterscheidung wahr/falsch orientieren, konstruieren eine eigene Realität, die objektiv nicht gegeben ist (LUHMANN 1990a). Die Anwendung dieses Beobachtungsschemas konstituiert die operative Schließung und die Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems. Wissenschaft als autopoietisches Kommunikationssystem „agiert in je spezifischen eigenen Zuständen und Operationsweisen, die von ihr hervorgebracht wurden. Dazu zählen z.B. Gegenstände, Fragestellungen und Methoden, mittels derer sie untersucht werden, Bewertungskriterien, etc. Die Aktivitäten des sozialen Systems Wissenschaft (bzw. deren Bereiche) dienen der Stabilisierung dieses Systems (z.B. durch Initiationsrituale für den wissenschaftlichen Nachwuchs, Bekräftigung anschlussfähiger Beiträge und Ausschluss von Wissenschaftlern mit nicht anschlussfähigen Publikationen)“ (STEINKE 1999, 107). Die Beobachtung der Konstruktivität von Erkenntnis nicht nur aus der psychischen, sondern auch aus der sozialen Systemreferenz zeigt, dass Wirklichkeit in sozialen Systemen kommunikativ gebildet wird. Die hier referierten Analysen des Wissenschaftssystems legen dar, dass nicht nur von einer Subjektgebundenheit, sondern ebenfalls von der Scientific-Community-Gebundenheit von Erkenntnis auszugehen ist. Diese Reziprozität der individuellen und der sozialen Dimension des Erkennens verdeutlicht, dass die Ausdiffe143
renzierung psycho-physischer und sozialer Systeme koevolviert. Psychische und soziale Systeme lernen durch gegenseitige Anregungen, indem sie sich wechselseitig ihre Komplexität für eigene Prozesse zur Verfügung stellen. LUHMANNS Systemtheorie verdeutlicht, dass die Unterscheidungsmöglichkeiten variieren, mit denen etwas beobachtet werden kann. Aufgrund der Tatsache, dass sich psychische und soziale Systeme wechselseitig beobachten, kommt man zu Beobachtungen erster, zweiter, dritter usw. Ordnung. Durch das Beobachten von Beobachtungen wird der Kern der konstruktivistischen Perspektive dieser Theorieanlage deutlich: Welt wird als ‚polykontextural’ beschrieben, indem auf eine Vielzahl von Beobachtungsverhältnissen verwiesen wird. Heterogene Beobachtungsperspektiven gelten prinzipiell als gleichwertig. Eine absolut richtige Sicht auf die Dinge erscheint unmöglich, da die Beobachtungen in keinem übergeordneten Punkt zusammenlaufen. Insofern ist nach LUHMANN der traditionelle Begriff des erkennenden Subjekts hinfällig, da mit ihm die Annahme einer privilegierten Beobachterposition verbunden ist. Mit dem Begriff „Polykontexturalität“ kennzeichnet LUHMANN zugleich die Struktur moderner, funktional differenzierter Gesellschaften, die anders als vormoderne Gesellschaften nicht durch eine subsystemübergreifende, kosmisch-religiös verankerte Leitdifferenz konstituiert sind (vgl. Kap. 3.2). Die Genese konstruktivistischen Denkens lässt sich daher nur angemessen im Kontext gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse verstehen (vgl. Kap. 6.1). Der Rekurs auf die Vielfalt von Beobachtungsperspektiven, der im Mittelpunkt der konstruktivistischen Weltsicht steht, kann insofern als erkenntnistheoretischer Ausdruck der modernisierten Moderne verstanden werden. Nicht nur ‚konstruktivistisches’, auch ‚postmodernes’ Denken kann in dieser Weise als kulturelle Reflexionsform der Pluralität und Heterogenität von Wissens- und Sinnsystemen in der funktional differenzierten Gesellschaft gedeutet werden. Über erkenntniskritische Methoden wie dem konstruktivistischen Beobachtungskonzept oder dem als postmodern bezeichneten Verfahren der „Dekonstruktion“ (vgl. DERRIDA 1990) wird in beiden Diskursen versucht, als wahr ausgewiesene Wissensbestände zu demontieren, indem die Künstlichkeit von kulturellen und psychischen Sinnzuweisungen demonstriert wird. Die zeitdiagnostische Bezeichnung der Heterogenität und Pluralität gesellschaftlicher Wirklichkeit als postmodern lehnt LUHMANN jedoch ab. Vielmehr befähige erst die epistemologische Hinwendung zur Differenz die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft zu einer adäquaten Selbstbeschreibung (LUHMANN 1990b, S. 230). Die wissenschaftstheoretischen und ethischen Implikationen der Relativierung von Wahrheit werden im konstruktivistischen Diskurs unterschiedlich eingeschätzt. LUHMANN erläutert, dass Wirklichkeit von real existierenden Systemen konstruiert wird. Konstruktivismus ist insofern realistischer Konstruktivismus. Für LUHMANN folgt daraus, dass Konstruktionen von Realität nicht beliebig sind. Sie müssen angemessen, konsistent und passend sein (vgl. LUHMANN 1994b, S. 8; 1997, S. 1126f.). Stärker als LUHMANN betont VON GLASERSFELD (1992a; 1996) die funktionalistisch-pragmatische Funktion wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Passung von Wirklichkeitsbeschreibungen zeigt sich für ihn nicht nur in der Anschlussfähigkeit an wissenschaftliche Wahrheitsdiskurse, sondern in ihrer Brauchbarkeit in Anwendungszusammenhängen. Wissenschaft, die sich aus kulturphilosophischer Sicht durch den Zentralwert der Wahrheit oder in der Theorie sozialer Systeme durch den binären Code wahr/unwahr konstituiert, wird in der Position VON GLASERSFELDs 144
diesem traditionellen Anspruch bzw. Differenzschema vollends entzogen und auf einen konstruktivistischen Instrumentalismus als wissenschaftstheoretische Gegenposition zum Realismus festgelegt. Viabel/nicht viabel ist so gesehen die Leitdifferenz konstruktivistischer Erkenntnis, nach der auch die Funktion kognitiver Strukturen in der Erfahrungswelt bewertet wird. Dieser Codierung liegt nach KNORR-CETINA das Prinzip des „utilitaristischen Falsifikationismus“ zugrunde, das anders als der korrespondenztheoretische Falsifikationismus des Kritischen Rationalismus nicht annimmt, „dass die in Reaktion auf erfahrenes Scheitern hergestellten Fassungen von Realität ‚wahrheitstreuer’ werden“ (KNORRCETINA 1989; zit. nach HOOPS 1998, S. 231). In gleicher Weise entkräftet VON GLASERSFELD den objektiven Wahrheitsbegriff des Kritischen Rationalismus, indem er aufzeigt, dass man durch die Falsifikation von Hypothesen über die Realität nur wissen kann, was die Realität nicht ist: „Dass heißt, dass die ‚wirkliche’ Welt sich ausschließlich dort offenbart, wo unsere Konstruktionen scheitern. Da wir das Scheitern aber immer nur in eben jenen Begriffen beschreiben und erklären können, die wir zum Aufbau der scheiternden Strukturen verwendet haben, kann es uns niemals ein Bild der Welt vermitteln, die wir für das Scheitern verantwortlich machen könnten“ (VON GLASERSFELD 2004). Anders als für den Kritischen Rationalismus gibt es gemäß konstruktivistischem Denken also nicht eine empirische Wahrheit, der sich verschiedene Erkenntnissubjekte im wissenschaftlichen Forschungsprozess nähern. Folglich können Konstruktivisten ‚Wahrheit’ pluralistisch denken als gleichberechtigt nebeneinander stehende viable Konstruktionsansätze. Die Befreiung des Wissens vom Wahrheitsanspruch feiern Autoren wie VON GLASERSFELD, WATZLAWICK und VON FOERSTER als emanzipatorische Errungenschaft, die zur Sicherung der Würde des Menschen und zu einem menschenfreundlichen Zusammenleben beiträgt. Das Gegenbild dieser Argumentationen ist ein realistischer, auf Objektivität bezogener Wahrheitsbegriff, in dessen Zeichen Erkenntnis als das Aufdecken von UrsacheWirkungs-Relationen verstanden wird. Hierin wird eine reduktionistische, monokontextuelle Weltsicht gesehen, die dem im Zuge funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung zunehmend komplexer werdenden Leben nicht gerecht wird. Ein objektiver Wahrheitsbegriff verkenne die Grenzen kausalen Denkens in den durch Pluralisierung, Fragmentarisierung und Diversifizierung gekennzeichneten menschlichen Lebenswirklichkeiten. Den Erfinder der Wahrheit bezeichnet VON FOERSTER konsequent als einen Lügner (vgl. VON FOERSTER 2001). Zudem wird die Berufung auf vermeintliche Objektivitäten als Verweigerung von Verantwortung kritisiert. Hierzu ist bei WATZLAWICK zu lesen: „Wer weiß, daß er nicht Recht hat, sondern daß seine Sicht der Dinge nur recht oder schlecht passt, wird es schwer haben, seinen Mitmenschen Böswilligkeit oder Verrücktheit zuzuschieben [...]“ Die konstruktivistische Weltsicht würde den „bequemen Ausweg in die Abwälzung von Schuld an die Umstände und andere Menschen“ verstellen (WATZLAWICK 1997, S. 311f.). Analog postuliert VON GLASERSFELD: „Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung – daher auch ihre Beliebigkeit“ (VON GLASERSFELD 1997, S. 242). Lernund Bildungsprozesse müssen aus dieser Sicht als eigenverantwortliche Konstruktionen von Wirklichkeit begriffen werden. Mit dieser Re-Personalisierung von Verantwortung sind jedoch zwei theoretische Legitimationsprobleme verbunden. Betrachtet man das Individuum im systemtheoretisch-konstruktivistischen Sinn als strukturdeterminiert, also in einer unbewussten neuronalen und biographisch geprägten Strukturlogik befangen, dann ist es 145
eben nicht im aufklärerischen Sinne zur eigenverantwortlichen Verantwortungsübernahme fähig. Tätigkeiten wie Bewerten, Entscheiden und die moralische Übernahme von Verantwortung lassen sich nicht einem geschlossenen Gehirn, sondern nur einer Person zuordnen. Insofern ist die Deskription und Analyse neurophysiologischer Systeme in intentionalistischer Sprache wissenschaftssprachlich inädaquat (vgl. NIDA-RÜMELIN 2005, S. 166f.). Nicht die Anhänger moderner Wahrheitsdiskurse, sondern umgekehrt die Konstruktivisten scheinen also dem kausalistisch-deterministischen Welt- und Menschenbild der Naturwissenschaften verhaftet zu sein. Die Wiedereinführung einer personalen Sicht in die systemisch-neurophysiologische Reflexion zur Moral basiert auf einem Kategorienfehler. Die rationale Kontrolle des eigenen Wollens, Denkens und Handelns durch Prüfung an Wahrheitskriterien ist die Grundlage moralischer Alltagsbeziehungen, wie JOHANNES GIESINGER mit Verweis auf PETER F. STRAWSON und JULIAN NIDA-RÜMELIN erläutert: „Moralische Reaktionen zeigen wir in den Fällen, in denen wir annehmen, dass das Gegenüber sich in seinem Handeln von Gründen leiten lässt. Wir geben diese Reaktion auf, wenn wir davon ausgehen, dass dieses Verhalten auf Ursachen zurückzuführen ist, welche nicht seiner rationalen Kontrolle unterliegen“ (GIESINGER 2006a, S. 103). Gründe rational abzuwägen und daran das eigene Handeln zu orientieren setzt in der moralischen Alltagspraxis voraus, dem Anspruch auf Objektivität möglichst nahe zu kommen. Nicht subjektive Interessen, Stimmungen und Vorlieben, sondern die Verpflichtung auf angemessene Handlungsgründe prägt unsere moralischen Einstellungen und unser Rechtsempfinden und eröffnet den argumentativen Diskurs über Geltungsanspüche (vgl. NIDA-RÜMELIN 2005, S. 28). Moralisches Handeln setzt diesen rationalistischen Freiheitsbegriff voraus. Er ist damit zwar nicht „letztbegründet“, aber aus der Perspektive eines Teilnehmers am kommunikativen Diskurs „wohlbegründet“, denn die epistemologische Ablehnung der Annahme, dass menschliche Freiheit aus der „naturalistischen Unterbestimmtheit unserer Handlungsgründe“ (ebd., S. 166) resultiert, verkennt die konstitutive Bedeutung von Freiheit für die menschliche Lebenspraxis. Die zweite theoretische Legitimationsschwäche der postulierten Re-Personalisierung der Verantwortung liegt im utilitaristischen Gehalt des evolutionsbiologischen Begriffs Viabilität, der als Ersatzkonstruktion an die Stelle des objektiven Wahrheitsbegriffs des epistemologischen Realismus tritt. Im Lichte des Nützlichkeitsaspekt des Erkennens lässt sich die Objektivitätsabstinenz des modernen Konstruktivismus auch als Legitimation für selbstgesteuertes Handeln nach zweckrationalen, egoistischen und privatistischen Interessen im ‚struggle for survival’ auffassen, da auf Grundlage konstruktivistisch-evolutionärer Theorieperspektiven nicht geklärt werden kann, wer nach welchen subjektunabhängigen Kriterien definiert, was wahr und nützlich ist. Wie vielfach kritisiert wurde, läuft die konstruktivistische Position mit diesem Wirklichkeitsverständnis Gefahr, einen Werterelativismus und eine vom Wahrheitsanspruch abgekehrten Funktionalisierung von Forschung und Lernen zu stützen (vgl. NÜSE et al. 1991; GIRGENSOHN-MARCHAND 1996).
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6.4.2
Theoriekonzepte des Verstehens
Die Theorie des Verstehens ist traditionell der Gegenstand der Hermeneutik, der Erkenntnistheorie und Methodologie des Verstehens. Die hermeneutische Denktradition in der Philosophie ist gekennzeichnet durch eine klare theoretische und methodische Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften. Während den Naturwissenschaften die Aufgabe des Erklärens von Naturphänomenen nach dem Ursache-Wirkungs-Schema zukommt, reklamiert die Hermeneutik als ‚Theorie der Geisteswissenschaften’ das forschende Verstehen der geschichtlich-kulturell-sozialen Welt für sich. Bekannt geworden ist das wissenschaftstheoretische Grundaxiom WILHELM DILTHEYs ‚die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir’. Im Zuge der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems in eine Vielzahl von Disziplinen, Subdisziplinen, Programmen, Paradigmen und Methoden weicht dieses dualistische Wissenschaftsverständnis auf. Folglich ist auch das Verstehen gegenwärtig nicht mehr nur Thema der Hermeneutik, sondern Gegenstand interdisziplinärer (auch naturwissenschaftlicher!) Auseinandersetzungen. Neben Kognitions-, Entwicklungs- und Sozialpsychologie findet der Begriff des Verstehens vor allem das Interesse des Konstruktivismus. Die wichtige Rolle des Verstehensbegriffs im konstruktivistischen Diskurs wird u.a. daran sichtbar, dass eine „Systemtheorie des Verstehens“ (KRAFT 1989) und eine „Hermeneutik sozialer Systeme“ (SCHNEIDER 1992) geschrieben sowie die neurophysiologischen Grundlagen des Verstehens (ROTH 2003, S. 413ff.) rekonstruiert werden können. Aus systematischer Sicht stellt sich die Frage, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Begriff und die Methode des Verstehens in hermeneutischen und konstruktivistischen Theoriekonzepten aufweisen. Eine im Zusammenhang dieser Arbeit wichtige Anschlussfrage ist darauf gerichtet, wie der Gedanke der ‚Subjektivität’ und ‚Selbsttätigkeit’ des Ichs im Verstehen konstruktivistisch reformuliert wird. Eine systematische Gemeinsamkeit von Konstruktivismus und Hermeneutik besteht darin, dass für beide Paradigmen die vom Menschen hervorgebrachte Welt eine Wirklichkeit von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen ist, die methodisch durch verstehende Zugänge zu erschließen sind (vgl. DRIESCHNER 2004, S. 33). Nach INES STEINKE lassen sich drei Überschneidungsbereiche zwischen Konstruktivismus und hermeneutischinterpretativen (qualitativen) Verfahren feststellen: - „Es gibt einen gemeinsamen Gegenstandsbezug: Konstruktivismus wie auch qualitative Forschung beschäftigen sich mit der Herausbildung von Wirklichkeitsentwürfen. - Im (sozialen) Konstruktivismus und in qualitativer Forschung werden Kognitionen, Meinungen, Handlungsintentionen etc. nicht vorrangig individuumszentriert, sondern in ihrer Produktion, Reproduktion und Veränderung durch Interaktionen von Subjekten und Praktiken erschlossen. - Zwischen der konstruktivistischen Annahme der Subjektgebundenheit von Erkenntnis und dem in qualitativer Forschung diskutierten Ziel der methodisch reflektierten Einbeziehung der Subjektivität des Forschers lassen sich Verbindungen aufzeigen.“ (STEINKE 1999, S. 82f.)
Diese inhaltlichen Berührungspunkte von Konstruktivismus und Hermeneutik lassen jedoch nicht den Schluss auf eine theoretische Kompatibilität der Paradigmen zu. Das Anliegen STEINKEs, qualitativer Forschung einen konstruktivistischen Bezugsrahmen zu verleihen,
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bedeutet einen Bruch mit der traditionsgeschichtlichen (vgl. KRÜGER 1997, S. 178) und systematischen (vgl. UHLE 2002a) Verbundenheit qualitativer Forschung mit der hermeneutischen Tradition des Verstehens. Der Bruch zeigt sich am heterogenen ‚Wirklichkeitsverständnis’ beider Positionen, das im Folgenden am Beispiel des Problems der Subjektgebundenheit von Erkenntnis herausgearbeitet wird. Konstruktivistische und hermeneutische Verstehenskonzepte unterscheiden sich in den wissenschaftstheoretischen und methodologischen Konsequenzen, die sie hieraus ableiten. Thematisiert sei zunächst die hermeneutische Tradition des Verstehens. Hermeneutisch-interpretative Verfahren begründen die Subjektgebundenheit von Verstehensprozessen mit der gemeinsamen kulturellen Eingebundenheit von Subjekt und Objekt der Erkenntnis. Daher spricht WILHELM DILTHEY in Bezug auf den Forschungsgegenstand hermeneutischer Verfahren von „Ko-Subjekten“ der „Wissenschaftssubjekte“ (vgl. UHLE 2002a, S. 102). WOLFGANG KLAFKI erläutert diese Erkenntnisrelation so: „Der erkennende Mensch als Erkenntnissubjekt richtet sich in seinen Erkenntnisbemühungen hier auf die menschliche, genauer: die menschlich-gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit, also auf eine vom Menschen hervorgebrachte Welt, auf seinesgleichen und sich selbst. Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt sind hier also qualitativ gleich“ (KLAFKI 2002, S. 52). Diese Verbindung ist zugleich die Voraussetzung dafür, dass Verstehen überhaupt möglich ist. Die Eingebundenheit des Menschen in eine kulturelle Welt von Sinnund Bedeutungszusammenhängen wird in hermeneutischen Theorien auf Basis unterschiedlicher philosophischer Hintergrundannahmen wie Lebensphilosophie, Phänomenologie, Neukantianismus und Existenz- und Sprachphilosophie beschrieben (vgl. UHLE 1989). REINHARD UHLE erläutert, dass hermeneutische Ansätze die menschliche Grunderfahrung des Verstehens durch „vorgängige Verbindungen von Interpret zu Interpret oder Interpret zu Interpretiertem“ begründen, wie sie etwa im „’Einverständnis’ von mindestens zwei Verstehenden in ‚objektiven Geist’ (DILTHEY), in ‚Kulturprinzipien’ (RICKERT), in Sprachspielen’ (WITTGENSTEIN) oder in ‚wirkungsgeschichtlichem Bewusstsein’ (GADAMER)’“ gegeben sind (UHLE 2002a, S. 99). Konstitutiv für Verstehenserfahrung und zugleich Grund für das Einfließen der Subjektivität des Verstehenden in den Verstehensprozess sind demnach geteilte kulturelle Sinn- und Bedeutungszusammenhänge. Insofern können Geisteswissenschaften nicht wertfrei und voraussetzungslos betrieben werden. Für die Hermeneutik als Methode forschenden Verstehen ergibt sich daraus jedoch keine Ablehnung des Wahrheitsanspruchs wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie bemüht sich im Kontext ihrer Weiterentwicklung zur qualitativen Sozialforschung um „souveränes Verstehen“ (GADAMER 1967, S. 9), d.h., sie versucht die Regeln des Verstehens zu verwissenschaftlichen. Dabei orientiert sie sich am Prinzip der Inter- und Intrasubjektivität. Wie UHLE (2002, S. 114) deutlich macht, ist in diesem Zusammenhang die Methodisierung des Zweifels durch methodisch kontrollierte Verfremdung wichtig, damit Nicht- oder Missverstehen verhindert werden. Ein Beispiel für souveränes Verstehen ist die Methodik der ‚Objektiven Hermeneutik’ von ULRICH OEVERMANN. Diese versucht nach UHLE durch „Methodisierung der Pluralisierung und Reduktion von Sinn (durch Sequenzanalyse)“ dem Anspruch wissenschaftlichen Verstehens gerecht zu werden (ebd. S. 116). Mit diesem Verfahren will OEVERMANN zu objektiven und eindeutigen Interpretationsergebnissen gelangen. Als ‚objektiv’ kann er seinen hermeneutischen Ansatz auch aus dem Grunde bezeichnen, weil das 148
Ziel verfolgt wird, so genannte „latente Sinnstrukturen“, d.h. die den Deutungen von Welt zugrunde liegenden objektiven Bedeutungsstrukturen zu ermitteln (vgl. OEVERMANN 1983). Der Bezug auf eine objektiv gegebene Realität, die in Form latenter Sinnstrukturen soziale Praxis vorstrukturiert und subjektives Verhalten leitet, entspricht dagegen nicht dem konstruktivistischen Wirklichkeitsverständnis. Sinn- und Bedeutungsstrukturen existieren hier nicht als vorkonsentierte Voraussetzung sozialen Handelns. So wird nach LUHMANN erst durch die wechselseitige Unbestimmtheit einer sozialen Situation Kommunikation wahrscheinlich. Insofern werden soziale Strukturen als Gegenstand sozialer Dynamik und nicht als soziales Handeln leitende Wertzusammenhänge verstanden (vgl. NASSEHI 1997, S. 147ff.; LUHMANN 1984, S. 148ff.). Im Unterschied zur Hermeneutik begründen konstruktivistische Ansätze den subjektiven Anteil des Verstehens nicht mit der gemeinsamen Eingebundenheit von Interpret und Interpretiertem in die menschlich-geschichtliche Welt, sondern mit der grundlegenden und unüberwindbaren Differenz von Beobachter und Beobachtetem. Am Anfang des Verstehensprozesses steht damit Differenz und nicht Gemeinsamkeit. Verstehen ist hier keine Identifikation, kein ‚Wiederfinden des Ich im Du’ im Sinne DILTHEYs. Wenn Bewusstsein, wie in der konstruktivistischen Hirnforschung angenommen, von der in Interaktionsprozessen konstruierten Differenzwahrnehmung von „Innenwelt und Außenwelt“ (CIOMPI 1988) abhängt, dann gründet sich Verstehen auf der Differenzerfahrung von ‚Ich und Du’. Für den Konstruktivismus verschließt sich folglich die Möglichkeit, Verstehen durch Verbindungen zwischen Verstehenden zu begründen. Er muss begreiflich machen, wie angesichts der Differenz und Intransparenz bedeutungskonstruierender Systeme die menschliche Grunderfahrung des Verstehens möglich ist. Wie zu erwarten war, fällt die konstruktivistische Antwort funktionalistisch aus. Zu wissen, was ein anderer meint oder zu verstehen, was etwas bedeutet, wird generell als selbstreferenzielle Konstruktionsleistung geschlossener Systeme verstanden. Diesem Verständnis zufolge ist für Verstehenserfahrung nicht richtiges Verstehen im Unterschied zu Nicht- oder Missverstehen wichtig, sondern die Einsicht in die pragmatische Passung eigener Konstruktionen auf die Erfahrungswelt. Von ‚gegenseitigem Verstehen’ kann in diesem Theoriekontext gesprochen werden, wenn dank der Passung der eigenen Wirklichkeitskonstruktionen „Sozialkontakte erwartungsgemäß ablaufen“, also „Anschlusshandlungen erfolgen, die intendiert waren“ (STEINKE 1999, S. 93). Am Beispiel der konstruktivistischen Protagonisten ROTH, WATZLAWICK, MATURANA, RUSCH und LUHMANN sei im Folgenden erläutert, wie konstruktivistisch-systemtheoretische Verstehenskonzepte das hermeneutische Ziel des ‚Verstanden-habens’ funktionalistisch durch den Gedanken der ‚oberflächlichen’ Passung von Verstehenskonstrukten reformulieren. Die genannten Autoren wählen einen kommunikationstheoretischen Zugang zum Phänomen des Verstehens. Sie teilen die Überzeugung, dass aufgrund der Geschlossenheit autopoietischer Systeme keine Informationen über das Medium der Sprache übermittelt werden können. ROTH expliziert die neurophysiologischen Grundlagen dieses Sachverhalts. Wissen und Bedeutung können nicht von Gehirn zu Gehirn übertragen werden. Bewusstseinsinhalte lösen durch das Sprachzentrum des Gehirns und den Sprechapparats die Erzeugung von Schalldruckwellen aus, welche als bedeutungsneutrale Reize an das Ohr des Gegenüber gelangen, sodann in bedeutungsneutrale neuronale Impulse umgewandelt werden, denen schließlich das Gehirn eine Bedeutung zuweist (vgl. ROTH 2004c). Verstehen ist 149
damit unumgänglich Konstrukt des Empfängers der Kommunikation, wie WATZLAWICK mit dem bekannten ersten Axiom seiner Kommunikationstheorie: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ deutlich macht (WATZLAWICK/BEAVIN/JACKSON 1969, S. 53). Der Verstehende und nicht der Sender von Informationen konstituiert nach konstruktivistischem Verständnis Kommunikation, so dass gemäß WATZLAWICK auch Verhalten, das nicht als Kommunikation intendiert ist, als verbale oder nonverbale Kommunikation verstanden werden muss. Die Ablehnung des Sender-Empfänger-Modells der Kommunikation führt indes MATURANA dazu, Kommunikation von autopoietischen Systemen als gegenseitiges Orientierungsverhalten zu konzipieren. Eine Orientierung ist eine gezielt gesetzte ‚Perturbation’ (Irritation autopoietischer Systeme). Das bedeutet, dass eine Verhaltensmodifikation zwar vom orientierenden Agens hervorgerufen wird, der Orientierte aber auf Basis seiner Struktur über die Richtung entscheidet, in die er seinen kognitiven und emotionalen Bereich orientiert. Verstehen bedeutet daher eine Vorstellung zu konstruieren, die zur Vorstellung passt, die ein anderer zuvor in sich erzeugt hat. Verstehen lernen meint folglich, einen Einblick in die Passung der eigenen Wirklichkeitskonstruktion zu erlangen. Hintergrund dieses Verstehensverständnisses ist die evolutionstheoretische These MATURANAs, die Herausbildung von Sprache diene der Verhaltenskoordination lebender Systeme. Sprache trägt demnach primär eine konnotative Funktion. RUSCH (1986) erweitert das Verständnis von sprachlichem Verhalten als Orientierungsinteraktion, indem er zwischen Orientierungshandlungen und Verstehenshandlungen unterscheidet. Eine Orientierungshandlung basiert auf der Ausbildung so genannter „handlungsschematischer Strukturen“, welche die Herstellung einer Kausalbeziehung zwischen eigenen Verhaltensweisen als Ursache und fremden Verhaltensweisen als Wirkung bezeichnet, „so dass im Rahmen dieser Handlungsschemata Erwartungen, Ziele und Zwecke mit der Ausführung einer Handlung verknüpft werden können“ (ebd., S. 54). Eine Orientierungshandlung ist erfolgreich, wenn das Verhalten eines Orientierten den Erwartungen eines Orientierenden entspricht. Die Frage, ob verstanden wurde, wird aus diesem Blickwinkel zu einer Sache der Bewertung durch den Orientierenden. So sind etwa Schüler zur Einschätzung ihrer Verstehensleistungen auf die Bewertung ihres Verhaltens durch Lehrer angewiesen, die versuchen, unter dem Aspekt des Verstehens selektiv hinsichtlich der von den Schülern kognitiv autonom erzeugten Verhaltensweisen zu wirken. Im Verlauf von Lehr-Lern-Interaktionen beginnen Schüler „im Bereich ihrer Kognition solche Systeme handlungsschematischer Strukturen [...] zur Ausbildung zu bringen, unter deren Voraussetzung und Beteiligung an der Verhaltenssynthese dann jene unter dem Aspekt des Verstehens positiv ausgezeichneten Verhaltensweisen zu Stande kommen können (ebd., S. 62). Dieser Prozess dient nach RUSCH (ebd., S. 63ff.) dem Aufbau einer Verstehenskompetenz, die zu so genannten „Verstehenshandlungen“ befähigt. In Verstehenshandlungen orientieren sich Beobachter selbst, d.h. sie richten sich in ihren Operationen nicht nach den Rückmeldungen eines Kommunikationspartners, sondern bestimmen selbst Verstehenserwartungen auf Basis der Kriterien und Operationalisierungen des Verstehens, über die sie verfügen. Verstehenshandlungen werden damit zu einer Sache der Selbstzuschreibung. Das Phänomen des ‚Einander-Verstehens’ resultiert aus einer Kongruenz der Verstehenserwartungen von Ego und Alter. Mit WATZLAWICK kann in diesem Zusammenhang von ‚Einander-Verstehen’ gesprochen werden, wenn „der andere unsere
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Sicht der zwischenmenschlichen Wirklichkeit mit uns teilt, sie also gewissermaßen ratifiziert“ (WATZLAWICK 2005, S. 24). Das Diktum ROTHS, „So viele Gehirns, so viele Bedeutungswelten“, kann Verstehen und gelingende Kommunikation nicht hinreichend begreiflich machen (ROTH 2003, S. 422). ‚Verstehen’ wie die obigen Autoren als wechselseitige Passung subjektiver Verstehenskonstrukte zu beschreiben führt das Problem mit sich, nicht begründen zu können, was in einem bestimmten sozialen Kontext als Verstehen gelten kann. Konkret kann das Folgendes bedeuten: Ich kann eine passende Vorstellung generieren über das, was ein anderer denkt, fühlt und ausdrücken möchte, und ich kann zugleich das Anliegen und dessen Mitteilungsform als situativ angemessen oder unangemessen verstehen. Ich muss also nicht nur die subjektive Bedeutung einer Mitteilung, sondern vor allem auch ihren objektiven Sinn vor dem Hintergrund geteilter sozialer Regeln, Vorstellungen, Deutungen und Wahrnehmungsmuster verstehen. Das Phänomen des Verstehens kann demnach nicht hinreichend mit dem Verweis auf ontogenetische Strukturkoppelungen in Interaktionszusammenhängen und „konsesuelle Bereiche“ (MATURANA) in Gehirnen begreiflich gemacht werden, sondern ist nur durch das hermeneutische Theorem vorgängiger Verbindungen zwischen Verstehenden denkbar, wie sie OEVERMANN in latenten Sinnstrukturen gegeben sieht. Sinnstrukturen als objektive Regeln von Sprachgemeinschaften existieren unabhängig von subjektiver Bedeutung. Sie bilden die Grundlage für individuelles sinngeleitetes Handeln, auf die hin die objektive Bedeutung von Situationen und Handlungen verstanden wird. Verstehen kann aus dieser Sicht nicht zureichend als passende Re-Konstruktion subjektiven Sinns verstanden werden, sondern ist im Spannungsfeld der subjektiven Bedeutung einer Lebensäußerung und ihrer objektiven Bedeutung vor dem Hintergrund der Regeln sozialer Prozessabläufe zu sehen. Gegenüber der unzureichenden sozialen Dimension eines auf die Passung subjektiver Bedeutung rekurrierenden Verstehensverständnisses thematisiert LUHMANN explizit die soziale Bedeutung des Verstehens (vgl. LUHMANN 1984). Wie auch MATURANA und RUSCH sieht er von vorgängigen Verbindungen zwischen Verstehenden ab. Er radikalisiert das funktionalistische Verstehensverständnis des Konstruktivismus, indem er Verstehen als Funktion der Sicherstellung von Anschlusskommunikation beschreibt. Dazu löst er die Operation des Verstehens aus ihrer alleinigen psychischen Systemreferenz und überträgt sie als Komponente von Kommunikation auch auf soziale Systeme. Auf der Ebene von Kommunikationssystemen ist für LUHMANN nicht die Passung subjektiver Verstehenskonstrukte entscheidend, sondern schlicht, dass eine Information, verstanden als Selektion eines Inhalts aus dem Horizont kommunikativer Verweisungsmöglichkeiten, von ihrer Mitteilung als der Selektion einer bestimmten Form der Mitteilung unterschieden wird. Die Anschlusskommunikation zeigt, wie die vorherige Kommunikation verstanden wurde. Verstehen umfasst für LUHMANN „alles, was das verstehende System für Verstehen hält. Der Begriff schließt daher Missverstehen ein, solange man glaubt zu verstehen“ (1986, S. 85). Der Versuch zu erfassen, ob eine verstandene Information richtig verstanden wurde, ist aufgrund der Intransparenz psychischer Systeme nicht möglich. „Verstehen geht nicht in die [psychische, E.D.] Tiefe, wo es sich ja nur verlieren könnte“ (ebd. S. 95). Die Intransparenz psychischer Systeme macht vielmehr die Entstehung von Kommunikation erst wahrscheinlich. Damit die Annahme von Kommunikation und das Entstehen von Anschluss151
kommunikation wahrscheinlicher werden, haben soziale Systeme funktionsspezifische Codes ausgebildet, nach deren Maßgabe Anschlusskommunikation selektiert wird (vgl. Kap. 3.2). In der Moderne wird Verstehen zum Problem, da sich die Gesellschaft in eine Vielzahl von Funktionssystemen ausdifferenziert hat, die mit unterschiedlichen Codes operieren, die nicht in eine übergreifende Sinneinheit überführt werden können. In der Folge pluralisieren sich die Unterscheidungsmöglichkeiten, mit denen Welt beobachtet werden kann. Zur Aufgabe von Verstehen wird es damit, die Referenz der Unterscheidung und Bezeichnung zu erfassen, d.h. die Perspektive, aus der heraus etwas beobachtet wird. Wirtschaftliche, wissenschaftliche, religiöse, familiäre oder pädagogische Kommunikation muss als solche erkennbar sein, um Anschlusskommunikation in sozialen Systemen sicherzustellen. Insofern definiert LUHMANN Verstehen „als Beobachtung der Handhabung fremder Selbstreferenz“ (ebd. S. 90). Nochmals sei darauf verwiesen, dass es sich bei diesem Verstehensverständnis anders als in der hermeneutischen Tradition nicht um ein Erfassen subjektiv gemeinten Sinns und objektiver Sinnstrukturen handelt, sondern ausschließlich um „Annahmeroutinen für Kommunikationen“ (NASSEHI 1999, S. 15). Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass hermeneutischen und konstruktivistischsystemischen Theoriekonzepten des Verstehens grundverschiedene Wirklichkeitsverständnisse zugrunde liegen. Konstruktivistische Verstehenstheorien betonen den Aspekt der System-Umwelt-Koordinierung füreinander intransparenter Systeme und die Aufrechterhaltung von Kommunikationszusammenhängen. Die philosophische Hermeneutik basiert dagegen auf dem Gedanken der ‚Verständigung’ und des ‚Einander-verstehens’. Man kann diese Differenz der Theorieanlagen auch am unterschiedlichen Umgang mit dem Phänomen kultureller Pluralität verdeutlichen: Aufgrund ihrer Intention, Verständigungsarbeit leisten zu wollen, betrachtet JÜRGEN HABERMAS das Erkenntnisinteresse hermeneutischer Wissenschaften als ein praktisches. Das bedeutet, dass „sich diese Wissenschaften nicht aus einem praktischen Aufgabenzusammenhang lösen können, nämlich Verständigung mit Fremden und Fremdgewordenen zu leisten und Gesellschaft als ‚Verständigungsgemeinschaft’ zu begründen“ (UHLE 2002a, S. 102). Wie ARMIN NASSEHI und IRIS WITTENBECHER übereinstimmend zeigen, ist das Verständigungsinteresse der Hermeneutik eine Konsequenz der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft, aus der die in konstruktivistischen Ansätzen gespiegelte Pluralisierung von Weltdeutungen resultiert. Verständigungsarbeit muss geleistet werden, um Brücken zwischen pluralisierten Wissensund Sinnsystemen zu schlagen. Hermeneutik geht dazu trotz der Pluralisierung von Weltsichten von Verbindungen zwischen Verstehenden und zu Verstehendem aus, wie sie im „objektiven Geist“ (DILTHEY), im „wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein“ (GADAMER) oder in „latenten Sinnstrukturen“ (OEVERMANN) gegeben sind (vgl. NASSEHI 1997, S. 134; WITTENBECHER 2003, S. 79f.). In konstruktivistischen Theorien wird Pluralität hingegen radikaler gedacht. So konstatieren ROLF ARNOLD und HORST SIEBERT, dass die konstruktivistische Erkenntnislehre gesellschaftliche Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse „kognitionstheoretisch auf die Spitze treibt“, da diese nur einen subjektiven Zugang zur Wirklichkeit für möglich hält (ARNOLD/SIEBERT 1999, S. 23). Wie besonders an der Gesellschaftstheorie von LUHMANN deutlich wird, kennt der konstruktivistische Diskurs keine gesellschaftsübergreifende Einheit, wie sie die an Verständigung und Konsens orientierten hermeneutischen Theorien unterstellen. Nicht das hermeneutische Bemühen um verstehen152
de Annäherung, sondern die Akzeptanz des Anderen in seiner uneinholbaren Fremdheit wird damit zum ethischen Postulat des Konstruktivismus im Kontext einer postmodernen Weltanschauung (vgl. DRIESCHNER 2004, S. 107ff.). Wie BERND AHRBECK erläutert, erscheint die Fremdheit des Anderen – wie auch des eigenen Ich – insofern als uneinholbar, als „die Komplexität der psychosozialen Phänomene so stark akzentuiert wird [...], dass jeder Versuch, ihr gerecht zu werden, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Deshalb wird auch gar nicht erst gewagt, sich der vielschichtigen und verschlungenen inneren und äußeren Realität zu stellen“ (AHRBECK 2004, S. 99).
153
7
Erziehung und Unterricht als Anregung selbstreferenziellen und selbstorganisierten Lernens im pädagogischen Konstruktivismus
7.1
Grundlinien der Konstruktivismus-Rezeption in der Didaktik
Die Darstellungen in Kapitel 6 bezogen sich auf die Rekonstruktion aktueller Konzepte konstruktivistischen Denkens im Schnittfeld von Neurobiologie, Hirnforschung, Evolutionstheorie und Systemtheorie. Das Bindeglied dieses konstruktivistischen Theorieverbundes besteht in der Realismus-kritischen Grundüberzeugung, dass Wirklichkeit ein unhintergehbares Resultat aktiver Konstruktionsleistungen ist. Diese epistemologische These wird im Lichte unterschiedlicher wissenschaftlicher Problemstellungen formuliert. Die strukturelle Kontinuität zwischen den verschiedenen Positionen des interdisziplinären Diskursfeld besteht in der These der Selbstorganisation biologischer, psychischer und sozialer Wirklichkeiten. Das erkennende Ich bringt seine kognitive Welt selbstmächtig im Schnittpunkt pluraler Wirklichkeiten hervor. In diesem Zusammenhang hervorgehoben wurde die Spannung zwischen der Subjekt- und der Community-Gebundenheit von Erkenntnis. Nachgewiesen wurde konstruktivistischen Konzepten ferner ein funktionalistisches und instrumentalistisches Wirklichkeitsverständnis, das aus der erkenntnistheoretischen ObjektivitätsEntsagung folgt und in Begriffen wie Autopoiesis, Selbstorganisation und Viabilität zum Ausdruck kommt. Diese Sicht auf soziale Wirklichkeit legt die Richtung für konstruktivistische Reflexionen pädagogischer Probleme fest. In aktuellen Konzepten der allgemeinen Didaktik und der Fachdidaktiken wird erkenntnistheoretisches Wissen zur Reflexion schulischer Lehr-Lernprozesse verwendet. Systematisch können konstruktivistische Didaktiken daher als Brückenschlag zwischen Epistemologie und Unterrichtstheorie charakterisiert werden. Grundlegender Modus der Konstruktivismus-Rezeption ist die Ableitung didaktischer Konsequenzen aus lern- und erkenntnistheoretischen Konzepten über die Eigenkonstruktivität von Wirklichkeit. Getragen wird dieser Theorieimport von der in der Tradition pädagogischen Denkens fortwährenden Hoffnung, dass das Wissen über Erkenntnis- und Lernprozesse der Schlüssel zur optimalen Anpassung der Lehre an die Lernvoraussetzungen der Kinder sei. Viel versprechend wird dann verkündet, schulische Lernprozesse wirksamer, lebensbedeutsamer und subjektiv befriedigender gestalten zu können. Erkennbar wird diese Reformintention an aussichtsreich klingenden Buchtiteln wie „Schulvisionen“ (VOß 1998), „Die Schule neu erfinden“ (VOß 2002), „Konstruktivismus – die neue Perspektive im (Sach-)unterricht“ (KLEIN/OETTINGER 2000) und „Wandel der Lernkulturen“ (ARNOLD/SCHÜßLER 1998). Auch in der neueren pädagogischen und politischen Bildungsdiskussion, die Züge visionärer und zukunftsorientierter Bestimmungen von Bildungsaufgaben trät, bezieht man sich 155
zur Begründung schulischer Unterrichtsreformen auf konstruktivistische Argumentationsfiguren. So formulieren etwa die Autoren der einflussreichen Denkschrift „Zukunft der Bildung, Schule der Zukunft“ der BILDUNGSKOMMISSION NRW (1995) ihre Reformintention auf Basis eines konstruktivistischen Lernverständnisses, nach dem „menschliche Erkenntnis konstruierend und handelnd-deutend sowie gekoppelt an Kommunikationsprozesse erfolgt, nicht durch die Übermittlung systematisierter Inhaltselemente und Ergebnisse fachwissenschaftlicher Strukturierung.“ Wie WILKLEF HOOPS (1998) angesichts dieser Diskussionslage feststellt, ist es in der ‚Didaktik-Szene’ offenbar „chic, Konstruktivist zu sein“. In dieser Formulierung kommt die Vermutung zum Ausdruck, dass es sich beim Konstruktivismus um einen derzeit angesagten, aber wahrscheinlich auch schnell wieder überholten Modetrend im pädagogischen Reformmilieu handelt. Das auch acht Jahre nach dieser Trendeinschätzung anhaltende Interesse vieler Pädagogen am modernen Konstruktivismus deutet jedoch auf eine Etablierung konstruktivistischer Prinzipien in der Theorie des Unterrichts und der Lehre. Diese Konsolidierung zeigt sich an der Aufnahme konstruktivistischer Ansätze in Neuauflagen des bekannten Standardwerks zur Allgemeinen Didaktik von WERNER JANK und HILBERT MEYER (2003). Neben den traditionellen bildungstheoretischen, lehr-lerntheoretischen, kommunikations- und interaktionstheoretischen Ansätzen nimmt auch EWALD TERHART (2005) konstruktivistische Didaktik als neuesten Ansatz in seine Systematisierung didaktischer Theoriefamilien auf. Die Profilbildung konstruktivistischer Didaktik erfolgt nicht zuletzt durch die Abgrenzung von traditionellen didaktischen Ansätzen. Das Feld der allgemeinen Didaktik wird durch die oben genannten Theoriefamilien abgesteckt, die jeweils unterschiedliche Aspekte von Unterricht in den Mittelpunkt rücken. Bildungstheoretische Ansätze, die in der Tradition der klassischen Bildungsphilosophie und der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik stehen, verstehen unter dem ‚Primat der Didaktik’ vor der Methodik die Selektion, Strukturierung und Explikation von Bildungsinhalten nach Kriterien materialer und formaler Bildungstheorien. Der Kern didaktischer Reflexionen bezieht sich hier auf die Frage WILHELM VON HUMBOLDTs, wie der Sich-Bildende in der Begegnung mit „einer möglichst geringen Zahl von Gegenständen [...] Verstehen, Wissen und geistiges Schaffen [...] durch seine innere Präzision, Harmonie und Schönheit gewinnt“ (HUMBOLDT 1960, S. 198). In der bildungstheoretischen Didaktik wurden Auswahlkriterien für Fächer und Themen entwickelt, an denen im zeitlich begrenzten Rahmen institutionalisierter Bildung Selbstbildungsprozesse realisiert werden können. Bekannt wurden materielle Kriterien zum ‚Exemplarischen’, ‚Fundamentalen’ und ‚Klassischen’ sowie formale Modelle zu ‚Kräften’, ‚Vermögen’ und ‚Anlagen’, die aus inhaltlichen Aneignungsprozessen hervorgehen (vgl. BLANKERTZ 1975, S. 36ff.). Demgegenüber versteht sich die dem empirischen Paradigma der Erziehungswissenschaft zugeordnete Lehr-Lerntheoretische Didaktik als Anleitung zur ‚zweckrationalen’ und ‚erfolgskontrollierten’ Operationalisierung und Methodisierung von Lernzielen und Lernprozessen. Dies geschieht auf Basis empirischer Analysen des Unterrichts, seiner Voraussetzungen, Faktoren und Prozesse (vgl. SCHULZ 1966). Kommunikations- und interaktionstheoretische Ansätze der Kritischen Didaktik und Erziehungswissenschaft rücken hingegen sprachliche Interaktionsstrukturen des Unterrichts und ihre psychologisch-kommunikationstheoretischen Voraussetzungen in den Mittelpunkt 156
didaktischer Reflexionen. Im Anschluss an die Diskursethik von JÜRGEN HABERMAS wird hier die Entwicklung von kommunikativer Kompetenz in herrschaftsfreier unterrichtlicher Kommunikation als Leitkategorie schulischer Bildung etabliert. Nach dem Nachlassen des in den 70er Jahren offensiv ausgetragenen wissenschaftstheoretischen Richtungsstreits zwischen den oben genannten Didaktiken und ihren paradigmatischen Fundierungen hat sich die Theorielage der Allgemeinen Didaktik stabilisiert. In den letzten zwei Jahrzehnten lassen sich Auflösungsprozesse bzw. ‚postmoderne Entgrenzungen’ der wissenschaftstheoretischen Grundlagen pädagogischer Forschung und Theoriebildung beobachten, die zu Annäherungen zwischen den einzelnen didaktischen Richtungen geführt haben. Die Lehrtheoretische Didaktik hat Anschluss an die Bildungstheoretische Didaktik gefunden. In der Kritisch-konstruktiven Didaktik KLAFKIs verschmelzen wiederum Bildungstheoretische und Kritische Didaktik. Ausdruck einer stabilen Theorielage ist auch die übersichtliche Anzahl einschlägiger Lehrbücher ebenso wie die langjährige institutionelle Absicherung des Faches durch seine feste Verankerung in den Prüfungsordnungen der Lehramtstudiengänge. In dieser Zeit der ‚Paradigmenverschmelzung’ und der ‚theoretischen Stagnation’ tritt seit Anfang der 90er Jahre mit der konstruktivistischen Didaktik eine Konzeption in der Unterrichtstheorie auf, die beansprucht, einen neuen allgemeindidaktischen Ansatz zu begründen. Wie bereits in den Kapiteln zur Reflexion konstruktivistischer Grundlagentheorien deutlich wurde, distanziert sich dieser Ansatz von den drei zentralen paradigmatischen Grundorientierungen der Erziehungswissenschaft, d.h. der hermeneutischen, der empirisch-analytischen und der kritisch-emanzipatorischen Pädagogik und versucht, auf Basis konstruktivistischer Theoreme im Schnittfeld von Neurobiologie, Hirnforschung, Evolutionstheorie und Systemtheorie das gesamte Feld didaktischer Theoriebildung zu reformulieren. Mit der Akzentuierung der radikalen Selbstreferenz des Verstehens sowie der methodisch-didaktischen Subjekt-, Interaktions-, Handlungs- und Erfahrungsorientierung schulischen Lernens wollen konstruktivistische Ansätze „alte Sichtweisen in der Didaktik überschreiten“, welche die Selbstbezüglichkeit der Schüler nicht in den Mittelpunkt didaktischer Reflexionen stellen, sondern ‚lediglich’ zur Erhebung von Lernvoraussetzungen berücksichtigen, um darauf aufbauend systematischen Lehrgangsunterricht planen zu können (GIRG 2005, S. 66). Damit nehmen konstruktivistische Perspektiven eine zentrale Stellung in aktuellen Diskussionen über subjektorientierte Neukonzeptualisierungen der didaktischen Gestaltung von Lernkulturen ein (vgl. HINZ 2005). In ihren Bemühungen um akademische Konsolidierung scheint konstruktivistische Didaktik von einer veränderten Problemlage der Allgemeinen Didaktik zu profitieren, die paradoxerweise aus dem institutionellen Erfolg des Faches und seiner stabilen Theorielage resultiert. Wie TERHART (2005, S. 1) erläutert, bilden nicht mehr wissenschaftstheoretische Kontroversen zwischen den traditionellen didaktischen Theoriefamilien das Kernproblem dieser pädagogischen Teildisziplin, sondern die bisher nicht erfolgte Bestimmung des Verhältnisses zu den Fachdidaktiken, zur empirischen Unterrichtsforschung sowie zu dem im Überschneidungsbereich von Lernpsychologie, Kulturtheorie und Bildungsphilosophie geführten Diskurs über selbstgesteuertes und lebenslanges Lernen. Vor allem an der wachsenden Kooperation der Fachdidaktiken und der psychologischen Lehr-Lernforschung – eine Entwicklung, die durch die Implementierung von Bildungsstandards forciert wird – zeigt sich, dass Perspektiven der Allgemeinen Didaktik aus aktuellen Forschungsdiskursen 157
über Unterricht und Lehre ausgebootet werden. Wenn in den Unterrichtswissenschaften traditionelle allgemein-didaktische Modelle durch empirische Lehr-Lernforschung als funktionales Äquivalent substituiert werden, dann gerät auch ihr Status als zentrales Prüfungselement in der Lehrerbildung unter Legitimationsdruck und droht durch Kenntnisse in „standardbezogenen empirischen Befunden“ ersetzt zu werden (OSER/OELKERS 2001, S. 218). Augenscheinlich sind konstruktivistische anderen allgemeindidaktischen Ansätzen im Umgang mit diesen neuen Herausforderungen überlegen. So ermöglicht der gemeinsame Bezug auf konstruktivistische Theoreme ein theoretisches, inhaltliches und methodisches Kontinuum zwischen allgemeindidaktischen und fachdidaktischen Perspektiven. In einschlägigen konstruktivistischen Sammelbänden findet man daher häufig Beiträge aus beiden Bereichen (vgl. VOß 1998/2005). Des Weiteren konvergiert der primär lernprozess- und nicht so sehr lernproduktorientierte Fokus konstruktivistischer Didaktiken mit dem kognitiven Paradigma, das der empirischen Lehr-Lernforschung wie auch vielen fachdidaktischen Konzepten zugrunde liegt. Die Übergänge zwischen kognitiven Perspektiven der Psychologie und einem gemäßigten konstruktivistischen Lernverständnis sind fließend, so dass über beide Theorieansätze gleiche didaktische Prinzipien wie z.B. die Selbststeuerung des Lernens begründet werden können. Des Weiteren ist eine Anschlussfähigkeit zwischen dem konstruktivistischen Design der Didaktik und aktuellen Schulreformdiskussionen gegeben, die übereinstimmend dem gesellschaftlichen Bedeutungswandel von Bildung und Erziehung mit Selbstorganisation auf der Mikroebene des Unterrichts wie auch auf der Makroebene der Schulorganisation begegnen wollen (vgl. STROBEL-EISELE 1999, S. 196). Doch rechtfertigen (1) der wissenschaftliche und bildungspolitische Bedeutungsverlust traditioneller didaktischer Ansätze, (2) die Anschlussfähigkeit konstruktivistischen Denkens an aktuelle didaktische Problemlagen und Reformdiskussionen sowie (3) die Annahme, Wissen über Lehre lasse sich aus Wissen über Erkenntnis- und Lernprozesse ableiten, die Rede von Konstruktivismus als neuem Paradigma in der Didaktik, wie die Protagonisten dieses Ansatzes postulieren? KLAUS PRANGE stellt die Frage, ob konstruktivistische „Theorie- und Konzeptionsimporte der Eigenart der Erziehung angemessen sind oder ob es nicht richtiger wäre, darauf mit Abstoßungsreaktionen zu antworten und einen gewissen Immunschutz aufzubauen“ (PRANGE 2004, S. 77). Anders ausgedrückt: Lassen sich die Anforderungen an pädagogisches Handeln hinreichend mit Bezug auf konstruktivistische Theoreme reflektieren? Als problematisch erweist sich die Differenz der Wissensformen, die im Pädagogischen Konstruktivismus zusammengeführt werden. HOOPS (1998) problematisiert die Ableitung didaktischen und lerntheoretischen Wissens aus epistemologischem Wissen. Resultat derartiger Deduktionsschlüsse sind rein formale und entmaterialisierte Didaktiken, welche den institutionellen Kern und die Erwartung an schulisches Lehren und Lernens, nämlich Bildung über die Auseinandersetzung mit bestimmten Fächern und Themen zu befördern, nicht hinreichend reflektieren bzw. sogar theoretisch ‚unterlaufen’. Die aus phänomenologischer Sicht unabweisbare Grundstruktur von Unterricht, über kommunikative Vermittlung kulturellen Wissens Bewusstsein mit neuen Perspektiven zu konfrontieren, wird durch konstruktivistische Theoreme über die informationelle Geschlossenheit des Gehirns demontiert. Mit Begriffen wie Autopoiesis, Selbstorganisation und Selbsttätigkeit wird so einer ‚Selbstmacht des Schülers’ und einer ‚Ohnmacht der pädagogischen Ein158
wirkung’ das Wort geredet. Didaktik paralysiert sich auf diese Weise selbst. Es wird deutlich, dass konstruktivistisches Wissen nicht genügt, um Lehre anzuleisten, da der strukturelle Kern pädagogischen Handelns, das ‚Zeigen einer Sache’, als Lehr-Lern-Kurzschluss abgewertet und nicht als didaktische Herausforderung wahrgenommen wird. Das Problem der Auswahl der Unterrichtsgegenstände und ihrer strukturierten Darbietung wird vernachlässigt, die Subjektivität und die Selbsttätigkeit des Schülers stehen dagegen im Mittelpunkt didaktischer Überlegungen. Damit treten subjektive Kategorien an die Stelle des klassischen Gedankens der Bildung im Medium objektiver Kultur, zu der die systematische und instruktionslogisch gestützte Auseinandersetzung mit kulturellen Objektivationen gehört. Nicht Berücksichtung finden zudem in derartigen Deduktionsschlüssen die organisatorischen Rahmenbedingungen von Schule und Unterricht. So ist z.B. nicht geklärt, wie die – gegenüber direkten Formen der Instruktion unvermeidlich zeitaufwändigeren – methodischen Formen selbstorganisierten Lernens organisatorisch realisiert werden können, ohne im Gegenzug fundamentale Wissenslücken in Kauf nehmen zu müssen. Kritische Auseinandersetzungen mit konstruktivistischen Didaktiken problematisieren nicht nur die Deduktion von pädagogischem aus epistemologischem Wissen, sie zeigen zudem den geringen innovativen Gehalt dieses neuen Ansatzes auf. Wie aus theoretischen Untersuchungen von TERHART und SIBYLLE BEETZ hervorgeht, ist es offenbar nicht gelungen, auf Basis epistemologischen Wissens eine inhaltlich und methodisch neuartige Didaktik zu entwickeln (BEETZ 2000; TERHART 2002). Pädagogischer Konstruktivismus ist für die Autoren keine innovative Unterrichtstheorie, sondern ein neuer Legitimationsdiskurs oder ein neues Sprachspiel für bekannte reformpädagogische Prinzipien und Methoden einer Pädagogik vom Kinde aus. BEETZ verweist auf einen Bruch zwischen der radikal artikulierten Theorie-Ebene konstruktivistischer Didaktiken und der Ebene praxeologischer Konsequenzen, die sich auf Plädoyers für die „Einrichtung reformpädagogischer Lernräume“ reduzieren lassen (BEETZ 2000; S. 447). Begründet wird diese Einschätzung damit, dass konstruktivistische Pädagogik bisher nur unwesentlich zur methodischen Weiterentwicklung des Lehrens und Lernens, zur curricularen Sequenzierung des Unterrichts und zur Konstruktion intelligenten Wissens beigetragen hat. Dementsprechend begrenzt GABI REINMANN-ROTHMEIER den theoretischen Status des pädagogischen Konstruktivismus auf eine „Haltung zur Förderung selbstbestimmten Lernens“ (REINMANN-ROTHMEIER 2003, S. 13). Auch ROLF WERNING zeigt, dass entgegen anders lautender Behauptungen die Schule durch konstruktivistische Reflexionen nicht „neu erfunden“ wird. Konstruktivismus ist für WERNING eine Metatheorie reformpädagogischen Denkens. Das theoretische Potential des Konstruktivismus besteht demnach in der Zusammenführung verschiedener Konzepte selbsttätigen Lernens und nicht in der inhaltlichen Neuorientierung der Didaktik (WERNING 1998). Die Reformintention konstruktivistischer Pädagogik zeigt sich deutlich an ihrer Kritik am traditionellen Lehrgangsunterricht. Für HANS BRÜGELMANN muss Unterricht, der die Erkenntnis der Eigenkonstruktivität von Bedeutung ernst nimmt, „immer ‚offen’ sein“. Nur in einem offenen Lernraum kann durch die Individualisierung der Aneignungsformen, Aufgaben und Aktivitäten ein „Zugang zur Biographie und zur Lebenswelt der Lernenden“ gefunden werden (BRÜGELMANN 2002, S. 183). Wie auch an DIETER WOLFFs konstruktivistischer Begründung der „Autonomie des Lerners“ deutlich wird, spiegelt sich der er159
kenntnistheoretische Dualismus von Konstruktivismus und Realismus in der Didaktik als Gegensatz von Konstruktivismus und Instruktivismus (vgl. WOLFF 1997). Mit der Selbstorganisation kognitiver Systeme wird die methodisch-inhaltliche Selbstorganisation schulischen Lernens legitimiert. Deutlich erkennbar wird diese Legitimationslogik am Titel eines Aufsatzes von REINHARD VOß, der „Unterricht ohne Belehrung – Kontextsteuerung, individuelle Lernbegleitung und Perspektivenwechsel“ fordert, angesichts der konstruktivistischkognitionstheoretischen Einsicht, dass „Schüler eigensinnige und selbstverantwortliche Konstrukteure ihrer Lebens- und Lerngeschichten“ sind (VOß 2005, S. 35). Im Anschluss an die Tradition reformpädagogischen Denkens kann konstruktivistische Didaktik ihr Plädoyer für selbstorganisiertes Lernen somit als ‚natürlichen’ Lern- und Verstehensmodus ausweisen. GABRIELE STROBEL-EISELE verdeutlicht klar die Widersprüchlichkeit dieser Argumentation. Sowohl äußerlich rezeptives wie auch eigenaktives Lernen laufen innerlich (hirnphysiologisch) selbstorganisiert ab. Eine Voraussetzung auf kognitiver Systemebene wird also zur Norm auf der unterrichtlichen Handlungsebene erhoben – ein klassischer logischer Fehlschluss (STROBEL-EISELE 1999). Zwar kann mit PIAGET Denken als im Prozess der kognitiven Entwicklung nach innen verlagertes Handeln begriffen werden (vgl. Kap. 7.3), die Gleichsetzung von innerem und äußeren Handeln zur Begründung größtmöglicher Selbststeuerung des Lernens kann so jedoch nicht plausibel als Grundprinzip begründet werden. Diese Schlussfolgerung fällt hinter die grundlegende Unterscheidung von FRANZ WEINERT zwischen selbstgesteuertem Lernen als Voraussetzung, Ziel und Methode des Unterrichts zurück (vgl. Kap. 10.3). Da diese Legitimation augenscheinlich nicht auf einer logischen Notwendigkeit beruht, kann man vermuten, dass sie von einer gegenwärtig wieder aktuellen Präferenz für handlungsorientiertes und individualisiertes Lernen im didaktischen Diskurs getragen ist. Dieser Widersprüchlichkeit der Legitimation unterrichtlicher Prinzipien entgeht man, wenn man den Blick von der psychischen zur sozialen Systemebene wendet. Selbständiges und lebenslanges Lernen erscheinen aus dieser Perspektive nicht als der Natur des Menschen angemessene Lernformen, sondern als funktionale Anforderungen an schulisches Lernen in einer sich selbst organisierenden, auf funktionaler Differenzierung beruhenden Gesellschaft. In Kapitel 2 wurde bereits die wissenssoziologische These rekonstruiert, dass Reformpädagogik entgegen ihrem Anspruch und ihrer Selbstbeschreibung als funktionale Reaktion auf veränderte gesellschaftliche Anforderungen und Strukturvorgaben des Lernens aufgefasst werden kann. Erhärtet wird die Annahme der Gültigkeit dieser These dadurch, dass reformpädagogische Prinzipien derzeit häufig mit gesellschaftlichen und ökonomischen Qualifikationsanforderungen legitimiert werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es die Autopoiesis psychischer Systeme oder die Autopoiesis sozialer Systeme ist, die durch selbstorganisiertes Lernen in der Schule unterstützt wird. Trifft es auch im Falle neuerer reformpädagogischer Konzeptionen zu, dass die pädagogischen „Innovatoren“, wie KLAUS PLAKE es ausdrückt, „sich vermutlich der ökonomisch-strukturellen Relevanz ihrer Vorschläge nicht bewusst sind“ (PLAKE 1991, S. 163)? Im Unterschied zur kognitiven Systemreferenz ließe sich mit Bezug auf die soziale Systemreferenz das Plädoyer für Selbstorganisation auf der Handlungsebene des Unterrichts schlüssig begründen (vgl. Kap. 5.4.2). Doch dieser gesellschaftlich-funktionalistische Argumentationszusammenhang entspräche nicht der sozialkritischen Programmatik reformpädagogischen Denkens und 160
ihrer positiv-emanzipatorischen Konnotation eigenkonstruktiver gegenüber instruktionslogischer Lernformen. In den Begründungsstrukturen konstruktivistischer Pädagogiken wird selbstorganisiertes und flexibles Lernen im Unterricht durchaus als aktuell angemessener Lernmodus ausgewiesen. Mit Bezug auf postmoderne Sozialphilosophien wird jedoch die Flexibilität und Dividualität des Individuums nicht neutral als Erfordernis funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung gesehen und kritisch hinterfragt, sondern einseitig als Freiheitsgewinn ausgewiesen (vgl. DRIESCHNER 2004, S. 146). Wie ungeachtet dieser wissenssoziologischen Problematik das reformpädagogische Prinzip der Selbsttätigkeit der Schüler und der Erfahrungsorientierung des Unterrichts durch die epistemologische These der Selbstreferenz des Verstehens legitimiert und (fach)didaktisch konkretisiert wird, ist das Thema der folgenden Überlegungen. Zunächst wird (Kap. 7.2) der systematische Kern konstruktivistischen Denkens in der Didaktik rekonstruiert. Dieser wird im Wandel von der intentionalistischen zur funktionalistschen Sicht auf pädagogisches Sehen, Denken und Handeln gesehen. Mit Blick auf die Genese pädagogischen Denkens wird in diesem Zusammenhang verdeutlicht, dass in pädagogischen Theorien seit langem eine Vorstellung von der Selbstreferenz des Lernens vorhanden ist, ohne dass daraus notwendigerweise und eindimensional auf Selbstorganisation als Handlungsmodus im Unterricht geschlussfolgert wurde. An diese metatheoretische Einordnung anschließend wird gezeigt, wie sich das funktionalistische Wirklichkeitsverständnis konstruktivistischer Didaktik und Pädagogik im systematischen Zusammenhang von (Kap. 7.3) Bildungskritik, (Kap. 7.4) Erziehungskritik und (Kap. 7.5) Instruktionskritik entfaltet.
