GEGENSTANDSTHEORIE UND THEORIE DER INTENTIONALITÄT BEI ALEXIUS MEINONG
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRÜNDET VON H.L. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER SCHIRMHERRSCHAFT DER HUSSERL-ARCHIVE
181 ARKADIUSZ CHRUDZIMSKI
GEGENSTANDSTHEORIE UND THEORIE DER INTENTIONALITÄT BEI ALEXIUS MEINONG
Redaktionskomitee: Direktor: R. Bernet (Husserl-Archief, Leuven) Sekretär: J. Taminiaux (Centred’ études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve) Mitglieder: S. IJsseling (Husserl-Archief, Leuven), H. Leonardy (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve), D. Lories (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve), U. Melle (HusserlArchief, Leuven) Wissenschaftlicher Beirat: R. Bernasconi (Memphis State University), D. Carr (Emory University, Atlanta), E.S. Casey (State University of New York at Stony Brook), R. Cobb-Stevens (Boston College), J.F. Courtine (Archives-Husserl, Paris), F. Dastur (Université de Nice), K. Düsing (Husserl-Archiv, Köln), J. Hart (Indiana University, Bloomington), K. Held (Bergische Universität Wuppertal), K.E. Kaehler (Husserl-Archiv, Köln), D. Lohmar (Husserl-Archiv, Köln), W.R. McKenna (Miami University, Oxford, USA), J.N. Mohanty (Temple University, Philadelphia), E.W. Orth (Universität Trier), C. Sini (Università degli Studi di Milano), R. Sokolowski (Catholic University of America, Washington D.C.), B. Waldenfels (Ruhr-Universität, Bochum)
ARKADIUSZ CHRUDZIMSKI Universität Stettin und Universität Salzburg
GEGENSTANDSTHEORIE UND THEORIE DER INTENTIONALITÄT BEI ALEXIUS MEINONG
A C.I.P. Catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
ISBN 978-1-4020-5533-1 (HB) ISBN 978-1-4020-5534-8 (e-book)
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INHALTSVERZEICHNIS
Einführung
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1. Intentionalität und immanente Objekte. Die Lehre Franz Brentanos
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Das Problem der Intentionalität Die Theorie Brentanos als eine reine Objekt-Theorie Die Theorie Brentanos aus der Logik-Vorlesung [El 80] Die Theorie Brentanos als eine Deskriptionstheorie Die Position des immanenten Objekts Die Theorie Brentanos als eine Objekt-Theorie mit nicht-existierenden Objekten Das Schema der Theorie der Logik-Vorlesung Die ontologische Struktur des immanenten Objekts Urteil Propositionale Entitäten Zwei Auffassungen der Intentionalität
2. Abstraktion und Relationen. Der junge Meinong 1. 2. 3. 4. 5.
Abstraktion (Hume Studien I ) Die frühe Relationslehre (Hume Studien II) Interne und externe Relationen Die unreduzierbare Ähnlichkeitsrelation Vorstellungsproduktion, Komplexionen und Relationen 6. Gestaltqualitäten 7. Der Objektivismus des jungen Meinong v
2 7 20 24 26 29 31 34 37 41 48 53 55 64 79 88 93 97 100
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inhaltsverzeichnis
3. Inhalt und Gegenstand. Meinongs Lehre um 1900 1. Twardowski über Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen (1894) 2. Twardowski, Husserl und Meinong (1894–1904) 3. Ein weiterer Schritt in die Richtung des Objektivismus 4. Abstraktion und allgemeine Vorstellungen um 1900 5. Unbestimmte Gegenstände 6. Die Gegenstände höherer Ordnung (1899) 7. Reale und ideale Gegenstände 4. Die Lehre von den Objektiven (1902) 1. Semantische Korrelate vollständiger Sätze 2. Propositionale Inhalte und die Negation 3. Der propositionale Charakter von Relationen und monadischen Eigenschaften 4. Gegenstände und Funktionen 5. Gegenstandstheorie (1904–1920) 1. Die außerseienden Gegenstände (1904) 2. Eine konsequent propositionale Intentionalitätstheorie (1910) 3. Unvollständige Gegenstände (1907) 4. Unvollständige Gegenstände und die intentionale Beziehung (1915) 5. Die modalen Eigenschaften 6. Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit (1915) 7. Defekte Gegenstände (1917) 8. Dignitative und Desiderative (1917) 9. Bündel-Theorie versus Substrat-Theorie 6. Meinongs Gegenstände und die intentionale Beziehung 1. Meinongs Intentionalitätstheorie als eine reine OT 2. Die unvollständigen Gegenstände als ein Problem für eine reine OT-Interpretation 3. Die Eliminierung der unvollständigen Gegenstände
103 104 116 128 129 135 137 141 149 151 156 163 168 179 180 186 197 203 210 220 229 232 247 251 252 254 257
inhaltsverzeichnis 4. OT und MT im Rahmen der propositionalen Intentionalität 5. Unvollständige Sachverhalte als Mengen möglicher Welten 6. Meinong, Frege und Wittgenstein über die propositionale Intentionalität 7. Die Repräsentationsfunktion des psychischen Inhalts 8. Das Wittgenstein’sche Bild der Repräsentation 9. Modale Eigenschaften noch einmal 10. Ein allgemeines Problem für die Inhaltsrepräsentation 7. Meinong’sche „Konstitutionssysteme“ 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Eine Meinong’sche Ontologie der möglichen Welten Eine Meinong’sche Sachverhaltsontologie Die Form der atomaren Objektive Eine Meinong’sche Eigenschaftsontologie Die Struktur der konkreten Individuen Tropen und Substrate Eigenschaften als Mengen von Individuen Zusammenfassung Negative Eigenschaften versus Satznegation Ein Negativer Exemplifizierungsnexus
8. Die Logik des Ausserseins 1. Das Quantifizieren von nicht-existierenden Gegenständen 2. Die ontologisch robuste interpretation 3. Quantoren ohne ontologische Verpflichtungen 4. Positive Free Logic 5. Kennzeichnungen 6. Zusammenfassung
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260 266 267 275 284 288 295 307 308 312 315 322 324 333 336 337 339 346 353 353 355 357 360 363 367
Schlusswort
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Bibliographie
373
Namenverzeichnis
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EINFÜHRUNG
Alexius Meinong (1853–1920) nimmt in der Geschichte der Ontologie eine ausgezeichnete Stellung ein. Er war der erste Philosoph, der in systematischer Weise eine quasi-ontologische Disziplin entwickelte, die im Vergleich zu der Disziplin, die man traditionell Metaphysik oder Ontologie nennt, viel allgemeiner sein sollte. Die Metaphysik untersucht das Seiende als Seiendes, und die seienden Entitäten bilden – so die These Meinongs – nur ein kleines Fragment dessen, was man unter dem Namen „Gegenstandstheorie“ untersuchen kann. Die Gegenstände als solche (die „reinen“ Gegenstände) sind, wie Meinong sagt, „außerseiend“, was bedeutet, dass sie bezüglich ihres Seins bzw. Nichtseins neutral sein sollen. In diesem Buch werden wir die so verstandene Gegenstandstheorie in ihrer historischen Entwicklung im Zusammenhang mit Meinongs Intentionalitätstheorie besprechen. Diese Vorgehensweise bedarf einiger Erklärung. Was nämlich für Meinong besonders charakteristisch ist, ist seine feste Überzeugung, dass das Interessengebiet der Gegenstandstheorie – der Bereich der Gegenstände – als unabhängig von den sie eventuell erfassenden psychischen Akten zu interpretieren ist. „Gegenstände sind, was sie sind,“ lesen wir in einem seiner späteren Werke, „mögen sie erfasst werden oder nicht.“ (Meinong, 1915 S. 244) Den Bereich der außerseienden Gegenstände gäbe es also selbst dann, wenn es keine existierenden Bewusstseinssubjekte gäbe. In diesem Licht könnte jeder Versuch, Meinongs Gegenstandstheorie durch die Brille seiner Intentionalitätstheorie zu betrachten, als grundverkehrt erscheinen. Die Situation ist aber nicht so einfach. Denn Meinongs Unabhängigkeitserklärungen ändern nichts daran, dass eine wichtige genetische Abhängigkeit zwischen seinen Analysen der intentionalen Beziehung und dem Begriff des reinen Gegenstands besteht. Die ganze Entwicklung der Gegenstandstheorie hat in einem theoretischen Kontext stattgefunden, in dem vorwiegend Fragen der Intentionalitätstheorie untersucht ix
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wurden, und die wahren Gründe, warum Meinong einen Bereich der außerseienden Gegenstände überhaupt postulierte, sind nichts anderes als die philosophischen Rätsel, auf die man in der Intentionalitätstheorie stößt. Dieser theoretische Kontext war in der Tat so tief greifend, dass er sich letztlich sogar in Meinongs „Definition“ des Gegenstands niederschlug und somit doch eine gewisse Art konzeptueller Abhängigkeit sicherte. „Was zunächst Gegenstand heißt, formgerecht zu definieren,“ lesen wir in Meinongs Selbstdarstellung, „dazu fehlt es an genus wie an differentia; denn alles ist Gegenstand. Dagegen bietet die Etymologie des ,Gegenstehens‘ wenigstens eine indirekte Charakteristik durch den Hinweis auf die den Gegenstand erfassenden Erlebnisse, die nur nicht etwa als für den Gegenstand irgendwie konstitutiv anzusehen sind.“ (Meinong 1921, S. 12 f.) „Den Gegenständen ist es nicht wesentlich, erfasst zu werden, wohl aber erfasst werden zu können.“ (Meinong 1921, S. 20) Obwohl man also die Meinong’sche Gegenstandstheorie keineswegs bloß als eine Teildisziplin der Intentionalitätstheorie betrachten darf, ist sie von seiner Intentionalitätstheorie sowohl genetisch als auch konzeptuell abhängig. Diese Abhängigkeit wird uns beim Verständnis vieler Aspekte der Meinong’schen Lehre sehr hilfreich sein. In diesem Buch werden wir deshalb die gegenstandstheoretischen Fragen stets im Zusammenhang mit den Fragen der Intentionalitätstheorie untersuchen. Den Ausgangspunkt bildete für Meinong die Lehre vom immanenten Objekt, die Franz Brentano zwischen 1874 und 1904 vertrat. Während der junge Meinong diese Auffassung des Intentionalitätsphänomens als unproblematisch betrachtete und sie als theoretischen Rahmen für seine Untersuchungen voraussetzte, kritisierte der späte Meinong sie wiederholt als eines der schlimmsten Missverständnisse, die in der Intentionalitätstheorie überhaupt möglich sind. Deswegen widmen wir das ganze erste Kapitel der Analyse dieser wichtigen Lehre. Das zweite Kapitel betrifft Meinongs vor-gegenstandstheoretische Studien, und zwar vor allem seine Arbeiten zur Relationslehre und Abstraktionstheorie. Die betreffenden Probleme werden in seinen späteren Werken in verschiedenen Formen wiederkehren. Im dritten Kapitel schildern wir den Übergang von der Brentano’schen Lehre vom immanenten Objekt zu der von Twardowski
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inspirierten Intentionalitätstheorie, die zwischen einem mentalen Inhalt und einem äußeren Gegenstand unterscheidet. Diesen Schritt hat Meinong um 1900 gemacht. Die Gegenstände wurden dadurch von ihrer ontologischen Abhängigkeit von den Bewusstseinsakten befreit, und somit wurde der Weg zur reifen Gegenstandstheorie geöffnet. Was man neben dem Außersein mit dem Namen Meinongs am häufigsten verbindet, ist seine „Entdeckung“ der propositionalen Entitäten. Meinong hat sie 1902 unter dem Namen „Objektive“ eingeführt. Von ähnlichen propositionalen „Inhalten“ haben auch viele Brentanisten (darunter auch Brentano selbst) gesprochen, und einige von ihnen haben Meinong deshalb vorgeworfen, dass er bloß ein neues Wort für eine alte Idee erfunden habe. Im vierten Kapitel zeigen wir allerdings, dass eine solche Einschätzung ungerecht wäre. Die Theorie Meinongs macht auf einige Besonderheiten der propositionalen Entitäten aufmerksam, die von den Brentanisten übersehen wurden und die von zentraler ontologischer Bedeutung sind. Im fünften Kapitel skizzieren wir schließlich die Umrisse der Gegenstandstheorie, so wie sie von Meinong zwischen 1904 und 1920 entwickelt wurde. Auch hier wird diese Lehre im Zusammenhang mit seiner Intentionalitätstheorie dargestellt. Das Bild, das wir am Ende erhalten, ist sehr kompliziert, so dass sich die Fragen nach der theoretischen Zweckmäßigkeit dieses „ontologischen Dschungels“ von allein stellen. Einige dieser Fragen beantworten wir in den folgenden drei Kapiteln. Wir verlassen dabei die exegetische Einstellung und versuchen, die Meinong’sche Lehre bezüglich ihrer Konsistenz und erklärenden Kraft zu prüfen. Das sechste Kapitel betrifft die Meinong’sche Intentionalitätstheorie. Wir kommen dort zu dem Schluss, dass nicht alle ihre Aspekte einen wirklich guten Sinn machen, versuchen aber trotzdem zu zeigen, wie eine kohärente Intentionalitätstheorie „der Meinong’schen Art“ aussehen könnte. Unter Meinong’schen Gegenständen findet man fast alle erdenklichen Entitäten, und sie alle wurden von Meinong im Grunde als „gleichberechtigt“ betrachtet. Unter diesen Entitäten gibt es aber diverse Abhängigkeitsverhältnisse, so dass man versuchen kann, ein geordnetes „Konstitutionssystem“ zu entwerfen. Im siebten Kapitel stellen wir vier solche Konstitutionssysteme dar.
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Im letzten Kapitel wird schließlich die Meinong’sche Lehre vom Außersein unter die Lupe genommen. Diese Lehre ist keineswegs klar, und es gibt drei prima facie plausible Möglichkeiten, wie man sie mit den technischen Werkzeugen der zeitgenössischen Logik in den Griff bekommen kann. Sie kann als (i) eine Erweiterung der Ontologie, als (ii) eine ontologisch nicht-verpflichtende Deutung von Quantoren oder als (iii) eine Version der free logic interpretiert werden. Ich möchte all denjenigen danken, die zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben. Das Buch ist im Rahmen eines Forschungsprojekts entstanden, das von Heinrich Ganthaler (Universität Salzburg) geleitet wurde. Neben ihm möchte ich auch Edgar Morscher und Johannes Brandl für ihre ständige Unterstützung sowie für Gespräche, die meine Analysen in mehrfacher Hinsicht beeinflusst haben, herzlich danken. Am Fachbereich Philosophie der Universität Salzburg fand ich während der drei Jahre dieses Projekts ideale Arbeitsbedingungen. Für die sprachlichen Korrekturen bin ich Johannes Brandl, Heinrich Ganthaler, Alexander Hieke, Wolfgang Huemer und Rochus Sowa dankbar. Besonders danke ich Michael Weiler, der die vollständige Endversion des Manuskripts sorgfältig geprüft hat. Einen besonderen Dank schulde ich den Professoren Andrzej Półtawski (Krakau) und Guido Küng (Freiburg in der Schweiz), die mein philosophisches Bewusstsein als Lehrer am meisten geprägt haben. Meine Arbeit wurde vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung gefördert (P 15881). Drei Kapitel dieses Buches enthalten bereits publiziertes Material. Das erste Kapitel wurde (mit Ausnahme des ersten Abschnitts) aus dem Buch Chrudzimski 2001a übernommen, das zweite Kapitel ist 2005 als Aufsatz in den Meinong Studien erschienen (Chrudzimski, 2005a) und das letzte Kapitel wurde im selben Jahr als Aufsatz in der Zeitschrift für Philosophische Forschung publiziert (Chrudzimski 2005a). Den Verlagen Kluwer Academic Publishers und Ontos Verlag sowie den Zeitschriften Meinong Studien und Zeitschrift für Philosophische Forschung danke ich für die Erlaubnis, das genannte Material wieder verwenden zu dürfen. Zum Schluss danke ich für das Glück, dass ich meine Frau im Bereich des Existierenden finden konnte.
KAPITEL 1
INTENTIONALITÄT UND IMMANENTE OBJEKTE. DIE LEHRE FRANZ BRENTANOS1
Im ersten Kapitel werden wir noch nicht direkt über Meinong sprechen. Stattdessen beginnen wir mit der Intentionalitätstheorie Franz Brentanos, die für die Philosophie Meinongs aus vielen Gründen eine Schlüsselrolle spielte. Die Gründe für dieses einführende Kapitel sind dreifach. Zum Ersten muss man, wenn man die Entwicklung der Gegenstandstheorie Meinongs verstehen will, sie vor dem Hintergrund seiner Intentionalitätstheorie betrachten, für die die Lehre Brentanos zweifelsohne den Ausgangspunkt bildete. Zum Zweiten hat Meinong zeit seines Lebens verschiedene Elemente der Lehre Brentanos diskutiert. In den folgenden Kapiteln werden wir uns also sehr oft auf Brentano beziehen müssen, und so ist es zweckmäßig, gleich am Anfang seine Lehre systematisch darzustellen. Zum Dritten werden wir bei der Darstellung der Lehre Brentanos auch die wichtigsten allgemeinen Probleme der Intentionalitätstheorie präsentieren, die natürlich auch für die Theorie Meinongs relevant sein werden. Deshalb wird es zweckmäßig sein, unser Buch mit der Besprechung der Intentionalitätstheorie Franz Brentanos zu beginnen. Genauer gesagt wird es uns um diejenige Phase seiner Theorie gehen, die wir an einem anderen Ort als die mittlere Philosophie Brentanos bezeichnet haben. (Vgl. Chrudzimski 2001a, S. 41; Chrudzimski 2004a, Kap. 4) Wir meinen hier die Periode zwischen 1874 und 1904 (d.h. von der Publikation der Psychologie vom empirischen Standpunkt bis zur so genannten „reistischen Wende“), in der Brentano seine Theorie des immanenten Objekts entwickelte. Tatsächlich finden wir bei Brentano in dieser Periode nicht bloß eine sondern mehrere Intentionalitätstheorien. Alle diese Theorien gruppieren sich zwar um die Idee der Einführung einer speziellen Entität, die 1
Das Material dieses Kapitels wurde aus dem Buch Chrudzimski 2001a übernommen.
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kapitel 1
Brentano „immanentes Objekt“ nannte, sie schlagen uns aber dennoch sehr verschiedene Bilder der intentionalen Beziehung vor. Wenn man Brentanos Theorie des immanenten Objekts in ihrer ganzen Vielfalt unter die Lupe nimmt, findet man dort in einer rudimentären Form fast alle Ideen, die später als Grundsteine für die Intentionalitätstheorie Meinongs dienten. Die interessante Entwicklung der Brentano’schen Intentionalitätstheorie in der mittleren Periode haben wir an einem anderen Ort genauer untersucht (Chrudzimski 2001a). Hier werden wir nur die Ergebnisse dieser Untersuchung präsentieren, die für das Verständnis der Lehre Meinongs relevant sind. 1. Das Problem der Intentionalität Die so genannten intentionalen Zustände bilden eine Gruppe der Phänomene, die vom philosophischen Standpunkt aus besonders rätselhaft erscheinen. Die Phänomene, die traditionell als intentional betrachtet werden und die für uns besonders wichtig sind, sind psychische Zustände (bzw. psychische Akte) wie eine Vorstellung, ein Urteil, ein Wunsch oder ein Willensakt. Für solche Zustände soll es nach der seit Brentanos Psychologie (1874) gut etablierten Tradition charakteristisch sein, dass sie auf etwas gerichtet sind, das sowohl von dem entsprechenden psychischen Akt als auch von seinem Subjekt normalerweise verschieden ist. Eine Vorstellung ist immer eine Vorstellung von etwas, ein Urteil ist immer ein Urteil, dass es so und so ist, in einem Wunsch wie auch in einem Willensakt ist ebenfalls immer eine Beziehung auf etwas involviert, was man sich wünscht oder will. Solche Zustände sind also zunächst dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht (oder zumindest nicht nur) etwas an sich Geschlossenes sind, sondern sich auf eine einzigartige Weise auf andere Entitäten beziehen. Eben diese Eigenschaft bezeichnet man als ihre Intentionalität. Die Tatsache, dass eine Entität auf eine relationale Weise beschrieben werden kann, braucht aber noch lange nicht ein besonderes philosophisches Problem zu bedeuten. Die Entitäten, wie Bill Clintons Tochter, das erste große Skigebiet westlich von Salzburg oder die Tasse Kaffee, die ich gerade trinke, scheinen doch keine besonderen Geheimnisse zu verbergen (jedenfalls keine Geheimnisse, die über die allgemeinen ontologischen Probleme der ontologischen Kategorien Substanz, Aggregat, Akzidens und Relation hinausgehen). Was das Phänomen der Intentionalität aus einer einfachen
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Konstatierung zu einem philosophischen Problem macht, ist also nicht bloß sein relationaler Charakter, sondern vielmehr die Eigenart dieser Relationalität. Sie offenbart sich in den logischen Anomalien, die auftreten, wenn wir eine intentionale Beziehung zu beschreiben versuchen, und auf die man sich gewöhnlich mit dem Etikett Nichtextensionalität der intentionalen Kontexte bezieht.2 Einen intentionalen Kontext nennt man eine Beschreibung einer intentionalen Beziehung, und zwar typischerweise eine Beschreibung eines 2
Die Standardwerke für die heutige Auffassung der Nichtextensionalität der intentionalen Kontexte bilden Frege 1892a und Carnap 1960. Die philosophische Terminologie, in der man die Probleme der Nichtextensionalität ausdrückt, ist nicht immer eindeutig. Carnap., der in seinem Klassiker Meaning and Necessity eine systematische semantische Theorie, die mit den Begriffen Extension und Intension operiert, vorgestellt hat, schreibt jedem Namen, Prädikat und Satz eine Extension und Intension zu. Die Extension eines Namens ist der genannte Gegenstand (unter Umständen der NullGegenstand). Die Extension eines Prädikats ist die Menge der Gegenstände, von denen das Prädikat wahrhaft ausgesagt werden kann. Diese Menge kann natürlich leer sein. (Handelt es sich um ein Relationsprädikat, so ist seine Extension die Menge von geordneten Paaren, Tripeln, n-Tupeln von Gegenständen, die auch leer sein kann.) Die Extension des Satzes ist sein Wahrheitswert. Was die Intensionen betrifft, so ist die Intension eines Namens der individuelle Begriff, die Intension eines Prädikats die entsprechende Eigenschaft (bzw. die entsprechende n-stellige Relation) und die Intension eines Satzes die entsprechende Proposition. Aufgrund dieser terminologischen Festlegungen unterscheidet Carnap drei Arten von Sätzen. Ein Satz ist extensional, wenn seine Extension eine Funktion der Extensionen seiner Teile ist. Ein Satz ist dagegen intensional, wenn er (i) nicht-extensional ist, aber (ii) seine Extension eine Funktion der Intensionen seiner Teile ist. (Wenn die Extension eines Satzes S eine Funktion der Extensionen seiner Teile ist, dann ist diese Extension a fortiori eine Funktion der Intensionen seiner Teile. Wäre also die Bedingung (i) nicht vorhanden, wären alle extensionalen Sätze auch als intensional zu klassifizieren.) Vgl. Carnap 1960, S. 48. Die Beispiele der intensionalen Sätze im Sinne Carnaps bilden die klassischen modalen Kontexte, die durch die Operatoren „Es ist notwendig, dass“, „Es ist möglich, dass“ eingeleitet werden. Es gibt jedoch auch die Sätze, die in der Terminologie Carnaps weder extensional noch intensional sind. Dazu gehören die für uns besonders interessanten intentionalen Kontexte, die die Operatoren „S glaubt, dass“, „S will, dass“, „S denkt an“ usw. involvieren. Vgl. Carnap 1960, S. 54. Die Terminologie der ExtensionalitätIntensionalität hat sich inzwischen durchgesetzt, aber auch vereinfacht, so dass heute viele Philosophen die Ausdrücke „nicht-extensional“ und „intensional“ synonym verwenden (und zwar unabhängig davon, ob sie überhaupt die Entitäten der Art der Carnapschen Intensionen einführen).
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psychischen Phänomens. Solche Beschreibungen haben eine charakteristische relationale Form. Sie bestehen aus einem zweistelligen Prädikat, wie „stellt vor“, „glaubt“, „wünscht sich“, das von zwei Termen flankiert wird. Der erste Term bezieht sich auf das Subjekt der intentionalen Beziehung, während der zweite Term für das Objekt dieser Beziehung steht. In dieser Weise erhalten wir die Sprachstrukturen, die in den philosophischen Abhandlungen zur Intentionalität immer wieder auftauchen: „Hans stellt ein Pferd vor“, „Peter glaubt, dass er mehr arbeiten soll“, „Helga wünscht sich, dass Peter weniger arbeitet“ usw. Die Position des ersten Terms, der sich auf das Subjekt des intentionalen Zustands bezieht, ist logisch nicht besonders interessant. Was große Schwierigkeiten bereitet, ist der zweite Term. Der erste Punkt, den man bemerkt, ist, dass in der Rolle des zweiten Terms manchmal Dass-Sätze auftreten. Solche Dass-Terme scheinen sich auf propositionale Entitäten zu beziehen, und diese Tatsache wird uns in der Tat im Weiteren noch viel beschäftigen. Momentan lassen wir aber diesen Punkt beiseite, damit die Präsentation der allgemeinen logischen Probleme nicht von vornherein unnötig kompliziert wird. Wir konzentrieren uns ausschließlich auf die Konstruktionen, in denen beide Terme entweder Namen oder bestimmte bzw. unbestimmte Kennzeichnungen sind. Betrachten wir zunächst einen „normalen“ relationalen Kontext, z.B.: (1) Hans schlägt Peter. Damit der Satz (1) wahr sein kann, muss es sowohl Hans als auch Peter geben. Wenn einer von diesen beiden fehlt, dann gibt es keinen Schlagenden oder keinen Geschlagenen und konsequenterweise kann es auch die Relation des Schlagens zwischen ihnen nicht geben. Eine ähnliche Situation haben wir im Fall: (2) Peter ist größer als Hans, und in der Tat, in allen Fällen, in denen wir Relationsprädikate verwenden, die uns, wie man sagt, extensionale Kontexte liefern. In allen solchen Fällen können wir nach der so genannten Regel der ExistenzGeneralisierung: (R.1)
Fa ⊃ ∃xFx
auf die Existenz eines Designats von jedem der beiden Terme schließen.
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In den intentionalen Kontexten gilt dies aber nicht. Nehmen wir an, dass der folgende Satz wahr ist: (3) Hans denkt an Theseus. Was die Existenz von Hans betrifft, sehen wir zwar keine Probleme. Die Folgerung von (3) auf: (4) ∃x(x denkt an Theseus) scheint logisch gesichert zu sein. Wenn wir aber den zweiten Term ähnlich behandeln wollen, erhalten wir: (5) ∃x(Hans denkt an x), was falsch zu sein scheint. Denn Hans denkt gerade an Theseus, und den gibt es eben nicht. Wir sehen hier die charakteristische Asymmetrie der intentionalen Kontexte. Die Subjekt-Position verhält sich logisch völlig regulär. Überraschungen erleben wir erst dann, wenn wir uns mit der ObjektPosition beschäftigen. Diese Asymmetrie hat zur Folge, dass die entsprechende Entwicklung der Semantik der intentionalen Kontexte in erster Linie die Objekt-Terme betreffen wird. Es ist die Ontologie der Objekte der intentionalen Beziehung, die ausgebaut werden muss. Die Ontologie der Subjekte bleibt prima facie irrelevant.3 Die Schwierigkeiten mit der Regel der Existenz-Generalisierung bedeuten nicht das Ende der Probleme. Eine andere Regel, die in den intentionalen Kontexten scheitert, ist die Regel der wechselseitigen Substituierbarkeit der Glieder einer wahren Identitätsaussage salva veritate, die wir im Weiteren der Kürze halber die Regel der Substituierbarkeit nennen werden: (R.2)
Fa ∧ a = b ⊃ Fb
Sollte diese Regel in den intentionalen Kontexten ihre Anwendung finden, dürften wir vom Satz: 3
Es ist allerdings zu bemerken, dass die Tatsache, dass das Subjekt der intentionalen Beziehung zum Objekt in einer Relation (bzw. in einer relationsähnlichen Beziehung) stehen muss, auf die Ontologie des Subjekts wohl einen Einfluss haben kann. So werden in vielen klassischen Intentionalitätstheorien beispielsweise psychische Akte des Subjekts mit einem bestimmten Inhalt postuliert, die dann ontologisch als Eigenschaften des Subjekts analysiert werden können, etwa nach dem Muster der adverbialen Intentionalitätstheorie.
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(6) Peter denkt an den Sieger von Jena aufgrund der Wahrheit der Identitätsaussage: (7) Der Sieger von Jena = der Besiegte von Waterloo auf den Satz: (8) Peter denkt an den Besiegten von Waterloo schließen. Eine kurze Überlegung reicht aber aus, um zu erkennen, dass wir das nicht dürfen, denn selbst wenn Peter tatsächlich an den Sieger von Jena denkt, braucht er nicht an den Besiegten von Waterloo zu denken (und zwar zumindest in dem Fall nicht, wenn er nicht weiß, dass es sich dabei um eine und dieselbe Person handelt, was sicherlich logisch möglich ist). Eine Theorie der Intentionalität muss das Scheitern dieser Regeln in den intentionalen Kontexten erklären, und diese Erklärung mündet typischerweise in eine philosophische Theorie, die die zwei problematischen Regeln für die intentionalen Kontexte in einer modifizierten Version wiederherstellt. Da die ursprünglichen Regeln der ExistenzGeneralisierung und der Substituierbarkeit scheitern, müssen dabei die Quantifizierung und die Identität, die in den wiederhergestellten Regeln involviert sind, irgendwie anders verstanden werden. Das kann auf zwei Wegen erreicht werden. Zum einen kann man spezielle Entitäten einführen, die bei jeder intentionalen Beziehung vorhanden sind, egal ob das „normale“ Referenzobjekt existiert oder nicht, und dann behaupten, dass die relevante Quantifizierung und Identität nicht die angeblichen Referenzobjekte, sondern eben diese eingeführten Entitäten betreffen. Zum anderen kann man die Weise, in der man die Quantifizierung und Identität versteht, modifizieren. Man kann beispielsweise von einer ontologisch unverpflichtenden (wie z.B. substitutionellen) Quantifizierung und von einer notwendigen Identität sprechen.4 Eine Intentionalitätstheorie, die spezielle Entitäten einführt, kann ferner auf zweifache Weise realisiert werden. Die eingeführten Entitäten können entweder in der Zielposition oder in der Vermittlungsposition des Aktes situiert werden. Im ersteren Fall haben wir es mit einer Objekt-Theorie (OT), im letzteren Fall mit einer Mediator-Theorie (MT) zu tun. 4
Die notwendige Identität erweist sich allerdings als eine zu schwache Relation, um die Regel der Substituierbarkeit wirklich retten zu können.
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2. Die Theorie Brentanos als eine reine Objekt-Theorie Franz Brentano gilt mit gutem Grund als derjenige Philosoph, der das Problem der Intentionalität für die Neuzeit „neu entdeckt“ hat. Untersuchungen zum Problem der Intentionalität finden wir zwar bei vielen Philosophen, und auf jeden Fall bei all denjenigen, die nach einem umfassenden philosophischen System strebten; es war aber Brentano, der die Intentionalität zum zentralen Problem seiner Philosophie gemacht hat. Dies ergab sich aus seiner Überzeugung, dass alle philosophischen Untersuchungen psychologisch fundiert sein sollen, und der berühmten These, die die Intentionalität zum Definitionsmerkmal der psychischen Phänomene macht. An der zweifelsohne am häufigsten zitierten Stelle seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) schreibt Brentano: „Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren begehrt usw. [ ] Und somit können wir die psychischen Phänomene definieren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten.“ (Brentano 1874/1924, S. 124 f.)
Die Hauptidee der Brentano’schen Theorie des immanenten Objekts ist also, dass man für jeden psychischen Akt ein entsprechendes Objekt finden kann, auf das der Akt gerichtet ist. Ein Denken an a hat zur Folge, dass der entsprechende psychische Akt den Gegenstand a „als Objekt enthält“. Stellt also jemand einen Zentauren vor, dann müssen wir annehmen, dass im entsprechenden Akt dieser Zentaur als Objekt irgendwie enthalten ist. Und wenn jemand stattdessen an ein Pferd denkt, dann muss es, wie es scheint, ebenfalls ein immanentes Pferd geben. Denn die Theorie soll ja sowohl für „untreffende“ als auch für „treffende“ Vorstellungen nach demselben einheitlichen Muster funktionieren. Die Frage, wie ontologisch ernst derartige immanente Gegenstände genommen werden sollen, ist aber nicht einfach zu beantworten. Schon in seiner „frühen“ Periode, die ihren Ausdruck in den Schriften aus den
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Jahren 1862–1867 findet,5 trägt Brentano dem Gedanken, dass jeder psychische Akt sein Objekt hat, Rechnung. Zu dieser Zeit betrachtet er aber die Rede von solchen Objekten als ontologisch unverpflichtend. Wann immer man von einem psychischen Akt spricht, darf man ebenso wohl von dem Objekt dieses Aktes sprechen. Nach dem scholastischen Wortgebrauch, den der junge Brentano übernimmt, existiere ein solches Objekt objektiv im Verstande des Subjekts, eine solche objektive Existenz sei aber keine ontologisch ernst zu nehmende Existenzweise. Die Rede von einem ens obiectivum sei eine bloße façon de parler, die keine ontologischen Konsequenzen impliziere. (Vgl. dazu Chrudzimski 2004a, Kap. 3) Es ist nicht ausgeschlossen, dass noch hinsichtlich der Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874), wo der Begriff des immanenten Objekts zum zentralen Begriff der Brentano’schen Psychologie wurde, eine solche ontologisch neutrale Auslegung den Absichten des Autors am besten entsprechen würde.6 Was aber auf die Schüler Brentanos am stärksten gewirkt hat, und was auch für die Philosophie Meinongs maßgebend war, war die Lehre, die Brentano in seinen Vorlesungen aus den achtziger und neunziger Jahren entwickelte. In diesen Vorlesungen finden wir eine Ontologie der intentionalen Beziehung, in der die Rede von immanenten Objekten als ontologisch verpflichtend interpretiert wird. In der folgenden Darstellung werden wir uns auf die Theorien aus dieser Zeit beschränken, und dementsprechend werden wir auch unserer Interpretation der Theorie der Psychologie eine ontologisch starke Deutung des Begriffs des immanenten Objekts zugrunde legen. Wir nehmen also an, dass Brentano in seiner Psychologie zum Zwecke der Erklärung des Intentionalitätsphänomens spezielle Entitäten einführt, die er „immanente Objekte“ nennt. Diese Interpretation ist möglicherweise historisch falsch, für die Untersuchung der Lehre Meinongs, um die es uns in diesem Buch geht, wird es allerdings keine unerwünschten Konsequenzen geben; denn die Theorie Meinongs basiert in
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Dazu zählen seine Dissertation (Brentano 1862), Habilitation (Brentano 1867) und die wichtigen Vorlesungen zur Metaphysik vom Jahre 1867 (Manuskript 96). 6 Diese Interpretation vertreten Antonelli (2000 und 2001, S. 395–405), Brandl 200* und Münch 1993, S. 76–78.
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ihrem frühem Stadium ohnehin auf der „mittleren“ Lehre Brentanos, in der das immanente Objekt sicherlich ontologisch ernst genommen wird. Die Knappheit der zitierten Formulierung aus der Psychologie, mit der sich die ersten Leser Brentanos begnügen mussten, lässt bestimmt viele Wünsche offen, mindestens zwei Dinge scheinen jedoch klar zu sein. Erstens führt Brentano im Rahmen seiner Theorie eine wichtige Unterscheidung zwischen dem psychischen Akt und seinem Objekt durch. Und zweitens betrachtet er das Objekt der intentionalen Beziehung als eine spezielle Entität, die mit den vorphilosophisch verstandenen Objekten nicht viel Gemeinsames hat. Die klare Unterscheidung zwischen dem psychischen Akt und seinem Objekt, die Brentano in seiner Psychologie durchgeführt hat, stellt denjenigen Aspekt seiner Lehre dar, der als fast unproblematisch, am wenigsten spekulativ und ontologisch ganz unverbindlich erscheint. Wenn wir auf die Brentano’sche Akt-Objekt-Auffassung der Bewusstseinsphänomene einmal aufmerksam gemacht worden sind, sind wir geneigt, die Aussage, dass jedem Akt sein Objekt entsprechen muss, geradezu als analytisch zu betrachten. Vielen Philosophen erschien diese These als rein deskriptiv und in diesem Sinne gewissermaßen „vortheoretisch“. Die ontologische Unverbindlichkeit dieses Aspekts der Brentano’schen Lehre besteht darin, dass die bloße Unterscheidung in Akt und Objekt noch nichts bezüglich des ontologischen Status des Objekts zu implizieren scheint. Und in der Tat, die Philosophen, die den Brentano’schen Intentionalitätsgedanken weiterzuentwickeln versuchten, haben sehr verschiedene Theorien dieses Objekts formuliert. Der zweite Aspekt der frühen Intentionalitätslehre Brentanos hebt jedoch diese ontologische Neutralität auf. Die immanenten Objekte werden als spezielle („immanente“) Entitäten interpretiert, die die Funktion des Zielobjekts des Aktes selbst dann erfüllen, wenn ein „transzendentes“ Referenzobjekt fehlt. Die transparente Gegenüberstellung AktObjekt sollte uns keineswegs zur voreiligen Annahme veranlassen, dass es Brentano einfach um die Unterscheidung zwischen den Gedanken, die zur mentalen Realität gehören, und den Gegenständen in der außermentalen Welt geht. Die Brentano’schen immanenten Objekte sind nicht die äußeren Gegenstände der Akte, die, wie wir wissen, manchmal nicht existieren. Sie sind spezielle Entitäten, die jedem mentalen Phänomen auf eine zunächst eher rätselhafte Weise inexistieren sollen.
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In der Psychologie finden wir, wie gesagt, nur sehr knappe Erläuterungen bezüglich dieses zentralen Begriffs der Brentano’schen Ontologie der Intentionalität. Ausführlichere Analysen können wir jedoch aus Brentanos erst 1982 publizierten Vorlesungen zur Deskriptiven Psychologie (1890/1891) entnehmen. Brentano schreibt dort: „1. Vor allem also ist es eine Eigenheit, welche für das Bewußtsein charakteristisch ist, dass es immer und überall [ ] eine gewisse Art von Relation zeigt, welche ein Subjekt zu einem Objekt in Beziehung setzt. Man nennt sie auch ,intentionale Beziehung‘. Zu jedem Bewusstsein gehört wesentlich eine Beziehung. 2. Wie bei jeder Beziehung finden sich daher auch hier zwei Korrelate. Das eine Korrelat ist der Bewusstseinsakt, das andere das, worauf er gerichtet ist. Sehen und Gesehenes, Vorstellen und Vorgestelltes, Wollen und Gewolltes, Lieben und Geliebtes, Leugnen und Geleugnetes usw. Bei diesen Korrelaten zeigt sich [ ], dass das eine allein real, das andere dagegen nichts Reales ist. [ ] Der gedachte Mensch hat darum auch keine eigentliche Ursache und kann nicht eigentlich eine Wirkung üben, sondern indem der Bewusstseinsakt, das Denken des Menschen gewirkt wird, ist der gedachte Mensch, sein nichtreales Korrelat, mit da. Trennbar sind die Korrelate nicht von einander, außer [wenn sie] distinktionell [sind].“ (Brentano 1982, S. 21)
Anhand dieses Zitats können wir versuchen, die charakteristischen Merkmale der frühen Theorie Brentanos aufzulisten: (1) Die intentionale Beziehung wird als eine Art zweistelliger Relation interpretiert, die die Existenz beider Glieder voraussetzt. (2) Das erste Glied der Relation ist der entsprechende Bewusstseinsakt (bzw. das Subjekt, das diesen Akt vollzieht),7 das zweite Glied scheint hingegen das zu sein, was wir normalerweise (vorphilosophisch) als das Ziel (Referenzobjekt) der intentionalen Beziehung betrachten, denn als Beispiele nennt Brentano: „Sehen und Gesehenes, Vorstellen und Vorgestelltes, Wollen und Gewolltes, Lieben und Geliebtes, Leugnen und Geleugnetes usw.“8 7
Nach Brentano ist ein psychischer Akt als ein Akzidens zu verstehen, das das entsprechende psychische Subjekt als seine Substanz voraussetzt. 8 Das Korrelat der Deskriptiven Psychologie interpretieren wir hier als ein Produkt der Präzisierung des Begriffs des immanenten Objekts. Antonelli (2000 und
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(3) Wenn Brentano jedoch den ontologischen Status des zweiten Gliedes näher bestimmt, zeigt sich, dass wir es keineswegs mit einem gewöhnlichen Referenzgegenstand zu tun haben. Wir lesen, dass das zweite Korrelat „nichts Reales“ ist. Es kann „keine eigentliche Ursache“ sein und „kann nicht eigentlich eine Wirkung üben“. Solche Entitäten nennt Brentano irreal. (4) Das zweite Korrelat erweist sich ferner als etwas, was vom entsprechenden Bewusstseinsakt real untrennbar ist. Es kann eventuell nur rein distinktionell, d.h. nur in den Gedanken, nicht aber real separiert werden. „[I]ndem der Bewusstseinsakt, das Denken des Menschen gewirkt wird, ist der gedachte Mensch, sein nichtreales Korrelat, mit da. Trennbar sind die Korrelate nicht von einander, außer [wenn sie] distinktionell [sind].“9
2001, S. 395–405) vertritt eine andere Auffassung. Er behauptet, dass das Korrelat der Deskriptiven Psychologie mit dem immanenten Objekt der Psychologie vom empirischen Standpunkt nicht viel zu tun hat. Das immanente Objekt sei das Zielobjekt der intentionalen Beziehung, das bloß objektiv im Verstand (d.h. ontologisch unverpflichtend) sei. Das Korrelat hingegen sei eine postulierte vermittelnde Entität, die zwar irreal, nichtsdestoweniger ontologisch verpflichtend ist, die jedoch auf jeden Fall kein Zielobjekt des Aktes darstellt. Das wäre tatsächlich eine kohärente Interpretation; gegen sie spricht jedoch zum einen die Tatsache, dass Brentano in der Deskriptiven Psychologie (Brentano 1982) das immanente Objekt nicht einmal erwähnt, was nahe legt, dass das Korrelat eher eine Präzisierung des Begriffs des immanenten Objekts darstellt, als eine Entität, die inzwischen „neben“ dem immanenten Objekt eingeführt wurde. Zum anderen finden wir in der Logik-Vorlesung (Brentano EL 80) eine Theorie, in der gerade das immanente Objekt als eine Entität fungiert, die den intentionalen Zugang zu einem (eventuellen) transzendenten Gegenstand vermittelt. Die Bezeichnung „Korrelat“ taucht in dieser Vorlesung nicht auf. Das alles spricht dafür, dass Brentano die Bezeichnungen „intentionales Korrelat“ und „immanentes Objekt“ in Wirklichkeit synonym verwendet hat. Diese Hypothese wird durch das folgende Zitat aus der LogikVorlesung [EL 72] eindeutig bestätigt: „Wenden wir uns nun zur Analyse der Elemente unserer inneren Wahrnehmungsvorstellung, so weit wie sie eben führen können. Ihr Objekt ist unser Selbst in seinen wirklichen mannigfachen psychischen Beziehungen mit intentionalen Korrelativen (immanenten Gegenständen). Denn dass ein solcher immer beim Psychischen gegeben und gegenüber dem Physischen dafür [d.h. für das Psychische] charakteristisch [ist], haben wir früher gesehen.“, Brentano EL 72, S. 229. Diese Fußnote wurde aus Chrudzimski 2004, S. 155 (Fn 150) übernommen. 9 Im letzten Satz der zitierten Stelle geht es also nicht darum, dass die Korrelate nur in einem speziellen Fall – nämlich „wenn sie distinktionell sind“ – voneinander
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Die Theorie der Intentionalität, die Brentano zu dieser Zeit vertritt, ersetzt also den Gegenstand, den wir vortheoretisch als das Referenzobjekt des Aktes betrachten würden, durch ein immanentes Objekt. Die Rede von der „Immanenz“ hat zunächst eine ontologische Bedeutung. Das Objekt ist dem Akt immanent, weil es ein real untrennbares Korrelat des Bewusstseinsaktes bildet. (B.1) Ein immanentes Objekt O existiert genau dann, wenn ein entsprechender Bewusstseinsakt A existiert, dessen immanentes Korrelat O ist. Wenn wir die Symbole „IOx“, „Ax“ und „Kxy“ entsprechend als „x ist ein immanentes Objekt“, „x ist ein psychischer Akt“ und „x und y stehen in der Relation der intentionalen Korrelation (d.h. in der Relation, in der ein psychischer Akt zu seinem immanenten Objekt steht) lesen, lässt sich die These (B.1) folgendermaßen darstellen: ∀xIOx ≡ ∃yAy ∧ Kyx ∧ Ax ≡ ∃yIOy ∧ Kxy Mit dieser ontologischen Immanenz hängen gewisse epistemische Momente eng zusammen. Die existentielle Abhängigkeit des immanenten Objekts vom psychischen Akt schließt nämlich die Fälle aus, in welchen das angebliche Referenzobjekt des Aktes nicht existiert. Sie schließt mithin eine wichtige Quelle möglicher Fehler aus. Wir können uns nicht täuschen, dass wir ein immanentes Objekt vor (den geistigen) Augen haben, während es in der Tat nicht vorhanden ist, so wie wir uns bezüglich der „äußeren“ Gegenstände täuschen können. Es kann nicht sein, dass wir ein immanentes Objekt vor Augen haben und es gleichwohl nicht existiert. Eine solche Situation ist kraft der ontologischen Zusammengehörigkeit des Aktes und seines Objekts ausgeschlossen. „[I]ndem der Bewusstseinsakt [ ] gewirkt wird, ist [ ] sein nichtreales Korrelat, mit da.“ Es liegt also nahe, dem immanenten Objekt eine epistemische Immanenz zuzuschreiben. trennbar sind, sondern darum, dass ihre Trennbarkeit keine reale, sondern lediglich eine distinktionelle ist. Die Korrelate lassen sich nur gedanklich voneinander trennen. Sie dürfen also nur insofern als voneinander trennbar bezeichnet werden, als man darunter eine bloß distinktionelle Trennbarkeit versteht. (Die Zusätze in Klammern stammen von den Herausgebern der Deskriptiven Psychologie.)
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(B.2*) Ein immanentes Objekt O eines Bewusstseinsaktes A ist für das Subjekt, das den Akt A vollzieht, epistemisch vollständig zugänglich. Die These (B.2*) sagt mehr als nur das, dass, wenn der entsprechende Bewusstseinsakt existiert, die Nichtexistenz seines immanenten Objekts ausgeschlossen ist. Sie besagt zusätzlich, dass es keine Aspekte des immanenten Objekts geben kann, die dem den Akt vollziehenden Subjekt epistemisch unzugänglich sind. Die prima facie-Evidenz für die These (B.2*) liegt im Begriff der Korrelation Akt-Objekt, den Brentano voraussetzt. Da das immanente Objekt ein Korrelat – gewissermaßen ein Schattenbild – des psychischen Aktes bildet, scheint es nicht mehr enthalten zu können als das, was im entsprechenden Akt gemeint wird. Es scheint zur cartesianischen Sphäre des für das jeweilige Subjekt epistemisch privilegiert Zugänglichen (zu seiner „Sphäre des epistemisch privilegierten Zugangs“) zu gehören.10 Einen zusätzlichen Grund für die Annahme der epistemischen Transparenz des immanenten Objekts liefert die Brentano’sche Theorie der inneren Wahrnehmung, nach der alle psychischen Phänomene implizit wahrgenommen werden. (Vgl. dazu Chrudzimski 2001a, Abschnitt 3.2) Jedes psychische Phänomen ist nach Brentano „zweistrahlig“. Zum einen bezieht es sich auf sein primäres Objekt, d.h. auf das, was wir ihm vorphilosophisch als sein Objekt zuordnen würden (z.B. der Vorstellung eines Pferdes – ein Pferd). Zum anderen aber erfasst es immer auch sich selbst als sein sekundäres Objekt. Wenn nun das immanente Objekt ein unentbehrliches Korrelat eines psychischen Phänomens bildet, muss es konsequenterweise auch in der dazugehörigen inneren Wahrnehmung miterfasst werden; und da eine solche innere Wahrnehmung nach Brentano im Grunde unfehlbar sein soll, scheint es, dass die Brentano’schen immanenten Objekte für ihr Subjekt tatsächlich epistemisch transparent sein müssen. Chisholm behauptet, dass die These Brentanos, dass alle psychischen Phänomene implizit innerlich wahrgenommen und in diesem Sinne bewusst sind, in Wirklichkeit eine prinzipielle epistemische Zugänglichkeit aller psychischen Phänomene bedeutet. Wenn ein Subjekt ein bestimmtes
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Zu verschiedenen Bestimmungen einer solchen Sphäre vgl. Alston 1973.
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psychisches Phänomen aktuell hat, dann kann es nach der Interpretation Chisholms wissen, ob es dieses Phänomen hat, wenn es sich nur die Frage stellt, ob es dieses Phänomen hat.11 Diese These der prinzipiellen epistemischen Zugänglichkeit der psychischen Phänomene kann man folgendermaßen formulieren: (Ch) Wenn ein Subjekt S einen psychischen Zustand T hat, dann weiß S, dass es T hat, wenn S die Frage, ob es T hat, formuliert. Auch die Funktion, die das immanente Objekt im Rahmen der Theorie der Intentionalität erfüllt, scheint die These der epistemischen Immanenz zu unterstützen.12 Die Einführung des immanenten Objekts soll nämlich nicht nur das Scheitern der Regel der Existenz-Generalisierung, sondern auch das Scheitern der Regel der Substituierbarkeit erklären. Mit der Regel der Existenz-Generalisierung ist die Sache relativ einfach. Von jedem intentionalen Kontext dürfen wir auf die Existenz des entsprechenden immanenten Objekts schließen, und was die Regel der Substituierbarkeit betrifft, so können wir vermuten, dass wir eine für die intentionalen Kontexte funktionierende Version dieser Regel erhalten können, wenn wir als die Bedingung der Substituierbarkeit nicht die Identität der Referenzgegenstände, sondern die Identität der entsprechenden immanenten Objekte festlegen. Das scheint in der Tat ein plausibler Weg zu sein. Die Tatsache, dass Hans an den Besiegten von Waterloo nicht zu denken braucht, selbst wenn er an den Sieger von Jena denkt, lässt sich, wie es scheint, dadurch erklären, dass in diesen zwei Gedanken zwei verschiedene immanente Objekte involviert sind. Der Sieger von Jena ist zwar dieselbe Person wie der Besiegte von Waterloo. Die Identität:
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Vgl. „In saying, then, that all mental phenomena are objects of consciousness, Brentano’s main concern is to make the point that all mental phenomena are accessible to consciousness. There are no mental phenomena which the subject is unable to find. For if the phenomenon is there and if he searches for it, then he will find it.“, Chisholm 1993, S. 158. 12 Im vierten Kapitel von Chrudzimski 2001a zeigen wir jedoch, dass die Brentano’sche Lehre in dieser Beziehung nicht so einfach ist. Mindestens für eine wichtige Gruppe der immanenten Objekte gilt die These (B.2*) nicht.
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(Id.) der Sieger von Jena = der Besiegte von Waterloo gilt also. Die entsprechenden immanenten Objekte, die wir als „[der Sieger von Jena]“ und „[der Besiegte von Waterloo]“ bezeichnen können, sind jedoch ganz verschieden. Wäre es der Fall, dass: (Id.*) [der Sieger von Jena] = [der Besiegte von Waterloo], wäre dadurch die Folgerung logisch gesichert. Und die Tatsache, dass die Identität der Form „a = b“ die Identität der Form „a = b“ nicht impliziert, bildet die philosophische Erklärung, warum die Regel der Substituierbarkeit in ihrer ursprünglichen Form in den intentionalen Kontexten scheitert.13 Eine kurze Überlegung zeigt uns jedoch, dass, wenn die Identität der immanenten Objekte wirklich als die Bedingung der Substituierbarkeit fungieren soll, diese Identität für das relevante Subjekt weder verborgen noch von ihm falsch geglaubt werden kann. Um das zu verstehen, müssen wir uns nur an den Grund erinnern, warum aus dem Satz „Hans bewundert den Sieger von Jena“ der Satz „Hans bewundert den Besiegten von Waterloo“ nicht folgt. Der Grund dafür besteht nämlich darin, dass es keine Garantie gibt, dass Hans weiß, dass der Sieger von Jena dieselbe Person wie der Besiegte von Waterloo ist. Gäbe es eine Garantie, dass er das weiß, könnte die Regel der Substituierbarkeit ohne Probleme angewendet werden. Wenn aber die Identität der immanenten Objekte als die Bedingung der Substituierbarkeit fungieren soll, ist es klar, dass die immanenten Objekte für das jeweilige Subjekt in der Weise epistemisch zugänglich sein müssen, dass alle Irrtümer bezüglich der Identität oder Verschiedenheit dieser Objekte für das entsprechende Subjekt ausgeschlossen sind. Diese Beobachtung beschränkt sich übrigens nicht auf die Theorie Brentanos. Sie kann in der Form einer „Regel der epistemischen Transparenz“ zusammengefasst werden, die für alle Theorien der Intentionalität, die zwecks der Erklärung des Phänomens der Intentionalität spezielle Entitäten einführen, zu gelten scheint. 13
Bald werden wir aber sehen, dass man von der Identität der immanenten Objekte streng genommen überhaupt nicht sprechen kann. Unsere Bemerkungen behalten aber ihren guten Sinn, wenn wir den Begriff der Identität durch den Begriff der Äquivalenz der immanenten Objekte ersetzen, den wir später ausführlicher besprechen werden.
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(RET) Entitäten, die im Rahmen der Theorie der Intentionalität eingeführt werden, um die logische Regelmäßigkeit der intentionalen Kontexte wiederherzustellen, müssen, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen sollen, für das betreffende Subjekt epistemisch zugänglich sein. In diesem Sinne müssen diese Entitäten für das Subjekt epistemisch transparent sein. Der Charakter der epistemischen Transparenz, die für das Funktionieren der Theorie erforderlich ist, wird in unserer Regel nicht genau präzisiert. Dieser Charakter wird wahrscheinlich nicht für alle Arten der intentionalen Kontexte gleich sein. Es gibt verschiedene Typen des intentionalen Idioms, die sehr verschiedene Grade der epistemischen Zugänglichkeit erzwingen.14 Es scheint jedoch, dass für die Fälle der 14
Vgl. die folgende Reihe: (1) Hans hat den Begriff des dümmsten Politikers der Welt konstruiert und behauptet, dass eine solche Person auf jeden Fall nicht zu seiner Partei gehören kann. (2) Hans hat festgestellt, dass er fast nichts über Platon weiß. (3) Hans sagt, dass Francis Drake die Flotte Napoleons bei Trafalgar besiegt hat; er meint natürlich Nelson. (4) Hans sagt, dass er meine ältere Schwester gesehen hat, er meint jedoch sicherlich die jüngere. In allen diesen Sätzen wird davon gesprochen, was Hans meint, und jede dieser Verwendungen des intentionalen Idioms scheint in der Tat eine Art intentionale Beziehung zu betreffen. Die Bedingungen der epistemischen Zugänglichkeit fallen trotzdem recht unterschiedlich aus. Im Satz (1) wird die Referenz rein deskriptiv bestimmt, und man kann ziemlich starke Bedingungen der epistemischen Transparenz vermuten. Im Satz (2) sagt man hingegen, dass das Subjekt selbst realisiert, dass sein Begriff des Referenzgegenstandes extrem unvollständig ist. Man kann nicht ausschließen, dass Hans nur die falschen Informationen über Platon hat. Zu sagen, dass er sich in diesem Fall keineswegs auf Platon beziehen kann, wäre jedoch extrem kontraintuitiv. Im Satz (3) wird schließlich die Referenz vom Interpret korrigiert, wobei es nicht klar ist, ob sich Hans einfach versprochen hat (ob er in der Tat „Nelson“ sagen wollte), oder ob er den falschen Namen gelernt hat. Wenn er jedoch alle (historisch belegten) Eigenschaften Nelsons der Person mit Namen Francis Drake zuschreibt, ist es höchst unklar, auf wen er sich tatsächlich bezieht. Derartige Fälle scheinen schon sehr deutlich das deskriptionstheoretische Paradigma in Frage zu stellen. Eine ähnliche Korrektur tritt im Satz (4) auf. Hier haben wir es jedoch zusätzlich mit der kausalen Beziehung, die in der Perzeption, aus welcher die Meinung resultiert, involviert ist, zu tun. Der Interpret behauptet, dass Hans in der Tat mit seiner jüngeren Schwester in einem visuellen Kontakt war, obwohl dieser selbst glaubt, die ältere Schwester gesehen zu haben. Wie wir noch sehen werden, scheinen solche kausalen Beziehungen ebenfalls für die Intentionalität der perzeptiven Akte von Bedeutung zu sein. Indem die jüngere Schwester für
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intentionalen Kontexte, die für die Theorie Brentanos aller Wahrscheinlichkeit nach den Ausgangspunkt bilden, zumindest die von Chisholm postulierte prinzipielle epistemische Zugänglichkeit der postulierten Entitäten gewährleistet sein muss.15 Die Formulierung der Regel der Substituierbarkeit, die von der Identität der immanenten Objekte spricht, ist übrigens sehr ungenau. Es gibt nämlich einen weiteren Aspekt der Brentano’schen Immanenz, der eine weitere Komplizierung erzwingt. Diesen Aspekt, der zugleich eine epistemische und eine ontologische Seite hat, kann man als die Privatheit des immanenten Objekts bezeichnen. Im Rahmen der Theorie Brentanos ist es nämlich unmöglich, dass sich zwei verschiedene Subjekte auf dasselbe immanente Objekt beziehen. Kraft der These der Korrelativität (B.1) ist jedes immanente Objekt von „seinem“ Akt (und eo ipso von seinem Subjekt) ontologisch abhängig. Wir können also das folgende Prinzip der Privatheit der immanenten Objekte formulieren: (B.3) Ein immanentes Objekt O eines Bewusstseinsaktes A ist in Bezug auf das Subjekt, das den Akt A vollzieht, radikal privat. Es ist prinzipiell unmöglich, dass ein anderes Subjekt dasselbe immanente Objekt O als Objekt seines psychischen Aktes hat. Die Privatheit des immanenten Objekts löst sehr schwierige Fragen aus, die mit der Problematik der Intersubjektivität zusammenhängen. Brentano hat zwar eine Behandlung dieser Problematik nie ernsthaft in Angriff genommen; für seine Schüler, welche die frühe Lehre ihres Meisters weiterzuentwickeln versuchten, ist sie jedoch zu einem der zentralen Probleme geworden. Wenn wir nun die Regel der Substituierbarkeit vor dem Hintergrund der Privatheit des immanenten Objekts betrachten, ist es klar, dass man den relevanten perzeptiven Akt kausal verantwortlich ist, scheint sich Hans in einem gewissen Sinne auf sie zu beziehen, obwohl er dabei die ältere Schwester (deskriptiv) meint. 15 In Wirklichkeit hat Brentano die These der epistemischen Transparenz des immanenten Objekts (B.2*) nicht akzeptiert. Zur großen Überraschung behauptet er, dass ein immanentes Objekt Aspekte enthält, die dem jeweiligen Subjekt epistemisch prinzipiell unzugänglich sind. Mit diesem schwierigen Punkt der Brentano’schen Lehre brauchen wir uns jedoch an diesem Ort nicht zu beschäftigen. In Chrudzimski 2001a, S. 128–154, versuchten wir, die tieferen Gründe dieser überraschenden These zu erörtern.
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in ihr nicht von der Identität, sondern vielmehr von einer einzigartigen Äquivalenz der immanenten Objekte sprechen muss, nämlich von der Äquivalenz, die darin besteht, dass die zwei immanenten Objekte genau denselben „Inhalt“ haben, d.h. genau dieselbe Eigenschaften spezifizieren.16 Das Brentano’sche immanente Objekt erweist sich also als eine Entität, die vom jeweiligen Bewusstseinsakt ontologisch abhängig ist. Es entsteht mit dem psychischen Akt und verschwindet zusammen mit ihm. Es ist ferner in Bezug auf das Subjekt, das den Akt vollzieht, radikal privat. Es ist prinzipiell unmöglich, dass zwei Subjekte dasselbe immanente Objekt haben. Eine solche Entität tendiert dazu, den Begriff der epistemischen Transparenz zu involvieren. Man ist geneigt zu glauben, dass das immanente Objekt keine Aspekte enthalten kann, die dem Subjekt epistemisch unzugänglich wären. Wie wir gesehen haben, soll diese Entität im Rahmen der Theorie Brentanos das, was wir vorphilosophisch als den Gegenstand des Aktes betrachten, gewissermaßen ersetzen. Diese Theorie kann dementsprechend folgendermaßen zusammengefasst werden: (B.4) Ein Subjekt S bezieht sich intentional auf ein Objekt O genau dann, wenn es ein irreales, immanent inexistierendes Objekt gibt, das mit O identisch ist, und das Subjekt S in einer intentionalen Relation zu O steht. Wenn wir die intentionale Beziehung als „INT“ bezeichnen, kann die Definition (B.4) folgendermaßen formuliert werden: ∀x∀yINTxy ≡ ∃zIOz ∧ z = y ∧ INTxz Bei dieser Interpretation erweist sich die Theorie der immanenten Objekte als ein klares Beispiel einer reinen Objekt-Theorie der Intentionalität.17 Mit einer Objekt-Theorie (OT) haben wir dann zu tun, wenn man, um 16
Genauer besprachen wir dieses Problem in Chrudzimski 2001a, S. 218–220. Zu dieser Interpretation vgl. z.B. Smith 1994, S. 44: „Brentano’s intentionality thesis at the time of the psychology may now more properly be interpreted as follows: the mind or soul is windowless; our acts of thought and sensation are directed in every case to what exists immanently within it, to these acts themselves, or to immanent data of sense, or to immanent entities of other sorts [ ]. Notice further that Brentano’s thesis
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die Probleme der intentionalen Beziehung zu lösen, spezielle Entitäten einführt, die als Zielobjekte der Intention fungieren. Die Theorie Brentanos, so wie sie in den bereits zitierten Schriften dargestellt wurde, weist eine wichtige Eigenschaft jeder OT auf. Die philosophisch analysierte intentionale Beziehung wird im Rahmen dieser Theorie zwar drastisch uminterpretiert. Sie wird zu einer wesentlich anderen Relation als diejenige, die wir uns unter dem gleichen Namen vorphilosophisch vorstellen. (Insbesondere wird sie zu einer Relation zu einem speziellen Objekt, das in der vorphilosophischen Beschreibung der Sachlage gar nicht auftritt.) Nichtsdestoweniger bleibt diese Relation, die die vorphilosophisch verstandene intentionale Beziehung ersetzt, obwohl sie eine Relation zu einem speziellen, immanenten Objekt ist, immer noch intentional. Das auffallendste Merkmal der Definition (B.4) ist nämlich, dass wir auf den beiden Seiten der Definition das Wort „intentional“ finden. Die intentionale Beziehung besteht nach dieser Definition darin, dass das Subjekt in einer Relation zu einem speziellen Objekt steht. Diese Relation wird jedoch weiterhin als eine intentionale Relation bezeichnet. Brentano scheint also zu behaupten, dass die Entität, auf die sich das Subjekt intentional bezieht, das immanente Objekt ist. Die Theorie Brentanos erklärt uns also den Begriff der Intentionalität nicht, wenn diese Erklärung als eine Reduktion auf nicht-intentionale Begriffe verstanden werden soll. Das Wort „intentional“ bleibt als ein primitives, unreduzierbares Element der philosophischen Grammatik. In diesem Sinne ist die Intentionalität bei Brentano unreduzierbar.18 Der mittlere Brentano interpretiert jedoch die intentionale Beziehung, die nach der vorphilosophischen Beschreibung die oben erwähnten logischen Anomalien aufweist, als eine ganz reguläre Relation zu einem speziellen Objekt. In diesem Licht ist es auch klar, dass man (B.4) auf keinen Fall als eine Definition des Wortes „Intentionalität“ (bzw. des Begriffs der Intentionalität) betrachten kann. (B.4) definiert höchstens, was das heißt, sich intentional zu beziehen. So verstanden ist sie allerdings informativ, denn leaves no room for non-veridical intentionality [ ]. The act involved in such cases enjoy [ ] objects of exactly the same (immanent) sorts [ ].“ Vgl auch Smith 1992/93, S. 43; Smith 1996, S. 328; Baumgartner 1996, S. 238, 250. 18 Dies gilt übrigens auch für den späten Brentano. Vgl. Chrudzimski 2001a, Kap. 7.
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sie präzisiert die Art dieser Beziehung (eine echte Relation) und die Art der Objekte, die bei jeder intentionalen Beziehung als Zielentitäten fungieren (immanente Objekte). Die Definition (B.4) sagt uns also, dass das eigentliche Zielobjekt einer intentionalen Beziehung das immanente Objekt ist. Eine solche These ist sicherlich sehr kontraintuitiv. Wenn wir uns mal auf die „phänomenologische Beschreibung“ der intentionalen Beziehung stützen, die für Brentano, der doch eine deskriptive Psychologie betreiben wollte, auf jeden Fall große Bedeutung haben musste, dann scheint es klar, dass eine „theoretisch unbefangene“ Beschreibung der intentionalen Beziehung uns nichts von einem immanenten Objekt sagt. Wenn wir an einen Baum denken, dann denken wir doch sicherlich nicht an einen immanenten Baum. Definition (B.4) kann uns zwar die logischen Rätsel der intentionalen Kontexte erklären, sie scheint aber zugleich mit den direkt zugänglichen „deskriptiven Daten“ in einem krassen Widerspruch zu stehen. Mit anderen Worten: Eine reine OT scheint beim genaueren Hinsehen phänomenologisch unplausibel zu sein. Diese Kontraintuitivität kann teilweise in der Brentano’schen Urteilstheorie aufgehoben werden. Zum Teil wird sie aber schon in seinen alternativen Vorstellungstheorien, die wir gleich besprechen werden, neutralisiert. 3. Die Theorie Brentanos aus der L OGIK-VORLESUNG [El 80] In seiner Logik-Vorlesung aus den späten achtziger Jahren untersucht Brentano die Probleme der semantischen Beziehungen, die in der Verwendung der Sprache involviert sind. Die Sprache ist nach Brentano in erster Linie ein Ausdruck unserer psychischen Phänomene, und so spielt in seinen Analysen der sprachlichen Intentionalität die Kategorie des immanenten Objekts eine prominente Rolle. Die einfache Objekt-Theorie der Intentionalität wurde dabei in einer interessanten Weise modifiziert. In seiner Analyse der semantischen Funktionen der Namen kommt Brentano nämlich zu dem Schluss, dass man zwei Arten unterscheiden muss, wie ein Name etwas „bezeichnet“. Wir lesen: „Nochmals also: Was bezeichnen die Namen? Der Name bezeichnet [i] in gewisser Weise den Inhalt einer Vorstellung als solche[n], den immanenten Gegenstand; [ii] in gewisser Weise das, was durch Inhalt einer Vorstellung vorgestellt wird. Das Erste ist
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die Bedeutung des Namens. Das Zweite ist das, was der Name nennt. Von dem sagen wir, es komme der Name ihm zu. Es ist das, was, wenn es existiert, äußerer Gegenstand der Vorstellung ist. Man nennt unter Vermittlung der Bedeutung. Die alten Logiker sprachen [deswegen] von einer dreifachen Supposition der Namen: [1] suppositio materialis: vide oben; [2] suppositio simplex: Bedeutung: Mensch ist eine Spezies, d.i. die Bedeutung des Wortes ,Mensch‘ ist eine Spezies, d.i. der Inhalt der Vorstellung eines Menschen ist eine Spezies; [3] suppositio realis: das Genannte: Ein Mensch ist lebendig, ist gelehrt etc.“ (Brentano EL 80, S. 34 f.)19
Brentano unterscheidet hier zwei intentionale Beziehungen, die in der Verwendung eines Namens involviert sind. Der Name bezeichnet „den Inhalt einer Vorstellung als solche[n], den immanenten Gegenstand“, was die Bedeutung des Namens ist, sie nennt jedoch „das, was durch Inhalt einer Vorstellung vorgestellt wird“ und „[e]s ist das, was, wenn es existiert, äußerer Gegenstand der Vorstellung ist.“ Im Vergleich zu den früher besprochenen Stellen aus der Psychologie und den Vorlesungen zur Deskriptiven Psychologie bemerken wir einen wichtigen Unterschied. Außer dem immanenten Objekt der Vorstellung führt Brentano hier auch ein äußeres Objekt dieser Vorstellung ein. Dieses äußere Objekt braucht, wie wir lesen, nicht zu existieren, und es wird „durch Inhalt einer Vorstellung [d.h. durch ihr immanentes Objekt] vorgestellt.“ Die intentionale Beziehung zu einem äußeren Objekt wird also nach dieser Darstellung durch das immanente Objekt, das als sprachliche Bedeutung fungiert, gewissermaßen vermittelt. „Man nennt unter Vermittlung der Bedeutung“, schreibt Brentano. „[D]ie Bedeutung
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Dieselbe semantische Theorie vertrat Brentano, wie es scheint, bereits in der Vorlesung Alte und neue Logik aus dem Jahre 1877. Zu dieser Vorlesung gibt es eine Mitschrift, in der wir lesen: „Man kann dreifaches unterscheiden: etwas, was der Name kund gibt, was er bedeutet, und was er nennt. Spricht jemand einen Namen aus, so gibt er kund, dass er ein gewisses Vorstellen habe, es bedeutet aber der Name den Inhalt einer Vorstellung als solchen. Und es nennt der Name das, was durch den Inhalt einer Vorstellung vorgestellt wird; davon sagen wir, es kommt ihm der Name zu; man nennt den Gegenstand unter Vermittlung der Bedeutung; der Inhalt der Vorstellung vermittelt den Gegenstand. ,Sokrates‘ ist der Genannte auch wenn er nicht ist. Die Bedeutung liegt im Inhalt der Vorstellung und diese wird kund gegeben dadurch, dass ich den Namen ausspreche.“, Brentano EL 108*, S. 21. Für den Hinweis auf diese Stelle der Logik-Vorlesung 1877 danke ich Johann C. Marek (Graz).
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[ ] ist [ ] der Inhalt der Vorstellung [ ], unter deren Vermittlung das Objekt genannt wird.“ (Brentano EL 80, S. 35) Die zwei Hauptprobleme der Theorie der Intentionalität, die Regel der Existenz-Generalisierung und die Regel der Substituierbarkeit, werden dann folgendermaßen behandelt: Der Name „Zentaur“, der keinen existierenden Gegenstand nennt, hat nach dieser Theorie zumindest seine Bedeutung, d.h. es gibt zumindest das immanente Objekt der entsprechenden Vorstellung. Die Existenz dieses immanenten Objekts kann also aus der Existenz des entsprechenden Aktes der Vorstellung deduziert werden. Was die zweite Regel betrifft, so können zwei Namen, die denselben „äußeren“ Gegenstand bezeichnen, diesen Gegenstand, wie Brentano sagt, „unter Vermittlung verschiedener Bedeutungen“ (d.h. verschiedener immanenter Objekte) nennen. (Vgl. Brentano EL 80, S. 35) Wir können vermuten, dass für die Anwendbarkeit der Regel der Substituierbarkeit die oben erwähnte Äquivalenz der vermittelnden immanenten Objekte gefordert werden muss. Aufgrund der zitierten Stelle sehen wir, dass sich die Theorie der Logik-Vorlesung von der in der Definition (B.4) zusammengefassten Theorie der Deskriptiven Psychologie wesentlich unterscheidet. Der äußere Gegenstand kehrt zurück, und das immanente Objekt scheint eine bloß vermittelnde Rolle zu spielen. Die Kontraintuitivität der reinen OT, von der wir gesprochen haben, wird dadurch gemildert, und der Intuition, dass „[d]ie Vorstellung [ ] nicht ,vorgestelltes Ding‘, sondern ,das Ding‘ [ ] zum [ ] Objekt [hat]“ (Brentano 1977, S. 119 f.), die der späte Brentano, der seine immanenten Objekte nicht länger akzeptieren wollte, betonte, wurde dadurch gewissermaßen schon in der mittleren Periode Rechnung getragen. Das immanente Objekt muss jetzt nur im Fall der Nichtexistenz des äußeren Gegenstands die ganze intentionale Arbeit leisten. Im Fall, dass der äußere Gegenstand existiert, scheint es den intentionalen Zugang zu diesem Gegenstand lediglich zu vermitteln. „Man nennt unter Vermittlung der Bedeutung“, schreibt Brentano; und Bedeutung ist im Rahmen der Theorie seiner Logik-Vorlesung nichts anderes als das immanente Objekt. Die Theorie der Intentionalität, die in der angeführten Logik-Vorlesung zum Ausdruck kommt, kann folgendermaßen zusammengefasst werden: (B.5) Das Subjekt S bezieht sich intentional auf das Objekt O genau dann, wenn es ein immanentes Objekt Oi gibt, das Subjekt S in
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einer Relation R zu Oi steht und das Objekt Oi die intentionale Beziehung auf das Objekt O vermittelt, falls ein solches Objekt existiert. Diese Definition werden:
kann
symbolisch
folgendermaßen
dargestellt
∀x∀yINTxy ≡ ∃zIOz ∧ E!z ∧ Rxz ∧ E!y ⊃ MEDzy Die Bezeichnung „MEDzy“ bedeutet, dass z die intentionale Beziehung auf y vermittelt, und „E!“ ist das Existenz-Prädikat. Ein wichtiger Unterschied im Vergleich zu unseren früheren symbolischen Formulierungen der Brentano’schen Prinzipien besteht darin, dass die Quantoren diesmal ontologisch unverpflichtend interpretiert werden müssen, und zwar deswegen, weil es auch möglich ist, dass der Referenzgegenstand y nicht existiert. Im Rahmen der Theorie der Deskriptiven Psychologie war eine solche Situation unmöglich, weil in ihr der Referenzgegenstand durch das immanente Objekt ersetzt wurde. Eine wichtige Frage, die bezüglich der Definition (B.5) gestellt werden kann, betrifft die Relation R zwischen dem Subjekt und dem immanenten Objekt, von der man in dieser Definition spricht. Wie ist diese Relation näher zu bestimmen? Ist sie eine intentionale Relation wie in der Definition (B.4), oder ist sie eine andere Relation, die die intentionale Relation zum Objekt O lediglich vermittelt? Wenn wir die zweite Antwort annehmen, bekommen wir eine Version der so genannten Mediator-Theorie (MT), die statt der speziellen Entitäten, die als Zielobjekte der Intention fungieren, Entitäten einführt, die nicht in der Zielposition stehen, sondern ausschließlich eine vermittelnde Funktion haben und deswegen in einer direkten intentionalen Beziehung gar nicht thematisiert werden. Das immanente Objekt würde demgemäß im Rahmen der direkt gerichteten Intentionalität nie als ein Zielobjekt der intentionalen Beziehung auftreten.20 Es würde im Prinzip die Funktion einer vermittelnden Entität erfüllen, und die Tatsache, dass 20
Wir wissen aber, dass sich nach Brentano jeder psychische Akt auch „sekundär“ auf sich selbst bezieht. Ein solches sekundäres Bewusstsein erfasst natürlich die innere Struktur des jeweiligen intentionalen Aktes zusammen mit dem dazugehörigen immanenten Objekt.
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kapitel 1
„die Vorstellung eines Pferdes nicht ,vorgestelltes Pferd‘, sondern ,Pferd‘ zum [ ] Objekt“ hat (Brentano 1977, S. 119 f.), wäre nicht einmal nennenswert. Es scheint jedoch, dass die Brentano’schen immanenten Objekte nicht nur als vermittelnde Entitäten fungieren. Wenn wir uns an die Problemsituation erinnern, in der sie ursprünglich eingeführt wurden, scheint es, dass sie eher in der Zielposition situiert werden sollten. Die genannte theoretische Situation involviert nämlich wesentlich eine phänomenologische Beschreibung einer intentionalen Beziehung. In einer solchen Beschreibung stellt man fest, dass jedem Sehen sein Gesehenes, jedem Vorstellen sein Vorgestelltes, jedem Wollen sein Gewolltes, jedem Lieben sein Geliebtes, jedem Leugnen sein Geleugnetes usw. entspricht. Die Einführung des immanenten Objekts wurde ferner vor allem durch solche Fälle erzwungen, in welchen das vorphilosophisch verstandene Objekt-Korrelat des Aktes nicht existiert. Die Analyse Brentanos ersetzt dieses Objekt durch eine Entität, die dem psychischen Akt zugehören muss, und zwar selbst dann, wenn er „untreffend“ ist. Diese Funktion des immanenten Objekts legt es nahe, dass es doch in der Zielposition des psychischen Aktes zu situieren ist. Wie seltsam es auch klingen mag, eine reine MediatorTheorie erweist sich bereits nach ein paar Schritten als nicht weniger phänomenologisch unplausibel als eine reine Objekt-Theorie. Das bedeutet jedoch, dass die Relation R, die in Definition (B.5) auftritt, doch als eine intentionale Beziehung interpretiert werden muss. Wir bekommen folglich eine etwas merkwürdige Objekt-Theorie, in der zwei Objekte auftreten (O×2 T): (B.5*) Das Subjekt S bezieht sich intentional auf das Objekt O genau dann, wenn es ein immanent inexistierendes Objekt Oi gibt, das Subjekt S in der intentionalen Relation zu Oi steht und das Objekt Oi die intentionale Beziehung auf das äußere Objekt O vermittelt, falls ein solches Objekt O existiert. 4. Die Theorie Brentanos als eine Deskriptionstheorie Eine weitere Frage, die bezüglich der Theorie der Logik-Vorlesung gestellt werden kann, betrifft die Art und Weise, in der das immanente Objekt den intentionalen Zugang zu einem äußeren Objekt (falls ein solches Objekt existiert) vermittelt. Es scheint, dass die Brentano’sche Idee der
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intentionalen Vermittlung in ihrem Kern eine Theorie der intentionalen Beziehung enthält, die im Grunde nach dem Schema einer Deskriptionstheorie (DT) funktioniert. Die präzise Formulierung dieser Theorie wird vor allem mit den Namen Frege und Russell assoziiert,21 und sie stellte für den größten Teil der analytischen Philosophie noch bis vor kurzem eine Art Selbstverständlichkeit dar.22 DT behauptet, dass man sich auf einen Gegenstand nur durch gewisse identifizierende Merkmale dieses Gegenstands intentional beziehen kann. Eine intentionale Beziehung kann nach dieser Auffassung nur dadurch zustande kommen, dass man eine identifizierende Beschreibung verwendet, die das potentielle Referenzobjekt (bzw. die potentiellen Referenzobjekte) der intentionalen Beziehung spezifiziert. (DT) Ein Subjekt kann sich nur in der Weise intentional beziehen, dass es eine repräsentierende Struktur verwendet, die gewisse Merkmale des (bzw. eines) eventuellen Referenzobjekts spezifiziert. Diese Struktur kann man identifizierende Deskription (Kennzeichnung) des (bzw. eines) Referenzobjekts nennen. Die intentionale Beziehung hat ein Referenzobjekt nur dann, wenn die genannte Deskription durch etwas erfüllt ist. Im Manuskript Abstraktion (Brentano Ps 21) aus dem Jahre 1889 bzw. 1899.23 vertritt Brentano eindeutig eine solche DT. Wir lesen dort: „Der Vorstellende nimmt den Gegenstand in gewissem Sinne in sich auf. Daher spricht man beim Vorstellen von einem Aufgenommenen (conceptus), Begriff im weitesten Sinn [ ]. Wird ein Seiendes vorgestellt – so dass ein Gegenstand in der Außenwelt besteht – so wird dieser äußere Gegenstand nie in erschöpfender Weise vorgestellt, sondern wie man sagt, nach gewissen Merkmalen, nach anderen aber nicht. Infolge davon kann jeder Gegenstand in der Außenwelt Gegenstand verschiedener Vorstellungen sein. Die eine erfasst ihn nach diesen, die andere nach anderen Merkmalen [ ]. Inhaltlich verschiedene Vorstellungen haben dann denselben Gegenstand. (Die Merkmale, nach welchen der Gegenstand in die Vorstellung aufgenommen ist, bilden ihren Inhalt.)“ (Brentano Ps 21, S. 4)
21
Vgl. dazu vor allem Frege 1892a; Russell 1905a. Diese Selbstverständlichkeit wurde durch die Schriften von Kripke und Putnam in Frage gestellt. 23 Die Datierung ist unsicher. 22
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kapitel 1
Brentano nimmt also an, dass der äußere Gegenstand der Vorstellung immer „nach gewissen Merkmalen, nach anderen aber nicht“ vorgestellt wird. Die genannten Merkmale, nach welchen der Gegenstand vorgestellt ist, bilden den Inhalt der Vorstellung (d.h. ihr immanentes Objekt). Es scheint also, dass man sich das Brentano’sche immanente Objekt provisorisch als ein Bündel der Merkmale denken kann, durch welche der äußere und, wie wir vorphilosophisch sagen würden, der eigentliche Zielgegenstand der Intention intentional identifiziert wird. Die Brentano’sche Version der DT bestimmt also genauer, was für eine Art von Entität die genannte identifizierende Deskription sein muss. Nach der Brentano’schen Lehre ist sie das immanente Objekt, das wir momentan als ein Bündel der in der Deskription genannten Merkmale interpretieren. (DT.B) Die in jeder intentionalen Beziehung vorhandene repräsentierende Struktur (die identifizierende Deskription des Referenzobjekts) =Df. Das immanente Objekt, das ein Bündel der identifizierenden Merkmale ist. Die Theorie der Intentionalität, die sich aus unserer Analyse zu ergeben scheint, könnte dann folgendermaßen formuliert werden: (B.5**) Das Subjekt S bezieht sich intentional auf das Objekt O genau dann, wenn es ein immanentes Objekt Oi gibt, das Subjekt S in einer intentionalen Relation zu Oi steht und (falls ein Objekt O existiert) das Objekt Oi die intentionale Beziehung auf das Objekt O durch eine deskriptive Repräsentation vermittelt, die die Definitionen (DT) und (DT.B) erfüllt. 5. Die Position des immanenten Objekts Eine weitere Frage bezüglich der Theorie, die wir durch unsere Definitionen (B.5)–(B.5**) zu präzisieren versuchten, betrifft die Unterschiede, die auftreten, wenn der äußere Referenzgegenstand nicht existiert. Wie sieht in diesem Fall die intentionale Beziehung aus? Wie gesagt besteht nach der Lehre der zitierten Logik-Vorlesung die Funktion des immanenten Objekts Oi in erster Linie darin, dass es die intentionale Beziehung auf den äußeren Referenzgegenstand vermittelt. Es scheint also, dass im Fall, dass der äußere Referenzgegenstand O existiert,
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eben dieser äußere Gegenstand das phänomenologisch feststellbare Ziel der Intention darstellt. Die Kontraintuitivität der Formulierung (B.4), nach welcher wir uns nur auf immanente Objekte beziehen, würde dadurch gewissermaßen neutralisiert. Das immanente Objekt würde dann „funktionell“ zur Rolle einer vermittelnden Struktur degradiert, selbst wenn es, der Formulierung (B.5*) zufolge, doch als ein zweites Ziel der intentionalen Beziehung auftritt und dementsprechend irgendwie „phänomenologisch“ dem Subjekt vor Augen stehen muss. Wir könnten vielleicht annehmen, dass im Falle, dass der äußere Gegenstand der intentionalen Beziehung existiert, die Merkmale, die den Inhalt der Vorstellung (d.h. ihr immanentes Objekt) bilden, mit den entsprechenden Merkmalen des äußeren Objekts auf eine einzigartige Weise koinzidieren. Die zwei Objekte, äußeres und immanentes, wären demzufolge, obwohl ontologisch streng verschieden, nichtsdestoweniger im Rahmen einer direkt gerichteten intentionalen Beziehung nicht zu unterscheiden. Das Subjekt der intentionalen Beziehung würde sich also auf zwei ontologisch verschiedene, jedoch phänomenologisch „zusammengeschmolzene“ Objekte richten. In diesem Sinne wäre das immanente Objekt vorphilosophisch nicht thematisiert. Erst die philosophische Analyse kann es zutage bringen. Wie sieht jedoch die Struktur des intentionalen Gerichtetseins aus, wenn der entsprechende äußere Gegenstand nicht existiert? Wir haben gesehen, dass gerade diese Situation für die Einführung der immanenten Objekte maßgebend war. Die phänomenologische Beschreibung einer solchen Situation scheint zu besagen, dass man auch in diesem Fall ein Objekt vor seinem geistigen Auge hat. Da jedoch jetzt kein äußerer Referenzgegenstand vorhanden ist, muss in der Rolle des Zielobjekts das immanente Objekt auftreten. Das ist der Grund, warum aus der phänomenologischen Perspektive auch eine reine MT in vielen Aspekten als prima facie unplausibel erscheint. Eine MT führt nämlich eine vermittelnde Struktur (z.B. einen Fregeschen Sinn) ein, die zwar die logischen Anomalien der intentionalen Kontexte erklären kann, die jedoch, da sie prinzipiell kein Zielobjekt der Intention bildet, der phänomenologischen Intuition, die jedem Akt sein Objekt zuordnet, Rechnung zu tragen außerstande ist. Sehr bedeutsam ist in diesem Kontext die Entwicklung der Philosophie
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kapitel 1
Husserls. In seinen Logischen Untersuchungen (1900/1901) hat er eine konsequente und in der Tat sehr interessante MT formuliert (vgl. dazu Husserl 1901, S. 104 ff.), die keine spezielle Kategorie der intentionalen Objekte sondern lediglich den vermittelnden psychischen Inhalt braucht. (Vgl. Husserl 1901, S. 386 f., 439) Schon bald hat er sich jedoch gezwungen gefühlt, zu einer Theorie überzugehen, die ohne Zweifel in Richtung einer Objekt-Theorie geht. In einer offiziellen Version kann man diese Theorie vor allem in seinen Ideen (1913) finden. Die Gründe, die diesen theoretischen Übergang bei Husserl erzwungen haben, waren phänomenologischer Natur. In seinen Vorlesungen u¨ ber Bedeutungslehre (1908) schreibt er, dass eine reine MT, die in den Logischen Untersuchungen formuliert wurde, eben deswegen unhaltbar sei, weil bei jeder intentionalen Beziehung ein Objekt, das „vor Augen steht“, phänomenologisch ausweisbar ist. (Vgl. Husserl 1908, S. 36; Küng 1973, S. 676 f.)24 Zur Theorie Brentanos zurückkehrend scheint es, dass im Fall der Nichtexistenz des äußeren Referenzgegenstands seine Funktion vom immanenten Objekt übernommen werden muss. Das scheint der Hauptgrund zu sein, warum die Brentano’sche Theorie nicht als eine MT, sondern eher als eine O×2 T interpretiert werden sollte. Das immanente Objekt erwirbt dadurch jedoch eine weitere, nicht ganz einfach zu erklärende Eigenschaft. Seine Position im Rahmen der intentionalen Beziehung scheint gewissermaßen systematisch variabel zu werden. Manchmal (wenn der äußere Referenzgegenstand existiert) tritt es in die Position eines Vermittlers zurück, manchmal aber (wenn der äußere Referenzgegenstand nicht existiert) geht es zur Zielposition über. Die Hypothese der „Verschmelzung“ des äußeren und des immanenten Objekts, die wir oben skizziert haben, erklärt dieses Rätsel gewissermaßen. Das immanente Objekt bleibt nach ihr immer in der Position des Zielobjekts. Es wird aber nur im Fall einer „gegenstandslosen“ Beziehung thematisiert. Ein neues Rätsel wartet aber bereits, denn selbst dann, wenn es den äußeren Referenzgegenstand nicht gibt und somit das immanente Objekt die Rolle der Referenzentität übernehmen muss, wird es doch nicht
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In Abschnitt 6.9 besprechen wir genauer die Gründe, warum eine reine MT nicht zufrieden stellend funktioniert.
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als immanentes Objekt thematisiert. Die Tatsache, dass unserer Vorstellung kein äußerer Gegenstand entspricht, bewirkt doch keineswegs, dass wir uns „bewusst“ auf das immanente Objekt dieser Vorstellung beziehen. So kann diese Situation höchstens im Licht einer raffinierten philosophischen Analyse aussehen. Solange wir jedoch im Stande der philosophischen Unschuld sind, glauben wir, dass wir uns auf die äußeren Dinge und nicht auf die immanenten Objekte beziehen. 6. Die Theorie Brentanos als eine Objekt-Theorie mit nicht-existierenden Objekten Unsere letzten Überlegungen zur „Hypothese der Verschmelzung“ könnten sich jedoch vielleicht als entbehrlich erweisen. Der Grund dafür besteht darin, dass Brentano in seiner mittleren Periode sehr viele Entitäten akzeptiert, die die Rolle des Referenzobjekts im Notfall übernehmen können. Im Besonderen führt er neben den immanenten Objekten auch die nicht-existierenden Objekte ein. Gerade im Abschnitt der Logik-Vorlesung, den wir als Beleg für unsere O×2 T-Interpretation zitiert haben, wo Brentano die zwei Arten der intentionalen Beziehung (des Bezeichnens), die in der Verwendung eines Namens involviert sind, unterscheidet, macht er eine angesichts ihres ontologischen Gewichts äußerst knappe Bemerkung über solche nicht-existierenden Gegenstände. Wie wir uns erinnern, schreibt Brentano dort, dass der Name, der keinen existierenden Gegenstand nennt, zumindest seine Bedeutung (d.h. den immanenten Gegenstand der entsprechenden Vorstellung) haben muss. Das hat uns zu dem Schluss geführt, dass im Fall der Nichtexistenz des äußeren Referenzgegenstands eben dieses immanente Objekt als sein „Stellvertreter“ fungieren muss. Brentano fügt jedoch hinzu, dass zu sagen, dass der Name keinen existierenden Gegenstand nennt, noch nicht heiße, dass er überhaupt keinen Gegenstand hat. „Dagegen, dass die Gegenstände [durch die Namen] bezeichnet [werden], wurde gesagt: 1. Es fehle oft ein Gegenstand: also würden die Namen nichts bedeuten. Antwort: 1’ Sie bezeichnen wohl die Gegenstände, aber bedeuten sie nicht, sondern nennen sie. Das Wort ist also nicht ohne Bedeutung. 2’ Es darf nicht verwechselt werden, nichts bezeichnen (nennen) und etwas bezeichnen (nennen), was nicht ist (wie ja auch wünschen, hoffen).“ (Brentano EL 80, S. 35)
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kapitel 1
Bedauerlicherweise finden wir weiter keine Erläuterung dieser interessanten Bemerkung. Es ist jedoch klar, dass Brentano von den nicht-existierenden Gegenständen spricht, die er zu dieser Zeit in seiner ¨ Ontologie akzeptiert hat und die z.B. in seinem Vortrag Uber den Begriff 25 der Wahrheit (1889) (Brentano 1930, S. 3–29), den wir noch besprechen werden, eine prominente Rolle spielen. Wenn man die Schriften von Twardowski und Meinong kennt, kann man außerdem ohne Probleme vorhersagen, wie eine Fortsetzung dieser Denklinie aussehen könnte. Sie könnte natürlich darin bestehen, dass man für jeden Akt einen existierenden oder nicht-existierenden Gegenstand einführt, der in der Zielposition des Aktes steht. Ob eine solche Theorie noch eine vermittelnde Struktur braucht, wollen wir hier nicht entscheiden. Sowohl Twardowski als auch Meinong postulieren solche Strukturen.26 Beim frühen Brentano würde auf jeden Fall das immanente Objekt als eine solche vermittelnde Struktur auftreten, und die Brentano’sche Theorie der Intentionalität würde die folgende „Meinong’sche“ Form annehmen: (B5M ) Das Subjekt S bezieht sich intentional auf das Objekt O genau dann, wenn es ein immanentes Objekt Oi gibt, das Subjekt S in einer Relation R zu Oi steht und das Objekt Oi die intentionale Beziehung auf das existierende oder nicht-existierende Objekt O vermittelt. Symbolisch kann diese Theorie folgendermaßen formuliert werden: ∀x∀yINTxy ≡ ∃zIOz ∧ E!z ∧Rxz ∧E!y ∨ ¬E!y ∧MEDzy Ob auch in diesem Fall die Quantoren als ontologisch unverpflichtend interpretiert werden sollen, ist zweifelhaft. Wir finden hier zwar die 25
Möglicherweise war Brentano in dieser Hinsicht unter dem Einfluss von Robert Zimmermann. Vgl. dazu unten Abschnitt 3.1. 26 Bei Twardowski ist das der psychische Inhalt, den er auch für die Bedeutung des entsprechenden (diesen Akt ausdrückenden) sprachlichen Ausdrucks hält. Vgl. Twardowski 1894, S. 11. Bei Meinong. sind das der psychische Inhalt und der unvollständige Gegenstand (d.h. ein Gegenstand, der nur eine sehr unvollständige Kollektion der Merkmale enthält), wobei der unvollständige Gegenstand die Rolle der Bedeutung erfüllt. Vgl. dazu Meinong 1915, S. 170.
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Gegenüberstellung von Existenz-Quantor und Existenz-Prädikat sowie die These, dass es (im Sinne ∃) Gegenstände gibt, die (im Sinne E!) nicht existieren, es spricht aber vieles dafür, dass dieses es gibt doch ontologisch ¨ ernst genommen werden muss. Besonders im Licht des Vortrags Uber den Begriff der Wahrheit (1889), den wir noch besprechen werden, scheint es, dass Brentano um 1890 sein ontologisches Universum erweitert, so dass man in ihm sowohl existierende als auch nicht-existierende Gegenstände findet. Das Existenz-Prädikat wird dadurch eingeschränkt. Es trifft nicht mehr auf alle Gegenstände zu. Es gibt Gegenstände, auf die es nicht zutrifft, die man aber, wie es scheint, dennoch ontologisch ernst nehmen muss. Kehren wir aber zur Definition (B5M ) zurück. Nach dieser Formulierung würde also das immanente Objekt eigentlich nur in der Position der Vermittlung auftreten, und deswegen ist es auch nicht klar, ob im Rahmen dieser Version der Brentano’schen Theorie die Relation R als eine intentionale Beziehung interpretiert werden soll. Jedenfalls kann die Theorie (B5M ) keineswegs als eine reine Mediator-Theorie gedeutet werden. Nach dieser Theorie gibt es nämlich immer eine Referenzentität. Der einzige Haken besteht darin, dass sie manchmal nicht existiert. Die Theorie postuliert also spezielle Entitäten (nicht-existierende Objekte), die in der Zielposition der Intention stehen, und ist somit eindeutig eine Objekt-Theorie. Wenn man zusätzlich die Relation R als eine intentionale Relation bestimmt, dann wird (B5M ) zu einer Version der Theorie der zwei Objekte, die die merkwürdige Eigenschaft hat, dass beide Objekte immer vorhanden sind (obwohl eines davon manchmal nicht existierend ist). Wenn man hingegen entscheidet, dass die Relation R keine intentionale Relation ist, dann wäre die Theorie (B5M ) eine Mischform der Objekt-Theorie und der Mediator-Theorie.
7. Das Schema der Theorie der L OGIK-VORLESUNG Wir können jetzt die Theorie der Logik-Vorlesung schematisch darstellen. Jeder Name drückt einen Akt der Vorstellung aus (bzw. gibt den Akt der Vorstellung kund), bedeutet das immanente Objekt dieser Vorstellung und nennt den äußeren Gegenstand, der dieser Vorstellung entsprechen
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kapitel 1
würde.27 Wenn das äußere Objekt der Vorstellung existiert, scheint die Struktur der intentionalen Beziehung nach der Lehre der Logik-Vorlesung folgendermaßen auszusehen: Wort
drückt aus
bedeutet
nennt
Immanenz
Subjekt
Akt
Relation R
immanentes
äußeres
Objekt
Objekt
intentionale Beziehung
Die eigentliche intentionale Beziehung besteht zwischen dem Subjekt und dem äußeren Referenzgegenstand, genauso wie es uns der gesunde Menschenverstand sagt. Das immanente Objekt vermittelt diese intentionale Beziehung in einer Weise, die die oben formulierten Bedingungen (DT) und (B.DT) erfüllt. Der Charakter der Relation R, die zwischen dem Subjekt und dem immanenten Objekt besteht, kann, wie wir gesehen haben, nicht ganz eindeutig bestimmt werden. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass sie als eine zweite intentionale Relation interpretiert werden soll. Wenn jedoch der äußere Referenzgegenstand nicht existiert, dann haben wir zwei Interpretationsmöglichkeiten. Wenn wir keine 27
Diese semantische Theorie haben auch Brentanos Schüler übernommen. Vgl. Marty 1884, S. 300; Twardowski 1894, S. 11. Marty hat allerdings die Theorie Brentanos in einer interessanten Weise modifiziert. Marty zufolge ist nämlich die Bedeutung eines Namens vor allem seine Funktion, im Hörenden die gleiche Vorstellung zu erwecken, wie diejenige, die der Sprechende kundgibt. Vgl. Marty 1884, S. 300.
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„Meinong’sche“ Ontologie, die nicht-existierende Objekte einführt, in die Erklärung des Phänomens der Intentionalität einbeziehen wollen, müssen wir, wie es scheint, annehmen, dass sich das immanente Objekt auf die Zielposition des Aktes verschiebt. Diese Verschiebung muss auf jeden Fall „funktionell“, wenn auch nicht unbedingt „phänomenologisch“ interpretiert werden. Wenn wir die Hypothese der Verschmelzung des äußeren Gegenstands mit dem immanenten Objekt annehmen, dann findet aus der Perspektive der vorphilosophischen, direkt gerichteten Intentionalität keine phänomenologisch ausweisbare Verschiebung statt. Denn das immanente Objekt steht, wenn es vom phänomenologischen Standpunkt aus betrachtet wird, immer in der Zielposition des Aktes. Im Fall der Existenz des äußeren Gegenstands wird es jedoch mit diesem Gegenstand in einer einzigartigen Weise phänomenologisch verschmolzen. Im Fall der Nichtexistenz des äußeren Objekts scheint jedoch das immanente Objekt sowohl phänomenologisch als auch funktionell in der Zielposition der Intention zu stehen. Der Akt hat dann, im Gegensatz zur oben illustrierten Situation, nur ein (nämlich das immanente) Objekt. Dieses Objekt, das die Bedeutung des Namens bildet, steht jetzt eindeutig in der Zielposition des Aktes, und es gibt keine andere intentionale Beziehung. Das Schema der intentionalen Beziehung nimmt also die folgende Form an:
Wort
bedeutet
drückt aus
Immanenz
Subjekt
Akt immanentes Objekt Relation R
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kapitel 1
Die Relation R ersetzt die vorphilosophisch verstandene intentionale Beziehung. Das Wort behält nur seine Bedeutung, nennt jedoch nichts. Wenn wir dagegen nicht-existierende Gegenstände annehmen und außerdem bereit sind, sie im Rahmen der Theorie der Intentionalität zu verwenden, kann die Funktion des Zielobjekts im Notfall von einem solchen Gegenstand übernommen werden. Das Schema der intentionalen Beziehung sieht dann folgendermaßen aus:
Wort
drückt aus
bedeutet
nennt
Immanenz
Subjekt
Akt immanentes Objekt Relation R
nicht existierendes äußeres Objekt
intentionale Beziehung
Das Wort, das nichts Existierendes nennt, behält trotzdem nicht nur seine Bedeutung, sondern auch seinen Referenzgegenstand. In der Funktion dieses Referenzgegenstands tritt jetzt ein nicht-existierendes Objekt auf. Das Wort, das nichts Existierendes nennt, nennt jetzt etwas, das nicht existiert. 8. Die ontologische Struktur des immanenten Objekts Wie wir sehen, erweist sich das Brentano’sche immanente Objekt keineswegs als eine philosophisch eindeutige Entität. Einerseits wurde es hauptsächlich aus phänomenologischen Gründen eingeführt als etwas, was dem Subjekt „vor Augen“ steht im Fall, dass der äußere Gegenstand der
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Intention nicht vorhanden ist. Dieses theoretische Bild führt in einer natürlichen Weise zu einer reinen OT, in welcher das immanente Objekt als das einzige Ziel der Intention fungiert. Andererseits haben, wie wir gesehen haben, vor allem die semantischen Probleme Brentano dazu geführt, das immanente Objekt, wenn nicht phänomenologisch, dann mindestens funktionell, eher in der Position einer vermittelnden Struktur zu situieren und explizit eine Theorie der deskriptiven Repräsentation anzunehmen. Besonders unter Berücksichtigung dieses letzteren Aspekts fällt die Interpretation, die das immanente Objekt in der Zielposition der Intention situiert, ziemlich schwach aus. Die Frage, die sich im Zusammenhang mit der Brentano’schen Version der DT stellt, betrifft nämlich die Art und Weise, wie die identifizierenden Merkmale durch das immanente Objekt spezifiziert werden. Es scheint, dass das immanente Objekt die Eigenschaften des Referenzgegenstands nur dadurch spezifizieren kann, dass es die entsprechenden Eigenschaften hat. Das Bild des immanenten Objekts als etwas, das zumindest im Fall der Nichtexistenz des äußeren Gegenstands das Ziel der Intention bildet, stützt zusätzlich diese Annahme. Dieser Gedanke führt zur Hypothese, dass ein immanentes Objekt genau diejenigen Eigenschaften haben muss, die dem Subjekt vor Augen stehen. Wenn man also an etwas Rotes, Dreieckiges oder Schweres denkt, dann muss das involvierte immanente Objekt rot, dreieckig oder schwer sein. In den bereits zitierten Vorlesungen zur Deskriptiven Psychologie (1890/91) behauptet Brentano tatsächlich, dass man in einem immanenten Objekt solche Eigenschaften wie Farbe und räumliche Lokalisierung finden kann. Wenn er jedoch die Frage, in welchem Sinne die immanenten Objekte die genannten Eigenschaften haben, näher untersucht, führt ihn dies zu einer weiteren Komplizierung seiner Theorie. Wir nehmen eine rote Kugel wahr. Nach Brentano ist das zwar keine echte Wahrnehmung, denn die sinnlichen Qualitäten existieren nach ihm in der außermentalen Wirklichkeit nicht. Wir stellen uns jedoch in dieser (Pseudo-)Wahrnehmung eine rote Kugel vor. Wir haben sie phänomenal vor Augen. Im Rahmen der Brentano’schen Ontologie der intentionalen Beziehung ist diese ganze Situation natürlich durch die Anwesenheit des immanenten Objekts zu erklären. Es gibt zwar keine in der physischen Welt existierende rote Kugel, es gibt jedoch ein entsprechendes immanentes Objekt, das in diesem Fall den äußeren
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kapitel 1
Referenzgegenstand (wenn wir von der Möglichkeit der Meinong’schen Version der O×2 T absehen) zu ersetzen scheint. Konsequenterweise müsste es das immanente Objekt sein, das in diesem Fall rot ist. Brentano sagt uns jedoch etwas ganz anderes. Er behauptet, dass nur eine reale rote Kugel in einem eigentlichen Sinne rot sein könne. Die Eigenschaften, die normalerweise realen Gegenständen zukommen sollen, können von den immanenten Objekten nur in einem uneigentlichen Sinne gehabt werden. Immanente Objekte können also nur in einem modifizierten, uneigentlichen Sinne rot, dreieckig oder schwer sein (Brentano 1982, S. 27). Wenn wir den uneigentlichen Sinn des Wortes „sein“ durch die Form „sein*“ ausdrücken, kann die Brentano’sche Version der DT folgendermaßen interpretiert werden: (B.6) Das Subjekt S bezieht sich intentional auf das Objekt O, das als F vorgestellt wird, genau dann, wenn es ein immanentes Objekt Oi gibt, das Subjekt S in einer Relation R zu Oi steht und (falls das Objekt O existiert) das Objekt Oi die intentionale Beziehung auf das Objekt O vermittelt, das F ist. Diese Vermittlung kommt dadurch zustande, dass das immanente Objekt Oi F ist*. In unserer Definition (B.6) sehen wir von der Meinong’schen Version der Theorie, die nicht-existierende Referenzgegenstände einführt, ab. Wenn wir sie einführen wollten, hätte das weitere Komplizierungen zur Folge. Der nicht-existierende Gegenstand müsste nämlich nach Brentano wahrscheinlich ähnlich modifiziert sein, wie ein immanentes, vergangenes oder zukünftiges Objekt. (Vgl. dazu Chrudzimski 2004a, S. 159 ff.) Er könnte also auch nicht in einem eigentlichen Sinne rot sein. Da aber der Sinn, in welchem er rot sein kann, vom Sinn, in welchem ein immanentes Objekt rot sein kann, aller Wahrscheinlichkeit nach verschieden sein müsste, müsste man neben dem Sein* noch ein weiteres uneigentliches Sein** einführen. Die Theorie wäre dann folgendermaßen zu formulieren: (B.6*) Das Subjekt S bezieht sich intentional auf das Objekt O, das als F vorgestellt wird, genau dann, wenn es ein immanentes Objekt Oi gibt, das Subjekt S in einer Relation R zu Oi steht und das Objekt Oi die intentionale Beziehung auf das existierende Objekt O, das F ist, oder auf das nicht-existierende Objekt O, das F ist**,
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vermittelt. Diese Vermittlung kommt dadurch zustande, dass das immanente Objekt Oi F ist*. Der Unterschied zwischen den Arten des Habens von Eigenschaften, den wir durch „sein“ und „sein*“ ausdrücken, hat für die Interpretation der Brentano’schen Lehre durchaus schwerwiegende Konsequenzen. Wenn nämlich ein immanentes Objekt nur rot sein* kann, während ein äußeres Objekt rot sein könnte, dann kann das immanente Objekt nicht direkt als „Stellvertreter“ eines äußeren Objekts verwendet werden. Die Urteilstheorie Brentanos, die wir gleich besprechen werden, muss diese Schwierigkeiten lösen. 9. Urteil In seiner Klassifikation der psychischen Phänomene teilt Brentano alle psychischen Phänomene in Vorstellungen, Urteile und Gemütsbeziehungen ein. Für unsere Analyse sind vor allem die zwei ersteren Gruppen von Bedeutung. Vorstellung bildet nach Brentano die letzte Grundlage des ganzen geistigen Lebens. Nur in der Vorstellung kann eine rudimentäre intentionale Beziehung auf ein Objekt zustande kommen. „Wie wir das Wort ,vorstellen‘ gebrauchen,“ schreibt Brentano, „ist ,vorgestellt werden‘ so viel wie ,erscheinen‘.“ (Brentano 1874/1924, S. 114) Alle anderen psychischen Akte setzen eine solche Beziehung, und ipso facto eine Vorstellung, voraus. Sowohl ein Urteil als auch eine Gemütsbeziehung beziehen sich laut der Lehre, die Brentano in seiner Psychologie formuliert, auf ein bereits vorgestelltes Objekt. Sie bilden jedoch neue psychologische Modi, durch welche dasselbe Objekt „gesehen“ wird. Ein Urteil besteht nach Brentano in einem mentalen Annehmen oder Verwerfen des vorgestellten Objekts (Brentano 1874/1925, S. 49), in dem das Objekt als existierend angenommen oder als nicht-existierend verworfen wird. Eine Gemütsbeziehung bildet ein ähnliches mentales Akzeptieren oder Verwerfen, wobei jedoch die negativ-positive Polarisierung emotionaler Natur ist. In einer Gemütsbeziehung wird das vorgestellte Objekt geliebt oder gehasst. Brentano kritisiert in seiner Psychologie zwei traditionelle Urteilstheorien. Erstens verwirft er die Auffassung Humes, nach der der Unterschied zwischen dem Urteil und der Vorstellung im Grad der Intensität des Phänomens bestehe. Urteil wäre nach dieser Lehre eine Art stärkere
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Vorstellung. Brentano argumentiert, dass man sehr leicht Beispiele von sehr intensiven Vorstellungen und sehr gedämpften Urteilen finden kann. Anhand solcher Beispiele könne man sehen, dass die Unterschiede der Intensität an der Natur dieser Phänomene nichts ändern. (Brentano 1874/1925, S. 43) Zweitens kritisiert Brentano trotz aller Hochachtung, die er dem Meister aus Stagira immer entgegengebracht hat, auch die Lehre des Aristoteles, die das Eigentümliche des Urteils in einer Synthese von Vorstellungen sieht. Vor allem gebe es demgegenüber doch sowohl einfache als auch zusammengesetzte (synthetische) Vorlesungen. Neben der Vorstellung eines Menschen haben wir doch die Vorstellung eines schlafenden Menschen, die Vorstellung eines schlafenden Menschen, der träumt usw. Die synthetische Komplexität könne also nicht als das auszeichnende Merkmal eines Urteils angesehen werden. (Brentano 1874/1925, S. 45) Die synthetische Komplexität ist also keine hinreichende Bedingung, durch die man den Urteilsbegriff definieren könnte. Was jedoch noch wichtiger ist, sie ist auch keine notwendige Bedingung. Denn es gibt nach Brentano eine wichtige Gruppe von Urteilen, die eben keine solche synthetische Komplexität aufweisen. Es geht um die einfachen Urteile, die durch Sätze der Form „A ist“, „A ist nicht“, die Brentano Existentialsätze (bzw. Existenzialsätze) nennt, ausgedrückt werden. Solche Urteile – die er Existentialurteile (bzw. Existenzialurteile) nennt – bestehen nach Brentano nicht in einem Zuschreiben einer merkwürdigen Eigenschaft (der Existenz oder Nichtexistenz), wenn das genannte Zuschreiben als eine Verbindung von zwei Inhalten verstanden werden soll. Ein einfaches Existenzialurteil ist vielmehr ein bloßes mentales Anerkennen bzw. Verwerfen des Gegenstands A. (Brentano 1874/1925, S. 49) Diese Theorie der Existenzialurteile finden wir bereits in den frühen Würzburger Vorlesungen zur Metyaphysik (1867) Wir lesen dort: „Nicht so bei dem Satze: ,ein Baum ist‘. Der sprachliche Ausdruck ist hier wohl eine Komposition, nicht aber der inwohnende Gedanke. Ich habe nur eine Vorstellung, die eines Baumes, und dieser stimme ich zu, und das reine Zeichen dieser Zustimmung ohne jede Beimischung eines realen Inhalts ist das ,ist‘, das sprachlich, aber nicht dem Gedanken nach, Prädikat ist. Das Urteil ist eine Position, nicht Komposition. So ist denn auch in der Wirklichkeit von dem Zusammentreffen einer
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Wirklichkeit mit einer anderen, in Folge dessen die Affirmation wahr sein soll, nicht die Rede.“ (Brentano M 96, S. 32161)
In der Psychologie versucht Brentano zu zeigen, dass sich alle traditionellen kategorischen Urteilsformen auf solche Existenzialurteile reduzieren lassen. Das Urteilen tritt also als eine neue Art der intentionalen Beziehung auf, in welcher das Subjekt zum Objekt steht. Es lässt sich weder auf die Komplexität des Objekts noch auf die Grade der Intensität der Vorstellung reduzieren. Das, was ein Urteil von einer Vorstellung unterscheidet, ist also weder ein spezielles Objekt noch ein ausgezeichneter Intensitätsgrad. Was für das Urteilen charakteristisch ist, ist ein neuer Modus der psychischen Beziehung, in der das Subjekt zum selben Objekt steht, das in einer Vorstellung präsentiert wird.28 Die für unsere Analyse wichtigsten Eigenschaften der Brentano’schen Urteilslehre, so wie sie in der Psychologie vorgetragen wurde, sind die folgenden: (B.U.1) Ein Urteil bildet eine Art der intentionalen Beziehung, die sich auf keine Verbindungen oder Grade der Intensität der Vorstellungen reduzieren lässt. (B.U.2) Ein einfaches Existenzialurteil ist ein mentales Anerkennen bzw. Verwerfen eines in einer Vorstellung bereits vorgestellten Objekts.
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Vgl. „[I]n Wahrheit besteht hinsichtlich des Inhaltes nicht der geringste Unterschied. Der Bejahende, der Verneinende und der ungewiss Fragende haben denselben Gegenstand im Bewusstsein; der letzte, indem er ihn bloß vorstellt, die beiden ersten, indem sie ihn zugleich vorstellen und anerkennen oder verwerfen. Und jedes Objekt, das Inhalt einer Vorstellung ist, kann unter Umständen auch Inhalt eines Urteils werden.“, Brentano 1874/1925, S. 63. „So wenig also ein Unterschied der Intensität, so wenig kann ein Unterschied des Inhaltes es sein, was die Eigentümlichkeit des Urteils gegenüber der Vorstellung ausmacht. Somit bleibt nichts anderes übrig als, wie wir es getan, die Eigentümlichkeit des Urteils als eine Besonderheit in der Beziehung auf den immanenten Gegenstand zu begreifen.“, Brentano 1874/1925, S. 64 f. „Weder die Annahme einer verschiedenen Intensität, noch die Annahme eines verschiedenen Inhaltes für die bloße Vorstellung und das Urteil ist haltbar.“, Brentano 1874/1925, S. 70.
