Frühmittelalterliche Studien 2008
Herausgegeben von Gerd Althoff Hagen Keller Christel Meier Walter de Gruyter
I FRÜH...
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Frühmittelalterliche Studien 2008
Herausgegeben von Gerd Althoff Hagen Keller Christel Meier Walter de Gruyter
I FRÜHMIT T E LA LT E RLI C HE STUDI EN
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F R Ü H M I T T E L A LT E R L I C H E S T U D I E N Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster
in Zusammenarbeit mit
Arnold Angenendt, Volker Honemann, Albrecht Jockenhövel, Ruth Schmidt-Wiegand, Nikolaus Staubach und Joachim Wollasch
herausgegeben von
GERD A LT HOFF, HAGE N K ELLER und C HRI STEL M EI ER
42. Band
2008
WA LT E R DE GRUY T E R · BERLI N · NEW YO RK
IV Redaktion: Dr. Franz Neiske Institut für Frühmittelalterforschung der Universität Münster Salzstraße 41 48143 Münster
ISSN 0071-9706 ISSN ( internet ) 1613-0812 ISBN 978-3-11-019675-7 © Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck: Mercedes-Druck, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Stein + Lehmann GmbH, Berlin
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Inhaltsverzeichnis Michail A. Bojcov, Der Heilige Kranz und der Heilige Pferdezaum des Kaisers Konstantin und des Bischofs Ambrosius (Taf. I–VII, Abb. 1-25) .
1–69
Ueli Zahnd, Novus David – N« . Zur Frage nach byzantinischen Vorläufern eines abendländischen Topos . . . . . . . . . . . . . . .
71–87
Michael Grünbart, Der Kaiser weint. Anmerkungen zur imperialen Inszenierung von Emotionen in Byzanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89–108
Bernard S. Bachrach – David S. Bachrach, Continuity of written administration in the Late Carolingian East c. 887–911. The Royal Fisc . . 109–146 Wojtek Jezierski, Paranoia sangallensis. A Micro-Study in the Etiquette of Monastic Persecution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147–168 Wojciech Fałkowski, Double Meaning in Ritual Communication . . . . . 169–187 Annelies Amberger, Insignienverlust – Insignienbesitz. Krone und Ring als Funeralinsignien im Grab Kaiser Heinrichs IV. und Herodesbilder in Lambach (Taf. VIII–X, Abb. 26-40) . . . . . . . . . . . . . . . . . 189–228 Claudia Garnier, Die Legitimierung von Gewalt durch die hoch- und spätmittelalterliche Friedensbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229–251 Antonie Wlosok, Rollen Vergils im Mittelalter (Taf. XI–XX, Abb. 41-58) . 253–269 Petra Korte, Christlicher Hades und vergilisches Fegefeuer. Die antike Unterwelt in der mittelalterlichen Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . 271–306 Kerstin Seidel, Vorzeigen und nachschlagen. Zur Medialität und Materialität mittelalterlicher Rechtsbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307–328 Ulrich Töns, . Die Grammatik des Johannes Kerckmeister ( 1486 ) als Zeugnis des Humanismus in Münster . . . . 329–397 Klaus Schreiner, Von der Geliebten zur himmlischen Schutz- und Siegesfrau. Zur semantischen Umbesetzung einer biblischen Frau in der Hohenliedauslegung des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Taf. XX– XXII, Abb.59-65) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399–423 Zusammenfassungen der Beiträge in englischer Sprache . . . . . . . . . . 425–429 Orts-, Personen- und Sachregister, bearbeitet von Franz Neiske . . . . . . 431–438
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Inhaltsverzeichnis
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Alphabetisches Verzeichnis der Mitarbeiter dieses Bandes Dr. Annelies Amberger M. A., Hochschule für Philosophie SJ, Kaulbachstraße 31a, 80539 München Prof. Bernard S. Bachrach, University of Minnesota, Department of History, 1110 Heller Hall, 271 19th Ave. South, Minneapolis, Minnesota 55455 Prof. David S. Bachrach, University of New Hampshire, 132 Horton Social Science Center, 20 Academic Way, Durham, New Hampshire 03824 Prof. Dr. Michail Bojcov, Lehrstuhl für Geschichte des Mittelalters, Historische Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität, Lomonossowskij Prospekt 27–4, 119992 Moskau Prof. Dr. Wojciech Fałkowski, Institut of History, Warsaw University, Krakowskie Przedm. 26/28, 00–325 Warszawa, Poland PD Dr. Claudia Garnier, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster Prof. Dr. Michael Grünbart, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Seminar für Byzantinistik, Scharnhorststr. 110, 48151 Münster Dr. Wojtek Jezierski, Stockholm University, Department of History, 106 91 Stockholm, Schweden Petra Korte, Bohmter Str. 28 A, 49074 Osnabrück Prof. Dr. Klaus Schreiner, Pläntschweg 73, 81247 München Dr. Kerstin Seidel, Universität Zürich, Historisches Seminar, Karl Schmid-Strasse 4, CH-8006 Zürich Dr. Ulrich Töns, Wierling 13, 48163 Münster Prof. em. Dr. Antonie Wlosok, Johannes Gutenberg-Universität, Seminar für Klassische Philologie ( Philosophicum ), Jakob-Welder-Weg 18, 55099 Mainz Lic. theol., Ueli Zahnd, Universität Freiburg, Philosophisches Seminar, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg
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Inhaltsverzeichnis
Der Heilige Kranz
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MICHAIL A. BOJCOV
Der Heilige Kranz und der Heilige Pferdezaum des Kaisers Konstantin und des Bischofs Ambrosius 1 I. Die Trauerrede, S. 1. – II. Die seltsame Komposition, S. 4. – III. Die Augusta Helena und die Reliquien des Echten Kreuzes, S. 11. – IV. Die Prophezeiung Sacharjas, S. 17. – V. Der erste Kult der Nägel, S. 20. – VI. Der , S. 25. – VII. Der Handlungsort, S. 31. – VIII. Der zweite Nagel, S. 34. – IX. Das , S. 42. – X. Ambrosius und Reliquien, S. 53. – XI. Nach Ambrosius: das und die , S. 55. – XII. Nach Ambrosius: der , S. 61. – XIII. Ergebnisse, S. 67.
I. DIE TRAUERREDE
Am Sonntag, dem 25. Februar 395 hielt Ambrosius ( um 333–397 ), der Bischof von Mailand und einer der bekanntesten westlichen Kirchenväter wie auch ein erfahrener Politiker, die Trauerrede für Kaiser Theodosius, der genau 40 Tage vorher im Alter von ungefähr 48 Jahren unerwartet in Mailand verstorben war 2. Diese Rede wurde keinesfalls im engen Kreis der vertrauten Höflinge gehalten, sondern dem Bischof von Mailand hörten Tausende von Menschen zu. Vom höchsten Rang unter ihnen war gewiss der jüngere Sohn Theodosius’ und sein Nachfolger in der westlichen Hälfte des Reiches, Honorius 3, der damals nicht einmal 11 Jahre alt war.
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Diese Studie konnte nur dank der Unterstützung und Gastfreundschaft des ( inzwischen leider abgeschafften ) Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen ( August 2006 ) und des Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences ( NIAS ) in Wassenaar ( Februar 2007 ) entstehen. Den beiden Institutionen gegenüber fühlt sich der Verfasser außerordentlich verpflichtet. Aus dem Russischen von Michail A. Bojcov und Ludger Hartmann mit Beteiligung von Sylvie Schwarzwälder übersetzt. Zu der Trauerrede Ambrosius’ s. zunächst: Giorgio Bonamente, Potere politico e autorità religiosa nel di Ambrogio, in: Chiesa e Società dal secolo IV ai nostri giorni. Studi storici in onore del P. Ilarino da Milano ( Italia Sacra 30 ) 1, Rom 1979, S. 83–133; Franca Ela Consolino, L’optimus princeps secondo S. Ambrogio. Virtù imperatorie e virtù cristiane nelle orazioni funebri per Valentiniano e Teodosio, in: Rivista storica italiana 96, 1984, S. 1025–1045; Dies, Teodosio e il ruolo del principe cristiano dal De obitu di Ambrogio alle storie ecclesiastiche, in: Cristianesimo nella storia 15, 1994, S. 257–278 ( man vergleicht das Bild Theodosius’ in der Rede Ambrosius’ mit seinem Bild in den Werken der Historiker des 5. Jahrhundert ); Francesco Corsaro, Il trono e l’altare. Da Costantino a Teodosio: De obitu Theodosii di Ambrogio, in: Vescovi e pastori in epoca teodosiana. In occasione del XVI centenario della consacrazione episcopale di S. Agostino, 396–1996. XXV Incontro di studiosi dell’antichità Cristiana, Roma 1997, 2, S. 601–611; Marta Sordi, La morte di Teodosio e il di Ambrogio, in: Acta classica Debreceniensia 36, 2000, S. 131–136. [ … ] et nunc quadragesimam celebramus, adsistente sacris altaribus Honorio principe [ … ] – Ambrosius, De obitu Theodosii, 3 ( künftig wird im Text des Aufsatzes und in Anmerkungen allein die Nummer der entsprechenden Kapitel angegeben ); Fles, Honori, germen augustum, et lacrimis pium testificaris adfectum [ … ] – 54; Fles, etiam, imperator auguste [ … ] – 55. Die falsche Meinung, Arcadius, der ältere Sohn Theodosius’, habe auch der Rede Ambrosius’ beigewohnt, wurde geäußert in: Barbara Baert, A Heritage of Holy Wood.
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Michail A. Bojcov
Gerade deswegen muss man als die einflussreichste politische Figur unter den Anwesenden den Vormund Honorius’ und Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee, den dreißigjährigen Stilicho betrachten, der nun zum de facto-Herrscher über den westlichen Teil des Reiches wurde 4. Die Rede von Ambrosius verfolgten viele Höflinge, Kleriker und Mailänder Bürger, aber auch – und das war besonders wichtig – die Militärs. Jetzt standen Letztere Schulter an Schulter, aber nur kurz zuvor hatten sie noch heftig gegeneinander gekämpft. Dieses Heer, das Ambrosius zuhörte, bestand aus drei großen Teilen: den Siegern, den Besiegten und den Überläufern. Erstere hatte Theodosius sechs Monate zuvor vom Osten nach Italien mitgebracht, um den <Usurpator> Eugenius zu stürzen, der sich praktisch den gesamten Westen unterworfen hatte 5. Die zweite Gruppe kämpfte gerade hart für Eugenius in der höchst blutigen Schlacht am Fluss Frigidus 6, unterlag aber. Es wurde den Überlebenden gnädig gestattet, ihren Dienst fortzusetzen, jetzt allerdings in der Armee Theodosius’. Die Dritten waren ursprünglich an der Seite des Usurpators, wechselten aber im entscheidenden Moment
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The Legend of the True Cross in Text and Image ( Cultures, Beliefs and Traditions. Medieval and Early Modern Peoples 22 ) Leiden – Boston 2004, S. 28, Anm. 71. Die Trauerrede wird hier und weiter nach der folgenden Edition zitiert: Sanctus Ambrosius, Opera. Pars septima, hg. von Otto Faller ( CSEL 73 ) Wien 1955, hier S. 372, 400. Vgl. eine weitere Edition: Mary Dolorosa Mannix, Sancti Ambrosii oratio de obitu Theodosii. Text, Translation, Introduction and Commentary, Diss., Washington ( D.C. ) 1925. Die französische Übersetzung mit Einleitung und Kommentar bereitete Yves-Marie Duval ( † 2007 ) für die Reihe Sources chrétiennes vor, sie ist aber nicht erschienen. Gedruckt ist aber eine Vorstudie: Yves-Marie Duval, Commenter Ambroise: principes et application ( Obit. Theod. 1–8 et 17–19 ) in: Gérard Nauroy ( Hg. ), Lire et éditer aujourd’hui Ambroise de Milan: actes du colloque de l’Université de Metz ( 20–21 mai 2005 ) ( Recherches en littérature et spiritualité 13 ) Bern–Berlin–Bruxelles u. a. 2007, S. 125–164. Die deutschen Zitate weiter unten folgen meistens der Übersetzung: Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand ausgewählte Schriften. Übersetzt und eingeleitet von Johann Ev. Niederhuber ( Des heiligen Kirchenvaters Ambrosius ausgewählte Schriften 3; Bibliothek der Kirchenväter 1. Reihe, 32 ) Kempten – München 1917, S. 394–423. Zwar gibt es keinen klaren Hinweis im Text, dass die Rede im Beisein Stilichos gehalten wurde, man wies aber schon vor Langem auf einige Indizien hin, die dafür sprechen: Jean-Rémy Palanque, Saint Ambroise et l’empire romain, Paris 1933, S. 304. Außerdem erkennt man in den Worten Ambrosius’ die folgende wahrscheinliche Andeutung an Stilicho. Theodosius hielt nichts aus seinem Nachlass vor seinen Söhnen geheim (d. h. der Kaiser hatte keine Absicht, etwas aus seinem Vermögen oder Rechten jemand Anderem als Arcadius und Honorius zu hinterlassen): ‚er hatte ihnen alles übergeben‘, was er besaß. Das einzige, was er vor ihnen verhüllte, war, dass er ‚sie dem anwesenden Verwandten anvertraue‘: […] de filiis enim nihil habebat novum, quod conderet, quibus totum dederat, nisi ut eos praesenti commendaret parenti – 5. Einer sehr komplizierten aber wahrscheinlichen Rekonstruktion von Alan Cameron zufolge musste Theodosius noch im Oktober angesichts seiner geplanten baldigen Rückkehr nach Konstantinopel die künftige Regentschaft Stilichos im Westen des Reiches öffentlich bekannt gemacht haben. Nach dem Tod des Kaisers kündigte aber Stilicho plötzlich an, Theodosius habe ihm auf dem Sterbebett nicht nur Honorius im Westen, sondern auch den inzwischen schon achtzehnjährigen Arcadius im Osten anvertraut. Die Worte des Ambrosius bezeugen tatsächlich, dass etwas in den politischen Ansprüchen Stilichos für den Mailänder Hof völlig überraschend war. Cameron hat durchaus Recht, wenn er diese Stelle bei Ambrosius als aus Vorsicht undeutlich formuliert bezeichnet. Schwer zu teilen ist dagegen der Zweifel des britischen Historikers daran, dass Ambrosius hier eben die Regentschaft meinen musste. Selbst wenn Ambrosius sie nicht als rechtsgemäß anerkennen wollte (so Cameron), so konnte er doch von ihr zumindest als ein Ziel der Bestrebungen Stilichos sprechen. S. dazu: Alan Cameron, Theodosius the Great and the Regency of Stilicho, in: Harvard Studies in Classical Philology 73, 1969, S. 247–280, bes. S. 274–275, 278 f. Ausführlich dazu: Joachim Szidat, Die Usurpation des Eugenius, in: Historia 28, 1979, S. 487–508. Jetzt Vipava ( Wippach ) in Slovenien, die Schlacht fand am 5. und 6. September 394 in der Nähe des heutigen Ortes Ajdovˇscˇ ina ( Haidenschaft ) statt.
Der Heilige Kranz
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die Front und schenkten dadurch Theodosius den Sieg. In dieser Schlacht fielen die besten Truppen der westlichen Hälfte des Reiches – ein Verlust, von dem sich das Römische Imperium nie mehr zu erholen im Stande war. Diese äußerlich vereinigte, aber innerlich alles andere als geschlossene Armee war zu dieser Zeit die stärkste Militärkraft im ganzen Kaiserreich und von der Laune der Soldaten, an welche sich der Redner wendete, konnte vieles im Reich abhängen, vielleicht sogar alles. Diese Armee bestand zum großen Teil aus Barbaren. Auf der Seite Eugenius’ mussten u. a. Franken gekämpft haben, während Theodosius viele Goten mit sich brachte. Nur siebzehn Jahre zuvor hatten die Goten den Kaiser Valens in der Schlacht von Adrianopel vernichtend geschlagen, aber infolge der Beschwichtigungspolitik von Theodosius wurden die Goten wieder in die Gefüge des Römischen Staat bis zu einem bestimmten Grad integriert. Auf jeden Fall ist der Beitrag der Goten zum Triumph über Eugenius nicht zu hoch einzuschätzen, wie auch die Opfer, welche sie für diesen Sieg brachten 7. Es geschah übrigens gerade anlässlich der Kampagne gegen Eugenius, dass der Gotenhäuptling Alarich die Gebirgspässe Illyriens kennen lernte – Kenntnisse, die er knapp sieben Jahre später mit Erfolg ausnutzen konnte, um an der Spitze seiner kriegerischen Stammesgenossen diesmal gegen den Willen des Kaisers auf die Apennin-Halbinsel zurückzukehren und seinen Vormarsch nach Rom zu beginnen. Unter den Soldaten Theodosius’ waren ohne Zweifel immer noch zahlreiche Heiden ( vor allem unter den Besiegten ), obwohl die meisten bereits Christen waren. Aber auch diese Christen hielten sich an sehr unterschiedliche Ansichten: einige von ihnen erkannten den Kanon der ökumenischen Synode von Nicäa 325 an, viele Andere lehnten ihn jedoch völlig ab. Ambrosius hatte auch als Redner bei traurigen Gelegenheiten viel Erfahrung: außer sind weitere drei Trauerreden von ihm überliefert – zwei anlässlich des Todes seines eigenen Bruders und eine für den jung verstorbenen Kaiser Valentinian II. Ambrosius kennt die Normen des Genres durchaus und es mangelt bei ihm natürlich nicht an Lobpreisungen über den verstorbenen Theodosius. Seine Darstellung war aber nicht der Vergangenheit, sondern vielmehr der Zukunft zugewandt, weil ihre Hauptbotschaft in der unbedingten Fortsetzung der theodosianischen Dynastie bestand 8. Der Leitgedanke bei Ambrosius lässt sich auf zwei Thesen reduzieren 9. Erstens, Theodosius war ein glänzender Kaiser und hatte sich die himmlische Seligkeit durchaus verdient. Aber zweitens: 7
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Ausführlich dazu: Johannes Straub, Die Wirkung der Niederlage bei Adrianopel auf die Diskussion über das Germanenproblem in der spätrömischen Literatur, in: Philologus 95, 1943, S. 255–286; Massimiliano Pavan, La politica Gotica di Teodosio nella publicistica del suo tempo, Rom 1964; Émilienne Demougeot, Modalités d’établissement des fédérés barbares de Gratien et de Théodose, in: Mélanges d’Histoire Ancienne offerts à William Seston ( Publications de la Sorbonne, série Études 9 ) Paris 1974, S. 143–160; Evgenij P. Gluschanin, Die Politik Theodosius’ I. und die Hintergründe des sogenannten Antigermanismus im oströmischen Reich, in: Historia 38, 1989, S. 224–249; Robert Malcolm Errington, Theodosius and the Goths, in: Chiron 26, 1996, S. 1–27. S. z. B.: Palanque ( wie Anm. 4 ) S. 293 f.: „Cette idée de la perpétuité de la dynastie nous apparait précisément dominante dans le discours que l’évêque de Milan prononce aux obsèques de Théodose …“. Vgl. auch S. 301 f.; Richard Klein, Die Kaiserbriefe des Ambrosius. Zur Problematik ihrer Veröffentlichung, in: Athenaeum N.S. 48, 1970, S. 335–371, hier S. 363; Mannix ( wie Anm. 3 ) S. 3 f. und andere mehr. S. z. B.: Otto Faller, Prolegomena, in: Sanctus Ambrosius ( wie Anm. 3 ) S. 116*.
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Michail A. Bojcov ‚ist er nicht vollständig von uns gegangen. Er hinterließ uns seine Kinder, in denen wir ihn wieder erkennen, in denen wir ihn erblicken und an ihm festhalten. Ihr Alter braucht uns keine Sorge bereiten! Die Treue 10 des Heeres bildet die Altersreife des Kaisers. Denn dort herrscht das volle Mannesalter, wo die vollendete Mannestugend herrscht. Sie stehen in Wechselwirkung. So ist umgekehrt die Glaubenstreue des Kaisers die Kraft des Heeres.‘ 11
Die These von der unverbrüchlichen Treue der Armee zu ihrem jungen Kaiser wiederholte Ambrosius mit immer neuen Worten wieder und wieder, als ob er seine Zuhörer hypnotisieren wolle. Dieser Nachdruck verrät uns seine Befürchtung, dass die Treue dieser erfahrenen und meistens barbarischen Soldaten, welche die blutige Schlacht am Frigidus erst kurz hinter sich hatten, gegenüber einem zehnjährigen Knaben, der völlig anders als ein glückreicher Heerführer aussah, gar nicht so selbstverständlich war, wie der Redner das der zuhörenden Menge suggerieren wollte. ‚Traget an seinen Söhnen die Schuld ab, die ihr dem Vater zu leisten habt! Mehr schuldet ihr ihm nach seinem Tode als zu seinen Lebzeiten. Denn wenn schon an den Kindern gewöhnlicher Leute die Minderjährigkeitsrechte nicht ohne schweres Verbrechen verletzt werden dürfen, wie viel weniger an den Kindern eines Kaisers?‘ 12. Ambrosius benutzt auch eine weitere, allen Anwesenden leicht verständliche Parallele aus dem Zivilrecht: ‚Denn wenn schon der letzte Wille von Privatpersonen und die letztwilligen Verfügungen gewöhnlicher Sterblicher dauernde Gültigkeit haben, wie könnte die letztwillige Bestimmung eines so großen Kaisers der Rechtsgültigkeit ermangeln?‘ 13 Der Redner erhebt sich also hier nicht in die Höhe der konstitutionellen Spekulationen, sondern bleibt auf dem festen Boden der alltäglichen Praxis. Er muss nicht Philosophen oder Theologen, sondern Soldaten und Offiziere davon überzeugen, dass sie sich vom jungen Sohn des verstorbenen Kaiser nicht abkehren dürfen. II. DIE SELTSAME KOMPOSITION
Nach einhelliger Forschermeinung besteht die Trauerrede Ambrosius’ aus drei klar voneinander trennbaren Hauptteilen. Im ersten ist der Verfasser hauptsächlich damit beschäftigt, die schon oben genannte These mit immer neuen Argumenten zu bekräftigen: allein die Söhne Theodosius’ seien dazu berechtigt, seine Herrschaft zu vererben. Im zweiten Teil werden die vielseitigen Tugenden des verstorbenen Kaisers mit großer Eloquenz gelobt, was ohnehin zum Kern jedes Enkomiums dieser Art gehören muss 14. Der dritte Teil bringt aber eine Überraschung: Ambrosius weicht völlig von 10
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Man kann nicht die Meinung akzeptieren, das Wort fides soll hier im Sinne „rapporto di mutua lealtà fra imperator e soldati“ verstanden werden. – Consolino, Teodosio ( wie Anm. 2 ) S. 260. Gerade in diesem Fall erwartet Ambrosius von den Soldaten, dass sie ihre durchaus <einseitige> Treue ihrem Kaiser gegenüber beweisen müssen. Ergo tantus imperator recessit a nobis, sed non totus recessit, reliquit enim nobis liberos suos, in quibus eum debemus agnoscere, et in quibus eum et cernimus et tenemus. Nec moveat aetas! Fides militum imperatoris perfecta aetas est; est enim perfecta aetas, ubi perfectus est virtus. Reciproca haec, quia et fides imperatoris militum virtus est. – 6. Vgl. auch 36. Solvite filiis eius, quod debetis patri. Plus debetis defuncto quam debuistis viventi. Etenim si in liberis privatorum non sine gravi scelere minorum iura temerantur, quanto magis in filiis imperatoris. – 11. [ … ] si enim privatorum ultimae voluntates et deficientum testamenta habent perpetem firmitatem, quomodo potest tanti principis esse inritum testamentum? – 5. Dieser Teil der Rede sieht wie eine Variation auf das Thema des Psalms 114 aus. Der Psalm wird gewöhnlich während des Trauergottesdienstes gesungen, deswegen spielt Ambrosius hier vielleicht auf
Der Heilige Kranz
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seinem Thema ab und fängt plötzlich ohne jede Begründung an, die lange Geschichte zu erzählen, wie es der Augusta Helena, der frommen Mutter Kaiser Konstantins gelang, das Echte Kreuz in Jerusalem aufzufinden, an dem Christus gekreuzigt worden war. Dieser unerwartete Exkurs nimmt etwa ein Fünftel der ganzen Rede in Anspruch, was Historiker immer schon für rätselhaft hielten 15. Die Einschiebung der Helena-Geschichte wirkt auf Kenner der antiken Rhetorik wie auch des literarischen Nachlasses des Bischofs von Mailand beinahe abschreckend: ihr Auftreten widerspricht allen Normen, nach welchen eine Trauerlobrede zusammengestellt werden musste. Ambrosius vergisst seinen Protagonisten und spricht über längere Zeit von einer ganz anderen Person – ein rhetorischer Fehler, der selbst bei einem unerfahrenen Redner schwer zu erklären wäre 16. Lange schon wurde die Meinung geäußert, Ambrosius habe die Kreuzauffindungsgeschichte seinen Zuhörern in der Tat gar nicht vorgetragen, sondern sie sei von ihm erst nachträglich hinzugefügt worden, als er Monate ( vielleicht sogar etwa eineinhalb Jahr ) später den Text der Trauerrede zur schriftlichen Veröffentlichung vorbereitet habe 17. Gerade dieser mysteriöse dritte Teil von steht im Zentrum aller nachfolgenden Überlegungen, die allerdings weit über die Textgeschichte hinaus reichen werden. Der Redner nähert sich dem Thema der Helena allmählich: er beschreibt zuerst die himmlische Glückseligkeit, die Theodosius zweifelsohne jetzt schon in vollem Maße
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die Worte an, welche die Anwesenden soeben in der Liturgie gehört hatten. – Yves-Marie Duval, Formes profanes et formes bibliques dans les oraisons funèbres de Saint Ambroise, in: Manfred Fuhrmann ( Hg. ), Christianisme et formes littéraires de l’antiquité tardive en occident ( Entretiens sur l’antiquité classique 23 ) Genève 1977, S. 235–301, hier S. 278. Eine solche Teilung s. z. B. in: Bonamente ( wie Anm. 2 ) S. 86, 107, 117. Typisch für die Fachliteratur ist die folgende Bewertung des Exkurses über die Kreuzauffindung: „At this point Ambrose produces one of the most dazzling passages he ever wrote“. – John Moorhead, Ambrose. Church and Society in the Late Roman World, London – New York 1999, S. 204. Über stilistische Mittel, die Ambrosius vor allem in seinen Reden anwendete, s. zuerst: Franz Rozynski, Die Leichenreden des heiligen Ambrosius, insbesondere auf ihr Verhältnis zur antiken Rhetorik und den antiken Trostschriften untersucht. Diss. Breslau, 1910 ( das Hauptaugenmerk des Verfassers ist der Fortsetzung der antiken rhetorischen Tradition gewidmet ); Charles Favez, L’Inspiration chrétienne dans les Consolations de Saint Ambroise, in: Revue des études latines 8, 1930, S. 82–91 ( hier werden dagegen vor allem die christlichen Innovationen verfolgt, bleibt aber dabei so gut wie unberücksichtigt ); Giuseppe Mario Carpaneto, Le opere oratorie di S. Ambrogio, in: Didaskaleion. N.S. 9, 1930, S. 35–156; Mannix, Introduction, in: Mannix ( wie Anm. 3 ) S. 1–45; Duval ( wie Anm. 14 ); Martin Biermann, Die Leichenreden des Ambrosius von Mailand. Rhetorik, Predigt, Politik ( Hermes. Einzelschriften 70 ) Stuttgart 1995; Bénédicte Gerbenne, Modèles bibliques pour un empereur. Le De obitu Theodosii d’Ambroise de Milan, in: Rois et reines de la Bible au miroir des Pères ( Cahiers de Biblia patristica 6 ) Strasbourg 1999, S. 161–176. Louis Laurand, L’oraison funèbre de Théodose par saint Ambroise. Discours prononcé et discours écrit, in: Revue d’histoire ecclésiastique 17, 1921, S. 349–350; Charles Favez, L’episode de l’invention de la Croix dans l’oration funèbre de Théodose par St. Ambroise, in: Revue des études latines 10, 1932, S. 423–429, besonders S. 424. Diese beiden Autoren sind allerdings nicht darüber einig, in welchem Textabschnitt die tatsächlich vorgetragene Rede zum Ende kommt und die rein literarische Hinzufügung beginnt. Außerdem geht Laurand davon aus, dass die Helenapassage ursprünglich einer anderen, uns unbekannt gebliebenen Schrift Ambrosius’ angehört haben muss, wo hingegen Favez denkt, dass sie speziell für die Trauerrede 395 entworfen, allerdings erst kurz vor ihrer Herausgabe niedergeschrieben wurde.
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Michail A. Bojcov
genießen müsse. Theodosius umarme im Jenseits den Kaiser Gratian ( 375–383 ) 18, aber auch die Mitglieder seiner eigenen Familie: seine zweite Ehefrau Aelia Flacilla ( die erste Gattin wird hier von Ambrosius ignoriert ) und zwei früh verstorbene Kinder – Gratian und Pulcheria –, die alle zusammen die Gesellschaft ihres Vaters genießen würden. Darüber hinaus unterhalte er sich mit dem Kaiser Konstantin. Der Verfasser versäumt aber hier die günstige Gelegenheit, den Gründer des Neuen Roms zu verherrlichen. Es geschieht eher das Gegenteil: er erwähnt den ersten christlichen Kaiser nicht nur sehr formell, sondern auch mit einer gewissen Kühle 19. Die gesamte Passage über die freudigen Zusammenkünfte Theodosius’ im Himmel benötigt der Autor in der Tat nur, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer von der Person des Theodosius über die durchaus intermediäre Figur Konstantin übergangslos auf die fromme Mutter des Letzteren, die heilige Helena, zu lenken. An diesem Punkt beginnt der Bericht über das Auffinden der wichtigsten Passionsreliquien auf Golgatha. Die Trauerrede 395 wurde in der Briefsammlung des Ambrosius herausgegeben, welche vom Autor selbst konzipiert und vorbereitet werden konnte, und die vielleicht noch zu seinen Lebzeiten erschien. Das ursprüngliche Konzept dieser Sammlung wie auch ihre Struktur bleibt allerdings ungesichert. Nach dem Rekonstruktionsversuch von Otto Faller und Michaela Zelzer 20 musste die Abschiedsrede von 395 eine Art An18
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Gratian zeichnete den Heerführer Theodosius ursprünglich mit seinem Vertrauen aus und stattete ihn später auch mit Purpur aus. Danach war ihr gegenseitiges Verhältnis allerdings nicht so idyllisch, wie Ambrosius es darstellen wollte. Aus seiner Sicht waren aber Gratian und Theodosius zwei gleich Herrscher, die sich vor allem durch ihre Treue im christlichen Glauben auszeichneten. Ambrosius stand in diesem Punkt allerdings nicht allein: er gibt wohl eine bestimmte Tendenz wieder, die unter den pronicäanischen Christen um 400 an Zuspruch gewann. Man erinnert sich etwa an die ambivalente Einstellung Sulpicius Severus’ Konstantin gegenüber als dem Kaiser, welcher sich einerseits bekehren ließ, andererseits aber die Arianer förderte. Helena hat aber dagegen viel Lob bei Sulpicius verdient – genau wie auch bei Ambrosius. In Laufe seiner Arbeit an der ersten akademischen Edition der Briefe Ambrosius’ entwickelte Otto Faller die Theorie, nach welcher Ambrosius kurz vor seinem Tod seine Briefsammlung in zehn Büchern veröffentlichte. Aufgebaut war dieses Werk nach dem Vorbild der Briefe Plinius’ des Jüngeren ( 61/62–113/115 ). Genau wie bei Plinius soll Ambrosius diejenigen seiner epistolae, welche verschiedene politischen Angelegenheiten betrafen, im abschließenden zehnten Buch gesammelt haben, wobei die vorangehenden neun dem Leser das Bild Ambrosius’ als Privatperson ( aber auch als Kirchenvorsteher ) vermitteln sollten. Nach dem Tod Fallers setzte Michaela Zelzer seine Arbeit auf Grundlage derselben Prämissen fort, was schließlich zur Veröffentlichung der Ausgabe geführt hat, die heute als Standard gilt: Sancti Ambrosii Opera. Pars X. Epistulae et acta, hg. von Otto Faller und Michaela Zelzer ( CSEL 82 ) 4 Bde., Wien 1968–1996. Die Begründung und weitere Entwicklung dieses Editionskonzepts s. jetzt zuerst in den Einleitungen von Zelzer zu den Bänden 2 und 3, wie auch in der Reihe ihrer einzelnen Studien: Michaela Zelzer, Die Briefbücher des hl. Ambrosius und die Briefe extra collectionem, in: Anzeiger der philologisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien 112, 1975, S. 7–23; Dies., Zu Aufbau und Absicht des zehnten Buches des Ambrosius’, in: Herbert Bannert ( Hg. ), Latinität und Alte Kirche. Festschrift für Rudolf Hanslik zum 70. Geburtstag ( Wiener Studien, Beiheft 8 ) Wien 1977, S. 351–362; Dies., Probleme der Texterstellung im zehnten Briefbuch des heiligen Ambrosius und in den Briefen extra collectionem, in: Anzeiger der philologisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien 115, 1978, S. 415–439; Dies., Linien der Traditionsund Editionsgeschichte der ambrosianer Briefe am Beispiel des zehnten Briefbuches und der Epistulae extra collectionem, in: Anzeiger der philologisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien 117, 1980, S. 207–230; Dies., Mittelalterliche <Editionen> der Korrespondenz des Ambrosius als Schlüssel zur Überlieferung der Briefbücher, in: Wiener Studien 96 ( N.F. 17 ) 1983, S. 160–180; Dies.,
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hang zum abschließenden zehnten ( <politischen> ) Briefbuch dargestellt haben. Zum Verständnis des Charakters der gesamten Briefsammlung erscheint die Frage von wesentlicher Relevanz, ob der Helena-Exkurs von Anfang an in der Trauerrede vorgesehen war oder erst später hinzugefügt wurde. Die möglichen alternativen Antworten stellen Ambrosius als Autor und zugleich Herausgeber jeweils in einem völlig unterschiedlichen Licht dar. Sollte der Bischof seine Rede tatsächlich ohne Hemmungen nachträglich um ein Paar Textseiten bereichert haben, ist zwangsläufig davon auszugehen, dass er auch andere seiner Schriften radikal überarbeitet haben könnte, bevor er sie herausgeben ließ. Vielleicht erfand er sogar einige ( oder mehrere? ) seiner Briefe, ganz zu schweigen von den Namen seiner Adressaten. Das würde den historischen Wert der Briefsammlung Ambrosius’ natürlich keinesfalls mindern, aber die Fragestellungen wesentlich ändern, mit denen Historiker sich an diese dann weitgehend fiktionalen Texte wenden dürften. Sollte aber die Helena-Legende noch in der ursprünglichen <mündlichen> Redefassung vorgekommen sein, brächte man den Briefen Ambrosius’ in dem Sinne mehr Vertrauen entgegen, dass sie vielleicht die genuine Reaktion des Autors auf bestimmte Momente seines Lebens wie auch kirchliche und politische Ereignisse seiner Zeit vermitteln können. Die Hypothese, die Kreuzauffindungsgeschichte sei eine spätere Ergänzung gewesen, rettet Ambrosius als Redner, aber nicht als Schriftsteller. Zu welchem Zweck hatte Ambrosius diese lange seltsame Abweichung überhaupt benötigt, auch wenn sie nur in der späteren überarbeiteten Fassung seiner Rede vorkäme? Die Vorbereitung eines Textes zur Herausgabe besteht doch gerade in der Verbesserung seiner rhetorischen Qualität und der Beseitigung etwaiger stilistischer und sonstiger Mängel, aber nicht im Hinzufügen neuerer. Die Anhänger dieser Hypothese setzen hier bei Ambrosius üblicherweise didaktische Intentionen voraus: er wollte den jungen Honorius am Beispiel der frommen Augusta belehren 21 und zugleich den Anlass nutzen, um allgemeine Ansichten von der Natur der christlichen Herrschaft zum Ausdruck zu bringen. Unbeantwortet bleibt aber zugleich, welches außerordentlich relevante Vorbild in den Augen Ambrosius’ die Figur Helenas – und zwar sie allein – für Honorius darstellen
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Ambrosius von Mailand und das Erbe der klassischen Tradition, in: Wiener Studien 100, 1987, S. 201–226, besonders S. 215–226. Sein Einverständnis mit der Theorie von Faller und Zelzer äußerte auch Richard Klein: seiner Meinung nach gab gerade der Tod Theodosius’ Ambrosius den Anlass, seine Briefsammlung, oder zumindest ihr zehntes ( <politisches> ) Buch, veröffentlichen zu lassen: Klein ( wie Anm. 8 ) S. 364 f. Man hat allerdings auch gegen Faller und Zelzer für eine völlig andere Rekonstruktion der ursprünglichen Struktur der Briefsammlung Ambrosius’ argumentiert: Jean-Pierre Mazières, Un principe d’organisation pour le recueil des Lettres d’Ambroise de Milan, in: Yves-Marie Duval ( Hg. ), Ambroise de Milan. XVIe Centenaire de son élection épiscopale, Paris 1974, S. 199–218; Ders., Les Lettres d’Ambroise de Milan à Irenaeus, in: Pallas 26, 1979, S. 103–114. Einige schwerwiegende Einwände gegen die Annahme, dass Plinius als Muster für Ambrosius dienen konnte, sind auch formuliert in: Hervé Savon, Saint Ambroise a-t-il imité le recueil de lettres de Pline le Jeune?, in: Revue des Études Augustiniennes 41, 1995, S. 3–17. Daraus entsteht auch der Zweifel Savons, dass Ambrosius seiner Briefsammlung überhaupt eine bestimmte Gestalt geben konnte, was u. a. bedeuten würde, dass er seine Texte kaum wesentlich redigierte. Vgl. auch Savons Besprechung der Edition von Faller und Zelzer: Ders., La première édition critique de la correspondance officielle d’Ambroise de Milan, in: Revue des Études Augustiniennes 32, 1986, S. 249–254. Man wartet jetzt auf die Ergebnisse des internationalen Kolloquiums Ambroise de Milan’ in Saint-Etienne und Lyon, geplant für November 2009. S. hier z. B.: Otto Faller, Prolegomena ( wie Anm. 9 ) S. 116* f.
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konnte, dass ein so erfahrener Schriftsteller sich so weit vom Kanon der Trauerreden entfernen konnte und die Komposition seines Textes dadurch hoffnungslos verderben musste. Eine m. E. recht seltsame Vermutung äußerte dazu seinerzeit Franz Rozynski: der Bischof habe damit beabsichtigt, die alte römische Tradition mutatis mutandis fortsetzend, die glorreichen Vorfahren des Verstorbenen aufzuzählen 22. Zu allgemein klingt die Idee von Charles Favez ( die auch bei anderen Historikern mit verschiedenen Variationen vertreten wird ): Ambrosius wollte seinen Lesern an das Kreuz der Erlösung und die Gefahr der Autokratie erinnern, um die Herrscher dazu zu bewegen, den Weg des Glaubens weiter voranzuschreiten 23. Auf den christlichen Charakter der kaiserlichen Macht und die Pflicht Honorius hinzuweisen, den neuen Glauben voll und ganz zu unterstützen, wäre ohne Weiteres mit Hilfe von zur Situation viel besser passenden Beispiele möglich gewesen, etwa durch Bezug auf die vorbildlichen Taten des verstorbenen Theodosius’. Kaum überzeugender wirken aber auch die Erklärungen jener Forscher, die für die Zugehörigkeit des Helena-Teils zur ersten Redefassung plädieren. So demonstriert etwa Wolf Steidle die enge innere Kohärenz zwischen allen drei Teilen der Rede dann sehr gut, wenn er bestimmte formale Eigenschaften (Anzahl der Zeilen in einzelnen Textabschnitten) analysiert. Seine Überlegungen zu der möglichen inhaltlichen Korrelation zwischen der Geschichte der Kreuzauffindung einerseits und den übrigen Textteilen andererseits klingen zwar an und für sich plausibel, beantworten aber auch nicht die Frage, warum es für Ambrosius unentbehrlich war, die Idee der erblichen Übertragung des christlichen Glaubens von einem Herrscher zum anderen (hereditas fidei) wie auch der Etablierung des Christlichen Reiches als Folge dieser Übertragung 24 mit Hilfe eines so fern liegenden, aber mit vielen Einzelheiten nacherzählten Sujets auszulegen. Ebenso künstlich erscheint m. E. auch ein ähnlicher Vorschlag von Giorgio Bonamente, in der Helena-Geschichte eine „Allegorie des gekrönten christlichen Herrschers – princeps Christianus“ – zu sehen 25. Waren die Zuhörer-Soldaten tatsächlich im Stande, eine solche Allegorie richtig wahrzunehmen, wenn der Redner ihnen (d. h. zugleich auch uns) den Inhalt nicht in allen Einzelheiten erklärte? Konnten sie die angebliche Bestrebung Ambrosius’ richtig einschätzen, dem Thronfolger eine zusätzliche Legitimation zu verleihen, die sich auf seine Treue der katholischen Orthodoxie gegenüber stützen musste, wie Franca Ela Consolino vermutet 26? Hätten sie verstehen können, dass es um die göttliche „Erlösung des Reiches und der Kaiser“ ging, wie Marta Sordi
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Rozynski ( wie Anm. 16 ) S. 106 f. Favez, L’episode ( wie Anm. 17 ) S. 425–428. Wolf Steidle, Die Leichenrede des Ambrosius für Kaiser Theodosius und die Helena-Legende, in: Vigiliae Christianae 32, 1978, S. 94–112. Einverständnis mit Steidle wird geäußert auch in: Jan Willem Drijvers, Helena Augusta. The Mother of Constantine the Great and the Legend of Her Finding of the True Cross ( Brill’s Studies in Intellectual History 27 ) Leiden – New York – Kopenhagen – Köln 1992 S. 111. Bonamente ( wie Anm. 2 ) S. 87. Die Idee von der hereditas fidei wird von diesem Historiker auch stark betont. Consolino, L’optimus princeps ( wie Anm. 2 ) S. 1040. Die Verfasserin entwickelt ihre Theorie in einem Aufsatz, der mir unzugänglich blieb: Dies., Il significato dell’inventio crucis nel De obitu Theodosii, in: Annali della Facoltà di Lettere e Filosofia dell’Università di Siena 5, 1984, S. 161–180.
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glauben will 27? War es für Ambrosius tatsächlich so vordringlich, „den jungen Herrschern [Arcadius und Honorius – M.B.] die Notwendigkeit zu verdeutlichen, die gleichen Regeln zu befolgen, die auch ihr augusteischer Vater bewahrte“, wie es die Meinung Francesco Corsaros ist 28? Mehr verspricht die Erklärung Martin Biermanns: dieser Forscher ist zwar über die Länge der Helena-Passage verblüfft, erblickt in ihr aber die ausführliche Auslegung eines Verses aus dem Buch des Propheten Sacharja, die Ambrosius am Anfang des entsprechenden Textabschnitts anführt 29. Daraus entsteht aber sofort die Frage, worin die dringende Notwendigkeit für den Redner bestand, diese Bibelstelle so ausführlich auszulegen? Oder wenn eine einzige Zeile Sacharjas mehrere Seiten nachfolgender Erklärungen benötigte, die weit weg vom Hauptthema der Rede führten, warum konnte Ambrosius nicht völlig ohne diesen Vers auskommen? Es wurde u. a. die Meinung geäußert, die Verherrlichung Helenas durch Ambrosius, ja ihr Vergleich mit Maria sollte bestimmten hochrangigen Hofdamen schmeicheln 30. Dann aber welchen? Die Annahme, die Mutter Theodosius’ könne die Trauerfeierlichkeiten in Mailand miterlebt haben 31, bietet keine Anhaltspunkte. Von dieser Dame ist so gut wie nichts bekannt und über ihren eventuellen Einfluss am Hof noch weniger. Wahrscheinlich wurde sie zusammen mit ihrem Ehemann noch 375 oder 376 hingerichtet 32. Die erste Ehefrau von Theodosius, Augusta Aelia Flacilla, verstarb 386 33, während die zweite – Galla – im Mai 394 ums Leben kam, die Tochter des Theodosius, Galla Placidia, war 395 nur etwa fünf Jahre alt. Die einzige Angehörige der Familie Theodosius’, die hier in Frage kommen könnte, war seine Nichte Serena, die Ehefrau Stilichos. Ein Vergleich mit Helena hätte ihr wohl in der Tat schmeicheln können, nur hätte das Öffentlichmachen eines solchen Vergleichs tragische Folgen für Serena selbst haben können. Darin konnte jeder eine klare Andeutung auf mögliche Pläne Stilichos erkennen, seinen und Serenas Sohn auf den Kaiserthron zu erheben. Das war ernst zu nehmen: gerade ein solcher Verdacht kostete alle Drei – Stilicho selbst, Serena, wie auch ihrem Sohn Eucherius – dreizehn Jahre später das Leben. Im Gegensatz zu vielen Forschern scheint mir der Helena-Exkurs praktisch die Kulmination der ganzen Rede Ambrosius’ zu sein, die natürlich auch von Anfang an im Text vorhanden sein musste. Dass Ambrosius ihn für den abschließenden Teil auf27
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Marta Sordi, Dall’elmo di Costantino alla corona ferrea, in: Giorgio Bonamente – Franca Fusco ( Hgg. ), Costantino il Grande. Dall’antichità all’umanesimo 2, Macerata 1993, S. 883–892, hier S. 887. Corsaro ( wie Anm. 2 ) S. 611. Auch die folgende Erklärung wirkt nicht mehr überzeugend: „The deceased is invested with the praiseworthy characteristics of figures from the Bible or from historical tales and the mourners are comforted with similar exemplary reflections. This must also have been the purpose of the Helena passage“. Baert ( wie Anm. 3 ) S. 25. Biermann ( wie Anm. 16 ) S. 188. Drijvers ( wie Anm. 24 ) S. 123 f. Baert ( wie Anm. 3 ) S. 29. Ausführlich dazu: Alexander Demandt, Der Tod des älteren Theodosius, in: Historia 18, 1969, S. 599–626. Es scheint, dass moderne Historiker öfter Parallelen zwischen Augusta Helena und Augusta Aelia Flacilla erkennen als die Zeitgenossen Theodosius’. Auf jeden Fall lässt sich in der Trauerrede Johannes Chrysostomos’ für Aelia Flacilla keine Andeutung auf ihre angebliche Ähnlichkeit mit der Mutter Konstantins erkennen. Warum sollten solche Andeutungen dann plötzlich in der Rede Ambrosius’ auftauchen? Über die Ehefrauen des Theodosius s. vor allem: Kenneth G. Holum, Theodosian Empresses. Women and Imperial Dominion in Late Antiquity, Berkeley – Los Angeles – London 1982, S. 21–47.
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sparte, war auch alles andere als ein rhetorischer Fehler, der dem geschickten Prediger plötzlich unterlaufen sein sollte; im Gegenteil: gerade dadurch brachte er nochmals seine herausragende Redekunst zum Ausdruck. Aber um das richtig begreifen zu können, muss der Blickwinkel völlig geändert werden, unter dem man bisher die Trauerrede des Mailändischen Bischofs betrachtet hat. Es gilt, sich sowohl von rein philologischen, didaktischen als auch von spekulativ-philosophischen Ansätzen zu lösen und die Rede Ambrosius’ als publizistischen Text par excellence zu betrachten, in welchem die ganze rhetorische Ausschmückung wie auch theologische Überlegungen oder didaktische Motive nicht für sich existieren, sondern der politischen Zielsetzung untergeordnet sind; sie sind nur als Mittel zu verstehen, den Zuhörern die höchst akute politische Botschaft mit maximaler Effizienz zu suggerieren. Um das erkennen zu können, muss man allerdings auf die Helena-Episode näher eingehen und sie in verschiedene Kontexte setzen. Zuerst fällt auf, dass der Redner von der Erwerbung des H o l z e s des Echten Kreuzes zwar mit aller Ehrfurcht, aber allgemein ohne Einzelheiten berichtet – von politischen Kommentaren ganz zu schweigen. Sein Ton ändert sich aber, sobald er zu einem anderen Fund Helenas übergeht, und zwar zu den Nägeln: ‚Sie suchte die Nägel, mit denen der Herr ans Kreuz geheftet wurde, und fand sie. Aus dem einen hieß sie einen Pferdezaum (frenum ) machen, den anderen ließ sie auf ein Diadem auflegen (intexuit ): den einen bestimmte sie [ dadurch ] zur Verzierung, den anderen zur Verehrung. Maria ward heimgesucht zur Erlösung der Eva, Helena ward heimgesucht zur Erlösung der Kaiser, sie sandte also ihrem Sohn Konstantin das Diadem, mit Edelsteinen ( gemmis ) geschmückt, aber noch kostbarer als diese war das Juwel der göttlichen Erlösung, das im Eisen des Kreuzes enthalten war ( ferro innexa crucis ). Auch den Zaum sandte sie ihm. Beides nahm Konstantin in Gebrauch und vererbte den Glauben auf die folgenden Kaiser. Den Anfang bei den gläubigen Kaisern bildete also das Heiligtum über dem Zaume. Von daher rührte der Glaube, welcher die Verfolgung beendete, an deren Stelle die Gottesverehrung trat.‘ 34
Ambrosius entwickelt dieses Thema im nächstfolgenden Absatz weiter: ‚Weise handelte Helena, als sie das Kreuz auf das Haupt der Könige legte, damit das Kreuz Christi an den Königen verehrt werde 35. Nicht der Ungehörigkeit sei [diese Tat], sondern der Frömmigkeit zuzuschreiben, weil sie wegen der heiligen Erlösung geschah. Gut ist deshalb dieser Nagel des Römischen Reiches, der den ganzen Erdkreis regiert und die Stirn der Kaiser kleidet, so dass sie jetzt Verkündiger sind, die einst Verfolger zu sein pflegten. Zu Recht ruht der Nagel auf dem Haupte, damit dort, wo der Verstand (sensus) ist, auch dort der Schutz (praesidium) sei. Auf dem Haupte die Krone, in den Händen der Zügel. Die Krone vom Kreuz, damit der Glaube leuchte; desgleichen der Zügel vom Kreuz, damit die Herrschaft mit gerechter Mäßigkeit und nicht mit ungerechtem Eigenwille regiere. Mögen die Fürsten Christi von der Freigiebigkeit [Gottes] erwerben, dass vom römischen Kaiser in Nachahmung Christi das Wort gelte: Du hast eine Krone aus Edelstein auf sein Haupt gesetzt [Ps 21: 4]‘ 36. 34
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Quaesivit clavos, quibus crucifixus est dominus, et invenit. De uno clavo frenum fieri praecepit, de altero diadema intexuit; unum ad decorum, alterum ad devotionem vertit. Visitata est Maria, ut Evam liberaret, visitata est Helena, ut redimentur imperatores. Misit itaque filio suo Constantino diadema gemmis insignitum, quas pretiosior ferro innexa crucis redemptionis divinae gemma conecteret, misit et frenum. Utroque usus est Constantinus et fidem transmisit ad posteros reges. Principium itaque credentium imperatorum sanctum est, quod super frenum: ex illo fides, ut persecutio cessaret, devotio succederet. Ó 47. Eine solche Anwendung der Präposition de statt ex zum Material, aus welchem etwas hergestellt wurde, war zwar nicht ganz korrekt, aber möglich. – S. dazu den linguistischen Kommentar in: Mannix ( wie Anm. 3 ) S. 137. D.h. jedes Mal, wenn der Kaiser verehrt wird, wird dadurch auch das heilige Kreuz verehrt. Sapienter Helena, quae crucem in capite regum locavit, ut Christi crux in regibus adoretur. Non insolentia ista, sed pietas est, cum defertur sacrae redemptioni. Bonus itaque Romani clavus imperii, qui totum regit orbem ac vestit principum fron-
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III. DIE AUGUSTA HELENA UND DIE RELIQUIEN DES ECHTEN KREUZES
An dieser Stelle ist es sinnvoll, kurz einige notwendige Erläuterungen zur Entstehung der Kreuzauffindungslegende anzuführen, zumal dieses Problem dank der Bemühungen mehrerer Historikergenerationen zumindest in einigen seiner Aspekte geklärt ist – soweit es überhaupt möglich erscheint. Die Reise der bereits bejahrten 37 Kaiserin nach Palästina Ende 324 oder im Frühjahr 325 38, Sommer 325 39, in der zweiten Hälfte 325 ( nach Juli ) oder gar 326 40, Herbst 326 oder im Frühjahr 327 41 wird unter allen zeitgenössischen Autoren nur von Eusebius von Cäsarea erwähnt 42. Er stilisiert dieses Unternehmen der Augusta ausschließlich als fromme Wallfahrt, obwohl die berechtigte Annahme auf der Hand liegt, dass ihre Gründe in erster Linie politischer Natur gewesen sein mussten 43. Die Auffindung der Passionsreliquien erwähnt Eusebius allerdings mit keinem einzigen Wort. Mehr noch: der Bischof von Cäsarea zog überhaupt nicht in Erwägung, dass auch jemand Anderes als Helena das Echte Kreuz aufzufinden vermochte – das Kreuz als materielle Reliquie existiert für ihn gar nicht. Dieses Schweigen ist noch erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, dass ein anderer Bischof, Kyrill von Jerusalem 44, nur etwa zehn Jahre nach Eusebius in seinen ( die 348–350 am Grab Christi vorgelesen wurden ) sich unzweideutig in dem Sinne äußerte, dass das Echte Kreuz in der Grabkirche aufbewahrt wurde, wobei seine Partikel sich schon in der ganzen Welt in Umlauf befanden 45. Außerdem behauptete
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tem, ut sint praedicatores, qui persecutores esse consueverant. Recte in capite clavus, ut ubi sensus est, ibi praesidium. In vertice corona, in manibus habena: corona de cruce, ut fìdes luceat, habena quoque de cruce, ut potestas regat sitque iusta moderatio, non iniusta praeceptio. Habeant hoc etiam principes Christi sibi liberalitate concessum, ut ad imitationem domini dicatur de imperatore Romano: Posuisti in capite eius coronam de lapide pretioso. Ó 48. Sie verstarb im Alter von etwa 80 Jahren wahrscheinlich Ende 328 oder Anfang 329. Zur Biographie Helenas s. zuerst neben dem Buch von Drijvers ( wie Anm. 24 ) den Artikel: Richard Klein, Art. , in: Reallexikon für Antike und Christentum 14, 1988, Sp. 355–375, wie auch das Buch: Hans A. Pohlsander, Helena – Empress and Saint, Chicago 1995. Stephan Borgehammar, How the Holy Cross was Found. From Event to Medieval Legend ( Bibliotheca theologiae practicae. Kyrkovetenskapliga studier 47 ) Stockholm 1991, S. 140. Michael Hesemann, Die Jesus-Tafel: die Entdeckung der Kreuz-Inschrift, Freiburg im Breisgau 1999, S. 202. Heinz Heinen, Helena, Konstantin und die Überlieferung der Kreuzesauffindung im 4. Jahrhundert, in: Erich Aretz – Michael Embach – Martin Persch – Franz Ronig ( Hgg. ), Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 1995, S. 83–117, hier S. 111. Edward David Hunt, Holy Land Pilgrimage in the Later Roman Empire AD 312–460, Oxford 1984, S. 35; Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 59; Patrick Laurence, Helena, mère de Constantin. Metamorphoses d’une image, in: Augustinianum 42, 2002, S. 75–96, hier S. 83. Eusebius, Vita Constantini, III, 42–47. Stefan Heid, Der Ursprung der Helenalegende im Pilgerbetrieb Jerusalems, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 32, 1989, S. 41–71, hier S. 54 f.; Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 63–72 und sehr ähnlich: Laurence ( wie Anm. 41 ) S. 84–86. Zu ihm s. zuletzt die Studie von Jan Willem Drijvers, Cyril of Jerusalem: Bishop and City, Leiden 2004. Cyrillus Hierosolymitanus, Catecheses IV, 10; X, 19; XIII, 14. S. den Text in der neuen Edition: Cyrille de Jérusalem, Catéchèses mystagogiques, hg. von Auguste Piédagnel ( SC 126bis ) Paris 1988. Der Pilgerin Egeria zufolge blieb bereits in den 80er Jahren des 4. Jahrhundert nur ein verhältnismäßig kleines Fragment des Kreuzes in Jerusalem: der zelebrierende Bischof konnte es an beiden Enden mit seinen Händen halten. Vgl. Peregrinatio Aetheriae, 37. Den Text s. Itinera Hierosolymitana saeculi IIII–VIII, hg. von Paulus Geyer ( CSEL 39 ) Wien 1898, S. 87 f.
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er in seinem Brief aus dem Jahre 351 oder 353 ( vorausgesetzt natürlich es geht hier nicht um eine spätere Interpolation 46 ), dass diese Reliquie noch in der Zeit Kaiser Konstantins gefunden worden war, wobei dies die erste direkte Verbindung zwischen dem Fund und Konstantin ( bzw. seiner Familie oder anderen Personen aus seiner Umgebung ) in der Überlieferung ist. Allerdings erwähnt Kyrill die Rolle Helenas dabei gar nicht – beredtes Schweigen angesichts der Tatsache, dass er dem Kaiser Constantius II., also dem Enkel Helenas schrieb 47. Die ( wohl vom Süden Galliens stammende ) Pilgerin Egeria besuchte Jerusalem zwischen 381 und 384 48 und berichtete ausführlich über die Liturgie, in welcher den Gläubigen die Kreuzreliquie feierlich demonstriert wurde; auch sie erwähnt aber das angebliche Verdienst Helenas bei deren Auffindung mit keinem Wort. Als Johannes Chrysostomos sich in einer Homilie 390 an die Entdeckung der drei Golgatha-Kreuze erinnerte, sagte auch er nichts von Helena 49. Aus dem Vergleich der erwähnten Stellen wie auch weiterer Angaben ( hauptsächlich der frühesten überlieferten Pilgerberichte ), ergeben sich für verschiedene Gruppen von Historikern zwei sich gegenseitig ausschließende Vermutungen. Der ersten zufolge entstand der Kult des Echten Kreuzes zwar tatsächlich in Jerusalem, aber erst zwischen 333 ( als der sog. Anonymus Burdigalensis in seiner Beschreibung der Grabkirche keine Kreuzreliquien erwähnte ) und ca. 348 ( als Kyrill seine konzipierte 50 ). Die zweite Meinung geht von der Freilegung des Golgatha-Kreuzes noch in den 20er oder spätestens in der ersten Hälfte der 30er Jahren des 4. Jahrhunderts aus, wobei gerade dieser Fund ( und nicht die Entdeckung des Heiligen Grabes ) der eigentliche Anlass für die Errichtung der konstantinischen Basilika in Jerusalem war 51. Im letzten Fall muss man nolens volens annehmen, dass Eusebius die Entdeckung des Heiligen Kreuzes bewusst verschwieg – sei es etwa aus kirchenpolitischen 52 oder theologischen 53 Gründen. Er wollte dann offensichtlich die Aufmerksamkeit seiner Leser weg vom Kreuz – dem materiellen Symbol der Passion – völlig auf das Heilige Grab – 46
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Analyse der Meinungen zu dieser Frage mit dem Schlussergebnis zugunsten der Authentizität des Textes s. in: Heid ( wie Anm. 43 ) S. 56. Kritische Edition: Ernest Bihain, L’épître de Cyrille de Jérusalem à Constance sur la vision de la vraie croix: Tradition manuscrite et édition critique, in: Byzantion 53, 1973, S. 264–296. Über Egeria s. zuerst: John Wilkinson, Egeria’s Travels to the Holy Land: Newly Translated with Supporting Documents and Notes, Jerusalem 1981. Migne PG 59, Sp. 461. Heid ( wie Anm. 43 ) S. 41 ff. Andere Folgen aus derselben Prämisse werden gezogen in: Marta Sordi, La tradizione dell’inventio crucis in Ambrogio e in Rufino, in: Rivista di storia della Chiesa in Italia 44, 1990, S. 1–9, hier S. 7. Vgl. auch: Dies., Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 27 ) S. 886. Sordi datiert die Legende über die Auffindung der Kreuzreliquien auf die Zeit zwischen 351 und 395. Für sie ist diese Geschichte auf das Engste mit der Dynastie Konstantins verbunden und soll am Hofe Constantius II. entstanden sein. Die Annahmen Sordis scheinen allein schon deswegen bedenklich zu sein, weil der Kern der Legende auf jeden Fall Jerusalemer Abstammung gewesen sein musste. Das Beste, was der Kaiserhof hier bewirken konnte, war, die Verbreitung des schon gestalteten Sujets nach Möglichkeit zu fördern. Diese Forschungsrichtung wurde von der Studie Hunt ( wie Anm. 41 ) eröffnet. Ze’ev Rubin, The Church of Holy Sepulchre and the Conflict between the Sees of Caesarea and Jerusalem, in: Lee I. Levine ( Hg. ), The Jerusalem Cathedra, 2, Jerusalem – Detroit 1982, S. 79–105, hier S. 87–93. Peter W. L. Walker, Holy City, Holy Places? Christian Attitudes to Jerusalem and the Holy Land in the Fourth Century, Oxford 1990, S. 126–130, 275–281; Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 116–119.