7.2
Zur Thematisierung des Übergangs von der intentionalistischen Sicht auf pädagogisches Handeln zur Selbstorganisation des Lernens als ‚konstruktivistische Wende’
Die intentionalistische Sicht auf soziale Wirklichkeit ist eng mit dem philosophischwissenschaftlich-politischen ‚Projekt der Moderne’ verbunden. Dieses Projekt beruht auf dem Weltbild der Aufklärung, in dessen Mittelpunkt die Vorstellung eines gesellschaftlichen, kulturellen und sittlichen Fortschritts durch technisch-rationale und objektive wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung steht. Aufklärung zielt auf die Lösung aus Abhängigkeiten von Natur, Religion und Tradition durch Rationalisierungsprozesse. Die Erkenntnis, dass die Gesellschaftsordnung und die Kultur nicht ontologisch vorgegeben, sondern von den Menschen selbst erzeugt sind, führte zur Vorstellung, dass Gesellschaft als Projekt nach Vernunftprinzipien intentionalistisch gestaltet werden kann. In pädagogischen Grundbegriffen wie Erziehen und Unterrichten wird der Gedanke der intentionalen Einflussnahme auf die Entwicklung Heranwachsender übertragen. Die Konvergenz zwischen dem Gedanken der ‚Machbarkeit der Welt durch den Menschen’ und der ‚Machbarkeit des Menschen durch Erziehung’ findet einen offensichtlichen Ausdruck in utopischen Entwürfen pädagogischen Denkens, die zur Verwirklichung besserer sozialer Welten auf Erziehung setzen. Aber auch das Alltagsbewusstsein von Lehrern, Erziehern und Eltern ist landläufig von intentionalistischen Vorstellungen pädagogischen Handelns geprägt. 161
Konstruktivistische Pädagogiken des Lehren und Lernens negieren diese Sicht auf soziale Wirklichkeit und ersetzen sie durch das Theorem der Selbstorganisation (vgl. HUSCHKE-RHEIN 2003). Das Gehirn organisiert sich selbst und entzieht sich direkten pädagogischen Einflussnahmen, ebenso wie die Evolution von Gesellschaftsstruktur und Kultur autopoietische, auf nicht linear steuerbaren Prozessen beruht. Rekurriert wird in diesem Kontext vielfach auf das strukturelle Technologiedefizit, das NIKLAS LUHMANN und KARL E. SCHORR der Pädagogik bescheinigen und das im aktuellen pädagogischen Diskurs „nahezu zum unbezweifelten Dogma“ avancierte (TENORTH 1999, S. 252). Die Kernthese von LUHMANN und SCHORR (1979) lautet: „Da es keine für soziale Systeme ausreichende Kausalgesetzlichkeit, da es mit anderen Worten keine Kausalgesetzlichkeit der Natur gibt, gibt es auch keine objektive Technologie, die man nur erkennen und dann anwenden müsste.“ Konstruktivistische Pädagogikkonzeptionen folgen jedoch LUHMANN und SCHORR in der Regel nicht in ihrer Forderung, fehlende Technologien durch „Technologieersatztechnologien“ im Sinne subjektiver, pragmatischer ‚Notbehelfe’ zu subsituieren. Gemäß eines in der Tradition pädagogischen Denkens populären Deutungsmusters überhöhen sie Technologiedefizite semantisch und moralisch mit einem Technologieverdikt nach der Devise, ‚was nicht sein kann, darf nicht sein’ (weiterführend zu diesem und anderen Aspekten der Erziehungssoziologie LUHMANNs und ihrer erziehungswissenschaftlichen Rezeption vgl. VON SALDERN 2005). An die Stelle des negativ konnotierten Begriffs der Technologie tritt der positiv besetzte Begriff Selbstorganisation. Kognitive wie auch soziale Strukturen werden infolgedessen hinsichtlich ihrer Funktion im Prozess der Selbstorganisation analysiert. Hier stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, die intentionalistische und die funktionalistische, auf Selbstorganisation gerichtete Sicht auf Wirklichkeit in dieser Weise antinomisch voneinander abzugrenzen. Anders ausgedrückt: Ist es zwingend, von der Selbstbezüglichkeit kognitiver und sozialer Systeme unweigerlich auf eine konstruktivistisch-funktionalistische Sicht auf schulisches Lehren und Lernen zu schließen? Ein Blick auf die Genese pädagogischen Denkens und Handelns zeigt, wie alternativ mit Selbstbezüglichkeit umgegangen werden kann. In der Geschichte pädagogischer Theoriebildung wird seit langem formuliert, dass Lernen ein selbstbezüglicher, erfahrungsabhängiger und eigenaktiver Prozess ist, dem die Lehre durch das Anregen zum kritischen Selbstdenken und zur Elaboration neuen Wissens in bestehende Wissensnetze Folge zu leisten hat. Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten können nicht übertragen werden, wie empiristisch oder behavioristisch verkürzte Lernbegriffe suggerieren, sondern müssen von den Lernenden eigenaktiv aufgebaut werden. Diese Erkenntnis ist keine Besonderheit reformpädagogischer Unterrichtstheorie bzw. daran anknüpfender konstruktivistischer bzw. kognitionstheoretischer Lehr-Lernvorstellungen. Bereits in der Pädagogik der Aufklärung wurde klar erkannt, dass die Relation von Lehren und Lernen nicht dem Ursache-Wirkungs-Schema folgt und insofern eine deterministische Sicht pädagogischen Handelns ausgeschlossen werden kann. Bei JOHANN GOTTFRIED HERDER findet man hierzu folgende didaktische Anmerkungen: „Was tun wir, wenn wir gehen, sprechen, zeichnen, tanzen lernen? Nicht wahr? Wir üben und vollführen ein Werk, wir machen nach, bis wirs können, bis es gelingt, mit unsern Kräften, mit unsern Gliedern. So bei sichtbar in die Augen fallenden Künsten, bei unsichtbaren und bei der unsichtbarsten von allen, dem Denken findet das Lernen auf keine andre Weise statt. Seine Ge-
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danken kann mir der Lehrer nicht eingeben, eintrichtern, meine Gedanken kann, will und muss er durch Worte wecken, also dass sie meine, nicht seine Gedanken sind. [...] Der beste Prüfstein also, ob jemand etwas gefasst hat, ist, dass er es nachahmen, dass er es selbst vortragen kann, nach seiner eigenen Art, mit seinen eigenen Worten. [...] In eigenen Worten muss man Katechisieren [unterrichten]; eigene Worte muss man dem Katechisierten [Schüler] herauslocken, seine eigensten Worte, diese; diese allein bezeichnen seine eigenen Gedanken. Ihnen muss man folgen, an sie seine eigenen Gedanken knüpfen; so lernt man lehrend, so lehrt man lernend.“ (HERDER 1800; zit. nach HERRMANN 2004, S. 471)
An diesem Zitat lassen sich inhaltliche Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen mit dem Lehr-Lernverständnis konstruktivistischer Didaktiken feststellen. Konvergenzen bestehen in der Akzentuierung der kognitiv-selbstbezüglichen Vorstellungswelt. Mit den kursiv gedruckten Possessivpronomina betont HERDER die unhintergehbare Differenz zwischen den Gedanken und Worten des Lehrers und denen der Schüler. Wie unsere „Kräfte“ und „Glieder“ sind auch „Gedanken“ und „Worte“ unser ureigenster und für andere unverfügbarer Besitz. Dieser Sachverhalt wird in neuerer Terminologie als ‚informationelle Geschlossenheit’ psychischer Systeme’ beschrieben. Folgerichtig können für HERDER die Gedanken des Lehrers nicht über das Medium der Sprache den Schülern im Sinne des kommunikationstheoretischen Sender-Empfänger-Modells übermittelt werden. Unterricht und Erziehung trägt die Struktur der „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ (BENNER 1991, S. 63). Kenntnisse eignet sich der Lerner „nach seiner eigenen Art“ an und gibt sie „in eigenen Worten“ wieder. Im Unterschied zu bloßem Auswendiglernen zeigt sich in diesem Aneignungsmodus ein verstehendes Einarbeiten in Fächer und Themen. Das bedeutet, Lerner verstehen nicht durch das möglichst genaue Kopieren fremder Gedanken, sondern durch das Fassen „eigenste(r) Gedanken“ und das Formulieren „eigenste(r) Worte“. Diese Auffassung spiegelt sich im modernen Konstruktivismus in der These der Strukturdeterminiertheit des Gehirns und seiner operationalen Geschlossenheit in Erkenntnis-, Denk- und Verstehensprozessen wider. Das kognitive System organisiert und generiert seine Wirklichkeitskonstruktion nach eigenen Regeln. Insoweit stimmen die Einsichten HERDERs mit den Ergebnissen moderner Neurophysiologie und Gehirnforschung, auf die sich konstruktivistische Didaktiken beziehen, inhaltlich prinzipiell überein, wobei einschränkend anzumerken ist, dass HERDER freilich nicht von geschlossenen, strukturdeterminierten Gehirnen spricht, sondern von Personen, denen er die Befähigung bzw. die auszubildende Anlage zu eigenständigem und rationalen Denken zuspricht. Hierin besteht nicht nur ein terminologischer Unterschied, sondern der grundsätzliche Unterschied einer naturalistischen und einer auklärerischen subjekt- und moralphilosophischen Perspektive auf den Menschen. So finden sich bei HERDER freilich auch keine Hinweise auf eine funktionalistisch-pragmatische Interpretation eigenaktiver Aneignungsprozesse, die im Sinne des modernen Konstruktivismus die Überlebensdienlichkeit und Passung kognitiver Wirklichkeiten hervorheben. Gleiches gilt für die Instruktionskritik konstruktivistischer Didaktiken und das didaktische Plädoyer für größtmögliche Selbstregulierung schulischer Lernprozesse auf der Handlungsebene. HERDER hat klar erkannt, dass sich Instruktion nicht auf das falsche Bild des Wissenstrichters reduzieren lässt. Innerlich verläuft Lernen selbstbezüglich, auf sozialer Ebene sind es aber die gezielten Worte des Lehrers, die das Lernen des Schülers anregen und motivieren. Insofern unterscheidet der Bildungsphilosoph der Aufklärung klar zwischen Eigentätigkeit auf kognitiver und auf methodischer Ebene des Unterrichts, eine Unterscheidung, hinter die konstruktivis163
tische Pädagogik in ihren Selbstorganisationspostulaten zurückfällt. Die didaktische Herausforderung sieht er im Verstehen der „eigenen Worte“ der Schüler. Ihnen muss man folgen, um Lehre und Lernen aufeinander zu beziehen und wechselseitiges Anschlusslernen zu ermöglichen. An HERDER wird deutlich, dass pädagogisches Handeln bei Klassikern der Pädagogik nicht naiv-intentionalistisch und gleichsam deterministisch als Lehr-Lern-Kurzschluss gedacht wird, sondern dass vielmehr das Ringen um das effektive Ineinandergreifen von Instruktion und unhintergehbar eigenständigem Lernen im Zentrum der Reflexionen steht. Dass die Kritik konstruktivistischer Perspektiven am „linear-kausalen Denkens“ in der Didaktik (vgl. KÖSEL 1995) zumindest im Bereich akademischer Reflexionen überspitzt ist, zeigt sich auch daran, dass im erziehungswissenschaftlichen Diskurs schon frühzeitig ein Bewusstsein für die ungewollten Nebenwirkungen pädagogischen Handelns entstand. FRIEDRICH NIETZSCHE und SIGMUND FREUD zeigten bereits eindrücklich, dass sich Handlungen nicht hinreichend aus den ihren scheinbar zugrunde liegenden rationalen und bewussten Motiven erklären lassen. Reflektiert wird hier das auch in konstruktivistischen Systemtheorien dargestellte Problem, dass psychische Systeme füreinander und für sich selbst intransparent sind. Mit FREUD ausgedrückt: ‚Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus’. Es ist nicht Subjekt seines Handelns, sondern es konstruiert Selbstbeschreibungen und Gründe für eigenes Verhalten (vgl. FREUD 2002, S. 41ff.). Dieser Gedanke wird auch in aktuellen Theorien pädagogischen Handelns in Form der begrifflichen Unterscheidung von ‚Handeln’ und ‚Verhalten’ aufgegriffen. Wie WOLFGANG BREZINKA feststellt, ist der Übergang zwischen Handeln und Verhalten in empirischer Hinsicht fließend: „Das reale Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewusstheit oder Unbewusstheit seines gemeinten Sinns“ (BREZINKA 1975, S. 71). Während sich bei HERDER bereits das Wissen um die informationelle Geschlossenheit des Gehirns findet, so wird hier klar der Gedanke der Intransparenz psychischer Systeme formuliert. Aus diesen Gründen konnte eine linear-kausale Konzeptualisierung pädagogischen Handelns, nach der Pädagogen ihre Intentionen in ergebnissichernde, methodische kontrollierte Handlungen umsetzen, in anspruchsvollen pädagogischen Theorien nicht entwickelt werden. Unkritische Versuche einer Technologisierung pädagogischen Handelns in der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie durch die Anwendung des HEMPEL-OPPENHEIM-Schemas wurden zudem von der Kritischen Erziehungswissenschaft als Manipulationsversuche von Menschen scharf zurückgewiesen. In der Geschichte pädagogischer Theoriebildung wird, so lassen sich die bisherigen Ausführungen zusammenfassen, klar gesehen, dass instruktionslogische Annahmen pädagogischen Handelns nicht linear-kausalistisch konzeptualisiert werden können. Sie unterliegen, wie es EDUARD SPRANGER (1962) in seinem bekannten Diktum ausdrückt, dem „Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen“, das pädagogisches Handeln als „Versuchshandeln“ klassifiziert. Anders als aus der Sicht des Selbstorganisationstheorems wird aus der erkannten Problematik jedoch kein Verzicht auf instruktive Handlungsmethoden geschlussfolgert, sondern zu einer kritische Reflexion eigener pädagogischer Handlungsintentionen und -Methoden wie auch zu einem problembewussten Umgang mit ungewollt auftretenden bzw. antizipierend in Betracht gezogenen Nebenwirkungen des eigenen Handelns angeregt.
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Angesichts dieser Selbstbezüglichkeit und Erfahrungsabhängigkeit des Lernens und der Nicht-Instrumentalisierbarkeit des pädagogischen Handelns entwickelten sich in der Geschichte der Pädagogik Positionen, welche pädagogische Interaktionen als ‚Begegnung’ und ‚Bildungsgemeinschaft’ konzipierten. An die Seite der Instruktionslogik wird die personale Dimension pädagogischen Handelns gestellt, wie REINHARD UHLE erläutert: „Für Selbstsozialisation im Sinne von Selbstbildung wurde in der Tradition pädagogischen Denkens vor allem auf Bindung gesetzt, um so etwas wie eine Bildungsprojektgemeinschaft oder so etwas zumindest wie ein Arbeitsbündnis zwischen Erzieher und Zögling herzustellen. Dabei wird die helfende Kraft zur Bindung unterschiedlich wahrgenommen: Bei Platon ist es die Macht und Power des Eros, bei Pestalozzi die Agape, bei anderen ist es die Einfluss-Macht von Gemeinschaftsformationen: vom paternalistischen Gewaltverhältnis oder der Mutter-KindBeziehung über das Aufeinanderangewiesensein in der Dorfgemeinschaft bis hin zur Religions-, Kultur- und Verständigungsgemeinschaft. Gemeinsam ist diesem Erziehungsverständnis, über das Eingehen tiefer Bindungen, die Eigensozialisation sozusagen dadurch auszuhebeln, dass – wie es Anna Freud einmal schön ausdrückte – der ‚Verbündete’ im Du, im anderen Ich gesucht wird. Psychoanalytisch heißt dies, über das Über-Ich den Anderen als Kooperationspartner für dessen Selbstentwicklung zu gewinnen.“ (UHLE 2006, S. 4)
Insbesondere in der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik kommt dem Verständnis von pädagogischen Interaktionen als Begegnung und Bildungsgemeinschaft große Bedeutung zu. An die Seite erzieherischer Einwirkung wird hier die personale Dimension pädagogischen Handelns gestellt. Beziehungsmerkmale wie Liebe, Vertrauen und Zuwendung zum Kind werden mit dem Gedanken der Bildung als Persönlichkeitsentwicklung verbunden. So ist für HERMANN NOHL (1978) die „Grundlage der Erziehung [...] das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und zu seiner Form komme.“ Dieses Verhältnis von Erzieher zum Kind ist doppelt bestimmt „von der Liebe zu ihm in seiner Wirklichkeit und von der Liebe zu seinem Ziel: dem Ideal des Kindes.“ Gegen deterministische Annahmen pädagogischen Handelns wird auf die Individualität und Autonomie des Schülers und die daraus resultierende Dynamik von Bildungsprozessen verwiesen, die in der Rede vom Eigenrecht des Kindes zum Ausdruck kommt. Die spezifische Position, die den Beitrag konstruktivistischer Pädagogik zur Theorie pädagogischer Beziehungen kennzeichnet, liegt demgegenüber in der Betonung der Selbstreferenzialität der Lehrer und Schüler. Die feste Bindung von Bildungsgemeinschaften löst sich in der losen Koppelung der selbstreferenziellen Systeme ‚Lehre’ und ‚Lernen’. Dieser Fokus auf die Selbstreferenz aller am pädagogischen Prozess Beteiligten wird anders als bei NOHL getragen von einem symmetrischen Beziehungsbegriff, der nach Maßgabe des Selbstorganisationstheorems auf die Explikation von Erziehungszielen verzichtet. Instruktionslogik wird nicht durch den Gedanken einer pädagogischen Gemeinschaft ergänzt, sondern ersetzt durch eine Haltung für Förderung selbstgesteuerten Lernens. Die Beziehung des Pädagogen zum Kind ist gekennzeichnet durch Anregungen zum Selbstlernen autonomer Subjekte (vgl. WERNING 1998, S. 40). Vor diesem Hintergrund ist es für UHLE ebenso verständlich wie unverständlich, dass sich konstruktivistische Lehr-Lerntheorien in der Tradition reformpädagogischen Denkens verorten. Einerseits entsprechen sich konstruktivistisch begründete und traditionelle reformpädagogische Forderungen nach selbsttätigem und handlungsorientierten Lernen in 165
offenen Unterrichtskontexten, andererseits trennt sich der pädagogische Konstruktivismus vom ebenfalls reformpädagogischen Gedanken der Notwendigkeit „tiefer Bindungen für Bildungsbündnisse“, um „Individualisierungsprozessen zu begegnen“ (UHLE 2006, S. 5). Gründe hierfür liegen in der oben beschriebenen erkenntnistheoretischen und kognitiven Radikalisierung von Individualisierungsprozessen durch den modernen Konstruktivismus, die dem „optimistischen Muster moderner Akteurskindheit“ (WINTERHAGER-SCHMID 2002, S. 20) entspricht. Der Aspekt der psychisch-physischen ebenso wie kulturellen Abhängigkeit von Kindern wird hier aus dem Blick verloren bzw. sogar als unmodern wahrgenommen. Auch ungeachtet dieser ‚Welt- und Kinderbilder’ verlieren traditionale Bindungen im Modernisierungsprozess an Bedeutung, was sich in einer Informalisierung pädagogischer Generationenbeziehungen niederschlägt und zu einer Erosion der pädagogischen Einflussmacht führt. Folgt man den Analysen in Kapitel 5.3, erscheinen die derzeit beobachtbaren enttraditionalisierten Ausprägungen des Verhältnisses von Schülern und Lehrern als wenig geeignet, um aus ihnen heraus ‚Bildungsbündnisse’ und ‚Bildungsprojektgemeinschaften’ zu realisieren. Eine angemessene theoretische Erfassung und praktische Ausgestaltung von Generationsbeziehungen unter den Bedingungen von Individualisierung, Pluralisierung und Enttradionalisierung steht noch aus (vgl. Kap. 10). Auch unabhängig vom Bedeutungsverlust pädagogischer Bindungsformen als Begrenzung von Individualisierung, kann konstruktivistischer Pädagogik mit ihrer Grundhaltung zur Förderung selbstorganisierten Lernens ein verkürzter Umgang mit Selbstreferenzialität nachgewiesen werden. Im Unterschied zu dieser Absolutsetzung von Selbstreferenzialität wird in der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik stärker die – auch in der enttraditionalisierten Moderne gültige – gesellschaftlich begründete Ambivalenz von Fremd- und Selbstreferenz in pädagogischen Beziehungen hervorgehoben. Auf der einen Seite wird mit dem Bezug auf den Gedanken der Geschichtlichkeit des Menschen auch hier ein Menschenbild vertreten, das Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und Selbststeuerungsfähigkeit und damit die Einmaligkeit jedes Bildungsgangs betont. Auf der anderen Seite bedingt der Fokus auf Geschichtlichkeit, den Blick über anthropologische Grundlagen hinaus auf den gesamten geschichtlich-kulturellen Kontext zu weiten, in dem Erziehung eine bestimmte Aufgabe erfüllt. Das bedeutet, dass Geisteswissenschaftliche Pädagogik nicht ausschließlich subjektorientiert argumentiert, sondern auch vom gesellschaftlichen Ganzen ausgeht. Entsprechend formuliert WILHELM DILTHEY: „Die Erziehung ist eine Funktion der Gesellschaft“ (DILTHEY 1934, S. 1991; zitiert nach BOLLNOW 1989, S. 56). Mit Blick auf das Ganze der Kultur wird der Gedanke der Autonomie des Kindes mit dem der Autonomie der Pädagogik als Handlungs- und Reflexionssystem verbunden. Pädagogik erlangt Autonomie, indem sie im Sinne einer Anwaltschaft das Eigenrecht des Kindes gegenüber gesellschaftlicher Einflussnahme vertritt. Konträr zur Absolutsetzung der Autonomie des Kindes in konstruktivistischen Pädagogikentwürfen wird aus der Sicht der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik ‚nur’ eine Priorität des Eigenrechts des Kindes gegenüber gesellschaftlichen Aufgaben der Erziehung postuliert. Unhintergehbar bleibt die Grundantinomie zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Zweck von Erziehung: die Ambivalenz zwischen dem Recht des Kindes auf Selbstentfaltung und der Orientierung an gesellschaftlichen Leistungserwartungen an professionelle Pädagogik. Pädagogen stehen insofern in der doppelten Funktion des Anwaltes des Kindes und der Kultur, die NOHL (1978) mit Bezug 166
auf das Eigenrecht des Kindes wie folgt ausgestaltet: „Was immer an Ansprüchen aus der objektiven Kultur und den sozialen Bezügen an das Kind herangetragen wird, es muß sich eine Umformung gefallen lassen, die aus der Frage hervorgeht: Welchen Sinn bekommt diese Forderung im Zusammenhang des Lebens dieses Kindes für den Aufbau und die Steigerung seiner Kräfte, und welche Mittel hat dieses Kind, um sie zu bewältigen?“ In dieser Grundantinomie liegt der Schlüssel zu einer angemessenen Konzeptualisierung eines weiten Technik-Begriffs, der pädagogisches Handeln angemessener kennzeichnet, als es deterministisch-instrumentalistische Sichtweisen vermögen. Dieser Begriff kann, wie HEINZ-E. TENORTH (1999, S. 206ff.) erläutert, direkt aus der Beobachtung der pädagogischen Praxis generiert werden. Unter Technik versteht er die „überlieferte Masse von Regeln und Exempeln, Erfahrungen und Warnungen, Berichten von und Erinnerungen an Gelingen und Scheitern der pädagogischen Praxis, weil sie ‚gegenständlich gewordene Rationalität’ darstellt, also einem Kriterium für Technik genügt, das der Technikphilosoph Kurt Hübner verwendet.“ Wie TENORTH an der pädagogischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt, gelingt es der Praxis, mit Hilfe dieses Regelwerks gesellschaftliche Anforderungen an Erziehung in autonome pädagogische Probleme zu überführen und so zu einer produktiven Ausgestaltung der Grundantinomie des pädagogischen Lebens zu gelangen. Die Struktur dieser Technik besteht demnach in einem Zusammenspiel aus (1) Transformationsregeln, die externe Leistungsanforderungen an das Bildungssystem in spezifische pädagogische Formen überführen und folglich begleitet werden von (2) zeitlichen, sachlichen und sozialen Ordnungsformen und (3) prozess- und produktorientierten Gütemaßstäben für die pädagogische Praxis. Die in diesen Formen, Regeln und Strukturen geronnene Rationalität pädagogischer Technik entspricht der Logik pädagogischer Praxis. Das der Rede vom Technologiedefizit inhärente linear-kausale Technologieverständnis ist TENORTH zufolge (ebd., S. 263) der pädagogischen Praxis „nicht nur äußerlich, sondern auch irrelevant“ und kann daher als ungeeignete Abgrenzungsfolie für konstruktivistische Selbstorganisationspostulate in der Theorie des Lehren und Lernen gelten.
7.3
Zur Konzeptualisierung von Bildung als Prozess der Selbsttransformation
Bisher wurden aktuelle neurobiologische, evolutionstheoretische und systemtheoretische Varianten des Konstruktivismus thematisiert. Entwicklung wird in diesem Theorieverbund als viable, d.h. funktional-pragmatische Selbsthervorbringung von Systemen in Anpassung an die Bedingungen ihrer Umwelt verstanden. In den Diskurs des modernen Konstruktivismus wird mit der Rezeption und radikal-konstruktivistischen Deutung der Genetischen Epistemologie JEAN PIAGETs ein weiterer theoretischer Baustein integriert, der zu einem vertieften Verständnis der ontogenetischen Entwicklung kognitiver Konstruktionsprozesse beitragen soll. Mit Bezug auf diese radikal-konstruktivistische Konzeptualisierung der kognitiven Entwicklung des Erkennens wird der pädagogische Begriff der Bildung, der in der Tradition pädagogischen Denkens einen Prozess der ‚Selbststeigerung’ beschreibt, als Prozess der ‚Selbsttransformation’ reformuliert. Diese theoretische Neufassung des Bil167
dungsbegriffs auf Basis des radikal-konstruktivistischen Verständnisses der Ontogenese des Erkennens ist das Thema der folgenden Ausführungen. Rekonstruiert sei in einem ersten Schritt, wie das Verhältnis von Genetischer Epistemologie und radikal-konstruktivistischen Theoremen modelliert wird, um dann den Zusammenhang zwischen dem epistemologischen Konstruktionsbegriff und dem Verständnis von Bildung als Selbsttransformation nachzuzeichnen. Für VON GLASERSFELD ist PIAGET mit seinem Ansatz der „Genetischen Epistemologie“ der erste Erkenntnistheoretiker, der die Entwicklung menschlichen Denkens als pragmatische Verflechtung von Handeln und Erkennen im Kontext der phylogenetischen und ontogenetischen Anpassung von Organismen an ihre Umwelt begreift (GLASERSFELD 1994, S. 18). Als Biologe ist es für PIAGET klar, dass Intelligenz „ein besonderer Fall biologischer Anpassung“ ist (PIAGET 1936 zit. nach MIETZEL 1998, S. 71). Aus diesem Grunde macht er es sich in seiner Genetischen Epistemologie zur Aufgabe, die biologische, psychologische und kulturelle Genese menschlichen Erkennens und Wissens in ihren strukturellen Gesetzmäßigkeiten als Anpassungsprozess an äußere Bedingungen transparent zu machen. Diese bei PIAGET grundgelegte pragmatische und biologisch-evolutionstheoretische Fundierung der Erkenntnistheorie ist, wie weiter oben gezeigt wurde, zur wissenschaftstheoretischen Grundorientierung aller aktuellen neurobiologischen und systemtheoretischen Konstruktivismus-Ansätze avanciert. Wie PIAGET in seiner Autobiographie erzählt, führte ihn die Veränderung seiner erkenntnistheoretischen Fragestellung von „Was ist Erkenntnis und wie ist Erkenntnis möglich?“ zur evolutionstheoretischen Perspektive „Woraus entspringt Erkenntnis und wie entwickelt sie sich?“ zur Beschäftigung mit der Kinder- und Jugendpsychologie (PIAGET 1976, S. 20). Als Biologe hätte er es zwar vorgezogen, die Verbesserung der Anpassungsfähigkeit des Menschen im Verlauf der Stammesgeschichte zu erforschen, da diese jedoch für wissenschaftlich-empirische Untersuchungen schwer zugänglich ist, wandte er sich der Ontogenese des Erkennens zu. Der psychogenetischen Rekapitulationsthese folgend, wonach ontogenetisch in zeitlich geraffter Form die menschliche Phylogenese nachvollzogen wird, sah er im Studium der kognitiven Entwicklung von Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, die Strukturgenese menschlichen Erkennens von primären reflexbedingten Lebensäußerungen bis hin zu komplexen formalen Denkstrukturen wissenschaftlich zu beobachten und so zu einer biologischen Erklärung des Wissens zu gelangen. PIAGET kommt nicht nur die Rolle eines bedeutenden Wegbereiters des modernen Konstruktivismus zu. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Theoriekonzepte seiner Genetischen Epistemologie nach wie vor im Diskurs von zentraler Bedeutung sind. Während der neurobiologische Konstruktivismus vor allem durch wahrnehmungstheoretische Experimente zur Eigenkonstruktivität von Wirklichkeit bekannt geworden ist, gilt PIAGET als wichtiger konstruktivistischer Theoretiker der Ontogenese des Erkennens, Lernens und Verstehens. Aus diesem Grunde lassen sich bei Autoren wie CIOMPI und VON GLASERSFELD Versuche einer Rekonstruktion der Theorie PIAGETs vor dem Hintergrund aktueller neurobiologischer und systemtheoretischer Konstruktivismus-Varianten beobachten. Die Legitimität einer solchen Interpretation ist jedoch überaus umstritten. Fraglich ist vor allem, ob das PIAGETsche Verständnis von funktionaler Evolution angemessen mit dem Leitgedanken der Viabilität erfasst werden kann, wie er in aktuellen Konzepten konstruktivistischen Denkens vertreten wird. Zudem muss geprüft werden, ob nicht eher von einem Zu168
sammenspiel zwischen konstruktivistischen und realistischen Komponenten in der Genetischen Epistemologie auszugehen ist. Kontroversen um derartige Fragen wurden in wissenschaftlichen Fachzeitschriften (vgl. EuS 1998) und eigenständigen Veröffentlichungen geführt wie dem von GEBHARD RUSCH und SIEGFRIED J. SCHMIDT (1994) herausgegebenen Sammelband „Piaget und der Radikale Konstruktivismus“. Im Folgenden soll diese Kontroverse erneut unter der Frage und Problematisierung aufgegriffen werden, ob die kognitive Entwicklung des Verstehens nach PIAGET angemessener als gerichteter Steigerungszusammenhang im klassisch bildungsphilosophischen Sinn oder konstruktivistischfunktionalistisch als ungerichtete Anpassung an Umweltbedingungen interpretiert werden kann. Überlegungen zu dieser Frage sind insofern notwendig, als sich an ihr zwei unterschiedliche, sich gegenseitig nicht zur Kenntnis nehmende bildungswissenschaftliche Rezeptionsstränge der Genetischen Epistemologie scheiden. Neben der radikal-konstruktivistischen Interpretation steht die vor allem mit den Namen JÜRGEN HABERMAS und GERTRUD NUNNER-WINKLER verbundene bildungsphilosophische Lesart, welche das PIAGETsche Verständnis von kognitiver Entwicklung als Abfolge strukturell verschiedener Phasen betont und mit identitätstheoretischen Sichtweisen einer normativ-teleologischen Höherentwicklung des Ichs in Bildungsprozessen verbindet (vgl. Kap. 4.3.2). Dagegen vertritt die radikal-konstruktivistische Rezeption den Gedanken der ungerichteten autopoietischen Selbsthervorbringung des Ichs, der mit der evolutionstheoretischen Basis der Theorieanlage PIAGETs verknüpft wird. Im Folgenden soll eine Abwägung dieser verschiedenen bildungstheoretischen Lesarten versucht werden. Dies erfordert zunächst eine Verständigung über Grundzüge der genetisch-epistemologischen Entwicklungspsychologie und über Voraussetzungen ihrer radikal-konstruktivistischen Deutung. Wie bereits erwähnt, betont PIAGETs Entwicklungspsychologie die Bedeutung des Handelns beim Aufbau von Wissen. Sie beruht auf dem biologisch-anthropologischen Axiom eines aktiven Organismus, der in Auseinandersetzung mit der Umwelt eigene Vorstellungen von Welt generiert und diese im Zuge des Umgangs mit neuen Umweltanforderungen ausdifferenziert. Im Laufe der Entwicklung werden kognitive Strukturen konstruiert, seien es sensomotorische Handlungsschemata oder Begriffe, die jeder äußeren Handlung oder geistigen Operation zugrunde liegen. Der Erwerb der kognitiven Strukturen basiert auf zwei während des gesamten Verlaufs der kognitiven Entwicklung invariant bleibenden Adaptionsmechanismen, die PIAGET Assimilation und Akkomodation nennt. Zum Zeitpunkt der Geburt sind mit dem Saug- und Greifreflex bereits angeborene Handlungsschemata gegeben, die den Ausgangspunkt für erste Adaptionsprozesse bilden. Anders als der alltägliche Sprachgebrauch suggeriert, bezeichnet der Begriff des Schemas hier nicht eine statische, sondern eine dynamische Struktur mit innewohnender Tendenz zur wiederholten und generalisierenden Aktivierung. So wendet ein Säugling das Saug- und Greifschema ohne äußere Veranlassung auf alle erreichbaren Gegenstände an. PIAGET spricht in diesem Zusammenhang von reproduktiver und generalisierender Assimilation, die für ihn die treibende Kraft der kognitiven Entwicklung darstellt. Durch die generalisierende Assimilation ständig neuer Objekte an seine kognitiven Strukturen erkennt das Kind Unterschiede in der Assimilierbarkeit der Objekte. Mit der Unterscheidung gut greifbar/schlecht greifbar, gut saugbar/schlecht saugbar konstruiert es erste Beobachtungsperspektiven auf Welt. Wendet das Kind eines Tages das Greifschema auf eine Flüssigkeit an, so mag sich infolge man169
gelnden Handlungserfolgs das Schöpfschema aus dem Greifschema ausdifferenzieren. Diese als Akkomodation bezeichnete Anpassung von Handlungsschemata an die vorgefundenen Bedingungen führt zu einer Ausdifferenzierung der Erkenntniskategorien, insofern das Kind nun auf sensomotorischer Ebene greifbare und schöpfbare Stoffe unterscheiden kann. Nach PIAGET besteht der Kerngehalt der kognitiven Adaptionstheorie in der These, „dass Erkenntnis sich aus Interaktionen zwischen dem Subjekt und dem Objekt ergibt – aus Interaktionen, die reichhaltiger sind als alles, was die Objekte von sich aus liefern können“ (PIAGET 2003, S. 74). Nicht nur aufgrund ihrer Generalisier- und Modifizierbarkeit sind Schemata dynamisch, auch aufgrund ihres ‚Strebens’ nach gegenseitiger Koordination. So bildet sich durch Adaptionsvorgänge im Laufe der kognitiven Entwicklung ein zunehmend komplexer werdendes System von Handlungsschemata heraus. PIAGET geht davon aus, dass diese Integration der kognitiven Strukturen nur durch die Annahme einer fortschreitenden ‚Äquilibration’ denkbar ist. Äquilibration bezeichnet das Bestreben eines Organismus, kognitives Gleichgewicht in einem selbstregulierenden Prozess herzustellen und aufrechtzuerhalten. PIAGET begreift die Entwicklung der kognitiven Struktur also als ein Ineinandergreifen von Assimilations- und Akkomodationsprozessen. Der Antrieb dieser zirkularen geistigen Entwicklung wird in dem Bestreben des Organismus gesehen, ein kognitives Gleichgewicht herzustellen, wie es einem flexiblen Pendeln zwischen Strukturerhalt (konservative Dimension der Äquilibration) und Strukturmodifikation (progressive Dimension der Äquilibration) gegeben ist. Der kognitiven Entwicklung ist das Ziel immanent, das Äquilibrationsvermögen auszuweiten, um Umweltirritationen durch die Entwicklung leistungsfähiger, stabiler Strukturen standzuhalten (vgl. PIAGET 2003, S. 105ff.). Mit dem Begriff der Äquilibration thematisiert PIAGET auch die Psychohygiene des Lernens und Erkennens. Das Bedürfnis nach kognitivem Gleichgewicht und Stimmigkeit des Weltbildes macht ein flexibles Pendeln zwischen ‚konservativem’ Strukturerhalt und ‚progressiver’ Konstruktion neuer Perspektiven auf Welt erforderlich. Einseitiger Strukturerhalt sowie permanente Neustrukturierung können auf pathogene Züge der kognitiven Wirklichkeit hinweisen (Egozentrik – vs. Ich-Diffusität). Für den Radikalen Konstruktivismus sind die von PIAGET beschriebenen Adaptionsprozesse Operationen autopoietischer Systeme. Mit den Begriffen Assimilation, Akkomodation und Äquilibration sucht VON GLASERSFELD, aktuellen Konzepten des modernen Konstruktivismus ein entwicklungslogisches Fundament zu verleihen. Er geht davon aus, dass PIAGET „auf annehmbare Weise erklärt, wie der kognitiv Handelnde das konstruiert, was er schließlich als ‚Wirklichkeit’ betrachtet“ (1992b, S. 229). Denkt man beispielsweise an das neurobiologische Theorem der Strukturdeterminiertheit des Gehirns, so wird mit PIAGET gezeigt, dass sich kognitive Strukturen durch Assimilations- und Akkomodationsprozesse herausbilden (vgl. FLACKE 1994, S. 91). Analog dazu betrachtet CIOMPI die von PIAGET beschriebenen Strukturen als „’Systeme’ im modernen systemtheoretischen Sinn“ mit ihren typischen Eigenschaften wie „homöostatische Regulation, positive und negative Feedbackprozesse, Kippphänomene [...]“ (CIOMPI 1988, S. 176). Es ist vor allem der Aspekt der Homöostase, der für CIOMPI die Verbindung zwischen dem PIAGETschen Begriff der Äquilibration und dem konstruktivistischen Autopoiesis-Konzept darstellt. Die Entwicklung der kognitiven Strukturen und – wie der Erkenntnistheoretiker und Psychiater 170
aus der Schweiz in vielen seiner Schriften herausarbeitet – ihrer zugeordneten affektiven Komponenten dienen der Autopoiesis im Sinne der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der grundlegenden Organisation und Funktionsweise des Organismus. Der Kern der Deutung der PIAGETschen Modellierung der kognitiven Entwicklung als Evolution autopoietischer, informational geschlossener Systeme besteht in der These, dass das erkennende Subjekt zwar mit realen Objekten interagiert, die ontologische Qualität dieser Objekte jedoch in der kognitiven Wirklichkeit belanglos ist. Einflüsse der Objekte werden im Anschluss an MATURANA als bedeutungsneutrale Perturbationen betrachtet, denen erst auf Basis kognitiver Strukturen Bedeutung beigemessen wird (vgl. GLASERSFELD 1994). Nicht nur an der Diskursliteratur, auch an der Präsenz der PIAGETschen Adaptionsmechanismen in aktuellen konstruktivistischen Lehrbüchern ist erkennbar, dass der konstruktivistische Diskurs bei der Überführung der These der Strukturdeterminiertheit des Gehirns in die ontogenetische Perspektive der Wirklichkeitskonstruktion augenscheinlich nicht ohne den Rückgriff auf Theorieannahmen der Genetischen Epistemologie auskommt (vgl. VON AMELN 2004; KLEIN/OETTINGER 2000). Nachdem nun Argumente für die Integration des Entwicklungsverständnisses der Genetischen Epistemologie in neuere Sichtweisen des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus beschrieben wurden, wenden wir uns im Folgenden der Problematisierung der postulierten Kompatibilität der Theorieansätze zu. Die didaktisch relevante Kernthese der radikal-konstruktivistischen Interpretation besteht darin, dass Kinder ihre kognitive Wirklichkeit nicht objektiv, aber zweckmäßig (viabel) nach ihren Handlungsabsichten strukturieren. Dies lässt die pädagogische Schlussfolgerung zu, in der Planung und Durchführung von Unterricht der ‚Psycho-Logik’ des aktiv handelnden Lerners gegenüber der Sachlogik der Lernbereiche Priorität einzuräumen. Zwar ist für PIAGET Erkennen ohne Zweifel ein Vorgang der Selbstregulation kognitiver Strukturen (Äquilibration) und nicht ein direkter Zugriff auf unmittelbare Realität. Kritiker werfen der radikalen Lesart jedoch zu Recht eine „Halbierung des Piagetschen Konstruktivismus“ vor, die konstruktivistische Anteile der Erkenntnis verabsolutiert und realistische negiert. So vertritt WERNER MEINEFELD die Auffassung, dass VON GLASERSFELD das Zusammenspiel von konstruktivistischen und realistischen Elementen im Erkenntnisprozess ignoriert zugunsten der einseitigen Betonung der konstruktivistischen Komponente (MEINEFELD 1998, S. 551). Die Tatsache, dass PIAGET im Handeln den Ausgangspunkt der kognitiven Entwicklung sieht, hat zur Folge, dass das Objekt, welches den Spielraum der Handlungsmöglichkeiten determiniert, auf die Ausbildung der kognitiven Konzepte einwirkt. Dadurch, dass die kognitiven Strukturen erst in der Auseinandersetzung mit Welt entwickelt werden, enthalten sie auch Informationen über Welt. Nach MEINEFELD folgen kognitive Konstruktionen für PIAGET daher nicht nur der Logik des erkennenden Systems, sie enthalten auch Informationen über das Erkenntnisobjekt. Auf diese Weise kommt PIAGET zu einer Integration von Konstruktivismus und Realismus, die GUNTER RUNKEL „konstruktivistischer Realismus“ nennt. Menschliche Konstrukte der Wirklichkeit sind demnach „realistische Konstrukte“ (vgl. RUNKEL 2002). Nur durch die Anerkennung des Zusammenspiels von konstruktivistischen und realistischen Elementen kann ein didaktisch gehaltvoller, sowohl die inhalts- wie auch die prozessual-aneignungsbezogene Dimension berücksichtigender Konstruktionsbegriff formuliert werden. Für eine darauf aufbauende Theorie des Lehrens und Lernens stellt sich nicht 171
der vermeintliche Widerspruch zwischen kognitiver Handlungslogik und Sachlogik, insofern kognitive Handlungsschemata nicht nur subjektiv-viable Handlungsabsichten repräsentieren, sondern auch Informationen über reale Objekte enthalten. Schulische Bildung kann im Anschluss hieran als Überführung des auf Viabilität ausgerichteten Handlungsinteresses hin zum objektiven, sachlogischen Verständnis der Dinge verstanden werden. Die Graduierung dieses Übergangs kann dann als Unterscheidungskriterium für elementare, mittlere und höhere Bildungsgänge verwendet werden. Der Aspekt des Richtungssinns menschlicher Entwicklung wird in der radikal konstruktivistischen Interpretation marginalisiert. Sie bezieht sich zentral auf den Aspekt des Gleichgewichts, der Äquilibration von Entwicklungsverläufen, und weniger auf deren Stufenlogik. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Deutung muss daher fragen, ob Äquilibration, wie VON GLASERSFELD und CIOMPI postulieren, ein Vorgang der ‚Selbstorganisation kognitiver Strukturen’ ist, der ohne Richtungssinn rein funktionalistisch als psychisch-viable Anpassung an äußere Bedingungen verstanden werden kann. Eine daran anschließende Bildungstheorie kann nicht am Konzept der ‚Persönlichkeitsbildung’ festhalten, das eine Veränderung zu einem Höheren und Besseren unterstellt. DIETER LENZEN (1997, S. 963) schlägt daher vor, den Bildungsbegriff durch den richtungslosen Ausdruck „Selbsttransformation“ zu ersetzen. Die gegenteilige Interpretation geht indes davon aus, dass das kognitive Konstruktionsverständnis PIAGETs durchaus mit dem Gedanken eines ‚gerichteten Bildungsgangs’ vereinbar ist, wie er klassisch in PLATONs Höhlengleichnis beschrieben wird. Bei PLATON wird Bildung metaphorisch als Herausführung des Ichs aus den Schattenbildern subjektiver Eindrücke und als Zuwendung zur Objektivität der Dinge beschrieben. Ein solcher Bildungsgang bedeutet Arbeit am eigenen Selbst. Diese Arbeit ist aber zugleich eng mit dem Gedanken der Emanzipation verknüpft. Es liegt also die Vorstellung eines mündigen und autonomen Subjekts vor, dessen Herausbildung als Ziel des Bildungsgangs gilt. Entwicklung wird hier teleologisch als Wandel zum Besseren und Höheren gedacht. Aus der Perspektive radikal-konstruktivistischer Theorien kann kognitive Entwicklung nicht als gerichtete Veränderung in Form einer asymptotischen Annäherungen an Objektivität gedacht werden, sondern ‚nur’ als evolutionärer Prozess der funktionalen Selbstorganisation. Insofern muss VON GLASERSFELD PIAGETs Theorie an die neurobiologische und evolutionstheoretische These der Viabilität des Erkennens anknüpfen. Die mit den Begriffen Assimilation, Akkomodation und Äquilibration gekennzeichnete kognitive Aktivität bei der Ausdifferenzierung der kognitiven Strukturen dient seines Erachtens nicht der Annäherung an die objektive Welt. Die Anpassung der kognitiven Strukturen bemisst sich nicht nach dem Grad der Übereinstimmung zwischen Konstrukt und Realität, sondern ausschließlich nach ihrer Viabilität in der Lebenswelt. Viabilität ist in dem Fall nicht mehr gegeben, wenn ein kognitives Konstrukt mit einem Umwelthindernis kollidiert. Daher kann „das denkende Subjekt nicht mehr herausfinden, als dass bestimmte Strukturen und Schemas mit Hindernissen zusammenstoßen, während andere einen viablen Weg darstellen“ (VON GLASERSFELD 1997, S. 129). Wie CIOMPI hervorhebt, ist der systemtheoretische Hintergrund dieser Überlegungen das Konzept der Selbstorganisation psychischer Strukturen (CIOMPI 1988, S. 179). ‚Selbstorganisation’ besitzt als systemisch-evolutionstheoretischer Begriff keinen Richtungssinn, d.h. in ihm sind keine normativen Vorstellungen über wünschenswerte Ziele der 172
Subjektentwicklung enthalten. Die Konstruktion viabler Umwelt-Repräsentationen dient letztlich der Aufrechterhaltung der grundlegenden Organisation und Funktionsweise des Gesamtorganismus durch strukturelle Koppelungen mit der Umwelt. Wie CIOMPI weiter ausführt, stellen „sämtliche von der genetischen Epistemologie aufgezeigten kognitiven Strukturierungsvorgänge offensichtlich ein Ergebnis von strukturellen Koppelungsvorgängen dar: Sie entstehen, wie berichtet, immer in der ‚Aktion’, das heißt im handelnd erlebenden Austausch mit der Umwelt, und sind nichts anderes als äquilibratorische Anpassungen des psychischen Apparates an sie“ (ebd., S. 185). Im Anschluss an derartige Überlegungen schreibt der amerikanische Kognitionspsychologe VON GLASERSFELD den Arbeiten PIAGETs ein instrumentalistisch-pragmatisches Wissensverständnis und ein funktionalistisches Wirklichkeitsverständnis zu, wonach kognitive Strukturen, Handlungsschemata und Begriffsbildungen ausschließlich durch das Kriterium des Erfolges zu bewerten sind. Der Begriff der Viabilität als Passung von Konstrukt und Erfahrung stellt Wissen in den Dienst des Subjekts und spricht es von Wahrheitsansprüchen frei. Das Kriterium der Passung eröffnet den Raum für eine Vielzahl alternativer Konstruktionen, die Wissen und Entwicklungsverläufe kontingent werden lassen (vgl. VON GLASERSFELD 1997, S. 130). Zweifelsohne versteht PIAGET Äquilibration als funktionale Anpassung an Umweltbedingungen. Die Interpretation dieses Prozesses als funktionale Selbstorganisation ist jedoch nicht ohne die Marginalisierung der Annahme biologischer, qualitativ unterschiedlicher Entwicklungsstadien möglich, die als zweites zentrales Bestimmungsstück der Genetischen Epistemologie den Rahmen darstellen, in dem sich die Assimilations- und Akkomodationsvorgänge realisieren. Die Konzeptualisierung von Entwicklung als invariante Abfolge sensomotorischer, prä-operationaler, konkret-operationaler und formal-operationaler Stadien reduziert VON GLASERSFELD auf die Funktion „einer mehr oder weniger gelungenen Organisation der Erfahrungen eines Beobachters auf die Entwicklung von Kindern“, die keinen Anspruch auf Abbildung der Realität erhebt (VON GLASERSFELD 1997, S. 127). Zwar hat PIAGET die Bedeutung der Stufenannahme im Laufe der Theorieentwicklung auf bereichsspezifische Entwicklungen beschränkt, ihre Einschränkung legitimiert jedoch nicht die radikal-konstruktivistische Marginalisierung oder gar die Herauslösung dieses Aspekts aus dem Theoriezusammenhang (wie etwa bei AMELN 2003, S. 33). Es handelt sich bei der Stufentheorie nicht nur um die Kategorisierung von Erfahrungen eines Beobachters, sondern durchaus um eine als objektiv verstandene universale Strukturlogik der Entwicklung, die auch im Spätwerk PIAGETs den konzeptionellen Rahmen der Theorie und der Interpretation empirischer Daten bildet (vgl. BUGGLE 2001). Die Annahme einer invarianten Stufenlogik können aktuelle Konzepte des modernen Konstruktivismus nicht übernehmen, weil sie nicht so sehr die Universalität, sondern die Differenz von Wissensformen und Aneignungsprozessen im Blick haben. Auch die besondere Betonung der Dekontextualisierung und Abstraktion des Denkens aus konkreten Situationen und Handlungszusammenhängen ebenso wie der Gedanke einer zunehmenden Dezentrierung aus unmittelbaren affektiven Befindlichkeiten – durch kognitive Abstraktionsfähigkeit auf höheren Entwicklungsstufen – widersprechen den Grundannahmen aktueller Konstruktivismus-Ansätze, die gerade den konkreten Handlungs-, Situations- und Emotionsbezug von Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion hervorheben. Es stellt sich daher die Frage, ob PIAGETs Unterscheidung der Adaptionsprozesse in biologische, senso-motorische und sprachlich-begriffliche Entwick173
lungsstufen nicht eher als Überführung ‚konstruktivistischen’ Handlungslernens in ‚realistisches’ Bildungslernen zu deuten wäre. Entsprechend formuliert PIAGET in der einzigen selbstgeschriebenen Gesamtdarstellung seiner Theorie, dass der Entwicklungsgedanke der Genetischen Epistemologie auf die Frage gerichtet ist, wie „das Subjekt zunehmend fähig wird, Objekte adäquat zu erkennen, das heißt, wie es zur Objektivität gelangt“ (PIAGET 2003, S. 45). Der Erwerb dieses Erkenntnisvermögens beruht stufenlogisch „auf einer Reihe aufeinander aufbauender Konstruktionen, die eine immer größere Annäherung an die Objektivität darstellen“ (ebd.). Der Richtungssinn von Entwicklung ist in diesem Zitat klar angegeben. Es geht nicht um eine funktional-viable, sondern um eine zunehmend höherwertige Anpassung an die Realität durch die Annäherung an die Objektivität. Erkennbar wird diese Entwicklungsrichtung in der zunehmenden Dezentrierung des Denkens. In Weiterführung der Gedanken von MEINEFELD kann hier von einem Konstruktions-Verständnis ausgegangen werden, in dem der realistische Anteil des Erkenntnisprozesses im Laufe der Entwicklung zunehmend an Gewicht gewinnt. Erkennbar wird dies am Übergang von der kindlich-subjektiven Weltsicht, in der eine assimilatorische Weltaneignung überwiegt, zu einer zunehmenden Akkomodation bei gelingender Bildung, bei der das eigene Denken durch die Strukturlogik der Aneignungsgegenstände, Lerninhalte und durch das Erfassen der Perspektive des Anderen strukturiert wird. Der Antagonismus zwischen „Konstruktivität“ und „Objektivität“ der Anschauung wäre somit aus ontogenetischer Perspektive in seiner viel beschworenen Radikalität nicht haltbar. Im Zentrum der Theorie steht also nicht ausschließlich der konstruktivistische Gedanke des Gleichgewichts, sondern auch der Aspekt der Gerichtetheit von Entwicklungsverläufen, der PIAGET in die Tradition modernen Bildungsdenkens stellt. Wie UHLE zeigt, hat Bildungsphilosophie, die sich dem Projekt der Moderne verpflichtet, einerseits zur Grundlage, „Entwicklung im Sinne PIAGETs als eine über Stufen sich steigernde Wechselwirkung zwischen Ich und Welt aufzufassen, und anderseits zwar kein genaues ‚Perfektionsziel’ des Individuums zu benennen, wohl aber Forderungen für Aneignungsprozesse von Kultur durch das Ich angeben zu können, die eine erhöhte Chance für Emporbildungsprozesse bieten können“ (UHLE 2002b, S. 88). Diese „sich steigernde Wechselwirkung“ sehen Autoren wie HABERMAS und NUNNER-WINKLER im strukturgenetischen Aspekt der Entwicklung begründet: Die Entwicklung psychischer Strukturen in Auseinandersetzung mit der Umwelt folgt nach ihrem Verständnis einer Richtung zur Autonomie (vgl. Kap. 4.3.2). Der strukturgenetische Entwicklungsgedanke wird hier noch ausgeweitet. Er gilt nicht nur für die kognitive Entwicklung, sondern in umfassender Weise für die gesamte Persönlichkeit. Verwiesen wird hier auf LAURENCE KOHLBERG, der die Herausbildung moralischer Urteilsfähigkeit parallel zu PIAGETs Stufen der kognitiven Entwicklung entwirft. Autonomie wird als Funktion zunehmender kognitiver Dezentrierung gedacht. Ein autonomes Selbst- und Weltverhältnis kommt somit demjenigen zu, der in rationale Distanz zu spontan auftretenden Wünschen oder sozialen Verhaltenserwartungen treten kann und fähig wird, in so genannten „second order desires“ (vgl. Kap. 4.3.2) oder „Volitionen zweiter Stufe“ (HARRY FRANKFURT) selbst über die Gründe zu bestimmen, die sein Handeln leiten sollen. Hierin liegt im Verständnis der Theorie der kognitiven Dezentrierung die Bedingung von Willensfreiheit. Bildungstheorie beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit der Frage, über welche Lernerfahrungen die Entwicklung von Autonomie befördert werden kann. Dagegen 174
sieht das konstruktivistische Verständnis von Bildung als Selbsttransformation von normativen Sozialisationszielen ab. Wie das folgende Kapitel zeigt, impliziert die konstruktivistische Reduktion von Autonomie auf Autopoiesis eine radikale Subjektorientierung, nach der Autonomie nicht als Bildungsziel, sondern nur reduziert auf den Aspekt der Selbsttätigkeit als Bedingung von Lernprozessen gedacht werden kann.