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kapitel 1
(B.U.3) Jedes Existenzialurteil setzt deswegen eine Vorstellung voraus. Urteilen ist ein psychischer Modus, der sich auf eine Vorstellung aufbauen muss. (B.U.4*) Das Existenzialurteil hat jedoch kein zusätzliches Objekt, das vom Objekt der zugrunde liegenden Vorstellung verschieden wäre. Das Urteilen ist ein neues psychisches Verhältnis zum selben Objekt. Der These (B.U.4*) zufolge ist die Brentano’sche Urteilstheorie eine nicht-propositionale Theorie. Sie postuliert für Urteile keine speziellen propositionalen Objekte, die heutzutage üblicherweise unter dem Namen „Propositionen“ behandelt werden. Das Urteilen unterscheidet sich vom Vorstellen nicht durch sein Objekt, sondern durch seinen psychischen Modus. Das Objekt bleibt dasselbe. Das, was sich ändert, ist die Einstellung, in der dieses Objekt dem Subjekt bewusst wird. In einer Vorstellung wird das Objekt vorgestellt (d.h. präsentiert), während es in einem Urteil angenommen oder verworfen wird. Die These (B.U.4*) gilt wahrscheinlich für die Periode der Psychologie und ohne Zweifel auch für die Periode nach 1904, in der Brentano bekanntlich keine anderen Entitäten als Dinge akzeptierte. In der Periode nach der Psychologie hat er jedoch auch die propositionalen Inhalte eingeführt, was zur Modifikation der These (B.U.4*) führen kann. Die Elemente einer propositionalen Urteilslehre werden wir in der Tat aufgrund der Logik-Vorlesung [EL 80] aufzeigen können. Wie wir jedoch sehen werden, ist diese propositionale Theorie weder besonders einheitlich noch ganz klar. Brentano stellt in seiner Psychologie noch eine weitere wichtige These auf, welche die nicht-propositionale Natur für alle Urteile geltend macht. Alle anderen Urteile sind nämlich nach der Lehre der Psychologie auf einfache Existenzialurteile reduzierbar. (B.U.5*) Alle Urteile sind auf einfache Existenzialurteile reduzierbar. In der Psychologie versucht Brentano eine existentielle Übersetzung für alle traditionellen kategorischen Urteilsformen (i, o, e, a) anzugeben. (Brentano, 1874/1925, S. 56 f.; vgl. auch Simons 2004b, S. 52; Simons 1992a, S. 46; Simons 1992b, S. 259 ff.; Simons 1996, S. 307)
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Diese Übersetzung sieht folgendermaßen aus: (i) (o) (e) (a)
Ein S ist P [∃xSx ∧ Px] = Df. Ein P-seiendes S ist. Ein S ist nicht P [∃xSx ∧ ¬Px] = Df. Ein nicht-P-seiendes S ist. Kein S ist P [∀xSx ⊃ ¬Px] = Df. Ein P-seiendes S ist nicht. Jedes S ist P [∀xSx ⊃ Px] = Df. Ein nicht-P-seiendes S ist nicht.
Eine ähnliche existentiale Reduktion kann man noch in der LogikVorlesung aus der zweiten Hälfte der achtziger Jahre finden. (Brentano EL 80, S. 184–187) Schon 1889 wurde jedoch diese Lehre dadurch modifiziert, dass Brentano zusätzlich eine wichtige Klasse der Doppelurteile einführte. Die These (B.U.5*) wird also durch eine etwas abgeschwächte These ersetzt: (B.U.5**) Alle Urteile sind auf einfache Existenzialurteile und auf Doppelurteile reduzierbar. Mit Brentanos Theorie der Doppelurteile werden wir uns allerdings erst ein wenig später, und zwar bei der Besprechung der propositionalen Urteilstheorie Meinongs im 4. Kapitel, beschäftigen. 10. Propositionale Entitäten Wie wir gesehen haben, ist die Brentano’sche Urteilstheorie, die in der Psychologie formuliert wurde, im Grunde eine nicht-propositionale Theorie. Urteilen besteht in einem mentalen Annehmen bzw. Verwerfen eines Objekts, wobei dieses Annehmen bzw. Verwerfen dasselbe Objekt hat wie die zugrunde liegende Vorstellung. (Brentano 1874/1925, S. 63–65) Auch der späte Brentano bestand auf dieser Interpretation. Um 1890 führte er allerdings auch propositionale Inhalte ein. Die Verwendung solcher Entitäten im Rahmen seiner Wahrheitstheorie findet sich im Vortrag Über den Begriff der Wahrheit (1889), wo Brentano der alten Idee, die die Wahrheit als eine Art adaequatio rei et intellectus interpretiert, eine kohärente Form geben will. Die propositionalen Inhalte werden dort als Wahr- bzw. Falschmacher für gewisse Urteile eingeführt. Es wird jedoch keine konsequent propositionale Urteils- und Wahrheitstheorie entwickelt, nach der alle Urteile propositionale Entitäten involvieren. Das Bild, nach dem jedes Urteil primär ein mentales Annehmen bzw. Verwerfen des vorgestellten Objekts ist, wurde im Wahrheitsvortrag beibehalten.
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kapitel 1
Die wahren positiven Urteile, die keine extravaganten Entitäten annehmen, lassen sich nach Brentano ziemlich einfach mit der Idee der adaequatio vereinigen. Jedem solchen Urteil muss einfach ein Ding in der realen Welt entsprechen. Wie jedoch könnte man diese Idee für die wahren negativen Urteile geltend machen? „Wenn die Wahrheit: ,Es gibt keinen Drachen‘ in einer Übereinstimmung zwischen meinem Urteil und einem Dinge bestände, welches sollte dann“, fragt Brentano, „dieses Ding sein? Der Drachen doch nicht, der ja dann gar nicht vorhanden ist.“ (Brentano 1930, S. 22) Um also angesichts des Vorhandenseins der wahren negativen Urteile eine adaequatio-Definition des Wahrheitsbegriffs aufrechtzuerhalten, muss man, behauptet Brentano, die Entitäten, die mit den Urteilen korrespondieren sollen, sowohl unter den existierenden als auch unter den nicht-existierenden Gegenständen suchen. Brentano schreibt: „Das Gebiet, für welches die bejahende Beurteilungsweise die passende ist, nennen wir nun das Gebiet des Existierenden, ein Begriff, der also wohl zu unterscheiden ist von dem Begriffe des Dinglichen, Wesenhaften, Realen; das Gebiet, für welches die verneinende Beurteilungsweise die passende ist, nennen wir das des Nichtexistierenden.“ (Brentano 1930, S. 24)
Er definiert dann: „Und so können wir denn [ ] sagen: wahr sei ein Urteil, wenn es von etwas, was ist, behauptete, dass es sei; und von etwas, was nicht ist, leugne, dass es sei (falsch aber, wenn es mit dem, was sei und nicht sei, sich im Widerspruch finde).“ (Brentano 1930, S. 24)
Die damalige Definition der Wahrheit Brentanos ist also die folgende: (B.8) Das Urteil „A ist“ ist genau dann wahr, wenn es ein existierendes A gibt; das Urteil „A ist nicht“ ist genau dann wahr, wenn es nur ein nicht-existierendes A (bzw. nur nicht-existierende As) gibt. Wir sehen, dass bei der Erklärung der Wahrheitsbedingungen für die einfachen Urteile zunächst nur die nicht-existierenden Objekte, jedoch keine propositionalen Inhalte postuliert werden. Brentano entwickelt seine Lehre aber weiter. Auch bei einigen positiven wahren Urteilen können wir, argumentiert er, keine Dinge finden, die ihre adaequatio-Korrelate bilden könnten. So ist es in den Fällen, wenn wir ein Kollektiv von Dingen, einen Teil, eine Grenze, etwas Vergangenes oder Zukünftiges, einen Mangel (d.h.
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ein Fehlen eines Dinges), eine Möglichkeit oder eine Wahrheit in einem wahren Urteil anerkennen. (Brentano 1930, S. 23) Für alle Urteile dieser Art wurden im Wahrheitsvortrag entsprechende gegenständliche Korrelate postuliert. Daher finden wir sowohl unter den existierenden als auch unter den nicht-existierenden Gegenständen solch bizarre Entitäten wie ein vergangenesA, eine Unmöglichkeit von A, einen Mangel an A usw. Deswegen schrieb Brentano an der zitierten Stelle, dass „das Gebiet des Existierenden, ein Begriff [ist], der [ ] von dem Begriffe des Dinglichen, Wesenhaften, Realen [wohl zu unterscheiden ist].“ Zum Gebiet des Existierenden müssen nämlich sowohl Realia als auch Irrealia gehören. Wir sehen, dass die propositionalen Inhalte erst bei der Berücksichtigung der Urteile „höherer Ordnung“ auftreten. Mit einer solchen Situation haben wir es z.B. bei dem Urteil, dass keine Möglichkeit eines runden Dreiecks besteht, zu tun. Dieses Urteil muss, da es wahr und verneinend ist, laut der Definition Brentanos sein objektives Korrelat im Bereich der nicht-existierenden Gegenstände finden. Nach der Lehre des Wahrheitsvortrags wäre dieses Korrelat ein propositionaler Inhalt: die Möglichkeit eines runden Dreiecks, die natürlich nicht besteht, was das verneinende Urteil zu einem wahren Urteil macht. Die ontologisch-semantische Position des Wahrheitsvortrags kann durch das folgende Schema dargestellt werden:
Realia
Irrealia Sein eines Hundes
ein Hund das, was existiert
eine Katze ein Mensch
Ein Hund ist
Nichtsein des Zentauren ein vergangener König ein Mangel an Wasser
Ein König war Es mangelt an Wasser
Pegasus das, was nicht existiert
Ein Pegasus ist nicht
Sein eines Zentauren Zentaur
Ein rundes Dreieck ist unmöglich
Möglichkeit eines runden Dreiecks
Gegenstände
bejahende
Korrespondenz
verneinende
wahre Urteile
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kapitel 1
Wir sehen, dass unser „ontologisches Quadrat“ systematisch in vier Unterbereiche eingeteilt ist. Wir haben es mit der Kreuzung von zwei dichotomischen Einteilungen zu tun. Die von Brentano zu dieser Zeit akzeptierten Entitäten können erstens (i) entweder real oder irreal sein, zweitens können sie (ii) entweder existierend oder nicht-existierend sein. Folglich erhalten wir vier Gruppen: (1) die realen Entitäten, die existieren (z.B. ein aktuell existierendes Pferd); (2) die irrealen Entitäten, die existieren (z.B. das Sein eines Pferdes, das Nichtsein eines goldenen Berges, die Unmöglichkeit eines runden Vierecks, der vergangene König Karl der Große); (3) die realen Entitäten, die nicht existieren (z.B. ein Zentaur, ein Pegasus, ein Einhorn, ein goldener Berg); (4) die irrealen Entitäten, die nicht existieren (z.B. ein Sein eines goldenen Berges, die Notwendigkeit eines runden Vierecks, ein vergangener Zentaur). Zwei Fragen, die im Zusammenhang mit dieser ontologischen Klassifikation den Leser beunruhigen können, jedoch vor allem terminologischer Natur sind, mögen hier kurz erörtert werden. Die erste Frage betrifft die existierenden Irrealia. Es gibt Philosophen, die bezüglich der irrealen Entitäten lieber nicht von „Existenz“ sprechen möchten. Bekanntlich hat Meino.ng eine terminologische Unterscheidung eingeführt, indem er bei allen irrealen Gegenständen (die er ideale Gegenstände nennt) nicht von der „Existenz“, sondern vom „Bestand“ spricht. Vor allem bei den propositionalen Inhalten scheint es natürlicher zu sein, eher von Bestehen als von Existenz zu sprechen. Die Entscheidung, welches Wort passend ist, ist allerdings rein konventioneller Natur. Brentano selbst hat sehr oft von den existierenden (bzw. seienden), irrealen Entitäten gesprochen. Auch die Rede von realen Entitäten, die nicht existieren, kann gewisse Zweifel hervorrufen. Ist es überhaupt zulässig, ein nicht-existierendes Objekt als etwas Reales zu bezeichnen? Die Antwort wird natürlich wieder von einer terminologischen Entscheidung abhängen. Brentano war in diesem Punkt sprachlich nicht ganz präzise. Manchmal spricht er von den nicht-existierenden realen Gegenständen, und manchmal sagt er, dass alles, was nicht existiert, schon aus diesem Grund automatisch
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zu den irrealen Entitäten zu rechnen ist.29 Auf jeden Fall ist das Prinzip, nach welchem man die Einteilung der nicht-existierenden Entitäten in reale und irreale berechtigterweise durchführen kann, ganz klar. Zu den realen, nicht-existierenden Entitäten werden nämlich diejenigen Entitäten gehören, die, falls sie existieren würden, ohne Zweifel zu den existierenden realen Gegenständen zu rechnen wären. So wäre z.B. Pegasus, falls er existieren würde, eine ähnliche Entität wie ein Pferd, und deswegen kann man ihn, kraft einer ontologisch harmlosen Konvention, auch dann als real bezeichnen, wenn er nicht existiert. Die Existenz eines Zentauren oder der Sachverhalt, dass Pegasus fliegt, wären hingegen, selbst wenn sie existieren (oder nach Meinong – bestehen) würden, keineswegs als Realia zu klassifizieren. Deswegen rechnet man sie zu den irrealen Entitäten. Zu unserem Schema zurückkehrend, sehen wir, dass die Theorie des Wahrheitsvortrags, obwohl sie eine sehr permissive Ontologie akzeptiert, vom Standpunkt der Ontologie der Intentionalität aus gesehen nicht einheitlich ist. Brentano versucht immer, wenn es nur möglich ist, für ein Urteil ein nominales Objekt in seinem ontologischen Universum zu finden. Die propositionalen Inhalte als Urteilsobjekte werden nur „im Notfall“ eingeführt. Einheitlich und mit der Lehre der Psychologie übereinstimmend ist dagegen die Psychologie des Urteils. Die grundlegende Polarisierung, die alle Urteile in positive und negative einteilt, wurde hier aufrechterhalten, was bei der Einführung der propositionalen Inhalte gar nicht selbstverständlich ist. Jedes negative Urteil der Form „A ist nicht“ könnte ja auch als ein positives Urteil, das das Nichtsein vonA anerkennt, uminterpretiert werden, was das ganze Reich der nicht-existierenden Realia und Irrealia für die Zwecke der Wahrheitstheorie überflüssig machen würde. Bei einer solchen Umdeutung gäbe es natürlich keine negativen Urteile. Der Bereich der nicht-existierenden Gegenstände, der die Wahrmacher für wahre, negative Urteile enthält, könnte in diesem Fall gestrichen werden. Zweitens wurde auch die wichtige These der Psychologie, dass der Gegenstand des Urteils genau derselbe ist wie der Gegenstand der zugrunde liegenden Vorstellung, nicht in Frage gestellt. In den meisten Fällen wird dieser Gegenstand ein nominales Objekt sein. Die
29
Dieser Meinung ist z.B. Marty 1908, S. 317.
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kapitel 1
propositionalen Entitäten werden, wie gesagt, erst in ziemlich speziellen Situationen benötigt. Der Wahrheitsvortrag gibt uns also, obwohl er die propositionalen Inhalte einführt, keine systematische Theorie in die Hand, welche die propositionalen Inhalte zu einer allgemeinen Erklärung der Intentionalität des Urteils verwendet. Ein Urteil hat nach dieser Lehre denselben Inhalt wie die ihm zugrunde liegende Vorstellung. Wenn in der Rolle dieses Inhalts eine propositionale Entität auftritt, dann ist das nur deswegen möglich, weil diese Entität bereits – paradoxerweise – vorgestellt wurde. Die Urteile, die eine propositionale Entität involvieren, sind demgemäß erst die Urteile höherer Stufe, die sich auf der Vorstellung eines propositionalen Inhalts aufbauen, wie z.B. „Es ist nicht der Fall, dass es einmal einen Zentauren gab“, „Es besteht keine Möglichkeit eines runden Dreiecks“ usw. Die Umrisse einer systematischen propositionalen Urteilstheorie kann man hingegen in der Logik-Vorlesung [EL 80] finden, die Brentano in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, also ungefähr zur gleichen Zeit wie den Wahrheitsvortrag (1889), gehalten hat. Im Rahmen einer kurzen Erörterung der Semantik der Aussagen schreibt Brentano dort: „Wie die Namen haben sie [die Aussagen] eine doppelte Beziehung: a) auf den Inhalt eines psychischen Phänomens als solchen; b) auf etwaige äußere Gegenstände. Der erste ist die Bedeutung. Das betreffende Phänomen ist aber in diesem Fall keine Vorstellung, sondern ein Urteil. Das Geurteilte als solches ist die Bedeutung. Ähnlich bei der Bitte: das Gewünschte als Gewünschtes ist die Bedeutung. Infolge davon, dass das, was die Beziehung zu etwaigem Gegenstand vermittelt, eine andere Art von Phänomen ist, ist die Bezeichnung derselben eine andere, kein Nennen, sondern ein Anzeigen. Das Angezeigte ist das, was anerkannt oder verworfen wird. Wir können es andeuten oder abdeuten nennen (für dieses Letzte sagen wir ein das Nichtsein Andeuten). Obwohl das von der Aussage bezeichnete Objekt dasselbe wie das benannte [ist], so bezeichnen Aussagen und Namen darum doch nicht dasselbe.“ (Brentano EL 80, S. 36)
Wir können gewiss nicht so weit gehen, zu sagen, dass diese Erörterung alles erklärt, was zu erklären ist. Brentano sagt uns, dass bei einem Urteil „[d]as Geurteilte als solches [ ] die Bedeutung [ist]“. Es scheint, dass er damit den propositionalen Inhalt meint. „Das Geurteilte als
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solches“ wäre in diesem Fall das, dass A ist, bzw. das, dass A nicht ist. Da er hier jedoch noch immer von einer immanenten Gegenständlichkeit spricht, geht es wahrscheinlich nicht um eine eventuell in der Welt bestehende Tatsache (oder einen Sachverhalt), dass A existiert bzw. nicht existiert, worauf sich Brentano oft als auf Sein bzw. Nichtsein von A bezieht, sondern vielmehr um ein real vom Urteil untrennbares Schattenbild, das man sich vielleicht als angenommenes A bzw. verworfenes A denken kann – das Schattenbild, das ein propositionales Pendant zum immanenten Objekt darstellt.30 Wir sehen hier einen interessanten Unterschied zur Lehre der Psychologie. Dort bestand Urteilen in einem neuen psychischen Modus, der allerdings keine neuen gegenständlichen Elemente involvierte. In der Logik-Vorlesung induziert dagegen das Urteil seine eigene immanente Objektivität, die Brentano „das Geurteilte als solches“ nennt und die wahrscheinlich als ein Ganzes, das das immanente Objekt der Vorstellung als seinen (im weiten Sinne) Teil enthält, zu interpretieren ist. Die These der Psychologie, dass „[w]eder die Annahme einer verschiedenen Intensität, noch die Annahme eines verschiedenen Inhaltes für die bloße Vorstellung und das Urteil [ ] haltbar [ist]“, (Brentano 1874/1925, S. 70) scheint also in der Logik-Vorlesung verworfen worden zu sein. Das Urteil hat seinen eigenen immanenten Inhalt, der von dem immanenten Objekt der zugrunde liegenden Vorstellung wesentlich verschieden ist. Auch die zweite intentionale Beziehung – die Beziehung auf die äußere Gegenständlichkeit –, die in der Verwendung einer Aussage involviert ist, ist nach der Lehre der Logik-Vorlesung eine andere Beziehung als die, die wir bei der Verwendung eines Namens haben. Sie ist „kein Nennen, sondern ein Anzeigen“. Die zitierte Stelle ist nicht ganz klar; es scheint jedoch, dass die äußeren Korrelate des Urteils nach der Lehre der LogikVorlesung propositionale Entitäten wie Sein von A bzw. Nichtsein von A sein müssen.31 30
Marty (1908, S. 391, 399) spricht von solchen immanenten propositionalen Inhalten, allerdings nur um ihre Fiktivität zu betonen, obwohl er die transzendenten propositionalen Inhalte zugleich für unentbehrlich hält. Er. führt übrigens nur die bestehenden propositionalen Inhalte ein. Stumpf. hingegen nimmt ausschließlich immanente propositionale Inhalte an. Vgl. dazu Stumpf 1907, S. 32; Smith 1996 S. 329 f. 31 Zur Diskussion dieser Stelle vgl. Chrudzimski 2001a S. 63 f.
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kapitel 1 11. Zwei Auffassungen der Intentionalität
Wir können jetzt die zwei Auffassungen der Intentionalität, die in der mittleren Philosophie Brentanos zu finden sind, etwas deutlicher erfassen. Zur Zeit der Psychologie (1874) scheint Brentano eine reine OT zu vertreten. Das vorstellende Subjekt bezieht sich ausschließlich auf die immanenten, inexistierenden Objekte. Die Intentionalität der Vorstellung erreicht demgemäß die real, von den Akten des Subjekts unabhängig existierende Welt nicht. Die Kontraintuitivität dieser Auffassung, die der Vorstellung eines Pferdes nur das immanente Pferd zuordnet und keine unzutreffenden Vorstellungen zulässt, wird im Rahmen der Urteilstheorie aufgehoben. Erst ein Urteil, indem es ein vorgestelltes Objekt anerkennt bzw. verwirft, „verlängert“ die psychische Intentionalität dergestalt, dass die transzendente Welt erreicht werden kann. Das Schema der intentionalen Beziehung sieht also folgendermaßen aus:
Urteil
Subjekt Immanenz
mentaler Modus ist / ist nicht
transzendente Wirklichkeit
Vorstellung immanentes Objekt
Die interessante Tatsache, dass in der transzendenten Wirklichkeit keine gegenständlichen Strukturen, die das Ziel der intentionalen Beziehung darstellen könnten, auftreten, ist dadurch zu erklären, dass nach der Lehre der Psychologie das Urteil im Vergleich zur Vorstellung zwar einen zusätzlichen psychischen Modus hinzufügt, jedoch keine zusätzlichen gegenständlichen (weder immanenten noch transzendenten) Strukturen impliziert. Das, was das Objekt der Anerkennung bzw. Verwerfung ist, ist genau dasselbe, was in der Vorstellung vorgestellt wird. Das ist aber nach der Definition (B.4) das immanente Objekt der Vorstellung. Die Tatsache, dass das Urteil sein Ziel in der Wirklichkeit erreicht oder nicht, reduziert sich darauf, dass das Urteil wahr oder falsch ist. Die Wahrheitsdefinition, die Brentano zeit seines Lebens akzeptiert hat, war eine epistemische Definition. Ein wahres Urteil ist nach Brentano
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ein Urteil, das auch jemand, der mit Evidenz urteilt, fällen könnte.32 Deshalb braucht Brentano grundsätzlich keine Wahrmacher in der Welt; und seine Intentionalitätstheorie kann so erfreulich einfach aussehen, wie es unser Schema darstellt. Wenn man die Intentionalität vor allem gemäß der Metapher des Gerichtetseins auf ein Objekt versteht, dann wäre nach der Theorie der Psychologie eine eigentliche Intentionalität also nur für die Vorstellung, nicht aber für das Urteil charakteristisch. Nur die Vorstellung hat nämlich ein Objekt, auf das sie sich intentional richtet. Das Urteil hat, da es kein zusätzliches Objekt einführt, demgemäß nur eine uneigentliche, abgeleitete Intentionalität. Und zwar hat es diese nur kraft der Tatsache, dass es notwendig auf eine Vorstellung aufbaut und in diesem Sinne deren Objekt „übernimmt“. Wenn man hingegen die Intentionalität in erster Linie mittels der Metapher des Transzendierens der Sphäre der ontologischen Immanenz des Subjekts versteht, dann sieht die Hierarchie genau umgekehrt aus. Nur das Urteil hat nämlich eine „intentionale Macht“, das, was ontologisch immanent ist, zu transzendieren. Nur das Urteil kann wahr oder falsch sein. Die Vorstellung hat von diesem Standpunkt her gesehen nur eine Art „potentieller“ Intentionalität, indem sie die notwendige Grundlage für ein mögliches Urteil bildet. Dieses einfache Bild der Intentionalität des Urteils gilt jedoch nur solange, als wir uns nicht daran erinnern, dass die Brentano’schen immanenten Objekte im Vergleich zu den Gegenständen, die im vorphilosophischen Denken als Zielobjekte der Intentionen betrachtet werden, wesentlich modifiziert sind. Wenn ein äußerer Gegenstand grün ist, dann kann seine immanente Entsprechung, die nach der Definition (B.4)
32
Die einzige Formulierung einer adaequatio-Definition der Wahrheit ist im Vortrag Über den Begriff der Wahrheit (1889) zu finden. In Chrudzimski 2001a zeigten wir, dass dieser Vortrag, der oft als das Manifest der frühen Wahrheitslehre Brentanos betrachtet wird, in Wirklichkeit eher eine Anomalie darstellt. Sowohl in der frühen Metaphysik-Vorlesung (1867) [M 96] als auch in der Logik-Vorlesung aus den späten achtziger Jahren [EL 80] als auch in den späten nachgelassenen Fragmenten finden wir eindeutige Formulierungen der epistemischen Wahrheitsdefinition. Es besteht kein Zweifel, dass eben diese epistemische Auffassung des Wahrheitsbegriffs die Wahrheitstheorie Brentanos war.
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kapitel 1
das Objekt der entsprechenden Vorstellung bildet, höchstens grün sein*. In einem Urteil, das auf diese Vorstellung aufbaut, erkennen wir jedoch, wie es scheint, eher etwas an, was grün ist, und nicht etwas, was grün ist*. Wir sehen, dass unter der Voraussetzung der Ontologie der immanenten Objekte die Struktur des Urteils doch viel komplizierter ausfallen muss, als es die Rede vom mentalen Anerkennen bzw. Verwerfen suggeriert. Die immanenten Objekte, die nur in einem modifizierten, uneigentlichen Sinne (im Sinne „sein*“) ihre für die Deskriptionstheorie (DT) relevanten, identifizierenden Merkmale besitzen, müssen also gewissermaßen als Gegenstände anerkannt oder verworfen werden, die die genannten Merkmale doch in einem normalen Sinne (im Sinne „sein“) haben. Wenn wir also eine Vorstellung haben, deren Objekt F, G, H ist*, dann hat ein Urteil, das sich auf dieser Vorstellung aufbaut, nicht etwa die Form: (U.1) Es gibt/es gibt nicht [ein Objekt, das F, G, H ist*], sondern eher die Form: (U.2) Es gibt/es gibt nicht [ein Objekt, das F, G, H ist]. Tatsache ist also, dass das Brentano’sche Urteil nicht nur einen neuen psychischen Modus hinzufügt. Ein Urteil modifiziert zusätzlich die innere Struktur des immanenten Objekts so, dass es aus etwas, was F, G, H ist*, zu etwas, was F, G, H ist, wird. Da diese Modifikation im Grunde in der Aufhebung der Modifikation des Sinnes besteht, in welchem das immanente Objekt seine Eigenschaften besitzt, können wir sie als „Demodifikation“ bezeichnen. Demgemäß können wir sagen, dass das Brentano’sche Urteil nicht nur das immanente Objekt anerkennt bzw. verwirft. Das Urteil muss dieses Objekt „vorher“ noch demodifizieren. Die Lehre vom modifizierten Sinn, in welchem die immanenten Objekte die identifizierenden Merkmale besitzen, wurde jedoch, wie wir uns erinnern, in den Vorlesungen zur Deskriptiven Psychologie (1890/91) vorgetragen. Zu dieser Zeit war, wie es scheint, die Lehre der Psychologie schon wesentlich weiterentwickelt. Ungefähr zur gleichen Zeit vertritt Brentano schon eine Theorie der zwei Objekte (O×2 T), die wir anhand seiner Logik-Vorlesung kennen gelernt haben. Es scheint, dass die Komplizierung des ontologischen Aufbaus des immanenten Objekts mit der Komplizierung der Struktur der intentionalen Beziehung Hand in Hand ging. Die einfache Urteilstheorie der Psychologie verträgt sich am besten mit der Annahme, dass es die immanenten Objekte sind, die die
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relevanten Eigenschaften in einem „normalen“, unmodifizierten Sinn besitzen. Und tatsächlich finden wir in der Psychologie Textstellen, die diese Annahme unterstützen. Brentano schreibt dort: „Nicht also das ist richtig, dass die Annahme, es existiere ein physisches Phänomen, wie die, welche intentional in uns sich finden, außerhalb des Geistes und in der Wirklichkeit, einen Widerspruch einschließt, nur eines mit dem anderen verglichen, zeigen sich Konflikte, welche deutlich beweisen, dass der intentionalen hier keine wirkliche Existenz entspricht.“ (Brentano 1874/1924, S. 132)
Die physischen Phänomene, „welche intentional in uns sich finden“, könnten also „außerhalb des Geistes und in der Wirklichkeit“ existieren. Es scheint, dass die Lehre, die den immanenten Objekten die repräsentierten Eigenschaften nur in einem uneigentlichen Sinne zu besitzen erlaubt, zur Zeit der Psychologie von Brentano noch nicht vertreten wurde. Die immanenten Objekte haben dort noch eine solche ontologische Struktur, dass sie „außerhalb des Geistes und in der Wirklichkeit“ existieren könnten. Das verstärkt natürlich den Verdacht, dass für das Verständnis des immanenten Objekts zu jener Zeit tatsächlich noch die ontologisch unverpflichtende Lehre vom ens obiektivum in mehrfacher Hinsicht maßgeblich war. Nach dieser Lehre hätte nämlich das immanent im Geist existierende Objekt seine Eigenschaften im ganz normalen Sinne. Denn der Punkt läge nicht in seiner speziellen inneren Struktur, sondern darin, dass man von diesem Objekt in einer „ontologisch unverpflichtenden“ Weise spräche. Die Lehre der Logik-Vorlesung (zwischen 1885 und 1890) ändert dieses einfache und in der Tat sehr attraktive Bild der Intentionalität. Urteilen bedeutet nicht länger einen bloßen psychischen Modus, der keine ontologischen Verpflichtungen erzwingt. Das Urteilen generiert seinen eigenen immanenten Gegenstand – „das Geurteilte als solches“. Diesen Gegenstand, der ein Korrelat des Anerkennens bzw. Verwerfens eines vorgestellten Objekts bildet, kann man sich als angenommenes A bzw. verworfenes A denken. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass ein solcher Inhalt das immanente Objekt der Vorstellung als seinen (im weiten Sinne) Teil enthält. Dieser Inhalt hat eine propositionale Form in dem Sinne, dass er auch durch eine Dass-Konstruktion „genannt“ werden kann (dass A angenommen bzw. verworfen wird).
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kapitel 1
Dem immanenten propositionalen Inhalt will Brentano nun wohl auch ein äußeres, ebenfalls propositionales Korrelat zuordnen. Dies wäre, je nach der sprachlichen Konvention, ein existierendes/nicht-existierendes A, ein Sein/Nichtsein von A oder das, dass A existiert/nicht existiert. Das Schema der intentionalen Beziehung kompliziert sich zur folgenden Form:
immanenter propositionaler Inhalt das Geurteilte als solches "enthält" Objekt angenommenes/ verworfenes Urteil
Subjekt
Vorstellung
transzendenter propositionaler Inhalt existierendes/ nicht existierendes
ExistenzKomponente
ObjektKomponente immanentes Objekt
transzendentes Objekt
Immanenz
Im Rahmen einer so reichen Ontologie der intentionalen Beziehung könnte man dann ohne Probleme eine objektivistische Wahrheitstheorie formulieren, die besagt, dass das Urteil genau dann wahr ist, wenn „sein“ propositionaler Inhalt in der Welt besteht, und dass es falsch ist, wenn das eben Gesagte nicht der Fall ist. Brentano selbst formulierte allerdings keine solche Definition.
KAPITEL 2
ABSTRAKTION UND RELATIONEN. DER JUNGE MEINONG1
Die vom mittleren Brentano entwickelte Ontologie der intentionalen Beziehung, die wir gerade besprochen haben, bildete den konzeptuellen Rahmen für seine ganze Schule. Wenn wir die Schriften von Anton Marty oder Carl Stumpf aus der Zeit zwischen 1875 und 1900 lesen, finden wir permanent Verweise auf psychische Akte und deren Inhalte, die – so nehmen beide Autoren an – für den Leser ohne weiteres verständlich sein sollten. Denn es handelt sich ja um Begriffe, die von Franz Brentano mit aller Klarheit eingeführt wurden. Im vorigen Kapitel haben wir jedoch gesehen, dass man bei Brentano von allzu großer Klarheit in Bezug auf diese Begriffe kaum sprechen kann. Es gibt bei ihm keine völlig konsequente Theorie der psychischen Akte und ihrer Inhalte. Was wir finden, ist eher ein Bündel von Ideen, in dem viele Intuitionen zu vereinigen versucht werden, aber es sieht so aus, dass alle diese Ideen nur schwer unter einen Hut zu bringen sind. Brentano war kein Dogmatiker, der in erster Linie nach einem „philosophischen System“ strebte. Er war eher ein selbstkritischer Analytiker, der seine Theorien in jene Richtung entwickelte, in die ihn die konkret auftauchenden Probleme führten. Dass sich daraus am Ende kein völlig kohärentes Bild ergab, scheint eher an der Komplexität der Probleme denn an Versäumnissen Brentanos zu liegen. Dies erklärt übrigens auch die immense Inspirationskraft, die von der Brentano’schen Philosophie ausging. Der Grund dafür, dass sich so verschiedene philosophische Strömungen wie Phänomenologie, Gestaltpsychologie oder die analytische Philosophie der Lemberg-Warschauer
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Dieses Kapitel ist auch als Aufsatz Chrudzimski 2005b erschienen.
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Schule mit gleichem Recht auf Brentano als ihren geistigen Vater berufen können, liegt nämlich nicht zuletzt in den inneren Spannungen seiner Lehre. Die theoretische Uneindeutigkeit der Intentionalitätstheorie Brentanos war aber auch der Grund, warum es schon sehr früh Versuche gab, die wichtigsten Begriffe des psychischen Aktes, seines Inhalts und seines Gegenstands zu präzisieren. Eine wichtige Station auf diesem Weg war die Abhandlung Twardowskis zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen (1894), die Meinong als die wichtigste Vorbereitungsarbeit für seine spätere Intentionalitätstheorie erachtete. Diese Lehre werden wir im nächsten Kapitel genauer besprechen, jetzt beginnen wir aber mit den frühen Schriften Meinongs, in denen er noch die Theorie des immanenten Objekts Brentanos (in einer seiner Versionen) vorbehaltlos akzeptierte. Die Problematik, die Meinong zu dieser Zeit beschäftigte, kann man unter den Titeln „Abstraktion“ und „Relationen“ zusammenfassen. Im Rahmen des Brentano’schen Schemas der intentionalen Beziehung versucht der junge Meinong, die Probleme der Allgemeinheit und der relationalen Gegenstände in den Griff zu bekommen. Zwei Punkte sollen dabei gleich am Anfang betont werden. Erstens ist die Intentionalitätstheorie, die der junge Meinong von Brentano übernimmt, eher die Version der Theorie der Logik-Vorlesung als der Psychologie. Diese Theorie ist zwar beim jungen Meinong tendenziell nicht-propositional (die Wichtigkeit der propositionalen Entitäten wird er erst um 1902 deutlich erkennen), sie operiert aber ganz klar mit der Gegenüberstellung der immanenten und transzendenten Objekte, die man in der Psychologie kaum findet, die aber für die Theorie der Logik-Vorlesung sehr charakteristisch ist. Damit hängt auch der zweite Punkt zusammen. Die Gegenüberstellung der immanenten und transzendenten Objekte wird von Meinong als eine Version der adaequatio-Theorie der Wahrheit gedeutet. Er spricht von einem Verhältnis der Adäquatheit zwischen dem immanenten und dem transzendenten Objekt, das genau dann stattfindet, wenn die entsprechende Vorstellung treffend ist. Konsequenterweise gab es bei Meinong von Anfang an nicht die geringste Tendenz, die epistemische Wahrheitsdefinition Brentanos zu übernehmen. Sein Wahrheitsbegriff war immer ein realistischer Begriff.
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1. Abstraktion (H UME S TUDIEN I ) In seinem ersten philosophischen Werk, den Hume Studien I (1877), beschäftigt sich Meinong mit den Problemen des Nominalismus. Gibt es allgemeine Begriffe, lautet seine Frage, und wenn ja, welches ist ihre Natur? Wir werden hier nicht auf alle Einzelheiten dieser interessanten Abhandlung eingehen, sondern nur diejenigen Aspekte berücksichtigen, die in direktem Zusammenhang mit der späteren Entwicklung seiner Intentionalitätstheorie und Gegenstandstheorie stehen. Dazu gehört der allgemeine Abriss seiner damaligen Ontologie. Die für das Problem des Nominalismus wichtigste Einteilung, sagt Meinong, resultiert aus zwei sich überkreuzenden Unterscheidungen. Es handelt sich um die Gegenüberstellung von allgemein und partikulär einerseits und von abstrakt und konkret andererseits. Diese Unterscheidungen werden häufig durcheinander gebracht. Wenn man sie aber präzise fasst, erhält man eine ontologische Klassifikation, die schon im Vorfeld vielen Missverständnissen vorbeugen kann. Meinong schreibt: „Jedermann erkennt [ ], dass die Worte allgemein und partikulär auf den Umfang, die Worte abstrakt und konkret auf den Inhalt der Vorstellung gehen. Allgemein ist ein Begriff, dem mehrere Gegenstände entsprechen oder doch entsprechen können, partikulär oder individuell hingegen der, welcher ohne Widerspruch oder wenigstens ohne unendlich große Unwahrscheinlichkeit eine Beziehung auf mehr als ein Objekt nicht zulässt. Auf der anderen Seite liegt es am nächsten, jeden Begriff abstrakt zu nennen, der als das Resultat einer Abstraktion erscheint, während jeder, an dem noch nichts derartiges vorgegangen ist, als konkret zu bezeichnen sein wird.“ (Meinong 1877, S. 16 f.)
Allgemein ist also ein Begriff, der auf viele Gegenstände anwendbar ist. Ein abstrakter Begriff hat hingegen etwas mit der Tätigkeit des Abstrahierens zu tun.2 Was bedeutet aber in diesem Zusammenhang „Abstraktion“? Bis 1899 akzeptierte Meinong noch die Brentano’sche Intentionalitätstheorie mit ihrer zentralen Kategorie des immanenten Objekts, und zwar in der Version der Objekt-Theorie mit zwei Objekten. In den Hume Studien I finden wir deutliche Belege dafür, dass Meinong die Brentano’sche Kategorie des immanenten Objekts akzeptiert. „Auf der 2
Diese Einteilung der Begriffe hat Meinong von John Stuart Mill übernommen. Vgl. Mill 1843, Ch. II, § 3 und § 4 (S. 27–30).
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anderen Seite“, lesen wir, „wird auch dagegen nichts eingewendet werden können, dass es einerlei bedeute, eine Idee von etwas zu bilden, oder einfach eine Idee zu bilden, – mit anderen Worten, dass jede Idee ein immanentes Objekt habe [ ].“ (Meinong 1877, S. 48) Diese Stelle zeigt klar, dass sich Meinong der Zweideutigkeit des Wortes „Idee“ bewusst war, das bei den britischen Empiristen zugleich für einen psychischen Akt als auch für dessen Objekt verwendet wird.3 Bereits Thomas Reid hat diese Zweideutigkeit des Begriffs der Idee scharf kritisiert.4 Die Selbstverständlichkeit, mit der Meinong die Unterscheidung zwischen dem psychischen Akt und dessen Objekt macht, ist aber natürlich auf den Einfluß Brentanos zurückzuführen. Die Brentano’sche Hauptthese, die jedem psychischen Akt sein Objekt zuordnet und die dieses Objekt als eine immanente Entität interpretiert, wurde also von Meinong übernommen. Ein solch immanentes Objekt ist aber nicht die einzige Zielentität, die in eine intentionale Beziehung involviert sein kann. Meinong nimmt an, dass
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Diese Zweideutigkeit tritt sehr klar bei dem Vater des neuzeitlichen Begriffs der Idee – bei Descartes – hervor. An einigen Stellen schreibt Descartes,. dass die Ideen „gleichsam Bilder des Seienden“ sind (Descartes 1641, S. 36), was suggeriert, dass sie entweder als Objekte fungieren oder die Objekte durch eine Art Ähnlichkeit repräsentieren. Er schreibt, dass wir (normalerweise) meinen, dass „gewisse Sachen außer mir existieren, von denen her jene Ideen hervorgingen und denen sie ganz ähnlich sind.“ (Ibid., S. 34) Manchmal betrachtet er jedoch Ideen „nur als gewisse Weisen meines Denkens“ (ibid., S. 37, 42) und betont, dass jede so verstandene Idee „eine andere vorgestellte Realität enthält“ (ibid., S. 42), was deutlich in die Richtung der Unterscheidung Akt – Objekt geht. 4 Vgl. „In perception, in remembrance, and in conception, or imagination, I distinguish three things – the mind that operates, the operation of the mind, and the object of that operation. [ ] [T]he act of the mind about its object is one thing, the object is another thing. There must be an object, real or imaginary, distinct from the operation of the mind about it. Now, if in these operations the idea be a fourth thing different from the three I have mentioned, I know not what it is, nor have been able to learn from all that has been written about ideas. And if the doctrine of philosophers about ideas confounds any of these things which I have mentioned as distinct; if, for example, it confounds the object perceived with the perception of that object, and represents them as one and the same thing, such doctrine is altogether repugnant to all that I am able to discover of the operations of my mind; and it is repugnant to the common sense of mankind, expressed in the structure of all languages.“, Reid 1785, S. 197.
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es in der transzendenten Welt Entitäten gibt, die einem immanenten Objekt „adäquat“ sein können. (Meinong 1882, S. 132) Im Besonderen nimmt er an, dass ein Existenzurteil, das sich auf einer Vorstellung aufbaut und das nach der Theorie Brentanos in jeder äußeren Wahrnehmung involviert ist, nicht das immanente, sondern das transzendente Objekt betrifft. (Meinong 1888/89, S. 120) Die Version der Intentionalitätstheorie Brentanos, die in der frühen Philosophie Meinongs vorherrscht, ist also zweifelsohne die Objekt-Theorie mit zwei Objekten. Das war übrigens die Version der Brentano’schen Lehre, die in den achtziger und neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bei seinen Schülern gewissermaßen den Status der Standardtheorie genossen hat.5 Das ist also das Instrumentarium, das Meinong in seiner Abstraktionstheorie verwenden kann. Die zentrale Entität, die die intentionale Beziehung konstituiert, ist natürlich das immanente Objekt, und auch die Frage, ob (und, falls ja, wie) man allgemein vorstellen kann, wird sich dementsprechend hauptsächlich auf die immanenten Objekte beziehen müssen. Die Frage, ob wir nur individuelle Dinge vorstellen können, beantwortet Meinong in den Hume Studien I negativ. Wir haben auch allgemeine 5
Vgl. dazu die folgenden Stellen aus den Schriften Anton Martys. „Der immanente Gegenstand existiert, so oft der betreffende Bewusstseinsakt wirklich ist. Denn es gibt kein Bewusstsein ohne ein ihm immanentes Objekt; das eine ist ein Korrelat des andern. Der Gegenstand schlechtweg dagegen, z.B. das Vorgestellte schlechtweg kann existieren oder auch nicht existieren. Ist meine Vorstellung z.B. der Begriff Pferd, so existiert der Gegenstand. Ist es die Vorstellung eines Zentaurs, so existiert das Vorgestellte nicht; obwohl es als Vorgestelltes natürlich auch in diesem Falle anzuerkennen ist – hätten wir ja sonst eben nicht ,die Vorstellung des Zentaurs‘, womit doch nichts anders gemeint ist, als dass der Zentaur als Vorgestelltes in uns sei.“, Marty 1894, S. 443 f. „Der Gegenstand der Blauvorstellung ist: Blau, nicht: das vorgestellte Blau. Allein dies verträgt sich sehr wohl mit meiner These, dass jeder Vorstellung ein Korrelat entspricht, welches notwendig existiert, wenn die Vorstellung existiert. Denn damit ist ja nicht behauptet, dass dieses Korrelat als solches (also das vorgestellte Blau) Gegenstand meiner Vorstellung sei. Wenigstens gilt dies nicht, wenn es sich um den primären Bewusstseinsakt handelt. Das Vorgestellte als solches ist in Wahrheit Gegenstand des sekundären Bewusstseins.“, Marty 1901, S. 233. Auch die Theorie, die in Höflers Logik (Höfler 1890) dargestellt wurde, bewegt sich in diesem Rahmen. Wir werden über sie noch im nächsten Kapitel sprechen.
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Begriffe. Die Weise, in der wir solche Begriffe bilden, habe John Stuart Mill richtig beschrieben. Wir bilden sie nicht etwa durch eine effektive Abtrennung von Attributen, wie sich wahrscheinlich John Locke diesen Prozess vorgestellt hat, sondern durch eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf die für uns aus irgendwelchen Gründen wichtigen Attribute, so dass die irrelevanten Attribute gewissermaßen außer Acht bleiben.6 Eine solche Aufmerksamkeitstheorie der Abstraktion hat übrigens auch Brentano in seinen Logik-Vorlesungen aus der Mitte der achtziger Jahre unter dem Namen Ennoetismus vertreten. Brentano schreibt: „Hier zunächst nur ganz kurz, dass die Ennoetisten mit den Nominalisten darin einig sind, dass es nur eine Weise der [v]orstellenden Tätigkeit gebe, dagegen dadurch sich von ihnen unterscheiden, dass sie glauben, durch die lösende und einigende Kraft besonders (ausschließlich) auf einen oder mehrere Teile der Gesamtvorstellung gerichteten Interesse, könnten diese Teile für sich allein die Vermittler der Benennung und die Vorstellungsgrundlage von besonderen Urteilen und Gemütsbeziehungen werden.“ (Brentano EL 72, S. 281)
Die Grundannahme der Intentionalitätstheorie Brentanos ist, dass in jede intentionale Beziehung ein immanentes Objekt involviert ist, das in der Zielposition des Aktes steht. Wenn man nun diese zitierte Stelle im Licht dieser Annahme betrachtet, muss man sagen, dass eine allgemeine Vorstellung nicht etwa darin besteht, dass man ein unvollständiges immanentes Objekt vor dem geistigen Auge hat – ein Objekt, das etwa aus einer unvollständigen Kollektion der identifizierenden Merkmale besteht. Alle immanenten Objekte sind vollständig, es ist aber „durch die lösende und einigende Kraft“ des Geistes möglich, in einem solchen 6
Vgl. „The formation [ ] of a Concept, does not consist in separating the attributes which are said to compose it, from all other attributes of the same object, and enabling us to conceive those attributes, disjoined from any others. We neither conceive them, nor think them, nor cognise them in any way, as a thing apart, but solely as forming, in combination with numerous other attributes, the idea of an individual object. But, though thinking them only as part of a larger agglomeration, we have the power of fixing our attention on them, to the neglect of the other attributes with which we think them combined. [ ] General concepts, therefore, we have, properly speaking, none; we have only complex ideas of objects in the concrete: but we are able to attend exclusively to certain parts of the concrete idea: and by that exclusive attention, we enable those parts to determine exclusively the course of our thoughts [ ] exactly as if we were able to conceive them separately from the rest.“, Mill 1865, S. 309 f.
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Objekt nur einige Teile hervorzuheben, so dass nur sie als „die Vermittler der Benennung und die Vorstellungsgrundlage“ dienen.7 Das ist der einzige Sinn, in dem wir „Universalien haben“. „[E]s zeigt sich in Bezug auf die Universalienfrage, dass, wenn ich auch und eigentlich keine anderen als individuelle Vorstellungen habe, ich in gewisser Weise [–] nämlich als durch ein besonderes Interesse abgegrenzte Teilvorstellungen [–] sie [d.h. Universalien] doch habe, und diese Weise genügt, um den allgemeinen Namen nicht bloß, wie die Nominalisten wollten, eine Vielheit äquivoker individueller Bedeutungen zu geben, sondern ihnen einen einheitlichen, wahrhaft allgemeinen Sinn zu geben.“ (Brentano EL 72, S. 290)
Nach dieser Theorie, die Brentano auch wohl unter dem Einfluss von John Stuart Mill formuliert hat, besteht also eine abstrakte Vorstellung darin, dass man in einem Objekt sozusagen nur einige Aspekte berücksichtigt und die sonstigen Aspekte außer Acht lässt. Wenn eine Vorstellung nicht abstrakt ist, dann heißt sie konkret. Eine konkrete Vorstellung muss also alle Eigenschaften des vorgestellten Gegenstands berücksichtigen.8 Eine solche konkrete Vorstellung wäre nach Meinong a fortiori individuell. (Meinong 1877, S. 18) Sie kann, behauptet er, nur ein einziges
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Auch Carl Stumpf hat diese Lehre Brentanos übernommen. Vgl. „[ W ]e have exclusively concrete singular presentations in consciousness. But we are able especially to notice inseparable parts and also to grasp their equality in different singular presentations. Such parts of a presentationel content, which can be noticed apart, but not presented apart, we call abstracta.“, Stumpf 1886/87, S. 300. 8 Brentano hat übrigens seine Abstraktionstheorie im Laufe der Zeit modifiziert. ( Vgl. dazu Chrudzimski 2004, Kap. 4.) Um 1890 scheint er die unvollständigen immanenten Objekte doch zu akzeptieren. Es gibt darüber einen interessanten Briefwechsel mit Marty, der in seiner frühen Periode im Gegensatz zu Carl Stumpf zur Auffassung neigte, dass es nicht nur individuell bestimmte, sondern auch genuin allgemeine (was wahrscheinlich heißt: unvollständige) immanente Gegenstände gibt. Vgl. die Stelle, wo Marty hauptsächlich für die Eindeutigkeit des Seienden (im Kontext der Diskussion der Seinsweise der immanenten Gegenstände) argumentiert, wo wir aber am Ende eine knappe Bemerkung finden, die nahe legt, dass man anstatt von einer „allgemeinen Bejahung“ eher von der „Bejahung eines allgemeinen Inhalts“ reden sollte. Marty schreibt: „Die Scholastiker unterschieden eine mentale und reale Existenz.
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Objekt betreffen.9 Die Umkehrung davon gilt aber nicht. Nicht alle abstrakten Vorstellungen sind ipso facto allgemein. Mit einer abstrakten und trotzdem individuellen Vorstellung haben wir es z.B. dann zu tun, wenn wir uns auf den individuellen Röte-Aspekt einer bestimmten Rose konzentrieren. Infolge des Abstraktionsprozesses bleiben zwar die anderen Aspekte der Rose außer Acht, der Inhalt der Vorstellung beinhaltet also in diesem Sinne nur die rote Farbe. Diese rote Farbe bleibt aber dennoch individuell. Sie gehört zu dieser individuellen Rose und kann deshalb einem anderen Gegenstand nicht zukommen. In diesem Sinne ist die Vorstellung individuell. Sie kann nicht auf mehrere Gegenstände angewendet werden. Nach Meinong gibt es also abstrakte Individuen – Eigenschaften, die nicht als Universalien, sondern als individuelle Aspekte interpretiert werden sollen.10 Solche Eigenschaften, auf die man sich heutzutage meistens mit dem von D. C. Williams geprägten, zunächst eher irreführenden Namen „Tropen“ bezieht (Williams 1953), sind keine Universalien. Im Mental oder, wie man sich auch ausdrückte, ,objektiv‘ (d.h. als Objekt einer psychischen Tätigkeit) existiert ein Vorgestelltes, Geliebtes als solches. Real existiert der Vorstellungsakt, eine Ausdehnung u. dgl. Damit können aber offenbar nicht zwei verschiedene Bedeutungen der Existenz gemeint sein. Der Begriff, ,die Anerkennung zu verdienen‘, ist stets derselbe, mag er wem immer, einem Realen oder Nichtrealen (z.B. speziell einem ,Objektiven‘ als solchen) zukommen. Nur das soll eben gesagt sein, dass, wer das eine anerkennt, damit ein Reales anerkannt habe, wer das andere, ein Objektives als solches. Reale Existenz heißt also Existenz eines Realen. Das Adjektiv ist ähnlich verwendet, wie wenn man anstatt von der Bejahung eines allgemeinen Inhalts, von ,einer allgemeinen Bejahung‘ spricht.“, Marty 1884, S. 173 f. 9 Diese These ist nicht selbstverständlich. Sie setzt zwei Punkte voraus: (1) dass es keine zwei Gegenstände geben kann, die in allen ihren Eigenschaften übereinstimmen (was man häufig Leibniz’ Prinzip nennt), und (2) dass uns eine nicht-abstrakte Vorstellung tatsächlich alle Eigenschaften des betreffenden Gegenstands präsentiert. 10 An diesem Punkt weicht Meinong von der Klassifikation Mills ab. Nach Mill gibt es auch individuell-abstrakte Namen, die Attribute bezeichnen. Ihre Individualität (d.h. die Tatsache, dass sie sich nicht auf viele, sondern auf eine einzige Entität beziehen) besteht jedoch darin, dass das bezeichnete Attribut als ein Universale interpretiert wird. Vgl. „But when only one attribute, neither variable in degree nor in kind, is designated by the name; as visibleness; tangibleness; equality; squareness; milkwhiteness; then the name can hardly be considered general; for though it denotes an attribute of many different objects, the attribute itself is always conceived as one, not many.“, Mill 1843, Ch. II, § 4 (S. 30).
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Gegensatz zu den platonischen Eigenschaften können sie ex definitione nicht als numerisch identisch in mehreren konkreten Individuen vorkommen. Wenn man Eigenschaften als Tropen interpretiert, dann heißt das, dass zwei verschiedene rote Rosen zwei individuell verschiedene rote Farben haben müssen. Dass Meinong in den Hume Studien I solche individuellen Eigenschaften tatsächlich akzeptiert, lässt sich leicht belegen. Er schreibt z.B.: „Bezüglich der Identität bei Gegenständen scheint indessen kaum eine Unklarheit möglich, – wie steht es aber mit den Attributen? Gesetzt, wir hätten zwei kongruente Dreiecke, A und B; ist nun die Dreieckigkeit von A identisch mit der Dreieckigkeit von B? Niemand wird bestreiten, dass A fortbestehen kann, auch wenn B vernichtet ist, – ebensowenig wird angefochten werden, dass das Attribut an seinem Gegenstande haftet, mit ihm besteht, aber auch mit ihm vergeht. Gibt es nun B nicht mehr, so existiert auch nicht die Dreieckigkeit von B, dagegen existiert A und die Dreieckigkeit von A ungestört fort. [ ] Was diese dem Anschein nach ziemlich müßigen Erörterungen dartun sollen, ist nur, dass, wenn man bei gleichen Attributen verschiedener Dinge von Identität spricht, damit unmöglich Identität im strengen Sinne gemeint sein kann [ ]. Will man einmal ein Attribut als Individuum betrachten, so muss man dann auch so viele attributive Individuen anerkennen, als es reale gibt [ ].“ (Meinong 1877, S. 22 f.)
Eine solche individuelle Eigenschaft war übrigens die einzige Art von Eigenschaft, die von Brentano zwischen 1874 und 1900 akzeptiert wurde. Selbst in der ontologisch permissivsten Periode um 1890 waren für ihn die allgemeinen Entitäten ein Tabu. Die Überzeugung, dass man individuelle Eigenschaften in der Ontologie unbedingt braucht, war für die ganze Brentano-Schule charakteristisch. Auch Meinong teilt diese Überzeugung. Solche attributiven Individuen oder individuellen Attribute lassen sich, so argumentiert Meinong, nicht durch die Relation der Ähnlichkeit zwischen konkreten Individuen wegerklären. Erstens scheinen jede zwei individuell-konkreten Gegenstände in irgendeiner Hinsicht einander ähnlich. (Meinong 1877, S. 22 f.) Um also Attribute durch die Ähnlichkeitsklassen von konkreten Individuen zu ersetzen, müssten wir zuerst präzisieren, in welcher Hinsicht sie ähnlich sein sollen. Die angesprochenen Hinsichten sind aber ihrerseits nichts anderes als (die Klassen der) Attribute, und so bewegen wir uns in einem (ziemlich engen) Kreis. Zweitens ist auch die Ähnlichkeit selbst vom ontologischen Standpunkt her betrachtet nicht weniger problematisch als es Attribute sind. Insbesondere ist die Annahme, dass die Vorstellung der Ähnlichkeit
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zwischen Attributen irgendwie primitiver sei als die Vorstellung eines Attributs, nach Meinong schlechtweg absurd. (Meinong 1877, S. 60) Was nun die allgemeinen Attribute betrifft, die, wie gesagt, in der Brentano-Schule eher verpönt waren, so gibt es in den Hume Studien I ein paar Stellen, die suggerieren, dass Meinong sie zu dieser Zeit doch akzeptiert haben könnte. Wir lesen z.B.: „Denn nennt man individuell das, was entweder selbst Individuum ist, oder sich nur auf ein Individuum beziehen kann, so fallen unter diesen Begriff zwar alle Einzeldinge; dagegen gibt es aber kein einziges Attribut, das, für sich allein betrachtet, nur von einem Individuum ausgesagt werden könnte. Trotzdem sind Attribute nicht minder wirklich als Dinge, an denen sie haften; es kann somit durchaus nicht alles in der Natur individuell genannt werden.“ (Meinong 1877, S. 49)
Wir haben gesehen, dass ein Attribut wohl als ein individuelles Abstraktum interpretiert werden kann. Hier lesen wir zwar, dass „kein einziges Attribut [ ] für sich allein betrachtet, nur von einem Individuum ausgesagt werden könnte“, was aber mit einem Attribut „für sich allein betrachtet“ gemeint ist, bleibt unklar. Handelt es sich dabei um ein genuines Universale, d.h. um eine Entität, die als numerisch identisch in mehreren Individuen vorkommen kann, oder geht es vielmehr um ein individuelles Abstraktum, dem in einer Abstraktion höherer Stufe noch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten konkreten Individuum abgesprochen wird? Eine solche Entität wäre kein echtes Universale. Sie wäre insbesondere in mehreren Individuen nicht wiederholbar. Sie hätte allerdings keine ontologisch eingebaute Zugehörigkeit zu einem bestimmten individuell-konkreten Träger, und so träfe es auf sie nicht zu, dass sie „nur von einem Individuum ausgesagt werden könnte“.11 Diese exegetischen Fragen können wir nicht beantworten. Die lakonischen Bemerkungen, die Meinong dem Begriff des Attributs „für sich allein betrachtet“ in seinen Hume Studien I widmet, sind dazu zu knapp. Diese Fragen sind aber glücklicherweise für unsere Zwecke auch nicht besonders wichtig, denn in der späten Philosophie Meinongs spielen die so verstandenen Universalien keine Rolle. Die Theorie, die Meinong in seinen Hume Studien I entwickelt, gibt uns also die folgende Klassifikation der Begriffe: 11
Zu diesem Begriff der individuellen Eigenschaft vgl. Chrudzimski 2002b.
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Inhalt
partikulär individuell (beziehen sich auf ein Objekt)
konkret
abstrakt
(i) Begriff eines konkreten Individuums
(ii) Begriff eines Attributs von einem konkreten Individuum
Umfang (iii) Begriff eines Attributs "für sich betrachtet"
allgemein
(beziehen sich auf mehrere Objekte)
Die Begriffe zerfallen erstens in die konkreten und abstrakten, je nachdem, ob sie ihre Gegenstände vollständig erfassen oder Produkte der Abstraktion sind. Zweitens zerfallen sie in partikuläre (bzw. individuelle) und allgemeine, je nachdem, ob ihr Umfang nur einen einzigen oder mehrere Gegenstände zulässt. Aus der Überschneidung dieser zwei Unterscheidungen ergeben sich aber nur drei Möglichkeiten, denn eine konkrete Vorstellung ist nach Meinong, wie bereits gesagt, a fortiori individuell. Diese Klassifikation der Begriffe kann man mit folgender Klassifikation von Entitäten korrelieren: Selbstständigkeit - Abhängigkeit konkret
partikulär individuell
Distribution
(sind "in" einem Objekt)
allgemein (sind "in" mehreren Objekten)
(i) konkrete Individuen
abstrakt (ii) individuelle Attribute ("Tropen")
(iii) allgemeine Attribute (?)
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In der frühen Ontologie Meinongs finden wir auf jeden Fall konkrete Individuen und individuelle Attribute (Tropen). Ob die ontologische Rubrik (iii) letztlich leer ist, können wir, wie gesagt, nicht entscheiden. Sowohl die allgemeine Tendenz der Brentano-Schule als auch die Abstraktionstheorie Meinongs suggerieren aber stark, dass die allgemeinen Attribute (im Gegensatz zu den individuellen Attributen) höchstens als eine Art „Fiktionen cum fundamento in re“ betrachtet werden dürfen. 2. Die frühe Relationslehre (H UME S TUDIEN II ) Eines der großen Verdienste Meinongs liegt darin, dass er die Kategorie der Relation ins Zentrum der philosophischen Analyse gestellt hat und nach langem Ringen letztlich für die nachfolgenden Generationen salonfähig gemacht hat. Die ersten Schritte auf diesem Weg macht er bereits in seinem nächsten größeren Werk, in den Hume Studien II (1882), und die Entwicklung der Relationslehre wird bis zu seinen späten Schriften fortgeführt. Mit der Kategorie der Relation haben sich freilich auch andere Philosophen, darunter auch Brentano, beschäftigt. Was jedoch für deren Untersuchungen charakteristisch war, war die Tendenz, die Kategorie der Relation möglichst wegzuerklären. So schreibt Aristoteles, dass „das Relative am wenigsten ein Wesen und etwas Seiendes ist“. (Metaphysik, 1088a 30–31) Als Argument dafür dient ihm die Feststellung, dass bei den Relativen kein selbstständiges Entstehen und Vergehen stattfindet in dem Sinne, in dem dies bei den monadischen Eigenschaften der Fall ist. Ein Relatives entsteht und vergeht abhängig davon, wie sich die monadischen Eigenschaften der Fundamente der Relation verändern. „[O]hne verändert zu werden, wird dasselbe bald größer, bald kleiner oder gleich sein, wenn das andere der Quantität nach verändert ist.“ (Metaphysik, 1088a, 34–1088b 1) Die nachfolgenden Generationen von Forschern haben in diesem Punkt auf die Autorität des Meisters von Stagira vertraut. Die Relationen wurden im Mittelalter häufig als relative Attribute uminterpretiert, die außer ihrem eigentlichen Substrat noch eine rätselhafte Beziehung auf ein zweites Relatum involvieren.12 Diese Beziehung wurde typischerweise 12
Über die mittelalterlichen Relationstheorien vgl. Henninger 1989.
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ontologisch abgewertet. Sie wurde als etwas im Grunde Subjektives, als ein konzeptuelles Produkt der Operation des Vergleichens bzw. Beziehens interpretiert.13 Für „ein Akzidens, das zugleich in zwei Substanzen wäre“, hatte auch Leibniz keinen Platz. Erst gegen Ende des XIX. Jahrhunderts hat sich die Kategorie der Relation zu einer gleichberechtigten ontologischen Kategorie gemausert, und ein Philosoph, der dazu nicht gering beigetragen hat, war Alexius Meinong. Die Relationstheorie, die Meinong in den Hume Studien II entwickelt, hat noch viele subjektivistische Aspekte. Vor allem wird die ganze Analyse aus einer vorwiegend psychologischen Perspektive durchgeführt. Meinong betont gleich am Anfang, dass er nur die Relationen zwischen den Vorstellungsobjekten, d.h. zwischen den Inhalten der psychischen Phänomene untersucht, wobei hier der Inhalt soviel wie das immanente Objekt bedeutet. Die Relationen sollen also nur insofern untersucht werden, als sie vorgestellt werden. Die Relationen zwischen den (äußeren) Dingen sollen hingegen außer Acht bleiben. (Meinong 1882, S. 38) Dieses Versprechen wird Meinong allerdings, wie wir bald sehen werden, nicht ganz halten können. Außer dieser methodologischen Einschränkung (die als solche über die Natur der Relationen noch nichts entscheiden muss) finden wir aber auch eine deutliche Tendenz zur Psychologisierung der ontologischen Kategorie der Relation selbst. Meinong behauptet zunächst, dass für das Bestehen einer so verstandenen Relation das bloße Zusammenbestehen von zwei Vorstellungsinhalten in einem Bewusstsein keineswegs ausreicht. Man braucht dazu noch eine psychische Aktivität, die die beiden Inhalte erst in Beziehung setzt. (Meinong 1882, S. 38) Eine Relation zwischen den Inhalten wird also erst durch eine mentale Aktivität ins Leben gerufen, und zwar im Gegensatz zu den Inhalten, die durch diese Aktivität in Beziehung gesetzt werden. Diese Inhalte brauchen zu ihrer Präsentation keine derartige Aktivität. Meinong schließt daraus, dass auch für einen Realisten, der an der Existenz der außer-mentalen Realität nicht zweifelt, Relationen eine besonders subjektive Kategorie darstellen müssen – eine Kategorie, die im 13
Das hing auch damit zusammen, dass man andernfalls in der relativen Bestimmung Gottes als des Schöpfers die Gefahr einer ontologischen Abhängigkeit Gottes von seinen Geschöpfen gesehen hat.
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Gegensatz zu den monadischen („absoluten“) Inhalten auf eine besondere psychische Aktivität angewiesen ist. (Meinong 1882, S. 43) Eine wichtige These Meinongs lautet, dass jede Relation Fundamente braucht. Fundamentlose Relationen gibt es nicht. (Meinong 1882, S. 44) Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass im Rahmen dieser Theorie als Fundamente nicht etwa außermentale Dinge, sondern immanente Inhalte (die Meinong auch „Vorstellungsobjekte“ nennt) fungieren. Die Notwendigkeit der Existenz der Fundamente besagt also keineswegs, dass man in der außermentalen Welt Dinge finden muss, die den gegebenen Inhalten entsprechen. Was existieren muss, sind nur die genannten Inhalte, und diese gibt es genau dann, wenn es entsprechende Vorstellungsakte gibt. (Vgl. Meinong 1882, S. 89) Als Fundamente einer Relation R können zwar, sagt Meinong, wieder Relationen R’ und R” auftreten. Und wenn wir zu den Fundamenten von R’ und R” übergehen, können wir ebenfalls auf neue Relationen stoßen. Ein solcher Regress darf allerdings nicht ins Unendliche gehen. Auf einer bestimmten Stufe müssen wir zu den Fundamenten gelangen, die nicht mehr Relationen, sondern absolute (d.h. nicht-relative) Inhalte sind. (Meinong 1882, S. 44) Jede Relation muss sich in diesem Sinne auf gewissen absoluten Inhalten aufbauen. Eine reine Relativität gibt es nicht. Und weil wir berechtigterweise von den räumlichen und zeitlichen Relationen sprechen, schreibt Meinong, muss es zwangsläufig auch absolute Raum- und Zeitbestimmungen geben, die als Fundamente dieser Relationen fungieren. (Meinong 1882, S. 47, 50) Die Theorie, die Raum und Zeit als bloße Systeme von Relationen fasst, muss also falsch sein. Die These, dass es keine reine Relativität gibt, war übrigens für die ganze Brentano-Schule charakteristisch. Brentano verteidigte sie vehement, und auch bei seinen Schülern wie Stumpf oder Marty kann man unmissverständliche Bekenntnisse zu dieser ontologischen Position finden.14 14
Vgl. dazu Stumpf 1873, S. 124: „Entweder versteht man hier unter Lage [ ] was wir Ort nennen, und dann ist sie keine Relation [ ]; oder man versteht darunter die Beziehung der Punkte zu einander (oder zu einem dritten), und dann liegt dieser Relation, wie jeder, ein absoluter Inhalt zu Grunde, das sind eben hier die beiden Orte; denn man meint eine örtliche Beziehung.“ Vgl. auch Stumpf 1883, S. 13: „So kann es Beziehungen zwischen Empfindungen geben, aber schließlich müssen doch irgend welche absoluten Inhalte vorhanden sein, welche wir auf einander beziehen.“
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Meinong versucht in seiner zweiten Hume-Abhandlung eine Klassifikation der Relationen zu geben. An erster Stelle kommt dabei die Klasse der Vergleichungsrelationen. Die psychische Aktivität, durch die eine Vergleichungsrelation zustande kommt, ist – wie auch zu erwarten wäre – diejenige des Vergleichens, wobei es nach Meinong in erster Linie nicht um ein Vergleichen von zwei individuell-konkreten Gegenständen, sondern um ein Vergleichen von zwei Attributen geht. Als Ergebnis eines solchen Vergleichens können wir, schreibt Meinong, nur zwei Werte bekommen. Die Attribute sind entweder gleich oder ungleich. „Vergleichung zweier Attribute kann, wie immer diese beschaffen sein mögen, nur auf zwei Ergebnisse führen: Gleichheit einerseits, Ungleichheit oder Verschiedenheit andererseits.“ (Meinong 1882, S. 73)
Wir haben gesehen, dass der junge Meinong unmissverständlich zu einer Auffassung neigt, die nur individuelle Eigenschaften (Tropen) akzeptiert. Die Gleichheit der Attribute, von der er hier spricht, kann also nicht als numerische Identität (einer allgemeinen Eigenschaft), sondern muss vielmehr als strenge Ähnlichkeit von Tropen interpretiert werden.15 Eine solche strenge Ähnlichkeit besteht zwischen zwei Tropen erst dann, wenn sie „in allen Einzelheiten“ einander ähnlich sind. Sie besteht also zwischen zwei roten Farben derselben Abschattung, aber nicht zwischen zwei roten Farben von zwei verschiedenen Abschattungen. Nur für eine solche „nicht-strenge Ähnlichkeit“ benutzt Meinong das Wort „Ähnlichkeit“. Für das, was wir die strenge Ähnlichkeit nennen, bleibt bei ihm das Wort „Gleichheit“ reserviert. Was eine solche nicht-strenge Ähnlichkeit betrifft, die sich, wie es scheint, auf ein einfaches Gleich/ungleich-Urteil nicht reduzieren lässt, schreibt Meinong, dass sie sich doch „als partielle Übereinstimmung, d.h. als Gleichheit eines Teils der Elemente herausstellt. Hellrot und Dunkelrot sind einander ähnlich, denn sie stimmen darin überein, Rot zu sein; aber auch Rot und Grün können für ähnlich gelten, denn beide sind Farben usw. [ ].“ (Meinong 1882, S. 75) 15
Diese Ähnlichkeit kann entweder als primitiv (Williams 1953) oder als etwas, das auf den „absoluten Naturen“ der betreffenden Tropen superveniert, (Campbell 1990, S. 59 f.) interpretiert werden. Eine noch andere Möglichkeit ist, anstatt die Mengen von Tropen durch die Relation der Ähnlichkeit zu konstituieren, diese Mengen selbst als primitiv zu betrachten. Diesen Weg ging Stout (1921/22, S. 155 f.).
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Meinong unterscheidet also in jedem Inhalt Attribute, die als Fundamente einer Vergleichungsrelation fungieren können. Wie wir sehen, unterscheidet er Attribute von verschiedener Allgemeinheit. Das Attribut Rot bildet einen gemeinsamen Teil der Attribute Hellrot und Dunkelrot, das Attribut Farbe ist ein gemeinsamer Teil der Attribute Rot und Grün. Die primären Fundamente einer Vergleichungsrelation sind also nach Meinong Attribute. Wenn wir von einem Vergleichen von zwei Substanzen sprechen, so sprechen wir im Grunde vom Vergleichen ihrer Attribute. Das Wort „Substanz“ wird hier übrigens, wie Meinong betont, „ohne jede metaphysische Präsumption“ verwendet, „um das zu bezeichnen, was man auch das Ding im Gegensatz zu seinen Eigenschaften nennt.“ (Meinong 1882, S. 81) Meinong lässt hier also offen, wie die ontologische Struktur eines Dinges letztlich aussieht, und er hat dieses Problem in seinen frühen Werken in der Tat nie ernsthaft thematisiert. Dazu standen damals für ihn die psychologisch-deskriptiven Fragen zu sehr im Vordergrund. Es ist aber nicht zu übersehen, dass er (zumindest in Bezug auf die Dinge, die uns in der äußeren Wahrnehmung erscheinen) zu einer BündelTheorie neigt, nach der ein individuell-konkreter Gegenstand gewissermaßen aus seinen (individuellen) Eigenschaften ohne einen zusätzlichen Träger (sei es eine Substanz, sei es ein „bares Substrat“) besteht. Das war übrigens auch die Ontologie der physischen Gegenstände, die Brentano zu dieser Zeit bevorzugte. (Vgl. Chrudzimski 2004a, S. 145) Die zweite Gruppe der Relationen, die Meinong erörtert, sind Verträglichkeitsrelationen. Die psychische Aktivität, die für diese Relationsgruppe verantwortlich ist, besteht darin, dass man sich die Frage stellt, ob zwei bestimmte Attribute „an derselben Substanz zu derselben Zeit“ bestehen können, wobei das Wort Substanz wieder im lockeren Sinne genommen wird. „[D]er schwerfällige Ausdruck ,Identität der Substanz‘ hat hier gar keine andere Funktion, als die Gleichheit des Ortsdatums für beide Attribute zu sichern; wir können daher ebensogut sagen: die Verträglichkeitsfrage lässt sich nur bei Attributen mit gleicher Zeit- und Ortsbestimmung aufwerten.“ (Meinong 1882, S. 87) Die Antwort auf eine solche Verträglichkeitsfrage kann unter günstigen Umständen ein evidentes apodiktisches Urteil sein, das besagt, dass die zwei in Frage kommenden Attribute unmöglich zusammen bestehen können. Ein solches Urteil ist nach der Brentano’schen Lehre, die hier
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von Meinong ebenfalls übernommen wird, ein negatives Existenz-Urteil, wie z.B. „Ein rotes Blaues gibt es nicht“, das zusätzlich im apodiktischen Modus und mit Evidenz gefällt wird. (Meinong 1882, S. 88) Das, was man in einem solchen Urteil feststellen kann, ist also eigentlich eine Unverträglichkeitsrelation. Ein positives apodiktisches Wissen gibt es nach der von Meinong akzeptierten Auffassung Brentanos nicht.16 Und da die Feststellung der entsprechenden Relation in diesem Fall von Meinong als ein Produktionsakt für diese Relation betrachtet wird, gibt es auch nur Unverträglichkeits- und keine Verträglichkeitsrelationen. (Vgl. Meinong 1882, S. 89) Auch jeder logische Schluss, sagt uns Meinong (wobei er sich wieder der Lehre Brentanos anschließt), ist auf solche Unverträglichkeitsrelationen zurückzuführen. Behaupten wir etwa, dass q aus p logisch folgt, so heißt das, dass „die Wahrheit der Prämissen mit der Falschheit der conclusio unvereinbar sei.“ (Meinong 1882, S. 102) Das evidente negative Existenz-Urteil, das für die gewünschte Unverträglichkeitsrelation verantwortlich ist, wäre also „Es gibt nicht, dass p, ohne dass q“, wobei die nominalisierten propositionalen Inhalte (dass p und dass q, mit denen wir hier operieren, aus den Vorstellungen der entsprechenden Urteile entnommen werden müssen. (Meinong 1882, S. 100) Dass sich Meinong hier offensichtlich auf die Unverträglichkeit der propositionalen Inhalte bezieht, hat ihn 1882 (wie übrigens auch Brentano in seiner Psychologie) noch gar nicht beunruhigt. Höchstwahrscheinlich waren ihm die ontologischen Konsequenzen dieses Schrittes damals noch überhaupt nicht bewusst, und auf jeden Fall widmet er der Kategorie der propositionalen Entitäten in den Hume Studien II keine Aufmerksamkeit. Eine detaillierte und einflussreiche Lehre von den propositionalen Entitäten (Objektiven) wird er erst zwanzig Jahre später entwickeln. Die dritte Klasse der Relationen, die Meinong bespricht, sind Kausalrelationen. Meinong referiert zunächst die Position von Beneke (Beneke 1840, S. 284), der behauptet, dass uns einige Kausalverhältnisse 16
Genauer gesagt, behauptet Brentano nur, dass es für uns kein positives apodiktisches Wissen gibt. In der Tat glaubte er, dass für jedes Wesen, das imstande wäre, den vollständigen Begriff Gottes zu begreifen, eine Version des ontologischen Beweises Anselms ein solches positives apodiktisches Wissen liefern würde.
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in der inneren Wahrnehmung gegeben sind. (Meinong 1882, S. 111) Das war auch die Position, die Brentano zeit seines Lebens vertreten hat. (Vgl. z.B. Brentano EL 72, S. 467) Meinong verwirft jedoch diese Theorie. (Meinong 1882, S. 116) Die Kausalverhältnisse sind uns weder in der inneren noch in der äußeren Erfahrung direkt gegeben. Sie werden stattdessen aus den Relationen zusammengesetzt, die wir bereits kennen gelernt haben. Der Weg zur Perzeption einer kausalen Beziehung muss also nach Meinong eine nicht ganz unaufwendige intellektuelle Konstruktion involvieren. Die erste wichtige Beobachtung, die Meinong hier macht, ist, dass zu einer Kausalrelation die Notwendigkeit und Allgemeinheit des entsprechenden Kausalgesetzes gehört. Im Gegensatz zu Hume behauptet er, dass eine bloße Allgemeinheit der Aufeinanderfolge noch nicht ausreicht, um einen Kausalzusammenhang zu sichern. Eine solche allgemeine Aufeinanderfolge könnte ja auch ganz zufällig, ohne irgendwelchen kausalen Einfluss auftreten.17 Die in die Kausalrelation involvierte Notwendigkeit lässt uns an die Relation der Unverträglichkeit denken. Und in der Tat, die Kausalrelation erweist sich nach Meinong als ein Spezialfall der Unverträglichkeitsrelation. Wenn man sagt, dass B aus A als kausale Folge resultiert, dann will man damit sagen, dass das Bestehen von A mit dem Nicht-Bestehen von B in einem nachfolgenden Zeitmoment unverträglich wäre. Wir haben hier übrigens den nächsten wichtigen Aspekt der Kausalrelation: die zeitliche Aufeinanderfolge, die Meinong als einen Spezialfall der Relation der Verschiedenheit betrachtet. (Meinong 1882, S. 118) Die Definition, die Meinong schließlich annimmt, lautet somit folgendermaßen: „Ursache ist ein mehr oder weniger großer Komplex von Tatsachen, welche auch nicht den kleinsten Teil einer Zeit zusammen bestehen können, ohne dass die Wirkung zu existieren anfängt. Kausalität ist demnach eine Vereinigung bestimmter Vergleichungsund Verträglichkeitsfälle.“ (Meinong 1882, S. 121)
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In der heutzutage modischen Terminologie der möglichen Welten kann man sagen, dass es nomologisch verschiedene Welten gibt, die deskriptiv ununterscheidbar sind. Auf der anderen Seite schließt Meinongs Auffassung auch die heutzutage von manchen angenommene singular causation aus, bei der zwar ein kausaler Nexus, aber keine allgemeine Gesetzmäßigkeit im Spiel sein soll.
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Was jedoch die in der Kausalität involvierte Notwendigkeit von den bereits besprochenen Fällen der Unverträglichkeit unterscheidet, ist ein offensichtlicher Mangel an Evidenz des Urteils, in dem sie erfasst wird. Die Unverträglichkeit von zwei Inhalten können wir feststellen, ohne unseren Schreibtisch verlassen zu müssen, und zwar indem wir die entsprechenden Inhalte einfach in Gedanken vergleichen. So können wir a priori wissen, dass es kein rundes Dreieck geben kann und dass es nicht etwas Farbiges geben kann, das zugleich nicht ausgedehnt wäre. Ein solches Wissen ist aber in Bezug auf Kausalrelationen prinzipiell unerreichbar. Um festzustellen, welche Kausalgesetze es in der Welt gibt, müssen wir empirische Untersuchungen durchführen; und das Ergebnis solcher Untersuchungen wird nie von der Evidenz begleitet, die für ein apodiktisches Urteil über die Unverträglichkeitsverhältnisse charakteristisch ist. Die Lösung dieser Schwierigkeit wird in den letzten Sätzen bereits angedeutet. Wir haben gesagt, dass wir feststellen wollen, welche Kausalgesetze es in der Welt gibt, und das ist in der Tat der springende Punkt. Wenn wir über Kausalverhältnisse sprechen, handelt es sich nämlich nie um die bloßen Relationen zwischen den Vorstellungsobjekten. Wir sprechen immer von Relationen zwischen den Dingen (Meinong 1882, S. 122), und solche Dinge – so die These Meinongs, die er ebenfalls von Brentano übernommen hat – sind uns nie vollständig gegeben. Was uns in einer intentionalen Beziehung „vor Augen“ steht, sind ausschließlich Inhalte (d.h. immanente Objekte) – untrennbare Korrelate der psychischen Akte. Wenn wir also behaupten, dass zwischen A und B eine Kausalrelation besteht, sagen wir nach Meinong etwas ganz Kompliziertes. Wir behaupten, (i) dass es in der außermentalen Realität Dinge gibt, die den Vorstellungen von A und B entsprechen, und (ii) dass zwischen der Existenz von A und der Nichtexistenz von B (im nachfolgenden Zeitmoment) die Relation der Unverträglichkeit besteht. (iii) Diese Relation der Unverträglichkeit könnten wir in einem evidenten apodiktischen Urteil feststellen, wenn wir die wahren Naturen beider Dinge kennten. (iv) Wir kennen sie aber nicht, und deswegen ist die Behauptung eines kausalen Zusammenhangs immer eine empirische Hypothese, die sich auf die Beobachtung einer regelmäßigen Aufeinanderfolge der Inhalte A und
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B stützen muss, die die in einem kausalen Zusammenhang stehenden Dinge repräsentieren. Außer den Vergleichungs- und Verträglichkeitsrelationen ist also in jeder Behauptung einer Kausalrelation auch eine wichtige Existenzannahme in Bezug auf die außermentalen Entsprechungen der Vorstellungsinhalte involviert, die wir oben unter (i) angeführt haben. Wie wir sehen, war Meinong hier gezwungen, über den Bereich der Vorstellungsinhalte hinauszugehen und einige Relationen doch in der realen Welt zu stipulieren, was mit der These ihrer besonderen Subjektivität nicht unbedingt im Einklang zu stehen scheint. Und in der Tat, Meinong besteht nicht besonders hartnäckig auf dieser These. Er schreibt mit aller Deutlichkeit, dass man auch von Relationen zwischen Dingen sprechen kann, deren Bestehen von keiner psychischen Aktivität abhängig ist: „Ausgeschlossen wäre durch die obige Theorie indessen nicht, dass zwischen Dingen, die sich im Kausalnexus befinden, unabhängig von ihrem Vorgestelltwerden, etwas bestünde, was in einem noch zu bestimmenden Sinne ebenfalls Relation genannt werden könnte [ ].“ (Meinong 1882, S. 129)
Solche, von jeder psychischen Aktivität unabhängige Relationen zwischen den Dingen interpretiert Meinong zunächst als eine Fähigkeit der Dinge, durch die entsprechende psychische Aktivität in Bezug gesetzt zu werden. (Meinong 1882, S. 143 f.) Man kann also vermuten, dass es sich um monadische Eigenschaften der Dinge handelt, die es uns erlauben, eine entsprechende in-eine-Relation-setzende psychische Aktivität in Bezug auf sie zu vollziehen. Dieser Punkt wird sich noch später als äußerst wichtig erweisen. Die nächste Kategorie der Relationen, die von Meinong behandelt wird, bilden die Identitätsrelationen. Dieser Fall, sagt Meinong, ist besonders schwierig. Auf den ersten Blick scheint es, dass man nur von der Identität eines Gegenstands mit sich selbst sprechen kann, was aber zum einen völlig uninteressant erscheint, und zum anderen wahrscheinlich gar nicht als Relation einzustufen wäre, „denn ich wüßte nicht,“ so sagt er, „was den Relationen noch wesentlich bliebe, wenn von der Zweiheit der Fundamente abgesehen werden dürfte.“ (Meinong 1882, S. 130) Es lässt sich aber, fährt Meinong fort, dennoch in einer philosophisch interessanten Weise von der Identität sprechen. Wir sagen „von zwei
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Häusern, sie hätten denselben Eigentümer, – von zwei Ringen, sie gehören zu derselben Kette, – von zwei Eigenschaften, sie seien Qualitäten derselben Sache, – auch von meinen Gedanken kann ich sagen, sie beschäftigen sich jetzt mit derselben Angelegenheit, demselben Ereignisse wie vor einer halben Stunde. Ich kann in diesen mannigfachen Anwendungsweisen nur ein Gemeinsames finden: Identität wird von etwas ausgesagt, sofern es zugleich zu verschiedenen anderen Dingen in Relation steht.“ (Meinong 1882, S. 130) Ein für die Theorie Meinongs besonders interessanter Fall liegt vor, wenn man von zwei Vorstellungen sagt, sie stellen dasselbe vor. Die in einer solchen Behauptung prädizierte Identität kann die psychischen Akte der Vorstellung natürlich nicht betreffen. Es soll ja ex hypothesi zwei Vorstellungen geben. Es kann aber auch nicht darum gehen, dass diese zwei Vorstellungen denselben Inhalt haben. Inhalte (Vorstellungsgegenstände, immanente Objekte) sind Entitäten, die von den entsprechenden psychischen Akten ontologisch abhängig sind. Meinong schreibt, dass „es ja selbstverständlich ist, dass zwei verschiedene Vorstellungen streng genommen auch zwei verschiedene Inhalte haben müssen, die völlig gleich, aber niemals ein Inhalt sein können.“ (Meinong 1882, S. 132) Wir sehen hier noch einmal klar, dass, wenn Meinong von Gleichheit spricht, er damit tatsächlich nicht die numerische Identität, sondern vielmehr das Verhältnis meint, das die Tropentheoretiker strenge Ähnlichkeit nennen. Zwei verschiedene Vorstellungen können also auf keinen Fall numerisch denselben Inhalt haben. Wenn man also sagt, dass zwei Menschen dasselbe vorstellen, meint man nicht den Inhalt ihrer Vorstellungen, sondern eher das, was einem solchen Inhalt entsprechen könnte. „Wenn man daher sagt, dass zwei Menschen dasselbe vorstellen, oder auch ein Mensch zu verschiedener Zeit dasselbe vorstellt, so kann damit nur das Vorstellen von Inhalten gemeint sein, welche nur einem Dinge, gleichviel übrigens, ob ein solches wirklich existiert oder nicht, adäquat sein können.“ (Meinong 1882, S. 132)
Wir sehen hier deutlich, dass sich die Intentionalitätstheorie, die der junge Meinong akzeptiert, tatsächlich innerhalb des Brentano’schen Modells der Objekt-Theorie mit zwei Objekten bewegt. Jede Vorstellung hat ein immanentes Objekt, das dem jeweiligen Subjekt selbst dann „vor Augen steht“, wenn es in der außermentalen Realität keine Entsprechung
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davon gibt. Diese Struktur schöpft aber die Intentionalität eines psychischen Aktes nicht aus. Auch das Außending, das dem intentionalen Objekt, wie Meinong sagt, adäquat sein kann, kommt in Betracht. Die Intentionalität wird also gewissermaßen „verlängert“, so dass z.B. ein Existenzurteil, das in einer äußeren Wahrnehmung involviert ist, nicht das immanente, sondern das transzendente Objekt der zugrunde liegenden Vorstellung betrifft. Insbesondere bezieht man sich auf ein solches Außending (und nicht etwa auf die entsprechenden immanenten Objekte), wenn man von der Identität des vorgestellten Objekts spricht. Die angesprochene Relation der Adäquatheit zwischen einem immanenten Objekt und einem Ding muss, so können wir vermuten, darin bestehen, dass das Ding alle Attribute hat, die in dem immanenten Objekt spezifiziert sind. Nach der Theorie Brentanos, die wir im vorigen Kapitel besprochen haben, besteht dieses Spezifizieren darin, dass das immanente Objekt die betreffenden Attribute in einem uneigentlichen Sinne hat. Die Adäquatheitsrelation würde also genau dann bestehen, wenn das transzendente Ding alle Attribute hat, die von dem immanenten Objekt in einem modifizierten Sinne gehabt werden. Die Attribute, die einerseits von dem Außending und andererseits von dem immanenten Objekt gehabt werden, können aber wiederum nicht im buchstäblichen Sinne identisch sein. Da Brentano keine Universalien sondern nur individuelle Eigenschaften akzeptierte, muss man sich auch diese Attribute als Tropen vorstellen. Die Standardauffassung der zeitgenössischen Tropenontologie spricht hier von der (strengen) Ähnlichkeit zwischen den Tropen. Die Adäquatheitsrelation zwischen einem transzendenten Ding D und einem immanenten Objekt O würde also genau dann bestehen, wenn man für jedes Attribut, das von O in einem uneigentlichen Sinne gehabt wird, ein entsprechendes (streng ähnliches) Attribut finden kann, das von D in einem normalen Sinne gehabt wird. Dass Meinong selbst nichts Näheres über diese wichtige Adäquatheitsrelation sagt, deutet darauf hin, dass er hier die Auffassung Brentanos vorbehaltlos voraussetzt. Ein weiteres Problem resultiert daraus, dass Meinong ungezwungen von einem Ding spricht „gleichviel übrigens, ob ein solches wirklich existiert oder nicht“. Wenn man diesen Punkt weiterentwickeln würde, hätte man natürlich mit dem ganzen Arsenal der ontologi-
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schen Probleme zu tun, das mit den irrealen Konditionalen bzw. mit den nicht-existierenden Gegenständen zusammenhängt. Meinong entwickelt aber diese Problematik nicht. Seine Hume Studien II sind keine Abhandlung zur Intentionalitätstheorie. Er setzt vielmehr eine Version der Brentano’schen Intentionalitätstheorie voraus im guten Glauben, dass sie von ihrem Erfinder kohärent formuliert wurde. Diesen Glauben wird Meinong erst um 1899 verlieren, und kurz danach werden für ihn auch die nicht-existierenden Gegenstände zu einem wichtigen Thema.18 Kehren wir aber zu Meinongs Analyse der Identitätsrelation zurück. Wenn man von der Identität in einem nicht-tautologischen Sinne spricht, bezieht man sich Meinong zufolge immer auf gewisse Relationen, in denen der Gegenstand, von dem man die Identität prädiziert, zu anderen Gegenständen steht. Dennoch betrifft die Identität gewissermaßen nur ihren einzigen Träger, so dass sie fast als eine monadische Eigenschaft erscheint. Wenn man alle diese Aspekte berücksichtigt, kann man die ganze Idee folgendermaßen zusammenfassen: „Identität ist die Eigenschaft eines Dinges, Fundament für mehrere Relationen zu sein; Behauptungen über Identität sind in Relationsbehauptungen ganz oder teilweise auflösbar.“ (Meinong 1882, S. 135)
Da man sich durch eine Identitätsbehauptung in den Bereich der Außendinge begibt, muss man sich bei der epistemischen Begründung einer solchen Behauptung typischerweise auch auf die empirische Beobachtung stützen. Es gibt nur einen einzigen Fall, in dem man eine solche Identität ohne Rücksicht auf die empirische Erfahrung feststellen kann, nämlich den, „wo die Adäquatheit mehrerer Vorstellungsinhalte mit einem möglicherweise existierenden Dinge zur Sprache kommt [ ].“ (Meinong 1882, S. 132 f.) Und das ist natürlich dann der Fall, wenn jemand in verschiedenen Vorstellungen „dasselbe meint“. Anderenfalls sind in die Identitätsbehauptung wie im Fall der Kausalbeziehungen auch entsprechende Existenzannahmen involviert, so dass die relevanten Relationen nicht zwischen Vorstellungsinhalten, sondern zwischen den Außendingen bestehen. 18
Sowohl Brentano als auch die meisten seiner Schüler (insbesondere Marty) haben übrigens den modalen (bzw. kontrafaktischen) Diskurs generell als ontologisch harmlos angesehen. Vgl. dazu Chrudzimski 2001b.
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Die Erklärung, die uns Meinong gibt, wie eine informative Identitätsaussage möglich ist, kann man mit der berühmten Erklärung Freges vergleichen (Frege 1892a). Nach Frege unterscheidet sich eine informative Identitätsaussage „a = b“ von einer tautologischen Identitätsaussage „a = a“ dadurch, dass in einer wahren Aussage der Form „a = b“ derselbe Gegenstand durch verschiedene Beschreibungen identifiziert wird. Die Namen „a“ und „b“ sind nämlich nach Frege nicht bloße Etiketten, so dass man gezwungen wäre, die Wahrheit einer Identität der Form „a = b“ einfach als eine Wahrheit kraft der sprachlichen Konvention (dass den Namen „a“ und „b“ derselbe Gegenstand zugeordnet wird) zu betrachten. Die Namen haben ihre Sinne, „durch die“ sie sich auf ihre Gegenstände beziehen, wobei im Sinn, wie Frege sagt, „die Art des Gegebenseins“ des Referenzobjekts enthalten ist (Frege 1892a, S. 26). Wenn man diese Erklärung mit der Brentano’schen Theorie des immanenten Objekts, die Meinong zur Zeit seiner Hume Studien II akzeptiert, vergleicht, sieht man, dass die Rolle, der Frege’schen Sinne bei Brentano klarerweise von den immanenten Objekten übernommen wird. Es ist das immanente Objekt, das bei Brentano „die Art des Gegebenseins“ bestimmt, wobei es, wie wir gesehen haben, unklar bleibt, was eigentlich in der Zielposition des entsprechenden psychischen Aktes steht. Wenn wir aber, wie Brentano in seiner Logik-Vorlesung und wie Meinong in seiner frühen Periode, zwischen dem immanenten und dem transzendenten Objekt des Aktes unterscheiden, dann können wir uns wohl eine Situation vorstellen, in der zwei „inhaltlich“ verschiedenen immanenten Objekten (O1 und O2 ) dasselbe transzendente Ding D entspricht. Man muss nur annehmen, dass sowohl O1 als auch O2 nur diejenigen individuellen Eigenschaften im uneigentlichen Sinne haben, die ihre streng ähnlichen Entsprechungen in den individuellen Eigenschaften von D finden, dass aber nicht jede uneigentlich instantiierte individuelle Eigenschaft von O1 ihre streng ähnliche Entsprechung in einer uneigentlich instantiierten individuellen Eigenschaft von O2 findet. Auch dieser Fall einer wahren Identität ist also im Rahmen des Brentano’schen Instrumentariums, das dem frühen Meinong zur Verfügung stand, zu meistern. Die besprochenen vier Klassen von Relationen: (i) Vergleichungsrelationen, (ii) Verträglichkeitsrelationen, (iii) Kausalrelationen und (iv) Identitätsrelationen (wobei die Klassen (iii) und (iv) nach Meinong aus einer Zusammensetzung von Relationen der Art (i) und (ii) zusammen mit den
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entsprechenden Existenzannahmen resultieren) werden von Meinong ideale oder Vorstellungsrelationen genannt. Neben solchen Relationen führt er aber auch reale Relationen ein, und diese Unterscheidung ist vom ontologischen Standpunkt her betrachtet besonders interessant. Als erste Gruppe der realen Relationen nennt Meinong die intentionalen Relationen. Eine intentionale Relation wird in Anknüpfung an Brentano als eine Relation zwischen einem psychischen Akt und dem ihm zugehörigen Inhalt (d.h. dem immanenten Objekt) verstanden. Nach Meinong ist sie eine Kategorie sui generis, die sich auf andere Relationen nicht reduzieren lässt. Das ist der bisher einzige Fall, in dem die Relation nicht zwischen Vorstellungsinhalten, sondern, wie Meinong sagt, zwischen wirklichen Dingen besteht. (Meinong 1882, S. 138) Bei den Kausal- und Identitätsrelationen hatten wir zwar entsprechende Existenzannahmen gemacht, die Beziehung auf die reale Welt stand also auch dort sozusagen im Hintergrund. Die Beziehung auf die transzendenten Gegenstände war aber in diesem Fall sozusagen nur eine zusätzliche Hypothese. Die Gegenstände, von denen man die entsprechende Relation prädizierte, wurden in jedem Fall so verstanden, wie sie durch die jeweiligen Vorstellungsinhalte bestimmt waren. Im Fall der intentionalen Relation ist es aber anders. Wir haben den entsprechenden Akt und seinen Vorstellungsinhalt „in eigener Person“ direkt gegeben. Keine weiteren vermittelnden Vorstellungsinhalte sind in die Prädikation der intentionalen Relation involviert. Die Bezeichnung „wirkliche Dinge“ in Bezug auf den psychischen Akt und das immanente Objekt wurde von Meinong sicherlich nicht allzu glücklich gewählt. Der psychische Akt ist nach der Brentano’schen Lehre ein Akzidens der psychischen Substanz, und ein immanentes Objekt ist eine spezielle, von dem betreffenden Akt seinsabhängige und insgesamt ontologisch sehr geheimnisvolle Entität. Keine dieser Entitäten würden wir normalerweise als ein wirkliches Ding bezeichnen. Aus dieser unglücklichen Ausdrucksweise sollte man allerdings keine voreiligen Schlüsse ziehen, die durch den Kontext, in dem Meinong seine Behauptung macht, nicht gerechtfertigt wären. Und der Kontext ist hier ganz klar. Der psychische Akt und das immanente Objekt werden deswegen „wirkliche Dinge“ genannt, um den Gegensatz zu den (bloßen) Vorstellungsobjekten deutlich zu machen, auf die sich in den anderen von Meinong besprochenen Fällen die relationserzeugende
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Aktivität des Subjekts richtet. Die Bezeichnung „wirkliche Dinge“ signalisiert also lediglich den Umstand, dass es die betreffenden Entitäten wirklich gibt, und nicht etwa, dass sie, zusammen mit Steinen, Katzen und Schreibmaschinen, zu der ontologischen Kategorie der Dinge gehören. Meinong nennt auch zwei weitere Gruppen von Relationen, die er als real betrachten will. Es sind einerseits die Relationen zwischen mehreren Vorstellungsinhalten, die einen Vorstellungskomplex ausmachen, andererseits die eigenartigen Beziehungen zwischen den oben analysierten idealen Relationen und ihren Fundamenten. (Meinong 1882, S. 138 f.) Meinong erwägt noch, ob man die mentale Motivation, die z.B. zwischen der Vorstellung eines Zweckes und dem entsprechenden Willensakt stattfindet, nicht als eine solche reale Relation auffassen sollte, kommt aber zu keinem endgültigen Schluss und lässt das als eine offene Möglichkeit unentschieden. (Meinong 1882, S. 148) Das Merkmal einer realen Relation, das sie gegenüber einer idealen Relation auszeichnet, ist nach Meinong, wie gesagt, die Tatsache, dass sie nicht zwischen Vorstellungsinhalten, sondern zwischen realen Dingen besteht. Diese Behauptung kann verwirrend sein, denn die Entitäten, die sowohl im Fall der Relation Akt-Inhalt als auch im Fall einer Relation zwischen mehreren „Teilen“ eines Vorstellungskomplexes wie auch bei der Beziehung zwischen einer idealen Relation und ihren Fundamenten involviert sind, sind ja zweifellos die Vorstellungsinhalte. Was die intentionale Relation betrifft, so besteht sie ja zwischen einem psychischen Akt und seinem Inhalt (d.h. dem immanenten Objekt). Die Tatsache, dass die Relation zwischen den Vorstellungsinhalten, die einen Vorstellungskomplex ausmachen, die Relation zwischen den Vorstellungsinhalten ist, versteht sich von selbst. Und schließlich sollen auch alle idealen Relationen nach Meinong irgendwie eher zwischen den entsprechenden Vorstellungsinhalten als zwischen den durch sie repräsentierten Dingen bestehen. Auch die Beziehung, die zwischen diesen Relationen und ihren Fundamenten besteht, muss also (da die Fundamente Vorstellungsinhalte sind) Vorstellungsinhalte involvieren. Das alles ist völlig richtig; die Behauptung Meinongs behält aber dennoch ihren guten Sinn. In allen idealen Relationen werden nämlich die entsprechenden Inhalte in ihrer Repräsentationsfunktion begriffen. Bei allen vier Gruppen der idealen Relationen denkt man ja an die Beziehung
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zwischen den repräsentierten Dingen. Diese Dinge können nur durch Inhalte repräsentiert werden, und das ist nach Meinongs Auffassung eine für die Relationslehre relevante Tatsache. Denn die mentale Aktivität, die die idealen Relationen „erzeugt“, richtet sich auf diese Inhalte. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Fundamente der Relationen eben Inhalte sind. Sie fungieren aber als diese Fundamente nur als Inhalte, d.h. in ihrer repräsentierenden Funktion. Bei den realen Relationen ist dem aber ganz anders. Die Inhalte, die hier als Fundamente fungieren, werden nicht als Repräsentanten, sondern sozusagen als „Dinge an sich“ betrachtet. Wenn man an die entsprechende Relation denkt, denkt man an die Inhalte „direkt“, ohne dass man sie dabei unbedingt in ihrer repräsentierenden Funktion betrachten muss. In diesem Sinne werden sie hier als „reale Dinge“ betrachtet, und das ist auch der Sinn, in dem die idealen Relationen zwischen den Vorstellungsinhalten bestehen, während die realen zwischen den realen Dingen bestehen. Ein zweites Kriterium, das den Unterschied zwischen den idealen und realen Relationen erklärt, ist, dass die idealen Relationen durch eine besondere psychische Aktivität ins Leben gerufen werden, während die realen passiv perzipiert werden. (Meinong 1882, S. 142) Das Kriterium, das für unsere weiteren Untersuchungen am wichtigsten sein wird, bezieht sich aber auf die Art des Wissens, das wir von den Relationen beider Gruppen haben (bzw. haben können). Meinong fasst es folgendermaßen zusammen: „Relationen der erst betrachteten Gruppe [d.h. die idealen Relationen] erkennt man, unabhängig von der Erfahrung, aus bloßen Vorstellungen, – a priori; Relationen der zweiten Gruppe [d.h. die realen Relationen] dagegen nur auf Grund empirischer Daten, a posteriori.“ (Meinong 1882, S. 154)
3. Interne und externe Relationen Wenn man dieses letztgenannte Kriterium sowie die Argumente, die Meinong zur Unterscheidung der realen und idealen Relationen geführt haben, näher betrachtet, scheint es, dass im Hintergrund dieser Aufteilung der Unterschied steht, den man heute den Unterschied zwischen internen und externen Relationen nennt.
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Unter den Relationen können wir nämlich zwei große Gruppen unterscheiden. Für die Relationen der ersten Gruppe gilt das Prinzip, dass sie genau dann bestehen, wenn ihre Argumente mit bestimmten monadischen Eigenschaften existieren. Das Bestehen von Argumenten, die bestimmte monadische Eigenschaften haben, ist eine notwendige und hinreichende Bedingung des Bestehens der Relation. Solche Relationen sind in diesem Sinne durch die Existenz ihrer Argumente mit den entsprechenden monadischen Eigenschaften mit Notwendigkeit impliziert. Man kann sagen, dass sie auf ihren Argumenten supervenieren. So muss z.B., wenn Hans 40 Jahre alt ist und Peter 30 Jahre alt ist, die Relation ist älter als zwischen Hans und Peter zwangsläufig bestehen. Sie ist in diesem Sinne auf die Existenz und die monadischen Eigenschaften von Hans und Peter ontologisch reduzierbar. Es gab und gibt viele Philosophen, die zur Auffassung neigen, dass alle Relationen in diesem Sinne auf den monadischen Eigenschaften ihrer Glieder supervenieren, gemäß dem Prinzip: Sup
∀x∀y∀RxRy ≡ ∃F∃GFx ∧ Gy ∧ ∀z∀wFz ∧ Gw ⊃ zRw
Das Prinzip (Sup.) besagt, dass alle Relationen, die aktuell vorkommen, auf den monadischen Eigenschaften ihrer Glieder supervenieren. Für einen Philosophen, der kein Platoniker ist, muss das allerdings nicht bedeuten, dass die Relationen, die mit dem Prinzip (Sup.) in Widerspruch stehen, unmöglich sind. Das wird erst durch eine modalisierte Version des Prinzips gewährleistet: Sup
∀x∀y∀RxRy ≡ ∃F∃GFx ∧ Gy∧ ∀z∀wFz ∧ Gw ⊃ zRw
Das Prinzip (Sup.) besagt, dass die Supervenienz von Relationen nicht bloß kontingent für alle aktuellen Relationen gilt, sondern sozusagen aus dem Wesen der ontologischen Kategorie Relation folgt. Wir können uns aber auch andere Relationen denken, die auf die Existenz ihrer Argumente und auf die Eigenschaften dieser Argumente nicht reduzierbar wären. Wenn wir eine Relation dieser Art als R bezeichnen, dann ist die Tatsache, dass R zwischen a und b besteht, in keiner Weise
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durch die „absolute Natur“ von a und b (d.h. durch die Gesamtheit der nicht-relationalen Eigenschaften von a und b impliziert. Die Gegenstände a und b können alle ihre monadischen Eigenschaften behalten, und das Bestehen der Relation R zwischen ihnen kann trotzdem entfallen. Bekanntlich hat Russell derartige Relationen „extern“ genannt.19 Russell behauptet also die Negation von (Sup.): ¬Sup
∃x∃y∃RxRy ∧ ¬∃F∃GFx ∧ Gy∧ ∀z∀wFz ∧ Gw ⊃ zRw
oder mindestens die Negation von (Sup.): ¬Sup
♦∃x∃y∃RxRy ∧ ¬∃F∃GFx ∧ Gy∧ ∀z∀wFz ∧ Gw ⊃ zRw
Die typischen Kandidaten für solch unreduzierbare Relationen sind die räumlichen und zeitlichen Beziehungen. Philosophen, die einerseits räumliche und zeitliche Stellen nicht als Objekte einführen wollen, andererseits den Gegenständen aber auch keine absoluten räumlichen und zeitlichen Bestimmungen zuschreiben, betrachten diese Bestimmungen oft als rein relational. Die Tatsache, dass ein Gegenstand von einem anderen so und so weit entfernt ist, reduziert sich dementsprechend auf keine absoluten räumlichen Lokalisierungen, die diesen Gegenständen zukommen würden. Denn es gibt, so wird behauptet, keine solchen Lokalisierungen. Die räumliche Relation, in der sich zwei Gegenstände befinden, ist auf keine Eigenschaften dieser Gegenstände reduzierbar. Die Relationen der ersten Gruppe werden gewöhnlich als intern bezeichnet.20 Ob solche supervenierenden Relationen deswegen als 19
Vgl. „I maintain that there are such facts as that x has the relation R to y, and that such facts are not in general reducible to, or inferable from, a fact about x only and a fact about y only: they do not imply that x and y have any complexity, or any intrinsic property distinguishing them from a z and a w which do not have the relation R. This is what I mean when I say that relations are external“, Russell 1910, S. 374. 20 Heutzutage werden oft alle Relationen, die nicht extern im Sinne Russells. sind, als „intern“ bezeichnet. Vgl. „Two or more particulars are internally related if and
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auf monadische Eigenschaften ihrer Glieder ontologisch reduzierbar zu interpretieren sind, ist eine kontroverse Frage. Armstrong betrachtet Relationen, die auf den monadischen Eigenschaften ihrer Glieder supervenieren, als keine ontologische Bereicherung im Vergleich zu diesen monadischen Eigenschaften (vgl. Armstrong 1997, S. 12), und wir finden diese Ansicht plausibel. Eines steht allerdings fest: Die Relationen, die in unserem Sinne auf den monadischen Eigenschaften ihrer Glieder supervenieren, sind durch die Existenz ihrer Glieder mit den entsprechenden Eigenschaften mit Notwendigkeit impliziert. In diesem Sinne brauchen sie in einer vollständigen Beschreibung der Welt neben den monadischen Eigenschaften nicht einmal erwähnt zu werden. Die charakteristische Eigenschaft der Relationen, die Meinong als ideal bezeichnet, besteht eben darin, dass man das Bestehen bzw. NichtBestehen einer solchen Relation aus den monadischen Eigenschaften der (potentiellen) Glieder mit Notwendigkeit folgern kann. Sie sind deshalb „unabhängig von der Erfahrung, aus bloßen Vorstellungen“ der Glieder a priori zu erschließen.
only if there exist properties of the particulars which logically necessitate that the relation holds.“, Armstrong 1978, vol. 2, S. 85. Johansson betont jedoch, dass dieser Sprachgebrauch irreführend sein kann. Russell hat nämlich den Begriff der externen Relation in seiner Polemik gegen die holistische Position Bradleys eingeführt. Bradley behauptete, dass es nur interne Relationen gibt, in Wirklichkeit verstand er jedoch unter der Bezeichnung „intern“ viel mehr als nur eine Negation der Russellschen Externalität. Intern im Sinne Bradleys ist nämlich eine Relation, die bereits im Begriff eines ihrer Glieder enthalten ist. Eine solche Situation haben wir z.B. im Fall des Begriffs Schüler. Aufgrund des Begriffs können wir wissen, dass jeder Schüler eine Relation zum Lehrer involviert. Denn Schüler zu sein heißt ja, (von jemandem) gelehrt zu werden. Im Zusammenhang damit unterscheidet Johansson. drei Arten von Relationen, die er „internal“, „external“ und „grounded“ nennt. Er definiert: „D 8.1: x and y are internally related if and only if it is logically impossible for x and y to exist independently of each other.“, Johansson 1989, S. 120. „D 8.2: Rxy is an external relation if and only if it is logically possible that there exist a z and a w with exactly the same qualities (quality = substance or property) as x and y, respectively, but between which the relation R does not hold.“, Johansson 1989, S. 119. „D 8.3: Rxy is a grounded relation if and only if it is logically impossible for there to exist a z and a w with exactly the same qualities as x and y, respectively, but between which the relation R does not hold.“, Johansson 1989, S. 120.
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Am deutlichsten sieht man dies bei den zwei ersten Gruppen: bei den Vergleichungsrelationen und den Verträglichkeitsrelationen. Freilich muss man zu diesem Zwecke als Glieder (Fundamente) der Relation nicht die Attribute (wie es Meinong will), sondern die Gegenstände, die diese Attribute tragen, betrachten.21 Wenn man das aber tut, wird sofort klar, dass das Bestehen bzw. Nicht-Bestehen der Relation einzig und allein von den Attributen der jeweiligen Gegenstände abhängt.22 Man sieht auch, dass die Schwierigkeit, die es Meinong bereitete, die Gesetzmäßigkeit, die in der Kausalrelation involviert ist, auf eine Unverträglichkeitsrelation zu reduzieren, in erster Linie damit zu tun hat, dass uns die Kausalrelation eben als eine externe Relation erscheint. Dass zwischen A und B eine Kausalrelation besteht, sieht man nicht
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Es ist nicht klar, ob der Unterschied intern-extern bei den Eigenschaften noch einen Sinn macht. Einerseits kann man die Beziehungen zwischen Eigenschaften „als solchen“ (d.h. unabhängig von ihren Instantiierungen) natürlich nicht als kontingent bezeichnen. Das bedeutet aber zunächst nur, dass sie nicht zufällig sind. Wenn zwischen Eigenschaften F und G die Relation R besteht, dann ist es natürlich nicht möglich, dass ¬RF G. Ob man aber die Tatsache, dass RF G auch notwendig nennen darf, hängt davon ab, ob man in Bezug auf „reine“ Eigenschaften überhaupt sinnvoll von Notwendigkeit sprechen kann. Wir sind der Auffassung, dass man es nicht kann, denn die Beziehungen zwischen den Eigenschaften sind ja als eine Erklärung der Modalitäten konzipiert. Man sagt beispielsweise, dass es notwendig ist, dass (1) alles, was rot ist, auch farbig ist, weil (2) die Eigenschaft Röte die Eigenschaft Farbe enthält. Zu fragen, ob das Verhältnis des Enthaltenseins zwischen Röte und Farbe notwendig oder kontingent ist, wäre fehl am Platze. Denn ist es kontingent, dann fehlt uns die Erklärung der Notwendigkeit von (1). Ist es hingegen notwendig, dann stellt sich von neuem die Frage, wie die Notwendigkeit von (2) zu erklären ist. Mit anderen Worten lässt sich dasselbe folgendermaßen sagen: Die Einführung von Eigenschaften und Beziehungen zwischen ihnen hat den Zweck, den modalen Diskurs über die Individuen zu extensionalisieren. Wenn nun diese Extensionalisierung lediglich dazu führen sollte, dass man die modalen Operatoren auf der Ebene der Eigenschaften wieder einführt, hätten wir es bloß mit einer Verschiebung des Problems zu tun. Es scheint also, dass die Rede von notwendigen und kontingenten Relationen zwischen Eigenschaften „als solchen“ doch keinen ontologischen Sinn macht. 22 Und wenn man darauf besteht, dass die Fundamente der Relation doch die entsprechenden Attribute sind, dann folgt auf jeden Fall das Bestehen (bzw. NichtBestehen) einer idealen Relation aus dem, was man den „ontologischen Gehalt“ oder die „absolute Natur“ des entsprechenden Attributs nennen kann (d.h. aus dem, was z.B. die rote Farbe eben zur roten Farbe macht).