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dem materiellen Symbol der Auferstehung – lenken 54. Wenn aber Eusebius andererseits selbst von der Auffindung des Kreuzes wusste und nichts dazu sagen wollte, bedeutet das noch nicht, dass es Helena war, die diese Reliquie ans Licht brachte. Das Kreuz konnte ja schon einige Jahre vor ihrer Ankunft in Palästina entdeckt worden sein 55. Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen ( was Stephan Borgehammar tatsächlich tut ) und das Schweigen des Eusebius in dem Sinne interpretieren, dass die alte Legende völlig Recht habe: Es war also Helena, die das Kreuz fand 56. Auf die Argumente gegen die Theorie des frühen Auftauchens der Kreuzreliquie wie auch weitere Einzelheiten dieser recht speziellen Diskussion einzugehen, ergibt hier keinen Sinn 57: die ( selbst durchaus fiktive ) Legende an sich verdient in unserem Fall bei Weitem mehr Interesse als eine mögliche Rekonstruktion der <echten> historischen Ereignisse. Relevant in dieser Hinsicht ist allein, dass keine Indizien für die Verbreitung der Helenalegende vor der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts greifbar sind, und dass sie so gut wie sicher aus Jerusalem stammen muss 58. Die früheste bekannte schriftliche Fixierung der Legende findet sich wohl bei Gelasius von Cäsarea, der um 390 seine zusammenstellte. Letztere ist zwar leider nicht überliefert, wurde aber von Historikern des 5. Jahrhunderts so aktiv benutzt, dass erhebliche Teile des ursprünglichen Textes bis zu einem gewissen Grad nachempfunden werden können 59. In seinem Bericht über die Kreuzauffindung erzählt Gelasius eine recht gut gestaltete Geschichte, die über eine beträchtliche Zeit hindurch in der mündlichen Tradition schon existiert haben muss, bevor sie eine so weit entwickelte Form angenommen ha54
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Diese Argumentation wurde entwickelt in den Studien: Rubin ( wie Anm. 52 ); Harold A. Drake, Eusebius on the True Cross, in: Journal of Ecclesiastical History 36, 1985, S. 1–22 und – auf Grundlage dieser beiden Studien – in: Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 83–88. Die Meinung über die Entdeckung des Kreuzes in den 20er Jahren wird auch in Laurence ( wie Anm. 41 ) S. 92, vertreten; bei ihm findet man allerdings auch sonst so gut wie keine Abweichungen von der Position Drijvers. Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 89, 93, 183. Rubin ( wie Anm. 52 ); Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 126–142. Vorsichtige Zustimmung zur Meinung Borgehammars wird auch geäußert in: Heinen ( wie Anm. 40 ) S. 112–114. Das Schweigen Eusebius’ wird bei Borgehammer immer reicher an Informationen. Der Bischof von Cäsarea berichtete nichts über den Besuch Helenas auf Golgatha, obwohl er beschrieb, wie sie Bethlehem und den Ölberg besichtigt hatte. Dies kann nur bedeuten – schlussfolgert daraus Borgehammar – dass Eusebius missfiel, womit sich Augusta auf Golgatha beschäftigte. Und womit konnte sie sich da beschäftigen? Nur mit der Suche nach dem Heiligen Kreuz! ( S. 125 f., 129 ). S. z. B. die Rezension des Buches von Borgehammar von Kenneth G. Holum, in: Speculum 69, 1994, S. 425 f., oder Rudolf Leeb, Konstantin und Christus: Die Verchristlichung der imperialen Repräsentation unter Konstantin dem Großen als Spiegel seiner Kirchenpolitik und seines Selbstverständnisses als christlicher Kaiser, Berlin – New York 1992, S. 91. Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 142; zu denselben Ergebnissen kommt man unabhängig in: Heid ( wie Anm. 43 ) S. 44 ff. Ebd. s. auch den detaillierten Überblick verschiedener Standpunkte in den Diskussionen über die Helenalegende, wie auch umfangreiche bibliographische Hinweise. Der These von der verhältnismäßig späten Entstehung der Helenalegende widerspricht natürlich Borgehammar, weil er ihren Kern für glaubwürdig hält. Die Bedeutung des Werkes von Gelasius wurde demonstriert in: Friedhelm Winkelmann, Untersuchungen zur Kirchengeschichte des Gelasius von Kaisareia ( Sitzungsberichte der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst 65/3 ) Berlin 1963; Ders., Charakter und Bedeutung der Kirchengeschichte des Gelasius von Kaisareia, in: Byzantinische Forschungen 1, 1966, S. 346–385.
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ben konnte 60. Die Version Gelasius’ nahm Einfluss – direkt oder indirekt – auf Autoren der des 5. Jahrhunderts 61: Rufinus 62 ( 402/403 ), Sozomenos 63 ( zwischen 439 und 450 ), Sokrates Scholastikos 64 ( 438–443 ), Theodoret von Kyrrhos 65 ( kurz nach 444 ) und Gelasius von Kyzikos 66 ( kurz nach 475 ). Aber nicht auf Ambrosius von Mailand. Es war gerade Ambrosius, der als erster im lateinischen Westen die Legende vom Fund Helenas nacherzählte. Mehr noch: seine Version erscheint überhaupt die früheste unter den überlieferten, denn das Werk Gelasius’ ist, wie bereits erwähnt, verloren 67. Erst kurz nach Ambrosius, im Jahre 402 oder 403, aber völlig unabhängig von ihm, überlieferte Rufinus die Helenalegende auf Latein, in einer Fassung, die er wohl von Gelasius übernahm. Im Jahre 403 machten zwei weitere Autoren etwas Ähnliches: Paulinus von Nola erzählt die Geschichte in seinem Brief an Sulpicius Severus 68, wobei Sulpicius gleich danach diesen Bericht in seiner ( II, 33–34 ) wiederholte. Bei großer Vielfalt einzelner Motive erkennt man in all diesen Texten ohne Weiteres verschiedene Variationen ein und derselben Ausgangsversion, und zwar derjenigen, die auch die griechischen Autoren der anregte. Daher 60
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Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 99; Heid ( wie Anm. 43 ) S. 63. Ein Rekonstruktionsversuch dieser Stelle bei Gelasius s. in: Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 53–55. Meine Einwände dagegen folgen weiter unten. Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 99. Allgemeine Angaben zu den hier zitierten oder erwähnten Historikern der 4.–5. Jahrhundert s. z. B. in den folgenden neueren Studien: Glenn F. Chesnut, The First Christian Histories: Eusebius, Socrates, Sozomen, Theodoret and Evagrius ( Théologie historique 46 ) Paris 1977; Hartmut Leppin, Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. Das christliche Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus und Theodoret, Göttingen 1996; Peter van Deun, The Church Historians after Eusebius, in: Gabriele Marasco ( Hg. ), Greek and Roman Historiography in Late Antiquity. Fourth to Sixth Century A.D., Leiden – Boston 2003, S. 151–176; Hartmut Leppin, The Church Historians ( I ): Socrates, Sozomenus, and Theodoretus, in: ebd., S. 219–255; Peter van Nuffelen, Un héritage de paix et de piété. Étude sur les Histoires ecclésiastiques de Socrate et Sozomène, Leuven u. a. 2005. Rufinus, Historia ecclesiastica I ( X ), 7 f. Zitiert hier und weiter nach: Migne PL 21. Diese Stelle s. Sp. 475–477. Die alte Meinung, dass nicht Rufinus dem Gelasius folgte, sondern umgekehrt, ist zur Zeit zurückgewiesen. Sozomenos, Historia ecclesiastica II, 1. Hier und weiter folgen alle Zitate der Edition: Sozomenos, Historia ecclesiastica – Kirchengeschichte, hg. von Günther Christian Hansen, Teilbd. 1 ( Fontes Christiani 73, 1 ) Turnhout 2004. Hier S. 194–201. Socrates, Historia ecclesiastica I, 17. Text nach der Edition: Migne PG 67, Sp. 29–842, hier Sp. 117–121. Theodoret, Historia ecclesiastica I, 18. Edition: Theodoret, Kirchengeschichte, hg. von Léon Parmentier und Felix Scheidweiler, Berlin 1954. Zum Autor s. die neue Studie: Istvan Pásztori Kupán, Theodoret of Cyrus, London 2006. Gelasius Cyzicenus, Historia ecclesiastica, hg. von Gerhard Loeschke und Margret Heinemann ( Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte 28 ) Leipzig 1918, S. 146. Das Werk Gelasius’ von Kyzikos bleibt weiter unberücksichtigt, weil er in seiner Schilderung der Kreuzauffindungsgeschichte fast wörtlich der Erzählung von Theodoret folgt. Die Trauerrede von Ambrosius gab sogar Anlass zur Vermutung, dass die Legende nicht aus dem Osten kam, sondern westlichen Ursprungs war: Marie Pardyová-Vodová, L’impératrice Hélène et l’invenˇ ada archeologickotion de la Sainte Croix, in: Sborník prací filozofické fakulty brnˇenské univerzity. R klasická 44/25, 1980, S. 235–240. Migne PL 61, Sp. 328. S. dazu auch: Carmelo Curti, L’„inventio crucis“ nell’epistola 31 di Paolino di Nola, in: Orpheus 17, 1996, S. 337–347.
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darf man alle oben genannten Schriftsteller – unabhängig davon, ob sie ihre Werke auf Griechisch oder Latein verfassten, ob sie zum Text von Gelasius direkten Zugriff hatten oder von ihm nichts wussten – für Vertreter einer identischen Tradition halten, die offenbar in Jerusalem entstand und ebenda auch weiter gepflegt wurde 69. Die Geburt einer solchen Tradition war gewiss auf das Engste mit dem starken Einsetzen von Wallfahrten zu heiligen Stätten verbunden und vielleicht auch gerade dadurch verursacht. Mit großer Wahrscheinlichkeit konnte die Legende aus jenen Erläuterungen und Kommentaren erwachsen, welche Kleriker der Grabkirche den Pilgern in Nachbarschaft zur Kreuzreliquie vermittelten 70. Alle oben genannten Schriftsteller erscheinen als Träger ein und derselben mehr oder weniger einheitlichen und genuin <Jerusalemer Tradition>, ihnen steht ein Einziger entgegen, der meiner Meinung nach für eine ganz andere Linie in der Entwicklung des Helenasujets steht. Ambrosius von Mailand. Meine Behauptung widerspricht der vorherrschenden Meinung insoweit, dass die meisten Historiker den Unterschied zwischen zwei Traditionen bisher überhaupt nicht bemerkten: für sie gehören Ambrosius wie auch Rufinus und Paulinus – wie etwa bei Marta Sordi – zu „una tradizione comune“ mit dem einzigen Vorbehalt, dass Rufinus die frühere ( mögliche Entstehungszeit zwischen 351 und 395 ) und kürzere Variante der Legende nacherzählte ( „ … e di cui Rufino ci conserva forse la versione originaria“ ) 71 – während Ambrosius sich einer späteren und erweiterten Fassung bediente 72. Mittlerweile erscheinen die Unterschiede zwischen den <Jerusalemer> Autoren und Ambrosius bei näherer Betrachtung als vielfältig. Alle Träger der <Jerusalemer Tradition> widmeten ihre Aufmerksamkeit vor allem dem H o l z des Kreuzes, wobei sie den Nägeln zwar auch eine ehrenhafte, aber doch sekundäre Rolle zuwiesen. Diese Einstellung ist schon allein daraus verständlich, dass in Jerusalem gerade das Stück Holz als die allerwichtigste Passionsreliquie überhaupt verehrt wurde. Paulinus von Nola vergisst vollständig, die Nägel zu erwähnen – aus einem nahe liegenden Grund: zusammen mit seinem Brief schickte er seinem Korrespondenten und Freund – Sulpicius Severus – eine Partikel des Kreuzholzes: eine recht großzügige Gabe, die allerdings einer speziellen Erklärung bedurfte, weil Sulpicius von der Existenz einer solchen Reliquie bis dahin nichts gehört hatte. Natürlich spricht auch Sulpicius Severus in seinem Werk die Nägel nicht mehr an, war er doch völlig auf jene Informationen angewiesen, die ihm Paulinus mitgeteilt hatte. Ganz im Gegenteil waren aber gerade die Nägel in der Trauerrede Ambrosius’ von allergrößter Bedeutung. Die ganze <Jerusalemer Tradition> schrieb den umgewandelten Nägeln des Kreuzes die Funktion von Amuletten in Gefechten zu. Ambrosius 69
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Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ). Diese These bleibt bestehen, unabhängig davon, ob Drijvers Recht hat wenn er vermutet, Paulinus habe die Legende dank Melania der Älteren kennen gelernt, welche ein Stück des Kreuzholzes aus Jerusalem mitgebracht haben sollte. Vgl.: Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 122. Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 79 f. Sordi, La tradizione ( wie Anm. 50 ) S. 4, 6. ( Sordi berücksichtigt das Werk Gelasius von Caesarea überhaupt nicht ); Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 63–66; Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 13, 26 f. Eine ähnliche, wenn auch etwas widersprüchlich formulierte Meinung s. in: Baert ( wie Anm. 3 ) S. 34 f.: „Ambrose, Rufinus ( via Gelasius ) and Paulinus of Nola all share a common core … Thus Ambrose deviates from a core shared by the other sources“. Dies., Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 27 ) S. 884, 886 f.
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war mit dieser Interpretation zwar auch vertraut, aber mit ihr allein keinesfalls zufrieden 73. In seinen Augen stand den Golgatha-Nägeln eine immense historische und politische Bedeutung zu: diese Nägel halten nach ihm – ohne jede Übertreibung – das gesamte christliche Reich zusammen 74. Die Bekehrung Konstantins und die Christianisierung des Römischen Reiches waren durch die Erwerbung dieser Reliquien direkt verursacht worden. Allerdings zeigt sich Ambrosius dem Holz des Kreuzes gegenüber beinahe gleichgültig: er vergisst sogar zu sagen, was für alle <Jerusalemer> Autoren von erstrangiger Relevanz blieb: Helena sandte ihrem kaiserlichen Sohn neben den Nägeln auch ein großes Stück des Kreuzholzes. Für Ambrosius hatte dieses Geschenk offensichtlich überhaupt keine Bedeutung. Die ganze <Jerusalemer Tradition> betont die aktive Rolle Konstantins: er erhielt zwar die Nägel von Helena, entschied aber dann durchaus souverän, was aus ihnen hergestellt werden sollte. Allein Ambrosius verweigert Konstantin jegliche : das Einzige, was der Kaiser tat, war nur, rein passiv die Geschenke seiner frommen Mutter zu empfangen. Er diente dabei in der Tat bloß als Verbindungsglied zwischen Helena und den künftigen christlichen Kaisern, auch Theodosius und Honorius. Es gibt auch einige weitere auffallende Differenzen 75, entscheidend sind aber in meinen Augen nur die folgenden zwei. Die erste verrät uns einiges über die Tradition, welcher Ambrosius zugeordnet werden könnte, die zweite aber lässt sich vielleicht als Andeutung darauf verstehen, wie er als Autor selbst mit dem narrativen Stoff umging, der in seine Hände geriet. 1. In der Darlegung Ambrosius’ ist einer eschatologischen Prophezeiung aus dem alttestamentlichen Buch Sacharjas ein wichtiger Platz zugewiesen, wohingegen sie in der <Jerusalemer Tradition> nur am Rande und ausnahmsweise auftaucht. 2. Alle <Jerusalemer Autoren> stimmen ohne jede Ausnahme darin überein, dass Helena ( bzw. Konstantin selber ) aus einem Nagel ( bzw. aus ‚einem Teil‘ der Nägel ) einen H e l m herstellen ließ; an dieser Stelle spricht aber nur Ambrosius nicht vom Helm, sondern von einem D i a d e m .
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[ … ] quo inter proelia quoque tutus adsisteret et periculum non timeret. – 41. Jan Willem Drijvers glaubt, Ambrosius schenkte den Nägeln wegen der Prophezeiung Sacharjas so viel Aufmerksamkeit, von welcher weiter unten die Rede ist. – Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 112. So brauchten alle Vertreter der <Jerusalemer Tradition>, beginnend mit Gelasius, unbedingt ein Wunder in Form einer Heilung oder Auferstehung, damit das Echte Kreuz von den Kreuzen der beiden Räuber unterschieden werden konnte. Ambrosius äußerte sich dagegen durchaus nüchtern: Helena erkannte das richtige Kreuz dank der Tafel ( titulus ) mit Inschrift, die Pontius Pilatus daran befestigen ließ. Es fällt auf, dass der Syrer aus Antiochia, Johannes Chrysostomos, sich genau an dieselbe Version in einer seiner Homilien ( um 389 ) hielt. Gottes Vorsehung bestünde darin, dass Pilatus befahl, die Tafel am Kreuz anzubringen: Dank ihr gelang es, das Echte Kreuz zu identifizieren ( Johannes erwähnt Helena in diesem Zusammenhang allerdings gar nicht ) Migne PG 59, Sp. 461. Bei Ambrosius findet man eine ähnliche These. ‚[ Nicht umsonst ] hatte Pilatus den Juden [ auf ihr Ersuchen ] erwidert: „Was ich geschrieben habe, bleibt geschrieben“. Das heißt, nicht, das habe ich geschrieben, was euch gefallen würde, sondern das, was die Nachwelt erkennt – beinahe sagend: Helena sollte etwas zu lesen finden als Anhaltspunkt, um das Kreuz des Herrn daraus zu erkennen‘. – Hoc est, quod petentibus Iudaeis respondit Pilatus: Quod scripsi, scripsi, id est: non ea scripsi, quae vobis placerent, sed quae aetas futura cognosceret, non vobis scripsi, sed posteritati; propemodum dicens: Habeat Helena, quod legat, unde crucem domini recognoscat. ( 45 ). Könnte diejenige Variante der Legende, die Ambrosius in Mailand erreichte, vielleicht aus Syrien stammen?
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IV. DIE PROPHEZEIUNG SACHARJAS
Bei seinen Schilderungen der himmlischen Zusammenkünfte Theodosius’ (40) erwähnte Ambrosius, dass in der Zeit Konstantins die Prophezeiung des Propheten Sacharjas zur Erfüllung kam: ‚Zu der Zeit wird auf den Schellen der Rosse stehen: Heilig dem Herren‘. (Sach 14, 20) 76. So liest sich dieser Vers in der lutherischen Übersetzung. Die Texte von Septuaginta, Vulgata und der frühen lateinischen Bibelübersetzung, derer sich Ambrosius bediente 77, erlauben aber eine andere Lesart: ‚Zu der Zeit wird das dem Allmächtigen Gott [gewidmete] Heiligtum über dem Zaumzeug des Pferdes [sein]‘. Der Charakter ‚der Zeit‘, von welcher Ambrosius mit den Worten Sacharjas redet, erklärt sich aus dem Kontext: ‚Und es werden alle Töpfe in Jerusalem und Juda dem Herrn Zebaoth heilig sein, so dass alle, die da opfern wollen, kommen werden und sie nehmen und darin kochen werden‘. Es geht hier um den Tag des Jüngsten Gerichts, den vollständigen Triumph des wahren Glaubens – und es ist gerade dieser Sieg, den Ambrosius offenbar hier meint. Allerdings präsentieren die vorangestellten Verse das Bild der letzten Zeiten und der Weltkatastrophe kaum weniger beeindruckend als die Apokalypse – der in der Regierungszeit Konstantins begonnene Triumph des Christentums muss also im eschatologischen Kontext verstanden werden. In der Erfüllung dieser Prophezeiung besteht also in den Augen Ambrosius’ der Hauptsinn der mindestens aus unserer Sicht etwas seltsam wirkenden Entscheidung Helenas, einen der Kreuznägel in einen Pferdezaum verwandeln zu lassen. Mit dieser Interpretation bleibt Ambrosius allerdings nicht ganz allein. Sozomenos, der sich bisher als konsequenter Vertreter der <Jerusalemer Tradition> erwies, erlaubt sich hier plötzlich ein Motiv, das ihr fremd war. Er schreibt: ‚Aus diesen [ Nägeln ] – so wird es berichtet, – habe der Kaiser sich einen Helm fertigen lassen und auch einen Pferdezaum gemäß der Prophezeiung von Sacharja …‘ 78. Die Entstehung der beiden heiligen Gegenstände wird hier also nicht <pragmatisch> ( Schutz in Kriegsgefechten ), wie bei den <Jerusalemern>, sondern <eschatologisch> gerechtfertigt. Eine ähnliche, wenn auch gemilderte Meinung bietet auch Theodoret von Kyrrhos an 79. Üblicherweise stimmt er mit Sozomenos in den Fällen weitgehend überein, wo beide Historiker gemeinsam einer verlorenen Schrift ( die aber hier nicht das Werk Gelasius’ gewesen sein kann ) folgten. Hier dürfte er aber in Zweifel geraten sein und ergänzte die offenbar streng <escha76
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Cui licet baptismatis gratia in ultimis constituto omnia peccata dimiserit, tamen quod primus imperatorum credidit et post se heredidatem fìdei principibus dereliquit, magni meriti locum repperit. Cuius temporibus conpletum est propheticum illud: In illo die erit, quod super frenum equi, sanctum domino onnipotenti. ( 40 ). Ambrosius benutzte neben einigen frühen lateinischen Bibelübersetzungen und der Septuaginta auch drei weitere griechische Fassungen der Heiligen Schrift. Moorhead ( wie Anm. 15 ) S. 78 f. In diesem Fall bediente er sich allerdings einer lateinischen Textversion, die der Lesart der Septuaginta treu folgt, denn die alternativen griechischen Übersetzungen schlugen andere Interpretationen dieser dunklen Stelle vor, was Hieronymus später in seinem Kommentar zum Buch Sacharja erwähnte ( s. weiter unten ). [ … ] ξ ¹
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φ λ µ κ Z φ [ … ] ( II, 1, 9 ). Deutsche Übersetzung von Hansen ( wie Anm. 63 ). O κ
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tologische> Version seiner Vorlage ( die von Sozomenos treu übernommen worden sein muss ) mit der <pragmatischen>, die für die <Jerusalemer Tradition> kennzeichnend war – sofern die dazu gehörenden Schriftsteller das Thema der Nägel überhaupt berührten. Jan Willem Drijvers äußerte die Vermutung, Sozomenos könnte die Passage über Sacharja aus der Rede Ambrosius’ direkt entlehnt haben 80. Aber selbst das Material, welches dieser Forscher gesammelt hat, führt eher zu einer ganz anderen Hypothese, die m. W. bisher weder diskutiert noch überhaupt formuliert wurde. Neben den Texten der <Jerusalemer Tradition>, in welchen Helena immer als die wichtigste Protagonistin der Kreuzauffindungsgeschichte hervortritt, entwickelten sich bekanntlich zwei weitere Varianten derselben Legende. Eine von ihnen, in welcher die Hauptrolle der fiktiven Königin Protonike zugeteilt wurde, bleibt in meinen weiteren Überlegungen unberücksichtigt, weil diese Textgattung keine Berührungspunkte mit der Helenaepisode bei Ambrosius aufweist 81. Eine ganz andere Sache ist aber die zweite Legendenversion, in welcher Helena zwar auch vorkommt, allerdings die entscheidende Rolle bei der Auffindung des Kreuzes nicht der Augusta, sondern einem jüdischen Gelehrten Judas zugeteilt wurde, der sich erst für die Taufe entschied und den neuen Namen Kyriakos annahm, später zum Bischof von Jerusalem und schließlich zum Märtyrer und Heiligen wurde 82. Während des Mittelalters gewann die Geschichte von Judas Kyriakos große Popularität in ganz Europa ( wahrscheinlich dank ihrer unzweideutig antijüdischen Tendenz ), verdrängte andere Versionen der Kreuzauffindungslegende ( sogar die <Jerusalemer> Fassung ) und gelangte schließlich in populärste Vitensammlungen, wie die des Jakob de Voragine 83, welche die Vorstellungen der Christen des ganzen lateinischen Europas von ihren Heiligen entscheidend prägten. 80 81
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Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 105. Als Einführung s. vor allem: Stefan Heid, Zur frühen Protonike- und Kyriakoslegende, in: Analecta Bollandiana 109, 1991, S. 73–108; Jan Willem Drijvers, The Protonike Legend and the Doctrina Addai, in: Studia Patristica 33, 1996, S. 517–523; Ders., The Protonike Legend, the Doctrina Addai and Bishop Rabbula of Edessa, in: Vigiliae Christianae 51, 1997, S. 288–315. Die Analyse dieses Textes ist ebenfalls durchgeführt in: Johannes Straubinger, Die Kreuzauffindungslegende. Untersuchungen über ihre altchristlichen Fassungen mit besonderer Berücksichtigung der syrischen Texte, Paderborn 1912. Die Edition der ältesten erhaltenen Handschrift ( St.-Petersburg, Russische Nationalbibliothek ): Han J. W. Drijvers – Jan W. Drijvers ( Hgg. ), The Finding of the True Cross: the Judas Kyriakos Legend in Syriac ( Corpus scriptorum Christianorum orientalium 565; Subsidia 93 ) Louvain 1997. Die Ikonographie der Miniaturen in den syrischen Handschriften wird analysiert in: Ewa Balicka-Witakowska, The Story of the Invention of the Holy Cross Illustrated in two Syriac Manuscripts, in: Iconographica. Mélanges offertes à Piotr Skubiszewski, Poiters 1999, S. 1–14. Es wurde u. a. der Versuch unternommen, die Kreuzauffindungslegende dadurch in einem ganz neuen Licht erscheinen zu lassen, dass man in Helena eine Jüdin erkannte. – Joseph Vogt, Helena Augusta, das Kreuz und die Juden. Fragen um die Mutter Constantins des Großen, in: Saeculum 27, 1976, S. 211–222. Der einzige Grund für diese Vermutung besteht in den angeblich orientalischen Gesichtszügen einer Frauenfigur im konstantinischen Deckengemälde in Trier, in welchem einige Forscher die Augusta Helena erkennen wollen. Zu dieser Malerei s. zuerst: Erika Simon, Die Konstantinischen Deckengemälde in Trier ( Kulturgeschichte der Antiken Welt 34. Trierer Beiträge zur Altertumskunde 3 ) Mainz 1986; Winfried Weber, Constantinische Deckengemälde aus dem römischen Palast unter dem Trierer Dom, Trier 42000; Marice E. Rose, The Trier Ceiling: Power And Status On Display In Late Antiquity, in: Greece & Rome 53, 2006, S. 92–109. Dieselbe Version der Legende fand Verbreitung auch in Äthiopien, und zwar in verschiedenen Varianten gleichzeitig. – Witold Witakowski, Ethiopic and Hebrew Versions of the Legend of The Finding of the Holy Cross, in: Studia Patristica 35, 2001, S. 527–535.
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Die Kyriakoslegende steht schon seit langem im Zentrum intensiver akademischer Debatten, in welchen ihre ursprüngliche Sprache ( Griechisch, Syrisch oder Latein ), wie auch der Ort ihrer schriftlichen Fixierung, wie auch die Zeit, wann das geschehen ist, immer wieder diskutiert werden 84. Uns interessiert hier allerdings allein die Stelle dieser Legende, wo beschrieben wird, wie die Nägel des Kreuzes auftauchen, leuchtend wie Gold, direkt aus dem Boden nach intensivem Gebet des ehemaligen Rabbis Judas, der aber zu dieser Zeit schon Kyriakos war. Sobald er die neu gefundenen Reliquien der Augusta aushändigte, entschied sie nach einigem Überlegen, daraus einen Pferdezaum herstellen zu lassen ( von einem Helm ist hier nicht die Rede ) – ‚als ein schönes Zeugnis für künftige Generationen‘. Als sie dieses Erzeugnis bei einem erfahrenen Handwerker in Auftrag gab, sagte sie, dass ein solches Zaumzeug zu einer unwiderstehlichen Waffe gegen jeden Feind würde, denn der Sieg sei ab jetzt immer mit dem Kaiser gewiss, weshalb der Frieden den Krieg völlig verdrängen würde. So ließ sich das Wort des Propheten Sacharja erfüllen, der sagte: ‚Zu der Zeit wird der Pferdezaum zum Heiligtum für den Herrn‘ 85. Die Kyriakoslegende kommt der Kreuzauffindungsgeschichte in der Interpretation Ambrosius’ in mindestens vier Punkten sehr nahe. Zugleich unterscheiden sich die beiden Texte gerade in denselben vier Punkten ( wie auch in einigen weiteren ) von der gesamten <Jerusalemer Tradition>. Es wird, erstens, die Prophezeiung des Sacharja stark betont 86. Zweitens wird die Initiative der Umgestaltung der Nägel nicht Konstantin, sondern Helena zugewiesen. Drittens wird in beiden Texten eine Art Kommunikation mit dem Satan geführt ( bei Ambrosius muss Helena sich mit einem langen Monolog an ihn wenden; der symmetrische Protagonist Judas Kyriakos war aber gezwungen, einen gehässigen Spruch des Menschenfeindes anzuhören ). Viertens und schließlich handelt es sich bei Ambrosius um Schmähung der Juden – sie mussten nach dem Gewinn des Kreuzes eingestehen, dass ihre Sache verloren war ( 49 ) – genau unter dem Zeichen dieser Idee steht die ganze Kyriakoslegende 87. Höchst unwahrscheinlich wäre die Vermutung, die Autoren dieser Legendenfassung ( unabhängig davon, in welcher Sprache – Griechisch, Latein oder Syrisch – die erste Fassung niedergelegt wurde ) könnten dafür die Rede Ambrosius’ benutzt haben. Einerseits muss die räumliche, soziale und wohl doch sprachliche Distanz zwischen ihnen beträchtlich gewesen zu sein. Andererseits musste dann aber auch das Diadem unbedingt in die Kyriakoslegende Einlass finden, weil es für Ambrosius von außerordentlicher Relevanz war. Die wesentlich einfachere Hypothese bestünde aber darin, dass die Version von Ambrosius und 84
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Überblick der akademischen Diskussionen in: Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 16–29. Noch vor kurzem herrschte die Meinung vor, die Legende sei in Syrien, wahrscheinlich in Edessa, in der ersten Hälfte des 5. Jahrhundert entstanden. – Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 174 f., 165. Borgehammar entwickelte aber die Hypothese, ihre Urfassung sei auf Griechisch in Jerusalem entstanden: Borgehammar ( wie Anm. 38 ) S. 146–149, 204 u. a. Schließlich äußerte selbst Jan Drijvers sein Einverständnis mit Borgehammar, aber unter dem Vorbehalt, dass die Kyriakoslegende auf jeden Fall sehr früh – nicht später als in der 1. Hälfte des 5. Jahrhundert – in Syrien bekannt und den dortigen Verhältnissen angepasst wurde: Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 25. Außerdem datiert Borgehammar die Entstehung der Legende erst nach 415, wobei dagegen Jan Drijvers denkt, dass ihr Kern wesentlich älter gewesen sein muss. Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 52 f., 70 f. Zur Anwendung dieser Prophezeiung bei Sozomenos und Theodoret s. weiter unten. Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 28.
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die Kyriakoslegende eine gemeinsame Wurzel hätten. Mit anderen Worten: der Bischof von Mailand muss sich von einer früheren Version der künftigen Kyriakoslegende inspiriert haben lassen. Für den entscheidenden Punkt, in welchem diese beiden Texte ihre innere Verwandtschaft am Deutlichsten verraten, halte ich gerade die Prophezeiung Sacharjas. Dieses Detail bleibt in der <Jerusalemer Tradition> durchaus nebensächlich und kann daraus auch nicht erklärt werden. Wozu könnte ein solches Motiv in einer Geschichte dienen, die den Reliquiencharakter des in der Grabkirche aufbewahrten Holzstücks legitimieren sollte? Das Sacharja-Thema ist ihr so fremd, dass man wohl gerade in der Verwendung dieses Motivs eine Art Kennzeichen sehen kann, um jene Texte identifizieren zu können, welche einer alternativen ( ) Tradition entstammten oder zumindest von ihr beeinflusst worden waren. Neben der Trauerrede Ambrosius’ ist zu dieser Textgattung etwa jene unbekannte Schrift zuzuordnen, welche als Informationsquelle für Sozomenos und Theodoret gedient haben muss, zumal man gerade an entsprechender Stelle bei Sozomenos ( II, 1,4 ) schon auf eine Parallele zur Kyriakoslegende hinwies 88: der Konstantinopeler Kirchenhistoriker gibt – wenn auch skeptisch – die Meinung wieder, dass der genaue Ort, an dem die Kreuze verborgen waren, schließlich von einem Juden entdeckt wurde, der der geheimen Schriften kundig war. Es fällt nicht schwer, in dieser Figur bei Sozomenos den legendären Judas Kyriakos zu erkennen. Sollte meine Vermutung weitere Unterstützung finden, die sei nicht mit der Jerusalemer Helenalegende, sondern mit der Kyriakosgeschichte am engsten verwandt, würde die Notwendigkeit entstehen, mehrere Fragen um diese b e i d e n Denkmälern wieder aufzuwerfen, wie auch unsere gesamte Vorstellung von der Entwicklung der Kreuzauffindungslegende neu zu überprüfen. Im Folgenden muss ich mich aber zuerst auf die Besprechung der Nägelreliquien Helenas und Konstantins allein einschränken. V. DER ERSTE KULT DER NÄGEL
Borgehammar nahm ohne jede Begründung in seine Rekonstruktion des Textes von Gelasius auch die Prophezeiung des Sacharja auf, obwohl Rufinus – jener Autor, der Gelasius am nächsten stand 89 – vom Spruch des Propheten im Zusammenhang mit der Kreuzauffindungsgeschichte offenbar gar nichts wusste. In der ursprünglichen Version der Helenalegende musste also diese Prophezeiung gefehlt haben – allerdings nicht sie allein. Niemand hat bis jetzt einen weiteren wichtigen Umstand bemerkt: Der Teil, der von der Entdeckung der Nägel handelt, erscheint bereits bei Rufinus ( d. h. höchstwahrscheinlich noch bei Gelasius ) außerhalb der Hauptgeschichte: es sieht so aus, als ob der entsprechende Abschnitt an die schon abgeschlossene Erzählung worden sei: 1. Helena findet das Kreuz. – 2. Helena baut auf dem Fundort 88 89
Straubinger ( wie Anm. 82 ) S. 76; Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 20. Berechtigt scheint die Meinung zu sein, dass der Bericht Rufinus’ hier nichts Anderes als Übersetzung der entsprechenden Stelle bei Gelasius ist. Wenn dem so ist, erübrigt sich jede Notwendigkeit, den Text Gelasius’ überhaupt zu rekonstruieren. S. dazu: Heid ( wie Anm. 43 ) S. 63; Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 13.
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die Kirche. – 3. Helena findet die Nägel. Warum konnten die Sätze über den Fund der Nägel nicht dort stehen, wo es um die Entdeckung des Holzes ging? Bei ( Gelasius- ) Rufinus war diese kompositionelle Unstimmigkeit mit stilistischen Mitteln noch etwas verschleiert, in der Kyriakoslegende bekam sie dagegen ihre vollständige Entwicklung. Hier verwandelt sich die Suche Helenas nach den Nägeln in ein durchaus selbstständiges Unternehmen, welches dann deutlich eine gewisse Zeit nach der Entdeckung des Kreuzholzes schon vom zum Bischof gewordenen Kyriakos extra durchgeführt worden sein muss. Die Tatsache, dass die Geschichte über die Entdeckung der Nägel nicht zum ursprünglichen Kern der Legende gehören konnte, kann uns kaum verwundern: für die Jerusalemer Verhältnisse war sie durchaus überflüssig, sofern man dort im 4. Jahrhundert allein die Holzreliquie und keine Nägel aufbewahrte. Die Notwendigkeit, die ursprüngliche Geschichte zu ergänzen, musste erst dann entstanden sein, als Jerusalem immer mehr von solchen Pilgern besucht wurde, die schon sehr gut wussten, dass anderswo weitere Kreuzreliquien vorhanden waren, nämlich die Nägel. Vielleicht hatten sie sogar diese Reliquien noch auf dem Weg nach Jerusalem selbst bewundert. Reliquiengeschichten beinhalten in der Regel eine klare pragmatische Botschaft: sie sollen die Aufmerksamkeit der Gläubigen nicht auf abstrakte Dogmen oder Metaphern, sondern auf ganz bestimmte – in einer konkreten Stadt, Abtei oder Kirche real existierende – Gegenstände lenken. Das Anfügen des über den Fund der Nägel an die Jerusalemer Helenalegende stellte m. E. nichts anderes dar als die Reaktion der Jerusalemer Kleriker auf die Entstehung eines neuen Kultes. Von diesem angeblichen Kult wissen wir vor allem, dass er mit der Memoria Konstantins von Anfang an auf das Engste verbunden gewesen sein muss – wurden doch die Nägel in Gestalt des angeblich Konstantinischen Helmes und Pferdezaumes verehrt. Daraus darf man weiter annehmen, dass dieser Kult erst nach dem Todesjahr Konstantins 337 entstehen konnte, d. h. wohl in den 40er oder sogar 50er Jahren. Die ursprüngliche ( m ü n d l i c h e ) Fassung der Jerusalemer Legende wusste von einem solchen Kult noch nichts, sonst hätte sie entsprechende Angaben organisch in ihr Sujet einfließen lassen, etwa nach dem Muster: Helena findet das Kreuz u n d die Nägel, w o r a u f h i n die Kirche am Fundort errichtet wird. Aber auch die erste s c h r i f t l i c h fixierte Fassung musste sich jeder Erwähnung der Nägel enthalten haben, denn nur unter dieser Voraussetzung konnte die endgültige Komposition entstehen. Der schon einmal fixierte ( und dadurch ) Kern ließ sich nicht mehr verändern, weshalb man für die neue erst nach dem Kernteil Platz fand. Die Tatsache, dass Gelasius gerade diese Komposition nachvollzieht, spricht m. E. klar dafür, dass er – im Gegensatz zu gängigen Behauptungen in der Literatur – nicht der erste war, der die Helenalegende aufschrieb. Ganz im Gegenteil, er musste einen schon gut gestalteten, fixierten und mehr oder weniger Text als seine autoritative Vorlage vorgefunden haben, um diesem Muster in seiner eigenen Schrift zu folgen. Daraus ergibt sich aber, dass auch die erweiterte Fassung der Legende ( in welcher die Nägel schon berücksichtigt waren ) nicht von Pilgern selbst als Ergebnis ihrer spontanen folkloristischen Dichtung entstand, sondern ihnen schon in fertiger Form dargeboten und suggeriert wurde – offensichtlich in Folge der Erläuterungen, welche den Gläubigen von den speziell dazu beauftragten Klerikern am Heiligen Grab gegeben wurden.
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Es gibt m. E. einen weiteren Grund für die Behauptung, Gelasius könne weder Verfasser der ganzen erweiterten Legendenfassung noch allein der Nägelergänzung gewesen sein. Die narrative Struktur findet sich sowohl bei Ambrosius ( allerdings ohne zentrales Glied – die Errichtung der Kirche ) als auch in der Kyriakoslegende, wobei diese beiden Texte von dem Werk des Gelasius nicht beeinflusst worden sein können. Dies kann nur so verstanden werden, dass diese Struktur in einem schriftlich fixierten Text vorkam, der als gemeinsame Vorlage für alle drei Schriften ( einschließlich Gelasius ) dienen musste. Die einzige Schwierigkeit mit dem hypothetisch rekonstruierbaren Nägelkult in der Zeit zwischen 337 und 395 besteht allerdings darin, dass m. W. bis jetzt keine klaren Belege für seine Existenz ans Licht gekommen sind. Vor allem berichten die Pilger nicht von einem solchen Kult, obwohl ihr Schweigen nicht immer als letztes Argument wahrgenommen werden kann: so hinterließ niemand von ihnen eine Nachricht von einem großen Stück Kreuzholz – in der Länge des Ellenbogens –, das in der syrischen Stadt Apameia aufbewahrt worden wäre. Doch bezeugen sowohl Prokop von Cäsarea als auch Evagrius Scholastikus gleichermaßen die Verehrung dieser Reliquie noch im 6. Jahrhundert ebenda 90. Als erster Kandidat für den Ort, wo die Kreuznägel aufbewahrt worden sein könnten, kommt natürlich Konstantinopel in Frage. Für die Nacherzähler der Helenalegende, gleich wie für ihre Zuhörer, musste gerade diese Stadt die selbstverständliche Konstantins gewesen sein, an welche Helena die Reliquien zu senden hatte. Außerdem verehrte man in Konstantinopel in der Tat die Nägel der Kreuzigung – allerdings sind Belege dieses Kultes erst aus dem 6. Jahrhundert überliefert. Könnte er aber vielleicht älter gewesen sein? Wahrscheinlich nicht, weil die Einwohner der Reichshauptstadt noch Mitte des 5. Jahrhunderts fest davon überzeugt waren – darüber informiert uns Sokrates Scholastikos –, dass Konstantin ein Stück des H o l z e s ( aber keine Nägel ) in das Neue Rom mitbrachte, um es in seiner Statue einzuschließen, welche die Porphyrsäule ( errichtet zwischen 328 und 330 ) in der Mitte des Stadtforums bekrönte 91. Derselbe Au90
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Anatole Frolow, La relique de la Vraie Croix. Recherches sur le développement d’un culte ( Archives de l’Orient chrétien 7 ) Paris 1961, S. 184 f. ( Nr. 42 ). [ … ] χ« 9 ' K . , 9 ' /!9 $/) » K , λ φ λ !/ « . – Socrates ( wie Anm. 64 ) I, 47 ( Migne PG 67, Sp. 120 ). Vgl.: Raymond Janin, Constantinople Byzantine. Développement urbain et répertoire topographique ( Archives de l’Orient chrétien 4 ) Paris 1950, S. 83 – mit Hinweis auf dieselbe Stelle bei Socrates. Zur Statue als Beweis für Selbstidentifizierung Konstantins mit Sol invictus s.: Leeb ( wie Anm. 57 ) S. 12–17. Zur Säule und Kapelle in ihrem Sockel s. zuerst: Cyril Mango, Constantin’s Porphyry Column and the Chapel of St. Constantine, in: Cyril Mango, Studies on Constantinople 4, Aldershot 1993, S. 103–110; Martina Jordan-Ruwe, Das Säulenmonument. Zur Geschichte der erhöhten Aufstellung antiker Porträtstatuen ( Asia Minor Studien 19 ) Bonn 1995, S. 126–140. Eine neuere Hypothese über den Ursprung der Statue auf der Säule s. in: Garth Fowden, Constantine’s Porphyry Column: The Earliest Literary Allusion, in: Jornal of Roman Studies 81, 1991, S. 119–131. Es wird in der Fachliteratur nur selten erklärt, dass der Bericht des Sokrates über die Anwesenheit der Nägel der Kreuzigung innerhalb der Statue auf dem Forum als Zeugnis der Volksmeinung im Byzanz des 5. Jahrhundert, aber keinesfalls der Religionspolitik des historischen Konstantin betrachtet werden muss. Mehr noch, sie kann als Hinweis dafür gelten, dass es in Konstantinopel im 5. Jahrhundert noch keinen öffentlichen Kult des Kreuzholzes ( d. h. vielleicht auch keine Kreuzfragmente ) gab, sonst hätten die Stadteinwohner keinen Anlass, ihre Fantasien mit der Statue auf der Konstantinsäule zu verbinden. Die Vermutung, dass die ersten Stücke
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tor hörte zwar davon, dass Helm und Pferdezaum aus den Kreuznägeln für Konstantin hergestellt worden waren, verband aber diese Reliquien weder mit der Statue auf dem Forum noch mit irgendeinem anderen Ort in der Reichshauptstadt, dessen Einwohner er selbst war 92. Erst im 6. Jahrhundert berichtet Gregor von Tours von einem Nagel, der dem Wunsch Helenas entsprechend in die Statue Konstantins eingefügt worden sein soll 93. Der Kranz aus sieben Strahlen rund um den Kopf der Statue begann also zur Zeit Gregors wohl als eine Art <Synonym> für den Helm Konstantins aus der Legende wahrgenommen zu werden. Zweifelsohne geht es hier um eine spätere Umdeutung des ursprünglichen Sujets, wobei ein Holzstück in einen Nagel ( oder auch gelegentlich Nägel ) umgewandelt wurde. Seit dem 10. Jahrhundert will die recht verbreitete Meinung darauf beharren, dass schon die Strahlen um den Kopf der Statue aus den Nägeln der Kreuzigung geschmiedet worden waren 94. Die eben angeführte Stelle aus der Schrift Sokrates’ kann als gutes Beispiel dafür genommen werden, wie plastisch die Reliquiengeschichten waren: sobald sie nur etwas von ihren Ursprungsorten entfernt waren, ließen sich ihre Sujets unter dem Einfluss der spezifischen lokalen Gegebenheiten leicht transformieren. So wurde das <Jerusalemer> Motiv in Konstantinopel mit einer Ergänzung bereichert, die sich auf ein durchaus örtliches, aber höchst relevantes Objekt – die Konstantinsäule – bezog. Zuerst das Holz des Kreuzes und später die Nägel sollten also in der Statue von Apollo-Helios-Sol Invictus-Konstantin geborgen sein, damit diese Reliquien die Hauptstadt für alle Feinde unbesiegbar mache, wie Sokrates uns erklärt. Er will übrigens diesen Tatbestand nicht allein aus einer Schrift herausgelesen haben, denn wie er selbst betont, ‚bestätigen alle Bewohner von Konstantinopel, dass dies wahr ist‘ 95. Etwas Ähnliches musste also auch mit der Jerusalemer Kreuzauffindungsgeschichte noch im 4. Jahrhundert an einem anderen uns unbekannten Ort geschehen sein, wo sie eine Transformation unter der Wirkung der lokalen Nägelreliquien erlebte. ( Wobei es nicht auszuschließen ist, dass gerade die Jerusalemer Legende den örtlichen Klerus zuerst dazu bewegen konnte, seine eigenen Passionsreliquien zu entdecken ). Auch die transformierte lokale Version der Helenalegende, in welcher jetzt Helm und
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des echten Kreuzes erst unter Justin II ( 565–578 ) in die Reichshauptstadt gebracht wurden, wird begründet in: Holger A. Klein, Constantine, Helena, and the Cult of the True Cross in Constantinople, in: Jannic Durand – Bernard Flusin ( Hgg. ), Byzance et les reliques du Christ ( Centre de recherche d’Histoire et Civilisation de Byzance, Monographies 17 ) Paris 2004, S. 31–59. Kλ 3« %« ξ [ … ] ² K ,« Ω [ … ] « λ φ " « [ … ] – Socrates ( wie Anm. 64 ) I, 17 (Migne PG 67, Sp. 120 ). Duo sunt, quae supra diximus, aptati in freno, tertius proiectus in fretum, quartum adserunt esse defixum in capite statuae Constantini, quae civitati, ut aiunt, totae excelsior esse suspicetur, scilicet ut tota cui eminet munitionem salutis quodadmodo galea coronata est. – Gregorii Turonensis Opera. Pars 2: Miracula et opera omnia, hg. von Bruno Krusch ( MGH SS rerum Merovingicarum 1/2 ) Hannover 1885, S. 491. Gregor von Tours begründet hier ausführlich, dass es insgesamt vier Nägel gab. Den ersten baute Helena ( ‚wie es behauptet wird‘ ) in die Konstantinstatue ein, den zweiten warf sie in die Adria und aus den übrigen zwei ließ sie den Zaum herstellen. Das Thema der Nägel, welche in der Konstantinsäule angeblich aufbewahrt waren, wird nur erwähnt, aber nicht weiter erforscht in der Studie: Gilbert Dagron, Constantinople imaginaire. Études sur le recueil des Patria ( Bibliothèque Byzantine. Études 8 ) Paris 1984, S. 329. Bibliographische Hinweise s. in: Frolow ( wie Anm. 90 ) S. 168. T !ξ $9 ' /5« 0. P« ξ µ ¹ κ K . & «, $#ξ« ρ φ
. – Socrates ( wie Anm. 64 ) I, 17 ( Migne PG 67, Sp. 120 ).
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Pferdezaum vorkamen, musste genauso gegenständlich gewesen sein wie auch die ursprüngliche kurze Fassung. Folglich musste um die Mitte des 4. Jahrhundert irgendwo genauso materiell ( und nicht nur metaphorisch oder legendär, wie viele Forscher annehmen ) Helm und Pferdezaum vorhanden gewesen sein, wie auch das Stück Holz in Jerusalem materiell und greifbar war, wobei auch diese zwei Gegenstände allmählich dazu übergingen, als Passionsreliquien verehrt zu werden 96. Bald danach, als der neue Kult des Helmes und des Pferdezaumes – die für transformierte Kreuzesnägel gehalten wurden – sich festigte und unter den Pilgern bekannt wurde, mussten wohl der Bischof von Jerusalem und/oder der Klerus der Grabkirche darauf reagieren, indem sie ihren Text der frommen für die Pilger mit einer neuen Episode über das Auffinden der Nägel ergänzten. Die Tatsache, dass der erste Kult der heiligen Nägel keine greifbaren Spuren hinterließ, spricht dafür, dass die beiden heiligen Gegenstände verhältnismäßig bald aus dem Ort verschwunden sein müssen, an dem sie zuerst verehrt wurden. Auch Ambrosius hätte es wohl schwer gehabt, sich in Mailand ohne weiteres auf den Pferdezaum Konstantins zu beziehen, wenn er dabei nicht sicher gewesen wäre, dass eine analoge Reliquie nicht schon anderswo im Zentrum eines lokalen Kultus stand. Über den Ort, wo zuerst dem Kult der Passionsnägel gehuldigt wurde, lässt sich nach dem heutigen Stand unserer Kenntnisse nur spekulieren. Antiochia würde z. B. nicht schlecht passen, zuerst schon weil es eine der beliebtesten Residenzen Konstantins war, wo sein Andenken eine gewisse Rolle gespielt haben muss. Außerdem befand sich dort das noch von Konstantin 341 gegründete oder die 97. Für dieses höchst repräsentative und programmatische Gebäude benötigte man wohl entsprechend hochwertige Reliquien, von deren Existenz allerdings nichts überliefert ist. Der Versuch, bestimmte archäologische Befunde als Hinweise auf eine mögliche Verehrung gerade der Nägel des Kreuzes in Syrien und speziell in Antiochia zu erklären, blieb bisher wenig überzeugend 98. Antiochia könnte aber auch unter dem Aspekt gut passen, dass die gesamten Schätze der bekanntlich schon 362 von Julian Apostata beschlagnahmt worden waren, was das spurlose Verschwinden des ersten Nägelkultes gut erklären könnte ( natürlich unter der Voraussetzung, dass es einen solchen in Antiochia je gegeben hat ). Wo immer man zuerst auf die Idee kam, die Nägel des Kreuzes zu verehren, musste die Prophezeiung Sacharjas zu den spezifischen Besonderheiten dieses Kultes gehört haben. Man benötigte am Kultort eine würdige christliche Erklärung eines sol96
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Ulrike Koenen gehört zu den verhältnismäßig wenigen Gelehrten, die auch davon ausgehen, dass die Entstehung einer Legende über die Nägel durch das Auftreten der entsprechenden materiellen Reliquie verursacht wurde – genau wie die Kreuzauffindungsgeschichte als Folge der Verbreitung zahlreicher Kreuzpartikel konzipiert wurde. – Ulrike Koenen, Symbol und Zierde auf Diadem und Kronreif spätantiker und byzantinischer Herrscher und die Kreuzauffindungslegende bei Ambrosius, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 39, 1996, S. 170–199, hier S. 174, Anm. 29. Über den Zusammenhang zwischen der Helenageschichte einerseits und der Anwesenheit des Kreuzes in der Grabkirche wie auch der Verbreitung der Fragmente dieser Reliquie andererseits s.: Heid ( wie Anm. 43 ) S. 61 ff. Richard Krautheimer, Early Christian and Byzantine Architecture, New Haven – London 1986, S. 75–78; Glanville Downey, Ancient Antioch, Princeton ( NJ ) 1963, S. 150. Gustavus A. Eisen, The Great Chalice of Antioch, 1, New York 1923, S. 161–164, besonders 163. Der Verfasser will die Spuren des Kultes in einigen Talismanen erkennen, welche in syrischen Gräbern des 4. Jahrhunderts gefunden wurden.
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chen nicht ganz gewöhnlichen Objektes wie den Pferdezaum, der zuerst wohl allein der persönlichen Memoria Konstantins diente, später aber als eine der wichtigsten Passionsreliquien umgedeutet werden musste. Die Auslegung der Prophetenverse folgte dabei nicht dem aramäischen Text des Alten Testaments, sondern der Septuaginta 99, worin man vielleicht einen Hinweis auf die ethnische Zusammensetzung jener Gemeinschaft erkennen kann, in der die Nägel zum Kultobjekt wurden. Auf welchem Weg konnte dann diese Variante der Helenalegende Ambrosius erreicht haben? Solange man keinen Unterschied zwischen der Fassung Ambrosius’ und der Jerusalemer erkennen konnte, fiel die Antwort auf diese Frage leicht: die Kreuzauffindungsgeschichte konnte am besten mit dem Heer des siegreichen Theodosius nach Mailand gelangen, wie dies etwa Neil McLynn vermutet 100. Oder vielleicht konnte sie noch früher am westlichen Kaiserhof zirkuliert sein, und zwar deswegen, weil viele Pilger vom Osten über Mailand zurückzogen – wie z. B. Drijvers annimmt 101. Sollte aber der Bericht, welchen Ambrosius für seine Ziele benutzen konnte, eine spezifisch lokale Variante der Kreuzauffindungslegende dargestellt haben, darf man sich den möglichen Kreis der Zuträger für den Bischof von Mailand in dieser Frage verhältnismäßig eng vorstellen. Dies passt gut zu der Ausführlichkeit, mit welcher Ambrosius seine Geschichte erzählt haben muss: er erwartete wohl nicht von seinen Zuhörern ( auch vom östlichen Heer ), dass sie schon mit dem Thema seiner Überlegungen gut vertraut waren. Sein möglicher Informant konnte aber kaum ein westlicher Pilger gewesen sein, der aus dem Heiligen Land zurück kam, denn solche Reliquienkenner beschrieben üblicherweise die Heiligtümer und nicht jene aus dem verlorenen Bestand früherer Jahrzehnte. Außerdem muss dieser Berichterstatter ganz sicher gewesen sein, dass die heiligen Nägel nicht nur von ihrem ursprünglichen Aufbewahrungsort verschwunden waren, sondern auch, dass sie nicht unvermittelt anderswo wieder auftauchen würden. Nur unter dieser Voraussetzung wäre es politisch möglich, die Nägelreliquien mit der Person des Kaisers zu verbinden. Folglich muss die Person, welche dem Bischof von Mailand die Helenalegende ( wohl in geschriebener Fassung ) vermittelte, eher unter den Höflingen Theodosius’ gesucht werden, die mit der kirchenpolitischen Lage im Osten nicht nur gut vertraut waren, sondern sie bis zu einem bestimmten Grad vielleicht auch beeinflussen konnten. VI. DER
Sollte Ambrosius mit dem keine nebulöse Metapher, sondern ein bestimmtes materielles Objekt gemeint haben ( was sich m. E. aus dem oben Gesagten mit großer Wahrscheinlichkeit ergibt ), wäre es zum Verständnis sinnvoll, herauszufinden, wie dieser ausgesehen haben könnte – eine Aufgabe, welche Forschern schon über mehrere Jahrhunderte hindurch erstaunlich große Schwierigkeiten 99
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[ … ] 9 ' π!) 9 0 µ λ µ µ Ϊ/ ) $ ) [ … ]. Neil B. McLynn, Ambrose of Milan. Church and Court in a Christian Capital ( The Transformation of the Classical Heritage 22 ) Berkeley – Los Angeles – London 1994, S. 359. Drijvers, Helena Augusta ( wie Anm. 24 ) S. 123.
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bereitet. Das griechische Wort .« 102, wie auch das lateinische fraenum in seinen verschiedenen Varianten 103 oder das syrische paguda aus den frühesten schriftlichen Versionen der Kyriakoslegende 104 konnten gleichermaßen sowohl den gesamten Pferdeschmuck, oder – öfter – Zügel oder allein das Metallteil des Zaumes ( Gebiss, Kandare, Trense ) bedeuten. Die Angelegenheit wird dadurch noch komplizierter, dass Ambrosius in seiner Rede als Synonym zum fraenum einmal auch habena benutzt. Wenn der Redner sagt in manibus habena ( 48 ), scheint die Sache klar zu sein: Der Reiter hält doch in seinen Händen weder den gesamten Pferdeschmuck noch die Kandare, sondern allein die rechten und linken Zügel. Aber wenn Ambrosius fortfährt: habena quoque de Cruce, wird seine Darstellung wieder unverständlich, denn es ist unklar, wie aus dem ( d. h. aus dem Nagel des Kreuzes von Golgatha ) überhaupt hergestellt werden konnten. Die Zügel wie auch der größte Teil des Pferdeschmucks werden bekanntlich aus Leder hergestellt, wobei das Stück für das Gebiss meist aus Metall geschmiedet wird. Allerdings können auch andere Details des Zaumes metallisch sein, etwa die Riemenverbindungsstellen, was man z. B. auf dem berühmten silbernen Ticinum Medaillon Konstantins 315 gut sehen kann 105 ( Abb. 1 ). Jenseits der rein professionellen Reiterterminologie besteht nicht nur in Latein, Griechisch und Syrisch, sondern auch in modernen Sprachen öfters Verwirrung darüber, was jedes Mal genau unter verstanden werden muss: Kopfgestell aus Lederriemen, Gebissstück aus Metall, allein die Zügel oder eben doch alles zusammen. Die Unklarheit des lateinischen frenum im Text von Ambrosius zwang die Übersetzer der Kreuzauffindungsgeschichte in die modernen Sprachen – und zwingt sie immer noch dazu – dieses Wort immer wieder auf eigene Faust zu interpretieren. So wissen die Franzosen genau, dass einer der Golgathanägel in ein mors 106 umgewandelt wurde, wobei die Italiener in demselben Zusammenhang auch von morso ( und nicht etwa vom weniger deutlichen freno briglie ) reden. Obwohl die beiden Wörter in ihren Sprachen auch unterschiedliche Deutungen erlauben, weisen sie aber gleichfalls eher auf das Gebissstück aus Metall als auf das 102
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Über die Assoziationen, welche mit diesem Wort bei Aischylos und Sophokles verbunden waren, s.: Elisabetta Villari, Il „chalinos“ come „sphragis“ del tiranno, in: Civiltà classica e cristiana 9, 1988, S. 111–121. Villari ( wie Anm. 3 ) S. 112, führt auch eine Stelle aus dem Traktat Xenophons ( VI, 9 ) an, wo der Verfasser zwischen .! als Pferdegebiss und .« als Zaum deutlich unterscheidet. Dennoch blieb diese technische Unterscheidung in der griechischen Literatur nur wenig berücksichtigt. Ambrosius benutzt dieses Wort in seiner Rede einmal als accusativus masculinum pluralis: frenos, zweimal als nominativus neutrum pluralis: fraena, dreimal als nominativus neutrum singularis: fraenum und einmal als ablativus neutrum singularis: fraeno. Die Wortform im Singular gilt als seltener im Vergleich mit derjenigen im Plural: Mannix ( wie Anm. 3 ) S. 137. Ich benutze diese Gelegenheit, um meine Dankbarkeit gegenüber Herrn Pieter van der Horst ( Utrecht ) für die Konsultation über die Bedeutung der entsprechenden Stelle in den beiden frühesten syrischen Texten der Legende zu äußern. S. hier zuerst: Konrad Kraft, Das Silbermedaillon Constantin des Großen mit dem Christusmonogramm auf dem Helm, in: Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 5/6, 1954/55, S. 151–178; Bernhard Overbeck, Das Silbermedaillon aus der Münzstätte Ticinum: ein erstes numismatisches Zeugnis zum Christentum Constantins I., Mailand 2000. Gerade mit diesem Wort wurde die Reliquie des in dem berümten Traktat 1543 bezeichnet: Jean Calvin, Traité des reliques suivi de l’Excuse à Messieures les Nicodémites, Paris 1921, S. 116 f.