7.4
Zur konstruktivistischen Reformulierung des Gedankens der Erziehung zur Autonomie
Autopoietische Systeme gelten angesichts ihrer operationalen Geschlossenheit und ihrer ‚Selbstentfaltungskraft’ als autonom und das nicht nur in einem operativen, sondern auch in einem subjekt- und moralphilosophischen Sinn. Im Folgenden sei diese Verflechtung zwischen ‚operativer’ und ‚subjekttheoretischer Ebene’ konstruktivistischen Denkens verdeutlicht. In einem ersten Schritt (Kap. 7.4.1) wird gezeigt, wie der traditionale Gedanke von Erziehung zur Autonomie durch die Vorstellung von Erziehung als Hilfe zur Selbstorganisation ersetzt wird. Anders als das Verständnis von Autonomie als subjektiver Willensfreiheit, auf dem moderne Rechts- und Erziehungssysteme sowie die moralischen Erwartungen kommunikativ handelnder Menschen beruhen, wird Autonomie hier als struktur- und zustandsdeterminierte Selbststeuerung des Entscheidens und Handelns durch ein operativ geschlossenes Gehirn und ein autopoietisches Bewusstseinssystem verstanden. Die traditionale Grundannahme und Legitimationsgrundlage von Erziehung, dass Kinder sich erst auf dem Weg zur Autonomie im Sinne aufgeklärten und rationalen Denkens, Wollens und Fühlens befinden und dabei erzieherischer Behütung, Unterstützung und Gegenwirkung bedürfen, weicht einem durch konstruktivistische Theoreme vermittelten Bild des ‚autarken’ Kindes. Hieran anschließend (Kap. 7.4.2) werden die sozialen Grenzen des konstruktivistisch reformulierten Autonomieverständnisses umrissen, die im Theorem der funktionalen Passung zwischen dem autonomen System und der Umwelt (MATURANA) sowie in der Trennung der Systembereiche des Sozialen und des Psychischen (LUHMANN) gesehen werden.
7.4.1
Subjekt- und erziehungsphilosophische Postulate des neurobiologischen Konstruktivismus
Autopoiesis bezeichnet die Fähigkeit der Systeme zur Selbsterzeugung und Selbsterhaltung, indem sie die Komponenten, aus denen sie bestehen, in einem rekursiven Prozess selbst produzieren und reproduzieren (vgl. MATURANA 2000, S. 94). Durch ihr Operieren erzeugen sie fortwährend ihre eigene Organisation. Nach MATURANA sind autopoietische Systeme strukturplastisch und organisationsinvariant. Das bedeutet, dass Systeme in Interaktionen mit ihrer Umwelt die Relationen zwischen ihren Elementen (Organisation) aufrechterhalten müssen, „die eine zusammengesetzte Einheit als Einheit einer bestimmten Klasse 175
definieren.“ Der Begriff der Organisation verweist auf einen Varianzspielraum für die Ausbildung individueller Strukturen innerhalb einer Systemklasse. Strukturen sind insofern die „tatsächlichen Bestandteile und Beziehungen, die eine bestimmte zusammengesetzte Einheit zu einem konkreten Fall einer bestimmten Klasse von Einheiten machen“ (ebd., S. 92). Leben bedeutet im Verständnis dieser Theorie das Invarianthalten der Organisation der einzelnen Komponenten eines Systems sowie die Modifikation der Systemstruktur im Rahmen der durch die Organisation festgesetzten Grenzen. Ein einfaches Beispiel für Autopoiesis ist die Zellteilung, die auf einer in den Zellen angelegten Entwicklungsdynamik und nicht auf äußeren Einflüssen beruht. Die Elemente, aus denen Zellen bestehen, werden rekursiv mit Hilfe bestehender Elemente erzeugt. Die Selbstentfaltungskraft autopoietischer Systeme erkennen Biologen auch daran, dass der Stoff- und Energieaustausch von Zellen mit ihrer Umwelt nicht durch äußere Einflüsse, sondern durch die Struktur der Zellen selbst geregelt wird. Nicht nur einzelne Zellen, auch so genannte ‚Metazeller’, d.h. eigenständige, aus Millionen Zellen bestehende Netzwerke wie das Nervensystem, operieren autopoietisch und werden nicht von der Umwelt determiniert (vgl. MATURANA/VARELA 1987, S. 50). Auch das aus neurophysiologischen Prozessen hervorgehende Bewusstsein kann als autopoietisches System begriffen werden. Gedanken als temporalisierte und dem schnellen zeitlichen Verfall ausgesetzte Elemente von Bewusstseinssystemen produzieren in einem rekursiven Transformationsprozess ständig neue Gedanken. Dieser autopoietische Prozess ist entscheidend durch die kognitive Systemstruktur gelenkt und vollzieht sich als Übergang von Gedanken, die in einer Beobachtungsfolge stehen und als beobachtete Gedanken mit dem Begriff der „Vorstellung“ zu bezeichnen sind (vgl. LUHMANN 1984). Der primär die operative Systemebene beschreibende Begriff der Autopoiesis wird im konstruktivistischen Diskurs auch sekundär zur Reflexion moralphilosophischer und subjekttheoretischer Fragen gebraucht. Für MATURANA und VARELA ist der „Mechanismus, der Lebewesen zu autonomen Systemen macht, die Autopoiesis; sie kennzeichnet Lebewesen als autonom“ (MATURANA/VARELA 1987, S. 55). Autonomie wird hier gleichgesetzt mit der autopoietischen Selbsterzeugung, Selbstregulierung und Selbsterhaltung selbstreferenziell geschlossener kognitiver und biologischer Systeme. Häufig ist dieses Autonomieverständnis in Abgrenzung zu trivialen Maschinen expliziert worden. Während bei trivialen Maschinen wie z.B. Getränke- oder Cigarettenautomaten eine konstante Linearität zwischen Input und Output besteht, sind Umweltereignisse für die nicht-trivialen biologischen und psychischen Systeme nur Irritationen, die nach eigenen Strukturen und aktuellen Zuständen des Systems verarbeitet werden. Zwar werden mit diesem Autonomiebegriff äußere Nicht-Determinierbarkeit und die aktiven Konstruktionsleistungen von Systemen betont, dennoch bleibt ihre Autonomie auf innere Determination reduziert. Tendenzen der Entsubjektivierung zeigen sich in diesem Modell darin, dass das Ich in der Strukturdeterminiertheit des autopoietischen Regelsystems gleichsam befangen ist, ohne wirkliche geistige Freiheit zu erlangen, die Strukturveränderungen rational auf Einsicht zurückführen lässt. Des Weiteren fehlt dieser ‚Subjektvorstellung’ eine intersubjektive Dimension, wie sie etwa Theorien zur Entwicklung von Ich-Identität kennzeichnen (vgl. Kap. 4.3.2). So ist für JÜRGEN HABERMAS Subjektivität mehr als strukturdeterminierte Erfahrungs- und Innenleitung, insofern sie in seinem Theorieentwurf durch rationales Aushandeln von Geltungsansprüchen im kommunikativen Diskurs konstituiert wird, denn „was rationale Motivation 176
durch Gründe heißt [und den Kern des modernen Verständnisses des autonomen Subjekts ausmacht, E.D], können wir nur als Teilnehmer am öffentlichen Prozess des ‚Gebens und Nehmens von Gründen’[...] erklären“ (HABERMAS 2004, S. 875). ROTH bezieht sich ebenfalls auf die Strukturdeterminiertheit selbstreferenziellgeschlossener Systeme, um die philosophische Frage nach der sozialen und erkenntnistheoretischen Autonomie des Subjekts konstruktivistisch zu reformulieren. Im Unterschied zur philosophischen Tradition bezweifelt er die anthropologische Annahme, Willensfreiheit sei Wesensmerkmal und Kern der Autonomie des Menschen. Vor dem Hintergrund der neurophysiologischen These, dass die Struktur des Gehirns bereits vorher determiniert, was später als Willen zugeschrieben wird, hält er das Prinzip der Willensfreiheit für illusorisch (vgl. ROTH 2004a, S. 133; 2004c). Willenfreiheit als Kern des traditionalen Autonomiebegriffs, auf den sich Erziehungstheorien beziehen, wird hier als imaginäre Annahme im Sinne einer Selbstattribution beschrieben. Die neurophysiologischen Hintergründe der Entstehung von Motiven sind unbewusst und nicht introspektiv beobachtbar, so dass neuronal determinierte Entscheidungen als freie Entschlüsse des Subjekts wahrgenommen werden. Diese These beruht auf der problematischen kausalen Relationierung von neuronaler Aktivität und psychischen Zuständen. Über bildgebende Verfahren ist es zwar möglich, psychischen Zuständen neuronale Korrelate nachzuweisen, nicht aber können Denkinhalte neuronal spezifiziert werden (vgl. HINZ 2005, S. 544). Fraglich ist es zudem, Willensfreiheit als Epiphänomen zu deuten, denn unklar bleibt, warum sich diese Illusion herausgebildet haben sollte, wenn sie keine kausale Wirkung trägt. Die Widersprüchlichkeit konstruktivistischer Explikationen von Autonomie und Willensfreiheit besteht zudem darin, dass aus sozial-konstruktivistischer Sicht nicht in Abrede gestellt werden kann, dass dem ‚Konstrukt’ Willensfreiheit eine wichtige Funktion zur Aufrechterhaltung sozialer Ordnung zukommt. Wie bereits HANS VAIHINGER, ein wichtiger Vordenker des modernen Konstruktivismus, in seiner „Philosophie des Als Ob“ gezeigt hat, ist ‚Freiheit’ eine Fiktion, die sich im praktischen Resultat als ‚richtig’ erweist. So ist für das Rechtssystem der Gedanke der Freiheit Voraussetzung für Strafbarkeit. „Jeder Mensch ist frei und darum, wenn er gegen das Gesetz sich vergangen, strafbar. [...] Der Begriff der Freiheit fällt aber damit (sc. nach Verkündigung des Urteils, E.D.) heraus, er hat nur dazu gedient, das Urteil möglich zu machen. Ob aber der Mensch frei sei, diese Prämisse wird vom Richter nicht untersucht; faktisch ist diese Prämisse nur eine Fiktion [...], denn ohne Bestrafung der Menschen, der Verbrecher, ist keine Staatsordnung möglich: zu diesem praktischen Zweck ist die theoretische Fiktion der Freiheit erfunden worden.“ (VAIHINGER 1911, S. 133)
Diese These wird von einschlägigen kultursoziologischen Untersuchungen bestätigt. Autoren wie ALOIS HAHN (1982; 1987) und HERBERT WILLEMS (1999) zeigen, dass der Gedanke der Subjekthaftigkeit, d.h. der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Identität der Person, auf eine Institutionengeschichte der Selbstthematisierung zurückgeführt werden kann. Soziale Kontrolle, wie sie etwa im Staat durch rechtliche Verfahren oder aber im religiösen Bereich durch die Bekennung von Sünden in der Beichte erreicht wird, bedarf des Konstruktes der Willensfreiheit als ‚Als Ob Fiktion’. Die Motive, also die Gründe für begangene Taten und somit die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung des zur Freiheit befreiten Menschen, werden in den Mittelpunkt der Schuldfrage gestellt. Kurzum: Freiheitsse177
mantik ist aus dieser Analyseperspektive Resultat historisch veränderter Machtverhältnisse, die im Laufe der Modernisierung von Gesellschaft und Kultur von äußerer Herrschaft auf inneren Selbstzwang umstellen. Der neurobiologische Konstruktivismus sucht im Anschluss an diese kultursoziologische These zu klären, wie diese kulturelle Zuschreibung eigener Entscheidungen und Handlungen als intentional motiviert, also durch autonome Willensentscheidungen bedingt, im frühkindlichen Lernprozess verankert wird. In diesem Zusammenhang hebt WOLF SINGER die Art und Weise hervor, wie sich Erwachsene auf das Verhalten und Lernen von Kindern beziehen: „Wie aber kommen wir zu der unerschütterlichen Überzeugung, daß unser Ich freie Entscheidungen treffen und über Prozesse in unserem Gehirn verfügen kann? Eine erste und vermutlich entscheidende Erfahrung mit der Zuschreibung von Autonomie und Freiheit machen wir schon als Kleinkinder. Eltern bedeuten den Kindern fortwährend, sie sollen dies tun und jenes lassen, weil andernfalls diese oder jene Konsequenzen einträten. Diese Verweise und die mit ihnen verbundenen Sanktionen erzwingen den Schluss, man könne auch anders und müsse nur wollen. Wir erfahren also schon sehr früh eine Behandlung, die sich durch die Annahme rechtfertigt, wie seien frei in unseren Entscheidungen – eine Annahme, die sich über Erziehung verlässlich von Generation zu Generation tradiert. Wir machen uns also vermutlich eine im Lauf unserer Kulturgeschichte entwickelte Zuschreibung zu eigen, internalisieren sie und verfahren nach ihr.“ (SINGER 2004, S. 49)
Willensfreiheit ist einzig dem Bereich sozialer Konstruktionen zugeordnet, die Kulturneulinge in Sozialisations- und Erziehungsprozessen verinnerlichen. Sie entbehrt damit gleichsam einer natürlichen Grundlage und ist ausschließlich auf den Status eines kulturgeschichtlichen Phänomens begrenzt. Im subjektiven Erleben wird dem Wollen die Rolle zugeschrieben, „als Auslöser für die schließlich bewusst [und vorher vom Gehirn getroffenen, E.D.] Entscheidungen zu fungieren“ (ebd., S. 50). Aus diesen Gründen bezieht sich der Autonomiebegriff des Konstruktivismus nicht auf den als Imagination enttarnten Gedanken der Freiheit, sondern auf das Autopoiesis-Konzept. Die Autonomie die Menschen wird in seiner radikalen Innensteuerung gesehen, d.h. in der „Fähigkeit unseres ganzen Wesens, d.h. Bewusstsein, Unbewusstes, das ganze Gehirn und den ganzen Körper zusammengenommen, innengeleitet, aus individueller Erfahrung heraus zu handeln. Gerade dies würde durch eine Willensfreiheit (...) verhindert.“ (ROTH 2003, S. 533). Wie ROTH an anderer Stelle ausführt, würde ein umweltoffenes Gehirn demgegenüber ein „fremdgesteuertes Reflexsystem“ darstellen, das nicht in der Lage wäre, komplexe Umwelten zu bewältigen (ROTH 1985, S. 12). Autonomie meint hier die erfahrungsgeleitete Selbststeuerung biologischer bzw. psychischer Systeme im Prozess der autopoietischen Selbsterhaltung und Selbsterzeugung. Diese Systeme sind aufgrund ihres innengeleiteten Operationsmodus per se resistent gegenüber äußerer Beeinflussung. In ihrer Nicht-Determinierbarkeit wird der Kern ihrer Autonomie gesehen. Dass es sich hierbei eher um ein Verständnis von ‚Autarkie’ handelt, erläutert BERND AHRBECK (2004, S. 94). Er verdeutlicht, dass der traditionelle Begriff von Autonomie als Willensfreiheit auf die Wechselbeziehung zwischen Abhängigkeit und Selbstbestimmung bezogen ist. Insofern ist das Ringen um Abgrenzung und eigenverantwortliches aufgeklärtes Denken und Wollen konstitutiv für die Entwicklung von Autonomie. Autonomie setzt eigene Entscheidungen über Abhängigkeiten voraus aus Einsicht in die Notwen178
digkeit, sich als selbstbestimmtes Ich wie auch als Teil der Gemeinschaft zu begreifen. Das konstruktivistische Autonomieverständnis fokussiert dagegen die Nicht-Determinierbarkeit von Systemen und marginalisiert damit gleichzeitig den Aspekt der sozialen Verwiesenheit des Menschen. Mit dem Rekurs auf die Nicht-Steuerbarkeit biologischer und psychischer Systeme vertritt konstruktivistische Pädagogik das Bild eines ‚autarken’ Kindes, mit dem ein Rückzug aus der Erziehungsverantwortung eingeläutet wird. Erziehung wird nicht als Vermittlung von Mündigkeit an Unmündige, d.h. als Behütung, Unterstützung und Gegenwirkung auf dem Weg von der kindlichen Abhängigkeit zur selbstständigen Gestaltung und rationalen Kontrolle des eigenen Lebens in seinen sozialen Bezügen verstanden, sondern als ‚Beratungs-’ und ‚Konsultationsangebot’ im Prozess der Selbstorganisation konzeptualisiert, das je nach Bedürfnislage angenommen oder zurückgewiesen werden kann. ROLF HUSCHKE-RHEIN bestimmt in diesem Zusammenhang die „Hilfe zur Selbstorganisation“ als Kern pädagogischen Handelns (HUSCHKE-RHEIN 2003, S. 26). Dieses Verständnis von Pädagogik bezieht sich nicht nur auf die Lebensphasen Kindheit und Jugend, sondern auf alle Lebensalter. Mit der Neufassung von Erziehung als Beratung kann eine so verstandene Pädagogik ihren Aufgabenbereich und Adressatenkreis entgrenzen. Paradox ist, dass auf diese Weise eine ‚Entpädagogisierungstendenz’, d.h. eine starke Begrenzung der erzieherischen Verantwortung und der Rationalisierung der pädagogischen Beziehung, mit einer ‚Pädagogisierung’ aller Lebensalter und Lebensbereiche verbunden wird. Vermutlich liegt gerade in diesem Zusammenhang von ‚Entgrenzung’ und ‚Begrenzung’ der Grund für die Popularität konstruktivistischen Denkens in der Pädagogik. Der konstruktivistische Pädagoge HUSCHKE-RHEIN (2003, S. 31) spricht an dieser Stelle von der „Halbierung der Verantwortung in selbstorganisierten Systemen“ als Kern des neuen Berufsverständnisses der Pädagogik aller Lebensalter. Für DIETER LENZEN (1997) ist praktische Pädagogik in diesem Sinn „professionelle Lebensbegleitung“ und akademische Pädagogik „die Wissenschaft des Lebenslaufs und der Humanontogenese“. Überdies ist es trotz der neurobiologischen und sozial-konstruktivistischen Theorieannahmen auch aus phänomenologischer Sicht problematisch, den Begriff der Autonomie auf den Status einer gesellschaftlichen ‚Als Ob Fiktion’ zu reduzieren und subjektphilosophisch durch das Konzept der Autopoiesis zu reformulieren. Dass Autonomie nicht einseitig als Konstrukt zu betrachten ist, legt PRANGE (2000) in einer Konfrontation konstruktivistischer und phänomenologisch orientierter Bestimmungen des Erziehungsbegriffs dar. Für ein adäquates Verständnis von Erziehung ist ihm zufolge wichtig, über das „Ineinander von Konstruktion und phänomenologischer Beschreibung größere Klarheit“ zu gewinnen (ebd. S. 20). Gemäß der Devise „erst der Sachverhalt, dann die Deutung“ (ebd.), gilt es zunächst das Phänomen Erziehung als nicht bestreitbare pädagogische Tatsache freizulegen. Die Unselbstständigkeit, Lern- und Hilfsbedürftigkeit von Kindern betrachtet er als ein Phänomen, das vor aller historisch und kulturell variablen Kindheitssemantik besteht. Erziehung wird folglich nicht in pädagogischen Diskursen konstruiert, „sondern es gibt sie durch die Akte, in denen wir uns auf das Lernen der Kinder beziehen und ihnen den Übergang vom Nicht-Können zum Können, vom Nicht-Wissen zum Wissen, vom subjektiven zum aufgeklärten Wollen; kurz: von der Unmündigkeit zur Mündigkeit ermöglichen“ (ebd., S. 26). Theoretischen Konstruktionen von Erziehung ist dieses Phänomen, dieser Grundsachverhalt der Erziehung vorgängig. Konstruktivistische Konstruktionen von Erziehung 179
lösen sich jedoch von dieser phänomenologischen Referenz. Ausgangspunkt der Erziehungsreflexion ist nicht das phänomenologische Schauen, dessen epistemologische Legitimation durch die These der informationellen Geschlossenheit des Gehirns grundsätzlich problematisiert wird. Konstruktivistische Pädagogik geht hingegen gleich von der Konstruktionsebene aus, indem sie von erkenntnistheoretischen Modellen subjekttheoretische und pädagogische Konsequenzen ableitet und damit die lebensweltliche Praxis menschlicher Umgangsformen verfehlt. Diese sind mit der phänomenologischen Beschreibung der Grundstruktur des Erziehens nicht kompatibel. Das Konstrukt eines autarken Kindes demontiert den Kern von Erziehung, der in der „Vermittlung von Mündigkeit an Unmündige“ besteht (MENCK 1998 zit. nach PRANGE 2000, S. 21). Kritische Rückfragen an das Konstrukt des autarken Ichs beziehen sich nicht nur auf dessen fehlende phänomenologische Grundlage. Problematisiert wird auch der Verlust, der mit der ‚subjekttheoretischen’ Verwendung des Autopoiesis-Konzepts verbunden ist, verweist doch der moderne Autonomiebegriff auf eine ‚qualitativ höhere Stufe’ des Welt- und Selbstverhältnisses, als es die konstruktivistische Rede von der Nicht-Determinierbarkeit lebender Systeme vermag. Wichtige Dimensionen des auf dem Prinzip der Willensfreiheit beruhenden aufklärerischen Verständnisses des autonomen Subjekts können mit der Theorie autopoietischer Systeme nicht erfasst werden. Das gilt insbesondere für die Frage der Herausbildung von Autonomie, die u.a. für die Rechtsprechung eine wichtige Rolle spielt und daher vom Rechtssystem als Leistung des Erziehungssystems abverlangt wird. Im Anschluss an KANT wird unter Autonomie die Fähigkeit des durch Erziehung und Bildung mündig gewordenen Menschen verstanden, unabhängig von fremden Autoritäten, Traditionen und inneren Zwängen durch eigenständigen Vernunftgebrauch sich selbst die Regeln für das eigene Handeln zu geben und dies in den Grenzen, die durch die Autonomieansprüche anderer Menschen vorgegeben sind (vgl. FISCHER 1998, S. 126; UHLE 2004, S. 10). Idealerweise ist das freie Selbst also weder sozial noch durch die Gesetzmäßigkeiten der Natur determiniert, sondern legt sich die Gesetze seines Handelns in Form von Maximen des ‚Sittengesetzes’ selbst auf. Somit ist es der alleinverantwortlicher Autor seiner Handlungen und Entscheidungen. Verantwortung ist ohne diese Voraussetzung von Freiheit nicht denkbar. Autonomie setzt aus dieser Sicht die Fähigkeit voraus, soziale Regeln auf ihre Verträglichkeit mit selbst gewählten Handlungsprinzipien überprüfen zu können. Auch gegenüber eigenen Befindlichkeiten muss die kritische Frage gestellt werden, ob sie dem eigenständigen Wollen, Fühlen und Denken entsprechen oder durch soziale Erwartungen oder innere Zwänge bestimmt sind. Ohne an dieser Stelle erneut auf die sozialphilosophischen Hintergründe und die postmoderne Kritik am modernen Subjekt- und Autonomieverständnisses eingehen zu können (vgl. dazu Kap. 4) sei hier in Abgrenzung zur neurobiologischen Reformulierung des Autonomiebegriffs folgender Grundgedanke hervorgehoben, der Grundannahmen moderner Subjektphilosophie und lebensweltliche Erwartungen kommunikativ handelnder Menschen verbindet: Autonomie wird im modernen Entwicklungs- und Bildungsverständnis nicht wie im Anschluss an das Autopoiesis-Konzept kausal aus dem Operationsmodus lebender Systeme abgeleitet. Was dem Menschen anthropologisch zugesprochen wird, ist eine Disposition zur Autonomie, aus der seine Erziehungsbedürftigkeit resultiert. So spricht z.B. KANT von der ‚Vernunftfähigkeit des Menschen’ und der ‚Möglichkeit zur Autonomie’, entsprechend 180
akzentuiert ROUSSEAU die ‚perfectibilité’ der menschlichen Natur. Die Herausbildung dieser Autonomie ist hingegen in die Aufgabe von Erziehungs- und Bildungsprozessen gestellt. Das mit dem Begriff ‚Autonomie’ gekennzeichnete Selbst- und Weltverhältnis bildet insofern das traditionale philosophische Unterscheidungsmerkmal von Erwachsenen und Kindern, wobei diese Grenze fließend und nicht transzendental verankert ist ebenso wie auch über die Altersgrenzen hinweg von unterschiedlichen Ausprägungen von Rationalität, Freiheit und Verantwortlichkeit auszugehen ist. Da das Kind als noch nicht autonomes Wesen gesehen wird, vollzieht sich der Übergang zum Erwachsensein durch die Befähigung zur Selbstbestimmung. Anders als der konstruktivistische Diskurs, der Subjektivität mit Bezug auf die Autopoiesis und die biographisch geprägte kognitive und emotionale Strukturdeterminiertheit des Gehirns geradezu zum Konstitutivum von Autonomie erhebt, begreift moderne Entwicklungs- und Moralpsychologie die Entwicklung von Autonomie als Prozess der Dezentrierung aus der eigenen Subjektivität, d.h. der kognitiven und affektiven Lösung des Ichs aus unmittelbaren Befindlichkeiten und unreflektiert übernommenen lebensweltlichen Orientierungen. Es geht um die Entwicklung der Fähigkeit, mit eigenen Bedürfnissen autonom umgehen zu können, d.h. sich selbst als universell verbindlich betrachtete Kriterien für das eigenen Wollen setzen zu können (vgl. KOHLBERG/TURIEL 1978; NUNNER-WINKER 1990/1991). Zuweilen ist in diesem Zusammenhang auch die Rede vom Erwerb „stabiler Prinzipien“, die das eigene Handeln leiten (TAMAR SCHAPIRO), oder von einer „praktischen Identität“ als „normativem Selbstverständnis“, aus der die Gründe des Handelns und Wollens resultieren (CHRISTINE KORSGAARD) (vgl. GIESINGER 2006b). Im sozialisationstheoretischen Diskurs wird diese Vorstellung des gegenüber der Gesellschaft wie auch den eigenen Bedürfnissen autonomen Ichs unter dem Begriff der Ich-Identität diskutiert (vgl. Kap. 4.3.2). Vergesellschaftung vollzieht sich entsprechenden Identitätstheorien zufolge als Prozess der Wechselbeziehung von Eigenständigkeit und Abhängigkeit, d.h. von gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Sinnbestimmungen (vgl. KRAPPMANN 1993; HABERMAS 1973; SCHWEITZER 1985). Die Verpflichtung des autonom entscheidenden Subjekts auf Handlungsgründe ist nicht nur die Voraussetzung juristischer Urteile, sie prägt grundsätzlich die moralischen Erwartungen von Menschen. Gründe sind jedoch nicht Bestandteil der deterministischen Welt der Naturereignisse und entziehen sich daher der naturwissenschaftlichen Beobachtung. In der aktuellen Diskussion um Willensfreiheit wird daher erneut die wissenschaftstheoretische Verstehen-Erklären-Kontroverse virulent, wobei vor dem Hintergrund früher Debatten zu bedenken ist, dass nicht ein Dualismus, sondern nur eine Integration von Verstehen und Erklären dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn förderlich sein kann. Von Gründen motivierte Handlungen lassen sich HABERMAS (2004, S. 875) zufolge nur erfassen aus der „Perspektive von Teilnehmern am öffentlichen Prozess des ‚Gebens und Nehmens von Gründen’.“ Daher lehnt er reduktionistische naturwissenschaftliche Erklärungen ab und plädiert für ein Ineinandergreifen von Beobachter- und Teilnehmerperspektive. Die Teilnehmerperspektive ist eine personale Perspektive, die Beobachterperspektive fokussiert dagegen neuronale Prozesse in Gehirnen. Da Erziehung (1) in die moralische Alltagskultur eingebettet ist und ihr (2) die Aufgabe zukommt, Kinder durch Anregung zur Bildung in Kultur als moralischem Raum der Gründe einzuführen, ist die Leitperspektive von Pädagogik die Teilnehmerperspektive. Daher sind naturalistische Zugänge zu pädagogischen Prob181
lemen, die u.a. unter den Bezeichnungen ‚Neuropädagogik’, Neurodidaktik’ oder ‚Pädobiologie’ firmieren, in ihrem Erklärungspotential beschränkt (vgl. GIESINGER 2006a, S. 104). Ebenso kann das Autonomieverständnis des neurobiologischen Konstruktivismus als verkürzt gelten. Es kann lediglich aus evolutionstheoretischer Perspektive zeigen, wie innere Selbthervorbringung und äußere Nicht-Determinierbarkeit von Lebewesen trotz äußerer Einflüsse durch die Umwelt denkbar ist. Autonomie geht nach diesem Verständnis sozusagen aus der den objektiven Widerständen der Umwelt standhaltenden inneren Subjektivität hervor und muss als per se gegeben unterstellt werden. Die Frage, was die Autonomie des Subjekts im gesellschaftlichen Kontext bedeutet und wie eine solche Autonomieentwicklung pädagogisch gefördert werden kann, bleibt unterbestimmt. Im Unterschied zu traditionellen Perspektiven der Pädagogik kann daher Autonomie nicht als Erziehungsziel formuliert werden, sondern muss reduziert auf den Gedanken der ‚Autarkie’ als Voraussetzung von Lehr- und Lernprozessen reflektiert werden.
7.4.2
Zum Verhältnis von Autopoiesis und Abhängigkeit – Innere ‚Selbstmacht’ versus ‚Ohnmacht’ gegenüber sozialen Systemlogiken
Aus dem Konzept der Autopoiesis kann nicht auf eine völlige Abgeschlossenheit lebender Systeme gegenüber ihrer Umwelt geschlossen werden. Es ist klar, dass sich Systeme nur im Rahmen struktureller Koppelungen mit ihrer Umwelt selbst hervorbringen können. Wie das Verhältnis von Autopoiesis und biologischen und sozialen Abhängigkeiten in konstruktivistischen Systemtheorien modelliert wird und welche pädagogischen Konsequenzen daraus abgeleitet werden, ist das Thema der folgenden Darstellungen. In der Theorie autopoietischer Systeme von MATURANA wird die Relation von System und Umwelt als Wechselbeziehung gedacht: Systeme bringen sich selbst hervor, sie können ihre Autopoiesis jedoch nur innerhalb ihres Mediums, d.h. ihrer materiellen und sozialen Umgebung, aufrechterhalten. Die operationale Geschlossenheit autopoietischer Systeme setzt Umweltoffenheit voraus, weil Systeme zur Aufrechterhaltung ihrer Autopoiesis beispielsweise auf Energie- und Materieaustausch mit ihrem Medium angewiesen sind. Energetische Offenheit ist insofern Bedingung für informationelle Geschlossenheit (vgl. VON AMELN 2004, S. 64). Informationelle Geschlossenheit bedeutet, dass zwischen dem Input und dem Output eines Systems keine lineare Kausalbeziehung vorliegt, wie es etwa behavioristische Stimulus-Response-Modelle suggerieren. Äußere Einflüsse können nur Strukturmodifikationen anstoßen, diese aber nicht determinieren. Die Wirkung von Umweltreizen als unspezifische Irritation autopoietischer Systeme bezeichnen konstruktivistische Theoretiker im Anschluss an MATURANA als „Perturbation“. Aufgrund dieser Eigenschaft werden autopoietische Systeme in kybernetischer Terminologie auch als „nichttrivale Maschinen“ bezeichnet. Erziehung ist aus dieser Sicht eine der vielfältigen Perturbationen, die autonome Systeme irritieren. Wie bereits im vorigen Kapitel erläutert, wird Erziehung im Anschluss an diesen Gedanken als ‚Angebot’ aufgefasst, das angenommen, selektiv wahrgenommen oder abgelehnt werden kann.
182
Der durch Perturbationen hervorgerufene strukturelle Wandel eines Organismus ist seine Ontogenese. In Anbetracht ihrer kontinuierlichen Veränderung im Verlauf der Lebensgeschichte wird die Struktur eines autopoietischen Systems als dynamische Größe verstanden, die sich in Interaktionen von System und Umwelt selbst modifiziert (vgl. MATURANA 2000b, S. 288). Damit Perturbationen nicht zu destruktiven Veränderungen der Struktur führen und die Aufrechterhaltung der Autopoiesis gewährleistet bleibt, muss eine strukturelle Passung zwischen System und sozialem sowie materialem Medium bestehen. Die sich aus dieser Passung ergebende kompatible Interaktion von System und Umwelt führt zu gegenseitigen Zustandsänderungen, so genannten ‚strukturellen Koppelungen’ (vgl. MATURANA/VARELA 1987, S. 105ff.). Die strukturelle Koppelung von Lebewesen führt zur Ausbildung „konsensueller Bereiche“ – Bereiche der wechselseitigen ontogenetischen Anpassungen von Systemen unter Aufrechterhaltung ihrer jeweiligen Individualität (vgl. MATURANA 2000, S. 108). Der Begriff „Koevolution“ rückt das Phänomen der „strukturellen Koppelung“ in eine evolutionstheoretische Perspektive. Menschen entwickeln sich dieser Vorstellung zufolge gemeinsam durch wechselseitige Perturbationen. Dieser Entwicklungsprozess ist unter dem Begriff „strukturelles Driften“ bekannt. Das durch strukturelle Koppelungen zustande kommende Verhalten nennen MATURANA und VARELA (1987, S. 210) „kommunikatives Verhalten“. Durch die Verhaltenskoordination wechselseitig angepasster Systeme entsteht ein soziales System als „neue[r] phänomenologischer Bereich“ (ebd., S. 196). Im Unterschied zu lebenden Systemen sind für MATURANA soziale Systeme als Emergenzphänome nicht autopoietisch und bilden das soziale Medium für die Aufrechterhaltung der Autopoiesis lebender Systeme. MATURANA vertritt an dieser Stelle das aus der Kulturanthropologie bekannte Axiom, dass Sozialität Grundvoraussetzung menschlichen Lebens ist. Soziale Systeme beschreibt MATURANA als Vernetzung der Interaktionen mehrerer lebender Systeme, welche für die Lebewesen als soziales Medium wirkt, indem sie sich als lebende Systeme verwirklichen. „System und Medium bilden stets eine Einheit und befinden sich sozusagen automatisch in Kongruenz, solange das System lebt“ (2000b, S. 291). Lebende und soziale Systeme stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Strukturveränderungen. Soziale Systeme lösen Strukturveränderungen der sie konstituierenden Individuen aus, umgekehrt irritiert das veränderte Verhalten der Individuen auch die Eigenschaften sozialer Systeme. Die Entwicklung von Individuen und sozialen Strukturen wird also als eng miteinander verwoben konzipiert; eine Position, die mit dem sozialökologischen Paradigma der Sozialisationsforschung übereinstimmt. Im Unterschied zu diesem Forschungsparadigma fehlt bei MATURANA jedoch eine genaue Differenzierung dessen, was er als soziales Medium bezeichnet. Hier wäre eine Strukturierung der Sozialisationskontexte in diachroner und synchroner Perspektive nötig, wie sie etwa Uri BRONFENBRENNER (1981) für die sozialökologische Forschung vorgelegt hat. Das zentrale Kommunikationsmedium sozialer Systeme ist die Sprache. Aus der evolutionstheoretischen Perspektive MATURANAs trägt Sprache primär keine denotative Funktion, sondern dient der sozialen Verhaltenskoordinierung informationell geschlossener Systeme. VOLKER KRAFT erläutert diese These wie folgt: „Systeme können also miteinander ‚sprechen’, weil sie strukturell gekoppelt sind und nicht umgekehrt. Anders ausgedrückt: Kommunikation setzt Interaktion voraus, das leibhafte Handeln in konsensuellen 183
Bereichen ist vor der Sprache, und die Sprache entfaltet sich aus ihnen heraus“ (KRAFT 1989, S. 59f.). MATURANA (2000b, S. 287) zieht aus diesen Überlegungen die Konsequenz, dass die Individualität des Menschen sozial begründet ist. Lebende Systeme können ihre Autopoiesis nur in einer sozialen Welt aufrechterhalten. Die Relation von lebenden und sozialen Systemen, klassisch soziologisch ausgedrückt: von ‚Individuum’ und ‚Gesellschaft’, wird als dem Überleben dienliches Passungsverhältnis begriffen, das so lange besteht, wie das Individuum lebt. An dieser Stelle zeigt sich die mangelnde Differenzierung MATURANAS zwischen Kultur und Natur, die als generelles Problem des konstruktivistischen Diskurses betrachtet werden kann. Gesellschaft und Kultur können nicht hinreichend als Phänomen der Verhaltenskoordination von Menschen betrachtet werden. Nicht bedacht wird, dass Kultur dem Individuum auch als objektive Größe entgegensteht. So muss es sich z.T. mit viel Anstrengung die soziale, historische und kulturelle Bedeutung z. B. semiotischer, literarischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, architektonischer, musikalischer Objektivationen aneignen, um zu kompetenter kultureller Teilhabe befähigt zu sein. Enkulturation wird dagegen von MATURANA als eine Sache der Verhaltenskoordination und nicht der Auseinandersetzung mit kulturellen Objektivationen verstanden. Konkret bedeutet das für den chilenischen Biologen etwa für ein Kind, in der Schule nicht Mathematik zu lernen, „sondern mit einem Mathematiklehrer zusammenzuleben.“ Gelingt die Verhaltenskoordination von Schüler und Lehrer im sozialen System Unterricht, so wird der Schüler vielleicht dieses „vergnügliche und aufregende Miteinander eines Tages in unabhängiger Weise fortführen – und selbst zu einem Mathematiklehrer oder Mathematiker werden“ (MATURANA 2002, S. 75). Das Zitat zeigt, dass MATURANA Lernen als Beziehungsgestaltung auffasst und nicht als verstehendes Einarbeiten in die Sinnstrukturen kultureller Objektivationen. Der biologische Sinn des Lernens wird ausschließlich in der Aufrechterhaltung der Passung von System und Umwelt gesehen. Der natürliche Lernwille des Kindes richtet sich so gesehen auf die Gestaltung einer stabilen Beziehung zur sozialen Umwelt. Die Auseinandersetzung mit kulturell anspruchsvollen Objektivationen wie mathematischen Zeichensystemen dient dem Zweck, „mit einem Mathematiklehrer zusammenzuleben“ und ist insofern durch den Willen des Kindes motiviert, seine Beziehung zu seinem Lehrer zu stärken. Ein solches Lernen fragt nicht nach der ‚Objektivität der Dinge’. Dass überhaupt der Sinn kultureller Objektivationen individuell rekonstruiert wird, ergibt sich nicht aus der Bildungsaspiration der Schüler, sondern erwächst aus einem ‚angenehmen’, ‚anregenden’, ‚erlebnisreichen’ Miteinander im Unterricht. Nicht die Sache steht im Zentrum des Unterrichts, sondern die charismatische Ausstrahlung des Lehrers – eine aus erziehungs- und bildungstheoretischer Sicht überaus problematische und den Lehrerberuf deprofessionalisierende Konsequenz aus MATURANAs Theorie autopoietischer Systeme als lebende Systeme. Eine andere Akzentuierung erhalten konstruktivistische Systemtheorien, wenn das Konzept der Autopoiesis nicht nur auf lebende, sondern, wie in der soziologischen Systemtheorie LUHMANNs, auch auf soziale Systeme übertragen wird (vgl. LUHMANN 1984). Anders als bei MATURANA bilden sich für LUHMANN soziale Systeme nicht durch die Koordinierung subjektiven Verhaltens, sondern differenzieren sich gemäß eigener Systemlogiken relativ unabhängig von intentionalen Einwirkungen lebender Systeme aus. Wirklichkeit wird dieser Theorieauffassung zufolge nicht nur subjektiv konstruiert, sondern auch in 184
sozialen Systemen unter der Maßgabe ihrer jeweiligen Struktur sinnhaft strukturiert und kommunikativ gebildet. Mit dieser theoretischen Setzung abstrahiert LUHMANN von der traditionellen soziologischen Vorstellung kommunikativ handelnder Subjekte, die durch ihr sinnhaftes Handeln Gesellschaft hervorbringen, und definiert Kommunikation als Operationsmodus sozialer Systeme (vgl. LUHMANN 1984, S. 212; vgl. Kap. 6.4). Anders als bei MATURANA stellen daher in LUHMANNs Theorie Kommunikationsereignisse und nicht Individuen die Elemente sozialer Systeme dar. Die Autopoiesis sozialer Systeme besteht folglich in selbst produzierenden Kommunikationsereignissen. Für diese Theoriekonzeption muss LUHMANN MATURANAs Verständnis von Autopoiesis modifizieren. Der Begriff der Autopoiesis kann nur auf soziale Einheiten bezogen werden, wenn die Letzelemente autopoietischer Systeme nicht als konstante Entitäten aufgefasst werden, „wenn man davon ausgeht, dass die Elemente, aus denen das System besteht, keine Dauer haben können, also unaufhörlich durch das System dieser Elemente selbst reproduziert werden müssen“ (LUHMANN 1984, S. 28). Das bedeutet für die Autopoiesis sozialer Systeme, dass Kommunikation auf Anschlusskommunikation angewiesen ist und daher mit Sinn ausgestattet werden muss. Die im System zulässige Anschlusskommunikation wird durch die Struktur des Systems selektiert. Wie bereits in 3.2 gezeigt wurde, haben sich soziale Systeme in der Moderne als Funktionssysteme ausdifferenziert. Die Struktur eines Systems ist insofern sein funktionsspezifischer binärer Code, wie z.B. die Differenz von Zahlung/Nichtzahlung im Wirtschaftssystem, Recht/Unrecht im Rechtssystem oder gut lernen/schlecht lernen im Erziehungssystem. So sind etwa die Elemente des Interaktionssystems Unterricht nicht die Kinder einer Schulklasse, sondern alle Kommunikationsereignisse, die nach der binären Codierung gut lernen/schlecht lernen spezifiziert werden. Die Schüler sind Umwelt des Interaktionssystems Unterricht als Teil des gesamten Erziehungssystems. Der Mensch rückt in LUHMANNs Theoriedesign in die Umwelt sozialer, durch Kommunikation definierter Systeme. Im Unterschied zu MATURANAs Verständnis des Menschen als komplexes lebendes System differenziert LUHMANN (1995) stärker zwischen verschiedenen autopoietischen Systemen am Menschen. Er unterteilt die ‚Ganzheit des Menschen’, indem er zwischen dem Immunsystem, dem organischen System, dem neurophysiologischen System und dem psychischen System unterscheidet. Auch die Elemente dieser Systeme am Menschen werden temporalisiert gedacht, insofern z.B. biochemische Reaktionen und elektrische Impulse als Elemente biologischer Systeme gelten, Gedanken und Vorstellungen als Elemente psychischer Systeme. Da diese Elemente durch beschleunigten zeitlichen Verfall gekennzeichnet sind, wird die Autopoiesis der Systeme durch die Generierung psychischer bzw. biologischer ‚Anschlussereignisse’ sichergestellt. Da sich das Gesellschaftssystem über Kommunikationsereignisse und das psychische System über Bewusstseinsprozesse reproduziert, stehen sich die Systeme unhintergehbar als Umwelten gegenüber. Die Menschen verlieren in dieser Theoriekonstruktion die Stellung als intentional und kommunikativ handelnde Subjekte. Bewusstsein und Kommunikation sind zwar strukturell differente und unabhängig operierende, aber dennoch gekoppelte, wechselseitig voneinander abhängige Systeme. Die Koppelung besteht darin, dass Kommunikation Bewusstsein voraussetzt und psychische Systeme folglich Kommunikationssysteme reizen können. Gegenüber MATURANA wird an dieser Stelle die radikal individualistische Ausrichtung der Systemtheorie noch gesteigert. 185
Psychische Systeme sind nicht nur autopoietisch und in ihrer Nicht-Determinierbarkeit autonom, der Gedanke ihrer Selbstreferenz wird durch ihre Zuweisung an eine außersoziale Position verstärkt. LUHMANN sieht in der Trennung der Bereiche des Psychischen und des Sozialen die Chance, „den Menschen als Teil der gesellschaftlichen Umwelt zugleich komplexer und ungebundener zu begreifen, als dies möglich wäre, wenn er als Teil der Gesellschaft aufgefasst werden müsste. [...] Dem Menschen werden so höhere Freiheiten im Verhältnis zu seiner Umwelt konzediert [...]“ (LUHMANN 1984, S. 289). Entsprechend betont LUHMANN an anderer Stelle, dass die „Theorie autopoietischer, sich selbst ausdifferenzierender Systeme eine radikal individualistische Theorie ist, weil sie ihre Individuen nicht nur durch konkret einzigartige Merkmalskombinationen, sondern außerdem noch durch jeweils eigene, selbstkonstruierte Umweltperspektiven, also durch jeweils anders konstruierte Welteinschnitte kennzeichnet“ (LUHMANN 1995, S. 165). Der konstruktivistische Gedanke der Individualität und Autonomie des Individuums wird durch seine Stellung außerhalb der Gesellschaft radikalisiert. Umgekehrt spricht dieser Theorieentwurf dem Ich jedoch auch die Möglichkeit ab, Gesellschaft intentionalistisch nach Vernunftprinzipien zu gestalten. Der autopoietischen Selbstmacht des Ichs entspricht seine Ohnmacht gegenüber gesellschaftlichen Systemlogiken. Angesichts der Komplexität und Eigendynamik psychischer wie auch sozialer Systeme entziehen sich beide Systemtypen steuernden Zugriffen. In Anbetracht dieser Selbstorganisation von Systemen negiert LUHMANN die klassische Vorstellung des autonomen Subjekts als Leitkategorie für Erziehung und Bildung. Auch sozialutopische bzw. sozialreformerische Konnotationen pädagogischer Entwürfe, die darin bestehen, durch die Erziehung ‚neuer Menschen’ zur ‚Verbesserung’ der Gesellschaft beitragen zu wollen, werden aus dieser Sicht abgelehnt.