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aufgrund der Betrachtung von A und B allein. Man muss empirisch das regelmäßige Zusammentreffen von A und B feststellen, um danach die Hypothese formulieren zu können, dass es zwischen A und B eine entsprechende Kausalbeziehung gibt, die dieses regelmäßige Zusammentreffen erklärt. Das heißt aber, dass die Kausalrelation aus den monadischen Eigenschaften von A und B nicht deduzierbar ist. Sie ist, mit anderen Worten, keine interne Relation. Noch lehrreicher ist jedoch der Ausweg aus dieser Schwierigkeit, den uns Meinong vorschlägt. Meinong behauptet nämlich nichts weniger, als dass die Kausalrelation letzten Endes doch eine interne Relation ist, und dass wir dies lediglich deswegen nicht sehen, weil wir die wahren Fundamente der Relation nicht kennen. Die Kausalrelation besteht nämlich nicht zwischen den Vorstellungsinhalten, die wir gegeben haben, sondern zwischen den Dingen, auf die wir uns „durch“ diese Inhalte beziehen. Die eigentlichen Fundamente der Kausalrelation sind uns also nicht gegeben (Meinong 1882, S. 152); und hätten wir sie wirklich vor Augen, würden wir auch die entsprechende Unverträglichkeitsrelation mit Evidenz sehen. Dass die Eigenschaft, die die von Meinong als real bezeichneten Relationen auszeichnet, eben darin besteht, dass sie externe Relationen sind, ist ebenfalls einfach zu sehen. Betrachten wir zunächst die intentionale Relation zwischen dem psychischen Akt und seinem Objekt. Ein Objekt zu haben, ist zwar ein Definitionsmerkmal des Psychischen, aber die Zuordnung eines bestimmten Objekts zu einem bestimmten Akt ist dadurch noch nicht gewährleistet. In einem psychischen Akt gibt es, wenn wir ihn „als solchen“ (d.h. in Abstraktion von seinem Objekt) betrachten, nichts, was implizieren würde, dass er sich gerade auf dieses und nicht auf ein anderes Objekt bezieht. Denn nach der Theorie Brentanos, der Meinong hier folgt, gibt es im Akt keinen zusätzlichen, vom immanenten Objekt verschiedenen Inhalt, der die intentionale Beziehung bestimmen würde. Inhalt ist dasselbe wie immanentes Objekt bzw. Vorstellungsobjekt. Es gibt keine zusätzliche Struktur, die die Relation zwischen dem Akt und seinem Objekt fixieren würde. Das heißt aber, dass die Relation Akt-Objekt als eine externe Relation zu betrachten ist. Auch im Fall der Relation der mentalen Motivation, die Meinong versuchsweise als einen weiteren Fall einer realen Kausalrelation erwägt, besteht der Unterschied zu den idealen Relationen genau darin, dass man
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hier offensichtlich keine interne Beziehung stipulieren kann. Der Hauptunterschied zur Kausalität, die zwischen den Außendingen besteht, liegt nämlich darin, dass wir bei einer mentalen Motivation beide Glieder der Kausalbeziehung in einer (unfehlbaren) inneren Wahrnehmung gegeben haben. Der alte Ausweg, dass uns die wahre Natur der Fundamente verborgen bleibt, kommt hier also nicht in Frage. Trotzdem sehen wir aufgrund der bloßen Fundamente keine Unverträglichkeitsrelation, und das heißt, dass es keine solche Unverträglichkeitsrelation gibt. Wenn es also zwischen den psychischen Phänomenen wirklich eine derartige mentale Motivation gibt, dann muss sie eine externe Relation sein. Die Interpretation der Unterscheidung real-ideal, die wir hier vornehmen, wird auch dadurch gestützt, dass die Relationslehre, die Franz Brentano in seinen Logikvorlesungen aus der Zeit 1884/85 vertritt, mit einem Unterschied operiert, der sich ähnlich interpretieren lässt. Brentano spricht dort von den realen und nicht-realen Relationen, und wir haben an einem anderen Ort (Chrudzimski 2004, Kap. 4.3) gezeigt, dass dieser Unterschied ebenfalls dem Unterschied extern-intern entspricht. Zu den realen Relationen rechnet Brentano die von Meinong vernachlässigten Beziehungen, die zwischen den abstrakten Teilen eines individuellen Gegenstands bestehen und so seine innere Struktur konstituieren. Es handelt sich um die Relationen zwischen den, wie sie Brentano nennt, metaphysischen und logischen Teilen eines Gegenstands. (Brentano EL 72, S. 218–220) Ein metaphysischer Teil eines Gegenstands ist jede seiner Eigenschaften, die Brentano als einen individuellen abstrakten Aspekt betrachtet. Es handelt sich also um so etwas wie eine bestimmte Abschattung von Grün oder eine absolut bestimmte räumliche Position. Ob solche Aspekte in einem individuellen Konkretum vereinigt sind, lässt sich, argumentiert Brentano, aus der „Natur“ dieser Aspekte nicht deduzieren. Im ontologischen Aufbau jedes individuell-konkreten Gegenstands findet sich also eine externe, diesen Gegenstand vereinigende Relation. Die logischen Teile eines Gegenstands sind Begriffe, unter welche der Gegenstand fällt. Solche Begriffe bilden eine Hierarchie von aufsteigender Allgemeinheit. Ein roter Apfel ist z.B. etwas, was diese-und-diese Abschattung der roten Farbe hat, aber er ist auch etwas Rotes und
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etwas Farbiges. Dass in diesem Gegenstand der logische Teil Farbe mit dem logischen Teil Röte und dieser wieder mit dem logischen Teil Röte von dieser-und-dieser Abschattung vereinigt wird, lässt sich ebenfalls aus der Natur dieser logischen Teile nicht deduzieren. Die vereinigende Relation, die von der Allgemeinheit zur Spezifizierung führt, ist hier also wieder extern. Die umgekehrte Relation, nämlich die von den weniger allgemeinen zu den allgemeineren Teilen, ist allerdings wohl intern: Eine Röte von dieser-und-dieser Abschattung muss ja sicherlich sowohl eine Röte als auch eine Farbe sein. In seinen Vorlesungen zur Deskriptiven Psychologie (1890/91) sagt Brentano deswegen, dass die allgemeineren logischen Teile von den weniger allgemeinen „einseitig ablösbar“ sind. (Brentano 1982, 12–27) Eine ungefähre Entsprechung dieser Relationen kann man vielleicht in den Relationen zwischen den Teilinhalten eines Inhaltskomplexes finden, die Meinong ebenfalls als eine reale Relation betrachtet. Meinong sagt dazu aber zu wenig, als dass man diese Analogie weiterentwickeln könnte. Wie viel der junge Meinong hier von seinem Meister übernommen hat, ohne die Quelle anzugeben, lässt sich nicht sagen. Er war gewiss durch die Lehre Brentanos tief beeinflusst, und der alte Brentano klagte oft in seinen Briefen, dass der junge Meinong in seiner frühen Relationslehre manche Ideen aus seinen Logik-Vorlesungen „geklaut“ habe. Es ist aber durchaus nicht ausgeschlossen, dass auch ein Teil seiner Ergebnisse aus den Jahren 1877–1882 in die Vorlesungen Brentanos eingeflossen ist, was der alte Meister sicherlich nie zugegeben hätte.23 Die Idee der realen Beziehungen, die zwischen den Fundamenten einer idealen Relation und der Relation selbst bestehen müssen, wenn die Relation einmal ins Leben gerufen wird, die Meinong in seinen Hume Studien II präsentiert, ist ein sehr wichtiger Punkt, der die weitere Entwicklung seiner Relationslehre tief geprägt hat. Ein kurzes Nachdenken zeigt nämlich, dass eine konsequente Entwicklung dieser Idee zu einem Bradley’schen Regress von immer
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Zu den recht patriarchalischen Verhältnissen in der Brentano-Schule vgl. Simons 2004a, S. 15–17.
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neuen Relationen führen muss. Im Jahre 1899 nimmt Meinong tatsächlich einen solchen Regress in Kauf, und 1902 glaubt er, ihm durch seine Lehre von den propositionalen Entitäten entweichen zu können. Die Klassifikation der Relationen, die sich aus Meinongs Hume Studien II ergibt, sieht damit folgendermaßen aus:
Relationen
reale Relationen (extern)
ideale Relationen (Vorstellungsrelationen) (implizit oder explizit intern)
[?] intentionale Relation (Akt-Objekt)
Relation zwischen den Teilen eines Vorstellungskomplexes
Relation: RelationFundamente
primäre ideale Relationen
Vergleichungsrelationen gleich - ungleich
Verträglichkeitsrelationen
Relation der mentalen Motivation
sekundäre (abgeleitete) ideale Relationen
Kausalrelationen
Identität
Diese Relationen resultieren aus den Zusammensetzungen von Vergleichungsund Verträglichkeitsrelationen zusammen mit den Existenzannahmen Ähnlichkeitsrelation (=partielle Gleichheit)
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kapitel 2 4. Die unreduzierbare Ähnlichkeitsrelation
Wie wir gesehen haben, reduziert Meinong in seinen Hume Studien II die Relation der Ähnlichkeit auf die Relation der partiellen Gleichheit, wobei wir nicht vergessen dürfen, dass Meinongs Ähnlichkeit immer der nichtstrengen Ähnlichkeit der zeitgenössischen Tropenontologie entspricht, während seine Gleichheit als strenge Ähnlichkeit zu verstehen ist. Hellrot und Dunkelrot sind einander ähnlich, weil sie in ihrem Teil Rot gleich sind; Rot und Grün sind einander ähnlich, weil sie in ihrem Teil Farbe gleich sind usw. Franz Brentano behandelte solche Strukturen unter dem Namen logische Teile. Diese Erklärung zwingt uns zwar nicht automatisch dazu, die Teile der Inhalte, in denen die entsprechenden Attribute gleich sein sollen, als genuine Universalien zu betrachten. Wir können annehmen, dass jede individuelle Eigenschaft eine verschachtelte Struktur der logischen Teile enthält, die zu den logischen Teilen der anderen individuellen Eigenschaften gegebenenfalls wieder in der Relation der strengen Ähnlichkeit stehen, was durch das folgende Bild illustriert werden kann:
nicht-strenge Ähnlichkeit Röte der Abschattung 2
Röte der Abschattung 1 strenge Ähnlichkeit
Röte
Röte
Farbe
Farbe strenge Ähnlichkeit
A
B
Zwei konkrete Individuen, A und B, sind ähnlich. Sie sind beide rot. Die ontologische Erklärung dieser Tatsache liegt darin, dass A und B individuelle Eigenschaften haben, die einander ähnlich sind. Die Ähnlichkeit der Eigenschaften, mit der wir es hier zu tun haben, ist aber
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keine strenge Ähnlichkeit (in Meinongs Wortgebrauch: keine Gleichheit). A und B sind beide rot, ihre Farben haben allerdings verschiedene Abschattungen. Das bedeutet, dass die individuellen Eigenschaften Röte der Abschattung 1 und Röte der Abschattung 2 verschieden sind. Dass sie trotzdem zu einem gewissen Grad ähnlich sind, folgt daraus, dass zwischen ihren logischen Teilen (Röte und Farbe) das Verhältnis der strengen Ähnlichkeit (Meinongs Gleichheit) besteht. Auch die logischen Teile können also als individuelle Entitäten betrachtet werden. Es ist aber unübersehbar, dass die in dieser Weise modifizierte Ontologie der individuellen Eigenschaften zunehmend an Plausibilität verliert.24 Die Attraktivität der Tropenontologie liegt nämlich größtenteils daran, dass die individuellen Eigenschaften, von denen sie spricht, sehr „handgreiflich“ zu sein scheinen. Die Tropen erscheinen uns fast wie konkrete Dinge. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ein Tropus sozusagen nur „eine Seite“ eines Konkretums bildet (und somit eben abstrakt ist). Das hängt jedoch damit zusammen, dass wir uns die individuellen Eigenschaften eben als bis zur letzten Kleinigkeit bestimmte Aspekte der individuellen Dinge vorstellen. Wenn wir jetzt aber „innerhalb“ der Tropen auch unvollständig bestimmte abstrakte Individuen wie Röte oder Farbe unterscheiden müssen, verlieren wir dieses intuitive Bild. Es fragt sich, inwiefern solche logischen Teile noch als Individuen zu bezeichnen wären und ob es nicht besser wäre, gleich genuine Universalien einzuführen. Denn die verschachtelte Struktur, die man hier postuliert, bildet natürlich das genaue Spiegelbild der Hierarchie der Allgemeinheiten immer höherer Stufe, die wir in fast allen realistischen Ontologien finden. Die logischen Teile sind also für einen Philosophen, der gegenüber Universalien eher skeptisch ist, schon aus diesem Grund höchst fragwürdig. Meinong zeigt aber, dass sie auch aus einem anderen Grund problematisch sind. Schon in den Hume Studien II bemerkt er, dass man im Fall der Qualitäten, die ein Kontinuum bilden, wie z.B. Farben oder Töne, bei
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Wir finden solche Teile auch in keiner der zeitgenössischen Versionen der Tropentheorie.
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einem solchen Erklärungsmodell mit einer unendlichen Komplizierung rechnen muss: „Nehmen wir bei Blau und Rot ein gemeinsames Element (oder mehrere) an, das dem Worte Farbe entspricht, so wird man dasselbe bezüglich der verschiedenen Schattierungen von Blau tun können, die ja alle das gemeinsame haben, Blau zu sein. In gleicher Weise lassen sich innerhalb der verschiedenen Schattierungen allgemeine Abstufungen statuieren, ebenso innerhalb dieser Abstufungen selbst usf. in infinitum [ ].“ (Meinong 1882, S. 76)
Es scheint also, dass jeder Tropus in Wirklichkeit eine kontinuierliche Hierarchie von logischen Teilen enthalten müsste. Wenn man das vermeiden will, muss man eine Relation der Ähnlichkeit einführen, die sich nicht auf die partielle Gleichheit der logischen Teile reduzieren lässt. In den Hume Studien II lässt Meinong dieses Problem beiseite (vgl. Meinong 1882, S. 76–78), aber in der Abhandlung Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung (1888/89) plädiert er ausdrücklich für eine solch unreduzierbare Ähnlichkeitsrelation. Die allgemeinen Begriffe erhalten wir, so behauptet er jetzt, nicht nur durch eine Abstraktion, die als eine Konzentration der Aufmerksamkeit verstanden werden kann. In dieser Weise können wir wohl eine bestimmte Gestalt von einer bestimmten Farbe in Gedanken abtrennen, wodurch wir ein abstraktes Individuum (einen Tropus) erhalten; wenn wir aber in einer roten Farbe einer bestimmten Abschattung nichts weiter als eine Farbe sehen wollen, können wir das nicht durch ein solches Hervorheben eines Teils dieser Farbe tun, und zwar deswegen nicht, weil eine bestimmte Farbe keine derartigen Teile enthält. (Meinong 1888/89, S. 116) Die Bildung eines allgemeinen Begriffs wie Röte oder Farbe erfolgt also nach einem anderen Prinzip als dem einfachen Außer-Acht-Lassen von irrelevanten Teilen. In jedem solchen Begriff ist eine Bezugnahme auf einen paradigmatischen Fall und eine Ähnlichkeitsrelation von entsprechender Strenge involviert. Solche allgemeinen Begriffe lassen sich also, wie Meinong sagt, nicht direkt durch ihren Inhalt, sondern erst auf einem Umweg über ihren Umfang bestimmen. „Rot lässt sich nicht definieren, wenigstens nicht im gewöhnlichen Sinne. Nur ein Umweg über den Umfang führt hier zum Ziele: Abgrenzung des letzteren ist das einzige, aber ausreichende Fixierungsmittel, indem diese Begrenzung nun selbst in
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den Begriffsinhalt angenommen wird: rot ist eben dasjenige, was zwischen diesen und diesen Grenzen liegt, wohl auch, was einem gewissen mittleren Rot innerhalb der bestimmten Grenzen ähnlich ist.“ (Meinong 1888/89, S. 126)
Dieser Theorie liegt ein bestimmter Begriff eines ein-dimensionalen Kontinuums zugrunde. Elemente, wie Farben, Töne oder räumliche Positionen, bilden ein solches Kontinuum, wenn sie alle durch eine graduell abstufbare Ähnlichkeitsrelation geordnet sind. Was für diese Ähnlichkeitsrelation charakteristisch ist, ist die Tatsache, dass man für je zwei Elemente eines Kontinuums a und b (a = b) immer ein drittes Element c finden kann, so dass die relevante Ähnlichkeit zwischen a und c und zwischen c und b größer ist als die Ähnlichkeit zwischen a und b. Diesen Kontinuumsbegriff vorausgesetzt kann Meinong behaupten: „[W]er an Farbe denkt, legt diesem Gedanken möglicherweise ganz denselben Inhalt zugrunde als der, welcher an Rot denkt; was aber entfällt, sind die Ähnlichkeitsgrenzen, wenigstens innerhalb des Kontinuums, dem die Vorstellung angehört.“ (Meinong 1888/89, S. 126)
Die Theorie der Begriffsbildung, die uns Meinong hier präsentiert, zielt offenbar darauf ab, die Brentano’schen logischen Teile als entbehrlich wegzuerklären. Solange wir als semantischen Inhalt jedes Begriffs einen bestimmten Teil des entsprechenden Vorstellungsinhalts brauchen, müssen wir im Fall von Begriffen wie Rot oder Farbe, wie es scheint, Gegenstände ernst nehmen, die sehr an Universalien erinnern. Wenn wir uns aber erlauben, mit der abstufbaren, primitiven Ähnlichkeitsrelation in einem entsprechenden Kontinuum zu operieren, können wir unsere sonstige Ontologie auf die völlig bestimmten individuellen Attribute (die Brentano metaphysische Teile nennt) beschränken. Und in der Tat, in der Abhandlung Phantasie-Vorstellung und Phantasie (1889) lesen wir, dass man zwei verschiedenen Gegenständen dieselbe Farbe nur in jenem „laxen Sinne“ zuschreiben kann, in dem man manchmal in Bezug auf zwei verschiedene Subjekte von derselben Vorstellung spricht. (Meinong 1889, S. 211) Wie bei vielen Aspekten der frühen Lehre Meinongs wird auch hier der Einfluss Humes sehr deutlich. Der Übergang von den logischen Teilen zur primitiven Ähnlichkeitsrelation entspricht im Grunde der Kontroverse zwischen Locke und Hume über allgemeine Begriffe. Locke
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hat bekanntlich von abstrakten Ideen gesprochen, die durch das Abstraktionsvermögen aus individuellen Ideen gewonnen werden können. Die Lehre war weder ganz klar noch von Locke eindeutig formuliert, und Hume hat sie überhaupt nicht gefallen. Hume, der sich in seiner Theorie der allgemeinen Begriffe auf die Ideen Berkeleys stützte (vgl. Berkeley 1710, S. 224 f.), versuchte zu zeigen, wie man die Allgemeinheit unserer Gedanken ohne Rekurs auf solche dubiosen abstrakten Ideen erklären kann. Die Auffassung Humes gehört zu den cartesianischen Theorien, in denen die Brentano’sche Unterscheidung Akt-Objekt noch nicht systematisch durchgeführt ist. Deshalb sind oft, wenn Hume von „impressions“ oder „ideas“ spricht, gewissermaßen zugleich der psychische Akt und sein Objekt gemeint. Wenn wir jedoch die Theorie Humes einem der Schemata der intentionalen Beziehung, die wir hier skizziert haben, zuordnen möchten, so spricht viel dafür, sie als eine Objekt-Theorie zu klassifizieren. Die Hume’schen impressions und ideas scheinen in erster Linie als Objekte zu fungieren, die vor unserem geistigen Auge stehen. Auf jeden Fall teilt er die psychischen Phänomene in impressions und ideas auf, und seine berühmte These lautet, dass (i) alle impressions absolut individuell (d.h. absolut bestimmt) sind und dass (ii) alle ideas entweder direkte Kopien dieser impressions darstellen oder aus solchen Kopien zusammengesetzt werden. (Vgl. Hume 1739/40, Vol. I, S. 314) Die Konsequenz dieser Lehre ist, dass alles, was wir vor dem geistigen Auge haben können, individuell bestimmt sein muss. Wie sind aber in diesem Fall allgemeine Begriffe möglich? Sollen wir sie als eine merkwürdige Täuschung interpretieren? Gewissermaßen ist dem so. Alle begrifflichen Elemente sind bis zur letzten Differenz bestimmt. (Vgl. Hume 1739/40, Vol. I, S. 326) Allgemein sind in Wahrheit nicht unsere Begriffe, sondern vielmehr unsere Worte, und zwar in dem Sinn, dass mit einem Wort eine Tendenz assoziiert ist, verschiedene ideas, die in relevanter Hinsicht ähnlich sind, vor unserem geistigen Auge erscheinen zu lassen. (Vgl. Hume 1739/40, Vol. I, S. 328) Die Theorie Meinongs, die die Möglichkeit allgemeiner Begriffe nicht durch das Postulat der logischen Teile, sondern durch Einbeziehen der Ähnlichkeitsrelation zwischen individuellen Tropen erklärt, gehört klarerweise zur Hume’schen Familie.
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Die Ontologie der Eigenschaften, die man auf diese Weise schließlich bekommt, sieht also folgendermaßen aus: In der Welt gibt es keine unvollständig bestimmten Eigenschaften (keine logischen Teile), gleich ob sie als Universalien oder als unvollständige individuelle Eigenschaften zu interpretieren wären. Es gibt nur Tropen, die ex definitione vollständig bestimmt sind. Streng genommen gibt es also keinen Röte-Tropus. Es gibt nur Tropen der absolut bestimmten Abschattungen der roten Farbe. Solche Tropen können durch die Relation der strengen Ähnlichkeit in Eigenschaftsmengen geteilt werden, so dass man die Identität der Eigenschaften zunächst als strenge Ähnlichkeit von Tropen definieren kann. Zwei mereologisch disjunkte Dinge haben eine gemeinsame Eigenschaft genau dann, wenn zwischen zwei Tropen, die zu diesen zwei Dingen gehören (und die deshalb numerisch verschieden sein müssen), die Relation der strengen Ähnlichkeit besteht. Es gibt damit nur die absolut bestimmten Eigenschaften. Der Behauptung, dass zwei Tomaten rot sind, können wir bisher noch keinen klaren Sinn geben. Das können wir erst dann machen, wenn wir neben der Relation der „strengen“ Ähnlichkeit Relationen der „lockeren“ Ähnlichkeit (der Ähnlichkeit zu einem bestimmten Grad) als ontologisch primitive Elemente akzeptieren. Die allgemeineren Eigenschaften können in diesem Fall als Klassen von Tropen, die einem paradigmatischen Fall zumindest im Grad G ähnlich sind, definiert werden.25 5. Vorstellungsproduktion, Komplexionen und Relationen Weitere Schritte in seiner Relationslehre machte Meinong in den Abhandlungen Phantasie-Vorstellung und Phantasie (1889) und in der Rezension des berühmten Aufsatzes von Christian von Ehrenfels Über Gestaltqualitäten (Ehrenfels 1890), die Meinong 1891 unter dem Titel Zur Psychologie der Komplexionen und Relationen publizierte. Im erstgenannten Aufsatz versucht Meinong, den Begriff der Phantasie so zu definieren, dass die Verbindung mit der freien konstruktiven Aktivität, die die Umgangssprache mit diesem Wort assoziiert, erhalten
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Das ist auch der Weg, der in den zeitgenössischen Versionen der Tropentheorie üblicherweise vorgeschlagen wird.
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bleibt. Das führt ihn zur Untersuchung von komplexen psychischen Akten und ihren Inhalten. Die erste wichtige Gegenüberstellung besteht zwischen den passiv gegebenen Inhalten und den Produkten einer Aktivität des Subjekts. Auf der Seite der passiven Gegebenheiten haben wir vor allem äußere Wahrnehmungen. Eine solche Wahrnehmung – Meinong wiederholt hier die Lehre Brentanos – besteht aus einer Vorstellung, auf die sich ein positives Existenzurteil aufbaut. Der Inhalt (das Vorstellungsobjekt) einer solchen Vorstellung ist ein Konkretum, das zumindest aus einem Qualitäts-Aspekt, einem Raum-Aspekt und einem Zeit-Aspekt besteht. Die Inhalte der äußeren Wahrnehmung sind also raum-zeitlich lokalisierte Qualitäten. Bei Brentano hießen solche äußeren Wahrnehmungen Empfindungen (Brentano 1982, S. 83–85); Meinong will dieses Wort aber für einfache Phänomene reservieren. Nur ein Teil einer Wahrnehmungsvorstellung, der einen einzigen Aspekt des Inhalts (d.h. z.B. nur den Farbe-Aspekt) präsentiert, darf nach Meinong „Empfindung“ genannt werden. Solche Empfindungen involvieren immer noch die grundlegende Gegenüberstellung Akt-Inhalt, sie sind jedoch insofern einfach, als ihre Inhalte (Objekte) nicht weiter zerlegbar sind. (Meinong 1888/89, S. 113) Dass die Empfindungsinhalte tatsächlich einfach sind, kann Meinong behaupten seit er, wie wir oben gesehen haben, auf die logischen Teile solcher Inhalte um den Preis einer unreduzierbaren Ähnlichkeitsrelation verzichtet hat. Solche Empfindungen treten allerdings nie isoliert auf. Was wir in einer Wahrnehmungsvorstellung gegeben haben, ist ein zusammengesetztes Konkretum, in dem die durch Empfindungen präsentierten einfachen Inhalte als Aspekte eines Gegenstands verbunden sind. Durch eine Abstraktion können wir zwar solche Aspekte aus dem Ganzen des Gegenstands isolieren, so isoliert fungieren sie aber nicht mehr als Empfindungsinhalte (sondern eben als Abstrakta). Man darf also, konstatiert Meinong, einen Empfindungsinhalt als solchen streng genommen weder als konkret noch als abstrakt bezeichnen. Diese Unterscheidung hat in diesem Fall einfach keine Anwendung. (Meinong 1888/89, S. 184; Meinong 1889, S. 234) Unter den passiv gegebenen Inhalten haben wir also einerseits die einfachen Empfindungsinhalte, andererseits die aus ihnen zusammengesetzten Konkreta. Ein solches Konkretum reduziert sich aber nicht auf
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ein Zusammentreffen von dafür erforderlichen Empfindungsinhalten. Man braucht auch eine besondere Relation, die diese Inhalte verbindet. Die Notwendigkeit einer solchen Relation wird klar, sobald wir bemerken, dass wir solche Aspekte nicht nur als in einem Gegenstand vereinigte, sondern auch als zu verschiedenen Gegenständen gehörige vorstellen können. Wir können die schwarze Farbe S zusammen mit einer bestimmten Gestalt G vorstellen, so dass wir eine schwarze Vase vor Augen haben; wir können aber auch die schwarze Farbe S (einer Katze) neben der Gestalt G (einer weißen Vase) vorstellen. Was diese zwei Situationen voneinander unterscheidet, ist eben die Anwesenheit oder das Fehlen einer besonderen Relation, die die Aspekte S und G verbindet. (Meinong 1889, S. 207) Wie wir sehen, begegnen wir hier wieder jener wichtigen Relation zwischen den „Teilinhalten“, auf die wir schon in den Hume Studien II und in Brentanos Logik-Vorlesungen [EL 72] aufmerksam gemacht wurden. Neben solchen komplexen Gegenständen, auf die wir uns in der äußeren Wahrnehmung beziehen, gibt es aber auch andere zusammengesetzte Inhalte (Komplexionen), die nicht in einer solchen passiven Weise gegeben sein können. Es handelt sich dabei um Inhalte, die vom Subjekt aktiv erzeugt (produziert) werden müssen. Meinong schreibt: „Stelle ich ein rotes Viereck vor, so befinden sich Bestandstücke [ ] in der Komplexion ganz eigener Art, die nicht etwa einfach dadurch gegeben ist, dass ich zugleich Rot und Viereckig denke. Auch wenn ich einige Objekte in der Vorstellung zu einem Paare, einer Gruppe, oder auch schon, wenn ich mehrere Eigenschaften eines Dinges zusammenfasse, liegen Komplexionen von charakteristischer Form vor, die von dem einfachen Nebeneinanderbestehen von Inhalten im Bewusstsein leicht genug unterschieden sind. Ein Vergleich der zwei hier nebeneinander gestellten Komplexionfälle aber zeigt deutlich, dass der Vorstellende im zweiten Falle etwas selbst dazutun muss, was im ersten Falle kein Gegenstück findet. Es ist an mir, die betreffenden Bestandstücke zusammenzufassen, und erst diese Tätigkeit, für welche übrigens natürlich in der Sachlage Motive erforderlich sein werden, lässt aus dem einzelnen die Gruppe oder wie das betreffende Ganze sonst heißen mag, entstehen. Zu jener so außerordentlich innigen Verbindung dagegen, die zwischen Farbe und Gestalt stattfindet, kann ich von Hause aus nichts beitragen, ich finde sie vor und nehme sie wahr wie etwa den Inhalt Rot selbst. Diese Verschiedenheit rechtfertigt eine Einteilung der Vorstellungskomplexionen in erzeugbare und vorfindliche: erstere dürfen in erster Linie sämtlich sich als Fälle von Zusammenfassung und Vergleichung erweisen lassen, indes innerhalb der vorfindlichen Komplexionen sich größere Mannigfaltigkeit zeigt, indem z.B. auch
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die zeitliche Bestimmtheit aller, die örtliche Bestimmtheit der physischen Inhalte, die Verbindung der verschiedenen Stellen im subjektiven Zeit- wie im subjektiven Ortskontinuum u.a. Fälle dieser Gruppe repräsentieren.“ (Meinong 1889, S. 207)
Die Unterscheidung von zwei Arten zusammengesetzter Inhalte, die Meinong hier macht, hat für die weitere Entwicklung seiner Philosophie sehr große Bedeutung. Zum einen fokussiert Meinong sein Interesse explizit auf die „Produktion“ der komplexen Gegenstände, die später unter dem Namen der „Gegenstände höherer Ordnung“ intensiv untersucht werden. Es sind eben diese Gegenstände, die die ganze ontologische Komplexität von Entitäten, auf die sich unsere intentionalen Beziehungen richten, wie auch ihre verhältnismäßig große Unabhängigkeit von derjenigen Schicht der Welt, die man üblicherweise mit der Realität gleichsetzt, deutlich machen; und es sind eben diese Themen, die für die spätere Entwicklung der Gegenstandstheorie Meinongs entscheidend werden. Zum anderen wird hier auch deutlich, dass selbst in den passiv gegebenen Gegenständen der äußeren Wahrnehmung die unreduzierbaren Relationen stecken, die erst die Integrität des Wahrgenommenen gewährleisten. Die ontologische Kategorie der Relationen erweist sich also in jedem Fall als nicht so sehr auf die Aktivität des Subjekts angewiesen wie es Meinong noch zur Zeit der Hume Studien geglaubt hat. Das legt es nahe, die These der besonderen Unselbstständigkeit der Relationen neu zu überdenken, was Meinong in seiner gegenstandstheoretischen Periode tatsächlich tun wird. Die subjektivistische Auffassung von Relationen wird übrigens umso verdächtiger, als Meinong eine wichtige These der Korrelativität zwischen den Komplexionen und Relationen aufstellt. Dies geschieht in seiner Rezension des berühmten Aufsatzes Über Gestaltqualitäten von Christian von Ehrenfels. Jede Komplexion, sagt Meinong dort, involviert eine Relation, die ihre Bestandstücke verbindet, und jede Relation erzeugt eine Komplexion, für die die Fundamente der Relation die Bestandstücke bilden. „Relation kann nicht bestehen, wo nur ein Einfaches vorliegt: also keine Relation ohne Komplexion. Aber auch keine Komplexion, deren Bestandstücke nicht mindestens insofern zueinander und zur Komplexion als Ganzem in Relation stünden, dass sie eben Teile dieses Ganzen ausmachen. Es ist eben streng genommen der nämlicheTatbestand,
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der sich als Komplexion und als Relation präsentiert, je nach dem Standpunkte gleichsam, von dem aus derselbe betrachtet wird [ ].“ (Meinong 1891, S. 289 f.)
Wenn man den Begriff der Relation so weit fasst, dass eine Relation in jeder Komplexion involviert ist, sieht die Subjektivisierung dieser Kategorie besonders unplausibel aus. Die Behauptung, dass Relationen eine Kategorie bilden, die im besonderen Maße auf die kognitive Aktivität eines Subjekts angewiesen ist, würde ja jetzt bedeuten, dass auch alle Komplexionen eine solche besonders subjektive Kategorie bilden. Sollen wir also behaupten, dass das, was es wirklich gibt, nur einfache Elemente sind, und die ganze Komplexität der Welt (und zwar auch diejenige der wahrnehmbaren Dinge) durch eine unterschwellige Aktivität des Subjekts hineininterpretiert wird? Es ist sicherlich eine denkbare Position, allerdings nicht jene, die der späte Meinong vertreten wird. 6. Gestaltqualitäten In dem von Meinong rezensierten Aufsatz versucht Ehrenfels, eine besondere Klasse von Gegebenheiten der Erfahrung in den Griff zu bekommen. Es handelt sich um solche Gegenstände wie Melodie, Akkord oder räumliche Figur. Einerseits involvieren sie, schreibt Ehrenfels, mehrere Vorstellungsobjekte. Eine Melodie oder ein Akkord bestehen aus mehreren Tönen, eine räumliche Figur aus mehreren räumlichen Punkten. Andererseits bilden sie merkwürdige Einheiten, die sich von der bloßen Summe ihrer Teile deutlich zu unterscheiden scheinen. Ehrenfels bezieht sich auf Mach, der in seinen Beiträgen zur Analyse der Empfindungen (Mach 1886) auf solche Gebilde aufmerksam gemacht hatte. Für die Existenz solch „zusätzlicher Qualitäten“ spricht nach Mach die Tatsache, dass wir, wie es scheint, dieselbe Melodie in verschiedenen Tonlagen spielen können und dieselbe Figur in verschiedenen Teilen des Sehfeldes sehen können. Auch ist es für musikalisch Ungeübte viel leichter, bestimmte Intervalle zu reproduzieren, wenn sie sich diese innerhalb einer bekannten Melodie denken. Mach betont ferner, dass wir eine Melodie oder eine räumliche Figur scheinbar direkt „empfinden“, was heißen soll, dass wir zu diesem Zwecke keine konstruktive psychische Aktivität brauchen. Ehrenfels behauptet, dass es tatsächlich solche besonderen Qualitäten gibt, die als ihre Grundlage einen Komplex von Vorstellungsobjekten
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voraussetzen, die aber eindeutig etwas mehr sind als eine bloße Summe dieser Objekte. Er nennt sie Gestaltqualitäten und definiert sie zunächst folgendermaßen: „Unter Gestaltqualitäten verstehen wir solche positiven Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein von Vorstellungskomplexen im Bewusstsein gebunden sind, die ihrerseits aus voneinander trennbaren (d.h. ohne einander vorstellbaren) Elementen bestehen. – Jene für das Vorhandensein der Gestaltqualitäten notwendigen Vorstellungskomplexe wollen wir die Grundlage der Gestaltqualitäten nennen.“ (Ehrenfels 1890, S. 136)
Von derartigen Charakteristika haben zur gleichen Zeit auch Carl Stumpf und Edmund Husserl gesprochen. Stumpf behandelt sie in seiner Tonpsychologie unter dem Titel des „Verschmelzungsphänomens“, wobei es z.B. um die Verschmelzung von mehreren Tönen in einem Akkord geht, was zur Entstehung einer einheitlichen Qualität führt, die auf die Summe der Töne nicht reduzierbar ist (vgl. Stumpf 1890, S. 126, 128 ff.). Husserl nennt solche „Qualitäten zweiter Ordnung“ (Husserl 1891, S. 201) in seiner Philosophie der Arithmetik „figurale Momente“. (Vgl. Husserl 1891, S. 203.) Es war aber die Bezeichnung von Ehrenfels, die sich durchgesetzt hat. Nach dieser Definition wäre aber, so fährt Ehrenfels fort, jede Relation eine Gestaltqualität, und so könnte man vielleicht sagen, dass eine Melodie einfach aus der Relation von einzelnen Tönen zueinander besteht, was natürlich eine in ihrer Einfachheit sehr schöne Lösung wäre. Diese Lösung ist aber nach Ehrenfels schon deswegen unannehmbar, weil sie implizieren würde, dass man eine Melodie (die jetzt eine Relation sein soll) eigentlich nicht hören könnte. Außerdem würde man in diesem Fall auch die These der passiven Gegebenheit aufgeben müssen, denn, so die Überzeugung von Ehrenfels, jede Relation bedarf zu ihrer Präsentation einer besonderen psychischen Aktivität. (Ehrenfels 1890, S. 143) Die Gestaltqualitäten lassen sich also nicht mit der Relation gleichsetzen, die zwischen den Bestandteilen der Grundlage besteht. Ehrenfels nimmt daher an, dass sich jede Gestaltqualität zwar auf einer bestimmten Relation zwischen den Einzelelementen ihrer Grundlage aufbaut – wir können sagen, dass sie auf dieser Relation superveniert – , dass sie aber trotzdem nicht diese Relation ist, sondern eben eine besondere Qualität, die unter Umständen gesehen oder gehört werden kann.
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Er übernimmt auch die These Machs, dass solche Qualitäten völlig passiv, ohne irgendeine Aktivität des Subjekts entstehen. Wenn es manchmal scheint, dass wir uns „anstrengen“ müssen, um z.B. eine Melodie aus einem komplizierten musikalischen Werk zu destillieren, dann geht es nicht um die eigentliche Produktion der entsprechenden Gestaltqualität, sondern vielmehr um die Vervollständigung der Grundlage. (Vgl. Ehrenfels 1890, S. 151) In diesem konkreten Fall müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf diejenigen Töne richten, die die gesuchte Melodie bilden. Sobald wir dies erreichen, entsteht die Melodie „von selbst“. Meinong kritisiert in seiner Rezension einige Punkte dieser Lehre. Er ist schon mit der Bezeichnung „Gestaltqualitäten“ nicht zufrieden. Sie sei irreführend, indem sie nicht deutlich betone, dass die Gestaltqualitäten ihre ganze Existenz ihrer Grundlage verdanken. Besser wäre es deshalb, sie einfach fundierte Inhalte zu nennen, deren Vorstellungen fundierte Vorstellungen heißen sollten, da sie sich auf nicht-fundierten Vorstellungen aufbauen und somit in Bezug auf sie unselbstständig sind. (Meinong 1891, S. 288) Er kritisiert auch die These von Ehrenfels, „es müsse sich mit den fundierenden Inhalten stets auch der fundierte einstellen“ (Meinong 1891, S. 296). Nicht nur beim Vergleichen, sondern auch beim Hören einer Melodie müssen wir nach Meinong doch eine beträchtliche psychische Aktivität investieren. (Meinong 1891, S. 296 f.) In den drei Jahre später verfassten Beiträgen zur Theorie der psychischen Analyse (1894) schreibt Meinong, dass das Einzige, was uns zur Verfügung steht, um eine Melodie von der Summe ihrer Töne zu unterscheiden, entweder die involvierte Relation zwischen den Tönen oder ihre Komplexion (die diese Relation beinhaltet) ist. Da aber, wie schon mehrmals betont, dieselbe Melodie in verschiedenen Tonlagen gespielt werden kann, bleibt nur die Relation, die die gewünschte Rolle spielen kann. (Vgl. Meinong 1891, S. 323 f.) Ehrenfels’ Gestaltqualitäten werden also letztlich mit Relationen zwischen den fundierenden Inhalten identifiziert. In seiner Ehrenfels-Rezension wollte Meinong eine solche Auffassung noch nicht annehmen. Er nimmt die Bemerkung von Ehrenfels ernst, dass man eine Relation (im Gegensatz zu einer Melodie oder Figur) weder hören noch sehen kann (Meinong 1891, S. 294), und schreibt: „Wirklich sind ,Melodie‘ wie ,Gestalt‘ Namen für die Gesamtheit der betreffenden Fundamente nebst dem durch sie fundierten Inhalte; [ ].“ (Meinong 1891, S. 295)
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kapitel 2
Der Unterschied zwischen der Auffassung der Beiträge zur Theorie der psychischen Analyse und derjenigen der Ehrenfels-Rezension scheint nun darin zu bestehen, dass Meinong in seiner Rezension noch bemüht ist, dem Begriff der Gestaltqualität, so wie er von Ehrenfels bestimmt wurde, Rechnung zu tragen. In seinem Aufsatz betrachtete Ehrenfels Bezeichnungen wie „Melodie“ oder „Figur“ als philosophisch ernst zu nehmende referierende Terme. Eine Melodie ist dementsprechend das, was wir auf der Grundlage von mehreren Tönen hören, sie ist etwas, das sich uns in verschiedenen Tonlagen als identisch (bzw. gleich) präsentiert, und die Frage, ob es sich dabei um ein besonderes Vorstellungsobjekt handelt, macht auf jeden Fall einen guten Sinn. Diese Annahmen müssen aber nicht unbedingt richtig sein. Man kann die Problemsituation auch so beschreiben, dass wir in verschiedenen Tonkomplexen zunächst einen besonderen Aspekt bemerken, auf den wir uns beziehen, indem wir von derselben Melodie sprechen. Was wir zu erklären haben, ist also nicht die Natur eines besonderen Gegenstands, den man hören kann (die Frage lautete dann: Was ist eine Melodie?), sondern vielmehr, wie es dazu kommt, dass zwei Tonkomplexe, die aus verschiedenen Tönen bestehen, in dieser besonderen Weise „gleich“ sind (die Frage lautet diesmal: Was ist die Gleichheit der Melodie?). Auf die letztgenannte Frage kann man antworten, indem man die Gleichheit der Melodie als die Gleichheit der Relation, in der die Töne zueinander stehen, definiert, und es scheint, dass Meinong 1894 eben diese Lösung angenommen hat. Um den Einwand, dass man eine Relation doch nicht hören kann, muss man sich in jedem Fall nicht kümmern, denn es ist ja ohnehin klar, dass wir den Aspekt der Melodie nur auf der Grundlage der gehörten Töne bemerken können. 7. Der Objektivismus des jungen Meinong Wie wir gesehen haben, trägt die frühe Lehre Meinongs unverkennbar subjektivistische Züge. In seinen ontologischen Analysen glaubt er auch dort, von immanenten Inhalten sprechen zu müssen, wo man eigentlich Behauptungen über ontologisch unabhängige Gegenstände erwartet; und in seiner Relationslehre behauptet er wiederholt, dass die Relationen auf eine besondere psychische Aktivität des Subjekts angewiesen sind. Um als besondere
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Inhalte auftreten zu können, müssen sie erst in einem zusätzlichen psychischen Akt quasi erzeugt werden. Ähnlich ist es mit den mit Relationen korrelierten Komplexionen und Gestaltqualitäten, die letztlich mit Relationen zwischen den fundierenden Inhalten gleichgesetzt werden. Wir haben allerdings gesehen, dass dieser Subjektivismus nicht ganz konsequent ist. Meinong spricht auch von realen Relationen, die z.B. zwischen den psychischen Akten und ihren immanenten Objekten (Inhalten) selbst dann bestehen, wenn diese Akte und ihre Inhalte von niemandem explizit in Relation gesetzt werden.26 Er sagt auch gelegentlich, dass es Relationen zwischen realen Dingen selbst dann geben kann, wenn niemand diese Dinge vorstellt. Man muss freilich dazu sagen, dass die Rede von unabhängig von einer kognitiven Tätigkeit bestehenden Relationen beim jungen Meinong nicht ganz klar ist. Manchmal sagt er, dass es sich dabei eigentlich nicht um eine Relation, sondern lediglich um monadische Eigenschaften der entsprechenden Gegenstände handelt, die es ermöglichen, dass diese Gegenstände von einem Subjekt in die geeignete Relation gesetzt werden. Die Relationslehre des jungen Meinong ist also in dieser Hinsicht nicht ganz eindeutig. Es gibt aber einen wichtigen Sinn des Wortes „Objektivismus“, in dem der junge Meinong zweifelsohne ein Objektivist ist. Wenn er von Relationen, Komplexionen oder Gestaltqualitäten spricht, dann handelt es sich zwar um Inhalte, die im Allgemeinen in den speziellen psychischen Akten erzeugt werden müssen; diese erzeugten Inhalte befinden sich allerdings auf derselben gegenständlichen Ebene, auf der sich auch die fundierenden Inhalte befinden. Die Relation zwischen a und b ist etwas, was sich sozusagen zwischen a und b „vor den Augen“ des Subjekts befindet; und der Akt, der diese Relation erzeugt, operiert auf den Inhalten a und b. Im Besonderen protestiert Meinong vehement gegen Versuche, die Relationsinhalte als Produkte einer Reflexion auf die psychischen Akte, in denen die fundierenden Inhalte präsentiert werden, aufzufassen.27 (Vgl. Meinong 1891, S. 293, 296 f.; Meinong 1894, S. 331 f.) 26
Man muss aber hinzufügen, dass nach Brentanos Lehre der psychische Akt in der Korrelation mit seinem immanenten Objekt immer sein eigenes sekundäres Objekt bildet. 27 Solche Theorien haben Stumpf und Husserl für einige „formale“ Komplexionen, wie z.B. „Vielheit“, formuliert. Vgl. Stumpf 1890, S. 5, Husserl 1891, S. 69.
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kapitel 2
Dieser Objektivismus war für die weitere Entwicklung der Philosophie Meinongs von großer Bedeutung. Er machte es möglich, dass nach der „gegenstandstheoretischen Wende“, die um 1899 stattfand, beinahe alle Ergebnisse, die Meinong in seinen frühen psychologischen Untersuchungen erreicht hatte, direkt in die Gegenstandstheorie überführt werden konnten.
KAPITEL 3
INHALT UND GEGENSTAND. MEINONGS LEHRE UM 1900
Zwischen 1895 und 1900 hat Meinong seine Intentionalitätstheorie bedeutsam modifiziert. Er wendet sich vom Brentano’schen Modell und dem uneindeutigen Begriff des immanenten Objekts ab und plädiert für eine Theorie, die von einem eindeutig psychischen Inhalt und einem transzendenten, vom Subjekt unabhängigen Gegenstand spricht. Dieser Weg, der von der frühen Philosophie Meinongs zu seiner „reifen“ Gegenstandstheorie führt, wurde von Twardowski geebnet. 1894 erscheint dessen Abhandlung Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen, in der er Brentanos Lehre vom immanenten Objekt einer scharfen Kritik unterzieht. Die immanenten, von den psychischen Akten ontologisch abhängigen Zielentitäten, die Brentano eingeführt hat, seien ein Mythos. Das, worauf sich ein psychischer Akt normalerweise intentional richtet, ist ein transzendenter Gegenstand, der mit der psychischen Realität des Subjekts nichts zu tun hat. Zugegeben, der psychische Akt kann sich auf einen solchen Gegenstand nur dank seines Inhalts richten, ein solcher Inhalt fungiert allerdings nicht als Zielentität. Er gehört zur psychischen Realität, bildet – wie es Husserl später nannte – einen reellen Teil des psychischen Aktes. Die Einsicht, dass die Gegenstände, von denen man normalerweise denkt und spricht (d.h. die Gegenstände, auf die man sich intentional bezieht), nicht etwa immanente, von den psychischen Akten abhängige Entitäten, sondern transzendente, vom Subjekt unabhängige Dinge sind, scheint zwar recht banal zu sein; in der Brentano-Schule bedeutete sie dennoch eine kleine Revolution. Man darf nicht vergessen, dass die Tendenz, eine immanente Entität in die Zielposition des Aktes zu stellen, nicht bloß eine philosophische Extravaganz war. Sie resultierte aus der Art und Weise, wie das Rätsel der Intentionalität von Brentano erklärt wurde. Dass diese Erklärung trotz einiger kontraintuitiver Aspekte ihr gutes Recht hatte, wird klar, wenn man die Konsequenzen berücksichtigt, 103
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kapitel 3
die Twardowski und Meinong aus der Zurückweisung der immanenten Zielentitäten zogen. Unter diesen Konsequenzen befindet sich nämlich auch die Einführung von nicht-existierenden Gegenständen, was für manche sogar viel schlimmer klingen mag als die These, dass sich unsere intentionalen Akte ausschließlich auf immanente Entitäten beziehen.1 Die Unterscheidung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand der Vorstellungen ermöglichte es Meinongum um 1900, viele seiner Ideen beträchtlich klarer auszudrücken. Das betrifft neben den gegenstandstheoretischen Untersuchungen über Relationen und Komplexionen, die er jetzt Gegenstände höherer Ordnung nennt, auch seine Theorie der Abstraktion. 1. Twardowski über Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen (1894) Im ersten Kapitel haben wir die „mittlere“ Intentionalitätstheorie Brentanos mit ihrer charakteristischen Kategorie des immanenten Objekts (bzw. Inhalts) kennen gelernt. Wir haben gesehen, dass man in Brentanos publizierten Schriften, Vorlesungen und Manuskripten in Wahrheit sehr unterschiedliche Versionen dieser Lehre findet. Neben der einfachen und ontologisch wenig artikulierten Objekt-Theorie der Psychologie finden wir insbesondere die Theorie der Logik-Vorlesung [EL 80], die sowohl von immanenten als auch von transzendenten Objekten spricht. Im Fall einer „treffenden“ intentionalen Beziehung fungieren dabei die immanenten Objekte als eine Art Vermittler, die den intentionalen Zugang zu transzendenten Gegenständen ermöglichen. Wir haben diese Theorie die Objekt-Theorie mit zwei Objekten genannt, denn die immanenten Objekte scheinen dort, trotz ihrer im Grunde vermittelnden Funktion, doch in der Zielposition des Aktes zu stehen. 1
Wir behaupten aber keineswegs, dass die Unterscheidung zwischen dem psychischen Inhalt und dem transzendenten Gegenstand der Vorstellung à la Twardowski diese Konsequenz nach sich ziehen muss. Dass dem nicht so ist, beweist die Theorie, die Husserl in seinen Logischen Untersuchungen formuliert hat. Diese Theorie, die wir in diesem Kapitel noch besprechen werden, hat aber zur Folge, dass manche Akte buchstäblich „gegenstandslos“ (obwohl nicht inhaltslos) sind, was Brentano wahrscheinlich auch nicht akzeptieren würde.
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Es scheint, dass es diese Version der Brentano’schen Intentionalitätstheorie war, die durch seine Vorlesungen auf seine Schüler den größten Einfluss ausübte. Wir haben dies beim jungen Meinong klar beobachten können, und sie tritt auch sehr deutlich bei Anton Marty auf.2 Eine Unterscheidung von zwei Objekten, die sehr an die Theorie der Logik-Vorlesung erinnert, finden wir auch in dem 1890 erschienenen Buch Logik. Das Buch wurde hauptsächlich von Alois Höfler geschrieben; Meinong wird aber als Mitautor erwähnt.3 Die Intentionalitätstheorie, die dort entwickelt wird, spricht einerseits von einem „,in‘ uns“ bestehenden, psychischen Inhalt, der auch „das immanente oder intentionale Objekt“ genannt werden könne, und andererseits von einem „an sich“ bestehenden Gegenstand, auf den sich der psychische Akt richte. (Höfler 1890, S. 6–7) Der Inhalt wird auch als „das ,in‘ uns bestehende psychische ,Bild“‘ oder „quasi-Bild“ von dem äußeren, realen Referenzgegenstand charakterisiert. Es ist nicht ganz klar, wie ernst diese Bild-Metapher genommen werden darf, es sieht aber so aus, als ob man sich hier weiterhin an das Modell von zwei Zielentitäten klammert, das wir aus Brentanos Logik-Vorlesung kennen. Beide Autoren kannten diese Theorie zweifelsohne, so dass eine auf diese Quelle verweisende Fußnote an der entsprechenden Stelle der Logik sicherlich angemessen gewesen wäre. Wenn man aber in Höflers Rede vom „,in‘ uns bestehende[n] psychische[n] ,Bild“‘ nicht die Bild-Metapher sondern das Adjektiv „psychisch“ betont, kann man in dieser knappen Formulierung eine Vorahnung der Unterscheidung Twardowskis erkennen. (Vgl. Jacquette 1985/86, S. 178) Auch Twardowski selbst berichtet ja, dass er auf die Idee zu dieser Unterscheidung durch die Lektüre der Logik gekommen sei. (Twardowski 1894, S. 4) Die präzise Unterscheidung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand einer Vorstellung, so wie sie in den späteren Schriften Meinongs oder bei Husserl auftritt, wird dennoch gewöhnlich erst Twardowski zugeschrieben, und diese Interpretationspraxis hat ihre guten Gründe. Die Intentionalitätstheorie, die wir bei Höfler finden, bewegt 2
Vgl. dazu Marty 1894, S. 443 f.; Marty 1892, S. 145 f., 148 f., 155; Marty 1901, S. 233. Vgl. auch Chrudzimski 2001b. 3 In der zweiten Auflage des Buches wird hingegen nur Höfler als Autor genannt.
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kapitel 3
sich (von ihren Unklarheiten mal abgesehen) noch deutlich im Rahmen der Theorie der Logik-Vorlesung Brentanos. Sie spricht im Grunde von zwei Objekten, von denen eines zwar gelegentlich (wie auch bei Brentano) „Inhalt“ genannt wird, die aber beide als Zielentitäten fungieren. Erst in der Theorie Twardowskis wird dieses Bild deutlich geändert, so dass sich bei ihm das Wort „Inhalt“ letztlich auf etwas ganz anderes bezieht als bei Höfler. Erst Twardowski hat nämlich die Begriffe des Inhalts und des Gegenstands eines psychischen Aktes einer ausführlichen Analyse unterzogen und auf wichtige Zweideutigkeiten aufmerksam gemacht, die die ganze Brentano-Schule geplagt haben. Das Ergebnis dieser Analyse war die These, dass der Inhalt eines psychischen Aktes mit der Entität, auf die sich der Akt intentional richtet, eigentlich nichts zu tun hat. Der Inhalt fungiert als eine vermittelnde Struktur, und es ist deshalb äußerst irreführend, einen solchen Inhalt immanentes Objekt zu nennen. Die Intentionalitätstheorie Twardowskis kann also auf jeden Fall nicht als eine Objekt-Theorie mit zwei Objekten klassifiziert werden. Wir wollen uns aber die Argumentation Twardowskis etwas genauer anschauen. Wie viele andere philosophische Verwirrungen, so behauptet er, resultieren auch die Schwierigkeiten, die wir mit dem Begriff des immanenten Objekts (Inhalts) haben, aus gewissen Zweideutigkeiten der Umgangssprache, die wir in unserer philosophischen Analyse zwangsläufig verwenden. Das immanente Objekt eines psychischen Aktes soll das sein, was in diesem Akt vorgestellt wird. Das Problem besteht jedoch darin, dass man von dem, was vorgestellt wird, im zweifachen Sinne spricht. Twardowski erläutert diesen Unterschied durch einen Vergleich mit der Art und Weise, in der man von etwas, was gemalt ist, spricht. Nehmen wir an, wir stehen vor einem Bild, auf dem man eine Landschaft sieht. Ein Betrachter könnte nun mit gleichem Recht sagen, dass er (i) eine gemalte Landschaft, aber auch, dass er (ii) ein gemaltes Bild sieht. Der Sinn in dem man in diesen zwei Fällen vom „Gemalten“ spricht, ist aber völlig verschieden. Eine gemalte Landschaft ist streng genommen keine Landschaft. Eine gemalte Landschaft ist ein Bild. Das Wort „gemalt“ hat in diesem Fall eine modifizierende Funktion. Es modifiziert die nachfolgende nominale Phrase so, dass sie sich nicht mehr auf dasselbe Objekt bezieht, wie
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wenn sie nicht modifiziert wäre. So wie ein toter Mensch kein Mensch (sondern eine Leiche) ist, so ist auch ein gemalter Mensch kein Mensch, sondern nur ein Bild eines Menschen. Wenn man hingegen von einem gemalten Bild spricht, dann ist die Funktion, in der hier das Wort „gemalt“ verwendet wird, nicht modifizierend, sondern determinierend. Ein gemaltes Bild ist immer noch ein Bild. Was uns das Wort „gemalt“ sagt, ist nur, dass es sich dabei eben um ein gemaltes Bild und nicht etwa um eine Skizze oder eine Photographie handelt. Es gibt allerdings noch einen anderen Sinn, in dem man von einer gemalten Landschaft sprechen kann. Man kann nämlich diese Bezeichnung auch in Bezug auf eine Landschaft verwenden, die von jemandem in einem Bild malerisch dargestellt wurde. Der Sinn, in dem das Wort „gemalt“ in diesem Fall verwendet wird, ist hier nicht modifizierend. Die gemalte Landschaft, um die es sich handelt, bleibt eine Landschaft. Wir sprechen dann nicht vom Bild, sondern von dem, was abgebildet wurde. Das Wort „gemalt“ sagt uns nur, dass die Landschaft von jemandem zum Gegenstand seiner malerischen Aktivität gemacht wurde, was eine relative Bezeichnung ist. Folgende Tabelle fasst diese Unterscheidungen zusammen: modifizierender Sinn Landschaft
Bild
determinierender Sinn
gemalte Landschaft = Bild (d.h. eine gemalte Landschaft ist nicht eine Landschaft, sondern ein Bild) (Twardowski 1894, S. 13)
determinierender relativer Sinn gemalte Landschaft = Landschaft, die (von jemandem als ein Bild) gemalt wurde (Twardowski 1894, S. 14)
gemaltes Bild = Bild (d.h. ein gemaltes Bild ist ein Bild) (Twardowski 1894, S. 13)
gemaltes Bild = Bild, das (von jemandem als ein weiteres Bild) gemalt wurde (d.h. das als Gegenstand eines weiteren Bildes fungiert)
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kapitel 3
Die letzte Rubrik (ein gemaltes Bild im relativ-determinierenden Sinne) wurde von Twardowski nicht berücksichtigt. Wir haben sie der Vollständigkeit halber hinzugefügt, denn es ist ja möglich, dass ein Bild als Objekt für ein weiteres Bild fungiert. Eine analoge Situation haben wir, so behauptet Twardowski, bei der Unterscheidung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand eines psychischen Aktes. Wir können von einem vorgestellten Gegenstand im modifizierenden Sinne sprechen. Ein vorgestelltes Pferd ist in diesem Fall nicht ein Pferd aus Fleisch und Blut. Wenn wir in diesem Sinne von einem vorgestellten Pferd sprechen, dann meinen wir so etwas wie „bloß vorgestellt“. Wenn wir also in diesem Sinne sagen, dass es ein vorgestelltes Pferd gibt, dann wollen wir lediglich sagen, dass es einen psychischen Vorstellungsakt gibt, „in dem“ ein Pferd vorgestellt wird. Ein Pferd braucht es aber deswegen nicht zu geben. Wir können uns ja ebenso gut einen Zentauren vorstellen, den es mit Sicherheit nicht gibt. Dass wir ein Pferd oder einen Zentauren vorstellen, bedeutet nun nach der Lehre Twardowskis, dass es einen psychischen Akt mit einem entsprechenden Inhalt gibt, und so bezieht sich die Bezeichnung „ein vorgestelltes Pferd“, wenn das Wort „vorgestellt“ im modifizierenden Sinne verwendet wird, in Wahrheit nicht auf ein Pferd, sondern auf einen Inhalt, der zu einem ein-Pferd-vorstellenden Akt gehört. Man kann aber auch von einem vorgestellten Inhalt sprechen, und wenn man in dieser Weise spricht, dann fungiert das Wort „vorgestellt“ determinierend. Ein vorgestellter Inhalt ändert nicht seinen ontologischen Status. Er ist immer noch ein Inhalt. Durch das Wort „vorgestellt“ will man nur sagen, dass der betreffende Inhalt von jemandem als Inhalt seiner Vorstellung „benutzt“ wird.4 Ähnlich wie im Fall des Wortes „gemalt“ kann schließlich auch das Wort „vorgestellt“ determinierend-relativ verwendet werden. Man spricht nämlich oft von einem Gegenstand, der von jemandem vorgestellt wird, als von einem „(von S) vorgestellten Gegenstand“. Das 4
Was übrigens ein Pleonasmus zu sein scheint, denn es ist ja ohnehin klar, dass es keinen „herrenlosen Inhalt“ geben kann in dem Sinne, dass er zu keinem psychischen Akt eines Subjekts zugehört. Einen solchen „herrenlosen“ Inhalt könnte man sich höchstens als ein Abstraktum vorstellen, von dem von vornherein klar ist, dass es nur als ein Inhalt eines psychischen Aktes existieren kann.
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Wort „vorgestellt“ modifiziert in diesem Fall die nachfolgende nominale Phrase nicht. Sie bezieht sich auf dasselbe, worauf sie sich auch ohne den Zusatz „vorgestellt“ beziehen würde. Ein von jemandem vorgestelltes Pferd bleibt also ein Pferd. Was man durch den Zusatz „vorgestellt“ sagen will, ist nur, dass das Pferd eben von jemandem vorgestellt wurde, was allerdings an seiner Natur nichts ändert. Folgende Tabelle fasst das zusammen: modifizierender Sinn Gegenstand
Inhalt
determinierender Sinn
vorgestellter Gegenstand = Inhalt der Vorstellung (d.h. ein vorgestellter Gegenstand ist nicht ein Gegenstand, sondern ein Inhalt) (Twardowski 1894, S. 14)
determinierender relativer Sinn vorgestellter Gegenstand = Gegenstand, der (durch einen Inhalt) vorgestellt wird (Twardowski 1894, S. 15)
vorgestellter Inhalt = Inhalt der Vorstellung (d.h. ein vorgestellter Inhalt ist ein Inhalt) (Twardowski 1894, S. 14)
vorgestellter Inhalt = Inhalt, der (durch einen anderen Inhalt) vorgestellt wird (d.h. der als Gegenstand einer Vorstellung fungiert)
Ähnlich wie in der ersten Tabelle haben wir auch diese um die letzte Rubrik vervollständigt. Twardowski spricht nicht von dem vorgestellten Inhalt im relativ-determinierenden Sinne; es ist aber, wie es scheint, nicht ausgeschlossen, dass ein psychischer Inhalt zum Gegenstand eines weiteren psychischen Aktes gemacht wird (z.B. wenn jemand an die Gedanken von anderen denkt oder auf seine eigenen psychischen Akte reflektiert). Das Schema der intentionalen Beziehung, das Twardowski in seiner Abhandlung entwickelt, basiert ebenfalls auf der Analogie mit der Malerei. So wie ein Maler eine Landschaft malt, so stellt ein Vorstellender einen Gegenstand vor. Die Landschaft fungiert als das primäre Objekt der Tätigkeit des Malers, und ähnlich ist auch der Gegenstand
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kapitel 3
das primäre Objekt des Vorstellenden. Sowohl das Wort „gemalt“ als auch „vorgestellt“ fungieren hier modifizierend. Der Maler kann nämlich eine Landschaft nur in der Weise malen, indem er ein Bild malt; und ein Vorstellender kann einen Gegenstand nur dann vorstellen, wenn er einen psychischen Akt mit einem entsprechenden Inhalt vollzieht (d.h. wenn er einen Inhalt im determinierenden Sinne vorstellt). Das Bild und der Inhalt fungieren dabei nicht als eigentliche Objekte, auf die sich die entsprechenden Subjekte beziehen, sondern bloß als Hilfsstrukturen. Sie sind sekundäre Objekte, die erst dann ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken, wenn wir uns nicht auf die primären Objekte der Tätigkeit (Landschaft, Gegenstand), sondern auf die Tätigkeit selbst konzentrieren. Erst dann wird klar, dass man eine Landschaft nur in der Weise malen kann, dass man ein Bild malt, und dass man einen Gegenstand nur dann vorstellen kann, wenn man einen Inhalt vorstellt. Wenn man aber die Worte „gemalt“ und „vorgestellt“ in Bezug auf ein Bild bzw. einen Inhalt verwendet, dann benutzt man sie nicht mehr im modifizierenden, sondern im determinierenden Sinn. Wir erhalten also die folgenden Schemata:
malt (modifizierend)
malt (determinierend)
stellt dar Bild
Maler
Landschaft
(= sekundäres Objekt der Tätigkeit)
(= primäres Objekt der Tätigkeit)
stellt vor (modifizierend)
stellt vor (determinierend) Vorstellender
bezieht sich auf Inhalt
(= sekundäres Objekt der Vorstellung)
Gegenstand (= primäres Objekt der Vorstellung)
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Die Analogie mit dem Sachverhalt von Bild und Abgebildetem hat allerdings ihre Grenzen. Twardowski betont, dass das Verhältnis zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand als primitiv und undefinierbar betrachtet werden muss. (Twardowski 1894, S. 68) Es hat insbesondere nichts mit einer Nachahmung oder Ähnlichkeit zu tun. Das einzige, was man sagen kann, ist, dass sich Inhalt x auf Gegenstand y genau dann bezieht, wenn x der Inhalt eines Aktes ist, in dem Gegenstand y vorgestellt wird. Das ist natürlich keine informative Erklärung; jede Erklärung muss aber an einem gewissen Punkt enden, und der Punkt, den uns Twardowski vorschlägt, ist eben das primitive Verhältnis zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand einer Vorstellung. So ist es zumindest bei den Gegenständen, die als einfach vorgestellt werden. Im Fall der zusammengesetzten Gegenstände gibt es Twardowski zufolge eine Zuordnung zwischen den Teilen des Gegenstands und den Teilen des Inhalts, durch den er vorgestellt wird. (Twardowski 1894, S. 69) Man kann also sagen, dass die Struktur der zusammengesetzten Gegenstände gewissermaßen durch die Struktur der entsprechenden Inhalte repräsentiert wird. Twardowski übernimmt die nicht-propositionale Urteilstheorie aus Brentanos Psychologie. (Twardowski 1894, S. 25) Er präzisiert sie aber, indem er eindeutig sagt, dass das, was in einem Urteil anerkannt oder verworfen wird, nicht der Inhalt sondern der Gegenstand der zugrunde liegenden Vorstellung ist. (Twardowski 1894, S. 15 f.) Wenn man von einem Pferd behauptet, dass es existiert, meint man sicherlich nicht den Inhalt des psychischen Aktes, in dem dieses Pferd vorgestellt wird. Da ein solcher Vorstellungsakt eine unentbehrliche Grundlage des Urteils „Ein Pferd ist“ bildet, wäre doch in diesem Fall das betreffende Urteil zwangsläufig wahr. Ein solches Urteil kann aber, wie wir gut wissen, auch falsch sein. Was man in einem solchen Urteil behauptet, ist also, dass in der transzendenten, von unseren psychischen Akten unabhängigen Welt ein Pferd existiert. Die Anerkennung bezieht sich also nicht auf den Inhalt, sondern auf den Gegenstand der zugrunde liegenden Vorstellung. Twardowski übernimmt auch die semantische Theorie, die wir in Brentanos Logik-Vorlesung finden, wobei aber das Brentano’sche immanente Objekt durch den psychischen Inhalt im Sinne Twardowskis
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kapitel 3
ersetzt wird. Ein Name (i) gibt einen psychischen Akt der Vorstellung kund, (ii) bedeutet den Inhalt dieses Aktes und (iii) nennt den Gegenstand, der „durch diesen Inhalt“ vorgestellt wird. (Twardowski 1894, S. 23) Auch die Behandlung der (angeblich) gegenstandslosen Namen, die wir bei Twardowski finden, erinnert an die lakonische Bemerkung Brentanos, die nicht-existierende Gegenstände einzuführen schien. Auch ein Name, schreibt Twardowski, dem wir keinen existierenden Gegenstand zuordnen können, ist nicht gegenstandslos. Auch ein solcher Name nennt etwas, das von dem Inhalt des entsprechenden Vorstellungsaktes verschieden ist. (Twardowski 1894, S. 23) Streng genommen gibt es also keine gegenstandslosen Vorstellungen. (Twardowski 1894, S. 29) Es scheint aber, dass dieser Aspekt der Lehre Twardowskis eine andere Quelle hat, die übrigens möglicherweise auch für die Bemerkung Brentanos aus der Logik-Vorlesung nicht irrelevant ist.5 Twardowski argumentiert hier explizit gegen die Lehre Bolzanos (Twardowski 1894, S. 20), der von gegenstandslosen Vorstellungen gesprochen hatte (vgl. Bolzano 1837, Bd. I, S. 218–220),6 und er folgt dabei aller Wahrscheinlichkeit nach Robert Zimmermann. Zimmermann wird zwar üblicherweise in erster Linie als „der Vermittler von Bolzanos Gedankengut“ wahrgenommen, dieses Bild stimmt aber nur teilweise, denn in einigen Punkten hat er die Lehre seines Meisters doch bedeutsam modifiziert.7 Das betrifft insbesondere Bolzanos Lehre von den gegenstandslosen Vorstellungen. Schon in seiner Philosophischen Propaedeutik für Obergymnasien vom Jahre 1852/53 schreibt Zimmermann, dass „[j]ede Vorstellung [ ] 5
Auf diese historische Entwicklungslinie hat mich Prof. Edgar Morscher (Universität Salzburg) aufmerksam gemacht. 6 Sehr interessant ist die Behandlung eines der Beispiele Bolzanos, die Twardowski vorschlägt. Bolzano nannte nämlich auch die Vorstellung Nichts als eine der gegenstandslosen Vorstellungen. Twardowski argumentiert hingegen, dass das Wort „Nichts“ als ein synkategorematischer Ausdruck zu verstehen ist, der keine selbstständige Bedeutung hat. Seine eigentliche Aufgabe besteht darin, als ein Teil negativer Sätze, wie z.B. des Satzes „Nichts ist ewig“, zu fungieren, die sich leicht in Sätze übersetzen lassen, die diesen problematischen Ausdruck nicht mehr enthalten. (In diesem Fall: „Es gibt nicht etwas Ewiges.“) Die substantivierte Form ist also in diesem Fall irreführend. Twardowski 1894, S. 21 ff. 7 Das zeigt sehr überzeugend Morscher. Vgl. dazu Morscher 1997 und Morscher 2004.
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Etwas vor[stellt], das von ihr selbst verschieden ist“. (Zimmermann 1852/53, Abt. II, S. 99; zitiert nach Morscher 2004, S. 99) Dabei muss das, was sie vorstellt, nicht unbedingt ein „wirklicher Gegenstand“ sein, wie es Zimmermann sagt. Auch wenn man einen goldenen Berg oder ein rundes Dreieck vorstellt, hat die Vorstellung einen Gegenstand, der „von ihr selbst verschieden ist“. Solche Vorstellungen nennt man, fügt Zimmermann hinzu, oft „gegenstandslos“. Wir sehen aber, dass es nach Zimmermanns Lehre streng genommen keine gegenstandslosen Vorstellungen gibt. Die Logik-Vorlesung Brentanos, in der er von nicht-existierenden Gegenständen zu sprechen scheint, stammt aus seiner Wiener Periode, nämlich aus den späten achtziger Jahren. Zimmermann lehrte zu dieser Zeit in Wien, und Twardowski hat dort bei ihm in den jahren 1885– 1889 studiert (vgl. Rollinger 1999, S. 139). Es ist sehr wahrscheinlich, dass sowohl die feste Überzeugung Twardowskis, dass es in Wahrheit keine gegenstandslosen Vorstellungen gibt, als auch die damalige Lehre Brentanos, die für jede untreffende Vorstellung neben dem immanenten Gegenstand noch einen äußeren nicht-existierenden Gegenstand einführt, eine und dieselbe Quelle hatten – nämlich Zimmermanns Umdeutung der Lehre Bolzanos. Das bedeutet aber auf jeden Fall, dass es nach Twardowski neben den existierenden auch nicht-existierende Gegenstände in einem zunächst eher unklaren Sinne geben muss. Solche Gegenstände wurden von ihm zwar einzig und allein zum Zwecke der Erklärung des Intentionalitätsphänomens eingeführt, Twardowski interpretiert sie jedoch als unabhängig von diesem theoretischen Kontext. „Alles, was im weitesten Sinne ,etwas‘ ist,“ lesen wir, „heißt, zunächst mit Beziehung auf ein vorstellendes Subjekt, dann aber auch abgesehen von dieser Beziehung ,Gegenstand‘.“ (Twardowski 1894, S. 40) Solche Passagen suggerieren stark eine ontologische Unabhängigkeit der Gegenstände von den psychischen Akten. Gegenstände werden zwar „zunächst“ im Rahmen der Intentionalitätstheorie eingeführt, sind jedoch (eben als Gegenstände und nicht Inhalte der Akte) von diesen Akten „naturgemäß“ unabhängig, und zwar selbst dann, wenn es sich dabei um nicht-existierende Gegenstände handelt. Ein (nicht-existierender) Zentaur hat als solcher mit dem psychischen Akt, in dem er vorgestellt wird, genauso wenig zu tun wie ein (existierendes) Pferd.
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Der Bereich der Gegenstände umfasst nach Twardowski sowohl reale als auch nicht-reale Gegenstände, und unter den beiden Gruppen finden wir sowohl existierende als auch nicht-existierende (Twardowski 1894, S. 36), was sehr an das Brentano’sche Schema aus seinem Wahrheitsvortrag (1889) erinnert. Twardowski folgert daraus, dass die allgemeinste philosophische Disziplin, die man Metaphysik nennt, sich nicht bloß mit dem, was existiert, sondern vielmehr mit der Gesamtheit der so verstandenen Gegenstände beschäftigen muss. Denn das Wort „ens“ beziehe sich ja, so die These Twardowskis, auf alle Gegenstände, nicht bloß auf das, was sich in dem Unterbereich des Existierenden befinde. (Twardowski 1894, S. 38 f.) Trotz der Einführung der nicht-existierenden Gegenstände, die aus einer vorphilosophischen Perspektive sicherlich sehr kontrovers ist, besteht der Hauptgewinn der Theorie Twardowskis im Vergleich zur Brentano’schen Theorie des immanenten Objekts doch in einer gewissen Annäherung des Begriffs des Gegenstands eines psychischen Aktes an seinen vorphilosophischen Vorgänger. Eine der Hauptthesen Brentanos war nämlich, dass das immanente Objekt eine vom psychischen Akt ontologisch abhängige Entität ist. Die Konsequenz dieser Annahme war, dass man einem immanenten Objekt die Eigenschaften, die man gewöhnlich von den Referenzentitäten prädizieren möchte, kaum zuschreiben konnte. Eine immanente, von einem psychischen Akt abhängige Entität kann ja unmöglich hart, dreieckig oder rot sein in dem Sinne, der für die transzendenten Dinge charakteristisch ist. Solche Eigenschaften mussten aber unbedingt berücksichtigt werden, denn es sind doch diejenigen Eigenschaften, die in einer intentionalen Beziehung dem Subjekt „vor Augen“ stehen; und das immanente Objekt wurde doch ursprünglich als eine Art Stellvertreter der Zielentität eingeführt. Die Lösung, die Brentano in seinen Vorlesungen zur Deskriptiven Psychologie anbot, bestand in der Annahme, dass ein immanentes Objekt solche Eigenschaften tatsächlich hat. Es hat sie allerdings in einem uneigentlichen, modifizierenden Sinne. Die Kosten einer solchen Theorie sind beträchtlich. Einerseits nimmt man eine Komplizierung der Ontologie in Kauf, indem man spezielle immanente Gegenstände und dazu noch ein modifiziertes Haben von Eigenschaften einführt. Und andererseits muss man auch die intentionale
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Struktur des Urteils weiter komplizieren, denn das immanente Objekt kann jetzt in einem Urteil erst recht nicht direkt anerkannt bzw. verworfen werden. Es muss „vorher“ zumindest zusätzlich „demodifiziert“ werden. Das alles hat dazu geführt, dass das immanente Objekt allmählich auf die Position einer bloß vermittelnden Entität verschoben wurde, was wir im ersten Kapitel anhand der Logik-Vorlesung [EL 80] beobachten konnten. Bei Twardowski verschwinden alle diese Probleme. Als Gegenstand des Aktes tritt jetzt eine von psychischen Akten völlig unabhängige Entität auf. Ein solcher Gegenstand kann natürlich seine Eigenschaften in einem ganz normalen Sinne haben. Das, was uns in einer intentionalen Beziehung „vor Augen“ steht, hat also eine ganz gewöhnliche ontologische Struktur. Nichts muss an dem Zielgegenstand „demodifiziert“ werden, bevor er in einem Urteil anerkannt oder verworfen werden kann, und die intentionale Beziehung verläuft dementsprechend viel einfacher. Ein zusätzlicher Vorteil besteht darin, dass ein Gegenstand Twardowskis im Gegensatz zum Brentano’schen immanenten Objekt ohne weiteres als numerisch identischer Zielgegenstand vieler Subjekte fungieren kann. Im Fall des Brentano’schen immanenten Objekts war das, wie wir uns erinnern, unmöglich. Ein immanentes Objekt ist ein unabtrennbares Korrelat des entsprechenden psychischen Aktes, und dementsprechend muss es als ontologisch „privat“ betrachtet werden. Es entsteht und vergeht zusammen mit „seinem“ Akt. Die immanenten Objekte von zwei verschiedenen Subjekten müssen deshalb numerisch verschieden sein, selbst dann, wenn diese Subjekte genau dasselbe denken. Man muss deshalb bei der Lösung des Problems der Intersubjektivität von „äquivalenten“ immanenten Objekten sprechen, wobei die genannte Äquivalenz darin besteht, dass die beiden Objekte „dieselben“ Eigenschaften (im modifizierten Sinne) haben. Da aber Brentano keine allgemeinen, sondern nur individuelle Eigenschaften (Tropen) zulässt, muss man die Rede vom Haben „derselben Eigenschaften“ wieder in die Rede von der strengen Ähnlichkeit der entsprechenden Tropen übersetzen. Das alles hat zur Folge, dass eine Theorie der Intersubjektivität bei Brentano viel komplizierter ausfallen müsste als bei Twardowski. Brentano hat eine solche übrigens nie ernsthaft in Angriff genommen.
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kapitel 3 2. Twardowski, Husserl und Meinong (1894–1904)
Meinong war von der Interpretation der intentionalen Beziehung in der Abhandlung Twardowskis tief beeindruckt. In seiner Abhandlung Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung (1899) übernimmt er die Unterscheidung von Inhalt und Gegenstand in der Version Twardowskis8 und sieht ein, dass der größte Teil von dem, was er bisher untersucht hat, in den Bereich der Gegenstände fällt. In einem Punkt modifiziert Meinong die Intentionalitätslehre Twardowskis allerdings wesentlich. Twardowski behauptete, dass das, was wir sprachliche Bedeutung nennen, sich im Grunde auf der Ebene des psychischen Inhalts befindet. Ein Name drückt einen psychischen Akt der Vorstellung aus (gibt ihn kund), bedeutet seinen Inhalt und nennt seinen Gegenstand. (Twardowski 1894, S. 11) Meinong hingegen situiert die Bedeutung auf der Ebene der Gegenstände. Ein Name drückt bei ihm einen psychischen Akt der Vorstellung zusammen mit seinem Inhalt aus und bedeutet seinen Gegenstand. (Meinong 1899, S. 385) Meinongs Auffassung hat den Vorteil, dass man in ihrem Rahmen ohne weiteres von der identischen Bedeutung mehrerer Ausdrücke sprechen kann. Die Positionen von Brentano, Höfler, Twardowski und Meinong illustriert das folgende Schema: Wort drückt aus
bedeutet
nennt
Immanenz Brentano EL 80 Höfler 1890
Subjekt
Akt
Relation R
immanentes Objekt
äußeres Objekt
intentionale Beziehung
8
Vgl. Meinong 1899, S. 381–385. Er bezieht sich dabei explizit auf Twardowski 1894 (Meinong 1899, S. 381).
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Wort bedeutet
drückt aus
nennt
Immanenz Twardowski 1894
Akt
Subjekt
Inhalt Relation R
äußeres Objekt
intentionale Beziehung
Wort drückt aus
bedeutet
Immanenz Meinong 1899
Subjekt
Akt Inhalt Relation R
äußeres Objekt
intentionale Beziehung
Das Schema von Brentano und Höfler operiert mit zwei Objekten. Die Intuition, die dahinter steckt, ist, dass es für die Intentionalität eines psychischen Aktes unwesentlich ist, ob es einen äußeren Gegenstand dieses Aktes gibt oder nicht. Selbst wenn es einen solchen Gegenstand nicht gibt, ist der Akt intentional. Auch dann bezieht er sich auf etwas. Dieses Etwas wurde also als eine spezielle Entität – als ein immanentes Objekt – interpretiert. Die Relation R, die zwischen dem psychischen Subjekt und dem immanenten Objekt besteht, ist also in diesem Fall als eine intentionale Beziehung zu interpretieren. Deshalb ist die intentionale Beziehung bei Brentano, wie wir schon gesagt haben, nicht definierbar, wenn die Definierbarkeit eine Reduktion auf nicht-intentionale Begriffe bedeuten sollte. Insbesondere ist sie nicht auf die monadischen Eigenschaften des Subjekts oder die Beschaffenheit des Aktes reduzierbar.
118
kapitel 3
Wir haben gesehen, dass auch der junge Meinong diesen besonderen Charakter der Beziehung zwischen dem psychischen Akt und seinem immanenten Objekt eingesehen hat. Er betrachtet diese Beziehung als eine reale Relation, und das heißt, dass es sich um eine externe Relation handelt, die nicht auf die monadischen Eigenschaften ihrer Glieder reduzierbar ist. Die Theorie Twardowskis ändert dieses Bild. Wir haben jetzt ein Subjekt, einen transzendenten Gegenstand, auf den sich das Subjekt intentional bezieht, und einen psychischen Inhalt. Der Unterschied besteht darin, dass die Relation R, die zwischen dem Subjekt und dem Inhalt seines Aktes besteht, nicht mehr als eineintentionale Relation interpretiert wird. Das Subjekt bezieht sich nicht auf den psychischen Inhalt. Die Referenzentität ist der transzendente Gegenstand. Der Inhalt fungiert hingegen als eine vermittelnde Struktur, die bestimmt, auf welchen Gegenstand sich das Subjekt bezieht. Im Licht dieser Bemerkungen scheint die Theorie Twardowskis eine Version der Mediator-Theorie darzustellen. Der Mechanismus der intentionalen Beziehung steckt im psychischen Inhalt. Sich auf etwas intentional zu beziehen, heißt, einen psychischen Akt mit einem entsprechenden Inhalt zu vollziehen. Dieser Inhalt „schreibt vor“, was für ein Gegenstand als Referenzentität dieser Beziehung in Betracht kommt. Ob es einen solchen Gegenstand tatsächlich gibt, ist aber irrelevant. Die intentionale Beziehung wurde damit auf die Relation R zum psychischen Inhalt reduziert, wobei R keine intentionale Relation ist. Eine solche Mediator-Theorie hat tatsächlich Edmund Husserl in seinen Logischen Untersuchungen (1900/1901) und im Grunde schon sechs Jahre früher in seiner unpublizierten Abhandlung Intentionale Gegenstande (1894) entwickelt. Diese Theorie braucht weder immanente Objekte noch nicht-existierende Zielentitäten. Alles, was sie braucht, sind psychische Inhalte. Husserl schreibt: „Ich stelle den Gott Jupiter vor, das heißt, ich habe ein gewisses Vorstellungserlebnis, in meinem Bewusstsein vollzieht sich das Den-Gott-Jupiter-Vorstellen. Man mag dieses intentionale Erlebnis in deskriptiver Analyse zergliedern, wie man will, so etwas wie den Gott Jupiter kann man darin natürlich nicht finden; der ,immanente‘, ,mentale‘
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Gegenstand gehört also nicht zum deskriptiven (reellen) Bestande des Erlebnisses, er ist also in Wahrheit gar nicht immanent oder mental. Er ist freilich auch nicht extra mental, er ist überhaupt nicht. [ ] Existiert andererseits der intendierte Gegenstand, so braucht in phänomenologischer Hinsicht nichts geändert zu sein. Jupiter stelle ich nicht anders vor als Bismarck [ ].“ (Husserl 1901, S. 386 f.)
Er konkludiert: „[ J ]ederman muss es anerkennen: dass der intentionale Gegenstand der Vorstellung derselbe ist wie ihr wirklicher und gegebenenfalls ihr äußerer Gegenstand und dass es widersinnig ist, zwischen beiden zu unterscheiden. [ ] Der Gegenstand ist ein ,bloß intentionaler‘, heißt natürlich nicht: er existiert, jedoch nur in der intentio (somit als ihr reelles Bestandstück), oder es existiert darin irgendein Schatten von ihm; sondern es heißt: die Intention, das einen so beschaffenen Gegenstand ,Meinen‘ existiert, aber nicht der Gegenstand.“ (Husserl 1901, S. 439)
Das „Meinen“ eines Gegenstands besteht nun darin, dass das Subjekt einen psychischen Akt mit einem bestimmten Inhalt vollzieht. Anstatt der speziellen Zielgegenstände haben wir also bei Husserl nur einen vermittelnden psychischen Inhalt. In den Logischen Untersuchungen hat Husserl diese Theorie zusätzlich durch Rekurs auf allgemeine, platonische Entitäten verstärkt. Nur in dieser Weise glaubte er, das Problem der Intersubjektivität lösen zu können. Wenn man von der Identität der Gedanken und insbesondere von der Identität der sprachlichen Bedeutung spricht, bezieht man sich, behauptet er, nicht auf die individuellen, mentalen Inhalte, die bei den verschiedenen Subjekten natürlich individuell verschieden sein müssen, sondern auf diese Inhalte in specie, d.h. auf allgemeine, platonische Entitäten, die durch die individuellen Inhalte instantiiert werden. (Husserl 1901, S. 104 ff.) Zwei Akte tragen dieselbe Bedeutung, wenn ihre individuellen Inhalte dieselbe Bedeutungsspezies instantiieren. Die Theorie der Logischen Untersuchungen führt also zu folgendem Bild:9
9
Das Schema wurde bereits in Chrudzimski 2001a, S. 213 verwendet.
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kapitel 3 Bereich der allgemeinen Gegenstände eine Spezies der
eine Spezies des
intentionalen Beziehung
Referenzobjekts
F*
F IK-Relation
Abstraktion
Abstraktion
psychologische und ontologische Immanenz immanenter Inhalt Subjekt
Akt
F äußeres Objekt
Das Subjekt bezieht sich auf ein äußeres Objekt, das von ihm intentional als F bestimmt wird. Diese Beziehung kommt dadurch zustande, dass die Intention des Subjekts einen mentalen Inhalt hat, dessen ideale Spezies (F∗ ) zur Spezies F in einer bestimmten Beziehung steht. Diese Beziehung können wir als die Relation der intentionalen Korrelativität (IK-Relation) bezeichnen. Die Intentionalitätstheorie der Logischen Untersuchungen sieht also folgendermaßen aus: (H.1) Das Subjekt S bezieht sich intentional auf den Gegenstand, der intentional als F bestimmt ist, genau dann, wenn S einen psychischen Akt A vollzieht, dessen Inhalt eine ideale Spezies F∗ instantiiert, wobei die idealen Spezies F∗ und F zueinander in der IK-Relation stehen. Wenn ein Gegenstand existiert, der F ist, bildet er den Zielgegenstand des Aktes A. Im entgegengesetzten Fall ist der Akt A gegenstandslos (obwohl nicht inhaltslos). Wenn es keinen äußeren Referenzgegenstand gibt, haben wir es mit der folgenden Situation zu tun:
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Bereich der allgemeinen Gegenstände eine Spezies des (potentiellen) Referenzobjekts
eine Spezies der intentionalen Beziehung
F
F* IK-Relation
Abstraktion
psychologische und ontologische Immanenz
es gibt keine Instantiierungen der Spezies F (=kein Referenzobjekt)
immanenter Inhalt Subjekt
Akt
Der Akt ist jetzt gegenstandslos, und zwar deswegen, weil es keine Instantiierungen der Spezies F (keine F-Objekte) gibt. Trotzdem hat die Frage, in welchem Sinn ein solcher gegenstandsloser Akt noch als „intentional“ zu bezeichnen ist, eine klare Antwort. Seine Intentionalität liegt im psychischen Inhalt. Wenn wir von der Einführung der allgemeinen Entitäten einmal absehen, war die Intentionalitätstheorie, die Meinong noch 1902 vertreten hat, mit dieser Husserl’schen Version der Mediator-Theorie praktisch identisch.10 Belege dafür finden wir in der ersten Auflage von Über Annahmen (1902). Meinong schreibt hier, dass eine untreffende Vorstellung streng genommen keinen Gegenstand hat. Sie hat lediglich eine
10
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Tatsache, dass Meinong und Husserl um 1900 keine gemeinsame Schule, sondern zwei konkurrierende Richtungen gebildet haben, eher auf persönliche Ambitionen und Animositäten als auf irgendwelche unüberwindbare theoretische Differenzen zurückzuführen ist. Vgl. dazu Huemer 2004, S. 211: „The main reason why the two philosophers [i.e. Meinong and Husserl] could not work closer together seems to be of a sociological rather then of a philosophical nature.“
122
kapitel 3
„Gegenständlichkeit“, was soviel heißt, wie dass sie einen entsprechenden Gegenstand treffen könnte, falls ein solcher existieren würde, wobei die Grundlage dieser Potentialität der Vorstellung in ihrem Inhalt liegt.11 Die Theorie Twardowskis ist jedoch anders. Die Intentionalität eines psychischen Aktes reduziert sich nicht bloß auf die Tatsache, dass er einen Inhalt hat. Für jeden Akt muss es auch den entsprechenden (unter Umständen nicht-existierenden) Referenzgegenstand geben. Twardowski behauptet unzweideutig, dass es keine gegenstandslosen Vorstellungen gibt. Dieser Aspekt der Theorie Twardowskis lässt sie eher als eine ObjektTheorie erscheinen. Twardowski fühlt sich gezwungen, zum Zwecke der Erklärung des Intentionalitätsphänomens nicht nur psychische Inhalte, sondern auch spezielle Zielentitäten einzuführen. Er führt zwar keine aktabhängigen intentionalen Objekte ein, der Bereich der transzendenten Entitäten wird jedoch so erweitert, dass man in ihm auch nicht-existierende Gegenstände findet, die im Notfall die Funktion der Referenzentität übernehmen können. Schon bald hat sich Meinong der These Twardowskis, dass jeder psychische Akt einen existierenden oder nicht-existierenden Gegenstand hat, angeschlossen. In seiner programmatischen Abhandlung Über Gegenstandstheorie (1904) bezeichnet er die Voraussetzung, dass nur „treffende“ psychische Akte ihre Gegenstände haben, als „Vorurteil zugunsten des Wirklichen“ (Meinong 1904, S. 485) und ordnet jedem psychischen Akt einen „außerseienden“ Gegenstand „jenseits von Sein und Nichtsein“ zu. (Meinong 1904, S. 494) Die Intentionalitätstheorie, die Twardowski 1894 und Meinong ad 1904 vertreten haben, scheint mithin eine kuriose Mischform der ObjektTheorie und der Mediator-Theorie darzustellen. Unter dem Gesichtspunkt der theoretischen Sparsamkeit erscheint sie deshalb als nicht besonders effizient. Sie bietet uns zwei Mechanismen, wo einer genügen würde. Dass man mit dem psychischen Inhalt allein auskommen könnte, hat Husserl in den Logischen Untersuchungen bewiesen, und dass man stattdessen mit
11
Vgl. dazu Meinong 1910, S. 221, 224. Es handelt sich dabei um die Teile der 1. Auflage von Über Annahmen, die in der 2. Auflage dieses Werkes unverändert wiederabgedruckt wurden und die dann in den weiteren Teilen der 2. Auflage von Meinong als seine frühe „Seinsansicht“ kritisiert und modifiziert wurden. Vgl. Meinong 1910, S. 233 ff.
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(existierenden und nicht-existierenden) Referenzentitäten genauso gut arbeiten könnte, ist auch klar. Man müsste zu diesem Zwecke lediglich die Relation zwischen dem psychischen Akt und dem transzendenten Objekt als eine externe (intentionale) Relation interpretieren.12 Die Gründe, warum die Theorie Twardowskis in dieser Weise überdeterminiert ist, sind zweifach.13 Zum einen ist es nicht zu übersehen, dass die Intuition, die jedem Akt ein Referenzobjekt zuordnet, in der ganzen Brentano’schen Tradition äußerst mächtig war. Selbst Husserl, der, wie wir gesehen haben, 1901 eine sehr effiziente und elegante MediatorTheorie formulierte, fühlte sich schon einige Jahre später – in seinen Vorlesungen uber Bedeutungslehre (1908) und in den ideen I (1913) – gezwungen, zu einer Version der Objekt-Theorie überzugehen. Es scheint, dass diese Intuition auch für Twardowski maßgebend war. Ein Referenzgegenstand musste also unbedingt da sein, und sobald Twardowski die Zweideutigkeit des Brentano’schen Begriffs des immanenten Inhalts (bzw. immanenten Objekts) aufgedeckt hatte, mussten in dieser Rolle transzendente Gegenstände auftreten. Das, worauf sich die Vorstellung eines Pferdes bezieht, ist ein transzendentes Pferd, und die Vorstellung eines Zentauren muss als Referenzentität einen transzendenten Zentauren haben. Zentauren gibt es zwar nicht, das bedeutet aber lediglich, dass in der Zielposition des Aktes ein nicht-existierender Zentaur stehen muss. Das war der Preis für die Einheitlichkeit der Theorie, den Twardowski bezahlen musste. 12
Es scheint, dass das die Position von G. E. Moore war. Nach ihm sind die zwei Akte mit verschiedenen Objekten ausschließlich durch ihre Objekte zu unterscheiden. Vgl. Moore 1910; Grossmann 1974, S. 55. 13 Man muss sagen, dass bei Twardowski die erklärende Funktion des Inhalts und des Gegenstands nicht immer ganz klar ist. Eines der Argumente, die er für den Unterschied Inhalt-Gegenstand anführt, bezieht sich nämlich auf die so genannten „Wechselvorstellungen“. Ein Beispiel für ein solches Paar wären z.B. die Frege’schen Vorstellungen: der Sieger von Jena und der Besiegte von Waterloo. Twardowski behauptet, dass im Fall solcher Wechselvorstellungen die psychischen Inhalte verschieden sind, während der Gegenstand derselbe bleibt. Vgl. Twardowski 1894, S. 31 f. Der mentale Inhalt wäre demgemäß als ein für die Erklärung der Nichtextensionalität der intentionalen Kontexte sehr wichtiges Element zu betrachten, das dort einen wichtigen Unterschied macht, wo dies durch den Gegenstand nicht gewährleistet ist. Grossmann kritisiert jedoch diese Position als inkohärent und behauptet richtig, dass im Rahmen der Theorie Twardowskis die Verschiedenheit des Inhalts eine ähnliche Verschiedenheit der Gegenstände nach sich ziehen muss. Vgl. Grossmann 1974, S. 50 ff.
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kapitel 3
Die Akte beziehen sich also auf transzendente (existierende oder nicht-existierende) Entitäten. Soviel steht fest. Wenn wir das in Kauf genommen haben, können wir auf die immanenten Inhalte verzichten. Der Preis dafür ist allerdings, dass wir die Relation zwischen dem psychischen Akt und „seinem“ Gegenstand als eine weiter unerklärbare, externe Relation betrachten müssen. Denn ein Akt ohne Inhalt – ein „bloßer“ Akt – besitzt keine Eigenschaften, die uns sagen würden, auf welchen Gegenstand er sich bezieht. Selbstverständlich kann die Frage, mit welchem Akt man es gerade zu tun hat, nur in der Weise beantwortet werden, dass man seinen Gegenstand spezifiziert (wie etwa: die Vorstellung eines Pferdes). In diesem Sinne ist die Zuordnung des jeweiligen Gegenstands etwas, was für jeden Akt wesentlich ist. Wenn man aber aus dem Komplex AktGegenstand den „bloßen“ Akt abstrahiert, dann findet man in diesem Abstraktum nichts, was uns sagen würde, worauf sich der Akt bezieht. Die Zuordnung eines inhaltlosen Aktes zu „seinem“ transzendenten Gegenstand wäre also genau in dem Sinne extern, in dem im Rahmen der Brentano’schen Theorie die Zuordnung des Aktes zu seinem immanenten Objekt extern war. Ist aber eine solche externe Zuordnung von psychischem Akt und einem transzendenten Gegenstand überhaupt eine haltbare Annahme? Wir sind in dieser Frage nicht sicher und werden nicht versuchen, sie in diesem Buch endgültig zu beantworten.14 Einerseits verspürt wahrscheinlich jeder einen starken Impuls, eine solche externe Zuordnung als extrem unplausibel abzuweisen. Denn wie könnte ein psychischer Akt einen transzendenten Gegenstand treffen, wenn nicht aufgrund seiner inneren Struktur?15 Andererseits ist aber auch klar, dass sich diese
14
In Chrudzimski 2005c argumentierten wir, dass man im Rahmen einer Theorie, die mit den von den psychischen Akten ontologisch abhängigen Zielentitäten (intentionalen Gegenständen) operiert, auf derartige psychische Inhalte verzichten sollte. 15 Ein gutes Beispiel für diese Denkweise ist die folgende Stelle aus Findlays Buch über Meinong: „It is also very difficult to understand how, if the mind consisted merely of acts, we could have any particular object before our minds. The idea of the Himalayas and the idea of jealousy would be nothing but transparent intentions; their objects would lie outside of them, and nothing in our experience would tell us to what they were directed.“, Findlay 1963, S. 24.
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instinktive Reaktion höchstwahrscheinlich auf eine ganz andere Intentionalitätstheorie stützt als auf jene, die von Twardowski vertreten wird. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass die Einführung der nichtexistierenden Gegenstände bei Twardowski Teil der Erklärung des Intentionalitätsphänomens ist. Einen Akt, den wir als gegenstandslos bezeichnen würden, gibt es bei Twardowski nicht. Die Intentionalität eines psychischen Aktes impliziert, dass er einen Gegenstand hat. Und jetzt fragen wir: Ist die Selbstverständlichkeit der These, dass die Zuordnung von Akt und Gegenstand in irgendeiner Weise auf der inneren Struktur des Aktes beruhen muss, nicht in erster Linie durch die Überzeugung bedingt, dass die psychischen Akte unter Umständen mit den transzendenten Gegenständen nichts zu tun haben; dass sie manchmal untreffend, gegenstandslos, in die Leere zielend sind? Twardowski macht aber diese common-sense-Annahme nicht. Bei ihm haben die Akte immer mit transzendenten Gegenständen zu tun. Sie sind nie untreffend, gegenstandslos oder in die Leere zielend. Sie haben immer Gegenstände – existierende oder nicht-existierende. Deswegen scheint es, dass der instinktive Widerstand, den wir gegen die Idee einer externen Zuordnung von psychischem Akt und einem transzendenten Gegenstand verspüren, in diesem Fall völlig irrelevant ist. Denn er stammt aus einem ganz anderen theoretischen Kontext als derjenige, in dem die Theorie Twardowskis steht. Ob berechtigt oder nicht, es scheint, dass sowohl Twardowski als auch Meinong eine ähnliche Abneigung gegenüber der Idee einer externen Zuordnung von Akt und Gegenstand hatten.16 Zumindest die endgültige Intentionalitätstheorie Meinongs, die mit einem sehr reichen Instrumentarium unterschiedlicher Gegenstände operiert, kann aber sicherlich auch ohne psychische Inhalte auskommen. Die einzige Bedingung dafür ist,
16
In seiner späten Abhandlung Über emotionale Präsentation schreibt Meinong: „Es wäre in keiner Weise abzusehen, wie anders als vermöge seiner Beschaffenheit das eine präsentierende Erlebnis auf diesen, das andere gerade auf jenen Gegenstand als ,seinen Gegenstand‘ hinweisen sollte.“, Meinong 1917, S. 342. Die Definition des Inhalts einer Vorstellung, die er dort vornimmt, lautet: „Dasjenige nun, was an zwei Vorstellungen verschieden sein muss, damit ihnen die Eignung zukomme, jede einen anderen Gegenstand zu erfassen, das habe ich den Inhalt dieser Vorstellung genannt.“, Meinong 1917, S. 340.
126
kapitel 3
dass man die zunächst seltsam anmutende Idee der externen Zuordnung eines psychischen Aktes zu „seinem“ transzendenten Gegenstand ernst nimmt. In Kapitel 6 werden wir eine Schwierigkeit der Theorie des psychischen Inhalts besprechen, die ein guter Grund ist, diese Idee ernst zu nehmen. In der Theorie, die nach dem Muster von Twardowski zwischen dem psychischen Inhalt und dem transzendenten Gegenstand unterscheidet, muss die Relation zwischen dem psychischen Inhalt und dem entsprechenden Gegenstand, die wir der Kürze halber die Relation der Repräsentation nennen können, eine interne Relation sein. Sie wird automatisch generiert, immer wenn sich in der Welt ein passender Gegenstand findet. Sie superveniert in diesem Sinne auf den monadischen Eigenschaften des psychischen Inhalts und des entsprechenden Gegenstands. Wenn man auch nicht-existierende Gegenstände einführt, dann fehlt diese Relation nie. So ist es bei Twardowski und bei Meinong ab 1904. Für jeden Akt gibt es sowohl seinen Inhalt als auch einen oder mehrere Gegenstände. Wenn man jedoch, wie Husserl oder Meinong zwischen 1899 und 1902, meint, dass nur treffende psychische Akte ihre Gegenstände haben, dann besteht auch die Relation der Repräsentation nur dann, wenn ein passender Gegenstand existiert. In jedem Fall gilt aber, dass, falls die Relation Inhalt-Gegenstand überhaupt besteht, ihr Bestand von der Beschaffenheit des Inhalts und des Gegenstands mit Notwendigkeit impliziert wird. Das sollte übrigens ohne weiteres klar sein, denn der Inhalt wurde doch von Anfang an als dasjenige Element konzipiert, das den (eventuellen) Gegenstand des Aktes bestimmt. Die einzige Bedingung für das Bestehen der entsprechenden Relation zwischen einem psychischen Inhalt und einem entsprechenden Gegenstand kann also nur die Existenz eines solchen Gegenstands sein. Keine weiteren Bedingungen dürfen hier im Spiel sein. Meinong erkennt dies schon deutlich in der ersten Auflage von Über Annahmen an. Er sagt dort, dass die Relation der Adäquatheit zwischen dem Inhalt und „seinem“ Gegenstand eine ideale Relation ist: „Ist das, was ich erkenne, selbst real, näher ein Stück Wirklichkeit, so wird diese durch mein Erkennen doch ganz gewiss in keiner Weise real berührt [ ]. Das Erkannte
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braucht aber überdies gar nicht etwas Wirkliches zu sein [ ]. Der Erkenntnisakt nebst dem ihm zugrunde liegenden Inhalte freilich ist jederzeit real: aber Reales kann zu Idealem nie in einer Real-, sondern nur in einer Idealrelation stehen.“ (Meinong 1902, S. 126 f.)
Meinong bemerkt hier zunächst, dass man zwischen dem Erkennen (d.h. dem psychischen Akt mit seinem Inhalt) und dem, was erkannt wird, keine reale Relation stipulieren darf, wie z.B. die Relation, die zwischen den individuellen Eigenschaften eines realen Gegenstands bestehen muss, damit seine reale Einheit gewährleistet ist. In diesem Sinne haben die psychischen Inhalte mit ihren Gegenständen real nichts zu tun. Die Gegenstände werden durch die psychischen Akte nicht „real berührt“. Besonders deutlich wird dies, wenn wir bemerken, dass man auch etwas Ideales zum Gegenstand eines psychischen Aktes machen kann. Zwischen einem realen und einem idealen Gegenstand kann nämlich, behauptet Meinong, nie eine reale Relation bestehen. Bald wird aber auch klar, dass eine wichtige Konsequenz, die sich nach Meinong aus der Idealität der Adäquatheitsrelation ergibt, darin besteht, dass diese Relation auf der Beschaffenheit der entsprechenden Inhalte und Gegenstände superveniert. „Nun ist aber auch die Adäquatheit eine Idealrelation: der A-Inhalt, B-Inhalt und R-Inhalt können selbst als Gegenstände betrachtet werden, die nebst anderen Idealrelationen auch die Relationen der Adäquatheit zu den Gegenständen A, B resp. R aufweisen. Es ist nun klar, dass man mit diesen Inhalten anfangen mag, was man will; solange man ihre Beschaffenheit nicht ändert, d.h. andere Inhalte aus ihnen macht, kann man auch ihre Idealrelationen nicht ändern; und sind sie nicht schon von allem Anfange an zu dem Gegenstande ,Relation R zwischen A und B‘ in Adäquatheits-Relation gestanden, so ist diese Relation auch nicht durch relativ äußerliche Veränderungen an ihnen gleichsam zu erwerben.“ (Meinong 1902, S. 128 f.)
Wie bei der Analyse der frühen Relationslehre aus den Hume Studien II sehen wir auch hier, dass immer wenn Meinong von einer idealen Relation spricht, er damit in erster Linie eine interne Relation meint. Meinongs These, dass es zwischen einem idealen und einem realen Gegenstand nie eine reale Relation geben kann, mag Ausdruck derselben philosophischen Intuition sein, die auch zur Einführung mentaler Inhalte
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trotz Vorhandenseins nicht-existierender Gegenstände führen kann. Im Rahmen einer Theorie, die keine mentalen Inhalte, sondern stattdessen eine externe Relation zwischen dem Subjekt und dem (transzendenten) Gegenstand der intentionalen Beziehung postuliert, müsste natürlich diese Relation eine reale Relation im Sinne Meinongs sein. Da nun in der Zielposition des Aktes oft auch ideale Gegenstände stehen, müsste man auch die Möglichkeit einer realen Relation zwischen einem realen und einem idealen Gegenstand anerkennen.
3. Ein weiterer Schritt in die Richtung des Objektivismus Wir haben gesehen, dass bereits der junge Meinong zumindest insofern ein Objektivist war, als er alle fundierten Inhalte, die er untersuchte, unzweideutig auf derselben Gegenstandsebene ansiedelte wie die ihnen zugrunde liegenden Inhalte. Die Zweideutigkeit des Inhaltsbegriffs hat ihn daran gehindert, die Selbstständigkeit solcher fundierter Inhalte in Bezug auf die psychischen Akte, in denen sie erfasst werden, unzweideutig anzuerkennen. Wir fanden bei Meinong wiederholt Bemerkungen, dass die Relationen und Komplexionen im Gegensatz zu ihren Fundamenten besonders subjektiv seien, weil sie einen besonderen psychischen Akt brauchen, der sie ins Leben ruft. Wir haben allerdings auch gesehen, dass diese Behauptungen nicht besonders konsequent waren. Meinong sprach ja auch von objektiven Relationen „zwischen den Dingen“, die auch dann bestehen, wenn man sie nicht intentional thematisiert. In diesem Fall könnte es sich zwar eventuell um monadische Eigenschaften der Relationsglieder handeln, die das Fundament für die entsprechende Aktivität des Subjekts bilden; Meinong sprach aber auch von realen (externen) Relationen (wie z.B. der Relation zwischen einem psychischen Akt und seinem Inhalt), die sich prinzipiell nicht auf die monadischen Eigenschaften ihrer Glieder reduzieren lassen. Es scheint, dass diese Inkonsequenzen nicht zufällig waren. Sie resultierten aus dem Zusammenstoß von zwei Tendenzen: einem instinktiven radikalen Objektivismus, der für jedes wahre Urteil einen vom Akt des Urteilens unabhängigen Wahrmacher sucht, und einer postbrentanoschen Tendenz, die Lösungen ontologischer Probleme in der psychologischen Analyse zu suchen.
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Nachdem Meinong aber die Unterscheidung Twardowskis übernommen hatte, konnte er diese innere Spannung schließlich abbauen. Die psychologische Analyse behält ihr Recht. Damit uns eine Relation oder Komplexion präsentiert wird, müssen wir einen zusätzlichen psychischen Akt vollziehen. Ohne diesen Akt hätten wir den fundierten Gegenstand nicht gegeben. Diese psychologischen Voraussetzungen betreffen aber lediglich die Art und Weise, in der uns Gegenstände gegeben sind. Die Gegenstände selbst sind von den psychischen Akten, in denen sie uns eventuell zugänglich sind, völlig unabhängig, wie Meinong später formuliert: „Gegenstände sind, was sie sind, mögen sie erfasst werden oder nicht.“ (Meinong 1915, S. 244) Und als solche können sie natürlich auch unabhängig von der Psychologie untersucht werden.
4. Abstraktion und allgemeine Vorstellungen um 1900 In der Abhandlung Abstrahieren und Vergleichen (1900) unternimmt Meinong einen Versuch, die Allgemeinheit der Vorstellungen durch Rekurs auf ihre Inhalte zu erklären. Wir erinnern uns, dass die Abstraktionslehre, die in den Hume Studien I dominierte, die sogenannte Aufmerksamkeitstheorie der Abstraktion war. Mit einer abstrakten Vorstellung haben wir es nach dieser Theorie dann zu tun, wenn man durch eine gezielte Konzentration der Aufmerksamkeit einen Teil des immanenten Objekts der Vorstellung (das Meinong damals auch „Inhalt“ nannte) hervorhebt. Diese Abstraktionstheorie setzt zwei Dinge voraus. Erstens nimmt sie an, (i) dass das immanente Objekt, das als Zielentität des Vorstellungsaktes fungiert, immer eine individuell bestimmte Entität sein muss; und zweitens impliziert sie, (ii) dass man nur dann von einer Abstraktion reden kann, wenn es in dem ursprünglichen Objekt, das als Ausgangspunkt der Abstraktion fungiert, entsprechende Teile gibt, auf die sich die Aufmerksamkeit des Subjekts konzentrieren kann. Wir haben gesehen, dass Meinong schon sehr früh in dieser Lehre große Schwierigkeiten entdeckte. Die Fälle, in denen wir bei einem Objekt seine bestimmte Gestalt von einer bestimmten Farbe in Gedanken abtrennen, bereiten zwar keine größeren Probleme. Wir
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haben es hier tatsächlich mit einer Komplexion zu tun, die aus mehreren Teilen besteht. Wenn wir aber in einer ähnlichen Weise aus einer bestimmten Farbe die Farbe schlechthin oder aus einer bestimmten Gestalt die Gestalt schlechthin absondern wollen, dann versagt die Aufmerksamkeitstheorie. Zum einen sagt uns, so behauptet Meinong, schon die unmittelbare Erfahrung unzweideutig, dass sich von einer bestimmten Farbe kein derartiger Teil wie Farbe schlechthin unterscheiden lässt. Setzt man sich darüber hinweg, und nimmt man der Einheitlichkeit halber logische Teile an, wie Brentano sie nannte, müssen wir mit einer unendlichen Komplizierung rechnen. Angesichts dieser Schwierigkeiten nahm Meinong an, dass es neben der Aufmerksamkeitsabstraktion noch eine Vergleichungsabstraktion gibt. Eine solche Vergleichungsabstraktion besteht nicht darin, dass man die Teile eines Gegenstands in Gedanken abtrennt, sondern darin, dass man einen Gegenstand als Glied einer Ähnlichkeitsreihe betrachtet, die von einem paradigmatischen Fall ausgehend mittels einer Ähnlichkeitsrelation von einer bestimmten Stärke gebildet wird. In der Abhandlung Abstrahieren und Vergleichen behauptet Meinong im Grunde dasselbe. Der neue intentionalitätstheoretische Apparat der Inhalte und Gegenstände ermöglicht ihm jetzt aber, dieselbe Ansicht viel plausibler zu formulieren. Der unangenehme Preis, den Meinong für die Einführung der Vergleichungsabstraktion in der Abhandlung Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung (1888/89) bezahlen musste, war nämlich die Unreduzierbarkeit der Ähnlichkeitsrelation, die für die entsprechenden Ähnlichkeitsreihen konstitutiv war. Um das zu verstehen, müssen wir nur darauf aufmerksam machen, dass die Gegenstände, die als Glieder einer solchen Reihe in Frage kamen, zu dieser Zeit nur entweder immanente Objekte oder reale Dinge sein konnten. In keinem dieser Fälle dürfen wir aber davon ausgehen, dass die entsprechende Ähnlichkeitsreihe vollständig ist, d.h. dass es alle ihre Glieder wirklich gibt. Denken wir nur an solch allgemeine Begriffe wie Farbe oder Gestalt. Weder ist es der Fall, dass es in der Welt alle erdenklichen Gestalten bzw. Farben gibt, noch ist es plausibel anzunehmen, dass es für jede erdenkliche Gestalt oder Farbe jemanden gibt, der schon an sie gedacht hat (und damit ein entsprechendes immanentes Objekt ins Leben gerufen hat). Auf die Ähnlichkeitsrelation (der entsprechenden Stärke) muss also bei jedem
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allgemeinen Begriff dieser Art als auf einen unentbehrlichen Bestandteil des Begriffs rekurriert werden. Wenn man stattdessen mit dem Begriff des Gegenstands im Sinne Twardowskis operieren würde, nach dem der Bereich der Gegenstände „alles, was möglich und unmöglich“ ist, umfasst, würden diese Schwierigkeiten natürlich sofort verschwinden. Wir „hätten“ alle gewünschten Farben selbst dann, wenn in der Welt überhaupt keine farbigen Gegenstände existieren würden, und selbst dann, wenn es niemanden gäbe, der jemals an eine Farbe gedacht hätte. Die semantischen Korrelate der allgemeinen Termini wie „Farbe“ oder „Gestalt“ ließen sich also einfach als entsprechende Mengen von individuellen abstrakten (existierenden und nicht-existierenden) Farben bzw. Gestalten konstruieren.17 Diese einfache Lösung des Allgemeinheitsrätsels konnte von Meinong in Abstrahieren und Vergleichen jedoch noch nicht angenommen werden. Wir erinnern uns, dass Meinong noch 1902 darauf bestand, dass die untreffenden psychischen Akte streng genommen keine Gegenstände haben. Die Schwierigkeit, dass es in der entsprechenden Ähnlichkeitsreihe offensichtlich Lücken gibt, bestand also für Meinong nach wie vor. Die Lösung des Problems der Vergleichungsabstraktion wird stattdessen in der Struktur der intentionalen Beziehung gesucht, die in der Verwendung solch allgemeiner Termini involviert ist. Alle allgemeinen Vorstellungen, so beginnt Meinong, sind in einem gewissen Sinne unbestimmt. Das, worauf sie sich beziehen, wird nicht vollständig individualisiert. Wenn wir an einen Menschen denken, wissen wir zwar, dass es sich um einen Menschen handelt, wir wissen allerdings weder, ob er weiß, schwarz oder gelb ist, noch wie er gekleidet ist, noch was er gerade denkt. Dieses Unwissen beruht ferner nicht etwa auf einem Mangel an Information oder auf der Endlichkeit unserer intellektuellen Verarbeitungskapazitäten. Die Vorstellung eines Menschen ist einfach so, dass sie alle diese Aspekte unbestimmt lässt. In diesem Sinne ist diese Unbestimmtheit objektiv. (Meinong 1900, S. 466)
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In Wirklichkeit brauchen wir nicht einmal die individuell-abstrakten Aspekte. Wir können alle erwünschten Eigenschaften als die entsprechenden Mengen von individuellkonkreten Gegenständen konstruieren. Mehr darüber werden wir später noch sagen.