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Riementeil 107. Die Briten äußern sich noch deutlicher, wenn sie nicht das unklare bridle, sondern das eindeutige bit benutzen und genau so sind die Deutschen, wenn sie in ihren Nacherzählungen der Helenageschichte dem unbestimmten das konkrete 108 oder 109 vorziehen. Ein Schmied hätte eine solche Übersetzung ohne weiteres akzeptieren können: für was sonst im Zaumzeug könnte man einen großen Nagel verwenden, wenn nicht für ein Gebiss? Sobald aber die ganze Angelegenheit nicht mehr mit den Augen eines Handwerkers betrachtet wird, drängt sich folgende Frage auf: Warum konnte die fromme Helena zur Aufbewahrung der Passionsreliquie keinen besseren Ort als das Pferdemaul finden? Das Problem des , welches im Laufe der letzten 16 Jahrhunderte schon fast hoffnungslos verworren erschien, hat in meinen Augen zwei mögliche Lösungen, welche einander gar nicht ausschließen, sondern sich eher gegenseitig ergänzen. Die erste ergibt sich aus den Studien der Texte, die zweite bieten uns die archäologischen Befunde. Zuerst aber zu den Texten. In den Fassungen der Kreuzauffindungslegende, in denen es um Herstellung von Helm und Zaum aus den Kreuzesnägeln geht, wurde explizit oder implizit vermerkt, dass diese neue Ausrüstung Konstantin in Kriegsgefechten sicher schützen musste. Mit anderen Worten wies man den Nägeln von Golgatha die noch durchaus vorchristliche Funktion der Amulett-Phylakterien zu. Dank der Studien von Franz Josef Dölger wissen wir inzwischen gut, dass die Christen des 4. und 5. Jahrhunderts plastische Kreuze aus verschiedenen Materialien, Partikel des Echten Kreuzes wie auch andere Reliquien, sehr gern als solche Phylakterien zu benutzten pflegten. Diese alte Praxis hat ihre direkte Fortsetzung auch in unserer Zeit, wenn Gläubige kleine Kreuze um den Hals hängend tragen. Für einen heutigen Christen würde aber eine andere – zur gleichen Zeit und aus denselben Gründen entstandene – Praxis wohl etwas befremdlich wirken: die Verwendung von christlichen Symbolen als Amulette für Tiere. Es gehörte aber seinerzeit offenbar zum Alltag, etwa erkrankten Kühen Kreuze umzuhängen ( was Johannes Chrysostomus bezeugt ) oder Pferde mit einem Christogramm zu brandmarken. Dölger weist auch auf einen Text hin, der zu unserem Fall ausgezeichnet passen könnte: in einem <Bukolischen Lied über den Segen des Kreuzeszeichens> von Severus Endelechius, einem Autor des späteren 4. Jahrhunderts, geht es darum, wie der Schäfer Egon dadurch seine Tiere vor der Pest zu retten vermochte, welche die Herde des Schäfers Bukol heimsuchte, dass er die Stirn seiner Kühe ‚in der Mitte‘ mit dem Zeichen des Kreuzes schmückte 110. Ob Egon diese Kreuze aufmalte oder sie als Kleinplastik aus Metall oder Keramik aufhängen ließ, spielt keine Rolle; es verrät uns aber,
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So wird unzweideutig von „morso per le briglie“ geredet, etwa in: Sordi, Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 27 ) S. 885 f., 889 f. Wie z. B. in: Ernst Dassmann, Ambrosius von Mailand: Leben und Werk, Stuttgart 2004, S. 249. Wie z. B. in: Heinen ( wie Anm. 40 ) S. 93. Signum quod perhibent esse Crucis Dei: / Magnis qui colitur solus in urbibus / Christus, perpetui gloria Numinis, / Cujus filius unicus. / Hoc signum mediis frontibus additum, / Cunctarum pecudum certa salus fuit. / Sic vero Deus hoc nomine praepotens / Salvator vocitatus est. – Severus Endelechius, Carmen bucolicum de virtute signi crucis, in: Migne PL 19, Sp. 800, vv. 105–112. Z. Zt. wird die neue Edition dieses Textes in der Reihe CC vorbereitet.
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dass es im 4. Jahrhundert üblich war, bei Tieren christliche Phylakterien an der Stirn anzubringen 111. Zur Vermutung, dass der Nagel von Golgatha in der Wahrnehmung Ambrosius’ nicht ins Maul des Konstantinischen Pferdes, sondern auf dessen Stirn gelangen musste, führt noch eine Überlegung. Der als Amulett musste ein Gegenstück zum aus der angenommenen schriftlichen Vorlage zu diesem Teil der Darstellung des Bischofs darstellen: ihre gleichzeitige Herstellung zeigt, dass sie zusammen als eine Art konzipiert gewesen sein mussten. Dann dürfen wir von diesen Gegenständen eine semantische Symmetrie erwarten: eine Reliquie musste dann genau so den Kopf des Pferdes schützen, wie die zweite den Kopf des Reiters behütete. All dies kann in dem Sinne verstanden werden, dass ein Gegenstand, der nach der Meinung Ambrosius’ aus dem Nagel von Golgatha hergestellt und zu einem Teil des Zaumzeuges umgewandelt worden war, auf der Stirn des Pferdes – wahrscheinlich auf dem Stirnriemen ( nicht zufällig öfters auch als Schmuckriemen bezeichnet ) – angebracht wurde. Wie das ungefähr ausgesehen haben könnte, zeigen etwa das Reiterstandbild von Marc Aurel auf dem römischen Kapitol ( Ende des 2. Jahrhunderts ) ( Abb. 2 ) oder die Darstellung des reitenden Kaisers auf dem Barberini-Diptychon im Louvre ( 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts ) 112 ( Abb. 3 ). Ein christliches Phylakterion konnte durchaus ähnlich rund aussehen wie die phalerae auf den beiden Kaiserdarstellungen: es genügte vollkommen, entweder ein Kreuz oder ein Christogramm an ihm zu zeichnen. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, dass man dem ganzen Gegenstand auch die Form eines dieser zwei Zeichen geben konnte. Bischof Ambrosius musste wohl doch etwas Unbehagen empfinden, dass die Passionsreliquie auf die Stirn eines Tieres geriet – das ist daraus zu schließen, dass er zwischen den zwei Nägeln einen deutlichen Unterscheid kennzeichnet, nämlich zum Einen der Nagel für den Zaum und zum Anderen derjenige für das Diadem: der erste diente zur Ve r z i e r u n g ( d. h. einfach als Pferdeverzierung ), der zweite aber zur Verehrung ( unum ad decorum, alterum ad devotionem ). Übrigens konnte das Heiligtum im Maul des Pferdes kaum zu seiner Ausschmückung dienen: der Gegenstand musste doch gut sichtbar bleiben. Aber warum sollte der Nagel im Zaumzeug weniger Verehrung seitens der Christen verdienen, als derjenige im kaiserlichen Kranz? Könnte vielleicht der direkte Kontakt mit dem Kopf eines Tieres einer solchen Reliquie ihre heilenden Qualitäten nehmen? Es herrscht in diesem Punkt bei Ambrosius eine gewisse Unklarheit – 111
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Dölger führt hier als Parallele die Angaben der Ethnologen an, die noch in seiner Zeit beobachteten, wie die Bauern in Belgien und Italien Amulette auf die Stirne ihrer Pferde und Maultiere zu setzen pflegten. – Franz Joseph Dölger, Profane und religöse Brandmarkung der Tiere in der heidnischen und christlichen Antike, in: Ders., Antike und Christentum. Kultur- und religionsgeschichtliche Studien 3, Münster 1932, S. 25–61, hier S. 55 f. Zu dieser Plakette s. zuerst: Wolfgang Fritz Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters ( Römisch-Germanisches Zentralmuseum zu Mainz, Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte, Kataloge vor- und frühgeschichtlicher Altertümer 7 ) Mainz 1976, S. 47 f. ( Nr. 48 ). Die Mehrheit der Forscher erkennt in dem dargestellten Kaiser Justinianus I., es wurden aber in diesem Zusammenhang auch Konstantin I., Constantius II. und Anastasius II. vorgeschlagen. Die Annahme, dass das Relief „einer früheren Epoche“ als dem 6. Jahrhundert angehören könnte ( „ce relief pourrait aussi bien appartenir à une époque plus haute“ ), wird geäußert in: André Grabar, L’empereur dans l’art byzantin: recherches sur l’art officiel de l’empire d’Orient ( Publications de la Faculté des Lettres de l’Université de Strasbourg 75 ) Paris 1936, S. 49.
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wohl deswegen, weil ihn das heidnische Verständnis der Passionsreliquie nur als eines Pferdeamuletts nicht völlig befriedigen konnte, wobei ihm eine überzeugende christliche Begründung auch nicht einfiel. Eine weitere Schwierigkeit erwartete ihn aber mit dem schon zitierten Vers aus dem Buch Sacharjas. Schon oben wurde angedeutet, dass die Übersetzungen der Prophezeiungen Sacharjas in die modernen Sprachen weder einen , noch ein damit verbundenes kennen. So ist in der lutherischen Übersetzung von den <Schellen der Rosse> und der Inschrift auf diesen Schellen die Rede. Den Grund für ein solches Textverständnis bildet die autoritative Stellungnahme des heiligen Hieronymus. In seinem Kommentar zum Buch Sacharja räumte er ein, dass er bereit war, hier der Septuaginta zu folgen, die das Hebräische mesuloth als – Zaum ( id est frenum – erklärt Hieronymus die Sache seinem Leser ) wiedergibt. Als aber Hieronymus sich nach der genauen Bedeutung des Wortes bei einem gelehrten Juden erkundigte, stellte dieser klar, dass man hier nicht mesuloth, sondern mesaloth lesen müsse, was phalerae und andere Pferdeverzierungen bedeutete. Der Zaum muss im alten Hebräisch resen, nicht aber mesuloth sein – im Widerspruch zur Übersetzung der Siebziger 113. Und ein paar Zeilen später macht Hieronymus seine entscheidende Bemerkung: ‚Ich hörte auch eine Sache, welche zwar aus Frömmigkeit gesagt war aber seltsam wirkte, [ als ob ] die Nägel vom Kreuz des Herrn, aus welchen der Augustus Konstantin den Zaum für sein Pferd machen ließ, als Heiligtum des Herrn genannt wird. Die Entscheidung, ob diese Meinung akzeptiert werden kann, überlasse ich der Weisheit des Lesers.‘ 114
Die sarkastische Bemerkung des Hieronymus war m. E. ( im Gegensatz zu verbreiteten akademischen Vermutungen ) kaum speziell gegen Ambrosius gerichtet. Nach der von Hieronymus missbilligten Meinung soll erstens die Initiative zur Herstellung des Zaumes nicht bei der Augusta, sondern bei ihrem Sohn gelegen haben und zweitens, der Zaum nicht aus einem einzigen Nagel, sondern aus hergestellt worden sein. Im letzten Punkt könnte man vielleicht eher eine Parallele mit Rufinus als mit Ambrosius erblicken, wobei Rufinus allerdings nichts vom ‚Heiligtum des Herrn‘ wusste. Daraus ergibt sich der Schluss, dass 406, als Hieronymus seinen Kommentar schrieb, neben der noch eine weitere Erzählung über die Kreuzauffindung mit dem Hinweis auf die Prophezeiung Sacharjas weit genug verbreitet war, um die kritische Aufmerksamkeit von Hieronymus auf sich lenken zu können. Nach der Bemerkung Hieronymus’ hörte die <Weisheit der Leser> völlig auf, die Auslegung des vorletzten Verses aus dem Buch Sacharjas im Sinne von Ambrosius und seiner unbekannten Vorgänger wahrzunehmen 115 – anderenfalls könnte eine typische 113
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Soli Septuaginta , id est frenum, transtulerunt, quos et nos in hoc loco secuti sumus, ne nouum aliquid in quaestione uulgata uideremur afferre. Quod cum ab Hebraeo quaererem quid significaret, ait mihi, non debere nos legere mesuloth, sed mesaloth, quod significat phaleras equorum et ornatum bellicum, et excepto hoc loco, in nullo penitus sanctarum scripturarum uolumine hoc uerbum reperiri. Frenum autem lingua Hebraica resen appellari, et non mesuloth, quod LXX transtulerunt. – Hieronymus, In Zachariam, in: S. Hieronymi presbyteri opera, pars 1, vol. 6: Commentarii in prophetas minores, hg. von Marcus Adriaen ( CC 76A ) Turnhout 1970, S. 897. Audiui a quodam rem, pio quidem sensu dictam, sed ridiculam, clauos dominicae crucis, e quibus Constantinus Augustus frenos suo equo fecerit, sanctum Domini appellari. Hoc utrum ita accipiendum sit, lectoris prudentiae derelinquo. Ebd., S. 898. Allerdings wiederholte noch etwa Romanos Melodos ( um 485–555/562 ) die von Hieronymus verworfene Auslegung: Moorhead ( wie Anm. 15 ) S. 204, Anm. 32. Trotz aller Bemühungen Hieronymus’
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Insigniensammlung der christlichen Herrscher vielleicht um einen Gegenstand – den Pferdezaum – reicher werden … Der Text von Ambrosius, in welchem <der Zaum> nur aus einem einzigen Nagel fabriziert worden sein sollte, entspricht also m. E. dem Bild eines Phylakterions, das an den Stirnriemen des Pferdes gehängt wurde, in Übereinstimmung mit den oben zitierten zeitgenössischen Texten. Die archäologischen Befunde öffnen aber den Weg für eine andere Interpretation jener Technologie, welche die eventuelle Umwandlung einer Kreuzreliquie in einen in den Augen der Zeitgenossen ermöglichte, und die wohl den Autoren vorschwebten, die im Gegensatz zu Ambrosius meinten, dieser sei aus mehreren ( d. h. aus zwei ) Nägeln hergestellt worden. Bei Ausgrabungen in Spanien wurden gelegentlich bronzene Scheibenknebel ( ca. 10 cm in Durchmesser ) aus der Zeit um 400 gefunden, die als Trensenteile dienten, welche die Gebissstange des Pferdes seitlich von außen fixierten. Unter diesen Scheibenknebeln gibt es auch eine Reihe solcher, welche mit einem Christogramm verziert sind 116 ( Abb. 4 ). Bei ihrer unklaren symbolischen Bedeutung drängt sich jedoch die Vermutung auf, dass sie auch eine Art von Phylakterien für Rosse gewesen sein dürften. Solche Scheibenknebel sind zwar bislang nur auf der Iberischen Halbinsel bekannt, könnten aber eventuell auch anderswo im Reich vorgekommen sein. Gerade dort, wo sie selten, ja ganz vereinzelt auftauchten, konnte die Notwendigkeit für eine plausible Erklärung entstehen, warum das sonst bescheidene eiserne Gebiss von beiden Seiten mit bronzenen Christogrammen verziert ist. Wenn unsere Informanten aus dem 4.–5. Jahrhundert sich Konstantin auf dem Pferd mit einem Zaum solchen Typs vorstellten, konnte das Gebissstück bei ihnen tatsächlich als transformierte Passionsreliquie in Frage kommen. Aber weil die Gebissstange öfter aus zwei Teilen bestand, musste die Idee nahe liegen, dass Konstantin ( oder Helena ) sie nicht aus einem Nagel, sondern aus zweien hätten schmieden lassen. Diese Logik lässt sich etwa für Rufinus ( d. h. wohl auch Gelasius ) hypothetisch annehmen, aber nicht für Ambrosius, welcher doch nur von e i n e m Nagel im Zaum sprach, und die Reliquie sich also eher auf der Stirn des Rosses vorgestellt haben muss.
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bietet diese alttestamentarische Stelle noch heute Anlass für philologische Diskussionen. Dazu s. z. B.: Al Wolters, Targumic khrvbt ( Zechariah 14, 20 ) = Greek φ?, in: Journal of Biblical Literature 115, 1996, S. 710–713. Über den theologischen Sinn dieses Abschnitts stritt man auch heftig. Martin Luther verzichtete hier auf jeden Kommentar, weil ihm der Inhalt der Worte des Propheten unklar geblieben sein soll. Christoph Stiegemann ( Hg. ), Byzanz. Das Licht aus dem Osten. Kult und Alltag im Byzantinischen Reich vom 4. bis 15. Jahrhundert, Ausstellungskatalog, Mainz 2001, S. 350–352, Nr. IV.100. 1–2; Ludwig Wamser ( Hg. ), Die Welt von Byzanz. Europas östliches Erbe. Glanz, Krisen und Fortleben einer tausendjährigen Kultur, Ausstellungskatalog ( Schriftenreihe der Archäologischen Staatssammlung 4 ) Stuttgart 2004, S. 352, Nr. 776; Alexander Demandt – Josef Engemann ( Hgg. ), Konstantin der Große – Imperator Caesar Flavius Constantinus, Ausstellungskatalog, Darmstadt 2007, S. 296, Nr. II. 1. 118. Über die technischen Besonderheiten der antiken Pferdezäume s. ausführlich: Christina Simon Ortisi, Studien zum römischen Pferdegeschirr aus Pompeji, Herculaneum und den Vesuvvillen: Metallzäume, Trensen und Kandaren. Diss., München 2003. Von derselben Verfasserin stammen auch die meisten der oben angeführten Katalogartikel.
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VII. DER HANDLUNGSORT
Die öffentlichen Auslegungen Ambrosius’ über den Sinn des Diadems und des Pferdezaums wirken recht abstrakt, solange der Forscher nicht die oben vorgeschlagene Stellungnahme akzeptiert, dass die Trauerrede von durchaus greifbaren Gegenständen handelt, welche sich zudem noch vor den Augen der Zuhörer befanden 117. Mit anderen Worten: Ambrosius erzählte nicht nur von zwei Heiligtümern, er wies sein Publikum auch noch darauf hin. Man braucht keine speziellen Begründungen für die Annahme, dass heilige Objekte von solchem Wert sich ausschließlich im Besitz des Kaisers befinden konnten. In unserem Fall sind zwar zwei Kaiser gleichzeitig anwesend – ein toter und ein lebendiger – es bestehen aber keine Zweifel, wem von ihnen die Reliquien gehören sollten. Wenn nun das Diadem mit dem ‚Nagel des Imperiums‘ das Haupt des leblosen Theodosius’ geschmückt hätte, wären die meisten Erwägungen Ambrosius’ als politisch sinnlos erschienen. Darüber hinaus bliebe unklar, in welchem Zusammenhang mit dem Leichnam Theodosius’ der Zaum seines Pferdes stehen konnte, es sei denn die kaiserlichen Diener führten das Lieblingsross des Verstorbenen in seinem vollen Pferdegeschirr direkt an den Sarg des Kaisers. Die ganze Textstelle ist dagegen verhältnismäßig einfach unter der Voraussetzung zu erklären, dass die beiden Reliquien in direkter Verbindung mit der Person des lebendigen Kaisers Honorius zur Schau gestellt waren. Der Kranz schmückte dann die Stirn des jungen Herrschers und der Zaum war natürlich seinem Pferd ( Pony? ) angelegt. Gerade dieser letzte Punkt benötigt eine besondere Erklärung. Aus der Rede Ambrosius’, in welcher er genau so oft vom Zaum wie vom Diadem spricht, ergibt sich m. E. klar, dass das kaiserliche Pferd mit seinem Zaum allen Anwesenden genau so gut wie der Kaiser mit seinem Diadem sichtbar gewesen sein muss. Konnte sich dann diese Szene überhaupt innerhalb eines Kirchengebäudes abgespielt haben? Man kennt zwar im Mittelalter Situationen, in denen Rosse tatsächlich durch Kirchen geführt wurden: vor allem in Opferprozessionen bei Trauerfeierlichkeiten, aber vielleicht auch bei sonstigen Anlässen, wenn Pferde der entsprechenden Kirche werden mussten. Für die christliche Spätantike ist ein ähnlicher Brauch m. W. nicht belegt 118. Daher würde unser Fall durch die Vorstellung vereinfacht, dass die ganze Trauerzeremonie nicht in der Kirche, sondern vor seiner Fassade ablief, wobei vielleicht auch der ( vom
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Fachleute, die sich hauptsächlich mit dem Oeuvre des Bischofs von Mailand und seinen Ideen beschäftigen, bemerken die seiner Äußerungen über Diadem und Zaum normalerweise nicht – im krassem Gegensatz zu denen, die sich vor allem bemühen, sein mit der konkreten Krone aus der Kathedrale von Monza zu verbinden. Letztere interessieren sich aber ihrerseits nicht so sehr für die Aufklärung der Gedankenwelt von . Als maßgebendes Beispiel hierfür s.: Sordi, La tradizione ( wie Anm. 50 ); Dies., Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 27 ) S. 891. Mein Ansatz ist aber auch für Vertreter der mehr archäologisch als ideengeschichtlich orientierten Forschungsrichtungen nicht selbstverständlich. S. z. B. die Meinung, welche den Gegensatz zu meiner Prämisse darstellt: „Es wäre dann weniger wahrscheinlich, dass sich die Aussage des Ambrosius auf bereits existierende Realien bezieht, sondern vielmehr anzunehmen, dass erst aufgrund der Aussage des Ambrosius entsprechende Formen auf dem kaiserlichen Diadem auftreten“. – Koenen ( wie Anm. 96 ) S. 177. Eine der seltenen bildlichen Darstellungen von Pferden innerhalb der Kirchengebäude, und zwar während der Trauermesse, findet sich als Holzschnitt Hans Burgkmairs des Älteren in <Weisskunig> Kaiser Maximilians ( 1516 ).
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Bischof kurz angedeutete ) Altar unter freiem Himmel stand 119. Eine solche Rekonstruktion der äußeren Umstände, unter welchen Ambrosius seine Abschiedsrede halten musste, wurde m. W. in der Forschung bislang niemals vorgeschlagen, obwohl sie im Einklang mit der allgemein anerkannten Ansicht steht, dass nicht zuletzt ( oder sogar in erster Linie ) an das Heer – also an ein sehr großes Publikum adressiert war 120. Im Mailand des späteren 4. Jahrhunderts sind drei repräsentative Kirchen bekannt, die am besten dazu geeignet wären, den feierlichen Abschied vom verstorbenen Kaiser durchzuführen ( Abb. 5 ). Die erste war die neue Stadtkathedrale, die wahrscheinlich von Constantius II. etwa zwischen 345 und 350 erbaut worden war. Zeitgenossen nannten sie die oder , wobei sie später – schon im Mittelalter – als die Kirche der Heiligen Thekla ( Santa Tecla ) bekannt wurde. Man begann diese Kirche 1389 abzubauen und sie war 1548 völlig abgerissen; ihre Fundamente kamen aber 1943 wieder ans Licht und wurden 1960–1962 gründlich erforscht. Dieser tatsächlich große Kirchenbau konnte genug Platz für fast dreitausend Menschen bieten 121, was also für die Stadtgemeinde gut geeignet war – nicht aber für den Fall, dass noch das kaiserliche Heer dazu kam 122. Mussten die Regimenter also draußen bleiben und wurden in den nahe liegenden Straßen aufgestellt, damit sie die Rede des Bischofs nur aus der Entfernung verfolgen konnten? Dafür gab es keine Notwendigkeit, weil es einfacher war, die Truppen nicht in der Stadtmitte, sondern vor einer der Kirchen zu sammeln, welche außerhalb der dicht bebauten Stadtviertel errichtet worden waren. Gerade in der nächsten Umgebung Mailands und offenbar in der Nähe des kaiserlichen Palastes ( dessen exakte Lage sich noch immer nicht bestimmen lässt ) befand sich die zweite beeindruckende Kirche Mailands, die genauso wie die auch im kaiserlichen Auftrag errichtet worden war und heute als San Lorenzo bekannt ist ( ob dieses Patrozinium ursprünglich war, lässt sich nicht mehr feststellen ) 123. So119
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[ … ] et nunc quadragesimam celebramus, adsistente sacris altaribus Honorio principe [ … ] – 3. Ambrosius konnte allerdings nicht unbedingt den Altar als solchen, sondern den Gottesdienst allgemein meinen. S. z. B.: Audistis certe, milites, qui circumfusi estis, quia ubi perfidia, ibi caecitas est. – 10. Richard Krautheimer, Three Christian Capitals: Topography and Politics, Berkeley – Los Angeles 1983, S. 75–77. Vgl. auch: Ders., Early Christian and Byzantine Architecture ( wie Anm. 97 ) S. 84 f. Von einer ganz anderen Vorstellung geht Martin Biermann aus. Er setzt a priori voraus, dass die Trauerfeierlichkeiten unbedingt in der Kathedrale stattfinden mussten. Daraus ergibt sich, dass die Zahl der Teilnehmer ungefähr 3000 gewesen sein muss, weil dieses Bauwerk für genau so viele Menschen Platz bieten konnte, Biermann ( wie Anm. 16 ) S. 13, 180. Mehrmals wurde die Vermutung geäußert, diese Kirche sei die basilica Portiana, deretwegen Ambrosius mit der Regierung Valentinians II. 385–386 im Streit lag ( ein Konflikt, der zu einer ernsten politischen Krise führte ). Sollte aber Portiana tatsächlich mit der heutigen Kirche San Lorenzo identisch sein ( welche offenbar völlig aus kaiserlichen Mitteln und am kaiserlichen Hof errichtet worden war ), warum musste sich dann der Kaiser ihrer fast mit Gewalt bemächtigen? Warum befand sich dieser kaiserliche Bau vor der Krise in den Händen des Bischofs von Mailand? Zu diesem viel diskutierten Konflikt um die Basilika ( oder sogar um zwei Kirchen ) s. zuletzt: Andrew Lenox-Conyngham, The Topography of the Basilica Conflict of A.D. 385/6 in Milan, in: Historia 31, 1982, S. 353–363; Ders., Juristic and Religious Aspects of the Basilica Conflict of A.D. 386, in: Studia Patristica 18, 1985, S. 55–58; Gunther Gottlieb, Der Mailänder Kirchenstreit von 385/386. Datierung, Verlauf, Deutung, in: Museum Helveticum 42, 1985, S. 37–55; Timothy D. Barnes, Ambrose and the Basilicas of Milan in 385 and 386. The Primary Documents and their Implications, in: Zeitschrift für antikes Christentum 4, 2000, S. 282–299 ( mit Begründung einer neuer Datierung und neuer Interpretation des politischen Wesens
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wohl über die Zeit der Errichtung dieses außergewöhnlichen Baus, als auch über den Anlass für den Bau und die Person des Auftraggebers wird seit Langem heftig diskutiert. Richard Krautheimer war der Auffassung, San Lorenzo sei 375–378 entstanden als Kathedrale der Homöer, die eine starke Partei in der unmittelbaren Umgebung des Kaisers Valentinian II. darstellten 124. Unabhängig von dieser Meinung muss San Lorenzo zweifelsohne der kaiserlichen Repräsentation gedient haben. In der Epitome der des spanischen Bischofs Hydatius ( ca. 400–ca. 469 ) heißt es sogar, der einbalsamierte Körper Theodosius’ sei in San Lorenzo beerdigt worden. Diese Behauptung war natürlich falsch, könnte aber vielleicht ein Nachklang der Tatsache gewesen sein, dass der Leichnam des Kaisers hier öffentlich aufgebahrt wurde und/oder der Trauergottesdienst ebendort stattfand 125. Die heute noch erhaltenen feierlichen Propyläen aus korinthischen Kolonnen am Eingang zum großzügig angelegten Atrium ( wo Ambrosius möglicherweise neben dem Sarg von Theodosius stehend seine Rede gehalten hat ), könnten als eine sehr beeindruckende Kulisse für die Trauerfeierlichkeiten 395 gedient haben. Allerdings darf auch die dritte wichtige Mailändische Kirche nicht vergessen werden, die vom Bischof Ambrosius erbaute Kirche der Heiligen Apostel ( später San Nazaro ). In ihren symbolischen Ansprüchen übertraf diese Kirche alle Basiliken, die um die Stadt herum auf Kosten des Bischofs errichtet wurden – selbst die berühmte Ambrosiana. Mit ihrem auffallenden Grundriss in Form eines Kreuzes, dem nicht weniger auffallenden Patrozinium und Reliquien der Apostel Johannes, Andreas und Thomas ( die wahrscheinlich von keinem anderen als Theodosius selbst gestiftet waren ) erinnert die Mailänder Apostelkirche an das Apostoleion in Konstantinopel – jene Kirche, wo seit Konstantin Kaiser begraben wurden 126. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Ambrosius seine Kirche zu dem Zweck erbaute, dort einen Bestattungsort für Mitglieder der kaiserlichen Familie zu begründen 127. Für eine gewisse Rolle dieser Kirche im kaiserlichen Zeremoniell spricht aber nicht allein ihr Patrozinium, sondern auch der Platz selbst, welcher zur Errichtung dieses Baus gewählt wurde. Das Mailänder Apostoleion stand auf der via porticata, die den feierlichen Zugang in die Stadt darstellte: Die
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dieser Auseinandersetzung ); Marcia L. Colish, Why the Portiana? Reflections on the Milanese Basilica Crisis of 386, in: Journal of Early Christian Studies 10, 2002, S. 361–372. Als Einleitung in die bauhistorischen Probleme um San Lorenzo herum s. die Diskussion: Dale Kinney, The Evidence for the Dating of S. Lorenzo in Milan, in: The Journal of the Society of Architectural Historians 31, 1972, S. 92–107; Suzanne Lewis, San Lorenzo Revisited: A Theodosian Palace Church at Milan, in: The Journal of the Society of Architectural Historians, 32, 1973, S. 197–222. Das vorangehende Stadium der Erforschung der Kirche wird zusammengefasst in: Aristide Calderini – Gino Chierici – Carlo Cecchelli, La Basilica di S. Lorenzo Maggiore in Milano, Mailand [ 1952 ]. Krautheimer, Three Christian Capitals ( wie Anm. 121 ) S. 89–92; Ders., Early Christian and Byzantine Architecture ( wie Anm. 97 ) S. 79–81. Theodosius ualetudine metropis Mediolano defunctus est. Ann. regni sui septemo decimo aromatus sancti ecclesiae Laurencii sepultus est. – The Chronicle of Hydatius and the Consularia Constantinopolitana. Two Contemporary Accounts of the Final Years of the Roman Empire, edited with an English translation by Richard W. Burgess, Oxford 1993, S. 154. Vgl.: Mark J. Johnson, On the Burial Places of the Theodosian Dynasty, in: Byzantion 61, 1991, S. 330–339, hier S. 331. Krautheimer, Three Christian Capitals ( wie Anm. 121 ) S. 80. Eine Prinzessin aus dem Haus Theodosius’ scheint dort doch begraben zu sein: Krautheimer, Early Christian and Byzantine Architecture ( wie Anm. 97 ) S. 82.
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Römische Straße war an beiden Seiten über eine Länge von mehr als einer Meile vor dem Stadttor mit Portiken geschmückt. Wenn der Kaiser in Mailand einzog, fuhr er zuerst durch den Triumphbogen 128 und dann zwischen zwei Kolonnaden hindurch, die sich rechts und links erstreckten bis zur Porta Romana. Genau in der Mitte dieser Prachtstraße stand auf der rechten Seite die Kirche der Heiligen Apostel 129. In unserem Fall könnte allerdings die Bewegungsrichtung nicht zum Stadtzentrum, sondern umkehrt – aus der Stadt hinaus – von nicht weniger Relevanz sein. Der einbalsamierte Körper Theodosius’ musste aus Mailand an die Ufer des Bosporus gebracht werden, um ebendort in der Kirche der Heiligen Apostel seine letzte Ruhe zu finden. Dieses Ziel wurde tatsächlich erreicht, aber erst am 8. November 130. Sollte der tote Kaiser mit dem Schiff transportiert werden, musste sein Weg aus Mailand zu den Häfen der italienischen Ostküste ( Ravenna u. a. ) von der Porta Romana beginnen. Sollte aber der Sarg den Soldaten der Einheiten anvertraut werden, die Stilicho gerade zurück nach Osten ziehen ließ, mussten diese Truppen unbedingt über Aquileia marschieren ( wo Theodosius wenige Monate zuvor Italien betreten hatte ); die Landstraße in Richtung Aquileia hatte aber auch ihren Anfang an derselben Porta Romana. Der tote Kaiser sollte direkt nach dem Ende der Rede von Ambrosius zu seiner letzten Reise aufbrechen: der Bischof kündigt dies selbst deutlich genug an 131. So wird verständlich, warum auch das Pferd des Honorius’ mit seinem Zaum zur allgemeinen Schau präsentiert wird – der junge Herrscher wird sich bald zusammen mit seinen Höflingen und einem Teil der kaiserlichen Truppen auf den Weg machen, um dem Körper seines Vaters Kondukt zu leisten. ( ‚Du weinst, Honorius, erlauchter Spross … Noch entbehrt ja die Leiche des Vaters der ehrenvollen Grabstätte und durch weite Fernen musst du sie überführen‘ ). Allerdings wird Honorius seinen Vater natürlich nicht bis zur ‚ehrenvollen Grabstätte‘ in der Apostelkirche der Reichshauptstadt begleiten: Er wird vielleicht aus dem Hafen, vielleicht aus Aquileia oder schon wesentlich früher, etwa nur ein paar Meilen ( oder ein paar Dutzend Meilen ) entfernt von Mailand wieder umkehren: ‚Du weinst auch deshalb, erlauchter Kaiser, weil du nicht selbst die ehrwürdigen Überreste nach Konstantinopel geleiten kannst.‘ 132 VIII. DER ZWEITE NAGEL
Der erste Nagel musste also in der Vorstellung des Ambrosius’ mit großer Wahrscheinlichkeit in ein Phylakterion für ein Pferd umgearbeitet worden sein. Bevor das Schicksal des zweiten Nagels verfolgt werden soll, stellt sich jedoch die Frage, wie viele Nägel es überhaupt gegeben haben könnte. Berichte der Evangelisten sind in diesem Punkt widersprüchlich: nach Lukas ( 24, 39–40 ) ergibt sich, dass sowohl die Hände als auch die Füße Jesu mit Nägeln durchbohrt wurden; Johannes ( 20, 25–27 ) lässt sich dagegen eher in dem Sinn verstehen, dass Jesus nur an den Händen Wunden von Nägeln hatte. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher einige frühere Autoren – einschließlich 128 129 130 131 132
Krautheimer, Three Christian Capitals ( wie Anm. 121 ) S. 69. Diese Rekonstruktion s. in: McLynn ( wie Anm. 100 ) S. 232. Otto Seeck, Regesten der Kaiser und Päpste für die Jahre 311 bis 476 n. Chr., Stuttgart 1919, S. 287. Sed iam veniamus ad augusti corporis transmissionem. – 54. Fles etiam, imperator auguste, quod non usque Constantinopolim reverendas reliquias ipse prosequeris. – 55.
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Ambrosius – erzählten, Helena ließe z w e i Nägel umwandeln, verrät m. E. ihre Prämisse, dass Christus nur an den Händen an das Kreuz geschlagen worden war 133. Im gleichen Sinn sind auch die frühesten erhaltenen visuellen Darstellungen der Golgatha-Kreuzigung konzipiert, wie eine Elfenbeinplatte aus Norditalien ( 420er oder 430er Jahren ) 134 ( Abb. 6 ), oder die 431–433 geschnitzten Holztüren der Kirche von Santa Sabina in Rom 135 ( Abb. 7 ). Eine ähnliche Ikonographie blieb auch später gefragt, wie z. B. der Einband des Codex Aureus von Echternach ( 9. Jahrhundert ) oder das Tor der Kirche von San Zeno in Verona ( ca. 1138 ) zeigen. Aber schon für den Sokrates Scholastikos scheint die Antwort auf die Frage, mit wie vielen Nägeln Jesus ans Kreuz geschlagen worden ist, nicht mehr so ganz selbstverständlich gewesen zu sein. Er fand es auf jeden Fall notwendig zu präzisieren, dass es in der Geschichte über die Herstellung des Helmes und des Pferdezaums um jene Nägel ging, ‚mit welchen die Hände Jesu‘ befestigt waren 136, ohne jedoch zu erklären, was mit den Nägeln für die Beine geschah, wenn es denn solche überhaupt gab. Rufinus und Theodoret sind in ihren Äußerungen etwas deutlicher: beide gehen wohl davon aus, dass es vier Nägel gewesen sind. So ließ Konstantin Rufinus zufolge den Zaum aus ‚einigen Nägeln‘ und den Helm aus den ‚anderen‘ herstellen 137, und Theodoret schreibt ähnlich: Helena befahl, einen ‚Teil der Nägel‘ für den Helm, und einen weiteren ‚Teil‘ für den Pferdezaum zu verwenden 138. Das war in der Ikonographie der Kreuzigungsszene seit dem 6. Jahrhundert sehr verbreitet und bleibt seitdem auch in der orthodoxen Welt bis heute noch maßgebend. Von Interesse für uns ist eine karolingische Miniatur, die nicht nur drei frisch ausgegrabene Golgatha-Kreuze darstellt, sondern auch je vier Nägel, die neben jedem der Kreuze sorgfältig ausgestellt werden ( Abb. 8 ). Aber etwa Johannes Malala ( ca. 491–578 ) war davon überzeugt, dass Helena fünf Nägel der Kreuzigung auffand 139. Im ältesten überlieferten Text der Kyriakoslegende ( der syrischen aus St. Petersburg, 5. Jahrhundert ), will Helena in den Besitz jener Nägel gekommen sein, die ‚in die Hände‘ Jesu geschlagen 133
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Doch verbreitete sich die Meinung im Mittelalter, die Kirchenhistoriker des 4.–5. Jahrhunderts seien davon ausgegangen, dass Helena den dritten Nagel für sich selbst behalten habe. Spätestens seit dem 6. Jahrhundert begann man in populären Legenden das Fehlen eines Nagels ( oder gar zweier Nägel ) auch damit zu erklären, dass Helena ihn ( sie ) ins Adriatische Meer warf, um einen gefährlichen Sturm zu beruhigen. Volbach ( wie Anm. 112 ) S. 82 f., Nr. 116. Tafel 61. Vgl.: Josef Engemann, Das Kreuz auf spätantiken Kopfbedeckungen ( cuculla – Diadem – Maphorion ), in: Theologia crucis – signum crucis. Festschrift für Erich Dinkler, Tübingen 1979, S. 137–153, hier S. 148. S. die neue Studie: Gisela Jeremias, Die Holztür der Basilika S. Sabina in Rom ( Bilderhefte des Deutschen Archäologischen Instituts Rom 7 ) Tübingen 1980. Kλ 3« %« ξ, θ ,« λ X µ µ / [ … ] – Socrates I, 17 ( Migne PG 67, Sp. 120 ). Johannes Chrysostomos spricht in einer Homilie auch klar über die mit Nägeln durchstoßenen Hände, erwähnt aber die Füße nicht, wohl voraussetzend, dass es zwei Nägel gewesen sein mussten. Clavos quoque, quibus corpus Dominicum fuerat affixum, portat ad filium. Ex quibus ille frenos composuit, quibus uteretur ad bellum: et ex aliis galeam nihilominus belli usibus aptam fertur armasse. – Rufinus I ( X ), 8. ( Migne PL 21, Paris 1841, Sp. 477 ). S. oben, Anm.79. [ … ] µ 7µ ! µ ! $ % – Ioannis Malalae Chronographia, hg. von Ioannes Thurn ( Corpus fontium historiae Byzantinae, Series Berolinensis 35 ) Berlin – New York 2000, S. 245 ( XIII, 5 ).
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worden waren 140, während die nächst älteste Handschrift ( auch syrisch, aber aus London, um 500 ) schon die Lesart ‚in die Hände und Füße‘ aufweist 141. Die Frage nach der Anzahl der Nägel, mit denen Jesus am Kreuz befestigt war, blieb unter Theologen während des gesamten Mittelalters und sogar in der Moderne strittig 142. Das heute so vertraute <westliche> ikonographische Schema der Kreuzigung mit drei Nägeln erscheint erst im 12. Jahrhundert, verdrängt aber im lateinischen Europa aus theologischen Gründen schon im 13. Jahrhundert die früheren Konzepte 143. Wie auch immer der Fall liegt, gelangte der zweite zur ‚Verehrung‘ und nicht bloß zur ‚Verzierung‘ bestimmte Nagel laut der Version des Ambrosius’ nicht in einen Helm sondern in einen Kranz. Helm durch Kranz zu ersetzen, war schon allein deswegen vernünftig, weil die Reliquie das Haupt des zehnjährigen Knaben schmücken musste, der sich bisher noch an keiner Schlacht beteiligt hatte. In der Rede Ambrosius’ blieb jedoch die gesamte Argumentation der ursprünglichen Legendenversion, in welcher es sich nicht um ein Diadem, sondern um einem Helm handelte, beibehalten: ‚Selig Konstantin ob einer solchen Mutter, die ihrem kaiserlichen Sohne ein Mittel aus Gottes Gnadenhand verschaffte, durch welches er selbst mitten im Schlachtengewühl sicher 140 141 142
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Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 50, 68. Straubinger ( wie Anm. 82 ) S. 43; Han Drijvers – Jan Drijvers ( wie Anm. 82 ) S. 49, 69. Die Gegenstände, welche von den Gläubigen als Nägel vom Golgathakreuz verehrt werden, können keinesfalls helfen, die Frage nach ihrer ursprünglichen Anzahl zu lösen. Es sind heute mehr als 30 solcher Artefakte bekannt, die in Rom, Paris, Wien, Prag, Trier, Florenz, Venedig, Mailand, Monza, Aachen, Nürnberg, Bamberg, Escorial, Moskau und weiteren Orten aufbewahrt werden. In bestimmtem Sinn können sie alle theoretisch sein, weil man im Mittelalter die sehr effiziente Technologie der Reliquienvermehrung beherrschte. Es reichte, nur ein Teilchen des <echten> Nagels in einen etwa neu fabrizierten Nagel einzuschmieden, damit letzterer alle Qualitäten der Ausgangsreliquie erwarb. Die Übertragung solcher Qualitäten war aber auch in Folge des engen physischen Kontakts zwischen und durchaus möglich. Ein bekanntes Beispiel einer erfolgreichen Reliquienmultiplikation stellt die Krakauer Kopie der dar – auch mit einmontiertem Kreuzesnagel. Otto III. ließ sie für den polnischen Fürsten Bolesław Chrobry vom Original herstellen, das sich heute unter den Reichsinsignien in Wien befindet. Als Einführung in dieses viel diskutierte Thema s.: Percy Ernst Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik ( Schriften der MGH 13 ) Stuttgart 1954/1978, 2, S. 492–537. Weder schriftliche noch ikonographische Quellen liefern Angaben darüber, ob die Füße der Gekreuzigten überhaupt angenagelt wurden, und wenn ja, auf welche Art und Weise und mit wie viel Nägeln: Joseph William Hewitt, The Use of Nails in the Crucifixion, in: The Harvard Theological Review 25, 1932, S. 29–45. Archäologen verfügen bisher nur über den einzigen Fund von Überresten eines Gekreuzigten aus der hellenistisch-römischen Antike, der zum Vergleich mit den spärlichen schriftlichen Nachrichten herangezogen werden kann: er wurde 1968 in einem Grab im Nordosten Jerusalems gefunden und in die erste Hälfte oder Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. ( vielleicht 52–60 ) datiert. Beide Füße des Gekreuzigten waren von e i n e m Nagel durchbohrt, wobei er zuerst durch das rechte und dann das linke Fersenbein ging. Der Nagel selbst ist erhalten geblieben, wobei seine ursprüngliche Länge nur 11,5 cm beträgt: wegen dieser Kürze konnte er wohl kaum in das harte Holz des Kreuzes geschlagen werden: Heinz-Wolfgang Kuhn, Der Gekreuzte von Givcat ha-Mivtar. Bilanz einer Entdeckung, in: Theologia crucis – signum crucis. Festschrift für Erich Dinkler zum 70. Geburtstag, hg. von Carl Andresen und Günter Klein, Tübingen 1979, S. 303–334, besonders S. 308–310, 315, 322 f. Ausführlich dazu: Karl-August Wirth, Die Entstehung der Drei-Nagel-Cruzifixus, seine typengeschichtliche Entwicklung in Frankreich und Deutschland bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Diss. Masch., Frankfurt am Main 1953; Ders., Art., , in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte 4, 1958, Sp. 534 f.; Gérard Cames, Recherches sur les origins du crucifix à trois clous, in: Cahiers Archeologiques 16, 1966, S. 185–202.
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war und keine Gefahr fürchten brauchte.‘ 144 Das Diadem passt aber überhaupt nicht zum ‚Schlachtengewühl‘, wobei der Pferdezaum bestenfalls nur zum Teil passen würde: ist er doch dazu geeignet, Unglück eher vom Pferd als vom Reiter abzuwehren. Der eben zitierte Satz ergibt also nur dann Sinn, wenn hier ursprünglich der Helm und nicht das Diadem gemeint wurde und stellt folglich einen klaren Überrest der früheren dar. Diese winzige Kleinigkeit ist für uns von großer Relevanz, weil sie dafür spricht, dass Ambrosius nicht bloß bescheidener Fortführer einer uns sonst unbekannten Tradition war, in welcher anstatt des kaiserlichen Helms ein kaiserlicher Kranz vorkam. Er tritt hier selbst als souveräner Begründer eben dieser Tradition hervor. Daher entsteht natürlich sofort der Verdacht, Ambrosius war überhaupt der allererste, dem einfiel, ein Diadem mit dem heiligen Kreuzesnagel zu versehen 145. Sobald Ambrosius die Passionsreliquie nicht in einen Helm, sondern in ein Diadem platziert, beraubt er sie ihrer ursprünglichen Funktion des militärischen Amuletts, welche seinen Zuhörern aus dem kaiserlichen Heer durchaus verständlich gewesen sein musste. Vielleicht deswegen hatte er hier für eine neue Begründung einer solchen Anwendung des Kreuzesnagels zu sorgen: von hier an betritt der Redner den riskanten Weg des politisch-symbolischen Experimentierens. Ambrosius fängt mit der Rechtfertigung von Helenas Handlungen an: der Bischof war offenbar nicht so sicher, dass die Manipulationen Helenas mit den Christusreliquien bei seinen Zuhörer unbedingt Verständnis finden würde: Als Helena die Häupter der Könige mit dem Kreuz versah, tat sie das nicht aus Hochmut ( insolentia ), sondern aus Frömmigkeit ( pietas ). Mehr noch: Helena handelte weise ( sapienter ), denn die Verehrung der Könige wurde jetzt zur Verehrung des Kreuzes in den Königen 146. Dieses Argument ist genauso überraschend wie auch raffiniert. Im selben Satz macht Ambrosius einen neuen, unauffälligen aber wichtigen Zug: er setzt das H o l z und den in dieses Holz eingeschlagenen N a g e l gleich: beide erscheinen als , und zwar im gleichen Maß 147. Die Identität der erlösenden Qualitäten von Metall und Holz konnte den Zuhörern des Ambrosius nicht unbedingt als selbstverständlich erscheinen; darüber könnten bei ihnen zumindest bestimmte Fragen oder sogar Zweifel entstehen. Gerade deswegen postuliert der Redner diese Gleichheit apodiktisch, allerdings bereitet er rhetorisch diese These schon zwei Sätze früher vor, als er eine neue Begrifflichkeit entwickelt, indem er vom ‚Eisen des Kreuzes‘ ( ferrum crucis ) spricht – eine klare Spiegelung der Wendung ‚Holz 144
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Beatus Constantinus tali parente, quae imperanti filio divini muneris quaesivit auxilium, quo inter proelia quoque tutus adsisteret et periculum non timeret. – 41. Dass dieser Satz den Nachhall der ursprünglichen Erzählung vom Helm beibehielt, ist auch zu Recht bemerkt in: Sordi, Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 50 ) S. 885. Die gegensätzliche Schlussfolgerung wird gemacht in: ebd., S. 888: „ … è a mio avviso estremamente improbabile che essa sia una sua invenzione“. Ambrosius soll sich auf eine Tradition stützen, welche sich am Mailänder Hof schon früher gestaltete. Das Diadem mit dem heiligen Nagel wurde einerseits für die Legitimierung der neuen kaiserlichen Dynastie, welche die Dynastie Konstantins ablöste und zweitens im Zusammenhang mit der Verlegung der Residenz nach Mailand hergestellt. Beides soll auf die Regierungszeit Valentinians I. ( 364–375 ) hinweisen. Die Umwandlung des Helms in ein Diadem soll daher den Übergang von der christlichen D y n a s t i e Konstantins zum christlichen R e i c h a l s p o l i t i s c h e r I n s t i t u t i o n bedeutet haben. Ebd., S. 891 f. Sapienter Helena, quae crucem in capite regum locavit, ut Christi crux in regibus adoretur. Non insolentia ista, sed pietas est, cum defertur sacrae redemptioni. – 48. Engemann nimmt an, man meinte hier die äußere ( kreuzartige ) Form der Reliquie, schließt aber auch die hier bevorzugte Interpretation nicht aus: Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 144.
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des Kreuzes‘ ( lignum crucis ). Aber warum musste sich dieses ferrum crucis unbedingt auf dem Kopf des Kaisers befinden, warum nicht etwa an dessen Brust hängen, wie die Talismane bei vielen Soldaten, welche in militärischer Ordnung vor Ambrosius stehen mussten, aber bestimmt auch bei den ihn umgebenden Höflingen und Klerikern 148? Der Bischof erklärt: ‚Mit Recht ruht der Nagel auf dem Haupte, damit dort, wo der Verstand ( sensus ) thront, auch Schutz ( praesidium ) herrsche‘ 149. Dieser Teil des heiligen Kreuzes hört also nicht auf, als Phylakterion zu dienen, als ob er immer noch im Helm verbleiben würde. Dieses Phylakterion behütet aber seinen Besitzer nicht vor Waffen, sondern vor Anschlägen auf seinen Verstand ( wie man das polysemantische Wort sensus übersetzten darf ), d. h. vor dem so gefürchteten ‚Bösen Blick‘ 150, wie auch anderen dunklen Kräften, sei es unter heidnischem oder unter christlichem Namen. Der vorangehende Satz von Ambrosius erhebt aber das Diadem mit der Christusreliquie hoch über übliche Phylakterien und misst ihm fast universelle, ja kosmische Relevanz bei: ‚Ein Gut ist also dieser Nagel des Römischen Imperiums, der den ganzen Erdkreis beherrscht und die Stirne der Kaiser schmückt, so dass diejenigen jetzt Prediger sind, die so oft Verfolger waren‘. Von einem ‚Nagel des Römischen Imperiums, der den ganzen Erdkreis beherrscht‘ hat man weder vor Ambrosius noch nach ihm etwas gehört. Als Allererster unternahm er also den Versuch, eine c h r i s t l i c h e S t a a t s r e l i q u i e zu kreieren und ihr institutionelle Relevanz beizumessen. Diese durchaus revolutionäre Neuerung des Mailänder Bischofs wurde von Historikern bis heute nicht richtig bewertet, ja überhaupt nicht bemerkt – wahrscheinlich deswegen, weil seine Initiative in den nachfolgenden Jahren weder unterstützt noch weiter entwickelt wurde. Trotz dieses Mangels an sichtbarem Erfolg verdienen Kühnheit und Erfindungsgabe des Mailändischen Bischofs vollen Respekt. Sein ‚Nagel des Imperiums‘ war zweifelsohne eine höchst wertvolle Reliquie: nur dank ihr – so Ambrosius – entstand das christliche Kaiserreich und es war diese Reliquie ( und nicht etwa der Kaiser ), die jetzt ‚in der ganzen Welt regiere‘ ( totum regit orbem ). Ein solches Artefakt musste bestimmt über gewaltige politische Kapazität verfügt haben. Ambrosius lenkte die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer weg vom Knaben im kaiserlichen Gewand hin zum sakralen Gegenstand, der sich im Besitz dieses Knaben befand, ja dessen Kopf schmückte. Die offensichtliche Tatsache, dass die Persönlichkeit des jungen Kaisers nicht besonders überzeugend wirkte, durfte keinen Grund zur Besorgnis über die Zukunft des Reiches zulassen, weil sie nicht nur von diesem Kind, sondern auch vom wunderbaren ‚Nagel des Imperiums‘ abhing, der 148
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Brustkreuze mit eingeschlossenen Reliquien tauchen erst im 5. Jahrhundert auf. Doch wurden Enkolpionen anderer Formen seit frühester Zeit getragen. Im 4. Jahrhundert pflegten schon mehrere Christen Kreuze ( allerdings ohne Reliquien ) um den Hals zu haben. Sobald man in den Besitz von Reliquien gekommen war, trug man sie in einer runden Kapsel ( bulla ) um den Hals. S. dazu: Otto Nussbaum, Das Brustkreuz des Bischofs. Zur Geschichte seiner Entstehung und Gestaltung, Mainz 1964, S. 12 f., 19. Ambrosius verwendet das Wort praesidium noch an zwei weiteren Stellen seiner Rede, und in demselben Sinn. An ihrem Anfang ( 2 ) spricht er von vielen, die mit dem Tod Theodosius’ seines väterlichen Schutzes beraubt wurden: Sed plurimos tamquam paterno destitutos praesidio dereliquit [ … ], und später ( 15 ) davon, dass Theodosius beim Herrn den besten Schutz für seine Söhne sichern werde: Quis ergo dubitabit filiis eius apud dominum maximum praesidium fore? Zu dem spätantiken ‚Bösen Blick‘ und den Abwehrmitteln gegen ihn s. ausführlich: Josef Engemann, Zur Verbreitung magischer Übelabwehr in der nichtchristlichen und christlichen Spätantike, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 18, 1985, S. 22–48.
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durchaus fähig war, die notwendige Regimentsqualität selbst bei einem minderjährigen Reichsoberhaupt zu gewährleisten. Sollte Ambrosius tatsächlich eine solche Motivation für die Erfindung des ‚Reichsnagels‘ gehabt haben, wäre das sehr aussagekräftig in Bezug darauf, wie seine Zeitgenossen die Staatsordnung wahrgenommen haben. In der allgemeinen Vorstellung erschien die Regierung offenbar nicht institutionell, sondern personifiziert und das Reich wurde eher als die Erweiterung der Persönlichkeit des Reichsoberhauptes verstanden. Die Aufgabe Ambrosius’ bestand aber gerade darin, dieses Bild nach Möglichkeit zu depersonalisieren. Heute – wie auch schon etwa in der Frühen Neuzeit – hätte man für den gleichen Zweck wohl am einfachsten auf das System der staatlichen Institutionen hinweisen können, das selbst dann noch imstande ist, für das bonum publicum durchaus erfolgreich zu sorgen, wenn das Staatsoberhaupt völlig regierungsunfähig wäre. Die Tatsache, dass Ambrosius in seiner Rede nicht auf die Effizienz des Staatsapparates verweist, ist wohl als indirekter Beweis dafür zu verstehen, in welchem Zustand sich dieser Apparat zu seiner Zeit befand. Auf jeden Fall mussten Menschen niederen Standes, wie etwa Soldaten, keine besonderen Erwartungen in die Effizienz der Regierungsbürokratie gesetzt haben, sonst hätte der Redner diese Erwartungen mit entsprechenden Worten bestärkt. Die Genialität Ambrosius’ besteht aber gerade darin, dass er in der Erkenntnis der Soldatenmasse einen ganz anderen Weg zur Depersonifizierung der Macht gefunden hatte: die offensichtliche Schwäche der Herrscherpersönlichkeit wird bei ihm durch Mystifizierung seiner Machtbefugnisse, durch Herstellung einer direkten Verbindung zwischen ihm und dem Herrn des ganzen Universums ausbalanciert – und das alles nur mit Hilfe der heiligsten aller Reliquien, der des Echten Kreuzes. Allerdings musste Ambrosius seine revolutionären politisch-religiösen Konstruktionen vor dem Hintergrund vollständiger Unkenntnis seitens des großen ( vielleicht sogar des größten ) Teils seiner Zuhörer über den Tatbestand entwickeln, dass die Kreuzreliquien überhaupt gefunden worden waren: noch etwa im Jahre 430 wurde die Nachricht davon für Sulpicius Severus zur echten Sensation. Gerade angesichts dieser allgemeinen Unkenntnis war Ambrosius gezwungen, die Geschichte der ruhmreichen Entdeckung Helenas so ausführlich wie möglich zu erzählen. Er musste am Anfang beginnen und selbst den besonderen Sinn der Kreuzverehrung erklären, der offenbar vielen anfangs unklar blieb: Helena ‚betete den König, nicht fürwahr das Holz an; denn das wäre heidnischer Wahn und gottloser Aberglaube. Den vielmehr betete sie an, der am Holz gehangen …‘ 151. Der Bischof hatte also für den abschließenden Teil seiner Rede die sensationelle Nachricht wie auch die öffentliche Enthüllung des großen Staatsgeheimnisses aufgespart: die von der frommen Helena gefundenen Kreuzreliquien hatten sowohl ihren Sohn Konstantin als auch seine Nachfolger auf dem römischen Thron zum Christentum bekehrt. Es waren also diese Kreuzreliquien, die zur Entstehung des christlichen Kaiserreiches geführt hatten. Und dieselben Reliquien ‚regierten die Welt‘ auch jetzt, selbst wenn sich das kaiserliche Zepter in der Hand eines Kindes befand. Jeder even151
[ … ] regem adoravit, non lignum utique, quia hic gentilis est error et vanitas impiorum, sed adoravit illum, qui pependit in ligno [ … ] – 46.
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tuelle Versuch, die Kontinuität der Reliquienübergabe von Konstantin zu Theodosius und jetzt zu Honorius zu unterbrechen, hätte bedeutet, die ganze Existenz des christlichen Reiches in Frage zu stellen. Ambrosius ruft hier nicht Honorius dazu auf, seine Treue zum Christentum zu bewahren, wie es immer wieder in der Fachliteratur behauptet wird. ( Nach dem Sieg über Eugenius, welcher von der Propaganda als Gönner des Heidentums gebrandmarkt wurde, wäre der Übergang Honorius’ zur völlig unvorstellbar ). Ambrosius schüchterte hier die christlichen Soldaten ein ( und zwar nicht nur die Anhänger der offiziellen Nicäaner Orthodoxie, sondern auch gleichermaßen die wohl in großer Zahl anwesenden ) mit der Möglichkeit einer Rückkehr der heidnischen Kaiser und vielleicht der Wiederaufnahme der Christenverfolgung für den Falle, dass das Heer seine von ihm erwartete Unterstützung für den jungen Honorius selbst mit Besitz seiner heiligen Reliquien verweigere. Im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung kann ich auch die folgenden Passagen Ambrosius’ nicht als didaktisch betrachten: ‚Doch ich frage: Warum steht auf dem Zaume, wenn nicht um dem Übermut der Kaiser einen Zügel anzulegen? Um die Ungebundenheit der Tyrannen zu bändigen, die sonst wie lüstern wiehernde Hengste sich gebärden würden, weil es ihnen freistünde, ungestraft Ehebruch zu treiben 152? Was für Schandtaten sind uns von Männern wie Nero, wie Caligula und von anderen bekannt, denen kein auf dem Zaume stand? Was anders bezweckte Helena mit ihrem Bemühen um die Führung der Zügel, als gleichsam kraft des Heiligen Geistes allen Herrschern zuzurufen: „Seid nicht wie Pferd und Maultier!“ ( Ps 31, 9 ); ihre Backen vielmehr in Zaum und Zügel zu legen, falls sie sich nicht zu dem Zweck als Könige fühlten, um ihre Untertanen zu leiten?‘ 153.
Welcher politische Sinn bestünde darin, öffentlich dem zehnjährigen Honorius solche abstrakten Belehrungen zu geben? In der Tat belehrt der Redner hier den augusteischen Knaben gar nicht: er wendet sich an das Heer mit dem Versprechen: der neue Kaiser wird unter keinen Umständen zu einem neuen Nero oder Caligula ( die auch im jungen Alter an die Macht gelangten ), er wird also nicht zum Tyrann und zwar gerade deswegen, weil er im Besitz der heiligen Reliquien ist und sie ihn vor einer Entwicklung in dieser Richtung absichern. Man hat also keinen Grund, bei der Komposition der Trauerrede von einer Inkongruenz zu sprechen: alle ihre Teile folgen einander durchaus logisch, wobei der gesamte Text völlig dem Hauptziel untergeordnet ist. Dieses Ziel besteht allerdings nicht etwa in einer akademischen Auslegung der politisch-theologischen Theorien Ambrosius’ und nicht in der öffentlichen Belehrung des jungen Kaisers, sondern einfach darin, das mächtige Heer auf die Seite Honorius’ zu bringen. Der Bischof fängt mit einigen zivilrechtlichen Argumenten an und erhebt sich schließlich mit Hilfe der Passionsreliquien zu Argumenten des Glaubens und des Wunders. Ambrosius wählte schon vorher den alttestamentarischen Propheten Nathan zu seinem Vorbild. Aber das Letzte, 152 153
Über die Geschichte der Metapher s.: Villari ( wie Anm. 102 ). Sed quaero: Quare sanctum super frenum, nisi ut imperatorum insolentiam refrenaret, conprimeret licentiam tyrannorum, qui quasi equi in libidines adhinnirent, quod liceret illis adulteria inpune committere? Quae Neronum, quae Caligularum ceterorumque probra conperimus, quibus non fuit sanctum super frenum! Quid ergo aliud egit Helenae operatio, ut frena dirigeret, nisi ut omnibus imperatoribus sancto dicere spiritu videretur: Nolite fieri sicut equus et mulus, sed in freno et camo maxillas eorum constringeret, qui se non agnoscerent reges, ut regerent sibi subditos? – 50 f.