7.5
Dimensionen konstruktivistischer Instruktionskritik – Von der Vermittlungs- zur Ermöglichungs- und Autodidaktik
7.5.1
Über den Zusammenhang von situiertem, selbstorganisiertem und handlungsbezogenem Wissenserwerb in konstruktivistischen Lerntheorien
Reflexionen über Erkennen, Verstehen und Lernen sind im konstruktivistischen Diskurs eng miteinander verbunden. Konstruktivistische Epistemologie fragt grundsätzlich nach den Bedingungen der Wirklichkeitskonstruktion psychischer und sozialer Systeme und arbeitet somit gleichsam Einsichten in die Grundlagen von Lernprozessen heraus. Die Lernbiographie eines lebenden Systems wird daher auch als ‚Ontogenese seines Erkennens von Welt’ begriffen. Das bedeutet, dass Menschen ihre kognitiven Wirklichkeiten durch Lernen jeweils neu hervorbringen – ein Konstruktionsakt, der im konstruktivistischen Diskurs mit unterschiedlichen Begriffen wie „Re-framing“ (vgl. WATZLAWICK 2005) oder „conceptual change“ (vgl. KAISER 2004) belegt wird. Die Kernaufgabe konstruktivistischer Lerntheorien besteht darin, lerntheoretische Annahmen aus dem epistemologischen Theoriezusammenhang zu extrahieren und in Modelle einer ontogenetischen Strukturlogik des 186
Lernens zu überführen. Eine stärkere Trennung zwischen erkenntnistheoretischen und wissenspsychologischen Reflexionen ist hingegen für moderate Ausprägungen konstruktivistischen Denkens in der Pädagogischen Psychologie kennzeichnend. Diese Ansätze konzentrieren sich auf die Analyse konstruktivistischer Prozesse des Denkens und Lernens aktiv handelnder Subjekte, ohne die These der Eigenkonstruktivität des Wissens erkenntnistheoretisch auszudeuten und zu problematisieren. Mit dem Situations-, Beziehungs- und Handlungsbezug sollen im Folgenden grundlegende Dimensionen des konstruktivistischen Lernbegriffs in ihren systematischen Zusammenhängen nachgezeichnet werden, die sowohl für moderate als auch für explizit erkenntnistheoretisch angelegte Varianten des Konstruktivismus Geltung beanspruchen. Systemisch-konstruktivistische Theorien beschreiben Lernen übereinstimmend als Regulierung der System-Umwelt-Beziehung. In Anlehnung an MATURANA und VARELA fasst HUSCHKE-RHEIN Lernen als Gestaltung der strukturellen Koppelung eines autopoietischen, nicht determinierbaren Systems mit seiner Umwelt. So kann er Lernen als „Organisation von Selbstsein auf höchstem Komplexitätsniveau im Verhältnis zu einer Umwelt“ definieren (HUSCHKE-RHEIN 2003, S. 124). Lernen meint hier nicht das passives Aufnehmen von Wissensinhalten aus der Umwelt, sondern die aktive Selbsthervorbringung lebender Systeme in bestimmten materiellen und sozialen Umgebungen. Dieser erweiterte Lernbegriff bezieht Lernen auf die ganze Person in ihren Umweltbezügen, d.h. auf die Koppelung kognitiver, emotionaler und biophysischer Systeme am Menschen und ihr Verhältnis zu Umweltsystemen. WATZLAWICK sieht in diesem erweiterten Lernbegriff ein neues Menschen- und Weltbild, das die traditionelle „monadische“ Auffassung von Persönlichkeit als festes und relativ persistentes Gefüge psychischer Strukturen und Persönlichkeitsmerkmale ablöst (WATZLAWICK 2005, S. 58ff.). In der selbsttätigen Organisation einer viablen System-Umwelt-Beziehung stehen Mensch und Welt komplementär zueinander. „Die Welt ist nicht mehr Gegenstand im ursprünglichen Sinne des Wortes, d.h. etwas, das uns gegenübersteht“ (ebd., S. 65) und in seiner Objektivität anzueignen ist, sondern ein selbsttätig zu gestaltendes und zu deutendes Beziehungsgeschehen. Aus diesem Grund sieht der Psychotherapeut WATZLAWICK die Ursachen psychischer Störungen in der Beziehung eines Individuums mit seiner sozialen Umwelt und nicht in ‚kranken Seelen’. Lernen als Erzeugung viabler Wirklichkeiten meint in dieser therapeutischen Dimension das Umdeuten von erlebter Wirklichkeit nach der Devise: „So wie ich die Lage sah, war es ein Problem; nun sehe ich sie anders, und es ist kein Problem mehr“ (ebd., S. 124). In der konstruktivistischen Kognitionspsychologie findet diese Modellierung des Verhältnisses von Person und Umwelt in einem relationalen Wissensbegriff Ausdruck, mit dem Lernen als erfahrungsbasierte neuronale Strukturveränderung konzeptualisiert wird, die aus der Koordination von Person und den Handlungsofferten und -Restriktionen der Umwelt resultiert (vgl. GREENO 1989). Die Integration der Interaktionskontexte lebender Systeme in die Definition des Lernens ist abgeleitet aus der konstruktivistisch-systemischen Grundannahme, dass ein System nur dann überlebt, wenn es seine Autopoiesis durch die Herstellung und Aufrechterhaltung der Passung von System und Umwelt fortsetzen kann. Lernen als System-UmweltKoppelung muss notwendigerweise als kontextgebundener, situativ verankerter Prozess begriffen werden. Lernen ist somit immer eine hoch individuelle und selbstgesteuerte Konstruktionsleistung, denn autopoietische und dadurch per se individuelle Systeme konstruie187
ren unterschiedliche Beziehungen mit ihren jeweiligen Umwelten. An dieser Begriffsbestimmung werden drei auf einander bezogene Kerngedanken deutlich, die im Zentrum des konstruktivistischen Lernbegriffs und seiner didaktischen Rezeption und Weiterentwicklung stehen: (1)
Aufgrund seiner Selbstreferenz, d.h. seines Bezugs auf das autopoietische System, ist Lernen als systeminterne Bedeutungskonstruktion immer Selbstlernen und kann nicht durch fremdgesteuerte Informationsübertragung bewirkt werden. Konstruktivistische Didaktiker schlussfolgern aus diesem Lernverständnis die Überlegenheit eigenaktiver, selbsttätiger, handlungsintensiver und situativ verankerter Lernformen gegenüber der abstrahierenden instruktionslogischen Wissensvermittlung im lehrgangsorientierten Unterricht (vgl. VOß 2005; BRÜGELMANN 2002; SIEBERT 2001; ARNOLD/SCHÜßLER 1998).
(2)
Lernens als System-Umwelt-Koordination ist stets Selbstsozialisation (vgl. Kap. 4.2.1). Eine qualitative Trennung zwischen ‚abstraktem Bildungslernen’ und ‚situiertem, anwendungsbezogenem Alltagslernen’ ist aus dieser Sicht nicht sinnvoll, da Lernen prinzipiell auf strukturelle Koppelungen mit bestimmten Umwelten bezogen ist. Die Konstruktion von Wissen ist immer in bestimmten settings situiert, die nach MATURANA das Medium zur Unterstützung und Aufrechterhaltung der Autopoiesis darstellen. Im Anschluss an diesen Gedanken heben Vertreter des ‚konstruktivistischen Situationismus’ in der Lehr-Lerntheorie die Kontextgebundheit und situationsspezifische Aktivierbarkeit des Wissens hervor und begründen damit ihr didaktisches Plädoyer für handlungsorientiertes Lernen in authentischen oder gut simulierten Problemsituationen des Alltags (vgl. KLAUER 1999).
(3)
Mit Rekurs auf den System-Umwelt-Bezug des konstruktivistischen Lernbegriffs wird die soziale und kooperative Dimension des Lernens im Unterricht didaktisch unterstützt. Die Rolle der Mitlernenden in der Organisation von Lernprozessen ist in konstruktivistischen Didaktikentwürfen aufgewertet, umgekehrt ist die Rolle des Lehrers auf den Status des Lernberaters oder Moderators reduziert (vgl. RAGALLER 2004). In seiner ‚interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik’ hebt KERSTEN REICH die Beziehungsseite des Unterrichts besonders hervor (vgl. REICH 1997; 2002). Aus systemischer Perspektive bilden Lehrer und Schüler ein zirkuläres, komplexes und differenziertes Beziehungssystem. REICH kritisiert die Vernachlässigung der Beziehungs- gegenüber der Inhaltsseite des Unterrichts in traditionellen didaktischen Theorien. Er geht davon aus, dass „je kongruenter und dialogischer Beziehungen gestaltet werden, desto wahrscheinlicher [...] auch eine gelungene Inhaltsvermittlung (ist)“ (REICH 2002, S. 52). REICH bezieht sich u.a. auf WATZLAWICK, der in dem 2. Axiom seiner bekannten Kommunikationstheorie die These vertritt, dass „jede Kommunikation einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt (hat), derart, daß letzterer den ersten bestimmt und daher eine Metakommunikation ist“ (WATZLAWICK/BEAVIN/JACKSON 1969, S. 61). WATZLAWICK illustriert diese These am so genannten ‚Eisbergmodell’. Die Inhalte, mit denen Menschen in kommunikative
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Beziehungen treten, sind nur die Spitze eines Eisberges. Die entscheidende Größe, die Beziehungsebene, liegt verborgen unter der Wasseroberfläche. Aus diesem Grunde plädiert REICH dafür, dass Professionsverständnis des Lehrers nicht nur am Inhaltsaspekt des Unterrichts auszurichten. Im Kommunikationssystem Unterricht müsse der Lehrer die ‚Distanz’ zu seinen Schülern aufgeben und sich als Teil des Systems Schulklasse begreifen und nicht nur als Vertreter seines Fachs. Angesichts der Reziprozität der Beziehungen können nicht einzelne Systemkomponenten einseitig hervorgehoben werden. Aus dieser These leitet REICH die Forderung ab, sowohl die Individualität der Schüler als auch des Lehrers zu berücksichtigen und beiden Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung zuzugestehen. An den referierten Dimensionen des systemisch-konstruktivistischen Lernbegriffs wird erkennbar, dass eine Komplementarität zwischen selbsttätigem, situiertem, sozialem und kooperativem Lernen besteht. Instruktionskritik kann so mit Bezug auf den Gedanken der Selbstreferenz, der situativen Verankerung sowie des Beziehungsaspekts des Lernens artikuliert werden. Der übergreifende theoretische Bezugspunkt dieser Dimensionen des konstruktivistischen Lernbegriffs liegt im Konzept der Selbstregulierung der System-UmweltBeziehung. Im Folgenden soll eruiert werden, wodurch dieses ‚Selbst’ des Lernens gekennzeichnet ist. Die Frage, ob Lernen als Selbstorganisation struktureller Koppelungen zwischen System und Umwelt, wenn nicht als Umweltdetermination, dann als Resultat einer ‚genzentrierten Entwicklung’ begriffen werden kann, wird im konstruktivistischen Diskurs mehrheitlich verneint. Unterscheidet man theorieübergreifend die Determinanten des Lernens hinsichtlich autogener Faktoren (Selbststeuerung), exogener Faktoren (Steuerung durch die Umwelt) und endogener Faktoren (Steuerung durch die genetische Ausstattung), wird deutlich, dass der konstruktivistische Diskurs die Anlage und Umweltsteuerung des Lernens ausblendet und stattdessen Selbststeuerung als zentralen Entwicklungsfaktor herausstellt. Nach ROLF MONTADAs Typologie von Entwicklungstheorien können konstruktivistische Theorien daher zu den ‚Selbstgestaltungstheorien’ gezählt werden (MONTADA 1998, S. 7). Im Unterschied zum humanistischen Freiheitsverständnis wird Selbstgestaltung jedoch nicht als reflexive Selbstentwicklung des Subjekts begriffen, sondern als autopoietische Selbsthervorbringung von Systemen in ihren Umwelten (vgl. Kap. 7.4.1). So beruht beispielsweise MATURANAs Konzept von Intelligenz nicht auf erblich oder umweltbedingten kognitiven Leistungsunterschieden, sondern auf der allen Lebewesen konzedierten Fähigkeit, ihr Verhalten in einer sich ständig wandelnden Umwelt selbstgesteuert zu variieren: „Allein das Faktum, dass wir in einem Bereich der Koordination von Verhaltensweisen existieren, macht uns allesamt in gleicher Weise zu intelligenten Lebewesen. Natürlich gibt es unterschiedliche Erfahrungen und Vorlieben, Interessen und auch Fähigkeiten [...]. Aber ich behaupte, dass jeder Mensch, wenn er nur will, zu lernen vermag, was ein anderer auch lernen konnte“ (MATURANA 2002, S. 77). Lernen als Selbstorganisation der System-Umwelt-Beziehung vollzieht sich lebenslang. Die postulierte Selbsthervorbringungskraft lebender Systeme unter wandelnden Umweltbedingungen kritisiert ARMIN BERNHARD als „autopoietische Verwandlungskünste“ (BERNHARD 1999, S. 295) und bringt damit zum Ausdruck, dass Lernen nicht immer so reibungslos funktioniert, wie konstruktivistisch-systemische Theoriekonzepte suggerieren. 189
Dieser Eindruck wird durch die Alltagserfahrung vieler Menschen bestätigt: Lebenslanges Lernen, konstruktivistisch ausgedrückt: die Gestaltung struktureller Koppelungen in sich beschleunigt verändernden Umwelten, wird häufig als Belastung und Bedrohung der Identität erlebt, insbesondere, wenn es durch Anpassungsdruck an neue Situationen erzwungen ist. Das konstruktivistische Autopoiesis-Modell kann – und hierin passt es in die derzeitige bildungspolitische und ökonomische Diskussion – keine analytisch-kritische Unterscheidung zwischen der selbstbestimmten Flexibilität autonomer Subjekte und dem Zwang zu lebenslangem Lernen durch gesellschaftlichen Mobilitätsdruck treffen. Anstelle von ‚Viabilität’ müsste in vielen Fällen eher von ‚Anpassungsdruck’ an objektive Umweltvorgaben die Rede sein. Augenscheinlich ist es eine unzureichende Vereinfachung, die Passung von System und Umwelt am Problem der Aufrechterhaltung der Autopoiesis (des Lebens) festzumachen. Betont man in dieser Weise ausschließlich den Lebensbezug des Lernens, kann so lediglich erklärt werden, dass nur diejenigen Perturbationen für das System anschlussfähig sind, die lebensbedeutsam sind. HUSCHKE-RHEIN spricht in diesem Zusammenhang vom „autopoietischen Vorbehalt“ des Lernens, der im konstruktivistischen Diskurs als Grund für die Autonomie des Lerners gegenüber seiner Umwelt angesehen wird (HUSCHKE-RHEIN 2003, S. 119). Diesem Verständnis zufolge konstruiert der autonome Lerner selbstgewählte strukturelle Koppelungen mit seiner Umwelt. Die Anbindung des Lernens an die Förderung der Autopoiesis in einer bestimmten Umwelt stellt jedoch eine zu undifferenzierte Erklärungskategorie dar, der jegliche Konstruktionen und Handlungen zugeordnet werden können und die dadurch zu breit angelegt ist, um das Problem der Kompatibilität von System und Umwelt hinreichend begreiflich zu machen. Für eine systemische Analyse des hier in Rede stehenden Passungsproblems wäre eine genauere Operationalisierung der Kriterien notwendig, die das Spannungsverhältnis von lernendem System und Umwelt bestimmen. Eine solche differenzierte Analyse der Bestimmungsstücke der System-Umwelt-Passung findet sich bei BRANDTSTÄDTER, der nach MONTADA die Passung zwischen „(a) den Entwicklungszielen des Individuums selbst, (b) seinen Entwicklungspotentialen (Dispositionen, Kompetenzen, usw.), (c) den Entwicklungsanforderungen im familiären, schulischen, subkulturellen Umfeld des Individuums, d.h. den dort existierenden alters-, funktions- oder bereichsspezifischen Standards sowie (d) den Entwicklungsangeboten (Lern- und Hilfsangeboten, Ressourcen) in der Umwelt des Individuums“ unterscheidet (MONTADA 1998, S.11). Auf Basis dieser Bestimmungselemente kann das Phänomen des Lernens als Überwindung der Diskrepanz von autogenen, endogenen und exogenen Ressourcen und Anforderungen durch Handeln und Erfahrungsbildung einer differenzierten Betrachtungsweise zugänglich gemacht werden. Die pädagogische Gestaltung von Lernumgebungen muss sich diesem Lernverständnis zufolge an der Dosierung dieser Diskrepanz messen lassen. Pädagogisches Handeln kann daran anschließend als Hilfe zur selbsttätigen Überwindung der Diskrepanz begriffen werden. Durch den Bezug auf das Autopoiesis-Theorem verstellt sich konstruktivistischer Pädagogik jedoch die Möglichkeit, die postulierte Passung der Schüler als lebende Systeme und der Schule als soziale Umwelt im Sinne eines zu überbrückenden, aber nicht zu lösenden Spannungsverhältnisses zu konzeptualisieren. Die Forderung nach Passung bleibt bei konstruktivistischen Didaktikern daher oft verkürzt, da vorwiegend auf die Anschlussfähigkeit der Inhalte und Methoden rekurriert
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wird, ohne Lernen als durchaus auch schwierige Diskrepanzüberwindung zwischen systeminternen und systemexternen Faktoren in den Blick zu nehmen. Wie oben bereits erläutert, besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen der kognitiven Selbstorganisation, dem Situationsbezug sowie der Handlungsorientierung und Anwendungsbezogenheit des Lernens. HUSCHKE-RHEIN (2003, S. 125) geht in diesem Zusammenhang von einer „Zirkularität von Lernen, Erfahren und Handeln“ aus. Wie CHAREL MAX betont, sind diesem Verständnis zufolge mentale Repräsentationssysteme „nicht als passive Speicher, sondern als aktive, das Verhalten steuernde Elemente“ zu verstehen (MAX 1997, S. 63). Wissen ist demzufolge per se Handlungswissen. Im konstruktivistischen Ansatz steht eine bestimmte Art der Handlungs- und Anwendungsorientierung der Wissenskonstruktion im Vordergrund. Wenn Lernen der strukturellen Koppelung eines Systems mit seiner Umwelt dient, dann sind die Lernoperationen eines Systems zuerst durch dessen unmittelbares Interaktionsumfeld gerahmt. Ziel der kontextuell gebundenen Selbsthervorbringung von Systemen ist es, die Umwelt im Lernprozess nach eigenen (systemrelativen) Absichten zu strukturieren, um erfolgreich handeln zu können. Diese Annahme setzt voraus, dass Menschen ihre Erfahrungen zu ‚viablen’ Handlungs- und Deutungsschemata systematisieren, um weiterhin erfolgreich handeln zu können. Folglich ist das, was gelernt wird, vom Interesse am viablen Operieren in bestimmten Umweltkontexten geleitet und fragt nicht nach den objektiven Eigenschaften der Lerngegenstände. Zu Recht kritisiert daher JOACHIM LUDWIG, dass der konstruktivistische Lernbegriff „keinen inhaltlich-bestimmten, kritisch-reflexiven Zugang zu Lerninhalten und Lernbegründen“ eröffnet (LUDWIG 1999, S. 669), sondern nur einen subjektiv-pragmatischen. Kognitive Strukturen werden hinsichtlich ihrer Funktion in der subjektiv erlebten Wirklichkeit bewertet und nicht nach dem Grad ihrer Wirklichkeitsanpassung. Wissen kommt dementsprechend der Status einer aus Erfahrung abstrahierten, systemspezifisch internen Konstruktion zu, die vom Wahrheitsanspruch befreit ausschließlich im Dienst des Selbst steht. Es handelt sich beim Wissenserwerb um die Generierung von Vorstellungen (deklaratives Wissen) und Handlungsschemata (prozedurales Wissen), die auch zukünftig viables Handeln in konkreten Wirklichkeitszusammenhängen erwarten lassen. Die oben diskutierten neurobiologischen und emotionstheoretischen Thesen liegen als integrale Bestandteile konstruktivistisch-systemischen Denkens auch diesem Lernverständnis zugrunde. So konstatieren Hirnforscher wie MANFRED SPITZER und GERHARD ROTH einen direkten Zusammenhang zwischen der persönlichen Erfahrung, der Entwicklung kognitiver Modelle und den bei diesen Prozessen mitlaufenden Emotionen. Der Prozess des Wissenserwerbs basiert auf der Interpretation von Erfahrungen. Die auf Basis des Vorverständnisses konstruierten Bedeutungen ermöglichen die Differenzierung synaptischer Verbindungen – ein Vorgang, der im neurobiologischen Konstruktivismus als ‚Hardware’ des Lernen illustriert wird (vgl. SPITZER 2002; ROTH 2004c). Analog zur Differenzierung synaptischer Verbindungen wird in Bezug auf das Bewusstseinssystem die Differenzierung der Wahrnehmung als psychische Erscheinungsform des Lernens ausgewiesen (vgl. SIEBERT 2002, S. 70). Der Erfolg des Lernens bemisst sich am Grad der Differenzierung der synaptischen Verbindungen und mithin der Wahrnehmung (Perspektivenvielfalt), durch den die Möglichkeiten viablen Denkens und Handelns steigen. Mit SIEGFRIED J. SCHMIDT ausgedrückt: Durch Lernen erfolgt die „Zunahme und/oder Veränderung der kognitiven Möglichkeiten zur Erzeugung neuer und 191
über-lebensrelevanter Wirklichkeiten“ (SCHMIDT 1992, S. 432; zit. nach SIEBERT 1998, S. 282). Zu diesem pragmatischen Lernbegriff gehört der Aspekt der ‚Homöostase’, der innersystemischen Regulierung des Gleichgewichts zwischen der Aufrechterhaltung und der Modifikation von Wirklichkeitskonstruktionen. So kann auch trotz Perturbationen und Verunsicherungen der zeitweilige Verzicht auf Lernen sinnvoll sein, um die bis dato subjektiv viablen, das Denken und Handeln leitenden Wirklichkeitskonstruktionen nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zwingende Konsequenz der Integration der Umwelt in den konstruktivistischen Lernbegriff ist eine grundsätzliche Problematisierung des Lerntransfers. Wenn der Erwerb des Wissens unauflöslich mit dem Lernkontext verbunden ist, ist Wissen nur situationsspezifisch abrufbar. Im systemisch-konstruktivistischen Theoriezuschnitt bleibt der Erwerb von Wissen auf denjenigen Wirklichkeitsausschnitt begrenzt, der dem eigenen Handeln zugänglich ist. Das bedeutet etwa, dass Schüler nur durch unmittelbares Erfahrungslernen in ihren konkreten Lebenswelten Wissen erwerben, da strukturelle Koppelungen nur mit unmittelbaren und nicht mit potentiellen zukünftigen Settings organisiert werden können. Diesem Verständnis zufolge ist Lernen durch seinen Handlungs- und Anwendungsbezug gegenwartszentriert und situativ gebunden. Lernen hat sozusagen seinen Sitz im augenblicklichen Leben, im ‚Hier und Heute’ und wird nicht als Akkumulation von Wissen für spätere Zwecke wahrgenommen. Die konstruktivistische Kognitionspsychologie misst diesem Situiertheitsgedanken paradigmatische Bedeutung bei (vgl. GREENO et al. 1993; SUCHMAN 1997). In Abgrenzung zum kognitivistischen Paradigma der Psychologie formiert sich unter der Bezeichnung „situiertes Lernen“ bzw. „situierte Kognition“ eine Theorie- und Forschungsrichtung, die mit dem Anspruch einer grundsätzlichen Neuorientierung des lernpsychologischen Feldes auftritt und der Grundprämisse kognitivistischer Transferforschung widerspricht, dass erlerntes Wissen prinzipiell situationsübergreifend aktivierbar ist. Popularität erlangte die Theorie der situierten Kognition, weil sie eine eingängige Erklärung für das viel beklagte Problem des ‚trägen Wissens’ bereitstellt. Begründet wird die Diskrepanz von Wissen und Können mit strukturellen Differenzen zwischen Lernsituationen und Anwendungssituationen. Aufgrund seiner Kontextgebundenheit ist Wissen, so die zentrale Schlussfolgerung, nur in strukturell ähnlichen Situationen anwendbar. Folgerichtig trennt sich eine Reihe konstruktivistischer Ansätze völlig vom Transferbegriff. An seine Stelle tritt die Rede „von kontextualisiertem Wissen und von der Notwendigkeit einer Dekontextualisierung in Hinblick auf eine flexible Anwendbarkeit des Wissens“ (PRENZEL/MANDL 1993, S. 702). Nach Maßgabe des konstruktivistischen Grundverständnisses wird davon ausgegangen, dass Konstruktionsprozesse sowohl in der Lern- als auch in der Anwendungsphase ablaufen. Im Anschluss an MESSNER (1978) kann begrifflich unterschieden werden zwischen „Konstruktion“ im Sinne von Lernen und „Rekonstruktion“ im Sinne von Anwenden des Gelernten in anderen Situationen. Weiter unterscheidet MESSNER zwischen veränderten und unveränderten Rekonstruktionen unter vertrauten und neuen Bedingungen. Wie MANFRED PRENZEL und HEINZ MANDL auf der Grundlage dieser konstruktivistischen Reformulierung des Transferbegriffs erläutern, wird nicht nur der Inhalt, sozusagen der Text, in Lernprozessen konstruiert, sondern zugleich die Bedeutung des Wissens für zukünftige Anwendungen, die unter dem Begriff des Kontexts firmiert: „Wissen und Anwendung (Kontext) werden also 192
in der Konstruktion untrennbar verknüpft, das Wissen ist ‚kontextualisiert’“ (PRENZEL/ MANDL 1993, S. 704). Gemäß dieser Auffassung ist zu unterscheiden zwischen dem Inhalt des Wissens (Intention), der die Menge potentieller Anwendungen festlegt, und der subjektiven Kontextualisierung des Wissens (Extension), die als Teilmenge der potentiellen Anwendungen begriffen werden kann. Nach dieser Modellvorstellung hängt die flexible Aktivierbarkeit des Wissens entscheidend vom Umfang des subjektiven Anwendungsbereichs ab. Daraus folgt die Theorieannahme: Je abstrakter, desto träger ist das Wissen, denn ein potentiell großer Anwendungsbereich, wie er bei abstraktem Wissen gegeben ist, nützt dem Subjekt nicht per se. Entscheidend ist die Menge seiner Verknüpfungen mit subjektiven Anwendungskontexten. Daran anschließende didaktische Konzepte rücken eine induktive Ausrichtung schulischen Lernen in ihren Mittelpunkt, wonach Wissen aus multiplen Anwendungsbezügen heraus abstrahiert wird. Dies käme in etwa einer Umkehrung der HERBARTschen Formalstufen des Unterrichts gleich, nach deren ‚Psycho-Logik’ die Anwendung des Gelernten auf praktische Fragen erst nach der Phase der Anschauung erfolgt. Anders als abstrakt dargebotenes und aufgenommenes Wissen ist derart abstrahiertes Wissen flexibel anwendbar, weil es aus einer Fülle von Anwendungen heraus generiert wurde (ADAMS 1989). Der Erwerb des Wissens sollte, so wird weiter aus dem Situiertheitsansatz gefolgert, in authentischen Lernumgebungen stattfinden, die nach dem Vorbild realer Anwendungssituationen gestaltet sind. Hier findet der theoretische Zweifel an der Möglichkeit des Transfers in besonders augenfälliger Weise didaktischen Ausdruck. In Anbetracht der geringen Bedeutung, die man der Transferierbarkeit von Wissen beimisst, muss man buchstäblich die Aufgaben einüben, die im außerschulischen Leben von Belang sind. Wie KARL JOSEF KLAUER deutlich macht, ist die Programmformel ‚Authentizität’ zweifach bestimmt. Zum einen soll schulisches Lernen durch den Bezug auf die Alltagswelt der Kinder situativ in deren Leben verankert werden (gegenwartsorientiertes Lernen), zum anderen soll eine Nähe hergestellt werden zwischen Lernsituationen und typischen zukünftigen Anwendungskontexten, welche die Nutzung situativ eingebetteten Wissens erleichtern soll (zukunftsorientiertes Lernen) (vgl. KLAUER 1999, S. 118). In aktuellen didaktischen Diskussionen über situiertes Lernen finden drei, unter den Bezeichnungen ‚anchored instruction’, ‚cognitive apprenticeship’ und ‚cognitive flexibility’ firmierende Ansätze, besondere Beachtung (vgl. REINMANN-ROTHMEIER/MANDL 2001). Die Bezeichnung ‚anchored instruction’ verweist auf die Vorgabe realitätsnaher Lernanker. Zur Verankerung des Wissens in authentischen Anwendungsbezügen verwendet man fallorientierte Lernformen, bei denen oftmals virtuell dargebotene Problemsituationen auf der Grundlage des eigenen Vorwissens sowie medial vorgegebener Informationen selbstgesteuert zu lösen sind. Die Problemsituationen werden bevorzugt in attraktive Kurzgeschichten integriert, zu deren positiver Auflösung die Lerner bestimmte Herausforderungen bewältigen müssen. Die Identifikation mit dem Helden der Geschichte befördert motivational die Lösung des Problems. Der ‚cognitive apprenticeship’-Ansatz organisiert demgegenüber die praxisnahe Kontextualisierung des Wissens nach dem Vorbild der Handwerkslehre, worauf bereits mit der Begriffwahl ‚apprenticeship’ verwiesen wird. Intendiert wird die Einführung des Schülers in eine ‚Expertenkultur’ durch aktive Partizipation an der Bearbeitung realer Problemsituationen im Rahmen kooperativen Lernens und Arbeitens. Trotz der konstrukti193
vistischen Akzentuierung der Selbstorganisation des Lernens wird die Orientierung an kognitiven Modellen in den Mittelpunkt gestellt. Durch die Verbalisierung von Denkprozessen vermitteln Experten Novizen Einblicke in die Struktur ihres Wissens und dessen strategischer Nutzung in Problemlösesituationen. Ähnlich wie beim ‚anchored instruction’Ansatz werden Lernende mit realitätsnahen, dadurch komplexen und nicht didaktisch reduzierten Problemsituationen konfrontiert. Der Unterschied zwischen den Ansätzen besteht darin, dass die ‚cognitive apprenticeship’ an die unterrichtliche Progression traditioneller Auffassungen schulischen Lernens anschließt. Als „fading“ wird in diesem Zusammenhang die Zurücknahme der Hilfestellung durch kognitive Vorbilder verstanden, die einhergeht mit der Zunahme des Selbstvertrauen und des strategischen Wissen des Lerners. Auch die ‚cognitive flexibility’-Theorie vermeidet didaktische Reduktionen von Komplexität und konfrontiert den Lerner von Beginn an mit der Vielschichtigkeit und Irregularität realer Problemsituationen. Mit Hilfe des in diesem Zusammenhang prädestinierten Landscape Criss-Crossing-Verfahrens werden (oftmals technologische) Ansätze in unterschiedlichen Kontext- und Zielbezügen multiperspektivisch angewandt. Das erworbene Wissen soll so flexibel angelegt und facettenreich kontextualisiert werden. Selbstgesteuert verläuft das Lernen in allen hier thematisierten Ansätzen situierten Lernens, weil die Lernenden selbst die nötigen Schritte zur Lösung der Problemaufgaben auswählen und erproben müssen (vgl. REINMANN-ROTHMEIER/MANDL 2001). Diese Gestaltungsprinzipien von Unterricht haben in der Tradition reformpädagogischen Denkens unter der Bezeichnung ‚lebensnahes Lernen’ eine lange Tradition. Der Situiertheitsgedanke ist also als bekannter Topos pädagogischer Reformsemantik vorauszusetzen (vgl. Kap. 2). Mit Verweis auf die Lebensferne der Schule konstruieren ältere und neuere Varianten reformpädagogischer Schulkritik einen Antagonismus zwischen dem wirklichen Leben und der Künstlichkeit schulischen Lernens und übersehen dabei, dass Unterricht eine gesellschaftliche Veranstaltung ‚sui generis’ ist, die eigenen institutionellen Logiken und Organisationsformen folgt. Wie bereits mehrfach in dieser Arbeit hervorgehoben, halten klassische reformpädagogische Topoi im Zuge des erstarkenden bildungstheoretischen Pragmatismus wieder Einzug in aktuelle didaktische und bildungspolitische Diskussionen – so auch die Forderung nach mehr Lebensnähe, die in Gestalt des Ansatzes des situierten Lernens auftritt, und im Zusammenhang der Frage nach didaktischen Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen das Interesse auf sich zieht. Nicht so sehr aus den Ergebnissen der internationalen Vergleichstests, sondern aus der theoretischen Konzeption von PISA und Literacy schlussfolgern CORNELIA GRÄSEL und ILKA PARCHMANN, dass „eine verstärkte Verstehens- und Anwendungsorientierung im Unterricht wünschenswert ist“, in deren Zusammenhang sie die schulische Ausweitung situierten und selbstgesteuerten Lernens sehen (GRÄSEL/PARCHMANN 2004, S. 172). Die Konvergenz zwischen den Bildungszielen von PISA und den konstruktivistischen Ansätzen situierten Lernens liegen für die Autorinnen in einem gemeinsamen „funktionalen Verständnis von Literacy oder Grundbildung“ (ebd. S. 172), das die Anwendbarkeit von allgemein gesellschaftlich und speziell wirtschaftlich relevanten Basiskompetenzen in den Vordergrund stellt und als Grundsteine für lebenslanges Lernen definiert. Dass die Deutsche Schule einem anderen bildungstheoretischen Grundverständnis verhaftet ist, wird an dem PISA-Befund sichtbar, dass Schüler
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Aufgaben, die auf Faktenwissen basieren, gut beantworten können, Aufgaben, welche die pragmatische Anwendung konzeptuellen Wissens erfordern, indes weniger gut. Hierin zeigt sich, dass Schulunterricht traditionell einen anderen Weg wählt, um Schüler auf die Anforderungen zukünftiger Situationen vorzubereiten. Wie ANNETTE SCHEUNPFLUG zeigt, haben sich Schule und Unterricht in bewusster Trennung zum Leben und naturwüchsigen Lernen in Familie und Werkstatt ausdifferenziert. Dies beruht auf der Voraussetzung, dass die Abstraktion des Wissenserwerbs im schulischen Unterricht den Anschluss an unspezifische Situationen der kontingent gewordenen Zukunft moderner Gesellschaften ermöglicht (SCHEUNPFLUG 2000). Damit beruht die gesellschaftliche Legitimation von Schule auf einer Grundannahme, die dem konstruktivistischen Lernbegriff entgegensteht. Ein an Situationen gebundener Kompetenzerwerb durch Eigenerfahrung, für den sich der pädagogische Konstruktivismus stark macht, kennzeichnet das Lernen in konkreten Praxiszusammenhängen, wie es für vormoderne Gesellschaften typisch ist. In der Moderne wurde dieser Lernmodus durch die Evolution allgemein bildenden Unterrichts auch aus dem Grunde überwunden, weil Enkulturation angesichts des sich ‚explosionsartig’ vergrößernden Wissensbestandes nur durch systematischen, curricular verankerten Wissenserwerb möglich ist. Vor dem Hintergrund gesellschaftstheoretischer und kultursoziologischer Sichtweisen ist die pädagogische Forderung, Unterricht an Eigenerfahrung in lebensnahen Situationen zu orientieren, widersprüchlich. Auf der einen Seite entspricht dieses didaktische Postulat der gegenwartszentrierten Mentalität in spätmodernen Gesellschaften und dem kulturellen Imperativ zu Flexibilität und zu selbstgesteuerten Lernen, auf der anderen Seite erscheint es mit Blick auf die Evolution allgemein bildenden Unterrichts als Rückzug aus modernen Formen des Unterrichts zurück zur ‚mittelalterlichen Meisterlehre’. Folgt man den Überlegungen zur Evolution des Unterrichts, leuchtet es ein, warum Lernen in allgemein bildenden Schulen nur sekundär auf den Erwerb situativ verwertbaren Handlungswissens bezogen werden kann. Zunächst ist zu konzedieren, dass potentielle Anwendungen unweigerlich häufig Aufschub erdulden müssen. Es muss auch realistischerweise in Rechnung gestellt werden, dass nicht alle Lerninhalte im späteren Leben der Schüler Verwendung finden können. Aber wäre dies ein Grund, Schüler nicht in abstrakte theoretische Denkweisen einzuführen und stattdessen schulisches Lernen situativhandlungsorientiert zu verengen? Zumindest nicht, wenn man den Gedanken der allgemeinen Bildung als Leitidee für schulischen Unterricht betont und damit an der Überzeugung festhält, dass Persönlichkeitsentwicklung mehr und anderes umfasst als systemische Verwertungslogiken Personen abverlangen. Bildungslernen verweist gegenüber konstruktivistischem Handlungslernen auf einen grundsätzlich anderen Modus der Aneignung von Welt. Wie HERMANN GIESECKE betont, ist es „der Sprung vom reinen Handlungsinteresse hin zur Objektivität der Dinge, also zu ihrer eigentümlichen, nicht subjektiv immer schon präformierten Existenz“, der „den Übergang zur Bildung“ konstituiert (GIESECKE 1998, S. 48f.). Bildung ist hier bezogen auf den Gedanken des Verstehens von Welt und Horizonten der Weltdeutung in ihrem So-Sein. Bildungslernen ist für GIESECKE ein Handlungslernen für eine kontingente Zukunft. Eine solche Reflexion von Bildung geht davon aus, dass die zweckfreie und nicht instrumentalisierte Weltaneignung förderlich für erfolgreiches Handeln ist. Resultat von Bildung ist nicht primär situativ gebundene Handlungskompetenz, sondern Deutungs- und Reflexionskompetenz. Wie verschiedene handlungstheoretische 195
Ansätze der Professionalisierungstheorie verdeutlichen, ist Reflexionskompetenz Grundlage von Handlungskompetenz in offenen, unstrukturierten, nicht-standardisierbaren und ambivalenten Problemsituationen. Daher kann professionelle Handlungskompetenz auch nicht ausschließlich durch situiertes Lernen erworben werden, sondern nur über die Habitualisierung des Zusammenspiels durch Bildung erworbener Deutungs- und Reflexionskompetenz und Handlungserfahrung in Praxiszusammenhängen (vgl. OEVERMANN 1996; KORING 1989, HELSPER 2000). Für ein solches Verständnis von Bildung als traditionale Alternative zum konstruktivistischen Lehr-Lernverständnis spricht auch, dass die Postulate zum Zusammenhang von Selbstorganisation, Handlungs- wie auch Situationsbezug des Lernens empirisch strittig sind. Für die Bewährung der Trennung zwischen abstrakter Instruktionsphase und späteren Anwendungen, die bereits von HERBART empfohlen wurde, sprechen eine Reihe von Forschungsergebnissen, wie ANDERSEN et al. in einer Metaanalyse einschlägiger lernpsychologischer Forschungsarbeiten zeigen (vgl. KLAUER 1998, S. 638). Ein fundamentaler Mangel des konstruktivistischen Lernbegriffs wie auch der Konzeption von Literacy besteht darin, den Unterschied zwischen Handlungslernen und Bildungslernen schlichtweg zu ignorieren (vgl. dazu auch Kap. 10.4).
7.5.2
Verstehen als ‚Erfinden’ oder ‚Entdecken’? Zur konstruktivistischen Kritik des sach- und instruktionslogischen Unterrichts am Beispiel allgemeindidaktischer und sprachdidaktischer Konzepte
In der Tradition bildungstheoretischen Denkens wird ‚Verstehen’ als Aneignung einer Sache, eines zu verstehenden Gegenstandes konzipiert. Darum sind bekanntlich bei VON HUMBOLDT Bildungsgänge durch das Bestreben des Menschen charakterisiert, „soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, wie er nur kann, mit sich zu verbinden.“ Dementsprechend besteht der Kern bildungstheoretischer Reflexionen im Kanonproblem: Wie gewinnt der Sich-Bildende in der Auseinandersetzung mit „einer möglichst geringen Zahl von Gegenständen [...] Verstehen, Wissen und geistiges Schaffen [...]“ (HUMBOLDT 1960, S. 198). Die Selbstbezüglichkeit des Verstehens ist auch in bildungstheoretischen Konzeptionen der Didaktik bekannt. Bildungsprozesse werden hier jedoch nicht als einseitige Entfaltung von Selbstreferenz im Sinne eines ‚Erfindens viabler Bedeutungen’ gedacht, sondern sozusagen als Prozess der ‚freien Wechselwirkung’ von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Unterricht steht so gesehen grundsätzlich in einem produktiven Spannungsverhältnis zu bisherigen Erfahrungen der Schüler. Wie bereits an den unterrichtlichen Formalstufen JOHANN FRIEDRICH HERBARTs zu erkennen, nimmt auch Lehrgangsunterricht Bezug auf die Lebenserfahrungen der Kinder. Erfahrungsorientierung oder konstruktivistisch ausgedrückt: ‚Anschlusslernen’ ist insofern keine reformpädagogische Besonderheit, die dogmatisch mit selbsttätigem Lernen der Schüler in offenen Lernumgebungen gleichgesetzt werden kann. Schulischer Unterricht ist prinzipiell ohne vorschulisch Erlerntes nicht realisierbar. Für HERMANN GIESECKE ist es daher nicht die entscheidende Frage, ob man bei den Erfahrungen der Schüler ansetzt, sondern in welche Richtung und mit welcher Steigerung schulische Bildungsgänge im Anschluss an das Vorwissen der Kinder verlaufen sollen (GIESECKE 196
1998, S. 36). Der didaktische Rekurs auf das konstruktivistische Theorem der subjektivviablen und ungerichteten Bedeutungserfindung, mit dem eine radikale Individualisierung und eine von den Schülern selbst bestimmte Progression des Lernens begründet wird, verkennt offensichtlich das Übersteigen alltäglichen Erfahrungslernens als Chance schulischer Bildungsprozesse. In der klassischen Wendung des ‚Ergreifens’ und ‚mit sich Verbindens’ von Welt wird Bildung dagegen als Steigerungszusammenhang im Sinne eines doppelseitigen Prozesses von ‚Individuierung’ und ‚Sozialisation’ gedacht. Das Verhältnis von Ich und Welt wird kulturanthropologisch als Zusammenhang von Innen und Außen gedeutet. Bildung repräsentiert demzufolge die „subjektive Seinsweise von Kultur“, wie es einmal GEORG SIMMEL (1922/2004) formulierte. Durch Bildung baut sich das Selbst im Sinne einer Differenzierung des Innen gegenüber dem Außen auf, zugleich erhöht es seine Handlungskompetenz in der Außenwelt durch die verstehende Aneignung der dem Subjektivem vorgängigen gesellschaftlich-geschichtlich-kulturellen Sinn- und Bedeutungszusammenhänge. KLAFKI beschreibt die hier in Rede gestellte Interdependenz von Ich und Welt in Bildungsprozessen als wechselseitiges Verhältnis der „Erschließung der Welt für den Menschen und der Erschließung des Menschen für seine Welt“ (KLAFKI 1963, S. 45). Didaktische Reflexionen im Anschluss an den modernen Konstruktivismus betrachten dagegen Verstehen einseitig im Modus von Selbstreferenz. Hier steht nicht die bildende Begegnung zwischen ausgewählten und didaktisch aufbereiteten kulturellen Inhalten und den Schülern im Vordergrund, sondern die Überlegung, wie die ‚Bedeutungserfindung informationell geschlossener Gehirne’ befördert werden kann. EWALD TERHART kritisiert dieses bildungstheoretische Defizit der konstruktivistischen Didaktik. Er hebt hervor, dass „der Anspruch der Sache für schulisches Lehren und Lernen konstitutiv und insofern unabweisbar ist. [...] Wird dieser Sachanspruch für alle Schulstufen radikal-konstruktivistisch aufgelöst bzw. ‚virtualisiert’, wird schulisches Lernen gleichsam entmaterialisiert, im schlechten Sinne formal und am Ende beliebig; eine nicht-subjektivistische Auseinandersetzung mit Sachansprüchen ist dann nicht mehr möglich“ (TERHART 2002, S. 49f). In seinem Didaktikentwurf versucht KERSTEN REICH, das gespannte Verhältnis zwischen der radikal-konstruktivistischen Subjektorientierung und dem schulischen Sachanspruch zu überbrücken, indem er den sozialen und kulturellen Kontext eigener Wirklichkeitskonstruktionen berücksichtigt und so zwischen den didaktischen Perspektiven „Konstruktion“, „Rekonstruktion“ und „Dekonstruktion“ unterscheidet. Dieser Unterscheidung liegen drei über das Medium der Sprache vermittelte Dimensionen des Selbst- und Verhältnisses zugrunde. Die Dimension des ‚Symbolischen’ umfasst die gemeinsame Hervorbringung kultureller Bedeutungen im weitesten Sinne, die beschrieben werden als „materiell-symbolische Lebens- und Verkehrsformen, in denen wir geistig und kulturell existieren“ (REICH 1997, S. 76f). Als das ‚Imaginäre’ bezeichnet REICH individuell strukturierte mentale und emotionale Wirklichkeitskonstruktionen, die für Beobachter zwar letztlich intransparent bleiben, die aber über das Verhalten mehr oder weniger passend erschlossen werden können (ebd., S. 87). Das ‚Reale’ wird als dritte Dimension des Selbstund Weltverhältnisses genannt. Hierunter subsumiert REICH alle nicht symbolisch oder imaginär vermittelten Ereignisse, die wie „schwarze Löcher“ nichts enthalten, „was wir schon wussten oder wollten“ und somit eine Diskrepanz aufzeigen zwischen der reduzierten Komplexität symbolischer und imaginärer Konstrukte und der Komplexität des Realen 197
(ebd., S. 104). An Schule und Unterricht kritisiert REICH die einseitige Betonung des Symbolischen und die Vernachlässigung der anderen Dimensionen, die nach seiner Auffassung integriert und anders gewichtet sein müssen, um die Viabilität der Wirklichkeitskonstruktionen zu verbessern. REICH konzeptionalisiert eine auf Beziehungen und die Individuallage des Lerners zentrierte Didaktik, die im Rahmen offen angelegter Lernsituationen eine systematische Partizipation der Schüler am Unterricht ermöglichen will. Entfaltet wird diese Subjektorientierung im Rahmen der didaktischen Perspektiven ‚Konstruktion’, ‚Rekonstruktion’ und ‚Dekonstruktion’. In den Mittelpunkt des Unterrichts wird die Konstruktion der Inhalte und der zwischenmenschlichen Beziehungen gestellt. Kennzeichen des Unterrichts sind eigene Erfahrungen. Diese gilt es „in eigene Konstruktionen ideeller oder materieller Art (zu) überführen und in den Bedeutungen für die individuellen Interessen-, Motivations- und Gefühlslagen (zu) thematisieren“ (REICH 2002, S. 141). Hierin sieht REICH ein Ineinandergreifen von Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung. Selbsttätigkeit, die nicht auf kognitive Konstruktionsarbeit begrenzt wird, sondern auch das Erfinden von Beziehungen umfasst, wird als Voraussetzung kognitiver Entwicklung, als Kern von Selbstbestimmung und als Bedingung von Selbstvertrauen gewertet. Lernen ist aus konstruktivistischer Sicht zwar nur als individuelle Wissenskonstruktion möglich, mit der Perspektive der Rekonstruktion wird berücksichtigt, dass Enkulturation die Nachkonstruktion bereits vorhandener Wissensbestände erforderlich macht. Konstruktivistische Didaktik legt Wert darauf, Lehrer und Schüler gleichberechtigt bei der Auswahl der zu rekonstruierenden Inhalte zu beteiligen. Die Methode der Rekonstruktion wird nicht sach- und instruktionslogisch konzeptionalisiert, sondern an das Prinzip der Konstruktion rückgebunden. Schüler sollen die Unterrichtsgegenstände multiperspektivisch erschließen, um so deren Beobachtungsabhängigkeit erkennen zu können. Gegenüber bloßem Faktenlernen wird so ein vertieftes Verstehen angestrebt. Dieses Vorgehen macht eine Reduktion der ohnehin als zu umfangreich eingestuften schulischen Stoffmengen notwendig. Schließlich soll im Unterricht die Perspektive der Dekonstruktion eingenommen werden. Hier geht es um Sensibilisierung für die Relativität der Beobachterperspektiven in Prozessen der Konstruktion und Rekonstruktion. Durch das kritische Hinterfragen gewohnter Erkenntnis-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster sollen habitualisierte Selbstverständlichkeiten aufgebrochen und in ihrer Künstlichkeit sichtbar gemacht werden: „Wenn ich als Beobachter etwas in Zweifel ziehe, wenn ich nach Auslassungen frage, Ergänzungen einbringe, den Blickwinkel verschiebe, den Beobachtungsstandpunkt fundamental wechsele und so andere Sichtweisen gewinne, dann kann ich zugleich sehen und enttarnen“ (ebd., S. 143f.). Auch wenn sich REICH zu der in konstruktivistischen Didaktiken marginalisierten Frage der Unterrichtsinhalte äußert, bleibt zu kritisieren, dass er zwar formale Hinweise zur Erarbeitung von Inhalten gibt, jedoch keine bildungstheoretischen Aussagen zur Auswahl von Inhalten und den daran zu erwerbenden Kompetenzen macht. Der Sachanspruch schulischen Lernens bleibt gegenüber der Beziehungsebene und der Selbstreferenz des Ichs, deren kritische Reflexivität mit der Perspektive der Dekonstruktion gefördert werden soll, sekundär. Die metatheoretische Begründung dieses individualistischen Bildungsverständnisses bildet der Verweis auf das Prinzip der Viabilität. Hiermit ist eine klare Absage an Allgemeinbildungsansprüche verbunden. Das heißt in den Worten REICHS (ebd., S. 45), 198
„dass keine Autorität uns einfach eine Bildung gleich welcher Art vorschreiben kann, sondern dass wir im Lernen uns unser eigenes Maß an Bildung konstruieren, das zu uns passt.“ Um den utilitaristischen und zweckrationalen Bedeutungshof des konstruktivistischevolutionstheoretischen Begriffs ‚Viabilität’ an dieser Stelle abzumildern, verknüpft er ihn ungeachtet theoretischer Inkompatibilitäten mit diskursethischen Argumenten: „Eine solche Reflexion auf Bildung [...] benötigt einen Dialog der Verständigung, um zu Aussagen zu gelangen, was Gruppen von Menschen und einzelne Subjekte als Bildung für sich und im Blick auf andere ansehen können. Dies wäre dann die Definition einer viablen Bildung: Einer Bildung, die für bestimmte Gruppen und Subjekte passt und anderen deren Passung nicht verbietet.“ Deutlich wird an dieser Stelle, dass erst die Abschwächung funktionalistischer und subjektivistischer Sichtweisen des Konstruktivismus die Anschlussfähigkeit der Didaktik REICHs an pädagogische Diskussionen gewährleistet. Folgerichtig kommt HANSJOACHIM VON OLBERG zu dem kritischen Urteil: „Überzeugende Elemente seiner konstruktivistischen Didaktik begründen sich aus nicht-konstruktivistischen Denktraditionen. Dies lässt sich bei den zusätzlich eingeführten Kategorien Rekonstruktion und Dekonstruktion erkennen, die als Brücken zu historisch-hermeneutischen und kritisch-dialektischen Positionen lesbar sind“ (OLBERG 2004 zit. nach HINZ 2005, S. 549). Probleme ergeben sich auch bei der fachdidaktischen Konkretisierung der konstruktivistischen Devise „Wir sind die Erfinder unserer Wirklichkeit“ und „konstruieren uns im Lernen [...] unser individuelles Maß an Bildung“ (REICH 2002, S. 141/S. 45). Diese können exemplarisch am ‚Spracherfahrungsansatz’ verdeutlicht werden. Dieser in den 1970er Jahren aufgekommene Ansatz der Schrifterwerbsdidaktik vertritt eine reformpädagogisch motivierte Kritik am lehrgangssystematischen Unterricht und wird mit dem Aufkommen der pädagogischen Konstruktivismus-Rezeption in den 1980er und 1990er Jahren durch erkenntnistheoretische Argumente fundiert. Im Unterschied zum ‚Fibeltrott’ sollen Kinder im spracherfahrungsbezogenen Erstunterricht durch aktives schriftsprachliches Handeln individuelle Zugänge zur Schrift finden. Konstruktivistisch begründet wird diese didaktische Position bei HANS BRÜGELMANN durch die These, dass Lesen- und Schreibenlernen wie auch das Sprechenlernen „natürliche“ und nicht instruktionslogisch steuerbare Konstruktionsprozesse sind (BRÜGELMANN 1997, S. 58). Wie BRÜGELMANN und ERIKA BRINKMANN in vielen dokumentierten und analysierten Schülerbeobachtungen zeigen, verfügen Kinder über äußerst heterogene erfahrungsgebundene Eigentheorien über die Funktion, den Aufbau und die Regelstrukturen von Schriftsprache. Diese Theorien, die aus der Sicht Schriftkundiger vorschnell als falsch abgeurteilt werden, sind für die Kinder viable Deutungen ihrer Erfahrungswelt. Sie helfen ihnen, ihre gesellschaftliche, durch Sprache vermittelte Umwelt zu verstehen. Insofern begreifen die Autoren Lernprozesse nicht als systematisches ‚Entdecken’ von Strukturen der Schriftsprache, sondern als ‚Erfinden’ von Theorien über Schrift, die Kinder im Lauf der Lernentwicklung in einem nicht-linearen, sondern äußert dynamischen, selbstreferenziell-rekursiven Prozess soweit akkomodieren, dass sie zu den Konventionalisierungen der Sprachgemeinschaft passen (BRÜGELMANN/BRINKMANN 1998). Ein systematischer Lehrgang behindert BRÜGELMANN zufolge diesen natürlichen und von Schüler zu Schüler unterschiedlich verlaufenden Prozess der Selbstorganisation kognitiver Konstruktionen, denn Lernen ist nicht ein inneres Abbilden der Lehre, sondern viel199
mehr ein Prozess eigenständigen Forschens (ebd., S. 11ff.). Das Bild des Kindes als Wissenschaftler, der funktionale Theorien über Welt konzeptualisiert und in Abhängigkeit weiterer Erfahrungen verwirft, modifiziert oder ausbaut, findet sich vielfach in konstruktivistischen Didaktiken (vgl. BRÜGELMANN 1998, S. 17f.; KRÜSSEL 1993; DAHLBERG et al. 1998). Lehre wird daran anschließend als Gestaltung eines ‚Forschungsumfeldes’ verstanden, in dem Kinder explorativ Welt erkunden können. Bezogen auf den Schrifterwerb bedeutet dies das Schaffen eines anregungsreichen Lese- und Schreibumfeldes, in dem Kinder über Anlauttabellen schon frühzeitig die Möglichkeit erhalten, eigenständig schriftsprachlich handeln zu können. „Didaktische Landkarten“ geben Lehrern die dazu nötigen Anregungen. Über die Lernfelder der didaktischen Landkarte (Zeichenverständnis / Funktionen der Schrift / Verfassen und Verstehen von Texten / Buchstabenkenntnis / Lautanalyse / Aufbau der Schrift / Sichtwortschatz / Gliederung der Schrift in Bausteine) wird den Kindern der Aufbau und die Funktion der Schriftsprache nicht didaktisch reduziert und in linearer Progression vom Einfachen zum Schwierigen präsentiert, sondern von Anfang an in ihrer ganzen Komplexität (vgl. BRÜGELMANN/BRINKMANN 1998, S. 103ff.). Dieses komplizierte System wird von den Kindern auf ihrem jeweiligen Entwicklungsstand selbst vereinfacht. Sprachkundige sprechen dann von Fehlern, es handelt sich für BRÜGELMANN aber um das Erfindungen sprachbezogener Theorien, die helfen, das komplexe System der Schriftsprache zu verstehen (BRÜGELMANN 2002, S. 177). Lehre wirkt im konstruktivistischen Spracherfahrungsansatz nicht als Belehrung, sondern als „Entwicklungshilfe“ (BRÜGELMANN 1997, S. 58). Entwicklungshilfe wird nicht nur durch die Gestaltung von Lernumgebungen gegeben, sondern auch durch die „Orientierung“ der erfahrungsgebundenen Eigentheorien der Kinder im Sinne VON GLASERSFELDs. Orientierung ist zu verstehen als Versuch, „die Umwelt des Schülers so zu verändern, dass dieser möglichst jene kognitiven Strukturen aufbaut, die der Lehrer ihm vermitteln möchte“ (VON GLASERSFELD 1992b, S. 133). Im Zuge dieser Orientierungsfunktion von Lehre kommt der Verstehenskompetenz des Lehrers eine didaktische Schlüsselfunktion zu. Pädagogisches Verstehen wird als Rekonstruktion der Konstruktionen verstanden, die Kinder entwerfen, um ihre Umwelt zu deuten und erfolgreich in ihr zu handeln. Die konstruktivistische These der unhintergehbaren Selbstreferenz des Verstehens muss an dieser Stelle aufgeweicht werden. Obwohl man nicht in die Welt in den Köpfen der Kinder schauen kann, hält es VON GLASERSFELD für möglich, dank pädagogischer Erfahrung, Feingefühl und durch die Analyse von Fehlern zu einer handlungsleitenden Einschätzung der Begriffswelt der Schüler zu gelangen. Auf Basis dieser Einschätzung kann der Lehrer die „Zone der proximalen Entwicklung“ abwägen, wie VON GLASERSFELD mit WYGOTSKI sagt (VON GLASERSFELD 1997, S. 300). Entsprechend ist es BRÜGELMANNs Absicht, über schülerorientierte Interpretationen von Fehlschreibungen Lehrer für die anspruchsvollen kognitiven Konstruktionsleistungen zu sensibilisieren, die zu diesen Fehlern geführt haben. Lehre kann dann gezielt am jeweiligen Erfahrungshorizont der Schüler ansetzen. Wie am Beispiel des Spracherfahrungsansatzes weiter gezeigt werden kann, soll Lehre im konstruktivistischen Unterrichtsdesign auch das Verstehen der Kinder auf metakognitiver Ebene anregen. Vereinfacht gesagt, bezeichnet Metakognition das Denken über die eigenen Denkweisen und Lernstrategien. Aktuelle lernpsychologische Forschungen zeigen, dass Metakognition zur Verbesserung des Lernerfolgs bei selbstgesteuertem Lernen im 200
offenen Unterricht beiträgt (vgl. GUDJONS 2003, S. 6). Da die Selbstorganisation des Lernens das Leitprinzip konstruktivistischer Didaktiken bildet, erklärt sich ihr Interesse an Metakognition als wichtigem Merkmal von Verstehenskompetenz. In diesem Zusammenhang finden sich etwa mit dem ‚cognitive-flexibility’-Ansatz und besonders mit dem ‚cognitive-apprenticeship’ Überlegungen, welche die Einsicht in die kognitiven Prozesse der Wissenskonstruktion fördern wollen. Dazu werden beim ‚cognitive-apprenticeship’Ansatz explizit metakognitive Prozesse der Wissenskonstruktion verbalisiert, an denen sich Lernende orientieren können (in Bezug auf Strategien der Textproduktion vgl. BEREITER/ SCARDAMALIA 1985). So wird die freie Textproduktion im spracherfahrungsbezogenen Unterricht didaktisch gestützt, indem Lehrer die kognitiven Prozesse verbalisieren, die sich bei der Verschriftung von Sprache und beim Aufbau von Texten vollziehen. Auch gezieltes Fragen nach den Denkprozessen der Schüler sowie Gespräche unter den Kindern in so genannten „Schreibkonferenzen“ fördern die metakognitive Einsicht in kognitive Prozesse des Sprachhandelns. Durch dieses methodische Vorgehen werden in Übereinstimmung mit dem konstruktivistischen Theorem der Eigenkonstruktivität von Wirklichkeit „Strategien [...] angeboten, nicht verordnet. [...] Jeder denkt anders. Erklärungen der Lehrkraft können Musterbildungen bewusst machen, sie können Aufmerksamkeit ausrichten, aber die eigenaktive Ordnung reicher Erfahrung können sie nicht ersparen“ (BRÜGELMANN 1998, S. 186f). Hinter den hier vorgetragenen Dimensionen des Verstehens im Spracherfahrungsansatz steht ein Konzept von Didaktik als Ermöglichungsdidaktik. Zugelassen werden soll das ‚Erfinden’ eigener Vorstellungen über die Struktur und die Funktion der Schriftsprache. Damit wird dem traditionellen Verständnis von schulischem Lernen als instruktionslogisch gestütztem ‚Entdecken’ der Strukturen eines Lerngegenstandes eine Absage erteilt (vgl. BRÜGELMANN 1995, S. 58). Auf epistemologischer Ebene ist der Dualismus von Erfinden und Entdecken eine typische Argumentationsfigur zur Abgrenzung radikal-konstruktivistischen und realistischen Denkens. Im Verlauf dieser Arbeit wurde bereits auf Probleme der Auflösung der zweifachen Bestimmung von Erkenntnisprozessen sowohl durch ein Subjekt als auch durch ein Objekt bzw. Ko-Subjekt in Verstehensprozessen hingewiesen. Diese Problematik verschärft sich auf (sprach-)didaktischer Ebene. Sprachlicher (Erst-)Unterricht steht grundsätzlich im Spannungsfeld einer produktorientierten Perspektive auf die normierte Rechtschreibung und der Linguistik als ihrer wissenschaftlichen Reflexionsform und einer prozessorientierten Perspektive auf die Aneignungsprozesse der Kinder, für die sich konstruktivistische Kognitionsforscher interessieren. Der in der Tradition der Reformpädagogik stehende Spracherfahrungsansatz akzentuiert einseitig die prozessorientierte Seite des Lernens und vernachlässigt die systematische Heranführung der Schüler an die Strukturen der Schriftsprache. In diesem Zusammenhang werden Aspekte konstruktivistischer Argumentationsfiguren selektiv rezipiert, um Schülerselbsttätigkeit in Abgrenzung zum fachsystematisch orientierten Instruktionsunterricht zu legitimieren. Wissenschaftstheoretische und bildungsphilosophische Implikationen des funktionalistisch-instrumentalistischen Wirklichkeitsverständnisses des modernen Konstruktivismus werden nicht problematisiert. Aus rezeptionskritischer Sicht wäre an dieser Stelle dafür zu plädieren, den ‚Import’ konstruktivistischer Theorien in pädagogische Diskurse problemorientierter zu führen und die Form und Funktion ihrer Rezeption offen zu legen. 201
Aus didaktischer Sicht erweist sich ein radikal-konstruktivistischer Konstruktionsbegriff als unzureichend. Nur durch die Reflexion des Zusammenspiels von konstruktivistischen und realistischen Anteilen in Verstehensprozessen kann Unterricht als Initiation in kulturelle Wissensformen sinnvoll modelliert und Bildung im Sinne HUMBOLDTs als Wechselverhältnis von Ich, Du und Welt begriffen werden. Ohne Zweifel ist es ein wichtiges pädagogisches Verdienst der Theoretiker des Spracherfahrungsansatzes, für die Dignität sprachbezogener Eigentheorien der Kinder zu sensibilisieren. Doch Verstehen ist nur verkürzt als Erfindung von Bedeutung zu fassen. Dadurch, dass Verstehenskonstrukte im handelnden Umgang mit Sprache erworben werden, enthalten sie auch Informationen über die Struktur der Sprache. An diesen differenzierten Konstruktionsbegriff anschließend, kann Sprachdidaktik als Förderung des Entdeckens der Strukturen der Schriftsprache begriffen werden. In der fachdidaktischen Diskussion äußert sich dieser Gedanke in Forderungen nach einer stärkeren linguistischen Fundierung der Schriftspracherwerbsdidaktik. Die von CHRISTA RÖBER-SIEKMEYER entwickelte und für die Vertreter des Spracherfahrungsansatzes unter ‚Instruktionsverdacht’ stehende ‚silbenanalytische Methode’ des Schriftspracherwerbs ist eine Position, die wieder verstärkt das Entdecken von Schriftsprache in den Mittelpunkt sprachdidaktischer Reflexionen rückt. In kritischer Auseinandersetzung mit dem Spracherfahrungsansatz kann die Sprachdidaktikerin verdeutlichen, dass durch reformpädagogische Prinzipien der Eigenkonstruktivität des Lernens ein unzureichendes Bild kindorientierten Unterrichts gezeichnet wird (RÖBER-SIEKMEYER 2000, S. 754ff.). Die Annahme, der Erwerb der Schriftsprache verlaufe analog zum Sprechen lernen als natürlicher Konstruktionsprozess, basiert auf einem in der Linguistik mittlerweile revidierten Konzept von Schriftsprache als gegenüber gesprochener Sprache sekundärem Zeichensystem. Über Anlauttabellen, die nach reformpädagogischer Auffassung frühzeitig eigentätiges schriftsprachliches Handeln ermöglichen sollen, wird den Kindern suggeriert, das Verhältnis zwischen gesprochener und geschriebener Sprache entspreche einer eindeutigen PhonemGraphem-Korrespondenz. Aus der Schriftlichkeitsforschung ist jedoch bekannt, dass aus der onto- wie phylogentischen Priorität des Mündlichen gegenüber dem Schriftlichen nicht auf die hier unterstellte Dependenzthese geschlossen werden kann. Im Gegenteil ist von einer zunehmenden Kolonialisierung der gesprochenen durch die geschriebene Sprache auszugehen. Dies zeigt sich auf sprachlich-konzeptioneller Ebene in der Strukturierung des Denkens und mündlicher Kommunikationsabläufe durch die Systematik der Schriftsprache. Auf medialer Ebene kann darauf verwiesen werden, dass die standardisierte Lautung Resultat der vorausgehenden Festlegung der Standardschreibung ist (vgl. ASSMANN 1992; GÜNTHER 1997). Aus neueren systemlinguistischen und psycholinguistischen Forschungen, auf die sich RÖBER-SIEKMEYER bezieht, geht zudem hervor, dass nicht Laute, sondern Silben und Takte die zentralen Segmentierungseinheiten von Sprache sind. Phoneme werden in Abhängigkeit ihrer Position in der Silbe in unterschiedlicher Weise graphematisch und phonetisch realisiert. Die silbische Struktur der Sprache müssen Kinder also systematisch ‚entdecken’, um nicht ein Konzept von Schrift zu konstruieren, dass sich dysfunktional für ihre weitere Lernentwicklung auswirkt. Mit der Silbenanalytischen Methode konzipiert RÖBER-SIEKMEYER einen Schreib- und Leselehrgang, der hier exemplarisch für die Notwendigkeit steht, Verstehen als Unterrichtsziel nicht ausschließlich im Modus des ‚Er-
202
findens’, sondern als ‚Entdecken’ von Sachstrukturen zu denken (vgl. RÖBER-SIEKMEYER 2002).