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Diese Unbestimmtheit darf allerdings, so die feste Überzeugung Meinongs anno domini 1900, nicht im Gegenstand liegen. Ein Gegenstand, für den es unbestimmt wäre, ob er F ist oder nicht, würde, so argumentiert Meinong, gegen den Satz des Widerspruchs verstoßen. (Meinong 1900, S. 466 f.) „Es gibt also nichts objektiv Unbestimmtes“ (Meinong 1900, S. 470), wenn wir unter der objektiven Unbestimmtheit die Unbestimmtheit des Gegenstands verstehen. Die Unbestimmtheit einer allgemeinen Vorstellung liegt stattdessen in ihrem Inhalt. „Die objektive Unbestimmtheit haftet hier“, sagt Meinong, „[ ] an dem ,pseudoexistierenden‘ Vorstellungsobjekt, genauer also an dem zugrunde liegenden Vorstellungsinhalte.“ (Meinong 1900, S. 466) Als Erläuterung fügt er hinzu: „[H]at eine Vorstellung einen unbestimmten Gegenstand, so ist dies jedenfalls nur ein ,immanenter‘ Gegenstand, einer, der nicht existiert, sondern nur pseudo-existiert. Was dagegen existiert, das ist die betreffende Vorstellung, die wegen ihrer Leistungsfähigkeit resp. Unfähigkeit unbestimmt genannt werden mag, diese Fähigkeit hat aber ihre ganz ,bestimmte‘, natürlich psychische Beschaffenheit, die in der Bezeichnung ,Inhalt‘ zur Geltung kommt. Insofern hat die ,unbestimmte‘ Vorstellung doch jederzeit ihren völlig ,bestimmten‘ Inhalt.“ (Meinong 1900, S. 466)
Ein paar wichtige Punkte können wir aufgrund dieser Stelle festhalten. Zum Ersten sehen wir, dass Meinong zulässt, dass ein immanentes Objekt unbestimmt sein kann. Wir erinnern uns, dass er dies früher nicht zugelassen hätte. Die ganze Aufmerksamkeitstheorie der Abstraktion war ja darauf gerichtet, die Möglichkeit einer abstrakten bzw. allgemeinen Vorstellung aufzuweisen, ohne dass man in Kauf nehmen müsste, dass das immanente Objekt einer solchen Vorstellung etwas genuin Abstraktes oder Allgemeines ist. Die Aufmerksamkeitstheorie sagt uns, dass wir von dem, worauf wir uns beziehen und was als solches individuell und konkret ist, lediglich einige Aspekte hervorheben. Diese Aspekte werden aber nicht zu selbstständigen Objekten. Diese plötzliche Permissivität ist darauf zurückzuführen, dass der Begriff des immanenten Objekts von Meinong nicht länger ernst genommen wird. Meinong spricht zwar weiterhin von immanenten Objekten, diese Redeweise ist aber lediglich als eine façon de parler zu betrachten. Nach 1899 bezeichnet Meinong solche immanenten Objekte als „pseudo-existierend“, was bedeutet, dass es solche Objekte streng
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genommen überhaupt nicht gibt. Die Rolle, die die Brentano’schen immanenten Objekte spielen sollten, wird teils von den transzendenten Gegenständen, teils von den psychischen Inhalten übernommen. Wenn wir also sagen, dass es neben dem transzendenten Gegenstand noch ein immanentes Objekt gibt, das auch dann existiert, wenn der transzendente Gegenstand fehlt, dann ist das nur eine ontologisch höchst irreführende Weise zu sagen, dass es einen entsprechenden psychischen Inhalt gibt, der auch dann vorhanden ist, wenn kein äußerer Referenzgegenstand existiert. Die Rede von den immanenten Objekten ist also im Grunde nur eine mystifizierte Rede von den Inhalten der entsprechenden psychischen Akte, und das betrifft natürlich auch unvollständige immanente Objekte. Zu sagen, dass das immanente Objekt eines bestimmten Aktes unbestimmt ist, bedeutet also nichts anderes, als dass der Inhalt dieses Aktes seine intentionale Funktion in der Weise verrichtet, dass die entsprechenden Zielgegenstände auf eine unbestimmte Weise vorgestellt werden. Die Voraussetzung, dass das, was in der Zielposition des Aktes steht, nur ein konkretes Individuum sein kann, gilt also 1900 weiterhin. Der wichtige Unterschied besteht aber darin, dass diese Entität jetzt als ein transzendenter Gegenstand interpretiert wird. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Meinong jetzt der Beschaffenheit des Inhalts eines psychischen Aktes diejenige erklärende Funktion zuschreibt, die früher der Rekurs auf die Aufmerksamkeit erledigen sollte. Er spricht zwar weiterhin von der Aufmerksamkeit, diese Aufmerksamkeit ist aber nicht länger als ein unanalysierbarer mythischer Lichtstrahl zu interpretieren, der in unerklärbarer Weise über die Teile der immanenten Gegenstände wandert. Die Aufmerksamkeit betrifft jetzt nicht mehr immanente, sondern transzendente Gegenstände, und ihr Mechanismus besteht nun darin, dass man einen Akt mit einem Inhalt vollzieht, der lediglich einen Teil des entsprechenden transzendenten Gegenstands spezifiziert. Das ist in der Tat ein sehr wichtiger Punkt, den wir hier festhalten. Es scheint nämlich, dass die Aufmerksamkeitstheorie der Abstraktion, die Brentano lange vertreten hat, auf sehr große Schwierigkeiten stößt. Diese Theorie besagt, dass wir „vor unserem geistigen Auge“ streng genommen keine allgemeinen Inhalte haben. Das betreffende immanente
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Objekt ist immer vollständig bestimmt, und die einzige Allgemeinheit, die man einer Vorstellung zuschreiben kann, liegt darin, dass wir unsere Aufmerksamkeit nur auf bestimmte Teile des betreffenden immanenten Objekts richten. So weit, so gut. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das allgemeine Erklärungsmuster, durch das Brentano das Intentionalitätsphänomen zu entzaubern versucht, die Einführung von immanenten Objekten ist. Eine intentionale Beziehung soll eben darin bestehen, dass das Subjekt in einer bestimmten Relation zu einem immanenten Objekt steht. Und nun stellt sich die Frage: Muss die Erklärung der Tatsache, dass wir von einem immanenten Objekt nur einige seiner Aspekte bemerken, nicht wieder darin bestehen, dass wir ein neues immanentes Objekt „zweiter Ordnung“ einführen, „durch das“ das erste immanente Objekt „betrachtet“ wird? Und muss dieses immanente Objekt zweiter Ordnung diesmal nicht doch unvollständig sein, damit die Tatsache der selektiven Aufmerksamkeit ihre Erklärung findet? Wäre es aber dann nicht zweckmäßiger, die unvollständigen immanenten Objekte schon auf der ersten Stufe einzuführen? Tatsächlich führt eine konsequente Entwicklung der Theorie Brentanos zu diesem Schluss, und wir haben im ersten Kapitel gesehen, dass Brentano in den späten Jahren seiner mittleren Periode unvollständige immanente Objekte einzuführen scheint. Wenn man das nicht annimmt, muss man auf einen primitiven, weiter unerklärbaren psychischen Modus der Aufmerksamkeit bestehen, was aber der ganzen Theorie einen „magischen“ Charakter verleiht. Mit seiner Theorie des psychischen Inhalts konnte Meinong hoffen, einerseits eine solche magische Erklärung vermeiden zu können, andererseits keine unvollständigen Gegenstände akzeptieren zu müssen, deren Einführung er um 1900 offensichtlich um jeden Preis vermeiden wollte. Das Einbeziehen des psychischen Inhalts macht übrigens auch den Rekurs auf die primitive Ähnlichkeitsrelation entbehrlich. Diese Relation brauchte Meinong deswegen, weil er keine genuin allgemeinen logischen Teile des immanenten Gegenstands zulassen wollte. Auch jetzt will er keine solchen Teile in den transzendenten Gegenständen stipulieren. Da er die Allgemeinheit einer Vorstellung durch die Eigenart ihres Inhalts definiert, braucht er auch keine derartigen logischen Teile.
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Eine allgemeine Vorstellung „sieht“ zwar ihren Gegenstand unbestimmt, diese Sichtweise besteht jedoch nicht darin, dass in dem Gegenstand selbst einer seiner logischen Teile unterschieden wird, sondern darin, dass der Inhalt der Vorstellung eben ein allgemeiner Inhalt ist. Als eine Entität ist dieser Inhalt aber, wie Meinong betont, doch völlig „bestimmt“. Eine allgemeine Vorstellung bezieht sich also nach der neuen Theorie Meinongs in einer indifferenten Weise auf einen oder mehrere Gegenstände, die zu einer bestimmten Gruppe gehören. (Meinong 1900, S. 488) Die Vorstellung, die durch das Wort „Pferd“ ausgedrückt wird, spezifiziert in ihrem Inhalt nur, dass ihr Gegenstand zu der Art Pferd gehört. Sie sagt nichts aus über seine Farbe, seine Größe, den Ort, an dem es sich befindet, usw. Alle Pferde machen den Umfang dieser Vorstellung aus, und es gibt nichts, was implizieren würde, dass „durch eine solche Vorstellung einer ihrer ,adäquaten‘ Gegenstände mehr oder weniger getroffen sein sollte als die übrigen.“ (Meinong 1900, S. 485) Nach dieser Theorie ist es also möglich, dass mit einem Inhalt mehrere Gegenstände korreliert sind. Es ist aber ebenfalls möglich, dass einem Gegenstand mehrere Inhalte entsprechen (Meinong 1900, S. 486), wie es z.B. im Fall der allgemeinen Vorstellungen Sieger von Jena und Besiegter von Waterloo ist. Eine solch allgemeine Intention, die sich auf ein unbestimmtes Element eines Umfangskollektivs bezieht, unterscheidet Meinong von Vorstellungen, die durch die Konstruktionen „alle Pferde“ oder „alle Farben“ ausgedrückt werden. Eine Vorstellung dieser Art bezieht sich nicht auf ein unbestimmtes Element eines Kollektivs, sondern auf das ganze entsprechende Kollektiv. „[D]as Umfangskollektiv wird diesmal selbst Gegenstand einer Vorstellung, der diesmal, da es nur ein solches Umfangskollektiv geben kann, nun kein Umfangskollektiv mehr gegenübersteht.“ (Meinong 1900, S. 488) 5. Unbestimmte Gegenstände Wie wir gesehen haben, leugnet Meinong in seiner Abhandlung Abstrahieren und Vergleichen, dass es Gegenstände gibt, die als solche objektiv unbestimmt wären. Die einzige Unbestimmtheit, die es geben kann, liegt in
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den Vorstellungen, genauer in der Eigenart ihrer Inhalte. Diese Annahme ist nicht unplausibel, und sie bildet mit der Intentionalitätstheorie, die Meinong um 1900 vertreten hat, ein konsequentes Ganzes. Es ist aber zu bemerken, dass die Theorie Meinongs, nach der sich eine allgemeine Vorstellung dadurch auszeichnet, dass ihr eine Mehrheit vollständig bestimmter individueller Gegenstände entspricht, im Widerspruch zur Lehre Twardowskis stand. Nach Twardowski entspricht nämlich keiner Vorstellung eine Mehrheit von Gegenständen. (Twardowski 1894, S. 102) Da er auch behauptet, dass es keine gegenstandslosen Vorstellungen gibt, muss jeder Vorstellung ein einziger Gegenstand zugeordnet werden. Im Fall einer allgemeinen Vorstellung ist dies laut Twardowski ein allgemeiner Gegenstand, der nur diejenigen Merkmale hat, die von vielen individuellen Gegenständen gehabt werden können. (Twardowski 1894, S. 104 f.) Ein allgemeiner Gegenstand im Sinne Twardowskis hat also nur diejenigen Merkmale, die im Inhalt der Vorstellung spezifiziert sind. In Bezug auf andere Merkmale ist er objektiv unbestimmt. Meinong hat seine Ansichten in dieser Sache später revidiert und der Theorie Twardowskis angepasst. Ab 1907 behauptet er, dass den unbestimmten Vorstellungen doch unvollständige Gegenstände entsprechen, und solche Gegenstände wurden sehr schnell zu einer sehr wichtigen Kategorie seiner Gegenstandstheorie. In der Abhandlung Abstrahieren und Vergleichen finden wir überraschenderweise eine Vorahnung davon. Meinong schreibt dort nämlich, dass es nur eine einzige Ausnahme gibt, wo man wirklich von einer objektiven Unbestimmtheit eines Gegenstands sprechen kann. Diese Ausnahme betrifft Gegenstände, die (notwendig oder kontingent) nichtexistieren. Sprechen wir etwa von einem runden Dreieck oder von einem goldenen Berg, dann gibt es zwangsläufig kein Prädikat, das auf den Gegenstand zutrifft, außer den Prädikaten, die schon in der Bezeichnung des Gegenstands erwähnt wurden (in diesem Fall: „golden“, „bergartig“, „rund“, „dreieckig“). „Das runde Dreieck ist weder blau noch nicht blau, oder genauer, es lässt sich weder das eine noch das andere behaupten.“ (Meinong 1900, S. 469) In solchen Fällen kann man, sagt er, „von einer Unbestimmtheit reden, der keinerlei Subjektivität anhaftet: aber im Grunde“, fährt er fort, „ist hier die ganze Erkenntnissituation eine so durchaus unnatürliche, dass man ihr den Rang einer
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wirklichen Gegeninstanz gegen die obige Behauptung [nämlich, dass es keine objektive Unbestimmtheit in rebus gibt] nicht wohl einräumen kann.“ (Meinong 1900, S. 470) Schon bald hat Meinong jedoch anerkannt, dass diese Erkenntnissituation gar nicht so „unnatürlich“ ist, wie er noch vor kurzem glaubte, (vgl. Meinong 1904, S. 489) und verschiedene Wahrheiten über nicht-existierende Gegenstände wurden dann plötzlich zu „einer wirklichen Gegeninstanz“. Am Beispiel des runden Dreiecks sehen wir auch, dass die Position, die den untreffenden psychischen Akten keine transzendenten Gegenstände zuordnet, die Meinong bis 1902 zu vertreten scheint, um 1900 ziemlich wackelig war. In der ersten Auflage von Über Annahmen (1902) spricht er sie zwar unzweideutig aus, und auch in der zweiten Auflage (1910) bestätigt er, dass er diese Ansicht in der ersten Auflage tatsächlich vertreten hat. Die Bemerkungen darüber, dass ein rundes Dreieck eine objektive Unbestimmtheit enthält, zeigen aber klar, dass die Tendenz, jedem Akt einen gegenstandstheoretisch ernst zu nehmenden transzendenten Gegenstand zuzuordnen, bei Meinong bereits 1900 vorhanden war. 6. Die Gegenstände höherer Ordnung (1899) In der Abhandlung Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung (1899) untersucht Meinong noch einmal die Probleme der Relationen und Komplexionen. Solche Gegenstände, schreibt er, zeichnen sich durch eine besondere Unselbstständigkeit aus. Dabei geht es nicht um die Art der Unselbstständigkeit, die für Gegenstände wie Farbe oder Ausdehnung charakteristisch ist und die Meinong eine „äußere“ Unselbstständigkeit nennt. Eine Farbe kann zwar ohne Ausdehnung nicht auftreten, man kann sie aber in Gedanken so isolieren, dass es „einen ganz guten Sinn hätte, zu meinen, im Gedanken an Blau oder Gelb liege noch gar nichts von Räumlichkeit, obwohl es unmöglich sei, Farbe zu denken, ohne Ausdehnung mitzudenken.“ (Meinong 1899, S. 386) Was aber die Relationen und Komplexionen betrifft, so haben wir es hier mit Gegenständen zu tun, „die sich gleichsam auf andere Gegenstände als ihre Voraussetzungen aufbauen“. (Meinong 1899, S. 386) Dies rechtfertigt die Bezeichnung
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Gegenstände höherer Ordnung, die Meinong für diese zwei Klassen einführt. Die involvierte Unselbstständigkeit ist hier viel stärker als im Fall der Farbe und Ausdehnung. Meinong nennt sie eine „innere“ Unselbstständigkeit. Für einen Gegenstand höherer Ordnung (Superius) ist es wesentlich, dass er sich auf fundierende Gegenstände (Inferiora) aufbaut. „Es ist eine ausnahmslose Gesetzmäßigkeit, dass ein Gegenstand, der in irgend einem Falle ein Inferius gestattet, solcher Inferiora unter allen Umständen bedarf.“ (Meinong 1899, S. 387) Für ein Inferius sei aber nicht wesentlich, dass es ein Inferius sei. „Was jetzt einen Gegenstand höherer Ordnung trägt, kann ein andermal ganz ohne einen solchen auftreten [ ].“ (Meinong 1899, S. 387)18 Die Kategorien der Relation und Komplexion sind durch das Koinzidenzprinzip korreliert. Dieses Prinzip hat Meinong schon 1891 in seiner Ehrenfels-Rezension formuliert. Es besagt, dass immer, wenn eine Relation gegeben ist, auch die korrelative Komplexion vorhanden ist, wobei die Gegenstände, die im ersten Fall die Glieder der Relation bilden, im zweiten Fall als die Bestandstücke der Komplexion auftreten; und umgekehrt: Für jede Komplexion gibt es die korrelative Relation. (Meinong 1899, S. 389) Die Relation, die zwischen den Gliedern besteht, bildet dabei einen Teil der Komplexion. Das Verhältnis zwischen beiden ist deshalb das Verhältnis der „Partialkoinzidenz“. (Meinong 1899, S. 390) Eine Komplexion ist aber, betont Meinong, nicht bloß die Summe ihrer Bestandstücke plus der Relation, die die Bestandstücke verbindet. In diesem Fall hätten wir, sagt Meinong, ein objektives Kollektiv vor uns (nämlich ein Kollektiv, das aus allen Bestandstücken und der Relation besteht). Eine Komplexion besteht erst dann, wenn die Bestandstücke in der entsprechenden Relation stehen. Es muss also eine Art Verknüpfung zwischen den Bestandstücken und der Relation geben. Wir erinnern uns an Meinongs Gedanken aus den Hume-Studien II, dass es zwischen einer Relation und den Gliedern, die sie verbindet, eine weitere Relation gibt. Wir haben bereits gesagt, dass diese Forderung einen Bradley’schen unendlichen Regress auslöst (vgl. Bradley 1897, 18
Meinong geht es hier darum, dass ein Glied eines Komplexes „ein andermal“ auch ohne die anderen Glieder auftreten kann.
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S. 27 f.). 1899 erkennt Meinong dieses Faktum explizit an, er hält es jedoch für völlig harmlos. Meinong schreibt: „Vielmehr steht ja a und b in der Relation r , was nur bedeuten kann, dass auch a resp. b zu r in je einer Relation stehen muss, etwa r ’, beziehungsweise r ”, welche beiden Relationen immerhin auch gleich sein können. Zugleich wird ersichtlich, dass, was eben in bezug auf a, b und r gesagt wurde, sich nun auch in bezug auf a, r und r ’, oder auch in bezug auf b, r und r ” wiederholen ließe und dass in dieser Weise neue und immer neue Relationen zum Vorschein kommen müssen ohne Ende. Eine theoretische Schwierigkeit kann meines Erachtens hierin so wenig gefunden werden als etwa darin, dass die Teilung einer Strecke auf eine unendliche Reihe immer kleinerer Teilstrecken führt.“ (Meinong 1899, S. 390)
Auf diese Feststellung kann man unterschiedlich reagieren. Wir werden nicht versuchen, eine verbindliche Antwort zu geben, ob dieser Regress wirklich harmlos ist. Wir weisen aber darauf hin, dass die Schwierigkeit von Meinong selbst schon bald in anderer Weise gelöst wird. Mehr darüber werden wir im nächsten Kapitel sagen. Meinong erkennt explizit an, dass es auch Relationen gibt, die mehr als zwei Glieder haben (wie es auch mehr als zweistellige Prädikate gibt), und dass das Einfache als Grenzfall einer Komplexion und die Identität mit sich selbst als ein Grenzfall der Relation betrachtet werden können. (Meinong 1899, S. 392 ff.) Die Theorie, die Meinong in der Abhandlung Über Gegenstände höherer Ordnung vorschlägt, sieht also folgendermaßen aus. Gegenstände zerfallen in zwei Gruppen. Auf der einen Seite haben wir einfache Gegenstände, die man sich wahrscheinlich als isolierte individuelle Eigenschaften (Tropen) vorstellen kann. Auf der anderen Seite gibt es Gegenstände höherer Ordnung, die aus mehreren einfachen Gegenständen und einer verbindenden Relation bestehen. Zu solchen Gegenständen höherer Ordnung gehören sowohl jedes passiv wahrnehmbare Konkretum, in dem mehrere Tropen mittels einer realen Relation (nämlich der Relation, die man heutzutage oft Kompräsenz nennt) verbunden sind, als auch solche Komplexe, die, um wahrgenommen zu werden, eine besondere Aktivität des Subjekts voraussetzen. In den Komplexen der zweiten Art ist die verbindende Relation ideal. Entsprechend dem Charakter der verbindenden Relation zerfallen die Gegenstände höherer Ordnung in reale und ideale Gegenstände. (Vgl. Grossmann 1974, S. 77) Die Klassifikation der Gegenstände, die wir erhalten, sieht also folgendermaßen aus:
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kapitel 3 Gegenstände
einfache (= isolierte Tropen)
höherer Ordnung (= Komplexionen der einfachen Gegenstände vereinigt durch eine Relation)
eine reale Relation
eine ideale Relation
passiv wahrnehmbare
aktiv "konstruierbare"
reale Konkreta
ideale Gegenstände
Das Problem, das Meinong 1899 offensichtlich nicht lösen kann, ist der Charakter des kognitiven Zugangs zu den Gegenständen höherer Ordnung. (Vgl. Grossmann 1974, S. 75) Die Intentionalitätstheorie, die Meinong seit 1899 vertritt, betrachtet den psychischen Inhalt als das Hauptvehikel der intentionalen Beziehung. Eine natürliche Hypothese wäre, dass man sich auf einfache Gegenstände durch einfache Inhalte und auf Gegenstände höherer Ordnung durch zusammengesetzte Inhalte bezieht. So wie die Gegenstände höherer Ordnung aus den in einer bestimmten Relation zueinander stehenden einfachen Gegenständen bestehen, so wäre der zusammengesetzte Inhalt ein Komplex, der aus mehreren einfachen Inhalten besteht, die zueinander in einer bestimmten Relation stehen. Die Relation, die einfache Inhalte zu einem zusammengesetzten Inhalt vereinigt, müsste dabei natürlich eine in Meinongs Terminologie reale (d.h. externe) Relation sein. Die einfachen Inhalte können ja auch isoliert auftreten. Dass ein Subjekt einen Gegenstand höherer Ordnung anstatt eines einfachen Gegenstands meint (und dementsprechend einen zusammengesetzten Inhalt verwendet), ist eine kontingente Tatsache.
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Daraus resultiert jedoch ein Problem. Wie wir in Kapitel 3.2 gesehen haben, behauptet Meinong, dass die Relation zwischen einem psychischen Inhalt und dem ihm zugehörigen Gegenstand eine ideale Relation ist. Sie ist eine interne Relation, die durch die monadischen Eigenschaften ihrer Glieder mit Notwendigkeit impliziert ist. Diese Sachlage hat jedoch nach Meinongs Auffassung die unangenehme Konsequenz, dass keine reale Relation, in die ein gegebener Inhalt tritt, irgendetwas an seiner intentionalen Rolle ändern kann, was zu implizieren scheint, dass ein zusammengesetzter psychischer Inhalt (d.h. ein Inhalt, der aus mehreren Inhalten in einer realen Relation besteht) prinzipiell nicht imstande ist, etwas anderes zu intendieren als Gegenstände seiner einfachen Bestandteile. Um 1902 versucht Meinong dieses Problem zu lösen, indem er der propositionalen Intentionalität die Schlüsselrolle in der Präsentation der Gegenstände höherer Ordnung zumisst. Ob diese neue Lösung wirklich überzeugend ist, werden wir noch untersuchen. 7. Reale und ideale Gegenstände In der Abhandlung Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung (1899) versucht Meinong auch, eine wichtige Unterscheidung zwischen den realen und idealen Gegenständen zu präzisieren. Reale Gegenstände sind diejenigen, „die, falls sie nicht existieren, ihrer Natur nach doch jedenfalls existieren könnten“ (Meinong 1899, S. 394), und zwar im Gegensatz zu den nicht-realen, d.h. idealen Gegenständen, die, „auch wenn sie in gewisser Weise affirmiert werden müssen, doch wieder ihrer Natur nach niemals ohne Inkorrektheit als existierend bezeichnet werden dürfen.“ (Ibid.) Solche idealen Gegenstände können in Meinongs Sprachgebrauch lediglich bestehen. Beispiele realer Gegenstände sind „ein Haus, ein Chronograph, ein Buch, natürlich auch Farbe, Ton, Elektrizität u. dgl.“ Als Beispiele für ideale Gegenstände nennt er „Mangel, Grenze, Vergangenes“. (Ibid.) In Bezug auf das Vergangene als Teil des Nicht-Realen nimmt Meinong aber gegen Ende seines Aufsatzes noch eine wichtige Korrektur vor. „Wie wenig hier alles in Ordnung ist,“ lesen wir, „mag ein Beispiel dartun. ,Der letzte weggeschmolzene Schnee‘ ist, weil etwas Vergangenes, ideal; der ,goldene Berg‘ ohne Zeitbestimmung ist nach
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gewöhnlicher Auffassung real, obwohl er nie existiert hat und nie existieren wird.“ (Meinong 1899, S. 457) Meinong konkludiert also, dass man vergangene und zukünftige Gegenstände als real bezeichnen sollte. „Die dem historischen Interesse so nahe liegende Tatsächlichkeit des Vergangenen, der eine eben solche des Künftigen zur Seite steht, fordert, wenn ich recht sehe, unweigerlich die Einbeziehung des Vergangenen und Künftigen in den Bereich des Realen.“ (Ibid.) Wir können wieder ein Diagramm verwenden, das die Einführung der nicht-existierenden Gegenstände, die bei Meinong eindeutig erst nach 1904 erfolgt, vorwegnimmt, um die Klassifikation Meinongs mit Brentanos Ontologie aus dem Wahrheitsvortrag (1889) zu vergleichen. Wenn wir die zwei Arten des Seins (Existenz und Bestand), die Meinong hier unterscheidet, unter dem Namen „Aktualität“ vereinigen, dann sehen wir, dass sich die Unterscheidung real/ideal mit der Unterscheidung aktuell/nicht-aktuell überschneidet. Wir erhalten also eine Vierteilung, die sehr an das Brentano’sche Schema des Wahrheitsvortrags erinnert.
reale
aktuelle
ein Hund ein Mensch Farbe Ton Elektrizität der vergangene Immanuel Kant Pegasus Zentaur
nicht aktuelle
die Farbe einer Chimäre der vergangene Herkules
nicht-reale (=ideale) ein Mangel an Wasser die Grenze zwischen Mt. Everest und seiner Umgebung ein Mangel an Fliegen die Grenze zwischen einem goldenen Berg und seiner Umgebung
Was die Frage betrifft, welche Entitäten konkret in welcher Kategorie zu platzieren sind, gibt es freilich Unterschiede. Brentano würde z.B. die abstrakten Teile eines konkreten Individuums, wie z.B. eine Farbe, wie auch alle zeitlich modifizierten Gegenstände als nicht-reale
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Entitäten bezeichnen, und eine wichtige Gruppe innerhalb der Kategorie des Nicht-Realen bilden bei ihm die immanenten Objekte und die propositionalen Inhalte. Die ersteren davon wurden von Meinong bereits verworfen, und die letzteren werden von ihm erst drei Jahre später mit allen Konsequenzen berücksichtigt. Die Hauptidee, dass man innerhalb dessen, was in einem Urteil angenommen bzw. verworfen wird, zwei grundverschiedene Gruppen von Entitäten unterscheiden muss, scheint jedoch weiterhin zu bestehen. Die Erklärung Meinongs, dass man als real nur das bezeichnen darf, was existieren kann, ist aber kaum zufriedenstellend. Es ist eine rein konventionelle Entscheidung, ob wir sagen, dass eine Grenze oder eine Ähnlichkeit zwischen zwei Körpern existiert. Brentano hat sehr oft das Wort „Existenz“ in dem weiten Sinne verwendet, in dem man von allem, was wir hier als aktuell bezeichnen, sagen darf, dass es existiert. Eine genuine Erklärung dieses Unterschieds muss sich auf die Natur der betreffenden Gegenstände stützen; und Meinong versucht tatsächlich, eine solche Erklärung zu geben. Er sagt, dass die realen Gegenstände diejenigen sind, die wahrgenommen werden können, vorausgesetzt, dass das betreffende Subjekt über unbeschränkte kognitive Möglichkeiten verfügt. (Meinong 1899, S. 395) Ob diese Erklärung das leistet, was sie verspricht, ist aber ebenfalls zweifelhaft. Meinong rechnet nämlich die abstrakten Aspekte der realen konkreten Individuen, wie eine Farbe oder eine Gestalt, ebenfalls zu den realen Entitäten, was heißen muss, dass er sie ebenfalls für wahrnehmbar hält. Wenn wir aber auch die Farbe eines Gegenstands (und nicht bloß einen farbigen Gegenstand) wahrnehmen können, wäre es dann nicht plausibel anzunehmen, dass wir ebenfalls eine Grenze zwischen zwei Körpern wahrnehmen können? (Stellen wir uns vor, dass beide Körper unser Wahrnehmungsfeld weit überschreiten, dass einer von ihnen gelb ist, der andere hingegen schwarz, und dass sich die Grenze zwischen ihnen etwa in der Mitte unseres Wahrnehmunsgsfeldes befindet. Wäre es nicht plausibel anzunehmen, dass wir in diesem Fall gewissermaßen in erster Linie die Grenze wahrnehmen?) Es scheint, dass der Begriff der Wahrnehmung viel zu vage ist, um hier als ein verlässlicher Maßstab funktionieren zu können. Sehr deutlich sieht man das am Beispiel der propositionalen Gegenstände, die man bei Meinong ab 1902 findet. Auf solche Gegenstände
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beziehen wir uns gewöhnlich durch Dass-Konstruktionen. Dazu gehören z.B. die Entitäten dass Schnee weiß ist oder dass diese Rose rot ist, die in der philosophischen Literatur heutzutage gewöhnlich als Tatsachen, Situationen oder Sachverhalte bezeichnet werden. Meinong nennt sie Objektive und behauptet, dass alle Objektive ausnahmslos ideale Gegenstände sind. Sollen wir wirklich sagen, dass wir nicht wahrnehmen können, dass Schnee weiß ist, oder, dass eine schwarze Katze auf einem grünen Baum sitzt? Die Antwort auf diese Frage kann uns erst eine artikulierte Wahrnehmungstheorie liefern. Das große Problem besteht aber darin, dass die Hypothese, welche Gegenstände Gegenstände der Wahrnehmung sind, eher als eine Voraussetzung für die Formulierung einer adäquaten Wahrnehmungstheorie, denn als ihre Konsequenz zu sehen ist. Dass wir das-und-das wahrnehmen können, sind unsere vortheoretischen Daten, und die Wahrnehmungstheorie ist eine Theorie, die uns zu erklären hat, wie das möglich ist. Die Wahrnehmungstheorie Meinongs, die uns die Unwahrnehmbarkeit der idealen Gegenstände erklären soll, sah 1899 folgendermaßen aus. Eine Wahrnehmung besteht aus einem Existenzurteil, das sich auf eine Wahrnehmungsvorstellung aufbaut. Eine solche Wahrnehmungsvorstellung präsentiert uns zwar individuell-konkrete Komplexionen – sie ist nicht eine bloße Empfindung, die etwa einen isolierten Farbe-Aspekt als Objekt hat –, die Präsentation einer solchen Komplexion bedarf aber keiner besonderen Aktivität des Subjekts. In der Terminologie des frühen Meinong haben wir es hier mit den „vorfindlichen“ Komplexen zu tun (vgl. Meinong 1889, S. 207), und die Relation, die eine solche Komplexion konstituiert, ist real. Wenn wir hingegen in einem ähnlichen Existenzurteil den Bestand eines idealen Gegenstands anerkennen, muss das Vorstellungsmaterial, an dem das Urteil operiert, erst „erarbeitet“ werden. „Es ist eine recht triviale Sache, dass, wer etwa über Gleichheit oder Ungleichheit zweier Dinge ins Klare kommen will, sie miteinander vergleichen muss [ ].“ (Meinong 1899, S. 397) Die entsprechende Relation, die in diesem Fall eine ideale Relation ist, baut sich natürlich mit Notwendigkeit auf die entsprechenden Glieder auf, und deswegen können erst sie mit Recht „Fundamente“ genannt werden (Meinong 1899, S. 399) – eine Bezeichnung, die der frühe Meinong auch für die Glieder einer realen Relation verwendete –, nichtsdestoweniger muss es, soll die entsprechende
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Relation bzw. Komplexion wirklich bewusst vorgestellt werden, auch eine entsprechende psychische Aktivität geben, die Meinong hier den Vorgang der Fundierung nennt. Das kann man terminologisch festhalten, indem man „den Erfahrungsgegenständen die Fundierungsgegenstände oder fundierten Gegenstände zur Seite stellt.“ (Meinong 1899, S. 399) Auch bei dieser Präzisierung scheint es jedoch, dass das Wahrnehmbarkeitskriterium keine Chance hat, als ein ernst zu nehmender ontologischer Prüfstein zu funktionieren. Denn wie kann es z.B. dazu kommen, dass ein erfahrener Tennisspieler in einem kurzen Augenblick wahrnimmt, dass sein Gegner das Gleichgewicht verloren hat, und den Ball dementsprechend platziert, während ein einjähriges Kind nicht einmal imstande ist, wahrzunehmen, dass es selbst das Gleichgewicht verloren hat? Die Antwort auf diese Frage ist jedem Psychologiestudenten längst bekannt. Was man „passiv wahrnimmt“, hängt nämlich sehr stark von dem ab, was man im Laufe seines Lebens gelernt hat. Die Aufgabe, aus unseren Wahrnehmungserlebnissen eine Schicht absolut „passiv gegebener Daten“ auszusondern, ist aus heutiger Sicht ungefähr so hoffnungslos wie die Aufgabe, aus Sand und Wasser Gold zu erzeugen. Keine psychologische Alchemie kann uns bei der Identifizierung der kognitiv primären Inhalte helfen. Es ist übrigens eine Ironie der Geschichte, dass die psychologische Wahrnehmungstheorie, die Meinong doch so viel verdankt, seine eigenen Theorien so krass überholt hat. Es ist also unwahrscheinlich, dass uns Meinongs Wahrnehmbarkeitskriterium zu einer ontologisch ernst zu nehmenden Unterscheidung führen kann. Es gibt aber bei Meinong auch Stellen, die ein anderes Unterscheidungskriterium suggerieren. Wenn er zu erklären versucht, warum man im Fall eines idealen Gegenstands nicht von Existenz sprechen darf, nimmt er als Beispiel die Relation der Ähnlichkeit, die zwischen zwei Gegenständen besteht. Er schreibt: „Man denke an die Ähnlichkeit einer Kopie mit ihrem Original: Beide Bilder existieren; außer und neben ihnen aber auch noch der Ähnlichkeit Existenz zuzuerkennen, das verspürt jeder Unvoreingenommene als Gewaltsamkeit. Dennoch ist an der Ähnlichkeit gegebenen Falles etwas vielleicht mit Recht zu affirmieren; wir setzen ja voraus, dass den beiden Bildern die Ähnlichkeit gar nicht abgestritten werden kann. Die Ähnlichkeit existiert nicht, aber sie besteht; und eben was seiner Natur nach zwar sehr wohl bestehen, aber streng genommen nicht existieren kann, das ist ja das, was hier als Ideales dem Realen entgegengestellt sein soll.“ (Meinong 1899, S. 395)
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Diese Erklärung legt es nahe, dass der Unterschied zwischen realen und idealen Gegenständen darin besteht, dass ein idealer Gegenstand immer als eine Entität aufgefasst werden kann, die auf einem (oder mehreren) realen Gegenstand (Gegenständen) superveniert (d.h. durch die Existenz und Natur dieses Realen (dieser Realia) mit Notwendigkeit impliziert ist). Die Eigenart der Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Bildern besteht doch darin, dass sie durch die absoluten Eigenschaften dieser Bilder mit Notwendigkeit impliziert ist. Sie ist eine interne Relation. Sie superveniert auf den monadischen Eigenschaften ihrer Glieder. Das ist auch der wahre Grund, warum man einen instinktiven Widerstand verspürt, eine solche Ähnlichkeitsrelation irgendwie „neben“ ihre zwei Glieder zu stellen. Wenn man eine komplette Beschreibung der Welt geben will, braucht man nämlich eine solche Relation nicht einmal zu erwähnen. Sie „ergibt sich“ automatisch aus der Beschreibung der Glieder, und deshalb ist sie vielleicht vom ontologischen Standpunkt aus nichts mehr als die beiden Glieder zusammengenommen. Wenn wir den Unterschied real-ideal so interpretieren, wäre es verständlich, warum Meinong neben der Existenz noch eine andere Seinsweise (Bestand) einführt. Die Seinsweise, die den idealen Gegenständen zukommt, wäre nämlich nach dieser Interpretation wesentlich schwächer als die Seinsweise des Realen, die wir „Existenz“ nennen. Wie gesagt, sind die idealen Gegenstände durch die Gesamtheit des Realen mit Notwendigkeit impliziert und in diesem Sinne ontologisch reduzierbar.19 Diese Interpretation wird durch zwei Tatsachen gestützt. Zum einen war die Idee, dass die nicht-realen Gegenstände nur eine Art 19
Meinong hat die Unterscheidung zwischen Existenz und Bestand 1896 in der Abhandlung Über die Bedeutung des Weberschen Gesetzes eingeführt. Dort scheint sie jedoch noch einen ganz anderen Sinn zu haben. Vgl. „[D]ie Strecke zwischen zwei Raumoder Zeitpunkten besteht, mag sie übrigens existieren oder nicht. Und in ganz demselben Sinne besteht auch das Kontinuum der Übergange zwischen zwei distanten, d.h. eben nur zwischen zwei verschiedenen Farben, so gewiss jeder Farbe als Inhalt die Möglichkeit kontinuierlicher Veränderung zugeschrieben ist.“, Meinong 1896, S. 288. Gemäß dem Sinn, in dem das Wort „bestehen“ von Meinong 1899 verwendet wird, besteht das Kontinuum von Farben natürlich nicht, wenn alle dazugehörigen Farben nicht existieren. Der Sinn, in dem Meinong 1896 vom Bestand spricht, dürfte eher mit dem zusammenfallen, was man normalerweise „Möglichkeit“ nennen würde.
inhalt und gegenstand. meinongs lehre um 1900
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„Schattendasein“ in Bezug auf die realen Gegenstände haben, für die ganze Brentano-Schule um 1900 charakteristisch. Zum anderen entspricht die Weise, in der Meinong zwischen den realen und den idealen Komplexionen und Relationen differenziert, genau der Intuition, dass die Idealität im Grunde Supervenienz bedeutet. Denn nicht alle Relationen und Komplexionen werden, wie die oben angeführte Ähnlichkeitsrelation, von Meinong als ideal klassifiziert. Als eine solche ideale Komplexion gilt Meinong z.B. „die Vierzahl, und natürlich nicht minder jede andere Zahl“, da ihnen, „falls richtig gezählt wurde, [ ] der Bestand nicht abzusprechen ist.“ (Meinong 1899, S. 395) Neben solchen idealen Komplexionen gibt es aber auch reale, und als solche nennt er die Vereinigung einer bestimmten Qualität mit einer bestimmten örtlichen Position, so wie man sie in einem realen konkreten Individuum findet. (Ibid.) Im Gegensatz zur Ähnlichkeit von zwei bestimmten Gegenständen oder zur Zahl der Elemente einer bestimmten Gruppe, ist die Tatsache, dass eine bestimmte Farbe an einem bestimmten Ort auftritt, keineswegs durch die absolute Natur der Farbe und des Ortes impliziert. Die vereinigende Relation ist hier extern und wird von Meinong deswegen als real bezeichnet. (Meinong 1899, S. 395) Wir erinnern uns an die ganz ähnliche Unterscheidung aus den Hume Studien II, die ihr Analogon auch in Brentanos Logik-Vorlesungen [EL 72] findet. Es ist aber zweifelhaft, ob die Unterscheidung real-ideal bei Meinong auch noch später durch Rekurs auf die Supervenienz überzeugend definiert werden kann. Wie gesagt, führt Meinong ab 1902 als eine neue gegenständliche Kategorie die propositionalen Entitäten (Objektive) ein. Alle Objektive werden als ideale Gegenstände klassifiziert; es ist aber höchst zweifelhaft, ob sie in irgendeinem verständlichen Sinne als ontologisch unwichtig bezeichnet werden können. Es ist insbesondere eine der grundlegendsten Thesen der späten Philosophie Meinongs, dass Objektive auf ihre nominalen Bestandteile nicht reduzierbar sind, und auch unser gesunder Menschenverstand sagt uns ja, dass es propositionale Entitäten gibt, die kontingent bestehen, die also durch die monadischen Eigenschaften der involvierten Objekte nicht impliziert werden. Die Aufrechterhaltung des Supervenienz-Kriteriums der Idealität scheint hiermit hoffnungslos.
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kapitel 3
Die Unterscheidung real-ideal scheint also bei Meinong nicht besonders klar zu sein. Glücklicherweise müssen wir uns aber nicht bemühen, ihren wahren Sinn (falls es einen solchen überhaupt gibt) zu eruieren. Denn in Wahrheit hängt von dieser Unterscheidung sehr wenig ab. Im Folgenden werden wir uns daher auf die gegenstandstheoretische Natur der betreffenden Entitäten konzentrieren. Die Frage, wie Meinong ihre Seinsweise bezeichnet, wird sich bald als völlig irrelevant erweisen. Um nur einen besonders brisanten Punkt vorwegzunehmen: Beim späten Meinong werden selbst die konkreten Individuen (die, wie wir uns erinnern, aus den durch eine reale Relation vereinigten Tropen bestehen) im Grunde zu Objektiven. Die Entscheidung, ob wir sie aus diesem Grund „ideal“ nennen sollen, scheint (im Gegensatz zur wichtigen Einsicht, dass sie eine propositionale Struktur involvieren) wirklich rein konvetionell zu sein.
KAPITEL 4
DIE LEHRE VON DEN OBJEKTIVEN (1902)
Um 1902 hat sich in Meinongs Lehre eine für die weitere Geschichte der Ontologie sehr wichtige Wende vollzogen. In diesem Jahr erscheint die erste Auflage seines Buches Über Annahmen, in dem wir eine neue Kategorie von Gegenständen finden. Die neuen Gegenstände heißen Objektive, und sie sollen gegenständliche Korrelate der vollständigen Sätze bilden, ähnlich wie die „normalen“ Objekte Korrelate von Namen, Kennzeichnungen und generell allen „ontologisch ernst zu nehmenden“ nominalen Phrasen sind. In diesem Sinne kann man Meinongs Objektive propositionale Entitäten nennen, und zwar im Gegensatz zu den Gegenständen nominaler Form, die den nominalen Ausdrücken zugeordnet sind. Wenn man die Neuerung Meinongs bloß als die Einführung von propositionalen Satzkorrelaten auffasst, verkennt man jedoch ihre wahre philosophische Bedeutung. Von solchen Korrelaten hatte ja bereits Brentano in seinen Logik-Vorlesungen gesprochen. Carl Stumpf hatte sie in seinen Vorlesungen vom Jahre 1888 unter dem Namen „Sachverhalte“ behandelt.1 Deutliche Spuren dieser Lehre kann man auch in den Schriften Martys aus den achtziger und neunziger Jahren finden. Hat Meinong bloß so lange gebraucht, um sich die alte Lehre Brentanos anzueignen?2 1
Vgl. „From the matter of a judgement we distinguish its content or the state of affairs [Sachverhalt] expressed in the judgement. E.g., ,God is‘ has God as its matter, the being of God as its content. ,There is no God‘ has the same matter, but ,nonbeing of God‘ as the content.“, Stumpf 1888, S. 313. Vgl. dazu auch Rollinger 1999, S. 89. 2 Marty hat Meinong in der Tat vorgeworfen, dass seine Lehre von den Objektiven bloß darin besteht, dass man ein neues Wort für altbekannte Entitäten einführt. Vgl. Marty 1908, S. 292 f. In der zweiten Auflage von Über Annahmen (1910) reagiert Meinong auf diesen Einwand, indem er bestreitet, dass ihm Brentanos und Martys Lehre von den Inhalten bekannt sei. Vgl. „Zur Zeit der Abfassung der ersten Auflage gegenwärtiger Schrift war Bolzanos Lehre vom ,Satze an sich‘ mir so wenig bekannt wie den meisten Fachgenossen. Dass ich ferner an Vorlesungen Brentanos teilgenommen
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kapitel 4
Eine solche Bewertung wäre unfair, denn Meinongs Theorie enthält wesentlich mehr als nur die Idee, dass man jedem vollständigen Satz einen besonderen Gegenstand zuordnet. Die vorläufige Aufteilung der Entitäten in die Korrelate der nominalen Ausdrücke und die Korrelate der vollständigen Sätze kann nämlich lediglich als eine erste Annäherung dienen. Meinongs propositionale Gegenstände sind zwar im Gegensatz zu den nominalen Objekten semantische Korrelate ganzer Sätze, was aber ihre wahre gegenstandstheoretische Bedeutung ausmacht, ist nicht diese semantische Zuordnung, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie sich in ihrer inneren Struktur von nominalen Objekten deutlich unterscheiden. Denn selbst wenn man sich entscheidet, einem Satz ein besonderes semantisches Korrelat zuzuordnen, wird dadurch die ontologische Struktur dieses Korrelats noch keineswegs festgelegt. So haben wir, um bei Brentano zu bleiben, gesehen, dass er in der Periode der Psychologie den Urteilen genau dieselben Korrelate zuordnen wollte wie den ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen. Und was die Logik-Vorlesung betrifft, so sind die dort postulierten Urteilsinhalte zwar von den nominalen Objekten der entsprechenden Vorstellungen verschieden, ihre „syntaktische“ Struktur ist aber auf das absolute Minimum reduziert. Wir finden dort eigentlich nur das nominale Objekt plus dem Moment der Existenz bzw. Nicht-Existenz. Das Verdienst Meinongs liegt darin, dass er auf wichtige strukturelle Elemente der propositionalen Korrelate aufmerksam gemacht hat, die sich laut seiner Theorie weder auf die innere Komplexität eines nominalen Objekts, noch auf eine bloße existentielle Position (bzw. existentielle Negation) reduzieren lassen. hätte, die unter welchem Namen immer das Objektiv anders betrafen als in Logik und Psychologie jederzeit unvermeidlich war, ist mir in keiner Weise erinnerlich. Martys jetzt von ihm so vielberufene Artikelserie ,Über subjektlose Sätze usw.‘ [Marty 1884, Marty 1894, Marty 1895] begann im Jahre 1884, dürfte also, soweit sie mir bekannt war und in Betracht kam, um 1900 meinem Gedächtnis doch wohl entschwunden sein. Dass aber endlich Stumpf in einem gefühlspsychologischen Zeitschriftartikel gelegentlich ,Sachverhalt‘ im Sinne von ,Objektiv‘ gebraucht, ist mir anlässlich gefühlspsychologischer Untersuchungen ganz zufällig im Jahre 1905 aufgefallen; die technische Intention dieses Gebrauches konnte ich erst einer Veröffentlichung Stumpfs aus dem Jahre 1907 entnehmen. [Stumpf 1907]“, Meinong 1910, S. 98.
die lehre von den objektiven (1902)
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1. Semantische Korrelate vollständiger Sätze Am Beispiel der Objektive kann man übrigens besonders gut beobachten, welch große Rolle die Intentionalitätstheorie in der Entwicklung der Gegenstandstheorie Meinongs tatsächlich gespielt hat. Um 1902 entscheidet er sich, eine neue gegenständliche Kategorie der propositionalen Entitäten einzuführen. Der Grund dafür liegt zunächst darin, dass man ohne solche Entitäten die intentionalen Beziehungen, die durch vollständige Sätze ausgedrückt werden, kaum erklären kann. Heutzutage klassifiziert man solche intentionalen Beziehungen häufig kurzerhand als propositionale Einstellungen, was nahe legt, dass die Beziehung auf Propositionen als ihr Definitionsmerkmal zu betrachten ist. Diese Tendenz ist aber erst für den heutigen postfregeschen philosophischen Diskurs charakteristisch. Ende des XIX. Jahrhunderts gab es in der Frage, wie die Semantik solch intentionaler Beziehungen zu interpretieren ist, noch keinen Konsens.3 Das beste Beispiel dafür ist die Theorie, die Brentano in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) formuliert hat. Die intentionalen Beziehungen, die durch vollständige Sätze ausgedrückt werden, sind entweder Urteile oder emotionale Phänomene. Ein Urteil besteht darin, dass ein vorgestelltes Objekt existentiell angenommen bzw. verworfen wird; und ein emotionales Phänomen ist ein ähnliches Annehmen bzw. Verwerfen eines vorgestellten Objekts, wobei in diesem Fall das Annehmen bzw. Verwerfen emotionaler Natur ist. Die Komponenten des Annehmens oder Verwerfens, die in diesen Akten involviert sind, werden dabei als bloße psychische Modi betrachtet, die keine gegenständlichen Entsprechungen haben. Alle semantischen Korrelate, die Brentano in der Psychologie postulieren musste, waren Vorstellungsobjekte der nominalen Form. Meinong wurde mit dieser Theorie zunehmend unzufrieden. Schon 1892, in seiner Rezension von Hillebrands Buch Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse (Hillebrand 1891), kritisiert er Einzelheiten der Brentano’schen Reduktion der vier traditionellen kategorischen Urteilsformen auf die Existentialurteile, und im Jahre 1902 3
Zur Geschichte der Sachverhaltsontologie ab der Mitte des XIX. Jahrhunderts vgl. Rojszczak/Smith 2001; Smith 1992.
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kapitel 4
entdeckt er „ein Tatsachengebiet zwischen Vorstellen und Urteilen“ (Meinong 1902, S. 1 ff.), das die propositionalen Entitäten selbst dann unentbehrlich machen würde, wenn die Brentano’sche Reduktion tatsächlich funktionieren würde. Die psychischen Akte, die Meinong „zwischen Vorstellen und Urteilen“ situiert, sind Annahmen. Mit einer Annahme haben wir es dann zu tun, wenn wir z.B. gewisse Voraussetzungen nur zwecks Prüfung ihrer Konsequenzen machen, oder wenn wir uns in die Welt der literarischen Fiktion versenken. Was die Eigenart dieser Phänomene ausmacht, ist die Tatsache, dass ihr „Inhalt“ genau dem Inhalt der entsprechenden Urteile entspricht, dass ihnen aber das Moment des ernsthaften Glaubens, das für ein Urteil charakteristisch ist, fehlt. Nehmen wir (in diesem Sinne der Annahme) an, dass es einen goldenen Berg gibt. Welchen psychischen Akt vollziehen wir damit? Ein Glaube, dass es einen goldenen Berg gibt, ist hier nicht involviert. Wir urteilen nicht, dass ein goldener Berg existiert. Wir könnten sogar überzeugt sein, dass es in der Welt keinen solchen Gegenstand gibt. Unsere Annahme ist also kein Urteil. Ihr Inhalt ist aber trotzdem nicht bloß ein goldener Berg, sondern eben, dass es einen goldenen Berg gibt. Wenn die Brentano’sche existentielle Reduktion durchführbar wäre, dann hätte ein solcher Inhalt zwar immer eine (positive oder negative) existentielle Form „A ist“ bzw. „A ist nicht“, wir sehen aber, dass die positive oder negative existentielle Position, die in einem solchen Inhalt involviert ist, von dem Moment des ernsthaften Glaubens, das nur für ein Urteil, aber nicht für eine Annahme charakteristisch ist, scharf unterschieden werden muss.4 Wenn wir also den nominalen Inhalt einer Vorstellung als „A“, die positive und negative existentielle Position als „+“ und „−“ und das Moment des ernsthaften Glaubens als „“ symbolisieren, dann sehen die zwei Brentano’schen Urteilsformen folgendermaßen aus:
4
(1)
+A
(2)
−A
Ähnlich argumentiert Frege. Er sagt z.B., dass ein Fragesatz und ein entsprechender Behauptungssatz „denselben Gedanken enthalten“. Er unterscheidet dementsprechend „das Fassen des Gedankens – das Denken“ und „die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens – das Urteilen“. Vgl. Frege 1918, S. 62.
die lehre von den objektiven (1902)
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Diese Formen besagen, dass es ein A gibt bzw. nicht gibt, und sie involvieren die ernsthafte urteilsmäßige Stellungnahme „“. Die Formen ohne dieses Moment sind: (3)
+A
(4)
−A
Diese gibt es bei Brentano nicht, was auch so interpretiert werden kann, dass die Zusammenfügung von zwei Zeichen „“ und „+“ (bzw. „“ und „−“) bei Brentano als ein syntaktisches Ganzes zu interpretieren ist, das sich nicht weiter zerlegen lässt. Diese ganze Zusammenfügung bezieht sich auf den (anerkennenden oder verwerfenden) psychischen Modus, und als der gegenständliche Inhalt des Urteils bleibt nur noch die nominale Bezeichnung „A“. Bei Meinong ist dem aber anders. Was in einer Annahme fehlt, ist das Moment des Glaubens (), ihr Inhalt involviert aber die existentielle Position (bzw. Negation). Die Formen (3) und (4) sind also Formen, die Inhalte von Annahmen (und, wenn es darum geht, auch die Inhalte von Urteilen) sind. Wenn ein solcher Inhalt ernsthaft „geglaubt“ wird, dann kommt das Moment hinzu. Wir erhalten dann die Formen (1) und (2). Bei Meinong ist also die Zusammenfügung von „“ und „+“ (bzw. „“ und „−“) kein unzerlegbares syntaktisches Ganzes. Sie bekommt eine innere Struktur, die die Formen (3) und (4) sinnvoll macht. Wie eine Annahme symbolisiert werden soll, ist nicht ganz klar. Da wir mit „“ das Moment des Glaubens symbolisiert haben, das in der Annahme fehlt, liegt es nahe, die Formen (3) und (4) als Annahmenformen zu betrachten. In diesem Fall müssen wir sagen, dass jedes Urteil eine Annahme enthält, was Meinong übrigens anzunehmen scheint.5 5
Meinong schreibt: „Eine gewisse Direktive gewährt dabei der Umstand, dass sich das Verhältnis zwischen Urteil und Annahme [ ] durch eine fast definitionsartige Aufstellung präzisieren lässt, indem man etwa sagt: ,Annahme ist Urteil ohne Glauben‘, oder natürlich ebenso gut: ,Urteil ist Annahme unter Hinzutritt des Glaubens‘ oder ähnlich.“, Meinong 1910, S. 340. In Meinong 1915 unterscheidet er zwischen der penetrativen Einstellung, die für Urteile charakteristisch ist, und der kontemplativen Einstellung der Annahmen. Er schreibt allerdings, dass es „keine Penetration ohne Kontemplation“ gibt. In jedem Urteil ist ein kontemplatives Denken enthalten. Vgl. Meinong 1915, S. 257. In der Abhandlung Über emotionale Präsentation lesen wir: „Urteile
154
kapitel 4
Wenn wir das vermeiden möchten, müsste eine Annahme einen zusätzlichen „neutralen“ Modus enthalten, der in einem Urteil fehlt und den wir z.B. als „∗“ bezeichnen können. Die Annahmenformen wären dann: (5) (6)
∗
+A
∗
−A
Ob Annahmen einen besonderen psychischen Modus involvieren, ist für unsere Untersuchung nicht besonders wichtig. Was wichtig ist, ist die Beobachtung, dass der Inhalt einer Annahme zusätzliche Komponenten enthält, die ihn vom Inhalt einer Vorstellung unterscheiden. Diese zusätzlichen Komponenten können nicht bloß in einem psychischen Modus liegen, der nach Brentano für das Urteilen charakteristisch ist. Denn was immer ein solcher Modus sein sollte, er involviert auf jeden Fall eine ernsthafte Überzeugung; und eine solche Überzeugung ist gerade das, was bei einer Annahme fehlt. Der Unterschied zwischen einer Vorstellung und einer Annahme muss also in den gegenständlichen Korrelaten dieser Akte liegen. Eine Vorstellung bezieht sich auf ein Objekt, eine Annahme hingegen zumindest darauf, dass ein Objekt existiert bzw. nicht existiert. Solche Entitäten können wir, da sie als Korrelate von vollständigen Sätzen eingeführt werden, als propositionale Entitäten bezeichnen. Dass man solche propositionalen Entitäten braucht, sagt Meinong, leuchtet übrigens schon daraus ein, dass man eine Sachlage nicht nur „urteilen“, sondern auch „beurteilen“ kann. Wir können nicht nur urteilen, dass es keinen goldenen Berg gibt. Wir können auch urteilen, dass das, dass es keinen goldenen Berg gibt, eine Tatsache ist. Was ist der Gegenstand, von dem man hier die Tatsächlichkeit prädiziert? Meinong antwortet, dass dieser Gegenstand genau das Korrelat des Urteils, dass es keinen goldenen Berg gibt, ist; und es ist klar, dass sich dieses Korrelat vom goldenen Berg deutlich unterscheiden muss. Wir haben gesehen, dass auch Brentano bei derartigen Urteilen höherer Ordnung gelegentlich von propositionalen Entitäten gesprochen lassen sich betrachten als Annahmen, zu denen das Glaubensmoment (in irgendeinem seiner Stärkegrade) hinzugetreten ist.“, Meinong 1917, S. 333.
die lehre von den objektiven (1902)
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hat. Was jedoch für seine Lehre charakteristisch war, war die Überzeugung, dass in solchen Fällen die entsprechenden propositionalen Entitäten vorgestellt werden müssen. Es war übrigens auch die Überzeugung Brentanos und vieler seiner Schüler, dass sich die Meinong’schen Annahmen generell als Vorstellungen (von den propositionalen Entitäten bzw. von Urteilen) interpretieren lassen. Meinong verwirft jedoch diese Lehre. Propositionale Entitäten brauchen nicht vorgestellt zu werden, damit sie in einem Urteil der Form „Es ist , dass “ beurteilt werden können. Jedes Urteil hat sein Objektiv „aus eigener Machtvollkommenheit“, und Meinong sieht keine Gründe, warum „eine Vorstellungshilfe nötig sein müsste, damit das erurteilte Objektiv nun Gegenstand weiterer Beurteilung werden kann [ ].“ (Meinong 1902, S. 162) Die Tatsache, dass man sich auf die so beurteilten Objektive durch die scheinbar nominalisierende Dass-Konstruktion bezieht, ist also philosophisch irreführend. Diese Konstruktion legt nämlich nahe, dass ihr gegenständliches Korrelat ebenfalls eine nominale Form hat, was nach Meinong nicht der Fall ist. Die Objektive brauchen nicht vorgestellt zu werden, damit sie beurteilt sein können. (Meinong 1902, S. 159) Eine viel wichtigere These, zu der Meinong kommt, ist jedoch, dass sie prinzipiell nicht vorgestellt werden können. Wie wir noch sehen werden, enthält jedes Objektiv wichtige strukturelle Aspekte, die prinzipiell unvorstellbar sind. Hat man solche propositionalen Entitäten einmal eingeführt, kann man mit ihrer Hilfe viele philosophische Rätsel lösen. So behauptet Meinong, dass die eigentlichen Gegenstände, von denen man Wahrheit, Falschheit, Tatsächlichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit aussagt, weder Objekte noch Urteile sind. Das, worüber man dabei spricht, sind Objektive. (Meinong 1902, S. 174, 188 f.) Die für die Logik wichtige Relation der logischen Folge ist ebenfalls eine Relation zwischen den entsprechenden Objektiven. (Meinong 1902, S. 175) Auch die Kausalverhältnisse, auf die man sich mittels der Konjunktionen „wenn , dann “ und „ , weil “ bezieht, bestehen eigentlich zwischen den entsprechenden Objektiven. Wenn man die in den Objektiven involvierten Objekte als Ursache und Wirkung bezeichnet, bedeutet das bereits eine Sinnesübertragung. (Meinong 1902, S. 195) Und auch die Relationen der Verträglichkeit und Unverträglichkeit, von denen Meinong
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kapitel 4
in seinen Hume-Studien gesprochen hat, bestehen nicht zwischen den Objekten, sondern zwischen den Objektiven. „Rund und Viereckig nennt man freilich unverträglich, [es] wird jedoch kaum Bedenken tragen, darin einen abgekürzten Ausdruck etwa dafür anzuerkennen, es sei unverträglich, dass etwas rund und dass dasselbe auch viereckig sei [ ].“ (Meinong 1902, S. 194) 2. Propositionale Inhalte und die Negation Wir haben gesagt, dass die Lehre von den Objektiven weiter reichende ontologische Konsequenzen hat als bloß die Zuordnung eines semantischen Korrelats zu jedem vollständigen Satz. Was für die Theorie Meinongs charakteristisch ist, ist die These, dass man in Objektiven gewisse strukturelle Züge findet, die in Vorstellungsobjekten aus prinzipiellen Gründen nicht auftreten können. Am einfachsten kann man diesen Punkt verstehen, wenn man die Theorie Meinongs mit der Urteilslehre Brentanos vergleicht. Bei Brentano haben wir eine starke Tendenz beobachtet, den vollständigen Sätzen keine anderen semantischen Korrelate zuzuordnen als die Objekte der nominalen Ausdrücke. Seine „Reform der Logik“, die alle Urteilsformen auf gewisse Existenzurteile reduziert, dient genau diesem Zwecke. Wenn wir als die einzige Urteilsform eine existentielle Form „a ist“ bzw. „a ist nicht“ haben, dann können wir als Wahrmacher für solche Sätze ohne Probleme nominale Objekte verwenden. Der Satz „a ist“ ist wahr, wenn es in unserer Domäne (ein) a gibt. Der Satz „a ist nicht“ ist wahr, wenn es in unserer Domäne a nicht gibt (oder, falls „a“ ein genereller Term ist,6 wenn es in unserer Domäne kein a gibt). Das wäre die einfachste Form einer Brentano’schen Semantik. Im ersten Kapitel haben wir jedoch gesehen, dass Brentano auch kompliziertere Lösungen durchgespielt hat. In seinem Wahrheitsvortrag sprach er beispielsweise auch von den nicht-existierenden Objekten, die er mit den wahren negativen Urteilen korrelieren wollte. Der Satz „a ist nicht“ 6
Was eigentlich der typische Fall ist. An der Stelle von „a“ werden normalerweise nicht individuelle, sondern generelle Terme wie „ein Pferd“ oder „ein schwarzes Ding“ auftreten.
die lehre von den objektiven (1902)
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wäre bei dieser Lösung genau dann wahr, wenn es in unserer Domäne nur ein nicht-existierendes a (oder nur nicht-existierende as) gibt. Was für uns hier besonders wichtig ist, ist die Tatsache, dass der mittlere Brentano auch von Entitäten sprach, die wir mit gutem Grund propositional nennen können. Im Wahrheitsvortrag argumentierte er, dass man Entitäten wie Sein von a bzw. Nichtsein von a schon deswegen einführen muss, weil man ja auch behaupten kann, dass das Nichtsein von a ist. Wir können also in einem Urteil nicht nur ein Objekt, sondern auch sein Sein bzw. Nichtsein anerkennen oder verwerfen. Was bei einem solchen Urteil als Objekt der zugrunde liegenden Vorstellung fungiert, ist – so könnte man vermuten – etwas, das normalerweise als ein Korrelat eines vollständigen (existentiellen) Satzes auftritt. Eine charakteristische Eigenschaft der Theorie des Wahrheitsvortrags ist, dass die propositionalen Entitäten hier als Gegenstände einer Vorstellung eingeführt werden. Wir brauchen solche Entitäten erst bei Urteilen höherer Ordnung, in denen nicht bloß Objekte, sondern ihr Sein bzw. Nichtsein anerkannt bzw. verworfen wird. Dementsprechend ist es eine relevante Tatsache, dass die propositionalen Entitäten im Wahrheitsvortrag als Korrelate der nominalisierten Sätze eingeführt werden. Wir haben zwar gesehen, dass Brentano in seiner Logik-Vorlesung [EL 80] auch mit der Idee einer konsequent propositionalen Urteilstheorie gespielt hat. Im Rahmen dieser Theorie wird jedem Urteil ein immanentes und ein transzendentes propositionales Korrelat zugeordnet. Was jedoch auch in dieser Theorie erhalten bleibt, ist die Idee, dass jedes Urteilen ein existentielles Anerkennen bzw. Verwerfen eines Objekts der nominalen Form ist. Die ganze syntaktische Komplexität muss deshalb in das nominale Objekt verlegt werden, und die propositionale Natur der Urteilsinhalte reduziert sich auf die Anwesenheit einer positiven oder negativen existentiellen „Position“. Brentanos Urteilstheorie und die damit zusammenhängende Reform der traditionellen syllogistischen Logik wurden von seinen Schülern mit Begeisterung angenommen. Die Erklärungen, die er in seiner Psychologie dazu gibt, wie sich alle vier traditionellen kategorischen Urteilsformen auf die Existenzurteile reduzieren lassen, fallen jedoch ziemlich knapp aus. Im Jahre 1891 publizierte deshalb Franz Hillebrand ein Buch unter dem Titel Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse (Hillebrand 1891), in
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kapitel 4
dem er versuchte, Brentanos Urteilslehre ausführlich und systematisch darzustellen. Dieses Buch wurde 1892 von Meinong rezensiert. Bereits in dieser Besprechung sagte Meinong deutlich, dass er die existentielle Urteilstheorie Brentanos nicht akzeptiert. Die „Entdeckung“ der existentiellen Urteilsform „A ist“/„A ist nicht“ und die Einsicht, dass sie auf keine Kombination der kategorischen Formen reduzierbar ist, hielt er zwar für wichtig, aber die Ansicht Brentanos, dass alle kategorischen Urteilsformen auf eine solche existentielle Form reduzierbar sind, sei verfehlt. (Meinong 1892, S. 205 f ) Nach Brentano sind in den allgemeinen Formen „Alle S sind P“ und „Kein S ist P“ keine Existenzannahmen involviert. Meinong stimmt dieser These zu, behauptet aber, dass auch die partikulären Formen „Einige S sind P“ und „Einige S sind nicht P“ keine solchen Annahmen enthalten. „[W]er hindert mich“, fragt Meinong rhetorisch, „zu urteilen, dass einige gleichschenklige Dreiecke rechtwinklig sind, obwohl ich durchaus nicht für die Existenz auch nur eines einzigen gleichschenkligen oder rechtwinkligen Dreiecks einzutreten gewilligt bin?“ (Meinong 1892, S. 206 f.) Rollinger (1993, S. 64) bemerkt richtig, dass wir bereits hier der Idee begegnen, die später alsPrinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein bekannt wurde. Die Unzufriedenheit mit der Brentano’schen Urteilslehre beschränkte sich aber nicht auf diese eher zweitrangige Entscheidung bezüglich der Interpretation der in einzelnen Urteilsformen involvierten Existenzannahmen. Das eigentliche Problem lag in der Kernidee Brentanos, nach der sich die ganze syntaktische Komplexität, die in einem Urteil involviert ist, in sein Objekt verlegt und für das Urteil selbst nur eine existentielle Position bzw. Negation übrig bleibt. Meinong war immer stärker davon überzeugt, dass eine solche syntaktische Umformulierung undurchführbar sei. Das ist der wahre Grund dafür, dass er 1902 propositionale Entitäten eingeführt hat. Die Urteilstheorie, die er in Über Annahmen präsentiert, ist nicht nur deshalb propositional, weil sie ontologische Korrelate der syntaktisch vollständigen Sätze postuliert. Darüber hinaus behauptet sie, dass sich die ontologische Komplexität eines solchen Korrelats aus prinzipiellen Gründen nicht auf die Komplexität eines nominalen Objekts reduzieren lässt.
die lehre von den objektiven (1902)
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Die Schwierigkeiten einer solchen Reduktion hat Brentano wohl schon selbst gesehen. Die einfache Lehre der Psychologie erklärt die vier klassischen kategorialen Formen nach dem folgenden Muster: (i) (o) (e) (a)
Ein S ist P∃xSx ∧ Px =Df. Ein P-seiendes S ist. Ein S ist nicht P∃xSx ∧ ¬Px =Df. Ein nicht-P-seiendes S ist. Kein S ist P∀xSx ⊃ ¬Px =Df. Ein P-seiendes S ist nicht. Jedes S ist P∀xSx ⊃ Px =Df. Ein nicht-P-seiendes S ist nicht.
Diese Darstellung hat ihre ontologischen Kosten. In den Formen (o) und (a) finden wir Negativa (ein Nicht-P ). Das widerspricht einer weit verbreiteten Meinung, dass ein negatives Charakteristikum nie aus einer bloßen Vorstellung resultieren kann.7 Dies war auch die Meinung Brentanos. Schon 1886 vervollständigt er seine Urteilstheorie durch die Einführung sogenannter Doppelurteile.8 Eine einfache existentielle Reduktion, behauptet Brentano jetzt, ist nicht immer möglich. Um alle Urteilsformen wirklich in den Griff zu bekommen, muss man neben den einfachen Existenzialurteilen eine zusätzliche Urteilsform einführen, die gewissermaßen zwei Urteile in Beziehung zueinander setzt. Eine unselbstständige Prädikation baut sich hier auf einem Existenzialurteil auf. Seine offizielle Formulierung dieser Lehre kann man erst im Anhang zur Klassifikation der psychischen Phänomene (1911) finden. Nach dieser Formulierung haben wir es dann mit einem Doppelurteil zu tun, wenn ein Objekt zuerst in einem einfachen Existenzialurteil
7
Die folgenden Paragraphen wurden aus Chrudzimski 2001a, Abschnitt 2.1 übernommen. 8 Die erste off izielle Information hierzu finden wir in einer Fußnote zur 2. Auflage der Abhandlung Miklosich über subjektlose Sätze (zusammen mit dem Vortrag Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis). Vgl. Brentano 1883/1925, S. 193 f. (die Fußnote von 1889). Schon am 15. Februar 1886 schreibt Brentano jedoch an Marty (in einem unpublizierten Brief ).: „Es gibt auch Fälle von besonderen Urteilen, welche von anderen Urteilen untrennbar sind, z.B. Ein Mensch ist nicht gesund. Dieser Satz ist – ich habe Ihnen dies mündlich, glaube ich, begründet – der Ausdruck eines mehrfachen Urteilens: 1.) ein Mensch wird anerkannt und 2.) von ihm die Gesundheit geleugnet. Diese Leugnung lässt sich nicht von jener Anerkennung trennen. Wenn Sie es versuchen, erhalten Sie ein allgemeines und nicht das hier gegebene partikuläre negative Urteil.“
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kapitel 4
(i) A ist anerkannt wird und dann diesem Objekt eine Eigenschaft zugeschrieben oder abgesprochen wird. Wir dürfen uns aber nicht vorstellen, dass dieses Zuschreiben oder Absprechen in einem Urteil der folgenden Form geschieht: (ii) A ist B bzw. (iii) A ist nicht B. Nach Brentano gibt es nämlich solche Urteilsformen gar nicht. Das Zuschreiben oder Absprechen wird in einem neuen Existenzialurteil verwirklicht, das das Urteil (i) in gewisser Weise voraussetzt und dadurch von ihm in einem gewissen Sinne eingeschränkt wird. Die Form dieses Existenzialurteils ist: (ii*) Ein B-seiendes [und im Urteil (i) anerkanntes] A ist bzw. (iii*) Ein B-seiendes [und im Urteil (i) anerkanntes] A ist nicht. (Vgl. Brentano 1911/1925, S. 164 f.; vgl. auch Marty 1895, S. 63 f.) Bei der Interpretation der Formen (ii*) und (iii*) ist es jedoch wichtig, dass die in den eckigen Klammern auftretende verbindende Formel „[und im Urteil (i) anerkanntes]“ keineswegs als eine Bezeichnung betrachtet werden darf, die sich auf irgendein Element bezieht, das zum Inhalt des Urteils gehört. Durch diese Formel wird die psychische Struktur wiedergegeben, in welcher die zwei Urteile miteinander verbunden werden. Wir haben es hier mit einem neuen Modus des Urteilens und nicht mit einem neuen gegenständlichen Element zu tun. Da man die off izielle Formulierung der Lehre von den Doppelurteilen erst im Anhang zur Klassifikation der psychischen Phänomene (1911) findet, wo sie im Kontext der reistischen Ontologie des späten Brentano präsentiert wird, kann nicht mit aller Sicherheit gesagt werden, welche Motive den Übergang von der einfachen Lehre der Psychologie zu dieser Position erzwungen haben, die, wie wir sehen, die ungewöhnlichen Objekte (Negativa) zugunsten der zusätzlichen psychischen Modi reduziert. Es kann jedoch vermutet werden, dass Brentano schon ziemlich früh gewisse Zweifel bezüglich der Möglichkeit der Bildung von negativen Begriffen hatte, die in der Psychologie-Version der Urteilsformen (o) und (a) auftreten. Eine solche Erklärung für die Notwendigkeit der Einführung
die lehre von den objektiven (1902)
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der Doppelurteile gibt Marty,9 und man kann vermuten, dass er hier der Lehre seines Meisters folgt. Brentano war nämlich zeit seines Lebens ein Begriffsempirist. Er glaubte an keine Begriffe, die nicht aus den Gegebenheiten der ursprünglichen Erfahrung „abstrahiert“ bzw. „zusammengesetzt“ werden könnten. Die Gegebenheiten der Erfahrung sind nun, so können wir mit gutem Grund vermuten, ausschließlich „positive“ Objekte. Einen negativen Begriff können wir weder durch eine einfache Abstraktion, die sich auf ein solches „positives“ Objekt bezieht, noch durch eine Reflexion auf ein einfaches verwerfendes Urteil gewinnen. (Durch eine solche Reflexion gewinnen wir Brentano zufolge den Begriff der NichtExistenz des Objekts, aber keineswegs den Begriff eines Objekts, das Nicht-F ist.) Die Formen (o) und (a) in der Version der Psychologie erweisen sich also als konzeptuell unmöglich. Sie operieren mit Begriffen, die wir nicht haben können. Die Situation ändert sich jedoch, sobald wir den Modus des Doppelurteils einführen. Ein solches Doppelurteil operiert nur mit positiven Begriffen. Es kann jedoch einen „absprechenden“ Modus involvieren, so dass ein anerkanntes Objekt negativ charakterisiert werden kann. Nur durch die Reflexion auf solche Urteile können negative Begriffe gebildet werden. Ein Nicht-F zu sein, heißt also: in einem „absprechenden“ Doppelurteil (das einem Gegenstand die Eigenschaft F abspricht) richtig anerkannt werden zu können. Die Einführung des speziellen Modus des Doppelurteils betrachtete Brentano als eine Rettung seiner Reduktion der vier kategorischen Urteilsformen auf die Existenzurteile. Meinong bewertete sie jedoch als ihre endgültige Niederlage. „[I]ch vermag nicht zu verstehen,“ schreibt er, „wie dergleichen vertreten werden kann, ohne [dass] die Reduktionstheorie [der kategorischen auf die existentiellen Urteilsformen] aufgegeben ist.“ (Meinong 1892, S. 214)
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Vgl. „Die einfache Verwerfung von etwas kann in der Tat nicht Quelle der negativen Begriffe wie: Nichtmensch, unfruchtbar, nichtlebendig (leblos) sein. Der Begriff nichtlebendig kann nur durch Reflexion auf ein Doppelurteil gewonnen werden. [ ] Die Bildung solcher Negative setzt also allerdings Doppelurteile voraus.“, Marty 1894, S. 71.
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Die Probleme mit den negativen Eigenschaften bilden einen günstigen Ausgangspunkt, um zu verstehen, wie sich die propositionalen Entitäten, die Meinong 1902 einführt, von denjenigen des mittleren Brentano unterscheiden. Betrachten wir den Satz der Form (o) Ein S ist nicht P Brentano wollte ihn in seiner Psychologie als Ein nicht-P-seiendes S ist verstehen; dies hätte aber zur Folge, dass man negative Eigenschaften ernst nehmen müsste. Im Besonderen müsste man, da das im Urteil anerkannte Objekt durch eine Vorstellung präsentiert wird, anerkennen, dass wir Vorstellungen von negativen Objekten haben. Brentano wollte das nicht akzeptieren, und deswegen hat er einen besonderen absprechenden Modus eingeführt, in dem eine „positiv vorgestellte“ Eigenschaft P dem Objekt S abgesprochen werden kann. Für Meinong ist dies aber keine Lösung. Die Negation kann zwar nie „die Sache einer Vorstellung“ sein,10 nichtsdestoweniger ist sie gegenstandstheoretisch ernst zu nehmen. Das heißt, dass sie nicht in einen bloßen psychischen Modus verlegt werden darf, dem auf der gegenständlichen Seite nichts entspricht. Sie muss in einer gegenständlichen Struktur ihren Platz finden, und diese Struktur kann nicht nominal sein, wenn die These aufrechterhalten werden soll, dass alle Vorstellungen positiv sind. Unter diesen Voraussetzungen bildet also die Negation einen Prüfstein, an dem man die „Propositionalität“ einer Entität messen kann. Eine Entität ist genau dann propositional, wenn sie eine Negation involvieren kann.11 Zumindest die Form „a ist nicht F“ erweist sich also als auf eine einfache existentielle Form unreduzierbar. Die syntaktische Form „ ist 10
Vgl. Meinong 1902, S. 136. Schon in den Hume-Studien II schreibt Meinong deutlich, dass in allen Fällen, in denen man es anstatt mit positiven Inhalten „mit bloßer Negation“ zu tun hat, etwas mehr als eine bloße Vorstellung involviert sein muss. Da Meinong zur Zeit der Hume Studien II Annahmen noch nicht kannte, heißt es dort, dass dieses „mehr“ ein Urteil sein muss. Vgl. Meinong 1882, S. 103. 11 Auch Frege behauptet, dass die Negation erst auf der Ebene eines „fertigen“ Gedankens (d.h. eines propositionalen Inhalts) auftreten kann. Die Negation ist nämlich nach ihm eine Funktion, die als ihr Argument bereits einen „fertigen“ Gedanken braucht. Vgl. Frege 1919, S. 155 f., Frege 1923, S. 37.
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nicht “ kann weder aus einer Vorstellung abstrahiert werden, noch in einen psychischen Modus verlegt werden. Sie bildet eine gegenständliche Struktur, deren Erfassen nur im Rahmen eines propositionalen Aktes möglich ist.12 3. Der propositionale Charakter von Relationen und monadischen Eigenschaften Ein anderer Kritikpunkt, den Meinong in seiner Hillebrand-Rezension gegen Brentanos Urteilslehre erhebt, betrifft die innere Struktur des Objekts, das nach Brentano in einem existentiellen Urteil angenommen bzw. verworfen werden soll. Um ein kategorisches Urteil der Form „Ein S ist P“ richtig wiederzugeben, reicht es nicht, argumentiert Meinong, die Existenz von S und die Existenz von P anzuerkennen. Was noch dazukommen muss, ist die Anerkennung der realen Relation, die zwischen S und P bestehen muss, wenn diese zwei Elemente ein und dasselbe Objekt konstituieren sollen. Denn ein S und ein P könnte es ja geben, ohne dass sie irgendetwas miteinander zu tun hätten. Es ist also in Wahrheit diese Relation zwischen S und P, schreibt er in seiner Rezension, die in dem kategorischen Urteil „Ein S ist P“ anerkannt wird. Sie ist der Gegenstand, der in jedem Urteil der Form „Ein S ist P“ anerkannt wird,13 und deshalb muss auch sie den Gegenstand der zugrunde liegenden Vorstellung bilden. (Meinong 1892, S. 210) Zehn Jahre später, in der ersten Auflage von Über Annahmen, kommen Meinong jedoch ernsthafte Bedenken hinsichtlich seines damaligen Vorschlags. Dass das Bestehen einer realen Relation, die S und P verknüpft, in einem kategorischen Urteil der Form „Ein S ist P“ anerkannt werden muss, steht für ihn nach wie vor fest. Ist es aber wirklich
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Im Abschnitt 7.10 werden wir sehen, dass die Eigenart der Negation bei Meinong höchstwahrscheinlich in einem negativen Exemplifizierungsnexus liegen muss. 13 Rollinger (2004, S. 271) macht darauf aufmerksam, dass schon 1890 – in Höflers Logik (die unter Mitwirkung von Meinong entstanden ist) – eine nichtbrentanosche Aufteilung in Existenz- und Relationsurteile zu finden ist. Diese Aufteilung entspricht übrigens der traditionellen Klassifikation, die z.B. in Lewis Carrolls Symbolic Logic (1896) zu finden ist. Vgl. Carroll 1977, S. 69 f.
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der Fall, dass die genannte Relation dabei vorgestellt wird? Eine psychologische Untersuchung bestätigt diese Hypothese keineswegs. Bei einer psychologischen Analyse eines kategorischen Urteils können wir zwar ohne Probleme die Vorstellungen von S und P hervorheben, von der Vorstellung einer verbindenden Relation fehlt jedoch, wie uns Meinong versichert, jede Spur. (Meinong 1902, S. 144, 148) Die Theorie, die Meinong in seiner Hillebrand-Rezension formuliert hat, scheint damit jeder psychologischen Grundlage zu entbehren. Jetzt hält Meinong aber eine andere Lösung der Schwierigkeit bereit. Seit er unter seinen Gegenständen propositionale Entitäten hat, die nicht durch eine Vorstellung, sondern erst durch einen „urteilsähnlichen“ psychischen Zustand (ein Urteil oder eine Annahme) dem Subjekt präsentiert werden, ist er nicht länger auf die intentionale Kraft einer Vorstellung angewiesen. Die verknüpfende reale Relation zwischen S und P wird zwar nicht vorgestellt, sie wird aber trotzdem intentional berücksichtigt, und zwar indem das betreffende Subjekt das Urteil fällt (bzw. die Annahme macht), dass S P ist. Die kopulative Form „S ist P“, die Brentano auf eine existentielle Form „Ein P-seiendes S ist“ zurückführen wollte, erweist sich also als prinzipiell unreduzierbar.14 Was für die reale Relation gilt, die zwei Aspekte eines individuellkonkreten Gegenstands verknüpft, gilt in einem gewissen Sinne auch für die Relationen, die zwischen zwei derartigen Gegenständen bestehen. Auch solche Relationen können – so Meinongs Überzeugung ab 1902 – prinzipiell nicht vorgestellt werden. (Meinong 1902, S. 129 ff.) Meinong schreibt: „Um A und B in der Relation R vorzustellen, ist eine Annahme erforderlich, die R zum primären, A und B zu sekundären Objekten hat, was dadurch erzielt wird, dass der R-Inhalt zum A- und B-Inhalt in eine geeignete Relation tritt. Ich kann also
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In der ersten Auflage von Über Annahmen wird diese These nur sehr zögernd aufgestellt. Vgl. „Ich habe meine Bedenken gegen die wirkliche ,Zurückführbarkeit‘ [der kategorischen Form auf die existentielle Form] hier nicht verschweigen zu sollen gemeint: ich hielte es aber derzeit noch für allzu gewagt, dieselben zur Grundlage für die uns jetzt in der ersten Linie beschäftigende Untersuchung der Annahmen zu machen.“, Meinong 1902, S. 149. In der zweiten Auflage (Meinong 1910) werden „Seinsmeinen“ (A ist) und „Soseinsmeinen“ (A ist B als zwei gleichberechtigte und aufeinender unreduzierbare Formen des Meinens anerkannt.
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genau genommen die Relation als zwischen A und B bestehend (oder existierend) nicht vorstellen, sondern bloß annehmen, und was man gemeinhin als Vorstellung des A und B in der Relation R zu bezeichnen pflegt, ist jedesmal eigentlich eine Annahme.“ (Meinong 1902, S. 135)
Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt, eine ähnliche Unentbehrlichkeit der propositionalen Inhalte auch bei der intentionalen Beziehung auf monadische Eigenschaften anzuerkennen. Meinong macht diesen Schritt ebenfalls 1902. „Wie aber unterscheidet sich eigentlich ,Verschiedensein‘ von ,Verschiedenheit‘, wie ,Schwarz-Sein‘ von Schwärze? Und sind Verschiedenheit und Schwärze nicht zweifellos Vorstellungsgegenstände, näher jene ein Fundierungs-, diese ein Erfahrungsgegenstand? Falls sie es aber etwa nicht sind, haben wir dann folgerichtig nicht in allen Relationen, ja allen durch die sogenannten Abstrakta der Grammatik auszusprechenden Attributen eigentlich Objektive vor uns?“ (Meinong 1902, S. 178)
Diese Frage wird von Meinong bejaht. Er beginnt mit der Relation R zwischen A und B und unterscheidet zunächst zwei Bedeutungen, in denen man von einer Relation sprechen kann: „Dass hier R so gut Gegenstand ist wie etwa A oder B, wird nicht wohl einem Zweifel unterliegen; aber es handelt sich nicht um R allein, sondern um R bezogen auf seine Glieder A und B, und es ist im früheren Zusammenhange bereits festgestellt worden, dass diese Verbindung durch das Vorstellen allein nicht zu stiften ist, dass dazu vielmehr die Mithilfe des Urteils oder der Annahme in Anspruch genommen werden muss.“ (Meinong 1902, S. 178 f.)
Meinong unterscheidet also zwei Bedeutungen, in denen man von einer Relation sprechen kann. In einer dieser Bedeutungen ist eine Relation „so gut Gegenstand [ ] wie etwa A oder B“. Normalerweise spricht man aber von einer Relation in der Weise, dass dabei eine Beziehung auf ihre Glieder mitgemeint ist. Wenn man nun an eine Relation in dieser Bedeutung denkt, dann ist sie nicht ein Gegenstand, der vorgestellt werden kann. Sie ist etwas, was sich auf eine eigenartige Weise „zwischen“ zwei vorstellbaren Elementen abspielt; etwas, was nur angenommen bzw. geurteilt werden kann, indem man sagt, dass diese zwei Elemente in der Relation stehen. Wer also „als Bedeutung des Wortes ,Verschiedenheit‘ nur sozusagen das Element R heraushört“ unterliegt einem Irrtum. „Verschiedenheit“ bedeutet dasselbe wie „Verschiedensein“, und in der Bedeutung beider
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Bezeichnungen ist eine implizite Beziehung auf die (zunächst unbestimmten) Glieder der Relation involviert. Was nun die Relation in der Bedeutung, in der sie genauso gut wie ihre Glieder als Gegenstand zu bezeichnen ist, betrifft, so sagt Meinong: „Ein Missverständnis ist hier darum besonders leicht möglich, weil für R ohne Verbindung mit seinen Gliedern ein einigermaßen deutliches Wort nicht leicht zur Verfügung steht: im speziellen Falle unseres Beispiels könnte das Adjektiv ,verschieden‘ nur in einer gewissermaßen absoluten Anwendung noch einige Dienste leisten, falls es statthaft ist, unsere Relation etwa als ,das Verschieden‘ zu bezeichnen.“ (Meinong 1902, S. 179)
Ein solches „Verschieden“ soll nun nach Meinong vorstellbar sein. Es ist aber nicht das, worauf wir uns beziehen, wenn wir sagen, dass A von B verschieden ist. In diesem Fall haben wir die Relation der Verschiedenheit nicht vorgestellt, sondern sie zwischen zwei Elementen angenommen. Ganz ähnlich sieht die Situation aus, wenn wir uns jetzt den einstelligen Abstrakta zuwenden. „Wie steht es nun weiter mit dem grammatischen ,Abstraktum‘ Schwärze? Dass es so viel besagt als Schwarz-sein, kann wieder niemand bestreiten, und dass auch dieser Fall im Wesentlichen dem oben dargelegten Gesichtspunkte untersteht, ist nun gleichfalls zu erkennen. Sicherer noch als oben in betreff der Relation R erkennt man hier einen Vorstellungsgegenstand, den Gegenstand der Schwarz-Empfindung. Aber wer etwa von Schwärze der Tafel redet, meint jenen Gegenstand wieder nicht in seiner Isoliertheit sondern in einer, hier in der Regel nicht ausdrücklich namhaft gemachten Relation, etwa Identität mit dem Gegenstande Tafel. Das ist also wieder eine jener gegenständlichen Verbindungen, wie sie durch bloßes Vorstellen ohne Unterstützung durch das Denken [d.h. ein Urteil oder eine Annahme] nicht zu Stande zu bringen ist. Darum ist auch ,Schwärze der Tafel‘ im Ganzen nicht Vorstellungs- sondern Denkgegenstand, indes das Wort ,schwarz‘, zunächst solange es einer Deklination nicht unterworfen wird, für den vorgegebenen Vorstellungsgegenstand ganz wohl anzuwenden sein mag.“ (Meinong 1902, S. 179 f.)
Auch im Fall der monadischen Abstrakta müssen wir also zwei Bedeutungen unterscheiden. In einer Bedeutung ist „Schwärze“ etwas, das nicht vorgestellt werden kann. Sie ist hier sozusagen in der Form des Zukommens zu einem Gegenstand aufgefasst, und als solche kann sie nur in einem propositionalen intentionalen Zustand angenommen bzw. geurteilt werden. In einer anderen Bedeutung, für die Meinong das
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Wort „schwarz“ in einer eher ungewöhnlichen technischen Bedeutung reserviert, ist sie ein vorstellbarer Gegenstand. Welche gegenstandstheoretischen Konsequenzen diese Auffassung hat, lässt sich am leichtesten verstehen, wenn wir eine wichtige These aus Meinongs drei Jahre zuvor erschienenen Abhandlung Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung betrachten. Wie wir uns erinnern, behandelt Meinong dort Relationen als Gegenstände höherer Ordnung, die uns in den entsprechend fundierten Vorstellungen gegeben sind. Eine interessante Beobachtung, die er dabei macht, ist allerdings, dass jede Vorstellung, die zwei (oder mehrere) Gegenstände als in einer Relation stehend präsentiert, einen unendlichen Regress involviert. Um die Gegenstände a und b in der Relation R vorzustellen, reicht es nämlich nicht, a, b und R vorzustellen. Das wäre höchstens eine Vorstellung des Kollektivs von drei Elementen: a, b und R. Was in einem solchen Kollektiv noch fehlt, ist die Verbindung zwischen der Relation R und ihren Gliedern. Eine solche Verbindung kann aber – so die damalige These Meinongs – nur durch zwei neue Relationen gewährleistet werden: die Relation R , die R mit a verbindet, und die Relation R , die eine ähnliche Verbindung zwischen R und b herstellt. In einer Vorstellung, die uns die Relation R zwischen a und b präsentiert, müssen also auf jeden Fall auch die Relationen R und R mitvorgestellt werden. Dies war der erste Schritt des Regresses. Man sieht aber sofort, dass sich dieselbe Argumentationsfigur auch für die Elemente R , R und a, wie auch für R , R und b wiederholen lässt. Man muss neue verbindende Relationen postulieren, für die wieder das Problem der Verbindung aufgerollt werden kann. Konsequenterweise erhalten wir den berüchtigten unendlichen Regress der Relationen, der üblicherweise mit dem Namen Bradleys assoziiert wird. Es sieht so aus, als ob man, um a und b in der Relation R vorstellen zu können, zugleich unendlich viele Relationen vorstellen müsste. 1899 betrachtete Meinong diesen Regress als völlig harmlos. „Eine theoretische Schwierigkeit“, sagte er damals, „kann meines Erachtens hierin so wenig gefunden werden als etwa darin, dass die Teilung einer Strecke auf eine unendliche Reihe immer kleinerer Teilstrecken führt.“ (Meinong 1899, S. 390) Drei Jahre später erscheint ihm dieses Problem offensichtlich viel ernsthafter, wohl nicht zuletzt deswegen, weil er
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jetzt eine andere Lösung für das Rätsel der Verbindung bereithält. Die ganze Argumentation gegen die Vorstellbarkeit von Relationen, die wir in Über Annahmen finden, läuft nämlich auf nichts anderes hinaus als auf die Feststellung, dass eine Vorstellung lediglich ein Kollektiv, das aus a, b und R besteht, als Objekt haben kann. In der Abhandlung Über Gegenstände höherer Ordnung bestand die Lösung darin, eine unendliche Kollektion von Relationen zu akzeptieren und zu hoffen, dass eine solche unendliche Kollektion in irgendeiner Weise einer ontologischen Verbindung zwischen a, b und R äquivalent wäre. Ist aber diese Hoffnung nicht völlig desperat? Ist eine solch unendliche Kollektion von Elementen nicht immer noch eine bloße Kollektion? Seit Meinong propositionale Entitäten hat, kann er das Problem der Verbindung in einer Weise lösen, die einerseits keine solche unendliche Relationsreihe einführt und andererseits auch viel plausibler erscheint. Dass zwei Gegenstände a und b in der Relation R stehen, behauptet er jetzt, kann prinzipiell nicht vorgestellt werden. Damit man die gewünschte Verbindung zwischen a, b und R gegeben hat, muss man annehmen (bzw. urteilen), dass aRb. Ein solcher psychischer Akt involviert zwar Vorstellungen von a, b und in einer gewissen Weise auch die Beziehung auf R, er besteht aber nicht darin, dass man a, b und R zu einem Vorstellungskomplex zusammenfügt. In diesem Fall hätten wir als Gegenstand wieder nur das bloße Kollektiv: a, b und R, und das Problem der Verbindung stellte sich von neuem. In einer Annahme, dass aRb, bezieht man sich auf die Relation R in der Weise, dass sie nicht vorgestellt, sondern angenommen (bzw. geurteilt) wird. Die Relation R erscheint dadurch nicht als daneben stehend, sondern eben als verbindend. Das, was durch die propositionale Intentionalität mit dem Inhalt, dass aRb, geleistet wird, ist nicht eine Beziehung auf ein Kollektiv: a, b und R, sondern eine Beziehung auf das Objektiv, dass aRb. Das ist die spezifische Präsentationsart, die den propositionalen Akten (wie Urteil oder Annahme) vorbehalten bleibt. 4. Gegenstände und Funktionen Die ontologische Struktur eines Objektivs unterscheidet sich also wesentlich von einer bloßen Kollektion von Elementen. Ein Objektiv bildet eine syntaktische Einheit, in der man zwei Arten von Bausteinen
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unterscheiden muss. Einerseits haben wir Elemente, die vorgestellt werden, andererseits brauchen wir eine Art „Zement“, der die vorgestellten Elemente erst zu einem strukturierten Ganzen verbindet. Dieser Zement ist seinerseits nicht etwas, was vorgestellt werden kann, sondern etwas, was erst durch eine Annahme bzw. ein Urteil zum Vorschein kommt. Diese Art Verbindung ist also kein Objekt, das irgendwie „neben“ den vorstellbaren Elementen auftritt, und trotzdem ist sie etwas, was gegenstandstheoretisch ernst zu nehmen ist. Sie bildet einen unreduzierbaren Aspekt des propositionalen Korrelats einer Annahme, der ein solches propositionales Korrelat von einem Objekt nominaler Form unterscheidet. Am einfachsten kann man das verstehen, wenn man die Lehre Meinongs mit Freges Unterscheidung zwischen Funktionen und Gegenständen vergleicht. (Vgl. Frege 1891, Frege 1892b) Nach Frege zerfällt die Gesamtheit aller Entitäten in Gegenstände und Funktionen. Wir haben es hier, sagt Frege, mit der primitivsten ontologischen Aufteilung zu tun. Was ein Gegenstand und was eine Funktion ist, lässt sich nicht definieren, sondern nur durch ihr Verhältnis zueinander erläutern. Gegenstände sind „fertige“ Entitäten, Funktionen sind hingegen „ungesättigt“. Sie enthalten eine oder mehrere leere Stellen, die dazu bestimmt sind, durch Gegenstände erfüllt zu werden. Eine Funktion braucht also einen oder mehrere Gegenstände als ihre Argumente. Wenn alle Leerstellen einer Funktion durch die entsprechende Anzahl von Gegenständen erfüllt werden, ergibt sich daraus eine gesättigte Entität – ein neuer Gegenstand, der der Wert der Funktion (für diese Argumente) heißt.15 Der für uns wichtigste theoretische Kontext, in dem diese Begriffe bei Frege ihre Anwendung finden, ist die Theorie des syntaktischen Aufbaus der Sprache. Gegenstände werden zunächst als diejenigen Entitäten bestimmt, die als semantische Korrelate den nominalen Ausdrücken (Namen und bestimmten Kennzeichnungen) zugeordnet werden. Funktionen bilden hingegen die semantischen Korrelate von Prädikaten. Was in einer Prädikation „Fa“ geschieht, ist also, dass die Funktion, die dem Prädikatausdruck „F“ zugeordnet wird, mit dem Gegenstand a syntaktisch verbunden wird. Eine solche Verbindung kann entweder wahr oder 15
Bei Frege gibt es freilich auch Funktionen höherer Ordnung (wie z.B. Quantoren), die nicht durch Gegenstände, sondern durch andere Funktionen gesättigt werden.
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falsch sein, je nachdem, ob der Gegenstand a die Funktion F erfüllt oder nicht. Die Bedeutungen der Prädikate sind also Funktionen, die Gegenstände (bzw. geordnete n-Tupel von Gegenständen) auf Wahrheitswerte abbilden, wobei die Wahrheitswerte von Frege ebenfalls als Gegenstände klassifiziert werden. Bei Frege finden wir also neben den „normalen“ Gegenständen auch zwei ziemlich ungewöhnliche: das Wahre und das Falsche. Wenn wir diese Theorie mit Meinongs Lehre von den Objektiven vergleichen, sehen wir, dass Meinongs Idee der Unvorstellbarkeit der Relationen ohne große Probleme mittels der Frege’schen Termini interpretiert werden kann. Solange man sich auf Entitäten bloß durch eine Vorstellung bezieht, hat man es, sagt uns Meinong, bloß mit Objekten zu tun, die höchstens „nebeneinander“ kolligiert werden können. Für Frege heißt das: Solange man bloß mit nominalen Ausdrücken hantiert, hat man keinen Satz und keine Wahrheitswerte. Man hat nur eine Beziehung auf einen oder mehrere Gegenstände, falls mehrere solche nominale Ausdrücke nebeneinander verwendet werden. Wenn man eine syntaktische Einheit erhalten will, die auch einen Wahrheitswert hat, muss man einen nominalen Ausdruck (bzw. mehrere nominale Ausdrücke) mit einem Prädikat verbinden. Erst die propositionale Intentionalität hat eine derartige syntaktische Komplexität, dass sie als wahr oder falsch klassifiziert werden kann. Um eine solche Komplexität zu erreichen, braucht man eine Art Zement, der in der nominalen Intentionalität prinzipiell fehlt. Zu den Gegenständen muss eine Funktion hinzukommen, die durch ihre naturgemäße Ungesättigtheit einen solchen Zement enthält. Die Ähnlichkeiten mit der Position Meinongs sind hier nicht zu übersehen, ein wichtiger Unterschied muss dennoch betont werden. Bei Frege ist nämlich bereits das semantische Korrelat eines Prädikatausdrucks derart ungesättigt, dass es sozusagen „direkt“ mit einem Gegenstand verbunden werden kann. Bei Meinong ist dem anders. Wir erinnern uns, dass er zugibt, dass die Prädikatausdrücke auch so verwendet werden können, dass sie sich auf vorstellbare Objekte beziehen. Das geschieht dann, wenn wir die entsprechenden Verben bzw. Adjektive in einer technischen „absoluten“ Bedeutung verwenden. Wenn wir also einfach „schwarz“ oder „verschieden“ (bzw. „das Schwarz“, „das Verschieden“) sagen, dann drücken wir Meinong zufolge zunächst eine
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Vorstellung aus, die als ihr gegenständliches Korrelat ein vorstellbares Objekt haben muss. Das Problem des unendlichen Regresses, das durch die Eigenart der propositionalen Intentionalität gelöst werden musste, tritt bei Meinong erst auf der nächsten Stufe auf. Die Entitäten, auf die sich Ausdrücke wie „schwarz“ oder „verschieden“ beziehen, sind also Objekte, die mit den Objekten, von denen sie prädiziert werden, erst durch eine zusätzliche Relation verbunden werden müssen. Es ist erst diese zusätzliche Relation, und nicht das, was durch „schwarz“ oder „verschieden“ gemeint wird, was unvorstellbar ist und dementsprechend zu seiner Präsentation eine spezielle propositionale Intentionalität braucht. Wenn man die Meinong’sche Lehre in einer transparenteren Notation ausdrücken wollte, müsste man also neben den nominalen Ausdrücken und Prädikaten noch ein Zeichen für diese verbindende Relation einführen. In der Umgangssprache wird das übrigens oft durch das kopulative „ist“ in verschiedenen Verbindungen gewährleistet, wie z.B. in den Sätzen: „Diese Rose ist rot“, „Hans ist größer als Peter“ oder „Franz ist genauso intelligent wie Helga“. Wir können diese verbindende Relation die Relation der Exemplifizierung bzw. Instantiierung nennen. In einer semi-technischen Notation können wir uns auf sie durch das Zeichen „Ex“ beziehen. Der Satz, der bei Frege einfach die Form „Fa“ hat, müsste also bei Meinong als „Ex([F],a“ repräsentiert werden. Die Bezeichnung „[F]“ soll dabei als die „nominalisierte“ Entsprechung eines Prädikats verstanden werden. Bei Prädikaten, die aus der Kopula und einem Adjektiv bestehen (wie z.B. „ist rot“, „ist groß“), wäre also die Bezeichnung „[F]“ einfach das involvierte Adjektiv („[ist groß]“ bedeutet dabei soviel wie „groß“). Bei den Prädikaten, die keine Kopula enthalten (wie z.B. „schläft“ oder „rennt“), muss die Bezeichnung „[F]“ als eine Art Abstraktum verstanden werden (wie z.B. „das Schlafen“ oder „das Rennen“), so dass die Konstruktion „Ex([F] a“ etwa als „Hans exemplifiziert das Schlafen“ gelesen werden könnte. Eine systematische und dazu noch syntaktisch halbwegs natürliche umgangssprachliche Interpretation lässt sich wahrscheinlich nicht gewährleisten. Der einzige wesentliche Punkt ist aber, dass der Teil des Satzes, der in der Frege’schen Notation als ein syntaktisch unanalysierbares Prädikat erscheint, bei Meinong immer aus zwei Komponenten besteht. Er enthält den nominalen Teil „[F]“, der
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sich auf die entsprechende Eigenschaft (bzw. Relation) bezieht, wenn sie in dem Sinne genommen wird, in dem sie als ein Objekt einer Vorstellung fungieren kann, und den verbindenden Teil „Ex“, der sich auf den Exemplifizierungsnexus bezieht.16 Was für uns wichtig ist, ist die Tatsache, dass das semantische Korrelat, dessen Natur der Frege’schen Funktion entspricht, bei Meinong erst dem technischen Zeichen „Ex“ zugeordnet wird. In diesem Kontext ist auch klar, dass, wenn Meinong von dem „Schwarzsein“ oder der „Verschiedenheit“ spricht und solche Entitäten überraschend als Objektive klassifiziert, er in Wirklichkeit nicht die bloße Entsprechung von „[F]“ meint. Er meint damit die Entsprechnug von „[F]“ zusammen mit der Relation Ex. Der richtige Ausdruck für solche Abstrakta wäre also nicht „[F]“, sondern eher ein offener Satz (eine propositionale Funktion) „Ex([F],…)“, in dem die Beziehung auf die Relation Ex bereits involviert ist. Wir haben hier also ein Objektiv mit einer leeren Stelle vor uns. Um 1915 wird Meinong den Begriff eines unvollständigen Objektivs einführen, was derartige Objektive mit leeren Stellen für ihn gar nicht ungewöhnlich macht. Solche zusammengesetzten Strukturen entsprechen den Frege’schen Funktionen in dem Sinne, dass sie keinen zusätzlichen Nexus brauchen, der sie mit einem Objekt verbinden würde.17 Denn der Nexus Ex ist bereits involviert, und dank der propositionalen Struktur muss dieser Nexus durch keinen neuen Nexus mit den sonstigen Elementen verbunden werden. Konsequenterweise bezieht sich der offene Satz „Ex([F],…)“ auf etwas, das die Ungesättigtheit einer Frege’schen Funktion besitzt, so dass es nur noch ein Objekt zu seiner Vollständigkeit braucht. In der Frege’schen Notation bezieht man sich auf diese Entität einfach durch das Prädikatzeichen „F“. 16
Grossmann macht (wohl unter dem Einfluss von Meinong) eine ähnliche Unterscheidung zwischen einer Eigenschaft als solcher (auf die man sich durch das isolierte Prädikat „F“ bezieht) und einer Entität, die die Eigenschaft zusammen mit dem Exemplifizierungsnexus enthält (deren Ausdruck die propositionale Funktion mit einer Variablen „Fx“ ist). Vgl. Grossmann 1983, S. 149, 288. 17 Was natürlich nicht zu bedeuten hat, dass durch die bloße Verbindung von [F] und Ex schon ausgemacht wäre, welches Objekt die leere Stelle einnimmt. Das, worum es geht, ist lediglich, dass die Struktur Ex([F],…) direkt mit einem Objekt verbunden werden kann, was für das bloße [F] nicht gilt.
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Um Missverständnissen vorzubeugen, muss aber noch ein wichtiger Unterschied im Vergleich zur Theorie Freges betont werden. Wir haben gesagt, dass man verstehen kann, worin die Aspekte eines Objektivs, die unvorstellbar sind, bestehen, wenn man die Unvorstellbarkeit der verbindenden Relation bei Meinong mit der Ungesättigtheit der Frege’schen Funktion vergleicht. Diese Analogie sollte aber nicht überdehnt werden. Ein wesentlicher Punkt der Theorie Freges ist ja, dass die Entität, die aus der Verbindung einer Frege’schen Funktion mit der entsprechenden Anzahl der Argumente resultiert, ein Gegenstand ist; und es ist ebenfalls eine wesentliche Eigenschaft der Theorie Meinongs, dass seine Objektive keine nominalen Gegenstände (d.h. in Meinongs Sprache: keine Objekte) sind. Die intentionalen Beziehungen, die nach Frege in der Verwendung eines Satzes enthalten sind, können also durch das folgende Schema illustriert werden:
Der Name „Peter“ bezieht sich auf einen Gegenstand, das Verb „schläft“ auf eine Funktion. Ein Gegenstand ist eine „vollständige“ Entität, eine Funktion ist hingegen „ungesättigt“. Sie enthält eine „leere Stelle“, die durch einen Gegenstand (ein Argument der Funktion) erfüllt werden kann. Die Zusammenfügung der Worte „Peter“ und „schläft“
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zu einem Satz „Peter schläft“ sagt uns, dass wir Peter als Argument der Funktion schläft betrachten. Eine Funktion nimmt für jedes Argument einen Wert an, und die Eigenart der Begriffe besteht darin, dass sie Funktionen sind, die als ihre Werte Wahrheitswerte (d.h. das Wahre oder das Falsche) liefern. Die Werte einer Funktion für ein bestimmtes Argument (bzw. für bestimmte Argumente, wenn es sich um eine mehrstellige Funktion handelt) sind nun selbst Gegenstände, und so kann man nach Frege sagen, dass ein Satz einen Wahrheit-swert nennt.18 Das Bild der intentionalen Beziehung, das uns Meinong vorschlägt, sieht ein wenig anders aus. Anstatt einer Gegenüberstellung von Gegenständen und Funktionen haben wir einen Gegensatz von Objekten und Objektiven, und das gegenständliche Korrelat des vollständigen Satzes befindet sich unter den Objektiven. Das folgende Schema soll die Hauptzüge der Theorie Meinongs veranschaulichen:
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In unserem Schema haben wir von der wichtigen Tatsache abgesehen, dass die intentionale Beziehung nach Frege noch die Ebene der Sinne involviert. Für den gegenwärtigen Kontext ist das jedoch ohne Bedeutung.
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Der erste auffällige Unterschied zwischen beiden Theorien ist, wie gesagt, dass das gegenständliche Korrelat des Satzes nicht unter den Objekten, sondern unter den Objektiven zu finden ist. Es ist nicht etwas, das, wie das Wahre und das Falsche bei Frege, genannt werden kann. Ein Objektiv kann nur angenommen (bzw. „erurteilt“) werden. Der zweite Unterschied besteht darin, dass der Prozess der Konstitution des Satzkorrelats ein wenig komplizierter ist als bei Frege. Dort hatte man als Konstituenten nur einen Gegenstand und eine Funktion. Bei Meinong entspricht der Frege’schen Funktion die prädizierbare Eigenschaft, die, wie wir wissen, kein Objekt, sondern ein Objektiv ist. Sie hat ihr Analogon in einem von jedem eventuellen Träger isolierten „Eigenschaftsobjekt“. Eben auf ein solch merkwürdiges Objekt bezieht man sich nach Meinong, wenn man die entsprechenden Verben oder Adjektive in einer ungewöhnlichen, technischen Bedeutung verwendet. Unsere Schemata tragen aber nicht allen Aspekten der Semantik Freges Rechnung. Was in unserem Frege-Schema nicht berücksichtigt wurde, ist die Tatsache, dass eine intentionale Beziehung auf einen Gegenstand nach Frege grundsätzlich durch ein Erfassen eines entsprechenden Sinnes vermittelt wird. Sowohl ein Name als auch ein Satz haben also neben ihren Gegenständen (die in der Terminologie Freges Bedeutungen heißen) auch ihre Sinne. Ob man auch bei einem Prädikat zwischen der Funktion, auf die sich das Prädikat bezieht, und einem entsprechenden Sinn unterscheiden muss, ist hingegen nicht ganz klar. Frege brauchte Sinne, um die logischen Rätsel der intentionalen Kontexte zu erklären. Sinne funktionieren als vermittelnde Entitäten, auf deren Existenz auch bei den gegenstandslosen intentionalen Beziehungen geschlossen werden darf und deren Identität die Bedingung für die Anwendbarkeit des Prinzips der Substituierbarkeit sein soll. Im Sinn, schreibt Frege, ist „die Art des Gegebenseins“ des Referenzgegenstands enthalten. (Frege 1892a, S. 26) Bei Frege haben wir es also zumindest im Fall eines Namens und eines Satzes klarerweise mit einer Zwei-Ebenen-Semantik zu tun. Die sprachlichen Ausdrücke beziehen sich auf ihre Referenzentitäten durch Vermittlung eines Sinnes.
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Sinnebene Referenzebene (Freges „Bedeutung“)
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Name
Prädikat
Satz
individueller Begriff Gegenstand
(?) Funktion
Gedanke Gegenstand (Wahrheitswert)
Bei Meinong haben wir hingegen, wenn wir von dem mentalen Inhalt absehen,19 wie es scheint, nur eine Ebene: diejenige der Gegenstände, die sowohl als vermittelnde Bedeutungen als auch als Referenzentitäten fungieren.