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was Nathan ausführte, war die Übergabe des Königreiches vom sterbenden David an Salomo, obwohl Adonia schon in Begriff war, die Macht an sich zu reißen 154. Die ganze lange Geschichte von der Auffindung des Echten Kreuzes war notwendig, um den unkundigen Zuhörern zu erklären, welchen Ursprung die heiligen Reliquien hatten, die Ambrosius feierlich seinem Publikum präsentierte. Die Reliquien waren aber nötig, um das Recht ihres jungen Besitzers auf Kaiserwürde und Macht in der westlichen Hälfte des Reiches unbestreitbar zu machen. Es kann also keine Rede von einem erst nachträglich in den Text der Trauerrede eingefügten selbstständigen Fragment mit der Helenalegende sein. Daraus ergibt sich aber noch nicht, dass Ambrosius seine Rede überhaupt nicht nachgearbeitet hätte. Man kann wohl doch auf mindestens eine Spur späterer redaktioneller Arbeit hinweisen. Es handelt sich allerdings nur um eine vorsichtige Korrektur, was die Hoffnung ermöglicht, dass Ambrosius auch in anderen Fällen seinen ursprünglichen Text auch eher schonend für die Veröffentlichung nachbesserte. Seine Korrektur besteht meiner Meinung nach im Hinzufügen der letzten beiden Sätze in die Passage über die Juden, welche durch das Auffinden des heiligen Kreuzes in außerordentliche Verstimmung kamen 155. Nach all ihren Klagen, die mit den Worten ‚wie werden wir den Königen widerstehen? Vor dem Eisen seiner Füße beugen sich die Könige‘ zu Ende kommen, erscheinen plötzlich zwei Thesen, die in einem ganz anderen Stil gehalten sind: ‚Die Könige beten ihn an, und die Photinianer wollen seine Gottheit leugnen! Den Nagel seines Kreuzes tragen die Kaiser an ihrem Diadem, und die Arianer wollen seine Macht schmälern!‘ 156 Die Juden demonstrieren hier nicht nur verblüffende Kenntnisse der konkurrierenden Strömungen im Christentum, sie ironisieren noch über jene, die von den Nicäanischen Dogmen abwichen. Der Mangel an Logik vom heutigen Standpunkt aus gesehen bedeutet bei weitem noch nicht, dass Ambrosius eine eigene Logik fehlte. Diese ist jedoch leicht zu erraten: das Auffinden der Kreuzreliquien bedeutete eine Beschämung der Gegner des wahren Glaubens, zu welchen sowohl Juden als auch alle Arten von antinicäanischen Ketzern gezählt werden müssen. Ambrosius konnte aber am Sarg von Theodosius diese zwei kurzen Sätze zur Verurteilung der Ketzer selbst aus dem Mund von Juden in der Tat nicht laut aussprechen – schon deswegen nicht, weil unter seinen Zuhörern gerade diejenigen in großer Zahl anwesend waren, die er als Arianer brandmarkte. Zu ihnen gehörte bekanntlich auch der Regent Stilicho und die Beziehungen zu ihm zu verderben, gehörte keinesfalls zu den ureigenen Interessen des Bischofs. Ambrosius war zu dieser Zeit schon allgemein als militanter Gegner aller theologischen Auslegungen bekannt, die im Widerspruch mit den Nicäanischen Auslegungen standen. Diese seine Einstellung benötigte von ihm 154 155
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1 Kön 1, 5–53. Das antijüdische Motiv wurde wohl bald nach der Regierung Julians Apostata ( 361–363 ) in den Stoff der Helenalegende aufgenommen, der eine judenfreundliche Politik führte und sogar Schritte zum Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels unternahm. Heid ( wie Anm. 43 ) S. 69. Quomodo regibus resistemus? Ferro pedum eius reges inclinantur. Reges adorant, et Photiniani divinitatem eius negant! Clavum crucis eius diademate suo praeferunt imperatores, et Arriani potestatem eius inminuunt! – 49. In seiner Edition versuchte Faller, die Unlogik dieser Stelle mit Hilfe der Interpunktion zu überwinden: er setzte die die Lamentationen der Juden abschließenden Anführungszeichen zu früh: schon nach dem Satz über die Könige, die sich vor dem Eisen der Füße Christi neigen. Der Kritik an Juden und Häretiker wird praktisch die zentrale Stelle in der ganzen Rede zugeschrieben in: Heinen ( wie Anm. 40 ) S. 91–93.
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kein weiteres öffentliches Bekennen. Es wäre aber äußerst unangebracht, interkonfessionelle Auseinandersetzungen zumal in so aggressiver Form gerade in dem gefährlichen Moment zu schüren, als die Macht des verstorbenen Theodosius nach Möglichkeit reibungslos an seine schwachen Söhne Arcadius und Honorius übergeben werden sollte. Unter den Zuhörern des Bischofs mussten auf einer Seite viele Mailändische Geistliche und Bürger gewesen sein (die meisten waren Anhänger der Nicäaner), auf der anderen Seite waren aber viele antinicäisch Gesinnte unter den Soldaten, deren Wohlwollen unter den aktuellen Umständen von vorrangigem Wert war. Die Instrumentalisierung der Kreuzreliquien, die für die beiden streitenden Richtungen im Christentum gleichermaßen von außerordentlicher Relevanz waren, musste als Ziel nicht die Spaltung gehabt haben, sondern im Gegenteil die Vereinigung aller Anwesenden um die Person des zehnjährigen Sohnes von Theodosius, unabhängig von ihrer Konfession. Etwas später, als der riskante Moment des Machtübergangs vorbei war und die Regierung Honorius’ und Stilichos sich schon sicher fühlte, konnte es sich Ambrosius (der sich inzwischen faktisch von den Hofangelegenheiten distanziert hatte) erlauben, einen kleinen antiketzerischen Strich rückwirkend in den Text seiner Rede einzufügen. IX. DAS
Wie radikal die Neuerung im Bereich des politischen Symbolismus war, die Ambrosius 395 wagte, lässt sich erst richtig einschätzen, wenn man berücksichtigt, dass ( soweit bekannt ) weder römische Kaiser noch barbarische Häuptlinge sich mit irgendwelchen Kränzen schmückten und ganz besonders nicht mit solchen, die Amulette enthielten, sei es heidnischer oder christlicher Art 157. Es ist hier natürlich nicht der richtige Platz, die spätrömische Praxis ausführlich zu schildern, wie Kränze oder auch Diademe im Allgemeinen und etwa im Besonderen Verwendung fanden, zumal diese Praxis recht vielfältig war. Kränze wurden zwar ständig in Heirats- wie auch Begräbnis- und Gedenkriten benutzt, sie galten aber zugleich als Symbole des Sieges 158. Gerade in dieser letzten Deutung wurde der Kranz in die frühchristliche Rhetorik und Ikonographie übernommen, die später auch maßgeblichen Einfluss auf die Symbolik der mittelalterlichen Kronen ausübte. Vom Königskranz als Zeichen des Triumphes über die Feinde redeten sowohl Hinkmar von Reims 159 als auch Krönungsordnungen aus der spät- und postkarolingischen Zeit. Beim ganzen Reichtum an Sinndeutungen und Assoziationen, die von Zeitgenossen Cäsars, Konstantins oder Theodosius in Diademen und anderen Kränzen bewusst oder unbewusst wahrgenommen wurden, musste für sie jede der Besonderheiten dieser Insignien keine spezifische symbolische Relevanz gehabt haben.
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S. die inzwischen schon etwas veraltete Studie: Eduard Eichmann, Die Kaiserkrönung im Abendland. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 2 Bde., Würzburg 1942, hier 2, S. 57–82, wie auch die neuen Überblicke: Helmut Castritius, Art., , in: RGA 17, 2001, S. 381–384; Matthias Hardt, Art.; , in: ebd., S. 389–392; Ders., Art., , in: ebd., 14, 1999, S. 457–466. Karl Baus, Der Kranz in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung Tertullians, Diss., Bonn 1940. Eichmann ( wie Anm. 157 ) 2, S. 58.
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Für die allgemeine Einstellung der Römer den Kränzen gegenüber, mit denen man ihre Kaiser zu krönen pflegte, ist wohl die Stelle bei Ammianus Marcellinus aussagekräftig, wo er die Kaisererhebung Julians Apostata 360 beschreibt. Seine Soldaten stellten ihn auf einen Schild, hoben ihn in die Höhe und riefen ihn zum Kaiser aus. Dann forderte man ihn auf, sich ein Diadem bringen zu lassen. ‚Auf seine Versicherung, ein solches nie gehabt zu haben, begehrte man etwas von dem Halsoder Kopfschmuck seiner Gemahlin. Dagegen wendete er ein, die Anwendung von Weiberputz möchte nicht die beste Vorbedeutung für einen Regenten sein und so sah man sich nach einem Pferdeschmuck um: gekrönt sollte er einmal sein, um dadurch eine, wenn auch unvollkommene Vorstellung von seiner höheren Würde auszudrücken. Allein auch dieses verwarf er als unanständig und so nahm sich endlich ein gewisser Maurus ein Herz und legte den Torques, den er als Fahnenträger am Hals trug, dem Julian aufs Haupt.‘ 160
Nicht nur weiblicher Schmuck, sondern auch phalerae für Pferde konnten demzufolge ohne Weiteres in kaiserliche Kränze umfunktioniert werden – und das wohl nicht allein aus jenem Grund, dass das Heer Julians zum größten Teil aus Germanen bestanden haben muss. Selbst wenn seine Legionäre keine große Kenner der Reichssymbolik waren, erschien die begeisterte Improvisation des Fahnenträgers Maurus so gut für sie passend, dass die Krönung des neuen Kaisers mit einem Torques bald zur festen römischen und später byzantinischen Tradition wurde. Römische Münzen erlauben uns auch nicht, Kränze festzustellen, welche einen besonderen symbolischen Wert für ihre Besitzer gehabt haben konnten: ein und derselbe Herrscher konnte sich in ganz verschiedenen – sowohl tatsächlich existierenden, wie auch imaginierten – Kränzen darstellen lassen, wobei man heute kaum irgendein System darin erkennt, warum diese oder jene Kranzesform unter Umständen bevorzugt oder vernachlässigt wird. Das goldene Diadem geschmückt mit Juwelen scheint erst von Konstantin zum o f f i z i e l l e n Attribut der Kaisermacht erhoben worden zu sein 161. Aber selbst er entschied schließlich – wenn man seinen Darstellungen auf Münzen glaubt –, vom königlichen Diadem zum goldenen Kranz – dem Attribut nicht eines Königs, sondern eines Triumphators – zurückzukehren 162. Die Nachfolger Kon160
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[…] iubebatur diadema proferre, negansque umquam habuisse, uxoris colli vel capitis poscebatur. Eoque adfirmante primis auspiciis non congruere aptari muliebri mundo, equi phalerae quaerebantur, uti coronatus speciem saltem obscuram superioris praetenderet potestatis sed cum id quoque turpe esse adseveraret, Maurus nomine quidam […] abstractum sibi torquem, quo ut draconarius utebatur, capiti Iuliani inposuit confidenter. – Ammianus Marcellinus, Res Gestae a fine Corneli Taciti. XX, 4, 17–18. Deutsche Übersetzung nach: Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte, übersetzt von Ludwig Troß und Carl Büchele, Stuttgart 1853, S. 329 f. mit einigen Korrekturen. Richard Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts von Constantinus Magnus bis zum Ende des Westreiches ( Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 8 ) Berlin – Leipzig 1933, S. 56–62; Andreas Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, Darmstadt 1970, S. 158 f. Über die Geschichte der königlichen Kopfbinde s. vor allem: Hans-Werner Ritter, Diadem und Königsherrschaft. Untersuchungen zu Zeremonien und Rechtsgrundlagen des Herrschaftsantritts bei den Persern, bei Alexander dem Großen und im Hellenismus (Vestigia 7) München – Berlin 1965. Gegen die vorherrschende Meinung Ritters nach dem persischen Ursprung des Diadems tritt Andreas Alföldi mit der Behauptung hervor, es habe genuin hellenische Wurzeln und war „als agonistisches Kennzeichen der Hervorragendesten“ zuerst eine Siegerbinde: Andreas Alföldi, Zur Geschichte der Herrscherbinde in Griechenland und Rom, in: Ders., Caesar in 44 v. Chr., 1: Studien zu Caesars Monarchie und ihren Wurzeln, aus dem Nachlaß hg. von Hartmut Wolff, Elisabeth Alföldi-Rosenbaum und Gerd Stum (Antiquitas 3, 16) Bonn 1985, S. 105–132. Die Gegenargumente Ritters s. in: Hans-Werner Ritter, Die Bedeutung des Diadems, in: Historia 36, 1987, S. 290–301. Weiter s. vor allem: Nikolaus Gussone –
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stantins pflegten allerdings gern Diademe verschiedener Art zu benutzen, und das diadema gemmis insignitum, von dem Ambrosius spricht und welches er – wie ich vermute – dem Publikum auf dem Haupt Honorius’ zeigte, muss demselben Typ Kopfschmuck angehört haben. Wie konnte nun diese – in der europäischen Geschichte erste – Heilige Krone ausgesehen haben – also das , das Ambrosius entweder tatsächlich vorfand oder mit neuen symbolischen Deutungen bereicherte oder aber vielleicht sogar selbst neu herstellen ließ? Schmiedete man aus dem heiligen Eisen ( vielleicht unter Hinzufügung ganz üblichen Metalls ) einen dünnen Reifen, in welchen Juwelen eingefasst wurden? Oder war das Diadem selbst aus Gold, wobei seine Einzelglieder an der Innenseite mit einem eisernen Reifen zusammengehalten wurden ( eine inzwischen schon alte Vermutung, die aber zuletzt etwa von Marta Sordi wieder geäußert wurde ) 163? Das Aussehen des typischen Kopfschmucks der römischen Herrscher um 400 wird am besten auf den Münzen von Konstantin, Theodosius, Honorius und anderer Kaiser dieser Zeit vermittelt ( Abb. 9 ). Man trug damals immer noch um den Kopf gebundene Diademe, wobei deren Glieder weitgehende Beweglichkeit beibehielten, weil jedes von ihnen entweder auf einem Stoffband befestigt oder mit anderen Gliedern durch Scharniere verbunden wurde. Kronen in Form eines geschlossenen Reifens aus Edelmetall sind zwar gerade aus den letzten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts vereinzelt bekannt, stellten dann aber eine auffallende Neuerung dar 164. Deswegen wäre es alles andere als überzeugend, einen Kranz in dieser damals höchst modernen Gestalt für eine Insignie aus der Zeit Helenas und Konstantins auszugeben. Gegen die Krone scheint aber auch die Wendung Ambrosius’ Helena diadema intexuit zu sprechen. Das Verb integere bedeutet , wobei Wörterbücher m. W. keine wesentliche Abweichungen von dieser Auslegung bieten. Daher musste Ambrosius sich die Technologie Helenas also eher so vorgestellt haben, dass die Augusta den Nagel auf eine bestimmte Grundlage ( etwa Purpurstoff oder eher eine goldene Platte ) als Schmuck , aber nicht in ein tragendes Element einer Konstruktion ( ein innerer oder äußerer Ring ) umgestalten ließ. Wie also konnte man den Heiligen Nagel mit einem Diadem dieser Form vereinigt haben? Steckte man etwa den alten verrosteten krummen Nagel einfach von oben nach unten in das Zentralglied des Diadems? Das hätte bestimmt sehr seltsam ausgesehen. Josef Engemann vermutete, man konnte dem Nagel die Form eines Kreuzes geben und ihn auf jeden Fall auf die obere Randkante des Diadems aufsetzen 165. Einer
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Heiko Steuer – Heinrich Beck, Art., , in: RGA 5, 1984, S. 351–376, mit weiterführenden bibliographischen Angaben. In Zusammenhang mit unserem Thema s. dort vor allem den Abschnitt über Diademe Konstantins und seiner Nachfolger (S. 359–363). Man erwartet das Erscheinen eines Sammelbandes mit wichtigen Beiträgen, welche während der Tagung unter der Leitung von Achim Lichtenberger und Dieter Salzmann im Januar 2009 in Münster präsentiert wurden. „ … con cerchio de ferro all’interno.“ – Sordi, La tradizione ( wie Anm. 50 ) S. 8. Ausführlich dazu: Klaus Wessel – Elisabeth Piltz – Corina Nicolescu, Art., , in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst 3, 1978, Sp. 369–498, hier Sp. 373–379. Als erste Belege der Reifenkronen werden Skulpturdarstellungen von Valentinian II. ( 375–392 ) und seinem Nachfolger, dem <Usurpator> Eugenius ( 392–394 ), angeführt: Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 161 ) Tafel 92 f., 112–115. Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 144.
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anderen Idee von ihm zufolge kann der Nagel von Golgatha für die Ursache der auffälligen späteren Transformation des sogenannten Trifoliums gehalten werden 166. Als Trifolium ( Dreiblatt ) wird in der Numismatik eine spezifische Verzierung des oberen Randes kaiserlicher Kränze bezeichnet, die normalerweise aus drei länglichen Vorsprüngen nach oben bestand, welche in der Literatur gewöhnlich als <schmale Blätter> oder interpretiert wurde 167. Die Trifolien sahen verschieden aus, blieben aber bei all ihren Modifikationen immer leicht erkennbar 168. Sie erschienen zuerst noch auf Diademen Konstantins, um dann im Laufe der Jahrhunderte – fast bis zum Ende des Mittelalters – nicht mehr ganz von Kronen zu verschwinden 169. Ulrike Koenen machte den Versuch, auf der Grundlage umfassenden ikonographischen Materials die beiden Hypothesen Engemanns zu bestätigen. Man muss ihr wie auch Engemann vielleicht Recht in dem Verdacht geben, dass das erstaunlich stabile Trifolium-Motiv nicht ein bloß dekoratives Element gewesen war, sondern einen bestimmten symbolischen Sinn gehabt haben muss. Aber auf der Suche nach dem <eigenen Sinn des Trifoliums> ließen sich die beiden Historiker von einer riskanten Idee locken. Sie erkannten in der spezifischen Form, die die der Trifolien seit der Mitte des 5. Jahrhundert gelegentlich annahmen, eine visuelle Ähnlichkeit mit Nägeln. Aus dieser Beobachtung entstand eine kühne Theorie: seit dieser Zeit habe man angefangen, die alte Trifoliumverzierung als eine Art Erinnerung an den Nagel von Golgatha neu zu interpretieren, den die Mutter Konstantins im Kaiserkranz hatte einschließen lassen. Diese Umdeutung des schon traditionell gewordenen Motivs sei Folge direkter Wirkung der Trauerrede Ambrosius’ gewesen 170. Das Trifolium in der spezifischen sei allerdings nur in solchen Fällen dargestellt worden, wenn man den Kaiser als Heerführer präsentieren wollte. Dann habe der Golgatha-
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Ebd., S. 145; Josef Engemann, Der -Gestus – ein antiker und frühchristlicher Abwehr- und Spottgestus?, in: Ernst Dassmann – Karl Suso Frank ( Hgg. ), Pietas. Festschrift für Bernhard Kötting ( Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 8 ) Münster 1980, S. 483–498, hier S. 486. Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 161 ) S. 59; Josef Deér, Der Ursprung der Kaiserkrone, in: Ders., Byzanz und das abendländische Herrschertum. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Peter Classen ( Vorträge und Forschungen 21 ) Sigmaringen 1977, S. 11–41, hier S. 15, 38; Philipp Lederer, Beiträge zur römischen Münzkunde V.: Kaiserbildnisse mit Kreuzdiadem, in: Deutsche Münzblätter 54, 1934, Nr. 384, S. 213–220, 242–245, 267–270, hier S. 220. Ich bedanke mich bei Frank Rexroth und Lars Franke ( beide Göttingen ) sehr für Zusendung der Kopie dieses seltenen Drucks. Die Anzahl solcher Vorsprünge ( oder ) konnte von einem bis zu fünf variieren, aber im 5. Jahrhundert wurde die Dreizahl zur Regel: Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 146. Für Historiker des abendländischen Mittelalters könnte das Trifolium als mögliche Urquelle der künftigen wie auch vielleicht der heraldischen Lilie vom besonderen Interesse erscheinen. S. in diesem Zusammenhang z. B.: Hans Peter L’Orange, L’originaria decorazione del Tempietto Cividalese, in: Ders., Likeness and Icon. Selected Studies in Classical and Early Medieval Art, Odense 1973, S. 218–242, hier S. 235–238. Es scheint allerdings, dass die Möglichkeit einer morphologischen Verbindung zwischen all diesen Figuren bisher noch von niemandem ernsthaft diskutiert, geschweige denn bewiesen wurde. Die Vermutung, das Trifolium symbolisiere Strahlenbündel des von Konstantinus so beliebten Sonnengottes Sol invictus, s. in: Marcell Restle, Kunst und byzantinische Münzprägung von Justinian I. bis zum Bilderstreit ( Texte und Forschungen zur byzantinisch-neugriechischen Philologie 47 ) Athen 1964, S. 136 f. Schwerwiegende Einwände gegen diese Meinung sind formuliert in: Wessel – Piltz – Nicolescu ( wie Anm. 164 ) Sp. 380 wie auch natürlich in: Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 147. Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 146; Koenen ( wie Anm. 96 ) passim.
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Nagel ( genauer gesagt seine dreimalige symbolische Darstellung in Form des Trifoliums ) wieder in seiner uralten Funktion als Amulett in der Schlacht gedient. Es fehlt dieser Theorie in meinen Augen leider jede nachvollziehbare Begründung, sie braucht aber hier nicht kritisiert zu werden, weil sie bestenfalls allein spätere eventuelle <Erinnerungen> an das betreffen kann, aber nicht das Diadem, welches das Haupt Honorius’ am Tag der Trauerfeiern für Kaiser Theodosius zierte. Unabhängig davon, ob das von einem ( noch durchaus <normalen> und nicht ) Trifolium geschmückt wurde oder nicht, konnte der kaum vor den Blicken der Anwesenden etwa in einem Reliquiar versteckt bleiben, weil diese Reliquie laut Ambrosius Kaiser in die ‚Verkünder des neuen Glaubens‘ verwandelte. Diese musste dann darin bestehen, dass jeder den Kreuzesnagel direkt sehen, seine Bedeutung begreifen und seine Auswirkung auf sich fühlen konnte. Allerdings kann man sich kaum vorstellen, dass der alte Nagel einfach ins Diadem gesteckt und über dem Haupt des Kaisers emporgehoben wurde. Es wäre dagegen nur naturgemäß, einem Nagel, der bestimmt war, auf das Diadem ‚aufgelegt‘ zu werden, genau so eine neue Form zu geben 171, wie der erste Nagel zur ‚Verzierung‘ des Pferdezaumes angepasst werden musste. Denn der symbolische Wert der Nägel bestand nicht in ihrer ursprünglichen pragmatischen Funktion, die in ihrer äußerlichen Form zum Ausdruck kam, sondern darin, dass sie Teile des Kreuzes Christi waren, weil das <Eisen> – so Ambrosius – in diesem Sinn mit dem identisch war. Dann den Nagel etwa in ein Kreuz umschmieden zu lassen, würde keinesfalls bedeuten, die Reliquie zu schädigen; im Gegenteil ermöglichte das, den echten Sinn dieses Gegenstandes besser an das Tageslicht zu bringen. Nicht weniger naturgemäß wäre aber vielleicht eine ähnliche, dafür etwas andere Lösung, auf die sich in der Rede Ambrosius’ selbst wohl eine kleine Andeutung erkennen lässt. Er vergleicht den <Edelstein> des Nagels mit den übrigen Steinen des Diadems, wobei der erste natürlich unvergleichbar wertvoller erscheint 172. Wenn man bereit ist, auch in diesem Vergleich etwas mehr als bloß eine Metapher zu sehen, dann entsteht natürlich die Vermutung, der Nagel wurde in einen eisernen <Stein> umgeschmiedet, wodurch ihm eine Form gegeben wurde, in welcher er bequem dem Diadem werden konnte. In welches Glied man den Nagel-Stein einmontiert hätte, darüber gibt es keine Zweifel: sein Platz konnte nur dort gewesen sein, wo man schon seit der Zeit Diokletians das wichtigste, größte und schönste Juwel des Kranzes hineinzusetzen pflegte 173. Ambrosius äußert sich selbst hier unzweideutig: der Nagel ‚schmückte die Stirn des Herrschers‘ – vestit principum frontem. Als Valeriana Maspero sich darum bemühte, Geschichte und Aussehen des Diadems nachzuvollziehen, welches Ambrosius „mit eigenen Augen beim Begräbnis von Theodosius sah“, erlaubte sie sich eine große Menge äußerst zweifelhafter Annahmen.
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Ulrike Koenen geht allerdings davon aus, dass der Nagel auch nach seinem Einfügen in das Kaiserdiadem seine ursprüngliche Form beibehalten haben muss: Koenen ( wie Anm. 96 ) S. 182. Sie folgt hier Engemann, der die besondere Effizienz spitzer Gegenstände als apotropäische Symbole stark betonte: Josef Engemann, Zur Verbreitung ( wie Anm. 150 ); Ders., Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 143. [ … ] diadema gemmis insignitum, quas pretiosior ferro innexa crucis redemptionis divinae gemma conecteret [ … ] Ó 47. Koenen ( wie Anm. 96 ) S. 178.
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In einem Punkt allerdings kann man ihre Meinung keinesfalls bestreiten: sie setzt die Reliquie auch ins Zentralglied des Diadems. Allerdings glaubt Maspero aus unklaren Gründen, dass Helena darin einen großen und wertvollen Stein von hellblauer Farbe einsetzen ließ, „in welchem ein Teilchen des Kreuzh o l z e s [ ? ] eingeschlossen war, wie der Heilige Ambrosius schrieb [ ?? ].“ 174 Aus den Nägeln aber schmiedete man – Maspero zufolge – zwei Bögen, die sich über das Diadem erhoben, damit man es besser am Kampfhelm befestigen konnte. Es wäre m. E. wesentlich einfacher, sich die Sache so vorzustellen, dass ‚der größte und wertvollste Stein‘ des Diadems selbst nichts Anderes als der Kreuzesnagel war, welcher die Form bekam, die nicht nur geeignet war, in den Kranz eingefasst zu werden, sondern auch eine symbolische Implikationen besaß. Denn diese äußere Form konnte als visueller Ausdruck der Idee dienen, dass die Passionsreliquie selbst ein Edelstein, und zwar der allerwertvollste sei. Der ikonographische Befund hätte natürlich helfen können, sich die Innovation Ambrosius’ besser visuell vorstellen zu können, er ist aber leider äußerst bescheiden. Nicht ohne Grund hält Sabine MacCormack die Regierung Honorius’ für den Tiefpunkt in der Krise der spätrömischen kaiserlichen Ikonographie, als die heidnische Symbolik schon völlig veraltet, die christliche dagegen aber noch nicht entwickelt war 175. Eine solche einfache Gegenüberstellung von und erscheint mir allerdings problematisch: die erste ist nämlich allmählich in die zweite übergegangen ( was auch am Beispiel der des kaiserlichen Kranzes in der Rede Ambrosius’ zu sehen ist ). Die Forscherin hat allerdings wohl darin Recht, dass die Darstellung Honorius’ auf dem Probus-Diptychon 176 406 zur Erforschung der Herrschaftszeichen tatsächlich weniger hergibt, als zu wünschen wäre ( Abb. 10 ). Auf dem Diptychon ist allerdings sowohl das Diadem gut zu sehen, wie auch speziell der große Zentralstein in der Rautenform ( über welchem sich übrigens ein Trifolium erhebt ) 177 ( Abb. 11 ). Der Künstler hinterließ uns aber keinen Ansatzpunkt für irgend eine Annahme, dass dieser <Stein> aus dem Nagel von Golgatha hergestellt sei oder für einen solchen gehalten werden konnte. Die erhaltenen Darstellungen des Kaisers Honorius auf Münzen bieten auch keinen Hinweis auf die Art und Weise, wie die Passionsreliquie eventuell an dem Material für die Bekrönung befestigt worden sein konnte. Seine Diademe, die meistens aus zwei Perlenschnüren mit einem großen Stein über der Stirn bestanden, weisen allein eine, für uns kaum relevante, Besonderheit auf, die bereits von Richard Delbrueck bemerkt 174
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„Esso [ das Diadem – M.B. ] era dotato da una piastra centrale che probabilmente portava una gemma più preziosa di tutte perché contenente un frammento del legno della croce, come aveva scritto sant’Ambrogio, che l’aveva visto con i suoi occhi al funerale di Teodosio“. – Valeriana Maspero, Alla ricerca del Sacro Chiodo: la ricostruzione dell’elmo diademato di Costantino, in: Arte Cristiana 92, 2004, No. 823, S. 299–310, hier S. 308. Vgl.: Dies., La corona ferrea. La storia del più antico e celebre simbolo del potere in Europa, Monza 2003, S. 18. Sabine G. MacCormack, Art and Ceremony in Late Antiquity ( The Transformation of Classical Heritage 1 ) Berkeley – Los Angeles – London 1981, S. 257, 259 und passim. Heute in der Sakristei der Kathedrale von Aosta. Wird üblicherweise für das älteste überlieferte Konsulardiptychon gehalten. Ohne jede Begründung bleibt die Annahme Deérs, es sei hier schon eine Krone mit dem steifen Kronreif und nicht mehr das biegsame Diadem mit Bindeschnüren dargestellt: Deér ( wie Anm. 167 ) S. 30, auch Anm. 105. Die Meinung, das Trifolium auf dem Probus-Diptychon sei überhaupt das früheste z. Zt. bekannte, wird geäußert in: Wessel – Piltz – Nicolescu ( wie Anm. 164 ) Sp. 380 f.
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wurde: sie haben aus ungeklärten Gründen eine Gestalt, welche Kaiser des östlichen Reichsteiles bevorzugten, wohingegen westliche Herrscher normalerweise nicht Diademe in Form von Perlenschnüren, sondern eines Kranzes klassischer Form trugen 178. Umso eindrucksvoller erscheint vor diesem kargen Hintergrund eine berühmte Kamee, die im Mittelalter vielleicht in der Palastkirche der Heiligen Sergius und Bacchus in Konstantinopel aufbewahrt worden sein dürfte 179. Seit 1889 befindet sie sich in der Kunstsammlung der Familie Rothschild. Auf dem Cameo – einer Rundscheibe aus zweischichtigem Onyx mit einem Durchmesser von ca. 16 cm – sieht man Brustbilder eines jungen Kaiserpaars dargestellt ( Abb. 12 ). Sachkenner waren schon immer damit einverstanden, dass die Kamee anlässlich einer Hochzeit in der regierenden Familie geschnitten worden sein muss, mit der Identifizierung der dargestellten Personen gab es aber Schwierigkeiten. Zuerst erkannte man in dem kaiserlichen Paar Justinian und Theodora 180, dann aber Theodosius und Aelia Flacilla. Nach einer Publikation des bekannten Kunsthistorikers Salomon Reinachs im Jahr 1926 ( der die Gesichter der Kaiser auf Rothschild-Kamee und Probus-Diptychon verglich ) wurde allgemein anerkannt, dass es Honorius und die Tochter Stilichos, Maria, darstellt. Wenn dem so ist, muss das Bild anlässlich der Eheschließung zwischen den beiden 398, d. h. nur drei Jahre nach dem Tod Theodosius’ und der Trauerrede Ambrosius’ hergestellt worden sein. Diese Meinung wurde von Sachkennern wie Delbrueck 181 und L’Orange 182 unterstützt. Doch schlug man 1957 eine alternative Lösung vor: die Kamee zeige Constantius II. mit seiner ersten Ehefrau ( deren Name nicht überliefert ist ) 183, und die Schnitzerei müsse deswegen auf 335 datiert werden. Die Argumente des Autors dieser Datierung sind zwar ernst zu nehmen, sie wirken aber etwas subjektiv und haben auf jeden Fall nicht die notwendige Kraft, um den letzten Punkt in der Diskussion setzen zu können. Vielleicht bleibt gerade deswegen die ältere Meinung – man erkenne auf der Rothschild-Kamee Honorius und Maria – in der Fachliteratur nicht nur stehen, sondern auch nach wie vor dominierend. Jede Darstellung Honorius’ könnte für die eventuelle Rekonstruktion des natürlich von Nutzen sein, die Rothschild-Kamee ist aber dafür von ganz besonderer Relevanz – vorausge178 179
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Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 161 ) S. 64. Diese Vermutung wird anhand der mittelalterlichen Inschriften auf der Kamee gemacht, die beide dargestellten Personen als die Heiligen Sergius und Bacchus identifizierte – Ernest Babelon, Les camées antiques de la Bibliothèque Nationale ( quatrième et dernier article ), in: Gazette des beaux-arts 1, 1899, S. 101–116, hier S. 113. „Il représente, en demi ronde-bosse, les bustes de Justinien et de Théodora …“, ebd. Richard Delbrueck, Die Consulardiptychen und verwandte Denkmäler 2 ( Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 2 ) Berlin – Leipzig 1929, Nr. 66; Ders., Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 164 ) S. 206 f., Tafel 105. Hans Peter L’Orange, Studien zur Geschichte des spätantiken Porträts, Oslo 1933, S. 77. Etienne Coche de La Ferté, Le Camée Rothschild, un chef d’œuvre du IVe siècle après J-C, Paris 1957. Koenen erwähnt diese Publikation in ihrem Apparat nicht; sie verzichtet auf die Besprechung dieses Cameos überhaupt ( obwohl dieser Artefakt für ihre Überlegungen wesentliche Bedeutung hätte haben können ), sich auf einen einzigen Satz beschränkend, das Christogramm sei nicht unbedingt zur gleichen Zeit wie das Cameo selbst entstanden, man könnte es erst später eingraviert haben. – Koenen ( wie Anm. 96 ) S. 177 f. Coche de La Ferté, welcher das Cameo Rothschild selbst und nicht seine Abbildungen erforschte, bemerkte keine chronologischen Unterschiede in der Technik, in der das Christogramm eingraviert wurde. Darüber hinaus stützt sich die Begründung seiner Datierung des gesamten Kunstwerkes im Wesentlichen gerade auf die graphische Gestalt des Christogramms.
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setzt natürlich, dass sie in der Tat den jüngeren Sohn Theodosius’ und nicht einen anderen Kaiser darstellt. Der Kopf des jungen Mannes auf der Kamee ist mit einem Kranz von ungewöhnlicher Form geschmückt, den Delbrueck für einen Hochzeitskranz hielt 184 ( Abb. 13 ) Seine Vermutung ist aber wenig plausibel, schon weil erstens, die Frau keinen ähnlichen Kranz trägt und, zweitens, Hochzeitkränze normalerweise aus Blumen und Gras, aber nicht aus Lorbeer geflochten wurden. Man erkennt aber m. E. stilisierte Lorbeerblätter als Muster für die Diademglieder. Seiner Gestalt nach ähnelt dieser Kranz eher dem kaiserlichen Diadem, und zwar dem Typ, der im Westen des Reiches bevorzugt wurde ( was übrigens als ein weiteres Argument für die Identifizierung des dargestellten Herrschers als Honorius und nicht als Constantius II. dienen könnte ). Man kann natürlich nie ausschließen, dass der Künstler kein <materielles> Muster vor Augen hatte und seine Inspiration aus der eigenen Phantasie schöpfte; die Glieder der Blätter sehen aber durchaus aus, wobei man auch direkte Analogien von ihnen in anderen Kaiserbildnissen findet, etwa auf Konstantinsmünzen ( Abb. 9à ). In der Mitte des Juwelenkranzes zieht ein quadratischer, gefasster Tafelstein ( mit einem nicht gerade gewöhnlichen Trifolium oben ) größte Aufmerksamkeit auf sich. Über seine ganze Fläche ist das Christogramm Chi–Rho eingraviert ( Abb. 14 ). Die gängige Meinung lautet, dass Zeichen dieser Art – seien es Kreuze, seien es Christogramme – die Tatsache manifestierten, dass der Besitzer seine Zugehörigkeit zum Christentum öffentlich bekennt, und/oder seine persönliche Frömmigkeit betonen will 185. Philipp Lederer meinte, das Kreuz- und Christogrammzeichen bei den direkten Nachfolgern Konstantins soll gezeigt haben, dass ihre Besitzer nicht einfach dem Christentum generell, sondern speziell seiner antinicäanischen Richtung angehörten 186. Sollte diese Regel tatsächlich gegolten haben, müsste das Christogramm als Argument zugunsten der Identifikation des Kaisers auf der Kamee nicht als Honorius, sondern als Constantius II. gelten. Die Belegbasis Lederers ist aber noch zu wenig breit, um auf dieser Grundlage jede Zuweisung aufbauen zu können. Auf jeden Fall darf man gerade bei diesem Christogramm einen ganz anderen Sinn vermuten. Forscher sahen bisher in den Kreuz- oder Christogrammzeichen keine Andeutung einer besonderen Qualität jener Gegenstände, auf welchen diese Zeichen angebracht waren, und zwar vor allem nicht in Hinblick auf das mögliche Vorhandensein von Kreuzreliquien. Nun ist es natürlich nicht so, dass jedes Christogramm unbedingt diesem Zweck diente, sonst müssten wir zwangsläufig zugeben, dass in der gesamten Mittelmeerregion schon im 4. Jahrhundert Partikel des Heiligen Kreuzes breit verstreut waren – so häufig findet man dort bekanntlich das Christogrammzeichen. Es lässt sich aber wohl die Möglichkeit einer anderen Gesetzmäßigkeit vorschlagen: beim
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„Für bestimmte Gelegenheiten wurden anscheinend eigene Diademformen mit einer Sonderbedeutung geschaffen. So trägt Honorius auf dem Cameo Rothschild einen Kranz von großen, paarig angeordneten Blättern mit quadratischem Stirnjuwel, der wohl sein Hochzeitkranz ist; mit dem Lorbeerkranz hat er jedenfalls wenig Ähnlichkeit“ – Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 161 ) S. 206. Schramm ( wie Anm. 142 ) S. 383. Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 268.
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Vorhandensein einer Kreuzreliquie musste ihr Aufbewahrungsort normalerweise mit einem Christogramm oder Kreuz gekennzeichnet werden. Es kann hier ein aussagekräftiges Beispiel angeführt werden. Gregor von Nyssa berichtet über das Ableben seiner Schwester, der frommen Makrina, im Jahre 379 187. Nach ihrem Tod fand man auf ihrem Herzen an einer fein geflochtenen Schnur befestigt ein kleines Kreuz aus Eisen und einen Fingerring aus dem gleichen Material. Auf der Siegelplatte dieses Ringes war ein Kreuz eingraviert. Weitere Untersuchungen führten zu einer Entdeckung: der Ring war hohl und in der Hohlkapsel lag ein Teilchen vom Holze des Lebens verborgen. Hier folgt bei Gregor von Nyssa der für uns sehr wichtige Satz: ‚Und so bekundet das Kreuz oben darauf mit seinem Zeichen das, was darunter verborgen ist‘ 188. Könnte dieser Satz vielleicht auch für das Diadem auf der Kamee der Rothschilds gelten? Sollte das Christogramm in der Tat gleichzeitig mit dem gesamten Bild eingefügt worden sein, würde das die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Künstler nicht bloß die christliche Frömmigkeit des Kaisers kennzeichnen wollte ( fehlte sie denn der Kaiserin in solchem Ausmaß, dass sie nur ohne Christogramm dargestellt werden konnte? ), sondern in seinem Kranz die Anwesenheit einer durchaus materiellen Christusreliquie. Für diese Vermutung spricht auch die Tatsache, dass sowohl Kreuze als auch Christogramme im 4. Jahrhundert auf dem Kopfschmuck der Kaiser noch sehr selten angebracht wurden und ihr rein zufälliges Erscheinen dort höchst unwahrscheinlich war. Es ist gut bekannt, dass die ersten Zeichen den Helm Konstantins geschmückt haben: sie sind auf seinen Münzen und Medaillons in den Jahren von 315 bis 324 zu sehen 189. Helme mit Christogrammen ( gezeichnet entweder auf dem Nasenschutz oder an silbernen bzw. bronzenen , die am Helmkamm befestigt wurden ), sind seit einigen Jahrzehnten auch archäologisch gesichert; sie alle stammen allerdings erst aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts 190 ( Abb. 15 ). Diese Funde 187
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Ausführlich in: Franz Joseph Dölger, Das Anhängekreuzchen der hl. Makrina und ihr Ring mit Kreuzpartikel. Ein Beitrag zur religiösen Volkskunde des 4. Jahrhunderts nach der Vita Macrinae des Gregor von Nyssa, in: Ders., Antike und Christentum ( wie Anm. 111 ) S. 81–116. [ … ] λ « Ν# π φ/λ« ) $ &) ) ! µ :!. – Migne PG 46, Sp. 989. Der Helm Konstantins und die Frage nach einer möglichen Entstehung der Kaiserkrone des Mittelalters aus ihm wird in mehreren Studien diskutiert: Andreas Alföldi, The Helmet of Constantine with the Christian Monogram, in: Journal of Roman Studies 22, 1932, S. 9–23; Ders., Eine spätrömische Helmform und ihre Schicksale im germanisch-romanischen Mittelalter, in: Acta Archaeologica 5, 1934, S. 99–144; Deér ( wie Anm. 167 ); Percy Ernst Schramm, Die Kronen des frühen Mittelalters, in: Ders., Herrschaftszeichen ( wie Anm. 142 ) S. 377–417; Eichmann ( wie Anm. 157 ) 2, S. 57–81 ( § 3 Die Krone ); Elisabeth Piltz, Kamelaukion et mitra. Insignes Byzantines imperiaux et ecclèsiastiques, Stockholm 1977, wo die Verfasserin die Meinungen aller erwähnten Forscher völlig ablehnt ( S. 74 ff. ) und ihre eigene Theorie entwickelt, nach welcher die geschlossene Krone eine Entlehnung von den Barbaren sei. Jelle Prins, The of a Late Roman Officer. A Hoard from the Meuse Valley ( Netherlands ) with Helmet and Gold Coins, in: Bonner Jahrbücher 200, 2000, S. 309–328, besonders 309, 311, 314–316, 320 f., László Kocsis, A New Late Roman Helmet from Hetény in the Hungarian National Museum, in: Ádám Szabó – Endre Tóth ( Hgg. ), Pannonica: provincialia et archeologia ( Libelli Archaelogici N.S. 1 ) S. 521–552, besonders 531–534; Angela Donati – Giovanni Gentili ( Hgg. ), Costantino il Grande. La civiltà antica al bivio tra Occidente e Oriente, Mailand 2005, S. 235–236, Nr. 49 a–b, 50; Demandt – Engemann ( wie Anm. 116 ) S. 154 ( Nr. I.13.124 ), S. 235 ( Nr. I.13.121 ), S. 243
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gehörten ursprünglich natürlich nicht den Kaisern, sprechen aber dafür, dass Darstellungen auf den Münzen Konstantins keine reinen Phantasieprodukte der Künstler waren, sondern höchst wahrscheinlich die damals tatsächlich existierenden Helme des Herrschers als Vorbilder hatten. An dieser Stelle muss klar betont werden, dass Reliquien des Echten Kreuzes zwischen 315 und 324 selbst nach den optimistischen Einschätzungen Borgehammars noch nicht aufgefunden worden sein konnten. Daraus folgt, dass die historisch belegten Helme Konstantins im Unterscheid zum Helm aus der Legende noch keine Passionsreliquien tragen konnten und es das Christogramm alleine war, welches wohl dieselbe uns schon bekannte Funktion des <militärischen Phylakterions> erfüllt haben muss. Die Christogramm tragenden Helme Konstantins bestätigen die Legende insofern, dass man an dem uns unbekannten Kultort tatsächlich über einen Helm verfügen konnte, der ( egal ob zu Recht oder nicht ) als Helm Konstantins galt und der ein Zeichen trug, welches als Hinweis auf das Vorhandensein der Christusreliquie verstanden werden konnte, i.e. ein Christogramm. Diese Umdeutung konnte nur dann geschehen, wenn die Kreuzreliquien schon wiederentdeckt worden waren, und zwar unter direktem Einfluss der Jerusalemer Legende, die das Auffinden des Echten Kreuzes mit der Mutter Konstantins verband. Die Legende über die Umwandlung der Kreuzesnägel in Helm und Zaum spiegeln also m. E. mit großer Wahrscheinlichkeit nicht den Umgang Helenas oder Konstantins mit den neu erworbenen Passionsreliquien wieder, sondern eine Aufwertung der beiden Gegenstände, die zuerst als Teil der Memoria Konstantins hoch geschätzt, später aber schon als Kreuzesreliquien religiös verehrt wurden. Nach 324 verschwinden Christogramme von kaiserlichen Helmen auf Münzen. Es taucht aber die erste Darstellung eines Kreuzes auf dem kaiserlichen Kopfschmuck auf: man sieht sie auf einem Solidus Constantius’ II. aus dem Jahre 353 191 ( Abb. 16 ). Es wurde der Verdacht geäußert, das Kreuz sei hier zufällig in Folge eines Fehlers des Künstlers entstanden, welcher sein Muster missverstand. Solche Zwischenfälle kamen aber meistens in provinziellen Münzstätten vor, wobei jedoch der Solidus 353 in Konstantinopel geprägt wurde, was die Möglichkeit eines bloßen Versehens verringert. Der Kaiser auf der Münze trägt einen Helm mit einem Diadem darauf. Obwohl das Bild keine eindeutige Entscheidung erlaubt, ob das Kreuz ein Teil des Diadems oder des Helms war, scheint die zweite Möglichkeit wahrscheinlicher zu sein. Das Erscheinen dieses Kreuzes auf der Münze wird gelegentlich in Verbindung mit dem schon oben erwähnten Brief Kyrills von Jerusalem gebracht, in welchem er dem Kaiser von einem bedrohlichen Zeichen berichtet: ein strahlendes Kreuz erschien im Himmel – ein Ereignis, welches in seiner Vorstellung wesentlich wichtiger war als die Auffindung des hölzernen Kreuzes in Jerusalem 192. Solidi dieses Typs sind äußerst selten: selbst auf anderen Münzen derselben Serie fehlt das Kreuz auf dem Helm. Nur um der Vollständigkeit willen sollen hier die übrigen ikonographischen Denkmäler aus der Zeit um 400 genannt werden. Es geht nur um zwei plastische Darstellun-
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( Nr. I.13.122 ); Michael Mackensen, Vergoldete Bronzebeschläge mit Christogramm von spätrömischen Kammhelmen aus dem mittleren und unteren Donauraum, in: Bayerische Vorgeschichtsblätter 72, 2007, S. 355–365. Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 213, Abb. 1, Tafel 143, Nr. 1. Die Vermutung wird geäußert in: Koenen ( wie Anm. 96 ) S. 196.
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gen von Kaiserinnen mit nicht leicht erkennbaren Christogrammen auf ihren Kränzen. Die Datierung der Statuette aus dem Pariser Cabinet des Médailles bleibt problematisch, vor allem weil die Identifikation der Kaiserin schwer fällt (Abb. 17). Zuerst hat man sie für Aelia Flacilla gehalten, dann erkannte Delbrueck in ihr Helena und verlegte die Herstellungszeit auf 325–326 193, später aber kehrte L’Orange zur ersten Hypothese zurück, allerdings mit der Korrektur, dass die Statuette erst nach dem Tod der Ehefrau Theodosius’ in der Regierungszeit von Arcadius und Honorius geschaffen wurde 194. Auf dem zentralen Juwel des Diadems oder erkennt man mit Mühe ein undeutliches Relief, in welchem Delbrueck ein Christogramm erkannte. Als zweite Plastik tritt ein Bronzegewicht in Form einer Kaiserin hervor, welches in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts entstanden sein muss. Auf dem zentralen Stein des Diadems sieht man deutlich ein schräges Kreuz, das vielleicht als ein vereinfachtes Christogramm verstanden werden kann 195 ( Abb. 18 ). Die Versuchung ist groß, auch in dieser Kaiserin die heilige Helena zu erkennen, es stehen aber keine Argumente für diese Annahme zur Verfügung. Diese kurze Aufzählung zeigt deutlich, dass es in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhundert alles andere als selbstverständlich war, kaiserliche Häupter mit Christogrammen oder Kreuzen zu schmücken. Vor dem eben gewonnenen – und ausgesprochen blassen – ikonographischen Hintergrund erscheint das Christogramm auf der Kamee der Rothschilds als recht auffallende Neuerung und die Darstellung eines Kaisers im Kranz mit solchem Zeichen als politisches Manifest. Nichts Ähnliches findet man in der kaiserlichen Ikonographie bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts. Erst kurz vor 450 lässt die Kaiserin Licinia Eudoxia sich mit einem <Strahlenkranz> darstellen, in dem sich in der Mitte ein Kreuz erhebt 196 (Abb. 19). Nach der Rekonstruktion Philipp Lederers pflegte auch ihr Ehemann Valentinian III. sich ebenfalls ähnlich mit einem Kreuz darstellen zu lassen; seine Münzen sind aber nicht erhalten und nur von späteren Abzeichnungen bekannt 197. Es muss nicht notwendig gesondert bewiesen werden, dass es von dem Kranz der Rothschild-Kamee zu dem der Münze Licinia Eudoxias überhaupt keine Kontinuität gibt: ein Christogramm auf dem zentralen Stein des Diadems ist morphologisch gesehen etwas ganz Anderes als ein Kreuz, das sich über dem oberen Rand des Kranzes erhebt. Auch später findet sich keine Parallele zum Kranz auf der Kamee. Zwar erscheint das Kreuz (kein Christogramm) wieder auf dem Helm des Kaisers Anastasios I. (491–518), und zwar auf Münzen, die in seinen Namen im Ostgotenreich
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Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 164 ) Tafel 64, S. 164, Abb. 58. Hans Peter L’Orange, Der subtile Stil. Eine Kunstströmung aus der Zeit um 400 nach Christus, in: Ders., Likeness and Icon ( wie Anm. 169 ) S. 54–71, hier S. 67; Max Wegner, Frauen der Tetrarchen, des Constantinus und dessen Familie, in: Hans Peter L’Orange, Das spätantike Herrscherbild von Diokletian bis zu den Konstantin-Söhnen 284–361 n. Chr. ( Das Römische Herrscherbild, III. Abteilung ) Berlin 1984, S. 141–165, hier S. 145. Late Antique and Byzantine Art ( Victoria and Albert Museum ) London 1963, Abb. 4. Vgl.: Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 144. John P.C. Kent – Bernhard Overbeck – Armin U. Stylow, Die römische Münze, München 1973, Nr. 762v; Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 164 ) Tafel 24, Nr. 4 f.; Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 219, Tafel 143, Nr. 4. Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 218 f.; Coche de La Ferté ( wie Anm. 183 ) S. 32; Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 144.
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geprägt wurden 198, dies könnten aber wohl Nachahmungen der Solidi von Constantius II. sein (Abb. 20). Erst unter Tiberius II. Constantinus (578–582) festigte sich endlich das uns so vertraute Bild des Kreuzes, das sich über der Krone erhebt 199 (Abb. 21). Sofern das Diadem von der Rothschild-Kamee keine Parallele in der kaiserlichen Repräsentation seiner Zeit findet, wäre es vielleicht logisch, ihr Erscheinen mit ähnlich einzigartigen Umständen zu verbinden. Sicherlich wäre die Behauptung höchst unvorsichtig, der eines jungen Mannes auf der Kamee der Rothschilds sei nichts anderes als der , von dem Ambrosius von Mailand so eloquent redete; man sollte aber die Frage nach einer möglichen Verwandtschaft zwischen diesen beiden Kronen doch ernster diskutieren, sollte die Identifikation des jungen Kaisers als Honorius solider begründet werden. Die folgende These darf wohl auf der jetzigen Etappe der Forschung doch für korrekt genug gehalten werden: Alle Versuche sich vorzustellen, wie das Diadem auf dem Haupt Honorius’ am 21 Februar 395 ausgesehen hatte, können nur hypothetisch sein, ein Forscher würde allerdings etwas weniger riskieren, sollte er als Ausgangspunkt seiner Rekonstruktion den Kranz der Rothschild-Kamee nehmen, und nicht irgendeinen anderen aus derselben Zeit, von der Krone zu Monza ganz zu schweigen. X. AMBROSIUS UND RELIQUIEN
Die Verehrung von Passionsreliquien ( wie auch von Reliquien christlicher Märtyrer und anderer Heiliger ) war Ende des 4. Jahrhunderts noch nicht gewohnheitsmäßig – im Gegenteil, es war eine neue Praxis, besonders in der westlichen Hälfte des Reiches. Die erste maßgebliche Kirchenfigur im Westen, die konsequent begann, sich mit der Entdeckung von Reliquien Heiliger und ihrer Translationen zu beschäftigen, war kein anderer als Ambrosius von Mailand selbst. Erst er gab das autoritative Beispiel, welchem zuerst die Bischöfe Norditaliens, aber später auch solche in anderen Teilen des lateinischen Europa folgten. Ambrosius hatte das glückliche Talent, heilige Reliquien genau in dem Moment aufzufinden, als ein solcher Fund eine komplizierte politische Situation entscheidend beeinflussen konnte. Sein erster Erfolg dieser Art war die Entdeckung der Überreste der beiden früher völlig unbekannten Märtyrer Gervasisus und Protasius. Dies geschah 386 auf dem Höhepunkt einer äußerst gefährlichen Auseinandersetzung mit der Regierung des Kaisers Valentinian II., als es für Ambrosius um seine persönliche Freiheit, wenn nicht vielleicht sogar um sein Leben ging 200.
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Alfred R. Bellinger – Philip Grierson ( Hgg. ), Catalogue of the Byzantine Coins in the Dumborton Oaks Collection and in the Whittemore Collection 1: Anastasius I to Maurice, 491–602, Washington ( DC ) 1966, Nr. 3j; Kent – Overbeck – Stylow ( wie Anm. 196 ) Nr. 789v; Wolfgang Hahn, Moneta Imperii Byzantini, 1: Von Anastasius bis Justinuanus I ( 491–565 ), einschließlich der ostgotischen und vandalischen Prägungen ( Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Denkschriften 109; Veröffentlichungen der Numismatischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1 ) Wien 1973, 82/4. Nr. 19, 21, 22a; Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 220; Engemann, Das Kreuz ( wie Anm. 134 ) S. 144. Lederer ( wie Anm. 167 ) S. 268 f.; Deér ( wie Anm. 167 ) S. 31. Über die Einstellung Ambrosius’ zu den Märtyrerreliquien s. vor allem: Ernst Dassmann, Ambrosius und die Märtyrer, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 18, 1975, S. 49–68 mit weiteren Literaturhinweisen, wie auch: McLynn ( wie Anm. 100 ) S. 209–219.
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Eine ganze Reihe bekannter Episoden bezeugen gut, dass der Bischof von Mailand die schwierige Kunst mit Perfektion beherrschte, wechselhafte Launen der sozial niederen Bevölkerungsschichten für seine politischen Interessen zu manipulieren. Vielleicht gerade wegen dieser Feinfühligkeit vermochte Ambrosius früher als seine Zeitgenossen zu erkennen, welche große Rolle heilige Reliquien zur Konsolidierung breiter Schichten des für bestimmte politische Ideen spielen konnten. Es gab damals viele christliche Intellektuelle, die sich von der rein materiellen Seite des Glaubens gerade deswegen fast mit Abscheu distanzierten, weil eben diese den niederen Bevölkerungsgruppen besonders imponierten. Was können auch Werkzeuge der Folter und Tötung oder gar Leichenfragmente ( selbst wenn diese Leichenteile von heiligen Menschen stammten ) mit dem spirituellen Kern echter Religiosität zu tun haben? Eusebius von Cäsarea hatte wohl gerade aus diesen Gründen das Auffinden des Heiligen Kreuzes überhaupt nicht , sofern dieser Fund tatsächlich zu seiner Zeit erfolgte. Ambrosius war allerdings auf jeden Fall nicht weniger ein geborener Politiker wie ein Theologe und in dieser seiner Qualität verstand er es sehr gut, die Möglichkeiten richtig einzuschätzen, die in der Neigung der impulsiven Volksfrömmigkeit zur des Glaubens lagen. Das plötzliche Auftauchen des in der höchst brisanten politischen Situation des ungesicherten Machtübergangs entspräche voll und ganz der Logik des Umgangs Ambrosius’ mit heiligen Reliquien. Der einzige wesentliche Unterschied zu der Situation 386 bestand nur darin, dass die Körper von Gervasius und Protasius zur mächtigen Waffe im Kampf gegen die werden mussten, welche die direkte Unterstützung der kaiserlichen Familie genossen, während das <Eisen des Kreuzes> zum Mittel wurde, sowohl die Nicäaner als auch ihre Gegner um die Person des neuen Kaisers in Eintracht zu vereinigen. Weniger als anderthalb Jahre vor der Trauerrede für Kaiser Theodosius, Anfang November 393, war Ambrosius bereits mit den Nägeln der Kreuzigung beschäftigt. Auf der Flucht vor dem <Usurpator> Eugenius öffnete er auf dem jüdischen Friedhof in Bononia ( Bologna ) die Gräber von zwei weiteren Märtyrern, Agricola und Vitalis. Ambrosius wollte festgestellt haben, dass Agricola gekreuzigt worden war, wobei dessen Körper mit einer Menge Nägel durchbohrt worden war ( ‚es gab mehr Wunden als Körperglieder‘ ). Mit seinen eigenen Händen sammelte Ambrosius diese Nägel mit anderen Reliquien zusammen direkt im geöffneten Grab auf 201. Einen Teil dieses Fundes legte er schon im nächsten Jahr feierlich in das Fundament des Domaltars in Florenz 202. Hätte er damals vielleicht nicht zwei Nägel von der Kreuzigung in Bologna bei sich behalten können, die sich wenige Monate später auf wundersame Weise als Ant201
202
Detuli ergo vobis munera quae meis legi manibus, id est, crucis tropaea, cujus gratiam in operibus agnoscitis. Certe et ipsi daemones confitentur. Condant alii aurum atque argentum, ac de latentibus eruant venis; legant pretiosa monilium serta; temporalis ille thesaurus est, et saepe habentibus perniciosus: nos legimus martyris clavos, et multos quidem, ut plura fuerint vulnera quam membra. Clamare martyrem diceres ad populum Judaeorum, cum clavos ejus colligeremus: Mitte manus tuas in latus meum, et noli esse incredulus, sed fidelis ( Joan. XX, 27 ). Colligimus sanguinem triumphalem et crucis lignum. – Ambrosius, Exhortatio virginitatis, in: Migne PL 16, Sp. 351–380, hier Sp. 354 ( 9 ). Die alten Römer pflegten Nägel in Gräbern beizulegen, öfter auf die Brust des Toten und in großer Menge. – Henri Leclercq, Art., , in: Dictionnaire d’archéologie chrétienne et de liturgie 3, 1914, Sp. 2034–2037, besonders 2036–2037. Palanque ( wie Anm. 4 ) S. 283 f.