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III
Zusammenhänge und Problemfelder modernisierungstheoretischer und konstruktivistischer Diskurse über Selbstständigkeit und Selbstlernen
8
Zur Bestimmung der theoretischen Kompatibilität von Diskursen über Selbstständigkeit und Selbstlernen
Selbstlernkonzepte wie auch Diskurse zur Individualisierung und Selbstständigkeit von Kindern basieren auf unterschiedlichen Begründungskontexten, Forschungsinteressen und theoretischen Hintergründen. Das Deutungsspektrum dieser Diskurse ist breit, der gemeinsame Nenner der in dieser Arbeit diskutierten gesellschafts-, kultur- und erkenntnistheoretischen Diskurse und ihre Rezeption in erziehungswissenschaftlichen Disziplinen und Arbeitsfeldern wie Kindheitsforschung, Schulpädagogik, Bildungsphilosophie, Erziehungstheorie und Didaktik liegt in der Betonung der Eigenleistung und Eigentätigkeit, Subjektivität und Selbststeuerung des Ichs in Prozessen der Weltaneignung, Individuation und Sozialisation. Diese Gemeinsamkeit eröffnet Anschlussmöglichkeiten zwischen den Diskursen, die auf der Annahme einer Gleichartigkeit von Lern-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen basieren. Auf Grundlage des bisher Erarbeiteten soll in diesem Kapitel noch einmal der innere Zusammenhang der Diskurse herausgestellt werden. Durch die Systematik der vorigen Darstellungen wurde bereits deutlich, dass sich idealtypisch zwei komplementäre Referenzpunkte – ein sozialtheoretischer und ein erkenntnis- und lerntheoretischer Zugriff – voneinander unterscheiden lassen, welche die Grundlage für das Ineinandergreifen der Diskurse bildet. Rekapitulieren wir noch einmal in Grundzügen den Gedankengang dieser Arbeit. Auf der einen Seite stehen Diskurse, die ‚Selbstständigkeit’ als Zielnorm moderner Erziehung und Wesenmerkmal moderner Kindheit gesellschafts- und kulturtheoretisch explizieren (vgl. Teil I). Als klassische pädagogische Reflexionsformen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die das Engagement für Gesellschafts- und Erziehungsreform verbinden, wurden die Bildungsphilosophie der Aufklärung und die Reformpädagogik Anfang des 20. Jahrhundert gedeutet. An diesen historischen Grundrichtungen pädagogischen Denkens konnte gezeigt werden, dass die Genese von Selbstständigkeit als Zielnorm moderner Pädagogik tief mit der Struktur gesellschaftlicher Modernisierungs- und Enttraditionalisierungsprozesse verwoben ist. Eine Gegenüberstellung aufklärerischer und reformpädagogischer Perspektiven macht sichtbar, dass der klassische Gedanke von Bildung als Anregung zur Autonomie reformpädagogisch umgedeutet wird als Ermöglichung und Unterstützung selbsttätigen und selbstbestimmten Lernens. Hierin zeigen sich trotz anders lautender reformpädagogischer Semantik Reaktionen auf Modernisierungsimperative, da mit der Beto-
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nung von Selbstlernkompetenz der Imperativ zur gesellschaftlich-kulturellen Innovation stärker gewichtet wird als das Motiv der Weitergabe und Aneignung der kulturellen Tradition. Schon diese historischen Theorierichtungen der Pädagogik sind geprägt durch die sich in der Spätmoderne verschärfende Ambivalenz von Freiheit und Zwang in der Erziehung zur Selbstständigkeit. Zunächst ist die pädagogische Aufgabe paradox, als Instanz der Fremdsozialisation die Selbstbestimmung der Subjekte zu fördern. Des Weiteren ist das Erziehungsziel Selbstständigkeit in sich widersprüchlich. Diese Paradoxie resultiert aus der zweifachen Bestimmung von Selbstständigkeit einerseits als Beförderung von Emanzipation und Stärkung des Subjekts und andererseits als notwendige kulturelle und subjektive Reaktion auf Modernisierungsvorgaben. Diese Ambivalenzen von Selbstständigkeit nehmen mit fortschreitender Modernisierung zu. Das, was in der ersten Phase der Moderne nur wenigen Menschen offen stand, nämlich das eigene Leben selbstständig in die Hand zu nehmen, verliert zunehmend das Pathos einer kulturellen Errungenschaft und nimmt die Form eines ‚alltäglichen Selbstzwangs’ an, der nunmehr alle Lebensalter und Bevölkerungsschichten betrifft. Neue schwer durchschaubare institutionelle Abhängigkeiten von Staat und Arbeitsmarkt treten an die Stelle alter hierarchisch gegliederter und dadurch gut sichtbarer Machtstrukturen. Soziologische und sozialphilosophische Individualisierungstheorien unterscheiden sich in der Bewertung dieser Transformation des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Idealtypisch können positive, negative und ambivalente Lesarten je nach theoretischer Abwägung der Chancen und Risiken von Individualisierung für den Einzelnen wie für die Integration der Gesamtgesellschaft unterschieden werden. Die neuere Sozialisations- und Kindheitsforschung bezieht sich in unterschiedlicher Weise auf die Individualisierungsthematik. Herausgearbeitet wurde, dass diese Disziplinen Anforderungen an die Selbstständigkeit von Kindern nicht nur deskriptiv als Ausdruck gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse erforschen, sondern auch durch theoretische Neuorientierungen und normative Setzungen in der Modellierung forschungsleitender Kindheitsbilder verankern. Der Modernisierungssog hat insofern auch die wissenschaftliche Theoriebildung erfasst, als Selbstständigkeit nicht nur zur erzieherischen Norm, zum Funktionserfordernis moderner Familien und zur gesellschaftlichen Erwartung an faktische und intendierte Sozialisation aufgerückt ist, sondern mithin auch zum wissenschaftlichen Erklärungsprinzip der kindlichen Entwicklung in der Gesellschaft. So untersuchen einschlägige Forschungsarbeiten die Modernisierung von Kindheit durch die Unterscheidung ‚hochmodern individualisierter Kinder’ mit ‚hohem Aktivitätsprofil’ von teil- oder unmodernen Kindern bzw. durch die Erforschung der Selbstsozialisation von Kindern in eigenständigen Kinderkulturen. Hierin zeigt sich eine positive Ausdeutung von Individualisierung, die eine Transformation emanzipatorischer Motive der klassischen Bildungsphilosophie in emphatische Subjektmodelle des Kindes erkennen lässt, welche Autonomie, verstanden als NichtDeterminierbarkeit und Akteurskompetenz, als Voraussetzung und nicht so sehr als Ziel von Bildungsprozessen reflektieren. Der Gedanke der Selbstsozialisation wie auch Akteursmodelle der neueren Kindheits- und Säuglingsforschung sind demnach durch ein Verständnis von Autonomie als ‚Selbstermächtigung’ gekennzeichnet, das klar auf die Grenzen pädagogischer Interventionsmöglichkeiten verweist. So besteht nach ZINNECKER grundsätzlich Zweifel am planmäßigen Erfolg intentionaler Sozialisation durch Erziehungssysteme 206
und an einem Erziehungsverständnis als Interaktion von Subjekten und Objekten der Erziehung. In der Epoche der Selbstsozialisation ist pädagogisches Handeln auf die Ermöglichung von Selbstsozialisation und die Hilfe zu Selbsterziehung und Selbstbildung zu begrenzen, wie dies in der klassischen reformpädagogischen Programmformel ‚Selbsttätigkeit’ zum Ausdruck kommt (ZINNECKER 2000f., S. 285). Dem Bedeutungsverlust intentionaler Sozialisation entspricht andererseits eine Bedeutungssteigerung informellen Lernens. Diese Einflussverschiebung wird in der der neueren Kindheitssoziologie durchaus positiv bewertet: „Wenn formales Lernen offiziell immer noch höher bewertet und belohnt wird als non-formale und informelle Lernformen, dann werden Lernpotentiale nicht genutzt, die in Zukunft für die Arbeitswelt und das gesellschaftliche Zusammenleben immer wichtiger werden“ (DU BOIS-REYMOND 2005, S. 235). Diskussionen über die Neukonzeptionalisierung der Autonomie des Subjekts, dem zentralen Bildungsziel moderner Pädagogik, wurden daneben an identitätstheoretischen Perspektiven der philosophischen Moderne-Postmoderne Kontroverse aufgezeigt. Während das Modell der Ich-Identität eine Weiterführung modernetheoretischer Bildungsideale verkörpert, markiert die entgegengesetzte Rede vom dezentrierten Ich einen Bruch mit dem modernen und die Konzeptionalisierung des postmodernen Subjektbegriffs. Hier wird Autonomie mit Rekurs auf innere Pluralisierung und Flexibilisierung neu gefasst, mit kulturtheoretischen Individualisierungs- und Pluralisierungsdiagnosen begründet und in Abgrenzung zu modernen Einheitsperspektiven als Glücksgestalt im Sinne einer Befreiung vom Zwang des Korsetts der Selbstidentität begrüßt. In postmodernen Subjektmodellen wie in korrespondierenden Lesarten gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen zeigen sich demnach – ebenso wie in aktuellen Ansätzen der Kindheitsforschung – positive Ausdeutungen gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse. Im Umkreis neuerer „Subjekttheorie im Zeichen von Individualisierung als Sozialisationsmodus“ verschiebt sich folglich das Interesse von sozialen Rahmungen des Aufwachsens, Lebens und Lernens zu den Akteuren als Konstrukteuren ihres eigenen Lebens. Durch die Dichotomisierung von Selbst- und Fremdbestimmung, wie sie sich idealtypisch im Begriffspaar Selbst- und Fremdsozialisation findet, wird die für pädagogisches Handeln konstitutive Paradoxie von Freiheit und Zwang nur scheinbar zugunsten des Freiheitspols aufgelöst. Auf den ersten Blick kann man zwar der Option für Selbstsozialisation eine gewisse Plausibilität kaum absprechen, weil (1) das Leben und Aufwachsen in pluralistischen Gesellschaften mit ihren vielfältigen und oft widersprüchlichen Sozialisationsfaktoren die Einflussmöglichkeiten pädagogischer Instanzen wie Familie und Schule begrenzt und frühzeitig Entscheidungsfähigkeit über das eigenen Leben abverlangt, und weil (2) es nach neueren wissenschaftlichen Forschungsergebnissen ohnedem letztlich die selbstreferenzielle ‚Psycho-Logik’ des Individuums ist, die soziale Lernprozesse bestimmt. Da Vorstellungen der sozialen Determinierung und der Machbarkeit des Menschen durch Erziehung somit zu Recht theoretisch überholt sind, wird das Individuum als eigenständig gedacht. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch häufig versteckte Voraussetzungen in dieser theoretischen Setzung, die alles andere als selbstverständlich sind. Der ausschlaggebende Punkt ist wiederum folgender: Die Orientierung am Bild des Kindes als Akteur seiner Lebenswelt, der sich kompetent und eigenaktiv in der enttraditionalisierten Gesellschaft zu behaupten weiß, ist eingebettet in modernisierungsoptimistische Gesellschaftsdeutungen. Somit basiert die Abgrenzung zu traditionalen 207
Mustern der Erziehungs- und Anleitungskindheit letztlich auf wertbasierten Annahmen, die nicht per se theoretische Gültigkeit beanspruchen können, sondern als Geltungsansprüche ausgehandelt werden müssen. Deutlich voneinander zu unterscheiden sind insofern deskriptive und wertbasierte Aussagen über die Selbstsozialisation und die Akteurskompetenzen Heranwachsender. Während erstere Anlass dazu geben, überzogene Erziehungsansprüche und Pädagogisierungsbestrebungen kritisch zu hinterfragen und pädagogische Aufgaben zu begrenzen (vgl. GIESECKE 1985), sind letztere tendenziell durch eine „antipädagogische Grundposition“ (ZINNECKER 1996, S. 47) gekennzeichnet, welche die Dialektik pädagogischen Handelns verschleiert. Die Dialektik pädagogischen Handelns kann in Theorie und Praxis wiederhergestellt werden durch die Gegenüberstellung und Abwägung der Grundentscheidungen, die mit der Option für bestimmte Kindheitsbilder verbunden sind. Dialektik im Sinne SCHLEIERMACHERs heißt für ANDREAS FLITNER, „ [...] daß Probleme praktischen Handelns und Umgangs mit Menschen im allgemeinen nicht einfach nach Prinzipien oder empirisch gewonnenen Regeln gelöst werden können, sondern dass darin Prinzipien oder Hypothesen einander oft antithetisch gegenüberstehen und man sich beide Seiten klarmachen muß, um zu einer Handlungsentscheidung zu kommen. Führen oder Wachsenlassen, Schützen und Exponieren, Verwöhnen und Abhärten, systematisches Lernen und situative Erfahrung und ähnliche Polaritäten stehen sich nicht als einander ausschließende Prinzipien gegenüber, sondern müssen zur gegenseitigen Korrektur mit bedacht und als Anforderungen gegeneinander abgewogen werden.“ (FLITNER 2004, S. 40)
Begreift man die Lebensphase Kindheit anthropologisch aufgrund ihrer psychischen und physischen Besonderheiten als eingebunden in generationale Strukturen der Angewiesenheit, so erweist sich die normative Polarisierung von Selbstkompetenzen als positiv und wertvoll und Fremdsteuerung als angeleitet, defizitär und unselbständig als theoretisch dysfunktional. Vielmehr richtet sich dann mit der Frage, wie aus der Ambivalenz von Abhängigkeit, Schutzbedürftigkeit, Unterstützung und Hilfe aber auch Eigenständigkeit die Autonomieentwicklung von Kindern durch Erziehung und Anregung zur Bildung befördert werden kann, der Fokus auf den dialektische Zusammenhang zwischen den Polaritäten. Wie weiter erläutert wurde, zeigt sich in der theoretischen Marginalisierung sozialer Abhängigkeiten wie auch in der Glorifizierung innerer, zusammenhangloser Pluralität eine – angesichts der zur Zeit in der öffentlichen Meinung um sich greifenden neoliberalen Deutungsmuster – vermutlich unbewusste, aber durchaus problematische Nähe zwischen emanzipatorischen Motiven und ökonomischen Anforderungen an das Leben und Aufwachsen in der modernisierten Gesellschaft. Zum intransparenten Zusammenhang von Humanisierung und Rationalisierung bemerkt HERMANN GIESECKE: „Das in der Moderne entstandene gesellschaftliche Konzept der Individualisierung, das uns zahlreiche öffentliche und private Freiheiten errungen, die persönliche Verantwortung für die Lebensgestaltung freigesetzt hat und zur Grundlage der Idee einer allgemeinen Menschenwürde wie auch der klassischen Bildung wurde, droht hier auf die Freiheit des Marktzugangs reduziert zu werden. Deshalb ist es an der Zeit, auch pädagogische Vorstellungen von Individualisierung einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.“ (GIESECKE 2005, S. 388)
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In diesem Zusammenhang wurde die These vertreten, dass einfache Auflösungen der Spannung zwischen Freiheit und Abhängigkeit eher einer neoliberal-funktionalen als einer emanzipatorisch-produktiven Selbstständigkeit entsprechen. Auf vielschichtige Weise mit der Individualisierungsproblematik verwoben sind auch aktuelle Diskussionen über Schulkindheit. Schulpädagogische und didaktische Reflexionen sind untrennbar mit den verschiedenen Facetten der Individualisierungsthematik verbunden, nicht nur aus objektiven Gründen, weil Schule und Unterricht im Zuge des modernen Bildungswachstums selbst zu zentralen Individualisierungsfaktoren avancierten oder weil Individualisierungsansprüche von Kindern und Jugendlichen auf die Planung, Gestaltung und Reflexion von Unterricht Einfluss nehmen, sondern auch aus diskurspraktischen Gründen, da der Rezeption sozialwissenschaftlicher, insbesondere kindheitstheoretischer Überlegungen zur kulturellen Transformation der Gegenwartsgesellschaft in Diskussionen über Neufassungen einer vom Kinde ausgehenden Pädagogik ein großer Stellenwert zukommt. Die Polarisierung von Selbst- und Fremdsozialisation repliziert sich hier in der Gegenüberstellung von selbstbestimmtem Lernen und fremdgesteuerter Instruktion. Selbstgesteuertes und selbstverantwortetes Lernen wird in diesen Zusammenhängen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Veränderungen begründet. Mit Verweis auf kulturelle Pluralisierungsprozesse wie auch unter Berufung auf neue Qualifikationsanforderungen des Arbeitsmarktes gilt das Ende materialer Bildungstheorien als besiegelt. Im Gegenzug gewinnen neuere Konzepte des bildungstheoretischen Pragmatismus an Einfluss, die mit Verweis auf die Anforderungen an lebenslanges Lernen die Schlüsselqualifikation ‚Selbstlernfähigkeit’ in ihren Mittelpunkt rücken. Je nach makrosoziologischem oder akteurstheoretischem Legitimationshorizont erscheint die gleiche didaktisch-methodische Forderung nach selbstorganisiertem Lernen in unterschiedlichem Licht. Zum einen wird sie als geeignete Lernform für die Selbstentfaltung emanzipierter kindlicher Akteure ausgewiesen, zum anderen steht hinter ihr das ökonomische Interesse an flexiblem, lernfähigem und eigenverantwortlichem Humankapital. Diese weitläufige und heterogene Legitimationslage trägt zur Popularität von Selbstlernkonzepten bei, denn diese „können je nach Situation und Interessenlage definiert und konkretisiert werden“ (WEBER 1996, S. 178). Auf der anderen Seite (Teil II) stehen die vom Individuum ausgehenden konstruktivistisch fundierten Konzeptualisierungen selbstreferenziellen und selbstorganisierten Lernens. Sie stehen in komplementärer Beziehung zu sozialtheoretisch fundierten Konzepten moderner Akteurskindheit. Das zentrale Motiv individualpädagogischer Ansätze, in deren Tradition diese aktuellen Selbstlernkonzepte stehen, liegt in der Betonung der Selbsttätigkeit des Subjekts. „Das Selbst ist“, wie HELMUT BREMER erläutert, „in dieser Perspektive sehr positiv besetzt; es impliziert Stärkung und Emanzipation des Subjekts. Selbststeuerung im Sinne von Selbstständigkeit ist quasi Ziel pädagogischer Arbeit. [...] Pädagogische Bevormundung steht der Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung entgegen“ (BREMER 2004, S. 192). Nicht nur die Popularität, sondern auch die Genese konstruktivistischen Denkens und seine Rezeption in der Pädagogik können als Ausdruck kultureller Modernisierungsprozesse aufgefasst werden. Dahinter steht die Annahme, dass es eines bestimmten Entwicklungsgrades der Moderne bedarf, der durch Merkmale wie Pluralisierung, Individualisierung und Dezentrierung gekennzeichnet ist, damit konstruktivistische Positionen größere 209
Resonanz in der Theoriediskussion erlangen. Wissensoziologisch wird hier von einer Wechselwirkung materieller (sozialstruktureller) und ideeller (ideengeschichtlicher) Faktoren im Modernisierungsprozess ausgegangen, die mit Bezug auf die Evolution sozialer und kultureller Systeme begründet werden kann. Aus dieser Sicht gewinnen konstruktivistische Theoriekonzepte im Zuge der Diversifizierung von Systemperspektiven in polykontexturalen Gesellschaften an Einfluss. Rekonstruiert werden kann eine neuzeitliche Entwicklung konstruktivistischen Denkens von idealistischen und subjektiv-idealistischen Positionen zu Beginn der Moderne bis hin zu radikal-konstruktivistischen Positionen in der modernisierten Moderne, die sich in der zunehmenden Verschiebung der epistemologischen Fragestellung vom Gegenstand zur Subjektabhängigkeit und Relativität von Erkenntnis zeigt. Im Übergang zum radikal-konstruktivistischen Theorem der Selbstorganisation von Systemen manifestiert sich zugleich ein Bruch mit dem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeitsverständnisses des Projekts der Moderne, das durch eine intentionalistische Sicht auf soziale Wirklichkeit charakterisiert ist. Damit ist keiner neo-materialistischen Lesart der kulturellen Evolution das Wort geredet, nach der Ideen und Sinngehalte verkürzt als Rückwirkung materieller Strukturvorgaben zu verstehen sind. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Ideen in Abhängigkeit zur Eigendynamik sozialer Strukturentwicklung an Resonanz gewinnen oder verlieren. Vor diesem Hintergrund ist sowohl von einer wissenssoziologischen wie auch theoriearchitektonischen Verwandtschaft zwischen gesellschafts- und kulturtheoretischen Modernisierungsdiskursen und dem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus auszugehen. Ein prominentes Beispiel für die theoretische Integration von Konzepten konstruktivistischen Denkens und soziologischer Modernisierungstheorie stellt die Theorie sozialer Systeme und die darauf aufbauende Gesellschaftstheorie von LUHMANN dar. Die erkenntnistheoretische Kennzeichnung von Systemen als autopoietisch wird in diesem Theoriezuschnitt zur Analyse sozialer Wirklichkeit in der Moderne verwendet. In der systemtheoretischen Ausformulierung des Konzepts der Selbstsozialisation erhält die konstruktivistische Trennung zwischen personalen und sozialen Systemen zeitdiagnostische Relevanz. Über solche theorietechnischen Integrationen hinaus besteht die generelle wissenssoziologische Kompatibilität der Diskurse darin, dass die soziologische und sozialphilosophische Thematisierung sozialstruktureller und kultureller Dimensionen von Individualisierung mit dem modernen Konstruktivismus um eine erkenntnistheoretische Dimension ergänzt wird. So kann eine soziale ebenso wie kognitive Individualisierung thematisiert werden, „nach der nunmehr ohnehin alle ihre Biographien selbst basteln und auf diesem Wege das Lernen gleich mit erledigen“ (BREMER 2004, S. 193). Postuliert wird auf diese Weise eine Gleichartigkeit von Lern-, Bildungs- und Sozialisierungsprozessen, wonach der Selbststeuerung des eigenen Lebens in der kontingenten sozialen Wirklichkeit die Eigenkonstruktion der kognitiven Wirklichkeit entspricht. An dieser Stelle vermischen sich die kultursoziologische und naturalistische Argumentation, bedenkt man, dass eine Reihe konstruktivistischer Grundlagentheorien und Begründungen für selbstorganisiertes Lernen im Schnittfeld von Neurobiologie und Evolutionstheorie formuliert sind. Hier geht es um eine strukturelle Kontinuität in der Selbstorganisation biologischer, psychischer und sozialer Wirklichkeiten. Problematisch an der Diffusion der Wissenschaftsperspektiven ist, dass die Konstruktivität konstruktivistischer 210
Theoreme und ihre zeitgeschichtliche Relativität und Problematik verblassen und als objektive Erfassung der Merkmale menschlichen Erkennens und Lernens dargestellt werden. Hier fallen konstruktivistische Ansätze häufig hinter ihren eigenen Theorieanspruch zurück. Diese Zusammenhangslosigkeit zwischen epistemologischen Skeptizismus in der Metatheorie und einem naiven Realismus auf der Ebene der Forschungspraxis ist insbesondere im neurobiologischen Konstruktivismus augenfällig. Die daraus resultierende Problematik zeigt sich etwa darin, dass das unter den Bedingungen der individualisierten und pluralen, sich schnell wandelnden sozialen Wirklichkeit der Postmoderne funktionale Wirklichkeitsverständnis, das der konstruktivistische Begriff ‚Viabilität’ impliziert, als universelles Wesenmerkmal phylogenetischer und ontogenetischer Entwicklungen ausgewiesen und nicht als Selbstverständnis des modernen Menschen kritisch reflektiert wird. Die mit dem Prinzip der Viabilität begründete Lösung des Wissens vom Wahrheitsanspruch und seine Stellung in den Dienst des Selbst entsprechen dem kulturphilosophisch und ökonomisch konstatierten Bedeutungswandel des Wissens in der Gegenwartsgesellschaft und der daraus abgeleiteten Entmaterialisierung schulischen Lernens. Mit der Verwendung konstruktivistischer Sichtweisen als Legitimationshorizonte für selbsttätiges und selbstgesteuertes Lernen tritt damit unbemerkt eine funktionalistische Sichtweise an die Stelle des ehedem emanzipatorischen Theorieanspruchs individualpädagogischer Ansätze. In konstruktivistischen Pädagogiken spiegelt sich dieser funktionalistische Grundgedanke in einem Kontinuum von Bildungs-, Erziehungs- und Instruktionskritik. Bildung wird nicht mehr als zweckfreie Höherbildung und Perfektionierung, sondern als ungerichtete Selbsttransformation nach Maßgabe viabler Handlungsinteressen konzeptualisiert, der Gedanke der Erziehung zur Freiheit reformuliert als „Hilfe zur Selbstorganisation“. Mit der inhaltlichen Neubegründung des philosophischen Autonomiebegriffs durch das Konzept der Autopoiesis wird die Vorstellung einer inneren Selbsthervorbringung des Ichs bei gleichzeitiger Anpassung an die Umwelt gestützt. Auf Basis dieser epistemologischen Überlegungen kommt es in der pädagogischen Konstruktivismus-Rezeption zu einer Betonung der „Selbstmacht von Schülern gegenüber Lehransprüchen“ (UHLE 2006, S. 2). Betrachtet man die hier getroffenen theoretischen Annahmen genauer, verbirgt sich hinter der als Autonomie bezeichneten Selbsthervorbringungskraft lebender Systeme ein innerer Determinismus. Der konstruktivistische Begriff Strukturdeterminiertheit besagt, dass psychische Prozesse wie Wahrnehmen, Denken, Lernen, Fühlen nicht äußerlich, sondern innerlich determiniert werden durch bis dato ausgebildete kognitive und emotionale Strukturen. In dieser Strukturdeterminiertheit des autopoietischen Regelsystems ist das Ich befangen, ohne wirkliche geistige Freiheit zu erlangen. Die Möglichkeit der reflexiv begründeten Entwicklung des Denkens, Fühlen und Wollens ist damit grundsätzlich in Zweifel gezogen. Aus der zeitlichen Priorität neuronaler Prozesse vor der „bewussten Erlebnisform von Hirnprozessen“ schlussfolgert ROTH (2004, S. 77): „Nicht das (sc. bewusste) Ich, sondern das Gehirn (sc. die Struktur des Gehirns) hat entschieden!“ Der Rekurs auf Autopoiesis entbehrt nicht nur aus bewusstseinsphilosophischer Sicht eines emanzipatorischen Gehaltes, sondern auch in Bezug auf die soziale Autonomie des Subjekts. Aus Sicht des konstruktivistischen Lernbegriffs erscheint die gesellschaftliche Anforderung an lebenslanges und eigenständiges Lernen als unproblematische Selbsthervorbringung lebender Systeme. Mit der Betonung von Merkmalen des konstruktivistischen 211
Lernbegriffs wie Handlungsorientierung, Situierung und Selbstorganisation des am Kriterium der Viabilität ausgerichteten Wissenserwerbs grenzt sich konstruktivistische Didaktik von sach- und instruktionslogisch angelegtem Unterricht ab. Insofern kann dieser Ansatz in der Didaktik als eine erkenntnis- und lerntheoretische Einlösung des mit kulturellen und ökonomischen Wandlungsprozessen begründeten bildungstheoretischen Pragmatismus verstanden werden. Die hier durchgreifende Komplementarität zwischen gesellschaftlichen Anforderungen an lebenslanges Lernen und erkenntnis- und lerntheoretischen Voraussetzungen des Menschen ist aus normativer wie auch aus empirischer Hinsicht problematisch. Aus der Perspektive einer kritischen Pädagogik ist zu problematisieren, dass hier ein rein affirmativer und nicht kritisch-reflexiver Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit vorliegt, aus empirischer Sicht ist zu ergänzen, dass die Rede vom autonom lernenden Subjekt an den Ressourcen und Entwicklungspotentialen vieler Menschen vorbeigeht. Im systemisch-konstruktivistischen Zugriff wird „der Begriff des selbstgesteuerten Lernens [...] also nicht an ein anspruchsvolles aufklärerisches Projekt gebunden, sondern an den eines empirisch affirmativen Selbst“ (FORNECK 2002, S. 249). Zusammengefasst gesagt: Gesellschafts- und kulturtheoretische Individualisierungsdiagnosen sowie daran anschließende Überlegungen zur Selbstständigkeit von Kindern führen ebenso wie das Amalgam aus Konstruktivismus und der Konzeptualisierung neuer reformpädagogischer Lernkulturen zur Betonung des Kindes als eigenaktiven und selbstmächtigen Lerner und Konstrukteur, der gegenüber pädagogischer Einwirkung autonom ist. Als gemeinsamer Tenor der Diskurse lässt sich (1) eine Verschärfung des der Pädagogik bereits in den 80er Jahren von LUHMANN und SCHORR bescheinigten strukturellen Technologiedefizits feststellen. Anders als in der LUHMANNschen Analyse wird in der aktuellen Diskurslage nicht nur die sozialtechnologische Problematik von Erziehen und Lehren betont, sondern darüber hinausgehend die Zunahme von Strukturen der Selbstsozialisation und die grundsätzliche Eigensinnigkeit von Wirklichkeitskonstruktionen, die zu unprognostizierbaren und pädagogisch nicht planbaren Selbstentwicklungen führen. Weitere Schnittstellen, welche die Anschlussfähigkeit modernisierungstheoretischer sowie lern- und erkenntnistheoretischer Perspektiven auf den Themenzusammenhang ‚Selbstständigkeit von Kindern und Selbstlernen’ herstellen, bestehen (2) in der Polarisierung von Selbst- und Fremdsozialisation bzw. von selbstgesteuertem Lernen und fremdgesteuerter Instruktion, (3) der monistischen Auflösung dieses Spannungsfeldes durch die Betonung des ‚Selbst’ und die Marginalisierung sozialer Rahmungen von Lern-, Sozialisations- und Bildungsprozessen, (4) der gemeinsamen Begründung pragmatisch orientierter Bildungskonzepte, (5) einer daraus resultierenden Entmaterialisierung- und Entkanonisierungstendenz schulischen Lernens, (6) einer Neukonzeptualisierung des modernen Subjekt- und Autonomiebegiffs als Referenz von Erziehungs- und Bildungsdenken und (8) der damit zusammenhängenden Nivellierung der pädagogischen Generationendifferenz, wonach Pädagogen in die Rolle von Moderatoren, Beratern und Begleitern von Lernprozessen verwiesen werden. Des weiteren (9) vermischen sich in der weitläufigen Diskurslage gesellschaftlich-funktionalistische und emanzipatorische Motive, wobei emanzipatorische Ansprüche im systemisch-konstruktivistischen Zugriff auf der Ebene von Postulaten und Schlagworten verbleiben und theoretisch nicht adäquat eingelöst werden können. 212
Eine wechselseitige Stabilität erlangt dieser Theoriezusammenhang dadurch, dass sich gesellschaftlich begründete Reformen von Erziehung, Bildung und Unterricht und lern- und erkenntnistheoretische Konzeptionalisierungen selbstbezüglichen Lernens treffen. Der pädagogische Kult um das Kind als Akteur seines Lebens, Aufwachsens und Lernens erscheint so nicht nur als gesellschaftliche Notwendigkeit, sondern gleichsam als ‚anthropologische Konstitutionsformel’ menschlicher Existenz. Wie bis hierhin mehrfach vermerkt wurde, ist diese reziproke Stabilisierung der Theorielage keineswegs theoretisch zwingend. Sie beruht vielmehr auf einem gemeinsamen Deutungsmuster. Kern dieses Deutungsmusters ist ein positiv konnotierter Individualisierungsdiskurs, der in unterschiedlichen erziehungswissenschaftlichen Subdisziplinen auf Basis verschiedener theoretischer Hintergründe geführt wird. Hierzu seien nochmals zwei Beispiele in Erinnerung gerufen: Bekanntlich lassen sich positive, negative und ambivalente Lesarten von Individualisierung voneinander unterscheiden. An diesen Auffassungen scheiden sich eher optimistische und eher kritische Deutungen von Modernisierung. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass die unter dem Leitbegriff „Risikogesellschaft“ (BECK 1986) stehende ambivalente Ausdeutung von Individualisierung in der Rezeption der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung ihren ambivalenten Impetus durch die modernisierungsoptimistische Rede von selbständiger Kindheit verliert. Diese Ableitung ist alles andere als selbstverständlich. Eine der ambivalenten Lesart entsprechende pädagogische und kindheitstheoretische Vorstellung von Individualisierung könnte mit gutem Recht weniger die Selbstständigkeit als die Schutzbedürftigkeit von Kindern angesichts der Risken von Individualisierung in den Mittelpunkt der theoretischen Bemühungen rücken. Aus gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen muss also nicht zwingend der pädagogische Fokus auf hochmodern-individualisierte Kinder folgen. Betont man stärker die Ambivalenzen von Individualisierung, so kann im Interesse des Kindes theoretisch ebenso für pädagogischen Schutz und pädagogische Anleitung im Sinne einer langfristig angelegten Erziehung zur Selbstständigkeit votiert werden. Entsprechendes gilt für den Zusammenhang sozialstruktureller Differenzierung und der dadurch beförderten Kultur des modernen Individualismus. Modernisierungskritische Deutungen problematisieren die Abnahme sozialer Bindekräfte durch die Freisetzung aus traditionellen Gemeinschaftsformen. Auf die psychosozialen Kosten der Neuverwurzelung des sozial-ortlosen Ichs in sich selbst macht besonders die gegenwärtige Wiederentdeckung des Gemeinschaftsdenkens in der Kommunitarismus-Diskussion aufmerksam. Nicht nur die Kultur des Selbst, sondern auch die Sehnsucht nach tiefen Gemeinschaftsbindungen ist augenscheinlich in der Moderne angelegt. Das Bedürfnis nach Wir-Gefühlen, nach Zugehörigkeit, Austausch und Anerkennung ist ebenso eine Folge von Individualisierungsprozessen wie das individualistische Streben nach Selbstverwirklichung jenseits fester sozialer Bindungen. LUHMANN (1982) geht deshalb davon aus, dass moderne Gesellschaften nicht nur durch den Zwang zur Unterscheidung von Ich und Anderen gekennzeichnet sind, sondern ebenso durch das Bedürfnis, in vertiefte Abhängigkeit und Austausch mit Anderen zu treten. Diesen Austausch bezeichnet LUHMANN als Liebe. Durch Liebe codierte Beziehungsformen stützen die Individuiertheit des Ichs, denn sie geben ihm eine Zugehörigkeitsgewissheit. Ähnliches gilt auch für Freundschaft, die als Komplement zum Individualisierungsprozess gesehen werden kann. Freundschafts- und Gemeinschaftsbindungen bilden 213
den „sozialen Kitt“ (KEUPP 1997, S. 283) individualisierter Gesellschaften. Autonomie zeigt sich jedoch – so wäre gegen jegliche Stilisierungen des Individualismus und Verwechslungen von Freiheit und Beziehungslosigkeit einzuwenden – in der Fähigkeit, sich selbstbestimmt in Zuneigungs- und Wertegemeinschaften binden zu können. Selbstständigkeit bedeutet daher für FLITNER beides, „innere Unabhängigkeit“ und Urteilskraft wie auch die „Fähigkeit, Beziehungen und Bindungen einzugehen und einer Gemeinschaft anzugehören“ (FLITNER 2004, S. 144). Erziehung zur Selbstständigkeit umfasst folglich beide Dimensionen, Individualpädagogik und Sozialerziehung (UHLE 1995). Mit dem zweiten Beispiel wechseln wir zu erkenntnistheoretischen Begründungen selbstorganisierten Lernens. Auch hier kann nicht logisch zwingend aus der kognitiven Selbstorganisation des Lernens auf größtmögliche Selbstregulierung schulischer Lernprozesse auf der Handlungsebene geschlossen werden, da sowohl äußerlich rezeptives wie auch handlungsorientiertes Lernen innerlich selbstbezüglich ablaufen. Zwar kann mit PIAGET Denken als im Prozess der kognitiven Entwicklung nach innen verlagertes Handeln verstanden werden, die Gleichsetzung von innerem und äußerem Handeln zur Begründung größtmöglicher Selbststeuerung des Lernens kann so jedoch nicht plausibel als Grundprinzip von Unterricht begreiflich gemacht werden. Offenbar ist es auch hier weniger eine logische Notwendigkeit als eine gegenwärtig wieder aktuelle reformpädagogische Präferenz für handlungsorientiertes und individualisiertes Lernen, von der die Vorstellungen konstruktivistischer Didaktiken über selbstgesteuertes Lernen getragen sind. Mit Rückgriff auf die obigen Überlegungen wäre wissenssoziologisch näher zu eruieren, warum pädagogische Theoriebildung derzeit stärker auf die reformpädagogische Akzentuierung selbsttätigen Lernens und nicht so sehr auf den ebenfalls refompädagogischen Gedanken des Eingehens tiefer gemeinschaftlicher Bindungen setzt, bedenkt man, dass in der Moderne beide Deutungen strukturell angelegt sind und nach einer Synthese verlangen.