Referenzebene/Sinnebene
Name
Prädikat
Satz
Gegenstand
Objektiv
Objektiv
Die Differenzen zwischen den Theorien Freges und Meinongs, die wir oben betont haben, lassen sich bei Berücksichtigung des Unterschieds zwischen einer Zwei-Ebenen- und einer Drei-Ebenen-Semantik wohl schlichten. Die These, dass man aus der Verbindung eines Gegenstands mit einer Funktion einen neuen Gegenstand bekommt, gilt bei Frege für die Referenzebene. Auf der Sinnebene resultiert aus der Verbindung eines nominalen Sinnes mit einem Prädikatsinn (der übrigens möglicherweise dieselbe Funktion ist, wie die Funktion auf der Referenzebene) ein Gedanke. Der Frege’sche Gedanke ist dem Meinong’schen Objektiv sehr ähnlich. Er ist das, was in den zwei psychischen Urteilsakten, die dasselbe urteilen, gemeinsam ist, und er ist das, was im primären Sinn wahr oder falsch ist. So wie sich verschiedene nominale Sinne auf denselben Gegenstand beziehen können, so können sich auch verschiedene Gedanken auf denselben Gegenstand beziehen (und zwar entweder auf das Wahre oder auf das Falsche). 19
Oben haben wir gesehen, dass man diesen Inhalt nicht braucht, wenn man die Relation Akt-Gegenstand als eine externe Relation interpretiert.
die lehre von den objektiven (1902)
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Bei Meinong gibt es zwar keine Verlängerung der Intentionalität über das Objektiv hinaus auf das Wahre oder das Falsche. Nichtsdestoweniger gibt es bei ihm aber eine primitive Aufteilung der Objektive in bestehende und nicht-bestehende. Die Ontologie der intentionalen Beziehung sieht also bei Meinong gewiss anders aus. Es gibt keine zusätzlichen Objekte, die man „das Wahre“ und „das Falsche“ nennen kann; die Funktion dieser Objekte wird aber durch die primitive Aufteilung in „das Bestehende“ und „das Nicht-Bestehende“ übernommen. Dieser Vergleich mits Frege kann unter vielen Aspekten lehrreich sein. Es ist im Besonderen wirklich der Fall, dass alle Aufgaben, die bei Frege auf der Sinnebene erledigt werden, bei Meinong von seinen Gegenständen übernommen werden. Zugleich ist es aber auch so, dass Meinong später unterschiedliche Gegenstandsebenen der intentionalen Beziehung unterschieden hat, wovon einige eher der Frege’schen Referenzebene, die anderen eher seiner Sinnebene ähneln. Das Bild der Meinong’schen Semantik, das wir gerade skizziert haben und das dem Stadium um 1902 entspricht, ist aus der Perspektive ihrer späteren Entwicklung daher sehr vereinfacht. Im nächsten Abschnitt werden wir es differenzieren.
KAPITEL 5
GEGENSTANDSTHEORIE (1904–1920)
Erst in den Jahren 1904–1920 entwickelt Meinong die Lehre, die seitdem mit seinem Namen verbunden ist – seine Gegenstandstheorie. 1904 stellt er die These auf, dass jeder psychische Akt einen Gegenstand hat. Dies betrifft auch die Akte, die wir mit unserem gesunden Menschenverstand als „untreffend“ charakterisieren würden. Auch sie haben ihre Gegenstände. Neben den existierenden (bzw. bestehenden) Gegenständen gibt es also auch die nicht-existierenden (bzw. nicht-bestehenden), was nach Meinong bedeutet, dass der Gegenstand als solcher (der „reine“ Gegenstand) bezüglich der Frage nach seiner Existenz (bzw. nach seinem Bestand) gewissermaßen neutral bleibt. Die Meinong’schen Gegenstände sollen sich nach seiner berühmten Formulierung „jenseits von Sein und Nichtsein“ befinden. (Meinong 1904, S. 494) Das programmatische Manifest dieser Lehre findet sich in der Abhandlung Über Gegenstandstheorie (1904), und auch die zweite Auflage von Über Annahmen, die 1910 erschienen ist, wurde dieser neuen Auffassung angepasst. Zum Ersten lässt Meinong die, wie er es jetzt nennt, „Seinsansicht“ (Meinong 1910a, S. 218 ff.) oder das „Vorurteil zugunsten des Wirklichen“ (Meinong 1904, S. 484) endgültig fallen. Es handelt sich dabei um die Überzeugung, die Meinong noch in der ersten Auflage von Über Annahmen vertrat, dass die Gegenstände, die man in den philosophischen Erklärungen verwendet, ausschließlich existierende bzw. bestehende Gegenstände sein dürfen. Deshalb wurden dort, wie wir gesehen haben, nur den treffenden psychischen Akten Gegenstände zugeordnet. Eine untreffende Vorstellung hat nach dieser Ansicht nur eine „Gegenständlichkeit“, was besagt, dass sie einen psychischen Inhalt hat, der im Fall der Existenz (bzw. des Bestands) eines entsprechenden Gegenstands die intentionale Beziehung auf diesen Gegenstand gewährleisten würde. Falls es aber keinen geeigneten Gegenstand gibt, zielt die Vorstellung ins Leere. Auch die falschen Urteile 179
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haben, sagt uns Meinong dort, nur immanente (pseudo-existierende) Objektive (Meinong 1902, S. 154), was wieder bedeutet, dass sie gar keine Objektive, sondern nur die entsprechenden psychischen Inhalte haben. Diese Intentionalitätstheorie sieht zwar ganz vernünftig aus, sie wurde aber dennoch zwischen 1902 und 1904 verworfen. Zu dieser Zeit ist Meinong zu der Auffassung gekommen, dass jeder psychische Akt einen Gegenstand hat, dessen gegenstandstheoretischer Status derart ist, dass sich die Frage nach seiner Existenz (bzw. nach seinem Bestand) zunächst gar nicht stellt. Die Einführung der Referenzentitäten für untreffende psychische Akte ist aber nicht die einzige Neuerung, die wir in der gegenstandstheoretischen Periode finden. Ein weiterer wichtiger Punkt besteht darin, dass Meinong 1910 (in der zweiten Auflage von Über Annahmen) zu einer konsequent propositionalen Intentionalitätstheorie übergegangen ist. Nach dieser Auffassung ist eine echte intentionale Beziehung eigentlich nur im Rahmen eines Aktes mit einem propositionalen Inhalt (einer Annahme oder eines Urteils) möglich. Die Vorstellungen haben nach dieser neuen Lehre nur eine Art potentielle Intentionalität, indem sie in der Struktur einer propositionalen intentionalen Beziehung als Bestandteile fungieren können. Zum Dritten wird um 1907 eine neue gegenständliche Kategorie – diejenige der unvollständigen Gegenstände – eingeführt, die insbesondere in Meinongs Analyse des Begriffs der Möglichkeit (1915) eine wichtige Rolle spielt. 1. Die Außerseienden Gegenstände (1904) Die Meinong’sche Lehre von den Gegenständen findet ihren prägnanten Ausdruck in der programmatischen Abhandlung Über Gegenstandstheorie (1904). Viele Forscher, sagt Meinong dort, huldigen dem „Vorurteil zugunsten des Wirklichen“, das sie dazu bringe, „das Nichtwirkliche als ein bloßes Nichts, genauer als etwas zu behandeln, an dem das Erkennen entweder gar keine oder doch keine würdigen Angriffspunkte fände.“ (Meinong 1904, S. 486) Diese Meinung sei aber eben ein Vorurteil. Der Bereich des Nichtwirklichen stelle aus vielen Gründen ein wichtiges Erkenntnisgebiet dar. Zuerst betont Meinong, dass der Bereich des Existierenden das Interessengebiet unserer kognitiven Tätigkeit keineswegs erschöpft.
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„[D]ie Gesamtheit dessen, was existiert, mit Einschluss dessen, was existiert hat und existieren wird,“ sagt er, „ist unendlich klein im Vergleiche mit der Gesamtheit der Erkenntnisgegenstände [ ].“ (Meinong 1904, S. 486) Um das zu verstehen, muss man zunächst nur daran denken, dass kein einziger idealer Gegenstand dem Bereich des Existierenden zugehört. Ideale Gegenstände, sagt Meinong, können von Natur aus nicht existieren. Dass aber ein bestimmter Gegenstand dieser Art (z.B. die Gleichheit oder Verschiedenheit zwischen zwei Gegenständen oder die Tatsache, dass es Antipoden gibt) besteht, ist oft eine wertvolle Erkenntnis. (Meinong 1904, 486 f.) Die ganze Mathematik beschäftigt sich ja ausschließlich mit solchen idealen Gegenständen. (Meinong 1904, 488) Dieses Argument scheint noch nicht besonders stark zu sein. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen den realen und idealen Gegenständen zusammen mit der These, dass nur die realen Gegenstände existieren, die idealen hingegen lediglich bestehen können, keinen allzu klaren Sinn hat. Wenn wir dennoch auf dieser Unterscheidung bestehen wollen, können wir ganz einfach eine abgeschwächte Form des diskutierten Vorurteils formulieren. Nach dieser abgeschwächten Form müsste sich eine Erkenntnis zwar nicht unbedingt mit den existierenden Gegenständen beschäftigen, denn es gibt eine wichtige Gruppe von Erkenntnisgegenständen, die von Natur aus nicht existieren können; immerhin müsste ein Gegenstand aber, wenn er überhaupt als Erkenntnisgegenstand betrachtet werden können soll, zumindest bestehen. Die abgeschwächte Form des Vorurteils wäre also, dass es für die Erkenntnisgegenstände jedenfalls wesentlich ist, dass sie entweder existieren oder bestehen. (Meinong 1904, S. 489) Auch diese Einschränkung ist aber nach Meinong nicht gerechtfertigt. Denn es macht oft einen guten Sinn, von den Eigenschaften eines Gegenstands zu sprechen, ohne seine Existenz oder seinen Bestand vorauszusetzen. „Die Tatsache ist wichtig genug“, schreibt Meinong, „um sie ausdrücklich als das Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein zu formulieren.“ (Meinong 1904, S. 489) Nach Meinong gibt es Soseinswahrheiten, die von den nichtexistierenden (darunter auch unmöglichen) Gegenständen gelten. „Nicht nur der vielberufene goldene Berg ist von Gold, sondern auch das runde Viereck ist so gewiß rund als es viereckig ist.“ (Meinong 1904, S. 490) Darüber hinaus macht Meinong darauf aufmerksam, dass „ein beliebiges
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Nichtseiendes den Gegenstand mindestens für solche Urteile abzugeben imstande sein muss, die dieses Nichtsein erfassen.“ (Meinong 1904, S. 490) Es gibt also zwei Arten von Wahrheiten die von den nicht-seienden Gegenständen gelten: (i) die reinen Soseinsbeschreibungen und (ii) die negativen Existenzsätze. Die Behauptung, dass die Erkenntnis als solche wesentlich etwas mit dem Sein ihres Gegenstands zu tun hat, muss man deshalb fallen lassen. Welchen ontologischen Status haben jedoch Gegenstände solcher Erkenntnisse? „Wer paradoxe Ausdrucksweise liebt,“ sagt Meinong, „könnte also ganz wohl sagen: es gibt Gegenstände, von denen gilt, dass es dergleichen Gegenstände nicht gibt [ ].“ (Meinong 1904, S. 490) Diese Stelle legt es nahe, den nicht-existierenden Gegenständen doch eine gewisse Art des Seins zuzuordnen. Eine solche Position hat tatsächlich Russell in The Principles of Mathematics (1903) vertreten. Er sagt dort, dass es eine Art des Seins gibt, die jedem Term und jedem Gegenstand des Denkens zukommen muss, und dass diese Art des Seins von der Existenz, die zwar wohl einem Pferd, aber nicht einem Zentauren zukommt, unterschieden werden muss.1 Meinong erwägt tatsächlich, ob man einem reinen Gegenstand nicht ein Sein zuschreiben sollte, „das weder Existenz noch Bestand ist“, und das den beiden als eine Art des Seins „dritter Stufe beizuordnen ist“. (Meinong 1904, S. 492) Ein solches Sein würde „jedem Gegenstand als solchem“ zukommen, es könnte ihm also kein korrelatives Nichtsein gegenüberstehen, wie es im Fall der Existenz und des Bestands der Fall ist. Die Frage, die sich stellt, lautet aber, ob man ein solches Sein, dem prinzipiell kein Nichtsein entsprechen kann, noch überhaupt „Sein“ nennen darf. Meinong entscheidet sich schließlich, diese Frage zu verneinen. Den Gegenständen als solchen wird keine besondere Seinsweise, kein ontologischer Status zugeschrieben. Die Gegenstände, auf 1
Vgl. „Being is that which belongs to every conceivable term, to every possible object of thought – in short to everything that can possibly occur in any propositions true or false, and to all such propositions themselves. [ ] ,A is not‘ implies that there is a term A whose being is denied, and hence that A is. [ ] Thus being is a general attribute of everything, and to mention anything is to show that it is. Existence, on the contrary, is the prerogative of some only among beings.“, Russell 1903, S. 449.
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die sich unsere psychischen Akte richten, seien „von Natur außerseiend“ (Meinong 1904, S. 494). Ihr Status ist völlig neutral. Sie stehen „jenseits von Sein und Nichtsein“ (Meinong 1904, S. 494), was bedeutet, dass die gegensätzlichen Bestimmungen Sein und Nichtsein „dem Gegenstande gleich äußerlich“ sind. (Meinong 1904, S. 494) Wie wir gesehen haben, hat schon Twardowski in seiner Abhandlung Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen eine ähnliche Ansicht vertreten. Twardowski widmet zwar dem ontologischen Status seiner Gegenstände keine ausführlichen Analysen – man kann also nicht sicher sein, ob er sie ähnlich neutral verstehen oder ob er ihnen doch eine „dritte Art“ des Seins zuschreiben wollte; eines steht allerdings fest: Bei Twardowski gibt es sowohl seiende als auch nicht-seiende Gegenstände, und deswegen will er auch die Metaphysik viel weiter verstehen als man es üblicherweise tut. Sie sollte sich nach ihm nicht bloß mit allem beschäftigen, was ist, sondern alle Gegenstände untersuchen, worunter man ja auch nicht-seinde Gegenstände findet. Was die Erweiterung des Interessengebiets der Metaphysik betrifft, so will sich jedoch Meinong dem terminologischen Vorschlag Twardowskis nicht anschließen. Metaphysik bleibt bei ihm, was sie war. Sie ist weiterhin die philosophische Disziplin von allem, was ist. Allerdings verliert sie ihre ausgezeichnete Stellung. Denn es gibt eine Disziplin, die noch allgemeiner ist. Sie behandelt alle Gegenstände in ihrer vollkommenen Seinsgleichgültigkeit und heißt deshalb logischerweise Gegenstandstheorie. (Meinong 1904, S. 517) Ein kurzes Nachdenken zeigt, dass erst mit der Einführung der nicht-seienden Gegenstände Meinongs Intentionalitätstheorie wirklich kohärent werden kann. Wir haben gesehen, dass er bis 1902 den untreffenden psychischen Akten keine nicht-existierenden Gegenstände zuordnet, die philosophisch ernst zu nehmen wären. Solche untreffenden Akte haben bloß eine potentielle Gegenständlichkeit. Ihre Objekte (bzw. Objektive) sind bloß pseudo-existierend, was bedeutet, dass es nur den entsprechenden psychischen Inhalt, aber keinen Gegenstand gibt. Zugleich sagt uns Meinong aber, dass Bestimmungen wie Wahrheit, Falschheit, Tatsächlichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit eigentlich nicht als Bestimmungen von Urteilen, sondern von Objektiven verstanden werden sollen. (Meinong 1902, S. 174, 188 f.) Was sollte dies aber z.B. im Fall der Falschheit bedeuten? Ist ein Urteil falsch,
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dann ist sein Objektiv nicht-bestehend; und das hieße ja nach der Lehre von 1902, dass es dieses Objektiv gar nicht gibt. Wie sollte dann aber die Falschheit primär seine Bestimmung sein? Nicht weniger geheimnisvoll sieht es im Fall der Möglichkeit und der Wahrscheinlichkeit aus. Was (bloß) möglich bzw. wahrscheinlich ist, das besteht ebenfalls nicht. Aber wie kann so etwas noch irgendwelche Bestimmungen haben? In der Tat, es scheint, dass man auf diese Fragen keine kohärente Antwort geben kann, solange man nicht annimmt, dass auch nichtexistierende (bzw. nicht-bestehende) Gegenstände Eigenschaften haben können. Das ist das berühmte Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein, dessen Formulierung Mally zu verdanken ist (Mally 1904, S. 126 f.; Meinong 1904, S. 489) und das den wahren Kern der Lehre vom Außersein bildet. Ein weiteres Beispiel dafür kann man in der Abhandlung Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung (1899) finden. Schon dort behauptet Meinong im Gegensatz zu Twardowski, dass die Bedeutung eines Ausdrucks nicht der psychische Inhalt des ausgedrückten Aktes, sondern sein Gegenstand ist. (Meinong 1899, S. 385) Diese Behauptung macht aber erst dann einen Sinn, wenn man auch untreffenden Ausdrücken wie „Pegasus“ oder „Zentaur“ Gegenstände zuordnet, denn Wörter wie „Pegasus“ und „Zentaur“ haben sicherlich eine Bedeutung. Das tut Meinong explizit erst 1904, und in der zweiten Auflage von Über Annahmen behauptet er unmissverständlich, dass auch falsche Urteile ihre Objektive haben. (Meinong 1910a, S. 45) Es scheint mithin, dass die Entdeckung des Außerseins des reinen Gegenstands, die Meinong erst zwischen 1902 und 1904 gemacht hat, die Entdeckung von etwas war, was in seinen Analysen schon lange implizit steckte. Mit der Einführung der nicht-existierenden Gegenstände könnte auch die Abstraktionslehre wesentlich vereinfacht werden. In der Abhandlung Abstrahieren und Vergleichen (1900) versuchte Meinong, die Allgemeinheit der Vorstellungen durch einen Rekurs auf ihre Inhalte zu erklären. Dieser Schritt war deswegen nötig, weil Meinong einerseits keine logischen Teile von Gegenständen (wie Farbe oder Gestalt) annehmen wollte und konsequenterweise die semantischen Korrelate solcher allgemeinen Termini eher als die entsprechenden Ähnlichkeitsreihen von bestimmten Farben bzw. Gestalten interpretieren wollte, andererseits aber eingesehen hatte, dass man unter den aktuellen
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Gegenständen keine derartigen Ähnlichkeitsreihen findet, die wirklich vollständig sind. Es waren ihm also zwei Lösungen geblieben: Entweder hätte er die Relation der Ähnlichkeit des entsprechenden Grades als einen primitiven Bestandteil jedes allgemeinen Begriffs annehmen müssen (das war die Lösung des jungen Meinong), oder er hätte die Allgemeinheit im psychischen Inhalt situieren müssen. Das war die Lösung, die Meinong 1900 vorgeschlagen hat. Nach dieser Lehre ist eine Vorstellung genau dann allgemein, wenn ihr psychischer Inhalt den Referenzgegenstand entsprechend unvollständig bestimmt. Sobald uns aber neben den existierenden auch die nicht-existierenden Gegenstände zur Verfügung stehen, brauchen wir natürlich keinen dieser Auswege. Denn in dem reichen Universum der außerseienden Gegenstände haben wir ja für jeden erdenklichen allgemeinen Begriff eine vollständige Ähnlichkeitsreihe, und sie kann als das semantische Korrelat eines allgemeinen Begriffs betrachtet werden. Wir brauchen also weder primitive Ähnlichkeitsrelationen noch unvollständig bestimmende psychische Inhalte. Allgemeine Begriffe können einfach mit den entsprechenden Mengen der außerseienden Gegenstände identifiziert werden. Meinong hat allerdings diese Lösung nie ernsthaft in Betracht gezogen. Stattdessen hat er 1907 eine andere Art von semantischen Korrelaten für allgemeine Begriffe eingeführt: die unvollständigen Gegenstände. Ein äußerst delikater Punkt der Meinong’schen Lehre bleibt freilich die Frage, wie das Außersein seiner Gegenstände interpretiert werden soll. Wir haben gesehen, dass das Außersein nicht als eine zusätzliche Art des Seins zu verstehen ist. Denn ein Sein, das keine Gegenüberstellung des korrelativen Nichtseins zulässt, verdient nach Meinong den Namen „Sein“ nicht. Man darf also das Außersein überhaupt nicht mit Sein in Verbindung bringen, was zu implizieren scheint, dass die Meinong’schen Gegenstände überhaupt keinen ontologischen Status genießen. Nicht ohne Grund unterscheidet Meinong deutlich zwischen der Gegenstandstheorie und der Metaphysik. Die These, dass die Gegenstände überhaupt keinen ontologischen Status haben, ist jedoch alles andere als leicht verständlich. Soll sie etwa bedeuten, dass die Rede von den Meinong’schen Gegenständen eine bloße façon de parler ist, die mit den philosophischen Erklärungen, die mit seienden Entitäten operieren, nicht auf die gleiche Ebene zu stellen wäre? Worin genau bestände dann ihre Eigenart, die sie von den ontologisch verpflichtenden Redeweisen unterscheidet?
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Auf jeden Fall scheint es, dass sie nicht in der prinzipiellen Eliminierbarkeit bestehen kann. Eine Theorie, die ohne nicht-existierende Gegenstände auskommt, versuchte Meinong bis 1902 zu formulieren. Die spätere Entwicklung seiner Theorie, die mit den außerseienden Gegenständen operiert, resultierte aus der Einsicht, dass diese Versuche vergeblich waren, dass man zum Zwecke der philosophischen Erklärung nicht-existierende Gegenstände doch braucht. Wenn aber die außerseienden Gegenstände eine erklärende Rolle spielen, die durch keine anderen Entitäten übernommen werden kann, wie kann man dann noch behaupten, dass sie keinen ontologischen Status haben? Liegt das Problem bloß in der terminologischen Konvention, nach der wir heute alle Gegenstände, die in unseren Theorien eine wichtige erklärende Rolle spielen, mit einem ontologischen Status auszeichnen, die aber Meinong vielleicht fremd war; oder geht es um philosophische Entscheidungen, die tiefer greifen als die bloß terminologischen Festlegungen? Meinong war übrigens keineswegs völlig konsequent, wenn er seinen Gegenständen jeden ontologischen Status abgesprochen hat. Im Zweiten Kolleg über Gegenstandstheoretische Logik lesen wir z.B.: „Ist aber Disjunktion von Existenz und Bestand vollständig? Außersein, das kaum bloß negativ aufzufassen, dann aber doch etwas wie eine dritte Art von Sein ausmacht.“ (Meinong 1913, S. 261) Im Vierten Kolleg über Erkenntnistheorie schreibt er, dass dem Außersein „eine eigentümliche Positionsartigkeit [ ] bleibt. [ ] Es ist eine eigentümliche Gegebenheit, die keinem Gegenstande [ ] fehlt.“ (Meinong 1917/18, S. 377) Und auch in der Abhandlung Über emotionale Präsentation kann man lesen, dass Außersein „etwas Seinsartiges“ sei. (Meinong 1917, S. 306) Wir werden uns mit diesen Fragen noch im letzten Kapitel dieses Buches beschäftigen. Jetzt signalisieren wir nur das Problem, ohne darauf näher einzugehen. 2. Eine konsequent propositionale Intentionalitätstheorie (1910) Schon in der ersten Auflage von Über Annahmen hatte Meinong behauptet, dass es gewisse Aspekte von Gegenständen gibt, die erst im Rahmen einer propositionalen Intentionalität präsentiert werden können.
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Acht Jahre später, in der zweiten Auflage dieses Werkes (1910), formuliert er eine Theorie, die noch viel stärkere Thesen enthält. Nach der Lehre von 1910 ist nämlich eine „echte“ intentionale Beziehung überhaupt nur im Rahmen einer propositionalen Intentionalität möglich. Vorstellungen, die in einer Annahme oder einem Urteil involviert sind, haben nach dieser Lehre lediglich eine potentielle Intentionalität. Sie erreichen ihre Objekte erst dann, wenn sie als Bestandteile im Rahmen einer propositionalen intentionalen Struktur fungieren. In diesem Sinne kann ein Objekt eigentlich nur „durch“ ein Objektiv intentional getroffen werden. In diesem Sinne kann man diese Theorie als eine konsequent propositionale Intentionalitätstheorie bezeichnen. Bereits in der ersten Auflage von Über Annahmen neigte Meinong dazu, Objekte als eine Art Abstraktion aus Objektiven zu betrachten. Wir lesen dort z.B.: „Dem so ausschließlich erfaßten Objektiv steht jedoch das Objekt A nicht als etwas davon Getrenntes und in diesem Sinne Zweites gegenüber, sondern es ist darin gewissermaßen als Teil bereits enthalten, und es ist etwas wie eine Art Abstraktionsleistung, wenn wir auf dieses A unter dem Namen des Gegenstandes unsere Aufmerksamkeit noch besonders richten.“ (Meinong 1902, S. 198 f.)
Weiter schreibt Meinong jedoch, dass es ein Missverständnis wäre, hier an eine wirkliche Abstraktion zu denken. Die Abstraktion betrifft Merkmale, die in einem Objekt durch eine reale Relation verbunden sind. Was aber in dieser Weise nicht verbunden ist, bedarf, sagt Meinong, keines besonderen Abstraktionsaktes. Wenn wir also etwa aus einem Objektiv ein involviertes Objekt „herausabstrahieren“, dann ist der Objekt-Teil des betreffenden Objektivs bereits eine Entität, die als solche auch ohne irgendwelche Abstraktion vorgestellt werden kann. „Und dass dieser Teil für sich ,gegeben‘ sei, dazu ist in unserem Falle weiter nichts erforderlich, als dass man im Stande ist, vorzustellen ohne zu urteilen.“ (Meinong 1902, S. 199)
Die These, „dass man im Stande ist, vorzustellen ohne zu urteilen“, scheint in der ersten Auflage von Über Annahmen noch den Status einer Selbstverständlichkeit zu genießen. Schon acht Jahre später, in der zweiten Auflage dieses Werkes, entwickelt Meinong jedoch eine Intentionalitätstheorie, in deren Rahmen selbst diese Behauptung in Frage gestellt wird. Nach dieser neuen Intentionalitätstheorie ist nämlich
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eine Vorstellung, die über eine bloße Potentialität der gegenständlichen Beziehung hinausgeht, eigentlich nur „innerhalb“ eines propositionalen Aktes (d.h. einer Annahme oder eines Urteils) möglich.2 Meinong sagt dort, „dass, wenn man etwas hinsichtlich eines bestimmten Gegenstandes intellektuell ausmachen will, es vor allem nötig ist, ihn intellektuell zu ,ergreifen‘ [ ]“. (Meinong 1910a, S. 235) Die Erlebnisse, die für ein solches Ergreifen oder Erfassen verantwortlich sein sollen, werden üblicherweise „Vorstellungen“ genannt. Meinong behauptet jedoch, dass ein bloßes Vorstellen für ein derartiges Erfassen eines Gegenstands keineswegs ausreicht. „[D]as Vorstellen, ganz losgelöst von allem, was etwa auf Grundlage des Vorstellens psychisch zu verwirklichen sein mag, ist ein völlig passiver Zustand so gut wie das Fühlen: wo also ein Gegenstand erfasst wird, muss zum Vorstellen noch ein anderes Erlebnis hinzugekommen sein.“ (Meinong 1910a, S. 235)
Das Erlebnis, das zu einer Vorstellung hinzukommen muss, damit ihr Objekt erfasst werden kann, nennt Meinong eine „Meinung“ (Meinong 1910a, S. 238), und sie ist, wie auch zu erwarten wäre, ein psychischer Akt, der als sein Korrelat ein Objektiv hat – eine Annahme oder ein Urteil. Ein Objekt kann dementsprechend nur „in einem und gewissermaßen durch ein“ Objektiv erfasst werden. (Meinong 1910a, S. 240) Was aber das Objektiv, „in dem und durch das“ das Objekt erfasst wird, betrifft, so bedarf es keines weiteren erfassenden Erlebnisses. Eine Annahme bzw. ein Urteil ist ein Erlebnis, das genug Aktivität besitzt, um sein Objektiv selbstständig zu erfassen – im Gegensatz zu einer Vorstellung, die in dieser Hinsicht auf eine fremde Hilfe angewiesen ist. „[W]ie das Urteilen das Objektiv, so erfaßt das Vorstellen das Objekt unmittelbar, nur sozusagen unvollständig, indem es noch einer obligatorischen Hilfe durch ein mittelbares, durch das Objektiv hindurchgehendes Erfassen bedarf.“ (Meinong 1910a, S. 240)
2
Grossmann fasst diesen Schritt folgendermaßen zusammen: „It is obvious that presentations have lost most of their importance in Meinong’s latest system. The theory of apprehension relegates presentations once and for all to a rather insignificant role. They are the mere ,stuff‘, the ,raw material‘, which supplies the mind with something to work on. But all the interesting work is done by judgement and assumption.“, Grossmann 1974, S. 185.
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Der einfachste Fall, den man sich denken kann, ist ein Seinsobjektiv der Form „M ist“, in dem neben dem Objekt nur noch der Aspekt der Existenz oder Nicht-Existenz (bzw. des Bestands oder Nicht-Bestands) involviert ist. Wie wir uns erinnern, war das die paradigmatische Urteilsform Brentanos, auf die, wie er glaubte, alle anderen Formen reduzierbar sein sollten. Meinong argumentiert jedoch, dass eine solche intentionale Beziehung eine Ausnahme darstellt, die eigentlich – können wir hinzufügen – nur im Kopf eines Philosophen entstehen kann. Im Normalfall haben wir es immer mit einem impliziten Soseinsmeinen der Form „M ist N“ zu tun. Um das zu verstehen, müssen wir uns die Weise, in der Meinong jetzt die intentionalen Beziehungen auf die einfachen Gegenstände, Komplexe und Eigenschaften sieht, noch einmal in Erinnerung rufen. Gegenstände, auf die wir uns normalerweise beziehen, sind Meinong zufolge Komplexe. Im Gegenstand einer Wahrnehmung haben wir z.B. mit den räumlichen, zeitlichen und qualitativen Aspekten zu tun, die durch eine reale Relation vereinigt sind. Solche Komplexe sind aber nach Meinongs neuer Lehre streng genommen unvorstellbar. In einer Vorstellung können wir höchstens diese drei Aspekte „nebeneinander“ haben. Um sie als miteinander vereinigt zu erfassen, braucht man eine Annahme oder ein Urteil. Es wäre also ein Irrtum, zu denken, dass ein Wahrnehmungsurteil, das die Existenz eines zusammengesetzten Gegenstands anerkennt, als sein gegenständliches Korrelat ein einfaches Seinsobjektiv der Form „M ist“ hat. Da der involvierte Wahrnehmungsgegenstand ein Komplex ist, muss eine implizite Soseinsannahme bereits am Werk sein. Wie sieht also die tatsächliche Form eines solchen Wahrnehmungsurteils aus? Den ersten Schritt zu einer Antwort machen wir, indem wir bemerken, dass man in jedem Soseinsobjektiv eine der Subjektbestimmungen durch eine Variable ersetzen kann. Betrachten wir ein Objektiv der Form „M ist N“ und lassen Meinong sprechen: „Nimmt man dem M alle Bestimmungen, so dass an deren Stelle gleichsam nur der Raum für Bestimmungen übrig bleibt, – sagt man also ,etwas, das N ist‘ oder ,das, was N ist‘, so wird alles Bestimmen einzig und allein durch N besorgt [ ].“ (Meinong 1910a, S. 269)
Dieser Operation sind wir bereits begegnet, als wir vom Unterschied zwischen den prädizierbaren Eigenschaften und den einfachen Inhalten
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nominaler Form gesprochen haben. Die prädizierbaren Eigenschaften sind – so die Lehre Meinongs – keine vorstellbaren Objekte, sondern eine Art Abstraktionen aus Objektiven. Auch im gegenwärtigen Kontext betont er, dass wir in der Form „etwas, das N ist“ Nnicht als ein Objekt einer Vorstellung interpretieren sollen, obwohl hier „alles Bestimmen einzig und allein durch N besorgt“ wird. Wäre N als ein solches Objekt zu interpretieren, dann wäre es eine Entität, auf die man sich durch eine für unsere Umgangssprache eher unnatürliche, philosophisch-technische Verwendung der Worte wie „schwarz“, „dreieckig“ oder „verschieden“ bezieht. Eine solche Entität könnte aber, so sagt Meinong, in keinem verständlichen Sinne mit einer anderen derartigen Entität zu einem zusammengesetzten Gegenstand vereinigt werden. Eben eine solche seltsame Entität müsste aber in einem Existenzurteil, dessen Form wirklich „M ist“ wäre, das also keine versteckte Soseinsannahmen involvieren würde, anerkannt werden. Es ist allerdings klar, dass wir im besten Fall äußerst selten an derartige Entitäten denken. Meinong kommt somit zu dem Schluss, dass jede intentionale Beziehung ein Soseinsmeinen involviert. „Alles Meinen kann [ ] als eine Art Auswahl betrachtet werden, die aus der unendlichgradig unendlichen Fülle des Außerseienden auf Grund vorgegebener Bestimmungen getroffen wird. Diese Bestimmungen sind zuletzt Eigenschaften, also Sosein, und man könnte es eher bemerkenswert finden, dass ein Ergreifen vermöge bloßen Seins, d.h. ohne explizite Inanspruchnahme des Soseins möglich ist. Man wird eben vermuten müssen, dass schon in den Daten bloßen Vorstellens zusammen mit der auf sie gegründeten Seinsmeinung Soseinsobjektive mindestens impliziert sind.“ (Meinong 1910a, S. 275)
Die einfache Form „M ist“ ist also, wenn auch nicht immer, zumindest in den meisten Fällen irreführend. Der Gegenstand, auf den wir uns durch M beziehen, muss sich, so Meinong, „in Soseinsobjektive wie ,etwas, das braun ist‘, ,etwas, das rechteckig ist‘ usw. [ ] auflösen lassen, etwa mit Ausschluss eines noch näher zu untersuchenden Restes, der sich in dem [ ] ,etwas‘ zu verbergen scheint.“ (Meinong 1910a, S. 275 f.) Die Gegenstände, auf die wir uns scheinbar durch Namen beziehen, lösen sich also in Soseinsobjektive auf. Diese Soseinsobjektive haben die allgemeine Form „etwas, das F ist“. Die einzigen inhaltlichen Bestimmungselemente, die uns bleiben, sind also prädizierbare Eigenschaften, durch die das Objekt in dem Bereich des Außerseienden identifiziert
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wird. Als das einzige syntaktische Element, das sich auf dieses Objekt bezieht, fungiert hingegen die Variable „etwas“. Woran erinnert uns diese Theorie? Jawohl, wir haben es hier mit der Meinong’schen Version der Russell’schen Deskriptionstheorie der intentionalen Beziehung zu tun. (Vgl. Russell 1905a) Jedes Soseinsmeinen hat dementsprechend die Form SSM ∃xFx ∧ Gx ∧ Hx ∧ wobei der existentielle Quantor zunächst als ontologisch unverpflichtender „Außersein-Quantor“ zu verstehen ist. Ein Seinsmeinen erhalten wir, wenn wir im Bereich dieses Quantors zusätzlich auch das ExistenzPrädikat „E!“ platzieren: SM ∃xFx ∧ Gx ∧ Hx ∧ ∧ E!x Ein Seinsmeinen der Form SM∗
E!a
in dem sich der Name „a“ auf ein Konkretum bezieht, muss sich immer als eine versteckte Form von (SM) aufweisen lassen, und zwar deswegen, weil eine Beziehung auf ein Konkretum nur mittels der Aufzählung seiner Eigenschaften erfolgen kann. Die einzig mögliche Form des einfachen Seinsmeinens wäre also die Form SM∗∗
E!F
in der „[F]“ eine Bezeichnung für einen abstrakten Inhalt der nominalen Form ist, der noch keine prädizierbare Eigenschaft ist und der von den anderen abstrakten Inhalten auf immer und ewig isoliert bleibt. Es ist höchst fraglich, ob man solche intentionale Beziehungen überhaupt noch ernst nehmen soll. Meinong sagt zwar gelegentlich, dass die rudimentärste Form der Wahrnehmung eben die Form (SM**) haben könnte. (Vgl. Meinong 1915, S. 193) Es ist allerdings zu betonen, dass eine solche Wahrnehmung natürlich keine Wahrnehmung eines Individuums, sondern vielmehr eine Wahrnehmung einer isolierten Qualität wäre (und
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dazu noch einer Qualität, die noch nicht in der Form einer Eigenschaft, sondern als eine merkwürdige Qualität an sich auftritt). Vielleicht könnte es sich dabei um das berühmte „Haben von Empfindungen“ handeln, von dem man in der philosophischen Literatur so viel lesen kann. Ob es so etwas tatsächlich gibt, und falls ja, ob man es wirklich in dieser Weise interpretieren soll, ist allerdings mehr als fraglich.3 Es wird lehrreich sein, den Übergang von der Brentano’schen zur Meinong’schen Intentionalitätstheorie etwas genauer zu betrachten. Er kann durch das folgende Schema illustriert werden:
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In der Gruppe der Soseinsmeinungen unterscheidet Meinong gelegentlich zwischen Wasseinmeinen und Wieseinmeinen. Ein Wasseinmeinen wäre z.B. die Meinung der Form „Das ist ein Tisch“, ein Wieseinmeinen „Das ist weiß“ oder „Dieser Tisch ist weiß“. Die Unterscheidung stammt natürlich aus der aristotelischen Tradition. Das Was des Gegenstands entspräche der substantialen Form, während das Wie des Gegenstands sich auf seine akzidentellen Bestimmungen bezieht. Diese Unterscheidung war für Aristoteles absolut grundlegend, sie wurde aber vor allem von den britischen Empiristen so überzeugend in Frage gestellt, dass sie für eine lange Zeit definitiv aus der Mode war. Heute wird sie allmählich neu entdeckt. (Vgl. Loux 1978, S. 163– 166; Loux 1998, S. 117–127; Wiggins 1980; Lowe 1989) Es wäre aber verfehlt, auch Meinong zu denjenigen Philosophen zu rechnen, die auf der ontologischen Wichtigkeit dieser Unterscheidung bestehen. Die Form des Wasseinmeinens reduziert sich nämlich nach Meinong letztlich auf die Form des Wieseinmeinens. Vgl. „Die verschiedenen Determinationsfälle kann man [zu] überblicken versuchen unter Gegenüberstellung: a) von Wassein und Wiesein, b) von Ding oder Eigenschaft als erstem Glied oder Determinand. Also: a) Hier wäre der Gegensatz in A, das B ist, und A, das b ist, gegeben. [Durch die großen Buchstaben (,A‘, ,B‘) werden hier Gegenstände, durch die kleinen (,a‘, ,b‘) entsprechende Eigenschaften bezeichnet.] In solcher Aufschreibung aber liegt, namentlich im zweiten Fall, dem Wiesein, Ungleichmäßigkeit, indem im Symbol A bereits eine Determination impliziert ist. Wir können sie herauslösen, indem wir für Ding das allgemeine Symbol (Delta) einführen. Bezeichnen wir außerdem Determinationsverhältnis durch Anschreiben des Determinators rechts unten, wobei Determinationszeichen am Determinator links oben angefügt bleibt, so erhalten wir für jedes A sogleich +a , ebenso für B +b usf. Statt ,A, das B ist‘, oder ,+a , das +b ist‘, erhalten wir dann selbstverständlich ,, das a und b ist‘. In diese Gestalt geht aber auch ,+a , das b ist‘ über. Alle Wasseinsfälle, die von Dingen ausgehen, sind daher als Wieseinsfälle darzustellen, und dies ist die übersichtlichere Form.“, Meinong 1910b, S. 225.
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Oben haben wir die Brentano’sche Vorstellung. Der Vorstellungsakt bezieht sich auf einen Gegenstand, der aus drei Aspekten (F , G und H besteht. Wir können uns vorstellen, dass es sich dabei um eine Qualität, eine räumliche und eine zeitliche Position handelt. Brentano hat tatsächlich behauptet, dass uns die Vorstellungen derartige Gegenstände präsentieren. Solche Gegenstände sind natürlich zusammengesetzt. Sie bestehen aus den Aspekten (Brentanos metaphysischen Teilen), zwischen denen reale Relationen bestehen. Nach der Lehre Meinongs bedeutet das jedoch, dass solche Gegenstände streng genommen unvorstellbar sind. Damit die drei Aspekte nicht bloß als nebeneinander stehend, sondern als miteinander verbunden präsentiert werden können, muss ein Meinen (eine Annahme oder ein Urteil) hinzukommen. Das, was vorstellbar ist, sind nur die einzelnen isolierten Aspekte. Diese Art der Vorstellbarkeit bedeutet aber lediglich eine Potentialität – eine Möglichkeit, dass die genannten Aspekte im Rahmen eines propositionalen Aktes die intentionale Beziehung auf einen Gegenstand vermitteln.
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kapitel 5
Eine Vorstellung, so wie sie Brentano verstand, ist also im Rahmen der späten Lehre Meinongs ein Unding. Es muss sich um ein Soseinsmeinen handeln, das die genannten drei Aspekte in der Form „∃xFx ∧ Gx ∧ Hx“ vereinigt. In einem Wahrnehmungsurteil kommt noch ein Existenzurteil dazu. Man stellt den entsprechenden Gegenstand nicht bloß vor, sondern behauptet auch, dass ein solcher Gegenstand tatsächlich existiert. Bei Brentano bedeutet das (je nach Interpretation seiner Lehre) entweder, dass zur Vorstellung ein psychischer Modus der Anerkennung hinzukommt, oder dass das immanente Objekt in eine immanente Struktur eingebettet wird, die man als „angenommenes Objekt“ bezeichnen kann und der auf der transzendenten Seite gegebenenfalls eine ähnliche transzendente Struktur „Sein des Objekts“ entspricht. Bei Meinong bedeutet aber ein solches Existenzurteil lediglich eine Hinzufügung eines Existenz-Prädikats „E!“ zu der bereits vorhandenen propositionalen Struktur. Die Form der intentionalen Beziehung kompliziert sich dann zur Form „∃xFx ∧ Gx ∧ Hx ∧ E!x“. Wir können das durch das folgende Schema illustrieren:
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Es ist verblüffend, dass das Element, das bei Meinong dem Brentano’schen Existenzurteil entspricht, bloß eine zusätzliche Vorstellung von einem eher ungewöhnlichen Inhalt „E!“ ist. Das ist aber auch richtig, denn die propositionale Struktur ist ja bereits in der Meinong’schen Entsprechung der Brentano’schen Vorstellung (d.h. im Soseinsmeinen) vorhanden. Was noch fehlt, ist also doch lediglich ein Existenz-Prädikat. Die Existenz wird also bei Meinong, ganz anders als bei Kant,4 zu einem realen Prädikat; und im Objektiv eines Seinsmeinens finden wir deshalb neben den gewöhnlichen Eigenschaften noch eine merkwürdige Eigenschaft der Existenz. Gustav Bergmann sieht hier eine Analogie mit der thomistischen Lehre von der Zusammensetzung jedes Seienden aus zwei Elementen: einem Wesen (essentia) und einem Existenzakt (esse). (Bergmann 1967, S. 353 ff., 359, 363)5 Thomas hat argumentiert, dass alles, was sich im Begriff einer Entität nicht findet, gewissermaßen als ein zusätzliches Element betrachtet werden muss. Nun können wir aus dem bloßen Begriff eines Zentauren oder eines Hundes selbstverständlich nicht wissen, ob die genannten Entitäten existieren oder nicht.6 Das Sein eines Dinges muss also, schließt Thomas, von seinem Wesen unterschieden werden. Auf der einen Seite ist also das Sein eines Dinges in seinem Wesen nicht eingeschlossen, auf der anderen Seite gibt es allerdings – so war seine feste Überzeugung – keine bloßen, nicht-existierenden Wesen. Alles, was ist, ist seiend, und das heißt bei Thomas, dass es existiert. Die Lösung, die Thomas für dieses Problem vorgeschlagen hat, besteht im Wesentlichen darin, dass die Zusammensetzung aus dem Wesen und dem Sein nach dem gleichen Modell betrachtet wird, wie die Zusammensetzung aus Materie und Form im Rahmen der aristotelischen Metaphysik. Bei Aristoteles gibt es ebenfalls keine bloße Materie.
4
Vgl. „Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d.i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.“, Kritik der reinen Vernunft, A 598, B 626. 5 Die folgenden drei Abschnitte wurden aus Chrudzimski 2004, S. 72, übernommen. 6 Bei widersprüchlichen Begriffen können wir aus dem Begriff die Nicht-Existenz des Gegenstands erkennen. Der einzige Fall einer begrifflich notwendigen Existenz könnte eventuell in Anselms Gottesbeweis gesucht werden.
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kapitel 5
Jede aktuell auftretende Materie muss geformt sein. Die Seinsweise der Materie ist exakt die Seinsweise des Trägers einer substantialen Form. In diesem Sinn verhält sich die Form gegenüber der Materie wie Akt zu Potenz. Ganz ähnlich ist es Thomas zufolge mit dem Sein und dem Wesen. Die Seinsweise eines Wesens ist zu existieren, und das bedeutet: mit einem Sein vereinigt zu sein, das in Bezug auf das Wesen wie Akt in Bezug auf Potenz fungiert.7 Ob es wirklich eine allzu große Ähnlichkeit zwischen der Lehre von Thomas und der Meinong’schen Theorie der Existenzeigenschaft gibt, ist zu bezweifeln. Thomas unterscheidet zwar die Existenz gewissermaßen als ein besonderes Element innerhalb eines Seienden, ein wesentlicher Aspekt seiner Auffassung besteht aber darin, dass die Existenz genau das ist, was ein Seiendes zu dem macht, was es ist, und ein Nichtseiendes gibt es bei Thomas schlicht und einfach nicht. Zu existieren ist bei Thomas eben der einzige ontologische Status, den ein Wesen haben kann. Es gibt keine „frei schwebenden“ Wesen. Wenn wir nun die Analogie zwischen Thomas und Meinong näher artikulieren wollen, dann sehen wir, dass dem thomistischen Wesen bei Meinong ein reiner Gegenstand entspricht. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Positionen wird dadurch sofort klar. Er besteht darin, dass der ontologische (oder besser „gegenstandstheoretische“) Status, den bei Meinong ein solcher reiner Gegenstand genießt, nicht
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Zur Lehre Thomas’ vgl. „Alles, was nicht zum Begriff des Wesens oder der Quiddität gehört, ist etwas von außen Hinzukommendes, was mit dem Wesen eine Zusammensetzung bildet; denn kein Wesen kann ohne seine Teile begriffen werden. Ein jedes Wesen oder jede Quiddität kann jedoch begriffen werden, ohne etwas über das zum Wesen oder der Quiddität gehörige Sein zu wissen. [ ] Es ist somit klar, dass das Sein etwas anderes ist als das Wesen oder die Quiddität, es sei denn, es gibt ein Ding, dessen Quiddität eben sein eigenes Sein ist [ ].“, De ente et essentia, S. 56. Nach Thomas gibt es natürlich ein Seiendes, „dessen Quiddität eben sein eigenes Sein ist“, nämlich Gott. Die Folgerung Thomas’ erinnert übrigens an eine der dialektischen Übungen, die uns Platon in seinem Parmenides zumutet: „Wenn das ,Ist‘ von dem seienden Eins ausgesagt wird und das ,Eins‘ von dem Einsseienden und das Sein und das Eins zwar nicht dasselbe sind, aber doch zu demselben Gegenstand gehören, nämlich dem vorausgesetzten seienden Eins, muss da nicht notwendig das Ganze das seiende Eins selber sein, als seine Teile aber sich das Eins und das Sein darstellen?”, Parmenides, 142d 1–5.
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die Existenz, sondern das Außersein ist. Bei Meinong gibt es also sehr wohl „frei schwebende“ Gegenstände, von denen nur einigen die Existenzeigenschaft zukommt. Die Meinong’sche Existenz (bzw. der Bestand) ähnelt also eher einem merkwürdigen Akzidens als dem Existenzakt wie ihn Thomas verstanden hat; und unter den Vorgängern von Thomas, die die für die scholastische Philosophie absolut zentrale Frage nach dem ontologischen Charakter der Existenz erst klar formuliert haben, befindet sich ein Philosoph, der die Existenz genau in dieser Weise verstehen wollte. Wir meinen hier den arabischen Philosophen Avicenna, der Existenz eben als ein Akzidens des Wesens bezeichnet. Meinong scheint also zu dem philosophischen Lager zu gehören, dessen Anhänger man oft als Essentialisten bezeichnet. Die ontologisch grundlegendsten Fragen betreffen bei dieser Auffassung den Bereich der possibilia (bei Meinong übrigens auch der non-possibilia), denen dementsprechend eine gewisse Seins- bzw. „Vorhandenseinsweise“ zugeschrieben wird, die von ihrer „Aktualisierung“ unabhängig ist. Der Bereich des Existierenden wird als ein Sonderbereich der possibilia verstanden. Existenz wird also bei Meinong zu einer Eigenschaft. Die Natur dieser Existenzeigenschaft erweist sich allerdings als sehr ungewöhnlich, so dass sie – zusammen mit einigen anderen Eigenschaften – auf eine ganz andere Stufe gestellt werden muss als die übrigen „gewöhnlichen“ Eigenschaften. 3. Unvollständige Gegenstände (1907) In seiner Abhandlung Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften (1907) versuchte Meinong, seine Gegenstandstheorie in erster Linie gegen verschiedene Einwände zu verteidigen. Trotz dieses apologetischen Charakters sind dort auch zwei systematisch äußerst wichtige Punkte zur Sprache gekommen. Der erste Punkt betrifft die unvollständigen Gegenstände, der zweite die so genannten modalen Bestimmungen der Gegenstände. Wir werden uns zunächst mit dem ersten Punkt beschäftigen. Der Anlass für diese Neuerung waren die Schwierigkeiten, die man im Rahmen der Meinong’schen Gegenstandstheorie mit dem Begriff des
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Begriffs hat. Unter einem Begriff versteht man zunächst die Bedeutung eines (meistens allgemeinen) Wortes, und da man in der Brentano’schen Tradition (zu der die Theorie Meinongs in dieser Hinsicht weiterhin gehört) die Intentionalität der sprachlichen Strukturen auf die Intentionalität der psychischen Akte, die sie ausdrücken, zurückführt, muss man auch Begriffe unter den Elementen suchen, die in einer mentalen intentionalen Beziehung die entsprechende Rolle spielen. Im Rahmen der Theorie Meinongs kann also ein Begriff entweder der psychische Akt, oder sein psychischer Inhalt oder der dazugehörige Gegenstand sein. Eine wichtige Intuition sagt uns, dass ein Begriff etwas ist, was gegenüber der Variabilität der psychischen Akte, in denen er „benutzt“ wird, als ein konstantes Element bleibt. Wenn wir dieser Intuition folgen, neigen wir dazu, für die Rolle der Begriffe eher Gegenstände zu favorisieren. Diese Entscheidung stände übrigens mit der allgemeinen Tendenz der Meinong’schen Gegenstandstheorie, Bedeutungsentitäten als außerseiende Gegenstände zu interpretieren, im Einklang. Eine andere Intuition sagt uns aber, sagt Meinong, „dass der Begriff selbst einen Gegenstand hat, also im allgemeinen nicht der Gegenstand sein kann; zugleich kommt dabei noch wieder zur Geltung, dass der Begriff etwas ist, das einer ,haben‘ kann, indes es dem anderen fehlt, dass dann aber der letztere sich ,bilden‘ kann usf. [ ].“ (Meinong 1907, S. 326) Wenn man dieser Intuition folgt, neigt man dazu, in der Rolle der Begriffe eher psychische Akte zu sehen. Denn ein psychischer Akt ist eben etwas, „das einer ,haben‘ kann, indes es dem anderen fehlt“, und das sich auf Gegenstände bezieht. Meinongs Lösung nimmt zwischen diesen zwei Extremen eine Mittelposition ein. Einerseits wird Begriff als ein besonderer psychischer Akt definiert, andererseits ist hier aber die Art des Gegenstands, der von dem Akt intendiert wird, von der entscheidenden Bedeutung. Begriff wird von Meinong als ein Akt der Vorstellung definiert, dessen Gegenstand nicht vollständig determiniert wird. (Meinong 1907, S. 328) In einem Begriff des Tons C wird z.B. nur die Höhe des Tons festgelegt. Über die Lautstärke des Tons wird in einem solchen Begriff nichts gesagt. Die realen Töne, die wir hören können, haben zwar immer eine bestimmte Lautstärke; das ändert aber nichts daran, dass der eigentliche Gegenstand der Vorstellung des Tons C nur die Höhebestimmung, jedoch keine Lautstärkebestimmung enthält. (Meinong 1907, S. 327)
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Der Gegenstand, der durch einen Begriff intendiert wird, ist eben ein unvollständiger Gegenstand, der bezüglich einiger seiner Eigenschaften unbestimmt ist.8 Begriffe verdanken ihre Beständigkeit den unvollständigen Gegenständen, auf die sie gerichtet sind, und es sind diese Gegenstände, durch die wir Begriffe charakterisieren und auf die sich üblicherweise unser Interesse richtet. „Sind nämlich Begriffe in erster Linie durch ihre Gegenstände charakterisiert, dann ist vorerst klar, dass so ziemlich alles, was an dem Begriff das Interesse theoretischer Bearbeitung auf sich ziehen mag, auf die Natur der betreffenden Gegenstände zurückgehen wird.“ (Meinong 1907, S. 329)
Meinong bemerkt, dass die eben eingeführte Kategorie der unvollständigen Gegenstände eine direkte Relevanz für das Problem der Universalien hat, dessen konzeptualistische Lösung er in seinen Hume Studien I zu geben versuchte. „Man denkt natürlich sogleich an die alte Universalien-Kontroverse, bei der man sich vielleicht zu früh mit der bloßen psychologischen Klarstellung des Sachverhaltes zufrieden gegeben haben mag.“ (Meinong 1907, S. 327 f.)
Die unvollständigen Gegenstände sind in der Tat als ein gegenstandstheoretischer Ersatz der allgemeinen Entitäten gedacht. Wir erinnern uns an die Lehre Twardowskis, die keiner Vorstellung eine Vielheit der Gegenstände zuordnen wollte. Die Vorstellung eines Dreiecks hat nach ihm nicht etwa alle aktuellen (oder vielleicht alle aktuellen plus alle nichtaktuellen) Dreiecke als Gegenstand. Sie bezieht sich auf einen einzigen Gegenstand – auf das Dreieck schlechthin. Dieser Gegenstand enthält nur eine einzige Eigenschaft – Dreieckigkeit. 1907 ist Meinong dazu gekommen, auch diese These ernst zu nehmen. Und so findet man beim späten Meinong als semantische Korrelate für allgemeine Ausdrücke doch eine Art von Gegenständen, die den Universalien sehr nahe stehen. Unvollständige Gegenstände scheinen sich zwar auf den ersten Blick von den allgemeinen Eigenschaften, die von den metaphysischen Realisten postuliert werden, schon aufgrund 8
Die Idee eines solchen unvollständigen Gegenstands hat Meinong von Mally übernommen. (Vgl. Mally 1912, S. 73)
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ihrer Form zu unterscheiden. Als Beispiel wird doch ein Ton C genannt, dem die „merkwürdige Eigenschaft“ zukommt, dass er „hinsichtlich des Stärkemoments nicht bestimmt ist“. (Meinong 1907, S. 327) Es scheint also, dass man es hier doch mit einem Objekt zu tun hat, das eine unvollständige Kollektion der Eigenschaften besitzt, etwa mit etwas, das (ausschließlich) F ist, während ein dezidierter metaphysischer Realist direkt von der Tonhöhe C sprechen würde, die eine Eigenschaft ist, die einem Objekt (einem Ton) eventuell zukommt. Dieser Schein trügt aber. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die Form etwas, das F ist, von Meinong gerade als die Form einer Eigenschaft betrachtet wird, und zwar als die einzig mögliche Form einer Eigenschaft, die prädizierbar ist. Vom gegenstandstheoretischen Standpunkt her gesehen haben wir es hier zudem mit einem Objektiv zu tun, denn nach Meinongs neuer Lehre muss jede prädizierbare Entität eine propositionale Struktur involvieren. Wenn wir von unvollständigen Gegenständen sprechen, haben wir es also nicht mit Objekten, sondern mit Objektiven zu tun. Vor diesem Hintergrund muss übrigens auch Meinongs Behauptung, dass ein unvollständiger Gegenstand Gegenstand einer Vorstellung ist, mit einem Vorbehalt betrachtet werden. Da es sich hier streng genommen nicht um ein Objekt, sondern um ein Objektiv handelt, kann es sich nur um eine Vorstellung handeln, die bereits in eine propositionale Beziehung involviert ist, bzw. um eine solche, die bereits eine propositionale Beziehung implizit involviert. 1907 war Meinong, wie es scheint, noch nicht endgültig für die konsequent propositionale Intentionalitätstheorie entschieden. Aus der Perspektive der zweiten Auflage von Über Annahmen müssen aber die unvollständigen Gegenstände auf jeden Fall als Objektive interpretiert werden. Die unvollständigen Gegenstände übernehmen also die Rolle der Universalien; man kann allerdings die Frage stellen, ob sie tatsächlich eine ontologisch ernst zu nehmende Allgemeinheit, d.h. eine Wiederholbarkeit in vielen konkreten Individuen involvieren. Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Die Metapher, die von vielen Anhängern der allgemeinen Eigenschaften immer wieder benutzt wird, ist die Metapher der gemeinsamen allgemeinen Teile, die in mehreren, mereologisch disjunkten Individuen anwesend sind. In seinen späteren Schriften benutzt Meinong in Bezug
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auf die unvollständigen Gegenstände eine ähnliche Redeweise. Er spricht vom Verhältnis des Implektiertseins, das zwischen einem unvollständigen Ton C , der ausschließlich die Tonhöhe enthält, und jedem konkreten (d.h. vollständigen) Ton C bestehen soll (Meinong 1915, S. 211), was sehr an das Verhältnis des Exemplifiziertseins erinnert, das metaphysische Realisten zwischen einer allgemeinen Eigenschaft F und allen Individuen, die F sind, annehmen. Den vollständigen Gegenstand, in dem ein unvollständiger Gegenstand A implektiert ist, nennt Meinong den Implektenten von A. Man könnte allerdings versuchen, den Fall des Tons C mit dem Instrumentarium der individuellen Eigenschaften (Tropen) in den Griff zu bekommen. Die Tonhöhe C ist eine ganz bestimmte Tonhöhe, und es steht prinzipiell nichts im Wege anzunehmen, dass jeder bestimmte Ton C seine individuelle Tonhöhe C besitzt. Die Rede von „derselben“ Höhe von zwei numerisch verschiedenen Tönen wäre bei dieser Interpretation als eine ungenaue Redeweise zu betrachten. In einer philosophisch präzisen Sprache müsste man vielmehr sagen, dass diese zwei Töne zwei numerisch verschiedene Höhe-Tropen besitzen, die durch die Relation der strengen Ähnlichkeit vereinigt sind. Es scheint nun, dass man dasselbe auch von einem unvollständigen Ton C behaupten kann. Auch er könnte ja seinen individuellen Höhe-Tropus besitzen. Das Verhältnis des Implektiertseins würde dann bedeuten, dass ein vollständiger Ton einen Höhe-Tropus besitzt, der zum Höhe-Tropus des unvollständigen Tons in der Relation der strengen Ähnlichkeit steht. Wir hätten also keine gemeinsamen, sondern lediglich die streng ähnlichen Teile. Es scheint also, dass man hier auch ohne Einführung der genuin allgemeinen Eigenschaften auskommen kann. Das Problem der abstrakten Aspekte, wie eine bestimmte Tonhöhe oder eine bestimmte Farbe, bildet aber nur einen Teil des Universalienproblems und zudem den Teil, der verhältnismäßig einfach zu lösen ist. Ein anderer und schwierigerer Teil des Problems betrifft die Situationen, in denen wir nicht von einer bestimmten Farbe oder einer bestimmten Tonhöhe, sondern einfach von „einer Farbe“ bzw. „einer Tonhöhe“ sprechen. Wir haben hier mit den Begriffen zu tun, die sich gewissermaßen auf Teile der bestimmten Aspekte zu beziehen scheinen. Eine Farbe scheint etwas zu sein, das irgendwie in allen bestimmten Farben enthalten ist, eine Tonhöhe etwas, das allen bestimmten Tonhöhen innewohnt.
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kapitel 5
Es war eben dieser Teil des Problems, den Brentano durch die Einführung der logischen Teile lösen wollte und dem Meinong verschiedene oben besprochene Strategien gewidmet hat, die mit der unreduzierbaren Ähnlichkeitsrelation und dem unvollständig bestimmenden psychischen Inhalt operiert haben. Jetzt sollten die unvollständigen Gegenstände auch dieses Problem lösen. Meinong sagt, dass es auch solche unvollständigen Gegenstände wie „ein Aeroplan“, „ein Papagei“ oder „ein lenkbarer Luftballon“ gibt. (Meinong 1915, S. 190, 192, 210) Es steht also außer Zweifel, dass er zu den unvollständigen Gegenständen auch solche zählen wollte, deren Unvollständigkeit der Unvollständigkeit der Brentano’schen logischen Teile entspricht. Im zweiten Kapitel haben wir gesehen, dass man solche logischen Teile kaum als individuelle Aspekte der konkreten Individuen betrachten kann. Diese Art der Unvollständigkeit lässt sich also mit den Werkzeugen der Tropentheorie wahrscheinlich nicht meistern, es sei denn, man definiert solche Eigenschaften als Ähnlichkeitsklassen von Tropen, die durch eine „ungenaue“ Ähnlichkeitsrelation vereinigt sind. In diesem Fall wären die unvollständigen Gegenstände, deren Unvollständigkeit den Charakter der Brentano’schen logischen Teile hat, eigentlich durch die Klassen von unvollständigen Gegenständen ersetzt, die eine unvollständige Kollektion der Brentano’schen metaphysischen Teile (d.h. Tropen) enthalten. Dies wäre ein im Rahmen der Meinong’schen Gegenstandstheorie durchaus gangbarer Weg; es gibt aber keine Belege dafür, dass Meinong diese Lösung jemals in Betracht gezogen hat. Zumindest im Fall einer solchen „logischen“ Unvollständigkeit scheint es also, dass der Meinong’sche Begriff des unvollständigen Gegenstands unvermeidlich in die Nähe des Begriffs einer genuin allgemeinen Entität rückt. Leider ist aber Meinong in diesem Punkt nicht explizit genug, um diese Fragen zu beantworten. Er sagt uns z.B., dass „der unvollständige Gegenstand [ ] in seinem Implektenten nicht eigentlich existiert resp. besteht [ ]“ (Meinong 1915, S. 211), was wieder eher den Gedanken an die Relation der strengen Ähnlichkeit zwischen den individuell verschiedenen Teilen nahe legt und die metaphysischrealistische Interpretation der unvollständigen Gegenstände in Frage stellt.
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Das Fazit muss also lauten, dass der ontologische Status der unvollständigen Gegenstände von Meinong keineswegs geklärt wurde. Vielleicht muss man letztlich sowohl die Kategorie der unvollständigen Gegenstände als auch die Relation des Implektiertseins als ontologische Kategorien sui generis betrachten, die zwar gewisse Ähnlichkeiten mit den Werkzeugen des metaphysischen Realismus einerseits und der Tropentheorie andererseits aufweisen, die sich aber mit keinem dieser Instrumentarien völlig gleichsetzen lassen. Ein weiterer wichtiger Unterschied im Vergleich zu typischen realistischen Positionen sei noch betont. Ein metaphysischer Realist will nämlich normalerweise den allgemeinen Entitäten eine Art der Existenz (bzw. des Bestands) zuschreiben.9 Nach Meinong können hingegen unvollständige Gegenstände – und zwar gerade wegen ihrer Unvollständigkeit – weder existieren noch bestehen. 4. Unvollständige Gegenstände und die intentionale Beziehung (1915) Meinong benutzt die unvollständigen Gegenstände zum Zwecke der Erklärung des gegenstandstheoretischen Aufbaus der intentionalen Beziehung. Ab 1910 gilt es, dass eine solche Beziehung eine Auswahl aus dem Bereich des Außerseins aufgrund der vorgegebenen Bestimmungen darstellt. Im Buch Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit (1915) schreibt Meinong, dass in einer solchen intentionalen Beziehung außer dem eigentlichen (meistens vollständigen) Zielgegenstand auch unvollständige Hilfsgegenstände involviert sind. (Meinong 1915, S. 196) Nach Meinong lässt sich jeder Gegenstand als ein Kollektiv von Soseinsbestimmungen (d.h. Objektiven der Form „∃xFx“, mit dem ontologisch unverpflichtenden Außersein-Quantor) darstellen, wobei die Anzahl dieser Bestimmungen zwischen einer und unendlich vielen variiert. Was die konkret-individuellen Dinge betrifft, denen man in der realen Welt begegnen kann, so ist es nach Meinong klar, dass die Anzahl ihrer Bestimmungen unendlich ist. (Meinong 1915, S. 168) Für jeden 9
Ein Aristoteliker nimmt an, dass nur die exemplifizierten Universalien existieren, während ein Platoniker auch allen nicht-exemplifizierten Universalien Existenz (bzw. Bestand) zuschreibt.
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solchen Gegenstand x gilt nämlich, dass es keinen Gegenstand y gibt, von dem man nicht sagen könnte, dass er dem x entweder zukommt oder dass er x nicht zukommt. Das ist nach Meinong der wahre gegenstandstheoretische Sinn des Prinzips tertium non datur, das für reale Dinge ausnahmslos gilt. (Meinong 1915, S. 168). Dieses Prinzip gilt aber nicht für unvollständige Gegenstände. Betrachten wir einmal den Gegenstand etwas Blaues. Wir finden in ihm, so Meinong, weder das Moment der Ausgedehntheit noch das Moment der Nicht-Ausgedehntheit. Etwas Blaues als solches ist nämlich bezüglich des Moments der Ausdehnung schlicht und einfach unbestimmt. Das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten gilt hier also nicht. (Meinong 1915, S. 171). Was in diesem Kontext für die Intentionalitätstheorie von besonderer Bedeutung ist, ist die Tatsache, dass die menschlichen Subjekte über eine endliche mentale Verarbeitungskapazität verfügen. Wäre es also der Fall, dass eine intentionale Beziehung auf ein reales Ding nur dann möglich wäre, wenn man alle seine Eigenschaften berücksichtigte, würde dies bedeuten, dass wir uns auf reale Dinge nie beziehen könnten. Wir beziehen uns aber auf sie offensichtlich sehr oft, was impliziert, dass eine solche Beziehung irgendwie anders zustande kommen muss. Nach Meinong benutzen wir in einer solchen Beziehung nicht alle, sondern nur einige Eigenschaften des Referenzobjekts. Wenn wir also den „nächsten“ Gegenstand unserer intentionalen Beziehung aussuchen wollen, dann ist das ein unvollständiger Gegenstand, der nur diejenigen Bestimmungen enthält, die im Inhalt des zugehörigen psychischen Aktes explizit spezifiziert werden. Bereits in der zweiten Auflage von Über Annahmen unterscheidet Meinong zwischen einem solchen „nächsten“ Gegenstand und den mehreren „entfernteren“ Gegenständen, auf die sich der psychische Akt bezieht: „Von den mancherlei Gegenständen, die so demselben Inhalt gegenüberstehen, nimmt der durch Seinsmeinen zu erfassende, der für einen gegebenen Inhalt bei voller Genauigkeit immer nur einer sein kann, gegenüber den sonstigen eine deutliche Ausnahmestellung ein, der man dadurch Rechnung tragen kann, dass man diesen durch Seinsmeinen zu erfassenden Gegenstand den nächsten, die durch Soseinsmeinen zu erfassenden Gegenstände die entfernteren Gegenstände des betreffenden Inhaltes [ ] nennt.“ (Meinong 1910a, S. 277)
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Meinong sagt hier zwar nicht explizit, dass der nächste Gegenstand, der als einziger dem psychischen Inhalt genau entspricht, unvollständig ist; es ist aber klar, dass es sich um einen solchen Gegenstand handeln muss. Dass einem psychischen Inhalt mehrere Gegenstände entsprechen, resultiert nämlich daraus, dass es mehrere Gegenstände gibt, die die im Inhalt spezifizierten Eigenschaften haben. Der Umstand, dass es mehrere solcher Gegenstände gibt, ist eben darauf zurückzuführen, dass es noch andere Eigenschaften gibt, durch die sie sich voneinander unterscheiden. Der nächste Gegenstand ist hingegen deswegen numerisch einer, weil er alle und nur diejenigen Eigenschaften besitzt, die im psychischen Inhalt des Aktes spezifiziert sind. Jeder andere Gegenstand, der in allen seinen Eigenschaften dem Inhalt entsprechen könnte, müsste sich von ihm durch eine „zusätzliche“ Eigenschaft unterscheiden. Dies würde aber bedeuten, dass er nicht als der nächste Gegenstand gelten kann. Aufgrund dieser Textstelle kann zusätzlich noch ein für die ganze Gegenstandstheorie Meinongs äußerst wichtiger Punkt festgehalten werden. Eine wichtige Prämisse der These, dass der nächste Gegenstand „für einen gegebenen Inhalt bei voller Genauigkeit immer nur einer sein kann“, ist nämlich, dass es im Bereich der Gegenstände keine rein numerischen Unterschiede gibt. Wenn zwischen zwei Gegenständen a und b keine Identität besteht, dann muss es zwischen ihnen einen „qualitativen“ Unterschied geben. Es muss eine Eigenschaft F geben, durch die sie sich unterscheiden, in dem Sinne, dass F nur einem der beiden Gegenstände zukommt. Meinong akzeptiert also das an sich keineswegs unkontroverse Prinzip, dass zwei Gegenstände genau dann identisch sind, wenn sie in allen ihren Eigenschaften übereinstimmen, das man oft „Leibniz’ Prinzip“ nennt:10 LP
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∀x∀yx = y ≡ ∀ x ≡ y
Vgl. „Jede Monade muss sogar von jeder anderen verschieden sein. Denn es gibt niemals in der Natur zwei Seiende, die einander vollkommen gleich wären und bei denen es nicht möglich wäre, einen inneren oder auf einer inneren Bestimmung (denominatio intrinseca) beruhenden Unterschied zu finden.“, Leibniz 1714, S. 443.
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Kehren wir aber zu Meinongs Analyse der intentionalen Beziehung zurück. Wir haben gesehen, dass es oft vorkommt, dass einem psychischen Inhalt (und a fortiori seinem „nächsten“ Gegenstand) viele vollständige Gegenstände entsprechen. Es kann aber ebenfalls geschehen, dass derselbe vollständige Gegenstand durch verschiedene psychische Inhalte gemeint wird. Denken wir nur an den Morgenstern und den Abendstern oder an den Sieger von Jena und den Besiegten von Waterloo. Auch in solchen Fällen kommen die nächsten Gegenstände ins Spiel, wobei diesmal ihre Unvollständigkeit viel klarer zutage tritt. „[S]o kann nun andererseits derselbe Gegenstand, eine Schultafel etwa, sowohl mit dem Inhalte der Vorstellung ,Schwarz‘ als mit dem der Vorstellung ,Viereckig‘ ergriffen werden, da die Tafel sowohl ein Schwarzes als auch ein Viereckiges ist. Das hindert natürlich gar nicht, dass immer noch Schwarz und Viereckig zwei verschiedene Gegenstände sind; ja auch ,ein Schwarzes‘ und ,ein Viereckiges‘, beide ,geschlossen‘ genommen, sind verschieden.“ (Meinong 1910a, S. 277)
Meinong unterscheidet hier drei Gegenstandsebenen. Zum Ersten haben wir (i) die Ebene der vollständigen Gegenstände. Solche Gegenstände sind konkrete Individuen, die, wie wir wissen, aus mehreren abstrakten, in einer realen Relation stehenden Aspekten bestehen. Da dieses „in einer Relation Stehen“ nach Meinong streng genommen unvorstellbar ist, müssen solche Gegenstände in ihrer tiefen Schicht auf jeden Fall die Struktur eines Objektivs haben. Zweitens haben wir (ii) die Gegenstände wie Schwarz und Viereckig. Es handelt sich dabei eben um die einfachen isolierten Aspekte, die, um zum Aufbau eines konkreten Individuums beitragen zu können, noch eine vereinigende reale Relation brauchen. Wie wir uns erinnern, sind dies die einzigen Gegenstände, die nach dem späten Meinong vorstellbar sind. Außer diesen beiden Kategorien finden wir aber auch (iii) Gegenstände, auf die sich Meinong mit dem Ausdruck „,ein Schwarzes‘ und ,ein Viereckiges‘, beide ,geschlossen‘ genommen“ bezieht. Die ontologische Form dieser Gegenstände muss der Form eines konkreten Individuums ähnlich sein, denn auch die konkreten Individuen können als „ein Schwarzes“ oder „ein Viereckiges“ bezeichnet werden. In diesem Fall werden aber diese Ausdrücke offensichtlich „offen“ gemeint, denn ein konkretes Individuum hat außer den genannten Eigenschaften noch unzählige andere.
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Was Meinong mit „,ein Schwarzes‘ und ,ein Viereckiges‘, beide ,geschlossen‘ genommen“ meint, müssen also die unvollständigen Gegenstände sein, die zwar die ontologische Struktur eines individuellen Konkretums haben, die jedoch jeweils nur bezüglich einer einzigen Eigenschaft bestimmt sind. Meinong stellt sie den „offen gemeinten“ Gegenständen gegenüber: „Gleichwohl ist das Soseinsobjektiv ,ein Schwarzes ist Viereckig‘ (wobei ,ein Schwarzes‘ natürlich ,offen‘ gemeint sein muss) tatsächlich [d.h. bestehend]: mit den beiden Inhalten wird also unter günstigen Umständen doch auch ein und derselbe Gegenstand gemeint.“ (Meinong 1910a, S. 277)
In einer intentionalen Beziehung können wir also diese drei Gegenstandsebenen unterscheiden. Erstens haben wir vollständige Zielgegenstände (etwa eine bestimmte Schultafel oder Napoleon), die normalerweise in der Zielposition des Aktes stehen. Zweitens gibt es einfache, gegenstandstheoretisch isolierte Eigenschaften und Relationen, die als Gegenstände der in die intentionale Beziehung involvierten Vorstellungen fungieren. Zum Dritten spielen aber in jeder intentionalen Beziehung unvollständige Gegenstände mit. Sie bestimmen die Art und Weise, in der wir uns auf unsere Zielgegenstände beziehen. Sie definieren Begriffe, durch die wir sie erfassen. Solche unvollständigen Gegenstände werden aber (ähnlich wie die absolut einfachen vorstellbaren Objekte) in einer intentionalen Beziehung nicht thematisiert. Sie bleiben sozusagen im Hintergrund und vermitteln die intentionale Beziehung auf einen vollständigen Gegenstand ohne unsere Aufmerksamkeit zu beschäftigen. In diesem Sinne kann man sagen, dass wir uns auf einen vollständigen Gegenstand gewissermaßen durch solche unvollständigen Hilfsgegenstände beziehen. Wenn wir also das Soseinsmeinen der Form ∃xFx ∧ Gx haben, dann wird der eigentliche Zielgegenstand etwas, das (unter anderem) F und G ist
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durch zwei Hilfsgegenstände etwas, das (ausschließlich) F ist und etwas, das (ausschließlich) G ist präsentiert. Die explizite Thematisierung der unvollständigen Gegenstände macht hier einen sehr wichtigen Punkt klar. Bisher haben wir nämlich stillschweigend vorausgesetzt, dass sich in der Form ∃xFx ∧ Gx die Variable x auf einen vollständigen Gegenstand bezieht. Jetzt sehen wir aber, dass diese Voraussetzung nur dann als eine Selbstverständlichkeit betrachtet werden kann, wenn wir in unserem Universum keine anderen als vollständige Gegenstände haben (wobei man die ungewöhnlichen Objekte, auf die man sich durch die Bezeichnungen der Art „[F]“ oder „[G]“ bezieht, ruhig außer Acht lassen darf, da sie schon aufgrund ihrer Form kein Zukommen und kein Verbinden mit einer anderen Eigenschaft zulassen). Die Voraussetzung der Vollständigkeit aller Objekte scheint bei Meinong bis 1907 zu gelten; und sogar in der zweiten Auflage von Über Annahmen (1910a) finden wir keine Spuren der nötigen Verbesserungen. Im Buch Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit (1915), wo die unvollständigen Gegenstände im Rahmen der Intentionalitätstheorie explizit auftreten, wird aber deutlich gesagt, dass ein Soseinsmeinen, das sich tendenziell auf ein vollständiges Objekt bezieht, die Annahme dieser Vollständigkeit zumindest implizit involvieren muss. (Meinong 1915, S. 189) Ein solches Soseinsmeinen muss also etwa die folgende Form haben: ∃xFx ∧ Gx ∧ x ist vollständig Die Struktur der intentionalen Beziehung kompliziert sich also weiter. Ein Soseinsmeinen, das drei Eigenschaften F, G, H und eine „Vollständigkeitsannahme“ kombiniert, kann durch das folgende Schema illustriert werden:
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Das in unserem Schema abgebildete Soseinsmeinen hat die Form „∃xFx ∧ Gx ∧ Hx ∧ x ist vollständig“. Der Gegenstand, auf den sich dieser Akt bezieht, ist dementsprechend ein vollständiger Gegenstand, der unter anderem die Eigenschaften F, G und H hat. Im Meinong’schen Universum der außerseienden Gegenstände wird es natürlich viele solche Gegenstände geben; diese Komplizierung lassen wir allerdings beiseite. Ein weiterer Punkt ist, dass ein solcher Gegenstand bei Meinong die Form eines Objektivs haben muss. Denn die Vereinigung von mehreren Eigenschaften ist etwas, das die nominale Form zwangsläufig sprengt. In der Zielposition des Aktes steht also ein vollständiges Objektiv, das nach Meinongs Lehre unendlich viele Eigenschaften involviert. Ein solches Objektiv kann aber von einem endlichen Subjekt nicht explizit erfasst werden. Das ist der Grund, warum der intentionale Zugang
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zu diesem Zielgegenstand durch ein unvollständiges Objektiv vermittelt werden muss, das in dem vollständigen Zielobjektiv implektiert ist. Der Grund, warum die Intentionalität nicht bei diesem unvollständigen Gegenstand endet, sondern gewissermaßen „durch ihn“ auf das vollständige Objektiv zielt, besteht darin, dass das Soseinsmeinen eine (meistens implizite) Vollständigkeitsannahme involviert. Das Ergebnis ist, dass die Vollständigkeit an dem vermittelnden Objektiv als eine merkwürdige Quasi-Eigenschaft auftritt. Dieses neue Bild der intentionalen Beziehung hat übrigens wichtige Konsequenzen für den Meinong’schen Wahrheitsbegriff. Wie wir uns erinnern, definierte Meinong zunächst ein wahres Urteil als ein solches, dessen Objektiv besteht; später behauptet er aber, dass nur vollständige Objektive bestehen können; und solche Objektive können ja, wie wir wissen, nie Gegenstände der Urteile eines endlichen Subjekts sein. Wenn wir also behaupten können, dass solche Urteile wahr sein können, müssen wir die Wahrheitsdefinition entsprechend umformulieren, so dass man die Wahrheit auf einem Umweg über das Verhältnis des Implektiertseins erreicht. Die neue Wahrheitsdefinition lautet: Ein Urteil ist genau dann wahr, wenn sein Objektiv in einem bestehenden Objektiv implektiert ist und somit „in ihm“, wie Meinong sagt, ein „implektives Sein“ genießt.
5. Die modalen Eigenschaften Mit dem Einbeziehen des Prädikats „ist vollständig“ in den Skopus des Quantors eines Soseinsmeinens hängen allerdings ernsthafte Probleme zusammen. Es handelt sich darum, dass die Prädikate der Art „ist vollständig“ offensichtlich einer anderen Ebene zugehören, als Prädikate, mit Hilfe derer die „normalen“ Eigenschaften der betreffenden Gegenstände spezifiziert werden. Wenn wir sagen, dass ein Gegenstand rot, dreieckig oder hart ist, dann beschreiben wir seine Natur. Wir spezifizieren dadurch sozusagen seinen Inhalt. Wenn wir hingegen sagen, dass er vollständig oder unvollständig ist, dann bestimmen wir die gegenständliche Kategorie, zu der der betreffende Gegenstand gehört. In diesem Sinne kann man sagen, dass solche Prädikate nicht den „Inhalt“, sondern die „Form“ eines Gegenstands betreffen.
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Die Notwendigkeit der Unterscheidung von verschiedenen Beschreibungsebenen der Gegenstände wurde Meinong klar dank der berühmten Kritik Russells. Russell argumentierte folgendermaßen: Wenn, wie Meinong es will, jeder beliebigen Beschreibung ein Gegenstand „jenseits von Sein und Nichtsein“ entspräche, dann müsste der Beschreibung „ein existierender goldener Berg“ doch ein goldener Berg, der existiert, entsprechen. Es müsste also einen goldenen Berg geben, der existiert. Einen solchen gibt es aber klarerweise nicht, was eine Reduktion ad absurdum der ganzen Meinong’schen Gegenstandstheorie zu bedeuten scheint. (Russell 1905b, S. 533; vgl. dazu auch Parsons 1980, S. 42) In der Abhandlung Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften (1907) versucht Meinong, diese Kritik zu entkräften, indem er zwischen zwei Arten der Existenzbestimmung unterscheidet. Meinong gibt zu, dass man mit Hilfe von Partizipien wie „existierend“ tatsächlich in der Lage ist, „einem Objekt formell ganz ebenso Existenz nachzusagen wie man ihm sonst ein Soseinsprädikat nachsagt.“ (Meinong 1907, S. 223) Er bestreitet aber, dass ein solches Partizip dieselbe semantische Kraft hat wie das Prädikat „existiert“. „,[E]xistierend sein‘ in jenem Sinne der Existentialbestimmung und ,existieren‘ im gewöhnlichen Sinne von ,Dasein‘ ist eben durchaus nicht dasselbe.“ (Meinong 1907, S. 223) Russell. war allerdings mit dieser Unterscheidung nicht zufrieden. Er kritisierte sie als prinzipiell unverständlich. (Vgl. Russell 1907) Und in der Tat, sie erscheint auf den ersten Blick wie eine Abwehrmaßnahme völlig ad hoc, die geradezu an einen reinen Verbalismus grenzt. Im Laufe der Zeit ist es Meinong allerdings gelungen, diese Unterscheidung viel überzeugender zu machen, indem er sie in eine Theorie der ganzen Familie von, wie er sie nannte, modalen Bestimmungen einbaute. Schon zwischen 1902 und 1907 macht Meinong auf eine wichtige Gruppe von Bestimmungen aufmerksam, die Objektiven zukommen. Es handelt sich um die Bestimmungen wie wahr, falsch, tatsächlich, notwendig, zufällig und wahrscheinlich. (Meinong 1902, S. 174; Meinong 1907, S. 231) Diese Bestimmungen von Objektiven nennt er später modale Bestimmungen. In der zweiten Auflage von Über Annahmen rechnet er darunter zunächst außer wahr, falsch, tatsächlich, notwendig, zufällig und wahrscheinlich (Meinong 1910a, S. 81, 83) auch gewiß und evident (Meinong 1910a, S. 82). Nach einiger Überlegung kommt er jedoch zu dem Schluss,
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dass man eigentlich nur drei modale Bestimmungen der Objektive braucht, nämlich: Tatsächlichkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit. (Meinong 1910a, S. 96)
Diese drei modalen Bestimmungen betrachtet Meinong als primitive, undefinierbare Eigenschaften der Objektive. (Meinong 1910, S. 84)11 Man kann aber natürlich eine Art Erklärung in der Umgangssprache geben, damit der intuitive Sinn dieser Bezeichnungen verstanden wird. Beginnen wir mit den zwei ersten modalen Bestimmungen. Ein Objektiv ist tatsächlich genau dann, wenn es sozusagen einen Teil unserer Welt bildet. Tatsächlichkeit ist also dasselbe wie das, was Meinong manchmal auch Bestand nennt. Ein Objektiv ist notwendig genau dann, wenn es besteht und wenn sein Nichtbestehen unmöglich ist. Was die Aufteilung der Objektive in die tatsächlichen und nichttatsächlichen betrifft, so muss man sie zweifelsohne als primitiv betrachten. Was aber den Begriff der Notwendigkeit betrifft, so scheint es auf den ersten Blick, dass man versuchen könnte, sie durch einen Rekurs auf den Begriff des logischen Beweises oder der logische Folge zu definieren. Notwendig wäre demnach das, was aufgrund einer bestimmten Menge von Axiomen und Folgerungsregeln bewiesen werden kann, bzw. das, was (aufgrund derselben Voraussetzungen) die Konsequenz einer leeren Menge von Prämissen ist. Das Problem einer solchen Definition besteht aber darin, dass im Rahmen der Gegenstandstheorie Meinongs auch die Frage nach dem gegenstandstheoretischen Status der Axiome und der objektsprachlichen Entsprechungen der metasprachlichen Folgerungsregeln gestellt werden muss. Ihre Bedeutungen sind natürlich bestimmte Objektive, und so würden wir die Konsequenz bekommen, dass ein bestimmtes Objektiv aus anderen Objektiven abgeleitet werden kann und in diesem Sinne relativ auf sie notwendig ist. Auch in Bezug auf die Prämissen einer solchen Ableitung kann man aber nach ihrem modalen Status fragen, und es war Meinongs These, dass wenn 11
Meinong drückt sich tatsächlich so aus. Was aber die Möglichkeit eines Objektivs betrifft (die bei Meinong soviel wie die objektive Wahrscheinlichkeit bedeutet), so werden wir sehen, dass sie von Meinong doch gewissermaßen definiert wird. Bei gewissen zusätzlichen Voraussetzungen, die Meinong allerdings nicht macht, wäre auch die Notwendigkeit definierbar.
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das abgeleitete Objektiv als „schlechthin notwendig“ klassifiziert werden sollte, auch alle Prämissen notwendig sein müssen. Es ist deshalb klar, dass man (wenn man den unendlichen Regress bzw. eine Zirkularität vermeiden will) an irgendeiner Stufe eine „absolute“ (d.h. nicht auf die anderen Objektive relative) Notwendigkeit erreichen muss.12 Der Begriff der Notwendigkeit lässt sich noch von einer anderen Seite her beleuchten, und zwar durch den Hinweis auf eine ausgezeichnete Weise, in der die notwendigen Objektive von einem Subjekt erfasst werden können. Was für diese Objektive charakteristisch ist, ist nämlich die Möglichkeit, dass ihre Tatsächlichkeit schon aufgrund der Betrachtung des Objektivmaterials „eingesehen“ oder, wie Meinong es sagt, „verstanden“ wird. (Meinong 1915, S. 142) Dass solchen Objektiven Bestand zukommt, können wir a priori, ohne Rekurs auf die empirische Erfahrung wissen. In diesem Sinne ist die Tatsächlichkeit den notwendigen Objektiven inhäsiv. (Meinong 1915, S. 143) Wenn man die These, dass die Tatsächlichkeit eines notwendigen Objektivs aus seinem inneren Aufbau irgendwie folgen soll, ernst nimmt, kann man versuchen, die Notwendigkeit eines Objektivs in den Termini der Relationen zwischen den involvierten Eigenschaften zu definieren, etwa nach dem Muster: (1) Notwendig: ∀xFx ⊃ Gx = Df G enthält F; und (2) Notwendig: ¬∃xFx ∧Gx = Df G und F schließen sich gegenseitig aus. Ein Beispiel zu (1) wäre „Notwendigerweise, jeder Mensch ist ein Lebewesen“, ein Beispiel für (2) „Notwendigerweise, es gibt nichts was (zugleich an derselben Stelle) rot und grün wäre“. Viele Philosophen haben in der Tat versucht, notwendige Wahrheiten in dieser Weise auf die Relationenzwischen den Eigenschaften zurück-
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Vgl. „[H]at also bei jeder apriorischen Ableitung die Notwendigkeit einen gewissen Anteil, so wird schlechthin notwendig ein abgeleitetes Objektiv doch nur dann heißen, wenn auch das Objektiv (oder die Objektive), woraus es abgeleitet ist, Notwendigkeit aufweisen. Soll also nicht eine unendliche Reihe resultieren, so kann die Notwendigkeit eines Objektivs nicht nur relativ zu einem anderen Objektiv bestimmt werden: sie ist vielmehr eine absolute Eigenschaft, wie die Tatsächlichkeit resp. Möglichkeit am eingesehenen Objektiv.“, Meinong 1915, S. 236.
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zuführen;13 bei Meinong finden wir das aber nicht Es scheint, dass er die Notwendigkeit wirklich als eine primitive, undefinierbare Eigenschaft eines Objektivs betrachten wollte, die zwar aufgrund des inneren Aufbaus des Objektivs eingesehen werden kann, die sich aber in den Termini der Relationen zwischen seinen Bestandteilen nicht definieren lässt. Was die Formulierungen (1) und (2) betrifft, so dürfen wir nicht vergessen, dass sich die Bezeichnungen „[G]“ und „[F]“ auf einfache Elemente beziehen. Es ist nicht klar, ob es überhaupt einen Sinn macht, zu sagen, dass sie zueinander in derartigen Relationen stehen. Ihren eigentlichen gegenständlichen Sinn erhalten sie gewissermaßen erst dann, wenn sie als Bestandteile eines Objektivs fungieren. Es scheint also, dass Meinong eher das umgekehrte Erklärungsmuster verwenden würde, etwa: (1∗ ) Dass [G] [F] enthält, heißt nichts anderes als dass das Objektiv ∀xFx ⊃ Gx notwendig ist. (2∗ ) Dass sich [G] und [F] gegenseitig ausschließen, heißt nichts anderes als dass das Objektiv ¬∃xFx ∧ Gx notwendig ist. Die Richtung der Erklärung wurde hier umgekehrt. Das primitive locus der Notwendigkeit sind bestimmte Objektive. Von den Relationen zwischen den Eigenschaften sprechen wir nur in einem abgeleiteten Sinne. Was schließlich die modale Bestimmung Möglichkeit betrifft, so handelt es sich bei ihr nicht, wie man denken könnte, um die logische Möglichkeit, die wir aus der Modallogik kennen und die natürlich in einer einfachen Weise als die Nicht-Notwendigkeit des Gegenteils zu definieren wäre. Die Möglichkeit, von der Meinong spricht, ist vielmehr als das objektive Gegenstück der Wahrscheinlichkeit gedacht. Die Objektive, die nach Meinong möglich sind, nehmen eine merkwürdige 13
Chisholm.. spricht beispielsweise von den vier „basic relations between properties“. Er definiert: “D.1 P implies Q = Df . P is necessarily such that if it is exemplified, then Q is exemplified. [ ] D.2 P includes Q = Df . P is necessarily such that whatever exemplifies it, exemplifies Q. [ ] D.3 P involves Q = Df . P is necessarily such that whoever conceives it, conceives Q. [ ] D.4 P entails Q = Df . P is necessarily such that, for every x and every y, if y attributes P to x, then y attributes Q to y.“, Chisholm 1989, S. 143 f.
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Mittelposition zwischen Sein und Nichtsein ein. Es sind Objektive, die weder bestehen noch nicht-bestehen. Während also eine typische Ontologie der Sachverhalte ihr Universum in der folgenden Weise aufteilt:14
finden wir bei Meinong eine zusätzliche Dimension:
14
Sofern sie die nicht-kontingenten Sachverhalte überhaupt annimmt! Wittgenstein tut das in seinem Tractatus beispielsweise nicht.
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Im nächsten Abschnitt werden wir genauer über diese Klassifikation und darüber, welche Objektive man in den bestimmten Rubriken findet, sprechen. Alle sonstigen modalen Bestimmungen, die oben aufgezählt wurden, reduzieren sich auf diese drei, wenn man dabei zusätzlich einige Relationen zum Bewusstseinssubjekt berücksichtigt. Die Wahrheit bzw. Falschheit ist nach Meinong zwar primär eine Bestimmung der Objektive, sie kommt aber nicht den Objektiven als solchen, sondern nur den erfassten Objektiven zu. Wahr ist ein Objektiv, wenn es (i) von jemandem erfasst wird und zugleich (ii) tatsächlich ist. Falsch ist ein Objektiv, wenn es (i) von jemandem erfasst wird und zugleich (ii) nichttatsächlich ist. In einem übertragenen Sinne kann man deshalb auch von der Wahrheit und Falschheit der entsprechenden Urteile sprechen (je nachdem, ob in dem Urteil ein tatsächliches oder ein nicht-tatsächliches Objektiv erurteilt wird). Diese Bestimmungen reduzieren sich also (wenn man vom Erfasstwerden einmal absieht) auf die Tatsächlichkeit und ihre Negation. (Meinong 1910a, S. 94) Die zwei weiteren Bestimmungen Gewissheit und Evidenz sind streng genommen nicht die Eigenschaften der Objektive, sondern der Urteile. (Meinong 1910a, S. 96) Sie betreffen die epistemische Situation des betreffenden Subjekts und variieren zum großen Teil unabhängig von dem involvierten Objektiv.15 Dasselbe betrifft die Wahrscheinlichkeit. Sie ist ebenfalls die Eigenschaft eines Urteils. Wie die Wahrheit eines Urteils der Tatsächlichkeit des involvierten Objektivs entspricht, so entspricht die Wahrscheinlichkeit eines Urteils der Möglichkeit des involvierten Objektivs. (Meinong 1910a, S. 95) Es ist klar, dass die modalen Bestimmungen der Objektive in einem direkten Zusammenhang mit dem Problem des existierenden goldenen Berges stehen. Wie wir uns erinnern, besagt das Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein, dass die Frage, welche Eigenschaften ein gegebener Gegenstand hat, von der Frage nach seiner Existenz bzw. nach seinem Bestand völlig unabhängig ist. Ein weiteres Prinzip, das von Meinong oft das Prinzip der Annahmefreiheit genannt wird (Meinong 1910a, S. 346 f.),
15
Zur Erkenntnistheorie Meinongs, auf die wir hier nicht näher eingehen können, vgl. Meinong 1906 und Meinong 1886.
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besagt, dass man für jede Kollektion von Eigenschaften einen Gegenstand finden kann, der genau diese Eigenschaften hat. Diese Annahmefreiheit gilt aber, was das Beispiel des existierenden goldenen Berges gut illustriert, nicht für alle Bestimmungen. Machen wir eine Annahme, dass ein Berg aus reinem Gold besteht, haben wir dadurch im Meinong’schen Universum einen goldenen Berg intentional „getroffen“. Machen wir hingegen eine Annahme, dass ein derartiger Berg existiert, dann dürfen wir nicht sagen, dass wir einen existierenden goldenen Berg ebenso „getroffen“ haben, zumindest solange nicht, bis wir die zunächst dubios erscheinende Unterscheidung zwischen „ist existierend“ und „existiert“ machen. Die Unterscheidung erscheint deswegen dubios, weil sie, wie gesagt, völlig ad hoc zu sein scheint. Wenn wir sie jedoch mit der Theorie der modalen Bestimmungen der Objektive verbinden, verliert sie diesen Charakter. Die Existenz eines Gegenstands kann nämlich als ein merkwürdiges „Eigenschaftskorrelat“ der Tatsächlichkeit des betreffenden Objektivs aufgefasst werden; und wenn wir die sonstigen modalen Bestimmungen unter die Lupe nehmen, bemerken wir, dass sich ihre entsprechenden „Eigenschaftskorrelate“ gegenüber dem Prinzip der Annahmefreiheit ähnlich anomal verhalten. Betrachten wir zunächst die Notwendigkeit. Wenn wir die Annahme machen, dass ein Hund notwendig vierbeinig ist, haben wir keinen notwendig vierbeinigen Hund „getroffen“, und zwar deswegen nicht, weil die Vierbeinigkeit dieser Spezies eben nicht notwendig ist. Ähnlich steht es mit der Möglichkeit. Denken wir an ein Dreieck, das möglicherweise rund ist (d.h. an ein Dreieck, bei dem die objektive Wahrscheinlichkeit seines Rundseins größer als Null ist), so haben wir kein möglicherweise rundes Dreieck „getroffen“, denn Dreiecke können unmöglich rund sein. Es scheint also, dass die „Eigenschaftskorrelate“ von allen modalen Bestimmungen das Prinzip der Annahmefreiheit von Natur aus transzendieren. Deshalb muss man im Rahmen der Gegenstandstheorie zwischen zwei Arten von Eigenschaften bzw. zwischen den „genuinen“ Eigenschaften und den „Quasi-Eigenschaften“ unterscheiden. Bestimmungen wie rot, dreieckig oder hart können ohne Einschränkungen in den Soseinsbeschreibungen verwendet werden, denen garantiert ein
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Meinong’scher Gegenstand entspricht. Für Bestimmungen wie existierend, möglich und notwendig gilt das aber nicht. 1915 macht Meinong tatsächlich die entsprechende terminologische Unterscheidung. Die Bestimmungen, die ohne weiteres angenommen werden können und die dementsprechend immer einen bestimmten Gegenstand konstituieren, nennt er „konstitutorisch“; die Bestimmungen mit eingeschränkter Anwendung werden hingegen als „außerkonstitutorisch“ bezeichnet. (Meinong 1915, S. 176)16 Meinong hat diese Unterscheidung unter Einfluss Mallys gemacht. Bei Mally. hießen die entsprechenden Bestimmungen „formal“ und „außerformal“. (Vgl. dazu Mally 1912, S. 18, und Findlay 1933, S. 110–112 und 183 f.) Die Existenzbestimmung gehört natürlich zu den außerkonstitutorischen Bestimmungen, und der goldene Berg, der existiert, kann deshalb nicht in das Meinong’sche Universum eingeführt werden. Auch die Bestimmungen vollständig und unvollständig rechnet Meinong zu den außerkonstitutorischen Bestimmungen. Sie hängen, wie wir noch sehen werden, mit der modalen Bestimmung möglich eng zusammen. So weit, so gut. Wir haben allerdings gesehen, dass man oft die Bestimmung vollständig in einer Soseinsbeschreibung im Skopus des Quantors platzieren muss, und zwar deswegen, weil man sonst nicht imstande wäre, sich auf die realen (vollständigen) Gegenstände zu beziehen. Dasselbe betrifft Bestimmungen wie widerspruchsfrei oder existierend. Wenn man behauptet, dass kein Dreieck rund ist, dann meint man selbstverständlich ein widerspruchsfreies Dreieck; und wenn man behauptet, dass der gegenwärtige deutsche Bundeskanzler ein Mann ist, dann meint man den existierenden deutschen Bundeskanzler. Solche außerkonstitutorischen Bestimmungen, die sich im Skopus des Quantors befinden und hauptsächlich zur Einschränkung des Bereichs dienen, aus dem die Zielgegenstände ausgewählt werden, haben jedoch nicht die Kraft, nach dem Prinzip der Annahmefreiheit wirklich 16
Eine andere Möglichkeit, diese Probleme in den Griff zu bekommen, besteht darin, dass man anstatt zwei Arten von Eigenschaften zwei Arten der Exemplifizierung (zwei Arten von Kopula) einführt. Diese Lösung hat ebenfalls Mally vorgeschlagen, und die vollständigste Entwicklung dieser Denklinie findet man bei Zalta 1988. Diese Lösung entspricht aber nicht den Intentionen Meinongs und wird im Folgenden nicht näher untersucht. Vgl. dazu auch Reicher 2001.
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notwendige, widerspruchsfreie oder existierende Gegenstände ins Leben zu rufen. Wenn jemand behauptet, dass sich ein Quadrat konstruieren lässt, dessen Diagonale sich nicht halbieren lässt, und dabei, wie üblich, ein widerspruchsfreies Quadrat meint, hat er den entsprechenden Gegenstand, der wirklich widerspruchsfrei wäre, nicht getroffen. Und wenn jemand von dem (existierenden) gegenwärtigen deutschen Bundeskanzler behauptet, dass er der Liberalen Partei angehört, hat er ebenfalls keinen Gegenstand getroffen, der wirklich existieren würde. Deswegen fühlte sich Meinong gezwungen, zwei Formen zu unterscheiden, in denen die außerkonstitutorischen Bestimmungen auftreten können. Wenn eine solche Bestimmung in der oben beschriebenen Weise im Skopus des Quantors auftritt, haben wir es mit einer „depotenzierten“ außerkonstitutorischen Bestimmung zu tun. In einer solchen Bestimmung fehlt „das modale Moment“ (vgl. Meinong 1915, S. 291), und deswegen können wir solche depotenzierten Bestimmungen in den Aufbau der Gegenstände ohne Probleme einkomponieren. Nur deswegen können wir übrigens den existierenden deutschen Bundeskanzler, der der Liberalen Partei angehört, überhaupt meinen. Denn nach den Prinzipien der Meinong’schen Intentionalitätstheorie müssen wir doch in diesem Fall einen existierenden deutschen Bundeskanzler, der der Liberalen Partei angehört, in der Zielposition unseres Aktes haben. Eine solche depotenzierte Existenzbestimmung ist jedoch außerstande, einen Gegenstand, der existiert, zu „schaffen“. Um das zu erreichen, müsste man eine nicht-depotenzierte außerkonstitutorischen Bestimmung verwenden, in der das modale Moment nicht fehlt. Eine derartige Macht wollen wir aber gerade ausschließen, und deswegen muss die Annahmefreiheit bezüglich des modalen Moments eingeschränkt werden. (Meinong 1915, S. 283; vgl. dazu auch Jacquette 2001, Jacquette 1985/86, Reicher 2001) Dies sind also die Gründe, warum man im Rahmen der Meinong’schen Gegenstandstheorie neben einer normalen Existenz noch eine merkwürdige „depotenzierte“ Existenz als ob einführen muss, was dazu führt, dass man zwischen einem existierenden goldenen Berg (den wir im Meinong’schen Universum finden können) und einem goldenen Berg, der existiert (den es selbst bei Meinong nicht gibt), unterscheiden muss. Die Unterscheidung, die auf den ersten Blick als eine Antwort völlig ad hoc auf Russells Kritik erschien, scheint also bei genauerem Hinsehen doch einen guten Sinn zu haben.
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kapitel 5 6. Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit (1915)
In dem 1915 erschienenen Buch Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit zeigt Meinong, wie uns die außerseienden und insbesondere die unvollständigen Gegenstände bei der Lösung eines Problems helfen können, das sich für die Analyse, die im Rahmen der traditionellen „Seinsansicht“ operiert, als besonders hartnäckig erwies. Es handelt sich um das Problem der Wahrscheinlichkeit. Was genau wollen wir sagen, wenn wir behaupten, dass das-und-das wahrscheinlich ist? Es gibt, so Meinong, eine starke Intuition, die besagt, dass im Bereich des Wirklichen so etwas wie Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht auftreten kann. Wenn wir sagen, dass die Wahrscheinlichkeit dessen, dass ein Würfel bei einem Wurf eine Fünf zeigt, 1/6 beträgt, dann kann es sich bei dieser Aussage nicht um die Wirklichkeit handeln. In der Wirklichkeit kann nämlich nur eines der beiden stattfinden, entweder zeigt der Würfel eine Fünf, oder er zeigt sie nicht. Es gibt kein Drittes, das mit der Zahl 1/6 irgendetwas zu tun hätte. Es entsteht also eine starke Tendenz, die Wahrscheinlichkeit als etwas Subjektives aufzufassen. Nach einer solchen subjektivistischen Auffassung hat die Wahrscheinlichkeit eher etwas mit einer Vermutungsstärke (oder vielleicht mit einer berechtigten Vermutungsstärke) zu tun als mit Gegenständen, von denen man das-und-das vermutet. (Meinong 1915, S. 3 ff.) Diese Auffassung stößt aber, fährt Meinong fort, auf eine berechtigte Kritik. Wenn man die typischen Aussagen, in denen man über Wahrscheinlichkeit spricht, unter die Lupe nimmt, findet man normalerweise keine Hinweise auf die epistemische Situation eines Subjekts. Die Wahrscheinlichkeit dessen, dass der Würfel bei einem Wurf eine Fünf zeigt, die wir als 1/6 bestimmen, erscheint uns als etwas Objektives, was mit den psychischen Vorgängen der bewussten Subjekte nichts zu tun hat. Das ändert aber nichts daran, dass man bei einem vollbrachten Wurf für die Zahl 1/6 keine Entsprechung findet. Denn, wie gesagt, entweder zeigt der Würfel eine Fünf, oder er zeigt sie nicht. Es gibt kein Drittes. Einen Ausweg aus dieser Situation kann man nun suchen, indem man mehrere Würfe in Betracht zieht. Nach diesem Vorschlag besteht jede Wahrscheinlichkeitsprädikation darin, dass wir ein gegebenes Ereignis (nämlich das Ereignis, das wir als in dem und dem Grade wahrscheinlich bezeichnen) mit einer bestimmten Menge der (ähnlichen) Ereignisse
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vergleichen. Wenn wir also sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Würfel bei einem Wurf eine Fünf zeigt, 1/6 beträgt, dann wollen wir sagen, (i) dass der Würfel im Allgemeinen nicht bei jedem Wurf eine Fünf zeigt, und (ii) dass, wenn wir eine genügend große Anzahl der Würfe miteinander vergleichen würden, das numerische Verhältnis der Würfe, bei denen der Würfel eine Fünf gezeigt hat, zur Gesamtheit der Würfe eben 1/6 betragen würde. Dieser Vorschlag fasst also Wahrscheinlichkeit als ein objektives Verhältnis innerhalb eines bestimmten Kollektivs. Wenn wir behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein F G ist, m/n beträgt, dann wollen wir damit sagen, dass das Verhältnis der Gegenstände, die zugleich F und G sind, zur Gesamtheit der F-Gegenstände genau m/n beträgt. (Meinong 1915, S. 8) Diese Auffassung hat jedoch ebenfalls ihre Probleme. Sie betreffen vor allem die Frage, wie ein richtiges Referenzkollektiv bestimmt werden soll. Sollen wir z.B. in einem solchen Kollektiv nur vergangene oder auch zukünftige Fälle berücksichtigen? Und wie sieht es aus, wenn man von der Wahrscheinlichkeit eines einmaligen Ereignisses spricht, für das sich gar kein Referenzkollektiv aufzeigen lässt? (Meinong 1915, S. 9–12) Außerdem ist es doch eine bekannte Paradoxie des Wahrscheinlichkeitsbegriffs, dass eine bestimmte objektive Wahrscheinlichkeit keine Garantie einer „richtigen“ Verteilung im Rahmen eines beliebigen Kollektivs darstellt. Um bei unserem Würfel zu bleiben, selbst wenn die objektive Wahrscheinlichkeit dessen, dass der Würfel bei einem Wurf eine Fünf zeigt, tatsächlich 1/6 beträgt, ist es logisch nicht ausgeschlossen, dass es bis zum Ende der Welt nur solche Würfe geben wird, bei denen der Würfel eine Fünf zeigt. Meinongs These ist, dass diese Schwierigkeiten mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit in erster Linie aus der Einschränkung des Gegenstandsgebiets resultieren, in dem man die Lösung des Problems sucht. Solange man die gegenstandstheoretischen Grundlagen für die Wahrscheinlichkeitstheorie nur innerhalb der Welt der existierenden (bzw. bestehenden) Gegenstände sucht, lässt sich in der Tat kein richtiges Referenzkollektiv konstruieren, so dass man von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Um der wahren Natur des Problems Rechnung zu tragen, muss man sich von der „Seinsansicht“ endgültig verabschieden.
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Zunächst bemerkt Meinong aber, dass das Oszillieren zwischen einer subjektiven und einer objektiven Auffassung der Wahrscheinlichkeit, das wir beobachten konnten, kein zufälliges Faktum ist, sondern etwas, was in der Natur des Problems selbst begründet ist. Wahrscheinlichkeit prädiziert man nämlich von den Dass-Konstruktionen (Meinong 1915, S. 26), und diese können sich entweder auf Urteile oder auf Objektive beziehen. Entscheidet man sich für die erstere Möglichkeit, bekommt man eine subjektive Bedeutung der Wahrscheinlichkeit. Es handelt sich dabei um die Stärke einer Vermutung bzw. um die Stärke einer berechtigten Vermutung. Entscheidet man sich hingegen für die letztere Interpretation, bekommt man eine objektive Wahrscheinlichkeit, d.h. eine objektive (modale) Bestimmung eines Objektivs. Um Missverständnisse zu vermeiden, schlägt Meinong vor, diese objektive Wahrscheinlichkeit als Möglichkeit zu bezeichnen und das Wort „Wahrscheinlichkeit“ für die Wahrscheinlichkeit im subjektiven Sinne zu reservieren. (Meinong 1915, S. 35 f.) In unserem Buch lassen wir Meinongs Erkenntnistheorie beiseite. Von den zwei Begriffen der Wahrscheinlichkeit wird uns also nur der objektive Begriff (d.h. der Begriff der Möglichkeit) interessieren. Die Frage, worin eine solche objektive Möglichkeit besteht, können wir laut Meinong beantworten, wenn wir im Rahmen einer Gegenstandstheorie operieren, die (i) Gegenstände im Allgemeinen als außerseiend betrachtet und die (ii) die Kategorie der unvollständigen Gegenstände einführt. Jeder vollständige Gegenstand, so Meinong, ist nicht nur bezüglich jeder seiner Eigenschaften, sondern auch bezüglich seines Seins bestimmt. Jeder solche Gegenstand muss, falls er real ist, entweder existieren oder nicht existieren; und wenn es sich um einen idealen Gegenstand handelt, dann muss er entweder bestehen oder nicht bestehen. Tertium non datur. Für unvollständige Gegenstände gilt dies aber nicht. Es macht eben keinen Sinn zu fragen, ob ein Hund als solcher existiert oder nicht existiert. Manche Hunde existieren, manche aber nicht. Es gibt zwar eine Gruppe von unvollständigen Gegenständen, bei denen die Existenz (bzw. der Bestand) schon aufgrund ihrer inneren Widersprüchlichkeit ausgeschlossen ist, sie bilden aber in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Im Allgemeinen gilt, dass die unvollständigen Gegenstände auch seinsunbestimmt sind. (Meinong 1915, S. 180)
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Es scheint also, dass wir mit den unvollständigen Gegenständen genau das Werkzeug in die Hand bekommen, nach dem ein Anhänger der objektiven Möglichkeit sucht. Die unvollständigen Gegenstände scheinen nämlich gerade diejenige merkwürdige Mittelposition zwischen dem Sein und dem Nichtsein einzunehmen, die man braucht, damit die Rede von der Möglichkeit ihr objektives semantisches Korrelat findet.17 Im Licht des oben Gesagten dürfen wir allerdings nur sagen, dass ein unvollständiger Gegenstand wie ein Hund weder existiert noch nichtexistiert. Wir können zwar eine sprachliche Konvention treffen, diese Art des „Zwischenseins“ Möglichkeit zu nennen; was hätte aber eine solche Möglichkeit mit dem zu tun, was man gewöhnlich „Möglichkeit“ nennt und dem man gelegentlich numerische Werte zuschreibt, mit denen dann die Wahrscheinlichkeitstheorie rechnen kann? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die Struktur der unvollständigen Gegenstände und ihre Verhältnisse zueinander etwas genauer unter die Lupe nehmen. Es gibt, sagt Meinong, verschiedene Stufen der Unvollständigkeit. Der Gegenstand ein Hund ist weniger bestimmt als der Gegenstand ein schwarzer Hund, und dieser ist wieder weniger bestimmt als ein schwarzer Hund mit großen Ohren. Die unvollständigen Gegenstände bilden also eine Hierarchie, im Rahmen derer die bestimmteren Gegenstände als Vervollständigungen der weniger bestimmten betrachtet werden können. Die obere Grenze dieser Hierarchie bilden die absolut bestimmten Gegenstände. Ein vollständiger Gegenstand kann also als Grenzfall der Vervollständigung betrachtet werden. Wir sehen hier im Moment von den widersprüchlichen Gegenständen ab, die als „überbestimmt“ betrachtet werden könnten. Meinong sagt es zwar nicht explizit, aber es ist völlig klar, dass man, damit die Untersuchungen zum Möglichkeitsbegriff (im Sinne der objektiven Wahrscheinlichkeit) überhaupt einen Sinn machen können, den Bereich der Gegenstände zunächst auf die logisch möglichen (d.h. widerspruchsfreien) Gegenstände einschränken muss. Diese Einschränkung gilt für alles, was wir in diesem Abschnitt sagen werden. Die unvollständigen Gegenstände können dementsprechend gewissermaßen als „Teile“ der vollständigen Gegenstände betrachtet werden. 17
Jacquette interpretiert diese Lehre mittels der dreiwertigen Logik von Łukasiewicz. Vgl. Jacquette 1996, S. 95.