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wort auf seine leidenschaftlichen Gebete in die Nägel der Kreuzigung auf Golgatha verwandelten? Oder benötigte er nur einen, weil der Pferdezaum mit dem Christogramm ohnehin schon vorhanden war? Dies ist natürlich eine Spekulation, die nicht ernst genommen werden kann. Aus den vorangehenden Überlegungen geht aber ziemlich klar hervor, dass Ambrosius von Mailand die Ehre der Erfindung einer in der europäischen politischen Kultur zuvor völlig unbekannten Insignie gebührt, nämlich des Kranzes, der zugleich ein Reliquiar für eine Kreuzreliquie darstellt. Das Risiko, dass Ambrosius einging, um für die Legitimierung des jungen Kaisers zu einem, in den Augen des Heeres wie auch anderer einflussreicher Gruppen, durchaus ungewöhnlichen Mittel zu greifen, ja dieses Mittel erst zu erfinden, um die Volksimagination dadurch beeinflussen zu können, verrät uns, welche ernsten Befürchtungen er im Februar 395 für die Zukunft eines zehnjährigen Jungen, aber vielleicht auch für seine eigene hatte. XI. NACH AMBROSIUS: DAS UND DIE
Ambrosius war als Erfinder einer prinzipiell neuen Insignie wohl deswegen bis jetzt nicht anerkannt, weil sich die Linie einer möglichen Entwicklung von seinem zu den heiligen Kronen des Mittelalters nicht nachvollziehen lässt. Historiker bewiesen allerdings ( trotz Ermangelung entsprechenden ikonographischen Materials wie auch klarer Äußerungen bei Autoren des 5. Jahrhunderts ) schon einige Bemühungen, zu zeigen, dass die Idee einer Bereicherung des Kaiserkranzes mit dem Kreuz ( als Reliquie oder zumindest als Zeichen ) fortlebte. So meinte Delbrueck ( ihm folgten allerdings auch andere Fachleute ), Johannes Chrysostomos erwähne zweimal das Kreuz auf dem Diadem des Arcadius: in und in <Expositio in Psalmum CIX> 203. Im ersten Fall gibt es für eine solche Interpretation tatsächlich gewisse Gründe. In der sagt Johannes: ‚Die Könige nehmen, ihre Diademe ablegend, das Kreuz auf, das Zeichen Seines Todes; Kreuz ist auf den Porphyren, Kreuz ist auf dem Diadem, Kreuz bei Gebeten, Kreuz auf den Waffen, Kreuz auf dem heiligen Tisch, und im ganzen Universum strahlt das Kreuz heller als die Sonne‘ 204. Der erste Satzteil erlaubt verschiedene Deutungen, im zweiten geht es wohl um diverse – sowohl zwei- als auch dreidimensionale – D a r s t e l l u n g e n des Kreuzes, so musste etwa das Kreuz auf dem kirchlichen Altar – dem plastisch sein. Zu Kreuzreliquien fällt hier bei Chrysostomos allerdings kein Wort. Die zweite Stelle, die Delbrueck anführt, ist sehr problematisch: ‚Nicht nur einfache Menschen, sondern auch jene, die in Diademen sind, tragen das Kreuz auf der Stirn höher als Diademe; und das völlig zu Recht, weil es höher ist als die Menge der
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Delbrueck, Spätantike Kaiserporträts ( wie Anm. 161 ) S. XVI, 65; Joachim Ott, Krone und Krönung: Die Verheißung und Verleihung von Kronen in der Kunst von der Spätantike bis um 1200 und die geistige Auslegung der Krone, Mainz am Rhein 1998, S. 167. O¹ /
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.«, λ 7$ .«, λ Ρ .« [ … ] – Migne PG 48, Sp. 824, 58.
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Diademe‘ 205. Nur wenn man diesen Satz ohne seinen Kontext interpretiert, kann man auf die Idee kommen, es handele sich hier um den Kaiserkranz, der mit dem Kreuz am oberen Rand geschmückt ist. Im vorangehenden Satz sagt jedoch Chrysostomos: ‚Dieses Kreuz war früher Zeichen des verdammten Todes, des allerschändlichsten Todes; es wurde aber jetzt wertvoller als das Leben selbst und ruhmhafter als Diademe – so, dass wir alle es auf unserer Stirn tragen, wobei wir uns davor nicht schämen, sondern es für unseren Schmuck halten.‘ Mit anderen Worten: Nicht allein Könige tragen ein Kreuz auf ihren Häuptern, sondern <wir alle> tun das, auch . Es handelt sich offenbar nicht um einen materiellen Gegenstand, sondern um die kreuzförmige Ölung des Hauptes bei der Taufe. Aus der auch ebenda angeführten Gegenüberstellung: ‚Das Diadem verziert das Haupt, das Kreuz aber beschützt die Seele‘ geht klar hervor, dass d i e s e s Kreuz weder den Kopf verzieren, noch ein Teil des kaiserlichen Diadems sein konnte. Gewisse Andeutungen, welche für uns vielleicht von Nutzen sein könnten, findet man wohl am häufigsten bei Augustinus. Er wiederholt immer wieder die folgende These: es gebe im kaiserlichen Diadem keinen Stein, der wertvoller sei als ( oder an einer anderen Stelle ), welches 206. Geht Augustinus also tatsächlich davon aus, dass die Kaiserkränze seiner eigenen Zeit ( d. h. jene von Arcadius und Honorius oder von einem der beiden ) nicht nur mit einer Kreuzesd a r s t e l l u n g verziert sind, sondern auch physische Teile des beinhalten? Auf diesem recht wackligen Fundament aus wenigen Äußerungen Johannes’ Chrysostomos und Augustinus’ sind bisher alle Vermutungen aufgebaut, das Diadem von Arcadius müsse auch mindestens ein Z e i c h e n des Kreuzes oder ein Christogramm getragen haben. Sollte man jedoch diese kühne Hypothese ernst nehmen, welche vor allem von Delbrueck entwickelt wurde, könnte man demzufolge seine riskante Konstruktion noch weiter nachbauen. Unter der Annahme, ein auf dem Kranz solle die Anwesenheit eines Stückchen des Heiligen Kreuzes signalisieren, bleibt zwangsläufig zu akzeptieren, dass, erstens, das Diadem Arcadius’ auch eine Passionsreliquie beinhalten musste, aber, zweitens, diese Reliquie schon keinen Nagel mehr darstellen konnte, weil die beiden Ambrosius und seiner höfischen Umgebung bekannten Nägel schon in Mailand im Einsatz waren. Diese Reliquie könnte dann nur ein Holzpartikel sein. Wenn dem so ist, sollten die Historiker der europäischen Herrschaftszeichen eine Kontinuitätslinie nicht direkt vom „Diadem Helenas und Honorius’“ zu mittelalterlichen Kronen mit Kreuzreliquien, sondern eher vom – allerdings 205
206
O7 !ξ & $ !., $ λ 7λ ¹ "! ! λ != :ξ "! 7µ ( d. h. Kreuz ) >
, λ ! &.«α ! / ! $!. – Migne PG 55, Sp. 274, 15. Ament vobiscum Christum, qui eo ipso quo videbatur victus, vicit orbem terrarum. Vicit enim orbem terrarum sicut videmus, fratres: subjecit omnes potestates, subjugavit reges, non superbo milite, sed irrisa cruce; non saeviens ferro, sed pendens ligno; patiendo corporaliter, faciendo spiritualiter. Illius corpus erigebatur in cruce: ille mentes cruci subdebat. Denique quae gemma pretiosior in diademate, quam crux Christi regnantium in fronte? – Migne PL 38, Sp. 334. S. auch: [ … ] iam in frontibus regum pretiosius est signum crucis, quam gemma diadematis. – Aurelii Augustini Opera, Pars 10,2: Enarrationes in psalmos 51–100, hg. von Eligius Deckers ( CC 39 ) Turnhout 1956, S. 1010, vgl. auch: Aurelii Augustini Opera, Pars 10,1: Enarrationes in psalmos 1–50, hg. von Eligius Deckers ( CC 38 ) Turnhout 1956, S. 264. Vgl.: Ott ( wie Anm. 203 ) S. 167.
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rein hypothetischen – ziehen, wobei letzteres vielleicht erst unter dem Einfluss der Trauerrede Ambrosius’ entstanden sein dürfte. Mittelalterliche Texte erwähnen zwar einige real existierende oder nur legendäre Kronen mit Stückchen des Kreuzh o l z e s , kennen aber m. W. keine Herrscherkränze, welche das <E i s e n des Kreuzes> einschlossen. Die Ursache dieser ( hier nur als provokative Spekulation angenommenen ) Entwicklung könnte bei allem Schweigen der Quellen genauso spekulativ im ruhmlosen Schicksal des erraten werden. Die außerordentliche Relevanz, welche Ambrosius diesem Gegenstand 395 zuschrieb, ging bald verloren: sei es weil der schon erwachsene Honorius andere Mittel für seine Legitimation zu bevorzugen begann, sei es weil das Diadem in den Kriegen und politischen Wirren im Italien des 5. Jahrhunderts einfach verloren ging, sei es weil der Kranz mit anderen kaiserlichen Insignien nach dem Sturz Romulus Augustulus 476 von Odoaker nach Konstantinopel geschickt wurde, wo diese Krone, durch Niederlagen der Kaisermacht im Westen kompromittiert, in der Palastschatzkammer verschwand. Sicher steht nur fest, dass das aus den bisher bekannten Quellen völlig verschwindet, nachdem Ambrosius es dem Heer des verstorbenen Theodosius auf dem Haupt des jungen Kaisersohns präsentiert hatte. Auch später – während des ganzen Mittelalters – sind keine Versuche bekannt, etwa auf dem ein oder anderen Weg wieder in den Besitz dieses Diadems zu kommen. Der Text geriet zwar in nachfolgenden Jahrhunderten nicht in Vergessenheit, bewegte aber offenbar niemanden zum Suchen nach dem von Ambrosius mit so großem Pathos beschriebenen Diadem – was natürlich erstaunt. Die tauchten allerdings mindestens zweimal auf. Im Oktober 816 erhielt Ludwig der Fromme in Reims vom Papst Stefan IV. eine goldene und mit Edelsteinen geschmückte Krone, welche der Pontifex aus Rom mitgebracht haben soll. Ein Zeitgenosse – der Dichter Ermoldus Nigellus – bezeichnete sie als ‚den Kranz Konstantins‘ 207. Ohne auf die Probleme einzugehen, die für Historiker im Zusammenhang mit dieser Krone entstehen können, reicht es hier, einfach festzustellen, dass diese Krone durchaus als Ergebnis literarischer Reminiszenz entstehen konnte. Man nahm aber dabei wohl nicht Bezug auf die Trauerrede Ambrosius’, sondern auf eine ganz andere Schrift: das 208. Als der Papst zweimal – zuerst vor der Krönung und dann schon während dieser Zeremonie – wiederholte: ‚Das ist Dir Geschenk Petri‘ 209, wollte er damit wahrscheinlich sagen, dass er namens des 207
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„Roma tibi, Caesar, transmittit munera Petri, Digna satis digno, conveniensque decus“. Tum jubet adferri gemmis auroque coronam, Quae Constantini Caesaris ante fuit. – Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici, vv. 1074–1077. Der Text wird nach der folgenden Edition zitiert: Ermold le Noir, Poème sur Louis le Pieux et épitres au roi Pépin, hg. und übersetzt von Edmond Fartal ( Les classiques de l’histoire de France au Moyen Age 14 ) Paris 1932, S. 84. Eichmann ( wie Anm. 157 ) 1, S. 43 f., 46. Einwände gegen diese Vermutung s. in: Gerhard Laehr, Die Konstantinische Schenkung in der abendländischen Literatur des Mittelalters bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts ( Historische Studien 166 ) Berlin 1926, S. 15 ( Ermoldus führe kein einziges Zitat aus dem an ). Trotzdem unternahm man sogar Versuche, eine äußere Ähnlichkeit zwischen der von Nigellus erwähnten Krone und dem kaiserlichen Kranz aus dem zu erkennen: Deér ( wie Anm. 167 ) S. 17; Eichmann ( wie Anm. 157 ) 2, S. 72. Hoc tibi Petrus ovans cessit, mitissime, donum Tu quia justitiam cedis habere sibi. – Ermoldus Nigellus ( wie Anm. 207 ) S. 86, vv. 1100–1101.
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Apostelfürsten Ludwig jenen Kranz zurückgibt, welchen Kaiser Konstantin dem Papst Silvester seinerzeit geschenkt hatte und der den Päpsten nicht geeignet erschien 210. Die entsprechende Episode mit der Opferung der Krone kommt bekanntlich nur in der späteren Version des , nicht aber in der ursprünglichen Darstellung dieser Legende in den vor 211. Über dem Hauptaltar der Hagia Sophia von Konstantinopel konnte man über längere Zeit hindurch den ( oder sogar mehrere ) aufgehängt sehen, was von vielen Autoren bezeugt wurde. Der erste unter ihnen war bekanntlich Konstantin VII. Porphyrogennetos, der in seiner Schrift über die Verwaltung des Reiches ( zwischen 948 und 952 ) die ausführlichste Nachricht darüber hinterließ 212. Wie die Aachener kann auch dieser Kranz ( bzw. diese Kränze ) in keinen Zusammenhang mit dem gebracht werden – weder in seiner äußeren Form, noch in seiner symbolischen Bedeutung. Seiner Form nach stellte diese Insignie, Konstantin Porphyrogennetos zufolge, ein Kamelaukion – d. h. nicht ein Diadem dar, sondern einen ganz anderen Typ des Kranzes, der allerdings vor der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts nicht verwendet wurde 213. Es dürfte vielleicht derselbe Kranz gewesen sein, welchen ( der von Theophanes zufolge ) Hofdamen dem Kaiser Mauricius ( 582–602 ) am Ostersonntag 601 schenkten, und welchen er alsbald in der Hagia Sophia über dem Hauptaltar als Weihegabe aufhängen ließ 214. Was aber die symbolische Deutung angeht, ist hier entscheidend, dass kein Autor von Passionsreliquien innerhalb des Kamelaukions spricht. Konstantin Porphyrogennetos begründete die Sakralität dieser Insignie mit Hilfe ganz anderer Argumente: 210
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Decrevimus itaque et hoc, ut isdem venerabilis pater noster Silvester, summus pontifex, vel omnes eius successores pontifices diademam videlicet coronam, quam ex capite nostro illi concessimus, ex auro purissimo et gemmis pretiosis uti debeant et eorum capite ad laudem dei pro honore beati Petri gestare; ipse vero sanctissimus papa super coronam clericatus [ … ] omnino ipsam ex auro non est passus uti coronam, frygium vero candido nitore splendidam ressurectionem dominicam designans eius sacratissimo vertici manibus nostris posuimus [ … ] – Das Constitutum Constantini ( Konstantinische Schenkung ): Text, hg. von Horst Fuhrmann ( MGH Fontes iuris 10 ) Hannover 1968, S. 91 f. S. den neuesten Versuch, die alte Diskussion über Zeit, Ort und Zweck der Herstellung des wieder zu beleben: Johannes Fried, Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and Its Original Meaning ( Millennium-Studien 3 ) Berlin – New York 2007. Der Verfasser entwickelt die Hypothese, dass das nicht um die Mitte des 8. Jahrhunderts in Rom, sondern im Frankenreich erst während der Regierung Ludwigs des Frommen zusammengestellt wurde. Ein ähnlicher Versuch, den Fälscher in nordfränkische Klöster und sogar in noch späterer Zeit ( um 840–850 ) , wurde allerdings schon vorher unternommen: Hermann Grauert, Die Konstantinische Schenkung, in: Historisches Jahrbuch 3, 1882, S. 1–30; 4, 1883, 45–95; 525–617; 674–680. S. den griechischen Text etwa in der Edition: KONSTANTIN BAGR®NORODN«I—, Ob upravlenii imperie“, Moskau 1991, S. 54, 56. Die langen Diskussionen über das Aussehen des Kranzes-Kamelaukions und seiner Entstehung bringen einige Historiker zur pessimistischen Schlussfolgerung, dass diese Form jetzt schon überhaupt nicht mehr greifbar sei: Wessel – Piltz – Nicolescu ( wie Anm. 164 ) Sp. 387 f. Eine ähnlich skeptische Meinung selbst über die Möglichkeit, die Deutung des Wortes genau zu definieren, und zwar besonders in Bezug auf die Kronen, wird geäußert in: Taxiarches ¯ Kolias, Kamelaukion, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik, 32/3, 1982, S. 493–502. Diese Vermutung wurde geäußert in: Hans-Dietrich Kahl, Die „Konstantinskrone“ in der Hagia Sophia zu Konstantinopel. Ein Beitrag zur byzantinischen Konstantinslegende, in: Ruth Stiehl – Gustav Adolf Lehmann ( Hgg. ), Antike und Universalgeschichte. Festschrift Hans Erich Stier zum 70. Geburtstag am 25. Mai 1972, Münster 1972, S. 302–322, hier S. 322.
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sie sei ( zusammen mit anderen ‚Mänteln und Kränzen‘ ) dem Kaiser Konstantin von Gott durch einen Engel zugesandt worden. Diese Behauptung des Schriftstellers muss natürlich nur cum grano salis wahrgenommen werden, denn er äußert hier nicht seine eigene Meinung, sondern führt die Geschichten an, welche den gierigen barbarischen Fürsten erzählt werden sollten, um ihnen den Appetit auf die öffentlich ausgestellten Schätze der Hagia Sophia zu nehmen. Der Porphyrogennetos hätte aber das eventuelle Vorhandensein eines Kreuzstückchens im Kranz schon allein deswegen kaum verschweigen brauchen, weil der Hinweis auf die heilige Reliquie seine eigene Argumentation für die absolute Unveräußerlichkeit des Kamelaukions nur unterstützen konnte. Nach möglichen Parallelen zum byzantinischen muss man unter solchen Kronen suchen, die zur Gänze als Berührungsreliquien einer heiligen Person und nicht in einzelnen ihrer Teile galten. Als das bekannteste Beispiel einer solchen Krone kann die des heiligen Stephan in Ungarn angeführt werden. Kränze dieses Typs konnten nicht nur über Altären aufgehängt werden, sondern auch Häupter der Statuen und Reliquiare von Heiligen verzieren. Im Unterschied zu Votivkronen konnten solche Kränze auch bei Krönungen durchaus irdischer Herrscher Anwendung finden – wie es auch bei dem in Konstantinopel der Fall war 215. In einem anderen Typ mittelalterlicher Kronen dienten die Kränze nur als Behälter für Reliquien ( vor allem Passionsreliquien ). Hier sollte man aber wieder zwischen zwei Gruppen von Kronen unterscheiden. Bei der ersten handelt es sich um Reliquiare, welche zwar Kronenform hatten, aber für keinen irdischen Regenten vorbestimmt waren. Kronen der zweiten Gruppe stehen in Hinblick auf ihre Morphologie und Funktion dem ambrosianischen ( oder vielleicht eher dem rein hypothetischen ) am Nächsten – einerseits bargen sie Reliquien, andererseits durften aber Kaiser und Könige sie gelegentlich tragen. So setzte Ademar von Chabannes ( 989–1034 ) voraus, die Krone Karls des Großen müsse ein Stück des Holzes vom Heiligen Kreuz enthalten haben 216. Diese seine Bemerkung sagt uns über die wirklichen Kronen Karls natürlich nichts aus, sie verdeutlicht aber, dass man sich um 1000 einen echten Herrscher am besten mit Kreuzpartikel in seinem Königskranz vorstellte. Die älteste heute bekannte Erwähnung einer Krone dieses Typs – corona aurea cum ligno Domini – soll sich im Vermächtnis des Grafen Eberhard von Friaul 867 befinden 217. Die bekannteste unter den Kronen des war wohl die französische ( Couronne de saint Louis ), wo man einen Stachel vom Dornenkranz Jesu in einem <Etui> aus speziell bearbeitetem Edelstein eingeschlossen hielt. Obwohl 1793 eingeschmolzen wurde, erlauben
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Mit diesem Kranz wurde der Anführer des Aufstandes gegen Andronikos I. Komnenos 1185, Isaak II. Angelos, in der Hagia Sophia gekrönt, wie Niketa Choniates in seiner Chronik berichtet ( , II, 11 ). Et in diademate lignum sanctae crucis positum est. – Ademari Cabannensis Chronicon, hg. von Pascale Bourgain ( Ademari Cabannensis Opera Omnia, pars I ) ( CC Cont. Med. 129 ) Turnhout 1999, S. 111 ( II, 25 ). Vgl. auch: Schramm, Herrschaftszeichen ( wie Anm. 142 ) 1, S. 312. Reinhard Elze, Die <Eiserne Krone> in Monza, in: Schramm, Herrschaftszeichen ( wie Anm. 142 ) 2, S. 450–479, hier S. 461.
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erhaltene Darstellungen, sie ins 14. Jahrhundert zu datieren 218. Aus derselben Zeit stammt auch die tschechische Wenzelskrone, die eine analoge Reliquie beinhaltet haben soll, welche Karl IV. ( von Luxemburg ) als Geschenk in Paris erhalten haben dürfte. Auf jeden Fall lautet die Inschrift, welche ein kleines Kreuz mit Edelsteinen auf dem Scheitelpunkt umgibt Hic est spina de corona domini 219. Erhalten ist auch eine Krone aus dem Dom zu Namur, welche speziell zur Aufbewahrung von zwei Dornen zwischen 1207 und 1218 hergestellt wurde 220. Bei dieser besteht aber der Verdacht, dass sie von Anfang an nicht für einen Menschen, sondern für eine Statue Christi oder eines Heiligen bestimmt war. Die Annahme, dass alle Kronen mit Passionsreliquien im engeren Sinn auf das zurückgingen, bleibt zwar verlockend aber unbegründet, weil die <Pause> zwischen dem 5. und 9. Jahrhundert zu lange ist. Für diese 500 Jahre sind m. W. bis jetzt keine glaubwürdigen Belege gefunden, dass die von Ambrosius begründete Tradition von jemandem weiter fortgesetzt wurde. Nur als handfeste Spekulation könnte man vermuten, dass die rein hypothetische , die als Nachahmung des Kranzes Honorius’ entstehen konnte, als Muster für spätere, noch hypothetischere byzantinische Kränze diente, wobei dann die letzten zu Vorbildern der reliquientragenden Kronen im Westen wurden. Solange man aber keine Quellenbeweise dieser Entwicklung festgestellt hat, darf diese Entwicklungslinie nicht ernsthaft diskutiert werden. Aber selbst wenn sie als Folge neuer Recherchen doch eine gewisse Bestätigung gefunden haben, muss zunächst anerkannt werden, dass der Ausgangspunkt dieser ganzen Entwicklung – das – fast zwölf Jahrhunderte lang so gut wie vollständig vergessen blieb. Man erinnerte sich erst wieder im 16. Jahrhundert an diesen Kranz dank der Vereinigung von humanistischen Studien, die zu dieser Zeit von den antiken Klassikern auch auf die Werke der christlichen Väter erweitert wurden, mit dem Geist der Gegenreformation. Erst im Jahre 1587 identifizierte der Dominikaner Gaspare Bugati eine Krone, die seit langem in der Sakristei der Kathedrale von Monza aufbewahrt wurde, als den ‚Kranz Konstantins‘, den der sterbende Theodosius seinem Sohn durch Ambrosius hinterlassen haben sollte 221. Den Hauptanlass für diese Identifikation gab der angeblich eiserne Reif, der alle sechs goldenen Kronensegmente miteinander von innen zusammenhielt ( Abb. 22 ). Eben dieser Eisenreif stellte nach Bugati die Passionsreliquie dar, weil er aus dem Nagel vom Kreuze Christi gefertigt worden sein sollte. Die Erinnerung an diesen wie auch tiefe Ehr218
219
220 221
Danielle Gaborit-Chopin, Regalia. Les instruments du sacre des rois de France. Les , Paris 1987, S. 95–98. S. z. B.: Karl Schwarzenberg, Die Sankt Wenzels-Krone und die böhmischen Insignien. Wien – München 1960, S. 20; Alexander Belohlávek, ˇ Die böhmischen Krönungsinsignien, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 53, 1990, S. 209–215, hier S. 213. Schramm ( wie Anm. 142 ) 3, S. 850–853. Gasparo Bugati, L’Aggiunta dell’Historia Universale, Mailand 1587, S. 155. Ausführlich zu dieser Studie und den nachfolgenden gelehrten Diskussionen des 16. und 17. Jahrhunderts über die Krone aus Monza s.: Renato Mambretti, La corona ferrea segno di regalità e reliquia nella storiografia dei secoli XIV–XVIII, in: La Corona Ferrea nell’Europa degli Imperi 2: Alla Scoperta del Preziose Oggeto, 1: Arte e Culto, hg. von Graziella Buccellati, Monza 1998, S. 56–70. Einem späteren Bericht zufolge war es der Erzbischof von Mailand ( und künftige Heilige ) Carlo Borromeo, welcher noch 1578 die Monzeser Krone als Passionsreliquie verehrte.
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furcht vor dieser Insignie soll – so Bugati – in den Legenden von der <Eisernen Krone der Könige der Langobarden> durch das ganze Mittelalter erhalten geblieben sein. Die Theorie Bugatis war schon Ende des 17. Jahrhunderts vom großen italienischen Gelehrten Ludovico Muratori in seiner bis heute maßgebenden Studie über den real existierenden Kranz aus Monza und die imaginierte <Eiserne Krone> völlig widerlegt worden 222. Er zeigte zurecht, dass die Chronisten, welche seit ungefähr 1230 Legenden über die <Eiserne Krone> nacherzählten, weder von der in ihr eingeschlossenen Reliquie, noch von der angeblichen Beteiligung Helenas, Konstantins, Theodosius’, Honorius’ oder Ambrosius’ am Schicksal dieser Krone wussten. Sie verbanden ihre corona ferrea dagegen mit ganz anderen historischen Persönlichkeiten: dem Kaiser Maximianus ( Herculius ) ( 286–310 ), Theoderich dem Großen und selbst Karl dem Großen 223. Wesentlich bleibt aber, dass niemand unter diesen Autoren sich selbst die kleinste Andeutung erlaubte, es könne in der <Eisernen Krone> eine solch erstklassige Reliquie verborgen sein wie der Nagel vom Kreuze Christi. Die Krone von Monza wird noch heute eifrig von Gläubigen als Passionsreliquie verehrt, obwohl 1993 eine gründliche Untersuchung zeigte, dass ihr Innenreifen nicht aus Eisen, sondern aus purem Silber besteht 224. Und es gibt heute noch genug Historiker, die in diesem Gegenstand das sehen wollen, obwohl die Technik, in welcher er hergestellt wurde, eher für eine Entstehung in der Zeit der Karolinger spricht 225 … XII. NACH AMBROSIUS: DER
Noch spannender scheint die Fortsetzung der Geschichte mit dem zu sein. Wie oben schon erwähnt, tauchte der im 6. Jahrhundert in Konstantinopel wieder auf, wodurch – wie ich vermute – der z w e i t e Kult der Nägel von Golgatha gegründet wurde. Der Zaum soll 553 neben den Evangelien 222
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225
Lodovico Antonio Muratori, De Corona Ferrea, qua Romanorum imperatores in Insubribus coronari solent, in: Ders., Anecdota, Quae Ex Ambrosianae Bibliothecae Codicibus nunc primum eruit, Mailand 1698, S. 267–358, wie auch weitere zahlreiche Auflagen. Die Forschung Muratoris hinderte aber die Kongregation der heiligen Riten nicht, 1717 den Kult des heiligen Nagels in Monza zu billigen, wenn auch ohne speziell auf die Frage der Echtheit der Reliquie einzugehen. Ausführlich: Giovanni Morello, Il processo romano per il culto della corona ferrea, in: La Corona Ferrea ( wie Anm. 221 ) S. 129–133. Den Argumenten Muratoris folgt auch der Verfasser der von Mediävisten am meisten zitierten Studie: Elze ( wie Anm. 217 ). Elze ( wie Anm. 217 ) S. 474. Augusto Calderara, Corona Ferrea: tecniche costruttive e stato d’uso, in: La Corona Ferrea nell’Europa degli Imperi 2: Alla Scoperta del Preziose Oggeto, 2: Scienza e Tecnica, hg. von Graziella Buccellati, Monza 1998, S. 71–170, hier S. 91. Maspero, Alla ricerca ( wie Anm. 174 ); Dies., La corona ferrea ( wie Anm. 174 ). Vorsichtiger äußert sich Sordi: obwohl die Krone in Monza das ambrosianische ( wenn auch in umgewandelter Form ) tatsächlich darstellt, sei dieses Diadem selbst wahrscheinlich erst in der Zeit Valentians I. ( 364–375 ) hergestellt: Sordi, Dall’elmo di Costantino ( wie Anm. 27 ) S. 889 f.; Dies., La tradizione ( wie Anm. 50 ). Ihr folgt auch Baert ( wie Anm. 3 ) S. 27 f., Anm. 67. Die Untersuchung 1993 bestätigte, dass die Krone in ihrem heutigen Zustand in der Karolingerzeit entstand, einzelne ihrer Glieder könnten aber vielleicht bis in das 5. Jahrhundert zurückgehen: Silvia Lusuardi Siena, L’identità materiale e storica della corona: un enigma in via di risoluzione?, in: La Corona Ferrea 2,2 ( wie Anm. 224 ) S. 173–249, besonders S. 220 f.
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und weiteren ( offenbar unbearbeiteten ) Nägeln der Kreuzigung während der Sitzungen des 5. Ökumenischen Konzils ( Konstantinopel II ) öffentlich ausgestellt worden sein, wie eindeutig von Papst Vigilius erwähnt wird, der zu dieser Zeit in Konstantinopel weilte 226. Es musste derselbe Pferdezaum gewesen zu sein, von welchem Gregor von Tours etwas später – in den 70er oder 80er Jahren des 6. Jahrhunderts – schrieb. Er wusste dabei genau, dass der Zaum nicht aus einem, sondern aus zwei Nägeln hergestellt worden war. Dadurch gibt er sich als Nachfolger nicht der literarischen Tradition Ambrosius’, sondern derjenigen von Rufinus oder eher Theodorites zu erkennen. In Richtung Theodorites weist noch eine Besonderheit der Erzählung des Bischofs von Tours. Er teilt zwar die Meinung der <Jerusalemer Autoren> darüber, dass der heilige Zaum vor allem im Krieg von Nutzen sei, weil er alle Feinde in die Flucht schlüge, vergisst aber dabei auch nicht die Prophezeiung Sacharjas. Allerdings wird der eschatologische Sinn dieser Textstelle von Gregor wohl überhaupt nicht erkannt, zumal er diesen Vers selbst einer auffallenden Verzerrung unterzieht: ‚Es wird so, – sagt er [ Sacharja ], – dass das Heiligtum des Herrn ins Pferdemaul gelegt wird‘ 227. Diese merkwürdige Texttransformation ist für uns insofern wichtig, weil sie verrät, welche der möglichen Interpretationen des undeutlichen Begriffes .« – fraenum – paguda sich im 6. Jahrhundert schließlich durchzusetzen vermochte. Hier geht es schon zweifelsohne um das Gebiss, also um die Trense und nicht etwa um einen Anhänger auf dem Zaumriemen. Dass Gregor diese Angaben selbst frei erdichtet haben könnte, scheint schon deswegen unwahrscheinlich zu sein, weil er die Statue Konstantins auf dem Forum in der Reichshauptstadt mit demselben Atemzug erwähnt – eine klare Andeutung darauf, dass er Informationen wiedergeben konnte, welche ihn aus Konstantinopel erreicht hatten. Daraus ergibt sich, dass der , welcher – dem Papst Vigilius zufolge – auf dem Konzil 553 demonstriert werden sollte, wahrscheinlich auch schon die Trense und nicht einen anderen Teil des Pferdegeschirrs darstellte. Der Bischof von Tours erzählt auch eine Geschichte über diese Reliquie nach, welche wohl ursprünglich vor allem für Pilger bestimmt war. Kaiser Justin wurde zwei Nächte nacheinander von Dämonen verfolgt, die ein Zauberer gegen ihn geschickt hatte. Als aber der Kaiser in der dritten Nacht die Trense neben sein Haupt legte‚ blieb den Dämonen kein Platz mehr, von wo sie ihre Angriffe ausführen konnten‘ 228. Diese Episode ähnelt sehr der Erzählung über die zufällige A u f f i n d u n g einer Reliquie: sollten dem Kaiser die wunderbaren Qualitäten seiner Trense schon vorher bewusst gewesen sein, warum hätte er sich auch die zweite Nacht dem schweren Kampf gegen die Dämonen aussetzen sollen? Umso wertvoller für uns ist in diesem Kontext die Erwähnung des Kaisers Justin I. ( 518–527 ), weil sie ermöglicht, mit ihm die Entstehung des des Zaumes zu verbinden. Vielleicht entdeckte man die übrigen 226
227
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Charles Rohault de Fleury, Mémoire sur les instruments de la passion de N.-S. J.-C., Paris 1870, S. 172 f., 320 f. [ … ] et de duobus quidem frenum imperatoris munivit, quo facilius, si adversae gentes restitissent principi, hac virtute fugarentur. De quibus non est ignotum Zacchariam vaticinasse prophetam: Erit, inquit, quod in os equi ponitur, sanctum Domini. – Gregorii Turonensis Opera ( wie Anm. 93 ) S. 491. Magnam adserunt virtutem esse huius freni, quod ambigeri nequaquam potest, quod Iustinus imperator publicae expertus ac suis omnibus patefecit. Inlusus enim a quodam mago propter pecuniam emissam, quae sibi daemonis umbra intolerabilis per duarum curricula noctium sustenuisset insidias; sed cum tertia nocte frenum capiti collocasset, locum insidiandi inimicus ultra non habuit, repertumque auctorem insidiarum gladio perculit. Ebd., S. 491.
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Nägel des Echten Kreuzes auch in den Regierungsjahren Justins? Auf jeden Fall bemerkt der römische Diakon Rusticus 549 in seinen Überlegungen zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Personen der Dreieinigkeit, dass der Kult d e r N ä g e l ( im Plural ) und des Holzes des Echten Kreuzes von der gesamten Kirche anerkannt sei 229. Er könnte natürlich allein die gemeint haben – war sie doch nach Gregor ( d. h. wohl nach seinen Konstantinopeler Informanten ) aus zwei Nägeln geschmiedet worden. Es ist aber wahrscheinlicher, dass er hier auch auf weitere Nägel Bezug nahm, denn sie waren nur vier Jahre später – laut Papst Vigilius – während der Konzilssitzungen öffentlich exponiert, d. h. schon eine gewisse Zeitspanne als Reliquien anerkannt. Wenn der in seinem <ersten Kult> (mit bisher unbekannter Lokalisierung), wie oben begründet, wahrscheinlich ein Phylakterion etwa in Form einer auf der Pferdestirn befestigten Phalera darstellte, erschien sie im (Konstantinopeler) Kult als eine Trense. Diese neue Gestalt der Reliquie entstand natürlich nach unklaren Worten von Kirchenhistorikern des 6. Jahrhunderts vor allem wohl aufgrund des Berichts von Theodoret in Folge der intellektuellen Verarbeitung seitens uns unbekannt gebliebener aber bestimmt politisch verantwortlicher Personen. Aus einer ganzen Reihe möglicher Interpretationen dessen, wie ein aus einem oder zwei Nägeln hergestellt werden konnte, wählte man endlich eine einzige aus, und zwar jene, welche eher einem Schmied als einem Theologen als selbstverständlich erscheinen konnte. Die gelangte nicht in die berühmteste Reliquiensammlung, welche im Großen Kaiserpalast, und zwar in der wunderbaren der Gottesmutter von Pharos ( errichtet um die Mitte des 10. Jahrhundert ) zur Schau und Verehrung ausgestellt wurde. Zahlreiche Pilger aus verschiedenen Ländern bezeugten neben anderen in der Palastkirche aufbewahrten erstrangigen Reliquien auch entweder einen Nagel der Kreuzigung oder sogar zwei solcher Nägel 230. Diese Reliquie( n ) behielt( en ) 229
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Nec non et clavos quibus confixus est, et lignum venerabilis crucis, omnis per totum mundum Ecclesia absque ulla contradictione adorat; et non solum quae duae naturae sunt Deus et crux, sed et illud sanctum ferrum, praeter illud venerabile lignum, alia est natura, et altera rursus ipsa Domini caro. – Migne PL, 67, Sp. 1229. Vgl.: Frolow ( wie Anm. 90 ) S. 177 f. ( Nr. 30 ). Die Aufzählung der meisten überlieferten Zeugnisse s. in: Frolow ( wie Anm. 90 ) S. 301–305 ( Nr. 283 ). Vgl.: Raymond Janin, La géographie ecclésiastique de l’empire Byzantin, 1er Partie 3: Les églises et les monastères, Paris 1969, S. 235; ALEKSEI— M. LIDOV, Cerkovц Bogomateri Farossko“. Imperatorski“ hram-relikvari“ kak konstantinopolцski“ Grob Gospoden, in: Vizanti“ski“ mir: iskusstvo Konstantinopolѕ i nacionalцn«e tradicii, Moskau 2005, S. 79–108. Die Hypothesen über die Zeit der Errichtung der Kirche und Entstehung der Reliquiensammlung ebenda s. in: Paul Magdalino, L’église du Phare et les reliques de la Passion à Constantinople ( VIIe – XIIIe siécles ), in: Jannic Durand – Bernard Flusin ( Hgg. ), Byzance et les reliques du Christ ( Centre de recherche d’Histoire et Civilisation de Byzance. Monographies 17 ) Paris 2004, S. 15–30. Eine kurze Übersicht der Berichte abendländischer Pilger im 11.–13. Jahrhundert s. jetzt in: Michel Bacci, Relics of the Pharos Chapel: a View from the Latin West, in: ALEKSEн M. LIDOV ( Hg. ), Vostoљnohristianskie relikvii, Moskau 2003, S. 234–246, besonders die Konkordanz S. 243–245. Von mehreren Nägeln berichten z. B. unabhängig voneinander die Zeitzeugen aus Frankreich und Russland Rober de Clari und Antonij von Nowgorod. So steht etwa bei dem erstgenannten genau, dass es zwei Nägel gab: ‚[ … ] et si i trova [ … ] les deux cleus qu’il eut fichiés par mi les mains et par mi les piés [ … ]‘ – Robert de Clari, La conquête de Constantinople, hg. von Philippe Lauer ( Les classiques française du Moyen Age 40 ) Paris 1924, S. 82 ( cap. 82 ). In der Beschreibung Antonijs geht es einfach um Nägel im Plural ( gvozdi ): Kniga Palomnik. Skazanie mest svѕt«h vo Caregrade Antoniѕ arhiepi-
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aber offenbar ihr ursprüngliches Aussehen und war( en ) weder in Helm oder Krone eingefügt, noch in eine Trense umgestaltet. Sonst hätte ein so ausgezeichnet informierter Autor wie der Sakristan dieser Kirche Nikolaos Mesarites 1201 etwas mehr gesagt haben können, als dass ‚der Würdige Nagel‘ ( ! « ?« ) nicht verrostet sei, weil er zusammen mit drei anderen Nägeln in das Fleisch Christi geschlagen worden war 231. Antonij von Nowgorod berichtet allerdings um 1200 nicht nur von ‚Nägeln‘ in der Palastkirche, sondern darüber hinaus von einem Nagel 232 im Kloster der Auferstehung ( Anastasis ) und von einem weiteren im Kloster des Christus Philanthropos 233. Man dürfte dann wohl in einem der letzten beiden Nägel den erkennen. Das Kloster des Christus Philanthropos war bekanntlich von der Ehefrau des Kaisers Alexios I. Komnenos ( 1081–1118 ) gegründet und auch von Alexios selbst gefördert worden, was eine gute Erklärung geben könnte, wie die Mönche überhaupt in den Besitz einer so hervorragenden Reliquie kommen konnten. Die Tatsache aber, dass die nicht ( mehr? ) im Kaiserpalast aufbewahrt wurde, spricht auf jeden Fall dafür, dass die Bedeutung dieser Reliquie um 1200 im Vergleich zum Beginn des im 6. Jahrhundert, wesentlich gesunken war. Das Vorhandensein der Nägel in Konstantinopel bedeutet bei weitem nicht, dass an Höfen anderer Herrscher die Nägel von Golgatha völlig fehlen mussten. So wurde einer von ihnen in der Aachener Marienkirche aufbewahrt. Obwohl dieser Nagel zum ersten Mal in einem verhältnismäßig späten ( 12.–13. Jahrhundert ) Inventar der Kirchenschätze explizit genannt wurde 234, wird er schon auf der Liste jener Reliquien genannt, welche von einem Vertrauten Karls des Großen, dem Priester und Dichter Angilbert ( ca. 780–814 ) erworben worden waren 235. Kurz vor 1130 sollen Kreuzritter noch einen Nagel in Ramallah ( das als Geburtsort Josefs von Arimathäa galt ) aufgefunden haben. Dieser Nagel wurde seither in der Palastkapelle der Könige von Jerusalem verehrt 236. Später nahm die Anzahl der Nägel immer mehr zu, was die schon oben in einer der Anmerkungen angeführte unvollständige Liste der Orte erklärt, die beanspruchen, in Besitz der Nägelreliquien gekommen zu sein 237.
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skopa Novgorodskogo v 1200 g., hg. von Chrisanf M. Loparëv, in: Pravoslavn«“ Palestinski“ sbornik 17/3, Sankt-Petersburg 1899, S. 1–111, besonders S. 18. Nikolaos Mesarites, Die Palastrevolution des Johannes Komnenos, hg. von August Heisenberg ( Programm des Königlichen Alten Gymnasiums zu Würzburg 1906/07 ) Würzburg 1907, S. 29 f. In einigen Redaktionen wird hier nur von ‚einem Teil des Nagels‘ gesprochen. Vgl.: Janin ( wie Anm. 230 ) S. 20, 526. Heinrich Fichtenau, Byzanz und die Pfalz zu Aachen, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 59, 1951, S. 1–54, hier S. 16 f., Anm. 80. De clavis unde crucifixus est. – Angilberti abbatis de ecclesia Centulensi libellus, hg. von Georg Waitz, in: MGH SS 15/1, Hannover 1887, S. 173–179, hier S. 176 ( cap. 2 ). Vgl.: Fichtenau ( wie Anm. 234 ) S. 17. Hans Eberhard Mayer, Die Hofkapelle der Könige von Jerusalem, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 44, 1988, S. 489–509, hier S. 494 f. Vgl. o. Anm 142. Selbst in der römischen Kirche Santa Croce in Jerusalemme ( 4. Jahrhundert ), welche sowohl mit dem Kult des Echten Kreuzes, als auch mit der Memoria Helenas eng verbunden war, scheinen die heute dort aufbewahrten Passionsreliquien ( einschließlich der Nägel ) kaum früher als im 12. Jahrhundert erworben worden zu sein: Sible de Blaauw, Jerusalem in Rome and the Cult of the Cross, in: Renate L. Colella – Meridith J. Gill – Lawrence A. Jenkens – Petra Lamers ( Hgg. ), Pratum Romanum: Richard Krautheimer zum 100. Geburtstag, Wiesbaden 1997, S. 55–73, hier besonders S. 73.
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Die verschwand offensichtlich 1204 aus Konstantinopel während der Plünderung der Stadt durch die Kreuzritter. Dagegen erschien eine sehr ähnliche Reliquie Anfang des 13. Jahrhunderts in der Kathedrale der südfranzösischen Stadt Carpentras, wo ihr Aufenthalt schon seit 1226 urkundlich greifbar ist. Der lokalen Tradition zufolge hatte ein Teilnehmer des 4. Kreuzzuges die Trense nach dort mitgebracht. Darstellungen der Reliquie aus Carpentras zeigen gut, dass es sich hier tatsächlich um eine Trense mit Psalien handelt, wobei ein Sachkenner diesen Gegenstand vielleicht allein auf Grund seines Aussehens datieren könnte ( Abb. 23 ). Kaum jemand wird je vermögen, mit ganzer Sicherheit diese Trense als diejenige Reliquie zu identifizieren, die bis 1204 in Konstantinopel verehrt wurde. Allerdings kann heute die Möglichkeit, dass es sich tatsächlich um ein- und dasselbe Artefakt handelt, nicht völlig ausgeschlossen werden. Der Fall des zweiten vorhandenen – diesmal aus dem Mailänder Dom – ist insofern komplizierter, als diese Reliquie erst seit 1389 quellenmäßig nachvollziehbar ist 238. Obwohl einige durchaus fromme Kirchenhistoriker des 19. Jahrhunderts davor warnten, den Mailänder <Echten Nagel> für den zu halten 239, erkennen zahlreiche Pilger und Touristen in diesem Gegenstand noch heute nichts anderes als <Sacro Morso>. Dieselbe Interpretation scheint aber auch den Domklerikern gar nicht so fremd gewesen zu sein: es ist wohl vor allem auf die Konkurrenz der überzeugend aussehenden Trense aus Carpentras zurückzuführen, dass man mit der Bezeichnung der Mailänder Reliquie als Zaum im 19. Jahrhundert vorsichtiger wurde. Als guter Beweis dafür, dass die Mailänder schon lange der Meinung waren, sie verfügten nicht bloß über einen Nagel, sondern über einen , könnte das Reliquiar dienen, in welchem der Nagel noch in der alten Kathedrale – der Kirche Santa Tecla – aufbewahrt worden war, bevor die Reliquie 1461 in den neuen Dom überführt wurde. Obwohl dieses Reliquiar verschollen ist, sind zwei seiner visuellen Darstellungen auf Miniaturen in Mailänder Handschriften des späteren 14. Jahrhunderts erhalten. Die erste, welche wie ein eher typisiertes Bild aussieht, befindet sich heute in Paris 240, die zweite, die individuelle Besonderheiten des Reliquiars besser wiedergebend, ist in der Universitätsbibliothek von Modena zugänglich 241. Auf beiden Miniaturen erkennt man, dass das Reliquiar aus Metall ( Gold oder vergoldetem Silber ) hergestellt war, wobei seine obere Seite Bilder vom Kreuz und der aufzubewahrenden Reliquie trug. Die Miniatur aus Modena gibt genug Einzelheiten wieder, um hierin ein Erzeugnis byzantinischer Künstler erkennen zu können 242 ( Abb. 24 ). Die abgebildete Reliquie stellt zweifelsohne die dar, wobei sie in ihrer Konstruktion und Form ( etwa der Psalien ) an die Trense aus Carpentras er238
239 240 241
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Edith W. Kirsch, An Early Reliquary of the Holy Nail in Milan, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 30, 1986, S. 569–576. Fleury ( wie Anm. 226 ) S. 176. Paris, Bibliothèque nationale de France, ms. lat. 757, fol. 255r. Modena, Biblioteca Estense Universitaria, Ms. Lat. 842, fol. 234r. S. die Faksimile-Edition: Libro d’ore del Maestro di Modena: Officium Beatae Mariae Virginis; Lat. 842 = alfa.R.7.3, Biblioteca Estense Universitaria, Modena, Modena 2006. An der Illuminierung des Manuskripts arbeitete wahrscheinlich der Künstler Tommasino da Vimercate. Kirsch ( wie Anm. 238 ) S. 573 f.
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innert. Allerdings hat dieses Bild mit der Mailänder Reliquie erstaunlicherweise nichts gemein. Es ergibt sich aus all diesen Gegebenheiten, dass das Reliquiar mit großer Wahrscheinlichkeit in Konstantinopel hergestellt worden sein musste, und zwar zur Aufbewahrung des , der schon als verstanden wurde. Dann wäre das 6. Jahrhundert die geeignetste Zeit für seine Entstehung, wobei man natürlich auch spätere Datierungen ( bis um 1200 ) nicht ausschließen darf. Nach Mailand konnte das Reliquiar nur nach der Plünderung Konstantinopels 1204 gelangen, wobei es wohl aus einem der zwei oben erwähnten Klöster ( Christus Philanthropos oder Anastasis ) entwendet worden sein dürfte. Sollte man annehmen, die Trense aus Carpentras sei tatsächlich diejenige, welche früher in Konstantinopel verehrt wurde, müsste das <Mailänder> Reliquiar ursprünglich dazu gehört haben. Die Trennung der Reliquie von ihrem Behälter war wohl auch eine Folge der Katastrophe von 1204 – dies konnte entweder noch während der Eroberung der Stadt oder aber erst etwas später geschehen sein, solange Konstantinopel noch unter lateinischer Herrschaft stand. Wie konnte aber der Mailänder <Echte Nagel> mit dem Behälter für die vereinigt werden? Auf diese Frage sind heute wohl drei gleichermaßen hypothetische Antworten möglich. Die erste würde uns nicht weiter führen: der erschien verhältnismäßig spät in Mailand, erst nach dem Reliquiar. Dann verhielten sich beide Gegenstände zueinander nur formell: der Sakristan von Santa Tecla suchte einfach einen passenden Behälter für die neuerworbene Reliquie unter den Schätzen seiner Kirche aus. Die zweite ist ähnlich, nur wird der Nagel für eine ältere Erwerbung gehalten. Die Mailänder missverstanden oder ignorierten gar die ursprüngliche Bestimmung des byzantinischen Reliquiars. Allein sein hoher Wert und vielleicht noch das Zeichen des Kreuzes auf der Vorderseite machten daraus ein würdiges <Etui> für die wichtigste Passionsreliquie Mailands. In diesen beiden hypothetischen Fällen geschah die Verwandlung des Mailänder <Echten Nagels> in <Sacro Morso> erst später, und zwar unter dem suggestiven Einfluss durch das Trense-Bild auf dem Reliquiar auf den Klerus und die Gläubigen. Nur die dritte – ganz spekulative – Antwort könnte interessante Forschungsperspektiven eröffnen. Nur weil der Mailänder <Echte Nagel> schon lange vor 1200 als <Sacro Morso> verstanden wurde, unternahmen die Mailänder zielgerichtete Anstrengungen, um das vielleicht von Venezianern aus Konstantinopel entwendete Reliquiar für die Kirche von Santa Tecla zu beschaffen – gerade deswegen, weil es die Darstellung des zeigte, die ihren eigenen Vorstellung vom Sinn ihrer eigenen Reliquie entsprach. Die Passionsreliquie aus der ehemaligen Kirche von Santa Tecla ähnelt äußerlich weder einer Trense noch einem anderen technischen Teil des Pferdezaumes. Sollten die Mailänder in diesem Gegenstand tatsächlich noch v o r Erwerbung des byzantinischen Reliquiars einen erkannt haben, müsste sich diese gar nicht selbstverständliche Interpretation auf eine lange und feste Tradition gestützt haben. Wären die verwickelten eisernen <Schnüre> von der Mailänder Reliquie beseitigt worden, hätte man in ihr eine Art Anhänger in Form eines Nagels mit prismatischen Kopf erkennen können ( Abb. 25 ). Obwohl er völlig anders als eine Phalera aussieht, könnte dieser vielleicht doch irgendwie für die des Pferdegeschirrs Anwendung gefunden haben.
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Hätten die Mailänder beweisen können, dass sie spätestens im 12. Jahrhundert nicht einfach den Nagel der Kreuzigung, sondern den aus einem solchen Nagel hergestellten verehrten, wäre dies eine gute Möglichkeit, ihre alten Rivalen aus Carpentras endlich zu übertreffen. Denn die französische Reliquie gibt das Verständnis der Wörter .« – fraenum – paguda aus der Kreuzauffindungslegende wieder, welches sich erst im 6. Jahrhundert durchsetzte. Die Interpretation des als einen Anhänger zum Pferdegeschirr muss aber wesentlich näher zur ursprünglichen gewesen sein, die darin ein auf der Stirn des Pferdes befestigtes Phylakterion sah. Schade, dass solche Beweise kaum gefunden werden können, sonst könnte der <Echte Nagel> aus Mailand vielleicht auch in der Gelehrtenwelt als Reliquie anerkannt werden, und wenn nicht als heilige, dann zumindest als historische. Dann könnte es ein Gegenstand gewesen sein, der vielleicht zwischen 400 und 500 auftauchte, und zwar als Nachklang der politischen Trauerrede des Mailänder Bischofs Ambrosius, nachempfunden gerade dem , auf den er, am Sarg Theodosius’ stehend, die Menschenmenge hinwies 243. XIII. ERGEBNISSE
Es wurde auf den vorhergehenden Seiten eine ganze Reihe neuerer Thesen formuliert, deren Begründungen verschieden sicher sind: einige stützen sich auf mehr oder weniger überzeugende Belege, andere bleiben dagegen nur Vermutungen. Eine solch bunte Ansammlung der nach ihrem Ursprung vielfältigen Bekenntnisse in ein zusammenfassendes Narrativ zu vereinigen, würde bedeuten, gerade diese Unterschiede an Plausibilität einzelner Behauptungen zu nivellieren. Aus Gründen einer narrativen Kohärenz müssen selbst völlig fehlende Verbindungsglieder durch rein hypothetische Annahmen ersetzt werden. Trotzdem könnte das daraus resultierende Bild für den Leser von Nutzen sein, vorausgesetzt, er erkennt darin nicht den Anspruch des Autors, Begebenheiten der Vergangenheit so darzustellen, ‚wie sie eigentlich gewesen‘ waren, sondern tatsächlich einen Ausgangspunkt für weitere Diskussionen – sowohl über Zweck und Inhalt der Rede , als auch über die Entwicklung der Kreuzauffindungslegende und nicht zuletzt über die Geschichte der europäischen Insignien und Reliquien. Die wichtigsten der oben gemachten Beobachtungen können also etwa in folgender Art und Weise subsumiert werden. Der beeindruckende Erfolg der Holzreliquie aus Jerusalem regte schon um die Mitte des 4. Jahrhundert auch in anderen Orten des Ostens den lokalen Klerus zur Suche nach weiteren Reliquien der Passion Christi an. In einem uns heute unbekannt bleibenden ( syrischen? ) Ort ( vielleicht in Antiochia selbst? ) kam es zur Auffindung von zwei Nägeln der Golgatha-Kreuzigung, die aber zu dieser Zeit schon durchaus neue Gestalt bekommen haben mussten. Die Entdecker der Nägelreliquien ließen sich dabei gleichzeitig von zwei unabhängigen Traditionen inspirieren. Einerseits kannte man die in Jerusalem damals schon als offiziell geltende , welche ausführlich das Auffinden des Holzes des Echten Kreuzes durch Augusta Helena beschrieb. Andererseits pflegte man aber an diesem unbekann243
Dass die Reliquie aus dem Mailänder Dom nichts Anderes als „il morso constantiniano“ sein kann, wird für selbstverständlich gehalten etwa in: Maspero, La corona ferrea ( wie Anm. 174 ) S. 76 u. ö.
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ten Ort auch die eigene Memoria des Kaisers Konstantin, die unter Anderem ( oder sogar vor Allem ) mit zwei Artefakten verbunden war: einem Helm und einem Pferdezaum. Man ging davon aus ( vielleicht auch zu Recht ), dass beide sich im persönlichen Besitz Konstantins befunden hatten und von ihm selbst benutzt worden waren. Helm und Zaum waren mit Phylakterien versehen, welche christliche Zeichen – wahrscheinlich Christogramme – darstellten, ähnlich wie bei Helmen und Trensen, die Archäologen gelegentlich in den letzten Jahrzehnten gefunden haben. Unter dem Einfluss sich neu gestaltender Praktiken im Zusammenhang mit der rasch verbreiteten Verehrung der Kreuzespartikel erhielten die Christogramme auf Helm und Zaum eine neue Interpretation. Man wollte in ihnen jetzt einen Hinweis auf die physische Anwesenheit der Kreuzreliquien erkennen. Dies legt den zwangsläufigen Schluss nahe, dass diese Reliquien nicht aus Holz, sondern aus Metall bestanden haben mussten. Als <metallische Kreuzreliquien> kamen natürlich zuallererst die Nägel in Frage, weswegen der Helm und der Zaum ( genauer gesagt ein Anhänger zum Zaum ) als verwandelte Kreuzesnägel umgedeutet wurden und dadurch als Objekt christlicher Verehrung Erhebung fanden. Die angebliche Anwendung des Nagels ausgerechnet für den Pferdezaum wurde allerdings von Pilgern und Klerus nicht als selbstverständlich wahrgenommen und benötigte eine explizite Rechtfertigung, wofür man die dunkle Prophezeiung Sacharjas heranzog. Nachrichten über die Etablierung des Nägelkultes bei einer ( syrischen? ) Schwesterkirche bewogen den Bischof von Jerusalem mit dem Klerus der Grabkirche, ihre eigene Version der Kreuzauffindungslegende entsprechend zu erweitern. Man fügte dem schon vorhandenen fixierten Legendentext ein ( kompositionell nicht besonders gelungenes ) über den Fund der Nägel hinzu, wobei diese bereicherte Fassung weite Verbreitung fand, bald auch außerhalb Jerusalems. Sie stellte auch die schriftliche Vorlage für die entsprechende Stelle bei Gelasius dar, weshalb dieser keinesfalls als erster Autor der Helenalegende gelten kann. Aus dem Ort, wo der erste Nagelkult gepflegt wurde, verbreitete sich aber eine eigene Variante derselben Legende, die in verschiedenen Versionen auch dann im Umlauf blieb, als die beiden verehrten Gegenstände in Folge unbekannter Ereignisse entwendet oder aufgrund anderer Ursachen als verschollen galten, wodurch natürlich auch ihr Kult erlosch. Der Abbruch des Nägelkultes bedeutete u. a. das Verschwinden der Kontrolle über die lokale Tradition der Kreuzauffindungslegende, die früher von Klerikern in ihren Erklärungen vor den Reliquien immer wieder kohärent festgehalten wurde – genauso wie es auch in Jerusalem gemacht wurde. Dies musste zu einer Revitalisierung der mündlichen Überlieferungsformen führen, d. h. zur Vervielfältigung der Legendenvarianten und zu ihrer allmählich fortschreitenden Entfernung vom ursprünglichen Kern. Eine verhältnismäßig frühe Fassung jener Kreuzauffindungslegende, die ihren Ursprung schon nicht mehr direkt in Jerusalem, sondern am Ort des ersten Nagelkultes hatte, lässt sich nach der Erwähnung der Prophezeiung Sacharjas erkennen, – ein Motiv, welches der genuin Jerusalemer Tradition völlig fremd war. Zu diesen heute noch greifbaren Fassungen gehören also: 1. jener Text, welcher Ambrosius bei der Vorbereitung seiner Rede zur Verfügung stand und welcher noch von und nicht reden musste, 2. die eigene Erzählung Ambrosius’ in , 3. der Text, welcher zum Anlass für die Ironie Hieronymus’ wurde, 4. die zweite ( nach
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der des Gelasius ) gemeinsame Vorlage für Kreuzauffindungsberichte von Sozomenos und Theodoret, 5. die Kyriakoslegende. Gregor von Tours passt schon deswegen nicht mehr in diese Reihe, weil er als Träger einer ganz neuen narrativen Tradition erscheint, die erst durch die Entstehung des zweiten Nägelkultes im 6. Jahrhundert – diesmal in Konstantinopel – ins Leben gerufen wurde und vor allem auf dem Bericht Theodorets beruhte. Der <Exkurs> über Helena und die Kreuzauffindung konnte keinesfalls eine spätere Hinzufügung in den Text gewesen sein: er gehörte von Anfang an zu den wichtigsten Teilen der Rede, ja stellte vielleicht sogar ihren Höhepunkt dar. Das Hauptziel dieser ( genauso wie der ganzen Rede ) war weder rein literarischer, noch theologischer und schon gar nicht didaktischer Natur. Es ging Ambrosius nicht um die Auslegung seiner theoretischen Ansichten oder um Belehrung des jungen Kaisers, sondern um eine rein politische Angelegenheit: er sorgte für die Absicherung des Machtübergangs an die Regierung Honorius’. Mit Hilfe der zur Schau gestellten Passionsreliquien beabsichtigte Ambrosius, die Legitimierung des zu jungen und offenbar schwachen Kaisers entscheidend zu stärken und dies vor allem in den Augen der Soldaten. Der Bischof von Mailand setzte seine kühnen Experimente mit der Instrumentalisierung christlicher Reliquien für politische Zwecke fort, die er 386 mit der Entdeckung der Märtyrer Gervasius und Protasius begonnen hatte, wobei er diesmal einen durchaus neuen Typ sakraler Objekte erfand – Kronen, die gleichzeitig auch Reliquiare sind; jenen Typ, der im mittelalterlichen Europa hohes Ansehen und weite Verbreitung finden sollte. Dadurch erscheint Ambrosius in unseren Augen als Autor einer wichtigen kulturell-symbolischen und politischen Innovation, was von Historikern bisher meist übersehen wurde. Es lassen sich allerdings heute keine deutlichen Verbindungslinien vom Ambrosianischen zu mittelalterlichen Kronen mit Kreuzesreliquien nachweisen. Es gibt nach wie vor keine ernstzunehmenden Argumente dafür, dass der Kranz auf dem Haupt Honorius’ sich später in eine der ( sei es in Aachen Anfang des 9. Jahrhunderts, sei es in Konstantinopel Mitte des 10. Jahrhunderts ), in die durchaus legendäre <Eiserne Krone> der Könige der Langobarden oder in die heute noch real existierende Krone aus dem Dom zu Monza verwandelte. Keine Beweise können auch für die Annahme geliefert werden, dass die Veränderungen in der Form des Trifoliums auf Helmen und Kronen byzantinischer Herrscher späterer Zeiten auf eventuelle Erinnerungen an das mit dem zurückgeführt werden können. Als die beste visuelle Parallele zu diesem Diadem kann der Kaiserkranz auf der Rothschild-Kamee gelten. Es bestehen allerdings noch keine sicheren Gründe für die verlockende Vermutung, dass der Kranz mit Christogramm auf dem Haupt des jungen Kaisers auf der Rothschild-Kamee nichts anderes sei als die bildliche Darstellung des heiligen Diadems Helenas und Konstantins, auf welches Ambrosius von Mailand am 25. Februar 395 in seiner Trauerrede hinwies, während es das Haupt des jungen Kaiser Honorius zierte.