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Additive Verknüpfungen erkenntnis- und kulturtheoretischer Begründungen von Selbstlernen
Im vorigen Kapitel wurde das Verhältnis sozialwissenschaftlich sowie lern- und erkenntnistheoretisch begründeter Selbstlernkonzepte und Diskurse zur Individualisierung und Selbstständigkeit von Kindern diskutiert. Dazu wurden Schnittstellen der Diskurse in Form theoretischer Kompatibilitäten und gemeinsamer dominanter Wahrnehmungsmuster benannt und problematisiert. Begründet wurde die These, dass hier augenscheinlich eine sich wechselseitig stabilisierende Theorielage besteht. Diese Komplementarität zwischen gesellschaftlichen Anforderungen an Selbstständigkeit und lern- und erkenntnistheoretischen Konzeptualisierungen von Selbstorganisation findet Ausdruck in Begründungsformen neuerer pädagogischer und didaktischer Konzeptionen. An ausgewählten Beispielen aus dem Bereich der konstruktivistischen Didaktik soll nun exemplarisch verdeutlicht werden, wie diese Konvergenz der theoretischen Sichtweisen zur Begründung konstruktivistischer Lernkulturen verwendet wird. Dazu wird ein bestimmtes Teilmoment in Begründungstrukturen konstruktivistischer Didaktiken in den Blick genommen, das als gesellschaftstheoretische Begründung selbstreferenziellen Lernens bezeichnet werden kann. Darunter ist die sekundäre Legitimation der primär epistemologisch und lerntheoretisch fundierten konstruktivistischen Didaktikentwürfe durch philosophische und gesellschaftstheoretische Argumente für selbstreferenzielles Lernen zu verstehen. Hierbei handelt es sich nicht um eine systematische und problemorientierte Bestimmung des Verhältnisses der als komplementär eingestuften theoretischen Zugriffe, sondern um eine argumentative Strategie, die der Hervorhebung der Aktualität des eigenen Ansatzes dient. So finden sich etwa in auf konstruktivistischer Basis formulierten Didaktiken Bezüge zu postmoderner Philosophie, um den Abschied von ontologischen Gewissheiten und die Akzentuierung der Subjektivität des Lernens als aktuell und zeitgemäß auszuweisen (z.B. KÖSEL 1995; REICH 2002; WYRWA 1998; WANZENRIED 2004; SIEBERT 2001). Die radikale Subjektorientierung konstruktivistischer Pädagogiken und die Betonung der Selbstorganisation des Lernens werden mit Rekurs auf kulturphilosophische Überlegungen und bildungstheoretische Explikationen von Individualität und Pluralität begründet. Auch zeigen sich Zusammenschlüsse zwischen neueren sozialwissenschaftlichen Kindheitsdiskursen und konstruktivistischen Positionen in der Didaktik (vgl. FÖLLING-ALBERS 2002; REICH 2005; DAHLBERG et al. 1999). Die folgende Rekonstruktion solcher additiven Verknüpfungen zeigt, wie modernisierungs- und erkenntnistheoretische Versatzstücke aufeinander bezogen werden und so eine sich selbst stabilisierende Legitimationslage für Prinzipien subjektorientierter Pädagogik hervorbringen. Um Wiederholungen zu vermeiden, sei zur Kritik dieser argumentativen Strategie auf die problemorientierten Ausführungen der entsprechenden Kapitel dieser Arbeit verwiesen. Deutlich in der Ausformulierung konstruktivistischer Didaktiken ist eine Konvergenz der Postmoderne- und Konstruktivismus-Rezeption in der Einschränkung der Gültigkeit 215
von Wissen und Wahrheit. In den Begründungsstrukturen konstruktivistischer Didaktiken werden vielfach Bezüge zur mit der postmodernen Philosophie gemeinsamen subjektiven und kulturellen Relativierung des Wissens hergestellt, um die Subjektorientierung konstruktivistischer Pädagogik als zeitgemäß auszuweisen und die Vernachlässigung des Sachanspruchs schulischen Lernens zugunsten von Lerner- und Interaktionsorientierung zu legitimieren. Der erkenntnistheoretische Konstruktivismus wie auch die postmoderne Philosophie setzen sich mit dem Phänomen der ‚Vielheit von Wirklichkeiten’ auseinander. Pluralität wird in beiden Diskursen als Relativität und Gleichberechtigung verschiedener Wissens- und Sinnsysteme gedeutet. Aus konstruktivistischer Sicht ist Pluralität notwendige Konsequenz der Subjektabhängigkeit von Erkenntnis. Aus dem Bewusstsein um die Konstruktivität allen Wissens folgt in der konstruktivistischen Weltsicht nicht nur die Tolerierung, sondern die grundsätzliche Anerkennung heterogener Wissenssysteme in pluralistischen Gesellschaften. Im Diskurs der postmodernen Philosophie wird die Akzeptanz von und der kompetente Umgang mit Pluralität ebenfalls zur Wertvorstellung erhoben. Begründet wird diese Position im Rahmen der Kritik an modernen Einheitsperspektiven, denen eine Unterdrückung des Partikularen der menschlichen Existenz und eine mangelnde Passung mit der faktisch gegebenen Vielfalt der Lebensformen und Wirklichkeitsbeschreibungen in individualisierten und pluralistischen Gesellschaften nachgewiesen werden. In einer auf Ästhetik anstelle von Rationalität ausgerichteten Weltauffassung löst die Sensibilisierung für das Differente auf Eindeutigkeit ausgerichtete Denkstrukturen ab. Rationalität wird neu definiert als Kompetenz des Übergangs zwischen divergenten Sprachspielen. Für ROLF EICKELPASCH und CLAUDIA RADEMACHER (2004, S. 43) teilt derjenige eine postmoderne Geisteshaltung, die sich ebenso als konstruktivistisch charakterisieren ließe, „wer sich der Vielfalt unterschiedlicher Denk- und Lebensformen bewusst ist, wer sensibel ist für das Eigenrecht alles Ausgegrenzten, Abweichenden, Fremden, Zufälligen, Mehrdeutigen, Unbestimmten. An die Stelle der alten Ordnungs- und Ganzheitsvisionen tritt in der Postmoderne eine Kultur der Vielfalt und der Differenz, das Leben mit Ambivalenz, Unsicherheit und Kontingenz.“ Konstruktivistische Pädagogen wie EDMUND KÖSEL (1997), KERSTEN REICH (2002) und HOLGER WYRWA (1996, 1998) verwenden Postmoderne-Reflexionen als Begründungskontexte für konstruktivistische Didaktik und zur Kritik konkurrierender Didaktiken. In der Grundlegung seiner konstruktivistischen Didaktik bezieht sich WYRWA auf die pluralistische Struktur postmoderner Gegenwartsgesellschaften. Aufgrund gesellschaftlicher Ambivalenz- und Konplexitätssteigerung ist für ihn die Bezeichnung ‚Postmoderne’ Inbegriff „für das Ende der Ära allgemeingültiger Verbindlichkeiten und feststehender, objektiver (subjektunabhängiger) Wahrheiten [...] Wissen hat – unter einem postmodernen Blickwinkel betrachtet – keinen ein für allemal feststehenden ojektiven Charakter mehr, sondern versteht sich als ein fließendes, sich ständig veränderndes Wissen im Wechselspiel von Wissensvermehrung und daraus resultierender gleichzeitiger Wissensrelativierung“ (WYRWA 1998, S. 297). Dies gilt ihm als epochale Wendung der Postmoderne, da er vormoderne und moderne Kulturen in Hinblick auf ein „monozentristisches“, auf „Absolutheiten“ ausgerichtetes Denken für identisch hält. Trotz unterschiedlicher Orientierungen an Glaube, Schicksal und transzendental begründeter Seinsordnung in der Vormoderne und an Rationalität, Fortschritt und wissenschaftlicher Wahrheit in der Moderne steht hier bloß 216
„ein eindeutiges (religiöses System)“ [...] einem anderen ein-deutigen (wissenschaftlichen) System gegenüber“ (ebd., S. 298). Diesen als „monozentristisch“ bzw. als „zustandorientiert“ bezeichneten Denkformen stellt er die Notwendigkeit „prozessorientierten“ Denkens in der Postmoderne gegenüber. Pädagogisch folgenreich ist seine Einschätzung, dass viele Individuen in ihrem Denken noch in den alten auf Linearität und Kausalität gerichteten Strukturen verhaftet sind. In der Beseitigung dieses Defizits sieht er den genuinen Auftrag konstruktivistisch orientierter Lernkulturen und systemischer Denkerziehung. In dieser Hinsicht strebt WYRWA die Verknüpfung zwischen monozentristischem und prozessorientiertem Denken zu einem „polyzentrischen Denken“ an. Das Konstrukt des polyzentrischen Denkens bezeichnet eine oszillierende Bewegung zwischen Zustand und Prozess. Entscheidend ist, dass das Individuum verfestigte kognitive Konzepte selbstbestimmt prozessualisiert und umgekehrt wieder in vorläufige Zustände transformiert. „Eine solche Weise des Denkens begrenzt ein starres Entweder-oder-Denken und flexibilisiert es im Hinblick auf ein Denken des Sowohl-als-auch“ (ebd., S. 299). Für WYRWA kann diese Denkstruktur und Geisteshaltung in geeigneter Weise in einem systemisch-konstruktivistischen Unterrichtskontext ausgebildet werden. Systemisch-konstruktivistische Theorien werden als passende Reflexionshorizonte für die Herausforderungen und Probleme der postmodernen Verfasstheit von Gesellschaft und Kultur vorgestellt. Konstruktivistische Didaktik, die aus ihrem epistemologischen Grundverständnis heraus den Schwerpunkt der didaktischen Reflexion von der Inhaltsfrage auf Prozesse der Wissenskonstruktion verlagert, kann insofern zum Aufbau polyzentrischen Denkens anregen, als dass durch konstruktive und dekonstruktive Tätigkeiten auf operationaler und metakognitiver Ebene der prozessuale Charakter des Wissens deutlich gemacht wird. Eine prozessualisierte Reflexion des eigenen Erfahrungshorizontes eröffnet den Schülern individuell angemessene Umgangsformen mit der Vielfältigkeit postmoderner Wissens- und Sinnsysteme. Die Vorstellung, dass ein systemisch-konstruktivistischer Unterrichtskontext zur Herausbildung eines flexiblen und selbstbestimmten Umgangs mit den Herausforderungen postmoderner Pluralität beitragen kann, findet sich auch bei den Didaktikern REICH und KÖSEL. Analog zu WYRWAs Abgrenzung vom monozentristischen Denken nimmt auch die „Subjektive Didaktik“ KÖSELs ihren Ausgang in einer postmodernen Kritik an linearkausalistischen und intentionalistischen Sichtweisen auf soziale Wirklichkeit, die sich für ihn im Bereich der Pädagogik in einem „Input-Output-Denken“ widerspiegeln. Den bei WYRWA thematisierten Gedanken der Flexibilisierung und Prozessualisierung von Denkstrukturen entwickelt KÖSEL (1997) u.a. auf der Grundlage des Konzepts der „transversalen Vernunft“. Damit ist das Augenmerk auf die postmoderne Kompetenz des ‚Übergangs’ zwischen verschiedenen Sinnwelten gerichtet, die er konstruktivistisch-systemisch ausformuliert als „Aufhellung der inneren und internen Beziehungen der Beteiligten in einem geschlossenen System [...] Wir wollen versuchen, uns als Einheit in einem System zu betrachten, in dem sich vielerlei Koppelungen ergeben, die nicht mehr in kausal-analytischen Beschreibungen allein erklärt werden können“ (ebd., S. 69). Hiermit begründet er die Notwendigkeit neuer Lernwelten, in denen die postmodernen Charakteristika Pluralität und Subjektivität ernst genommen werden. Die Grundlage seiner „Subjektiven Didaktik“ im Zeichen der Postmoderne bilden neben Konzepten der Humanistischen Psychologie in erster Linie Theorien des Radikalen Konstruktivismus. Vor dem Hintergrund der kulturge217
schichtlich diagnostizierten Relativität und erkenntnistheoretisch begründeten Konstruktivität des Wissens ist – so der Grundtenor dieses komplexen Didaktikentwurfs – Unterricht nicht mehr auf den Aspekt der Wissensvermittlung zu reduzieren, sondern grundsätzlich als „Modellierung von Lernwelten neu zu fassen“: „Jeder am Lernprozess Beteiligte darf und muss seine eigenen didaktischen Modellierungsinstrumente besitzen und sie entsprechend seiner biographischen Verfasstheit anwenden“ (ebd., S. 27). Die subjektiven Theorien, Aneignungsstrategien und Aneignungsstile der Schüler sind gleichermaßen anzuerkennen. Die Heterogenität und Pluralität von Wissenskonstruktionen wird in der ‚postmodernkonstruktivistischen Lernkultur’ grundsätzlich begrüßt. Die Integration der drei methodischen Bausteine der subjektiven Didaktik, die KÖSEL „Ich-Bereich“, „Wir-Bereich“ und „Sach-Bereich“ nennt, vollzieht sich in der Zusammenführung der Theorien von Lehrern und Schülern durch die Analyse unterschiedlicher mentaler Modelle, Deutungs- und Rationalitätsmuster. Ziel ist eine gemeinsame Verständigung „auf der Grundlage informeller Vernünftigkeit und transversaler Vernunft in einer postmodernen Lerngemeinschaft und Lernkultur“ (ebd., S. 35). Postmoderne Vernunftkritik und der Aspekt der Wahrheitsrelativierung sind auch zentrale philosophische Begründungskontexte der konstruktivistisch-interaktionistischen Didaktik REICHs (2002). Diese versteht sich explizit als „Didaktik in der Postmoderne“. Die Stärkung der Subjektposition des Lerners und die Betonung des Interaktionsprozesses des Unterrichts werden bei REICH ebenfalls mit der in der Postmoderne notwendigen Kompetenz des Übergangs zwischen verschiedenen Sinnsystemen in Verbindung gebracht. Die postmoderne Kategorie der Übergängigkeit entwickelt er an den Begriffen ‚Verständigung’ und ‚Verständigungsgemeinschaft’. Diese aus der geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Tradition entliehenen Begriffe dienen ihm zur Integration einer kulturtheoretischen Perspektive in den konstruktivistischen Theoriekontext: Wahrheiten, verstanden als gemeinschaftlich konstruierte Sinngehalte, werden in Verständigungsgemeinschaften durch Aushandlungsprozesse hervorgebracht. Insofern sind Wahrheiten abhängig von Vorverständigungen, gemeinschaftlich ausgebildeten Normierungen, Beobachtungen und Kontrollen. Ein universalistischer Vernunftbegriff ist in der Postmoderne durch die Parallelexistenz vieler Verständigungsgemeinschaften seiner gesellschaftlichen Grundlage beraubt (ebd. S. 8). Anders als im hermeneutischen Theoriezuschnitt werden weniger kulturelle und anthropologische Gemeinsamkeiten als Basis von Verstehen und Verständigung betont, sondern der Übergang in ein gemeinsames ‚Wir’ durch Verständigungsprozesse problematisiert, „[...] zerfällt es doch in unterschiedliche Verständigungsgemeinschaften, die mit ihrem Wissen durchaus gegeneinander stehen, streiten, sich kritisieren und je eigene Interessen formulieren und herrschaftsbezogen gegeneinander durchsetzen“ (REICH 2005, S. 252). In der Pluralität der Verständigungsgemeinschaften scheitert der Rekurs auf Versachlichung und Verobjektivierung, wie er für moderne Wahrheitsdiskurse in der Tradition der Aufklärung kennzeichnend ist. Einen konsensuellen Wahrheitsbegriff, der Verständigung an die Kraft des besseren Argumentes knüpft, entwickelt REICH daher nicht. Angeschlossen wird dagegen an die von BATESON, WATZLAWICK und SCHULZ VON THUN thematisierte Verwobenheit von Inhalten und Beziehungsaspekten im kommunikativen Handeln. Diese Theoretiker betonen in erster Linie die Bedeutung der Beziehungsdimension für Verständigungsprozesse und nicht so sehr den rationalistischen Rekurs auf Versachlichung und die Über218
zeugungskraft des besseren Arguments. In dieser Theorietradition stehend ist für die konstruktivistisch-postmoderne Didaktik REICHs der „Vorrang der Beziehungs- vor der Inhaltsdidaktik“ maßgeblich (REICH 2002, S. 11). Die additive Verknüpfung erkenntnis- und kulturtheoretischer Legitimationen für das Selbstlernen scheint von dem Bestreben getragen zu sein, die konstruktivistische Akzentuierung selbstgesteuerten, interaktions- und subjektorienterten Lernens als Kernelemente einer zeitgemäßen, den postmodernen Charakteristika ‚Subjektivität’ und ‚Pluralität’ entsprechenden Unterrichtstheorie auszuweisen. Mit der bildungsphilosophischen Explikation von Subjektivität findet sich ein weiterer Begründungsstrang in REICHs Didaktikentwurf, in dem postmoderne und konstruktivistische Varianten moderner Bildungs- und Rationalitätskritik zusammengeführt sind. An traditionellen didaktischen Ansätzen in der Tradition modernen Bildungsdenkens kritisiert REICH die angenommene „inhaltliche Emanzipation der Lerner“, der zufolge Bildung als Aneignung von Wissen und Kompetenzen als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Selbstbestimmung gedacht wird (ebd., S. 32). REICH problematisiert diese Dominanz des Inhaltlichen u.a. deswegen, weil die Autorität und das Bildungspotential von Inhalten in der Postmoderne verblasst, umgekehrt aber die vernachlässigte Beziehungsseite immer wichtiger wird. Darüber hinaus gerät ein in die Zukunft verlagerter Autonomiebegriff in Konflikt mit der postmodernen Geisteshaltung, die durch die Innenorientierung des Denkens und durch einen unmittelbaren Freiheitsanspruch gekennzeichnet ist. In diesem Sinn sieht REICH (2002, S. 35ff.) in der Postmoderne das Zeitalter der Freiheit. Eine konstruktivistische Didaktik in der Postmoderne „will und muss die Freiheit viel stärker respektieren als traditionelle Didaktiken“ (ebd., S. 37), in denen Autonomie in Anlehnung an moderne Bildungstheorien nicht als Voraussetzung, sondern als Ziel des Bildungsprozesses gedacht wird. Die Betonung der Subjektivität der Lerner und des Lehrenden entspricht dem Recht auf Entscheidungsfreiheit in der postmodernen Kultur: „Wir brauchen mehr Intuition, um in der Postmoderne mit ihren Ambivalenzen zu überleben, und wir wollen nicht gerne warten, dass irgendwann einmal etwas passiert, wenn wir es schon heute schon haben können“ (ebd., S. 35). Dieser als „Ich-Will-Anspruch“ bezeichnete Eigensinn und Freiheitsanspruch der Lerner tritt an die Seite kultureller SollForderungen. Eingelöst wird er in der konstruktivistischen Didaktik durch die Freiheit des Konstruierens. „Vielleicht passt deshalb der Konstruktivismus in ein Zeitalter der Freiheitsekstasen“, so REICH (ebd., S. 39) zum Verhältnis von Konstruktivismus und Postmoderne. Insofern der ‚Eigensinn des Lerners’ und nicht mehr die ‚Anverwandlung’ des Fremden und Andersartigen im Verständnis moderner Bildungstheorie als Kern von Individualität und Persönlichkeitsentwicklung gesehen wird, kann Bildung als Selbstregulierung des Lernprozesses bezeichnen werden: „Bildung ist heute mehr eine Prozedur, sich eigenständig und vertiefend mit Wissen, mit diskursiven Praktiken, aber auch mit einer Reflexion über den Mangel zu beschäftigen, aber nicht mehr eine Ansammlung kultureller Güter, die die Persönlichkeit im Sinne einer bestimmten Vernunft oder Tugend, vor allem nicht in ausgewiesener Sittlichkeit für alle umfassend formen kann“ (ebd., S. 45). Eine völlige Substitution des Bildungsbegriffs durch selbstorganisiertes Lernen als neuer pädagogischer Leitformel findet sich bei TOBIAS BÜSER (2003, S. 28): „In der Gegenwart ist selbstorganisiertes Lernen daher Kernelement dessen, was traditionell Bildung genannt wird.“
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Wie die obigen Argumentationen zeigen, besteht das Kernanliegen konstruktivistischer Didaktiken in der Unterstützung der individuellen Besonderheit jeden Schülers. An der vor REICH in diesem Zusammenhang verwendeten Kategorie des ‚Eigensinns’ wird deutlich, dass von einem verkürzten Autonomieverständnis ausgegangen wird (vgl. Kap. 7.4). Im Folgenden sollen die in der konstruktivistischen Didaktik vertretenen Vorstellungen vom ‚eigensinnigen Ich’ näher betrachtet werden. Subjekttheoretische Legitimationen konstruktivistischer Didaktiken wenden sich mit dem konstruktivistischen AutopoiesisKonzept vom modernen Subjektbegriff ab und greifen mit dem Modell des dezentrierten und pluralen Selbst postmoderne Sichtweisen auf. Für WERNER HELSPER (1991, S. 88ff.) besteht das Merkmal des postmodernen Subjekts in der Auflösung der einheitlichen Identität bei gleichzeitiger Bedeutungssteigerung von Autonomie und Individualität. An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie konstruktivistische Theoreme in der Didaktik mit dem Modell des dezentrierten Subjekts verbunden werden. KÖSEL greift die postmoderne These auf, dass sich die Dynamisierung, Pluralisierung und Fragmentarisierung gesellschaftlicher Lebensformen, Wissens- und Sinnsysteme in pluralen Identitäten widerspiegelt. Dem darin gesehenen Freiheitsgewinn entspricht auf der Kehrseite ein hoher Entscheidungsdruck, der für unsichere Individuen problematisch ist. Nicht festgelegte Identitäten und die Vielfalt gesellschaftlicher Optionen erfordern „das Sich-Entscheiden oder dessen Verweigerung“ (KÖSEL 1997, S. 26f). Widersprüchliche Erfahrungen, verschiedene Normen und Gesinnungen und der Zusammenhang von beschleunigter Wissensproduktion und gleichzeitiger Entwertung des Wissens machen eine Kompetenz notwendig, die KÖSEL „offene Integrationsleistung“ nennt. Eine einseitig durch den Lehrer gesteuerte Unterrichtsgestaltung widerspricht der kulturell abverlangten Entscheidungsfähigkeit. Die Pluralität der Identität und damit die Erfahrung der Verschiedenheit in sich selbst, in sachlichen Fragen und in der Gruppe geraten in Konflikt mit einer Unterrichtsgestaltung, die durch linear-kausales Denken geprägt ist. Ein in der Schule vermitteltes Denken in „Objektivitäten“ und „Sachzwängen“ macht KÖSEL mitverantwortlich für Verwirrungen in der Identitätsentwicklung. „Wir selber sind eine Ganzheit, gleichzeitig aber leben wir in inneren Pluralitäten.“ Daraus folgt die Begründung für den Konstruktivismus als Basisparadigma von Didaktik: „Wir können also nur mit ganzheitlichem, systemorientiertem Denken und Handeln ‚Erfolg’ haben“ (ebd., S. 11). Eine andere Verbindung postmoderner Explikationen von Individualität und Pluralität und konstruktivistischer Sichtweisen findet sich bei GUNILLA DAHLBERG, PETER MOSS und ALAN PENCE (1999). Den Autoren geht es darum, ein neues und zeitgemäßes Bild vom Kinde zu konstruieren, das eine produktive Basis für pädagogisches Handeln versprechen soll. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die Rede vom „decentred child“. Im Gegensatz zum Begriff „child centred“ (Kindzentrierung), welcher die moderne Konstruktion des Kindes erfasst als „unified, reified and essentialized subject [...] whose inherent and preordained human nature is revealed through processes of development and maturity” (ebd., S.43ff.), betrachtet das postmoderne Verständnis des „decentred child“ das Kind als eingebunden in eine Vielfalt von Beziehungen in verschiedenen Kontexten. Die These, dass auch Kinder verschiedene und sich überschneidende Identitäten konstruieren und nicht auf einen stabilen Identitätskern und eine universelle Entwicklungslogik festgelegt werden können, wird analog zu Perspektiven der ‚Soziologie der Kindheit’ als Kritik an naturalistischen 220
Kindheitskonzeptionen vorgebracht (vgl. Kap. 4.2.2). In diesem Zusammenhang steht auch die Dekonstruktion der kulturellen Demarkation von Kindern auf Basis der Vorstellung von Kindheit als Moratorium, welche für das Verständnis moderner Kindheit konstitutiv ist. Kindheit in der Postmoderne wird von den Autoren nicht als Vorbereitung auf das Erwachsenenleben verstanden, sondern als gleichberechtigter Lebensabschnitt, der nicht länger in einem Schutz- und Vorbereitungsraum lokalisiert werden kann, sondern als integraler Bestandteil der postmodernen Gesellschaft anerkannt werden muss. In ihrer Argumentation beziehen sich die Autoren auf die Machtanalysen FOUCAULTs, um zu zeigen, dass mit Bezug auf normative und dekontextualisierte Theorien aus der Entwicklungspsychologie bzw. der Pädagogik das Kind in Richtung auf vorgefertigte Standards geformt wird. Macht, so die Grundannahme, wird hier insofern ausgeübt, als Individualität keine Berücksichtigung findet, die ‚wirklichen’ Kinder in ihren vielfältigen Lebenskontexten unter abstrakte und an statistischen Mittelwerten orientierte entwicklungslogische Gesetzmäßigkeiten subsumiert werden und so letztlich einer wissenschaftliche Hierarchisierung und Selektion von Kindern der Weg bereitet ist (vgl. dazu auch LENZEN 1994; REICH 2005). Demgegenüber machen sich DAHLBERG et al. für die jeweilige Besonderheit von Kindern in ihren konkreten Lebenswelten stark, welche in einer ganzheitlichen und kontextualisierten Perspektive auf Kindheit ihren angemessenen Ausdruck findet. Mit Bezug auf das Konzept der ‚Ästhetik der Existenz’ bei FOUCAULT wird die „activity of shaping our own subjectivity“ (ebd., S. 33) als wichtige Praktik des Selbst erachtet, die dazu beiträgt, disziplinierenden Machtverhältnissen in Diskurspraktiken und Institutionsstrukturen Stand zu halten. Den kritisierten naturalistischen Kindheitskonstruktion sollen Pädagogen wertbasierte, selbst konstruierte und eigenverantwortete Bilder des Kindes „als co-constructor of knowledge, identity and culture“ entgegengesetzen. Da Kindheit in der Postmoderne nicht mehr durch Differenzkriterien zwischen Kindern und Erwachsenen beschrieben werden und so als defizitär erscheinen kann, regen DAHLBERG et al. ein Verständnis von Kindern an, das ihre Kompetenz, Einzigartigkeit und Komplexität in den Mittelpunkt stellt. Anstatt auf abstrakte wissenschaftliche Modelle über das Wesen und die Entwicklung des Kindes zurückzugreifen, hätten Pädagogen aus postmoderner Sicht die Wahl – und hier kommt die Verbindung mit dem radikalen Konstruktivismus ins Spiel – selbst zu entscheiden, was für sie das Kind ist (ebd., S. 43). Dieses soll mit ausdrücklicher Betonung des Konstruktcharakters der Entscheidung entwickelt werden, denn eine konstruktivistische Sichtweise weiß um die Produktivität der eigenen Wirklichkeitskonstruktionen. Die Konstruktion eines ‚reichen Kindes’ als Akteur seines Lebens sehen die Autoren in der Reggio-Pädagogik realisiert. Sie verweisen auf LORIS MALAGUZZI, dessen Konstruktion des Kindes zugleich Programm der Reggio-Pädagogik ist: „Our image of children no longer considers them als isolated and egocentric, does not see them only engaged in action with objects, does not emphasize only the cognitive aspects, does not belittle feelings or what ist not logical and does not consider with ambiguity the role of the affective domain. Instead our image of the child is rich in potential, strong, powerful, competent and, most of all, connected to adults and other children.“ (MALAGUZZI 1993, S. 10; zitiert nach DAHLBERG et al. 1999, S. 48)
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Eine solche Konstruktion reicher und kompetenter Kinder ist für DAHLBERG et al. eine produktive Basis für pädagogisches Handeln: „The rich child produces other riches. If you have a rich child in front of you, you become a rich pedagogue and you have rich parents, but if you have a poor child, you become a poor pedagogue and you have poor parents” (ebd., S. 50). Deutlich wurde an den referierten Begründungsformen konstruktivistischer Pädagogik, dass erkenntnistheoretische und kulturtheoretische Perspektiven auf Individualität und Pluralität in ein Verhältnis gegenseitiger Unterstützung treten. Das Konzept der Autopoiesis und das Theorem der Selbstreferenz des Erkennens, Lernens und Verstehens desillusionieren ebenso wie die postmoderne Rationalitätskritik Zielperspektiven des Aufklärungsdenkens. Vor diesem Hintergrund wird eine Reform schulischen Lehrens und Lernens präferiert, in der Subjekt- und Interaktionsorientierung als zeitgemäße pädagogische Grundprinzipien herausgestellt werden.
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Problematisierungen der Legitimationen von Selbstständigkeit und Selbstlernen
In kritischen Auseinandersetzungen mit neueren Selbstständigkeitsbildern individualisierter Kindheit wird die bereits von THEODOR LITT (1927) thematisierte Unterscheidung von Erziehen als „Führen oder Wachsenlassen“ in verschärfter Form virulent. Die von LITT entfaltete Dialektik erzieherischer Prinzipien stellt nach wie vor eine stichhaltige Erörterung der Legitimationsproblematik pädagogischen Handelns dar. Ihr liegen in der Tradition pädagogischen Denkens zwei komplementäre Modellannahmen von Erziehung zugrunde, das Handwerker- und das Gärtner-Modell. Erziehung als Handwerk akzentuiert die Dimension intentionaler pädagogischer Einwirkung: Für seine Entwicklung als Sozial- und Kulturwesen ist der Mensch auf erzieherische Anleitung angewiesen. Erziehung wird als geplante, zielexplizite und methodisch geleitete Handlung bzw. Handlungsbeziehung begriffen, die sich reflexiv legitimieren sowie vorgegebenen u.a. pädagogischen, juristischen, bildungspolitischen Standards genügen muss. Das Bild des Erziehers als Gärtner hebt dagegen die Dimension des Wachsenlassens hervor. Im Mittelpunkt steht hier die pädagogische Ermöglichung der ungestörten Entfaltung der Anlagen des Kindes. Getragen wird dieses Modell vom Vertrauen in die Selbsttätigkeit und Selbsthervorbringungskraft des Kindes in pädagogisch geschützten Umgebungen. Wie bereits FRIEDRICH SCHLEIERMACHER und nach ihm insbesondere ANDREAS FLINTER betont LITT die Dialektik und Komplementarität von Führen und Wachsenlassen. Das Zusammenspiel von natürlicher Selbstentwicklung und erzieherischen Interventionen stellt für ihn das Grundaxiom pädagogischer Theoriebildung dar. Wichtig ist LITT, die Falschheit des Widerspruchs dieser Dimension von Erziehung hervorzuheben und zwischen ihnen dialektisch zu vermitteln. Beide Modelle schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich wechselseitig. Wie HERBERT GUDJONS (1999, S. 188) kritisch anmerkt, gehört es jedoch „offenbar nicht zum pädagogischen Allgemeingut, Litts dialektischer Verschränkung dieses Gegensatzpaares zu folgen.“ GUDJONS Einschätzung wird bestätigt, betrachtet man unter diesem Aspekt die in der vorliegenden Arbeit thematisierten Problemdiskussionen über Individualisierung, Selbstsozialisation, Akteurskindheit und Selbstreferentialiät. Diese Reflexionen führen in pädagogischen Konzepten zu einer einseitigen Betonung der Kraft des selbsttätigen Wachsenlassens. Im Unterschied zur klassischen Reformpädagogik bilden mit diesen Reflexionshorizonten nicht reifungstheoretische Entwicklungskonzepte den theoretischen Hintergrund non-direktiv angelegter Pädagogik, sondern sozial- und kognitionstheoretische Thesen über die Wirkungsohnmächtigkeit pädagogischer Interventionen. In der Rede vom ‚selbstständigen Kind’, von ‚hoch-modern individualisierter Kindheit’, vom ‚kompetenten Säugling’ bis hin zum ‚produktiv-realitätserzeugenden’ und ‚autopoietischen’ Subjekt nimmt die konstatierte pädagogische Ohnmacht die Form eines semantisch überhöhten Erziehungsverdikts an. In diesen Begriffen kommt ein Bewusstsein in pädago223
gischen Fragen zum Ausdruck, das ZINNECKER als antipädagogische Haltung beschreibt (vgl. ZINNECKER 1996, S. 46). Wird Kindheit nicht mehr als Transitionsphase zum Erwachsenensein, sondern in ihrer Eigensinnigkeit wahrgenommen, um ihren gesellschaftlichen Status der Abhängigkeit aufzuheben, resultiert aus diesem emanzipatorischen Anspruch das Problem, dass die dekonstruierten Macht- und Abhängigkeitsstrukturen im pädagogischen Generationenverhältnis auch in ihrer Schutz-, Betreuungs- und Erziehungsfunktion ausgehöhlt werden. Die erzieherische Dimension des Wachsenlassens löst sich vom Gedanken des pädagogischen Moratoriums. Was bleibt, ist die Zurücknahme pädagogischer Einwirkung; ein pädagogischer Trend, der durch die Annahme getragen wird, „die Heranwachsenden könnten sich in den Beschleunigungen und Verwerfungen des zugespitzten Modernisierungsprozesses leichter zurechtfinden, wenn sich die Erwachsenen aus dem Geschäft von Erziehung und Bildung frühzeitig zurückziehen“ (WINTERHAGER-SCHMID 2000, 29). Daraus resultiert eine als „Beschleunigung der Kindheit“ (WINTERHAGER-SCHMID 2002) kritisierte Entwicklung, die der Dimension des Wachsenlassens den Gedanken der langfristigen und pädagogischen gestützten Entwicklung zur Selbstständigkeit nimmt. In Anbetracht der für pädagogisches Handeln konstitutiven Dialektik von Führen und Wachsenlassen ist es nicht verwunderlich, dass sich mit dem Erstarken der oben genannten Reflexionen im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs kritische Gegenstimmen mehren, die versuchen, die in den Diskursen ausgehebelte Dialektik wieder herzustellen. Diese Gegenstimmen, die in den einzelnen Kapiteln bereits zu Sprache kamen, seien im Schlussteil dieser Arbeit noch mal gesondert thematisiert und in einen Zusammenhang gestellt. Zunächst wird (Kap. 10.1) das neuere erziehungswissenschaftliche Interesse an pädagogischen Generationsverhältnissen aufgegriffen. In Abgrenzung zu aktuellen Diskursen über Selbstsozialisation und Selbstlernen, die von einer Nivellierung von Generationendifferenzen ausgehen, erkennt man wieder die Notwendigkeit, ‚Generation’ als ein auf Differenz basierendes Verhältnis zu sehen, das der pädagogischen Gestaltung bedarf. Da Erziehung in der Tradition pädagogischen Denkens seit SCHLEIERMACHER mit Bezug auf generationale Differenz konzeptualisiert wird, liegt im Generationenthema der Schlüssel für die Wiederherstellung der Dialektik von Führen und Wachsenlassen in der Erziehung, wie sich in einem nächsten Schritt (Kap. 10.1) erweist. An Aufsatztiteln bzw. Kapitelüberschriften wie „Von der Selbstständigkeit des Kindes und der Notwendigkeit der Erziehung“ (AHRBECK 2004), „Frühe Selbständigkeit für Kinder – Zugeständnis oder Zumutung“ (GÖPPEL 2002), „Zur ‚Selbstmacht des Ich’ in Fragen nach der Möglichkeit von Erziehung“ (UHLE 2006) wird das Bemühen deutlich, erneut zwischen den Polen Führen und Wachsenlassen zu vermitteln. Publikationen wie „Die Erziehungskatastrophe – Kinder brauchen starke Eltern“ (GASCHKE 2003) oder „Abschied von der Spaßpädagogik – Für einen Kurswechsel in der Erziehung“ (WUNSCH 2004) wenden sich dagegen direkt von neueren Erscheinungsformen antipädagogischen Denkens ab und plädieren für eine Stärkung der erzieherischen Einwirkung und generationalen Verantwortung von Erwachsenen. Kontroversen über das Führen und Wachsenlassen beziehen sich auch auf die Legitimation selbstorganisierten Lernens in der Schule durch Reflexionen zu Selbstsozialisation und Selbstreferentialität, wie in einem weiteren Schritt (Kap. 10.3) gezeigt wird. So wird in der Pädagogischen Psychologie versucht, dialektisch zwischen selbstgesteuerten und selbstbestimmten sowie instruktionslogisch angeleiteten Lernformen zu vermitteln (vgl. 224
WEINERT 1996; 1998). Abschließend erfolgt (Kap. 10.4) eine bildungstheoretische Explikation dieser Problemdiskussion durch die kritische Hinterfragung des pragmatischen Bildungsverständnisses neuerer konstruktivistisch inspirierter Selbstlernkonzepte. Aktuelle Debatten über die Re-Kanonisierung von Bildung werden in ihrer Kritik an der Inhaltsneutralität schulpädagogischer und didaktischer Reformdiskussionen thematisiert.
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Problematisierung I: Zur Marginalisierung von Generationendifferenz
Eine Scheidelinie zwischen Befürwortern und Kritikern aktueller Diskurse über die Selbstständigkeit und Selbstlernkompetenz individualisierter Kindheit besteht in der unterschiedlichen Einschätzung der pädagogischen Bedeutung generationaler Differenzen. Galten der Pädagogik der Aufklärung die psychisch-physische und kulturelle Differenz und der Konflikt zwischen den Generationen als anthropologische und kulturelle Grundlage von Erziehung und Bildung, aus der heraus sowohl Selbstfindung, Mündigkeit wie auch Fortentwicklung der Kultur hervorgeht (vgl. Kap. 2), so verlor dieses produktive Verständnis generationaler Differenz im erziehungswissenschaftlichen Diskurs bis zum Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung (vgl. ECARIUS 2001, S. 40). Folgt man dem gegenwärtigen zeitdiagnostischen Blick, so scheinen der Rekurs auf Generationendifferenz – und mithin die traditionell thematisierte Dialektik von Überlieferung und Veränderung als subjekt- wie auch kulturphilosophisches Kennzeichen der Kultur der Aufklärung – ihre empirische und normative Passform als Ausgangspunkt für pädagogische Reflexionen verloren zu haben. Aufgrund des Traditionsverlustes und der Liberalisierung und Informalisierung sozialer Beziehungen im Zuge fortschreitender Modernisierung, so die deskriptive Aussage, ist eine Nivellierung generationaler Differenz zu beobachten. Die normative Setzung besteht dagegen im wissenschaftlichen, juristischen und gesellschaftspolitischen Bestreben, den Abbau von Generationendifferenzen aus emanzipatorischem Interesse zu forcieren. Aus diesen zeitdiagnostischen und normativ-emanzipatorischen Gründen wird in aktuellen Reflexionen über Individualisierung, Selbstständigkeit von Kindheit und selbstorganisiertem Lernen das Verhältnis der Generationen als Grundlage von Erziehungs- und Bildungsprozessen in grundsätzlicher Abschwächung der Differenz zwischen den Lebensaltern modelliert. (1)
Für ZINNECKER wird die Rollenbeziehung zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erziehung in der „Epoche der Selbstsozialisation“ zunehmend austauschbarer. Er postuliert das Ende statischer Erziehungsverhältnisse, die durch traditionelle Bindungen und altersbedingte Differenzen zusammengehalten werden. Kompatibler mit zeitgeschichtlichen Veränderungen des Aufwachsens und den Selbsttätigkeitspostulaten neuerer pädagogischer Theoriebildung erscheint ihm „ein dynamisches Modell des Kreislaufs, der Spirale pädagogischer Interaktion, in der Jüngere und Ältere abwechselnd Subjekt und Objekt von Erziehung sind, Selbst und Fremderziehung und -sozialisation sich prozessual verschränken“ (ZINNECKER 2000, S. 285). Die hier in Rede gestellte Dynamisierung generationaler Beziehungen findet sich in verschärfter 225
Form auch in der Reformulierung des SCHLEIERMACHERschen Generationenbegriffs durch WOLFGANG SÜNKEL (1996). Entgegengesetzt zu SCHLEIERMACHER deduziert SÜNKEL den Generationenbegriff aus dem Erziehungsbegriff. Erziehung definiert er als Tätigkeit von Vermittlung und Aneignung, „durch die das Problem der kulturellen Kontinuität in Hinsicht der nicht-genetischen Tätigkeitsdispositionen gelöst wird“ (SÜNKEL 1996, S. 282). Erst im Anschluss an diesen kulturanthropologischen Strukturbegriff von Erziehung unterscheidet er entsprechend den erzieherischen Teiltätigkeiten ‚Vermittlung’ und ‚Aneignung’ eine Erziehergeneration und eine Zöglingsgeneration. Diese Herleitung des Generationenbegriffs aus dem Erziehungsbegriff verschärft theoretisch die von ZINNECKER zeitdiagnostisch konstatierte Dynamisierung von Generationenbeziehungen, insofern sich SÜNKEL vollends von der traditionalen Unterscheidung einer ‚jüngeren’ von einer ‚älteren’ Generation trennt und es in seiner theoretischen Modellierung „zufällig (ist), ob der Zögling jünger oder älter ist als der Erzieher“ (ebd., S. 284). Ein unterschiedliches Maß an Bildung als Initiiertsein in Kultur wird hier zwischen Altersgenerationen ebenso wenig in Rechnung gestellt wie die spezifische soziale und kulturelle Eingebundenheit der Altersgenerationen. Der pädagogische Generationenbegriff verliert sowohl bei ZINNECKER als auch bei SÜNKEL seinen Bezug zum biologischen Alter. (2)
226
Die Dynamisierung des pädagogischen Generationenverhältnisses wird in neuerer erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung unterschiedlich begründet. Wie eingangs erwähnt, sind in diesem Zusammenhang deskriptive Modernisierungsdiagnosen und normative Setzungen analytisch voneinander zu trennen. Betrachten wir zunächst die deskriptive Analyse. Eine in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Unterscheidung trifft DORLE KLIKA (2002, S. 385). Im Anschluss an SÜNKEL grenzt sie den kulturellen Wandel des ‚Objektbereichs der Erziehung’ von Veränderungen auf der ‚Beziehungsdimension’ ab. In diese Kategorien können die Reflexionshorizonte dieser Arbeit eingeordnet werden. Der Objektbereich der Erziehung bezieht sich auf die Auswahl der zu transferierenden Kulturinhalte. Wie Reflexionen zu sozialstrukturellen und kulturellen Individualisierungsprozessen, Überlegungen zur Selbstsozialisation und die verschiedenen Varianten der postmodernen Pluralisierungsthese hervorheben, scheitert eine verbindliche Kanonisierung zu überliefernder Kulturinhalte am Traditionsverlust und den daraus resultierenden Kontingenzerfahrungen in der modernisierten Moderne. Pädagogische Konzeptionen reagieren im Anschluss an diese Diskurse auf das Tradierungsproblem mit der Akzentuierung formaler Lernkompetenzen. Wenn Inhalte äußerlich bleiben und das Verfügen über Lernkompetenz angesichts gesellschaftlicher Flexibilitätserwartungen an Bedeutung gewinnt, ebbt die Differenz zwischen den Generationen als Graduierung des Initiiertseins in Kultur ab. Die Rolle der Pädagogen als Anwälte der kulturellen Tradition weicht auf, nicht nur, weil sie selbst in der funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr ganzheitlich in Kultur initiiert sein können, sondern auch, weil die Bedeutung der Tradition angesichts beschleunigter gesellschaftlicher Veränderungen abnimmt. Gegenüber dem ‚Tradierungsmotiv’ und der Aufforderung der jüngeren Generation zur ‚Nachfolge’, gewinnt das ‚Innovationsmotiv’ im Prozess von Ver-
mittlung und Aneignung an Gewicht. Aus diesen Gründen wird in Konzepten selbstgesteuerten, selbstorganisierten und selbstbestimmten Lernens die Entscheidungsmacht über Inhalte und Methoden des Lernens von der älteren Generation an die jüngere übergeben. Neuen Lernformen ist insofern die Egalisierung des pädagogischen Generationenverhältnisses immanent. Eine radikale Auflösung finden Alters- und Generationsgrenzen im gesellschaftlichen Imperativ zu lebenslangem Lernen, in dessen Zeichen die Konzeptualisierung neuer schulischer Lernkulturen steht. Der Umgang mit schnell hereinbrechenden Lernerfordernissen insbesondere technischer, aber auch prozessual-organisatorischer Art in kooperativen Lern- und Arbeitsformen, fällt tendenziell jüngeren Menschen leichter, sodass nicht selten von einem Kompetenzvorsprung der Schüler in bestimmten Bereichen gegenüber ihren Lehrern berichtet wird. Insbesondere bei EDV-Weiterbildungen ist es fast schon die Regel, dass die vermittelnde Generation jünger ist als die Aneignende. In enttraditionalisierten Wissensgesellschaften lassen sich insofern Verlagerungen des kulturellen Transfers von der älteren zur jüngeren Generation konstatieren. Komplementär zum Objektbereich der Erziehung ist auch die Beziehungsebene zwischen den Generationen vom kulturellen Wandel betroffen. In diesem Zusammenhang wird von einer Informalisierung und Familialisierung der Generationsbeziehungen berichtet, die sich im Bereich der Familie als Übergang vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt darstellt, in der Schule als Individualisierungsanspruch von Kindern und Jugendlichen fortsetzt und hier durch die kulturelle Entzauberung von Kanon, Aura und Askese und durch die Öffnung der schulischen Selektionsfunktion befördert wird. Die Informalisierung sozialer Beziehungen ist gekennzeichnet durch den Abbau von Statusdifferenzen, die durch Überordnung und Unterordnung codiert sind. Programmatisch vorangetriebenen wird der Abbau der Machtdifferenzen zwischen den Generationen durch die Kinderrechtsbewegung und die Soziologie der Kindheit. „Kindheit wird konzeptuell befreit aus der Vereinnahmung und Formung der anthropologisch bedingten Abhängigkeiten der Kinder in einem spezifischen Generationenverhältnis [...]“ (ZEIHER 1995 zit. nach ZINNECKER 1996, S. 33). Über das Paradigma der Akteurskindheit und durch die Konstruktion von Kindern als politische Subjekte wird die generationale Machtverschiebung von der älteren zur jüngeren Generation gesellschaftspolitisch aus dem emanzipatorischen Interesse der Verbesserung der sozialen Position von Kindern begründet. Macht im Generationenverhältnis, die im Hinblick auf Veränderungen des Objekt- und Beziehungsbereichs von Erziehung ohnehin im Begriff des Erodierens steht, wird hier grundsätzlich als negativ und abbaubedürftig wahrgenommen. Dass Macht nicht nur negativ besetzt ist und im Generationenverhältnis auch die Übernahme von Verantwortung und Sorge für den Prozess des Aufwachsens impliziert, wird nicht hinreichend in die Reflexionen einbezogen. (3)
Die postulierte Umkehrbarkeit des Generationenverhältnisses spiegelt sich in systemtheoretisch-konstruktivistischen Überlegungen zur Neucodierung des Erziehungssystems. Aufgrund gesellschaftlicher Imperative zu lebenslangem Lernen und der daraus resultierenden Entgrenzung pädagogischer Handlungsfelder bildet für LUHMANN und LENZEN (1997) nicht länger die generationale Unterscheidung 227
Kind/Erwachsener den Bezugspunkt pädagogischer Kommunikation, sondern die altersindifferente Codierung gut lernen/schlecht lernen. An die Stelle des Kindes als Kommunikationsmedium von Pädagogik tritt mit der Entgrenzung des Erziehungssystems der Lebenslauf. Als Formfindungsprozesse sind Lebensläufe unhintergehbar individuell. Im systemtheoretischen Theoriezuschnitt wird der Begriff des Lebenslaufs humanontogenetisch als Selbstorganisation autopoietischer Systeme in struktureller Koppelung mit ihren Umwelten konzipiert. So kann das Erziehungssystem, wie die Interpretin CHARLOTTE RÖHNER erläutert, von „prädeterminierenden Erziehungszielen“ absehen und einen „postmodernen Erziehungsbegriff“ ohne subjektund kulturphilosophische Steigerungsformeln formulieren (RÖHNER 2003, S. 61). Begriffe wie Lernfähigkeit, Autopoiesis, Selbstorganisation, und Selbsttransformation treten damit an die Stelle klassischer Konzeptualisierungen von Erziehung mit Bildungsanspruch (vgl. LENZEN 1997). Die obigen zeitdiagnostischen Aussagen, normativen Setzungen und theoretischen Konzeptualisierungen werden von neueren erziehungswissenschaftlichen Debatten über faktisch vorhandene und notwendig zu wahrende pädagogische Generationendifferenz nicht geteilt. In diesen Diskussionen geht es um die Frage, wie das Verhältnis zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen in der modernisierten Moderne als Begrenzung von Selbstsozialisation und Selbstlernen durch Erziehungs- und Bildungsansprüche neu wahrgenommen und gestaltet werden kann. Als Ausgangspunkt der Reflexionen fungiert das anthropologische Axiom, dass Generationendifferenz als Strukturmerkmal menschlicher Existenz zwar historisch wandelbar, nicht aber durch Modernisierungsprozesse strukturell aufhebbar ist. Aufgrund der psychisch-psychischen Besonderheit von Kindern gilt es, ihr Recht auf Entwicklung, Schutz und Zuwendung in sicheren Bindungen wie auch ihren Anspruch auf pädagogische Anleitung im Sinne von Initiation in Kultur zu sichern. „Generation ist eine, wenn nicht die zentrale pädagogisch-anthropologische Grundbedingung“, so leiten ECKART LIEBAU und CHRISTOPH WULF ihren Sammelband zur Thematik ein, denn „Lernen, Erziehung und Bildung finden in Generationsverhältnissen statt“ (LIEBAU/WULF 1996, S. 7). Aus diesem Grunde halten die Autoren die wieder auflebende Diskussion über Generation als pädagogisch-anthropologischen Grundsachverhalt für unumgänglich. Ebenso betont HONIG generationale Strukturen der Verwiesenheit und Angewiesenheit, aus denen heraus Kindheit und pädagogisches Handeln zu begreifen sind (vgl. HONIG 1996). Im Generationenbegriff kommt ein kulturell zu sicherndes Sorgeverhältnis zwischen den Lebensaltern zum Ausdruck. In der Geschichte der Pädagogik über SCHLEIERMACHER, DILTHEY, SPRANGER, LITT, NOHL und FLINTER bildete das Generationenverhältnis die selbstverständliche Grundlage für Reflexionen über Erziehung und Bildung. Rekonstruiert sei im Folgenden, wie der pädagogisch relevante anthropologische Grundsachverhalt, den HONIG als generationale Verwiesenheit beschreibt, in unterschiedlichen Konzeptualisierungen des Generationenverhältnisses entfaltet wird (zum Überblick über Generationenkonzepte vgl. KLIKA 2002; zur aktuellen erziehungswissenschaftlichen Debatte über das Generationenverhältnis vgl. LIEBAU/WULF 1996; ECARIUS 1998; 2006; WINTERHAGER-SCHMID 2000; KRAMER et al. 2001).
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10.1.1 Generationendifferenz aus genealogischer Perspektive Das genealogische Generationenkonzept fokussiert basale biologisch-anthropologische Konstanten des Verhältnisses zwischen den Lebensaltern. Zeitlichkeit und Leiblichkeit sind die Grundkonstanten menschlicher Existenz. Unterschieden wird zwischen Zeugenden und Gezeugten in familialen Abstammungsverhältnissen. Eine Gleichheit der Generationen kann es aufgrund dieser anthropologischen Konstanten nicht geben. Wie die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern bildet auch die genealogische Generationendifferenz zwischen den Kinder, Eltern und Großeltern ein grundlegendes Strukturmoment gesellschaftlichen Zusammenlebens, dessen kulturelle Bedeutung allerdings dem zeitgeschichtlichen Wandel unterliegt. Deutlich wird, dass in der Thematisierung von Generation biologisch- und historisch-anthropologische Phänomene miteinander verwoben sind. Wie in der biologischen Anthropologie (PORTMANN) und der Kulturanthropologie (GEHLEN) übereinstimmend gezeigt werden konnte, besteht die grundlegende Bedeutung von Generationendifferenz im Prozess des Aufwachsens in der Gestaltung und Institutionalisierung emotionaler, sozialer und kultureller Bezüge durch die Elterngeneration. Das geschichtlich variable Moment ist die Veränderung dieser Pflege- und Erziehungsverhältnisse in der Zeit, ihre Notwendigkeit ist hingegen historisch und kulturell invariant. Angesichts dieses anthropologischen Phänomens fragt HONIG in Bezug auf die Leitvorstellung des selbstständigen Kindes in der aktuellen Kindheitsforschung: „Ist das Konzept der Individualisierung als ein Grundmuster sozialer Beziehungen in der Moderne nicht auf fatale Weise halbiert, nämlich halbiert um jenes Verhältnis des Angewiesenseins, der Verwiesenheit, die leiblich fundiert ist und die modernen Sozialverhältnisse als Geschlechter- und Generationenverhältnisse auszeichnet?“ (HONIG 1996, S. 202f.) Augenscheinlich ist ein Verständnis von Autonomie als Selbstsozialisation, Selbstsetzung, Akteurskompetenz und autopoietischer Selbsthervorbringung zur Beschreibung von Kindheit und zur Abbildung der Rechte von Kindern zu kurz gegriffen, berücksichtigt es aufgrund programmatischer Setzungen wie dem Verdikt zu naturalistischer Theoriebildung und der Ablehnung des Sozialisations- und Entwicklungsparadigmas nicht die generationale Eingebundenheit von Kindern. Stellt man diese in Rechnung, so wird erkennbar, was Individualisierung von Kindheit nicht bedeuten kann, nämlich Freisetzung aus Abhängigkeitsverhältnissen. Verwiesenheit ist die ontogenetische Voraussetzung von Individualisierung, weil dadurch erst die Ausbildung sozialer Handlungskompetenzen möglich wird, die Kinder „individualisierbar macht“ (ebd., S. 214). Theoretisch und forschungsmethodisch erforderlich ist nach HONIG die Analyse dessen, was ILONA OSTNER einen ‚relationalen Individualisierungsmodus’ nennt. Anders als in der Soziologie der Kindheit und der politischen Kinderrechtbewegung sind hier nicht so sehr die Herrschaftsstrukturen zwischen Erwachsenen und Kindern im Blick, sondern die „identitätsbildende leiblich Verwiesenheit von Kindern auf ihre Eltern“, eine Verwiesenheit, in der das Kind „die Dialektik von Ich und Nicht-Ich, von Einheit und Getrenntheit erlebt und darin seine Identität konstituiert“ (ebd., S. 215). Vor diesem Hintergrund plädiert HONIG dafür, die Analyse der Reziprozität von individualisierenden und relationalen Elementen im Prozess des Lebens und Aufwachsens von Kindern in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen und von individualistischen Idealisierungen der Kindheit abzurücken.
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10.1.2 Generationendifferenz aus sozialpolitischer Perspektive Der anthropologische Grundgedanke generationaler Verwiesenheit aufgrund der Zeitlichkeit und Leiblichkeit menschlicher Existenz wird in unterschiedlichen Generationenkonzepten u.a. sozialpolitisch, historisch-soziologisch, psychoanalytisch ausgedeutet. Sozialität als Verwiesenheit wird in diesen Konzepten über genealogische Abhängigkeit hinaus auch in Bezug auf das Verhältnis der Alterskohorten bestimmter Geburtsjahrgänge thematisiert. So etwa im sozialpolitischen Kontext, in dem über Fragen der gerechten Verteilung von Ressourcen oder des gerechten Aushandelns von Ansprüchen in der zeitlichen Dimension der Lebensalter zu verhandeln ist. Topoi wie ‚Generationengerechtigkeit’, ‚Generationengleichheit’, ‚Generationenvertrag’ oder ‚Verantwortung für zukünftige Generationen’ verweisen auf „ethische Fragen der Gerechtigkeit und wechselseitigen Verpflichtung als Implikationen sozialer Beziehungen“ (HONIG 1996, S. 208). Aus diesem Grunde ist der Generationenbegriff essentiell im Rahmen einer Politik für Kinder, welche die Interessen und Belange von Kindern gegenüber denen anderer Altersgruppen vertritt und verteidigt. Politik für Kinder repräsentiert die notwendige Ergänzung und Fortführung der pädagogischen Anwaltschaft für das Eigenrecht des Kindes auf Entwicklung, soziale Beziehungen und Förderung. Angesichts der Grenzen, die professioneller pädagogischer Einflussnahme in pluralistischen Sozialisationskontexten gesetzt sind, kommt einer Politik für Kinder besondere Wichtigkeit zu. Sie fungiert als notwendiges Korrektiv zu einseitigen Pädagogisierungsambitionen gesellschaftlicher Problemlagen in Forderungen nach einer multifunktionalen Schule. Politik für Kinder wird dagegen in der entsprechenden Programmschrift des BUNDESMINISTERIUMs FÜR FAMILIE, FRAUEN, SENIOREN UND JUGEND (1998b) als querschnitts- und strukturpolitische Aufgabe konzeptualisiert, welche die ganze Bandbreite politischer und ökonomischer Entscheidungen hinsichtlich ihrer Kinder- und Familienverträglichkeit überprüfen muss. Auf Basis eines sozial-ökologischen Theoriehintergrundes verweist die politische Programmschrift auf die Komplexität mittelbarer und unmittelbarer gesellschaftlicher und kultureller Einflussgrößen auf die Entwicklung von Kindern. Daher kann die Ermöglichung der politischen Beteiligung von Kindern nur ein Ausschnitt einer Politik für Kinder sein, der zudem eingegrenzt werden muss auf Entscheidungen, die Kinder in ihrem Lebensumfeld unmittelbar betreffen und die ihrer Urteilsfähigkeit entsprechen. Ist dieses nicht gewährleistet, besteht die Gefahr der parteilichen Vereinnahmung von Kindern für politische Interessen und Zwecke, die jenseits ihrer Belange liegen. Grundsätzlich gilt es im Sinne einer Politik der Generationenverantwortung auf makostruktureller Ebene dafür Sorge zu tragen, dass das in Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes festgeschriebene „Recht des Kindes auf Entwicklung und Entfaltung" in allen gesellschaftlichen Teilbereichen geachtet wird. Dazu bedarf es einer starken Vertretung der Interessen von Kindern in den unterschiedlichen politischen Gremien und Ressorts. Zu problematisieren ist freilich auch die einseitige Festlegung und Verwaltung der Interessen von Kindern durch Erwachsene. Der positive Grundgedanke der politischen Partizipation von Kindern liegt darin, sie in den Prozess des Auffindens ihrer Interessen aufzunehmen. Es wäre jedoch falsch, Kinder grundsätzlich als Souveräne in eigener Sache zu sehen, denn Entsprechendes gilt bekanntlich ebenso wenig für Erwachsene. Zur reflexiven Verständigung über die zukunftsbezogenen Interessen der Kinder bedarf es daher eines übergreifenden Diskurses zwischen Kin230
dern, Erziehern und politisch Verantwortlichen (weiterführend zur politischen Partizipation von Kindern vgl. LIEBEL 2006; kritisch: GASCHKE 2003, S. 279ff.).
10.1.3 Generationendifferenz aus historisch-soziologischer Perspektive Eine anders gelagerte Dimension der Verwiesenheit kommt mit dem auf KARL MANNHEIM zurückgehenden historisch-soziologischen Generationenbegriff in den Blick (vgl. MANNHEIM 1964). Hier geht es um die Analyse zeitgeschichtlicher Verwiesenheit, also um kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse, welche den Rahmen der Handlungs- und Denkmöglichkeiten der Individuen abstecken. Analog zum Klassenbegriff in der Sozialstrukturanalyse spricht MANNHEIM von ‚Generationslagerungen’. Unter diesen Begriff werden vorgängige ökonomische, ökologische, politische oder kulturelle Verhältnisse subsumiert, die bei Menschen in etwa gleichen Alters zu geteilten Erfahrungen und zur Herausbildung ähnlicher Muster des Denkens, Erlebens und Handelns führen. Diese sozialen Lagerungen bewirken keinen sozialen Determinismus, sie können überschritten werden durch die kollektive Herausbildung neuer Denk-, Fühl- und Handlungsmuster. Durch diesen kulturellen ‚take off’ wird aus einer Generationslagerung ein Generationszusammenhang bzw. eine Generationseinheit. Diese Begriffe bestimmen im engeren Sinne das, was im Anschluss an MANNHEIM als Generation verstanden wird. Den Impuls zur Modifikation kultureller Selbstverständlichkeiten durch eine Alterskohorte, die sich selbst als Generation deutet und daher als Generationseinheit bezeichnet wird, bilden als schicksalhaft wahrgenommene soziale Problemlagen, die durch das Erfinden alternative Zugänge zur Kultur bearbeitet werden. Generationsstiftend ist die Herausbildung eines „Habitus politischer, sozialer, kognitiver Wahrnehmung, Handlungs- und Deutungsmuster [...], der sich von Angehörigen anderer Alterskohorten kategorial und in der Regel lebenslang unterscheidet“ (KLIKA 2002, S. 382). An dieser Stelle steht MANNHEIM in einer vor allem mit dem Namen SCHLEIERMACHER verbundenen Denktradition der Kultur der Aufklärung, die in der kritischen Adaption und Transformation der Tradition durch die jüngere Generation die Triebkraft kulturellen Wandels und Fortschritts sieht. Hierin liegt der gedankliche Ursprung der bis heute fortwährenden Hoffnung auf das gesellschaftskritische Potential bzw. die Innovationskraft der Jugendlichen als Korrektiv zu Fehlentwicklungen des sozialen Zusammenlebens. Ungeachtet dessen, dass die Herausbildung einer Generationseinheit eher eine kulturhistorische Ausnahme darstellt, die unter pluralistischen Sozialisationsbedingungen zunehmend unwahrscheinlicher wird, kommt dem Begriff der Generationslagerung nach wie vor ein hohes pädagogisches Deutungspotential zu. Mit ihm wird das Verhältnis von Gleichheit und Differenz in Generationsbezügen thematisierbar. Wie THOMAS RAUSCHENBACH in einer Typologie von Generationsbezügen zeigt, besteht aus synchroner Perspektive eine Gleichheit identitätsstifender Merkmale einer Generation, die aus diachroner Perspektive Differenzmerkmale zwischen den Generationen konstituiert. Soziale Lagerungen erzeugen demnach Generationendifferenz (RAUSCHENBACH 1998, S. 19). Das Bewusstsein hierüber ist zur reflexiven Gestaltung pädagogischer Beziehungen wichtig. So kann die reflexive 231
Distanz zu eigenen Generationserfahrungen wichtig werden, um notwendige Überbrückungsarbeit zwischen heterogenen Erfahrungshorizonten zu leisten. Es geht hier wohlgemerkt nicht um Einebnung von Generationendifferenz, sondern um Vermittlungsarbeit. So lassen sich etwa Generationslagerungen hinsichtlich des Enttraditionalisierungsgrades der gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen des Aufwachsens voneinander unterscheiden. Holzschnittartig lässt sich so eine in fest gefügten Klassenstrukturen und stark konventionalisierten sozialen Verhaltensmustern aufgewachsene Nachkriegsgeneration von der so genannten 68er Generation unterscheiden, welche diese soziale Lagerung als ihr gemeinsames Schicksal ansah und durch die Abgrenzung von der Elterngeneration, durch die Gründung sozialer Bewegungen und Gruppierungen und durch das Ausprobieren alternativer Lebensformen entscheidend zur kulturellen Enttraditionalisierung beitrug. Seit den 1980er Jahren wachsen Kinder und Jugendliche nunmehr in einer durchmodernisierten Alltagswelt auf und nehmen Enttraditionalisierung daher weder als historischen Verlust noch als Gewinn wahr, sondern als kulturelle Selbstverständlichkeit. In pädagogischen Generationsbeziehungen treffen Angehörige dieser unterschiedlichen Generationen zusammen. Dadurch entstehen Konfliktlinien, die entlang der generationsspezifischen Perspektive auf das Phänomen Enttraditionalisierung verlaufen, wie an folgenden Beispielen illustriert werden kann: Ebenso wenig wie heutige Jugendliche Dank für die Liberalisierung der Erziehungsverhältnisse und für Schul- und Bildungsreformen der 1970er Jahre empfinden können, wie es nicht selten daran beteiligte Pädagogen erwarten, so fällt es vielen in ihrer Jugend politisch engagierten Mitgliedern der 68er-Generation schwer, das abnehmende politische Interesse von Jugendlichen als Konsequenz einer anderen Generationslagerung zu verstehen und folglich nicht kulturkritisch gering zu schätzen (vgl. Kap. 5.3). In Anbetracht des mit der einsetzenden Pensionierungswelle begonnenen Generationenwechsels im Lehrerberuf erwecken derzeit auch Forschungsbefunde das erziehungswissenschaftliche Interesse, die auf unterschiedliche generationsspezifische Perspektiven verschiedener Geburtenjahrgänge enttraditionalisierter Kindheit hinweisen. Sowohl derzeitige Lehramtstudenten und Junglehrer als auch heutige Schüler gehören gemeinsam einer Generationslagerung an, die in der Literatur seit nunmehr zwanzig Jahren als ‚modernisierte Kindheit und Jugend’ beschrieben wird. Sie teilen daher eine Reihe von Erfahrungshorizonten, die aus gemeinsamen ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen des Aufwachsens resultieren. So spielen etwa Medienerfahrungen seit Mitte der 1970er Jahre eine wichtige Rolle im Kinderleben. Wie Forschungen von FRIEDERIKE HEINZEL ergeben haben, stehen – trotz dieser gemeinsamen Eingebundenheit in eine mediatisierte Erfahrungswelt – Lehramtstudenten dem Medienkonsum heutiger Kinder überaus kritisch gegenüber. Durch Anregung zu biographischer Selbstreflexion zeigte sich, dass die Studierenden entgegen ihrer ersten Selbstwahrnehmung „nicht etwa Medienkindheit insgesamt ablehnen, sondern lediglich die fremd erscheinenden Produkte aus der gerade aktuellen Kinderkultur“ (HEINZEL 2005, S. 38). Augenscheinlich handelt es sich bei der Wahrnehmung der Studenten um ein typisches kulturelles Muster „kollektive(r) biographische(r) Selbstverständigung und die Erfahrung sozialer Zugehörigkeit durch Abgrenzung von (moderner) Kinderkultur“ (ebd., S. 39). Um die eigene Identität als Erwachsener lebensgeschichtlich zu konstruieren, wird auf Differenzen und weniger auf Gemeinsamkeiten mit heutigen Kindern fokussiert. Biographische Selbstreflexionen als Instrument in der Lehrer232
bildung können dazu beitragen, diese normativen Abgrenzungen zu durchschauen und ein reflexives Verhältnis zu Generationsdifferenzen zu entwickeln, das den Blick für den Eigenwert und gegebenenfalls auch für das didaktische Potential kinderkultureller Güter und Praktiken öffnet. HEINZEL sieht hierin eine Voraussetzung für pädagogisches Verstehen, d.h. für die subjektiv kontrollierte Rekonstruktion der Perspektive von Kindern, denn „wer die Prägungen seiner eigenen Generation kennt, dem gelingt es besser, Anteil zu nehmen an den Erlebnisschichten anderer Generationen und vielleicht auch eigene Rechtfertigungsmuster zu durchbrechen“ (ebd., S. 40).