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Ein Hund bildet in diesem Sinne sowohl einen Teil des real existierenden Dachshundes meiner Mutter als auch einen Teil des mythischen Zerberus als auch einen Teil der unzähligen, teils existierenden, teils nicht-existierenden Hunde, die sich im riesigen Bereich des Außerseins tummeln. Meinong sagt, dass die unvollständigen Gegenstände in dieser Weise in den vollständigen Gegenständen implektiert sind. Ein vollständiger Gegenstand, in dem ein unvollständiger Gegenstand A implektiert ist, heißt Implektent von A. (Meinong 1915, S. 211) Unvollständige Gegenstände können als solche (eben wegen ihrer Unvollständigkeit) weder existieren noch bestehen, als „implektierte Teile“ der vollständigen Gegenstände haben sie aber innerhalb ihrer Implektente ein implektives Sein (Meinong 1915, S. 212).18 Ein solches implektives Sein hat auch Grade. Ein implektives Sein des unvollständigen Gegenstands A erreicht das Maximum, wenn alle Implektente von A existieren (bzw. bestehen), d.h. dann, wenn alle vollständigen Gegenstände, in denen A implektiert ist, existieren (bzw. bestehen). Das Minimum erreicht es dann, wenn alle Implektente von A nicht existieren (bzw. nicht bestehen). Dazwischen liegt der Bereich, in dem manche, aber nicht alle Implektente existieren (bzw. bestehen). (Meinong 1915, S. 213) Die Hauptidee der Meinong’schen Möglichkeitsanalyse besteht in der Annahme, dass man die semantischen Korrelate für die Möglichkeitssätze finden kann, wenn man sie in einer richtigen Weise mit den entsprechenden Implektierungsstrukturen korreliert. Wir sehen dabei auch klar, dass, wenn man sich bei der Bestimmung der numerischen Werte der (objektiven) Wahrscheinlichkeit am Grad des implektiven Seins orientieren können soll, die Unzahl der widersprüchlichen Gegenstände, die sich kraft der These der Annahmefreiheit immer „konstruieren“ lassen, auf jeden Fall außer Acht bleiben muss. Ohne diese Einschränkung würde man nämlich in allen Fällen unbrauchbare Werte bekommen. Da jede Kollektion der Eigenschaften in den unendlich vielen widersprüchlichen (und eo ipso nicht-existierenden) Gegenständen implektiert ist, würde man als den Grad des implektiven Seins immer Null bekommen. Die obere Grenze des implektiven Seins 18
Meinong sagt aber, „dass der unvollständige Gegenstand [ ] in seinem Implektenten nicht eigentlich existiert resp. besteht [ ].“, Meinong 1915, S. 211.
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wäre dann definitiv unerreichbar, denn für jede Kollektion von Eigenschaften könnte man ja ihre widersprüchliche Vervollständigung bilden. Es gilt aber zu bemerken, dass auch unter dem Ausschluss der widersprüchlichen Gegenstände diese obere Grenze ein wenig problematisch ist. Meinong scheint dies nicht zu bemerken, aber es gibt nur zwei Fälle, in denen sie erreicht werden kann. Der erste Fall betrifft Gegenstände, die notwendig existieren, der andere Fall die existierenden Gegenstände, die komplett beschrieben werden. Um das zu verstehen, reicht es, eine beliebige unvollständige Beschreibung eines existierenden Gegenstands zu betrachten und zu fragen, ob alle ihre Implektenten existieren. Betrachten wir den gegenwärtigen deutschen Bundeskanzler. Es gibt für diese Beschreibung gewiss einen Implektenten, der existiert, und der bestimmte Artikel, den wir in dieser Beschreibung finden, legt es nahe, anzunehmen, dass damit alle ihre Implektente existieren müssen. Dieser Schein trügt aber. Im Meinong’schen Universum finden wir nämlich eine ganze Reihe von gegenwärtigen deutschen Bundeskanzlern, die nicht existieren. Wir haben einen gegenwärtigen deutschen Bundeskanzler, der der Liberalen Partei angehört, einen gegenwärtigen deutschen Bundeskanzler, der den Nobelpreis für Ökonomie gewonnen hat, einen gegenwärtigen deutschen Bundeskanzler, der den IrakKrieg des Präsidenten George W. Bush unterstützt hat usw. Eine wichtige Moral aus dieser Überlegung ist, dass man im Rahmen der Meinong’schen Gegenstandstheorie von einer bestimmten Kennzeichnung kaum sprechen kann. Für jede unvollständige Beschreibung können wir nämlich ohne Probleme mehrere widerspruchsfreie Gegenstände zeigen, die diese Beschreibung erfüllen. Die Verwendung des bestimmten Artikels, die wir in den von Philosophen berühmt gemachten Kennzeichnungen wie „der Morgenstern“ oder „der Sieger von Jena“ finden, ist also im Rahmen der Intentionalitätstheorie Meinongs eigentlich illegitim. Denn selbst dann, wenn wir das Meinong’sche Universum auf die widerspruchsfreien Gegenstände einschränken, wird es immer noch mehrere Morgensterne und mehrere Sieger von Jena geben. Die richtige Form dieser Kennzeichnungen wäre deshalb eher „ein Morgenstern“ und „ein Sieger von Jena“. In der Tat, alle Kennzeichnungen, die im Rahmen der Meinong’schen Theorie einem endlichen Geist zur Verfügung stehen, sind unbestimmte
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Kennzeichnungen. Die einzige bestimmte Kennzeichnung, die man sich denken kann, wäre nämlich eine Beschreibung, die absolut jede Einzelheit eines gegebenen Gegenstands spezifizierte. Zu diesem Zwecke müsste man für jeden einfachen Gegenstand (d.h. für jede Eigenschaft und jede Relation) spezifizieren, ob er dem genannten Gegenstand zukommt oder nicht. Da Meinong Leibniz’ Prinzip der Identität der Ununterscheidbaren akzeptiert, würde eine solche Kennzeichnung (vorausgesetzt, dass wir uns auf den Bereich der widerspruchsfreien Gegenstände beschränken) tatsächlich einen einzigen Gegenstand auswählen. Erst dann also, wenn eine solche vollständige Beschreibung eines Gegenstands vorliegt, können wir, falls es sich um eine Beschreibung eines existierenden Gegenstands handelt, sagen, dass alle ihre Implektenten existieren. Es ist aber ebenfalls klar, dass einer solchen vollständigen Beschreibung kein unvollständiger, sondern eben ein vollständiger Gegenstand entspricht. Was nun die unvollständigen Beschreibungen betrifft, so könnten ihre Gegenstände nur dann das Maximum des implektiven Seins erreichen, wenn die Existenz des Gegenstands aus der bloßen Beschreibung folgt. Fälle wie „ein existierender goldener Berg“ können wir dabei gleich ausschließen, denn wir wissen ja, dass man in solchen Beschreibungen lediglich mit einer depotenzierten, „machtlosen“ Variante der Seinsbestimmung operiert. Auch die Beschreibungen, die in den Anselm’schen Gottesbeweisen auftreten, sollen im Rahmen der Meinong’schen Philosophie in dieser Weise interpretiert werden. Am Anfang eines solchen Beweises steht nämlich eine Annahme (dass Gott nicht existiert), und alles, was man aus einer solchen Annahme eventuell ableiten kann, ist eine depotenzierte Existenz (denn nur bezüglich einer solchen Seinsbestimmung haben wir die erforderliche Annahmefreiheit). Als einzige Kandidaten für den maximalen Grad des implektiven Seins bleiben also Gegenstände, von denen von vornherein klar ist, dass sie notwendig existieren.19 Wer bereit ist, notwendig existierende 19
In einer der Versionen des Beweises Anselms macht man tatsächlich diese Voraussetzung. Diese Version ließe sich also durch die bloße Unterscheidung der genuinen und der depotenzierten Seinsbestimmungen wahrscheinlich nicht entkräften.
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platonische Gegenstände wie Eigenschaften, Propositionen oder Zahlen anzunehmen, würde jedem der unvollständigen Gegenstände, die ausschließlich in solchen notwendigen Gegenständen implektiert sind, das Maximum an implektivem Sein zuschreiben können. Meinong macht aber diese Annahme nicht. Die Rolle der platonischen Entitäten wird im Rahmen seiner Philosophie von den außerseienden Gegenständen übernommen. Bei Meinong braucht man nicht vorauszusetzen, dass eine bestimmte Zahl oder ein bestimmter Sachverhalt existiert. Es reicht, wenn sie außerseiend sind. Es scheint also, dass das Maximum an implektivem Sein schließlich nur den vollständigen Gegenständen zukommt. Wir kehren aber zur Wahrscheinlichkeitslehre Meinongs zurück. Er sagt, dass die eigentlichen Träger der Möglichkeit unvollständige Gegenstände sind. Genauer gesagt sind es unvollständige Objektive. Wie gesagt, suggeriert er, dass man die Möglichkeit eines Gegenstands durch Rekurs auf den Grad seines implektiven Seins erklären kann. In Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit finden wir aber keine klare Theorie, die das komplizierte Verhältnis zwischen diesen beiden Größen präzisieren würde. Wir versuchen also, einige Hypothesen darüber aufzustellen, wie dieses Verhältnis aussehen könnte. Es wäre sicherlich voreilig, den Grad der Möglichkeit eines unvollständigen Objektivs mit dem Grad seines implektiven Seins einfach gleichzusetzen. Nach dieser Auffassung würde man nämlich den Grad der Möglichkeit des Objektivs O bekommen, wenn man die Anzahl seiner bestehenden Implektenten durch die Anzahl der Gesamtheit seiner Implektente dividierte, und das liefert uns nicht die gewünschten Ergebnisse. Das Problem besteht nämlich darin, dass man für jedes beliebige Objektiv im besten Fall eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit bekommt. Um das zu verstehen, müssen wir zuerst klären, was man unter einem „vollständigen Objektiv“ eigentlich verstehen soll. Ein vollständiges Objektiv muss eine immens komplizierte propositionale Entität sein, die für jedes einfache Element des Meinong’schen Universums (für jedes Element der Form [F]) spezifiziert, mit welchen Elementen es verbunden und mit welchen es nicht verbunden ist. Da wir uns im gegenwärtigen Kontext nur mit den widerspruchsfreien Gegenständen beschäftigen, können wir ein vollständiges Objektiv als ein maximales
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konsistentes Objektiv definieren, d.h. als ein widerspruchsfreies Objektiv, das für jedes beliebige Objektiv dieses Objektiv entweder enthält oder ausschließt. Ein vollständiges Objektiv wäre also genau das, was man heutzutage als eine mögliche Welt bezeichnet. Jede propositionale Entität, die irgendeine Stelle in einer solchen Welt unbestimmt lässt, wäre doch in mehreren solchen Welten implektiert (und dementsprechend unvollständig). Nun gibt es selbstverständlich nur eine einzige mögliche Welt, die besteht, nämlich die Welt, in der wir leben. Ihr stehen aber unendlich viele nicht-aktuelle Welten gegenüber. Die Konsequenz der Identifizierung des Wahrscheinlichkeitsgrades mit dem Grad des implektiven Seins wäre also, dass man für jedes Objektiv, das in der aktuellen Welt nicht implektiert ist, die Möglichkeit gleich Null bekommt, und dass für jedes Objektiv, das in dieser Welt implektiert ist, die Möglichkeit unendlich klein ist. Denn selbst für jedes Objektiv, das in unserer Welt implektiert ist (d.h. einen bestehenden Implektenten hat), gibt es unendlich viele nicht-aktuelle Welten, in denen es implektiert ist (d.h. unendlich viele nicht-bestehende Implektente). Man sieht also, dass dieser Weg in eine völlig falsche Richtung führt. Was zu machen ist, schlagen wir vor, ist vielmehr, von der Unterscheidung zwischen der aktuellen (bestehenden) Welt und den nicht-aktuellen (nicht-bestehenden) Welten abzusehen und die numerischen Verhältnisse zwischen den möglichen Welten, die ein bestimmtes Objektiv implektieren, und denjenigen, die es nicht-implektieren, in Betracht ziehen. Die Idee dabei ist, dass man den Grad der objektiven Wahrscheinlichkeit des Objektivs O bekommt, indem man die Anzahl der möglichen Welten, in denen O implektiert ist, durch die Anzahl aller möglichen Welten dividiert. Dieser Vorschlag sieht schon viel besser aus. Er bedarf aber noch einiger Kommentare. Der Referenzbereich, in dem man den numerischen Wert der objektiven Wahrscheinlichkeit bestimmt, soll, wie gesagt, auf jeden Fall auf die möglichen (d.h. widerspruchsfreien) Gegenstände (d.h. auf die möglichen Welten) eingeschränkt werden. In vielen Fällen muss man ihn aber noch viel enger einschränken. Eine der selbstverständlichen Einschränkungen ist diejenige auf die physikalisch möglichen Welten. Wenn wir beispielsweise fragen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Würfel bei einem Wurf eine Fünf zeigt, dann denken wir gewiss nicht an alle möglichen Welten. In einigen
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solchen Welten könnte ja das strenge Gesetz gelten, dass ein geworfener Würfel immer eine Fünf zeigt. Es könnte auch sein, dass das Fallen von Würfeln direkt von den Gedanken eines perversen Wissenschaftlers oder eines gutmütigen Engels gelenkt wird. Das alles ist für unsere Frage natürlich völlig irrelevant. Was wir wissen wollen, ist die Wahrscheinlichkeit des genannten Ereignisses, vorausgesetzt, dass alle relevanten Naturgesetze und allgemeinen Umstände so bleiben, wie sie in „unserer“ Welt sind.20 Der Bereich der Gegenstände wird also sehr oft (meistens stillschweigend) auf die physikalisch möglichen Gegenstände eingeschränkt werden müssen. Auch das ist aber nicht das Ende der Geschichte. In den meisten Wahrscheinlichkeitsfragen sind nämlich viele weitere Voraussetzungen involviert. Wenn wir z.B. fragen, wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass man in absehbarer Zeit eine politische Lösung für den Nahen Osten findet, oder dafür, dass China in den nächsten 30 Jahren zu einer Weltsupermacht aufsteigt, müssen wir den Bereich der möglichen Welten nicht nur auf die physikalisch möglichen Welten einschränken, sondern außerdem auch auf diejenigen, die dieselbe bisherige politische und wirtschaftliche Geschichte haben. Derartige Einschränkungen sind für die Wahrscheinlichkeitsfragen äußerst wichtig. Wir werden in diesem Buch zwar nicht versuchen, eine derartige Einschränkungshierarchie für verschiedene Wahrscheinlichkeitsprobleme auszuarbeiten; wenn man aber den Vorschlag Meinongs richtig bewerten will, muss man sich bewusst sein, dass er auf jeden Fall um eine solche Theorie vervollständigt werden muss. 7. Defekte Gegenstände (1917) In seiner späten Abhandlung Über emotionale Präsentation (1917) macht Meinong eine weitere wichtige Einschränkung der Gültigkeit der These der Annahmefreiheit geltend. Jede konstitutorische (wie auch jede „depotenzierte“ außerkonstitutorische) Bestimmung kann, wie wir wissen, von einem Subjekt „angenommen“ werden; und die Meinong’sche
20
Zusätzlich kommt noch dazu, dass wir die genauen Umstände des Wurfes „unbestimmt“ lassen.
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Erklärung des Mechanismus der intentionalen Beziehung fordert, dass jeder solchen Annahme ein außerseiender Gegenstand entspricht. In dieser Weise werden, wie wir wissen, nicht nur kontingent nichtexistierende, sondern auch notwendig nicht-existierende (widersprüchliche) Gegenstände in das Meinong’sche Universum eingeführt. Es gibt aber eine Gruppe von psychischen Akten, für die Meinong überhaupt keine außerseienden Gegenstände einführt. Es handelt sich um die Akte, die sich auf paradoxe Gegenstände zu beziehen scheinen und die zu jener Zeit vor allem durch Russell bekannt geworden sind. Solche paradoxe Gegenstände sind nicht bloß widersprüchlich. Ihre Eigenart besteht darin, dass man aus einer scheinbar legitimen Beschreibung gegensätzliche Eigenschaften deduzieren kann. Die berühmtesten Beispiele sind die Russellsche Menge aller Mengen, die nicht ihre eigenen Elemente sind, und der schon im Altertum und im Mittelalter vieldiskutierte Lügner-Satz. Was die Russellsche Menge M = x x x betrifft, so brauchen wir nur zu fragen, ob eine derartige Menge ihr eigenes Element ist. Die Antwort „Ja“ M ∈ M impliziert, dass sie nicht ihr eigenes Element sein kann M M. Sie ist doch die Menge von allen Mengen, die nicht ihre eigenen Elemente sind. Wenn sie also ihr eigenes Element wäre, müsste sie die festgelegte Bedingung des Elementseins x x x erfüllen, was zur Folge hätte, dass sie nicht ihr eigenes Element wäre. Es scheint also, dass die Antwort „Nein“ M M die richtige sein muss. Diese Antwort impliziert aber, dass die Russellsche Menge doch ihr eigenes Element sein muss M ∈ M. Denn wenn sie nicht ihr eigenes Element ist, dann erfüllt sie gerade dadurch die festgelegte Bedingung des Elementseins x x x . Sie ist demnach ihr eigenes Element, wenn sie es nicht ist; und sie ist nicht ihr eigenes Element, wenn sie es ist. Wir haben eine Paradoxie. Der Lügner-Satz ist ein Satz, der von sich selbst aussagt, dass er falsch ist, wie z.B. der Satz: ∗
Der Satz (*) ist falsch.
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Fragen wir nun, ob der Satz (*) wahr oder falsch ist. Wenn wir das Erstere annehmen, folgt sofort, dass er falsch ist (denn er behauptet ja von sich selbst, dass er falsch ist). Es scheint also, dass der Lügner-Satz falsch sein muss. Diese Annahme führt aber zu dem Schluss, dass er doch wahr ist. Denn das, was im Satz (*) behauptet wird und was jetzt ex hypothesi falsch sein soll, ist eben die Falschheit von (*). Der LügnerSatz ist also ein Satz, der sich als falsch erweist, sobald wir annehmen, dass er wahr ist, und den wir als wahr klassifizieren müssen, sobald wir seine Falschheit voraussetzen.21 Angesichts eines solchen logischen Verhaltens kapitulierte sogar Meinong. Er nennt Gegenstände, die solch paradoxen Ausdrücken entsprechen, defekt (Meinong 1917, S. 304), was bedeuten soll, dass solchen Gegenständen „nicht einmal Außersein zukommt“. (Meinong 1917, S. 307) „[I]nsofern“, schreibt Meinong weiter, „hat man sie dann auch nicht eigentlich vor sich, und den betreffenden Erfassungserlebnissen fehlt dann wirklich ein loyaler Gegenstand.“ (Meinong 1917, S. 307) Wie die intentionale Beziehung im Fall eines psychischen Aktes, der sich auf einen solchen paradoxen Gegenstand zu beziehen scheint, genauer aussieht, lässt sich aufgrund von Meinongs knappen Bemerkungen nicht rekonstruieren. „Ein loyaler Gegenstand“ fehlt ihnen auf jeden Fall. Sind sie dann aber „gegenstandslos“, oder haben sie so etwas wie einen „Ersatzgegenstand“? Die Frage, wie ein solcher Ersatzgegenstand einen paradoxen Gegenstand (den es selbst bei Meinong nicht gibt) für das Subjekt „repräsentieren“ oder „vortäuschen“ kann, lässt sich aber sicherlich nicht einfach beantworten. Vielleicht müssen wir die paradoxen Sätze so interpretieren, dass die Hauptschuld für die ganze philosophische Verwirrung, die sie verursachen, nicht im psychischen Akt, sondern in der sprachlichen Form liegt? Der Hauptgedanke der späten Philosophie Meinongs ist doch, 21
Das setzt natürlich das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten voraus. Aber selbst, wenn wir dieses Prinzip außer Kraft setzen und die Sätze zulassen, die weder wahr noch falsch sind, lässt sich in einer einfachen Weise ein „verstärkter“ Lügner-Satz konstruieren, nämlich: (*) Der Satz (*) ist nicht wahr, wobei „nicht wahr“ sowohl „falsch“ als auch „weder wahr noch falsch“ umfasst.
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dass jedem psychischen Akt ein Gegenstand „jenseits von Sein und Nichtsein“ entspricht. Da es aber keine paradoxen Gegenstände gibt, liegt es nahe, anzunehmen, dass es auch keine paradoxen psychischen Akte gibt. Die paradoxen Sätze drücken also in Wirklichkeit keine psychischen Akte aus. Ist dem aber so, dann müsste man sagen, dass die paradoxen Sätze auch keine Bedeutung haben. Im Rahmen einer präzisen Sprache müssten sie eigentlich als nicht wohlgeformt klassifiziert werden.22 Diese Lösung des Problems erscheint uns nicht unplausibel; eine definitive Antwort auf die Frage, wie die Lösung Meinongs präzisiert werden sollte, gibt es aber höchstwahrscheinlich nicht.
8. Dignitative und Desiderative (1917) Das Meinong’sche Universum wurde also 1917 in Bezug auf die angeblich paradoxen Gegenstände eingeschränkt; es wurde aber zugleich um zwei wichtige gegenständliche Kategorien bereichert. Dabei handelt es sich um die Dignitative und die Desiderative, die die gegenständlichen Korrelate der emotionalen Akte bilden.
22
Das entspricht übrigens der klassischen Weise, in der man versuchte, mit den paradoxen Sätzen fertig zu werden. Im Fall des Lügner-Satzes nahm man z.B. an, dass das Wahrheitsprädikat für eine bestimmte Sprache L selbst nicht zu L (sondern erst zu einer „höherstufigen“ Metasprache L’) gehören darf. Der Satz (*) Der Satz (*) ist nicht wahr ist also nicht wohlgeformt, denn er verwendet ein Prädikat („ist nicht wahr“), das zu der Sprache, in der er ex hypothesi ausgedrückt wird, nicht gehören darf. Vgl. Tarski 1933. Eine ähnliche Lösung für die Paradoxie der Menge aller Mengen, die nicht ihre eigenen Elemente sind, hat Russell vorgeschlagen. Russell führt zunächst eine Hierarchie von logischen Typen ein, wie etwa a, a ,
a ,
a usw., und sagt, dass das Symbol des Elementseins „∈“ nur von den Symbolen flankiert sein darf, die zu den entsprechenden logischen Typen gehören. Die Sätze „a ∈ a “ und „a ∈ b c “ sind dementsprechend wohlgeformt, während der Satz „¬a ∈ a“ als nicht wohlgeformt klassifiziert werden muss. Auch die Definition der Russell’schen Menge „ x ¬x ∈ x “ wäre dann natürlich nicht wohlgeformt.
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Dass die emotionalen Akte in einer vollständigen Klassifikation der psychischen Phänomene nicht fehlen dürfen, hat schon Brentano eingesehen. Die, wie er sie nannte, Gemütsbeziehungen bildeten bei ihm, neben den Vorstellungen und Urteilen, die dritte Hauptgruppe der psychischen Akte. Eine Gemütsbeziehung ist ein psychischer Akt, der in vielen Aspekten einem Urteil ähnelt. Ein vorgestelltes Objekt wird hier in einer ähnlichen Weise zum Ziel einer mentalen Anerkennung oder Verwerfung gemacht wie bei einem Urteil. Die Anerkennung bzw. Verwerfung hat aber in diesem Fall einen emotionalen Charakter. In einer Brentano’schen Gemütsbeziehung wird das Objekt geliebt oder gehasst. Die Wichtigkeit der Berücksichtigung dieser Phänomene beruht zum einen darauf, dass wir mit ihnen eine Gruppe psychischer Phänomene gegeben haben, die sich prinzipiell weder auf Vorstellungen noch auf Urteile reduzieren lassen (wiewohl sie, wie wir gesehen haben, Vorstellungen als ihre psychische Grundlage voraussetzen). Eine psychologische Klassifikation, in der Gemütsbeziehungen fehlen, wäre also schon deshalb unvollständig. Zum anderen handelt es sich aber darum, dass wir ohne das Einbeziehen dieser Phänomene nicht imstande wären, einen Bereich theoretisch zu erfassen, den viele Denker als äußerst wichtig betrachteten. Es handelt sich um den Bereich der Werte im weitesten Sinne. Nur wenn wir uns auf die Phänomene der Gemütstätigkeit beziehen, so lautet die These Brentanos, können wir verstehen, was tatsächlich vorgeht, wenn einem Gegenstand ein positiver oder negativer Wert zugeschrieben wird. Erst dann, wenn dieser Vorgang theoretisch analysiert und verstanden wird, kann eine Moralphilosophie wissenschaftlich betrieben werden. Diese Überzeugung stützt sich auf die bekannte These Humes. Es gibt keine Folgerung, lehrte er, die uns gestatten würde, aus den „Sätzen über Tatsachen“ irgendeinen „Satz über das Sollen“ zu deduzieren. Präskriptive Konsequenzen folgen aus keiner Deskription. (Vgl. Hume 1739/40, Vol. II, S. 245 f.) Wenn wir also in unserem praktischen Denken zu irgendwelchen normativen Konsequenzen kommen wollen, müssen wir schon im Ausgangspunkt gewisse wertende Elemente voraussetzen; und diese sind nach Brentano (wie auch nach Hume) emotionale Akte.
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kapitel 5
Meinong hat sowohl die Argumentation Humes als auch die Brentano’sche These der Unreduzierbarkeit der emotionalen Phänomene auf die Vorstellungen und Urteile (und Annahmen) vorbehaltlos akzeptiert. Neben den Vorstellungen, Annahmen und Urteilen, die man intellektuelle Akte nennen kann, müssen wir also eine wichtige Klasse der emotionalen Erlebnisse berücksichtigen. Dazu gehören vor allem Gefühle. Mit einem Gefühl haben wir zu tun, wenn wir etwas als wertvoll, angenehm oder schön empfinden. Wir müssen dementsprechend Wertgefühle, sinnliche Gefühle und ästhetische Gefühle unterscheiden. Nach Meinong gibt es allerdings noch eine vierte Klasse, die er Wissens- oder logische Gefühle nennt. Ein solches Gefühl erleben wir, wenn wir mit einer positiven Emotion auf eine Wahrheit reagieren. Gefühle ähneln nach Meinong den Vorstellungen, und zwar in der Hinsicht, dass sie passive Erlebnisse sind. Um ein Gefühl zu erleben, braucht man keine mentale Aktivität. Gefühle unterscheiden sich aber von den Vorstellungen dadurch, dass sie eine positiv-negative „urteilsähnliche“ Polarisierung involvieren, die in den Vorstellungen prinzipiell fehlt. Gefühle sind aber nach Meinong nicht die einzigen emotionalen Erlebnisse. Neben ihnen finden wir Begehrungen. Wenn wir uns beispielsweise auf einen Gegenstand mit einem positiven Gefühl beziehen, dann können wir auf dieses Gefühl einen Akt der Begehrung aufbauen, in dem der Gegenstand explizit gewollt wird. Die Begehrungen sind also in dieser Hinsicht wie Urteile. Sie sind aktive Erlebnisse, die Gefühle als ihre Grundlage voraussetzen. Wir sehen, dass während den Gefühlen im intellektuellen Bereich die Vorstellungen entsprechen, die Begehrungen eher den Urteilen bzw. Annahmen ähneln. Die Analogie geht übrigens noch weiter, denn im Bereich der Begehrungen finden wir nach Meinong sogar eine Entsprechung des Unterschieds zwischen Seins- und Soseinsmeinen. Man kann nämlich einen Gegenstand als solchen begehren, was ein Analogon eines einfachen Seinsmeinens wäre; man kann aber einen Gegenstand auch bloß als Mittel zu einem Zweck wollen, was nach Meinong an die Struktur eines Soseinsmeinens erinnert. Im ersteren Fall haben wir es mit einer Sollung, im letzteren mit einer Zweckmäßigkeit zu tun.
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gegenstandstheorie (1904–1920) Wir erhalten also die folgende Klassifikation der Erlebnisse: passiv
aktiv
intellektuell
Vorstellungen
Urteil (Annahme) Seins-/Soseinsmeinen
emotional
Gefühl
Begehrung Sollung/Zweckmäßigkeit
Wertgefühl Wissensgefühl sinnliches Gefühl ästhetisches Gefühl
als als als als
gut wahr angenehm schön
Wir haben gesehen, dass man beim mittleren Brentano zumindest zwei verschiedene Interpretationen der Intentionalität eines Urteils findet. Nach der ersten Interpretation bedeutet die in einem Urteil involvierte Anerkennung bzw. Verwerfung eines Objekts bloß einen mentalen Modus, dem keine gegenständlichen semantischen Korrelate entsprechen. Die Frage der Wahrheit eines Urteils wird, glaubte Brentano, durch eine epistemische Wahrheitsdefinition geklärt, die keine Wahrmacher (und insbesondere keine Wahrmacher, die sich von den nominalen Objekten unterscheiden) in der transzendenten Welt braucht. In Brentanos Logik-Vorlesung [EL 80] finden wir aber auch eine andere Urteilstheorie, die jedem Urteil eine propositionale immanente und transzendente gegenständliche Struktur zuordnet. Im Rahmen einer solchen Theorie kann man ohne Probleme eine realistische, konsequent propositionale Wahrheitsdefinition formulieren, auch wenn sie von Brentano selbst nie formuliert wurde. Eine ähnliche Situation haben wir im Fall der Gemütsphänomene. Die „offizielle“ Theorie, die Brentano in der Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) und in dem Vortrag Vom Ursprung der Sittlichen Erkenntnis (1889) präsentiert, entspricht weitgehend der nicht-propositionalen Version der Urteilstheorie. Eine Gemütsbeziehung fügt einer Vorstellung lediglich einen zusätzlichen psychischen Modus hinzu. Diesem Modus entsprechen aber keine gegenständlichen Strukturen, die sich auf das Objekt der Vorstellung aufbauen.
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kapitel 5
Damit die Gemütsbeziehungen eine Grundlage für die Ethik darstellen können, muss es aber, behauptet Brentano, möglich sein, zwischen einer richtigen und einer unrichtigen Gemütsbeziehung zu unterscheiden. Und in der Tat, bei Brentano gibt es richtige und unrichtige Gemütsbeziehungen, wobei ihre Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit ähnlich wie die Wahrheit bzw. Falschheit eines Urteils im Grunde epistemisch definiert wird. Brentano nimmt nämlich an, dass es ein Analogon der Evidenz auf dem Gebiet der emotionalen Akte gibt, das wir der Kürze halber Evidenz* nennen wollen. Die Gemütsbeziehungen können also nicht nur richtig und unrichtig sein. Manchmal erleben wir eine Gemütsbeziehung, die sich uns als evident* präsentiert, was nach Brentano ihre Richtigkeit garantiert. Auf der Grundlage von solchen Akten können wir eine Definition der Richtigkeit einer Gemütsbeziehung analog zur Definition eines richtigen Urteils konstruieren, etwa: Gemütsbeziehung x ist richtig = Df. Gemütsbeziehung x könnte auch mit Evidenz∗ vollzogen werden.
Diese Definition involviert natürlich unreduzierbare Elemente des normativen und kontrafaktischen Diskurses; das ist aber der wohlbekannte Preis, den man für jede derartige Definition bezahlen muss. Wenn wir die Richtigkeit einer Gemütsbeziehung in dieser Weise definieren, können wir auf die objektiven „Richtigmacher“ (etwa auf die objektiv wertvollen Gegenstände) in der Welt ruhig verzichten. Die Werte können dann folgendermaßen definiert werden: Das Objekt O besitzt einen positiven Wert (O ist gut) = Df. Es ist möglich, dass sich eine richtige Liebe auf O richtet (es ist möglich, dass O richtig geliebt wird). Das Objekt O besitzt einen negativen Wert (O ist schlecht) = Df. Es ist möglich, dass sich ein richtiger Hass auf O richtet (es ist möglich, dass O richtig gehasst wird). (Vgl. Brentano 1889/1955, S. 19)23
Wie im Fall der Urteilstheorie hat aber Brentano auch in seiner Theorie der Gemütsbeziehungen mit der Idee gespielt, den emotionalen 23
Man sollte natürlich noch präzisieren, ob das betreffende Objekt nur als ein Mittel (um eines anderen willen) oder als ein Zweck (um seiner selbst willen) richtig geliebt bzw. gehasst werden kann. Im ersten Fall besitzt es nur einen relativen (instrumentalen) Wert bzw. Gegenwert. Vgl. Brentano 1889/1955, S. 19.
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Phänomenen objektive gegenständliche Korrelate zuzuordnen. Einer richtigen Liebe würde in diesem Fall ein objektiver Wert, einem richtigen Hass ein objektiver Gegenwert in der Welt entsprechen. Die Weiterentwicklung dieser Idee kann man besonders deutlich bei Anton Marty beobachten. (Vgl. Marty 1908, S. 425 f.) Was Meinong betrifft, so hatte er, wie wir gesehen haben, nicht die geringste Tendenz, den Begriff der Wahrheit nach den Richtlinien der Brentano’schen epistemischen Definition zu verstehen. In seiner frühen Periode sprach er von dem Verhältnis der Adäquatheit zwischen dem immanenten und dem transzendenten Objekt, und in seiner gegenstandstheoretischen Phase betrachtete er die Wahrheit als eine Bestimmung, die primär einem Objektiv zukommt (und zwar genau dann, wenn es zugleich erfasst und tatsächlich ist). Auch in seiner späten Theorie der emotionalen Akte kommen diese objektivistischen Züge deutlich zur Geltung. In der Abhandlung Über emotionale Präsentation besteht Meinong darauf, dass den emotionalen Erlebnissen spezielle Gegenstände entsprechen, und zwar Gegenstände, die sich weder als Objekte noch als Objektive interpretieren lassen. Die Gegenstände, die den Gefühlen zugeordnet werden, nennt Meinong Dignitative; diejenigen, die mit den Begehrungen korreliert sind, heißen Desiderative. Entsprechend der zwei Arten von Begehrungen zerfallen auch Desiderative in Sollungen (Zwecke an sich) und Zweckmäßigkeiten (Mittel zu einem Zweck). Der Klassifikation der Erlebnisse steht also die folgende Klassifikation der Gegenstände zur Seite: objekt-ähnlich
objektiv-ähnlich
für intellektuelle Akte
Objekt
Objektiv Seins-/Soseinsobjektiv
für emotionale Akte
Dignitativ
Desiderativ Zweck an sich/Mittel zum ( )
gut wahr angenehm schön
als als als als
gut wahr angenehm schön
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kapitel 5
Trotz der Analogie zwischen den Gefühlen und den Vorstellungen, die einerseits die Passivität der Gefühle und andererseits ihre Rolle als Grundlage für die komplizierteren psychischen Akte betrifft, muss betont werden, dass bereits ein Gefühl in Wirklichkeit einen propositionalen Akt als seine Grundlage voraussetzt.24 Betrachten wir zunächst die Gruppen, die Meinong als Wertgefühle und ästhetische Gefühle bezeichnet. Mit einem Wertgefühl haben wir zu tun, wenn wir etwas als wertvoll (also z.B. als nützlich) auffassen. Ein solcher Wert betrifft aber, sagt Meinong, nie den Gegenstand als solchen. Es geht vielmehr immer darum, dass ein Gegenstand existiert (besteht) bzw. nicht existiert (nicht besteht). Was für mich nützlich ist, ist nicht ein Kühlschrank (als ein reiner Gegenstand jenseits von Sein und Nichtsein), sondern vielmehr der Umstand, dass es (in meiner Wohnung) einen Kühlschrank gibt. Alle Wertgefühle sind dementsprechend als (positive oder negative) „Seinsgefühle“ zu bezeichnen (Meinong 1917, S. 373, Meinong 1923, S. 534), denn es gibt natürlich auch die nützlichen Nicht-Existenzen (z.B. die Tatsache, dass es in meiner Wohnung keine Schlangen gibt). Was die ästhetischen Gefühle betrifft, so sind sie zwar an die Existenz (bzw. den Bestand) der betreffenden Gegenstände nicht gebunden, sie betreffen aber immer die Art, wie die ästhetisch zu kontemplierenden Gegenstände aufgebaut sind. Die ästhetischen Gefühle setzen also ebenfalls eine propositionale Intentionalität als ihre Grundlage voraus, und zwar in der Weise, dass sie das Sosein der jeweiligen Gegenstände betreffen. Meinong nennt sie deshalb „Soseinsgefühle“. (Meinong 1917, S. 373) Auch bei den Wertgefühlen, die primär das Sein eines Gegenstands betreffen, muss es sich übrigens (wie es die späte Intentionalitätstheorie Meinongs generell fordert) um das Sein eines Soseienden handeln.25
24
Schon in seinen frühen Psychologisch-ethischen Untersuchungen zur Werttheorie betont Meinong, dass sich ein Wertgefühl auf einem Urteil über Existenz bzw. Nicht-Existenz des entsprechenden Gegenstands aufbauen kann. Meinong 1894b, S. 33. 25 Vgl. „Wertgefühle sind ihrem Wesen nach Seinsgefühle, wenn das für sie maßgebende Sein auch, wie selbstverständlich, das Sein eines Soseienden ist. Durch diese Formulierung ist aber zugleich eine weitere Frage nächstgelegt, ob es nicht auch eine Klasse von Gefühlen geben werde, deren Wesen darin besteht, Soseinsgefühle zu sein; und diese Klasse dürfen wir eben in den ästhetischen Gefühlen vor uns haben.“, Meinong 1917, S. 373.
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Da von diesen zwei Gruppen nur die Wertgefühle bis zur tatsächlichen Existenz des Gegenstands „penetrieren“, nennt sie Meinong „Penetrationsgefühle“, während die ästhetischen Gefühle als „Kontemplationsgefühle“ bezeichnet werden. (Meinong 1917, S. 373) Wertgefühle und ästhetische Gefühle betreffen Gegenstände, die das Ziel der zugrunde liegenden propositionalen intentionalen Beziehung bilden. Bei den zwei weiteren Gruppen – denjenigen der sinnlichen und der logischen Gefühle – handelt es sich hingegen um die Art und Weise, wie die intentionale Beziehung vollzogen wird. Bei einem logischen Gefühl geht es, wie gesagt, um die Wahrheit einer Behauptung. Was hier also die emotionale Einstellung betrifft, ist nicht ein besonderes behauptetes Objektiv (denn es ist egal, was man behauptet), sondern die Art des Aktes, in dem man das behauptet. Wir haben gesagt, dass es dabei um die Wahrheit geht; das soll aber nicht so verstanden werden, als ob es um die bloße Tatsächlichkeit eines Objektivs ginge. Es geht vielmehr um eine begründete Überzeugung des Subjekts, was zwar nicht, wie bei Brentano, als eine Wahrheitsdefinition verstanden wird, was aber dennoch wichtige Beziehungen zum Wahrheitsbegriff involviert. Wir schätzen nämlich die Überzeugungen, die epistemisch begründet (bei Meinong: evident) sind, nicht etwa deshalb, weil sie besonders schön oder angenehm sind. Wir schätzen sie deswegen, weil die epistemische Begründung, die wir für eine Überzeugung haben, per definitionem das einzige uns zugängliche Zeichen der Wahrheit der betreffenden Überzeugung ist. Die epistemische Begründung ist also streng genommen ein rein instrumenteller Wert. Wir schätzen Überzeugungen, die epistemisch begründet sind nur deswegen, weil diese epistemische Begründung ein Zeichen ihrer Wahrheit darstellt. Dieser instrumentelle Wert hat allerdings eine wichtige Besonderheit. Wir schätzen die epistemische Begründung zwar nur als ein Zeichen der Wahrheit, haben aber keine Möglichkeit, die Wahrheit einer Überzeugung irgendwie „direkt“, ohne Umweg über ihre epistemische Begründung zu erreichen. Wenn man manchmal sagt, dass sich bei einigen Überzeugungen (wie z.B. bei den Gegebenheiten der inneren Wahrnehmung oder bei den besonders einfachen Wahrheiten a priori) ihre Wahrheit selbstpräsentiert, dann geht es in Wirklichkeit darum, dass man solche Überzeugungen als direkt begründet klassifizieren will. Ihre epistemische Begründung liegt entweder in ihrem
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kapitel 5
Inhalt (Wahrheiten a priori) oder aber in der Art und Weise, wie sie entstanden sind (Gegebenheiten der inneren Wahrnehmung), jedoch nicht in ihrer Relation zu den anderen Überzeugungen, die wir haben. Das alles hat zur Folge, dass die epistemische Begründung sich uns sehr oft als ein selbstständiger Wert präsentiert, was viele Philosophen auch dazu veranlasst, die Wahrheit immer wieder in epistemischen Termini zu definieren. Meinong hat dieser Neigung allerdings zeit seines Lebens musterhaft widerstanden. Auf jeden Fall ist es aber im Allgemeinen die epistemische Begründung, die uns dazu bewegt, eine Annahme in ein entsprechendes Urteil zu verwandeln; und eben dieser Vorgang bildet nach Meinong das wichtigste Element bei einem Gefühl, das auf Wahrheit gerichtet ist. „Hier kommt es also offenbar nicht darauf an, ob das Voraussetzungsobjektiv Tatsache geworden ist, sondern darauf, dass statt der Voraussetzungsannahme ein Voraussetzungsurteil sich eingestellt hat, also das vorherige Nichtwissen in ein Wissen umgewandelt worden ist.“ (Meinong 1917, S. 381)
Das, worauf sich ein Wissensgefühl richtet, ist also nicht die modale Eigenschaft (die Tatsächlichkeit) eines Objektivs, sondern das, was zwei Überzeugungen des gleichen Inhalts voneinander unterscheidet, wenn nur eine davon epistemisch begründet (evident) ist. Auf diese Aspekte der epistemischen Begründung bezieht sich Meinong, indem er von den Unterschieden im Akt spricht. (Vgl. dazu auch Meinong 1923, S. 542 ff.) Als Aktunterschiede bezeichnet er übrigens alle Unterschiede der psychischen Phänomene, die nicht Unterschiede des Inhalts im Sinne Twardowskis sind. Auch die Frage, ob man an einen bestimmten Gegenstand bloß denkt oder ihn in einer sinnlichen Wahrnehmung vor Augen hat, betrifft also nach seinem Sprachgebrauch die Aktunterschiede.26 Und dies ist genau die Frage, um die es sich bei den sinnlichen Gefühlen handelt. Die logischen und sinnlichen Gefühle sind also dadurch gekennzeichnet, dass sie im Gegensatz zu den Wert- und ästhetischen Gefühlen 26
Husserl, der bei einem psychischen Akt drei Aspekte (die Qualität, die Materie und die Fülle) unterscheidet, würde die Unterschiede des Inhalts als materielle Unterschiede, die Unterschiede der epistemischen Begründung hingegen als Unterschiede der Fülle bezeichnen.
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gegenstandstheorie (1904–1920)
nicht den Gegenstand, sondern den Akt der zugrunde liegenden intentionalen Beziehung betreffen. Meinong unterscheidet dementsprechend zwischen den Inhaltsgefühlen (Freude über das Objektiv) und den Aktgefühlen (Freude über die Art und Weise, wie das Objektiv erfasst wird, d.h. evident, perzeptiv usw.). (Meinong 1917, S. 378) Wir erhalten also die folgende Klassifikation: Inhaltsgefühle Seinsgefühle Wertgefühle
Aktgefühle
Soseinsgefühle ästhetische Gefühle
sinnliche Gefühle
logische Gefühle
Wir wollen noch die Struktur dieser drei Arten von Gefühlen (derjenigen der Seinsgefühle, der Soseinsgefühle und der Aktgefühle) miteinander vergleichen. Dazu wird uns das folgende Schema dienen: Wertgefühl
Dignitativ (+/-) Akt
Gefühlsinhalt
Akt
U/A-Inhalt
Akt
V-Inhalt
Seinsobjektiv A ist (ist nicht) A
Subjekt psychologische Immanenz
ästhetisches Gefühl Dignitativ (+/-) Akt
Gefühlsinhalt
Akt
U/A-Inhalt
Akt
V-Inhalt
Akt
V-Inhalt
Subjekt psychologische Immanen z
Soseinsobjektiv x
F G
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kapitel 5 Aktgefühl (sinnliches Gefühl oder Wissensgefühl)
Gefühlsinhalt
Dignitativ (+/-) Akt
Akt
U/A-Inhalt
Akt
V-Inhalt
Seinsobjektiv A ist (ist nicht) A
Subjekt psychologische Immanenz
In unserem Schema werden die entsprechenden Objektive (Seinsbzw. Soseinsobjektive) graphisch in Dignitative eingebettet. Diese Art der Darstellung, die das entsprechende Objektiv als Teil des Dignitativs betrachtet, soll veranschaulichen, dass das Objektiv die gegenständliche Voraussetzung des entsprechenden Dignitativs bildet. Meinong nennt sie deshalb „Voraussetzungsobjektive“. (Die Struktur der eingebetteten Objektive ist übrigens vereinfacht; dies hat aber für das Problem, das wir jetzt illustrieren wollen, keine Bedeutung.) Bei einem Wertgefühl ist das Voraussetzungsobjektiv ein Seinsobjektiv. Was als wertvoll empfunden wird, ist das Sein (bzw. Nichtsein) eines Gegenstands. Die gegenständliche Struktur, die in der Zielposition eines Wertgefühls steht, ist dementsprechend ein Dignitativ, in das dieses Seinsobjektiv eingebettet ist. Das genannte Seinsobjektiv bildet aber auch die einzige gegenständliche Voraussetzung des Dignitativs. Wir finden in ihm keine weiteren eingebetteten Strukturen. Ähnlich sieht die Situation im Fall eines ästhetischen Gefühls aus. Auch hier haben wir in der Zielposition ein Dignitativ, das als die einzige gegenstandstheoretische Voraussetzung ein Objektiv hat, wobei es sich aber in diesem Fall um ein Soseinsobjektiv handelt. Das Bild ändert sich aber, wenn wir zu den Aktgefühlen übergehen. In der Zielposition haben wir zwar wieder ein Dignitativ, in das ein Objektiv eingebettet ist; dieses Objektiv bildet aber jetzt nicht die einzige gegenständliche Voraussetzung des Dignitativs. Auch die Art und Weise, wie dieses Objektiv vom Subjekt erfasst wird, ist wichtig.
gegenstandstheorie (1904–1920)
243
Diesem Umstand wird graphisch in der Weise Rechnung getragen, dass das Dignitativ des Aktgefühls nicht nur das Objektiv, sondern auch die Aktkomponenten der entsprechenden Erlebnisse umfasst. Wir haben gesehen, dass einer der Hauptgründe, warum man für die emotionalen Erlebnisse spezielle Zielgegenstände einführt, der Wunsch sein kann, ein objektives Fundament für die Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit der betreffenden emotionalen Phänomene zu haben. Wenn wir über solche Gegenstände verfügen, können wir, wie es scheint, einfach sagen, dass ein emotionales Phänomen genau dann richtig ist, wenn sein gegenständliches Korrelat besteht. Das war tatsächlich der Weg, den Anton Marty eingeschlagen hat. (Vgl. Marty 1908, § 84) Die Lösung Meinongs könnte aber nicht so einfach aussehen, und zwar deswegen nicht, weil bei ihm die gegenständlichen Korrelate der emotionalen Beziehungen aus prinzipiellen Gründen nicht bestehen können. Was bestehen kann, muss nämlich ein Objektiv sein, und Dignitative und Desiderative sind eben keine Objektive. Sie bilden gegenständliche Kategorien sui generis, für die die Frage nach ihrem Bestand (und, wenn es darum geht, natürlich auch nach ihrer Existenz) überhaupt keinen Sinn macht. (Meinong 1917, S. 405) Das, was unter Umständen bestehen kann und was das objektive Fundament der Richtigkeit einer emotionalen Beziehung bildet, ist hingegen das Objektiv eines besonderen Urteils (bzw. einer Annahme). Es handelt sich um das Urteil, in dem von dem Voraussetzungsgegenstand der ursprünglichen Gemütsbeziehung die entsprechende Wertbestimmung prädiziert wird. Betrachten wir das Schema auf der folgenden Seite. In dem oberen Teil des Schemas haben wir das ursprüngliche emotionale Phänomen. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass es sich um ein einfaches Wertgefühl handelt. Aus dem Dignitativ dieses Wertgefühls kann dann die entsprechende Wertbestimmung gewissermaßen „abstrahiert“ werden, wodurch sie für eine „normale“ urteilsbzw. annahmenmäßige Prädikation zugänglich wird. Diese Prädikation sehen wir im unteren Teil unseres Schemas; und ein Objektiv, das dieser Prädikation entspricht, kann – so lautet die These Meinongs – in einem ganz normalen Sinne bestehen, wodurch die objektive Grundlage der Richtigkeit der entsprechenden Wertung gewährleistet sein soll. In Meinongs Werttheorie würde also die Richtung der Erklärung im Vergleich zu Brentano und Marty um hundertachtzig Grad umgedreht.
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kapitel 5 Wertgefühl (positives;bezüglich des Objektivs, dass A ist)
Dignitativ (+) Akt
Gefühlsinhalt
Akt
U/A-Inhalt
Seinsobjektiv A ist
Akt
V-Inhalt
A
Subjekt psychologische Immanenz
Eine Art abstraktiver Gegenüberstellung
Dignitativ (+) Urteil (dass es gut ist, dass A ist)
Akt
Gefühlsinhalt
Akt
U/A-Inhalt
Seinsobjektiv A ist
Akt
V-Inhalt
A
Subjekt Akt
U-Inhalt
psychologische Immanenz
Objektiv Es ist gut, dass A ist
gegenstandstheorie (1904–1920)
245
Der Grund für die Richtigkeit eines Werturteils der Form „Die Existenz von A ist gut“ liegt nach der Auffassung von Brentano und Marty darin, dass das entsprechende positive Gefühl in Bezug auf die Existenz von A richtig ist; und wenn man ein objektives Fundament für diese Richtigkeit geben will, dann muss man von den objektiv bestehenden Wertverhalten reden. Bei Meinong finden wir zwar ebenfalls solche Wertverhalte (Dignitative und Desiderative), er sagt aber etwas überraschend, dass die gegenständliche Kategorie, zu der sie gehören, das Bestehen ausschließt. Es macht also keinen Unterschied, ob ein gegebenes Dignitativ oder Desiderativ einem richtigen oder einem unrichtigen emotionalen Phänomen entspricht. Alle Dignitative und Desiderative sind „gleich außerseiend“, und es gibt dementsprechend keine direkten Richtigmacher für emotionale Phänomene. Aus der theoretischen Perspektive von Brentano und Marty würde dies bedeuten, dass wir auch für das entsprechende Werturteil keinen Wahrmacher haben, und das ist der Grund, warum man oft den Eindruck hat, dass sich die Werttheorie Meinongs in einem Kreis bewegt. In Wirklichkeit haben wir es hier aber zunächst mit keiner Zirkularität, sondern lediglich mit der Umkehrung der theoretischen Reihenfolge zu tun. Bei Meinong gibt es zwar keine direkten Richtigmacher für emotionale Phänomene, die dann als indirekte Wahrmacher für die entsprechenden Werturteile fungieren könnten; das bedeutet aber nur, dass die Wahrheit eines Werturteils als primär im Vergleich zur Richtigkeit des entsprechenden emotionalen Phänomens betrachtet werden muss. Bei Marty reduziert sich die Wahrheit des Urteils „Die Existenz von A ist gut“ auf die Richtigkeit das positiven Gefühls in Bezug auf die Existenz von A; und diese liegt wiederum im Bestehen des entsprechenden Wertverhalts. Bei Meinong ist es umgekehrt: Die Richtigkeit des Gefühls findet ihr Fundament in der Wahrheit des Werturteils, und das heißt letztlich: im Bestand des entsprechenden Objektivs. Der Einwand der Zirkularität gegen die Theorie Meinongs kann allerdings auf einer anderen Stufe wieder aufgerollt werden. Angesichts der Tatsache, dass die Wahrheit eines Werturteils bei Meinong als primär im Vergleich zur Richtigkeit eines emotionalen Phänomens betrachtet werden muss, scheinen nämlich die emotionalen Phänomene ihre zentrale Rolle zu verlieren. Bei Brentano waren sie deswegen so wichtig,
246
kapitel 5
weil sie den eigentlichen Ursprung sittlicher Erkenntnis bildeten. Dem war aber nur deswegen so, weil ihre Richtigkeit auf die Wahrheit der korrelativen Werturteile prinzipiell unreduzierbar war. Bei Meinong ist nun die Wahrheit solcher Werturteile primär, und es stellt sich dementsprechend die Frage, ob er die gegenständlichen Korrelate der emotionalen Phänomene überhaupt noch braucht. Die Antwort auf diese Frage lautet, dass die gegenständlichen Korrelate der emotionalen Phänomene bei Meinong doch unverzichtbar sind. Trotz der Tatsache, dass die Richtung der Begründung bei den emotionalen Phänomenen und Werturteilen umgekehrt wurde, bleiben sie nämlich bei Meinong als die einzige Quelle des Begriffs eines Wertes. In einem Werturteil, in dem man etwas als gut oder schlecht bezeichnet, wird von einem Sachverhalt ein „Wertprädikat“ ausgesagt. Ein solches Wertprädikat ist aber bei Meinong kein primitives konzeptuelles Element, sondern es muss erst aus einem Dignitativ oder Desiderativ abstrahiert werden. Das ist also der Sinn, in dem die These Humes auch bei Meinong gilt. Die Wahrheit eines Werturteils ist zwar primär im Vergleich zur Richtigkeit des entsprechenden emotionalen Phänomens. Gäbe es aber keine objektiven Korrelate der emotionalen Phänomene, könnte auch kein Werturteil zustande kommen, denn man hätte in diesem Fall keine Entität, aus der das gewünschte Wertprädikat abstrahiert werden könnte. Die emotionalen Phänomene und deren gegenständliche Korrelate sind also gegenüber den Werturteilen und den korrelativen Wertobjektiven doch in einem wichtigen Sinne primär. Die letzteren wären nämlich ohne die ersteren weder psychologisch noch gegenstandstheoretisch möglich. Angesichts einer derartigen „konzeptuellen Abhängigkeit“ eines Werturteils von dem entsprechenden emotionalen Phänomen stellt sich aber natürlich von neuem die Frage, ob es nicht doch etwas in dem korrelativen Dignitiv oder Desiderativ sein muss, das über das Bestehen des relevanten Wertobjektivs entscheidet. Wir werden nicht zu entscheiden versuchen, ob Meinongs Theorie der Gegenstände der emotionalen Akte wirklich überzeugend funktioniert. Wir haben sie hier der Vollständigkeit halber dargestellt; im Weiteren werden wir uns allerdings auf denjenigen Teil der Meinong’schen Gegenstandstheorie konzentrieren, der die Gegenstände der intellektuellen Akte betrifft.
gegenstandstheorie (1904–1920) 9. Bündel-Theorie
VERSUS
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Substrat-Theorie
Wir haben gesehen, dass der frühe Meinong eine starke Tendenz hatte, die individuell-konkreten Gegenstände als Bündel von (individuellen) Eigenschaften aufzufassen. Diese Tendenz verliert er aber definitiv, sobald die propositionalen Entitäten ins Zentrum seines theoretischen Feldes rücken. Wie wir gesehen haben, betrachtet er als die Hauptform des Objektivs die „Russellsche“ Form: ∃xFx ∧ Gx ∧ In dieser Form ist die syntaktische Funktion des Quantors derart deutlich, dass es sehr schwierig ist, dem Gedanken an ein vereinigendes Substrat, das erst die Mehrheit der Eigenschaften zu einem einheitlichen Konkretum macht, zu widerstehen. In der Abhandlung Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens (1906) kritisiert Meinong seine früheren Ansichten: „Jedermann weiß, dass es keine Farbe geben kann ohne Ausdehnung, und dass es Farbe mit Ausdehnung zusammen mindestens nicht gibt ohne allerlei taktile und andere Qualitäten. Die hierin zutage tretende Unselbständigkeit einzelner Qualitäten legt es, wie ich an mir selbst erfahren habe, sehr nahe, die natürliche Selbständigkeit und damit das Wesen der Substanz oder des Dinges darin zu suchen, dass es eben den Komplex der gegenseitig sozusagen aufeinander angewiesenen Eigenschaften darstelle.“ (Meinong 1906, S. 395)
Diese Auffassung sei aber grundverkehrt. Die Gegenüberstellung von Einfachheit und Zusammengesetztheit, die für die Bündel-Auffassung charakteristisch ist, hat für den Begriff des Dings – für den, wie Meinong sagt, „Dinggedanken“ – überhaupt keine Bedeutung, denn „dieser Gedanke kommt bereits ohne Rücksicht auf anderweitige Unselbständigkeiten im Gegensatz der Bedeutungen ,Grün‘ und ,Grünes‘ zur Geltung. Wichtig ist nun, dass für diesen Gegensatz das Moment der Einfachheit oder Zusammengesetztheit gar nicht in Frage kommt, – ebensowenig, ob man sich im Fall der Zusammengesetztheit einen Träger mehrerer Eigenschaften oder eine aus Trägern je einer Eigenschaft angemessen gebildete Einheit denkt.“ (Meinong 1906, S. 395)
Die bloße Zusammenfügung von abstrakten Eigenschaften kann also – so die Überzeugung Meinongs um 1906 – nie zu einem Konkretum führen. Und, was noch mehr sagen will, sie ist gar nicht notwendig, um
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kapitel 5
ein Konkretum zu erreichen. Denn auch ein einfaches Grünes sei ein Konkretum und zwar im Gegensatz zu Grün. „Prinzipiell kann man also für jede, auch für eine streng einfache Eigenschaft den Gegensatz der reinen und der substantialisierten Eigenschaft oder der Eigenschaft am Dinge bilden. ,Grünes‘ als solches muss darum auch nicht mehr Attribute in sich schließen als ,Grün‘. Wer aber daraufhin geneigt wäre, zu meinen, zwischen ,Grünes‘ und ,Grün‘ bestehe im Grunde kein wirklicher Unterschied, der wird des letzteren leicht gewahr, wenn er so triviale Tatsache beachtet, dass ein Grünes zwar grün ist, Grün dagegen ebenso natürlich nicht wieder grün.“ (Meinong 1906, S. 395)
Wie wir sehen, unterscheidet Meinong hier wohl zwischen zwei Arten von Eigenschaften, die er später als einfache Abstrakta (Grün) einerseits und unvollständige Gegenstände (Grünes) andererseits klassifiziert. Die letzteren werden übrigens zuletzt als Objektive interpretiert. Was also ein Konkretum von einem Abstraktum unterscheidet, ist die Struktur des Zukommens einer Eigenschaft, die nach der späten Lehre Meinongs letztlich als eine propositionale Struktur eines Objektivs zu interpretieren ist. Erst wenn man mit den Eigenschaften operiert, in denen eine solche (im Grunde propositionale) Struktur bereits vorhanden ist, kann man aus ihnen ein konkretes Ding bilden. Das meint Meinong, wenn er sagt, dass man sich ein Ding als „eine aus Trägern je einer Eigenschaft angemessen gebildete Einheit“ denken kann. „Wer aus irgend einem Grunde letzteres tut und dabei wohl gar Eigenschaften zusammenzusetzen meint, indes er bereits Dinge zu einem neuen komplexen Dinge zusammensetzt, gelangt dann besonders leicht zu der Meinung, aus den Eigenschaften das Ding zusammengesetzt zu haben.“ (Meinong 1906, S. 395)
Unter den Philosophen, die dieser Illusion unterlagen, befand sich wohl auch der junge Meinong, der in seinen Hume Studien II dem Begriff der Substanz die folgende Bemerkung widmete: „[D]er schwerfällige Ausdruck ,Identität der Substanz‘ hat hier gar keine andere Funktion, als die Gleichheit des Ortdatums für beide Attribute zu sichern [ ].“ (Meinong 1882, S. 87)
Das, was man mit der „Substanz“ meint, ist nach dieser Textstelle eine Art „Individuator“, der uns erlaubt, verschiedene Individuen auseinander zu halten; und als solcher kann die örtliche Position dienen, die Meinong
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(wohl unter Einfluss von Brentano) als eine monadische absolute Eigenschaft des betreffenden Gegenstands interpretierte. Diese örtliche Position ist also eine Eigenschaft unter anderen. Ihre privilegierte Stellung besteht lediglich darin, dass es, wie Brentano und Meinong glaubten, unmöglich ist, dass sich zwei Individuen am selben Ort (zur selben Zeit) befinden. Deswegen kann man solche Ortsdaten konventionell „Substanzen“ nennen, sie gehören aber zur selben ontologischen Kategorie wie die anderen Eigenschaften. In diesem Sinne gibt es also beim jungen Meinong keine Substanzen. Dinge sind Bündel von Eigenschaften. Die Überzeugung, dass man ein konkretes Ding einfach aus den Eigenschaften zusammensetzen kann, war aber 1906 endgültig vorbei; und was der für das Konkretum notwendige „Dinggedanke“ eigentlich ist, versucht Meinong noch viel später, im Vierten Kolleg über Erkenntnistheorie (1917/1918), zu definieren. Die Definition „Ding [ist das,] was Eigenschaften hat“, sagt nach Meinong „zu wenig, weil auch Eigenschaft Eigenschaften haben kann.“ Der Zusatz „[und] was zugleich selbst nie Eigenschaft ist“ ist nach ihm „immer noch unzureichend, weil auch Mehrheit [der Dinge] Eigenschaften hat und nicht selbst Eigenschaft ist.“ Die Definition, die Meinong schließlich akzeptiert, lautet: Ein Ding ist etwas, „was Eigenschaften hat, nie selbst eine Eigenschaft ist, und Einsheit ist.“ (Meinong 1917/18, S. 365) Man muss freilich zugeben, dass dieser Dingbegriff ziemlich „dünn“ ist. Meinong selbst sagt, dass man in ihm von den Bestimmungen, die man traditionell dem Substanzbegriff zugeordnet hat, eigentlich nur Selbstständigkeit findet. (Meinong 1917/18, S. 365) Diese „Inhaltslosigkeit“ ist aber gerade das, was man erwarten sollte. Der Meinong’sche Dinggedanke enthält in der Tat nichts mehr als eine gegenstandstheoretische Entsprechung der syntaktischen Form der Quantifizierung „∃x x ∧ x ∧ “, die man in der Form „∃xFx ∧ Gx ∧ “ findet. Wenn man unbedingt nach den klassischen Parallelen hierzu suchen will, dann entspricht diesem Begriff nicht die aristotelische Substanz sondern eher seine Materie.27
27
In einer der Bedeutungen, die der Begriff der Materie bei Aristoteles hat.
KAPITEL 6
MEINONGS GEGENSTÄNDE UND DIE INTENTIONALE BEZIEHUNG
In unserer bisherigen Analyse haben wir versucht, möglichst nahe an Meinongs Texten zu bleiben. Wir haben versucht, in erster Linie zu eruieren, was Meinong tatsächlich gesagt hat. Das hatte zur Konsequenz, dass wir die wichtigsten Begriffe und Thesen seiner Gegenstandstheorie nur soweit explizieren konnten, wie es die entsprechenden Stellen in Meinongs Texten zulassen. In vielen Punkten haben wir dabei bereits gesehen, dass man bei Meinong verschiedene Ansätze finden kann, die zu ganz verschiedenen Auffassungen führen können (wie z.B. die Möglichkeit, allgemeine Begriffe entweder als unvollständige Gegenstände oder als Mengen von vollständigen Gegenständen aufzufassen); und wir haben auch erfahren, dass viele wichtige Begriffe recht vage bleiben (wie z.B. der Sinn, in dem es Meinong’sche Gegenstände gibt, oder die Unterscheidung zwischen Existenz und Bestand). Wir verlassen jetzt diese exegetische Einstellung, um zu einer möglichst kohärenten Interpretation und Bewertung der Gegenstandstheorie zu gelangen. In den folgenden Kapiteln werden wir verschiedene Möglichkeiten aufzeigen, wie die Uneindeutigkeiten und Unklarheiten der Theorie Meinongs beseitigt werden können. Um aber den Leser vor einer möglichen Enttäuschung zu bewahren, sagen wir bereits jetzt, dass wir letztendlich keine Präzisierung erreichen werden, die alle Aspekte der Meinong’schen Lehre zu einem kohärenten Bild vereinigt. Dieses Ergebnis kann auch so interpretiert werden, dass es so etwas wie die Gegenstandstheorie Meinongs streng genommen nicht gibt. Dieses Ergebnis darf allerdings nicht so gedeutet werden, als ob sich deshalb die Erforschung von Meinongs Philosophie überhaupt nicht lohnen würde. Meinong ist es sehr wohl gelungen, wichtige Fundamente für eine neue philosophische Zugangsweise zu den traditionellen ontologischen und erkenntnistheoretischen Problemen zu legen. Diese 251
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kapitel 6
Zugangsweise bestimmt den Sinn, in dem man von einer theoretischen Einheit seiner gegenstandstheoretischen Untersuchungen sprechen kann. In diesem Sinne gibt es also doch die Gegenstandstheorie. Wie gesagt, werden wir in den nächsten Kapiteln verschiedene Präzisierungen der Meinong’schen Gegenstandstheorie betrachten. Ihre Plausibilität hängt zum großen Teil davon ab, wie gut oder wie schlecht sie sich in die Meinong’sche Analyse der intentionalen Beziehung einbauen lassen, denn das war der eigentliche Ausgangspunkt für seine Gegenstandstheorie. Wir haben gesehen, dass Meinongs Intentionalitätstheorie im Laufe der Zeit viele verschiedene Gesichter gezeigt hat. Um ein möglichst kohärentes Bild einer „Meinong’schen“ Intentionalitätsthorie zu skizzieren, lassen wir seine frühe „Brentano’sche“ Intentionalitätstheorie ebenso außer Acht wie die Anfänge der gegenstandstheoretischen Periode. Wir konzentrieren uns in erster Linie auf die späte Lehre mit dem ganzen Instrumentarium der propositionalen Entitäten und unvollständigen Gegenstände. 1. Meinongs Intentionalitätstheorie als eine reine OT Es waren, wie gesagt, in erster Linie Fragen der Intentionalitätstheorie, die Meinong zur Entwicklung seiner Theorie der Gegenstände jenseits von Sein und Nichtsein veranlasst haben. Wenn wir die Einführung der außerseienden Gegenstände vor diesem Hintergrund betrachten, sieht es so aus, als ob das Modell der intentionalen Beziehung, das Meinong zunächst faszinierte, das Modell einer Objekt-Theorie (OT) war. Wir erinnern uns, dass eine OT ihre postulierten Entitäten in der Zielposition der intentionalen Beziehung situiert, und es scheint, dass Meinongs außerseiende Gegenstände sich für diese Rolle hervorragend eignen. Meinongs Gegenstände haben zwei für jede OT sehr wichtige Eigenschaften. Erstens sind sie auch dann vorhanden, wenn die entsprechende intentionale Beziehung vorphilosophisch als „untreffend“ bzw. „gegenstandslos“ zu klassifizieren ist; und zweitens haben sie ihre (konstitutorischen) Eigenschaften in genau demselben Sinne, wie sie die Gegenstände einer „treffenden“ intentionalen Beziehung haben sollen. Eine intentionale Beziehung, die ihre Zielgegenstände in einem Meinong’schen Universum sucht, findet also immer einen passenden
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 253 Gegenstand, dessen ontologische Struktur zunächst ganz „normal“ aussieht, bis auf den winzigen Punkt, dass dieser Gegenstand manchmal eine merkwürdige (wohlgemerkt: außerkonstitutorische) Eigenschaft der Nicht-Existenz (bzw. des Nicht-Bestehens) hat. Es scheint also, dass eine Meinong’sche Intentionalitätstheorie nach einem sehr einfachen „Brentano’schen“ Muster interpretiert werden kann. Jedes psychische Phänomen hat tatsächlich seinen Gegenstand. Wenn jemand an einen Zentauren denkt, steht vor ihm ein Zentaur „in eigener Person“, und wenn jemand ein rundes Dreieck vorstellt, hat er in dieser Weise ein rundes Dreieck vor sich. Die Meinong’sche Version ist darüber hinaus viel plausibler als die Brentano’sche, denn die drei problematischen Punkte, die die Brentano’sche Intentionalitätslehre aufweist, werden in der Meinong’schen Version beseitigt. Erstens, es ist von vornherein klar, dass der Zielgegenstand dem Subjekt in keinem Sinne immanent ist, der irgendetwas mit der psychologischen oder – wie es Husserl sagen würde – „reellen“ Immanenz des psychischen Inhalts zu tun hat. Zweitens, in dem Begriff des Zielgegenstands ist keine ontologische Abhängigkeit vom psychischen Akt, in dem er erfasst wird, involviert. Das schließt natürlich nicht aus, dass es einige spezielle Fälle geben kann, in denen die Gegenstände der intentionalen Beziehung von den betreffenden Subjekten tatsächlich seinsabhängig sind. In allen Fällen, in denen sich jemand auf seine eigenen psychischen Akte (oder, wenn es darum geht, auch auf seine anderen Erzeugnisse, wie z.B. auf das Essen, das er gerade vorbereitet hat) intentional richtet, ist der Gegenstand seiner Akte von ihm in der Tat ontologisch abhängig. Wichtig ist aber, dass die ontologische Seinsabhängigkeit des Zielgegenstands nicht zum Wesen der intentionalen Beziehung gehört, so wie es bei der OT-Interpretation der Theorie Brentanos der Fall war. Drittens muss man im Rahmen der Meinong’schen Version der OT auch nicht annehmen, dass das, was dem Subjekt „vor Augen steht“, zusätzlich noch „demodifiziert“ werden muss. Denn im Gegensatz zu den Brentano’schen immanenten Objekten hat ein Meinong’scher Gegenstand seine (konstitutorischen) Eigenschaften im ganz normalen Sinne. Die ontologische Struktur dessen, was wir laut der OT-Interpretation der Meinong’schen Lehre in der Zielposition des
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kapitel 6
psychischen Aktes finden, unterscheidet sich nicht von der Struktur, die wir dort vorphilosophisch situieren würden. 2. Die unvollständigen Gegenstände als ein Problem für eine reine OT-Interpretation Die Vorteile der OT-Interpretation, auf die wir hingewiesen haben, betreffen vor allem die Lösung des Problems der Existenz-Generalisierung. Eine Theorie, die in die Zielposition des psychischen Aktes einfach den intendierten Gegenstand stellt, kann dieses Problem auf denkbar einfachste Weise lösen. In ihr gilt die Regel der Existenz-Generalisierung direkt und ausnahmslos. Wir müssen nur die Existenz, von der diese Regel spricht, ausreichend weit (bzw. ausreichend schwach) verstehen, so dass sie auch auf die Gegenstände zutrifft, die im vorphilosophischen Sinne nicht-existierend sind. Kurz: Wenn die Meinong’sche Version der Regel der Existenz-Generalisierung nicht von der Existenz, sondern vom Außersein des entsprechenden Gegenstands spricht, dann funktioniert sie reibungslos. Wenn wir den Meinong’schen Außersein-Quantor als „∃M “ bezeichnen, dann gilt: Fa ⊃ ∃M xFx Die „normalen“, ontologisch verpflichtenden Quantoren können dann mittels des Außersein-Quantors und des Existenz-Prädikats (E!) folgendermaßen definiert werden: ∃xFx ≡ ∃M Fx ∧ E!x Die normale Quantifizierung impliziert natürlich das Meinong’sche Außersein: ∃xFx ⊃ ∃M xFx Die umgekehrte Implikation ∃M xFx ⊃ ∃xFx
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 255 gilt aber nicht – genauso wie es sein sollte, denn nach Meinong gibt es, wie wir wissen, Gegenstände, die nicht existieren, was man folgendermaßen ausdrücken kann: ∃M x¬E!x Diese Formel ist, im Gegensatz zur ähnlichen Formel ∃x¬E!x nicht widersprüchlich, was eben den wichtigsten Unterschied zwischen einer ontologisch verpflichtenden und einer ontologisch unverpflichtenden Quantifizierung illustriert. Eine reine OT-Interpretation der Meinong’schen Intentionalitätslehre hat aber einen deutlichen Schwachpunkt, der mit der zweiten problematischen Regel – der Regel der Substituierbarkeit – zusammenhängt. Wir erinnern uns, dass man diese Regel mittels Identität (bzw. Äquivalenz) der postulierten Entitäten nur wiederherstellen kann, wenn man voraussetzt, dass die postulierten Entitäten viel „feiner“ differenziert sind als „normale“ Gegenstände. Diese Forderung hängt mit dem Postulat der epistemischen Transparenz der in der Intentionalitätstheorie eingeführten Entitäten (RET) zusammen, von der wir im ersten Kapitel gesprochen haben. Wir haben gesehen, dass der wahre Grund, warum die Regel der Substituierbarkeit in den intentionalen Kontexten scheitert, darin besteht, dass es normalerweise keine Garantie gibt, dass das relevante Subjekt von der Identität der Referenzobjekte weiß. Der Sieger von Jena ist zwar dieselbe Person wie der Besiegte von Waterloo, aber damit diese zwei Kennzeichnungen in intentionalen Kontexten füreinander substituiert werden können, muss man voraussetzen, dass das relevante Subjekt über diese Identität Bescheid weiß. Was aber noch wichtiger ist, ist die Tatsache, dass ein solches Wissen des Subjekts nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung der Substituierbarkeit darstellt. Gäbe es nämlich eine Garantie, dass das relevante Subjekt das erforderliche Wissen besitzt, könnten wir ohne weiteres die Substituierbarkeitsregel anwenden. Das Ergebnis dieser Überlegung ist, dass wir die Substituierbarkeitsregel durch die Einführung von speziellen Entitäten nur retten können,
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kapitel 6
wenn diese Entitäten so „einfach“ bzw. „dünn“ sind, dass ihre Identität oder Verschiedenheit (bzw. Äquivalenz oder Nicht-Äquivalenz) vom betreffenden Subjekt nicht „übersehen“ werden kann. In diesem Sinne müssen diese Entitäten für das betreffende Subjekt epistemisch transparent sein. Die Entitäten, die beim späten Meinong dieses Postulat erfüllen, heißen unvollständige Gegenstände. Sie enthalten nur diejenigen Eigenschaften, die vom Subjekt explizit gemeint sind. Ein unvollständiger Sieger von Jena hat also nur die einzige (konstitutorische) Eigenschaft Sieger-von-Jena-zu-sein, und ein unvollständiger Besiegter von Waterloo hat ebenfalls nur die einzige (konstitutorische) Eigenschaft Besiegtervon-Waterloo-zu-sein.1 Da es sich hier klarerweise um zwei verschiedene Eigenschaften handelt, sind auch die zwei unvollständigen Gegenstände voneinander verschieden, und wir haben somit eine einfache Erklärung, warum die Substituierungsregel in ihrer ursprünglichen Form scheitert. Die Entitäten, die bei der Erklärung des Scheiterns der Substituierungsregel die erklärende Rolle spielen, sind also unvollständige Gegenstände. Wenn man solche unvollständigen Gegenstände einmal eingeführt hat, kann man sie (um die Einheitlichkeit der Erklärung zu steigern) auch für die Wiederherstellung der Regel der ExistenzGeneralisierung verwenden. Denn auch alle unvollständigen Gegenstände sind selbstverständlich außerseiend. Die unvollständigen Gegenstände übernehmen in diesem Fall beide Aufgaben, und wir müssen sie in der Zielposition des Aktes ansiedeln, wenn wir dem Muster der OT-Interpretation weiterhin konsequent folgen wollen. Wie wir aber gesehen haben, äußert sich Meinong explizit gegen eine solche Annahme. Was normalerweise in der Zielposition des Aktes steht, sind nach ihm vollständige Gegenstände. Unvollständige Gegenstände brauchen wir nur deswegen, weil ein vollständiger Gegenstand von einem „endlichen“ Subjekt nie vollständig erfasst werden kann (ein vollständiger Gegenstand ist für ein endliches Subjekt eben nicht epistemisch transparent). Ein endliches Subjekt bezieht sich also auf vollständige
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Wir sehen hier davon ab, dass diese zwei Eigenschaften natürlich keine ontologisch einfachen Eigenschaften sind.
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 257 Gegenstände gewissermaßen mittels der unvollständigen Gegenstände, die dementsprechend in der Vermittlungsposition zu stehen scheinen. Vor diesem Hintergrund scheint sich die Meinong’sche Theorie eher in die Richtung einer MT zu bewegen, denn, wenn wir schon gezwungen sind, die unvollständigen Gegenstände in der Vermittlungsposition einzuführen, dann gibt es keinen Grund, warum wir nicht auch sie als geeignete Werte für die problematische existentielle Quantifizierung betrachten sollten. Wir hätten dann eine einheitliche Theorie, in der die beiden problematischen Regeln von derselben Art von Entitäten sprechen würden – nämlich von den vermittelnden unvollständigen Gegenständen. 3. Die Eliminierung der unvollständigen Gegenstände Die unvollständigen Gegenstände sind aber ihrerseits keineswegs unproblematisch. Wir erinnern uns, dass sie dadurch charakterisiert sind, dass sie eine unvollständige Kollektion von (konstitutorischen) Eigenschaften haben. Das ontologische Prinzip des ausgeschlossenen Dritten, das für alle „normalen“ Gegenstände gilt: ∀x∀x ∨ ¬x wird hier außer Kraft gesetzt. Die Unvollständigkeit eines Gegenstands wäre also, wie es scheint, folgendermaßen zu definieren: a ist unvollständig = Df ∃¬a ∨ ¬a Wenn ein Gegenstand a unvollständig ist, dann gibt es zumindest eine Eigenschaft , bezüglich der a unbestimmt ist, so dass weder die Behauptung, dass a hat, noch die Behauptung dass a nicht hat, wahr ist. Russell hat argumentiert, dass die Einführung von solchen Gegenständen die gesamte Gegenstandstheorie sofort widersprüchlich macht, und es ist in der Tat schwer, dieser Konsequenz zu entgehen. Wenn wir nämlich annehmen, dass sich die Negation einer Disjunktion wie
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kapitel 6
üblich nach dem de Morgan’schen Muster als eine Konjunktion von Negationen umformulieren lässt: ¬p ∨ q ≡ ¬p ∧ ¬q und dass eine doppelte Negation einer Affirmation gleicht: ¬¬p ≡ p dann bekommen wir, wie es scheint, direkt einen expliziten Widerspruch: a ist unvollständig = Df ∃¬a ∧ a Impliziert also die Einführung der unvollständigen Gegenstände, dass wir die klassische Logik in diesem Maße außer Kraft setzen müssen? Wir werden auf dieses Problem im Zusammenhang mit den explizit widersprüchlichen Gegenständen, von denen Meinong ebenfalls gesprochen hat, noch näher eingehen müssen. Jetzt bemerken wir aber, dass sich diese Schwierigkeit im Rahmen der Meinong’schen Gegenstandstheorie erstaunlich einfach lösen lässt. Wir haben bereits mehrmals gesagt, dass sich im reichen Meinong’schen Universum allgemeine Begriffe ohne Probleme als entsprechende Mengen vollständiger Gegenstände interpretieren lassen. Für den Begriff „etwas Rotes“ brauchen wir weder die Eigenschaft Rot, noch den unvollständigen Gegenstand etwas Rotes, der nur diese Eigenschaft hat. Alles, was wir brauchen, ist eine bestimmte Menge vollständiger Gegenstände (intuitiv: diejenige Menge, die alle und nur diejenigen Gegenstände, die rot sind, als Elemente enthält, d.h. die Menge {x: x ist rot}). Im Rahmen der so uminterpretierten Meinong’schen Intentionalitätstheorie würde also in der Vermittlungsposition anstatt eines unvollständigen Gegenstands eine solche Menge situiert, und als Zielentität würde jetzt jedes Element dieser Menge fungieren können. Wer beispielsweise an ein Pferd denkt, „benutzt“ in seinem Denken die Menge von allen außerseienden Pferden und bezieht sich dadurch auf jedes dieser Pferde.2 2
Eine solche Theorie kann man in Lewis 1986 finden, mit dem Unterschied, dass alle Lewis’schen Gegenstände existieren.
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 259 Eine intentionale Beziehung lässt sich unter diesen Voraussetzungen folgendermaßen definieren: s bezieht sich intentional auf einen -Gegenstand = Df ∃M x∀M yy ≡ y ∈ x ∧ Rsx „Ein Subjekt s bezieht sich auf einen -Gegenstand“ heißt danach definitorisch, dass es in einer bestimmten Relation zu einer vermittelnden Entität steht. Wir haben diese Relation „R“ genannt. Wie wir uns erinnern, wird diese Relation nach der offiziellen Meinong’schen Lehre zusätzlich noch durch den mentalen Inhalt vermittelt. Diesen Aspekt seiner Theorie lassen wir aber im Moment außer Acht. Die vermittelnde Entität ist die Menge aller -Gegenstände, wobei der Sinn, in dem es sowohl diese Menge als auch die -Gegenstände gibt, der ontologisch unverpflichtende Sinn des Außerseins ist. Diese Lösung sieht in der Tat sehr elegant aus, und angesichts der oben erwähnten Schwierigkeiten mit dem Begriff des unvollständigen Gegenstands ist sie auch sehr attraktiv. Der Punkt, der ihre Attraktivität in Frage stellt, hängt aber mit dem Postulat der epistemischen Transparenz zusammen. Die Idee eines unvollständigen Gegenstands im Sinne Meinongs ist aus dieser Perspektive sehr intuitiv. Die Behauptung, dass ein Gegenstand, der nur diejenigen Eigenschaften hat, die von einem Subjekt explizit gemeint werden, für dieses Subjekt epistemisch transparent ist, erscheint uns beinahe als analytisch wahr. Wenn wir hingegen einen solchen unvollständigen Gegenstand durch eine Menge vollständiger Gegenstände ersetzen, die diese Eigenschaften haben, gerät die Idee der epistemischen Transparenz sofort in große Schwierigkeiten. Was sollte es bedeuten, dass eine solche Menge für das betreffende Subjekt epistemisch transparent ist? Es kann nicht heißen, dass es alle ihre (unendlich vielen) Elemente irgendwie überblickt und aus diesem Grund in irgendeinem Sinne „weiß“, dass sie nur diese bestimmten Eigenschaften gemeinsam haben. (Denn das müsste ja für ein endliches Subjekt genauso unmöglich sein, wie ein erschöpfendes Erfassen eines vollständigen Gegenstands.) Nein, es ist vielmehr so, dass die relevante Menge von vornherein so „gedacht werden“ muss, dass sie alle und nur diejenigen Gegenstände als Elemente enthält, die die gewünschten Eigenschaften haben. Das bedeutet aber, dass die betreffende Menge
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kapitel 6
von vornherein durch die gemeinsamen Eigenschaften ihrer Elemente definiert wurde. Das heißt aber nichts anderes als dass es in Wirklichkeit diese Eigenschaften sind, die dem Subjekt „vor Augen stehen“ und somit vom epistemischen Standpunkt weiterhin primär sind. Bei Meinong haben sie die Form der unvollständigen Gegenstände, und so ist der Versuch, die unvollständigen Gegenstände als Mengen unvollständiger Gegenstände zu definieren, aus epistemischer Perspektive zirkulär. Rein ontologisch betrachtet lassen sich also die unvollständigen Gegenstände ohne Probleme als entsprechende Mengen definieren; wenn wir aber ihre Rolle im Rahmen der Intentionalitätstheorie etwas genauer unter die Lupe nehmen, stoßen wir auf epistemische Besonderheiten, die eine solche Definition in Frage stellen. Eine besondere (und für einen eingefleischten Ontologen oft auch äußerst irritierende) Schwierigkeit der intentionalitätstheoretischen Untersuchungen liegt eben darin, dass die involvierte Ontologie epistemisch bedingt ist. In den meisten ontologischen Fragen können wir von den epistemischen Aspekten ruhig absehen, wo es aber um die Ontologie der Intentionalität geht, sind die epistemischen Fragen oft zentral. 4. OT und MT im Rahmen der propositionalen Intentionalität Es scheint also, dass die Intentionalitätstheorie Meinongs mit ihrer Kategorie der unvollständigen Gegenstände, ähnlich wie Brentanos Theorie des immanenten Objekts, zwischen der OT und der MT oszilliert. Es gibt aber einen Aspekt der Meinong’schen Lehre, der dafür sorgt, dass diese Oszillation am Ende vielleicht nicht so wichtig ist. Eine wichtige These des späten Meinong war nämlich, dass jede intentionale Beziehung eine propositionale Intentionalität voraussetzt. Insbesondere ist nach Meinong jeder unvollständige Gegenstand wie ein Rotes oder ein Pferd im Grunde ein Objektiv. Im Rahmen einer propositionalen Intentionalität ist aber der Unterschied zwischen einer OT und einer MT viel weniger eindeutig, als im Fall einer nominalen Intentionalität. Wenn wir an eine nominale intentionale Beziehung denken, etwa an eine Vorstellung des Morgensterns, neigen wir meistens zur Auffassung, dass in der Zielposition dieser intentionalen Beziehung ein vollständiger
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 261 Gegenstand (nämlich der Planet Venus) stehen muss. In einer solchen Vorstellung stellen wir ja sicherlich keinen Gegenstand vor, der nur eine einzige Eigenschaft Morgenstern-zu-sein hätte.3 Es scheint also, dass wir hier tatsächlich einen vollständigen Gegenstand unvollständig vorstellen (was nach Meinong dadurch möglich ist, dass wir in dieser intentionalen Beziehung einen unvollständigen „Vermittler“ verwenden, der nur die Eigenschaft Morgenstern-zu-sein hat). Wenn wir aber stattdessen eine propositionale intentionale Beziehung betrachten, so werden die Intuitionen, die die Unvollständigkeit oder Vollständigkeit des Zielgegenstands betreffen, auf einmal sehr verschwommen. Betrachten wir den Gedanken, dass der Sieger von Jena klein war. Wenn wir hier analog wie im Fall einer nominalen Intentionalität vorgehen wollten, müssten wir wahrscheinlich sagen, dass wir uns „durch“ eine unvollständige propositionale Entität (einen unvollständigen Sachverhalt) auf etwas Vollständiges beziehen. Weder die Frage, wann ein Sachverhalt als unvollständig zu bezeichnen ist, noch die Frage, was dieses „Vollständige“, das in der Zielposition steht, sein soll, ist aber einfach zu beantworten. Einen für unsere Untersuchung irrelevanten Fall von „Unvollständigkeit“ können wir gleich ausschließen. Es kann nämlich passieren, dass wir im Begriff des Siegers von Jena noch „implizit“ viele weitere Eigenschaften „mitdenken“, so dass der Sachverhalt, der nur die Eigenschaften der-Sieger-von-Jena-zu-sein und klein-zu-sein enthalten würde, ein unvollständiges Korrelat unseres Gedankens wäre. Das ist aber natürlich nicht das Problem, das uns hier beschäftigt. Denn das würde ja lediglich bedeuten, dass unsere Beschreibung des Inhalts des Gedankens, nämlich „dass der Sieger von Jena klein war“, in Wirklichkeit nicht den „ganzen“ Gedanken umfasst und in diesem Sinne unvollständig ist. Nehmen wir aber an, dass diese Beschreibung vollständig ist, dass wir also in der Tat „nur das“ denken, nämlich dass der Sieger von Jena klein war; und jetzt fragen wir noch einmal, ob man in diesem Fall den Sachverhalt, dass der Sieger von Jena klein war, als einen unvollständigen Sachverhalt klassifizieren sollte.
3
Wir sehen davon ab, dass die Eigenschaft Morgenstern-zu-sein natürlich keine ontologisch „einfache“ Eigenschaft ist.
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kapitel 6
Die erste intuitive Antwort könnte vielleicht „ja“ lauten. Eine Entität, die nur die Eigenschaften der-Sieger-von-Jena-zu-sein und klein-zu-sein involviert, kann ja unmöglich etwas ontologisch Abgeschlossenes sein. Wenn wir aber die Frage stellen, was noch hinzukommen müsste, damit wir es mit einem vollständigen Sachverhalt zu tun hätten, sehen wir sofort, dass der Begriff der Vollständigkeit in diesem Fall äußerst wackelig ist. Würde es reichen, wenn wir in den Subjekt-Term alle Eigenschaften aufnehmen, die das Wesen Napoleons konstituieren? Welches sind dann diese Eigenschaften? Gehört die Eigenschaft, dass er die Schlacht von Jena gewonnen hat, auch dazu, so dass der vervollständigte Sachverhalt etwa analytisch wäre? Stoßen wir, wenn wir die verzweigte Geschichte dieses Sachverhalts verfolgen, irgendwann nicht darauf, dass er die Schlacht von Trafalgar gegen Admiral Nelson verloren hat? Und was ist mit dem Umstand, dass der Erfolg Napoleons ein historisches Produkt der Französischen Revolution war? Wird in dieser Weise etwa die ganze Geschichte Frankreichs von dem vervollständigten Sachverhalt aufgesaugt? Warum dann nicht die ganze Geschichte der Welt? Es scheint in der Tat, dass jede Grenze rein konventionell wäre, die wir hier zwischen zwei Extremen ziehen: (i) einem äußerst dünnen Sachverhalt, der nur enthält, dass der Sieger von Jena klein war, und (ii) einem immensen Sachverhalt, der die ganze Geschichte des Universums involviert und so im Grunde einer kompletten möglichen Welt entspricht. Warum wir hier vor einer Wahl zwischen diesen zwei Extremen stehen, lässt sich übrigens relativ einfach erklären, wenn wir die immanente Logik der Problemsituation noch einmal genauer unter die Lupe nehmen. Die intentionalen Kontexte erscheinen uns deswegen als rätselhaft, weil sie nicht-extensional sind. Die Extension des ganzen intentionalen Kontexts ist nicht die Funktion der Extensionen seiner Teile; daher das Scheitern der Regel der Existenz-Generalisierung und der Regel der Substituierbarkeit. Durch die Einführung von zusätzlichen Entitäten (wie immanente Objekte Brentanos, Sinne Freges oder außerseiende Gegenstände Meinongs) wollen wir die intentionalen Kontexte wieder extensionalisieren. Ihre Extensionen sind zwar keine Funktionen von Extensionen ihrer Teile, sie sollen aber die Funktionen derjenigen Entitäten sein, die wir gerade eingeführt haben (und die oft „Intensionen“ genannt werden). Aus dieser Überlegung wird zum einen klar, dass
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 263 es unter den postulierten Entitäten auf jeden Fall solche geben muss, die eine entsprechende Feinkörnigkeit ausweisen, so dass insbesondere das Postulat der epistemischen Transparenz erfüllt werden kann. Im Fall eines Satzes ist dies natürlich erst der unvollständigste Sachverhalt in der ganzen Reihe – der Sachverhalt, der nur das enthält, was im Satz tatsächlich gesagt wird. Das zweite Element, das man aus „logischen“ Gründen noch haben muss, ist aber nur die ursprüngliche Extension; und das heißt im Fall eines Satzes, dass wir hier den maximal vervollständigten Sachverhalt haben, der (bei einem wahren Satz) der aktuellen Welt oder (bei einem falschen Satz) gewissermaßen der Gesamtheit aller nicht-aktuellen Welten entspricht. Frege sprach in diesem Kontext von dem Wahren und dem Falschen. Wenn aber die „logische“ Situation tatsächlich so aussieht, wie sollen wir dann die „phänomenologische“ Frage beantworten, ob wir hier einen vollständigen oder eher einen unvollständigen Sachverhalt vor Augen haben? Beziehen wir uns in einem Gedanken, dass der Sieger von Jena klein war, nur darauf, dass der Sieger von Jena klein war, oder eher auf die ganze aktuelle Welt, in der der genannte Sachverhalt nur als ein winziges „Teilchen“ auftritt? Keine dieser Antworten scheint uns völlig zufrieden zu stellen. Frege, der die nominalen und propositionalen intentionalen Beziehungen nach einem einheitlichen Muster analysieren wollte, nahm die zweite Antwort an. Im Rahmen einer propositionalen intentionalen Beziehung fungiert ein propositionaler „Gedanke“ als ein vermittelnder Sinn. Was hingegen in der Zielposition steht, ist entweder das Wahre oder das Falsche (Frege 1892a, S. 34), wobei das Wahre als die Gesamtheit dessen, was existiert (die aktuelle Welt), und das Falsche als die Gesamtheit dessen, was nicht existiert, interpretiert werden kann. Der Gedanke, dass der Sieger von Jena klein war, bezieht sich also nach Frege auf das Wahre (d.h. auf die aktuelle Welt als Ganzes), und er tut es „mittels“ eines Sinnes, der nur das enthält, dass der Sieger von Jena klein war. Diese Theorie sieht phänomenologisch betrachtet sicherlich ziemlich kontraintuitiv aus; diese Kontraintuitivität stammt aber zum nicht geringen Teil daher, dass Frege seine philosophische Analyse einer propositionalen Beziehung zu sehr dem intuitiven Bild einer nominalen Beziehung anpassen wollte. So sagt er beispielsweise, dass genau so, wie die nominalen Ausdrücke ihre Gegenstände nennen, auch die
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Wahrheitswerte von den vollständigen Sätzen genannt werden. Wenn man hingegen auf diese Parallele mit dem nominalen Modell verzichtet und eine propositionale Beziehung von vornherein als etwas betrachtet, das von der nominalen Intentionalität grundverschieden ist, scheint diese Kontraintuitivität zu verschwinden. Denn die zwei merkwürdigen Zielgegenstände – das Wahre und das Falsche – dienen im Grunde nur einem einzigen Zweck: der Erklärung, was es bedeutet, dass ein Gedanke wahr oder falsch ist. Anstatt die Intentionalität auf das Wahre und das Falsche auszuweiten, könnte man also ebenso gut die entsprechenden propositionalen Entitäten (Freges Gedanken) primitiv in wahre und falsche aufteilen. Die Metapher der „Verlängerung“ der Intentionalität durch Einführung des Wahren und des Falschen scheint eben nur eine Metapher zu sein. Wenn wir beachten, dass diese Metapher nur der Erklärung der Wahrheit bzw. Falschheit des entsprechenden propositionalen Inhalts dient, sehen wir auch, dass die ganze Fragestellung, was uns in einer propositionalen Intentionalität „vor Augen“ stehe, offensichtlich zu stark von der Analogie mit der nominalen Beziehung geprägt ist. Der Sinn, in dem man diese Frage in Bezug auf die nominale Intentionalität stellen kann, ist nämlich von dem Sinn, in dem sie im Rahmen der nominalen Intentionalität gestellt werden kann, sehr entfernt. Nehmen wir einen Fall, der mit der Ausdrucksweise des „vor Augen Stehens“ noch am einfachsten zu vereinbaren ist. Wir sehen, dass ein Hund eine Katze jagt. In diesem Fall ist es wieder wohl möglich (in der Tat sogar sehr wahrscheinlich), dass unser Sehen viel mehr enthält, als nur das, was wir hier angegeben haben. Das ist aber lediglich das Problem der unvollständigen Beschreibung unseres Sehens, und wir wollen hier annehmen, dass diese Beschreibung vollständig ist.4 In diesem Fall sehen wir, dass ein Hund eine Katze jagt – nicht mehr und nicht weniger. Wenn wir unbedingt beantworten müssten, was uns in einem solchen 4
Ein tieferes Problem kann sich hier verbergen, wenn wir die Theorie der so genannten „nicht-konzeptuellen“ Repräsentation ernst nehmen, d.h. wenn wir annehmen würden, dass der Inhalt einer Wahrnehmung wesentlich mehr enthält als sich „konzeptuell“ beschreiben lässt. Wenn irgendwo, dann soll diese Theorie ihre wahre Stärke eben in den Fällen der sinnlichen Wahrnehmung zeigen. Auf diese Probleme werden wir allerdings nicht näher eingehen.
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 265 mentalen Akt vor Augen stehe, dann wäre wahrscheinlich doch dieser „unvollständige Sachverhalt“ der beste Kandidat dafür. Denn zu sagen, dass wir hier gewissermaßen die ganze Welt (bzw. das Wahre) vor Augen haben, würde ja kaum jemand wagen. Was aber in der Tat geschieht, ist vielmehr, dass die ganze Metapher des „vor Augen Stehens“ zu kollabieren scheint. Wir sehen, dass ein Hund eine Katze jagt, nicht mehr und nicht weniger; und was uns dabei „vor Augen steht“, sind eher die zwei Protagonisten dieser Geschichte und nicht irgendeine neue propositionale Entität. Die Frage, in welcher Position man den ganzen Sachverhalt situieren soll, erscheint als falsch gestellt. Wir wollen damit nicht behaupten, dass die Unterscheidung von Vermittlungs- und Zielpositionen im Fall einer propositionalen Beziehung überhaupt keinen Sinn macht. Man sollte sich aber bewusst sein, dass diese Unterscheidung hier einen technischen Sinn gewinnt, der nicht nur nicht alle, sondern auch nicht die meisten, und wahrscheinlich sogar nicht einmal die wichtigsten Aspekte des Sinnes, in dem man diesen Unterschied für die nominalen Beziehungen verwendet, nachahmen kann. Im „logischen“ Sinne, der mit der Frage der Extensionalität und Extensionalisierung zusammenhängt, steht beispielsweise der unvollständige Sachverhalt eindeutig in der Vermittlungsposition. In dem „phänomenologischen“ Sinn, für den die Frage nach dem, „woran wir tatsächlich denken“, relevant ist, scheint er hingegen in der Zielposition zu stehen. Die Analogie zwischen den nominalen und propositionalen intentionalen Beziehungen scheint sehr unvollkommen zu sein. Noch deutlicher sieht man das, wenn man statt einer Wahrnehmung einen bloßen Gedanken betrachtet. Wenn man unbedingt will, kann man sagen, dass uns die Inhalte unserer Gedanken „vor Augen stehen“; es wird aber sicherlich niemandem einfallen, den Zielgegenstand, der in diesem Sinne vor Augen stehen sollte, in irgendeiner Weise zu vervollständigen. Zu denken, dass ein Hund eine Katze jagt, ist eben genau das zu denken. Die Frage nach dem „eigentlichen“, „vollständigen“ Zielgegenstand scheint sich hier nicht einmal zu stellen. Das alles scheint zu zeigen, dass die Unterscheidung zwischen einem Zielgegenstand und einer vermittelnden Struktur, die im Fall der nominalen Intentionalität einen guten Sinn macht, im Rahmen der propositionalen Intentionalität auf jeden Fall eine viel schwächere intuitive Basis hat. Die propositionale Intentionalität muss als eine Beziehung
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anerkannt werden, die sich von der nominalen Beziehung wesentlich unterscheidet und dementsprechend mit „nominalen Metaphern“ nur sehr bedingt in den Griff zu bekommen ist.
5. Unvollständige Sachverhalte als Mengen möglicher Welten Wenn wir einmal von den „phänomenologischen“ Intuitionen absehen und nach einem einheitlichen Modell suchen, können wir das Problem der unvollständigen Sachverhalte in einer analogen Weise lösen wie das Problem der unvollständigen Gegenstände. So wie man im Rahmen des Meinong’schen Universums die unvollständigen Gegenstände als Mengen von vollständigen Gegenständen interpretieren kann, so kann man auch die Sachverhalte als Mengen von möglichen Welten interpretieren. Der Sachverhalt, dass Schnee weiß ist, wäre nach dieser Interpretation die Menge aller möglichen Welten, in denen gilt, dass Schnee weiß ist, und der Sachverhalt, dass der Sieger von Jena klein war, wäre die Menge aller möglichen Welten, die einen kleinen Sieger von Jena enthalten. In dem Gedanken, dass Schnee weiß ist, würde man demnach als vermittelnde Struktur die Menge aller möglichen Welten benutzen, in denen Schnee weiß ist, und für die „Referenzebene“ dieses Gedankens wäre nur wichtig, ob sich unter diesen Welten auch die aktuelle Welt befindet (nur dann wäre der Gedanke treffend bzw. wahr). (Vgl. dazu Lewis 1986) Es gibt aber Bedenken, die gegen dieses Modell sprechen, und sie hängen wieder mit dem Postulat der epistemischen Transparenz zusammen. Die These, dass der „dünnste“ Sachverhalt, der nur das enthält, was von einem Subjekt explizit gedacht wird, für dieses Subjekt epistemisch transparent ist, erscheint uns auch hier als beinahe analytisch wahr. Wenn wir hingegen diesen Sachverhalt durch eine Menge von möglichen Welten ersetzen, sehen wir zunächst nicht, was hier für ein endliches Subjekt überhaupt epistemisch transparent sein könnte. Der einzige Ausweg scheint darin zu bestehen, dass die relevante Menge von vornherein als die Menge derjenigen Welten definiert wird, die den relevanten Sachverhalt enthalten. Das bedeutet aber wiederum, dass es in Wirklichkeit dieser Sachverhalt (und nicht die Menge der möglichen Welten) ist, der für das
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 267 Subjekt epistemisch primär ist, wobei auch hier der epistemische Primat (anders als gewöhnlich) die ontologische Unreduzierbarkeit nahe legt. 6. Meinong, Frege und Wittgenstein über die propositionale Intentionalität Meinong hat die Einzigartigkeit der propositionalen Intentionalität klar anerkannt und ist sogar soweit gegangen, dass er sie schließlich als die einzig mögliche Form einer „abgeschlossenen“ intentionalen Beziehung ansah. Eine nominale Intentionalität tritt nach seiner späten Lehre nie in Isolierung auf. Sie kann ausschließlich als eine Teilstruktur im Rahmen einer propositionalen intentionalen Beziehung funktionieren. Nach Meinong können wir uns also nicht isoliert auf einen Hund oder auf den (bzw. einen) Sieger von Jena beziehen. Wir können nur (propositional) meinen, dass es einen Hund gibt, oder dass jemand die Schlacht von Jena gewonnen hat. Die einzige nominale Intentionalität steckt in den intentionalen Beziehungen, die einfache Bestandteile von solchen Sachverhalten betreffen. Die Intentionalitätstheorie Meinongs hat sich hier von dem Frege’schen Modell, das die nominale und propositionale Intentionalität im Grunde als gleichberechtigt betrachtet, sehr entfernt. Bei Meinong ist jede zusammengesetzte Struktur propositional und sie kann deshalb nur durch einen propositionalen Akt erfasst werden. Die nominalen Objekte sind hingegen absolut einfach, und sie werden auch durch einfache nominale Beziehungen erreicht, vorausgesetzt, dass diese einfachen Beziehungen bereits in eine propositionale Intentionalität eingebettet sind. Diese Theorie erinnert sehr an Wittgensteins Tractatus. Wittgenstein nimmt dort ebenfalls an, dass jede zusammengesetzte Struktur propositional sein muss. Die Welt ist nach ihm „die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“ (Tractatus, 1.1) Nominale Entitäten sind nur als Bestandteile solcher Tatsachen denkbar. Dementsprechend ist der intentionale Charakter von nominalen Ausdrücken und Sätzen bei Wittgenstein grundverschieden. Dass Frege sowohl jedem nominalen Ausdruck als auch jedem Satz einen Sinn und eine Bedeutung (d.h. eine Referenzentität) zuordnet, hält Wittgenstein für einen Irrtum. Ein Name hat bei ihm ausschließlich seine (Frege’sche) Bedeutung (und d.h. den einfachen nominalen Gegenstand), ein Satz ausschließlich seinen Sinn (den Sachverhalt).
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Wittgenstein zieht hier die Konsequenzen aus (i) der Tatsache, dass für die propositionale Intentionalität der Unterschied zwischen dem Vermittler und der Zielentität keinen Sinn macht, und (ii) der Annahme, dass eine nominale Intentionalität semantisch einfach ist und eigentlich nur im Rahmen einer propositionalen Intentionalität vollzogen werden kann. Beide Punkte gelten auch für Meinong. Wir versuchen jetzt, diese drei Positionen systematisch zu vergleichen. Die Position Freges fasst die folgende Tabelle zusammen:
Frege
Name
Prädikat
Satz
Vermittler Zielentität
Sinn (Kennzeichnung) Gegenstand
kein [?] Funktion
Sinn (Gedanke) das Wahre/das Falsche
Frege nimmt an, dass jeder nominale Ausdruck einen Sinn und eine Bedeutung hat. Der Sinn hat hier die Form einer Kennzeichnung, die den Gegenstand identifiziert. Er enthält „die Art des Gegebenseins“ des Referenzobjekts. (Frege 1892a, S. 26) Die Bedeutung ist der Zielgegenstand selbst. Jeder Satz hat ebenfalls einen Sinn und eine Bedeutung. Der Sinn ist hier der ausgedrückte Gedanke, die Bedeutung kann entweder das Wahre oder das Falsche sein. Eine problematische Gruppe bei Frege bilden Prädikate. Frege sagt, dass sie sich auf Funktionen beziehen, über den Sinn der Prädikate sagt er aber nichts. Es scheint in der Tat unzweckmäßig, im Fall eines Prädikats zwei semantische Ebenen zu unterscheiden; intuitiv einleuchtender wäre es jedoch, ihre semantischen Werte (d.h. die Funktionen) eher auf die Sinnebene zu verlegen. Bei Wittgenstein ändert sich dieses Bild erheblich. Ein Name hat bei ihm nur seine Bedeutung (d.h. den Gegenstand) und keinen Sinn. Die Namen Wittgensteins sind also nach dem Vorbild der nichtkonnotativen Namen Mills zu verstehen. (Vgl. Mill 1843, S. 22) Sie beziehen sich auf ihre Gegenstände direkt, d.h. ohne Vermittlung irgendeiner Beschreibung. Jede solche Beschreibung wäre nämlich nach Wittgenstein ein Satz, und ein Satz hat bei ihm nur einen Sinn (d.h. den „ausgedrückten“ Sachverhalt), jedoch keine Bedeutung (im Sinne Freges).
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 269 Der Unterschied zwischen einem wahren und einem falschen Satz wird ferner nicht, wie bei Frege, durch eine Art Verlängerung der Intentionalität, die durch einen Sinn entweder das Wahre oder das Falsche trifft, erklärt. Was einen wahren von einem falschen Satz unterscheidet, ist der Umstand, dass der Sachverhalt, der durch einen wahren Satz ausgedrückt wird, zugleich eine Tatsache ist. Sie bildet gewissermaßen einen Teil der Welt, die nach Wittgenstein, wie gesagt, „die Gesamtheit der Tatsachen“ ist. Wir bekommen also die folgende Tabelle: Wittgenstein
Name
Prädikat
Satz
Vermittler Zielentität
-------------
Sachverhalt
Gegenstand
Die erstaunliche Tatsache, dass man bei Wittgenstein keine semantischen Werte für Prädikate findet, ist darauf zurückzuführen, dass nach ihm in einer analysierten Sprache überhaupt keine Prädikate vorkommen. Ein Satz ist nach Wittgenstein eine Zusammenfügung von Namen, und ein Sachverhalt ist dementsprechend eine zusammengesetzte Struktur, die aus einfachen Gegenständen besteht. Das zeigt übrigens, dass die Namen und Gegenstände bei Wittgenstein schwer zu vergleichen sind mit dem, was wir in unseren Alltagstheorien als Namen und Gegenstände klassifizieren würden. Alltagsgegenstände wie ein Tisch, eine Katze oder ein Kugelschreiber müssen nach Wittgenstein eigentlich als Sachverhalte betrachtet werden. Ein Tisch wäre etwa der Sachverhalt, dass gewisse Elemente aus Holz mit Hilfe von Klebstoff und Schrauben in einer bestimmten Weise zusammengesetzt sind. Auch diese Bestandteile (wie auch die Schrauben und der Klebstoff) sind aber noch keine Gegenstände in Wittgensteins Sinn. Sie lassen sich ebenfalls als Sachverhalte analysieren (z.B. als der Sachverhalt, dass bestimmte Mengen von Elementarteilchen so und so organisiert sind). Was die einfachen Gegenstände sind, die am Ende dieser Analyse stehen sollen, ist ein schwieriges Thema in der Wittgenstein-Exegese. Auf jeden Fall muss die Gesamtheit dieser Gegenstände den vollständigen Raum der logischen Möglichkeit (alle möglichen Konfigurationen, alle möglichen Welten) bestimmen. Wie die aktuelle Welt aussieht, wird durch die Konfiguration, in der diese einfachen Gegenstände tatsächlich
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stehen, beantwortet. Das meint Wittgenstein, wenn er sagt, dass die Gesamtheit der einfachen Gegenstände „die Substanz“ der Welt bildet, während die Konfiguration, in der sie stehen, das Zufällige bzw. das Kontingente in der Welt ist.5 Wittgensteins Gegenstände sind aber auf jeden Fall etwas, was (i) notwendig existiert und (ii) den Raum der logischen Möglichkeit bestimmt. Vor diesem Hintergrund scheint es, dass platonische Eigenschaften und Relationen die Rolle solcher Gegenstände spielen könnten. Sie erfüllen natürlich die Bedingung (i), und wenn wir, wie es in platonischen Theorien üblich ist, die modalen Operatoren auf bestimmte Beziehungen zwischen platonischen Entitäten reduzieren,6 dann bestimmen sie auch den Raum der logischen Möglichkeit und erfüllen somit auch die Bedingung (ii). Was Wittgenstein die Konfiguration der einfachen Gegenstände nennt, fände seine Entsprechung in der Art und Weise, wie die platonischen Entitäten durch die Instantiierung miteinander „kombiniert“ werden (z.B. dass die Eigenschaften F und G durch ein Individuum exemplifiziert werden, das auch das erste Glied eines geordneten Paares bildet, das die Relation R exemplifiziert, usw.). Ob dieser Vorschlag wirklich die beste Interpretation der Ontologie des Tractatus darstellt, ist fraglich. Möglicherweise sollte man auch jede qualitative Bestimmung bereits als „Konfigurationssache“ betrachten und die Schicht der einfachen Gegenstände noch tiefer suchen. Diese exegetischen Fragen können wir uns aber im Rahmen dieses Buches ersparen. Die Interpretation, die als einfache Gegenstände Eigenschaften und Relationen sieht, haben wir deswegen angeführt, weil sie am besten mit der Meinong’schen Philosophie harmoniert, die unser eigentliches Thema ist. Wenn wir nämlich das Bild der Intentionalität, das uns der späte Meinong bietet, etwas genauer betrachten, entdecken wir erstaunlich viele Analogien zu dem, was im Tractatus steht. Auch Meinong nimmt an, dass sich die nominale Intentionalität auf einfache Gegenstände bezieht und dass sie ihre intentionale Funktion 5
Vgl. die folgenden Thesen aus Wittgensteins Tractatus: „2.0271 Der Gegenstand ist das Feste, Bestehende; die Konfiguration ist das Wechselnde, Unbeständige. 2.0272 Die Konfiguration der Gegenstände bildet den Sachverhalt.“ 6 Vgl. oben Kapitel 5.5.