Novus David
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Novus David – N« Zur Frage nach byzantinischen Vorläufern eines abendländischen Topos 1 Der biblische König David ist, weit über das Mittelalter hinaus, aus dem Herrschaftsbild des christlichen Abendlandes nicht wegzudenken 2. Im höfischen Zeremoniell, in der Repräsentation, aber auch in der Kritik von Herrschaft dient David als Vorbild, als Typus, als Ideal. Fürsten, Könige und Kaiser geben sich als neue Davide, imitieren den alttestamentlichen Herrscher, der bereits in der Bibel als idealer König hochstilisiert, der als genealogischer Stammvater des judäischen Königtums und, so will es die Bibel, als direkter Vorfahre des Jesus von Nazareth nicht nur zum Typus Regis, sondern zum Typus Christi wird, zur heilsgeschichtlichen Antizipation des verheißenen Friedensfürsten 3. Sie imitieren David, den von Gott erwählten König Israels, der als unterstellter Dichter und Sänger der biblischen Psalmen nicht nur zur idealen Verkörperung der christlichen Tugenden – Glaube, Liebe, Hoffnung –, sondern mit den in den Psalmen zu findenden Verheißungen selbst zum Propheten wird: david rex et propheta ist denn auch eine seiner gängigen Bezeichnungen 4. Sie imitieren schließlich einen David, der sich den biblischen Berichten zufolge durchaus nicht immer nur vorbildlich verhalten hat. So führt er etwa gegen seinen eigenen Sohn Abshalom Krieg oder zeugt mit Batsheba, einer sicherlich schönen, aber leider bereits mit einem anderen verheirateten Frau ein Kind – seinen Nachfolger Salomon – und lässt Batshebas Mann kurzum beseitigen. Allein, von Nathan zur Raison gebracht, bekennt er – und das ist im mittelalterlichen Verständnis das Entscheidende – seine Fehltat und zeigt sich bußfertig, so dass er schließlich in solch vorbildlich reumütigem Umgang mit sei-
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Dies ist die überarbeitete Version eines Vortrages, welchen der Verfasser anlässlich des Tandem-Seminars des Promotionskollegs der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg gehalten hat. Für seine wertvollen Hinweise im Anschluss an den Vortrag sei Raimondo Tocci herzlich gedankt, ebenso Michael Grünbart für seine kritische Durchsicht des vorliegenden Manuskripts. Sämtliche hier vertretenen Thesen obliegen dennoch natürlich allein der Verantwortung des Autors. Einen sehr breiten und fundierten Überblick über die Rezeptionsgeschichte Davids bietet Walter Dietrich – Hubert Herkommer ( Hgg. ), König David. Biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt ( Kolloquien der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 19 ) Fribourg 2003. Einen Katalog bildlicher Darstellungen präsentiert Colum Hourihane ( Hg. ), King David in the Index of Christian Art ( Resources 2 ) Princeton 2002. Ein ausführlicher Überblick über mittelalterliche David-Imitationen sowie eine reichhaltige Bibliographie finden sich bei Hubert Herkommer, Typus Christi – Typus Regis. König David als politische Legitimationsfigur, in: Dietrich – Herkommer ( wie Anm. 2 ) S. 383–436. Vgl. Adrian Mettauer, David sanctissimus rex. Ein frühmittelalterliches Herrscherideal im Schnittpunkt klerikaler und laikaler Interessen, in: Encomia-Deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der ICLS, Tübingen 2002, S. 25–38.
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nen Verfehlungen zum Garant einer spezifisch christlichen Herrschertugend wird, nämlich der Demut 5. David ist der Herrscher par excellence. Eine der ausgefeiltesten David-Imitationen findet sich bereits bei Karl dem Großen, als erstem westlichem Kaiser gleichsam bei dem Begründer des abendländischen Herrscherbildes. Nicht nur in seinem Umfeld wurde er mehrfach dezidiert mit David verglichen 6, vielmehr inszenierte Karl sich selbst als Vollstrecker davidischer Anliegen, wenn er etwa 794 Papst Hadrian I. den so genannten Dagulf-Psalter zu schenken beabsichtigte, einen mit Elfenbein-Platten geschmückten Band, der neben einer Reihe von Glaubensbekenntnissen eine revidierte, gewissermaßen Fassung des Psalmtextes repräsentieren sollte, wodurch sich Karl, wie auch das Bildprogramm der Elfenbein-Platten unterstreicht 7, wenn natürlich nicht als Verfasser, so doch als Hüter, ja als Bürge des Psalmtextes in eine Linie mit David und Hieronymus stellte. Am deutlichsten aber tritt Karls David-Mimesis im Rahmen eines Namenspiels hervor, das – wohl auf Anregung Alkuins – an seinem Hof gepflegt wurde und bei welchem jeder sich einen passenden Namen aus der griechischen oder biblischen Antike zulegte: Karl ließ sich in diesem Kreis schlichtweg als David ansprechen 8. Weil nun aber Karl, gerade was die Selbstdarstellung seines Kaisertums, das höfische Zeremoniell oder etwa auch die Rituale bei seiner Einsetzung betrifft 9, sich in weiten Teilen an den byzantinischen Ritus anlehnte, ihn zum Teil schlechthin kopierte, lag es in der Erforschung des westlichen Herrscherbildes schon immer nahe zu fragen, inwiefern nicht auch Karls Anlehnung an das große alttestamentliche Vorbild und damit die ganze Davidisierung abendländischer Herrschaftstradition letztlich bloß die Kopie einer byzantinischen Legitimationsstrategie war. Tatsächlich finden sich vor allem in der älteren Literatur zur byzantinischen Kunst- und Kulturgeschichte zahlreiche Bestätigungen, dass David im byzantinischen Herrscherbild seit jeher eine wichtige Rolle gespielt habe. So stellt André Grabar bereits 1936 in einer Monographie zu Kaiserdarstellungen in der byzantinischen Kunst fest, es gebe keinen Zweifel „sur l’intention des artistes de faire ressortir le parallèle entre le règne de David et le gouvernement des basileis contemporains.“ 10 Zwei Jahre spä5
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2Sam 11 und 2Sam 18; vgl. Heinz Bellen, Christianissimus Imperator. Zur Christianisierung der römischen Kaiserideologie von Constantin bis Theodosius, in: Ders., Politik – Recht – Gesellschaft. Studien zur Alten Geschichte, Stuttgart 1997, S. 153–166, bes. S. 164 f.; sowie Rudolf Schieffer, Von Mailand nach Canossa, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 28, 1972, S. 333–370, S. 340 f. So wohl zuerst von Alkuin in einem Brief von 794/795, vgl. Epistolae Karolini aevi 2, hg. von Ernst Dümmler ( MGH Epp. 4 ) Berlin 1895, Nr. 41, S. 84, 17–19. Vgl. Adrian Mettauer, Orthokratie und Orthodoxie. Der Dagulf-Psalter als Geschenk Karls des Großen an Papst Hadrian I., in: Michael Stolz – Adrian Mettauer ( Hgg. ), Buchkultur im Mittelalter. Schrift – Bild – Kommunikation, Berlin – New York 2005, S. 41–63. Vgl. Herkommer ( wie Anm. 3 ) S. 409, sowie für weitere Belege die Dissertation von Ernst Rieber, Die Bedeutung alttestamentlicher Vorstellungen für das Herrscherbild Karls des Großen und seines Hofkreises, Tübingen 1949. Peter Classen, Karl der Große, das Papsttum und Byzanz, Sigmaringen 1985; nun auch Rudolf Schieffer, Neues von der Kaiserkrönung Karls des Großen ( Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Jg. 2004 Heft 2 ) München 2004. André Grabar, L’empereur dans l’art byzantin. Recherches sur l’art officiel de l’empire d’orient, Strasbourg 1936, S. 96 ( Hervorhebung im Original ); die Studie wurde 1971 bei Variorum Reprint, London, neu aufgelegt, gehört inzwischen aber, auch wenn sie weiterhin noch zitiert wird, wohl eher zur Forschungsgeschichte.
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ter bemerkt Otto Treitinger in einer Studie zur oströmischen Kaiser- und Reichsidee, es sei jeder byzantinische Kaiser in der Nachfolge Konstantins des Großen selbst „ein neuer Konstantin und damit ein neuer dreizehnter Apostel, ein ‚neuer David‘, ‚Moses‘ usw.“, denn „der byzantinische Kaiser sollte eben wieder als Nachfolger der alttestamentlichen Könige, ja selbst als ein solcher erscheinen.“ 11 Dass damit eine Davidisierung des oströmischen Kaisertums bereits in frühbyzantinischer Zeit – wenn nicht sogar bereits unter Konstantin dem Großen – stattgefunden habe, wurde in der Folge immer wieder reklamiert 12; bis heute ist, oft unter Berufung auf die zwei genannten Autoren, die These weit verbreitet, dass es, wie es etwa Rainer Stichel in einer 2007 veröffentlichten Studie zur Rezeptionsgeschichte des Psalters formuliert hat, „zu allen Jahrhunderten“ den byzantinischen Kaisern gefallen habe, „wenn Hofredner, Hofdichter, Theologen sie als ‚neuen David‘ priesen.“ 13 Der Schluss lag daher seit jeher nahe, die abendländische David-Mimesis, und insbesondere die Karls des Großen tatsächlich in imitierender Konkurrenz zu Byzanz zu verstehen 14, was Hugo Steger noch 1961 in einer bis heute als Klassiker geltenden Monographie zum abendländischen Herrscherbild ausformuliert hat: Weil eine „imitatio David regis durch den Herrscher auch für den byzantinischen Raum“ bereits „Jahrhunderte früher als im Norden“ bezeugt gewesen sei, sei Karls imitatio „im Zuge des geistigen Ringens um Gleichberechtigung zwischen Aachen und Byzanz“ als „politische Rivalität der Karolinger mit dem <novus David> in Byzanz“ zu verstehen 15. Karls David-Mimesis wäre demnach direkt von byzantinischen Vorbildern inspiriert. 11
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Otto Treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, Jena 1938, ND Darmstadt 1956, S. 130 f. Zum Stellenwert Treitingers und Grabars ( wie Anm. 10 ) in der Forschungsliteratur s. Peter Schreiner, Byzanz 565–1453 ( Oldenbourg Grundriss der Geschichte 22 ) München 32008, S. 203. Vgl. Heinrich Fichtenau, Byzanz und die Pfalz zu Aachen, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 59, 1951, S. 1–54, S. 30; Eugen Ewig, Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Theodor Mayer ( Hg. ), Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen ( Vorträge und Forschungen 3 ) Sigmaringen 1956, S. 7–73, S. 11; Francis Dvornik, Early Christian and Byzantine Political Philosophy. Origins and Background ( Dumbarton Oaks Studies 9 ) Washington ( D.C. ) 1966, S. 645; Hugo Buchthal, The Exaltation of David, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 37, 1974, S. 330–333, S. 332; Susanne Alexander Spain, Heraclius, Byzantine Imperial Ideology, and the David Plates, in: Speculum 52, 1977, S. 217–237, S. 227 f. Rainer Stichel, Beiträge zur frühen Geschichte des Psalters und zur Wirkungsgeschichte der Psalmen, Paderborn 2007, S. 537; vgl. bereits Ders., Scenes from the Life of King David in Dura Europos and in Byzantine Art, in: Bianca Kühnel ( Hg. ), The Real and Ideal Jerusalem in Jewish, Christian and Islamic Art. Studies in Honor of Bezalel Narkiss on the Occasion of his Seventieth Birthday ( = Jewish Art 23/24, 1997/98 ) Jerusalem 1998, S. 100–116, S. 100–103. Von sprachen insbesondere Peter Bloch, Das Apsismosaik von Germigny-des-Près. Karl der Große und der alte Bund, in: Wolfgang Braunfels ( Hg. ), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, 4 Bde., Düsseldorf 21966, 3, S. 234–261, S. 259, und Heinrich Fichtenau, Karl der Große und das Kaisertum, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 61, 1953, S. 257–334, S. 332; vgl. auch Josef Fleckenstein, Karl der Große und sein Hof, in: Braunfels, 1, S. 24–50, S. 45. Hugo Steger, David rex et propheta. König David als vorbildliche Verkörperung des Herrschers und Dichters im Mittelalter, nach Bilddarstellungen des achten bis zwölften Jahrhunderts, Nürnberg 1961, S. 128. Das Werk blieb freilich nicht ohne Kritik, s. beispielsweise die Rezension von David H. Wright, in: Speculum 39, 1964, S. 751–753.
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Die These einer verbreiteten David-Mimesis bereits der frühbyzantinischen Kaiser blieb bis vor wenigen Jahren unhinterfragt bestehen, als Claudia Ludwig in recht unspezifischer Weise anmerkte, „die Figur des biblischen König David“ gehöre „seltener als man erwarten würde“ ins „Standardrepertoire“ byzantinisch-kaiserlicher Selbstdarstellung 16. Die These einer Konkurrenz-Situation zwischen dem byzantinischen und dem fränkischen David hingegen wurde schon früher in Frage gestellt, weil die Entwicklungen am fränkischen Hof auch unabhängig von Byzanz und höchstens „mittelbar durch das Kaisertum angeregt“ verstanden werden konnten 17. Tatsächlich bedürfen die beiden Thesen einer eingehenden kritischen Prüfung, und zwar aus folgenden Gründen: Sofern sich erstens moderne Autoren überhaupt die Mühe machen, eine frühbyzantinische David-Mimesis – die Voraussetzung für eine imitierende Übernahme im Westen – mit konkreten Beispielen zu belegen, so handelt es sich fast durchgehend um immer dieselben, fast schon stereotyp wiederholten Fälle; zweitens sind diese immer gleichen Belege nur gerade zwei an der Zahl, nämlich Kaiser Herakleios, der von 610 bis 641 regiert hat, und Basileios I., byzantinischer Kaiser von 867 bis 886 unserer Zeitrechnung. Damit springt sogleich ein dritter Punkt ins Auge: Nur eines dieser Beispiele stammt überhaupt aus der Zeit vor Karl dem Großen. Anlass genug also, die Problematik um Übernahmen, Imitationen und Beeinflussung in der Herrschaftslegitimation zwischen Byzanz und dem Abendland im Hinblick auf David neu aufzurollen. Dies soll im Folgenden ansatzweise versucht werden, indem in einem ersten Schritt die greifbaren möglichen David-Belege aus dem Umfeld frühbyzantinischer Kaiser gesammelt und geprüft werden 18. Dabei wird sich zeigen, dass der Vergleich mit dem biblischen König in Selbstverständnis und Repräsentation byzantinischer Kaiser vor dem Jahr 800 nahezu keine Rolle spielt. In einem zweiten Schritt wird dieser Befund kurz zu interpretieren und mit den abendländischen sowie den byzantinischen Ereignissen nach 800 in Beziehung zu setzen sein.
I Entgegen der wiederholten Behauptung, schon Konstantin der Große sei ein neuer David gewesen, ist über zeitgenössische David-Vergleiche aus dem Umfeld des ersten christlichen Kaisers nichts bekannt 19. Wohl lässt sich nachweisen, dass Kon-
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Claudia Ludwig, David – Christus – Basileus. Erwartungen an eine Herrschergestalt, in: Dietrich – Herkommer ( wie Anm. 2 ) S. 367–382, S. 369 mit Anm. 1. So bereits Ewig ( wie Anm. 12 ) S. 37; vgl. Wolfram von den Steinen, Karl und die Dichter, in: Braunfels ( wie Anm. 14 ) 2, S. 63–94, S. 77: „Karls Betitelung als David“ sei „etwas anderes“ gewesen „als der bloße Vergleich mit David, wie er seit Konstantin gern gebraucht wurde.“ Ebenso nun auch Herkommer ( wie Anm. 3 ) S. 411: Die charakteristische Gestalt des abendländischen Königtums sei „unabhängig von der noch älteren Einbeziehung Davids in die oströmisch-byzantinische Kaiseridee“ entstanden. Den umfangreichsten Katalog an möglichen David-Vergleichen bietet Spain ( wie Anm. 12 ) S. 227 f. Anm. 54. Vgl. auch Marc Philonenko, L’histoire du roi David dans l’art byzantin. Nouvel examen des plats de Chypre, in: Rudolf Zeitler ( Hg. ), Les pays du nord et Byzance ( Scandinavie et Byzance ). Actes du colloque d’Upsal 20–22 avril 1979 ( Figura 19 ) Uppsala 1981, S. 353–357, S. 353. Was in der Forschung eigentlich auch längst schon bekannt ist, vgl. bereits Ewig ( wie Anm. 12 ) S. 138.
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stantin sich nicht nur als 13. Apostel, sondern gar als neuer Christus inszeniert hat 20, wohl sind Moses-Vergleiche aus seinem Umfeld bekannt 21 – David hingegen fehlt komplett. Erst gut hundert Jahre nach seinem Tod wird in kirchlichen Kreisen bisweilen ein Vergleich mit David gezogen werden 22. Dies ist für die vorliegende Untersuchung verständlicherweise belanglos, zumal wegen der gänzlichen Abwesenheit jeglicher zeitgenössischer Indizien bei einer doch sehr beachtlichen Menge an erhaltenen Quellen zum Zeremoniell und zur Selbstdarstellung Konstantins des Großen ausgeschlossen werden kann, dass diese späten, rückblickenden Belege auf eine bereits seit Konstantin bestehende, aber verloren gegangene Tradition zurückgreifen würden 23. Ohnehin ist, anders als später im Abendland, bei Belegen aus kirchlichem Umfeld im römischen und damit auch im byzantinischen Bereich Vorsicht geboten. Weil das römische Kaisertum zum Zeitpunkt der konstantinischen Wende, die ja auch in anderen Bereichen gar keine Wende war 24, schon auf eine 350jährige Herrschaftstradition zurückblicken konnte, seine spezifischen Legitimationsstrategien damit längst ausgebildet, das Zeremoniell längst gefestigt hatte, kam kirchlichen Würdenträgern in der imperialen Repräsentation über weite Strecken bloß eine Statistenrolle zu. Als ehemaliger Pontifex Maximus blieb auch der christliche, byzantinische Kaiser gewissermaßen der Kirche 25 – er rief beispielsweise die Konzilien ein, während es etwa erst im 6. Jahrhundert dem konstantinopolitanischen Patriarchen zukommen sollte, den Kaiser zu krönen, was ihm aber bezeichnenderweise nicht als kirchlichem Würdenträger, sondern als vornehmstem B ü r g e r Konstantinopels zustand 26. Erst ab dem 7. Jahrhundert fanden Krönungen in Sakralräumen statt und erst im 13. Jahrhun20
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Dazu ausführlich Rudolf Leeb, Konstantin und Christus. Die Verchristlichung der imperialen Repräsentation unter Konstantin dem Großen als Spiegel seiner Kirchenpolitik und seines Selbstverständnisses als christlicher Kaiser, Berlin – New York 1992; vgl. auch Bellen ( wie Anm. 5 ). Dazu grundlegend Erich Becker, Konstantin der Große, der ‚neue Moses‘. Die Schlacht am Pons Milvus und die Katastrophe am Schilfmeer, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 31, 1910, S. 161–171. So in der Kirchengeschichte Theodorets, Historia ecclesiastica, hg. von Léon Parmentier, Berlin 31998, lib. 1, cap. 33, S. 89 ( vgl. Migne PG 82, Sp. 989B ); zudem im Jahre 457 in einem Brief der isaurischen Bischöfe an Kaiser Leo I. ( Mansi 7, S. 559 ), der insofern höchstens der leonischen Propaganda zuzuordnen wäre ( s. unten bei Anm. 39 ); schließlich in einer anonymen Biographie über Petrus den Iberer, hg. von Richard Raabe, Petrus der Iberer. Ein Charakterbild zur Kirchen- und Sittengeschichte des 5. Jahrhunderts. Syrische Übersetzung einer um das Jahr 500 verfassten griechischen Biographie, Leipzig 1895, S. 40. Steger ( wie Anm. 15 ) S. 108, behauptet dies – leider ohne es begründen zu können – für die anonyme Biographie Petrus’ des Iberers, deren betont monophysitische Haltung aber unmöglich mit dem orthodoxen Hof in Verbindung gebracht werden kann. Vgl. die ausführliche Diskussion bei Klaus M. Girardet, Die Konstantinische Wende und ihre Bedeutung für das Reich. Althistorische Überlegungen zu den geistigen Grundlagen der Religionspolitik Konstantins d. Gr., in: Ders., Die Konstantinische Wende. Voraussetzungen und geistige Grundlagen der Religionspolitik Konstantins des Großen, Darmstadt 2006, S. 39–155, S. 48–52. Inwiefern der Status des byzantinischen Kaisers als Caesaropapismus umschrieben werden kann, bleibt umstritten; positiv äußern sich etwa Marie Theres Fögen, Das politische Denken der Byzantiner, in: Iring Fetscher – Herfried Münkler ( Hgg. ), Pipers Handbuch der politischen Ideen II, München – Zürich 1993, S. 41–85, S. 64–67; sowie Leeb ( wie Anm. 20 ) S. 148; kritisch hingegen bleiben Ralph-Johannes Lilie, Byzanz. Kaiser und Reich, Köln – Weimar – Wien 1994, S. 40 ff., und Schreiner ( wie Anm. 11 ) S. 208 ( mit weiterführender Literatur ). Dazu grundlegend Frank E. Brightman, Byzantine Imperial Coronations, in: Journal of Theological Studies 2, 1901, S. 359–392.
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dert sollte bei der Kaiserkrönung auch ein Salbungsritual eingeführt werden 27. Entscheidende Legitimationsinstanzen blieben für den ganzen hier interessierenden Zeitraum vielmehr der Senat, das Heer und das Volk 28. Da sich kirchliche Äußerungen an oder über den Kaiser insofern auch nicht als Legitimationsangebot verstehen lassen, sagt es noch nichts über das kaiserliche Selbstverständnis oder gar über eine aktive Propagierung einer David-Mimesis aus, wenn einzig irgendein Provinzbischof oder ein Kirchenhistoriker den byzantinischen Kaiser mit David vergleichen sollte. Besonders deutlich zeigt sich dies unter Konstantins Sohn und Nachfolger Konstantius, unter welchem sich zum ersten Mal ein zeitgenössischer David-Vergleich findet. Der Kirchenvater Athanasius, im Jahr 356 zum dritten Mal von seinem Bischofssitz abgesetzt und ins Exil geschickt, fühlte sich verleumdet und schrieb daher dem Kaiser: „Ahme den David nach, der da spricht: Wer seinen Nächsten heimlich verleumdet, den werde ich verfolgen“, und weiter: „denn der heiligste David, dem – darin stimmen alle überein – nachzueifern Dir wohl bekäme, hat derartige Menschen nicht geduldet, sondern sie wie tollwütige Hunde verfolgt.“ 29 Statt eine David-Mimesis zu belegen, unterstreicht der Konjunktiv im zweiten Zitat vielmehr, dass es dem Kaiser von sich aus offensichtlich nicht in den Sinn gekommen wäre, sich mit David zu identifizieren 30. Etwas anders gestaltet sich die Situation unter Theodosius I., gesamtrömischer Kaiser von 379–395. Auch er wird von einem Kirchenvater, dem Mailänder Bischof Ambrosius, mit David verglichen; dies sogar zweimal. Ein erstes Mal, als nach dem Brand einer Synagoge in Kallinikos in Kleinasien Theodosius dem dortigen Bischof die Finanzierung des Wiederaufbaus der Synagoge aufbürden wollte, weil diese offensichtlich von Christen angezündet worden war. Ambrosius schrieb ihm: ‚Was war die Forderung durch den Propheten Nathan an König David selbst, jenen frommen und sanften Menschen? „Ich“, sagte er, „ich habe dich als jüngsten aus deinen Brüdern erwählt, ich habe dich mit einem sanftmütigen Geist gefüllt, ich habe dich durch Samuel gesalbt, in welchem ich und mein Name gewesen sind, ich habe dich, nachdem ich jenen vorderen König erduldet habe, den ein böser Geist geritten hat, so dass er die Priester des Herrn verfolgt hat, ich habe dich von einem Exulanten zum Triumphator gemacht. … Und du bringst meine Diener in die Gewalt meiner Feinde? Du nimmst weg, was meinem Diener gewesen ist, so dass nicht nur du von Sünden gezeichnet wirst, sondern zudem meine Feinde noch Grund zu triumphieren erhalten?“‘ 31
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Vgl. Christopher Walter, Raising on a Shield in Byzantine Iconography, in: Revue des Études Byzantines 33, 1975, S. 133–175, S. 171 f.; sowie Georg Ostrogorsky, Zur Kaisersalbung und Schilderhebung im spätbyzantinischen Krönungszeremoniell, in: Herbert Hunger ( Hg. ), Das byzantinische Herrscherbild, Darmstadt 1975, S. 94–108. Unter Volk ist dabei meistens die Stadtbevölkerung Konstantinopels zu verstehen, vgl. Schreiner ( wie Anm. 11 ) S. 74 f., S. 78 f. Athanasius, Apologia ad Constantium, hg. von Jan Szymusiak ( SC 56 ) Paris 1987, S. 99, S. 133. Das erste Zitat spielt zudem nicht auf David als Herrscher, sondern auf David als Psalmisten an; mehr dazu unten bei Anm. 71. Wie wenig aus der Existenz dieser Vergleiche geschlossen werden kann, dass sie an ein bereits bestehendes kaiserliches Selbstverständnis appellierten, unterstreicht schließlich auch die Tatsache, dass Athanasius den Kaiser ebenso mit dem Antichristen, bzw. mit dessen Wegbereiter vergleicht: Athanasius, Historia Arianorum, hg. von Hans-Georg Opitz, Berlin 1935 f., cap. 46,3, cap. 67,3 f., cap. 76,1; vgl. Patricia Just, Imperator et Episcopus. Zum Verhältnis von Staatsgewalt und christlicher Kirche zwischen dem 1. Konzil von Nicaea ( 325 ) und dem 1. Konzil von Konstantinopel ( 381 ), Stuttgart 2003, S. 64. Ambrosius, Epistolae, hg. von Michaela Zelzer ( CSEL 82,3 ) Wien 1982, Nr. 41, cap. 25, S. 159.
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Wie einst der Prophet Nathan den König David wegen seines Ehebruchs mit Batsheba und der Ermordung ihres Mannes zur Rechenschaft gezogen hat, so versucht nun auch Ambrosius als neuer Nathan den Kaiser in die Rolle des bußfertigen David zu drängen. Noch deutlicher wird dieses Ansinnen in einem zweiten Schreiben, als nach einem Zwischenfall in Thessaloniki zahlreiche Zivilisten auf Geheiß des Kaisers massakriert werden. Ambrosius lässt ihm mitteilen, er könne des Kaisers Teilnahme am Abendmahl nicht rechtfertigen, müsse ihn exkommunizieren und könne ihn erst wieder in die Gemeinde aufnehmen, wenn er öffentlich Buße getan habe. Dazu schreibt er ihm: ‚Oder schämst du dich, Kaiser, zu tun, was David, der König und Prophet, der Stammvater Christi dem Fleische nach, getan hat? Ihm ist gesagt worden, dass ein Reicher, der mehrere Herden hatte, wegen der Ankunft eines Gastes das einzige Lamm eines Armen raubte und schlachtete; und weil er erkannte, dass er selbst beschuldigt wurde, da er es selbst getan hatte, sagte er: „Ich habe vor Gott gesündigt.“ Sei deshalb nicht unfähig zu ertragen, Kaiser, wenn dir gesagt wird: „Du hast ebenso getan“, was dem König David vom Propheten gesagt worden ist. Denn wenn du dir dies aufmerksam anhören und dann sagen würdest: „Ich habe vor Gott gesündigt“, wenn du jenes königliche Prophetenwort sagtest: „Kommt, lasst uns anbeten und niederfallen vor ihm, lasst uns bitten vor unserem Herrn, der uns gemacht hat“, so soll auch dir gesagt werden: „Weil es dich verdrießt, vergibt dir der Herr deine Sünden, und du wirst nicht sterben.“‘ 32
Die beiden Episoden könnten nun ebenfalls als Dokumente k i r c h l i c h e r Beeinflussungsversuche, die nichts mit dem imperialen Herrscherbild zu tun haben, ad acta gelegt werden, wenn denn nicht Theodosius den bischöflichen Anliegen in beiden Fällen nachgekommen wäre. So ersparte er dem kallinikischen Bischof tatsächlich den Wiederaufbau der abgebrannten Synagoge und zögerte auch nicht, öffentlich Buße zu tun, um am Weihnachtstag 390 feierlich wieder zum Gottesdienst zugelassen zu werden 33. Hat damit Kaiser Theodosius eine David-Mimesis in sein höfisches Zeremoniell aufgenommen? Mangels weiterer, positiver Belege für eine aktive Propagierung eines David-Vergleichs von kaiserlicher Seite her sollte die Frage nicht allzu leichtfertig bejaht werden. Denn eines fällt auf: Als Theodosius 395 stirbt, darf derselbe Bischof Ambrosius die Trauerrede halten, und er flicht in diese Rede erneut eine Reihe von DavidVergleichen ein. Erstaunlich ist nur, dass alle Vergleiche bloß implizit erschließbar sind, etwa aus nicht als solchen gekennzeichneten Psalmzitaten, in einem Fall sogar durch Anlehnung an eine Wendung aus einem der beiden oben zitierten Mahnbriefe 34. Nur Insider konnten damit die Parallelisierung überhaupt nachvollziehen; und auch wenn solche versteckten Andeutungen bisweilen ins Repertoire einer antiken – und erst recht einer byzantinischen – Rede gehören 35, kann man sich beim Lesen dieser Rede 32 33
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Ambrosius ( wie Anm. 31 ) Nr. 51, cap. 7, S. 214. Vgl. Herkommer ( wie Anm. 3 ) S. 392 f.; sowie Bellen ( wie Anm. 5 ) S. 163 f. mit seiner einleuchtenden Argumentation, dass vom Bußakt von Mailand nicht vorschnell eine Linie nach Canossa gezogen werden dürfe ( so bereits Schieffer [ wie Anm. 5 ] S. 368 f. ). Vgl. Ambrosius, De obitu Theodosii, Migne PL 16, cap. 17, Sp. 1391 mit Ps 116,1; ebd., cap. 27, Sp.1394 mit 2Sam 24,17; sowie ebd., cap. 34, Sp. 1396 (quod privati erubescunt, non erubuit imperator, publicam agere poenitentiam ) mit dem ersten Satz des oben bei Anm. 32 zitierten Abschnitts, schließlich: Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum, hg. von Pierre Hadot und übers. von Marius Cordier ( SC 239 ) Paris 1977, lib. 4, cap. 15, S. 92 ( Quod erubescunt facere privati rex non erubuit confiteri ). Vgl. Herbert Hunger, Art. , in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2, 1994, S. 92–118, S. 95; vgl. bereits Ders., Aspekte der griechischen Rhetorik von Gorgias bis zum Un-
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des Verdachts nur schwer erwehren, es sei Ambrosius versagt worden, Theodosius noch einmal mit David zu vergleichen. Die Gründe hierfür lägen auf der Hand, denn Ambrosius hat sich mittels der biblischen Parallele eine Einflussmöglichkeit auf den Kaiser zu verschaffen gesucht, die am Kaiserhof kaum auf Gegenliebe gestoßen sein dürfte. Das Bild des vorbildlich-gehorsamen Königs David, das Ambrosius auch noch anderweitig zu popularisieren versuchte 36, entsprach dem römisch-byzantinischen Herrscherbild offenbar nicht 37. Auch unter den nachfolgenden Kaisern sind es ausschließlich kirchliche Belege, die einen David-Vergleich artikulieren: So wurde Markian auf dem Konzil von Chalcedon 450 als ‚neuer Konstantin, neuer Paulus‘, und, erst an dritter Stelle, als ‚neuer David‘ akklamiert, dem Gott eine ebenso lange Regierung geben solle, wie David sie gehabt habe 38. Als Kaiser Leo I., Markians Nachfolger, von sämtlichen Bischöfen des Reiches Stellungnahmen zu den chalcedonensischen Beschlüssen verlangte, wurde auch er in drei dieser bischöflichen Antwortschreiben mit David verglichen 39. Nicht anders erging es im 6. Jahrhundert schließlich Iustin I., Kaiser von 518 bis 527, der von Papst Hormisdas ebenso wie von Bischof Innozenz von Maronia in zum Teil nicht ein-
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tergang von Byzanz ( Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 277,3 ) Wien 1972, S. 25. Ambrosius schrieb zwei Verteidigungsschriften für David, um dessen biographische Ausrutscher in ein für antike Leser rühmliches Licht zu rücken und David als Vorbild zu präsentieren ( Apologia prophetae David [ wie Anm. 34 ]; Apologia altera prophetae David, Migne PL 14, Sp. 925–959 ); ein vergleichbares Ziel verfolgte er auch in mehreren Abschnitten seines De officiis ministrorum, hg. von Maurice Testard ( CC 15 ) Turnhout 2000, lib. 2, cap. 32–38; vgl. auch ebd. lib. 1, cap. 31 und lib. 2, cap. 6. Zudem veranlasste er wohl selbst den in Holz geschnittenen David-Zyklus an den Türen von St. Ambrogio in Mailand, vgl. Ernst Dassmann, Zu den Davidszyklen im Apollon-Kloster von Bawit, in: Ders. – Klaus Thraede ( Hgg. ), Tesserae. Festschrift für Josef Engemann, Münster 1991, S. 126–137, S. 132; Gude Suckale-Redlefsen, Die Bilderzyklen zum Davidleben. Von den Anfängen bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Diss. München 1972, S. 6. Zur generell ablehnenden Haltung des Kaisers gegenüber Ambrosius vgl. Just ( wie Anm. 30 ) S. 195–202. Concilii Chalcedonensis Actio 4. Acclamationes Episcoporum, in: Acta Conciliorum Oecumenicorum 2.1.2, S. 155 ( vgl. Mansi 7, S. 169 ). Zu beachten ist die viel wichtigere Rolle Konstantins: ‚Markian ist ein neuer Konstantin, ein neuer Paulus, ein neuer David. Die Jahre Davids dem Kaiser. Bewahre, Herr, sein Leben. Er ist ein neuer Konstantin. … Ewiges Gedenken dem neuen Konstantin. Den von Anbeginn Rechtgläubigen behüte Gott. … Markian ist ein neuer Konstantin, Pulcheria eine neue Helena.‘ Vgl. das Gebet des Bischofs Sabinianus, wonach Gott auch zu diesem Herrscher sagen könne: ‚Ich habe einen Auserwählten aus meinem Volk erhöht; ich habe meinen Knecht David gefunden und ihn mit meinem heiligen Öl gesalbt‘: Actio 15. Libelli Sabiniani, ebd., 2.1.3, S. 65 ( vgl. Mansi 7, S. 316 ). So schreiben ihm die Bischöfe der Provinz Europa: ‚Gegen die Feinde erhebst du dich wie ein Löwe, unter den Friedlichen aber und Unterworfenen gibst du dich als Nachahmer des sanftmütigsten David, da du deine Herrschaft ja von Gott her erhalten hast‘ ( Mansi 7, S. 539 ). Die isaurischen Bischöfe bringen den bereits erwähnten Konstantinvergleich ( dazu oben, Anm. 22 ); und die Vorsteher der Provinz Armenia Prima antworten ihm: ‚Der wahre Gott, unser Herr Jesus Christus, der stets die besten Gaben den Menschen überlässt, lässt uns nie unumsorgt zurück. In dieser Gnade ist er auch um den wahren Glauben besorgt, der die Hoffnung auf unser Heil ist, und hat deshalb an dich, oh frommer und christlichster Herrscher, wie an einen zweiten David die Befehlsgewalt übertragen: Von welchem er schon in der Wiege gewusst hat, dass er gottesfürchtig dienen werde, von dem hat er beschlossen, dass er den ganzen Erdkreis beherrschen solle. Denn wohin sich auch die Wohltaten eurer Herrschaft auf die Untertanen ergießen, da überwiegt stets ein frommes Urteil, weil eure Sanftmut nur im Glauben richtet‘ (Mansi 7, S. 587 ).
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mal an den Kaiser gerichteten Briefen mit David verglichen wurde 40. Von keinem dieser Kaiser ist allerdings bekannt, dass er dem Vergleich besondere Beachtung geschenkt oder ihn sogar selbst inszeniert hätte. Damit machen all diese Belege deutlich, dass der Vergleich zwar in bescheidenem Maße im kirchlichen Vokabular auftaucht, in den Bereich der imperialen Repräsentation aber bisher keinen Eingang gefunden hat. Mehr Beachtung verdient allenfalls ein Mosaik aus dem Katharinen-Kloster am Sinai, welches von Suzanne Alexander Spain als Beleg für eine David-Mimesis des Kaisers Justinian ins Spiel gebracht worden ist 41. In der Mitte des 6. Jahrhunderts nicht nur als Festung gegen die südlich benachbarten Araber erbaut, sondern auch als Hort der Orthodoxie in einem von monophysitischen Häretikern durchdrungenen Gebiet, prangt in der Apsis der Theotokoskirche zu Füßen des verklärten Jesus – als zentrales Portrait in der Mitte der alttestamentlichen Propheten – König David, als kunsthistorisches Novum zum ersten Mal überhaupt mit einer Krone auf dem Kopf 42. Zeigt schon diese Neuerung, dass David nun offenbar auch als Herrscher statt bloß als Psalmsänger oder jugendlicher Bezwinger Goliaths ikonographische Beachtung findet, so wird das Portrait für die vorliegende Problematik erst recht interessant, wenn man es der zeitgenössischen Darstellung Justinians gegenüberstellt, welche sich in der Chiesa San Vitale von Ravenna findet: Die Ähnlichkeit der beiden Gesichter ist unverkennbar 43. Offensichtlich soll den zum Monophysitismus neigenden Syrern und Ägyptern als warnende Mahnung David bzw. Justinian, oder eben: Justinian als novus David, als Hüter und Verteidiger der Orthodoxie, vor Augen gehalten werden. David wird damit, innerhalb der imperialen Repräsentation, zum religionspolitischen Instrument. Allein – ist dies nun die viel beschworene verbreitete David-Mimesis byzantinischer Kaiser? In einer Außenbastion mitten in der Wüste am südöstlichen Zipfel des Reiches? Die Ähnlichkeit ist tatsächlich frappant, doch ebenso frappant ist, dass auch aus Justinians Zeit jegliche weiteren Belege solcher religionspolitischer Instrumentalisierung Davids fehlen und auch in den folgenden fast hundert Jahren nicht einmal ein kirchlicher David-Vergleich überliefert ist, ja, dass man sich sogar bis ins 9. Jahrhundert gedulden muss, bis eine Darstellung des gekrönten David aufgenommen wird und eine nennenswerte Verbreitung findet 44. Die zentrale Stellung Davids im Apsismosaik allerdings lässt sich auch mit der theologischen Grundintention des gesamten Bildprogramms erklären, nämlich als „Anspielung auf die Zweinaturenlehre“ 45, indem der 40
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Epistola 44. Hormisda Episcopus Justino Augusto, Mansi 8, S. 462. Hat Hormisdas seine Regenten wie einst Ambrosius anhand von biblischen Figuren zu angemessenem Handeln bewegen wollen, so hat er sie interessanterweise lieber mit Hiskia als mit David verglichen: vgl. Epistola 11, Hormisda Anastasio Augusto, Mansi 8, S. 413; sowie Epistola 78. Hormisda Justino Augusto, Mansi 8, S. 518. Vgl. Spain ( wie Anm. 12 ) S. 229. Dazu Anna D. Kartsonis, Anastasis. The Making of an Image, Princeton 1986, S. 186. Abgebildet beispielsweise bei Ruth E. Leader, The David Plates Revisited. Transforming the Secular in Early Byzantium, in: The Art Bulletin 82, 2000, S. 407–427, S. 416, Fig. 12, S. 417, Fig. 13. Für die offenbar einzigen vier greifbaren früheren Beispiele von Abbildungen Davids als König s. Kartsonis ( wie Anm. 42 ) S. 186 Anm. 85. So Kurt Weitzmann, Zur Kunst des Katharinenklosters, in: John Galey ( Hg. ), Sinai und das Katharinenkloster, Stuttgart – Zürich 1979, S. 81–160, S. 84. Weiterführend nun auch Leader ( wie Anm. 43 ) S. 417, welche in Kleidung und Krone Davids dennoch einen deutlich , byzantinisch-kaiserliche Tradition aufnehmenden und damit auch repräsentierenden Zug sieht.
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menschliche Stammvater Jesu dem verklärten, seine göttliche Natur offenbarenden Jesus zu Füßen gestellt wird. Als Beleg für eine David-Mimesis, die als Vorläufer und Vorbild dessen gelten könnte, was sich später im Abendland finden wird, kann auch diese Übereinstimmung nicht gehandelt werden. In noch ganz anderem Ausmaß als Justinian wird auch Herakleios, Kaiser von 610 bis 641, als Beleg für eine David-Mimesis frühbyzantinischer Herrscher herangezogen 46. Von Karthago aus war Herakleios 610 als Feldherr mit seiner Flotte Richtung Konstantinopel gefahren, um den ohne großen Rückhalt regierenden Kaiser Phokas zu stürzen. Nach wohl mehr als bloß rituellem Zögern ließ er sich zum Kaiser krönen und erbte damit ein Reich, das nicht nur durch die Usurpation, sondern auch durch einen stets drohenden Zweifrontenkrieg mit den Awaren im Norden und den Persern im Süden in einer innen- wie außenpolitischen Krise steckte 47. Besonders laut wurde die Kritik, als 615 Jerusalem von den Persern eingenommen und die Kreuzesreliquie gestohlen wurde. Doch nachdem es Herakleios bis 623 gelungen war, mit den Awaren eine Waffenruhe auszuhandeln, zog er, Feldherr der er war, persönlich gegen die Perser in den Krieg 48, nicht ohne vorher noch seinen Witwenstand zu beenden und seine um etliches jüngere Nichte Martina zu heiraten ( was auch nach damaligem Recht unzulässig war ) und sie mit auf den Feldzug zu nehmen, wo sie ihm ein Kind nach dem anderen gebar. Weil nun aber die angeborenen Behinderungen einiger dieser Kinder als schlechtes Omen gedeutet wurden, und weil zudem die Erfüllung dieses Omens nicht lange auf sich warten ließ – 626 kündigten die Awaren ihre Waffenruhe und belagerten gemeinsam mit den Persern Konstantinopel –, wurde diese inzestuöse Ehe des fernab weilenden Kaisers plötzlich zum Politikum 49: Herakleios geriet erneut in die Kritik, seine Herrschaft wankte. Es sollte jedoch anders kommen. Von der religiös durchtränkten Kriegsrhetorik des Patriarchen Sergios aufgepeitscht, leisteten die Konstantinopolitaner erbitterten Widerstand, so dass die Awaren schließlich erneut mit sich verhandeln ließen und abzogen, während Herakleios im Süden gegen die Perser – nunmehr mit der entsprechenden Rhetorik einen ‚heiligen Krieg‘ führend 50 – einen Sieg nach dem anderen errang und den Persern im Dezember 627 eine so entscheidende Niederlage zufügen konnte, dass das Perserreich in der Folge völlig untergehen sollte. In der nun gepflegten Rhetorik war Herakleios unversehens wieder der Erwählte, und so dürfte es nicht
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Neben Spain ( wie Anm. 12 ) S. 227 f., und den eingangs zitierten Autoren auch Claudia Ludwig, Kaiser Herakleios, Georgios Pisides und die Perserkriege, in: Poikila Byzantina 11, 1991, S. 73–128. Zu Herakleios’ Aufstieg und Regierung s. Walter E. Kägi, Heraclius, Emperor of Byzantium, Cambridge 2003; Gerrit J. Reinink ( Hg. ), The Reign of Heraclius ( 610–641 ). Crisis and Confrontation, Leuven 2002; sowie John F. Haldon, Byzantium in the Seventh Century. The Transformation of a Culture, Cambridge 1990. Was seit Theodosius I. im 4. Jahrhundert kein römischer Kaiser mehr getan hatte, vgl. Kägi ( wie Anm. 47 ) S. 68 f. Laut Paul Speck, Das geteilte Dossier ( Poikila Byzantina 9 ) Bonn 1988, S. 37, überlebte von fünf zwischen 623 und 626 geborenen Kindern nur eines; ihm wird hier in der Datierung der Heirat zwischen Herakleios und Martina ( im Jahre 622, s. ebd., S. 33–40 ), nicht aber in der Datierung des Aufkommens einer ersten Kritik an dieser Heirat gefolgt ( ebd., S. 68–74 und S. 366–369 plädiert Speck für ein spätes Aufkommen um 630, statt, wie hier vertreten wird, bereits um 626 ). Vgl. Kägi ( wie Anm. 47 ) S. 126.
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allzu fern gelegen haben, sich eines anderen Erwählten zu besinnen, der ebenfalls fast an einer unlauteren Ehe gescheitert wäre: Noch 627, als sich die Aufhebung der Belagerung Konstantinopels zum ersten Mal jährte, predigte Theodoros Synkellos, Herakleios könne ein ‚heute regierender Abkömmling Davids‘ genannt werden und die Zionsverheißung aus Jes 37,35 – ‚Ich will diese Stadt schützen, dass ich sie errette um meinetwillen und um meines Knechtes David willen‘ – gelte nunmehr auch für Konstantinopel, ‚denn auch unser Herrscher ist in der Frömmigkeit zu Gott und in der Sanftmütigkeit zu den Untertanen ein David.‘ 51 Dass es sich dabei um mehr als bloß einen weiteren k i r c h l i c h e n David-Vergleich handelt, wird aus Herakleios’ eigenem Verhalten deutlich: Noch vor der entscheidenden Schlacht von Ninive bringt Martina im November 627 einen weiteren Sohn zur Welt, den die beiden – was zumindest für frühbyzantinische Zeiten ein Unikat ist – auf den Namen David taufen lassen. Zudem entstehen unter Herakleios wohl in einer konstantinopolitanischen Werkstatt 52 sechs einzigartige Silberplatten mit Szenen aus dem Jugendleben Davids, die nach der gängigen Interpretation dem Bereich der imperialen Repräsentation zugerechnet werden und – bezogen auf das Ende des Perserfeldzugs – zwischen dem Sieger Herakleios und dem Helden David eine Parallele zeichnen sollen 53. Auch wenn sich ein direkter Vergleich zwischen Herakleios und David höchstens an kleinen Details festmachen lässt 54, scheint David damit in bisher ungekannter Weise in den Bereich der imperialen Repräsentation Eingang gefunden zu haben. Als weiterer Beleg könnte der Umstand herangezogen werden, dass Herakleios den alttestamentlichen Königstitel ins Titular des byzantinischen Zeremoniells einführt 55; zudem spielt der Hofpoet und Panegyriker Georgios Pisides im Proömium zu seinem Hexaemeron auf die Taten des Herakleios an, nennt zum Schluss aber David 56, was, wie Claudia Ludwig festgestellt
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Theodoros Synkellos, Homilia de obsidione Avarica Constantinopolis, hg. von Leo Sternbach, Analecta Avarica, Krakau 1900, S. 313, S. 320. Vgl. Galit Noga-Banai, Byzantine Elite Style. The David Plates and Related Works, in: Boreas 25, 2002, S. 221–237, S. 236 f. Gar für eine höfische Werkstatt plädierte Erika Cruikshank Dodd, Byzantine Silver Stamps ( Dumbarton Oaks Studies 7 ) Washington ( D.C. ) 1961, S. 32 f. So Suckale-Redlefsen ( wie Anm. 36 ) S. 6; Spain ( wie Anm. 12 ) S. 229 f.; James Trilling, Myth and Metaphor at the Byzantine Court. A Literary Approach to the David Plates, in: Byzantion 48, 1978, S. 249–263. Für eine Datierung nach den Perserfeldzügen spricht die angeschlagene finanzielle Situation des Reiches, vgl. Andreas N. Stratos, Byzantium in the Seventh Century, übers. von Marc OgilvieGrant ( Bd. 1 ) und Harry T. Honides ( Bde. 2 und 3 ) Amsterdam 1968–1975, 1, S. 257–262. So können auf der Platte mit dem Goliath-Kampf die drei Steine, welche David für seine Schleuder gesammelt hat, auch als die Äpfel der Hesperiden gedeutet werden, womit eine Identifizierung David – Herkules – Herakleios gewährleistet sein soll, vgl. Marlia Mundell Mango, Imperial Art in the Seventh Century, in: Paul Magdalino ( Hg. ), New Constantines. The Rhythm of Imperial Renewal in Byzantium, 4th–13th Centuries ( Papers from the Twenty-Sixth Spring Symposium of Byzantine Studies, St Andrews, March 1992 ) Cambridge 1994, S. 109–138, S. 116, S. 126. Dass nur drei Steine statt der biblisch verbürgten fünf abgebildet sind, ist aber nicht zwingend auf eine künstlerische Absicht zurückzuführen, da durchaus gerade griechische Versionen von 1Sam 17,40 nur von drei Steinen sprechen, vgl. Philonenko ( wie Anm. 18 ) S. 356 f. So zumindest Spain ( wie Anm. 12 ) S. 232; Mango ( wie Anm. 54 ) S. 128; sowie Otto Kresten, Herakleios und der Titel «, in: Poikila Byzantina 18, 2000, S. 178 f. und Ders., Oktateuch-Probleme. Bemerkungen zu einer Neuerscheinung, in: Byzantinische Zeitschrift 84/85, 1991/1992, S. 501–511, S. 504 Anm. 13. Georgios Pisides, Hexaëmeron, Migne PG 92, cap. 1, v. 1–56, Sp. 1426–1430.
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hat, nur nachvollziehbar sei, wenn „eine bestehende Gleichsetzung von Herakleios und David“ vorausgesetzt werde 57. Dennoch bleibt auffallend, wie sehr diese allfälligen Parallelisierungen im Vergleich zu westlichen Ausarbeitungen bloß andeutend sind und indirekt erschlossen werden müssen; zudem lassen sich die meisten Indizien auch anders interpretieren: Dass die Silberplatten mit offiziellen Stempeln aus Herakleios’ Regierungszeit versehen sind, heißt noch lange nicht, dass sie auf Anregung aus dem kaiserlichen Umfeld angefertigt worden seien. Ihr Bildprogramm und nicht zuletzt ihr Fundort auf Zypern lassen sie weit schlüssiger fernab von jeglichen imperialen Repräsentationsversuchen ins häusliche Umfeld eines reichen Bürgers einordnen, und zwar als Versuch, eine pagane Tradition spätantiker Silbertafeln in nunmehr christianisierter Weise aufzunehmen 58. Der -Titel lässt sich auch als Anlehnung an Alexander den Großen 59 oder als Übernahme persischer Titulatur verstehen 60 – wenn denn der neue Titel nicht einfach auf die Gräzisierungs-Bestrebungen in Herakleios’ Verwaltungsreform zurückzuführen ist. Einmal abgesehen von Herakleios’ Sohn David Tiberius fehlt damit eine eindeutige Bezugnahme auf David auch unter Herakleios, was umso erstaunlicher ist, als sich in seinem Leben durchaus Episoden finden würden, die einen direkten und expliziten Vergleich mit David geradezu nahe legten: Wie einst David die Bundeslade nach Jerusalem zurückgeführt hat, führt Herakleios wohl noch 628 die Kreuzesreliquie in einer großen Prozession nach Jerusalem zurück, was – zumindest in den erhaltenen Quellen 61 – von den Zeitgenossen aber ausschließlich als Imitatio Konstantins des Großen gedeutet wird, der die Kreuzesreliquie ursprünglich nach Jerusalem gebracht hatte 62. Zudem entstehen noch zu Lebzeiten des Kaisers Legenden, er habe während des Perserkrieges einen Zweikampf gegen einen persischen Riesen gewonnen, was von den Zeitgenossen zwar berichtet, aber nie mit Davids Kampf gegen Goliath in Verbindung gebracht wird 63 – ganz im Gegensatz übrigens zu westlichen Chroniken, die die offensichtliche Parallele sogleich ziehen 64. Über einige mögliche Ansätze hinaus 57
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Ludwig ( wie Anm. 46 ) S. 110; vgl. ebd., S. 104–114 für weitere Anklänge an eine mögliche Parallelisierung zwischen Herakleios und David. So ausführlich Leader ( wie Anm. 45 ) und nun auch Kägi ( wie Anm. 47 ) S. 198 f.; vgl. bereits Stichel, Scenes ( wie Anm. 13 ) S. 102 f. So Peter Schreiner, Das Herrscherbild in der byzantinischen Literatur des 9. bis 11. Jahrhunderts, in: Saeculum 35, 1984, S. 132–151, S. 132. So bereits Hélène Ahrweiler, L’idéologie politique de l’Empire byzantin, Paris 1975, S. 22. So schlägt Steven H. Wander vor, in einem fehlenden Abschnitt aus der des Georgios Pisides wäre die Parallele „in all likelihood“ ausgeführt gewesen: Ders., The Cyprus Plates. The Story of David and Goliath, in: Metropolitan Museum Journal 8, 1973, S. 89–104. Georgios Pisides, In restitutionem Sancti Crucis, hg. und übers. von Agostino Pertusi, Giorgio di Pisidia Poemi 1, Ettal 1959, S. 227 f., v. 47–63; vgl. neben Spain ( wie Anm. 12 ) S. 226, und Ahrweiler ( wie Anm. 60 ) S. 22, nun v. a. Jan W. Drijvers, Heraclius and the Restitutio Crucis. Notes on Symbolism and Ideology, in: Reinink – Stolte ( wie Anm. 47 ) S. 175–190, der allerdings wegen des vorhandenen Vergleichs des Kreuzes mit der Bundeslade bei Georgios Pisides ( ebd., S. 228, v. 73–77 ) an einer davidischen Interpretation festhält. Vgl. Speck ( wie Anm. 49 ) S. 138 f. und S. 317–320; sowie Georgios Pisides, De expeditione persica, Migne PG 92, cap. 3, v. 82 ff., Sp. 1240 f. Um 650 bereits Fredegar, Chronica, hg. von Andreas Kusternig, Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts. Die vier Bücher der Chroniken des sogenannten Fredegar ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 4a ) Darmstadt 1982,
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scheint eben auch die immer wieder reklamierte David-Mimesis des Herakleios nicht gegangen zu sein. Herakleios’ politischer Höhenflug übrigens endete so abrupt, wie er begonnen hatte. Durch das Machtvakuum, das mit dem Zusammenbruch des persischen Großreichs im Süden entstand, drangen bereits ab den frühen 30er Jahren die Araber nach Norden vor, nahmen Syrien und Ägypten ein, und bereits 638 fiel Jerusalem erneut. Damit wurde es auch hinfällig, Herakleios als Erwählten zu sehen, und so erfuhr eine mögliche David-Parallele höchstens noch ein unrühmliches Nachspiel in der Person der Martina, die – wie einst Batsheba mit Salomon – alles daran setzte, dass nach Herakleios’ Tod einer ihrer Söhne auf den Thron kam. Den Byzantinern ging das zu weit, nach nur wenigen Monaten Regentschaft setzten sie diesen Sohn Heraklonas III. ab, schickten ihn mit der Mutter nach Rhodos in die Verbannung, nicht ohne vorher dem Heraklonas die Nase ab- und der Martina die Zunge herausgeschnitten zu haben 65. Selbst wenn daher diese Geschichten um Herakleios zum ersten Mal belegen sollten, dass David ansatzweise in die imperiale Repräsentation eines byzantinischen Kaisers Eingang gefunden habe, so erzählen sie doch auch zugleich die Geschichte des Scheiterns dieser Legitimationsstrategie 66. Für die folgenden gut 150 Jahre lässt sich aus dem byzantinischen Raum gerade noch ein einziger, erneut kirchlicher Beleg für den Vergleich eines Kaisers mit David anführen 67. Damit befinden wir uns aber bereits in der Zeit Karls des Großen, und so dürfte sich – angesichts der doch sehr verbreiteten Abwesenheit an Vorbildern von David-Imitationen im frühen Byzanz – die These einer im Vergleich zum Abendland „noch älteren Einbeziehung Davids in die oströmisch-byzantinische Kaiseridee“ erledigt haben 68: Abgesehen von einer möglichen bildlichen Parallele unter Justinian und einigen nur indirekt erschließbaren Anspielungen unter Herakleios hat David in der Zeit vor Karl dem Großen noch gar keinen Eingang gefunden in die imperiale Repräsentation byzantinischer Kaiser.
II Dass David in spätantiken und frühbyzantinischen Herrschaftsvorstellungen fehlt, ist nun allerdings gar nicht so erstaunlich. Es wurde bereits betont, dass mit der Wende unter Konstantin das nunmehr christliche Kaisertum nicht neu erfunden
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lib. 4, cap. 64, S. 230; dazu Steven H. Wander, The Cyprus Plates and the Chronicle of Fredegar, in: Dumbarton Oaks Papers 29, 1975, S. 345–346. Vgl. aus dem 8. Jahrhundert auch die anonyme Continuatio Isidoriana hispana, hg. von Theodor Mommsen ( MGH AA 11 ) Berlin 1894, ND München 1981, S. 336. Vgl. Stratos ( wie Anm. 53 ) 2, S. 81–83, S. 176, S. 178, S. 204 f. Ludwig ( wie Anm. 16 ) S. 376 sieht im Scheitern der Strategie einen wichtigen Grund, weshalb sie unter byzantinischen Kaisern keine weitere Verbreitung gefunden habe. Mehr dazu unten bei Anm. 74. Die Akklamation von Papst Leo an Konstantin IV. anlässlich des 6. ökumenischen Konzils von Konstantinopel ( Epistola 3, Migne PL 96, Sp. 411B ), welche Spain ( wie Anm. 12 ) S. 227 Anm. 54 anführt, ist Teil der pseudo-isidorischen Fälschungen und stammt damit erst aus dem 9. Jahrhundert. In Frage kommt nur das Bibelzitat ‚Ich habe David, einen Mann nach meinem Herzen gefunden, der soll meinen ganzen Willen tun‘ ( Act 13,22, vgl. 1Sam 13,14 ), welches Leos Vorgänger Agatho in einem Brief an Konstantin IV. auch auf diesen bezogen wissen will: Epistola Agathonis, Concilii Constantinopolitanis 3 Actio 4, Mansi 9, S. 282. So Herkommer ( wie Anm. 3 ) 411.