10.1.4 Generationendifferenz aus psychoanalytischer Perspektive Eine weitere wichtige Bezugstheorie in der neueren Thematisierung von Generationendifferenz stellt die psychoanalytische Anthropologie dar. Hier wird die Bedeutung generativer Differenz für die psychosexuelle Entwicklung des Kindes hervorgehoben (vgl. AHRBECK 2004; WINTERHAGER-SCHMID et al. 2002). Im Mittelpunkt der Reflexionen über die frühkindliche Entwicklung steht die enge psychisch-physische, als Symbiose beschriebene Bindung zwischen Mutter und Kleinkind sowie deren Lösung in der ödipalen Situation. Abhängigkeit, Schutzbedürftigkeit aber auch Gegenwirkung gegen das libidinöse Begehren, das auf die Mutter, oder allgemein gesagt auf primäre Bezugspersonen gerichtet ist, begründen aus psychoanalytischer Sicht die Notwendigkeit der Wahrung von Generationendifferenz für die kognitiv-emotionale Entwicklung. In der ödipalen Konstellation repräsentiert klassischerweise der Vater die den Triebbedürfnissen (‚Es’) entgegenstehende sprachlich vermittelte kulturelle Ordnung (‚Über-Ich’). Die Akzeptanz des Inzest-Verbots und der Überlegenheit des Vaters bilden den Grundstein für die Gewissensbildung des Kindes sowie für den Aufschub und die Relativierung von Bedürfnisbefriedigung und eröffnen den Eintritt in die Kultur. Mit der Bewältigung dieses Konfliktes löst sich das Kind sukzessiv von der engen elterlichen Bindung, gewinnt durch die Öffnung zur kulturellen Welt Distanz zum eigenen Triebleben und kann ein eigenes ‚Ich’ ausbilden. Die Psychoanalyse betont die Langfristigkeit dieser Entwicklung, wie WINTERHAGER-SCHMID sehr anschaulich am psychologischen Gehalt des Kinderliedes Hänschen-Klein erläutert: „Wenn Hänschen-Klein, ausgestattet mit den väterlichen Attributen ‚Stock und Hut’, ganz allein in die Welt hinein geht, so braucht Hänschen noch lange die Gewissheit, er können ‚nach Haus zurücklaufen’, er könne jederzeit wieder in den symbiotischen Geborgenheitsschoß zurückkehren, um dann wieder neu loszuziehen in die Welt. Die Vorstellung, ‚die Mutter weinet sehr’ erinnert an das Paradies der ‚Zwei-Einheit’, das beide, Mutter und Kind, so genossen haben. Die identifikatorische Aneignung der bewunderten Teile der dritten Person ins eigenen Ich, im Kinderlied symbolisch als ‚Stock und Hut’ des Vaters, werden nun Teil der Eigenausstattung. Diese bewunderten Attribute machen stolz und ‚groß’; sie machen neugierig auf alles das, was ‚das Andere’, was diese nicht-mütterliche Welt repräsentiert. Damit geschieht eine fundamentale Um- und Ausgestaltung der seelischen, der kognitiven Potenzen des Kindes.“ (WINTERHAGERSCHMID 1996, S. 236)
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Das Selbständig-Werden des Kindes beschreibt WINTERHAGER-SCHMID als einen Prozess der für Eltern und Kind durchaus schmerzhaften Trennung und der Herausbildung des eigenen Selbst, der nicht zur Aufhebung, sondern zu einer anderen psychologischen Qualität der Bindung zwischen Eltern und Kind führt. Trotz aller Modifikationen der Theoriebildung hält die Psychoanalyse an der grundlegenden Bedeutung des ödipalen Konfliktes für die Autonomieentwicklung fest (ebd., S. 234). In Überarbeitungen von LACAN, LANG oder HAESLER wird die hereinbrechende dritte Größe der ödipalen Triangularität, die beschränkende Kraft der kulturell-symbolischen Ordnung, von ihrer Repräsentierung durch den Vater als konkrete Person gelöst (vgl. AHRBECK 2004, S. 155). Abstrakter aber damit auch grundsätzlicher in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung fasst HAESLER Ödipalität und Generationendifferenz als „eine essentielle Struktur menschlicher Kultur. Deren Schwächung oder Aufkündigung ist immer mit einem Verlust an Möglichkeiten konstruktiver, kreativer menschlicher Verständigung verbunden, zieht am Ende immer Willkür, Verohnmächtigung, Sinnzerstörung und Chaos, Auflösung und Zerstörung menschlichen Zusammenlebens und menschlicher Kultur nach sich (HAESSLER 1999 zitiert nach AHRBECK 2004, S. 156). In direkter Abgrenzung zu Selbstständigkeitsbildern der neueren Kindheitsforschung weist psychoanalytische Anthropologie somit eindrücklich an der Besonderheit der psychosexuellen Entwicklung des Menschen nach, dass sich Kinder nicht aus sich selbst heraus entwickeln können. Es ist die Ambivalenz von symbiotischer Schutzbedürftigkeit und Abhängigkeit und dem ‚Nein’ der symbolisch vermittelten kulturellen Ordnung gegenüber Triebbedürfnissen in der ödipalen Triangularität, in der der Motor der Autonomieentwicklung gesehen wird.
10.1.5 Generationendifferenz aus bindungstheoretischer Perspektive Der britische Psychoanalytiker JOHN BOWLBY legte in den 1960er Jahren die Grundlagen der Bindungsforschung. Theoretisch ging es ihm darum, Perspektiven der Ethologie (Verhaltensbiologie) auf psychoanalytische Fragestellungen zu richten (BOWLBY 2003, S. 55). Methodisch suchte er zusammen mit seiner Mitarbeiterin MARY AINSWORTH den Anschluss an Verfahren der entwicklungspsychologischen Längsschnittforschung, um Aussagen der Bindungstheorie empirisch abzusichern. So konnten in der Psychoanalyse aufgeworfene Fragen im Rahmen einer erfahrungswissenschaftlichen, auf systematischen Beobachtungen beruhenden Theorie transparent und überprüfbar erklärt werden. An die Stelle der Trieblehre und ihrer Beschreibung der Eltern-Kind-Beziehung mit Metaphern wie libidinöses Begehren, Symbiose oder Ödipuskomplex tritt das ethologische Konstrukt phylogenetisch präadaptierter ‚Verhaltenssysteme’, die das Verhältnis der Generationen vor aller kulturellen Ausgestaltung strukturieren. Als grundlegend für eine gesunde soziale, emotionale, kognitive und moralische Entwicklung gilt das komplementäre Zusammenspiel der angeborenen Bindungs- und Explorationssysteme des Kindes und des Fürsorgesystems seiner Eltern bzw. seiner primären Bezugspersonen. Wie im Folgenden gezeigt wird, leistet die Analyseperspektive der Bindungsforschung einen wichtigen Beitrag zur Konkretisierung des klassischen pädagogischen Gedankens, dass der älteren Generation erzieherische 234
Verantwortung für die jüngere zukommt. Zentral in diesem Zusammenhang sind zwei im Weiteren näher zu bestimmende und pädagogisch auszudeutende Theorieannahmen. Erstens die Hypothese BOWLBYs, dass tief greifende Einflüsse auf die Entwicklung und Organisation des Bindungsverhaltenssystems von Erfahrungen mit Bindungspersonen in der Kindheit und der Jugend ausgehen (vgl. BOWLBY 1983). Zweitens die bindungstheoretische Anthropologie der „Autonomie in Verbundenheit“ (GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S. 457), der zufolge die Entwicklung zur Selbstständigkeit aus sicheren Bindungen in der Kindheit erwächst – oder wie NANCY WEINFIELD et al. (1999, S. 76) es ausdrücken: „infants who are effectively dependent will become effectively independent.“ Bindung wird von den bekanntesten deutschen Bindungsforschern KARIN und KLAUS E. GROSSMANN definiert als „imaginäres Band, das in den Gefühlen einer Person verankert ist und das sie über Raum und Zeit hinweg an eine andere Person, die als stärker und weiser empfunden wird, bindet“ (GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S. 71). Dieses Verhaltenssystem dient aus evolutionsbiologischer Sicht der Lebenserhaltung, denn Bindungsbeziehungen gewährleisten Versorgung, Schutz und psychische Sicherheit. Umgekehrt ist Vernachlässigung, das Gegenteil von Bindung, ein „System menschlichen Verschleißes“ (GROSSMANN 2004, S. 24) oder wie BERNHARD HASSENSTEIN (1977, S. 56) zuspitzt, die Verschüttung einer „großen anthropologischen Möglichkeit“ zu starken und affektiv verankerten Sorgebeziehungen zwischen Individuen. Mit der Betonung der stammesgeschichtlich vorprogrammierten Bindungsbereitschaft von Kindern grenzt sich die Bindungsforschung von der auf EMIL DURKHEIM zurückgehenden sozialisationstheoretischen Vorstellung ab, das Neugeborene sei eine ‚soziale Tabula Rasa’ und erlange erst über Enkulturationsprozesse Sozialfähigkeit und Sittlichkeit. Dagegen wird Bindungsverhalten als „soziale Vorangepasstheit“ des Säuglings verstanden, die den Ausgangspunkt für Sozialisation bildet (vgl. HOPF 2005, S. 27f.). Bindungsbeziehungen sind daran erkennbar, dass bei Angst Bindungsverhaltenweisen aktiviert werden wie Weinen, Rufen, Anklammern, Nachfolgen und Protest beim Verlassenwerden (vgl. GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S. 70). Auch angeborene soziale Kompetenzen wie die Vorliebe für die menschliche, insbesondere die mütterliche Stimme, die Präferenz für Gesichter, die frühe Fähigkeit, in Mimik und Gestik Gefühlsausdrücke zu erkennen sowie die Anlage, selbst Interaktionen zu initiieren und Bedürfnisse zu signalisieren, stehen im Dienst der Herstellung Sicherheit spendender Bindungen, denn sie stimulieren die schützenden Fürsorgesysteme der Bezugspersonen. Der ‚kompetente Säugling’ ist somit zugleich der ‚abhängige Säugling’. Die Bindungsbereitschaft des Kindes ist umweltstabil, die jeweilige Ausgestaltung der Bindung wird allerdings in Interaktionen mit den primären Bezugspersonen erlernt. In der für die weitere Forschung richtungweisenden Baltimore-Studie unterscheidet AINSWORTH zwischen verschiedenen Mustern und Qualitäten der Bindung (‚patterns of attachment’): der ‚sicheren Bindung’, der ‚unsicher-vermeidenden Bindung’ und ‚unsicherambivalenten Bindung’ (vgl. AINSWORTH 1964/2003). In der so genannten „Fremden Situation“, einer unbekannten und damit aus der Sicht des Kindes potenziell mit Gefahren verbundenen Umgebung, konnten Bindungsverhaltensweisen zwölf Monate alter Babys hervorgerufen und systematisch beobachtet werden. Das Bindungsverhalten konkurriert in der „Fremden Situation“ mit dem ebenfalls stimulierten Explorationsverhalten, einem ebenso lebenswichtigen und komplementären Verhaltenssystem. Der Versuchsablauf ist nun durch 235
die sukzessive Erhöhung von Unsicherheit gekennzeichnet. War die Mutter in der Fremden Situation anfangs anwesend, wird die Spannung durch das Hinzutreten einer unbekannten Person und durch zeitweilige Trennungen von der Mutter schrittweise ausgebaut. Die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Kinder dienen AINSWORTH zur Klassifizierung verschiedener Bindungsqualitäten. Die als sicher gebunden eingestuften Kinder waren in der Lage, die Mutter als Sicherheitsbasis für ihre Explorationen zu nutzen. Typisch für diese Gruppe ist die interessierte Erkundung der neuen Umgebung mit Rückversicherungen über die Anwesenheit der Mütter. Die Kinder reagierten beunruhigt, nachdem die Mutter den Raum verlassen hat und begrüßten sie bei ihrer Wiederkehr freudig. Die fremde Person wurde nicht als Trost und Schutz spendende Person, aber als Spielpartner wahrgenommen. Dagegen zeigte sich das unsicher-vermeidende Bindungsmuster tendenziell im Verzicht auf die Kontaktaufnahme mit der Mutter. Die äußerliche Gelassenheit unsicher-vermeidend gebundener Kinder in der fremden Situation ist kein Indiz für frühe Selbstständigkeit, denn physiologisch lassen mit der Ausschüttung von Cortisol und der dadurch ausgelösten Erhöhung der Herzfrequenz Indikatoren für Stress nachweisen (vgl. HOPF 2005, S. 57). Von unsicher-ambivalenten Bindungsmustern spricht AINSWORTH schließlich, wenn sich ausgeprägte Bindungsverhaltensweisen mit Abwendungen von der Mutter mischen. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass sicher gebundene Kinder ein stärker ausgeprägtes Explorationsverhalten aufweisen als unsichere. Vor dem Hintergrund einer Reihe weiterer Längsschnittuntersuchungen, in denen man Bindungsverhalten auf verschiedenen Altersstufen beobachtet hat (zum Überblick vgl. GROSSMANN/GROSSMANN 2005), wurden Erklärungsmodelle für die unterschiedliche Genese von Bindungsqualitäten und ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung des Kindes formuliert. Übereinstimmung besteht in der Annahme, dass für den Aufbau einer stabilen Bindung die mütterliche und väterliche ‚Feinfühligkeit’ (‚Sensitivität’) die entscheidende Rolle spielt. Das Konstrukt Feinfühligkeit umfasst das Verstehen der signalisierten Bedürfnisse des Kindes, die realistische Deutung seiner Äußerungen sowie die Bereitschaft zu adäquaten und prompten Reaktionen (vgl. HOPF 2005). Ein Beispiel für ein signalisiertes Bedürfnis des Säuglings ist der so genannte „Kontaktruf beim Aufwachsen“. Die feinfühlige Mutter empfindet intuitiv die Notwendigkeit, diesen Kontaktruf zu erwidern (‚Ja, ich komme’, ‚Ich bin da’), woraufhin der nun beruhigte Säugling diesen Laut nicht wiederholt (vgl. HASSENSTEIN 1977, S. 60). Deutlich wird, dass das kindliche Verhalten unumgänglich auf mütterliche Responsivität angewiesen ist, die den jeweiligen „Mangelzustand“ aufhebt oder mäßigt. Der Säugling wird sozusagen „extern geregelt“, wobei es allmählich zu einer Synchronisation von Phasen der Ruhe und Aktivität zwischen Kind und Mutter kommt (GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S. 114f.). Das Kind verarbeitet seine ersten Interaktionserfahrungen zu so genannten ‚internalen Arbeitsmodellen’ (‚internal working models’). Diese Modellvorstellung bezeichnet die kognitiv-emotionale Repräsentation des eigenen Verhältnisses mit der Bindungsperson, aus der Erwartungen über mögliche Reaktionsweisen auf eigene Bindungs- und Explorationsbedürfnisse abgeleitet werden. Ein wünschenswertes internales Arbeitsmodell vermittelt dasjenige psychische Erleben, das bei ERIK ERIKSON „Urvertrauen“ heißt und das KARIN und KLAUS E. GROSSMANN als folgende Gewissheit beschreiben:
236
„Die Bindungsperson ist prinzipiell verfügbar und bereit zu reagieren und zu helfen, wenn es gewünscht wird, und – komplementär – man ist selbst eine im Grunde liebenswerte und wertvolle Person, die es verdient, daß man ihr hilft“. (GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S. 72)
Bereits ERIKSON hat betont, dass die ins Unbewusste eingeschriebene Erfahrung der Verlässlichkeit der Bezugspersonen „den Eckstein der gesunden Persönlichkeit“ bildet (ERIKSON 1966, S. 63). Aus der Sicht der Bindungstheorie gibt es einige zentrale Anhaltspunkte für diese Annahme. Zunächst wird von einer entwicklungslogischen Integration des Bindungs- und des Explorationssystems ausgegangen. Erst auf Basis einer sicheren Bindung und eines entsprechenden internalen Arbeitsmodells kann das Explorationssystem voll aktiviert und damit das geistige Potential optimal ausgenutzt werden. Das Kind muss bildlich gesprochen das Gefühl haben, in den sicheren Hafen (‚haven of saftety’) zurückkehren zu können, wenn es seine soziale und materielle Mit- und Umwelt erkundet oder wie MARGRET SCHLEIDT formuliert: „Um als Kind, aber auch später als Erwachsener unabhängig und neugierig die Welt erobern zu können, braucht man in der frühen Kindheit die Erfahrung, sich in eine Geborgenheit zurückziehen zu können, wenn die ‚Welt draußen’ zu gefährlich wird“ (SCHLEIDT 2001, S. 98). Selbstständigkeitserziehung beginnt demzufolge nicht mit frühzeitig zugestandener oder zugemuteter Selbstkontrolle, sondern mit der feinfühligen ‚externen Regulation’ der Verhaltenssysteme des Kindes. Analog zum Bindungssystem verlangt auch das Explorationssystem des Kindes die feinfühlige Responsivität von Bezugspersonen. Wie KATY MIKOLAJCZYK in einer Studie zur Spielfeinfühligkeit von Vätern verdeutlicht, spielt die gemeinsame Aufmerksamkeit von Kind und Vater in Explorationssituationen eine zentrale Rolle für die kognitive Entwicklung, weil das Kind auf Dinge und Phänomene verwiesen wird und gleichzeitig etwas über deren Bedeutung aus Sicht des Vaters erfährt. Diese Enkulturationsfunktion der älteren Generation gewinnt an Bedeutung mit dem zunehmenden Explorations- und Tüchtigkeitsstreben des Kindes. Feinfühligkeit zeigt sich in diesem Zusammenhang in der kind- und entwicklungsgemäßen Kooperation bei der Bewältigung von Aufgaben bei gleichzeitiger Vermeidung direkt eingreifender und vorwegnehmender Hilfe (vgl. MIKOLAJCZYK 2006). Das Bedürfnis nach Exploration und der Wunsch nach Tüchtigkeit beschleunigen sich im Alter von zwei bis drei Jahren. SCHLEIDT spricht von einen „Selbstständigkeits-Schub“, der auf andere Weise die erzieherische Verantwortung der Eltern herausfordert. Die nun gehäuft auftretenden ‚Trotzreaktionen’ – früher sprach man auch vom ‚Trotzalter’ – hängen mit dem Bestreben zusammen, Dinge zunehmend selbstständig zu tun und mithin auch die Grenzen des eigenen Einflusses auszutarieren. Anders als durch Trotz ist dieses Austesten der eigenen ‚Machtgrenzen’ nicht möglich, da das Kind entwicklungsbedingt noch nicht über Fähigkeiten zur rationalen Verhandlung verfügt. Für die Regulierung des kindlichen Verhaltenssystems ist das ‚Setzen von Grenzen’ als erzieherische Aufgabe notwendig. Autorität und Paternalismus sind also in der Erziehung unumgänglich. Nach SCHLEIDT ist dies nicht als Zwangsübel aufzufassen, sondern durchaus als eine förderliche Bedingung für die kindliche Entwicklung, denn „das Kind erfährt so, dass die Eltern zwar letztlich entscheiden, aber ihm in diesem Rahmen Freiraum zubilligen und seine Selbstständigkeit fördern. Für das Kind sind Eltern, die Grenzen bestimmen können, gleichzeitig auch stark. Von starken Eltern beschützt zu sein, ist etwas sehr Wichtiges gerade auch in der Phase der beginnenden Eroberung der Welt“ (SCHLEIDT 2001, S. 103). 237
Am Anfang des Kapitels stand die These: „infants who are effectively dependent will become effectively independent“ (WEINFIELD et al. 1999, S. 76). Herausgearbeitet wurde, dass die Verhaltenssysteme der Kinder auf die Beantwortung durch die Verhaltenssysteme der Bezugspersonen angewiesen sind, so dass durch diese Verknüpfung eine sozioemotionale Beziehung entsteht. Theoretisch integriert werden Annahmen zur längerfristigen Bedeutung von Bindungserfahrungen im Kindesalter im Konzept der Übertragung der dabei entstehenden internalen Arbeitsmodelle auf andere Beziehungen. Ein gewichtiger Entwicklungsfaktor bildet dabei das „gesunde Selbstvertrauen“, das sich für KARIN und KLAUS GROSSMANN (2005, S. 251) „durch die liebevolle Unterstützung durch die Eltern, verbunden mit der Förderung und Respektierung der Selbstständigkeit des Kindes“ entwickelt. Empirische Hinweise für den zentralen Einfluss früher Bindungserfahrungen auf die weitere Entwicklung werden neben der Bindungsforschung auch von angrenzenden Disziplinen erbracht. Die im Bereich der Psychiatrie betriebene ‚Hospitalismus-Forschung’ zeigt klar auf, dass Waisenheimkinder mit mangelnder psychosozialer Bindung kognitiv, emotional wie auch physisch verkümmern (vgl. SPITZ 1950). Neuerdings finden bindungstheoretische Annahmen auch durch die Resilienzforschung Bestätigung, die sich mit der Entstehung psychischer Widerstandskraft trotz psychischer und sozialer Entwicklungsrisiken beschäftigt. Verstellte zunächst die einfache Hypothese der ‚Unverwundbarkeit’ (‚Invulnerabilität’) die Rekonstruktion der Entstehung von psychischer Widerstandskraft, so vollzog sich mit der Analyse des Gefüges protektiver personaler und sozialer Entwicklungsfaktoren eine neue Ausrichtung der Resilienzforschung (vgl. WUSTMANN 2005). Wie übereinstimmend hervorgehoben wird, ist eine enge und verlässliche Bindung zu mindestens einer Bezugsperson eine notwendige protektive soziale Bedingung für Resilienz (vgl. WERNER 2003; WUSTMANN 2005; FRICK 2005).
10.1.6 Generationendifferenz aus kulturpädagogischer Perspektive Kulturpädagogische Theoriekonzepte in der Tradition SCHLEIERMACHERs thematisieren das Verhältnis genealogischer Generationendifferenz als Kulturdifferenz. Klassisch ist die Unterscheidung zwischen einer älteren Generation Kulturerfahrener und einer jüngeren Generation von Kulturneulingen, denen im Sinne eines Generationenvertrags die Verpflichtung zur Vermittlung bzw. zur Aneignung von Kultur zukommt. Die besondere Verantwortung der Kultur vermittelnden Generation wird in SCHLEIERMACHERs Frage „Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“ deutlich. Nach KLAUS MOLLENHAUER (2001, S. 31f.) umfasst der pädagogische Generationenbegriff die „biologische und soziale Tatsache, dass immer verschiedene Altersgruppen streckenweise miteinander leben, von denen die einen relativ ‚fertig’ (reif, mündig, erwachsen), die anderen dagegen noch ‚unfertig’ (unreif, unmündig, heranwachsend) sind; er bezeichnet ferner den Vorgang der Überlieferung des kulturellen Bestandes an die Nachwachsenden, durch den das Verhältnis der Generationen zueinander näher bestimmt wird; er formuliert schließlich die Erfahrung, dass die Angehörigen einer Generation sich nicht als einzelne (Vater bzw. Mutter – Kind) ge238
genüberstehen, sondern sich in Gruppen formieren, womit das Verhältnis zu einer gesellschaftlichen Realität wird.“ Mit dem anthropologischen Axiom der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen gibt SCHLEIERMACHER dem Überlieferungsvorgang von Aneignung und Vermittlung eine bildungstheoretische Wendung. Er geht davon aus, dass die Vervollkommnung von Kultur und Individuum an die Generationenfolge gebunden ist. Was die ältere Generation mit der jüngeren in der Moderne will, kann sich nicht in Enkulturation durch Nachahmung und Mittun erschöpfen, es geht darüber hinaus um die Beförderung individueller und kollektiver Höherbildung im Rahmen der Kultur. Dazu ist ein reflexiv-analytischer und kritischer Aneignungsmodus wichtig, der als ‚Bildungslernen’ (vgl. Kap. 7.5.1; 12) bezeichnet werden kann und durch den das Überschreiten kultureller Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsmuster möglich wird. Grundlage der Weiterentwicklung der Menschheit ist das Zusammenwirken der älteren und jüngeren Generation im kulturellen Tradierungsprozess. Die Tradierung der kulturellen Wissensbestände, Normen und Kompetenzen soll so angelegt sein, dass sie die Heranwachsenden zur gestaltenden Weiterentwicklung von Kultur und Gesellschaft anregen (vgl. KRAUL 2003, S. 37). Diese Ambivalenz von Bewahren und Verändern drückt SCHLEIERMACHER in der bekannt gewordenen Kompromissformel aus: „Die Erziehung soll so eingerichtet sein, dass beides in möglichster Zusammenstimmung sei, dass die Jugend tüchtig werde einzutreten in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig, in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen. Je vollkommener beides geschieht, desto mehr verschwindet der Widerspruch“ (SCHLEIERMACHER 1961, S. 30). Wie an der Interpretation MOLLENHAUERS deutlich wird, ist die Realisierung dieses Bildungsanspruchs auf die deutliche Markierung von Generationendifferenz angewiesen: „Der Erwachsene soll [...] in Verhalten und Worten deutlich anschaubar sein. Wenn er den Widerspruch der jungen Generation zulässt und ihn ermutigen will, ist die Voraussetzung dafür die Vernehmbarkeit seines eigenen Spruches und Widerspruchs“ (MOLLENHAUERS 2001, S. 43). Abgelehnt ist damit eine pädagogische Haltung, die WINTERHAGER-SCHMID als „Maskierung“ und „Verweigerung von Generationendifferenz“ bezeichnet. Insbesondere in der Schule scheint nach Auskunft der Autorin ein solches Bemühen um Abbau von Differenzen vorzuherrschen, indem sich (1) Lehrer als hilflos ausgelieferte Opfer der Anforderungen des Systems Schule geben und indem sie (2) das Bildungsangebot trivialisieren, es also in einseitiger Hervorhebung des didaktischen Prinzips der Lebensweltorientierung auf die Wahrnehmungskorridore und alltäglichen Denkgewohnheiten der Schüler verengen (WINTERHAGERSCHMID 2000, S. 19). Traditionale Reflexionen über die Möglichkeit der Beförderung von Bildung im pädagogischen Generationenverhältnis argumentiert also paradox. Gerade die deutliche Hervorhebung von Generationendifferenz als Kulturdifferenz wird zur Bedingung von Kulturtradierung und Kulturweiterentwicklung. Daraus folgt das paradoxe Professionsverständnis von Pädagogen, das traditional mit dem doppelten Anwaltsmandat für die Kultur wie auch für die Kinder zum Ausdruck gebracht wird. Pädagogen vertreten Ansprüche der kulturellen Tradition und der in ihr kumulierten Menschheitserfahrungen gegenüber den Kulturneulingen. Die gesellschaftliche Funktion der Erziehung besteht in der Überlieferung der Tradition. Individuelle und kollektive Höherbildung wird aber nur möglich, wenn Pädagogen 239
auch das Mandat der Kulturneulinge gegenüber der Kultur innehaben. Vor diesem Hintergrund formuliert MOLLENHAUER, dass „der Vorgang des Überlieferns [...] immer auch ein Verändern des Überlieferten sein (soll), und zwar nicht als bewusstloser Prozess, sondern in der ausdrücklichen Anerkenntnis, dass die Spontaneität der jungen Generation einen produktiven Beitrag darstellt, auch dort, wo die erziehende Generation nicht mehr folgen kann“ (MOLLENHAUER 2001, S. 42). Um es noch einmal deutlich zu machen: Der Bildungsanspruch des SCHLEIERMACHERschen Verständnisses von Erziehung basiert auf der kulturellen Differenz zwischen der älteren und der jüngeren Generation. Der erziehenden Generation wird damit ein hohes Maß an Bildung abverlangt. Bildung als „subjektive Seinsweise von Kultur“ (GEORG SIMMEL 1922/2004) verweist auf umfassende Initiation in Kultur. Damit ist nicht nur die Initiation in kulturelle Wissensbestände gemeint, sondern auch die Zivilisierung und Rationalisierung des eigenen Lebensstils. An Erziehende ist somit der Anspruch eines zivilisierten Selbst- und Weltverhältnisses gestellt, zu dem die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung, zum Bedürfnisaufschub und zur Verantwortungsübernahme für andere gehört. Hinzu kommt auch eine emotionale Reife, die pädagogisches Verstehen und emotionales Einfühlen ermöglicht. Erst eine solche durch Bildung konstituierte Generationendifferenz ermöglicht nach SCHLEIERMACHER die Herstellung der Dialektik von Führen und Wachsenlassen in pädagogischen Handlungsbeziehungen, insofern, als Pädagogen nun bewusst und begründet im Vorgang der Übermittlung kultureller Errungenschaften und deren Veränderung Stellung beziehen können. Im Lichte modernisierungstheoretischer und konstruktivistischer Reflexionen erscheint die kulturelle Differenz zwischen den Generationen als Ausgang für Reflexionen über Erziehung, Bildung und Unterricht nivelliert, denn sie unterstellt die Distinktionsmacht einer Hochkultur bzw. Erwachsenenkultur gegenüber Populärkulturen wie auch Kinder- und Jugendkulturen, die in pluralistischen Gesellschaften mit ihren informalisierten Alltagswelten in dieser Form keinen Bestand mehr hat. Die Initiation in die kulturellen Wissensbestände und Umgangsformen, die traditionell als Hochkultur galten, sind nur noch ein Teilsegment innerhalb vielfältiger Wissens- und Sinnbestände. So müsse – um in der traditionellen Terminologie zu bleiben – eher von mannigfaltigen Generationszugehörigkeiten ausgegangen werden. Kinder und Erwachsene sind mal mehr und mal weniger in bestimmte Kulturbereiche initiiert. Diese Überlegungen spiegeln zwar kulturelle Modernisierungstendenzen wieder, in Bezug auf schulische Bildung erweisen sie sich jedoch als wenig aufschlussreich. Zwar kann Kulturvermittlungsarbeit nur noch schwerlich pathetisch und sozialutopisch als Ort produktiver kultureller Weiterentwicklung beschrieben werden, da sich die Evolution sozialer Systeme von ihrer Gebundenheit an die Generationsfolge verselbstständigt. Dennoch bleibt für pädagogische Generationenverhältnisse die kulturelle Differenz zwischen Lehrern als Initiierte in bestimmte Fachkulturen und den Kompetenzen der Heranwachsenden grundlegend bestehen. Wäre dies anders, hätte das Schulsystem seine gesellschaftliche Legitimation verloren und wäre durch funktionale Äquivalente informellen Lernens zu substituieren. So genannte jugendliche ‚Trendsetter-Lerner’, die über informelle Lernprozesse bereits so viel mathematische, ökonomische, technische oder emotionale Kompetenz erworben haben, dass sie neben der Schule z.B. eine eigene Softwarefirma führen können, in der Eltern als Angestellte und Pädagogen als Kunden in Erscheinung treten, sind Ausnahmefälle. In Abgrenzung zu Stilisierungen der Umkehrbarkeit des 240
Generationenverhältnisses, die sich bevorzugt auf jenen Typus des Trendsetterlerners beziehen, rücken aktuelle Reflexionen über kulturelle Differenzen zwischen den Generationen basale Kulturtechniken wie das Lesen und Schreiben in den Mittelpunkt. Diese Kulturtechniken können Heranwachsende nur in Ausnahmen ohne die Hilfe von Eltern und Lehrern erwerben (vgl. AHRBECK 2004; GASCHKE 2003). Die Aneignung von Lesekompetenz, die als eine der wenigen voll transferierbaren Schlüsselqualifikationen die Grundlage für allgemeine Medienkompetenz und für die kompetente Teilhabe an der durch Schriftsprache geprägten Kultur der Moderne darstellt, ist ein paradigmatisches Beispiel für die Angewiesenheit von Kindern auf die erzieherische Unterstützung, Anleitung, Gegenwirkung und Hilfe durch Erwachsene, die in die Lesekultur initiiert sind. Wie in der Leseforschung und der literarischen Sozialisationsforschung durch einschlägige Untersuchungen belegt wurde, besteht eine eindeutige Korrelation zwischen der Entwicklung stabiler Lesedispositionen und Kompetenzen, den alltäglichen Mediennutzungsmustern und dem Interaktionsklima in der Familie (vgl. HURRELMANN et al. 1993). Zur Initiation in Lesekultur brauchen Kinder Vorlesesituationen, Lesevorbilder, Austausch über Gelesenes und zur Verfügung gestellte Bücher (vgl. GRAF 1995; WIELER 1995; SCHÖN 1989). Ist so bereits vor dem Lesenlernen als Technik eine Lesedisposition und eine Vorfreude auf spätere Lesefähigkeit grundgelegt, sind die Anstrengungen und zeitweiligen Frustrationen des schulischen Leselehrgangs durch das Wissen um spätere Gratifikation getragen. Wie in der Diskussion über aktuelle Schriftspracherwerbskonzepte gezeigt werden konnte, verläuft das Lesenlernen in der Regel nicht naturwüchsig, sondern bedarf der didaktischen Anleitung, d.h. der Vermittlung der lautlichen, morphologischen und silbischen Strukturen der Schriftsprache (vgl. Kap. 7.5.2). Das Lesenlernen stellt – um nun das Problemfeld Generationendifferenz abzuschließen – ein grundlegendes und daher vielleicht auch vielfach vernachlässigtes Beispiel für die SCHLEIERMACHERsche Dialektik von Tradieren und Verändern dar. Lesekompetenz muss, so die Forschungslage, von der älteren Generation überliefert werden und ist schwerlich ohne direkte oder indirekte Hilfe anzueignen; zugleich liegt in ihr der Schlüssel zu kultureller Teilhabe und Gestaltung. Die Leseerziehung und ihr Komplement, die Schreibdidaktik, sind, so ließe sich mit SCHLEIERMACHER sagen, derart einzurichten, dass sowohl die Aneignung der konventionalisierten Kulturtechniken wie auch die Teilhabe an Schriftkultur von Beginn an ermöglicht wird.
10.2
Problematisierung II: Zur Ausklammerung von Erziehung als einem pädagogischen Verhältnis
„Was sollen Eltern und Erzieher eigentlich anderes tun, als die ihnen anvertrauten Kinder in einer bestimmten Richtung, die ihnen richtig und wichtig erscheint, zu beeinflussen, sie zu leiten und zu lenken, eben zu erziehen?“ (HERRMANN 1987, S. 106). Diese Frage stellt ULRICH HERRMANN angesichts der autopoietisch wie sozialisationstheoretisch begründeten Wirkungsproblematik von Erziehung. In SCHLEIERMACHERs Konzeptualisierung von Erziehung sieht er die einzig adäquate Aufgabenbeschreibung: „Nicht pädagogische Ohnmacht oder Allmacht, sondern Hilfe und Unterstützung, Ermutigung und Förderung, aber 241
auch Grenzen setzen ist angezeigt – und sich mehr und mehr überflüssig machen, bis der Heranwachsende mündig ist“ (ebd.). Aus der Wirkungsproblematik folgt für HERRMANN nicht der Verzicht auf direkte pädagogische Einflussnahme und auf die klare Formulierung von Erziehungszielen, wie es ein Verständnis pädagogischen Handelns als ‚Hilfe zur Selbstorganisation’ suggeriert, sondern ausschließlich die Desillusionierung pädagogischer Machbarkeitsphantasieren. Auch als Versuchshandeln bleibt Erziehung notwendig wertgebundenes intentionales Handeln, das durch die Übernahme von Verantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes gekennzeichnet und auf dessen Bildungswilligkeit angewiesen ist. ANDREAS FLITNER hat den SCHLEIERMACHERschen Grundgedanken aufgegriffen. Er begreift Erziehung als Beziehung, genauer: als reflexive und verantwortungsbewusste Teilhabe der Erziehenden am Leben des Kindes, die er entlang von drei Handlungsdimensionen entfaltet als: - „Behütung des Kindes, Auswahl seiner Lebenswelt - Gegenwirkung gegen Einflüsse von außen oder Neigungen von innen, die dem weiteren Leben des Kindes schädlich sein könnten; - Unterstützung seiner eigentümlich-individuellen ebenso wie seiner sozialen Entwicklung.“ (FLINTNER 2004, S. 82)
Der Kern der erzieherischen Teilhabe am Leben des Kindes besteht in der Stiftung einer Beziehung des gegenseitigen Vertrauens und Verbundenseins, aus der heraus Freiheit erwächst. Typische Formen des Erziehungsversagens bzw. der Erziehungsverweigerung sind für FLITNER daher (ebd. S. 160) einerseits Ausübung von Zwang und andererseits Beziehungslosigkeit, die in der Kultur des Individualismus nicht selten als Freiheit missverstanden wird. Getragen ist die pädagogische Beziehung von der Achtung der Persönlichkeit und Individualität des Kindes, dessen Entwicklung positiv begleitet, nicht aber pädagogisch geformt werden soll. In diese immer „persönliche“ und „existentielle“ Beziehung sind die erzieherischen Aufgaben des Behütens, Gegenwirkens und Unterstützens eingebettet (ebd., S. 142). Behüten meint für FLITNER die Sicherung stabiler Bindungen als Grundquell gelingender Autonomieentwicklung. Diese erfolgt durch das Auswählen und Einrichten von Lebenswelten, welche die Unsicherheit und Bedrohlichkeit der Umwelt nach Maßgabe der psychologischen Verarbeitungsvoraussetzungen des Kindes abschirmen oder filtern. Anders als in modernisierungsoptimistischen Mustern der Akteurskindheit geht FLITNER davon aus, dass diese Lebensräume als Schutzzonen etwa vor Modernisierungsphänomenen wie Urbanisierung, Mediatisierung, Kommerzialisierung, Konsumorientierung, Leistungsfixierung pädagogisch von Erwachsenen für Kinder geschaffen werden müssen. Behüten wird so als fürsorgliche Reaktion auf die Verletzlichkeit des Kindes betrachtet. Die Dimension des Gegenwirkens gegen schädliche Einflüsse schließt hieran an. Sie findet ihre Legitimation in der Notwendigkeit des systematischen Lernens gemeinsamer kultureller Wissensbestände und Verhaltensstandards. Aspekte der Gegenwirkung zeigen sich in der Verdeutlichung der Zukunftsperspektive eigener Handelungsentscheidungen gegenüber der kindlichen Spontaneität, im verständigungsorientierten Diskurs über unmittelbare und langfristige Interessen von Heranwachsenden wie auch im Setzen von Grenzen, wenn Kinder soziale Abhängigkeiten und Konflikte nicht selbst regeln können oder bestimmte Gefahren 242
noch nicht einzuschätzen vermögen. Gerechtfertigt wird diese paternalistische Beschränkung der äußeren Handlungsfreiheit letzlich mit dem Wohlergehenden des Kindes ebenso wie mit stellvertretend von den Erwachsenen angestrebten Zielen für die Autonomieentwicklung des Kindes. Unterstützen als umfassendste Dimension von Erziehung meint die vernunftgeleitete Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und die systematische Stützung der Enkulturation von Heranwachsenden. Unterstützen gründet sich auf dem Verstehen von Kindern, ihren „Lebensäußerungen, Spielen und Phantasien“, als Grundlage eines partnerschaftlichen Verhältnisses wie auch auf der Beförderung ihres Sinnverstehens durch die stellvertretende Deutung der Welt durch Erzieher – ein Gedanke, der in diesem Kapitel weiter unten noch näher thematisiert wird. Unterstützung ist vor diesem Hintergrund sowohl als Anwaltschaft der Individualität des Kindes vor sozialen Systemanforderungen und daraus resultierenden Gefährdungen für das Selbstkonzept des Kindes konzeptualisiert, wie auch als verstehensorientierte Arbeit an objektiven Strukturvorgaben, aus denen auch Unlust erzeugende Forderungen an das Kind resultieren. Erzieher fungieren als „Sachverwalter“ sozialer Anforderungen, beziehen aber das Kind in den Diskurs über die „Rationalität dieser Notwendigkeiten“ mit ein (ebd., S. 134f.). Erziehungsverhältnisse und Erziehungshandlungen, so konstatiert FLITNER mit SCHLEIERMACHER, stehen in der unauflöslichen Dialektik von Behüten und Freigeben, Gegenwirken und Mitwirken, Unterstützen und Schützen und können daher nicht mit Hilfe von Sozialtechnologien oder so genanntem Rezeptwissen konstituiert werden, sondern beruhen auf der Grundlage der Bildung, des Taktes und des pädagogischen Verstehens, Sehens und Denkens des Erziehers. Anders als in pädagogischen Reflexionen über moderne Akteurskindheit und autopoietische Selbsthervorbringungskräfte ist die pädagogische Beziehung hier asymmetrisch angelegt, denn die verantwortliche und auf die Entwicklung der Persönlichkeit bezogene Teilhabe am Leben eines Heranwachsenden gründet sich auf einem Wissens-, Kompetenz- und Autonomiegefälle, das durch Erziehung ausgeglichen werden soll. Dabei ist Erziehung nicht als „Hilfe zur Selbstorganisation“ (HUSCHKE-RHEIN 2003, S. 31) auf die Dimension der Unterstützung zu begrenzen, sondern umfasst mit dem Aspekt der Auswahl der Lebenswelt eine indirekte und mit dem Aspekt der Gegenwirkung eine direkte Form pädagogischer Einwirkung. Die Bearbeitung von Problemen und Defiziten durch Behütung, Gegenwirkung und Unterstützung ist auf stabile Bindungen angewiesen und findet eine nachträgliche Sanktionierung im Prozess des Mündig- und Selbstständigwerdens des Kindes. Wie JÜRGEN OELKERS (2001) in seiner „Theorie der Erziehung“ deutlich macht, ist diese Asymmetrie in Erziehungsverhältnissen weder als „ganzheitlich“ noch als „total“ zu verstehen. Er konkretisiert diesen Gedanken, indem er sich von der globalen Zielformel Mündigkeit trennt und Erziehungsziele partikularisiert als Problembearbeitungen auf dem Weg zur Selbstständigkeit denkt: „Objekt der Erziehung ist nicht ‚der’ Mensch oder ‚das’ Kind, sondern immer ein begrenztes Problem“ (ebd., S. 265). Die Bestimmung konkreter Aufgaben und nicht ein totaler Zugriff auf die Persönlichkeit bildet die Grundlage von Erziehung. So sind Kinder „keine Defizite der Erziehung, vielmehr können Kinder in spezifischen Bereichen der Moral und des Verhaltens Defizite haben, auf die Erziehungsprozesse reagieren“ (ebd.). Dies prägt die moralische Erwartungsstruktur innerhalb pädagogischer Beziehungen. Kindern kann hinsichtlich moralischer Eigenverantwortlichkeit und Akteurskompetenz ein die Entwicklung anregender Vertrauensvorschub entge243
gegen gebracht werden, ohne dass sie für Fehlverhalten oder Wissensdefizite verantwortlich gemacht werden. Anders als in symmetrischen moralischen Beziehungen sind pädagogische Reaktionen darauf bezogen, Verhaltensdefizite auszugleichen und das künftige Denken und Handeln von Kindern zu beeinflussen (vgl. GIESINGER 2006c, S. 279). Mit der Behebung der ‚Defizite’ ist die Erziehung abgeschlossen. Erziehung ist damit die einzige soziale Praxis, die ihr eigenes Ende anstrebt, indem sie ein asymmetrisches Verhältnis im Sinne eines Kompetenz-, Wissens- und Autonomiegefälles in ein symmetrisches Verhältnis zu überführen sucht (vgl. BENNER 1991, S. 72). Ähnlich setzt auch ULRICH OEVERMANN auf die Kraft pädagogischer Bündnisse. Ebenso wie FLITNER und OELKERS verbindet er Erziehung nicht mit der Formung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes. Anders als FLITNER, der sich in seinen Ausführungen vornehmlich auf Familienerziehung konzentriert, betont OEVERMANN in Bezug auf schulische Erziehung stärker die Dialektik von diffusen, d.h. auf die gesamte Person ausgerichteten, und universalistischen, d.h. rollenförmigen, zeitlich und räumlich begrenzten und an bestimmte Ziele gebundenen erzieherischen Handlungsformen. Das pädagogische Professionalisierungsdefizit sieht er darin, „dass die Lehrer diese widersprüchliche Einheit von Diffusität und Spezifizität nicht aufrechterhalten können, sondern entweder zur distanzlosen ‚Verkindlichung’ des Schülers oder zum technologischen, wissensmäßigen und verwaltungsrechtlichen Expertentum zerfallen lassen“ (OEVERMANN 2002, S. 155). OEVERMANN bemüht sich um eine strukturale, handlungslogische Beschreibung von Erziehung. Neben der Wissens- und Normenvermittlung kommt Erziehung aus strukturaler Sicht auch eine prophylaktisch-therapeutische Funktion zu. Da Schüler in der Regel vor Abschluss der Pubertät entwicklungsbedingt noch nicht zwischen diffusen und spezifischen Rollenbeziehungen trennen können, betrifft die partikular angelegte Vermittlung von Wissen und Normen immer auch ihre gesamte Persönlichkeit, mit OEVERMANN gesagt: ihre „psychosoziale Integrität“. Aufgabe von Erziehung ist folglich die Förderung der psycho-sozialen Gesundheit von Kindern und der Versuch der Vermeidung krisenhafter Entwicklungsverläufe. Mit Blick auf den Problemfokus Therapie fällt berufliches pädagogisches Handeln strukturlogisch in den Bereich klassischer Professionen. Professionen sind OEVERMANN zufolge sozial ausdifferenzierte Instanzen, die sich der Bearbeitung von Krisen und Problemen der Lebenspraxis durch Konsens-, Therapie- oder Wahrheitsbeschaffung zuwenden. Wahrheit, Konsens und Therapie gelten als Funktionsvoraussetzungen von Gesellschaft, deren Herstellung nach BERNHARD KORING (1989, S. 66f.) ein „soziales Dauerproblem“ darstellt, das durch soziale Funktionsstrukturen gelöst werden muss, wie sie in der Moderne durch die klassischen Professionen repräsentiert sind. Grundlage der Beschaffung von Wahrheit, Konsens und Therapie in der professionellen Praxis sind nicht ergebnissichere Interventionen, sondern „stellvertretender Deutungen“. Damit wird eine vorgängige Alltagspraxis unter der Maßgabe wissenschaftlicher Rationalität weitergeführt. Stellvertretende Deutungen sind für OEVERMANN zunächst das naturwüchsige Grundprinzip erzieherischer Interaktionen, in denen Eltern ihren Kindern den in Interaktionen erzeugten Sinn deuten, damit ihrer Sinninterpretationskompetenz vorgreifen und ihnen somit wichtige Orientierungen im Subjektaufbau geben. Von Professionellen bereitgestellte stellvertretende Deutungen sind dagegen zwischen Alltagspraxis und Wissenschaft situiert und unterliegen somit strukturell gegensätzlichen Anforderungen. Zu 244
unterscheiden sind „a) die im engeren Sinne wissenschaftliche Kompetenz des Verständnisses von Theorien und der Verfahren ihrer Konstruktion sowie der Logik ihrer strikten Anwendung und b) die hermeneutische Kompetenz des Verstehen eines ‚Falles’ in der Sprache des Falles selbst, d.h. außerhalb des Bereiches deduktiver wahrer Theorieanwendung“ (OEVERMANN 1978 zit. nach KORING 1989, S. 89). Hinzu kommt, dass sich anders als in der Familie diffuse und rollenförmige Anteile in der Sozialbeziehung mischen. Professionelle stellvertretende Deutungen sind daher eingebettet in Arbeitsbündnisse als Figurationen von Nähe und Distanz zur Therapie-, Konsens- oder Wahrheitsbeschaffung. Als Musterbeispiel für professionelles therapeutisches Handeln gilt OEVERMANN das psychoanalytische Arbeitsbündnis, in dessen Strukturanalogie er pädagogische Arbeitsbündnisse entwirft. Hier wird ein Beziehungsbündnis zwischen Gleichrangigen geschlossen, um die professionelle Deutungskompetenz in einem festgelegten Bereich in Anspruch zu nehmen. Ähnlich wie der Leidensdruck des Patienten das Fundament des klassischen therapeutischen Arbeitsbündnisses darstellt, gründet sich das pädagogische Arbeitsbündnis auf der Neugierde des Schülers (OEVERMANN 2002, S. 153). Erziehung ist hier auf begrenzte Problembearbeitungen bezogen. Dieser Aspekt findet gegenüber der Annahme einer ganzheitlichen Asymmetrie in Erziehungsverhältnissen in der pädagogischen Fachwelt Zuspruch. Problematisiert wird hingegen, dass Kinder nicht, ausgehend von der Einsicht in die eigene Unterweisungsbedürftigkeit, Rechtssubjekten gleich Arbeitsbündnisse mit ihren Lehrern schließen können. Dem steht nicht zuletzt die allgemeine Schulpflicht entgegen, welche die autonome Entscheidung zu pädagogischen Arbeitsbündnissen konterkariert. Ungeachtet dieses Problems bleibt jedoch die wichtige Einsicht, dass professionelle Pädagogik auf die Bildungswilligkeit von Schülern angewiesen ist, d.h. auf das freiwillige Eingehen der Begrenzung eigener Freiräume der Selbstentwicklung durch das Vertrauen in die Möglichkeit von Selbstbildung in Bildungsbündnissen. Die diffuse Komponente dieser Sozialbeziehung besteht darin, dass sich das Kind mit seinem fehlenden Wissen als ganze Person an den Lehrer wendet. Die Professionalität des Lehrers besteht darin, das NichtWissen des Kindes nicht zum Gegenstand einer negativen Einschätzung zu machen, sondern dem Kind Lern- und Deutungsangebote zu unterbreiten, mit denen das Wissensdefizit überwunden werden kann. Die universalistische Komponente ist dadurch gegeben, dass der Lehrer als Repräsentant des Sachanspruchs des Lernens auftritt. Auf der Grundlage der Logik des Arbeitsbündnisses plädiert OEVERMANN für eine mäeutische Pädagogik, die er auf der Basis des Prinzips des stellvertretenden Deutens konzeptualisiert. Gegenstand dieser Deutungen sind primär die Lernentwicklungen der Schüler. Die stellvertretenden Deutungen des Lehrers sind das Mittel, mit dem Schüler sokratisch zu selbsttätiger Einsicht geführt werden. Im Unterschied zu Diagnosen über die Wirkungsohnmächtigkeit von Erziehung wird in den obigen Reflexionen auf die Kraft des Bildungswillens und erzieherischer Beziehungen gesetzt. Hierin liegt die Strukturanalogie pädagogischen Handelns zu klassischen professionellen Handlungsformen. Im Unterschied zu ZINNECKER (2000, S. 275), der in der Epoche der Selbstsozialisation das Ende solcher pädagogischer Bezüge verkündet, zeigt sich REINHARD UHLE gegenüber der Vorstellung skeptisch, „dass in Zukunft auf die Machtquelle von Bindungswilligkeit, auf die Möglichkeit von Selbstbildung durch Bildungsbündnisse verzichtet wird. Die Kosten des einseitigen Setzens auf Selbsttätigkeit 245
werden [...] wahrscheinlich zu hoch, so dass Bildungsbündnisse als Macht der Begrenzung von Handlungsspielräumen zur Selbstentwicklung durch Nähe-Figurationen auch in Zukunft ihre Abnehmer finden werden“ (UHLE 2006, S. 6).