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 271 nur im Rahmen einer propositionalen Intentionalität erfüllen kann. Jede zusammengesetzte Struktur, die wir umgangssprachlich als ein Objekt bezeichnen würden, muss dementsprechend als ein (propositionales) Objektiv klassifiziert werden, das die einfachen Gegenstände als seine Bestandteile enthält. Auch was die Prädikate betrifft, ist Meinong von Wittgenstein nicht weit entfernt. Ein Prädikat bezieht sich auf eine Eigenschaft oder Relation; und wir erinnern uns, dass nach Meinong eine Eigenschaft bzw. Relation entweder als ein Objektiv oder als ein einfaches nominales Objekt zu interpretieren ist, je nachdem, wie man den Prädikatausdruck verwendet. Wenn man sich also auf eine Eigenschaft oder eine Relation bezieht, dann verwendet man zu diesem Zwecke entweder einen Satz oder einen (etwas ungewöhnlichen) Namen. Auch bei Meinong gibt es also im Grunde keine Prädikate. Auch bei ihm kann ein Satz als eine Zusammenfügung von einfachen Namen und ein Objektiv als eine entsprechende Zusammenfügung von einfachen Gegenständen betrachtet werden, wobei ein solcher einfacher Gegenstand bei Meinong ganz eindeutig als etwas interpretiert werden muss, das zwar keine „normale“ Eigenschaft bzw. Relation ist (denn diese werden von ihm als Objektive interpretiert), das aber gewissermaßen den gegenstandstheoretischen „Kern“ einer Eigenschaft bzw. Relation bildet. Zwei wichtige Unterschiede zwischen der Wittgenstein’schen und der Meinong’schen Auffassung betreffen zum einen das Problem der Notwendigkeit und zum anderen die Frage der Seinsweise der einfachen Gegenstände. Was den ersten Punkt betrifft, so nimmt Wittgenstein an, dass die Form der einfachen Gegenstände alle möglichen Konfigurationen vorschreibt, in denen sie auftreten können. In der platonisierenden Interpretation, die diese Gegenstände als Eigenschaften und Relationen betrachtet, haben wir deshalb angenommen, dass es zwischen diesen Entitäten gewisse primitive Beziehungen gibt, die über ihre Kombinierbarkeit bzw. Nicht-Kombinierbarkeit entscheiden. Beispiele von solchen Beziehungen wären: „farbig-zu-sein impliziert ausgedehnt-zu-sein“ oder „rund-zu-sein schließt dreieckig-zu-sein aus“. Meinong will aber wahrscheinlich keine derartigen Beziehungen zwischen seinen einfachen Gegenständen der Form [F ] postulieren. Die Tatsache, dass einige Objektive notwendig sind, muss deshalb als ein
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ontologisch primitives Faktum betrachtet werden. Die modale Eigenschaft Notwendigkeit ist also bei Meinong (ähnlich wie die modale Eigenschaft Tatsächlichkeit) undefinierbar. Der zweite Punkt betrifft die Seinsweise der einfachen Gegenstände. Ganz unabhängig davon, wie wir Wittgenstein interpretieren, ist klar, dass bei ihm diese Seinsweise eine aktuelle (und notwendige) Existenz ist, und in der platonischen Interpretation ist es erst recht so. Was hingegen Meinong betrifft, so genießen seine einfachen Gegenstände (ähnlich wie alle anderen Gegenstände) zunächst lediglich ein Außersein. Die Frage, welche von ihnen in der aktuellen Welt implektiert sind, bleibt offen. Bei Wittgenstein konstruiert man also die möglichen Welten durch die Rekombination von allen einfachen Gegenständen. Bei Meinong können hingegen zu diesem Zwecke unter Umständen nur einige von ihnen verwendet werden, wobei natürlich die durch die notwendigen Objektive festgelegten Gesetze der Koexistenz von Gegenständen beachtet werden müssen. Eine Meinong’sche Semantik à la manière Wittgensteinienne könnte also folgendermaßen aussehen: Meinong*
Name
Pr¨adikat1 (=Name)
Vermittler Zielentität
Objekt
Obiekt
Pr¨adikat2 (=Satzform)
Satz
Objektiv
Objektiv
Nach dieser Tabelle hätten wir im Fall eines Satzes keine „Intentionalitätsverlängerung“ zu etwas, was dem Frege’schen Wahren bzw. Falschen entsprechen würde. Ähnlich wie bei Wittgenstein wäre die Frage nach der Wahrheit bzw. Falschheit des Satzes davon abhängig, ob das betreffende Objektiv einen Teil der aktuellen Welt bildet oder nicht, wobei dies bei Meinong heißen würde, dass das Objektiv in der aktuellen Welt implektiert ist. Diese Tabelle entspricht aber nicht dem wahren Meinong. Wie wir wissen, spricht er in seinen Schriften über unvollständige und vollständige Objektive, und er behauptet, dass sich eine propositionale Intentionalität „durch“ ein unvollständiges Objektiv „auf“ ein vollständiges bezieht, so dass seine Semantik eher folgendermaßen aussieht:
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 273 wahrer Meinong
Name
Pr¨adikat1 (=Name)
Vermittler Zielentität
Objekt
Obiekt
Pr¨adikat2 (=Satzform)
Satz
Objektiv
unvollständiges Objektiv vollständiges Objektiv
Wie wir schon gesehen haben, ist es jedoch höchst unklar, was ein vollständiges Objektiv eigentlich ist und wie genau seine Rolle in der intentionalen Beziehung aussehen soll. Die kohärenteste Antwort darauf wäre wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine komplette mögliche Welt (ein maximales widerspruchsfreies Objektiv) handelt, so dass in der Zielposition eines Satzes entweder die aktuelle Welt oder eine der nicht-aktuellen Welten stehen müsste.7 Das Problem dabei ist, dass das vermittelnde unvollständige Objektiv nur einen kleinen Teil einer solchen „Zielwelt“ spezifiziert. Man kann 7
Wie wir uns erinnern, sagt Meinong, dass ein vollständiger Gegenstand unendlich viele Bestimmungen involviert. Damit nämlich ein Gegenstand G als vollständig bezeichnet werden darf, muss für jeden (einfachen) Gegenstand spezifiziert werden, ob er G zukommt oder nicht. (Meinong 1915, S. 168) Wenn wir aber bedenken, dass sich unter diesen einfachen Gegenständen sowohl (die ontologischen Kerne von) Eigenschaften als auch (von) Relationen befinden, sehen wir, dass G auch involvieren muss, in welchen Relationen er zu den sonstigen Teilen der Welt steht und was diese anderen Teile sind. In dieser Weise saugt jeder vollständige Gegenstand eine ganze Welt auf und ähnelt in dieser Hinsicht dem Substanzbegriff von Leibniz. Vgl. „Es ist wohl wahr, dass man, wenn mehrere Prädikate ein und demselben Subjekte zugeschrieben werden, und wenn dieses Subjekt wiederum keinem anderen mehr zugeschrieben wird, dies eine individuelle Substanz nennt; das ist aber nicht ausreichend, und eine solche Erklärung ist nur nominal. [ ] Nun steht fest, dass jede wahre Aussage eine Grundlage in der Natur der Sache hat, und wenn ein Satz nicht identisch ist, das heißt, wenn das Prädikat nicht im Subjekte enthalten ist, so muss es darin virtuell enthalten sein, und das nennen die Philosophen in-esse (In-sein), indem sie sagen, dass das Prädikat im Subjekt ist. So muss der Subjektbegriff immer den des Prädikats in sich schließen, derart, dass derjenige, der den Begriff des Subjektes vollkommen verstünde, auch urteilen würde, dass das Prädikat ihm zugehört. Da dies so ist, können wir sagen, dass die Natur einer individuellen Substanz oder eines vollständigen Wesens darin besteht, einen so erfüllten Begriff zu haben, dass er zureichend ist, um alle Prädikate des Subjekts, dem dieser Begriff zugeschrieben wird, zu verstehen und daraus abzuleiten.“, Leibniz 1686, S. 75.
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daher fragen, warum gerade diese und nicht eine der anderen Welten, die dieses Objektiv enthalten, in der Zielposition des Aktes stehen soll. Demnach könnte also z.B. in der Zielposition der Überzeugung, dass der Schnee weiß ist, nicht nur die aktuelle, sondern ebenso gut eine nicht-aktuelle Welt stehen, in der Schnee weiß ist. Die Wahrheit der Überzeugung könnte also nicht dadurch definiert werden, dass eine wahre Überzeugung in ihrer Zielposition die aktuelle Welt hat. Die einzig mögliche Lösung dieser Schwierigkeit besteht, wie es scheint, darin, dass man in der Zielposition des Aktes eine ganze Klasse von möglichen Welten platziert, nämlich die Klasse all derjenigen Welten, die das vermittelnde Objektiv implektieren. Ob die jeweilige intentionale Beziehung „treffend“ (wahr) oder „untreffend“ (falsch) ist, hängt nun davon ab, ob diese Zielklasse die aktuelle Welt enthält oder nicht. Ein kurzes Nachdenken führt aber zu dem Schluss, dass diese Antwort nur eine theoretisch unzweckmäßige Duplizierung erzeugt. In der Zielposition des Aktes haben wir jetzt eine Klasse von möglichen Welten, die ein bestimmtes unvollständiges Objektiv enthalten. Wir haben aber bereits gesehen, dass eine solche Klasse nichts anderes ist als das ontologische Äquivalent dieses unvollständigen Objektivs. Das unvollständige Objektiv tritt hier somit in zweierlei Rollen auf. Es steht sowohl in der Ziel- als auch in der Vermittlungsposition. Es spricht in der Tat alles dafür, dass sich die Meinong’sche Idee der Verlängerung der propositionalen Intentionalität in den Bereich der vollständigen Objektive nicht kohärent interpretieren lässt. Die Moral dieser Überlegung scheint zu sein, dass wir entweder unvollständige Objektive (Propositionen) oder vollständige Objektive (mögliche Welten), aber nicht beides brauchen. Wenn wir in unserer Ontologie bereits mögliche Welten haben, dann können wir Propositionen als Mengen möglicher Welten definieren; und wenn uns stattdessen atomare Propositionen zur Verfügung stehen, können wir eine mögliche Welt als eine maximal konsistente Menge von solchen Propositionen definieren. Was wir dazu noch brauchen, ist die primitive Aufteilung der propositionalen Entitäten in bestehende (bei Meinong: in der aktuellen Welt implektierte) und nicht-bestehende (bei Meinong: in der aktuellen Welt nicht implektierte). Von diesen beiden Möglichkeiten ist die Auffassung, dass unvollständige Objektive Mengen möglicher Welten sind, wie wir gesehen haben,
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 275 aufgrund gewisser epistemischer Schwierigkeiten die fragwürdigere. Es scheint also, dass man sich bei Meinong für jene Interpretation entscheiden sollte, die den Begriff des „unvollständigen“ Objektivs ernst nimmt und den „Erfolg“ einer intentionalen Beziehung durch die primitive Aufteilung solcher Objektive in bestehende und nicht-bestehende erklärt. 7. Die Repräsentationsfunktion des psychischen Inhalts Die Parallelen zwischen Meinong und Wittgenstein können uns auch bei einem Problem helfen, das in den früheren Kapiteln dieses Buches bereits aufgetaucht ist. Es handelt sich um die Frage, wie zusammengesetzte Gegenstände durch die psychischen Inhalte repräsentiert werden können. Wir haben gesehen, dass Meinong große Schwierigkeiten damit hatte, den „realen“ (d.h. externen) Relationen zwischen Teilinhalten eine Repräsentationsfunktion zuzuschreiben. Dieser Punkt kam bereits bei der Besprechung der Abhandlung Über Gegenstände höherer Ordnung zur Sprache. Wir haben dort gesehen, dass Meinong die Lösung, die den Schlüssel zur Präsentation komplexer Gegenstände in einem komplexen psychischen Inhalt sucht, ablehnt. Die Beziehung zwischen einem psychischen Inhalt und seinem Gegenstand ist nämlich eine ideale (d.h. interne) Relation, und eine solche Relation kann sich nicht aufgrund einer realen (d.h. externen) Relation ändern, in der ihre Glieder zu den anderen Gegenständen stehen. Eine Relation, die zwei einfache Inhalte zu einem komplexen Inhalt vereinigt, muss aber als eine solch externe Relation interpretiert werden. So kam Meinong zu dem Schluss, dass eine reale Relation zwischen den Teilinhalten auf die intentionale Beziehung, die den Inhalt vermittelt, keinen Einfluss haben kann. Ab 1902 versucht Meinong dieses Problem zu lösen, indem er der propositionalen Intentionalität eine Schlüsselrolle bei der Präsentation von Gegenständen höherer Ordnung zumisst. Wie wir gesehen haben, werden spätestens ab 1910 alle Gegenstände höherer Ordnung von ihm im Grunde als Objektive interpretiert.8 Die für solche Gegenstände 8
Vgl. „Meinong here pursues a line or reasoning which leads him to the inevitable conclusion that almost everyting is an objective, that there really are very few, if any, objects.“, Grossmann 1974, S. 100. „Suddenly, Meinong realizes that objectives are everywhere; their characteristics important for everything.“, Grossmann 1974, S. 105.
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geeignete Präsentationsweise ist deshalb nicht eine Vorstellung, sondern eine Annahme bzw. ein Urteil. Beim späten Meinong finden wir aber trotzdem keine klare Lösung für das anstehende Problem. Alle Gegenstände höherer Ordnung sind jetzt Objektive und haben somit eine Struktur, die die einfachen Gegenstände gewissermaßen als Teile enthält.9 Muss nun die intentionale Beziehung auf ein solches Objektiv nicht darin bestehen, dass die einfachen Inhalte, die sich isoliert auf einfache Elemente des Objektivs beziehen würden, so vereinigt werden, dass sie in dieser Vereinigung eben das ganze Objektiv präsentieren? Und muss diese Vereinigung nicht durch eine reale Relation zwischen den Inhalten gewährleistet werden? (Vgl. Grossmann 1974, S. 92 f.) Meinong bestreitet aber nach wie vor, dass eine reale Relation zwischen Inhalten diese Rolle spielen kann.
9
Wir betrachten hier Objekte als „Teile“ der Objektive und sind uns dabei bewusst, dass Meinong das Gegenteil behauptet. Sein Hauptargument gegen eine solche Auffassung besteht jedoch darin, dass es bestehende Objektive gibt, die nicht-bestehende Objekte involvieren (wie z.B. das Objektiv, dass es keinen goldenen Berg gibt), und dieses Argument halten wir für sehr schwach. Allen (darunter auch nicht-bestehenden) Gegenständen wurde nämlich bereits der Status des Außerseins zugeschrieben, der ihnen unter anderem erlaubt, Eigenschaften zu haben und als Glieder der intentionalen Beziehung zu fungieren. Nur deshalb kann Meinong behaupten, dass jede intentionale Beziehung eine genuine Relation (gegebenenfalls zu einem nicht-bestehenden Gegenstand) involviert. Das bedeutet aber nichts weniger, als dass die nicht-bestehenden Gegenstände zumindest so ontologisch ernst genommen werden, dass sie eine Erklärung zulassen, die eindeutig nach dem Muster Ganzes-Teil verläuft. Dass ein existierender Gegenstand zu einem nicht-existierenden in einer Relation stehen kann, ist übrigens ohnehin klar. Ein goldener Berg ähnelt sowohl Mt. Everest (beide sind Berge) als auch einem goldenen Ring (beide sind aus Gold). Ein zehn Meter großer Mensch ist größer als ich usw. Die nicht-existierenden Gegenstände stehen also zu den existierenden so wie so in diversen Verhältnissen, und die Entscheidung, dass man einen nicht-existierenden Zentauren nicht als Bestandteil (sondern etwa als eine „logische“ Konstituente) des Objektivs, dass Hans an einen Zentauren denkt oder dass es keinen Zentauren (wirklich) gibt, betrachtet, ist rein konventionell. Der einzige Sinn, in dem man hier von einem Bestandteil spricht, ist ja ohnehin nur derjenige, dass das logische Verhalten der Objektive von den involvierten Objekten so-und-so abhängt. Eine interessante Interpretation, die Meinongs Vorbehalte ernst nimmt und die Objekte und Objektive auf zwei ganz verschiedene Ebenen stellt, findet man in Sierszulska 2005.
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 277 Man könnte natürlich annehmen, dass jeder Gegenstand höherer Ordnung durch einen einfachen Inhalt präsentiert wird, wobei dieser Inhalt mit den Inhalten, die die Teile dieses Gegenstands höherer Ordnung präsentieren, direkt nichts zu tun hat; eine solche Lösung erscheint uns aber als äußerst desperat. Um das zu verstehen, betrachten wir die Annahme der Idealität (d.h. Internatität) der Relation zwischen einem mentalen Inhalt und seinem Gegenstand, die Meinong, wie er selbst glaubte, diese Schwierigkeiten bereitete. Diese Annahme ist in der Tat sehr plausibel. Dass die Relation Inhalt-Gegenstand auf den Eigenschaften des Inhalts und des Gegenstands superveniert, bildet einen integralen Teil der Theorie des mentalen Inhalts und ist wesentlich für ihre Erklärungskraft verantwortlich. Nehmen wir nun an, dass sich ein Subjekt S auf den Sachverhalt der Form aRb bezieht. Diese Beziehung ist gemäß der Theorie Meinongs nur deswegen möglich, weil S einen psychischen Inhalt benutzt, der diese intentionale Beziehung gewährleistet. Wir können diesen Inhalt als „“ symbolisieren und würden normalerweise erwarten, dass dieser Inhalt eine Struktur hat, die die Inhalte , und involviert. Wir erwarten dies gerade deswegen, weil die Beziehung zwischen einem psychischen Inhalt und seinem intendierten Gegenstand eine interne Relation sein soll. Sie soll nicht von irgendwelchen externen Faktoren, sondern eben von dem „inneren Aufbau“ der beiden Glieder abhängen. Der „innere Aufbau“ des Sachverhalts aRb involviert aber eine Struktur, in der a, b und R als Elemente vorkommen. Dies legt es nahe, dass der Inhalt eine ähnliche Struktur hat, die die Inhalte , und als Bestandteile enthält. Die Annahme, dass in Wahrheit ein „strukturloser“ Inhalt ist, der insbesondere mit , und direkt nichts zu tun hat, macht hingegen die Tatsache, dass sich auf aRb (und nicht etwa auf Fc oder cPe) bezieht, zu einem primitiven, weiter unerklärbaren ontologischen Faktum. Es sieht also so aus, als ob im Rahmen einer Theorie, die mit psychischen Inhalten operiert, die Annahme, dass die realen Relationen zwischen den Teilinhalten intentional relevant sein müssen, die einzig richtige wäre. Wir versuchen jetzt zu zeigen, warum Meinong diese Annahme 1899 so problematisch fand und wie ihm seine „propositionale Wende“ beim Akzeptieren dieser Annahme doch helfen könnte.
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Wir erinnern uns, dass 1899 die Gegenstände höherer Ordnung als Objekte (d.h. als Gegenstände nominaler Form) betrachtet wurden. Das hatte nach Meinong zur Folge, dass ein solcher Gegenstand eine unendliche Hierarchie von Relationen involvieren muss. Wenn zwei Gegenstände a und b durch die Relation R verbunden sind, dann muss es, so Meinong, zwei weitere Relationen geben, die die Relation R einerseits mit a und andererseits mit b verbinden. Für diese höherstufigen Relationen wiederholt sich allerdings dasselbe Problem, was zu einem unendlichen Regress von Relationen führt. Erst die Entdeckung der propositionalen Entitäten 1902 konnte in Meinongs Augen diesen Regress stoppen. Sobald wir annehmen, dass die Form der Gegenstände höherer Ordnung nicht die nominale Form, sondern die Form eines Objektivs ist, verschwindet das Problem. Die Elemente a, b und R sind im Rahmen eines Objektivs nicht „nebeneinander gestellt“, sondern zu einer Struktur zusammengefügt, so dass sich das Problem der Verbindung nicht mehr stellt. Eine wichtige Voraussetzung, die Meinong ab 1902 macht, ist also, dass nur eine propositionale Struktur die Einheit eines Gegenstands höherer Ordnung gewährleisten kann. 1899 konnte er diese Voraussetzung nicht explizit machen; es ist aber unübersehbar, dass ihm ein gewisses „Fehlen des inneren Zusammenhangs“ im Falle eines komplexen Gegenstands nominaler Form schon damals bewusst war. Wie anders wäre sonst das Problem des unendlichen Regresses der Verbindungsrelationen zu erklären? Es scheint, dass ein Gegenstand nominaler Form, den man vorphilosophisch als „a und b in der Relation R“ bezeichnen würde, von Meinong schon 1899 als eine merkwürdige Kollektion {a, b, R} betrachtet wurde, die immer auf eine neue verbindende Relation wartet. Wenn wir die verbindenden Relationen R’ und R” hinzufügen, erreichen wir aber nur, dass wir jetzt die Kollektion {a, b, R, R’, R”} haben, die anstatt zwei sogar vier neue Verbindungsrelationen braucht. Diese Voraussetzung ist aber nicht selbstverständlich. Das zeigt z.B. die Ontologie von Grossmann, in der Gegenstände höherer Ordnung eine nominale Form haben, aber als völlig unproblematisch betrachtet werden. Grossmann unterscheidet drei Arten komplexer Entitäten: (i) Mengen, wie z.B. {a, b, R}, (ii) Sachverhalte (Meinong’sche Objektive), wie z.B. aRb, und (iii) Strukturen, die zwar eine nominale Form haben, die aber keine bloßen Mengen sind, sondern aus Elementen
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 279 bestehen, die in einer bestimmten Relation zueinander stehen. Eine solche Struktur bildet nach Grossmann z.B. ein Tisch. Er ist kein Sachverhalt, aber auch keine bloße Menge von Bestandteilen. (Grossmann 1974, S. 58) Wenn der junge Meinong über konkrete Individuen spricht, die aus individuellen abstrakten Aspekten bestehen, die in der realen KompräsenzRelation stehen, dann meint er damit offenbar Gegenstände, die Grossmanns Strukturen ähneln. Es ist ebenfalls klar, dass er spätestens seit 1910 alle Gegenstände höherer Ordnung als Objektive (d.h. Grossmanns Sachverhalte) interpretiert. In der Abhandlung Über Gegenstände höherer Ordnung oszilliert sein Begriff des Gegenstands höherer Ordnung offensichtlich zwischen Grossmanns Strukturen und Mengen. Grossmann betont dabei zu Recht, dass wenn Gegenstände höherer Ordnung konsequent als Strukturen interpretiert werden, kein unendlicher Regress entsteht. Die Suche nach einer verbindenden Relation wäre in diesem Fall einer Suche nach einem Super-Klebstoff ähnlich, der erst die Verbindung zwischen zwei Oberflächen und dem sie verbindenden Klebstoff gewährleisten soll. In Wahrheit braucht man aber weder einen solchen Super-Klebstoff (und erst recht keine unendliche Reihe von solchen Super-...-Super-Klebstoffen), noch eine analoge Verbindungsrelation. Im Rahmen einer Struktur verbindet nämlich bereits die erste Relation alle ihre Glieder, genauso wie ein Klebstoff zwei zusammengeklebte Oberflächen ohne zusätzliche Hilfe verbindet. (Grossmann 1974, S. 67) Dass Meinong das Problem des unendlichen Regresses hatte, zeigt indessen klar, dass seine Gegenstände höherer Ordnung um 1899 eher unklaren Status haben. Einerseits tendiert er dazu, sie als Mengen aufzufassen, andererseits hat er damals noch keine Gegenstände, die die Rolle von Strukturen übernehmen könnten. Erst ab 1902 treten in dieser Rolle bei ihm Objektive auf. Was aber hat das alles mit dem Problem der Präsentation der Gegenstände höherer Ordnung zu tun? Die mengenähnliche Auffassung dieser Gegenstände hat Meinong dazu geführt, dass er ihre Einheit durch eine unendliche Komplikation zu erklären versuchte. Was eine endliche Kollektion von Elementen nicht leistet, sollte eine unendliche Kollektion irgendwie zustande bringen. Wie wir uns erinnern, sah Meinong damals in dieser Konzeption kein ontologisches Problem. Eine unendliche
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Reihe verbindender Relationen sei ebenso selbstverständlich wie eine unendliche Teilbarkeit einer Strecke. Diese Auffassung bringt es aber notgedrungen mit sich, dass man auch in einem zusammengesetzten psychischen Inhalt eine ähnliche unendliche Komplizierung voraussetzen muss. Was ontologisch harmlos sein mag, ist epistemisch oft schädlich. In Verbindung mit der InhaltTheorie der intentionalen Beziehung ergibt sich hier die unangenehme Konsequenz, dass das entsprechende Subjekt in seiner intentionalen Beziehung eine unendlich komplizierte repräsentierende Struktur verwenden muss. Die unendliche Komplexität allein könnte sich zwar noch als harmlos erweisen, aber nicht mehr, wenn sie für die repräsentierende Rolle des Inhalts und somit für die Möglichkeit der intentionalen Beziehung entscheidende Bedeutung erhält. Das Postulat der epistemischen Transparenz, von dem wir im ersten Kapitel gesprochen haben, scheint zu fordern, dass sich das betreffende Subjekt dieser unendlichen Komplexität irgendwie bewusst sein muss. Ob es in der Tat so ist, ist eine schwierige Frage, und wir werden nicht versuchen, dieses Problem weiter zu verfolgen. Es scheint jedoch, dass das Problem der unendlichen Komplizierung des psychischen Inhalts auf jeden Fall einen zusätzlichen Grund darstellen könnte, warum Meinong auf der intentionalitätstheoretischen Irrelevanz der realen Relationen zwischen den Inhalten bestand. Im Rahmen der konsequent propositionalen Intentionalitätstheorie des späten Meinong kann man dieses Problem lösen, indem man annimmt, dass auch ein zusammengesetzter Inhalt, ähnlich wie sein Gegenstand, eine propositionale Struktur hat. Das ist im Rahmen der späten Philosophie Meinongs sicherlich die einzig richtige Annahme. Wenn es zusammengesetzte psychische Inhalte überhaupt gibt, dann sind sie natürlich Gegenstände höherer Ordnung, und alle Gegenstände höherer Ordnung werden beim späten Meinong zu Objektiven.10 Gemäß dieser Auffassung müsste also der psychische Inhalt einer Annahme eine ähnliche propositionale Struktur haben wie das von ihm 10
Wenn wir den psychischen Inhalt als eine Eigenschaft zweiter Stufe interpretieren (gemäß der „adverbialen“ Interpretation), dann muss ein zusammengesetzter psychischer Inhalt eine „strukturierte“ Eigenschaft sein. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der späte Meinong auch alle (prädizierbaren) Eigenschaften als Objektive interpretiert.
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 281 intendierte Objektiv. Dass sich das Subjekt S auf das Objektiv, dass Johann Peter schlägt, bezieht, wäre also dadurch zu erklären, dass die Inhalte <Johann>, und <schl¨agt> durch eine reale Relation zu einem Sachverhalt vereinigt wurden, ähnlich wie der Sachverhalt, dass Johann Peter schlägt, durch eine reale Exemplifizierungsrelation aus den Elementen Johann, Peter und Schlagen gebildet wird. Der Sachverhalt, dass Johann Peter schlägt, kann also auch als (1)
ExJohann Peter schl¨agt
repräsentiert werden. Die verbindende Relation Ex erscheint hier als eine neue Konstante, was allerdings insofern irreführend ist, als es nahe legt, dass man eine weitere verbindende Relation braucht, die jetzt die Exemplifizierungsrelation mit ihren Gliedern verbindet. Das ist erneut der Fehler, den man macht, wenn man über propositionale Entitäten wie über nominale Objekte denkt. Wenn wir jetzt den psychischen Inhalt betrachten, der den Sachverhalt (1) repräsentiert, dann müssen wir annehmen, dass er aus den Teilinhalten <Johann>, und <schl¨agt> besteht. Er ist aber keine bloße Menge bestehend aus diesen Inhalten: (2)
<Johann> <schl¨agt>
Ebenso wenig ist er diese Menge zusammen mit einem Inhalt, der die Exemplifizierungsrelation repräsentiert: (3)
<Johann> <schl¨agt> <Ex>
Die Exemplifizierungsrelation ist kein Element des repräsentierten Sachverhalts, und sie wird deshalb auch nicht durch einen Teilinhalt repräsentiert. Die Exemplifizierungsrelation macht erst den Sachverhalt zu einem Sachverhalt und bildet in diesem Sinne seine ontologische Form. Auf sie wird in der Weise Bezug genommen, dass die drei Teilinhalte <Johann>, und <schl¨agt> in einer realen Relation zueinander stehen. Der psychische Inhalt, der den Sachverhalt (1) repräsentiert, ist also ein Sachverhalt der folgenden Art: (4)
Ex∗ <Johann> <schl¨agt>
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Die Relation Ex∗ ist kein inhaltliches Element, sondern die Relation, in der die drei Teilinhalte zueinander stehen. Deshalb ist sie auch auf den ersten Blick genauso „unsichtbar“ wie die Exemplifizierungsrelation, die die Bestandteile eines Sachverhalts miteinander verbindet. Wir nehmen also an, dass die reale Relation zwischen den Teilinhalten intentionalitätstheoretisch relevant sein kann, ja sein muss, wenn man erklären will, wie eine intentionale Beziehung auf einen Gegenstand höherer Ordnung möglich ist. Es sei nochmals betont, dass dies nicht die Lösung ist, die Meinong selbst explizit formuliert hat. Seine Theorie bleibt in der Frage, wie die intentionale Beziehung auf Gegenstände höherer Ordnung zustande kommt, charakteristisch unklar. Wir glauben jedoch, dass die Lösung, die wir gerade vorgeschlagen haben, in der späten Lehre Meinongs implizit enthalten ist. Nun müssen wir aber etwas zum offiziellen Argument Meinongs sagen, das die intentionalitätstheoretische Irrelevanz der realen Relationen zwischen psychischen Inhalten endgültig erweisen sollte. Wir finden dieses Argument nicht überzeugend. Aus der Tatsache, dass sich der Inhalt auf nichts anderes als auf a, der Inhalt auf nichts anderes als auf b und der Inhalt auf nichts anderes als auf R beziehen kann (die Voraussetzung der Idealität der Relation InhaltGegenstand), folgt nämlich nicht, dass sich ein komplexer Inhalt, der die Teilinhalte , und durch eine Relation Ex∗ verbindet, nicht auf etwas beziehen kann, was über a, b, R (und auch über eine bloße Menge {a, b, R}) hinausgeht. Damit das Prinzip der Idealität der Inhalt-Gegenstand-Relation nicht verletzt wird, genügt es zu verlangen, dass sich die Teilinhalte , und auch im Rahmen des komplexen Inhalts Ex∗ (, , ) genau auf dasselbe beziehen, worauf sie sich beziehen würden, wenn sie isoliert auftreten würden. Dies tun sie aber! Die Tatsache, dass sich der Inhalt Ex∗ (, , ) auf die Tatsache aRb bezieht, ändert nichts daran, dass seine Bestandteile , und entsprechende Gegenstände a, b und R repräsentieren. Das Bestehen der realen Relation Ex∗ , die die Teilinhalte , und zu einem Sachverhalt verbindet, bewirkt allerdings, dass wir es nun mit einem neuen Inhalt zu tun haben, der eine neue Entität intendiert, wobei die Bestandteile dieser Entität aus den Bestandteilen des Inhalts
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 283 zu erschließen sind, und die Sachverhaltsstruktur dieser Entität in der Relation Ex∗ ihre Entsprechung findet. Man kann also darauf bestehen, dass die zusammengesetzten Inhalte die Gegenstände höherer Ordnung gewissermaßen „durch ihre einfachen Bestandteile“ repräsentieren, ohne auf die Idealität der Relation InhaltGegenstand verzichten zu müssen. Dass Meinong dieses einfache Faktum 1899 nicht gesehen hat, hängt aller Wahrscheinlichkeit nach mit seinem uneindeutigen Begriff des Gegenstands höherer Ordnung zusammen. Ein Grund dafür, warum er in einem solchen Gegenstand eine unendliche Hierarchie von Relationen postulieren musste, besteht darin, dass ihm schon damals solche Gegenstände als etwas „Zusammenhangloses“ erschienen. Und das Gleiche gilt für einen mentalen Inhalt. Auch er muss eine ähnliche unendliche Hierarchie involvieren. Die epistemisch bedenkliche unendliche Komplexität des psychischen Inhalts bildet aber nur einen Teil des Problems. Ein anderer Teil, der für Meinong vielleicht wichtiger gewesen sein könnte, besteht darin, dass ein solcher unendlich komplizierter Inhalt immer noch innerlich unzusammenhängend bleibt. Alle Relationen, die er involviert, werden in ihm nur „nebeneinander gestellt“, so dass sie weiterhin in keinem Zusammenhang zueinander stehen. Ein solcher Inhalt kann also tatsächlich nicht mehr repräsentieren als das, was seine einfachen Bestandteile in Isolierung repräsentieren, und zwar deshalb, weil die involvierten Teilinhalte eigentlich immer noch isoliert bleiben. Es gibt keine Relation, die sie verbindet. Es gibt nur unendlich viele Relationen, die „daneben gestellt“ werden. Das Argument Meinongs, dass keine reale Relation zwischen den Teilinhalten intentional wirksam sein kann, müsste also eigentlich so umformuliert werden, dass es in Wahrheit keine realen Relationen gibt, die Teilinhalte verbinden. Es gibt nur solche, die neben sie gestellt werden. Ab 1902 gilt das alles natürlich nicht mehr, und die diesbezüglichen Bedenken des späten Meinong entbehren deshalb jeder Grundlage. Es gilt aber zu betonen, dass diese Argumentation auch bereits 1899 unschlüssig war. Alles, was für die Inhalte höherer Ordnung gilt, gilt nämlich genauso für die Gegenstände höherer Ordnung, die durch sie repräsentiert werden sollen. Ist ein zusammengesetzter Inhalt eine bloße Kollektion von Teilinhalten, so ist auch der repräsentierte Gegenstand
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eine solche Kollektion, und es gibt in ihm konsequenterweise nichts, was noch repräsentiert werden sollte, außer der Menge seiner einfachen Bestandteile. Erreicht man hingegen durch die unendliche Anhäufung der Verbindungsrelationen doch eine Art Einheit, die über eine bloße Kollektion hinausgeht, dann gilt dasselbe auch für die mentalen Inhalte, und unser Argument für die intentionale Wirksamkeit der realen Relationen muss auch hier gelten. In Meinongs Argumentation gegen die intentionale Wirksamkeit der realen Relationen zwischen einfachen Teilinhalten finden wir also eine erstaunliche Anhäufung von Missverständnissen. Wie schon gesagt, dürfte die Hauptschuld daran der uneindeutige Begriff des Gegenstands höherer Ordnung haben, der anfänglich zwischen Grossmanns Mengen und seinen Strukturen oszillierte. Es scheint, als ob Meinong in dem Moment, in dem er den zusammengesetzten Inhalten die repräsentierende Kraft absprach, die zusammengesetzten psychischen Inhalte eher als Mengen, die repräsentierten Gegenstände höherer Ordnung hingegen eher als Strukturen sah. Der Grund, warum er auch nach 1902 diese Bedenken nicht aus dem Weg geräumt hat, mag darin liegen, dass er weiterhin die Tendenz hatte, die psychischen Inhalte als nominale Objekte zu betrachten, während sich die repräsentierten Gegenstände inzwischen in propositionale Sachverhalte verwandelt hatten. Das ist jedoch eine Inkonsequenz. Ein zusammengesetzter Inhalt müsste im Rahmen seiner späten Theorie ebenfalls die Form eines Objektivs haben. 8. Das Wittgenstein’sche Bild der Repräsentation Jetzt kehren wir zu den Einzelheiten unseres Vorschlags zurück. Wir wissen, dass die endgültige Form der propositionalen Beziehung, die Meinong annimmt, alle Individuenkonstanten durch Quantoren und Prädikate ersetzt. Die endgültige Form des Objektivs, dass Johann Peter schlägt, wäre also nicht: (1)
ExJohann Peter schl¨agt
sondern: (5)
∃x∃yx ist Johann ∧ y ist Peter ∧ x schlägt y
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 285 wobei die Prädikationen „ist Johann“ und „ist Peter“ als Prädikationen von identifizierenden Eigenschaften aufzufassen sind. Wenn wir diese Eigenschaften als „J“ und „P“ bezeichnen und die Relation des Schlagens als „S“, können wir (5) so symbolisieren: (6)
∃x∃yJx ∧ Py ∧ Sxy
Der Einfachheit halber nehmen wir auch an, dass die Eigenschaften J und P sowie die Relation S ontologisch einfach sind, was natürlich in Wahrheit nicht der Fall ist. Wenn wir uns außerdem noch daran erinnern, dass Meinong zwischen einer nicht-prädizierbaren und prädizierbaren Form einer Eigenschaft (bzw. Relation) – d.h zwischen [F ] und F – unterscheidet, kompliziert sich (6) zu: (7)
∃x∃yExJx ∧ ExPy ∧ ExSxy
Dementsprechend muss man sich auch die Struktur des zusammengesetzten psychischen Inhalts vorstellen, der das Objektiv (7) repräsentieren soll. Er würde drei einfache Inhalte <J>,
und <S> enthalten, die in einer realen Relation stehen, die die Art der Zusammengesetztheit von (7) genau widerspiegelt. Es ist unwichtig, wie wir diese Relation bezeichnen. Die einfachste Art wäre wahrscheinlich: (8)
∃x∃yEx∗ <J>x ∧ Ex∗
y ∧ Ex∗ <S>xy
Man muss dabei nur eines immer vor Augen halten: Eine propositionale Intentionalität besteht nach dieser Auffassung darin, dass zwischen den einfachen (nominalen) Inhalten eine reale Relation besteht, und diese reale Relation nimmt genauso viele Gestalten an, wie es Weisen gibt, in der die einfachen Eigenschaften und Relationen im Rahmen eines Objektivs durch Quantoren und Variablen kombiniert werden können.11 11
Vielleicht könnte man diese Sachlage auch so interpretieren, dass die reale Relation zwischen den Teilinhalten auch das Subjekt der intentionalen Beziehung involviert. Die repräsentierende Struktur wäre in diesem Fall eigentlich das Subjekt mit dem Inhalt. Diese Interpretation würde uns zusätzlich eine Explikation des kantischen Gedankens liefern, dass die Einheit des Gegenstands einer intentionalen Beziehung ein Korrelat der Einheit ihres Subjekts ist.
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Wir glauben also, dass Meinongs Sorgen, was das Verhältnis zwischen den zusammengesetzten Gegenständen und den Inhalten betrifft, unbegründet sind. Eine konsequente Theorie „der Meinong’schen Art“ sollte annehmen, dass der psychische Inhalt ein Objektiv ist, dessen Struktur der des repräsentierten Objektivs isomorph ist. Die einfachen Teilinhalte entsprechen dabei den einfachen Elementen des repräsentierten Objektivs, und die externe Relation zwischen den Teilinhalten entspricht dem (ebenfalls externen) Nexus, durch den diese einfachen Elemente in einem Objektiv vereinigt sind. Das ist natürlich wieder das Bild der Intentionalität, das Wittgenstein in seinem Tractatus entwickelt hat. Bei Wittgenstein heißt es ebenfalls, dass sich die syntaktisch einfachen Namen auf die ontologisch einfachen Gegenstände beziehen und dass die Konfiguration, in der die Namen in einem Satz auftreten, die Konfiguration repräsentiert, in der die einfachen Gegenstände in einem Sachverhalt „zusammenhängen“. Wittgenstein sagt übrigens explizit, dass ein Satz die ontologische Form eines Sachverhalts hat.12 Wenn Wittgenstein von „Namen“ und „Sätzen“ spricht, geht es ihm nicht nur (und nicht einmal in erster Linie) um sprachliche Zeichen. Die im Tractatus dargestellte Intentionalitätstheorie ist nicht bloß eine Theorie der sprachlichen Intentionalität, die die sprachunabhängige mentale Intentionalität leugnet oder außer Acht lässt. Wittgenstein sagt explizit, dass auch jeder Gedanke, der überhaupt als intentional klassifiziert werden kann, eine ähnliche Struktur haben muss.13 Denn das sei die einzige Weise, wie man sich überhaupt intentional auf etwas beziehen kann. Wenn es also eine mentale, sprachunabhängige Intentionalität gibt, dann muss es auch einfache mentale Namen und zusammengesetzte mentale Sätze geben. Die mentalen Namen beziehen sich direkt auf die entsprechenden einfachen Gegenstände, und die mentalen Sätze repräsentieren die Sachverhalte in der Weise, dass sie selbst Sachverhalte sind, die aus mentalen Namen bestehen. Wenn wir in Wittgensteins
12
Vgl. „Das Satzzeichen ist eine Tatsache.“, Tractatus, 3.14. Vgl. die folgenden Thesen des Tractatus: „2.141 Das Bild ist eine Tatsache. [ ] 3 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke. [ ] 3.1 Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus.“
13
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 287 Theorie für die einfachen mentalen Namen einfache mentale Inhalte substituieren, ist die Analogie komplett. Die Intentionalitätstheorie Meinongs ergibt bei dieser Interpretation das folgende Bild: psychologische Immanenz
Inhalt
Objektiv
Subjekt Relation Ex*
Relation Ex
IMM
V-Inhalt F
F
V-Inhalt G
V-Inhalt H
G
REPR
H
Das Subjekt steht hier zu einem psychischen Inhalt in einer Relation, die darin besteht, dass es einen psychischen Akt mit dem entsprechenden Inhalt vollzieht. Wir nennen diese Relation „IMM“, was eine reelle psychische Immanenz im Sinne Husserls symbolisieren soll. Der psychische Inhalt hat die Struktur eines Objektivs. Einfache Teilinhalte (die man sich als Inhalte der entsprechenden Vorstellungen denken kann) stehen in einer realen Relation zueinander, die sie zu einem zusammengesetzten Inhalt (dem Inhalt eines Urteils oder einer Annahme) vereinigt. Diese Relation haben wir oben Ex∗ genannt (und wir wissen, dass sie sehr verschiedene Formen annehmen kann). Die intentionale Repräsentation besteht darin, dass die einfachen Inhalte mit den einfachen gegenständlichen Elementen durch eine primitive Relation, die wir „REPR“ genannt haben, korreliert sind und dass die reale Relation, in der die Teilinhalte zueinander stehen, auf eine Relation hinweist, die die einfachen gegenständlichen Elemente zu einem zusammengesetzten Objektiv vereinigt. Es gilt zu betonen, dass diese vereinigende Relation Ex, die ebenfalls viele Gestalten annimmt, nicht als ein zusätzliches Element des Objektivs betrachtet
288
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werden darf. In diesem Fall wäre sie vorstellbar und müsste nach der Lehre Meinongs durch eine neue Relation mit dem restlichen Material des Objektivs verbunden werden. Diese vereinigende Relation ist vielmehr das, was wir oben metaphorisch den „Zement“ des Objektivs genannt haben. Sie kann nicht vorgestellt, sondern nur angenommen (bzw. geurteilt) werden. Bei Wittgenstein hieße sie die Konfiguration, in der die einfachen Gegenstände stehen müssen, um einen Sachverhalt zu bilden. Die Repräsentationsrelation zwischen dem zusammengesetzten mentalen Inhalt und dem vollständigen Objektiv ist intern. Sie wird vom „inneren Aufbau“ des Inhalts und des Zielobjektivs mit Notwendigkeit impliziert. Einen wichtigen Punkt kann man in dieser Darstellung gut erkennen. Die Repräsentationsrelation zwischen den zusammengesetzten Inhalten und Gegenständen ist zwar intern, denn sie wird durch den inneren Aufbau der beiden Glieder mit Notwendigkeit erzeugt; die Bedingung für dieses Generieren ist allerdings, dass es zwischen den einfachen Elementen beider Glieder bereits eine primitive Zuordnung gibt, die wir in unserem Schema als REPR bezeichnet haben. Das zeigt, dass die Repräsentationsrelation zwischen den einfachen Teilinhalten und den einfachen Gegenständen nicht mehr als intern betrachtet werden kann, so wie die Repräsentationsrelation zwischen den zusammengesetzten Inhalten und den Gegenständen. Die einfachen Elemente sind eben ontologisch einfach, und wenn sie voneinander verschieden sind (was hier wohl anzunehmen ist), ist es schwer zu verstehen, worauf die Relation REPR supervenieren könnte. Wir werden im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch genauer darauf zu sprechen kommen.
9. Modale Eigenschaften noch einmal Wir wissen, dass unser letztes Schema nicht ganz dem entspricht, was der späte Meinong gelehrt hat. Bei ihm treten neben den unvollständigen Objektiven und ihren einfachen Elementen viele andere Gegenstände auf. Die „wahre“ Struktur der intentionalen Beziehung, wie sie sich Meinong vorgestellt hat, würde also eher dem folgenden Schema entsprechen:
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 289 "nächste" Gegenstände (Objektive)
etwas, das F ist F etwas, das G ist G etwas, das H ist H
psychologische Immanenz Subjekt Relation Ex*
V-Inhalt F
V-Inhalt G
V-Inhalt H
Relation Ex
Ex
F
F
G
G
H
H vollständiges Objektiv (unendlich kompliziert)
V(?)-Inhalt Vollständigkeit unvollständiges Objektiv
"Vollständigkeitseigenschaft" erzwingt die "Verlängerung" der Intention
Trotzdem möchten wir behaupten, dass eine konsequente Intentionalitätstheorie „der Meinong’schen Art“ besser im Rahmen des einfacheren „Wittgenstein’schen“ Schemas verbleiben sollte, das wir im vorigen Abschnitt entworfen haben. Der Grund für diese Behauptung ist folgender: Das wichtigste zusätzliche Element in dem obigen Schema ist die Vollständigkeitsannahme. Sie ist bei Meinong jenes Element der intentionalen Beziehung, das die Verlängerung der Intentionalität in den Bereich der vollständigen Objektive erzwingt, und wir haben gesehen, dass sich eine solche Verlängerung nicht kohärent interpretieren lässt. Wenn wir eine solche Vollständigkeitsannahme ernst nehmen wollen, dann muss sie darin bestehen, dass auf der Seite des psychischen Inhalts ein zusätzlicher Teilinhalt auftritt, dem auf der gegenständlichen Seite eine Eigenschaft der Vollständigkeit entspricht. Diese Eigenschaft
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ist nach Meinong außerkonstitutorisch, und sie muss außerdem als depotenziert interpretiert werden. Denn das Objektiv, dem sie zukommt, ist eben nicht vollständig. Sie bewirkt jedoch, dass wir uns „durch“ dieses unvollständige Objektiv auf ein vollständiges Objektiv beziehen. Das Ergebnis der letzten Abschnitte spricht aber dafür, dass man sich zumindest von dieser außerkonstitutorischen Eigenschaft endgültig verabschieden muss. Wir brauchen diese Eigenschaft nicht, denn alle Objektive, die in den intentionalen Beziehungen eines endlichen Geistes eine Rolle spielen, sind unvollständig. Die Frage, ob sie in der Vermittlungsoder in der Zielposition stehen, ist zwar unklar, aber eigentlich irrelevant. Denn wir können erklären, wann eine solche Beziehung wahr ist, ohne uns an die Verlängerungsmetapher klammern zu müssen. Eine intentionale Beziehung ist genau dann wahr, wenn ihr unvollständiges Objektiv einen Teil der aktuellen Welt bildet (Meinong würde sagen: wenn es in der aktuellen Welt implektiert ist). Eine andere Eigenschaft, die unser letztes Schema von dem Schema des vorigen Abschnitts unterscheidet, ist, dass wir jetzt für jede konstitutorische Eigenschaft, die in dem unvollständigen Objektiv involviert ist, einen besonderen unvollständigen Gegenstand eingeführt haben, so wie es Meinong um 1915 wollte. Auf solche extrem unvollständigen Objektive (etwas, das F ist; etwas, das G ist und etwas, das H ist), die Meinong noch zusätzlich den einzelnen Vorstellungen zuordnet, kann man ebenfalls ruhig verzichten. Da wir einerseits ein Objektiv (etwas, das F, G und H ist) und andererseits seine einfachen Elemente F, G und H haben, könnten wir diese drei Objektive im Notfall immer „konstruieren“, und in diesem Sinne können wir sie als konzeptuelle Abstraktionsprodukte betrachten. Auf der anderen Seite ist aber auch wahr, dass in einem Meinong’schen Universum diese drei Objektive (etwas, das F ist; etwas, das G ist und etwas, das H ist) automatisch enthalten sind. Insofern hat man eigentlich keinen Grund, auf sie zu verzichten. Im Gegenteil: Man kann hoffen, dass sich vielleicht die einfachen Elemente F, G und H in Termini von solchen „eineigenschaftigen“ Objektiven definieren lassen. Diese Interpretationslinie wird sich im nächsten Kapitel tatsächlich als höchst interessant erweisen. Die außerkonstitutorische Eigenschaft der Vollständigkeit brauchen wir also nicht. Wie steht es aber mit den anderen außerkonstitutorischen
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 291 Eigenschaften wie Exisistenz, Widerspruchsfreiheit oder Möglichkeit (im Sinne der objektiven Wahrscheinlichkeit)? Können wir vielleicht auch von ihnen Abschied nehmen? Die Antwort lautet, dass dies in der Tat teilweise möglich ist, und der erste Kandidat für eine Reduktion ist hier sicherlich die Möglichkeit. Im fünften Kapitel haben wir gesehen, dass die Möglichkeit von Meinong primär als die modale Eigenschaft eines Objektivs gesehen wird. Er sagt zwar gelegentlich, dass es sich dabei um eine pimitive Eigenschaft handelt; das Buch Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit (1915) ist aber im Grunde nichts anderes als ein Versuch einer Analyse dieser Eigenschaft in Termini der Implexierungsverhältnisse, in denen verschiedene Objektive zueinander stehen. Wir können also annehmen, dass ein Gedanke mit dem Inhalt, dass das-und-das in dem-und-dem Grad möglich ist, ein solches kompliziertes Gebilde von Objektiven zum Gegenstand hat. Ein solcher Gedanke beschränkt sich natürlich nicht auf den Bereich des Existierenden (bzw. des Bestehenden), und er ist genau dann treffend, wenn im Bereich des Außerseins die betreffenden Objektive in den entsprechenden Verhältnissen zueinander stehen. Die zwei anderen modalen Eigenschaften – Tatsächlichkeit und Notwendigkeit, denen die außerkonstitutorischen Eigenschaften Existenz (Bestand) und Widersprüchlichkeit entsprechen14 – lassen sich aber nicht so einfach wegerklären. Was die Tatsächlichkeit betrifft, so handelt es sich dabei – wie wir in Über Annahmen erfahren – um eine primitive Aufteilung der Objektive in die bestehenden und die nicht-bestehenden, die sich keineswegs umgehen lässt. Und was die Notwendigkeit eines Objektivs betrifft, so ist sie bei Meinong ebenfalls als eine undefinierbare modale Eigenschaft zu betrachten. Wir haben zwar gesehen, dass man versuchen kann, die Notwendigkeit eines Objektivs auf gewisse primitive Relationen zwischen den involvierten einfachen Bestandteilen zurückzuführen; das ist aber nicht der Weg, den Meinong gehen wollte. Aus der Perspektive der späteren Lehre Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit muss man übrigens sagen, dass es nur ein einziges bestehendes 14
Der Übergang von der Widersprüchlichkeit zur Notwendigkeit ist, dass die NichtExistenz eines widersprüchlichen Gegenstands notwendig ist.
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Objektiv (nämlich die komplette aktuelle Welt) gibt und dass die unvollständigen Objektive, die wir ungenau als bestehend bezeichnen, diejenigen sind, die von der aktuellen Welt implektiert sind. Ein Objektiv ist natürlich genau dann notwendig, wenn es von allen möglichen Welten implektiert wird. Es ist aber unklar, ob wir die Notwendigkeit eines Objektivs so definieren dürfen. Wenn wir nämlich Meinongs These der Primitivität der Notwendigkeit ernst nehmen, dann scheint es, dass sich eher die Entscheidung, welche Welten möglich sind (d.h. welche Objektive zugleich maximal und widerspruchsfrei sind), auf den primitiven Begriff der Notwendigkeit stützt anstatt umgekehrt. Was wir aber im Fall der Tatsächlichkeit und der Notwendigkeit tun können, ist, auf die depotenzierten Entsprechungen dieser Eigenschaften, bezüglich derer wir Annahmefreiheit haben sollen, zu verzichten, und zwar in der Weise, dass wir sie durch die entsprechenden psychischen Modi ersetzen. Wie wir uns erinnern, brauchten wir die depotenzierten außerkonstitutorischen Eigenschaften, um uns auf Gegenstände wie einen existierenden gegenwärtigen deutschen Bundeskanzler, der der Liberalen Partei angehört, oder einen notwendig vierbeinigen Hund beziehen zu können. Dasselbe können wir aber vermutlich auch erreichen, wenn wir den Inhalt „Der gegenwärtige deutsche Bundeskanzler gehört der Liberalen Partei an“ urteilen (und nicht bloß annehmen) bzw. wenn wir ein Urteil mit dem Inhalt „Ein Hund ist vierbeinig“ nicht bloß assertorisch sondern apodiktisch fällen. Wenden wir uns zunächst dem Existenz-Prädikat zu. Auf den ersten Blick scheint es, dass unser Vorschlag einen sehr wichtigen Punkt der Meinong’schen Lehre verletzt. Meinong scheint nämlich zu behaupten, dass die Unterschiede Annahme-Urteil und Soseinsmeinen-Seinsmeinen zwei aufeinander unreduzierbare Dimensionen darstellen, so dass wir die folgende vierfache Klassifikation bekommen:
Annahme Urteil
Soseinsmeinen
Seinsmeinen
∃xFx ∧
∃xFx ∧
∃xFx ∧ ∧ E!x
∃xFx ∧ ∧ E!x
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 293 Die Teilung der psychischen Akte in Annahmen und Urteile geschieht bezüglich des Modus, während die Teilung in Soseinsmeinungen und Seinsmeinungen je nach dem Inhalt erfolgt. Die große Frage lautet aber, ob einige Kategorien dieser Klassifikation nicht redundant sind. Untersuchen wir zuerst die Soseinsmeinungen. Meinong sagt unmissverständlich, dass alle urteilsmäßigen Soseinsmeinungen a priori wahr sind, weil man im Bereich des Außerseins für jedes Soseinsmeinen einen passenden Gegenstand finden kann. Ein solcher Gegenstand existiert zwar nicht immer, aber davon spricht ein Soseinsmeinen nicht. Das heißt aber nichts weniger, als dass wir bei einem Soseinsmeinen keinen Grund haben, noch eine zusätzliche Differenzierung zwischen Urteilen und Annahmen einzuführen. Alle Soseinsurteile verhalten sich nämlich genauso wie Soseinsannahmen: Sie sind immer treffend. Wir können also annehmen, dass alle Soseinsmeinungen im Grunde Soseinsannahmen sind, was zur folgenden Vereinfachung unserer Tabelle führt:
Annahme Urteil
Soseinsmeinen
Seinsmeinen
∃xFx ∧
∃xFx ∧ ∧ E!x
∃xFx ∧ ∧ E!x
Auf der Seite der Urteile haben wir also nur Seinsmeinungen, und jetzt fragen wir, ob es berechtigt ist, zwischen zwei Formen von Annahmen „∃x(Fx ∧ )“ und „∃x(Fx ∧ ∧ E!x“ zu unterscheiden. Sie unterscheiden sich voneinander dadurch, dass die zweite dieser Formen ihren Gegenstand zusätzlich als „existierend“ bestimmt. Was sollte das aber genau bedeuten? Laut dem Prinzip der Annahmefreiheit sind alle Annahmen treffend, und das heißt, dass sich die Annahme der Form „∃x(Fx ∧ ∧ E!x“ keineswegs auf den Bereich des Existierenden beschränkt. Auch sie sucht ihren Gegenstand im ganzen Bereich des Außerseins und ist genau deswegen immer treffend, weil sie ein Objektiv findet, das der Form „∃x(Fx ∧ )“ entspricht. Das ist aber genau dasselbe Objektiv, das auch von der Annahme der Form „∃x(Fx ∧ )“ gesucht wird, was nichts anderes bedeutet, als dass das Existenz-Prädikat „E!“ im Rahmen einer Annahme keine interessante semantische Funktion erfüllt.
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Wir können uns also ruhig auf eine der Annahmeformen beschränken, nämlich auf die Form ohne das Existenz-Prädikat „∃x(Fx ∧ )“, was zur folgenden Klassifikation führt: Soseinsmeinen Annahme Urteil
∃xFx ∧
Seinsmeinen
∃xFx ∧ ∧ E!x
Nach dieser Reduktion haben wir also nur eine Form der Annahme (eine Soseinsannahme) und nur eine Form des Urteils (ein Seinsurteil), was man auch so ausdrücken kann, dass wir es dort, wo das Bestehen des Objektivs irrelevant ist, immer mit einer Annahme, und dort, wo es relevant ist, immer mit einem Urteil zu tun haben. Zugleich bemerken wir aber eine interessante Tatsache. In der Urteilsform haben wir gleich zwei Elemente, die sie von der Annahmeform unterscheiden. Zum einen haben wir den „ontologisch ernsthaften“ Modus „ “ und zum zweiten das Existenz-Prädikat „E!“. Vom semantischen Standpunkt aus brauchen wir aber nur ein distinktives Element, denn es geht ja nur darum, ob die Teilung in die bestehenden und nichtbestehenden Objektive eine Rolle spielt oder nicht. Wir können also auf eines dieser Elemente verzichten, und angesichts der konzeptuellen Schwierigkeiten mit den außerkonstitutiven Eigenschaften scheint es, dass wir auf das Existenz-Prädikat „E!“ verzichten sollten. Am Ende erhalten wir also die folgende Klassifikation: Soseinsmeinen Annahme Urteil
Seinsmeinen
∃xFx ∧
∃xFx ∧
Nach diesem Vorschlag sind also alle propositionalen Akte Soseinsmeinungen. Wenn ein solcher Akt im „unverpflichtenden“ Modus der Annahme vollzogen wird, dann ist er immer treffend, denn er sucht seinen Gegenstand im ganzen Bereich des Außerseins. Wenn er hingegen den „ernsthaften“ Modus des Urteils trägt, ist er nur dann treffend, wenn sein
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 295 Objektiv im Unterbereich des Bestehenden (bzw. unter den Objektiven, die in einem bestehenden Objektiv implektiert sind) zu finden ist. Wir sehen damit, dass die Rolle des Prädikats „E!“, das als ein innerer Bestandteil eines Objektivs darüber entscheiden sollte, ob der betreffende psychische Akt sein Interesse auf den Bereich des Seienden einschränkt, vom Unterschied zwischen dem Modus des Urteils und dem Modus der Annahme übernommen werden kann. Der Unterschied liegt dementsprechend nicht in dem, was wir meinen, sondern darin, wie wir es meinen. Es scheint mithin, dass Russell, der den Unterschied zwischen einem existierenden goldenen Berg und einem goldenen Berg, der existiert, nicht zu verstehen vermochte, am Ende doch Recht behält. Ähnlich ist es mit dem Unterschied zwischen dem assertorischen und dem apodiktischen Modus. Auch hier brauchen wir keine depotenzierten außerkonstitutorischen Eigenschaften in die intendierten Objektive einzubauen. Ein apodiktisches Urteil, dass p, ist nämlich genau dann wahr, wenn sein Objektiv notwendig (d.h. von allen möglichen Welten implektiert) ist. Im entgegengesetzten Fall ist es falsch. Das Ergebnis ist also, dass die Möglichkeit (d.h. die objektive Wahrscheinlichkeit) auf die Implektierungsverhältnisse reduziert wird. Die Tatsächlichkeit und die Notwendigkeit bleiben zwar als unreduzierbare primitive Einteilungen der Objektive, aber wir brauchen keine depotenzierten Entsprechungen von ihnen (d.h. keine frei annehmbaren außerkonstitutorischen Eigenschaften). Ihre Rolle wird von den psychischen Modi (Annahme, Urteil und apodiktisches Urteil) übernommen. 10. Ein allgemeines Problem für die Inhaltsrepräsentation Zum Schluss besprechen wir noch ein anderes Problem, das im Zusammenhang mit der Theorie des psychischen Inhalts auftaucht. Dieses Problem ist viel allgemeiner als Meinongs Sorgen um die intentionale Beziehung auf die Gegenstände höherer Ordnung, und es betrifft in gleichem Maße die Theorien Twardowskis und Husserls wie auch Wittgensteins Theorie des Tractatus. In unserem Schema in Abschnitt 6.7 gibt es zwei wichtige Relationen. Wir haben sie als „IMM“ und „REPR“ bezeichnet. Die Relation IMM ist die Relation zwischen dem Subjekt und dem mentalen Inhalt, den es gerade „benutzt“, und die Relation REPR ist die Relation
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zwischen einem einfachen Inhalt und dem einfachen Gegenstand, den er repräsentiert. Was die Relation IMM betrifft, so ist klar, dass sie als eine externe Relation interpretiert werden muss. Es gibt keine monadischen Eigenschaften eines Subjekts und eines Inhalts, aus denen man schließen könnte, dass dieses Subjekt gerade einen psychischen Akt mit diesem Inhalt vollzieht.15 Was hingegen REPR angeht, so ist nicht weniger klar, dass sie nach Meinong als eine interne Relation betrachtet werden soll. Meinong sagt das explizit, wenn er die Relation Inhalt-Gegenstand als eine ideale Relation klassifiziert, und selbst wenn er das nicht sagen würde, spricht vieles dafür, REPR als intern zu interpretieren. Der psychische Inhalt wird ja im Rahmen seiner Theorie als dasjenige Element eingeführt, das bestimmen soll, auf welchen Gegenstand sich das Subjekt bezieht. Das Bestehen von REPR hängt also auf jeden Fall von den Eigenschaften des Inhalts ab. Dass sie außerdem auch von den Eigenschaften des intendierten Gegenstands abhängen muss, wird klar, sobald wir uns daran erinnern, dass dieser Gegenstand nach Meinong aus dem Bereich des Außerseins „aufgrund seiner Bestimmungen“ ausgewählt wird. In Kapitel 3 haben wir die verschiedenen Gründe besprochen, die zur Einführung von psychischen Inhalten führen können. Einer dieser Gründe, der vor allem für Husserl zur Zeit der Logischen Untersuchungen maßgeblich war, war die Möglichkeit, in dieser Weise die Intentionalität der gegenstandslosen Akte zu erklären. Für Meinong hatte das aber ab 1904 keine Bedeutung, denn seit dieser Zeit gab es bei ihm keine gegenstandslosen Akte mehr. Ein anderer Grund, dessen Legitimität, wie wir gesehen haben, nicht unumstritten ist, liegt in dem Wunsch, die intentionale Beziehung durch
15
Die relativen Eigenschaften, die man durch die Prädikate „denkt an ein Pferd“, „ist ein Inhalt, der gerade von Bill Clinton benutzt wird“ ausdrückt, müssen wir natürlich ausschließen. Das ist aber ein allgemeines Problem, dessen Lösbarkeit bei jeder Klassifikation der Relationen in interne und externe vorausgesetzt werden muss. Wir behaupten nicht, dass die Aufteilung von Eigenschaften in genuin monadische und relationale eine einfache (oder sogar eine praktisch lösbare) Aufgabe ist. Wir behaupten nur, dass sie im Prinzip lösbar ist.
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 297 einen „genuin mentalen“ Mechanismus zu erklären. Das war wahrscheinlich die Hauptmotivation, die Twardowski und Meinong dazu geführt hat, trotz der Einführung der nicht-existierenden Gegenstände auf dem mentalen Inhalt zu bestehen. In diesem Kapitel wollen wir nun eine Schwierigkeit skizzieren, die die erklärende Rolle des mentalen Inhalts sehr überzeugend in Frage stellt und deshalb nahe legt, die Idee einer unvermittelten externen Relation zwischen einem Subjekt und einem außerseienden Gegenstand neu zu bedenken. Die Schwierigkeit liegt in der Relation REPR, die die einfachen mentalen Inhalte mit ihren einfachen Gegenständen korreliert. Wie gesagt, soll sie eine interne Relation sein, die auf ihren Gliedern superveniert. Zu sagen, dass sie von den monadischen Eigenschaften ihrer Glieder impliziert wird, wäre zwar wahrscheinlich unangebracht, denn es handelt sich ja (zumindest auf der einen Seite der Relation) um absolut einfache Gegenstände, von denen höchstwahrscheinlich keine normalen Eigenschaften prädiziert werden können.16 Unabhängig davon ist aber diese Relation durch die „absoluten Naturen“ ihrer Glieder impliziert, so wie nach einigen Philosophen die Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Tropen (die als solche auch keine „normalen“ Eigenschaften haben, sondern eben Eigenschaften sind) von ihren absoluten Naturen impliziert wird. Ein Röte-Tropus hat zwar nicht die Eigenschaft, rot zu sein (denn er ist vielmehr diese Eigenschaft), er hat aber dennoch etwas, was ihn zu dem macht, was er ist, und was man als seine „absolute immanente Natur“ bezeichnen kann. Eine solche Natur kann auch – sagen uns die Anhänger dieser Auffassung – als eine Supervenienzbasis für eine Relation funktionieren.17 Am Ende von Abschnitt 6.7 haben wir aber darauf hingewiesen, dass der Sinn, in dem man in solchen Fällen von der Internalität
16
Ob die „semantisch einfachen“ Inhalte auch unbedingt „ontologisch einfach“ sein müssen, werden wir nicht untersuchen. Diese Frage ist aber für unsere Argumentation völlig irrelevant. 17 Vgl. „The resemblance relation among the Fs hold in virtue of the fact that those items are F, not the other way around. Tropes (abstract particulars, quality-instances) must be particular natures. They are not ,bare particulars‘ which, without some similarity-tie, would have no nature at all.“, Campbell 1990, 59f.
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und Supervenienz sprechen kann, grundverschieden ist von dem Sinn, in dem man das in Bezug auf die zusammengesetzten Gegenstände tun kann. Bleiben wir zunächst noch eine Weile bei den Tropen. Was könnte die Natur eines Röte-Tropus sein, die die Supervenienzbasis der Ähnlichkeitsrelation, in der dieser Tropus zu den anderen Röte-Tropen steht, bilden soll? Ist sie etwa die rote Farbe, so dass der Mechanismus der Supervenienz der Ähnlichkeitsrelation folgendermaßen zusammengefasst werden könnte: a und b sind ähnlich genau dann, wenn a und b dieselbe Farbe sind? Auf den ersten Blick erscheint das nicht unplausibel. Das Problem besteht aber darin, dass wir hier wieder mit dem Begriff Dieselbe-Farbe hantieren, der eigentlich das Ausgangsproblem für die Entwicklung der ganzen Tropentheorie war. Die Ausgangsfrage lautete doch: Was heißt es, dass zwei Individuen eine gemeinsame Eigenschaft haben. Die Antwort eines Tropentheoretikers lautet: Genau das, dass sie zwei individuell verschiedene Tropen involvieren, die einander streng ähnlich sind. Jetzt versuchen wir zu erklären, woran es liegt, dass zwei Tropen streng ähnlich sind, indem wir sagen, dass sie dieselbe Eigenschaft sind. Bringt aber das Ersetzen der Idee, dass zwei mereologisch disjunkte Individuen eine gemeinsame Eigenschaft haben, durch die Idee, dass zwei mereologisch disjunkte Individuen dieselbe Eigenschaft sind, einen Erklärungsgewinn, oder haben wir es hier vielmehr mit einem ignotum per ignotum zu tun, das zusätzlich noch in die gefährliche Nähe eines idem per idem rückt? Wenn wir darauf beharren wollen, dass die Ähnlichkeit zwischen a und b zwar aufgrund ihrer immanenten Naturen besteht, dass diese Naturen aber nach wie vor individuell verschieden sind, dann stellt sich sofort die Frage, was diese Naturen zu der Supervenienzbasis für die Ähnlichkeitsrelation macht. Es scheint, dass man darauf nur eine Antwort geben kann, nämlich, dass es sich dabei um eine bestimmte Relation handeln muss, die zwischen diesen Naturen besteht. Wenn wir uns daran erinnern, dass die involvierten Tropen ihre Naturen nicht haben, sondern eigentlich diese Naturen sind, dann wird sofort klar, dass die angesprochene Relation nichts anderes sein kann als die Ähnlichkeitsrelation zwischen den Tropen selbst, die wir gerade zu erklären versuchen. Idem per idem ist in diesem Fall perfekt.
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 299 Die Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Tropen kann also keine interne Relation im normalen Sinne des Wortes sein, und zwar deswegen nicht, weil hier offensichtlich jede verständliche Supervenienzbasis fehlt. Es ist nicht so, dass die immanente Ausstattung von zwei Tropen die Ähnlichkeitsrelation zwischen ihnen automatisch generiert. Es ist vielmehr diese Ähnlichkeitsrelation selbst, die die Tropen zu dem macht, was sie vom ontologischen Standpunkt her gesehen sind – die ihnen also ihre Naturen erst verleiht. Die Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Tropen ist also keine interne Relation, es ist aber ebenso klar, dass sie nicht als eine externe Relation betrachtet werden kann. Für eine externe Relation soll doch gelten, dass sie entfallen kann, auch wenn ihre Glieder in ihren monadischen Bestimmungen genau gleich bleiben. Im Fall von zwei ähnlichen Tropen ist das jedoch klarerweise nicht der Fall. Da es die relevanten Ähnlichkeitsrelationen sind, die einen Tropus zu dem machen, was er ist, würde er sich natürlich beim Entfallen von solchen Relationen in seiner Natur beträchtlich verändern müssen. Die Ähnlichkeitsrelation zwischen Tropen ist also auf jeden Fall nicht extern, jedoch nicht deswegen, weil sie auf den monadischen Naturen der entsprechenden Tropen superveniert, sondern deswegen, weil sie einen Tropus erst zu dem macht, was er in seiner eigenen Natur ist. Man kann es auch so fassen, dass ein Tropus eine wesentlich relationale Entität ist. Die Ähnlichkeitsrelationen zu den anderen Tropen sind für seine immanente Natur absolut konstitutiv. Ganz ähnlich sieht es mit der Relation REPR aus, die zwischen einem semantisch einfachen Inhalt und einem ontologisch einfachen Gegenstand bestehen soll. Wie gesagt, liegt es nahe, sie als intern zu interpretieren. Es ist doch der ganze Witz der Theorie des psychischen Inhalts, dass uns ein solcher Inhalt sagen soll, welcher Gegenstand intendiert wird, und der Gegenstand soll seinerseits aufgrund seiner Bestimmungen „ausgewählt“ werden. Wenn wir aber nach der Supervenienzbasis dieser Relation fragen, dann geraten wir in ähnliche Schwierigkeiten wie im Fall der Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Tropen. Der intendierte Gegenstand (nennen wir ihn g ist einfach. Er ist also nicht etwas, das Eigenschaften oder „eine Natur“ hat. Er ist vielmehr so etwas wie eine einfache Natur selbst. Der entsprechende mentale
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Inhalt (nennen wir ihn i ist vom semantischen Standpunkt her gesehen ebenfalls einfach. Das heißt, dass er seinen Gegenstand nicht durch eine Beschreibung (was im Fall eines einfachen Gegenstands ja auch unmöglich wäre), sondern durch eine direkte Zuordnung repräsentiert. Könnte diese Zuordnung auf den Naturen von g und i supervenieren? Es scheint, dass es nur zwei Weisen gibt, wie das zustande kommen könnte. (i) Die erste Möglichkeit wäre, dass der mentale Inhalt i mit dem Gegenstand g einfach identisch ist. In diesem Fall ist die involvierte Repräsentationsrelation einfach die Identitätsrelation, und es ist nicht unplausibel, dass eine solche Relation auf jedem Gegenstand superveniert. (ii) Eine andere Möglichkeit wäre, dass der mentale Inhalt i von vornherein als ein Repräsentant von g bestimmt wird. In diesem Fall würde die Relation REPR zwischen i und g bloß dadurch generiert, weil i „an sich“ als ein Repräsentant von g bestimmt wird. REPR würde dann schon aufgrund der Natur eines ihrer Glieder ins Leben gerufen und wäre somit intern sogar im Sinne Bradleys.18 (iii) Wenn wir keinem der Vorschläge (i) und (ii) folgen wollen, dann müssen wir annehmen, dass die Relation REPR nicht auf den absoluten Naturen von i und g superveniert. Sie ist dann ein zusätzliches primitives Element, das postuliert werden muss, damit das System funktioniert, und sich nicht auf die monadischen Naturen seiner Glieder reduzieren lässt. Wenn wir jetzt diese drei Möglichkeiten (i), (ii) und (iii) etwas genauer unter die Lupe nehmen, müssen wir feststellen, dass die Relation REPR, die die einfachen mentalen Inhalte mit ihren einfachen Gegenständen
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Das wirft übrigens ein interessantes Licht auf die internen Relationen im Sinne Bradleys. Solche Relationen sollen, wie gesagt, bereits auf einem ihrer Glieder supervenieren. Es sieht aber so aus, als ob dies nur dann funktionieren kann, wenn die betreffende Relation in der Definition dieses Gliedes wesentlich involviert ist und somit als ein primitives Element vorausgesetzt wird, die nicht einmal im Sinne Russells als „intern“ zu bezeichnen wäre. Eine interne Relation im Sinne Bradleys involviert also auf jeden Fall eine Relation, die keine interne Relation im Sinne Russells ist!
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 301 korreliert, auf keinen Fall als im normalen Sinne intern (d.h. supervenient) betrachtet werden kann. Was die Möglichkeit (i) betrifft, so können wir sie ruhig ausschließen. Die mentalen Inhalte sind sicherlich etwas anderes als die involvierten Gegenstände (die doch sehr oft nicht mental sind). Die Annahme (ii) bedeutet nichts anderes, als dass der Inhalt i als Entität definiert wird, die in der Relation REPR zu g steht. Die Relation REPR kehrt hier also als ein primitives Element zurück. Sie in der Weise (ii) wegerklären zu wollen, ist also ein klassisches idem per idem. Es bleibt uns also nur noch der Weg (iii). Die Relation REPR muss als ein primitives, unreduzierbares Element des Systems anerkannt werden. Es wäre aber auch in diesem Fall voreilig, die Relation REPR deshalb als eine externe Relation zu klassifizieren. Denn eine externe Relation kann ja, wie gesagt, entfallen, ohne dass sich ihre Glieder dadurch in ihren monadischen Bestimmungen irgendwie verändern. Bei einem Inhalt-Gegenstand-Paar, das durch die Relation REPR konstituiert wird, ist das natürlich nicht der Fall. Wenn die Relation REPR zwischen i und g entfallen soll, dann muss sich entweder g oder i innerlich so verändern, dass es sich nicht mehr um denselben Gegenstand bzw. denselben Inhalt handelt. Der Grund dafür besteht aber auch hier nicht darin, dass die Relation REPR auf den monadischen Naturen von g und i superveniert, sondern vielmehr darin, dass diese Relation für die innere Natur des Inhalts konstitutiv ist. Man kann es auch so ausdrücken, dass die repräsentierenden (einfachen) Inhalte keine rein monadischen Naturen haben können. Ähnlich wie Tropen sind auch sie wesentlich relationale Entitäten. Jetzt können wir auch sehen, wo die Idee der inneren Zuordnung zwischen einem psychischen Inhalt und dem dazugehörigen Gegenstand ihre Quelle hat. Sie liegt in den zusammengesetzten Inhalten. Wenn nämlich der Mechanismus der Inhaltsrepräsentation im Wesentlichen so funktioniert, wie wir es oben beschrieben haben, dann ist die Repräsentationsrelation zwischen einem zusammengesetzten Inhalt und einem zusammengesetzten Gegenstand in der Tat intern. Sie ist aber intern nur unter einer Voraussetzung, nämlich dass die primitiven Zuordnungen zwischen den einfachen Teilinhalten und einfachen gegenständlichen Elementen bereits vorausgesetzt sind. Ohne diese Zuordnungen repräsentiert der Inhalt schlicht und einfach nichts.
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Wir können das durch das folgende Schema illustrieren: R*(,,)
Subjekt
R(a,b,c)
a
REPR
IMM
REPR*
b
REPR
R*
R
REPR
c
Das Subjekt steht in Relation IMM zum zusammengesetzten Inhalt R∗ (,,). Dieser Inhalt ist ein Objektiv. Er besteht aus den einfachen Inhalten – , und –, die zueinander in der realen Relation R ∗ stehen. Relation REPR∗ ist die Repräsentationsrelation, die zwischen dem Inhalt R∗ ( ) und einem ähnlich zusammengesetzten Objektiv Ra b c besteht. Relation REPR∗ ist intern, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Repräsentationsrelationen REPR zwischen den einfachen Inhalten (, , ) und den einfachen Gegenständen (a b c bereits bestehen. Diese Relationen müssen also als primitive, unreduzierbare Elemente des Systems betrachtet werden. (Was die Relation IMM betrifft, so ist sie, wie schon gesagt, eine externe Relation.) Meinong hat hier also die natürliche Problemlage gewissermaßen völlig auf den Kopf gestellt. Zum einen hat er profunde Rätsel im intentionalen Zugang zu zusammengesetzten Gegenständen durch zusammengesetzte Inhalte gesehen, während man hier im Grunde genommen keine großen Schwierigkeiten zu finden braucht, vorausgesetzt, dass die einfachen Inhalte repräsentieren. Zum anderen hat er aber angenommen, dass die Zuordnung von einfachen Inhalten und einfachen Gegenständen eine unproblematische interne (ideale) Relation ist, was aber nicht der Fall ist, wie wir gesehen haben. Aus dieser Sachlage ergibt sich ein schwieriges Problem, das eigentlich das ganze Spektrum der Mediator-Theorien betrifft. Jede Theorie, die die
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 303 intentionale Beziehung durch die Anwesenheit einer stellvertretenden Entität (eines psychischen Inhalts, eines Frege’schen Sinnes oder einer wie auch immer definierten Entität) erklärt, die die eigentliche Referenzentität lediglich repräsentiert, bleibt uns nämlich die Erklärung der Natur dieser Repräsentation schuldig. Solange wir mit zusammengesetzten Strukturen operieren und die entsprechende Repräsentationszuordnung zwischen ihren einfachen Elementen stillschweigend voraussetzen, scheint zwar alles zu funktionieren; aber sobald wir diese primitive Zuordnung etwas genauer unter die Lupe nehmen, entstehen ernsthafte Zweifel. Wenn wir nämlich nicht annehmen wollen, dass die repräsentierende und die repräsentierte Entität identisch sind (und das wird wahrscheinlich kein Anhänger einer MT akzeptieren, denn dann kollabiert seine Theorie zu einer Objekt-Theorie), dann muss die Repräsentationsrelation REPR als ein unreduzierbares Element des Systems betrachtet werden. Wie gesagt, ist die repräsentierende Entität durch die Relation REPR mitkonstituiert; und hier liegt die eigentliche Schwierigkeit, denn das heißt ja nichts weniger, als dass die repräsentierende Entität, die den Referenzgegenstand für das Subjekt gewissermaßen vertreten soll, gewissermaßen schon „im Voraus“ eine Relation zu diesem Gegenstand involviert. Heißt das aber nicht, dass ein Subjekt den Referenzgegenstand (den Terminus von REPR) ohnehin schon irgendwie „vor Augen“ haben muss, „bevor“ es einen repräsentierenden Inhalt verwenden kann? Und heißt das nicht, dass ein Subjekt bereits über einen unabhängigen Zugang zum Referenzgegenstand verfügen muss, um einen repräsentierenden Inhalt überhaupt „verwenden zu können“? Die Hauptvoraussetzung einer MT ist aber, dass der intentionale Zugang zu einem Gegenstand nur über die vermittelnde Entität erfolgen kann. In diesem Kontext lohnt es sich, noch einmal auf die Entwicklung der Husserl’schen Lehre zu blicken. Wie wir gesehen haben, präsentierte er in seinen Logischen Untersuchungen (1901) eine konsequente MT, in der mentale Inhalte die repräsentierende Rolle spielen. Er führte damals auch keine speziellen Zielentitäten ein, so dass ein untreffender psychischer Akt schlicht und einfach keinen Gegenstand hat. Diese Theorie sieht auf den ersten Blick sehr plausibel und elegant aus, und man kann zunächst schwer verstehen, warum Husserl schon ein paar Jahre später in seinen Vorlesungen über Bedeutungslehre (1908) jedem Akt eine zusätzliche Referenzentität zugeordnet hat, die er damals ontische Bedeutung und später Noema nannte.
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Jetzt können wir seine Gründe vielleicht etwas besser verstehen. Gegen die Theorie der Logischen Untersuchungen richten sich nämlich auch die Bedenken, die wir oben angeführt haben. Ein mentaler Inhalt im Sinne Twardowskis ist, wie gesagt, keine völlig monadische Entität. Er ist durch die Repräsentationsrelation auf seinen Referenzgegenstand mitdefiniert, und das heißt, dass immer, wenn ein Subjekt einen solchen Inhalt benutzt, es dadurch auch diesen Referenzgegenstand mit einbezieht. Gemäß der Lehre der Logischen Untersuchungen soll das aber (zumindest im Fall der untreffenden intentionalen Beziehungen) gerade nicht der Fall sein. Wenn es in der Welt keinen Referenzgegenstand gibt, dann endet die intentionale Beziehung gewissermaßen beim Inhalt. Nun scheint es aber so zu sein, dass sie in dieser Weise aus prinzipiellen Gründen nicht enden kann. Das, was dem Subjekt „vor Augen“ steht, ist immer der Referenzgegenstand. Nicht nur der Übergang Husserls zu seiner Theorie des Noemas, sondern auch Twardowskis Einführung der nicht-existierenden Gegenstände sollten vor diesem Hintergrund viel verständlicher sein. Auch bei Twardowski schien es zunächst, als würden sich alle Rätsel der Intentionalität mit dem Begriff des Inhalts erklären lassen, und die zusätzliche Einführung spezieller Gegenstände wäre eine reine ontologische Verschwendung. Jetzt zeigt sich aber, dass man einen Referenzgegenstand auch dann braucht, wenn der mentale Inhalt schon da ist. Der Gedanke, dass man im Rahmen einer Intentionalitätstheorie auf jeden Fall einen Gegenstand braucht, der als Referenzentität fungiert, war übrigens der Grundstein der Lehre Brentanos. Seine Theorie der immanenten Gegenstände, die wir im ersten Kapitel besprochen haben, ist natürlich ein klares Beispiel dafür. Aber auch seine späte Intentionalitätstheorie, die keine speziellen immanenten Entitäten einführt, versucht weiterhin, dem Gedanken Rechnung zu tragen, dass jeder psychische Akt seinen Gegenstand haben soll. Brentano geht dabei sogar so weit, dass er deswegen ontologisch sehr problematische, unreduzierbar nichtextensionale Relationen in Kauf nimmt, bei denen eines der Glieder nicht zu existieren braucht.19
19
Vgl. dazu Chrudzimski 2001a, S. 233–242. Wir können dieses Thema hier nicht weiter entwickeln.
meinongs gegenstände und die intentionale beziehung 305 Der Fall Brentanos ist übrigens ein guter Anlass, um zu einem Punkt zurückzukehren, den wir schon ein paar Mal angesprochen haben. Wir haben gesagt, dass es im Licht unserer Analyse verständlich wird, warum sich manche Philosophen, die mentale Inhalte eingeführt haben, doch gezwungen fühlten, zusätzlich noch spezielle Referenzentitäten einzuführen. Eine andere Frage ist, ob man mentale Inhalte überhaupt einführen muss, wenn man schon die speziellen Referenzentitäten hat. Brentano hat diese Frage entschieden verneint, und wir sind geneigt, in diesem Punkt seiner Position zu folgen. Wenn es richtig ist, dass ein Referenzgegenstand „vor den geistigen Augen“ des sich intentional beziehenden Subjekts stehen muss, und wenn ein vermittelnder Inhalt nur gewissermaßen auf dem Umweg über seinen Gegenstand definiert und „benutzt“ werden kann, dann scheint ein solcher Inhalt wirklich überflüssig zu sein. Wenn wir bereit sind, für jeden psychischen Akt entweder einen speziellen geistabhängigen (Brentano) oder einen außerseienden Gegenstand (Meinong) einzuführen, dann können wir auch die Relation zwischen dem Subjekt und einem solchen Gegenstand als eine nicht vermittelte, externe Relation interpretieren.
KAPITEL 7
MEINONG’SCHE „KONSTITUTIONSSYSTEME“
In diesem Kapitel versuchen wir, in die Gegenstandstheorie Meinongs ein wenig Ordnung zu bringen. Wir haben gesehen, dass Meinong auf keinen Fall als „sparsamer Ontologe“ bezeichnet werden darf, und die Leichtigkeit, mit der er in seiner späteren Periode immer neue Gegenstände eingeführt hat, hat manchen zu dem Schluss gebracht, dass man in der Meinong-Schule Entitäten aufgrund der zufälligsten Züge der Oberflächengrammatik der Umgangssprache ohne Bedenken erfindet.1 Das ist auch der Grund, warum man in Meinongs Philosophie lange Zeit geradezu das Paradigma eines ungepflegten ontologischen Dschungels gesehen hat. Die Gegenstände, die Meinong eingeführt hat, stehen jedoch zueinander in diversen Beziehungen, so dass man versuchen kann, einige Kategorien als „primitiv“ und die anderen als im Prinzip „konstruierbar“ zu betrachten, um am Ende so etwas wie ein Meinong’sches Konstitutionssystem zu erhalten. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass bei Meinong sowohl die primitiven als auch die konstruierbaren Gegenstände genau denselben Status des Außerseins genießen. In unserer Rekonstruktion werden wir die explizit widersprüchlichen Gegenstände, von denen Meinong oft zu sprechen scheint, zunächst beiseite lassen. Dieses Problem wird in den letzten Abschnitten dieses Kapitels separat behandelt.
1
So schreibt z.B. Ehrenfels: „Dagegen die Richtung der Meinong-Schule, welche fast alljährlich mit der Annahme eines neuen Grundelements auf den Plan rückte und hierbei – wie die Anhänger Brentanos behaupteten und ich (trotz größter persönlicher Sympathien mit dem Kreis der Grazer Philosophen und voran mit ihrem Führer) nicht zu bestreiten vermochte – immer mehr in das Fahrwasser der für seriöse Philosophie wohl gefährlichsten aller Bahnleitungen geriet, die Mannigfaltigkeit sprachlicher Bilder ohne weiteres in die Annahmen ontologischer Grundelemente zu übersetzen.“, Ehrenfels 1922, S. 156.
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kapitel 7 1. Eine Meinong’sche Ontologie der möglichen Welten
Unter den Entitäten, die beim späten Meinong eine prominente Rolle spielen, gibt es auf jeden Fall Objektive, und unter ihnen gibt es natürlich auch die maximal-widerspruchsfreien Objektive, die den möglichen Welten der zeitgenössischen Modalsemantik entsprechen. Man kann also versuchen, diese maximal widerspruchsfreien Objektive als die primitiven Elemente des Systems zu betrachten und die ganze Gegenstandstheorie Meinongs als eine Art der Ontologie der möglichen Welten zu interpretieren. Die Semantik der möglichen Welten wurde bekanntlich entwickelt, um die logischen Anomalien der modalen Kontexte in den Griff zu bekommen. Diese Kontexte, die durch die Operatoren „Es ist möglich / notwendig, dass “ (♦/2) eingeleitet werden, sind nachweisbar nichtextensional. Syntaktisch verhalten sich die modalen Operatoren wie die Negation (¬). Sie sind Satzoperatoren und gehören also zur Kategorie (s/s), was bedeutet, dass sie in Verbindung mit einem Satz einen neuen Satz bilden. Während aber für die Negation eine einfache semantische Tafel gilt: p
¬p
T
F
F
T
bekommen wir für die modalen Operatoren eine Tafel, in der gewisse Positionen unbestimmt bleiben: p
p
p
T
T
?
F
?
F
Wir haben hier zwei unbestimmte Werte. Was aktuell ist, ist auch möglich, und was nicht-aktuell ist, ist natürlich auch nicht notwendig. Nicht alles jedoch, was nicht-aktuell ist, ist schon deshalb unmöglich, und nicht alles, was aktuell ist, ist eo ipso notwendig. Für die Semantik der
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modalen Kontexte brauchen wir also semantische Werte, die wesentlich feinkörniger sind als die Frege’schen das Wahre und das Falsche. Die Standardprozedur, die man hier anwendet, ist der Übergang zur Semantik der möglichen Welten. Gemäß dieser Auffassung werden den Sätzen als semantische Korrelate nicht länger einfach Wahrheitswerte zugeordnet. Jedem Satz entspricht jetzt eine Funktion, die die möglichen Welten in die Wahrheitswerte abbildet. Im Rahmen der Standardsemantik für extensionale Kontexte, die sich auf die aktuelle Welt beschränkt, können die Sätze als 0-stellige Prädikate betrachtet werden. Im Rahmen einer Semantik der möglichen Welten werden sie hingegen zu 1-stelligen Prädikaten.2 Im Rahmen einer Semantik der möglichen Welten führt man also die Menge von möglichen Welten W ein und legt Folgendes fest: (i) Ein nicht modalisierter Satz ist genau dann wahr, wenn er für ein ausgezeichnetes Element von W (für die Welt w∗ , die intuitiv als die aktuelle Welt zu verstehen ist) den Wahrheitswert wahr annimmt; (ii) ein Satz der Form „♦p“ ist genau dann wahr, wenn es zumindest ein Element von W gibt, für das der Satz p den Wahrheitswert wahr annimmt; und (iii) ein Satz der Form „2p“ ist genau dann wahr, wenn der Satz „p“ für alle Elemente von W den Wahrheitswert wahr annimmt. In den entgegengesetzten Fällen sind die entsprechenden Sätze falsch. Man kann das auch so verstehen, dass die Semantik der möglichen Welten die folgende „Extensionalisierung“ des modalen Diskurses vorschlägt:
2
Der modale Diskurs
Der „extensionalisierte“ modale Diskurs
p
p(w*)
p
w[p(w)]
p
w[p(w)]
Jedes n-stellige Prädikat wird dadurch zu einem n + 1-stelligen Prädikat.
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kapitel 7
Wie wir sehen, werden die Sätze im Rahmen einer Semantik der möglichen Welten gewissermaßen zu 1-stelligen Prädikaten, und ihre semantischen Werte sind dementsprechend Funktionen. Da wir es aber in diesem Fall mit Funktionen zu tun haben, die nur zwei Werte zuordnen (wahr und falsch), reicht es, wenn die semantischen Werte von Sätzen als die entsprechenden Mengen interpretiert werden, und zwar als die Mengen von denjenigen Argumenten, für die der jeweilige Satz den Wert wahr erhält. Auf diese Weise gelangen wir zur üblichen Auffassung, nach der die semantischen Werte mit den Mengen von möglichen Welten identifiziert werden. Dies entspricht übrigens genau der Weise, in der die Standardsemantik für die Prädikatenlogik erster Stufe entwickelt wird. Auch hier sind die semantischen Werte eigentlich Funktionen. Nur die Tatsache, dass nur zwei Fälle als ihre Werte zugelassen werden – ein Prädikat wird durch einen Gegenstand (bzw. durch ein geordnetes n-Tupel von Gegenständen) entweder erfüllt oder nicht erfüllt –, macht es möglich, die semantischen Werte von Prädikaten einfach als die entsprechenden Mengen zu interpretieren, und zwar standardmäßig als die Mengen von denjenigen Gegenständen (bzw. von denjenigen geordneten n-Tupeln von Gegenständen), die die entsprechenden Prädikate erfüllen. Wir sehen jetzt auch deutlicher, warum man die Semantik der möglichen Welten als eine „Extensionalisierung“ der modalen Kontexte betrachten kann. Im Rahmen einer Semantik der möglichen Welten erhalten wir also folgendes Bild: (1) Wir haben eine Domäne von möglichen Welten W mit dem ausgezeichneten Element w∗ . (2) Mit jedem Satz wird als sein Wahrheitswert eine entsprechende Untermenge von W korreliert (intuitiv: die Menge derjenigen Welten, in denen der Satz wahr ist). Für den Grenzfall eines Satzes, der eine komplette mögliche Welt beschreibt, wird es eine Einermenge sein. In dieser Weise werden also alle Sachverhalte (Objektive), die intuitiv gesehen lediglich „Teile“ einer kompletten möglichen Welt bilden, als mengentheoretische Konstruktionen aus möglichen Welten uminterpretiert. Das Meinong’sche Konstitutionssystem, das wir erhalten, enthält also als primitive Elemente die Domäne der möglichen Welten W mit dem ausgezeichneten Element w∗ . Die Sachverhalte (Objektive) werden als Mengen der Elemente von W konstruiert. Wie wir gesehen haben, werden die konkreten Individuen beim späten Meinong im Grunde
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als Objektive interpretiert. Sie können also ebenfalls als Mengen von möglichen Welten betrachtet werden. Bei Meinong gibt es allerdings noch ein Paar Besonderheiten, die erwähnt werden müssen. Erstens finden wir bei ihm die einfachen Objekte der Form „[F]“. Gibt es einen Weg, auch sie als mengentheoretische Konstruktionen aus den möglichen Welten zu interpretieren? Es scheint, dass man das zumindest annährend erreichen kann. Wir erinnern uns, dass es bei Meinong zwei Formen gibt, in denen eine Eigenschaft auftreten kann. Einerseits haben wir die Form „[F]“. In dieser Form ist die Eigenschaft als ein absolut einfaches Objekt zu interpretieren, das in dieser Form mit keinem anderen Objekt kombiniert werden kann. Die Eigenschaften der Form „[F]“ sind somit definitiv unprädizierbar. Um eine prädizierbare Eigenschaft zu bekommen, muss ein solches einfaches Objekt gewissermaßen in ein Objektiv eingebettet werden, nämlich in ein Objektiv der Form „∃xExF x“, das bei Meinong der Frege’schen Form „∃xFx“ entspricht. Die Meinong’schen einfachen Objekte der Form „[F]“ werden also mit den atomaren Sachverhalten der Form „∃xFx“ ein-eindeutig korreliert, und man kann versuchen, im Rahmen einer Meinong’schen Ontologie der möglichen Welten auf die Entitäten der Form „[F]“ zugunsten der Entitäten der Form „∃xFx“ einfach zu verzichten. Das ist zweifellos eine gewisse Abweichung von der Lehre Meinongs; wir erachten sie aber nicht als gravierend, denn es ist höchst fraglich, ob wir wirklich die beiden Eigenschaftsformen (eine prädizierbare und eine unprädizierbare) benötigen. Der zweite Punkt betrifft die Meinong’sche Auffassung der Modalitäten „Es ist möglich / notwendig, dass“ (♦/). Wie wir gesehen haben, betrachtet er die Notwendigkeit als primitive modale Bestimmung von Objektiven, die sich nicht reduzieren lässt. Im System, das wir gerade vorschlagen, ist dies nicht der Fall. Als notwendig sind diejenigen Objektive definiert, die in allen möglichen Welten vorkommen (denen also die Menge von allen möglichen Welten entspricht), und was primitiv ist, ist die festgelegte Menge der möglichen Welten. Zum Schluss müssen wir noch etwas über das Verhältnis des Implektiertseins sagen. Wie wir uns erinnern, definierte Meinong zunächst ein wahres Urteil als ein solches, dessen Objektiv besteht; später behauptete er aber, dass nur vollständige Objektive bestehen können. Urteile, denen
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unvollständige Objektive entsprechen – und das sind ja alle Urteile, die von einem endlichen Subjekt vollzogen werden können –, können unter dieser Voraussetzung nur auf einem Umweg über das Verhältnis des Implektiertseins wahr sein. Ein Urteil ist genau dann wahr, wenn sein Objektiv in einem bestehenden Objektiv implektiert ist. Wie ist aber das Verhältnis des Implektiertseins im Rahmen der Auffassung, die wir hier präsentieren, zu definieren? Da alle Objektive als Mengen von möglichen Welten definiert sind, ist Objektiv a im Objektiv b genau dann implektiert, wenn b eine Untermenge von a ist, wobei natürlich die Identität von a und b nicht ausgeschlossen ist. a is implektiert in b = Df b ⊂ a (Damit diese Definition uneingeschränkt funktioniert, müssen natürlich die Objektive, die den vollständigen möglichen Welten entsprechen, als entsprechende Einermengen interpretiert werden.) Da es nur ein einziges bestehendes Objektiv (die aktuelle Welt w∗ ) gibt, können wir sagen, dass ein Urteil mit dem Objektiv x genau dann wahr ist, wenn w∗ ⊂ x. Das heißt natürlich, dass die aktuelle Welt ein Element der x-Menge bilden muss (w∗ ∈ x), was der üblichen Definition im Rahmen der Ontologie der möglichen Welten entspricht. 2. Eine Meinong’sche Sachverhaltsontologie Das oben skizzierte System scheint kohärent und elegant zu sein. Es gibt aber ein paar Punkte, die es als Rekonstruktion der Meinong’schen Gegenstandstheorie in Frage stellen. Der erste Punkt betrifft das Postulat der epistemischen Transparenz, das wir in diesem Buch schon mehrmals angesprochen haben. Wenn ein Objektiv vom gegenstandstheoretischen Standpunkt her betrachtet wirklich als eine Menge von möglichen Welten zu interpretieren wäre, dann müsste auch jede intentionale Beziehung darin bestehen, dass sich das betreffende Subjekt auf eine solche Menge bezieht. In Kapitel 6 haben wir aber darauf hingewiesen, dass es sehr schwer zu verstehen ist, wie eine solche Menge von möglichen Welten für das entsprechende Subjekt im geforderten Sinn epistemisch transparent sein könnte, es sei denn, sie wird von vornherein als die Menge der Welten definiert, die ein bestimmtes Objektiv enthalten. In diesem
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Fall darf man aber keineswegs sagen, dass die Objektive als Mengen von möglichen Welten definiert werden, denn sie wurden vielmehr als Mittel der Konstruktion der entsprechenden Mengen vorausgesetzt. Diese Beobachtung führt uns zu einer Auffassung, nach der eher die atomaren Objektive als primitiv betrachtet werden sollten, die zusammengesetzten Objektive (und darunter auch die „maximal“ zusammengesetzten Objektive – die möglichen Welten) hingegen als Mengen von solchen atomaren Objektiven interpretiert werden sollten. Der zweite kritische Punkt der Meinong’schen Ontologie der möglichen Welten betrifft das bekannte Problem, das im Rahmen einer solchen Ontologie im Zusammenhang mit dem Begriff der logischen Notwendigkeit und der logischen Äquivalenz auftritt. Der semantische Wert eines Satzes (d.h. das, was einem Sachverhalt, einem Objektiv bzw. einer Proposition entspricht) ist im Rahmen der weltentheoretischen Auffassung die Menge von denjenigen Welten, in denen der betreffende Satz wahr ist. Für alle logisch äquivalenten Sätze wird es aber genau dieselbe Menge sein, und so bekommen wir die Konsequenz, dass allen logisch äquivalenten Sätzen derselbe semantische Wert entspricht, was bedeutet, dass sie alle dieselbe Bedeutung haben. In einer extremen Form tritt dieses Problem im Fall der notwendig wahren Sätze auf. Alle solche Sätze sind natürlich in allen möglichen Welten wahr. Das scheint aber nach sich zu ziehen, dass sie alle dieselbe Bedeutung haben! Auf diese Schwierigkeiten kann man unterschiedlich reagieren. Es gibt viele Philosophen, die die Begriffe der notwendigen Wahrheit und notwendigen Äquivalenz als derart technisch erachten, dass sie bereit sind, die Konsequenz, dass alle logisch äquivalenten Propositionen zu einer einzigen Proposition kollabieren, in Kauf zu nehmen. Es gibt aber auch viele, die diese Konsequenz doch zu kontraintuitiv finden. Sie werden ebenfalls zur Auffassung neigen, die die Erklärungsmuster umkehrt und eher die möglichen Welten als mengentheoretische Konstruktionen aus den atomaren Objektiven sieht. Nach dieser Auffassung sind die Grundentitäten des Systems die atomaren Objektive. Andere Objektive werden als mengentheoretische Konstruktionen aus den atomaren Objektiven interpretiert. Im Besonderen ist jede mögliche Welt eine maximal widerspruchsfreie Menge von atomaren Objektiven. Maximalität und Widerspruchsfreiheit sind
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hier so zu verstehen, dass eine Welt-Menge für jedes atomare Objektiv p entweder p oder seine Negation, nicht aber beides enthält. Dazu muss noch eine primitive Aufteilung der atomaren Objektive kommen, die die Rolle der ausgezeichneten Welt w∗ aus dem vorigen System übernimmt. Das entspricht der ursprünglichen Auffassung Meinongs, nach der die atomaren Objektive einfach in die bestehenden und nicht-bestehenden aufgeteilt werden. Nach der gegenwärtigen Auffassung ist also der Satz „p“ genau dann wahr, wenn „sein“ Objektiv (d.h. das Objektiv, das dem Satz „p“ als semantischer Wert zugeordnet wird) zur Menge der bestehenden Objektive gehört. Es ist ohnehin klar, dass die aktuelle Welt w∗ genau als die Menge aller bestehenden Objektive definiert wird (w∗ = Df p p besteht ). Nach der Semantik der möglichen Welten aus dem vorigen Abschnitt war es umgekehrt: Der Satz „p“ war genau dann wahr, wenn w∗ zur Menge gehörte, die den semantischen Wert von „p“ bildete. Dem Gedanken des späten Meinong, dass nur vollständige Objektive bestehen können, können wir im Rahmen des gegenwärtigen Systems nicht Rechnung tragen. Wenn wir die aktuelle Welt w∗ als die Menge aller bestehenden Objektive definieren, dann können wir natürlich nicht zugleich sagen, dass erst eine komplette Welt bestehen kann. Wir können höchstens eine ziemlich künstliche Lösung einführen, die die unvollständigen Objektive, die zur Welt w∗ gehören, „noch nicht als bestehend“ (sondern etwa als „quasi-bestehend“) bezeichnet und erst der Menge aller quasibestehenden Objektive den Status des „wahren“ Bestehens zumisst. Wir können dann auch sagen, dass ein Objektiv genau dann quasi-besteht, wenn es in einem bestehenden Objektiv implektiert wird, wobei das Verhältnis des Implektiertseins diesmal folgendermaßen definiert wird: a ist implektiert in b = Df a ⊂ b (Damit diese Definition funktioniert, muss man natürlich die atomaren Objektive als die entsprechenden Einermengen interpretieren.) Man muss aber sagen, dass uns eine solche Unterscheidung zwischen dem Bestand und dem Quasi-Bestand sehr wenig bringt. Was weiterhin bleibt, ist nämlich ein besonderer Status, der schon auf der Stufe der atomaren Objektive auftritt. Ob wir ihn „Bestand“ oder irgendwie anders (z.B. „Quasi-Bestand“) nennen, ist eine rein verbale Entscheidung. Meinongs einfache Elemente der Form „[F]“ können, wie es scheint, auch hier als Objektive der Form „∃xFx“ uminterpretiert werden. Was
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aber den Begriff der Notwendigkeit betrifft, so scheint es, dass seine Explikation im Rahmen des gegenwärtigen Systems den Formulierungen Meinongs viel näher liegen könnte. Die möglichen Welten sind nämlich nicht länger primitiv, sondern als bestimmte Mengen von atomaren Objektiven konstruierbar. Diese Konstruktion verläuft nach gewissen Prinzipien (z.B., dass eine mögliche Welt nicht zugleich p und ¬p enthalten darf), und man könnte annehmen, dass diese Prinzipien in gewissen Objektiven kodifiziert werden, die primitiv als „notwendig“ markiert sind. (Alle solche notwendigen Objektive wären natürlich in jeder möglichen Welt enthalten.) Die modale Bestimmung „notwendig“ könnte dann als eine primitive (nicht definierbare) Bestimmung eines Objektivs betrachtet werden, genauso wie es Meinong wollte. 3. Die Form der atomaren Objektive Im Kontext unserer Rekonstruktion der Meinong’schen Lehre müssen wir allerdings auf einen wichtigen Punkt aufmerksam machen. Wir haben gesehen, dass sich seine Intentionalitätstheorie vollständig im Russell’schen deskriptionstheoretischen Schema bewegt. Genauer gesagt geht Meinong sogar einen Schritt weiter als Russell und nähert sich in dieser Hinsicht der Position Quines. Wie wir uns erinnern, war es das Ziel der Russell’schen Theorie der Kennzeichnungen (Russell 1905a), die Meinong’schen Gegenstände als überflüssig zu diskreditieren. Die Aussagen, die Meinong als Beispiele nennt, wie z.B. (1)
Der goldene Berg ist aus Gold
seien nach Russell irreführend. Sie hätten die oberflächengrammatische Form einer Prädikation, in der man eine Eigenschaft von einem nichtexistierenden Gegenstand aussagt. Ihre logische Form sehe aber ganz anders aus. Der Satz (1) sollte beispielsweise folgendermaßen übersetzt werden: (2)
∃xBx ∧ Gx ∧ ∀yBy ∧ Gy ⊃ y = x ∧ Gx
wobei die Prädikate „B“ und „G“ als „ist ein Berg“ und „ist aus Gold“ zu lesen sind. Da die intendierte Bedeutung des Russell’schen ExistenzQuantors unserem „normalen“ Existenzbegriff entsprechen soll, erweist
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kapitel 7
sich der Satz, den Meinong für wahr gehalten hatte, nach der Russell’schen Übersetzung als falsch. Und das ist, behauptet Russell, die einfachste Weise, in der man mit den nicht-referierenden singulären Termen umgehen kann. Sie sind nur angebliche Terme, da ihre logische Form nur Prädikate und quantifizierte Variablen enthält, wobei die Kombination dieser Prädikate durch keinen Gegenstand erfüllt ist. Quine geht noch einen Schritt weiter. Wenn wir die entsprechenden Sätze gemäß den Russell’schen Richtlinien wirklich vollständig analysieren, dann sehen wir, behauptet er, dass wir gar keine Eigennamen brauchen. Jeder Eigenname kann nämlich nach Quine in ein entsprechendes Prädikat umgewandelt werden. Der Satz (3)
Sokrates denkt
wird beispielsweise zum Satz (4)
∃xsokratisiert ∧ ∀yy sokratisiert ⊃ y = x ∧ x denkt
und der Satz (5)
Pegasus fliegt
soll als (6)
∃xx pegasiert ∧ ∀yy pegasiert ⊃ y = x ∧ x fliegt
gelesen werden. Wir sehen, dass die Quinesche Lesart ziemlich genau dem entspricht, was uns der späte Meinong vorschlägt. Er sagt ebenfalls, dass jede intentionale Beziehung auf ein konkretes Individuum nur durch eine Kombination von Prädikaten erfolgen kann, die auf dieses Individuum zutreffen. Auch bei Meinong gibt es also keine genuinen Eigennamen. Es ist sicherlich eine Ironie der Geschichte, dass das Instrumentarium, das Russell und Quine in einer explizit antimeinongschen Absicht entwickelten, zugleich auch von Meinong angewendet wurde. Es gibt aber einen grundlegenden Unterschied zwischen der Meinong’schen und der Russell-Quine’schen Position, der diese Kontroverse ein wenig erklärt.
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Bekanntermaßen hat Quine alle Prädikate als ontologisch belanglos betrachtet. Die einzige syntaktische Position, die etwas über die involvierte Ontologie besagt, ist eine nominale Position; und da Quine alle singulären Terme durch quantifizierte Variablen ersetzt, bilden diese Variablen den einzigen Maßstab, an dem man die ontologischen Verpflichtungen der jeweiligen Theorie messen kann. Das ist der Hintergrund von Quines Slogan, dass Existieren nichts anderes heißt als ein Wert einer quantifizierten Variable Sein. Was Russell betrifft, so ist die Sache bei ihm ein wenig komplizierter. Zweifellos hatte er eine starke Neigung, platonische Universalia als semantische Werte der Prädikate zu stipulieren. Gemäß dieser Auffassung darf man natürlich auf keinen Fall sagen, dass die Prädikate ontologisch belanglos sind, denn jedem Prädikat (einer entsprechend analysierten Sprache) entspricht jetzt eine ewige platonische Entität. Was aber wichtig ist, ist die Tatsache, dass solche Universalien im Vergleich zu den konkreten Individuen oft einen ziemlich speziellen theoretischen Status genießen. Viele Philosophen, die solche Universalien einführen, betrachten sie nämlich (merkwürdigerweise) als „nicht so wichtig“ wie konkrete Individuen. Universalien „gebe es“ zwar, sie seien jedoch „bloß abstrakt“ (was hier heißen soll, dass sie nicht raumzeitlich lokalisiert sind – die weit verbreitete Verwendung des Wortes „abstrakt“, die wir in diesem Buch konsequent vermeiden). Aus der so verstandenen „Abstraktheit“ soll dann folgen, dass man derartige Entitäten für semantische Zwecke ontologisch „fast harmlos“ postulieren darf. Worum es „wirklich gehe“, das seien doch die konkreten (d.h. raumzeitlich lokalisierten) Individuen, von denen die Naturwissenschaften handeln. Es scheint, dass auch Russell (zumindest zur Zeit als er den Aufsatz „On Denoting“ schrieb) mit dieser Auffassung sympathisierte. Nur dadurch wäre ja zu erklären, dass er seine Deskriptionstheorie als eine Lösung des Meinong’schen Problems betrachten konnte. Dass die semantischen Werte der involvierten Prädikate von vornherein als „ontologisch weniger anstößig“ als die entsprechenden Werte für die singulären Terme betrachtet werden, war eine wichtige Voraussetzung seiner Analyse. Bei Meinong sieht die ganze Sache natürlich völlig anders aus. Als semantische Werte der Prädikate werden die prädizierbaren Eigenschaften angenommen, die bei Meinong, wie wir wissen, die Form „∃xExF x“ (d.h. „∃xFx“) haben. Den gegenstandstheoretischen Kern solcher Eigen-
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schaften bilden die einfachen Objekte (die nicht-prädizierbaren, vorstellbaren Eigenschaften) der Form „[F]“. Weder die einfachen Objekte noch die einfachsten Objektive sind nun vom gegenstandstheoretischen Standpunkt aus gesehen belanglos. Ganz im Gegenteil, was die ontologischen Verpflichtungen angeht, werden sie von Meinong auf genau dieselbe Stufe gestellt wie die konkreten Individuen (die übrigens, wie wir wissen, in ihren tieferen Strukturen ebenfalls Objektive sind). Dass Meinong die Russell-Quine’sche Übersetzung im Grunde akzeptiert, führt bei ihm also nicht zur Auffassung, die der syntaktischen Position der quantifizierten Variable irgendeine vom ontologischen (oder genauer gesagt: gegenstandstheoretischen) Standpunkt her privilegierte Stellung zumisst. Sowohl die semantischen Werte der quantifizierten Variablen als auch die semantischen Werte der Prädikate und der Symbole der Form „[F]“ genießen zunächst genau denselben gegenstandstheoretischen Status: den des Außerseins. Eine für unsere Rekonstruktion wichtige Konsequenz betrifft allerdings die syntaktische Form der atomaren Sätze und die gegenstandstheoretische Form der atomaren Objektive. Die atomaren Sätze der Form (7)
Fn a1 a2 an
wobei das Symbol „Fn “ für ein n-stelliges Prädikat und die Symbole „a1 “, ,,a2 “ ,,an “ für n Individuenkonstanten stehen, gibt es nämlich in einer nach den Richtlinien des späten Meinong rekonstruierten Sprache schlicht und einfach nicht, und zwar deshalb, weil es in einer solchen Sprache überhaupt keine Individuenkonstanten gibt. Ein atomarer Satz der Form (8)
Fa
nimmt bei Meinong die Form (9)
∃xAx ∧ Fx
an, wobei das Prädikat „A“ soviel wie „ist (ein) a“ bedeutet und so in seiner Rolle dem Quine’schen „sokratisiert“ oder „pegasiert“ entspricht.
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Hier sehen wir übrigens einen weiteren wichtigen Punkt, der die Position Meinongs von der Russell-Quine’schen Auffassung unterscheidet. Wenn wir uns die Übersetzung Quines noch einmal vor Augen halten: (6)
∃xx pegasiert ∧ ∀yy pegasiert ⊃ y = x ∧ x fliegt
bemerken wir, dass es dort eine wichtige Einzigkeitsbedingung „∀yy pegasiert ⊃ y=x“ gibt. Sie besagt, dass es nur einen einzigen Gegenstand geben kann, der pegasiert, und wir finden das auch in Ordnung, denn der paraphrasierte Term „Pegasus“ soll ja ein singulärer Term sein. Bei Meinong ist dem aber anders. Wir finden bei ihm keine solche Einzigkeisbedingung, und wir wissen, dass auch das in Ordnung ist. Eine solche Bedingung wäre prinzipiell unerfüllbar, denn im Meinong’schen Außerseinsbereich gibt es für jede Kombination von Prädikaten garantiert mehrere Gegenstände, die sie erfüllen. Man kann es auch so fassen, dass es in einer Meinong’schen Sprache streng genommen keine singulären Terme (und zwar nicht einmal paraphrasierte singuläre Terme!) gibt. Genauer gesagt gibt es bei Meinong zwei Fälle, in denen die Einzigkeitsbedingung erfüllt sein könnte. Der erste Fall betrifft die Situationen, in denen der Referenzbereich von vornherein auf die existierenden Gegenstände eingeschränkt wird. Dies ist bei Meinong dann der Fall, wenn nicht bloß ein Soseinsmeinen, sondern ein Seinsmeinen im Spiel ist. In diesem Fall haben wir die folgende Form: (10)
∃xAx ∧ Fx ∧ E!x
und der ganze semantische Apparat funktioniert hier ähnlich wie bei Russell. Existiert kein Gegenstand, auf den zugleich die Prädikate „A“ und „F“ zutreffen, dann ist (10) falsch. Bei einem Soseinsmeinen, das seine semantischen Werte im ganzen Bereich des Außerseins sucht, finden wir natürlich immer einen Gegenstand – und normalerweise sogar mehrere Gegenstände –, die zugleich A und F sind. Innerhalb des Bereichs des Existierenden ist es wohl auch möglich, dass es nur einen einzigen Gegenstand gibt, der zugleich A und F ist.