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wurde, sondern bestehende Vorstellungen weitergeführt und höchstens umgedeutet wurden 69. In der dennoch sich allmählich vollziehenden Verschmelzung von römischen und christlichen Herrschaftsvorstellungen dürfte zudem entscheidend gewesen sein, dass auch im christlichen Bewusstsein der Spätantike David gar nicht eigentlich als König oder Herrscher wahrgenommen wurde: Bereits im Neuen Testament, aber dann auch in den altkirchlichen Ausarbeitungen fand David zwar in den eingangs erwähnten Funktionen als Typus Christi, als Stammvater Jesu, sowie als Dichter der Psalmen rege Beachtung 70; sein eigenes Wirken als Herrscher hingegen blieb außen vor, Szenen seiner Regentschaft, die fürs spätantik-byzantinische Zeremoniell durchaus anschlussfähig gewesen wären, blieben unterbelichtet – im christlichen Verständnis war David nicht König, sondern P s a l m i s t 71. Fast noch entscheidender dürfte gewesen sein, dass für die heidnische Antike David als Ethnarch über ein paar trockene Hügel einer inzwischen längst dem römischen Großreich einverleibten Provinz schlicht nicht erwähnenswert war: Im Gegensatz zum uralten Moses oder zum weisen Salomon war der K ö n i g David keine Gestalt, die es mit klassischen antiken Vorbildern hätte aufnehmen können 72. Aus spätantik-frühbyzantinischer Perspektive wäre es letztlich wohl nur schwer nachvollziehbar gewesen, hätte jemand diesen Provinz-Regenten mit dem römischen Kaiser verglichen. Was David schließlich als König zu bieten gehabt hätte, nämlich seine göttliche Erwähltheit, sein religionspolitisches Einstehen oder sein Einsatz für den Zusammenhalt seines Reiches, bot ein anderer im spätantiken Bewusstsein noch viel stärker: Konstantin selbst, der denn auch die prägende Figur für das byzantinische Herrscherbild blieb 73. Dürften all diese Faktoren eine Rolle gespielt haben, warum David ins byzantinische Kaiserbild keinen Eingang gefunden hat 74, so dürften sie interessanterweise im lateinischen Abendland nach Untergang des weströmischen Reiches kaum eine Bedeutung erlangt haben: Weder gab es hier ein bestehendes Zeremoniell, in welches sich neue Vorstellungen hätten einfügen müssen, noch setzte eine Gründungsfigur wie 69 70
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S. oben, S. 5; sowie Bellen ( wie Anm. 5 ). Typus Christi: Mk 2,23 f.; Act 7,45–51; Stammvater Jesu: Mt 1,1–17.20; 9,27; 12,13; 15,22; 20,30 f.; 21,9.15; 22,42; Mk 10,48 f.; Lk 1,27.69; 2,4; 18,38 f.; Rö 1,3; 2Tim 2,8; Apk 5,5; 22,15; Psalmdichter: Mt 22,43 f. par; Act 1,46; Rö 4,6; 11,9; Heb 4,7; Prophet: Act 2,30; 4,25. Wo doch einmal David als König in den Blick kommt, geschieht dies erneut bloß in typologischem Ausblick auf Christus: Mk 11,10; Lk 1,32; Act 15,16; Apk 3,7. Vgl. John H. Lowden – Johannes Irmscher – Anthony Cutler, Art. , in: Oxford Dictionary of Byzantium 1, 1991, S. 588–589. Gerade im Hinblick auf die Akklamation, welche bis ins 15. Jahrhundert konstitutive Größe des byzantinischen Krönungsrituals blieb, hätte es nicht unbedeutend sein können, dass David zuerst vom Volk ( 2Sam 2,4 ) und später durch die Ältesten zum König ausgerufen wird ( 2Sam 5,3 ). Vgl. zudem Jan Wojcik, Discriminations against David’s Tragedy in Ancient Jewish and Christian Literature, in: Raymond-Jean Frontain – Jan Wojcik ( Hgg. ), The David Myth in Western Literature, West Lafayette 21980, S. 12–35. Entsprechend betont Ambrosius, der David gerne populärer gemacht hätte, dass ‚manches, lange bevor man von den Philosophen auch nur dem Namen nach vernahm, durch den Mund des heiligen David offen ausgesprochen‘ worden sei ( De officiis ministrorum [ wie Anm. 36 ] lib. 2, cap. 6; vgl. ferner lib. 1, cap. 31, cap. 94 und cap. 118; sowie lib. 3, cap. 1 ); s. oben, S. 8. Vgl. beispielsweise Athanasios Markopulos, Constantine the Great in Macedonian Historiography. Models and Approaches, in: Magdalino ( wie Anm. 54 ) S. 159–170. Und dies wohl mehr noch als das <Scheitern> der Ideologie unter Herakleios, oder dann auch unter Basileios I., wie Ludwig ( wie Anm. 16 ) S. 376, vorgeschlagen hat.
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Konstantin allen Ausformulierungen von Herrscherbildern ihr überragendes Gepräge auf 75. Auch trafen die biblischen Gestalten in den nicht auf eine der Antike vergleichbare Kultur, vor deren Heroen sie hätten klein beigeben müssen. Nicht zuletzt hatte das christliche Davidbild dank der literarischen Interventionen eines Ambrosius inzwischen an Konturen gewonnen: Tatsächlich scheint sich in der Nachfolge des Mailänder Bischofs ein davidisches Herrscherideal relativ früh ausgebildet zu haben. So entschuldigt etwa im 6. Jahrhundert Gregor von Tours in seinen einen Krieg, den der nicht eigentlich als duldsam und reumütig bekannte Chlothar I. gegen seinen unbotmäßigen Sohn Chramn führt, mit dem Verweis auf David und Abshalom 76; und wenn damit natürlich keineswegs belegt ist, dass Chlothar diesen Vergleich selbst inszeniert habe, so dürfte es doch auch ihm ganz gelegen gekommen sein, dass sich mit der neuen christlichen Religion selbst Kriege gegen den eigenen Nachwuchs legitimieren ließen 77. Nicht von ungefähr stammten die oben angeführten kirchlichen David-Vergleiche mehr und mehr aus dem lateinischen Bereich, und es waren westliche Chronisten, welche die Parallelen zwischen Herakleios und David als erste explizit ausarbeiteten. Als sich dann zur Mitte des 8. Jahrhunderts Papsttum und fränkischer Hausmeier einig wurden, dass ein karolingischer König die gegenseitigen Interessen besser zu wahren wüsste als ein merowingischer, ließ eine Davidisierung des neuen Königsgeschlechts nicht lange auf sich warten. Zum Teil in bewusster Abgrenzung von der byzantinischen Herrscheridee wurde Pippin der Jüngere spätestens 754 von Papst Stephan II. zum König gesalbt 78. In der nachfolgenden Korrespondenz zwischen den beiden wurde Pippin mehr und mehr mit David verglichen und schließlich als neuer David hingestellt 79. Auch von Pippin ist zwar nicht bekannt, dass er eine David-Mimesis selbst aktiv gepflegt habe, der Stellenwert der päpstlichen Belege ist hier aber ein grundsätzlich anderer als in Byzanz, da bei der Einsetzung des Usurpators Pippin die Kirche entscheidende Legitimationsinstanz, ihr Herrscherbild damit konstitutiv auch für Pippins Herrschaftsverständnis gewesen ist. Entsprechend war es nur noch ein kleiner Schritt zu Pippins Sohn Karl, der dieses Herrscherbild aufnahm und in der bereits vorgestellten Weise inszenierte. Die sakral-davidische Herrscheridee dürfte also einen anderen Ursprung haben als die byzantinisch-römische. Damit dürfte denn auch die zweite im vorliegenden Aufsatz diskutierte These noch einmal widerlegt sein, es sei 75
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Was nicht heißen soll, dass Konstantin für westliche Herrscherbilder keine Rolle gespielt hätte; er hat nur nicht jede Ausformulierung schon von vornherein entscheidend geprägt, vgl. bereits Eugen Ewig, Das Bild Constantins des Großen in den ersten Jahrhunderten des abendländischen Mittelalters, in: Historisches Jahrbuch 75, 1956, S. 1–46. Gregor von Tours, Libri historiarum X, hg. von Bruno Krusch ( MGH SS rer. Merov. 1,1 ) Hannover 1937, lib. 4, cap. 20, S. 153, 14–18. Vgl. Georg Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5.–8. Jahrhundert, Darmstadt 1999, S. 162. Zur Debatte, wann und wie oft Pippin gesalbt worden ist, vgl. Josef Semmler, Der Dynastiewechsel von 751 und die fränkische Königssalbung, Düsseldorf 2003. Zu dieser Entwicklung s. Mettauer ( wie Anm. 4 ), wobei fraglich bleibt, ob es sich beim David-Epithet wirklich um einen kirchlich-laikalen Kompromiss handelt. Zum ebenfalls verbreiteten Moses-Titel vgl. nun auch ergänzend: Werner Telesko, Moses – Joseph – Christus – Benedikt. Beiträge zu einer Typologie im Zeichen des Orantengestus, in: Römische historische Mitteilungen 45, 2003, S. 373–398, S. 385.
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die Davidisierung des westlichen Herrscherbildes in welcher Art auch immer durch Byzanz angeregt worden. Untermauert wird dies durch den Umstand, dass die sakral-davidische und die byzantinisch-römische Konzeption von Herrschaft auch unter Karl weiterhin kaum miteinander haben vereinbart werden können. Denn als Karl im Jahr 800 zum Kaiser gekrönt werden sollte, verzichtete der Papst plötzlich vollständig auf David-Vergleiche, nannte Karl vielmehr einen ‚neuen Konstantin‘ und war auch sonst darum besorgt, dass die Krönung in den Formen und Symbolen des byzantinischen Zeremoniells ablief 80. Auch Einhard, der Verfasser der , versuchte, Karl in Anlehnung an antike Vorbilder so römisch wie möglich darzustellen, und verzichtete daher konsequent auf jeglichen David-Vergleich. Bei Alkuin hingegen, einem der Propagatoren der davidischen Königsidee an Karls Hof, fanden sich auch nach Karls Kaiserkrönung kaum Belege dafür, dass er seinen ehemaligen David nunmehr imperator genannt hätte 81. Das davidische Königtum war eben etwas anderes als das römische Kaisertum. Die echten römischen Kaiser aber, die byzantinischen nämlich, schienen sehr wohl bemerkt zu haben, was sich da bereits in St. Denis und später dann in Aachen und in Rom abspielte. Als Karl kurz nach 790 als Reaktion auf das zweite Konzil von Nizäa die verfassen ließ 82, wurde darin gegen das Selbstverständnis der byzantinischen Kaiser polemisiert: ‚Es ist eine große Anmaßung, von sich zu sagen, man regiere mit Gott zusammen. Dies zu sagen hat nicht einmal David gewagt, von dem Gott gesagt hat: „Ich habe einen Menschen nach meinem Herzen gefunden“, und anderswo: „Ich habe David, meinen Knecht gefunden und mit meinem heiligen Öl gesalbt.“‘ 83
Prompt hieß es 795 in einem byzantinischen Krönungsgebet, Gott möge den Kaiser ebenso erhören, wie ‚du durch Samuel deinen Knecht David ausgewählt und über dein Volk Israel zum König gesalbt hast‘ 84 – obgleich, wie bereits erwähnt, eine Kaisersalbung in Byzanz erst im 13. Jahrhundert aufkommen sollte. Unter Kaiser Theophilos schien es dann fast schon zu einem Wettlauf mit Aachen zu kommen: Er ließ nicht nur den Thron Salomos rekonstruieren, dessen Imitation 30 Jahre früher auch Karl hatte anfertigen lassen, sondern beanspruchte darüber hinaus, auch die Tische Davids, Salomos, Korachs und – nun plötzlich an letzter Stelle – Konstantins zu besitzen 85. Wohl um 850 akklamierten die Mannschaften des traditionellen Wagenrennens von Konstantinopel dem Kaiser als ‚anderem David‘ 86; Basileios I. schließlich, 80 81 82
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Zu diesem Umschwung vgl. bereits Ewig ( wie Anm. 75 ) S. 63; sowie Classen ( wie Anm. 9 ) S. 62–70. Classen ( wie Anm. 9 ) S. 77 f. Diese zeitliche Einordnung ist von byzantinistischer Seite nachdrücklich in Frage gestellt worden, vgl. Paul Speck, Die Interpolationen in den Akten des Konzils von 787 und die Libri Carolini, Bonn 1998, ohne allerdings ein großes Echo hervorzurufen. Libri Carolini, hg. von Ann Freeman ( MGH Conc. 2 suppl. 1 ) Hannover 1998, lib. 1, cap. 1, S. 107, 14–19. Oratio in imperatoris inauguratione, in: Euchologion sive rituale Graecorum, hg. von Jakob Goar, Graz 31960, S. 726; zur Datierung s. Brightman ( wie Anm. 26 ) S. 378. Vgl. Treitinger ( wie Anm. 11 ) S. 134 f., sowie Fichtenau ( wie Anm. 12 ) S. 25 f. Constantinos Porphyrogenitos, De cerimoniis aulae Byzantinae libri duo, hg. von Johann Jacob Reiske, Bonn 1829, 1, cap. 69 und cap. 73, S. 322, S. 367 f. Zur Einordnung der Akklamationen in die Zeit Michaels III. s. Michael McCormick, Art. , in: Oxford Dictionary of Byzantium 1, 1991, Sp. 595–597, Sp. 596; vgl. Treitinger ( wie Anm. 11 ) S. 130.
Novus David
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ein Usurpator, versuchte in bisher nicht gekannter Deutlichkeit, seine Herrschaft mit David-Vergleichen in Bildprogrammen und in auf ihn gehaltenen Gedichten abzusichern 87. Zudem entdeckten die Geschichtsschreiber des 9. Jahrhunderts Herakleios neu, schmückten die Parallelen zwischen ihm und David endlich auch explizit aus, und es war das 9. Jahrhundert, das auch den Psalmisten David nunmehr als Herrscher in byzantinischem Ornat darstellte 88. Von nun an war David, wenn auch nie im selben Ausmaß wie im Westen, Teil der imperialen Repräsentation von Byzanz 89. Dieses Auftreten von David-Vergleichen ab dem 9. Jahrhundert ist nun doch auffällig. Natürlich muss in Betracht gezogen werden, dass etwa die ikonoklastischen Streitigkeiten in Byzanz zu einer Neubewertung biblischer Vor-Bilder geführt haben und dass sich im Byzanz des 9. Jahrhunderts mit der mazedonischen Renaissance eine grundsätzliche Rückbesinnung auf Traditionsgut feststellen lässt 90. Dies zu interpretieren, sei jedoch den byzantinischen Spezialisten überlassen. Nach den vorliegenden Ausführungen sollte eines allerdings festgehalten werden können: Wenn es denn im Hinblick auf David überhaupt eine Beeinflussung zwischen byzantinischem und abendländischem Herrscherbild gegeben haben sollte, wenn also die These überhaupt in Betracht zu ziehen ist, dass in der Davidisierung der Kaiseridee eine Seite von der anderen inspiriert worden sei, dann wären es höchstens die Byzantiner gewesen, die sich von einer spezifischen Legitimationsstrategie des Westens hätten anregen lassen.
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Vgl. Stichel, Beiträge ( wie Anm. 13 ) S. 537–540; Ludwig ( wie Anm. 16 ) S. 371–373; Markopulos ( wie Anm. 73 ) S. 161; sowie Shaun F. Tougher, The Wisdom of Leo VI, in: Magdalino ( wie Anm. 54 ) S. 171–179. Vgl. Suckale-Redlefsen ( wie Anm. 36 ) S. 9 f.; sowie seine eigene These entkräftigend Steger ( wie Anm. 15 ) S. 121. Zu erwähnen sind vor allem die Buchmalerei und für das 12. Jahrhundert auch die Rhetorik, vgl. Lowden – Irmscher – Cutler ( wie Anm. 71 ) S. 588. Weitere Belege bietet erneut Spain ( wie Anm. 12 ) S. 227 f. Anm. 54. Dies gilt insbesondere für die handschriftliche Tradition, vgl. Kresten, Oktateuch-Probleme ( wie Anm. 55 ). Allgemein zur mazedonischen Renaissance vgl. Warren Treagold, The Byzantine Revival, Stanford 1988, S. 373–380, sowie die knappen Bemerkungen bei Ralph-Johannes Lilie, Einführung in die byzantinische Geschichte, Stuttgart 2007, S. 237 f.
Der Kaiser weint
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MICHAEL GRÜNBART
Der Kaiser weint Anmerkungen zur imperialen Inszenierung von Emotionen in Byzanz 1 O Tränen, die ihr uns seit eh und je entströmt wie Regen der Wolke, wenn unser Herz bedrückt ist, ihr Wahrzeichen heftigen Leides, ihr unbestreitbares Anzeichen einer bedrängten Seele! Und auch ihr Tränen, die ihr manchmal vor Freude der Zisterne unserer Augen entquellt! 2 1. Vorbemerkung, S. 89. – 2. Byzantinische Reflexionen zum Thema „Tränen“, S. 92. – 3. Der Kaiser weint, S. 94. – 3.1. Tränen vor dem Göttlichen / Heiligen, S. 94. – 3.2. Tränen der Trauer, S. 96. – 3.3. Tränen der Reue, S. 97. – Exkurs: Die Auseinandersetzung zwischen Nikolaos Mystikos und Leon VI., S. 99. – 3.4. Tränen der Rührung und des Mitleids, S. 104. – 3.5. Tränen der Verstellung, S. 105. – 4. Schlussbemerkungen, S. 108.
1. VORBEMERKUNG
In den mediävistischen Disziplinen wurden dem Thema „Tränen“ bzw. „Weinen“ bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten Studien gewidmet. Tränen transportierten Emotionen und passierten immer in einem gesellschaftlichen Kontext, wobei deren inszenierender Charakter nie außer Acht zu lassen ist und dies bei der Interpretation stets mit zu berücksichtigen ist. Die öffentliche Wirkung von Gefühlsausbrüchen war bei prominenten und exponierten Personen einkalkuliert. Die Außenwirkung und der bewusste Einsatz von Tränenströmen werden am deutlichsten sichtund greifbar bei Proponenten der weltlichen und geistlichen Macht. Dass ( westliche ) mittelalterliche Herrscher Emotionen öffentlich zeigten und auch Tränen vergossen, und dass dies dem erwarteten Bild des Machthabers entsprach, 1
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Durch die Verankerung des Projektes „Kaiser und Patriarch in Byzanz – eine spannungsreiche Beziehung“ im Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster soll diese schon länger vorbereitete Studie begleitend erscheinen. Teile davon flossen auch in die Projektpräsentation am 12. Mai 2009 mit ein. – Ich danke den Herren Prof. Hagen Keller und Dr. Franz Neiske für die Unterstützung. – Mittlerweile ist eine Untersuchung von Martin Hinterberger ( s. Anm. 5 ) erschienen, deren Augenmerk mehr auf „Emotionen“ gerichtet ist, während es hier eher um das „Performative“ geht. Die Thematik kann hier nicht erschöpfend behandelt werden; wenn die Studie zeigen kann, wie not es tut, Byzantinistik in den mediävistischen Diskurs einzubringen, dann hat sie ihren Zweck erfüllt. Dieses Motto ist dem Geschichtswerk des Niketas Choniates entnommen, Nicetae Choniatae historia, rec. Ioannes Aloysius van Dieten ( Corpus Fontium Historiae Byzantinae 11 ) Berlin – New York 1975, S. 295, 54–57: 5 « ξ λ π 9 « ³« φ« « « « . φ !"« φ « ! λ # $ % & ' $ φ' , ξ λ )µ »« % λ $ % ³« * $ « # +φ, #.
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Michael Grünbart
ist mittlerweile einschlägig untersucht worden 3. Gerd Althoff systematisierte das Auftreten von Tränen als ein Ritual / Inszenierung begleitendes Merkmal. Er unterschied dabei fünf Situationen: 1. Der König weint über den Verlust von Vertrauten und Verwandten, 2. er weint Tränen der Reue, 3. er weint bei eindringlichen Bitten an Untergebene, was mitunter durch einen Fußfall unterstrichen wird, 4. er weint, wenn er die christlichen Herrschertugenden unter Beweis stellen will und 5. er weint, wenn er von Vertrauten und Freunden Abschied nimmt. Der Einsatz von Tränen zur eindrücklichen Gestaltung und Untermalung von Handlungen war aber nicht nur auf die weltliche Machtsphäre beschränkt, auch im geistlichen Bereich findet man Spuren davon. So wurde jüngst darauf hingewiesen, dass auch Päpste, besonders ab dem 13. Jahrhundert, Forderungen mit Tränen unterstreichen konnten 4. Im Gegensatz zur westlich orientierten Mediävistik widmete man sich in den byzantinistischen Forschungen bisher kaum dieser Thematik 5, was verwundert, ist doch der „politische Ritualismus der früh- und hochmittelalterlichen Herrschaften kümmerlich … im Vergleich zum abundanten Ritualismus in einem veritablen Staat wie dem byzantinischen des Mittelalters.“ 6 Schon bei einer flüchtigen Sichtung der historiographischen Quellen wird deutlich, dass an vielen Stellen geweint, geklagt und getrauert wird. Im byzantinischen Mittelalter gibt es zudem eine reiche Tradition der Trauer- und Trostliteratur, in denen Tränen eine wichtige Rolle spielen. Die Gattung der Trauerrede ist durch die Arbeiten von Alexander Sideras zur weiteren Forschung aufbereitet 7. Auch in der byzantini-
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Gerd Althoff, Der König weint. Rituelle Tränen in öffentlicher Kommunikation, in: Jan-Dirk Müller ( Hg. ), „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit ( Germanistische Symposien, Berichtsbände, 17 ) Stuttgart – Weimar 1996, S. 239–252; Ders., Empörung, Tränen, Zerknirschung. ‚Emotionen‘ in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 30, 1996, S. 60–79; Ders., Tränen und Freude. Was interessiert Mittelalter-Historiker an Emotionen?, in: Frühmittelalterliche Studien 40, 2006, S. 1–11; Matthias Becher, . Vom Weinen der Sieger und der Besiegten im frühen und hohen Mittelalter, in: Gerd Althoff ( Hg. ), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Früh- und Hochmittelalter ( Vorträge und Forschungen 51 ) Stuttgart 2001, S. 25–52. S. die Zusammenfassung des Vortrages von Stefan Weinfurter, Der Papst weint. Rituelles Verhalten im Kampf gegen Kaiser Friedrich II. in AHF-Information 2008, Nr. 182 [ http://www.ahf-muenchen.de/Tagungsberichte/Berichte/p df/2008/182–08.pdf ]. Einen Überblick von der Antike bis in die Gegenwart gab Margaret Alexiou, The Ritual Lament in Greek Tradition, Cambridge 1974; ein erster Versuch bei Martin Hinterberger, Tränen in der byzantinischen Literatur. Ein Beitrag zur Geschichte der Emotionen, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 56, 2006, S. 27–52. – Ein Standardwerk ist Piroska Nagy, Le don des larmes au Moyen âge: un instrument spirituel en quête d’institution, Ve–XIIIe siècle ( Bibliothèque Albin Michel. Histoire ) Paris 2000. Bernhard Jussen ( Hg. ), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, S. XVII. Alexander Sideras ( Hg. ), 25 unedierte byzantinische Grabreden ( Klasika grammata 5 ) Thessalonike 1990 [ erschienen 1991 ]; Ders., Die byzantinischen Grabreden. Prosopographie, Datierung, Überlieferung. 142 Epitaphien und Monodien aus dem byzantinischen Jahrtausend ( Wiener Byzantinistische Studien 19 ) Wien 1994; Ders., Eine byzantinische Invektive gegen die Verfasser von Grabreden: erstmals herausgegeben, übersetzt und kommentiert; nebst einem Anhang über den rhythmischen Satzschluss = #A&! ) & 0« ) &1 «, ( Wiener Byzantinistische Studien 23 ) Wien 2002.
Der Kaiser weint
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schen Epistolographie lassen sich zahlreiche Beispiel von Trostbriefen finden 8. Weinen intensiviert ebenso in den Wundererzählungen bzw. den Apophthegmata Patrum Handlungen 9. Tränen kommen nicht nur in Werken der Literatur und Hagiographie, sondern auch in byzantinischen Romanen 10 vor. Bei Gerichtsverhandlungen kann Weinen Strafmilderung bewirken 11. Selten hingegen findet man Tränen bildlich dargestellt, wenngleich es eine Reihe von Typen des Trauergestus gibt 12. Im Folgenden soll nur ein Aspekt herausgegriffen und untersucht werden, nämlich inwieweit und zu welchen Anlässen der byzantinische Kaiser als weinender Souverän auftritt 13. Im Gegensatz zur äußeren Organisation und zum Ablauf bestimmter Zeremonien ist eine Untersuchung der diese begleitenden Emotionen befördernden Handlungen, wie des öffentlichen Weinens des byzantinischen Kaisers bisher nicht unternommen worden 14. Die klassische Studie von Otto Treitinger zum Kaiserzeremoniell behandelt zwar die hin und wieder vorkommende Aktion des Fußfalles des Kaisers, das Weinen des Souveräns wird aber nur am Rande behandelt und nicht explizit thematisiert bzw. adressiert 15. Interessanterweise findet man einen Hinweis zum „Weinen“ in einer nichtbyzantinischen Quelle, während sich die mittelgriechischen Zeremonienbücher ( insbesondere das des Konstantinos VII. Porphyrogennetos ) darüber ausschweigen und keine solchen Vorgänge aufzeichnen 16. 8
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Antony Littlewood, The Letter of Consolation in the Macedonian and Komnenian Periods, in: Dumbarton Oaks Papers, 53, 1999, S. 19–41. Barbara Müller, Der Weg des Weinens. Die Tradition des „Penthos“ in den Apophthegmata Patrum ( Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 77 ) Göttingen 2000; Hannah Hunt, Joy-bearing Grief: Tears of Contrition in the Writings of the Early Syrian and Byzantine Fathers ( The Medieval Mediterranean 57 ) Leiden – Boston 2004; vgl. auch John Chryssavgis, A Spirituality of Imperfection: The Way of Tears in Saint John Climacus, in: Cistercian Studies Quarterly, 37, 2002, S. 359–371. Corinne Jouanno, Discourse of the Body in Prodromos, Eugenianos and Macrembolites, in: Diether R. Reinsch – Panagiotis A. Agapitos ( Hgg. ), Der Roman im Byzanz der Komnenenzeit. Referate des Internationalen Symposiums an der Freien Universität Berlin. 3. bis 6. August 1999 ( Meletemata. Beiträge zur Byzantinistik und neugriechischen Philologie 8 ) Frankfurt am Main 2000, S. 81–93. Das weinende beschuldigte Individuum hatte unter Einbindung des Publikums die Möglichkeit, vor dem weltlichen oder geistlichen Richter Straferleichterung zu erhoffen; Spyros Troianos, Der Teufel im orthodoxen Kirchenrecht, in: Byzantinische Zeitschrift 90, 1997, S. 97–111. Henry Maguire, The Depiction of Sorrow in Middle Byzantine Art, in: Dumbarton Oaks Papers, 31, 1977, S. 123–174, S. 170: Nur selten wird die Darstellung von Tränen angedeutet ( = Henry Maguire, Image and Imagination in Byzantine Art [ Collected Studies Series 866 ] Aldershot 2007, Nr. VI ). Vollständigkeit kann hier natürlich nicht erreicht werden und ist auch nicht intendiert. Z.B. Michael McCormick, Eternal Victory. Triumphal Rulership in Late Antiquity, Byzantium and the Early Medieval West ( Past and Present Publications ) Cambridge 1986; oder Ders., Analysing Imperial Ceremonies, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik, 35, 1985, S. 1–20; ein besonders ab dem 12. Jahrhundert anzutreffendes Zeremoniell behandelt Michael Jeffreys, The Comnenian Prokypsis, in: Parergon 5, 1987, S. 38–53. Otto Treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell. Vom oströmischen Staats- und Reichsgedanken, Darmstadt 21956, S. 86, S. 89 f., S. 228 ( Proskynese des Kaisers ). Auch bei Gilbert Dagron, Empereur et prêtre. Étude sur le byzantin ( Bibliothèque des histoires ) Paris 1996; hier verwendet die englische, verbesserte Übersetzung: Emperor and Priest. The Imperial Office in Byzantium ( Past and Present Publications ) Cambridge 2003, der Aspekt des weinenden basileus ist darin nicht gesondert behandelt. Dank für diese Auskunft gilt Dr. Michael Featherstone ( Paris ), der sich detailliert mit Aspekten des konstantinischen Zeremonienwerkes auseinandergesetzt hat.
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Michael Grünbart
In einem Bericht des Harun-ibn-Jahjah über den byzantinischen Kaiserhof aus dem Jahre 912 wird die Aschermittwochsprozession des Kaisers beschrieben: Der Kaiser hält dabei eine goldene Büchse gefüllt mit Staub in der Hand. Ein Regierungsbeamter ruft dem Kaiser zu, er solle des Todes gedenken, woraufhin der Kaiser die Büchse öffnet und auf den darin befindlichen Staub schaut, diesen küsst und weint, da ihm die Vergänglichkeit des Irdischen bewusst wird 17. 2. BYZANTINISCHE REFLEXIONEN ZUM THEMA „TRÄNEN“ 18
Tränen wurden im byzantinischen Kulturkreis bei traurigen und bei freudigen Ereignissen vergossen ( sieh das Eingangszitat ) 19. Grundsätzlich war den Byzantinern aber auch bewusst, dass man Tränen einsetzen konnte, wenn es die Situation erlaubte oder gar erforderte 20. Hin und wieder reflektieren die Zeitgenossen darüber. Da scheint sich der Osten vom mittelalterlichen Westen zu unterscheiden 21. Einen frühbyzantinischen Beleg dieser Einstellung findet man in der Geheimgeschichte Prokops, der in seiner schreibt: ‚Dieser Kaiser ( scil. Justinian ) war ein Meister der Verstellung, tückisch, heuchlerisch, unergründlich in seinem Zorne, zweideutig; ein schrecklicher Mensch, dabei ein vollendeter Schauspieler, wo es galt, eine Meinung zu verbergen. Ohne Freud oder Leid zu empfinden konnte er Tränen vergießen und ließ bei jeder Gelegenheit, wie gerade notwendig, seine Künste spielen.‘ 22 17
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S. Treitinger ( wie Anm. 15 ) S. 148; diese Szene auch bei Jenny Rahel Oesterle, Begangene Herrschaft – beschriebene Prozessionen. Fatimidische, byzantinische und ottonisch-salische Herrscherprozessionen an hohen Festtagen, in: Jörg Gengnagel – Monika Horstmann – Gerald Schwedler ( Hgg. ), Prozessionen, Wallfahrten, Aufmärsche. Bewegung zwischen Religion und Politik in Europa und Asien seit dem Mittelalter ( Menschen und Kulturen, Beihefte zum Saeculum 4 ) Köln – Weimar – Wien 2008, S. 87–105. S. auch Hinterberger ( wie Anm. 5 ) S. 34. Zu Tränen der Freude s. Hinterberger ( wie Anm. 5 ) S. 45f ( in der Abteilung Tränen der Liebe ); tränenreiche Wiedersehensfreude hatte Andronikos Komnenos, als er seine Frau im Gefängnis traf, nachdem er einen Gang zu ihr gegraben hatte; diese romanhafte Schilderung findet man bei Niketas Choniates, Nicetae Choniatae historia, S. 107, 21–27: * 2« 34 6 « « 3« λ µ )% $ Ω« 9 3 λ 3, %* « Ρ λ & 4 # ) « ν !& $"µ ; λ * « ) # $ ) & « , « κ Ν,&. K λ λ« … Entgegen Hinterberger ( wie Anm. 5 ) S 45: „Es überrascht, dass trotz der anerkannten großen Ausdrucks- und Überzeugungskraft der Tränen und der Möglichkeit deren willentlicher Hervorrufung kaum je von Missbrauch dieses kommunikativen Mittels die Rede ist.“ Was heißt Missbrauch? „Tränen“ durften und konnten eingesetzt werden, je nachdem, wie es die Umstände erforderten; „Missbrauch“ ist m. E. zu stark formuliert. Gerd Althoff, Gefühle in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters, in: Claudia Benthien – Anne Fleig – Ingrid Kasten ( Hgg. ), Emotionalität: zur Geschichte der Gefühle ( Literatur – Kultur – Geschlecht: Kleine Reihe 16 ) Köln – Wien 2000, S. 82–99, S. 97: „Die Differenzierung zwischen <echt> und wurde in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters aber allem Anschein nach nicht gemacht“. Procopii Caesarensis opera omnia III, ed. Jacobus Haury, Leipzig 1963, Anecdota VIII 24 ( S. 54, 13–18 ): > ² 2« 6 « ;&, µ«, «, % « +3', 1«, Ν,&« %«, ) , 3?" ? «, λ @ )φ’ π« « B ,« φ&, $ 4 & λ 1 4 µ « « %, %« « $λ, … Übersetzung nach Otto Veh, Prokop. Anekdota. Geheimgeschichte des Kaiserhofs von Byzanz ( Sammlung Tusculum ) Düsseldorf 2005. Vgl. Berthold Rubin, Das Zeitalter Justinians, 1, Ber-
Der Kaiser weint
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Auch in dem so genannten Strategikon des ehemaligen Militärs und Verwaltungsbeamten Kekaumenos, welches in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts entstand und eine Reihe von Anweisungen enthält, wie sich eine aristokratische Person in der Gesellschaft zu verhalten habe, wird man fündig. Bezüglich des Einsatzes und der Dosierung von inszenierenden Emotionen schreibt Kekaumenos prägnant: ‚Gehörst du aber zu den Minderbemittelten, was ich dir nicht wünsche, dann zeige Erbarmen, Mitleid, Tränen und Trauer.‘ 23 Dieser Ratschlag impliziert die variable Verwendung von emotionalen Ausdrucksformen. In einer dritten Quelle, dem Geschichtswerk des Niketas Choniates aus dem 12. Jahrhundert, kann man exemplarisch eine dritte Persönlichkeit herausgreifen, die für die Fragestellung ergiebig ist. Es handelt sich um den Usurpator Andronikos Komnenos 24, der über die Möglichkeiten des gezielten Einsatzes von Emotionen befördernden Handlungen, insbesondere der kalkulierten Verwendung von Tränen Bescheid wusste ( zu ihm im Folgenden mehr ). All diese angeführten Passagen stehen in einem gewissen Gegensatz zu Formulierungen in Dokumenten aus der Kaiserkanzlei und Fürstenspiegeln, wo stets das Maßhalten, das ausgeglichene Auftreten des Souveräns idealisiert wird 25. Folgende Situationen, bei denen Tränen eingesetzte wurden, sollen herausgegriffen werden: 1. Begegnungen mit dem Göttlichen/Heiligen, 2. Trauer, 3. Reue, 4. Rührung und Mitleid und 5. Verstellung.
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lin 1960, S. 214 f. – Wichtig ist hier der Begriff «, der auch in Zusammenhang mit falscher Freundschaft verwendet wird. Maria Dora Spadaro ( Hg. ), Cecaumeno. Raccomandazioni e consigli di un galantuomo ( Hellenica 2 ) Alessandria 1998, 48, 24–28: 0 ξ # & #« ρ, Ρ $! , 3," , 3", , ,? , λ ² Dµ« 1 ³« 3 * λ µ ,µ $ ? . Übersetzung bei Hans-Georg Beck, Vademecum des byzantinischen Aristokraten. Das sogenannte Strategikon des Kekaumenos ( Byzantinische Geschichtsschreiber 5 ) Graz 21964. Zu Kekaumenos zuletzt Charlotte Roueché, The Literary Background of Kekaumenos, in: Catherine Holmes – Judith Waring ( Hgg. ): Literacy, Education and Manuscript Transmission in Byzantium and Beyond ( The Medieval Mediterranean 42 ) Leiden – Boston – Köln 2002, S. 111–138. Zuletzt Niels Gaul, Andronikos Komnenos, Prinz Belthandros und der Zyklop. Zwei Glossen zu Niketas Choniates’ Xκ '3"«, in: Byzantinische Zeitschrift, 96, 2003, S. 623–660; wenig ergiebig Oktawiusz Jurewicz, Andronikos I. Komnenos, Amsterdam 1970 ( nur zu benutzen mit der Rezension von Otto Kresten, Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 20, 1971, S. 328–334 ). Zu seinem Wirken als Kaiser s. auch Charles M. Brand, Byzantium Confronts the West, 1180–1204, Cambridge ( Mass. ) 1968, S. 28–75. Herbert Hunger, Prooimion: Elemente der byzantinischen Kaiseridee in den Arengen der Urkunden ( Wiener byzantinistische Studien 1 ) Wien – Graz – Köln 1964, S. 109–112 ( Harmonie, Ordnung, Ausgeglichenheit ); Agapetos Diakonos. Der Fürstenspiegel für Kaiser Iustinianos (EE φ & 1 1 4 ). Erstmals kritisch herausgegeben von Rudolf Riedinger, Athen 1995, § 54: G λ ψ , «, I 9 "« @φ%&« ψ ,«α @% , 3 µ « 3 ? "« 3 λ 3 « $ 1 . E0 ξ µ @ 3µ ³« µ '« @ ) #, µ % « $ « $ ! «. ( ‚Erwäge sorgsam, was du willst, bevor du einen Befehl erteilst, damit du mit Verstand das befiehlst, was Rechtens ist. Denn die Zunge ist als Glied des Körpers schlüpfrig und stellt für Unbedachte eine große Gefahr dar. Wenn du aber der frommen Denkart wie einem Musikmeister darüber Macht gibst, wird das harmonische Lied der Rechtschaffenheit erschallen.‘ ).
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Michael Grünbart 3. DER KAISER WEINT
3.1. Tränen vor dem Göttlichen / Heiligen Vier Beispiele von Kaisern, die sich in den Schutz des Göttlichen begeben oder um göttlichen Beistand ersuchen, sollen hier angeführt werden. Romanos I. Lakapenos ( 920–944 ) weinte vor dem Treffen mit dem Bulgarenzaren Symeon in der Theotokoskirche ( im Jahre 924 ) und flehte die Muttergottes um Beistand an; er intensivierte die Verbindung zur Macht der Heiligen, indem er sich das in der Kirche aufbewahrte Maphorion der Theotokos umlegte, sich auf den Boden warf und weinte 26. Auch bei militärischen Aktionen wurden Ikonen als Stellvertreter Heiliger unter Tränen um Unterstützung angerufen. Ikonen wurden mit ins Feld genommen 27. Romanos III. Argyros ( 1028–1034 ) konnte seinen Truppenteilen, die sich um ihn auf der Flucht scharten, wieder Mut einflößen, indem er die in den Kampfhandlungen verschwundene und wieder aufgetauchte Ikone der Theotokos umarmte und dabei weinte 28. Kaiser Ioannes Komnenos ( 1118–1143 ) bemühte bei seiner Aktion gegen die Petschenegen im Jahre 1123 auch übernatürlicher Kräfte. Niketas Choniates berichtet: ‚Das war etwas Neues und Ungewöhnliches 29, aber es legte Zeugnis ab von seiner großen Frömmigkeit: Als er nämlich sah, dass die Romäer ermatteten, weil die Feinde sie immer von neuem bedrängten und verwegen angriffen, umfasste er mit mitleiderheischender Gebärde die Ikone der Gottesmutter, die er mit ins Feld genommen hatte, hob klagend sein Angesicht zu ihr empor und die Tränen flossen ihm heißer als der Schweiß des Kampfes. Und nicht vergeblich war sein Bemühen. So-
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Immanuel Bekker ( Hg. ), Theophanes continuatus, Ioannes Cameniata, Symeon Magister, Georgius Monachus ( Corpus scriptorum historiae Byzantinae ) Bonn 1838, S. 899, 6–9: 3%« ξ B « ² 2« Ϊ N ) & ) # 9 " 9 43)
) # 0 , λ 4« « * 0« @', ρ "κ« Ω µ Ϊ 3 $ φ « « , κ , % $ # κ $ λ $ 1 λ )"φ GΩ * 4 µ« 0'" ,, . Vgl. Hinterberger ( wie Anm. 5 ) S. 39. Zu dieser Stelle auch James Howard-Johnston, A Short Piece of Narrative History: War and Diplomacy in the Balkans, Winter 921/2-Spring 924, in: Elizabeth Jeffreys ( Hg. ), Byzantine Style, Religion and Civilisation. In Honour of Sir Steven Runciman, Cambridge 2006, S. 340–360, S. 351. – Zum Maphorion s. John Wortley, The Marian Relics at Constantinople, in: Byzantine and Modern Greek Studies, 25, 2005, S. 171–187, S. 185 ( kurz zu dieser Stelle ). George T. Dennis, Religious Services in the Byzantine Army, in: Ephrem Carr – Stefano Parenti – Abraham-Andreas Thiermeyer – Elena Velkovksa ( Hgg. ), EYPORHMA. Studies in Honour of Robert Taft, S.J. ( Studia Anselmiana 110 = Analecta Liturgica 17 ) Rom 1993, S. 107–117; Dennis geht bis ins 11. Jahrhundert, ein prägnantes Beispiel ist Basileios II., der gegen Bardas Phokas mit dem Schwert in der einen Hand und der Ikone der Theotokos in der anderen Hand in den Kampf zieht ( Dennis, S. 109 ). Salvatore Impellizzeri ( Hg. ), Michele Psello Imperatori di Bisanzio ( cronografia ) ( Scrittori greci e latini ) Mailand 31997, 1 III 10, 20–26 … λ µ« µ 2« # φ3% & … λ λ π 0Ω @ ) # « D' « φ , U ¹ # EV& & « — 4 "3µ λ 1 µ« φ! « « ',&« 3 … 11, 1–7: E« ’ σ ρ ² @ & µ 3 2 λ , … $," @,2« λ 3 «, @ $ 0 ³« ! , ³« « $, ³« 3"? ,& , ³« # @3# $9 " λ # # & #, Z« µ EV& & « « 1 ! % λ $? . Vgl. Hinterberger ( wie Anm. 5 ) S. 39. So neu auch nicht – s. vorangehende Fußnote.
Der Kaiser weint
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gleich schlugen seine Krieger, mit himmlischer Kraft bewaffnet, die Skythen in die Flucht, so wie einst Moses durch das Ausstrecken seiner Hände die Amalekiter vertrieben hatte.‘ 30
Hier wird die performative, öffentlichkeitswirksame Handlung des Kaisers deutlich, der nicht im Verborgenen die Nähe zur Heiligen sucht, sondern sichtbar diesen Schritt tut. Als viertes Beispiel für die intensive Beziehung zwischen einem Souverän und dem Göttlichen soll Andronikos I. Komnenos angeführt werden, welcher, wenn man den Beschreibungen Niketas Choniates’ folgen mag, ein großer Verehrer des Apostels Paulus war: ‚Andronikos hatte die Briefe des Herolds Gottes, des heiligen Apostels Paulus, sehr ins Herz geschlossen 31. Ständig sog er den Honig ihrer Worte ein und machte sich ihre überzeugende Beredsamkeit so zu eigen, dass er selbst ausgezeichnete Briefe schrieb. In seiner Verehrung ließ er auch ein von sehr alter Hand gemaltes Bild des geisterfüllten Predigers aus Tarsos mit herrlichem Goldschmuck verzieren und stellte es in der erwähnten Kirche ( =Kirche der 40 Märtyrer ) 32 auf. Diesem Bild rannen, als der Untergang dem Andronikos nahe war, Tränen aus den Augen. Andronikos hörte davon und sandte Leute hin, die das Gehörte genau untersuchen sollten. Unter diesen war auch Stephanos Hagiochristophorites, der auf eine Staffel stieg – das Bild hing nämlich hoch – und mit einem reinen Tuch die Augen des Apostels abwischte. Aber das flossen aus ihnen wie aus einer gereinigten Quelle noch reichlicher die Tränen. Er staunte über das, was er gesehen, und berichtete es Andronikos. Dieser wurde sehr betrübt, wiegte sein Haupt hin und her, seufzte und sagte, Paulus scheine also über ihn zu weinen und das bedeute, dass ihm das größte Unglück bevorstehe. Er liebe Paulus von ganzem Herzen und hänge sehr an seinen Worten, deshalb liebe ihn wohl auch der Apostel.‘ 33
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Nicetae Choniatae historia S. 15, 83–93: Tµ ξ κ µ λ κ ) & 1 κ @ , ²% # EV& & ¹ φ 33« $ ,% & # & λ % & ? , κ « ,' « 0% # $&, ’0&3« &, « « ' ,% # 3&& ¹? & . K λ > Κ 0« µ %« ) &, $ ’ 1 @ κ * ]« ,& %« ! 4« G,4« 1 «, ³« M&« 3 % 9 # # 4« #A " « ; « . Übersetzung nach Franz Grabler, Die Krone der Komnenen. Die Regierungszeit der Kaiser Joannes und Manuel Komnenos ( 1118–1180 ) aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates ( Byzantinische Geschichtsschreiber 7 ) Graz – Wien – Köln 11958, S. 8. Die Briefe des Apostels waren für byzantinische Epistolographen ein großes Vorbild, s. dazu Michael Grünbart, Byzantinische Briefkultur, in: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 47, 2007, S. 117–138, S. 129. Dazu zuletzt Rudolf H.W. Stichel, Ein byzantinischer Kaiser als Sensenmann? Kaiser Andronikos I. Komnenos und die Kirche der 40 Märtyrer in Konstantinopel, in: Byzantinische Zeitschrift 93, 2001, S. 587–608; gleichzeitig mit anderen Ergebnissen Carolina Cupane, Der Kaiser, sein Bild und dessen Interpret, in: Claudia Sode – Sarolta Takács ( Hgg. ), Novum Millennium: Studies on Byzantine History and Culture Dedicated to Paul Speck, Aldershot 2001, S. 65–79. Nicetae Choniatae historia S. 352, 8–353, 23: #E & ξ > κ κ λ« 4« 1 ,'« P ! 4« λ #« 1 ! & $ « φ « λ Ν & « @ # , 3"« 4 0
% . $ λ $ « µ« 0% 1 ' « T &« %) & ! « ) # 1 $," ) # `", ) #α π , « #A φ« 33!"«, # +φ, # $ . 1 ’ $"Ω« #A%« 2« $&« 4 « $«. > ξ ,’ a & 0« 1 3λ« λ ² EA3 φ "« G φ «, χ« λ 4 ,« $ ,Ω ( > 34 π 0Ω &« ) $" )φ $" ) & 4« 1 P ! % «. A¹ ξ 4 4« & « ' « $ µ *. K λ , « χ a? #A) & $Ω "3' . ² ξ 3’ +,' « λ κ τ $ ! « * λ ;" ’ @ ) # Ν ! µ P 1 λ µ @ ) # " µ $33 %α φ 34 ,!&«
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Michael Grünbart
Die tränenvergießende Ikone des Paulus ist ein frühes Beispiel für das Vergießen der Tränen 34, später ist dies bei Ikonen der Muttergottes vor allem im russisch-orthodoxen Raum etwas Gängiges 35. 3.2. Tränen der Trauer Die auch heute natürliche Reaktion bei einem Trauerfall ist Weinen: die einzige – zumindest in Mitteleuropa – auch heute noch akzeptierte Form des öffentlichen Weinens (neben Tränen der Rührung). Es soll hier nicht in extenso ausgeführt werden, dass auch byzantinische Kaiser über den Verlust von Familienangehörigen betroffen waren und sich diese Betroffenheit auch öffentlich zeigte. Kaiser Manuel I. Komnenos betrauerte 1160 den Tod seiner Gemahlin Eirene/Bertha von Sulzbach 36. Häufig findet man byzantinische Kaiser in Trauer, wenn sie militärische Niederlagen oder Verluste erlitten hatten. Anna Komnene berichtet in ihrer Alexias, dass Kaiser Alexios I. Komnenos (1081–1118) im Jahre 1086 Truppen gegen die Bulgaren ausrücken ließ, wobei der Anführer der Byzantiner der domestikos des Westens Pakurianos war 37. Die Byzantiner verloren die Schlacht, da sie in der Unterzahl waren. Pakurianos wurde nicht im Kampf direkt getötet, sondern er starb dadurch, dass er in einen Buchenbaum ritt: ‚Als das wiederum der Autokrator erfuhr, trauerte er um alle Gefallenen ( Reinsch: Gefangenen ), im einzelnen und in ihrer Gesamtheit; über den Tod des domestikos aber war er sehr betrübt und vergoss um ihn Ströme von Tränen; denn er hatte den Mann schon vor seiner Ausrufung [ als Kaiser ] sehr gern gehabt.‘ 38
Etwas später berichtet Anna Komnene über den folgenden Vorfall: Nachdem die Byzantiner erfolgreich gegen Bohemund und seine Truppen vorzugehen vermocht hatten und sich die Byzantiner über die Gefangennahme eines Cousins des Bohemund
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µ P 1 λ # @ 1 `" & Ν&« *, λ $ φ , ', )µ P ! . Übersetzung nach Franz Grabler, Abenteurer auf dem Kaiserthron. Die Regierungszeit der Kaiser Alexios II., Andronikos und Isaak Angelos ( 1180–1195 ) aus dem Geschichtswerk des Niketas Choniates ( Byzantinische Geschichtsschreiber 8 ) Graz – Wien – Köln 21971, S. 154. Annemarie Weyl Carr, Court Culture and Court Icons in Middle Byzantine Constantinople, in: Henry Maguire (Hg.), Byzantine Court Culture from 829 to 1204, Washington (D.C.) 1997, S. 81–99, S. 83 f. Ich danke Frau Dr. Eva Haustein-Bartsch ( Ikonenmuseum Recklinghausen ) für diese Auskunft. Nicetae Choniatae historia S. 115, 47–52: EO ξ M κ $ %« , ) & κ * #A # *! % , µ "« % µ 0",λ« ? «, λ ³« & ,"#« !* , φ« ξ *&Ω« 3 1« λ ) # ' « 4 Ρ 9 1 P « ) ? ) 9 … ‚Manuel verlor seine alamanische ( = deutsche ) Gattin durch den Tod. Er betrauerte den Verlust, wie wenn ein Teil seines Körpers von ihm gerissen worden wäre, und brüllte auf im Schmerz wie ein Löwe ( = Oseas 11,10 ). Er ließ sie prächtig in dem von seinem Vater gegründeten Pantokratorkloster einsegnen und bestatten …‘ ( nach Grabler [ wie Anm. 31 ] S. 155 ). Zum Schaffen Annas zuletzt Thalia Gouma-Peterson – Angeliki E. Laiou ( Hgg. ), Anna Komnene and her Times ( Garland Medieval Casebooks 29 ) New York, NY 2000. Annae Comnenae Alexias, recens. Diether Roderich Reinsch – Athanasios Kambylis ( Corpus Fontium Historiae Byzantinae 40 ) Berlin – New York 2001, VI 14, 4: 1 ’ σ ,"Ω« ²
@ & , ξ 2« &% « Ϊ « 0)
λ , λ ²1α λ ξ ) # 1 , ) & » & 2« φ ! & α φ 34 *%&« µ Ν λ µ « $ '&«. Deutsch: Anna Komnene. Alexias. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Diether Roderich Reinsch ( de Gruyter Texte ) Berlin – New York 22001, S. 231.
Der Kaiser weint
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amüsiert hatten ( der fast zehn Fuß große Mann wurde von einem zwergenhaft kleinen Skythen, der ihm nur bis zur Hüfte reichte, abgeführt und dem Kaiser vor den Thron geführt, was allgemeines Gelächter hervorrief ) 39, trafen wieder negative Nachrichten aus der Gegend des Ohrid-Sees ein. Kaiser Alexios musste über den Verlust von Eustathios Kamytzes und Alexandros Kabasilas klagen: ‚Kaum hatte der Autokrator Zeit gehabt, über den gelungenen Streich des Kantakuzenos zu lächeln, da traf schon wieder eine neue unheilvolle Nachricht ein, die von einem unbeschreiblichen Massaker an den von Kamytzes und Kabasilas befehligten romäischen Einheiten berichtete. Entmutigen ließ sich der Autokrator dadurch keineswegs, obgleich es ihm das Herz zerriss und er vor Schmerz aufstöhnte über die Gefallenen, bisweilen auch Tränen vergoss über jeden einzelnen‘ 40.
Auch sein Enkel, Kaiser Manuel I. Komnenos ( 1143–1180 ) weinte, als seine Truppen von den Türken aufgerieben wurden 41. Manuel war gerade von seinem Triumphzug in Antiocheia ( 1159 ) auf dem Rückweg in die Hauptstadt Konstantinopel: ‚Als er sah, wie groß die Zahl der Toten war, schlug er sich vor Schmerz den Schenkel, schnalzte mit den Lippen, stöhnte tief auf und brach in Tränen aus. ( Das alles sind Zeichen heftigen Leides, die man von sich gibt, wenn man Schmerzliches sieht oder hört ). Manuel hätte gerne diesen Schimpf wieder gutgemacht, aber er hatte damals keine Möglichkeit dazu und zog also weiter.‘ 42
Niketas Choniates interpretiert das Verhalten Manuels hier als eine natürliche und menschliche Reaktion 43. 3.3. Tränen der Reue Wesentlicher Bestandteil des Reuerituals sind mit Tränen verbundene Reinigungshandlungen 44. Die Seele erfährt dadurch eine Entlastung 45. Kaiser Leon VI. verfasste eine Schrift mit dem Titel ‚Anleitung zur Seelenführung‘ ( O0 κ # !&« ), in der auch auf den Nutzen von Tränen eingegangen wird 46. 39 40
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Annae Comnenae Alexias, XIII 6, 6. Annae Comnenae Alexias, XIII 7,1: OΚ& µ « 1 @ « λ ) # 1 K "1 ,? , a « $%φ"« $33 , φ% $!," # 4 1 K ! " λ 1 K `& =# 3 & "! . K ξ σ @ #« ² @ &, φ% ",λ« κ λ $?« & ξ « 1, $ 6 λ ! & µ , … Kurz Paul Magdalino, The Empire of Manuel I Komnenos, 1143–1180, Cambridge 1993, S. 76. Vgl. Althoff (wie Anm. 3) S. 244, König Sigibert weinte über seine auf dem Schlachtfeld gefallenen Soldaten. Nicetae Choniatae historia S. 110, 12–17: Ρ λ 3 « # % & ? λ µ ,« # φ, & Ρ ' * 9 λ µ "µ $,% λ φ 4 " 4 λ $#* !, λ 1 ( 1 κ 4 # , & " 4 λ « ²&« ν λ & « $ 3 « , λ $! ) λ ² ξ µ +φ, « $ , «, 3 * )3, » $ ²1 « "« σ,« $, . Übersetzung nach Franz Grabler, Die Krone der Komnenen ( Byzantinische Geschichtsschreiber 8 ) Graz 1958, S. 149. Zu dieser Stelle auch Hinterberger ( wie Anm. 5 ) S. 41. Zu einer weiteren natürlichen, spontanen Reaktion sie unten ( zwischen Andronikos und Kaiser Manuel I. Komnenos ). Althoff ( wie Anm. 3 ) S. 6. Hinterberger ( wie Anm. 5 ) S. 47. Hinterberger ( wie Anm. 5 ) S. 47; Editionen Athanasios Papadopoulos-Kerameus, Varia graeca sacra, St. Petersburg 1909, S. 213–253 und Jean Grosdidier de Matons, Trois études sur Léon, in: Travaux et mémoires 5, 1973, S. 181–242.
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Reuigen Kaisern begegnet man oft in der Historiographie, es scheint geradezu zum Herrscherideal zu gehören, dass sich der Souverän in Demut übt. Ein paar Exempel mögen genügen: Ioannes Tzimiskes beichtete einem Bischof vor seinem Tod und vergießt dabei Tränen der Reue; Tzimiskes hatte seinen Vorgänger Nikephoros Phokas im Jahre 969 kaltblütig ermorden lassen 47. Häufig brechen Kaiser in Tränen aus, wen sie in Kommunikation mit einem Heiligen oder dem Göttlichen treten. Klassisches Beispiel ist Otto III., der sich barfüßig zu dem Heiligen Nilus von Rossano begibt, was auch in der griechischen Vita nachzulesen ist 48. Nilus war über die Devestitur des Johannes Philagathos empört und zog sich auf den Monte Gargano zurück 49. Reuebezeugungen konnten auch postum vorgenommen werden: Der sterbende Patriarch Michael Kerullarios ( 1059 ) vergab allen seinen Widersachern und Verfolgern, seinen Richtern und auch dem Kaiser Isaakios Komnenos ( 1157–1159 ), wie Michael Psellos berichtet. Nachdem er gestorben war, kam Isaakios zu seinem Grab, wo er den Patriarchen um Versöhnung bat und sich unter Tränen reuig zeigte 50. Eindrücklich ist die Szene, die Anna Komnene am Beginn der Herrschaft ihres Vaters Alexios ( 1081–1118 ) berichtet ( 1081 ). Kaiser Alexios fühlte sich schuldig während des Einzugs in die Stadt Konstantinopel viele geistliche Stätten geplündert zu haben. Ihn plagten trübe Gedanken, und er fragte seine Mutter, wie er sein Schuldgefühl losbekommen könnte. Die Mutter freute sich über seine Offenheit. Mit seinem Einverständnis kamen der Patriarch Kosmas und Vertreter der heiligen Synode, also hohe Patriarchatsbeamte, und des Mönchsstandes zusammen. Alexios trat vor diese wie einer der vor Gericht steht, beichtete alles und wollte sich einer Bußhandlung unterwerfen. Er und seine Verwandten müssen sich zur Versöhnung mit Gott Fasten, Schlafen auf dem bloßen Boden auferlegen. Dies betrifft nicht nur die Männer, sondern auch weiblichen Angehörigen der Familie sind mit eingeschlossen. ‚Und so konnte man damals den Kaiserpalast voller Tränen und Wehklagen sehen, aber das Wehklagen war nicht ta-
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Karl Benedikt Hase ( Hg. ), Leonis Diaconus Caloensis historiae libri decem et liber de ventilatione bellica Nicephori Augusti. Addita eiusdem versione atque annotationibus ab ipso recognitis ( Corpus scriptorum historiae Byzantinae 11 ) Bonn 1828, S. 178, 4–8: 0 «, Ν , % λ , 4 4 µ @ ) # $ $3' , 2 « # + φ , # ! & φ«. Vgl. Hans-Georg Beck, Die Byzantiner und ihr Jenseits. Zur Entstehungsgeschichte einer Mentalität ( Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Sitzungsberichte 1979, 6 ) München 1979, S. 28, 45c. λ ² 2« 1 $!& 3% « !& $µ # + & ( Vita Nili, Patrologia Graeca 120, S. 153C ). Gerd Althoff, Otto III., Darmstadt 1996, S. 102–104. Konstantinos N. Sathas ( Hg. ), M &κ ,'" ν 3κ $% & "& « a "« ¹ «, %« ’, Athen 1874, IV S. 378, 5–11: 380, 22–28: T) # ) # φ) & @ µ« ² ' « 4 « ) «, I &« ) # %3) & '& , ' , !«, λ ³« Z% )ξ # 3& $ 3' , ³« $ !* ,, λ 4 , λ 33?" — $ 0 "« ; "φ. Dazu Michael Angold, Imperial Renewal and Orthodox Reaction: Byzantium in the Eleventh Century, in: Paul Magdalino ( Hg. ), New Constantines: The Rhythm of Imperial Renewal in Byzantium, 4th–13th Centuries. Papers from the Twenty-sixth Spring Symposium of Byzantine Studies, St. Andrews, March 1992 ( Society for the Promotion of Byzantine Studies, Publications 2 ) Aldershot 1994, S. 231–246, S. 242–243. – Auch vor den Gräbern von Heiligen bzw. deren Reliquien gehören Tränen zum Ritual der Hilfesuchenden, Stellen s. Hinterberger ( wie Anm. 5 ) S. 42, Rn. 56.