10.3
Problematisierung III: Zur Widersprüchlichkeit von Selbstorganisation als Voraussetzung, Methode und Ziel des Unterrichts
Diese Kapitelüberschrift zitiert leicht verändert einen Aufsatz von FRANZ WEINERT (1981) mit dem Titel „Selbstgesteuertes Lernen als Voraussetzung, Methode und Ziel des Unterrichts“. Ausgehend von einer Problematisierung des großen Begriffsumfangs des Ausdrucks Selbststeuerung, der zwar grundlegend die Eigenaktivität des Lernenden betont, in Fachdiskussionen jedoch mit unterschiedlicher Akzentuierung und unter äquivalenter Verwendung von Begriffen wie Selbstorganisation, Selbstregulation und Selbstbestimmung verschiedene Aspekte wie die personalen Voraussetzungen, die Selbstbewertung oder die Handlungsspielräume beim Lernen in den Mittelpunkt rückt, fordert WEINERT dazu auf, die Diskussionslage durch die grundlegende Unterscheidung zwischen Selbststeuerung auf der Ebene der Kognition und Motivation, der Methoden und der Bildungsziele des Unterrichts zu strukturieren. Dadurch wird die Vieldeutigkeit und mithin die Ideologieanfälligkeit des Ausdruckes abgeschwächt, insofern nun deutlich die Referenz seiner Thematisierung anzugeben ist. Auf diese Weise wird zugleich deutlich, dass Selbststeuerung und Fremdsteuerung des Lernens nicht als Alternativen, sondern, wie es KLAUS KONRAD und SILKE TRAUB ausdrücken, als „Pole“ eines Kontinuums zwischen „vollkommener Autonomie“ und „vollkommener Fremdsteuerung“ zu begreifen sind (KONRAD/TRAUB 1999, S. 12). Neuere Lern- und Erkenntnistheorien wie der Konstruktivismus, welche aus kognitionstheoretischer Sicht die Eigensteuerung des Lernens betonen, können folglich nicht puristisch im didaktischen Design angewendet werden, wie WEINERT (1996) an anderer Stelle ausführt, denn dadurch würden die Ebenen der Diskussion um selbstgesteuertes Lernens vermischt. Konstruktivistische Theorien können zunächst einmal ‚nur’ zeigen, dass Selbststeuerung im Sinne von kognitiver Eigenkonstruktivität eine Voraussetzung (schulischen) Lernens ist. Anders als das behavioristische Lernverständnis, das von der Analyse innerer mentale Prozesse absieht und sich ganz auf die Außendeterminierung durch zweckmäßige Reizkonstellationen (Verstärkung, Bestrafung, Löschung) konzentriert, arbeiten konstruktivistische Theorien die kognitive Eigenaktivität des Lernenden heraus und betonen mit dem Gedanken der selbstreferenziellen Bedeutungskonstruktion seine Unverfügbarkeit gegenüber der Lehre. Externe Einflüsse müssen vom Lerner stets kognitiv verarbeitet werden, insofern ist seine Lernaktivität nie zu determinieren. Auch können konstruktivistische Theorien didaktische Konzepte für Aspekte der emotionalen Wirklichkeitskonstruktion sensibilisieren. So ist in der Theorie und Praxis des Unterrichts zu berücksichtigen, dass Emotionen sowohl als Triebkräfte der kognitiven Entwicklung fungieren, wie auch Wahrnehmungskorridore oder Zugänge zur Erinnerung öffnen oder schließen. Wendet man nun den Blick auf die Methoden des Lernens, durch die in der Schule selbstständiges Arbeiten gefördert werden soll, so wird deutlich, dass diese nie der Forde246
rung nach größtmöglicher Selbststeuerung auf der Handlungsebene gerecht werden können. Nicht selten ist es notwendig, selbstständige Lernkompetenz, die eben nicht mit kognitiver Selbstreferenz gleichzusetzen ist, sondern durch stabile Lernmotivation sowie durch die Verfügbarkeit von Lernstrategiewissen gekennzeichnet ist, instruktional anzuleiten. Im Umkreis neuerer Lerntheorien und Akteursmodelle von Kindheit gehört es augenscheinlich nicht zum Allgemeingut, diese Differenzierung der Ebenen von Selbststeuerung zu berücksichtigen. Ein zentrales theoretisches Hindernis hierfür ist ein Konstruktionsbegriff, der den äußeren Korrelaten innerer Konstruktionen jegliche realistische Einflusswirkung abspricht. Da der handelnde Umgang mit Objekten Ausgangspunkt für kognitive Konstruktionen ist, repräsentieren Lerngegenstände externe Einflüsse auf innere Verarbeitungsprozesse. Auch wenn Instruktion als externer Faktor des Lernens didaktisch umgangen wird, so wirken die Handlungsoptionen an den Gegenständen auf das Lernen ein. Aus dieser Sicht macht es keinen Unterschied, ob Lernen durch sprachliche Vermittlung oder durch das Bereitstellen didaktisch strukturierter Lernumgebungen angeregt wird. Es handelt sich in beiden Fällen um externe Einflüsse der Fremdsteuerung, auch wenn einem alten reformpädagogischen Deutungsmuster zufolge „die mögliche Gängelung des Lernenden durch didaktisch vorstrukturierte Lernumwelten keineswegs in Frage gestellt“ wird (WEINERT 1982, S. 100). Selbst wenn man sich von totalitärer Kontextsteuerung im Sinne des negativen Erziehungsverständnisses ROUSSEAUs abwendet und wenn Lernumgebungen relativ offen gehalten werden, begrenzen sich Aspekte der Selbststeuerung und Selbstbestimmung des Lernens auf die interessengeleitete Auswahl von Lerngegenständen, Lernzeiten und Methoden aus einem bereitgestellten Unterrichtsangebot. Weitet man den Blick auf die Lernkontexte und zieht die institutionelle Eingebundenheit, die Schulpflicht, curriculare Vorgaben und die Fachbezogenheit schulischen Lernens in Betracht, so werden vielfältige externe Faktoren sichtbar, die einer reinen Selbstorganisation des Lernens auf Handlungsebene entgegenstehen. Die synchrone Betrachtung kognitiver Eigenkonstruktion und externer Vorgaben des Lernens führt zu dem paradoxen Befund, dass Lernen zugleich als selbst- wie auch als fremdbestimmt zu betrachten ist. Je größer die inhaltlichen, methodischen und zeitlichen Spielräume, in denen ein Lerner „folgenreiche Entscheidungen über das eigene Lernen treffen und diese wenigstens zum Teil im Lernhandeln realisieren kann“, desto höher liegt für WEINERT der Selbststeuerungsanteil im Lernen (ebd., S. 102). Ähnlich definiert HERBERT GUDJONS (2003, S. 7) „Selbststeuerung als eine Lernform, in der der Lernende mehr oder weniger (!) Initiator und Verantwortlicher seiner Lerntätigkeit ist, und in dem für ihn passenden Maß Unterstützung und Hilfe erfahren und heranziehen kann.“ Hiermit ist zugleich die Zielperspektive der Verbesserung der Selbststeuerungskompetenz thematisiert. Der Lerner soll zunehmend in die Lage versetzt werden, kompetent folgenreiche Entscheidungen in seinem Lernprozess treffen zu können. Auch an dieser Stelle ist zwischen den Begriffsebenen zu trennen: Diese Zielperspektive entspricht nicht linear den Mitteln ihrer Erreichung, der Verzicht auf instruktionslogische und systematische Wissensvermittlung und das einseitige Setzen auf Selbsttätigkeit führen nicht automatisch zur kompetenten Selbstbestimmung über Ziele und Methoden des Lernens. Wichtig ist hingegen, mit der Entwicklung von Motiven und Kompetenzen die personalen Voraussetzungen zu selbstgesteuertem Lernen didaktisch zu unterstützen und den Schülern in Abhängigkeit ihres Entwicklungsstandes zunehmend mehr Verantwortung für die Planung und 247
Gestaltung ihrer Lernprozesse zu übertragen. Umgekehrt sind selbstgesteuerte Lernformen nicht indiziert, wenn Schüler oder gesamte Schulklassen nicht über die erforderlichen Kompetenzgefüge und Motivationen verfügen und sich die instruktive Vermittlung von Wissen daher als effektiver erweist. Mit der Förderung der personalen Voraussetzungen ist die didaktisch-methodische Konzeptualisierung selbstgesteuerten Lernens vor ein weiteres Problem gestellt. Kann die Befähigung zu selbstgesteuertem Lernen als abstrakte, inhalts- und situationsvariante Schlüsselqualifikation begriffen werden, wie es der bekannte Slogan vom „Lernen des Lernens“ suggeriert? Anders ausgedrückt: Ist der Erwerb von Lernkompetenz rein formal und entmaterialisiert möglich? Aktuelle Forschungsergebnisse beantworten diese Frage eindeutig: Es ist nicht möglich, das Lernen zu lernen. Wie in einer Metaanalyse diverser empirischer Forschungsarbeiten zu selbstgesteuertem Lernen gezeigt werden konnte, werden formale Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen nicht getrennt von Themen und Inhalten angeeignet und bleiben folglich auf bestimmte Wissensdomänen begrenzt (HATTIE/BIGGS/PURDIE 1996; vgl. auch HIRSCH 2002; WEINERT 2003). Man kann also sagen, dass formale Kompetenzen fachspezifisch angelegt sind und auf einer soliden Wissensbasis fußen. Die Aneignung von Faktenwissen hat so gesehen zu Unrecht ein schlechtes Image in pädagogischen Reformdiskursen. Da sich Lernkompetenz in der Fähigkeit der Kontextualisierung von Informationen zeigt, behindert für ERIC D. HIRSCH „eine Überbetonung von prozessorientiertem Lernen zu Lasten des Erwerbs von Faktenwissen [...] vielmehr die Fähigkeit, das Lernen zu lernen“ (HIRSCH 2002, S. 51). Anders als konstruktivistische Theorien der situierten Kognition stellt der Rekurs auf Domänenspezifik nicht die Möglichkeit des Lerntransfers in Abrede, vielmehr wird hier ein Verständnis von Expertenwissen vertreten. Experten verfügen über differenziert strukturierte mentale Wissensnetze, welche sowohl die schnelle Elaboration und Organisation neuen Wissens wie auch das selbstständige Lösen von Problemen durch Umstrukturierungen des Wissensbestandes ermöglichen. Lernkompetenzen wie Problemlösefähigkeit können folglich nicht rein formal erworben werden, sie sind an Wissensnetze gebunden. Prozedurales und deklaratives Wissen sind demnach unauflösbar miteinander verbunden. Traditionelle Bildungsphilosophie kennt diesen Tatbestand und setzt daher formale Bildung in Abhängigkeit zu materialer Bildung. Insofern kann HEINZ-E. TENORTH (1994, S. 115) das psychologische Problem des Erwerbs von Lernkompetenz in klassische Terminologie übersetzen: „’Bildung’ lässt sich nicht allein formal und auch nicht direkt anzielen, es bedarf einer Sache, die man als ‚Welt’, als ‚Struktur des Problems’ und als Anlaß und Platzhalter der zu erwerbenden Lernstrategien betrachten darf.“ Aus dieser Problematik folgt, dass die didaktische Förderung der personalen Voraussetzungen zu selbstgesteuertem Lernen nicht losgelöst von konkreten Inhalten erfolgen kann (vgl. dazu auch WEINERT 1982, S. 107). An dieser Stelle stößt man auf eine theoretische Leerstelle des konstruktivistischen Designs der Didaktik. Der Diskurs des pädagogischen Konstruktivismus, der selbstgesteuerten Lernformen als Methode des Unterrichts einen hohen Wert beimisst, ist durch eine Inhaltsneutralität gekennzeichnet, die in den Kapiteln 7.3 und 7.5.2 als bildungstheoretische Unzulänglichkeit kritisiert wurde. Diese Leerstelle gilt es mit Rückgriff auf motivations- und kognitionspsychologische Theoriekonzepte zu füllen, um selbstgesteuerte Lernprozesse angemessen theoretisch fassen und 248
didaktisch anleiten zu können. Konzentrieren wir uns im Folgenden mit den Aspekten Motivation und Lernstrategien auf zwei zentrale personale Voraussetzungen selbstgesteuerten Lernens. Geht man davon aus, dass zur Förderung der Motivation allgemeine und von konkreten Inhalten losgelöste Ermunterungen zum Lernen und ein selbstwertdienendes Klima der Wertschätzung freilich wichtige, allein aber nicht hinreichende Faktoren darstellen, dann werden Theoriekonzepte gegenstandszentrierter Motivation didaktisch bedeutsam. Sie betonen den Zusammenhang von Interesse und selbstgesteuertem Lernen. Die Förderung der Motivation zu selbstgesteuertem Lernen stellt sich aus dieser Perspektive als didaktische Vermittlung eines persönlichen Bezugs zur Sache dar. Diese Beziehung und nicht nur sein potenzieller Anwendungsgehalt überwindet die Trägheit des Wissens und lässt es lebendig werden. Bildungslernen wird daher traditionell auch als persönliche „Anverwandlung“ des Gelernten beschrieben. Die zentrale didaktische Herausforderung besteht darin, Schülern die subjektive und kulturelle Bedeutung des vermittelten Wissens aufzuzeigen, so dass auch Wissen, das zunächst aufgrund mangelnder persönlicher Bezüge sinnleer erscheint, sinnhaft verarbeitet werden kann. Dadurch wird Interesse befördert und/oder die Einsicht in die Notwendigkeit grundgelegt, sich mit dargebotenen Unterrichtsgegenständen auseinanderzusetzen. Mit JOHN ELSTER lässt sich formulieren, dass sich Selbststeuerung im Sinne der erlebten subjektiven Autonomie des Lernens als ‚Begleitumstand der interessegeleiteten Beschäftigung mit einer Sache’ ergibt. Autonomie wird hier als subjektive Erlebnisqualität des Lernens gefasst, wobei freilich klar gesehen wird, dass die subjektive Wahrnehmung der Eigensteuerung des Lernens als Gegenstück äußere Freiräume verlangt, denn sonst wäre einer Selbsttäuschung das Wort geredet. GERTRUD NUNNER-WINKLER (1990) entfaltet den Gedanken der erlebten Autonomie des Lernens durch den persönlichen Bezug zur Sache. Autonomie wird dann verfehlt, wenn sie als Selbstzweck eingefordert wird. Anders ausgedrückt: Objektive Möglichkeiten zu eigengesteuertem Lernen können als Zwang erlebt werden, wenn sie nur um ihrer selbst willen eingeführt werden, weil Freiheitsgrade in diesem Fall rein äußerlich bleiben. Hier ist ein Phänomen angesprochen, das mit NUNNER-WINKLER (ebd., S. 679) als „Missdeutung autonomer Kriterien“ beschrieben werden kann, da Selbstbestimmung von inhaltlichem Engagement getrennt wird. Wichtig für subjektiv erlebte Autonomie ist aber, wie bereits betont, die subjektive Bedeutung, die Fächern und Themen im Unterricht beigemessen wird und das Vermögen, über Fächer und Themen Welt zu entdecken und zu verstehen. Dieser klassische bildungsphilosophische Gedanke findet sich bereits bei GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL als „der Sinn für das Objektive in seiner Freiheit. Es liegt darin, dass ich nicht mein besonderes Ich in dem Gegenstande suche, sondern die Gegenstände, wie sie an und für sich sind, in ihrer freien Eigentümlichkeit betrachte und behandle, dass ich mich ohne einen besonderen Nutzen dafür interessiere“ (HEGEL 1840 zit. nach BÖHM 2004, S. 90). Wesentlich pragmatischer als das idealistische Bildungsverständnis HEGELs thematisiert NUNNER-WINKLER nicht nur die Bildungsrelevanz primärer, sondern auch sekundärer Lernmotivationen. Der persönliche Bezug zu Schulfächern und Themen des Unterrichts resultiert nicht nur aus genuin inhaltlichem Interesse, sondern erwächst auch, wenn inhaltliches Engagement für eigene Zwecke wahrgenommen wird: „Wer Chemie und Physik oder Geschichte lernt, weil er den Aufbau der Welt oder den Lauf der Dinge verstehen oder aber, 249
weil er ökologische Katastrophen oder die Entstehung autoritärer Potentiale verhindern will, wird in der Beschäftigung mit diesen Inhalten oder in der Antizipation der erstrebten Ziele eine Befriedigung finden, die eine formelhaft abstrakte Frage nach Sinnhaftigkeit zurücktreten lässt“ (ebd., S. 683). Eine genauere Analyse der hier formulierten primären und sekundären Motivationen in der subjektiven Wahrnehmung der Eigensteuerung des Lernens findet sich in der „Selbstbestimmungstheorie der Motivation“ von EDWARD DECI und RICHARD RYAN, in der Handlungen hinsichtlich des Ausmaßes und der Qualität ihrer erlebten Selbstbestimmung unterschieden werden. Als ‚intrinsisch’ bezeichnen die Autoren interessengeleitete Handlungen. Die intrinsische Motivation repräsentiert die Kernmotivation für selbstgesteuertes Lernen, denn sie erklärt, „warum Personen frei von äußerem Druck und inneren Zwängen nach einer Tätigkeit streben“ (DECI/RYAN 1993, S. 226). Extrinsisch motiviertes Lernen hat dagegen einen instrumentellen Charakter, der Bezug zur Sache ist vermittelt durch ein außerhalb ihrer selbst liegendes Interesse. Wie bereits das Beispiel NUNNER-WINKLERs zeigt, kann extrinsische Motivation entgegen der landläufig verbreiteten Meinung und früheren Fassungen der ‚Selbstbestimmungstheorie der Motivation’ nicht schlechtweg als fremdbestimmt gewertet werden. Extrinsische Motivation ist differenzierter zu betrachten und auf einem Kontinuum zwischen den Polen „heteronomer Kontrolle“ und „Selbstbestimmung“ anzusiedeln. Während externe Belohnung oder Bestrafung und die unreflektierte Internalisierung äußerer Verhaltensstandards dem Pol heteronomer Kontrolle zuzuordnen sind, ist extrinsisch motiviertes Verhalten dann als selbstbestimmt zu bezeichnen, wenn durch Prozesse, die als „Identifikation“ und „Integration“ bezeichnet werden, die Vernünftigkeit externer Anforderungen erkannt und im eigenen Selbstkonzept integriert wird (ebd., S. 227f.). KANTianisch ausgedrückt besteht die Entwicklung von Autonomie darin, sich durch Selbstgesetzgebung selbst zur Wahl fähig zu werden. Um diesen Gedanken an den Problemkreis des selbstgesteuerten Lernens zurückzubinden: Persönliche Bezüge zur Sache als motivationale Voraussetzung zu selbstgesteuertem Lernen können sowohl extrinsisch wie auch intrinsisch motiviert sein. Während Interesse didaktisch durch die Modellwirkung der Lehrer, d.h. durch die Begeisterung für ihre Fächer und die Themen des Unterrichts erweckt werden kann (vgl. NUNNER-WINKLER 1990), darf sich extrinsische Motivierung in einem an Selbstbestimmung als Bildungsziel orientierten Unterricht nicht in Belohnung und Bestrafung erschöpfen, sondern muss den Schülern die persönliche Wichtigkeit der Sache verdeutlichen. Die didaktische Herausforderung besteht darin, der möglichen persönlichen Bedeutung, die ein Unterrichtsinhalt im Leben und Erleben des Schülers haben könnte, nachzuspüren. Mit dem Erwerb von Lernstrategien wendet sich der nachfolgende Abschnitt einer zweiten zentralen Säule selbstgesteuerten Lernens zu. Bereits erläutert wurde, dass domänenspezifische Strategien, die an didaktisch zugeschnittenen Inhalten und Themenbereichen erarbeitet wurden, erwiesenermaßen effektiver sind als formalisierte und potenziell auf verschiedene Aufgabenbereiche transferierbare Strategien. Lernstrategien können mit HELMUT FRIEDRICH und HEINZ MANDL (1997) als „mental repräsentierte Schemata oder Handlungspläne begriffen werden, die sich aus einzelnen Handlungssequenzen zusammensetzen und situationsspezifisch abrufbar sind“. Gängige Taxonomien unterscheiden Informationsverarbeitungsstrategien, Kontrollstrategien und Stützstrategien. Informationsverar250
beitungsstrategien umfassen Fähigkeiten der organisierten Aufnahme und der Elaboration von Informationen in bestehende Wissensnetze. Kontrollstrategien sind auf die metakognitive Steuerung durch die Planung, Überwachung und Regulierung des Lernens gerichtet. Als Stützstrategien gelten die von konkreten Inhalten gelösten ‚general learning skills’ wie etwa Zeitmanagement, Memo-Techniken, die Gestaltung der Lernumgebung, Informationsbeschaffungsstrategien. Sie stützen selbstgesteuertes Lernen, können es aber nicht leiten. Dieses vermögen nur inhaltsspezifische Informationsverarbeitungs- und Kontrollstrategien. Von besonderer didaktischer Relevanz sind folglich Modellbildungen zum Zusammenspiel der kognitiven Fertigkeiten und Strategien in spezifischen Lernprozessen. Das konstruktivistische Theorem der funktionalen Geschlossenheit des kognitiven Systems erweist sich an dieser Stelle als wenig hilfreich. Die Komplexität und Selbstreferenz psychischer Prozesse wird mitunter derart überbetont, dass modellartige Vereinfachungen, wie sie das psychologische Informationsverarbeitungsparadigma kennzeichnen, mitunter gar nicht erst gewagt werden. Bezeichnend hierfür ist der permanente Verweis auf die kontingente Wirkung von Perturbationen und das Ausbleiben der Frage, wie pädagogische Einflüsse angelegt sein müssen, um gezielt kognitive Teilprozesse in Aneignungs- und Problembearbeitungsprozessen zu unterstützen. Für eine aneignungsbezogene Didaktik ist es jedoch unerlässlich, sich der Komplexität der kognitiven Prozesse des Lernens zuzuwenden. Um Lernstrategien didaktisch fördern zu können, sind elaborierte Modellierungen kognitiver Prozesse bei der Bewältigung gegenstandsbezogener Lernprozesse nötig. Ein Beispiel hierfür sind kognitive Prozessmodelle des Schreibens, die in der Schreibforschung im Spannungsfeld von Psychologie und Linguistik entwickelt werden und in der prozessorientierten Aufsatzdidaktik Anwendung finden. Sie bilden wesentliche kognitive Prozesse des Textschreibens ab und eröffnen so Möglichkeiten zu ihrer gezielten didaktischen Förderung. Schreiben wird in Informationsverarbeitungsmodellen als Problemlöseprozess konzeptualisiert. Durch Analysen verbalisierter Denkprozesse von Schreibexperten fanden JOHN HAYES und LINDER FLOWER (1994) kontinuierlich auftretende, interaktive und rekursive Denkbewegungen, die sich analytisch als Teilprozesse des Schreibens fassen lassen. Dabei handelt es sich um Prozesse des Planens, Formulierens und Überarbeitens, deren Abfolge und Interaktion metakognitiv reguliert wird. Jeder dieser Prozesse lässt sich wiederum in Teilprozesse untergliedern, wie z.B. die Planungskomponente in die Teilsegmente Wissensgenerierung, Ideenorganisation und das Setzen von Schreibzielen. Ohne auf Einzelheiten der Modellierung von Schreibprozessen eingehen und ihre didaktische Rezeption systematisch rekonstruieren zu können, ist an dieser Stelle die didaktische Funktion solcher Modellbildungen für die Förderung selbstgesteuerten Lernens deutlich zu machen. Mit ihnen wird es möglich, Lernprozesse selbst zum Unterrichtsgegenstand zu erheben, ohne sie von konkreten Problemlösungsprozessen zu abstrahieren. So entwickelt die prozessorientierte Aufsatzdidaktik u.a. Konzepte zur Identifikation von Schreibproblemen, zum isolierten Üben einzelner Teilprozesse des Schreibens zum Zwecke der kognitiven Entlastung sowie zur Koordinierung der Teilprozesse. Lernende erhalten so Einblick in die Teilaspekte des Schreibens und darauf bezogene Planungs-, Überwachungsund Regulierungsstrategien, die sie zunehmend selbstgesteuert nutzen. Im Vergleich zum 251
ausschließlich textlinguistisch ausgerichteten ‚traditionellen Aufsatzunterricht’, in dessen Zentrum die Vermittlung isolierten Wissens über einzelne Textsorten steht, ist die Förderung selbstgesteuerten Schreibens ein wichtiges Ziel der prozessorientierten Schreibdidaktik. Indem Schreibprozesse und Funktionen des Schreibens zum Unterrichtsgegenstand erhoben werden, soll Schülern über die schematische Anwendung schulischer Aufsatzarten und Textmuster hinaus der Erwerb von Schreibfähigkeit ermöglicht werden, mit der sie selbstgesteuert in unterschiedlichsten Schreibsituation kompetent schriftsprachig handeln können (zum Zusammenhang von Schreibforschung und Aufsatzdidaktik vgl. BAURMANN/ WEINGARTEN 1995; FRILLING 1999; WEINHOLD 2000).
10.4
Problematisierung IV: Zur Ausklammerung von Bildungsinhalten
„Die Sache der Schule ist die Sache“, so bestimmt EWALD TERHART (2002, S. 49) die axiomatische Basis didaktischer und schulpädagogischer Theoriebildung. Gesellschaftlich legitimieren kann sich die Schule nur durch die Institutionalisierung eines Lernangebots, das die Lernerfahrungen in anderen Lebenswelten übersteigt. Insofern unterliegt schulisches Lernen dem Sachanspruch der behandelten Themen und Inhalte. Seine spezifisch schulische Organisationsform findet das Lernen im Unterricht. Unterricht als Hauptaufgabe der Schule kann grundlegend definiert werden als „eine bestimmte, institutionalisierte Form, in der der Zusammenhang von Lehren und Lernen gestaltet wird“ (KLAFKI 1997, S. 789). Schulisch organisiertes Lernen ist ein institutionell abgegrenzter Sonderfall der Gesamtmenge von Lernprozessen, der gegenüber naturwüchsigen Sozialisationsprozessen durch ein systematisches Vorgehen gekennzeichnet ist und auf intendiertem Lehren basiert. Damit Lehre das Lernen der Schüler erreichen kann, ist es notwendig, Unterricht nicht nur entlang der Stoffsystematik zu strukturieren, sondern auch die Logik von Aneignungsprozessen zu berücksichtigen. Die Planung und Gestaltung von Unterricht vollzieht sich demzufolge im Horizont von Sachansprüchen der Unterrichtsgegenstände und Besonderheiten des Lernens. Die Einsicht in diese Zusammenhänge leuchtet unmittelbar ein. Dennoch ist es nach Auskunft schulkritischer Autoren wie PETER J. BRENNER (2006) und HERMANN GIESECKE (1998) kein schulpädagogisches Allgemeingut, die Dialektik von Sach- und Aneignungslogik theoretisch und praktisch auszugestalten und aufrechtzuerhalten, denn seit der Reformpädagogik wird in der deutschen schulpädagogischen Diskussion die Frage nach der Methodik des Lernens deutlich stärker gewichtet als das Problem der Auswahl der Inhalte. Diese Diagnose wird durch die Analyse der in dieser Arbeit diskutierten Reflexionstheorien gegenwärtiger reformorientierter (schul-)pädagogischer Diskussionen bestätigt. Das Amalgam aus modernisierungstheoretischen und konstruktivistischen Überlegungen zur Akteurskompetenz von Kindern, d.h. der Bezug auf die Selbstsozialisation und Selbstständigkeit modernisierter Kindheit und die Selbstreferentialität des Lernens, Erkennens und Verstehens, befördert die Stabilität reformpädagogischer Überzeugungen ebenso wie daran anschließende Thesen zur Entwertung des Faktenwissens. Didaktische Ideen und Prinzipien wie die Öffnung des Unterrichts und die Auflösung seiner traditionellen Fachgrenzen, die 252
Akzeptanz und Beförderung von Individualisierungsansprüchen, die Lebenswelt-, Erfahrungs- und Anwendungsorientierung des Lernens sowie die Entsystematisierung des Unterrichts einschließlich der Defunktionalisierung des Lehrers als Wissensvermittler zugunsten der Ermöglichung selbstgesteuerten Lernens stehen im Mittelpunkt der schulpädagogischen Diskussion. In Folge dieser Reflexionen tritt der Begriff der ‚Kompetenz’ oder der ‚Viabilität’ des Wissens an die Stelle des materiellen Wissensbegriffs. Kompetenz ist ein performativer Begriff, der sich nicht primär auf materielles Wissen, sondern auf formale Fertigkeiten und Fähigkeiten bezieht. Wie in Kapitel 10.3 gezeigt wurde, ist dies eine durchaus problematische Setzung, da lernpsychologische Forschungen zeigen, dass eine breite Wissensbasis für den Erwerb formaler Kompetenzen unentbehrlich ist. Andersgesagt: Der Erwerb prozeduraler Handlungskompetenz und der Erwerb deklarativen Wissens gehören untrennbar zusammen. ELSBETH STERN (2003) sieht Wissen in dieser Hinsicht als den Schlüssel zum Können. Insofern kann der Wissensbegriff nicht durch den Kompetenzbegriff substituiert werden. Vielmehr ist es angebracht, beide Begriffe eng aufeinander bezogen zu denken. Wie BRENNER klar formuliert, folgt aus der postulierten „Entwertung des Wissens in pädagogischer Konsequenz die Totalisierung des Lernens“ (BRENNER 2006, S. 83). Diese Totalisierung des Lernens zeigt sich etwa in der inhaltsentleerten Konzeptualisierung von Bildung als ungerichtete und lebenslange Selbsttransformation bzw. der Ersetzung des Bildungsbegriffs durch Lernfähigkeit als funktionales Äquivalent. Diese pädagogischen Grundsatzentscheidungen verweisen im Grunde auf einen modernisierten Persönlichkeitstypus als Qualifikationsziel von Schule, den RICHARD SENNETT (2000) den „flexiblen Menschen“ nennt. Der flexible Mensch kann sich aufgrund seiner Lernkompetenz in der beschleunigten Wirtschafts- und Sozialwelt der modernisierten Moderne relativ problemlos zurechtfinden und orientieren, ohne wirklich gestaltend an Welt teilzuhaben. Die Totalisierung des Lernens im bildungstheoretischen Pragmatismus schulpädagogischer Reformdiskussionen findet seine konsequente, von reformpädagogischer Seite jedoch unerwünschte Fortsetzung in literacy-Konzepten, auf denen internationale pädagogische Vergleichsstudien wie TIMSS und PISA basieren. Trotz unterschiedlicher theoretischer und programmatischer Herleitungen konvergieren das konstruktivistische Lernprinzip der Viabilität und das literacy-Konzept in der gemeinsamen Akzentuierung der pragmatischen Alltags- und Anwendungsorientierung der im Unterricht zu erwerbenden Kompetenzen. Geht es konstruktivistischen Theoretikern darum, Wissen vom Wahrheits- und Sachanspruch zu befreien und in die Handlungszwecke des Selbst zu stellen, so zielt das literacy-Konzept auf die Herleitung und Operationalisierung von Kompetenzen nach Maßgabe eines „funktionalistisch orientierten Grundbildungsverständnis(ses), für das die Anwendung – oder vorsichtiger: die Anschlussfähigkeit – erworbener Kompetenzen in authentischen Lebenssituationen den eigentlichen Prüfstein darstellt“ (PISA 2001, S. 17). Alltagspraktische Problemlösungskompetenz, negativ ausgedrückt: die Verwertbarkeit von Wissen in multiplen Situationen, bildet in beiden Konzepten das Leitbild schulisches Lernens. Anders als die radikal individualistische Konkretisierung des Konzepts der Viabilität im modernen Konstruktivismus sind die ‚skills for life’ in literacy-Konzepten universalistisch angelegt. Die Universalisierung und Standardisierung von Basisqualifikationen resultiert aus der forschungspragmatischen Verortung von literacy in der empirischen Bildungsforschung, die sich derzeit besonders auf die Evaluation standardisierter Kompetenz-Niveaus konzent253
riert. Da reformpädagogische Varianten des bildungstheoretischen Pragmatismus die Frage nach den Inhalten schulischen Lernens vernachlässigen und somit ein zentrales, nicht von anderen wissenschaftlichen Disziplinen substituierbares pädagogisches Arbeitsgebiet aufgegeben haben, entstand eine theoretische und bildungspolitische Leerstelle, die nunmehr nicht von Pädagogen geschlossen wird, sondern von der OECD, einer internationalen Wirtschaftsorganisation, von der die PISA-Studie durchführt wird. Nicht zufällig zeigt sich daher in der Operationalisierung der in den PISA-Studien evaluierten Basiskompetenzen betriebswirtschaftliches Kalkül, das nach BRENNER zu einer „pragmatischen“ und „utilitaristischen“ Verengung schulischen Lernens führt (BRENNER 2006, S. 95). Aufgabe der Schule ist die Vermittlung von „Basiskompetenzen“, so heißt es in der PISA-Studie, „die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendig sind“ (PISA 2001, S. 16). Gemeint ist damit „eine funktionale Sicht auf Kompetenzen als basale Kulturwerkzeuge“ (ebd., S. 78). Die Einführung in kulturelle Wissens- und Traditionsbestände geschieht also nicht um ihrer selbst willen. Diese marginalisierte Rolle des Wissens spiegelt sich u.a. auch darin, dass es neben motivationalen, volitionalen, emotionalen, metakognitiven usw. Kompetenzen als eine personale Voraussetzung unter anderen für Problemlöseprozesse verstanden wird. Lesekompetenz (reading literacy), um dieses funktionalistische Bildungsverständnis an einem Beispiel deutlich zu machen, wird als Fähigkeit operationalisiert, „geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (ebd., S. 80). Ausgespart bleiben die Fähigkeit zum kritischem Lesen, der rezeptionsästhetische Umgang mit Literatur, die Entwicklung stabiler Lesedispositionen, die Einführung in literarische Verarbeitungsformen von Wirklichkeit und mithin die Befähigung zur Teilhabe an literarischer Kultur. Mit Rückgriff auf den konstruktivistischen Begriff der Viabilität erläutert und kritisiert DETLEF GAUS das Verständnis von reading literacy als „Fähigkeit, in einer durch schriftliche Zeichen codierten (post-)modern chaotischen Welt die diese Welt strukturierenden Zeichen zu entziffern mit dem Zweck des Bestehens, letztlich des Überlebens. Entziffern als Technik des Überlebens in Welt aber ist weniger als Deuten und Gestalten von Welt, wie es der klassische Bildungsbegriff meint. [...] Es fehlt jeder Bezug zur Vorstellung, selber Welt aktiv ästhetisch gestalten zu können.“ (GAUS 2005b, S. 278)
In seiner Interpretation von PISA-Aufgaben kann GAUS zeigen, dass reading literacy auf einem Verständnis von Lesekompetenz beruht, dass auf die Fähigkeit zur Informationsentnahme reduziert ist (vgl. ebd. S. 277f.). Auf ein tieferes Verstehen und Deuten der in Literatur verarbeiten Sinnhorizonte zielen Literacy-Konzeptionen nicht ab. Die Befähigung zur Teilhabe an literarischer Kultur, die literarische Sozialistisationsforschung spricht in diesem Zusammenhang von ‚ästhetisch reflexivem Lesen’, wird nicht als Bildungsziel entwickelt. Eine ähnlich gelagerte Problematik betrifft auch den Grundstein der aktuellen Bildungsdiskussion im PISA-Gefolge, die Bildungsstandards (vgl. KLIEME et al. 2003). Bildungsstandards als Instrument der Output-Steuerung des Bildungssystems zielen auf ein bundesweit einheitliches und verbindliches schulisches Anforderungsprofil fachspezifischer 254
und fachübergreifender Kompetenzen, die in den Kerncurricula der Bundesländer und den Stoffverteilungsplänen der einzelnen Schulen konkretisiert werden. Beispielaufgaben zu den Bildungsstandards zeigen, wie der Erwerb und die Überprüfung von Standards bewerkstelligt werden kann. Inhalte, Stoffe und Themen schulischen Lernens werden hier zu relativ beliebigen Platzhaltern für den Erwerb vorgegebener Kompetenzen. Das führt nicht nur zu einer Marginalisierung des Eigenwerts der Unterrichtsgegenstände, sondern auch zu einer Standardisierung der Schüler. So kann befürchtet werden, dass Lehrkräfte etwa einen literarischen Text „in seiner Widerständigkeit und ambigen Mehrdeutigkeit (...) nur noch durch die Brille der Kompetenzen, die an ihm erworben werden können, wahrnehmen“ (SPINNER 2005, S. 89). Damit verblasst die subjektive Bedeutung des Textes ebenso wie das Moment der subjektiven Formgebung des Stoffes im Aneignungsprozess, das der Begriff des ‚ästhetisch-reflexiven Lesens’ beinhaltet, zugunsten einer Standardisierung des Kompetenzerwerbs. Angesichts dieser Problematik anwendungsbezogener Kompetenzen lässt sich in pädagogischen Fachdiskussionen eine Rückbesinnung auf traditionale Themen der Bildungsphilosophie erkennen. Mitte der 1990er Jahre setzte eine vielschichtig gelagerte Diskussion über Bildung und Kanon ein, die als Gegenbewegung zum bildungstheoretischen Pragmatismus aufgefasst werden kann. Ziel der Kanon-Debatte ist es, einen für Schule und Unterricht verbindlichen und zur kulturellen Teilhabe befähigenden Bestand von Fächern und Wissensinhalten festzulegen, der nicht auf Anwendungswissen zu begrenzen ist, sondern notwendig das in schulpädagogischen Reformdiskursen als ‚träge’ diskreditierte Faktenund Sachwissen umfasst. Systematisch lässt sich der neuere Diskurs über Bildung und Kanon entlang einer ‚gesellschaftlichen’ und einer ‚individuellen’ Dimension von Bildung strukturieren. Erstere sieht den Bildungsauftrag der Schule primär in der Tradierung von Kultur – eine Funktionsbeschreibung von Bildung, der in aktuellen schulpädagogischen und didaktischen Diskursen nur ein geringer Stellenwert zukommt (vgl. Kap. 11). Bildung ist hier als Funktion und Form beschrieben, mit der Gesellschaften ihre kulturelle Kontinuität im Generationenwechsel sichern (vgl. TENORTH 1994, S. 126). Die Herstellung der Kontinuität ist durch die Dialektik von Homogenisierung und Differenzierung konstituiert. Homogenisierung ist auf die Herstellung von Gemeinsamkeiten durch Übermittlung eines kulturellen Bestandes grundlegender kultureller Wissensinhalte und Denksysteme zur Stärkung sozialer Bindungen bezogen und wirkt insofern als Korrektiv zu Freisetzungsprozessen in der Moderne (vgl. Kap. 3.1). Bildung ist damit als eine Form ‚sozialen Kitts’ beschrieben, die gerade im Zuge der Erosion anderer sozialer Integrationsmodi wieder an Bedeutung gewinnt (vgl. BRENNER 2006, S. 105). Die Integrationskraft kultureller Gemeinsamkeiten wird u.a. in der Förderung der Identifikation mit der Schule, des Dialoges zwischen den Generationen wie auch der interkulturellen Entwicklung durch die Hervorkehrung kulturübergreifender Gemeinsamkeiten gesehen (vgl. BARTNITZKY 2002, S. 43f.). Nicht selten beklagen entsprechende Argumentationen die Abnahme kultureller Selbstverständlichkeiten und zivilisatorischer Standards als kulturelle Modernisierungsverluste, denen durch ‚Mut zur Erziehung’ und ‚Vermittlung von Allgemeinbildung’ begegnet werden soll (vgl. GASCHKE 2003). Eine klare Abgrenzungslinie wird gegenüber Ambitionen der wirtschaftsnahen Modernisierung schulischer Bildung gezogen, die mit ihrem betriebswirtschaftlich 255
motivierten Argument der schnellen Veralterung des Wissens pädagogisch relevante Kategorien wie Erinnerung und Tradierung von Kultur nicht zu fassen vermögen (vgl. GIESECKE 2005, S. 380). Bekannte Re-Kanonisierungsvorschläge von Bildung versuchen daher, den Kern der kulturellen Überlieferung zu bestimmen und sind zumeist historischchronologisch strukturiert (vgl. SCHWANITZ 1999; ADAM 2002; FUHRMANN 1999). Die andere Seite von Homogenisierung ist Differenzierung, denn mit der verbindlichen inhaltlichen Festlegung schulischen Lernens wird nicht nur die Differenz von Kanonischem und Apokryphen aufgestellt, sondern mithin auch die „Differenz von Kompetenz und Inkompetenz, von legitim und illegitim, von anerkannt und ausgeschlossen (durchgesetzt)“ (TENORTH 1994, S. 129). So kommt dem homogenen Wissenskanon nicht zuletzt eine wichtige institutionelle Funktion zu, die in der Sicherung der Vergleichbarkeit schulischer Ansprüche und Anforderungen bei der Differenzierung von Noten und Abschlüssen besteht. Komplementär dazu wird die Kanonisierung von Bildungsinhalten vom Standpunkt des Individuums gedacht. Hier ist die Frage leitend, durch welche Fächer und Themen das Individuum zur kulturellen Teilhabe und zur Entwicklung von Fähigkeiten autonomen Denkens, Fühlens und Wollens angeregt werden kann. In Form eines Bildungskanons muss Schule offenlegen, über welche exemplarischen Inhalte und Methoden der Kulturaneignung diesem Auftrag zur Persönlichkeitsbildung und Enkulturation nachgekommen werden soll. Im Unterschied zu Konzepten des bildungstheoretischen Pragmatismus geht es in Argumentationen, die an die Tradition klassischer Bildungsphilosophie anknüpfen, nicht um den Erwerb von Basiskompetenzen für eine „befriedigende Lebensführung“ (PISA 2001, S. 16), sondern darüber hinaus um die Befähigung zur „Partizipation des Kindes und künftigen Erwachsenen an den gesellschaftlichen Möglichkeiten, Allgemeinbildung legt dafür eine für möglichst alle Kinder gemeinsame Grundlage“ (GIESECKE 1998, S. 260). Die Kategorie des Erschließens von Welt spielt in diesen Überlegungen eine zentrale Rolle. Zum einen legitimiert sich der Fächerkanon nach seinem Potential zur Erschießung von Welt und der damit verbundenen Eröffnung von Teilhabemöglichkeiten. Seit WILHELM VON HUMBOLDT findet die Strukturierung des Fächerkanons nach historisch-gesellschaftlichen, mathematisch-naturwissenschaftlichen, ästhetischen und sprachlichen Zugängen zur Welt hohe Akzeptanz. In dieser Fächerstruktur eingelagert ist der Stoffkanon, der nach HERMANN GIESECKE kategorial und exemplarisch zu entfalten ist, damit ein durch die Fachstruktur vermittelter Zugang zur Wirklichkeit möglich wird. In Abgrenzung zu subjektivistisch verengten Aneignungsformen plädiert GIESECKE für fachspezifisch orientierte Methoden der Kulturaneignung. Bildend ist für ihn ein Unterricht, der das methodische Denken schult und dadurch die Ebene des Meinens, Behauptens und Moralisieren hinter sich lassen kann (GIESECKE 1998, S. 293). Durch die kanonische Strukturierung der Fächer, Stoffe und Methoden der bildenden Aneignung von Welt als systematische Formen der Reduktion von Komplexität wird die Orientierung in der Welt befördert. Die Reintegration der über verschiedene Zugriffe vermittelten Erfahrungen zu einem persönlichen Ganzen bleibt schließlich eine subjektive Aufgabe im Bildungsprozess des Schülers. Doch auch die neuerliche Hinwendung zur Tradition und zum Kanon birgt Probleme in sich, denn in pluralistischen Gesellschaften wird es wohl letztlich nicht möglich sein, kulturelle Traditionen vollständig abzubilden. Besonders augenfällig wird dieses in der 256
Heterogenität der gegenwärtig zahlreichen Versuche der Rekanonisierung von Literatur, die Literaturwissenschaftler, Literaturdidaktiker, Literaturkritiker, Lektoren und Journalisten vornehmen. Paradox hieran ist, dass die Vielzahl von Kanonisierungsmodellen, die eben das Verbindliche oder Essentielle aus der Pluralität herausfiltern wollen, selbst zur Produktion neuer Unübersichtlichkeit beitragen. Es stellt sich daher die Frage nach Vermittlungsweisen von Bildung zwischen Kanon und Selbstorganisation, zwischen Schülerorientierung und Sachsystematik. Abschließend sei mit dem so genannten Kriterienkanon auf eine Kompromisslösung dieser Art verwiesen. Einen Ausweg zwischen den Alternativen ‚klassischer Lektürekanon’, ‚Selbstselektion der Lektüre’ und der pragmatischen Funktionalisierung von Texten zum Erwerb von ‚reading literacy’ sucht das Modell des Kriterienkanons bereitzustellen. Anders als der materiale Kanon begründet sich der Kriterienkanon nicht durch den Anspruch der Abbildung der literarischen Tradition, denn er selbst versteht sich als Auswahlverfahren im Zeichen gesellschaftlicher und kultureller Pluralität (vgl. KORTE 2002, S. 73). Mit der Einführung des Kriterienkanons wird jedoch keine postmoderne Beliebigkeit gestützt, vielmehr sind klare Orientierungsvorgaben für die Textauswahl im Unterricht vorgegeben. Diese Vorgaben bewegen sich im Schnittfeld literaturwissenschaftlicher Sachlogik, literaturgeschichtlichem Sachanspruch und einer gestärkten Subjektposition des Lernenden. HARRO MÜLLER-MICHAELS schlägt als Auswahlprinzipien folgende Kriterien vor: „Aktualität“, „Exemplarität“ und „Wirkungsmächtigkeit“ der literarischen Werke. Diese Auswahl folgt einem Kanon literarischer „Denkbilder“, der auf die Erfahrungshorizonte der Schüler bezogen ist. Unterschieden werden Denkbilder der Identifikation, des Mitleides, der Entdeckung, der Sozialkritik, der Lehrdichtung und der „literarischen Tagträume vom menschlichen Leben und Glück“ (MÜLLER-MICHAELS 1993 zitiert nach Korte 2002, S. 74). Einem Kriterienkanon fehlt zwar materiale Verbindlichkeit, aber nicht die Verpflichtung, sich den Gegenstandsbereich ‚Literatur’ nach gesetzten wissenschaftlichen und didaktischen Ordnungsprinzipien zu erschließen. In den Kriterienkanon einzubeziehen sich auch rezeptionsästhetische, entwicklungspsychologische und sozialisationstheoretische Aspekte des Umgangs der Schüler mit Literatur. Eine Rolle für die Textauswahl im Unterricht kann etwa die Graduierung von Lesefähigkeiten in der literarischen Sozialisationsforschung spielen, die verschiedene Fähigkeiten zur aktiven Teilhabe an literarischer Kultur unterscheidet, die im Laufe des literarischen Bildungsprozesses aufgebaut werden müssen. Es handelt sich hierbei um Lesefähigkeit als Beherrschung des Schriftsystems, um Lesekompetenz, durch die sich geübte von weniger geübten Lesern unterscheiden und letztlich um literarische Rezeptionskompetenz, welche die „Teilhabe an literarischer Kultur“ ermöglicht (EGGERT/GARBE 1995, S. 9f). Zu berücksichtigende Kriterien stellen weiterhin unterschiedliche Lesemotivationen von Schülern dar, die Freizeit- und Schullektüre voneinander trennen. Kanonbildend können also auch Ergebnisse der Lesesozialisationsforschung und der Lesepsychologie wirken. In Anbetracht der großen Spannweite der Kriterien für die Textauswahl zwischen literaturwissenschaftlichem Sachanspruch und Rezeptionsästhetik wäre es ebenso verkürzt, einen fest verbindlichen materialen Kanon aufzustellen wie die Auswahl der Aushandlung der Schüler zu überantworten. Dagegen spricht einiges für eine „Heuristik der Textauswahl“ (KORTE 2002, S. 77), wie sie sich in Form eines Kriterienkanons realisieren lässt. 257
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Schlussbemerkung
Am Schluss stellt sich die Frage, was dieses Buch zu leisten vermag. Ist nun mehr Klarheit darüber erlangt, was Selbstständigkeit als Leitbild der Pädagogik bedeutet oder bedeuten kann? Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass das Konstrukt Selbstständigkeit als ein Problem, d.h. als eine permanente Reflexionsaufgabe besteht, die moderne Erziehungs- und Bildungsphilosophie seit je her zentral bestimmt, denn Selbstständigkeit bezieht sich nicht auf ein einheitliches und auf Dauer gestelltes Sein. In diesem Begriff scheinen vielmehr die kulturelle Herausforderung zur Selbstgestaltung des eigenen Lebens sowie die Hoffnung des Menschen auf Selbstbestimmung auf. Das theoretische Konstrukt Selbstständigkeit ist nicht allgemein und eindeutig operationalisierbar. Es gibt nicht das, gleichsam als ‚Natur’ des Menschen entschlüsselbare Geheimnis von Selbstständigkeit. Stattdessen gibt es eine Vielfalt von Deutungen, die sich je nach theoretischem Fokus und disziplinärer Fragestellung voneinander unterscheiden. Aus wissenschaftshistorischer Sicht kann der Diskurs über Selbstständigkeit daher als permanente Problembearbeitung verstanden werden. Die einzelnen Scheinwerfer, die dabei auf das Konstrukt Selbstständigkeit gerichtet wurden und werden, sind nicht absolut zu setzen, denn bekanntlich ist jede Beobachtung untrennbar mit Ausblendungen verbunden. Mit der Scheinwerfermetapher ist jedoch nicht gesagt, dass die dargestellten Theorieperspektiven wertfrei, werturteilsfrei und gleichgültig nebeneinander stehen. Generell sind mit theoretischen und normativen Positionen wissenschaftliche Geltungsansprüche verbunden. Der Diskurs ist der akademische Ort, an dem diese Geltungsansprüche durch gegenseitige Abgrenzung im Austausch von Argumenten verhandelt werden. Wie in der neueren Wissenschaftssoziologie hervorgehoben wird, zählt dabei jedoch nicht nur die Kraft des besseren Arguments. Gehör verschafft man sich in der Vielfalt der wissenschaftlichen Positionen auch durch öffentlichkeitswirksame Rhetorik und die Entwertung anderer, zumeist traditionaler Zugänge, um das eigene Forschungsfeld abzustecken bzw. auszuweiten. Zur Bezeichnung dieser Form der „wissenschaftlichen Konstitutionsrhetorik“ wurde der Begriff „claim making“ geprägt (vgl. LANGE 1996). Eine solche öffentlichkeitswirksame Inszenierung findet man derzeit bei Hauptvertretern des neurobiologischen Konstruktivismus und der Hirnforschung, die diese Forschungsrichtung als neue Leitwissenschaft aufstellen möchten. Zentrale Thesen werden in radikaler Form und mit tief greifenden Implikationen für die gesellschaftlichen Systeme Wissenschaft, Recht und Erziehung formuliert. Philosophische Begriffe wie Autonomie oder Bildung werden übernommen und mit neuem Inhalt gefüllt, handlungstheoretische Begriffe wie ‚entscheiden’, ‚bewerten’ oder ‚planen’ werden aus personalen Bezügen herausgenommen und auf deterministisch arbeitende Gehirne übertragen. Angesichts der Versuche, über ‚claim making’ zur neuen Leitwissenschaft zu avancieren, kann nicht von einem Gleichgewicht der Geltungsansprüche und der Öffentlichkeitswirksamkeit von Neu259
robiologie und Geisteswissenschaft ausgegangen werden, weshalb in dieser Arbeit die Verteidigung bzw. Aktualisierung traditionaler Anliegen und Wissensbestände der Pädagogik Raum erhielt. Wichtig ist dies insbesondere dann, wenn traditionale pädagogische Anliegen durch neuere Semantik desavouiert werden, was unter anderem auch in der Semantik des „selbstständigen Kindes“ der Fall ist (vgl. WINTERHAGER-SCHMID et al. 2002). Wie ANDREAS LANGE aus wissenschaftssoziologischer Sicht anmerkt, erfüllt hier der Dualismus von ‚Selbstständigkeit’ und ‚Abhängigkeit’ die Funktion der „wissenschaftlicher Konstitutionsrhetorik“. Der Fokus auf das eigenaktive und kompetente Kind, dessen Gegenwart und spezifische Weltsicht den Mittelpunkt der neuen Kindheitsforschung bilden soll, ist eine „Abgrenzungsmarkierung gegenüber Sozialisationsforschung und Entwicklungspsychologie, denen z.T. unterstellt wird, forschungsstrategisch und epistemologisch Kindern diese Position nicht eingeräumt zu haben“ (LANGE 1996, S. 90). Ähnliches gilt für die Polarisierung von Kindheit als biologischer und sozialer Tatsache und damit für die Figur von individualisierter Kindheit als gesellschaftlich integraler Lebensphase, die gegen den pädagogischen Gedanken der Familien-, Erziehungs- und Schonraumkindheit gewendet wird. Durch solche Polarisierungen können durchaus problematische Signale an die pädagogische Praxis gesendet werden, bedenkt man, dass Eltern, Erzieher und Lehrer erziehungswissenschaftliches Wissen vorwiegend interessegeleitet und selektiv rezipieren. Grundsätzlich empfinden es moderne Eltern und Wissenschaftler als positiv, Kinder als gleichberechtigte Personen zu betrachten und ihre Kompetenzen sowie ihre Autonomie hervorzuheben. Mit Begriffen wie Selbstsozialisation oder kompetenten Kindern ist jedoch seitens der Wissenschaft die Gefahr gegeben, verfrühten Selbstständigkeitszumutungen in der pädagogischen Praxis und im Alltagsleben der Kinder Vorschub zu leisten. So kann das Bequeme als das Gute gewürdigt werden, wie RAINER DOLLASE zu Bedenken gibt. Erzieherisches Disengagement von Eltern lässt die „positive Wertschätzung der Selbststeuerung und der Selbstsozialisation gedeihen“, ebenso wie geargwöhnt werden könnte, dass sich der „Überdruss der heutigen Lehrergeneration an der pädagogischen Interaktion mit Kindern“ im Erfolg von Selbstlernkonzepten widerspiegelt (vgl. DOLLASE 1999, S. 33). Daher ist mit dieser Arbeit ein Plädoyer für die erneute Anknüpfung an den Traditionsstrang pädagogischer Reflexion verbunden, der die Dialektik und die antinomische Struktur von Erziehung in den Mittelpunkt stellt. Das Kernanliegen der problemorientierten Darstellungen bestand darin, zwischen Selbstständigkeit und Abhängigkeit dialektisch zu vermitteln, denn Erziehung orientiert sich sowohl an den Selbstständigkeitsbestrebungen als auch den Bindungs-, Sicherheits- und Geborgenheitsbedürfnissen von Kindern als Personen in Entwicklung. Insofern stehen in pädagogischen Entscheidungssituationen nicht selten verschiedene Prinzipien, Thesen und Theorien einander gegenüber. Begründet pädagogisch zu handeln erfordert deshalb, sich die antinomische Struktur von Erziehung zwischen Autonomie und Zwang, Eigenständigkeit und Abhängigkeit, Nähe und Distanz sowie auch zwischen Interaktion und Organisation oder Allgemeinbildung und sozialer Brauchbarkeit klarzumachen, um auf diesem Reflexionsniveau Handlungsentscheidungen treffen zu können (vgl. HELSPER 1995). Im Übergang von theoretischen Überlegungen zu praktischen Entscheidungen spielen anthropologische Prämissen eine entscheidende Rolle. Das Menschenbild, auf dem die Dialektik von Freiheit und Zwang in der Erziehung beruht, ist das der ‚Autonomie in Ver260
bundenheit’ (vgl. LIEGLE 1999, S. 206; GROSSMANN/GROSSMANN 2005, S. 457). Die im Generationenverhältnis verankerten Phänomene Erziehung, Unterricht und Bildung begründen sich aus dieser Sicht dadurch, dass Kinder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung auf Erwachsene angewiesen sind, die für die Befriedigung ihrer körperlichen und seelischen Grundbedürfnisse Sorge tragen und sie in ihrer Aneignung von Welt unterstützen. In Anerkennung der Autonomie in Verbundenheit ist sowohl die Eigenständigkeit und Akteurskompetenz von Kindern als auch ihre Verwiesenheit im Generationenverhältnis zu betonen, wie folgende Überlegungen verdeutlichen: x
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Kindheit ist nicht nur eine soziale Tatsache, sondern auch eine Entwicklungstatsache. Kinder sind auf die Pflege, Sorge, Unterstützung und kulturelle Initiation durch Erwachsene angewiesen. Kindheit ist nicht nur durch ein kulturell bedingtes Machtverhältnis zwischen den Lebensaltern geprägt, sondern auch durch eine verhaltensbiologisch begründete Bindung zu Sicherheit spendenden Bezugspersonen. Kinder sozialisieren sich zwar selbst, indem sie etwa Dingen ihrer Umwelt eine Bedeutung zuweisen oder eigene Handlungsziele abstecken, sie tun dies aber im Rahmen der sozialen und kulturellen Bezüge, die ihnen das Elternhaus und das Umfeld bereitstellen. Bereits Säuglinge und Kleinkinder sind kompetent, insofern sie über angeborene Fähigkeiten der sozialen Interaktion und über eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit verfügen, sie sind aber zugleich von der Feinfühligkeit, der Zuwendung und der Fürsorge der Eltern und den weiteren Bezugspersonen abhängig und ihnen im Fall von Desinteresse, Vernachlässigung bis hin zur aktiven Misshandlung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Noch zu prüfen wäre, ob der Gedanke der Autonomie in Verbundenheit als Integrationsrahmen für die vielfältigen Thesen, Theoreme und Modelle der verschiedenen Ansätze der Kindheitsforschung ausgestaltet werden kann. Gegenüber ‚Umkehrungsthesen’ des pädagogischen Generationenverhältnis und ‚Stilisierungen’ frühzeitiger Selbstständigkeit von Kindern ist dabei grundsätzlich am Gedanken des Autonomie-, Kompetenz- und Bildungsgefälles zwischen den Generationen festzuhalten. Aus dieser asymmetrischen Beziehung erwächst die stellvertretende Verantwortung der älteren Generation für die jüngere. Die den Asymmetrien innewohnenden Machtverhältnisse sind offen zu legen und als Schutz- und Förderungsbeziehungen auszugestalten. Eltern und Pädagogen nehmen ihre Verantwortung wahr, indem sie die ihnen anvertrauten Kinder auf dem Weg des Selbstständigwerdens durch Behütung, Gegenwirkung und Unterstützung begleiten. THOMAS LEHMANN hält Erziehung aber nur so lange für legitim, „wie die Erzieher von Anfang an darauf ausgerichtet sind, sich selbst überflüssig zu machen, und das verlangt, Entwicklungsfortschritte des Nachwuchses in Richtung selbstständiger Lebensbewältigung zu evozieren und zu unterstützen“ (LEHMANN 2002, S. 32). Folglich ist das angemessene Verhältnis von Eigen- und Fremdaktivität, d.h. von pädagogischer Ansprache und Einwirkung sowie kindlicher Selbsttätigkeit im Bildungsprozess, konstitutiv für pädagogisches Denken und Handeln. Vernachlässigt man die Selbsttätigkeit des Kindes und betrachtet Entwicklung als Konsequenz von 261
Außendeterminierung, wäre die pädagogische Förderung von Selbstständigkeit unmöglich. Betont man andererseits nur die Selbstentfaltungskraft des Kindes, so wäre Pädagogik streng genommen überflüssig und bestenfalls als Schaffung günstiger Entwicklungsbedingungen legitimierbar. DIETRICH BENNERs (1991) Beschreibung von Erziehung als „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ vermittelt nun zwischen den Extremen und zeigt, wie das Paradoxe denkbar ist, dass die Vorstellung von Autonomie auf den Gedanken der Erziehung als Fremdeinwirkung angewiesen ist. Das Gelingen der erzieherischen Einwirkung wird, wie die Bindungsforschung lehrt, durch stabile emotional verankerte Sorgebeziehungen wahrscheinlicher gemacht (vgl. LARGO 2006, S. 127). Freilich bleibt Erziehung grundsätzlich Versuchshandeln und kann nicht die Gestalt einer wirkungssicheren Technologie annehmen, wie in der Geschichte der Pädagogik zuletzt konstruktivistische Sichtweisen zu Recht betont haben. Die Nichttechnologisierbarkeit der Erziehung ist und bleibt die Voraussetzung ihrer Humanität.
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