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Eine entsprechende Einzigkeitsklausel ist also nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Form (11)
∃xAx ∧ ∀yAy ⊃ y = x ∧ Fx ∧ E!x
scheint also sinnvoll zu sein. Das Problem besteht jedoch darin, dass es nach Meinong nicht nur Urteile, sondern auch Annahmen gibt und dass sich diese zwei Gruppen von Phänomenen nicht durch ihren Inhalt, sondern vielmehr durch den psychischen Modus, in dem sie vollzogen werden, unterscheiden sollen. Ist also die Form, in der eine Einzigkeitsbedingung „∀yAy ⊃ y = x“ auftritt, als die Form einer Annahme unzulässig, soll sie ebenfalls als die Form eines Urteils disqualifiziert werden. Und als die Form einer Annahme ist eine solche Form zweifelsohne unzulässig. Ein wichtiges Prinzip der Meinong’schen Gegenstandstheorie ist nämlich das Prinzip der Annahmefreiheit. Es besagt, dass man für jede Annahme im Bereich des Außerseins ein geeignetes Objektiv finden kann. Wäre nun die Einzigkeitsbedingung ein zulässiger Bestandteil eines Urteils, könnten wir sie auch in einer Annahme verwenden und den Inhalt (11) annehmen. In diesem Fall würde aber das Prinzip scheitern, denn die Einzigkeitsbedingung „∀yAy ⊃ y=x“ ist, wie gesagt, im Bereich des Außerseins garantiert nicht erfüllt. Für die Russell’sche Einzigkeitsbedingung kann es also im Rahmen der Meinong’schen Gegenstandstheorie keine Entsprechung geben. Ein Ausweg aus dieser Situation könnte höchstens darin bestehen, die Einzigkeitsbedingung als eine außerkonstitutorische Bestimmung zu betrachten, d.h. als eine Bestimmung, für die das Prinzip der Annahmefreiheit ex definitione nicht gilt. Es gibt aber einen ziemlich speziellen Fall, in dem man sogar im Fall einer reinen Soseinsmeinung (d.h., wenn man sich nicht auf den Bereich des Existierenden beschränken will) von der Einzigkeit des intendierten Gegenstands sprechen kann. Dieser Fall liegt dann vor, wenn die Beschreibung des Gegenstands absolut vollständig ist, wenn sie jede kleinste Einzelheit des relevanten Gegenstands spezifiziert, wenn sie für jedes einfache Element des Meinong’schen Universums genau spezifiziert, in welchem Verhältnis es zum diskutierten Gegenstand
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steht. Eine solche „Leibniz’sche“ Beschreibung,3 die die Einzigkeit ihres Gegenstands wirklich garantiert, könnte natürlich nur eine vollständige Beschreibung einer kompletten möglichen Welt sein. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, dass die Meinong’schen vollständigen Gegenstände unvermeidbar zu den vollständigen möglichen Welten auswachsen. Zwei Voraussetzungen sind notwendig, damit eine vollständige Beschreibung einer möglichen Welt wirklich die Einzigkeit ihres Gegenstands garantiert. Die erste Voraussetzung ist das Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren, das oft auch Leibniz’ Prinzip genannt wird. Wir haben gesehen, dass Meinong dieses Prinzip akzeptiert. Die zweite Voraussetzung ist, dass wir unser gegenstandstheoretisches Universum auf mögliche Welten einschränken. Wenn wir auch unmögliche (widersprüchliche) Welten zulassen würden, würde es für jede mögliche Welt w zumindest eine unmögliche Welt w geben, die alles enthält, was in w zu finden ist, und dazu noch einige Objektive, die zu dem „Inhalt“ von w in Widerspruch stehen.4 Die Voraussetzung, dass es im Meinong’schen Universum nur mögliche Welten gibt, machen wir vorläufig in diesem
3
Vgl. die folgenden Bemerkungen Leibniz’ zum Begriff der Substanz: „Es ist wohl wahr, dass man, wenn mehrere Prädikate ein und demselben Subjekte zugeschrieben werden, und wenn dieses Subjekt wiederum keinem anderen mehr zugeschrieben wird, dies eine individuelle Substanz nennt; das ist aber nicht ausreichend, und eine solche Erklärung ist nur nominal. [ ] Nun steht fest, dass jede wahre Aussage eine Grundlage in der Natur der Sache hat, und wenn ein Satz nicht identisch ist, das heißt, wenn das Prädikat nicht im Subjekte enthalten ist, so muss es darin virtuell enthalten sein, und das nennen die Philosophen in-esse (In-sein), indem sie sagen, dass das Prädikat im Subjekt ist. So muss der Subjektbegriff immer den des Prädikats in sich schließen, derart, dass derjenige, der den Begriff des Subjektes vollkommen verstünde, auch urteilen würde, dass das Prädikat ihm zugehört. Da dies so ist, können wir sagen, dass die Natur einer individuellen Substanz oder eines vollständigen Wesens darin besteht, einen so erfüllten Begriff zu haben, dass er zureichend ist, um alle Prädikate des Subjekts, dem dieser Begriff zugeschrieben wird, zu verstehen und daraus abzuleiten.“, Leibniz 1686, S. 75. 4 Ob es nur eine einzige derartige mögliche Welt oder mehrere davon gibt, hängt davon ab, ob die unmöglichen Welten unter der logischen Implikation abgeschlossen sind. Wäre das der Fall, hätten wir überhaupt nur eine einzige unmögliche Welt, die für jedes Objektiv o sowohl o als auch seine Negation enthielte.
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Kapitel. In den zwei letzten Abschnitten werden wir noch untersuchen, ob sie zu halten ist. 4. Eine Meinong’sche Eigenschaftsontologie Meinong hat, wie wir gesehen haben, auch von den einfachen Elementen der Form [F] gesprochen, die erst durch eine Verbindungsform (Konfiguration) zu einem Individuum (der propositionalen Form) zusammengesetzt werden. Das legt den Gedanken nahe, dass ein Meinong’sches Konstitutionssystem auch die Gestalt einer Eigenschaftsontologie annehmen könnte. Die Entitäten, die wir bei Meinong finden, sind entweder einfache Objekte der Form [F] oder zusammengesetzte Objektive, die Zusammenfügungen von einfachen Objekten sind. Die Objekte selbst sind nun letzten Endes das, was Meinong als Entsprechungen von Prädikaten in „absoluter Bedeutung“ betrachtet, denn wir erinnern uns, dass das, was wir vorphilosophisch als ein Objekt bezeichnen würden, nach Meinong erst durch eine identifizierende Kennzeichnung aus dem Bereich des Außerseins ausgewählt werden kann, und zwar durch eine propositionale intentionale Beziehung der Form ∃xFx ∧ Gx ∧ Hx ∧ so dass von einem vorphilosophischen nominalen Objekt eigentlich nur die Form ∃x ∧ ∧ ∧ übrig bleibt. Das ist aber gerade die Form der Zusammenfügung von einfachen Eigenschaftsobjekten – die Form des Objektivs. Es sollte also im Prinzip möglich sein, als die grundlegende Stufe der Meinong’schen Gegenstandstheorie die einfachen Eigenschaften anzunehmen und alle anderen Gegenstände als „aus Eigenschaften frei komponierbar“ zu betrachten. Ein zusammengesetzter Gegenstand wäre nach dieser Auffassung so etwas wie ein Bündel von „kompräsenten“ Eigenschaften. In diesem Abschnitt versuchen wir, diese Interpretation zu entwickeln.
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Wenn wir diesen Weg gehen, dann sind die primitiven Entitäten des Systems die einfachen Eigenschaften und Relationen der Form [F] (sie bilden die Domäne E, und alle anderen Entitäten werden als mengentheoretische Konstruktionen aus den Elementen von E interpretiert. Wir erinnern uns, dass eine der wichtigsten Thesen Meinongs die These der Annahmefreiheit war. Diese These lässt sich auch so fassen, dass man in einer Annahme jede beliebige Kollektion von Eigenschaften zu einem Gegenstand vereinigen kann und dass jeder solchen Annahme garantiert ein Gegenstand „jenseits von Sein und Nichtsein“ entspricht. Die zusammengesetzten Gegenstände werden also als Mengen von Eigenschaften aufgefasst, etwa: F G , F G H etc.5 Wenn man auch die mehrstelligen Relationen berücksichtigt, kompliziert sich die Konstruktion ein wenig. Bei einer 2-stelligen Relation R muss man z.B. zwei Stellen unterscheiden, an denen diese Relation mit einer gewissen Eigenschaft (oder einer Stelle einer anderen Relation) kompräsent sein kann. Es reicht also nicht, eine Menge {[F], [R]} zu bilden, denn dies sagt nichts darüber aus, welches Glied der Relation R einen F-Gegenstand bildet. Man muss die Relationen irgendwie „indizieren“, so dass man bei jeder n-stelligen Relation n Positionen der Kompräsenz unterscheiden kann (bei einer 2-stelligen Relation etwa: F R1 bzw. F R2 . Mit mengentheoretischen Mitteln kann man eine solche Indizierung simulieren, indem man geordnete Paare (oder allgemeiner: geordnete n-Tupeln) bildet. Bei einer 2-stelligen Relation würde man z.B. zwischen < R F G > und < R G F > unterscheiden müssen, je nachdem, ob die Relation R von einem F-Gegenstand zu einem G-Gegenstand oder umgekehrt verläuft. Ein geordnetes Paar < a b > kann man dann bekanntlich als a b a darstellen, und die geordneten n-Tupeln kann man mittels der geordneten Paare (z.B. < a b c > als c > usw.) definieren. Am Ende würde also < R F G > etwa folgendermaßen aussehen: R F R G R F R 5
Das entspricht weitgehend der Auffassung Parsons’. Er sagt zwar, dass die individuellen Gegenstände (Parsons 1980, S. 93) nicht Mengen von Eigenschaften sind, repräsentiert sie aber in seinem Buch als derartige Mengen.
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Die Konstruktion sieht ziemlich unübersichtlich aus, der Punkt ist aber, dass man die beliebig zusammengesetzten Gegenstände als mengentheoretische Konstruktionen aus den einfachen Objekten der Form [F] interpretieren kann. Was wir noch brauchen, ist die primitive Aufteilung von allen solchen mengentheoretischen Konstruktionen in bestehende und nichtbestehende. Eine alternative Möglichkeit wäre hier, nur eine der maximalen Konstruktionen als bestehend zu bezeichnen (sie würde dann natürlich die Rolle der aktuellen Welt w∗ übernehmen) und das entsprechende Verhältnis des Implektiertseins zu definieren, etwa: a is implektiert in b = Df a ⊂ b 5. Die Struktur der konkreten Individuen Um diese Interpretationsmöglichkeit zu konkretisieren, müssen wir aber zuerst sagen, in welchem Sinn Meinongs zusammengesetzte Gegenstände „aus Eigenschaften bestehen“. Dieses Problem ist in der Tat eines der ewigen Themen der Ontologie. In der Umgangssprache sagt man oft, dass Dinge Eigenschaften „haben“, und die Metaphysik bemüht sich, diesen Sinn des „Habens“ zu präzisieren. In unserem Kontext werden vor allem zwei Dimensionen dieser Präzisierung wichtig. Die erste Dimension betrifft die Struktur der konkreten Individuen – die Art und Weise ihrer Komposition. Wir werden hier zwischen der Bündeltheorie, der Substrattheorie und der Substanztheorie unterscheiden. Die zweite Dimension betrifft die Natur der Eigenschaften selbst. Wir besprechen hier den Unterschied zwischen der Universalien- und Tropenontologie einerseits und der mengentheoretischen Auffassung der Eigenschaften als Mengen von konkreten Individuen andererseits. Im Rahmen der letztgenannten Theorie wird übrigens das ontologische Gesamtbild so stark geändert, dass uns diese Auffassung zum nächsten Meinong’schen Konstitutionssystem führen wird. Die erste Auffassung, die wir „Bündeltheorie“ nennen, ist auch die auf den ersten Blick einfachste. Nach der Bündeltheorie hat ein Gegenstand seine Eigenschaften genau in der Weise, dass er ein Bündel von diesen Eigenschaften ist. Nach dieser Theorie bilden also die Eigenschaften Teile ihrer Gegenstände, wobei der Sinn, in dem man hier von einem
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Teil spricht, dem paradigmatischen Sinn, in dem man von mereologischen Teilen spricht, sehr nahe liegt. Gegenstände sind Bündel von ihren Eigenschaften. Sie bestehen aus ihren Eigenschaften. Außer den Eigenschaften gibt es, wollte man sagen, nichts, was in einem Gegenstand noch zu finden wäre. Viele Philosophen haben allerdings argumentiert, dass diese Auffassung nicht ganz richtig ist. Dass man in einem Gegenstand noch etwas außer seinen Eigenschaften postulieren muss, begreifen wir, sobald wir an Eigenschaften denken, die zu verschiedenen Gegenständen gehören. Denken wir uns eine Welt, in der es nur einen weißen Kubus und eine schwarze Kugel gibt. Unter der Voraussetzung, dass es in unserer Welt keine nicht-exemplifizierten Eigenschaften gibt, haben wir also nur vier Eigenschaften: weiße Farbe (W), schwarze Farbe (S), Kugel-Gestalt (Kg) und Kubus-Gestalt (Kb). Aus diesen Eigenschaften können wir nun folgende Mengen konstruieren: W S Kg Kb W S Kg W S Kb W Kg Kb S Kg Kb W S W Kg W Kb S Kg S Kb Kg Kb W S Kg Kb . Der großen Mehrheit von diesen Mengen entsprechen allerdings keine Gegenstände. Die einzigen Mengen, denen Gegenstände entsprechen, sind ex hypothesi W Kb und S Kg . Es muss also noch etwas geben, das ausschließlich für die Mengen W Kb und S Kg charakteristisch ist und das diese Mengen im Vergleich zu den anderen Mengen auszeichnet. Eine typische Bündeltheorie sagt uns, dass die Eigenart der Mengen W Kb und S Kg darin besteht, dass zwischen den Eigenschaften, die zu diesen Mengen gehören, eine besondere Relation besteht, die wir die Relation der Kompräsenz (KP) nennen können. Die Tatsache, dass es in unserer Welt genau zwei Gegenstände gibt, lässt sich also auch folgendermaßen ausdrücken: ∀ ∀ KP ≡ = W ∧ = Kb∨ = S ∧ = Kg Diese Formel sagt uns, dass es in unserer Welt nur zwei Paare von Eigenschaften gibt, die kompräsent sind: das Paar W Kb und das Paar S Kg . Wie gut eine derartige Bündeltheorie funktionieren wird, hängt allerdings stark davon ab, mit welchem Begriff der Eigenschaft man
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dabei hantiert. Es scheint, dass die Eigenschaften, die sich für eine solche Bündeltheorie eignen, nicht Universalien, sondern individuelle Eigenschaften (Tropen) sein müssen. Um das zu verstehen, rufen wir uns die nachstehende bekannte Argumentation in Erinnerung. Individuen sind nach der Bündeltheorie gewissermaßen Zusammenfügungen von Eigenschaften. Der ganze Witz der Bündeltheorie besteht darin, dass ein konkretes Individuum (außer der bündelnden Relation) nicht mehr enthält als seine Eigenschaften. Stellen wir uns jetzt eine Welt vor, die aus den raumzeitlich lokalisierten Punkten besteht. Solche Punkte sind jetzt unsere Individuen. Betrachten wir ferner die räumliche und zeitliche Lokalisierung als absolute Eigenschaften (wie man es gewöhnlich in der Brentano-Schule tat). In dieser Welt erhalten wir ein Individuum, wenn wir drei Eigenschaften, Qualität, Raum und Zeit (nennen wir sie: Q R Z), durch die Relation der Kompräsenz verbinden. Stellen wir uns jetzt vor, dass die involvierten Eigenschaften Universalien sind. In diesem Fall können sie, als numerisch dieselben, von mehreren Individuen gehabt werden. Dieselbe Qualität Q könnte auch in einer anderen raumzeitlichen Position präsent sein, und dieselbe zeitliche Position Z könnte auch mit anderen räumlich-qualitativen Aspekten verbunden werden. Warum gilt aber dasselbe nicht von der Zusammenfügung von Q R und Z? Mit anderen Worten: Warum bilden die Bündel von kompräsenten Eigenschaften nicht bloß neue (zusammengesetzte) Universalien, die als solche immer noch von mehreren Individuen exemplifiziert werden könnten? Welche Zauberkraft erzeugt die Individualität? Ein Anhänger der Universalien-Bündeltheorie kann diese Zauberkunst auf verschiedene Weisen erklären, aber keine dieser Erklärungen funktioniert völlig zufrieden stellend. Zum einen kann die Antwort in der Eigenart der Relation der Kompräsenz gesucht werden. Kompräsenz ist nach diesem Vorschlag wesentlich mehr als eine bloße Zusammenfügung von Eigenschaften. Zur Kompräsenz gehört wesentlich, dass die kompräsenten Eigenschaften eben kompräsent im Rahmen eines Individuums sind. Dies ist eine primitive, weiter unerklärbare Eigenschaft der Kompräsenz-Relation; und eine traurige, aber auch ernüchternde Wahrheit lautet, dass jede Theorie derartige primitive Termini und Axiome enthalten muss.
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Dieser Vorschlag sieht zum Teil ganz vernünftig aus. Primitive Axiome muss es in der Tat in jeder Theorie geben. Nach genauerem Hinsehen scheint es allerdings, dass durch eine derartige Präzisierung die ganze anfängliche Einfachheit und Eleganz der Theorie verloren geht. Was nämlich die Bündeltheorie so attraktiv macht, ist der Eindruck, dass das ganze „Material“, aus dem die Welt der Individuen besteht, „fast ausschließlich“ Eigenschaften sind. Was dazukommt, ist „lediglich“ die Relation der Kompräsenz. Diese Relation ist aber sehr einfach. Sie „hält“ bloß die Eigenschaften „zusammen“, induziert aber keine zusätzliche Struktur, die ontologisch interessant wäre. Nur deswegen können wir uns mit dem Bild erfreuen, nach dem Eigenschaften gewissermaßen „Teile“ von konkreten Individuen bilden. Dieses Bild kommt uns aber jetzt endgültig abhanden. Die Relation der Kompräsenz erweist sich als extrem theoretisch beladen. Sie fügt nicht nur Eigenschaften zusammen, sondern bewirkt auch, dass diese zusammengefügten Eigenschaften ihren ontologischen Status dramatisch ändern. So zusammengefügt bilden sie nicht ein zusammengesetztes, mehrfach exemplifizierbares Universale, sondern werden stattdessen zum einmaligen Individuum. Der Mechanismus dieser Zauberei ist uns unbekannt, aber wir können vermuten, dass sich dadurch die innere Struktur des Bündels wesentlich komplizieren muss, so dass es unklar ist, inwiefern wir dabei noch von einem Bündel sprechen dürfen. Wir können diese Fragen nicht beantworten, weil die individuierende Kraft der Kompräsenz-Relation zu einem primitiven weiter unerklärbaren Definitionsmerkmal gemacht wurde. Dem Eindruck, dass man dabei an der falschen Ecke gespart hat, ist sehr schwer zu widerstehen. Angesichts dieser Verkomplizierung ist es nicht verwunderlich, dass es auch andere Vorschläge gibt. Einer davon ist die berühmt-berüchtigte Lehre von individuellen Naturen, die wir Duns Scotus verdanken. Was ein Individuum individuiert, behauptet Duns Scotus, ist nichts anderes als eine weitere Eigenschaft. So wie man aus einer Eigenschaft (einem genus): Tier durch Hinzufügung einer differentia specifica: vernünftig eine neue, reicher bestimmte Eigenschaft (eine species): Mensch bekommt, so bekommt man einen konkreten individuellen Menschen durch nichts anderes als durch Hinzufügung einer neuen differentia zu einer species
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(zur species Mensch). Diese differenzierende Eigenschaft – die individuelle Natur – heißt bei Scotus haecceitas, was soviel wie Diesheit bedeutet.6 Diese Lehre sagt uns also weiter, dass ein Individuum streng genommen aus lauter Eigenschaften besteht. Was es zu einem einmaligen Individuum macht, ist die Anwesenheit einer Eigenschaft die ex definitione nur einmalig exemplifiziert werden kann. Diese Besonderheit folgt aber nicht etwa daraus, dass haecceitas eine individuelle Eigenschaft (ein Tropus) wäre; haecceitas ist „an sich“ immer noch ein Universale, ihre Einmaligkeit folgt eher daraus, dass sie – bildlich gesprochen – „so genau“ ist, dass sie nur von einem einzigen Individuum exemplifiziert werden kann. Die Schwierigkeit dieser Lehre liegt in erster Linie im Begriff der haecceitas. Gibt es wirklich solche individuellen Naturen? Gibt es eine Qualität der Individualität? Dass man sich so etwas nur sehr schwer vorstellen kann, ist auch der Grund dafür, dass man in der zeitgenössischen Literatur haecceitas häufig als eine nicht-qualitative Eigenschaft versteht, etwa als Eigenschaft, die dem Prädikat „ist identisch mit a“ entsprechen würde, wenn hier „a“ als ein genuiner Eigenname (also keine verkappte Kennzeichnung) zu verstehen wäre. Es scheint jedoch, dass diese Umdeutung einerseits der ursprünglichen Lehre von Scotus nicht entspricht und andererseits auch wenig bringt. Denn die Idee einer solchen nicht-qualitativen individuierenden Eigenschaft ist keineswegs leichter zu verstehen.
6
Vgl. „Alles Rangniedere [inferius] schließt in sich wesensmäßig etwas ein, das nicht im Begriff des Ranghöheren [superius] eingeschlossen wird; ansonsten wäre der Begriff des Rangniederen genauso allgemein wie der Begriff des Ranghöheren und damit das ,wesensmäßig Rangniedere‘ nicht wesensmäßig Rangniederes, da es ja nicht unter dem Allgemeinen und Ranghöheren stände; folglich wird im Begriff des Individuums wesensmäßig etwas eingeschlossen, das nicht im Begriff der Natur eingeschlossen wird. Dieses ,Eingeschlossene‘ ist nun aber eine positive Entität [ ]; und es schafft ein ,wesensmäßig Eines‘ mit der Natur gemeinsam [d.h. es ist nichts Akzidentelles]: folglich ist es das jene Natur von sich aus zur Singularität bzw. zum Begriff jenes Rangniederen Bestimmende.“, Johannes Duns Scotus, Ordinatio, S. 81. „Es gibt also außer der Natur in diesem und in jenem Bestimmten gewisses primär voneinander Verschiedenes [primo diversa], auf Grund dessen dieses und jenes Bestimmte sich voneinander unterscheiden [ ]: dies können nun nicht Negationen sein [ ], und auch nicht Akzidentien [ ]; also werden es gewisse positive Entitäten sein, die an und für sich eine Natur genau bestimmen.“, ibid., S. 86.
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Interessant ist dabei, dass die Idee einer qualitativen individuierenden Eigenschaft in der Brentano-Schule durchaus präsent war, und zwar trotz der Tatsache, dass man dort die Eigenschaften vorwiegend nach dem Muster der Tropentheorie verstand – die Auffassung, bei der die oben besprochenen Probleme der Individuierung bei weitem nicht so akut ausfallen wie im Rahmen des metaphysischen Realismus in Bezug auf Universalien. Die Lieblingsbeispiele für solche individuelle Naturen bei Brentanisten waren raumzeitliche Positionen; und wenn sie nur einen einzigen zeitlichen Durchschnitt des Universums betrachteten, dann sprachen sie oft sogar von der räumlichen Position allein als von der „Substanz“ der Dinge.7 Diese quasi-skotistische Lösung ist aber noch weniger überzeugend als seine originale Lehre. Die These, dass sich in einer und derselben raumzeitlichen Position nicht zwei verschiedene Individuen treffen können, mag – falls sie überhaupt wahr ist8 – metaphysisch interessant sein. Wenn man aber dabei die raumzeitlichen Positionen als „normale“ Eigenschaften betrachtet, hinterlässt die Behauptung, dass gerade ihre Anwesenheit aus den Bündeln von Eigenschaften Individuen macht, nach wie vor den Eindruck schwarzer Magie. Auch die skotistischen und quasi-skotistischen Lösungen haben also ihre Probleme. Ein Individuum aus Universalien zu bauen, scheint eine äußerst schwierige Aufgabe zu sein. Es gibt deshalb Philosophen, die bereit sind, neben den Eigenschaften ein zusätzliches Element einzufügen. Auf diese Weise erhalten wir verschiedene Versionen der Substrattheorie. Im Aufbau eines Individuums gibt es danach nicht nur (allgemeine) Eigenschaften, sondern auch einen Träger, der diese Eigenschaften „hat“. Dieser Träger wird gewöhnlich Substrat genannt, und die Substrattheorie sagt, dass ein konkretes Individuum deshalb einmalig ist, weil sein Substrat einmalig ist. Ein konkretes Individuum erbt also seine Individualität von seinem Substrat.9 In unserer einfachen Welt mit einem Kubus und einer Kugel gibt es nach dieser Auffassung nicht nur die genannten vier Eigenschaften. Außer ihnen gibt es auch zwei Substrate, von denen einem die 7
Im Abschnitt 5.9 konnten wir diese Redeweise auch bei Meinong klar beobachten. Diejenigen, die sich in der Quantenphysik gut auskennen, ziehen dies oft in Zweifel. 9 Der bekannteste Verfechter der Substrattheorie ist wohl Bergmann. Vgl. Bergmann 1967, S. 26. 8
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Eigenschaften W und Kb und dem anderen die Eigenschaften S und Kg zukommen. Dass es keine Gegenstände gibt, die den anderen Kombinationen von Eigenschaften entsprechen, ist darauf zurückzuführen, dass es keine Substrate gibt, die solche Kollektionen von Eigenschaften exemplifizieren; und die Individualität beider Individuen folgt aus der Individualität ihrer Substrate. Die Hauptprobleme der Substrattheorie drehen sich um den Begriff des Substrats. Substrate sind ex definitione etwas, was den Eigenschaften als der individuierende Faktor gegenübergestellt wird. Das heißt aber, dass ein bloßes Substrat „als solches“ eigenschaftslos ist. Es gibt keine Eigenschaft, die es notwendig hätte: ∀xx ist ein bloßes Substrat ⊃ ∀ ♦¬ x Es ist aber ebenfalls plausibel anzunehmen, dass es in der Welt keine „frei schwebenden“ bloßen Substrate – keine „Objekte ohne Eigenschaften“ – gibt, und das heißt, dass das Prinzip ∀xx ist ein bloßes Substrat ⊃ ♦∀ ¬ x nicht gilt. Ein bloßes Substrat wäre also eine Entität, die notwendigerweise eine (aber keine bestimmte) Eigenschaft hätte: ∀xx ist ein bloßes Substrat ⊃ ∀ ♦¬ x ∧ ∃ x Die unangenehmsten Fragen bezüglich der Substrattheorie haben modalen Charakter. Nehmen wir an, dass der individuierende Aspekt im Aufbau eines konkreten Individuums wirklich ein solches bloßes Substrat ist. In diesem Fall wäre es die Anwesenheit eines solchen Substrats, was Sokrates zu Sokrates und Platon zu Platon machte. Da aber die genannten Substrate keine Eigenschaften wesentlich exemplifizieren, wäre es denkbar, dass dem Sokrates-Substrat alle Eigenschaften von Platon und dem Platon-Substrat alle Eigenschaften von Sokrates zukämen. Wir würden dann eine Welt erhalten, die von unserer Welt deskriptiv nicht zu unterscheiden wäre, in der aber die Substrate von Sokrates und Platon ihre Plätze gewechselt hätten. Sollten wir wirklich
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darauf bestehen, dass es zwischen diesen zwei Welten einen ontologischen Unterschied gibt? Und dies ist nicht das Ende der Geschichte, denn wenn es wirklich so ist, dass das Sokrates-Substrat keine seiner Eigenschaften wesentlich besitzt, dann sollte es auch denkbar sein, dass Sokrates anstatt der Menschennatur etwa eine Pferdenatur hat. Sollten wir also die modale Behauptung „Sokrates könnte ein Pferd sein“ etwa als wahr akzeptieren? Es gibt Philosophen, denen das eindeutig zu weit geht; und die Lehre aus den Schwierigkeiten der Substrattheorie scheint die zu sein, dass man eine Verbindung sowohl zwischen der Individualität und den wesentlichen Eigenschaften (der Natur) des betreffenden Gegenstands als auch zwischen seiner Individualität und seinen charakteristischen akzidentellen Eigenschaften suchen muss. Die Theorie, die den beiden Punkten Rechnung zu tragen scheint, ist eine Version der klassischen aristotelischen Substanzlehre.10 Aristoteles hat vor allem zwei Gruppen von Eigenschaften scharf unterschieden. Auf einer Seite haben wir die Akzidentien, die einem konkreten Individuum mehr oder weniger zufällig zukommen. Auf der anderen Seite gibt es substantiale Formen, die die konkreten Individuen wesentlich konstituieren. Diese Formen werden heutzutage oft unter dem Namen der natürlichen Arten (natural kinds) behandelt. Was für die Version der aristotelischen Lehre, die wir gerade besprechen, charakteristisch ist, ist die These, dass sich die Exemplifizierungsweise von solchen Arten von der Exemplifizierungsweise der Akzidentien wesentlich unterscheidet. Akzidentien werden durch Substrate exemplifiziert, und sie bleiben dabei Eigenschaften, die im Prinzip in vielen Individuen „wiederholbar“ sind. Sowohl Sokrates als auch Platon sind weiß. Was hingegen die Exemplifizierungsweise der substantialen Formen betrifft, so ist hier ein Prinzip der numerischen Unterscheidung involviert. Sokrates ist ein Mensch und Platon ist ein anderer Mensch. Das zeigt sich deutlich in den Situationen, in denen wir versuchen, Gegenstände zu zählen. Bezüglich solcher Begriffe wie Mensch oder Pferd kann man immer fragen, wie viele Menschen oder Pferde es gibt, und eine solche Frage hat immer eine bestimmte Antwort. In Bezug auf die
10
Unter den Vertretern dieser Auffassung finden wir J. Lowe, D. Wiggins und M. Loux.
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Akzidensbegriffe wie weiß oder die Massenterme wie golden macht hingegen eine solche unqualifizierte Frage zunächst keinen Sinn. Nehmen wir an, dass auf einem Tisch zwei goldene Ringe liegen, und stellen wir die Frage, wie viele goldene Dinge es auf dem Tisch gibt. Können wir diese Frage ohne weiteres mit „zwei“ beantworten? Auf keinen Fall, denn die Antwort hängt ja davon ab, ob wir unter dem „goldenen Ding“ einen Ring, eine Hälfte eines Ringes, zwei Ringe, oder noch etwas anderes verstehen. Der Begriff golden involviert, im Gegensatz zu solchen Begriffen wie Pferd oder Mensch, kein Individuierungs- und Zählungsprinzip. Solche Zusammenhänge unterstützen die These, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen Substanz- und Akzidensbegriffen um keine bloß verbale Distinktion handelt, die lediglich den Besonderheiten unserer Oberflächengrammatik zuzuordnen wäre. Es scheint, dass man hier etwas metaphysisch Relevantes erfasst, und die Anhänger der neoaristotelischen Auffassung behaupten, dass wir genau hier den Schlüssel zum Geheimnis der Individualität suchen sollen. Die natürlichen Arten sind – so ihre These – solche Universalien, die bei ihrer Exemplifizierung „auf einen Schlag“ konkrete Individuen abgeben; und sie werden durch keine zusätzlichen Substrate exemplifiziert. Dieser letzte Punkt ist übrigens das, was die oben dargestellte neoaristotelische Theorie von der ursprünglichen Lehre des Meisters aus Stagira unterscheidet. Aristoteles hat bekanntlich von der ersten Materie gesprochen, die – neben zahlreichen anderen Funktionen – auch als Quasi-Substrat für die substantialen Formen dient. (Vgl. Metaphysik, 1029a 22–24) Wir haben also eine Landkarte der möglichen Lösungen skizziert, und jetzt geht es darum, Meinongs Theorie auf ihr zu situieren. Gleich am Anfang können wir sagen, dass die aristotelische Theorie für unsere Analyse keine Bedeutung haben wird. Der späte Meinong unterscheidet zwar gelegentlich zwischen Wassein und Wiesein des Gegenstands, was natürlich aristotelische Wurzeln hat; wie wir aber gesehen haben, behauptet er zugleich, dass jedes Wassein letztlich auf ein Wiesein reduzierbar ist. Alle Eigenschaften, die dem Gegenstand zukommen, sind also nach Meinong ontologisch gleichberechtigt. Das Erbe der britischen Empiristen, das Meinong zeit seines Lebens mit sich trug, ließ bei ihm den aristotelischen Gedanken nicht richtig zum Ausdruck kommen.
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Es bleiben uns also die Bündeltheorie und die Substrattheorie. Wir erinnern uns, dass der junge Meinong zur Bündeltheorie mit der Relation der Kompräsenz neigte. Ab 1906 scheint er hingegen so etwas wie Substrate für Eigenschaften zu postulieren.11 6. Tropen und Substrate Ein wichtiger Punkt ist, dass Meinongs Eigenschaften nicht als Universalien, sondern als Tropen zu verstehen sind. Dies hat zur Folge, dass man sich über die Probleme der Individuierung, die wir oben besprochen haben, nicht so sehr den Kopf zu zerbrechen braucht. Die Frage, was ein Bündel von Tropen zu einem Individuum macht, stellt sich nicht einmal, denn die Tropen sind ja bereits Individuen. Was den Tropen fehlt, ist nicht die Individualität (Einmaligkeit), sondern die Konkretheit (Vollständigkeit, ontologische Selbstständigkeit). Tropen sind abstrakte Individuen, die ein konkretes Individuum eben in der Weise konstituieren, dass sie zusammengefügt werden. Ein Tropenontologe kann also eine Bündeltheorie der konkreten Individuen mit einem wesentlich leichteren Gewissen vertreten als ein metaphysischer Realist; und Meinong hat bis etwa 1906 tatsächlich eine solche Theorie meistens stillschweigend vorausgesetzt. Wir wollen hier nicht verschweigen, dass es einige allgemeine Probleme der Bündeltheorie gibt, von denen man sich auch mit Hilfe von Tropen nicht befreien kann. Diese Probleme betreffen vor allem die modalen Fragen. Wenn man ein konkretes Individuum wirklich als ein Bündel seiner Eigenschaften definiert, dann scheinen alle seine Eigenschaften auf einmal wesentlich zu werden. Bündel ähneln nämlich Mengen, indem sie durch einen Verlust (oder ein Ersetzen) von irgendeinem ihrer Elemente unausweichlich zu einem anderen Bündel werden. Das bedeutet aber nichts weniger, als dass die so verstandenen Bündel keine Akzidentien haben können. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, muss man den Bündelbegriff beträchtlich verkomplizieren. In jedem Bündelindividuum muss man einen wesentlichen Kern und eine akzidentielle Oberfläche 11
Vgl. oben Abschnitt 5.9.
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unterscheiden und dann axiomatisch festlegen, dass ein Individuum erst dann zu einem anderen Individuum wird, wenn sein wesentlicher Kern angetastet wird.12 Das zerstört natürlich die anfängliche, fast „mengentheoretische“ Einfachheit der Tropentheorie zum großen Teil und stellt einen der Gründe dar, warum man zur neoaristotelischen Auffassung neigen kann. Fairerweise muss man dazu sagen, dass die gerade angesprochenen Probleme Meinong nicht beunruhigt haben. Der Grund dafür ist, dass er sich in seiner philosophischen Arbeit vorwiegend auf sehr allgemeine Analysen konzentrierte, die für alle Gegenstände gelten sollten. Unter diesen Gegenständen befanden sich nun z.B. die Daten der rudimentären Wahrnehmung, die man sich zu dieser Zeit oft als unstrukturierte raumzeitlich lokalisierte Qualitäten vorgestellt hat. Für solche, äußerst „dünne“ Gegenstände ist es tatsächlich nicht unplausibel anzunehmen, dass alle ihre Eigenschaften wesentlich sind. Die Gegenstände dieser Art wurden für Meinong für lange Zeit zum zentralen Forschungsgebiet, und später sind ihm die propositionalen Entitäten ins Zentrum des Blickfeldes gerückt. Für solche Gegenstände wie Organismen oder ethisch handelnde Personen, an denen die angesprochenen modalen Probleme am klarsten auftreten, fehlte Meinong offensichtlich die Zeit. Dies waren die Gründe, warum Meinong die Bündeltheorie lange Zeit symphatisch fand; und selbst nach 1906, als er sich von ihr langsam zu verabschieden scheint, spricht er nicht von aristotelischen Substanzen, sondern eher von etwas, was an die Theorie des bloßen Substrats erinnert. Die Argumente, die Meinong gegen seine frühere Bündeltheorie anführt, sind übrigens unschlüssig. Wie wir am Ende des fünften Kapitels gesehen haben, scheint er zu behaupten, dass ein Bündeltheoretiker in Wirklichkeit nicht Eigenschaften, sondern bereits die (einseitig qualifizierten) Dinge zusammenfügt – also nicht das, was man mit den Worten „grün“ und „dreieckig“, sondern eher das, was man mit den Worten „Grünes“ und „Dreieckiges“ bezeichnet. (Meinong 1906, S. 395) Diese Behauptung scheint aber einfach falsch zu sein. Ein Tropentheoretiker fügt wirklich Tropen zusammen, und wenn man den Unterschied zwischen den wesentlichen und akzidentellen Eigenschaften mal 12
Eine solche Theorie hat Simons formuliert. Vgl. Simons 1994.
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beiseite lässt, scheint ihm das auch zu gelingen. Was uns Meinong 1906 unter den Namen „Grünes“ und „Dreieckiges“ vorschlägt, sind in Wirklichkeit seine unvollständigen Gegenstände, die er, wie wir uns erinnern, schon ein Jahr später explizit einführt, und die, wie wir wissen, von ihm letztlich als Objektive klassifiziert werden. Die Theorie der individuellen Dinge, die Meinong 1906 skizziert, ist also keine klassische SubstratTheorie, sondern eher eine sanfte Einführung in die Lehre, nach der jedes konkrete Individuum eine propositionale Struktur involviert. Zugegeben, auch (und vielleicht sogar besonders) nach dieser Lehre involviert jedes Individuum etwas mehr als nur seine Eigenschaften, was man, wenn man unbedingt will, auch als Anwesenheit eines „Substrats“ bezeichnen kann. Diese Anwesenheit muss aber nicht mehr bedeuten, als dass die betreffenden Eigenschaften durch eine besondere Relation (der Kompräsenz) zusammengehalten werden, was ja auch die meisten Bündeltheoretiker behaupten. Aus diesen Gründen halten wir es für angebracht, auch in Bezug auf den späten Meinong von einer Bündeltheorie zu sprechen. Wir vergessen dabei nicht, dass er in Wahrheit eine propositionale Theorie vertreten hat, in der die Anwesenheit des vereinigenden Substrats als die Anwesenheit einer besonderen (propositionalen) Form der Komposition zu verstehen ist. Wir weichen hier von der Meinong’schen Lehre ab und zeigen, inwiefern sich seine Gegenstandstheorie auch als eine Eigenschaftsontologie darstellen lässt, die die konkreten Gegenstände als Bündel von Eigenschaften interpretiert. Besonders wichtig ist dabei die Tatsache, dass wir im Rahmen einer Meinong’schen Ontologie auch von der bündelnden Relation absehen können. Der Hauptgrund, der einen Nicht-Meinongianer dazu zwingt, sie zu postulieren, besteht ja darin, dass in seiner Welt nicht alle erdenklichen Mengen von Eigenschaften automatisch Individuen bilden. Die charakteristische Eigenschaft der Meinong’schen Philosophie besteht aber gerade darin, dass bei ihm eben diese Bedingung aufgrund des Prinzips der Annahmefreiheit perfekt erfüllt ist. Es scheint also so zu sein, dass man bei Meinong die Individuen wirklich als Mengen von Eigenschaften betrachten kann. Die Theorie, die wir dann bekommen, ist sehr einfach. Als primitive Elemente nimmt man die Domäne E von einfachen Eigenschaften und Relationen (d.h. den Elementen der Form [F]) an, und die anderen
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kapitel 7
Gegenstände werden als mengentheoretische Konstruktionen interpretiert. Wenn sie bloß aus den monadischen Eigenschaften bestehen würden, könnten sie einfach als Mengen dargestellt werden, etwa die Menge rot Ort O Zeit Z , um noch einmal das Lieblingsindividuum der Empiristen aller Zeiten anzuführen. Da wir bei Meinong auch alle unvollständigen Gegenstände haben, wäre in diesem Fall die Menge seiner Gegenstände einfach als die Potenzmenge der Menge E zu interpretieren. Wenn wir auch mehrstellige Relationen berücksichtigen wollen, müssen wir die Plätze unterscheiden, an denen sie mit einer gegebenen Kollektion von Eigenschaften kompräsent sind. Wie wir aber wissen, kann man das mit Hilfe von geordneten n-Tupeln (die wieder mit Hilfe von ungeordneten Paaren definierbar sind) im Prinzip immer bewältigen. 7. Eigenschaften als Mengen von Individuen Neben der Universalien- und Tropenauffassung gibt es noch eine wohlbekannte Theorie von Eigenschaften, die im Rahmen unserer Rekonstruktion nicht fehlen darf. Wir meinen hier die „extensionale“ Auffassung, nach der die Eigenschaft F einfach als eine bestimmte Menge von Individuen (intuitiv: als die Menge von denjenigen Individuen, die F sind) verstanden wird. Das Schicksal dieser Auffassung ist für den methodologischen Sonderstatus der Philosophie geradezu exemplarisch. Während sie in den Einführungskursen der logischen Semantik als eine Art Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, wird sie von der Mehrheit der Ontologen mit der gleichen Selbstverständlichkeit für grundverfehlt gehalten. Die Argumente der Ontologen sind bekannt. Wenn es wirklich so wäre, dass man eine Eigenschaft mit der Menge ihrer Träger gleichsetzen könnte, dann würden alle koextensionalen Eigenschaften zu einer einzigen Eigenschaft kollabieren. Ein Mensch zu sein hieße dann genau dasselbe wie ein federloser Zweibeiner zu sein, und eine Niere zu haben wäre nichts anderes als ein Herz zu haben. Können wir wirklich hoffen, mit dieser mehrfach diskreditierten Theorie noch etwas anfangen zu können? Unsere Hoffnung stützt sich darauf, dass wir im Meinong’schen Universum beinahe alle Probleme der Koextensionalität ruhig vergessen
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können. In der realen Welt haben zwar alle mit einem Herz ausgestattete Lebewesen zugleich auch Nieren, im Meinong’schen Universum gibt es aber einen Menschen ohne Herz im völlig nicht-metaphorischen Sinne. Das einzige Problem könnten die notwendig koextensionalen Eigenschaften sein, aber nur deswegen, weil wir unsere Untersuchungen vorläufig auf die logisch konsistenten Gegenstände einschränken. Das Meinong’sche System, das wir jetzt erhalten, enthält also als primitive Entitäten eine Domäne von konkreten Individuen G, unter denen die Untermenge der existierenden Individuen primitiv festgelegt wird. Alle Eigenschaften werden als Mengen von konkreten Individuen (und die mehrstelligen Relationen als Mengen ihrer geordneten nTupeln) konstruiert. (Wenn wir uns auf die einstelligen Eigenschaften einschränken, dann bildet die Menge von Eigenschaften einfach die Potenzmenge der Menge G.) Die unvollständigen Gegenstände können dann (falls wir sie benötigen) als Mengen von Eigenschaften und Relationen „rückkonstruiert“ werden.13
8. Zusammenfassung Wir haben also vier Meinong’sche Konstitutionssysteme skizziert, die einige seiner Gegenstände als primitiv und andere als konstruierbar interpretieren. Am Anfang dieses Kapitels haben wir aber gesagt, dass es bei Meinong streng genommen alle diese Gegenstände „jenseits von Sein und Nichtsein“ gibt. Besonders lehrreich wird es deshalb sein, wenn wir die Beziehungen, die zwischen diesen Konstitutionssystemen bestehen, noch einmal systematisch zeigen. Der Einfachheit halber berücksichtigen wir dabei nur monadische Eigenschaften.
13
Eine interessante „Mischform“ schlägt Pas´niczek (1998) vor. Im ersten Schritt führt er nur existierende individuelle Objekte ein, und dann interpretiert er Eigenschaften als Mengen von Individuen. Schließlich konstruiert er nicht-existierende Objekte als Mengen von solchen Eigenschaften (also als Mengen von Mengen von existierenden Objekten). Der Nachteil dieser Auffassung besteht darin, dass man hier keine nichtexemplifizierten Eigenschaften einführen kann und zugleich noch das Problem der Koextensionalität hat.
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kapitel 7 Sachverhalte
Eigenschaften
Individuenontologie
Weltenontologie
Eigenschaftsontologie
Sachverhaltsontologie Welten Sachverhalte der Form xFx
Konkrete Individuen
Wir haben hier die vier Meinong’schen Ontologien, die wir besprochen haben, gegeben: eine Weltenontologie, eine Sachverhaltsontologie, eine Eigenschaftsontologie und eine Individuenontologie. In jeder dieser Ontologien werden einige Entitäten als primitiv und andere als konstruierbar betrachtet. Besonders einfach sind die Spiegelverhältnisse zwischen der Weltenontologie und der Sachverhaltsontologie (propositionale Systeme) einerseits und zwischen der Eigenschaftsontologie und der Individuenontologie (nominale Systeme) andererseits. Die primitiven Entitäten der Weltenontologie (die möglichen Welten) werden im Rahmen der Sachverhaltsontologie zu den Mengen von Sachverhalten, und die primitiven Entitäten der Sachverhaltsontologie (Sachverhalte) werden im Rahmen der Weltenontologie zu den Mengen von möglichen Welten. Ähnlich sieht es mit der Eigenschaftsontologie und der Individuenontologie aus. Die primitiven Entitäten der Eigenschaftsontologie
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(Eigenschaften) werden im Rahmen der Individuenontologie zu den Mengen von konkreten Individuen, und die primitiven Entitäten der Individuenontologie (konkrete Individuen) werden im Rahmen der Eigenschaftsontologie zu den Mengen von Eigenschaften. Neben diesen „vertikalen Übersetzungsregeln“ gibt es aber auch Verhältnisse, die zwischen den propositionalen und nominalen Systemen verlaufen. Wir haben gesagt, dass die einfachen Eigenschaften der Form „[F ]“ im Grunde mit den atomaren Objektiven der Form „∃xFx“ korreliert werden können, und so haben wir eine Funktion, die eine Untermenge der Domäne der primitiven Entitäten der Sachverhaltsontologie (die Sachverhalte der Form „∃xFx“) auf die Domäne der primitiven Entitäten der Eigenschaftsontologie abbildet. Jede einfache Eigenschaft hat ihre Entsprechung in einem atomaren Objektiv, aber nicht umgekehrt. Es ist auch klar, dass es im Rahmen der Weltenontologie bestimmte Mengen von möglichen Welten geben wird, die den atomaren Sachverhalten der Form „∃xFx“ entsprechen. Auch im Rahmen der Individuenontologie finden wir die Mengen von konkreten Individuen, die den Eigenschaften der Form „[F ]“ entsprechen. Diese Mengen von Individuen können dann natürlich wieder mit den Mengen von möglichen Welten korreliert werden, die den atomaren Sachverhalten der Form „∃xFx“ entsprechen. 9. Negative Eigenschaften
VERSUS
Satznegation
Die zwei letzten Abschnitte dieses Kapitels widmen wir dem Problem der widersprüchlichen Gegenstände, das einige Philosophen als das Meinong’sche Problem par excellence bezeichnen würden. Wir sind zwar nicht der Meinung, dass die Problematik der widersprüchlichen Gegenstände für eine Ontologie „der Meinong’schen Art“ wirklich zentral ist; es lässt sich aber nicht bestreiten, dass Meinong von solchen Gegenständen gesprochen zu haben scheint und dass es Philosophen gibt, die diese Äußerungen sehr ernst genommen haben. Um einen widersprüchlichen Gegenstand in der Meinong’schen Weise „anzunehmen“, muss man Elemente verbinden können, die miteinander unverträglich sind. Man muss so etwas wie „Ein F, das zugleich ein Nicht-F ist, ist “ denken können. Unsere zentrale Frage wird dementsprechend sein, wie man in einer solchen Annahme etwas negieren kann.
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kapitel 7
Die Negation ist in der Tat eines der klassischen kontroversen Themen in der Ontologie. In der Welt gibt es Menschen. Gibt es aber auch Nicht-Menschen in einem Sinne, der in irgendeiner Weise ontologisch stärker wäre als die Behauptung, dass es in der Welt Gegenstände gibt, die die Eigenschaft Mensch-zu-sein nicht haben? Bedeutet die Tatsache, dass ein Gegenstand als ein Nicht-F-Objekt bezeichnet werden kann, dass man neben der Eigenschaft F eine entsprechende negative Eigenschaft einführen muss, oder handelt es sich dabei lediglich darum, dass der betreffende Gegenstand die Eigenschaft F nicht hat? Wir haben gesehen, dass die Negation auch ein großes Thema für Meinong war. Schon der von Brentanos Begriffsempirismus beeinflusste junge Meinong behauptete, dass uns in einer einfachen Vorstellung keine Negativa gegeben sein könnten; und als er um 1902 seine reife Theorie der propositionalen Intentionalität entwickelte, behauptete er unmissverständlich, dass die Negation „niemals Sache des Vorstellens“ sei; „wo immer sich daher eine Negation vorfindet, dort ist der Bereich bloßen Vorstellens ganz gewiss überschritten.“ (Meinong 1910, S. 9) Die Negation setzt immer eine negative Annahme (bzw. ein negatives Urteil) voraus. Negativa sind also nach dem späten Meinong schlicht und einfach unvorstellbar. Diese Lehre muss man, wie es scheint, so verstehen, dass die negativen Eigenschaften nur auf einem Umweg über eine Art Abstraktion aus den negativen Objektiven zu erreichen sind, und so liegt es nahe, dass Meinong ein an und für sich sehr plausibles Prinzip akzeptiert, das wir im Folgenden das Prinzip der Eliminierbarkeit der negativen Eigenschaften nennen wollen. Dieses Prinzip besagt, dass eine Prädikatsnegation (eine interne Negation, wie z.B. im Satz „Hans ist nicht-fleißig“) immer zugunsten einer Satznegation (einer externen Negation, wie im Satz „Es ist nicht der Fall, dass Hans fleißig ist“) eliminiert werden kann, und zwar nach dem Muster: Ein Gegenstand a hat die Eigenschaft Nicht-F genau dann, wenn es nicht der Fall ist, dass a die Eigenschaft F hat. Im Folgenden bezeichnen wir die negative Entsprechung der Eigenschaft F als „∗ F“. Die syntaktische Form „∗ F“ soll dabei als das Ergebnis der Anwendung einer negierenden Operation ∗ betrachtet werden. Die Eigenschaft ∗ F hat also eine syntaktische Struktur, die uns insbesondere erlaubt, in den Bereich des ∗ -Operators zu quantifizieren, wie es z.B. in der folgenden Formulierung des ontologischen Prinzips des aus-
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geschlossenen Dritten (dessen Richtigkeit zunächst dahingestellt sei) der Fall ist: ∀x∀ x ∨ ∗ x Wenn wir diese Konventionen annehmen, dann kann das Prinzip der Eliminierbarkeit der negativen Eigenschaften folgendermaßen ausgedrückt werden: ∗/¬
∀x∀ ∗ x ≡ ¬ x
Dieses Prinzip ist prima facie sehr attraktiv. Eine gute Unterstützung liefert ihm die übliche Semantik für die Prädikatenlogik erster Stufe. Diese Semantik interpretiert nämlich die Eigenschaften als Mengen von Gegenständen aus einer Domäne D, wobei gilt, dass, wenn die Eigenschaft F die Menge M ist, die Eigenschaft ∗ F als das Komplement von M (d.h. als die Menge x ¬x ∈ M interpretiert wird. Eine solche Semantik finden wir normalerweise ganz plausibel; man sieht aber auf den ersten Blick, dass sie von vornherein so festgelegt wird, damit die Gültigkeit des Prinzips ∗ /¬ erhalten bleibt. Im Rahmen der Philosophie Meinongs wird aber diese Semantik und damit auch das Prinzip ∗ /¬ in Frage gestellt. Wir finden dort nämlich sowohl unvollständige als auch widersprüchliche Gegenstände, was zur Folge hat, dass die Menge der Gegenstände, die die Eigenschaft ∗ F haben, nicht als das Komplement der Menge der Gegenstände, die die Eigenschaft F haben, angesehen werden kann. Ein widersprüchlicher Gegenstand ist ein Gegenstand, der sowohl eine bestimmte positive Eigenschaft als auch ihre negative Entsprechung hat: D1
a ist widersprüchlich =Df ∃ a ∧ ∗ a
Mit einem unvollständigen Gegenstand haben wir hingegen dann zu tun, wenn es eine Eigenschaft gibt, die so ist, dass weder sie noch ihre negative Entsprechung von diesem Gegenstand gehabt wird: D2
a ist unvollständig =Df ∃ ¬ a ∨ ∗ a
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kapitel 7
Wenn wir annehmen, dass das Prinzip ∗ /¬ für alle Meinong’schen Gegenstände gilt, dann führen sowohl die widersprüchlichen als auch die unvollständigen Gegenstände zu einem Widerspruch in der Theorie. Aus (D.1) und ∗ /¬ erhalten wir nämlich direkt die Konsequenz, dass für jeden widersprüchlichen Gegenstand gilt, dass ∃ a ∧ ¬ a und für jeden unvollständigen Gegenstand gilt dieselbe Konsequenz, wenn wir das Definiendum ∃ ¬ a ∨ ∗ a zunächst nach dem de Morgan’schen Muster durch ∃ ¬ a ∧ ¬∗ a ersetzen und dann das zweite Konjunkt ¬∗ a entsprechend dem Prinzip ∗ /¬ als ¬¬ a umschreiben. Wir erhalten dann: ∃ ¬ a ∧ ¬¬ a Unter Voraussetzung des Prinzips ∗ /¬ muss also jede Theorie der Meinong’schen Gegenstände selbst inkonsistent sein.14 Es gibt Meinongianer, die angesichts dieser Konsequenzen argumentieren, dass die Meinong’schen Gegenstände in Wirklichkeit keine offenen Widersprüche, wie es in der Definition (D.1) der Fall ist, involvieren dürfen.15 Es gibt aber auch andere Versuche, die zeigen, dass selbst, wenn wir die widersprüchlichen Gegenstände ontologisch ernst nehmen, die Meinong’sche Gegenstandstheorie als eine konsistente Theorie betrachtet werden kann. Dazu muss man aber das Prinzip ∗ /¬ außer Kraft setzen.16 14
Das war eines der Argumente, die Russell gegen Meinongs Theorie vorbrachte. Vgl. Russell 1905a. 15 Diesen Weg schlägt z.B. Parsons vor. Vgl. Parsons 1980, S. 39. 16 Vgl. dazu z.B. Routley 1980, S. 91 ff., 192 ff.
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In Wirklichkeit gilt das Prinzip ∗ /¬ nicht nur für alle aktuellen, sondern auch für alle möglichen Gegenstände. Wenn wir im Universum möglicher Gegenstände operieren, dann teilt jede Eigenschaft F dieses Universum glatt in zwei Teile:
{x: Fx}
{x: *Fx} {x: ¬Fx}
Meinongs Universum sieht aber anders aus. Außer den möglichen Gegenständen, für die das Prinzip ∗ /¬ gilt, enthält es sowohl widersprüchliche als auch unvollständige Gegenstände. Wir können dies durch das folgende Schema illustrieren: Das Prinzip ¬(Fa und *Fa)
gilt
Das Prinzip Fa oder *Fa
gilt
gilt nicht
(1)
(2)
mögliche Gegenstände
unmögliche Gegenstände
widerspruchsfrei und vollständig
widersprüchlich und vollständig
(3) gilt
(4)
unmögliche Gegenstände
unmögliche Gegenstände
widerspruchsfrei, aber unvollständig
widersprüchlich und unvollständig
nicht
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kapitel 7
Nur im ersten Viertel unseres Quadrats teilt jede Eigenschaft F die Gegenstände in zwei Untermengen. Im zweiten Viertel, in dem der Satz vom Widerspruch nicht gilt, finden wir für jede Eigenschaft F Gegenstände, die sowohl F als auch ∗ F sind. Im dritten Viertel, in dem das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten außer Kraft gesetzt wird, finden wir für jede Eigenschaft F Gegenstände, die weder F noch ∗ F sind. Und im vierten Viertel, in dem die Gegenstände platziert werden, die von beiden Anomalien betroffen sind, finden wir für jedes Paar von Eigenschaften F und G Gegenstände, die sowohl F als auch ∗ F sind und die weder G noch ∗ G sind. Wichtig ist jedoch die Tatsache, dass, wenn wir das Prinzip ∗ /¬ außer Kraft setzen, diese Gegenstände zu keinen Widersprüchen innerhalb der Gegenstandstheorie führen müssen. Wenn nämlich Gegenstand a widersprüchlich ist, dann gilt, dass ∃ a ∧ ∗ a Nehmen wir an, dass es sich um die Eigenschaft F handelt. Es gilt also, dass Fa ∧ ∗ Fa Aus diesem Satz folgt aber nicht, dass Fa ∧ ¬Fa Denn das zweite Konjunkt „¬Fa“ lässt sich aus dem Satz „Fa ∧ ∗ Fa“ nicht ableiten.17 Ganz im Gegenteil, wenn a die Eigenschaft F hat, was das erste Konjunkt von „Fa ∧ ∗ Fa“ besagt, dann gilt, dass ¬¬Fa und da der Gegenstand a außerdem auch die Eigenschaft ∗ F hat, gilt auch, dass ¬¬∗ Fa Meinong unterscheidet explizit zwischen einem „Nichtsosein“ ∗ Fa) und einem „Nichtsein eines Soseins“ ¬Fa. Nur ein Nichtsein eines Soseins ¬Fa betrachtet er dabei als ein Objektiv höherer Ordnung. Vgl. Meinong 1915, S. 173.
17
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Auch aus dem Meinong’schen Sein eines unvollständigen Gegenstands, der bezüglich der Eigenschaft F unbestimmt ist, folgt kein Widerspruch. Es gilt zwar, dass solche Gegenstände die Eigenschaft F nicht haben (¬Fa,18 es folgt aber daraus keineswegs, dass sie ∗ F sind. Ein unvollständiger Gegenstand, der bezüglich der Eigenschaft F unbestimmt ist, hat weder F noch die entsprechende negative Eigenschaft ∗ F: ¬Fa ∧ ¬∗ Fa Es war lediglich das Prinzip ∗ /¬, das uns erlaubte, von ¬Fa auf ∗ Fa zu schließen, was zu einem Widerspruch in der Gegenstandstheorie führt. Die Distribution der Eigenschaften F und F∗ in einer Meinong’schen Welt sieht also folgendermaßen aus:
(3) {x: Fx und *Fx} (1)
(2) {x: Fx}
{x: *Fx}
{x: ¬*Fx}
{x: ¬Fx} (4)
{x: ¬Fx und ¬*Fx}
Einerseits haben wir die Menge von Gegenständen, die F sind 1 ∪ 3, andererseits die Menge von Gegenständen, die ∗ F sind 18
Diese Interpretation der Form „¬Fa“, nach der sie nicht nur auf einen vollständigen und nicht-widersprüchlichen Gegenstand, der ∗ F ist, sondern auch auf einen bezüglich der Eigenschaft F unvollständigen Gegenstand (d.h. einen Gegenstand, der weder F noch ∗ F ist) zutrifft, nennt Meinong eine „erweiterte Negation“. Vgl. Meinong 1915, S. 174.
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kapitel 7
2 ∪ 3. Diese zwei Mengen haben allerdings einen gemeinsamen Teil (3), in dem sich diejenigen Gegenstände befinden, die zugleich F und ∗ F sind. Außerdem gibt es noch Gegenstände, die weder F noch ∗ F sind (nämlich im Teil (4)). Im Zusammenhang mit unserem Schema kann aber ein weiteres Problem für die Meinong’sche Theorie auftauchen. In unserem Universum finden wir nämlich die Menge von Gegenständen, die die Eigenschaft F nicht haben – die Menge x ¬Fx . Können wir aber aus der Bedingung „¬Fx“ nicht die Eigenschaft x¬Fx abstrahieren, für die die Äquivalenz ∀xx¬Fxx ≡ ¬Fx definitorisch gilt? Nennen wir eine solche Eigenschaft die supernegative Eigenschaft (in Bezug auf F) und bezeichnen wir sie als #F. Können wir jetzt nicht einen Meinong’schen Gegenstand „annehmen“, der sowohl die Eigenschaft F als auch die Eigenschaft #F hat und dementsprechend seine Gegenstandstheorie doch inkonsistent macht? Wenn wir diese Möglichkeit ausschließen möchten, müssen wir die Anwendbarkeit des Abstraktionsprinzips einschränken. Wir müssen annehmen, dass es im Grunde nur für nicht-negierte Kontexte gilt und dass die negativen Eigenschaften nur auf dem Weg eingeführt werden können, dass sie aus den positiven Eigenschaften durch den *-Operator gebildet werden. 10. Ein Negativer Exemplifizierungsnexus Das Problem besteht aber darin, ob man im Rahmen der Gegenstandstheorie Meinongs überhaupt eine plausible Interpretation für eine negative Eigenschaft ∗ F finden kann, für die das Prinzip der Eliminierbarkeit der negativen Eigenschaften nicht gelten würde. Wie gesagt ist dieses Prinzip an und für sich prima facie sehr attraktiv und plausibel. Und was Meinong betrifft, so hat er doch behauptet, dass Negativa unvorstellbar sind. Alle negativen Eigenschaften sind als Abstraktionen aus den negativen Objektiven zu verstehen. Was könnte das Prinzip der Eliminierbarkeit der negativen Eigenschaften noch näher legen?
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Es scheint auf jeden Fall, dass im Rahmen einer „Meinong’schen“ Sprache alle Prädikate zunächst als „positiv“ definiert werden müssen19 und die Negation primär als eine Satznegation gesehen werden muss. Wenn man aber dann die so genannte Lambda-Abstraktion zulässt, die uns erlaubt, aus einem beliebigen Satz eine Eigenschaft zu abstrahieren, dann können wir die negativen Eigenschaften in einer einfachen Weise „ableiten“. Aus jedem positiven Satz der Form „Fa“ können wir nämlich die Eigenschaft xFx) erhalten, die dieselbe Eigenschaft ist, die durch das Prädikat „F“ bezeichnet wird, so dass der Satz „xFxa“ soviel besagt wie „Fa“; und aus jedem negativen Satz der Form „¬Fa“ können wir in analoger Weise die Eigenschaft x¬Fx erhalten. Wenn wir aber die negativen Eigenschaften als solche Abstraktionsprodukte betrachten, dann liegt es nahe anzunehmen, dass auch in ihrem Fall (genauso wie bei den so abstrahierten positiven Eigenschaften) der Satz x¬Fxa dem Satz ¬xFxa und somit dem Satz ¬Fa logisch äquivalent sein muss. Das bedeutet aber, dass das folgende Prinzip der Eliminierbarkeit der negativen Eigenschaften: ∀y∀ x¬ xy ≡ ¬ y gilt, was uns zum Ausgangspunkt zurückführt, nämlich zur These, dass die Einführung der unvollständigen und widersprüchlichen Gegenstände 19
Vgl. „[N]egative Gegenstände (von der Form Non-A) sind stets auf positive Gegenstände (von der Form A) als auf ihre Inferiora gebaut, sie sind selbst Gegenstände höherer Ordnung.“, Meinong 1910, S. 12.
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die ganze Gegenstandstheorie zu einer inkonsistenten Theorie macht, was nur um den Preis einer (zumindest partiellen) Außerkraftsetzung der klassischen Logik vermieden werden könnte. Bevor wir weitergehen, müssen wir einen Punkt klarstellen. Meinongs These, dass die negativen Eigenschaften gewissermaßen kognitiv sekundär sind, muss im Licht seiner späten Theorie nicht unbedingt ihre gegenstandstheoretische Sekundärität bedeuten (und zwar unabhängig von der Frage, ob sie letztlich zugunsten der Satznegation eliminierbar sind oder nicht). Alle negativen Eigenschaften sind Abstraktionen aus Objektiven. Sie sind keine „direkt gegebenen“ Negativa, sondern müssen erst auf einem Umweg über negative Objektive konstruiert werden. Das alles ist zwar perfekt wahr, ebenso wahr ist aber, dass nach dem späten Meinong überhaupt alle prädizierbaren Eigenschaften solche Abstraktionen aus Objektiven darstellen. Was also die Ebene der prädizierbaren Eigenschaften betrifft, scheinen positive und negative Eigenschaften völlig gleichberechtigt zu sein. Beide setzen Objektive voraus. Die gegenstandstheoretische Ebene, auf der die Negativität wirklich im Nachteil ist, ist also erst die Ebene der einfachen vorstellbaren Elemente, die als solche noch in keiner ontologischen Verbindung mit anderen derartigen Elementen stehen können und auf die wir uns nach Meinong manchmal durch Verben und Adjektive beziehen, wenn wir sie in einer sehr ungewöhnlichen „absoluten“ Bedeutung verwenden. Wenn wir uns an unsere Notation erinnern, in der der Satz „Fa“ als „ExF a“ dargestellt wird, dann sehen wir, dass die Form einer prädizierbaren Eigenschaft gewissermaßen durch ein Wegnehmen des Subjekts unter Beibehaltung des Exemplifizierungsnexus (Ex) entsteht. Wenn wir jetzt wieder die Lambda-Abstraktion erlauben, dann sieht eine positive Eigenschaft folgendermaßen aus: xExF x während ihre negative Entsprechung folgende Form hätte: x¬ExF x Der Primat der Positivität wird erst dann deutlich, wenn wir auch den Exemplifizierungsnexus wegnehmen und zum einfachen Element [F] gelangen.
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Der Sinn der These Meinongs, dass Negativa „unvorstellbar“ sind, liegt in der Voraussetzung, dass sich die Bezeichnung „[F]“ ausschließlich auf „positive“ Gegenstände bezieht. Das Prädikat, das man für „F“ substituieren darf, kann also nicht etwa „ist nicht weiß“ oder „schläft nicht“ sein. Der syntaktische locus der Negation liegt erst im Objektiv. Die Negation ist eine syntaktische Operation, die man auf ein (positives) Objektiv anwendet. Das bedeutet aber natürlich, dass auch hier das Prinzip der Eliminierbarkeit der negativen Eigenschaften gilt, und zwar in der folgenden Form: ∀y∀ x¬Ex xy ≡ ¬ y So etwas wie ein primitives Negativum, das man vielleicht als [¬F] bezeichnen könnte, gibt es bei Meinong definitiv nicht, und so gibt es auch keine Hoffnung, dass man einen negativen Satz de Form Ex¬F a bilden könnte, bei dem das entsprechende Prinzip der Eliminierbarkeit ∀y∀ xEx¬ xy ≡ ¬ y nicht gelten würde. Der Schluss, dass man eine massive innere Inkonsistenz der Meinong’schen Gegenstandstheorie nur dadurch vermeiden kann, dass man zumindest für einige ihrer Bereiche die klassische Logik außer Kraft setzt, scheint immer näher zu rücken. Im Rahmen von Meinongs Theorie schöpfen aber die zwei genannten Möglichkeiten (Negation als eine „externe“ Satzkonjunktion der syntaktischen Kategorie s/s und Negation als ein Prädikatmodifikator der syntaktischen Kategorie n/s / n/s) nicht das ganze Interpretationsspektrum aus. Der Grund dafür liegt darin, dass wir in der Form „ExF a“ ein syntaktisches Element finden, das in der Form „Fa“ fehlt. Dieses Element ist natürlich der Exemplifizierungsnexus, und so können wir noch versuchen, die Negation in diesen Nexus zu verlegen. Um das zu erreichen, müssen wir eine negative Exemplifikation zulassen, die wir als „NEx“ bezeichnen und die besagt, dass ein bestimmter Gegenstand
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eine bestimmte Eigenschaft nicht hat.20 Die Form einer negativen Eigenschaft, die ihr Dasein einem solchen negativen Exemplifizierungsnexus verdankt, wäre also die folgende: xNExF x während eine negative Eigenschaft, die auf der externen Satznegation basiert, weiterhin wie bisher aussieht: x¬ExF x Die Idee der negativen Eigenschaften, die ihre Negativität aus dem negativen Exemplifizierungsnexus erwerben, respektiert Meinongs These, dass Negativa unvorstellbar sind. Das, was vorstellbar ist, sind nur die einfachen Elemente der Form [F], und diese bleiben weiterhin ausnahmslos positiv. Die Negation taucht erst dort auf, wo solche einfachen Elemente miteinander verbunden werden, und das ist bei Meinong die Ebene der Objektive. Man muss jetzt nur annehmen, dass das Prinzip der Eliminierbarkeit der negativen Eigenschaften, die aus dem negativen Exemplifizierungsnexus resultieren ∀y∀ xNEx xy ≡ ¬ y nicht gilt. Diese Interpretation erklärt uns, warum Meinong zwischen einem „Nichtsosein“ (a ist nicht F) und einem „Nichtsein eines Soseins“ (es ist nicht der Fall, dass a F ist scharf unterscheidet (vgl. Meinong 1915, S. 173) und zugleich jede Negation auf der Ebene der Objektive situiert. Die negative Kopula „ist nicht“ ist nämlich ernst zu nehmen. Sie kann weder durch die negativen Eigenschaften (wie in Brentanos Reform der Logik), noch durch die externe Satznegation wegerklärt werden. Unsere Interpretation erklärt auch, warum nur ein Nichtsein eines Soseins (es ist nicht der Fall, dass a F ist) von Meinong als ein Objektiv höherer Ordnung betrachtet wird. Hier haben wir es mit dem Fall zu tun, in dem 20
Dies entspricht zum Teil der Auffassung Bergmanns. Vgl. Bergmann 1967, S. 368.
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ein „fertiger“ propositionaler Inhalt (nämlich, dass a F ist) „äußerlich“ negiert wird. Im Fall eines Nichtsoseins (aist nicht F, das im negativen Exemplifizierungsnexus besteht, haben wir es mit einer primitiven Form zu tun. Die Lehre von einem negativen Exemplifizierungsnexus kann sich übrigens auf eine sehr prominente Quelle berufen, und zwar auf die berühmte aristotelische Urteilslehre, die vom Verbinden und Trennen spricht. (Vgl. Metaphysik, 1051a 34–1051b 9) Aristoteles, der allem Anschein nach die These der Positivität aller ontologisch ernst zu nehmenden Eigenschaften vertrat, verwendet in seiner Syllogistik keine Individuen- und Prädikatenzeichen. Er operiert stattdessen mit allgemeinen Termen, die auf vier verschiedene Weisen verbunden werden können:
affirmativ (AfIrmo)
allgemein
SaP Jedes S ist P
negativ (nEgO)
SeP Jedes S ist nicht P (= Kein S ist P)
partikulär
SiP
SoP
Ein S ist P
Ein S ist nicht P (= Nicht jedes S ist P)
Diese Aufteilung der Urteile beruht auf der Auffassung, dass jedes Urteilen ein Verbinden oder ein Trennen von zwei Elementen (von aristotelischen allgemeinen Formen) involviert. Wir nehmen an, dass die beste Interpretation für eine Meinong’sche negative Eigenschaft, die dem Prinzip der Eliminierbarkeit der negativen Eigenschaften trotzt, eben die Form „xNExF x“ ist.
KAPITEL 8
DIE LOGIK DES AUSSERSEINS1
Die ausgezeichnete Stellung, die Alexius Meinong in der Geschichte der Ontologie einnimmt, hat er in erster Linie seiner Idee des Außerseins zu verdanken. Er war der erste Philosoph, der in systematischer Weise eine Disziplin in Angriff nahm, die im Vergleich zu der Disziplin, die man traditionell Metaphysik oder Ontologie nennt, viel allgemeiner sein sollte. Die Metaphysik untersucht das Seiende als Seiendes, und die seienden Entitäten bilden – so die These Meinongs – nur ein kleines Fragment dessen, was man unter dem Namen „Gegenstandstheorie“ untersuchen kann. Die Gegenstände als solche sind, wie es Meinong sagt, „außerseiend“, was bedeutet, dass sie bezüglich ihres Seins bzw. Nichtseins neutral sein sollen. Soweit der historische Meinong. Wenn wir aber seine Philosophie vom systematischen Standpunkt her betrachten, dann stellt sich die Frage, wie diese Seinsneutralität zu verstehen ist. Es gibt drei prima facie plausible Möglichkeiten, wie man sie mittels der technischen Werkzeuge der zeitgenössischen Logik in den Griff bekommen kann. Die Meinong’sche Philosophie kann als (i) eine Erweiterung der Ontologie, als (ii) eine ontologisch nicht-verpflichtende Deutung von Quantoren oder als (iii) eine Version der free logic interpretiert werden. 1. Das Quantifizieren von nicht-existierenden Gegenständen Jeder, der von Meinong gehört hat, kennt auch seine berühmte, bewusst paradoxe These: (1)
,,Es gibt Gegenstände von denen gilt dass es dergleichen Gegenständen nicht gibt “Meinong 1904 S 490
1
Dieses Kapitel ist eine leicht gekürzte Version des Aufsatzes Chrudzimski 2005a.
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kapitel 8
Meinongs Argumentation für diese These geht davon aus, dass es Wahrheiten gibt, die offensichtlich auf nicht-existierende Gegenstände zutreffen. So ist nach Meinong der goldene Berg tatsächlich aus Gold und das runde Dreieck tatsächlich rund. Wenn aber diese Prädikationen wirklich wahr sind, dann muss es in einem gewissen Sinne auch Gegenstände geben, von denen man die entsprechenden Eigenschaften prädiziert.2 Die natürliche Übersetzung von (1) in symbolische Sprache wäre daher: (2)
∃x¬E!x
wobei „∃“ der Existenz-Quantor und „E!“ das Existenz-Prädikat ist. 2
Lambert (1983) zeigt, dass man bei dieser Argumentation eine bestimmte Prädikationstheorie voraussetzt, die an sich nicht selbstverständlich ist. „Roughly it [the traditional theory of predication] says that the truth-value of a predication depends on whether what is said of the object specified by its singular term (or terms) is true (or false) of that object (or objects). However, there is also an important constraint on the traditional theory adopted by Russell and Frege, but rejected by Meinong. It says, roughly, that the objects specified in a predication must have being.“, Lambert 1983, S. 40. „The core of the traditional theory of predication, in Quinean language, is that a statement has a logical form of predication just in case it consists of an n-place general term joined to n singular terms and is true (or false) according as that general term is true (or false) of the n-tuple of objects specified by n singular terms, or of the object specified by the singular term if n = 1. (n is greater than or equal to 1.) The core principle so expressed will be designated as CT. It is worth emphasizing that in CT all singular terms must refer to objects.“, Lambert 1983, S. 44. Als Beispiel einer alternativen Prädikationstheorie zitiert Lambert Quine: „Predication joins a general term and a singular term to form a sentence that is true or false according as the general term is true or false of the object, if any, to which the singular term refers.“, Quine 1960, S. 196. Lambert betont den Zusatz „if any“, der sich in Quines Formulierung findet. (Lambert 1983, S. 77) Nach dieser Formulierung bleibt es nämlich eine offene Frage, wie der Wahrheitswert des Satzes bestimmt wird, wenn es kein Objekt gibt, auf das sich der singuläre Term bezieht. Man kann behaupten (wie die Vertreter der sogenannten „negative free logic“), dass alle solchen Sätze zwangsläufig falsch sind. Man kann aber auch einige solche Sätze als wahr betrachten, wie es die Anhänger der „positive free logic“ tun. „[W]hen a predicational statement contains an irreferential term, the particular way in which that statement is assessed for truth-value may vary considerably from one [ ] theorist to another, partly depending on the purpose at hand, be it an analysis of fictional discourse or an analysis of attribution, or whatever may be.“, Lambert 1983, S. 83. Vgl. auch Lambert 1986 und Lambert 1995, S. 130 ff.
die logik des ausserseins
355
Wir sind sehr oft geneigt, den Sinn von „es gibt“, der durch den Existenz-Quantor ausgedrückt wird, mit dem gleichzusetzen, was das Existenz-Prädikat ausdrückt. Die ganze logische Theorie der Quantifizierung, so wie sie von Frege entwickelt wurde, war ja als Präzisierung unseres Existenzbegriffs gedacht, der normalerweise durch ein (Schein-) Prädikat „ist“, „es gibt“ oder „existiert“ ausgedrückt wird. Freges Formalisierung des Existenzbegriffs ersetzt aber die umgangssprachliche Prädikation durch eine syntaktische Struktur, bei der sich Existenz nicht nur als kein „reales“, sondern überhaupt als kein grammatisches Prädikat erweist. Der Satz „a existiert“ wird konsequenterweise als syntaktisch nicht wohlgeformt angesehen. (Vgl. Frege 1879) Folgt man hingegen unserer Übersetzung (2), so erfahren wir, dass es im Sinne „∃“ Gegenstände gibt, die es im Sinne „E!“ nicht gibt. In einer logisch geordneten Sprache, die der Philosophie Meinongs Rechnung trägt, muss man also zwei Weisen unterscheiden, in denen man „es gibt“ sagen kann – zwei Weisen, die zwei verschiedene Sinne von „es gibt“ ausdrücken. Daraus ergibt sich die Aufgabe, diese zwei Sinne zu präzisieren. 2. Die ontologisch robuste interpretation Außer Frege und Russell gibt es wahrscheinlich niemanden, dessen Einfluss auf die zeitgenössische analytische Philosophie mit dem Einfluss Quines vergleichbar ist. Und zu den Überzeugungen, die Quine am erfolgreichsten verbreitet hat, gehört die Überzeugung, dass der grammatische locus der ontologischen Verpflichtung in den quantifizierten Variablen liegt. (Vgl. Quine 1948) Wenn wir dieser Auslegung folgen, dann scheint es, dass die Wahrheit von These (2) eine Erweiterung der Ontologie mit sich bringt. Die These besagt dann, dass es außer den Gegenständen, die von Philosophen und Laien als „existierend“ bezeichnet werden, noch andere gibt, wobei dieses „es gibt“ einen ontologisch verpflichtenden Sinn hat.3 3
Die Terminologie, die Meinong benutzt, ist ein wenig kompliziert. Er unterscheidet nämlich zwei Arten des aktuellen Seins. Die sogenannten realen Gegenstände (wie Tische und Äpfel) können existieren, die idealen Gegenstände (wie Zahlen oder Sachverhalte, die Meinong Objektive nennt) können nur bestehen. Alle bestehenden idealen
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kapitel 8
Es ist der engere vormeinongsche Existenzbegriff, der in der Formel (2) durch das Prädikat „E!“ ausgedrückt wird. Im Sinne „E!“ gibt es keine goldenen Berge und keine dreieckigen Kreise. Solche Gegenstände „gibt es“ jedoch im Sinne Meinongs. Und dieser Sinn wird jetzt durch den Existenz-Quantor ausgedrückt, was nach Quine impliziert, dass es gerade dieser Sinn ist, der ontologisch maßgebend ist. Das Prädikat „E!“ erscheint aus dieser Perspektive wie jedes andere Prädikat. Bis Meinong haben wir fälschlicherweise geglaubt, dass dieses Prädikat auf alle Gegenstände zutrifft. Deswegen haben wir es auch gelegentlich durch einen Existenz-Quantor ausgedrückt – eine Konvention, die dazu führen würde, dass der Satz (1) tatsächlich eine explizit widersprüchliche Form bekäme: (3)
∃x¬∃yx = y
Die Übersetzung (3) ist aber nicht korrekt. Der engere Existenzbegriff sollte nicht durch einen Existenz-Quantor, sondern durch ein ExistenzPrädikat ausgedrückt werden. Und da es Gegenstände gibt, für die das Existenz-Prädikat nicht gilt, gibt es auch ein „es gibt“, das umfassender ist als unser vertrauter Existenzbegriff. Nur dieses „es gibt“ sollte in einer logisch einwandfreien Sprache durch einen Existenz-Quantor ausgedrückt werden. Unser Existenzbegriff wird hingegen zu einem „fast normalen“ Prädikat „E!“4 degradiert, das aus dem Bereich dessen, was es gibt, den engeren Unterbereich der existierenden Entitäten ausschneidet.
Gegenstände (wie z.B. der Sachverhalt, dass Schnee weiß ist) sind also nach Meinong nicht-existierend. Unter den nicht-exstierenden Gegenständen gibt es aber auch solche, die weder existieren noch bestehen (wie z.B. ein rundes Dreieck, ein goldener Berg und der Sachverhalt, dass Schnee rosarot ist). Im Folgenden vereinfachen wir diese Terminologie und verwenden das Wort „existieren“ in Bezug auf beide Gruppen von Gegenständen. Wenn wir also von den nicht-existierenden Gegenständen sprechen, dann handelt es sich um diejenigen Entitäten, die nach der originalen Meinong’schen Terminologie weder existieren, noch bestehen. 4 Dieses Prädikat ist aber lediglich „fast normal“. Wie die bekannte Kritik Russells gezeigt hat, kann die Existenz im Rahmen des Meinong’schen Systems keineswegs als eine normale Eigenschaft betrachtet werden. Wir haben darüber bereits im Abschnitt 5.5 gesprochen.
die logik des ausserseins
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3. Quantoren ohne ontologische Verpflichtungen Trotz des immensen Einflusses Quines sind nicht alle Philosophen mit seiner ontologisch verpflichtenden Deutung der Quantoren zufrieden.5 Gerade bei der Interpretation der Philosophie Meinongs müssen wir äußerst vorsichtig sein, wenn wir uns dabei auf Quine berufen. Denn Quines Theorie ist gewissermaßen der Höhepunkt einer Entwicklung, die von Anfang an eindeutig antimeinongisch war. Diese Entwicklung beginnt mit der Russell’schen Theorie der Kennzeichnungen.6 Durch diese Theorie wollte Russell zeigen, dass man in Wahrheit keine Meinong’schen Gegenstände braucht. Die Aussagen, die Meinong bevorzugt, wie z.B. (4)
Der goldene Berg ist aus Gold
seien irreführend. Sie hätten die oberflächengrammatische Form einer Prädikation, in der man eine Eigenschaft von einem nicht-existierenden Gegenstand aussagt. Ihre logische Form sehe aber ganz anders aus. Der Satz (4) sollte beispielsweise folgendermaßen übersetzt werden: (5)
∃xBx ∧ Gx ∧ ∀yBy ∧ Gy ⊃ y = x ∧ Gx
wobei die Prädikate „B“ und „G“ als „ist ein Berg“ und „ist aus Gold“ zu lesen sind. Da die intendierte Bedeutung des Russell’schen ExistenzQuantors unserem „normalen“ (d.h. aus der Meinong’schen Perspektive einem „engen“) Existenzbegriff entspricht, erweist sich der Satz, den Meinong für wahr gehalten hat, nach der Russell’schen Übersetzung als falsch. Und das ist, behauptet Russell, die einfachste Weise, in der man mit den nicht-referierenden singulären Termen umgehen kann. Sie sind nur angebliche Terme, da ihre logische Form nur Prädikate und quantifizierte Variablen enthält, wobei die Kombination dieser Prädikate durch keinen Gegenstand erfüllt ist. 5
Prior schreibt: „,To be a value of a bound variable is to be‘ is just a piece of unsupported dogma [ ].“, Prior 1971, S. 48. Vgl. auch Lejewski 1955, Lejewski 1970, Lejewski 1985/86, Prior 1971, S. 35–48, Geach 1951, Alston 1958. 6 Russell 1905a.
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kapitel 8
Quine geht noch einen Schritt weiter. Wenn wir die entsprechenden Sätze gemäß den Russell’schen Richtlinien wirklich vollständig analysieren, dann sehen wir, behauptet er, dass wir gar keine Eigennamen brauchen. Jeder Eigenname kann nämlich nach Quine in ein entsprechendes Prädikat umgewandelt werden. Der Satz (6)
Sokrates denkt
wird beispielsweise zum Satz (7)
∃xx sokratisiert ∧ ∀yysokratisiert ⊃ y = x ∧ x denkt
und der Satz (8)
Pegasus fliegt
soll als (9)
∃xx pegasiert ∧ ∀yy pegasiert ⊃ y = x ∧ x fliegt
gelesen werden. Da die Prädikate, die in einer Sprache vorkommen, nach Quine nur deren „Ideologie“ und nicht deren „Ontologie“ darstellen, kommen nach Eliminierung aller Eigennamen nur noch die quantifizierten Variablen als der grammatische Platz der ontologischen Verpflichtung in Frage. Die Interpretation der Meinong’schen Lehre, die wir oben dargestellt haben und die wir im Folgenden als „Meinong1 “ bezeichnen werden, steht mit dem Geist der Auffassung Quines nicht im Widerspruch. Auch Meinong1 behauptet ja, dass die ontologischen Verpflichtungen einer Theorie durch die grammatische Struktur der Quantifizierung ans Licht kommen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Meinong1 in seinem Universum sozusagen „mehr“ Entitäten hat, indem er seine Ontologie um den Bereich nicht-existierender Gegenstände erweitert. Nachdem wir uns das alles klargemacht haben, ist natürlich die Frage nahe liegend, ob unser Meinong1 dem historischen Meinong entspricht. Da die Auffassung Quines aus einer eindeutig antimeinongschen Einstellung resultierte, sollte man vielleicht eine Interpretation suchen, die zwischen der Auffassung Meinongs und derjenigen Quines eine viel tiefere Kluft sieht als bloß die Tatsache, dass Meinong eine weitere Domäne der Quantifikation hat.
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Eine solche Interpretation, die wir „Meinong2 “ nennen, kann in einer ontologisch nicht-verpflichtenden Deutung von Quantoren gesucht werden. Dass man sich auf gewisse Gegenstände durch die Quantifizierung von Variablen bezieht – so behauptet ein Anhänger dieser Interpretation – entscheidet noch nichts bezüglich der eventuellen ontologischen Verpflichtungen, die man dadurch in Kauf nimmt. In einer Meinong’schen Sprache hieße das, dass (i) alle Fragen hinsichtlich der ontologischen Verpflichtungen dahingestellt bleiben, solange man Gegenstände bloß als Gegenstände betrachtet, und dass (ii) Gegenstände bloß als Gegenstände betrachtet werden können, selbst wenn man über sie quantifiziert. Das Zeichen „∃“ wird also mehrdeutig. Einerseits können wir es als einen Quine’schen Quantor interpretieren, an dem man die ontologischen Verpflichtungen der jeweiligen Theorie ablesen kann. Diesen Quantor bezeichnen wir jetzt als „∃Q “. Wie gesagt, entspricht die Quantifizierung bei Meinong1 im Grunde dem Quine’schen Modell. Deswegen könnten wir alle Thesen, in denen das Zeichen „∃“ vorkommt und die wir unserem Meinong1 zuschreiben wollen, auch so umschreiben, dass wir das Zeichen „∃“ durch das explizit Quine’sche „∃Q “ ersetzen. Der Quantor, der für Meinong2 charakteristisch ist, muss jedoch anders interpretiert werden. Er soll keine ontologischen Verpflichtungen implizieren und wird im Folgenden als „∃M “ bezeichnet. Eine Folgerung „vom Quine’schen zum Meinong’schen Quantor“ (10)
∃Q xFx ⊃ ∃M xFx
gilt, während die umgekehrte Folgerung „vom Meinong’schen zum Quine’schen Quantor“ (11)
∃M xFx ⊃ ∃Q xFx
nicht gilt.7 7
Die ontologisch unverpflichtenden Quantoren werden oft substitutional interpretiert. Auf den ersten Blick scheint es zwar, dass eine adäquate Interpretation der Meinong’schen Lehre eine gegenständliche Deutung von Quantoren voraussetzen muss (Vgl. Routley 1980, S. 81 f.), in Chrudzimski 2004b zeigten wir aber, dass man recht viel von Meinongs Ideen mit einer substitutionalen Interpretation abdecken kann.
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kapitel 8
Der ontologisch verpflichtende ∃Q -Quantor kann mit Hilfe des ∃M Quantors und des Existenz-Prädikats in einfacher Weise definiert werden: (12)
∃Q xFx ≡ ∃M xFx ∧ E!x8 4. Positive F REE L OGIC
Was aber bei einer Interpretation der Meinong’schen Lehre nicht vergessen werden sollte und was man dennoch nur allzu oft vergisst, ist die Tatsache, dass Meinong seine Theorie leider nicht in der formalisierten Sprache der Prädikatenlogik ausgedrückt hat. Meinong war Schüler von Brentano, für den noch die Termenlogik maßgebend war. Wenn wir also den berühmten Satz (1)
„[E]s gibt Gegenstände, von denen gilt, dass es dergleichen Gegenstände nicht gibt [ ].“
als (2)
∃x¬E!x
übersetzt haben, haben wir bereits eine sehr schwerwiegende interpretatorische Entscheidung getroffen. Eine andere Interpretationsmöglichkeit besteht darin, dass Meinong im Satz (1) gar nicht eine Quantifizierung vornimmt. Was er sagen will, ist vielmehr, dass es im Rahmen seiner Theorie Wahrheiten gibt, die die Form (13)
¬E!a
haben. Diese Interpretation nennen wir „Meinong3 “. Meinong3 behauptet also zum Ersten, dass es in seiner Theorie leere singuläre Terme gibt in dem Sinne, dass sie keine existierenden Designate haben. Bekanntlich ist dies aber nicht alles, was Meinong in diesem Zusammenhang sagt. Ein wichtiges Prinzip, das er von Mally übernommen hat, ist das Prinzip der Unabhängigkeit des Soseins vom Sein. Das Prinzip 8
Vgl. Routley 1980, S. 187.
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besagt, dass eine Folgerung aus einer Beschreibung eines Gegenstands auf seine Existenz, d.h. eine Folgerung der Form (14)
Fa ⊃ E!a
nicht legitim ist. Dass es in Meinongs Theorie leere singuläre Terme gibt in dem Sinne, dass sie keine existierenden Designate haben, und dass die Folgerung der Form (14) nicht logisch legitim ist, gilt natürlich sowohl für Meinong1 als auch für Meinong2 . Meinong1 akzeptiert aber die Folgerung (15)
Fa ⊃ ∃Q xFx
was bedeutet, dass nach ihm die leeren singulären Terme nicht-existierende Designate haben; und Meinong2 , der die Gültigkeit von (14) bestreitet, akzeptiert dennoch zumindest die Gültigkeit von (16)
Fa ⊃ ∃M xFx
Was hingegen Meinong3 betrifft, so akzeptiert er weder (15) noch (16). Das Prinzip der Existenz-Generalisierung (17)
Fa ⊃ ∃xFx
wird von ihm verworfen, wie immer der Existenz-Quantor (∃ interpretiert werden mag. Meinong3 folgt also den Richtlinien der sogenannten free logic, die zwar Quantoren als ontologisch verpflichtend interpretiert, die aber dennoch leere singuläre Terme zulässt. Es gibt allerdings verschiedene Auffassungen von free logic. Es gibt eine negative free logic, die alle Sätze, in denen leere singuläre Terme auftreten, als falsch klassifiziert. Es gibt aber auch eine positive Variante, die zumindest alle Sätze der Form „a = a“ für wahr erklärt, unabhängig davon, ob „a“ ein Designat hat oder nicht.9 Es ist klar, dass die Variante, die für Meinong3 in Frage kommt, nur die positive Variante sein kann. 9
Vgl. „A logical system L is a free logic iff (1) L is free of existential presuppositions with respect to the singular terms of L, (2) L is free of existential presuppositions with respect to the general terms of L, and
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kapitel 8
Im Rahmen dieser Auffassung muss das Prinzip der ExistenzGeneralisierung scheitern. Betrachten wir nur den folgenden Fall des Schemas (17): (18)
a = a ⊃ ∃xx = a
Wenn „a“ ein leerer Term (z.B. „Pegasus“) ist, dann ist der Satz „∃xx = a“ im Rahmen dieser Auffassung falsch (es gibt keinen Gegenstand, der mit Pegasus identisch ist). Die Identität „a = a“ ist aber trotzdem wahr (Pegasus ist identisch mit Pegasus). Meinongs Lieblingsbeispiele für Wahrheiten über nicht-existierende Gegenstände sind Sätze der Art: (4) Der goldene Berg ist aus Gold. Es sind Prädikationen, in denen in der Subjekt-Position eine bestimmte Kennzeichnung steht und in denen das, was prädiziert wird, in dem Subjekt-Term „bereits enthalten ist“. Es handelt sich also um analytische Sätze im engen kantischen Sinne. Jeder Satz der Form (19)
G xGx ∧ Bx
in dem „ xGx ∧ Bx“ eine unbestimmte Kennzeichnung der Form „ein x, das G und B ist“ symbolisiert, ist nach Meinong wahr,10 und zwar selbst dann, wenn der Satz (20)
E! xGx ∧ Bx
falsch ist. Ein Anhänger der positiven free logic (und somit auch unser Meinong3 sagt uns, dass in diesem Fall auch der Satz (21)
∃xGx ∧ Bx
falsch ist. (3) the quantifiers of L have existential import. [ ] A logical system L is a positive free logic iff L is a free logic and there is at least one true elementary sentence of L containing at least one empty singular term.“, Morscher/Simons 2001, S. 2. 10 Wir haben gesehen, dass es bei Meinong letztlich nur unbestimmte Kennzeichnungen gibt.
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Im Rahmen der Position von Meinong3 , in der das Prinzip der Existenz-Generalisierung außer Kraft gesetzt wird, muss man also unstimmte Kennzeichnungen als Terme interpretieren, die sich nicht in der Russell’schen Weise eliminieren lassen. Die free logic-Interpretation der Meinong’schen Philosophie erscheint auf den ersten Blick als ziemlich unplausibel. In den Schriften Meinongs finden wir nämlich sehr viele Äußerungen, die eher eine der beiden alternativen Interpretationen nahe legen. Meinong scheint zu oft und zu systematisch zu behaupten, dass es nicht-existierende Gegenstände gibt.11 Alle diese Äußerungen so umzuinterpretieren, dass man letztlich behaupten könnte, dass sie keine Quantifizierung über nichtexistierende Gegenstände involvierten und mit einer positiven Variante der free logic somit zu vereinbaren wären, ist sicherlich eine schwierige Aufgabe. Da es uns hier jedoch in erster Linie um eine Skizze von Interpretationsmöglichkeiten geht, listen wir die free logicInterpretation dennoch auf. Ihre tatsächliche Durchführbarkeit sei dahingestellt.12 5. Kennzeichnungen Das erwähnte Problem der Kennzeichnungen ist in der Tat sehr wichtig. Ein schwieriges Problem für jede Meinong’sche Philosophie ist nämlich die Frage, wie leere singuläre Terme überhaupt möglich sind. Wenn nämlich eine logische Theorie, die mit solchen Termen operiert, über ein rein formales Spiel hinausgehen soll, dann muss gezeigt werden, wie ein menschliches Wesen solche Terme benutzen und verstehen
11
Lambert behauptet z.B., dass es absolut klar ist, dass Meinong keine free logic betreibt, denn „[t]he true Meinongian [ ] quantifies over nonexistent objects.“, Lambert 1983, S. 97. Vgl. auch: „[According to Meinong] nonentities could occur as genuine subjects in true statements and could occupy all subject roles; that is to say, nonentities are amenable to the normal range of logical operations such as quantification, description, instantiation and identification [ ]. Thus Meinong’s full Independence Thesis [ ] commits him in modern logical terms not merely to free logic but to a thoroughgoing non-existential logic.“, Routley 1980, S. 25. 12 In Chrudzimski 2004b versuchten wir zu zeigen, inwiefern eine solche Interpretation doch durchführbar ist.
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kapitel 8
kann; und es scheint, dass die Annahme, die einzige Kategorie singulärer Terme, die leer sein können, seien eben Kennzeichnungen, die einfachste Erklärung liefert. Eine Überlegung dieser Art hat wohl Russell zu seiner Theorie der bestimmten Kennzeichnungen geführt. Bei Russell gibt es nämlich nur zwei Arten, wie man Wissen von einem Gegenstand haben kann. Ein solches Wissen kann entweder (i) ein Wissen durch Bekanntschaft sein, oder (ii) ein Wissen durch Beschreibung. Einen Namen können wir nun erst dann einem Gegenstand zuordnen, wenn wir diesen Gegenstand irgendwie kennen. Kennen wir ihn durch Bekanntschaft, dann kann es sich wohl um einen genuinen Eigennamen handeln (d.h. um einen Namen, der keine Beschreibung des Gegenstands involviert); der entsprechende Gegenstand muss in diesem Fall aber existieren. Wenn wir hingegen einen Gegenstand nur durch eine Beschreibung kennen, dann ist es natürlich nicht ausgeschlossen, dass der Gegenstand in Wirklichkeit nicht existiert (nämlich dann, wenn die Beschreibung durch keinen Gegenstand erfüllt wird). Ein (vermeintlicher) Name dieses (vermeintlichen) Gegenstands hätte aber in diesem Fall eine deskriptive Bedeutung, die genau dieser Beschreibung entspricht. Konsequenterweise haben wir es dann nicht mit einem genuinen Eigennamen, sondern mit einer maskierten bestimmten Kennzeichnung zu tun. Russells Intentionalitätstheorie war recht cartesianisch. Er hat dem Wissen durch Bekanntschaft so hohe epistemische Standards auferlegt, dass er schließlich angenommen hat, genuine Eigennamen könnten nur primitivsten Gegebenheiten zugeordnet werden, so dass letztlich als „logische“ Eigennamen ausschließlich Demonstrativpronomina fungieren konnten, die Sinnesdaten bezeichnen. Vor diesem Hintergrund kann man den Fleiß, mit dem Quine alle individuellen Konstanten aus seiner Sprache zu eliminieren versuchte, verstehen. In den letzten Jahrzehnten hat sich aber das analytisch-philosophische Klima wesentlich verändert, so dass es heute geradezu in Mode ist, gegen die Russell’sche Deskriptionstheorie der Eigennamen zu rebellieren. Philosophen wie Kripke, Putnam und Evans haben in überzeugender Weise gezeigt, dass die singulären Terme, deren Bedeutung wirklich so etwas wie eine Aufzählung der identifizierenden Eigenschaften ihrer Designate enthält, äußerst selten sind. Wir beziehen uns üblicherweise
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auf Gegenstände, deren identifizierende Beschreibung uns völlig unbekannt ist, und manchmal beziehen wir uns sogar auf Gegenstände, von denen wir nur eine falsche Beschreibung haben.13 Wie eine solche Referenz möglich ist, erklärt die so genannte kausale Theorie der Eigennamen. Was die Beziehung zwischen einem Namen und seinem Gegenstand konstituiert, sind – so die Theorie – vor allem real-kausale Ketten, welche die erste Verwendung des Namens bei Anwesenheit des genannten Gegenstands (die „Taufe“) mit der Situation der aktuellen Verwendung verbinden. (Kripke 1980, S. 135) Tatsache ist also, dass die Russell’sche Deskriptionstheorie der Eigennamen heute eher unpopulär ist. Für unsere Probleme, die leere Terme betreffen, hat das jedoch sehr wenig Bedeutung. Die kausale Theorie, die die antirussellsche Revolte ermöglicht hat, ist nämlich in unserem Fall prinzipiell unanwendbar, denn man müsste uns erst erklären, wie eine kausale Beziehung zu einer nicht-existierenden Entität zustande kommt und wer eine solche Entität „taufen“ könnte, um dann ihren Namen weiterzugeben. Der Auffassung, dass zumindest im Fall aller nicht-existierenden Entitäten die vermeintlichen Namen maskierte Kennzeichnungen sind, ist also schwer zu widerstehen. Doch unabhängig davon, ob sich letztlich eine plausible Theorie formulieren lässt, die die Möglichkeit leerer genuiner Eigennamen erklären würde, können wir sicher sein, dass nach Meinong alle solche Namen in der Tat maskierte Kennzeichnungen sind. Der Grund dafür besteht darin, dass Meinong überhaupt alle Namen in dieser Weise interpretierte. Meinong gehört nämlich zu den Philosophen, die als notwendige Bedingung für sprachliche Intentionalität die mentale Intentionalität betrachten. Unsere Worte sind nur deswegen intentional, weil sie mit bestimmten psychischen Akten assoziiert werden, die ihrerseits eine intrinsische Intentionalität besitzen. Dass jede intentionale Beziehung 13
Kripke nennt das Beispiel von jemandem, der den Namen „Kolumbus“ verwendet und dabei nur über die Beschreibung „der Entdecker Amerikas“ verfügt. Da diese Beschreibung in Bezug auf Kolumbus falsch ist, müsste sich der Sprecher der Deskriptionstheorie zufolge in Wirklichkeit mit dem Namen „Kolumbus“ nicht auf Kolumbus, sondern auf jemand anderen, der im Gegensatz zu Kolumbus tatsächlich Amerika entdeckt hat, beziehen – wahrscheinlich auf einen Wikinger. Vgl. Kripke 1980, S. 85.
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kapitel 8
bei Meinong eine logische Form haben muss, die sehr an die Russell’sche Deskriptionstheorie erinnert, wird besonders klar, wenn wir uns auf den „späten“ Meinong konzentrieren. Wie wir gesehen haben, muss beim späten Meinong jede echte Intentionalität eine propositionale Form haben. In einer bloßen Vorstellung, behauptet er, wird das Objekt nur ganz passiv, rein potentiell präsentiert. (Meinong 1910, S. 238) Wenn ein solches Objekt intentional erfasst werden soll, muss sich auf die Vorstellung ein weiterer Bewusstseinszustand aufbauen (Meinong 1910, S. 235), in dem das Objekt als Material für ein (propositionales) Meinen dient. (Meinong 1910, S. 244) Meinong schreibt, dass das Objekt (der nominalen Form) in dieser Weise aus dem Bereich des Außerseins aufgrund der vorgegebenen Bestimmungen ausgewählt wird. (Meinong 1910, S. 275) Es liegt also nahe, dem Meinong’schen Meinen, das einem Gegenstand die Eigenschaft G zuschreibt, eine der folgenden drei logischen Formen zuzuschreiben: (22)
∃Q xFx ∧ Gx
(23)
∃M xFx ∧ Gx
(24)
G xFx
je nachdem, ob wir es mit Meinong1 , mit Meinong2 oder mit Meinong3 zu tun haben. Die Formen (22) und (23) sehen sehr nach Russell aus. Bei Meinong3 , der das Prinzip der existentiellen Generalisierung verwirft, bleiben hingegen die Kennzeichnungen als Terme erhalten, die sich nicht im Stile von (22) bzw. (23) eliminieren lassen,14 denn weder aus (22) noch aus (23) noch aus (24) soll folgen, dass (25) 14
E! xFx
Vgl. „In Principia Mathematica Russell held that all definite description, though grammatically correct expressions, from a logical point of view did not belong to the category of singular terms; [ ] [F]ree definite description theories treat definite descriptions as genuine singular terms (like Frege), but do not assign any existent as referent to an unfulfilled definite description – even artificially [like Frege].“, Lambert 1997, S. 99.
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Die von (22)–(24) ausgedrückten Meinungen sind alle reine Soseinsmeinungen. Ein Seinsmeinen bekommen wir erst dann, wenn wir eine der Formulierungen (22)–(24) durch die Bedingung „∧ E!x“ bzw. „∧ E! xFx“ vervollständigen. 6. Zusammenfassung Wir können jetzt versuchen, die Beziehungen zwischen unseren drei Meinong-Interpretationen ein wenig zu ordnen. Die Unterschiede zwischen ihnen bestehen zum einen in den unterschiedlichen Deutungen der Quantoren (∃Q vs. ∃M , zum anderen aber in der Stellung zum Prinzip der Existenz-Generalisierung. Meinong1 nimmt, gemeinsam mit Quine, sowohl die ∃Q -Deutung des Existenz-Quantors als auch die Gültigkeit des Prinzips der Existenz-Generalisierung an. Meinong2 besteht ebenfalls auf der Gültigkeit dieses Prinzips, nimmt aber eine ontologisch nicht-verpflichtende Interpretation des Existenz-Quantors an. Meinong3 ist der einzige Meinong, der die Gültigkeit des Prinzips der ExistenzGeneralisierung außer Kraft setzt. Dafür hat er aber wieder die ∃Q Interpretation des Existenz-Quantors. Es gibt allerdings noch eine Dimension, die in unserer Klassifikation berücksichtigt werden muss. Wenn wir nämlich unseren Meinong1 mit Quine vergleichen, sehen wir, dass sie sich weder bezüglich der Interpretation des Existenz-Quantors noch bezüglich der Stellung zum Prinzip der Existenz-Generalisierung voneinander unterscheiden. Wodurch sie sich unterscheiden, ist der Umfang des Universums, in dem die Werte für die quantifizierten Variablen gesucht werden können. Bei Quine gehören zu diesem Bereich nur diejenigen Gegenstände, die auch in der Umgangssprache im Grunde als existierend bezeichnet werden, bei Meinong1 erstreckt sich hingegen das Universum so weit, dass es auch nicht-existierende Entitäten umfasst. Deswegen wäre für Quine der Satz (2)
∃x¬E!x
zwangsläufig falsch (wenn er in seiner Sprache die Konstante „E!“ überhaupt hätte), während er für Meinong1 wahr ist, obwohl der involvierte Quantor auch bei ihm der ∃Q -Quantor ist.
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Wenn wir diese drei Dimensionen berücksichtigen, können wir das folgende Schema konstruieren: Existenz-Quantor ontologisch verpflichtend
ontologisch nicht-verpflichtend
Meinong1
enge Domäne
gilt
Quine
Meinong 2
weite Domäne
Das Prinzip der ExistenzGeneralisierung gilt nicht
Meinong3
free logic mit Außendomäne
Unser Quadrat wird zunächst in Viertel geteilt, je nach der Deutung des Existenz-Quantors und je nach der Stellung zum Prinzip der ExistenzGeneralisierung. Meinong1 und Quine befinden sich beide im ersten Viertel. Was sie voneinander unterscheidet, ist, wie gesagt, lediglich der Umfang ihrer Domänen, was wir durch das innere und das äußere Quadrat veranschaulichen. Die Positionen im inneren Quadrat setzen eine „enge“ Domäne, diejenigen im äußeren Quadrat eine „weite“ Domäne voraus. Ob die Domäne eng oder weit ist, hängt davon ab, ob sie auch solche Entitäten umfasst, die im umgangssprachlichen Sinn als nicht-existierend bezeichnet werden. Wir sehen, dass sowohl Meinong2 als auch Meinong3 mit einer engen Domäne operieren;15 und es gilt zu betonen, dass es auch so sein soll. Was 15
Die weit verbreitete Tendenz, nur diejenigen semantischen Ideen als „meinongisch“ zu bezeichnen, die ontologisch ernst zu nehmende nicht-existierende Gegenstände involvieren, ist also nicht ganz richtig. Vgl. z.B. „First, there are competing world pictures, one consisting of both a (possibly empty) set of existing objects and some set of nonexisting objects, and the other consisting only of a (possibly empty) set of existing objects. Using Scale’s useful terminology, the first kind of world picture is called the Meinongian world picture, and the second kind, the Russellian world picture.“, Lambert 1991a, S. 9.
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nämlich für beide Positionen charakteristisch ist, ist die Tatsache, dass das Prinzip der Existenz-Generalisierung, das die ∃Q -Quantifizierung voraussetzt: (15)
Fa ⊃ ∃Q xFx
nicht gilt. Meinong2 verwendet eine ontologisch nicht-verpflichtende ∃M Quantifizierung und rettet das Prinzip nur in einer ontologisch harmlosen Form: (16)
Fa ⊃ ∃M xFx
während Meinong3 überhaupt kein Prinzip der Existenz-Generalisierung akzeptiert. Es scheint, dass der einzige Grund, die Logik in dieser Weise zu komplizieren, darin bestehen kann, dass man bei einer engen Domäne bleiben will. Denn wenn wir bereit sind, unsere Domäne um die nicht-existierenden Gegenstände zu erweitern, warum sollten wir dann über diese Gegenstände nicht ∃Q -quantifizieren? Deswegen ist die Quantifizierung bei Meinong1 – dem einzigen, der eine weite Domäne zur Verfügung hat – in der Tat eine ∃Q -Quantifizierung. Es ist allerdings zu betonen, dass es Philosophen gibt, die (i) eine weite Domäne, (ii) eine ∃Q -Deutung der Quantifizierung und dennoch (iii) die Ungültigkeit des Prinzips der Existenz-Generalisierung annehmen. Es sind dies die Anhänger einer free logic, die in ihrer Semantik eine so genannte Außen- und Innendomäne haben.16 Wir finden diese Kombination nicht überzeugend, denn, wie gesagt, wenn es die entsprechenden Gegenstände in unserer „Welt“ (in diesem Fall: in der Außendomäne) gibt, dann gibt es sie eben, und sie sollten dann auch ohne Probleme ∃Q -quantifizierbar sein. Die übrigen Kombinationen scheinen eindeutig ausgeschlossen zu sein. Das letzte Viertel des Quadrats, in dem eine ontologisch unverpflichtende ∃M -Quantifizierung mit der Ungültigkeit des Prinzips 16
Zu einer solchen Semantik für eine positive free logic Vgl. Lambert 1991a, S. 10, Lambert 1995, S. 140, und Lambert 1997, S. 59–68.
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kapitel 8
der Existenz-Generalisierung verbunden wird, macht schon deswegen wenig Sinn, weil der Wunsch, das Prinzip der Existenz-Generalisierung aufrechtzuerhalten, gerade einer der wichtigsten Gründe für die ontologisch unverpflichtende Deutung der Quantifizierung ist. Die Position des letzten Viertels einzunehmen, wäre so, als ob jemand eine Fahrkarte gekauft hat und dennoch zu Fuß gehen muss. Auch die Verbindung einer ontologisch nicht-verpflichtenden Deutung der Quantifizierung mit einer weiten Domäne scheint sehr dubios zu sein. Wiederholen wir noch einmal: Eine solche Deutung der Quantifizierung brauchen wir erst dann, wenn wir möchten, dass aus dem Satz „∃xFx“ keine ontologischen Verpflichtungen resultieren. Wenn aber unsere Domäne ohnehin schon weit ist, so dass wir jeden Gegenstand, den wir für die Interpretation dieses Satzes brauchen, in dieser Domäne finden, dann gibt es keinen Grund mehr für diesen Wunsch. Eine plausible Konsequenz der ontologisch unverpflichtenden Deutung der Quantifizierung ist deswegen die Annahme einer engen Domäne, und genau das ist die Position unseres Meinong2 .
SCHLUSSWORT
Unsere Reise durch Meinongs Dschungel ist somit zu Ende. Wir haben seinen Weg von den frühen Arbeiten bis zur reifen Gegenstandstheorie verfolgt und gesehen, wie stark seine Gegenstandstheorie mit der Problematik der Intentionalitätstheorie zusammenhängt. Die Art der Erklärung, die uns Meinong zu geben versucht, ist philosophisch sehr interessant. Seine ontologisch neutrale Gegenstandstheorie sollte uns – so war Meinongs Absicht – eine ganz neue Perspektive geben und einen viel allgemeineren Rahmen liefern als alles, was die bisherige Metaphysik zu bieten hatte. In dieser Beziehung ist Meinongs Projekt ähnlich ehrgeizig wie Husserls Phänomenologie. Wir haben zwar gesehen, dass es keineswegs einfach ist, die ontologische Neutralität des Meinong’schen Außerseins zu interpretieren, das ist aber das Schicksal aller grundlegenden philosophischen Begriffe. Ähnlich schwierig ist es, den Unterschied zwischen der psychologischen und der transzendentalen Betrachtungsweise auszudrücken, die aristotelische These der Mehrdeutigkeit des Seienden auszulegen oder den Begriff der ersten Materie zu präzisieren. Die Tatsache, dass Meinong zu den wenigen Philosophen gehört, die die Gabe hatten, interessante philosophische Grundlagenarbeit zu leisten, steht jedenfalls fest. Die Antwort auf die Frage, ob es Meinong tatsächlich gelungen ist, in diesem Rahmen eine überzeugende Erklärung des Intentionalitätsphänomens zu liefern, ist hingegen nicht einfach zu beantworten. Die ernsthaften Schwierigkeiten, die mit Meinongs Unterscheidung zwischen den unvollständigen und den vollständigen Objektiven, mit seiner Theorie der modalen Bestimmungen und mit der Theorie der Inhaltsrepräsentation zusammenhängen, haben wir hier nicht verschwiegen. Wer heute eine überzeugende „Meinong’sche“ Intentionalitätstheorie entwickeln will, muss – so ist unser Fazit – über die Theorie Meinongs wesentlich hinausgehen. 371
372
schlusswort
Doch unabhängig von dem Erfolg oder Misserfolg der „großen“ Reformen, die Meinong vorhatte, hat er durch seine geduldigen, ja oft peniblen Analysen sehr viele „kleinere“ Punkte wesentlich geklärt. Dazu zählen z.B. seine Argumentation für die Einführung der propositionalen Entitäten, die wichtige Schwachpunkte jeder „Dingontologie“ aufdeckt, seine philosophische „Rehabilitierung“ der Relationen oder seine verschiedenen Abstraktionstheorien, die er ständig seiner aktuellen Intentionalitätstheorie angepasst hat. Dies sind ohne Zweifel bleibende Leistungen, auf die nachfolgende Generationen von Philosophen bauen können.
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Henninger, M. G., 64 Hieke, A., xii Hillebrand, F., 151, 157 Höfler, A., 57, 105, 116f., 163 Huemer, W., xii, 121 Hume, D., 37, 70, 91f., 233f., 246 Husserl, E., 98, 101, 103f., 118–121, 123, 287, 295, 303f.
Jacquette, D., 105, 219, 223 Johansson, I., 82
Kant, I., 195 Kripke, Saul, 25, 364f. Küng, Guido, xii
Lambert, Karel, 354, 363, 366, 368f. Leibniz, Gottfried Wilhelm, 65, 205, 226, 273, 321 Lejewski, C., 357 Lewis, D., 258, 266 Locke, J., 58, 91f. Loux, M. J., 192, 331 Lowe, E. J., 192, 331 Łukaszewicz, J., 223
Mach, E., 99 Mally, E., 184, 199, 218, 360 Marek, J. C., 21 Marty, A., 32, 45, 47, 53, 57, 59f., 66, 75, 105, 149f., 161, 237, 243, 245 Mill, J. St., 58–60, 268 Moore, G. E., 123
385
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namenverzeichnis
Morscher, E., xii, 112f., 362 Münch, D., 8
Parsons, T., 323, 342 Pas´niczek, J., 337 Platon, 196 Półtawski, A., xii Prior, A. N., 357 Putnam, H., 25, 364
Quine, W. V. O., 315–319, 354f., 357–359, 364, 367f.
Reicher, M. E., 218f. Reid, T., 56 Rojszczak, A., 151 Rollinger, R. D., 113, 149, 158, 163 Routley, R., 342, 359f., 363 Russell, B., 25, 81, 182, 191, 211, 230, 232, 300, 315–319, 342, 356–358, 364f.
Sierszulska, A., 276 Simons, P., 40, 86, 334, 362 Smith, B., 18f., 47, 151 Sowa, R., xii Stout, G. F., 67 Stumpf, C., 47, 53, 59, 66, 98, 101, 149f. Tarski, A., 132 Thomas von Aquin, 195–197 Twardowski, K., 30, 32, 54, 103–118, 122f., 125f., 129, 131, 136, 183f., 295, 297, 304 Weiler, M., xii Wiggins, D., 192, 331 Williams, D. C., 60, 67 Wittgenstein, L., 267–272, 286, 288f., 295 Zalta, E. N., 218 Zimmermann, R., 30, 112f.