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delnswert und ein Zeichen innerer Schwäche.‘ 51 Kaiser Alexios trug sogar ein Sackleinen, allerdings unter seinem Purpurgewand 52. Auch nach der Komnenenzeit lassen sich passende Belege für Tränen der Reue finden. Ioannes III. Dukas Batatzes ( 1221–1254 ) weinte, da er ein schlechtes Gewissen hatte. Durch seine aus dem Geschlecht Della Frica stammende Mätresse Markesina ( = Markgräfin ) 53, die er mit kaiserlichen Insignien ausgestattet hatte, habe er das Kaisertum befleckt. Diese habe mit den kaiserlichen Zeichen und einer großen Menge Gefolgschaft geprahlt: ‚Aber dem Kaiser kamen die Tränen und er seufzte tief. Bald übermannten ihn Reue und Scham, und er sagte: „Wozu hetzt ihr mich auf, einen gerechten Mann zu strafen? Hätte ich Unehre und Schande von mir ferngehalten, so hätte ich die Würde des Kaisertums unbefleckt erhalten. Ich selbst habe Anlass gegeben, dass man mich und das Kaisertum beleidigt.“‘ 54
Der Nachfolger des Kaisers Ioannes Dukas Batatzes Theodoros Laskaris ( 1254–1258 ) zeigte sich vor seinem Tode 1258 reuig und wohltätig: ‚Vor seinem Hinscheiden tauschte der Kaiser das kleine Mönchsgewand gegen die Kutte des vollkommenen Mönches, verteilte eigenhändig viel Geld und weinte aus glühendem Herze Ströme von Tränen; dadurch wusch und pflegte er in den Stunden der Not die Wunden der Seele.‘ 55
Exkurs: Die Auseinandersetzung zwischen Nikolaos Mystikos und Leon VI. Für eine die hier angesprochene Thematik und für die Beziehung zwischen Patriarchen und Kaiser wichtige Szene spielte sich im Jahre 906 ab. Sie verdient es, separat und hervorgehoben behandelt zu werden. Auf dem Kaiserthron saß zu dieser Zeit Leon VI. ( 886–912 ), sein geistliches Gegenüber war Nikolaos Mystikos ( Patriarch von 901–907 und dann erneut von 912 bis zu seinem Tod im Jahre 925 ) 56. Nikolaos war 51
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Annae Comnenae Alexias, recens. Diether Roderich Reinsch – Athanasios Kambylis ( Corpus Fontium Historiae Byzantinae XL ) Berlin – New York 2001, III 5 § 6 … λ > 0 4 % !& λ ,« $ , ,« @ %3 @’ $, # "31 «, $ ’ 1 λ »« * « « λ " "«. Annae Comnenae Alexias, recens. Diether Roderich Reinsch – Athanasios Kambylis ( Corpus Fontium Historiae Byzantinae 40 ) Berlin – New York 2001, III 5 § 5 ( S. 99, 4–6 ): ² ξ @ &, ² « « κ @ , # µ« « « 4 3« " ) # ! « %« … Alice Gardner, The Lascarids of Nicaea. The Story of an Empire in Exile, London 1912, ND Amsterdam 1964, S. 169. Ludwig Schopen – Immanuel Bekker ( Hg. ), Nicephori Gregoriae Byzantina historia ( Corpus scriptorum historiae Byzantinae 19 ) Bonn 1829, II 8 ( S. 47, 4–9 ): ² ξ 2« $ « 3%« λ !,% * « λ "« µ« "φ « λ !*&« «, „I Ν &, ;“ $φ α „0 3 µ« '&« > $ « ²1 λ 0!"« ,, %«, $" f µ « « ' µ λ @ %«“. – Übersetzung nach Jan-Louis van Dieten, Rhomäische Geschichte 1 ( Kapitel I–VII ) ( Bibliothek der griechischen Literatur 4 ) Stuttgart 1973, S. 87. Ludwig Schopen – Immanuel Bekker ( Hg. ), Nicephori Gregoriae Byzantina historia ( Corpus scriptorum historiae Byzantinae 19 ) Bonn 1829, S. 61, 22–62, 1: … λ @ κ '3 ! ) & κ ', $ * ) & ,!&« µ µ µ « « « µ µ ? λ 2« « 0 « λ " & &2« λ 4« !& !"« « $φ "3« Übersetzung nach Jan-Louis van Dieten, Rhomäische Geschichte 1 ( Kapitel I–VII ) ( Bibliothek der griechischen Literatur 4 ) Stuttgart 1973, S. 94. Zum Kaiser s. zuletzt Shaun Tougher, The Reign of Leo VI ( 886–912 ): Politics and People ( The Medieval Mediterranean 15 ) Leiden 1997. Zum Leben des Patriarchen s. Romilly James Jenkins – Leen-
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möglicherweise Schulkollege des späteren Kaisers Leon, jedenfalls holte ihn Leon aus dem Kloster an den Hof und machte ihn zum Geheimsekretär. In der Funktion des mystikos war es möglich, weiterhin Geistlicher zu bleiben 57. Das Verhältnis der beiden dürfte sich rasch verschlechtert und angespannt haben, nachdem Nikolaos zum Patriarchen erhoben worden war. Das Machtspiel erreichte einen Höhepunkt im sogenannten Tetragamiestreit 58. Die vierte ( geplante ) Eheschließung des Kaisers war aus der Verzweiflung geboren, dass er aus Verbindungen mit drei Frauen nicht den ersehnten Nachfolger bekommen hatte. Erst Zoe Karbonopsina brachte einen Sohn zur Welt, Konstantin, der am 6. Januar 906 von Nikolaos Mystikos auch getauft wurde. Das Problem war, dass Konstantin zwar in der Porphyra geboren war, aber unehelich war 59. Der Patriarch Nikolaos wollte den Ehebund nicht besiegeln, da diese nicht in Einklang mit den kirchlichen Gesetzen stünde. Er berief sich auf den Heiligen Athanasios als Gewährsmann, der Kaiser hingegen versuchte bei Papst Sergius III. im Westen Unterstützung zu finden. Die Vorschriften, die die Ehe regelten, waren im Westen weniger streng als im Osten, und der Kaiser konnte sich offene Ohren erhoffen, da der Papst das Gefühl haben konnte, dass Leon die römische Suprematie unterstützte. Doch konnte das Problem nicht auf informellem Wege gelöst werden und die Auseinandersetzung steuerte auf eine offene Konfrontation zu. In der Vita des Patriarchen Euthymios wird diese, wenn auch nicht ganz stringent im historischen Ablauf, dargestellt 60. Man kann geradezu verschiedene Akte feststellen, die eine Abfolge von Performanz, Inszenierung und Machtdemonstration zeigen 61. 1. Der Patriarch kam nach der Lektüre der Athanasiosbriefe zu dem Schluss, den Kaiser nicht in das Gotteshaus, die Hagia Sophia, zu lassen 62. Der Kaiser bekam davon Wind und beriet ich mit seinen engsten Vertrauten; es schien ihm nahezu unmöglich, den Patriarchen von seinem Thron zu entfernen 63. Er schlug vor, den Patriarchen der Konspiration mit seinem Widersacher Dukas zu beschuldigen und ihn gleich beim Besuch der Kirche entfernen zu lassen. Diese Überlegung wurde von einem gewissen Theophylaktos dem Patriarchen zugetragen, der seine Metropoliten instruierte, gegen den Kaiser in Opposition zu treten. Doch auch das blieb dem Kaiser nicht verbor-
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dert G. Westerink ( Hgg. ), Nicholas I Patriarch of Constantinople. Letters ( Corpus Fontium Historiae Byzantinae 6, Series Washingtoniensis = Dumbarton Oaks Texts 2 ) Washington ( D.C. ) 1973. Paul Magdalino, The Not-so-secret Functions of the Mystikos, in: Revue des Études Byzantines, 42, 1984, S. 229–240. Patricia Karlin-Hayter, Le synode à Constantinople de 886 à 912 et le rôle de Nicolas le Mystique dans l’affaire de la tétragamie, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik, 19, 1970, S. 59–101; Nicolas Oikonomidès, Leo VI’s Legislation of 907 Forbidding Fourth Marriages: An Interpolation in the Procheiros Nomos ( IV, 25–27 ), in: Dumbarton Oaks Papers 30, 1976, S. 173–193. Allgemein s. Arnold Joseph Toynbee, Constantine Porphyrogenitus and his World, London 1973. Vita Euthymii patriarchae Cp., text, translation, introduction and commentary by Patricia KarlinHayter ( Bibliothèque de Byzantion 3 ) Brüssel 1970. Kurze Schilderung bei Hinterberger ( wie Anm. 5 ) S. 36–37, ohne auf die dramatische Gestaltung der Szene hinzuweisen. Vita Euthymii S. 73, 10–11: λ 3& µ Ρ ρ 4« 1 3 #A, . Vita Euthymii S. 73, 17–18: … µ« ;& " « µ 0* . Vita Euthymii S. 73, 25–27: $! % &« κ *&, µ " 1 ,%
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gen 64. Damit hatte er Zeit, sich auf das mögliche Kommende vorzubereiten. Deutlich wird hier, dass es informelle Kanäle zwischen den Machtstellen gegeben hat, die im Notfall auch bestens funktionierten. 2. Leon VI. machte sich am Weihnachtstag des Jahres 906 mit seinen Würdenträgern und dem Senat auf den Weg zur Hagia Sophia in der Hoffnung, dort problemlos Eingang zu finden 65. Als er das Gotteshaus aber erreichte, trat ihm beim kaiserlichen Tor der Patriarch entgegen 66. Er sagte zu ihm, er möge durch den Seiteneingang in die Kirche gehen; zum Epiphaniefest ( 6. Januar ) solle er kommen, mit ihm zusammen eintreten und er werde keine Anschuldigungen gegen ihn richten. Wenn er aber in tyrannischer Weise weitergehe, dann würden alle bereit sein, ihn aus der Kirche auszustoßen 67. Die Wortwahl ‚in tyrannischer Weise‘ ( #« ) ist hier auffällig. Ein Tyrann/Usurpator setzt sich über die Gesetze hinweg und akzeptiert nicht die Spielregeln. Der Patriarch mahnte also das richtige Verhalten des Kaisers ein. Der Kaiser begann daraufhin Tränen zu vergießen und den heiligen Grund zu benetzen. Er sprach kein Wort und betrat das Metatorion, was ein Bereich an der rechten Seite der Hagia Sophia ist 68. In der Kirche erkundigte sich der Kaiser bei den Metropoliten, warum sich der Patriarch so verhalte ( dieses Fragen ist natürlich ein gezielt gesetzter Schritt, um seine Dialogbereitschaft zu zeigen ). Danach bat er unter Wehklagen, der Patriarch möge sich seiner erbarmen und ihn umarmen 69. Nachdem die Lesung aus dem Evangelium erfolgt war, jammerte der Kaiser abermals und vergoss wieder Tränen; dabei rührte er nicht nur die Angehörigen des Senats, sondern auch einige der Metropoliten zu Tränen 70. Nach der Messe kehrte der Kaiser in den Palast zurück, ohne ein Wort zu sagen, der Forderung des Patriarchen folgend 71. 3. Als das Fest der Epiphanie, am 6. Januar, nahte, entschuldigte sich der Patriarch aus Krankheitsgründen und begab sich nicht, wie es dem Brauch entsprochen
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4 « ¹»« 3 ' λ @ 1 1 ! « , " 4« « $ « 1 0, $, 1 1 µ ! . Vita Euthymii S. 75, 19–20: ² ξ "« ' « ! ) & « « # 3 . Vita Euthymii S. 75, 24–25: 0 ξ #« 9 «, a &« $ Ϊ « 1 1 $ & . Vita Euthymii S. 75, 25–28: ² ξ ! « 3%« λ µ Ϊ3 « ! « $ φ« λ ' `' %« Ω 4 « *# 3 « ! "« ' « µ« µ " ? 0. Zur Lage s. Skizze bei Dagron ( wie Anm. 15 ) S. 89. Anthony Cutler, Metatorion, in: Alexander Kazhdan ( Hg. ), The Oxford Dictionary of Byzantium, Oxford 1991, 2, S. 1353. Vita Euthymii S. 75, 28–30: % # " # « « ’ @ # Ϊ , 3 φ", ,'α µ« ?« ,« « * « $ 3' . Vita Euthymii S. 77, 3–7: 1 43 ", « @ 33 , 4 ² 2« 2 0&39 ` « 2 $! « ," λ 3% , ! ) & ? , @ « 3 ' « %"«, $ λ @ # " #. Vita Euthymii S. 77, 7–9: λ µ« « « $9 ' " %« µ ! * « ν ?, κ 1 1 « %« &, ! ".
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hätte, in den Kaiserpalast, um dort das Wasser zu weihen 72. Am nächsten Tag kam der Kaiser mit dem Senat zur Hagia Sophia, um – wie versprochen – wieder durch das kaiserliche Tor in das Gotteshaus kommen zu können 73. Doch trat ihm der Patriarch dort mit Entschuldigungen entgegen 74: Er könne ihn nicht ohne Zustimmung der Bischöfe und dem protothronos Arethas in die Kirche lassen. Nun sprach auch der Kaiser: Wolle er den Kaiser verspotten oder erwarte er den Usurpator Dukas aus Syrien? Der Patriarch gab ihm keine Antwort, er wusste nicht, was er tun solle, und blieb im Tor stehen 75. Leon suchte nun eine Lösung zu erzwingen und agierte einem Kaiser entsprechend ( ² ξ 2« % #« " ) 76: Er warf sich auf den Boden und weinte lange Zeit, stand wieder auf und sprach zum Patriarchen, er möge ungehindert durch ihn in die Kirche gehen, ihm selbst geschehe Recht aufgrund seiner großen Verfehlungen 77. Man muss sich hier die Dramatik der Szene vor Augen halten: Möglicherweise geschah das Ganze unter dem oberhalb des kaiserlichen Tores angebrachten Mosaik, auf dem sich der thronende Pantokrator mit einem sich vor ihn hinwerfenden Kaiser befindet 78. Die Forschung hier en detail zu referieren würde zu weit führen, es lassen sich dabei zwei Hauptrichtungen ausmachen: Zum einen wird versucht den Kaiser zu identifizieren und mit einem Einzelereignis in Verbindung zu bringen, zum anderen wird auf die Allgemeingültigkeit der Darstellung hingewiesen 79. a ) Zwei Kaiser kommen für die Identifizierung in Frage: Basileios I. oder Leon VI. Für Basileios könnte die historiographisch belegte Frömmigkeit und die auch auf anderen Medien ( wie Münzen ) zu findende Ikonographie sprechen, die Art und der Stil des Mosaiks deuten in das ausgehende 9. und beginnende 10. Jahrhundert. Die Forschung ist mittlerweile zu dem ( überwiegend ) akzeptierten Ergebnis gekommen, dass es sich dabei um ihn handelt 80. Für Leon VI. plädierte vor allem Nikolaos 72
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Vita Euthymii S. 77, 10–12: 5|H # φ? & 43 φ " a ', λ « « ³« µ« ', 9 $φ’ a « ² "« @ $9 ' 3'& « ] $ « % %«. Vita Euthymii S. 77, 12–15: 9 ! ξ ² 2« 4 λ « ¹»« 3 ' 9 ")
κ « 3 @ ) # 4 1 $&« ; " #. Vita Euthymii S. 77, 15–25. Vita Euthymii S. 77, 23–25: ² ξ ! « "Ω« $ " # # # Ν «, ' κ ) φκ « . Diese Aussage ist mit der obigen Wortwahl #« – als Gegensatzpaar – zu verbinden: Der Kaiser agiert seinem Stand entsprechend und nicht wie ein Tyrann. Vita Euthymii S. 77, 26–29: λ λ 2 ! « $ 4« ) # 9 " $φ"α „; ,, , κ ’1 µ %«. i4 34 µ ,« # # $ ' & φ & $*&« λ &« &“. Das wäre zeitlich denkbar, wenn das Mosaik schon im 9. Jahrhundert entstanden wäre ( s. folgende Anmerkung. ). Dagron ( wie Anm. 15 ) S. 114–124 ( The Repentant Emperor ). Andreas Schminck, „Rota tu volubilis“. Kaisermacht und Patriarchenmacht in Mosaiken, in: Ludwig Burgmann – Marie Theres Fögen – Andreas Schminck ( Hgg. ), Cupido legum, Frankfurt a.M. 1985, S. 211–234. Schminck bringt einen originellen Ansatz: Seine Prämisse ist, dass das Gesetz der Symmetrie in der Darstellung verletzt sei ( ein solches herrsche in der byzantinischen Kunst vor ): Auf der vom Pantokrator aus linken Seite müsse sich etwas befunden haben. Dieses Etwas könne nur der Patriarch Photios gewesen sein, der sich hier ein Denkmal setzte ( als die Überlegungen im Prooimion zu Epanagoge seien bildlich dargestellt worden ). Das Problem bei dieser Lösung ist, dass im Mosaik keine Ver-
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Oikonomides, der die postume Aussöhnung zwischen Leon VI. und der Kirche, manifest im tomus unionis aus dem Jahre 920, als ein mögliches Datum der Entstehung sieht 81. Durch diesen Ausgleich steht letztendlich Nikolaos Mystikos als Überlegener in dieser Auseinandersetzung da, den Erfolg kann auch der neue Kaiser Romanos I. Lakapenos für sich verbuchen 82. Wenn sich allerdings das Mosaik schon zum Zeitpunkt der Begegnung zwischen Leon und Nikolaos ( 906 ) dort befunden haben soll, dann wird jedenfalls die Macht des Patriarchen eindrucksvoll demonstriert, denn dieser steht quasi anstelle ( des sitzenden ) Christus. b ) Neben diesen konkreten Interpretationsansätzen gibt es auch allgemeinere Interpretationen, in denen nicht ein bestimmter Kaiser, sondern das Kaisertum insgesamt gesehen wird. Die geeignete biblische Figur dazu ist der König David, der auf vielen Ebenen vom byzantinischen Kaiser nachgeahmt wurde. Zahlreich sind auch die Darstellungen des Buße tuenden König David 83. Die Darstellung könnte dann als Höhepunkt der Handlung gewertet werden: Der Kaiser weint.
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änderungen oder Manipulationen ( wie bei den Kaisermosaiken in der Hagia Sophia ) nachgewiesen werden konnten ( Oikonomides [ wie Anm. 81 ] S. 154 Rn. 3: „but there is no evidence that this part of the mosaic has ever been modified“ ) und das Gesetz der Symmetrie etwa auch bei der Darstellung des Theodoros Metochites im konstantinopolitanischen Chorakloster „gestört“ ist. Weitere Gegenargumente bringt Peter Schreiner, Der Kaiser und die Proskynese: das Narthexmosaik in der H. Sofia und der Versuch einer paläographischen Datierung, in: Bollettino della Badia Greca di Grottaferrata, N.S. 54, 2000 ( = Ommagio Enrica Follieri ) S. 97–108, hauptsächlich durch die Beiziehung einer Abbildung eines Kaisers in einer Athener Handschrift ( Athen, Nationalbibliothek Griechenlands, cod. Athen. 211, f. 63 ), die verblüffende Ähnlichkeiten mit dem Mosaik aufweist ( die Argumente hier aufzuführen würde den Rahmen sprengen ); nicht zu übersehen sind auch die in der Palaiologenzeit sogar auf Münzen dargestellte Proskynese des Kaisers Andronikos II. ( dazu Schreiner, ebd.; Abbildung eines Goldhyperpyrons in Helen C. Evans [ Hg. ], Byzantium. Faith and Power [ 1261–1557 ], New Haven [ Conn. ] 2004, S. 37 f. Abb. 12B ); vgl. auch die klassische Studie von John Spatharakis, The Proskynesis in Byzantine Art. A Study in Connection with a Nomisma of Andronicus II Paleologue, in: Bulletin Antieke Beschaving, 49, 1974, S. 190–205. So argumentiert Nicolas Oikonomidès, Leo VI and the Narthex Mosaic of Saint Sophia, in: Dumbarton Oaks Papers 30, 1976, S. 151–172. Dagron ( wie Anm. 15 ) S. 116. Joachim Scharf, Der Kaiser in Proskynese. Bemerkungen zur Deutung des Kaisermosaiks im Narthex der Hagia Sophia von Konstantinopel, in: Festschrift Percy Ernst Schramm zu seinem siebzigsten Geburtstag von Schülern und Freunden zugeeignet, Wiesbaden 1984, I, S. 27–35. Laut Scharf stehe diese Darstellung am Anfang der kaiserlichen Selbsterniedrigung, allerdings muss in Betracht bleiben, dass schon Ambrosius von Mailand Theodosius zwang, öffentlich Reue zu zeigen für das Massaker von Thessalonike; das war auch in Byzanz bekannt, denn Theodoret bringt die Episode des verwehrten Kirchenzutrittes in seiner Kirchengeschichte (Leon Parmentier [ Hg. ], Theodoret Kirchengeschichte [ Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte N.F. 5 ] Berlin 31998, V 18 ) ( der Kaiser vergießt dabei hinreichend Tränen ). Dazu auch Rudolf Schieffer, Von Mailand nach Canossa. Ein Beitrag zur Geschichte der christlichen Herrscherbuße von Theodosius d. Gr. bis zu Heinrich IV., in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, 28, 1972, S. 333–370. – S. besonders Dagron ( wie Anm. 15 ) S. 116–120 ( mit zwei Abbildungen des knieenden David aus dem Pariser Psalter, Bibliothèque Nationale de France, cod. gr. 139, fol. 136v und aus der Sammlung von Homilien des Gregor von Nazianz, Paris, BNF, cod. gr. 510, f. 143v – die Darstellungen sind in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts zu datieren, die zweite hier angeführte lässt sich sogar auf den Zeitraum 879–883 fixieren ).
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4. Zurück zur Auseinandersetzung zwischen Nikolaos und Leon: Am Ende einer später stattfindenden Festtafel sprach der Kaiser in Gegenwart aller Metropoliten zum Patriarchen und fragte, warum er ihn nicht in die Kirche gelassen habe. Der Kaiser habe doch an die Patriarchen von Rom, Antiocheia, Alexandreia und Jerusalem geschrieben, um dort Dispens zu erbitten. Habe der Patriarch nicht alleine den Zutritt verweigert, obwohl er bei anwesendem Senat geäußert habe, der Heilige Athanasios würde ihn unterstützen? Er würde nicht auf Dispensbekundungen seitens Roms und der östlichen Patriarchen warten. Nach dieser Aussage schwiegen die Metropoliten und auch der Patriarch verlor kein Wort. Der Kaiser brach wieder in Tränen aus, um den Patriarchen zu fragen, ob er nicht diese Worte gesprochen habe. Nun musste der Patriarch in den Dialog mit Leon treten. Er habe zu jenem Zeitpunkt nicht das volle Ausmaß der Anschuldigungen gekannt. Der Kaiser erwiderte, dass der Patriarch seine Frau ( Zoe Karbonopsina ) gesegnet habe nach siebentägigen Gebeten. Nach der Geburt des Kindes sei die Taufe vollzogen worden und der Patriarch habe mir dem Kaiser erörtert, wie man die übrigen Metropoliten überzeugen könne. Daraufhin beschuldigte ihn der Patriarch, er wolle etwas gegen die Kirche unternehmen. Die Situation bleibt in einer Pattstellung, bis der Kaiser handelt, mit kaiserlicher Autorität durchgreift und den Patriarchen festnehmen 84 und in sein Kloster in Galakrenai – zu Fuß! – eskortieren lässt, wo er nach einigen Tagen auch seine Abdankung unterschreibt 85. 3.4. Tränen der Rührung und des Mitleids Mildtätigkeit gehört zu den primären Tugenden und zum Selbstbild eines byzantinischen Kaisers. Aufschlussreich ist das Geschichtswerk des Michael Psellos, welches einerseits eine wichtige Quelle zur Herrschergeschichte des 10. und 11. Jahrhunderts ist, anderseits aber eine sehr tendenziöse Quelle darstellt. Michael Psellos stellt sich gerne als der Hauptakteur im politischen Geschehen dar, als hoher Hofbeamter hatte er einfachen Zugang zum Machtzentrum, seine geschichtlichen Darstellungen müssen aber immer auch als Rechtfertigung gesehen werden 86. Michael Psellos stellt sich in seiner Historiographie gerne als Berater und geradezu Seelsorger unterschiedlicher Kaiser dar. Bei einer Angelegenheit mit inhaftierten Häretikern, wendet sich der Kaiser an Psellos:
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Vita Euthymii S. 87, 34–89: µ 3 " 4 « !"« « 4 1 3 B « * «, $ ) & « 9 @ 1 9 9 « R « $ " . Ioannis Scylitzae synopsis historiarum, rec. Ioannes Thurn ( Corpus Fontium Historiae Byzantinae 5 – Series Berolinensis ) Berlin – New York 1973, S. 185, 30–34: λ ξ κ κ $ *, $µ 1 3 B « ) & ) # « # 9 EI)
, $φ’ j« 9 κ ² ! Ν3 0« µ ’ @ 1 ,ξ ' # R "#. Dort blieb er dann etwa fünf Jahre. S. Charles E. Barber – David Jenkins ( Hgg. ), Reading Michael Psellos ( The Medieval Mediterranean 61 ) Leiden 2006, Efthymia Pietsch, Die Chronographia des Michael Psellos. Kaisergeschichte, Autobiographie und Apologie ( Serta Graeca 20 ) Wiesbaden 2005.
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‚Sogleich erinnerte er sich an sie und ihre Gefangenschaft, seine Augen füllten sich mit Tränen, doch andererseits kämpfte er mit sich, wie er mit der Sache am besten umgehen sollte. Nachdem er sich in diesem Gewissenskonflikt meines Ratschlags bedient hatte, entschied er sich für die Milde – eine andere Weise, Gott milde zustimmen.‘ 87
Ein halbes Jahrhundert später weinte Kaiser Alexios I., als die lateinischen Barone von Sultan al-Amir von Kairo freigelassen werden, Tränen des Mitleids. Die westlichen Adeligen waren bei der Schlacht um Ramla ( Palästina ) am 25. Mai 1102 gefangen genommen worden. Anna Komnene berichtet davon in ihrer Alexias: ‚Als der Basileus sie nach ihrer Ankunft empfing, war er freudig erstaunt und voller Verwunderung über die Entscheidung des Barbaren. Er erkundigte sich aber auch genau danach, wie es ihnen ergangen war, und als er hörte, dass sie, während sie so lange Zeit und so viele Monate hindurch eingekerkert waren, nicht ein einziges Mal die Sonne gesehen hatten und auch nicht von ihren Fesseln befreit worden waren, ja dass sie in all der Zeit ausharren mussten, ohne irgendeine andere Nahrung zu sich zu nehmen als nur Wasser und Brot, da erfasste ihn Mitleid, und er vergoss heiße Tränen. Und sogleich behandelte er sie mit großer Gastfreundlichkeit, schenkte ihnen dazu noch Geld und überreichte ihnen Gewänder aller Art, lud sie ein, Bäder aufzusuchen, und tat alles Erdenkliche, damit sie sich nach so schlimmer Qual erholen konnten. Sie freuten sich über die gute Behandlung, die ihnen von Seiten des Autokrators zuteil wurde, ihnen, die doch zuvor seine Feinde und Gegner im Krieg gewesen waren und die die ihm geleistete Eide gebrochen und ihre Versprechungen nicht eingehalten hatten, und sie sahen, wie groß seine Nachsicht gegen sie war.‘ 88
Die Aktion war für Alexios natürlich eine ideale Möglichkeit, propagandistisch gegen die schlechten Nachrichten, die der Sohn Robert Guiskards und Teilnehmer der Ersten Kreuzzugs Bohemund in Italien gegen die Byzantiner verbreitete, entgegenzuwirken. Die Barone waren in die Gefangenschaft des Sultans von Kairo al-Amir gelangt und Alexios konnte sie freikaufen. 3.5. Tränen der Verstellung Eine Gestalt, die in den dem Geschichtswerk des Niketas Choniates als ein Paradebeispiel für Verstellung, Täuschung und Intrige gilt, ist Andronikos Komnenos. Bereits eingangs wurde auf den bewussten Einsatz von Emotionen im byzantinischen Osten hingewiesen. Andronikos kam listenreich an die Macht und scheute keine Mit-
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Salvatore Impellizzeri ( Hg. ), Michele Psello Imperatori di Bisanzio ( cronografia ) ( Scrittori greci e latini ) Mailand 31997, 2 VI 168, 8–13 ( Konstantinos IX. Monomachos ): @ & "« λ 1 1, 4 ξ !& >, 4 3 !«, Ρ&« f Ν ) # 3 ' α ! ) & 31 λ ?« λ κ ! " 1 31, » ) # φ ,?) &, a ) & %) & µ , * !«. Pietsch ( wie Anm. 86 ) S. 86–87, die aber auf die Bedeutung der Tränen nicht eingeht. Annae Comnenae Alexias, XII 1, § 4 ( S. 360, 45–361, 55 ): ! « ² 2« % « , « )"3," ξ κ 1 3?" λ , ! , %&« ξ ! « λ # "% & @ « & ' « λ ,"Ω« Ρ&« λ 1 % λ ! & ! & %« $φ « @ξ Ϊ * k , @ξ # # !," , $ 4 λ φ# & Ν3 µ λ 1 ' % Ν λ ] « «, 0 « 1 ,« λ , µ * « « * φ φ!"« ' 2« λ Νφ
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tel, all seine Ziele umzusetzen 89. Andronikos war nicht nur erfindungsreich was seine Handlungen betraf, er setzte auch Emotionen gezielt ein. Niketas Choniates gibt in seiner Historiographie einige Einblicke zu diesem außergewöhnlichen Charakter. Choniates scheint – wie viele Zeitgenossen – fasziniert von dieser Persönlichkeit gewesen zu sein, und so lassen sich aus den Beschreibungen des Andronikos auch einige Angaben zum rituellen Ablauf von Zeremonien erkennen. Andronikos war lange Zeit auf der Flucht gewesen, es kommt aber schließlich zu einer Aussöhnung mit dem Kaiser 90: ‚Bald darauf sandte also Andronikos Gesandte an den Kaiser und bat um Verzeihung für sein ungehöriges Betragen und überdies um Zusicherung von Straflosigkeit. Da der Kaiser beides gewährte, kehrte Andronikos einige Zeit später zu ihm zurück. Aber einfallsreich, schlau und berechnend, wie er einmal war, umwand Andronikos den Nacken mit einer viele Pfund schweren, bis zu seinen Füßen reichenden eisernen Kette, hielt sie jedoch unter seinem Mantel verborgen, so dass der Kaiser und die Leute vom Hof sie nicht sehen konnten. Als er vom Kaiser empfangen wurde, warf er sich sogleich, sowie die Augen des Kaisers auf ihn fielen, der Länge nach zu Boden, zog die Kette hervor, benetzte seine Augen mit Tränen und flehte heiß und verzweifelt, der Kaiser möge ihm Verzeihung für alle Kränkungen zuteil werden lassen. Manuel wurde durch sein Benehmen überrascht und verwirrt, Tränen traten ihm in die Augen, und er befahl Andronikos aufzuheben. Der aber rief, er werde nicht eher aufstehen, bevor ihn nicht einer von den Anwesenden auf Befehl des Kaisers an der Kette fasse, durch die Schranken vor dem Thron schleife und auf die Stufen des Thrones werfe. Und es geschah auch, wie Andronikos es verlangte. Isaakios Angelos leistete ihm diesen Dienst, derselbe, der später des Andronikos Schreckensherrschaft beendete 91. ( … ) Andronikos wurde hierauf mit allem Glanz bei Hofe aufgenommen und aller Auszeichnungen und Gunstbezeigungen gewürdigt, die einem Manne seines Ranges nach langer Abwesenheit zustehen.‘ 92
Aus der zitierten Stelle wird der Prozess des Herantastens und Vorfühlens deutlich. Andronikos fühlte beim Kaiser vor, schickte Gesandte zu Vorverhandlungen aus. Nachdem das Procedere geklärt war, kommt Andronikos in die Stadt ( das ist bemerkenswert, dass Manuel den Usurpator in die Stadt kommen lässt ). Es kommt nun nicht zu einer Versöhnung – wie dies etwa zwischen dem Usurpator Bardas Skleros und Basileios II. im Jahre 989 außerhalb der Stadtmauern in einem kaiserlichen
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Gaul ( wie Anm. 24 ) – bei der ganzen Darstellung von Niketas Choniates ist homerische Motivik im Spiel. Jurewicz ( wie Anm. 24 ) S. 80. Im Jahre 1185 wurde Andronikos I. gelyncht, und Isaakios brachte mit den Angeloi eine neue Familie auf den Kaiserthron. Nicetae Choniatae historia S. 226,86–227,4: P ' « ’ φ #A%« λ « % « %« 4 ! ")
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Zelt passierte 93, sondern Andronikos überhöhte die Begegnung, indem er sie als <deditio> zu inszenieren versuchte 94. Die Schilderung bei Niketas erinnert stark an die <deditio> des Rainald von Châtillon, welcher in das Heerlager Kaiser Manuels in der Nähe von Mamistra bußfertig kam ( 1159 ). Johannes Kinnamos schildert die Ankunft Rainalds bei dem byzantinischen Kaiser: Er nimmt seine Kopfbedeckung ab, entblößt beide Arme bis zum Ellbogen, zieht so durch die Stadt ( Mamistra ) begleitet von Mönchen zum Kaiser. Um seinen Hals hat er ein Seil ( das er in der Hand hält ), in der anderen ein Schwert 95. Andronikos mag davon Kenntnis gehabt haben 96, jedenfalls versteht Kaiser Manuel die Handlung. Manuel geriet aus der Fassung, das deutet Niketas an, da er eine byzantinische Form der Versöhnung erwartete ( also eine Proskynese, möglicherweise einen Fußkuss ) und nicht die westliche Form der <deditio>. Andronikos bekam danach eine Statthalterschaft im Pontosgebiet auf byzantinischem Boden übertragen. Er residierte in Oinaion, von wo aus er sich nach dem Tode Manuels in Richtung Hauptstadt aufmachte. Nach dem Tod Kaiser Manuels unternahm es Andronikos, sich sukzessive der Kaisermacht anzunähern. Er ging dabei subtil vor und usurpierte nicht handstreichartig. Der sich ständig verstellende Kaiser in spe kam, nachdem er sein Lager an dem Konstantinopel gegenüberliegenden Ufer verlassen hatte 97, in die Stadt und in den Palast, wo er dem minderjährigen Kaiser Alexios seine Referenz erwies und sich zunächst als sein Beschützer aufspielte. ‚Er fiel vor dem Kaiser auf die Knie, erwies ihm eine tiefe Ehrenbezeigung und umarmte seine Füße,
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Michael Grünbart, Basileios II. und Bardas Skleros versöhnen sich, in: Millennium. Jahrbuch zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 5, 2008, S. 213–224. Gerd Althoff, Das Privileg der . Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: Otto Gerhard Oexle – Werner Paravicini ( Hgg. ), Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 133 ) Göttingen 1997 S. 27–52; ND in: Gerd Althoff ( Hg. ), Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 99–125. Ioannis Cinnami Epitome Rerum ab Ioanne et Alexio Comnenis gestarum, ed. August Meineke ( Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae ) Bonn 1836, S. 182: $φ ξ κ ! « φ «, 3? « ξ Ω Ν λ « $3# « @ !«, $% « ! # # « 4 "« « % &« %« λ 3 . * ξ @ ) # 1 ξ ' ?, λ ξ 9 a )
*φ« φ . Öfters unterwarfen sich westliche Militärs und Machthaber diesem Ritual: Manuel I. erobert 1151 die Festung von Semlin, die ungarische Truppen unterwerfen sich und tragen Stricke um den Hals, ebd., S. 115. Auch der serbische Groߡzupan Stefan Nemanja begab sich im Jahre 1172 in das Lager des Manuel, um sich dort dem Kaiser mit nackten Armen, Büßergewand und einem Strick um den Hals zu unterwerfen, ebd., S. 287: j &« ! «, λ 09 ' 4 µ , $ φ'« φ κ λ « 0« $3# 3!«, $% « ξ % «, « ¹ 1 ' * , λ *φ« , Ρ" ! , a µ %«. Man beachte die ähnliche Wortwahl wie bei der Handlung Rainalds. – Alexandru Anca wird demnächst diese Begegnungen in einer Monographie „Herrschaftliche Repräsentation und kaiserliches Selbstverständnis. Berührung der westlichen mit der byzantinischen Welt in der Zeit der ersten Kreuzzüge“ detailliert behandeln; vgl. auch Martin Vuceti ˇ c, ´ Begegnungen der byzantinischen Kaiser mit auswärtigen Herrschern im Zeitraum von 610 bis 1204 ( Magisterarbeit ), Mainz 2009. Dort hatten ihm die Würdenträger der Stadt und auch der Patriarch Theodosios Boradiotes ( 1179–1183 ) die Aufwartung gemacht und ihn gebeten, in die Hauptstadt zu kommen. Die Begegnung zwischen dem Patriarchen und dem Unterwürfigkeitsgestus des Andronikos wird im Rahmen einer eigenen Abhandlung untersucht werden.
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wobei er in gewohnter Weise sich die Brust schlug und Tränen vergoss.‘ 98 Nur kurze Zeit duldete er den legitimen Nachfolger, beseitigte ihn dann aber, um ab 1183 selbst Kaiser von Byzanz zu sein 99. 4. SCHLUSSBEMERKUNGEN
Folgt man den byzantinischen Quellen, dann scheint es den Zeitgenossen bewusst gewesen zu sein, dass emotionale Äußerungen steuerbar waren und diese auch der Situation angepasst eingesetzt werden konnten. Das Gegenüber konnte zu einer unerwarteten, im Kontext aber logischen Gegenreaktion gebracht werden ( Kaiser Manuel – Andronikos ). Ausweglose Situationen konnten durch den Einsatz von Tränen – verbunden mit einer Proskynese – entspannt und bestenfalls sogar bereinigt werden. Die angeführten Passagen machen eines deutlich: Das Vergießen von Tränen zählte auch in Byzanz zum herrscherlichen Repertoire. Dabei ist die Beziehung zu den großen biblischen Königen unverkennbar: David als reuiger und demütiger Herrscher hat das Kaiserbild auch in diesem Bereich stark geprägt. Diese Bedeutung dürfte auch in dem Mosaik oberhalb des kaiserlichen Tores der Hagia Sophia mitschwingen – unabhängig davon, ob Basileios I. oder Leon VI. dargestellt ist. Bestimmte Situationen verlangten den Einsatz von Tränen, um einen besonderen Nachdruck oder einen für den Herrscher positiven Eindruck zu erwecken. Dabei ist egal, wie der Protagonist realiter dazu steht. Es fällt auf, dass in den meisten Fällen die Anwesenheit von Publikum wesentlich war. Dieser Aspekt konnte hier nicht in extenso ausgeführt werden 100; besonders wurde das bei der Auseinandersetzung zwischen dem Kaiser Leon und dem Patriarchen Nikolaos Mystikos sichtbar: Beide hatten ihre Parteien mitgebracht ( Senat und Metropoliten ), welche auf die vom Kaiser eingesetzten Emotionen auch reagierten und Stimmung erzeugen konnten. Die byzantinische Gesellschaft und insbesondere das Kaisertum folgten auch Spielregeln der Politik und Inszenierung. Diese sind kaum in den Zeremonienbüchern aufgezeichnet worden, sondern können vornehmlich aus historiographischen Quellen gefiltert werden.
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Nicetae Choniatae historia S. 225, 27–32: 1 ’ #A * λ « " µ« l"« *% & ξ # & 4 κ #A ! ", 0« ξ 4« ) # m ) & 4« "" & 0«, θ 1 M 33" 3 , % #A%« λ ) # ξ ,
$ !" λ 2« % « ! , ³« 0?, « λ « … S. Ewald Kislinger, Zur Chronologie der byzantinischen Thronwechsel 1180–1185, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik, 47, 1997, S. 195–198. Hingewiesen werden soll en passant auf den Kaiser am Totenbett, an dem sich hohe Würdenträger versammeln und den dahinscheidenden Souverän beklagen. Oft spricht der Kaiser auch letzte Worte. – Auch die Rolle des Senats in Byzanz müsste unter diesem Gesichtspunkt untersucht werden.
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Continuity of written administration in the Late Carolingian East c. 887–911 The Royal Fisc 1 Introduction, p. 109. – Written Administration in Francia occidentalis and Francia media, p. 109. – Written Administration in the Late Carolingian East, p. 112. – The Fisc in the German Historiographical Tradition, p. 113. – Capitulary de villis and the Scale of Written Administration, p. 117. – Royal Beneficia, p. 124. – Arnulf, Zwentibold, and Louis the Child. Sources of Information, p. 130. – Records of the Royal Fisc, p. 133. – Archiving Fiscal Records, p. 138. – The Confiscation of Beneficia, p. 141. – Regranting Beneficia, p. 143. – Maintaining Government Records, p. 144. – Conclusion, p. 145.
INTRODUCTION
This study is a self-consciously revisionist work. It is our contention that the model of late-ninth century Francia orientalis as being organized as a „Königsherrschaft ohne Verwaltung“ is fundamentally incorrect. We argue, instead, that a sophisticated and highly articulated system of written administration functioned not only in the West during the reigns of Charlemagne, Louis the Pious, as well as Charles the Bald and his successors, but also under the Carolingian kings in the East, including the last three rulers in this dynasty, Arnulf the Bastard ( 887–899 ), Zwentibold ( 895–900 ), and Louis the Child ( 899–911 ). In sum, we argue against the model of a German <Sonderweg> in administrative matters. WRITTEN ADMINISTRATION IN FRANCIA OCCIDENTALIS AND FRANCIA MEDIA
It is no longer a matter of scholarly controversy that the Carolingian royal government under Charlemagne ( 768–814 ) and Louis the Pious ( 814–840 ) operated on the basis of large quantities of written documents produced both at the center and in the localities as an empire-wide phenomenon. Rather, it has been well established that there was fundamental institutional continuity in the regnum Francorum from later Roman administrative practices through the Merovingian era into the late-ninth century 2. The path-breaking work of Rosamond McKitterick added to this story of con1 2
We dedicate this study to our friend Martin Heinzelmann. There is general agreement regarding the matter of administrative continuity in Gaul from the later Roman empire into the early Middle Ages. The main question that remains is how much continuity and how long did it last. For the maximalist view, see Jean Durliat, Les finances publiques de Diocletien aux Carolingiens ( 284–889 ) Sigmaringen 1990. The basic work on Charlemagne’s administration now is Karl Ferdinand Werner, Missus – Marchio – Comes. Entre l’administration centrale et l’administration locale de l’Empire carolingien, in: Werner Paravicini and Karl Ferdinand Werner ( eds. ), Histoire comparée de l’administration ( IVe–XXVIIe siècles ) Actes du XIVe colloque historique franco-alle-
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Bernard S. Bachrach – David S. Bachrach
tinuity by demonstrating beyond any doubt that written documents continued to serve administrative, legal, and economic needs throughout the Carolingian empire 3. The publication of Carolingians and the Written Word led to an explosion of further research into the use of writing for governmental, ecclesiastical, and private secular use. Among the most important studies in the newly developing field, was and remains Janet Nelson’s thorough-going rebuttal of the pessimism found in F. L. Ganshof ’s classic study of the written word in Carolingian government 4. Nelson addressed one of the lacunae in McKitterick’s initial study, making the case that written documents played a decisive role in both local administration, and in the connection between localities and center, even down to the level of the centenarii in the administration of the centenae 5. More recent scholarship has developed further aspects of the use of writing for governmental purposes under Charlemagne and his successors. Mark Mersiowsky’s study of letter writing culture under Charlemagne and Louis the Pious makes clear not only that the central government issued written orders to secular and ecclesiastical officials, but that these officials also used written documents to communicate among themselves, horizontally, regarding all manner of business 6. Focusing on yet another aspect of royal administration, Philippe Depreux has demonstrated that exchanges of properties by churches under royal protection also were governed by the need to obtain a written royal license and the need to provide written copies of exchange agreements to the royal government as well as to those who were parties to the transaction,
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mand, Tours, 27 mars – 1er avril 1977 ( Beihefte der Francia 9 ) Munich 1980, pp. 191–239; and reprinted in Karl Ferdinand Werner, Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs, Sigmaringen 1984, 108–156. The study by François Louis Ganshof, Charlemagne et les institutions de la monarchie franque, in: Karl der Grosse: Lebenswerk und Nachleben, eds. Wolfgang Braunfels et al., 5 vols., Düsseldorf 1965, I, pp. 349–393, remains important. See this article in a revised version, Charlemagne and the Institutions of the Frankish Monarchy, in: François Louis Ganshof, Frankish Institutions under Charlemagne, trans. by Bryce and Mary Lyon, Providence ( Rhode Island ) 1968, 3–55, 101–151. However, while Ganshof clearly and accurately identifies the administrative structures, he seriously underestimates the order of magnitude of the bureaucracy and especially the role played by written documents in government in order to maintain these structures. With regard to practical literacy, this latter point is effectively corrected by Rosamond McKitterick, The Carolingians and the Written Word, Cambridge 1989; and especially, Janet L. Nelson, Literacy in Carolingian Government, in: Rosamond McKitterick ( ed. ), The Uses of Literacy in Early Medieval Europe, Cambridge 1990, pp. 258–296. One index of the success of McKitterick’s ideas in changing the scholarly discourse regarding the use of writing during the early Middle Ages can be seen in the responses of scholars who once had held an essentially pessimistic view regarding the use of written documents for administrative purposes. See, for example, the dramatically altered treatment of this topic between the first and second editions of Michael T. Clanchy, From Memory to Written Record, England 1066–1307, Cambridge ( USA ) 1979, and Oxford 1993. In the first edition, Clanchy held the long established view that writing was of little significance on either the continent or in England. By contrast, in the second edition Clanchy adopts wholesale the views set out by McKitterick in: Carolingians and the Written Word. Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) p. 258–296. Ibid. p. 285, and passim. Mark Mersiowsky, Regierungspraxis und Schriftlichkeit im Karolingerreich: Das Fallbeispiel der Mandate und Briefe, in: Rudolf Schieffer ( ed. ), Schriftkultur und Reichsverwaltung unter den Karolinger, Opladen 1996, pp. 109–166.
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itself 7. In an exceptionally important work that has just appeared, Walter Goffart concludes that Charlemagne and his successors maintained detailed records of the mansus holdings, not only of the church but also of laymen down to the level of the pauperes, for the purpose of both military recruitment and taxation. He adds that this system shows a fundamental continuity with the Late Roman Empire 8. Of singular importance in the present context, however, is the enormous scholarly investigation of the effectiveness of Carolingian capitulary legislation in stimulating the production of written documents for use at the local level, for transmitting information from to the center to the localities, and from the localities to the center 9. In assessing the overall thrust of this research, with specific reference to the use of written documents by Charlemagne’s government, Matthew Innis concluded that the central government not only maintained regular contact between the localities and the center, but did so through the medium of written texts 10. Following the divisio regnum, finalized by the Treaty of Verdun in 843, it has been shown that in Francia occidentalis and Francia media, Carolingian written administration continued to employed in a powerful manner by Charles the Bald and his successors in the West, and by Lothar and his successors until the dissolution of the middle kingdom in 869, and its absorption into the kingdoms of Charles the Bald and Louis the German 11. Moreover, sophisticated administrative structures were maintained by principes 7
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Philippe Depreux, The Development of Charters Confirming Exchange by the Royal Administration ( Eighth-Tenth Centuries ), in: Karl Heidecker ( ed. ), Charters and the Use of the Written Word in Medieval Society, Turnhout 2000, pp. 43–62. Walter Goffart, Frankish Military Duty and the Fate of Roman Taxation, in: Early Medieval Europe 16, 2008, pp. 166–190. Hubert Mordek, Recently discovered capitulary texts belonging to the legislation of Louis the Pious, in: Peter Godman and Roger Collins ( eds. ), Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious ( 814–840 ), Oxford 1990, pp. 437–453; Idem, Zur Bedeutung des Frankfurter Kapitulars, in: 794 – Karl der Große in Frankfurt am Main: Ein König bei der Arbeit, Sigmaringen, 1994, pp. 46–50; Idem, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta: Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse, Munich 1995; Idem, Kapitularien und Schriftlichkeit, in: Rudolf Schieffer ( ed. ), Schriftkultur und Reichsverwaltung under den Karolingern, Opladen 1996, pp. 34–66; Gerhard Schmitz, The Capitulary Legislation of Louis the Pious, in: Charlemagne’s Heir ( cf. note 8 ) pp. 425–453; Rosamond McKitterick, Zur Herstellung von Kapitularien: Die Arbeit des Leges Skriptoriums, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichte 101, 1993, pp. 3–16; and Janet L. Nelson, The Intellectual in Politics: Context, Content and Authorship in the Capitulary of Coulaines, November 843, in: Idem, The Frankish World, 750–900, London 1996, pp. 155–168. Matthew Innis, Charlemagne’s Government, in: Joanna Story ( ed. ), Charlemagne: Empire and Society, Manchester 2005, pp. 71–89, here pp. 78–80. A somewhat different approach is taken by Simon MacLean, Kingship and Politics in the Late Ninth Century: Charles the Fat and the End of the Carolingian Empire, Cambridge 2003, who argues that the capitularies overstate the centralized nature of the Carolingian government under Charlemagne, Louis the Pious, and their western successors. It should be emphasized, however, that MacLean does not investigate the kinds of questions taken up here, and does not discuss the ways in which the royal government was able to manage and make use of fiscal resources. For a comparative discussion of MacLean’s approach and that of Eric J. Goldberg, Struggle for Empire: Kingship and Conflict under Louis the German, 817–876, Ithaca 2006, see David A. Warner, Review Article: Louis the German / Ludwig der Deutsche: New Thoughts on an Old King, in: Early Medieval Europe 16, 2008, pp. 215–231. Janet L. Nelson, Charles the Bald, London 1992. In the Middle Kingdom during the early tenth century, for example, see Karl Heidecker, Communications by Written Texts in Court Cases: Some
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of Carolingian successor states, including Rudolf I of Burgundy ( 888–912 ), Fulk Nerra ( 987–1040 ) of Anjou and William II of Normandy ( 1035–1087 ), respectively 12. Not only has the case for very substantial and systematic written administration been made for the western and middle kingdoms well into the tenth century and beyond, but now we know that this was also true for the eastern kingdom through the reign of Louis the German ( 840–876 ). One of the great strengths of Eric Goldberg’s magisterial biography of Louis the German is his demonstration that the eastern kingdom, thought of as by some scholars, maintained Carolingian administrative institutions, including the wide-spread use of written documents 13. These written administrative efforts included letters, military service orders, writs to counts, reports from generals on campaign, records of judicial proceedings, lists of neighboring Slavic peoples, succession plans for his sons, and inventories of royal resources 14. WRITTEN ADMINISTRATION IN THE LATE CAROLINGIAN EAST
By contrast with the demonstrated use of written documents for administrative purposes throughout the pre-crusade period in Francia occidentalis and Francia media, and in Francia orientalis up through the late reign of Louis the German, the late ninth century has been characterized by scholars as largely schriftlos in administrative terms. Indeed, the historiographical tradition to a great extent denies even the existence of administration ( Verwaltung ) at either the central or the local level. In a study focusing on the tenth and eleventh centuries, John Bernhardt argues that the kings in this period made little use of the written word, largely as a result of the fact that the government in, „the east Frankish kingdom of the Carolingians already used the written word in government less than did its west Frankish or Italian contemporaries.“ 15 Bernhardt based this assertion on the claim by Timothy Reuter that royal administration east of the Rhine was less sophisticated and less dependent on the written word, than contemporary royal governments in Francia Occidentalis and in Italy 16. In his recent biography
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Charter Evidence ( ca. 800 – ca. 1100 ), in: Marco Mostert ( ed. ), New Approaches to Medieval Communications, Turnhout 1999, pp. 101–126, here pp. 103–104, for his discussion of the government of King Rudolf I of Burgundy ( 888–912 ), and its regular use of Carolingian-style written administration. For the older literature on the topic of the continuation of Carolingian-style written inquisitio proceedings, see Raoul C. Van Caenegem, La preuve dans le droit du moyen-age occidental. Rapport de synthèse, in: Recueils de la Societe Jean Bodin, 17, La Preuve, II, Moyen Age et temps modernes, Brussels 1965, pp. 691–753. This pattern is very similar to that identified by Janet L. Nelson, Dispute Settlement in Carolingian West Francia, in: Wendy Davies and Paul Fouracre ( eds. ), The Settlement of Disputes in Early Medieval Europe, Cambridge 1986, pp. 45–64; reprinted in Janet L. Nelson, The Frankish World ( cf. note 8 ) pp. 51–74. With regard to the sophisticated administrative structures in place in Burgundy, Anjou, and Normandy during the course of the tenth and eleventh centuries, see Heidecker, Communications ( cf. note 10 ) pp. 103 s. Bernard S. Bachrach, Fulk Nerra, The Neo-Roman Consul, 987–1040: A Political Biography of the Angevin Count, Berkeley 1993; and David Bates, Normandy Before 1066, London 1982. Goldberg, Struggle ( cf. note 9 ) pp. 18, 135, 137, 144, 164, 166, 203, 211–12, 214, 229, 297, and passim. For this list, see ibid., p. 211 s. John W. Bernhardt, Itinerant Kingship and Royal Monasteries in Early Medieval Germany c. 936–1075, Cambridge 1993, p. 5. Timothy Reuter, Germany in the Early Middle Ages 800–1056, London 1991, p. 89.
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of Charles III ( deposed 887 ), Simon MacLean took up this theme, arguing that the East was less reliant on the written word than the West, emphasizing that „the abiding impression is that things were done differently east of the Rhine, where the conduct of politics was less reliant on the written word … “ 17. This is also the view of HansWerner Goetz who impressionistically argues: „The use of writing in imperial administration, which recently has received more attention, surely affected the West more than the East.“ 18 In our view, the model of a polity in Francia orientalis lacking in a substantial written administration of the same type that was present in the West is fundamentally at odds with the reality of the Carolingian East. There was a vast spectrum of areas in which the late Carolingian rulers of Francia orientalis used written documents in a manner comparable to their western contemporaries. In military affairs, this included the mobilization of armies, the listing of allodial land holders required to perform military service, the listing of properties held by ecclesiastical institutions that were subject to service requirements pro verbo regis, the mobilization of war carts ( basternae ) and supplies for the army, and the regular checking on military supplies stored both in royal villae and on ecclesiastical estates. In fiscal matters, this included the production of documents recording the collection and distribution of tolls and taxes, documents stating the newly acquired status of freedmen and women, and documents denoting the transfer of royal properties whether in exchange or as allodial grants, and grants of beneficia. In judicial and administrative affairs, this included documents recording appointment to offices, the setting down in writing of trial transcripts, the setting down in writing of word maps denoting political and administrative boundaries, and royal licenses for the transfer of ecclesiastical properties. In light of this enormous range of documents and administrative systems, it is necessary that we focus in this paper on only a single institutional structure, namely the royal fisc. THE FISC IN THE GERMAN HISTORIOGRAPHICAL TRADITION
One of the striking features of scholarship dealing with the late Carolingian East is the strict separation of political history, with its focus on the interactions among magnates, from a history of how fiscal resources functioned to permit landholders to sustain their plans and policies. This failure of integration is even more surprising in view of the enormous scholarship regarding the late Carolingian fisc in the regna of Francia orientalis and Francia media which draws the conclusion that written documents remained fundamental to the administration of royal assets throughout the ninth and into the tenth century 19. The second crucial point to be drawn from these studies is 17 18
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MacLean, Kingship ( cf. note 9 ) p. 20. Hans-Werner Goetz, Staatlichkeit, Herrschaftsordnung und Lehnswesen im Ostfränkischen Reich als Forschungsprobleme, in: Il Feudalesimo nell’alto Medioevo ( Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 47 ) Spoleto, 2000, pp. 85–147, here p. 123, „Der zuletzt wieder mehrfach betonte Einsatz der Schriftlichkeit in der Reichsverwaltung betraf sicherlich mehr den Westen als den Osten des Reichs …“ The basic work on overall structure and organization of the Carolingian fisc remains Wolfgang Metz, Das karolingische Reichsgut, Berlin 1960. There are a very large number of studies dedicated to individual units of the Carolingian fisc as well as to the uses and exploitation of fiscal properties. Regarding
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that the late Carolingians maintained possession and/or control over the bulk of their fiscal properties both in Francia orientalis and in Francia media up through the death of Louis the Child in 911 20. But perhaps the strict separation of political and fiscal history is not so surprising in light of the institutional divisions between the historiographical traditions treating the monarchy and those focused on , and even greater separation between royal and local history 21. The vast scholarly production in the area of economic history at the local level, of which studies of the fisc are but one component, would require that those writing the political narrative of the king and court assimilate a tremendous corpus of scholarship for scores of regions and localities. As even a cursory reading of scholarship concerning early medieval royal and political history makes clear, this process of assimilation is very rare. From the administrative perspective, the consensus among specialists in the study of the royal fisc, is that the models of estate management employed by Charlemagne, Louis the Pious, and their successors in the West, were also employed by the eastern Carolingians until the end of the dynasty in 911. Of central importance in this context is the organizational model set out capitulary de villis. In 1960, Wolfgang Metz synthesized a decade of research in his enormously influential Das Karolingische Reichsgut 22. He demonstrated conclusively, contra Alfons Dopsch, that the capitulary de villis was meant for the empire as a whole rather than for Aquitaine. He also demonstrated beyond any reasonable doubt that this capitulary provided information about the basis on which royal fiscal properties were organized and managed 23.
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the Carolingian East, see, for example, Karl Glöckner, Das Reichsgut im Rhein-Maingebiet, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde NF 18, 1934 pp. 195–216; Franz-Josef Heyen, Reichsgut im Rheinland. Die Geschichte des königlichen Fiskus Boppard, Bonn 1956; Karlheinz Mascher, Reichsgut und Komitat am Südharz im Hochmittelalter, Cologne 1957; Rudolf Kraft, Das Reichsgut von Oppenheim, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 11, 1964, pp. 20–41; Marianne Schalles-Fischer, Pfalz und Fiskus Frankfurt: Eine Untersuchung zur Verfassungsgeschichte des fränkischen-deutschen Königtums, Göttingen 1969; Michael Gockel, Karolingische Königshöfe am Mittelrhein, Göttingen 1970, Idem, Die Bedeutung Treburs als Pfalzort, in: Deutsche Königspfalzen: Beiträge zur ihrer historischen und archäologischen Erforschung, 3, Göttingen 1979, pp. 86–110; Peter Schmid, Regensburg: Stadt der Könige und Herzöge im Mittelalter, Kallmünz, 1977; and the collection of studies in: Adriaan Verhulst ( ed. ), Le Grand domaine aux époques mérovingienne et carolingienne. Die Grundherrschaft im frühen Mittelalter. Abhandlungen des internationalen Kolloquiums, Gent, 8.–10. September 1983. ( Belgisch Centrum voor Landelijke Geschiedenis 81 ) Ghent 1985. Concerning the maintenance of royal control over fiscal properties see, for example, Glöckner, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 195–216; Heyen, Boppard ( cf. note 18 ) p. 25; Mascher, Reichsgut und Komitat ( cf. note 18 ) p. 1; Gockel, Königshöfe ( cf. note 18 ) p. 313; and Schmid, Regensburg ( cf. note 18 ) pp. 93–117. In his pioneering work on the royal fisc at the local level, Heyen, Boppard ( cf. note 18 ) p. 24, pointed out that Reichsgutforschung lies at the nexus of Reichsgeschichte, Landesgeschichte, and Lokalgeschichte. However, he did so in an effort to justify his research to an audience that then, as now, was far more focused on the political activities of the king and magnates, than upon the resources that were required for the implementation of their plans and policies. Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ). Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 18–72, 220–227, and passim. In many respects, Metz’s studies were developed on the basis of the insights of Klaus Verhein, Studien zu Quellen zum Reichsgut der
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As Metz made clear, the orders set out in the capitularies resulted in the making of numerous inventories, and some fragmenta of these severely time-conditioned documents have survived fortuitously 24. The survival of these fragmenta is exceptionally important in the face of criticism by some scholars, often characterized in Anglo-phone scholarship as „primitivists,“ that Carolingian capitularies represented „wishful thinking“ rather than administrative plans that were put into action 25. Clever scholars, such as Karl Brunner, know that various acta were enforced, and these scholars, therefore, are very nuanced less they be accused of being doctrinaire „primitivists“ when discounting the enforcement of prescriptive sources. Thus, Brunner observes: „With official regulations such as the famous of Charlemagne the problem is to what extent these were descriptions of the ideal state, never, or at least never fully, implemented in reality.“ 26 Of course, one might ask in regard to any government at any time whether it was or is able to implement „fully“ any regulation „in reality“? Less judicious scholars are wont to make absurd assertions such as „a central bureaucracy did not exist in the early medieval period.“ 27 The general thrust of Metz’s argument, noted above, received immediate acceptance from scholars who focused on the royal fisc. Carlrichard Brühl, in his magnum opus, Fodrum, Gistum et Servitium, emphasized that the system of organization set out in the capitulary de villis applied not only in the West, but also in the eastern regions of the Regnum Francorum 28. Studies in Landeskunde also have validated Metz’s conclusions with regard to fiscal resources in several of the regions of Francia orientalis and Francia media. In investigating Carolingian fiscal resources in the Rhineland, for example, Michael Gockel emphasizes: „Die gewonnenen Ergebnisse müssen in jedem Fall anhand der einschlägigen Kapitularien, vor allem des überprüft werden, wobei jedoch weitgehend programmatischer Charakter nicht außer acht gelassen werden darf.“ 29 Gockel concludes that „die Inventarisierung und Beschreibung des Königsgutes für die königliche Zentralverwaltung nach einheitlichem Programm vorgenommen wurde.“ 30 Marianne Schalles-Fischer makes clear in her investigation of the Carolingian fisc in the Frankfurt region the descriptive value of capitulary de villis for
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Karolingerzeit, Teil 1, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 10, 1954, pp. 313–394; and Teil 2, ibid. 11, 1955, pp. 333–392. Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 18–72, who followed here, Verhein, Studien ( cf. note 22 ) part 1 and part 2. For a detailed discussion of the primitivist position with regard to institutional matters in the Carolingian world, see Bernard S. Bachrach, Early Carolingian Warfare: Prelude to Empire, Philadelphia 2001; and Idem, Magyar-Ottonian Warfare: à-propos a new minimalist interpretation, in: Francia 13.1, 2000, pp. 211–230. Karl Brunner, Continuity and Discontinuity of Roman Agricultural Knowledge in the Early Middle Ages, in: Del Sweeney ( ed. ), Agriculture in the Middle Ages: Technology, Practice, and Representation, Philadelphia 1995, pp. 21–40, here p. 23. For this quotation, see Hans J. Hummer, Politics and Power in Early Medieval Europe: Alsace and the Frankish Realm 600–1000, Cambridge 2005, p. 8. Carlrichard Brühl, Fodrum, Gistum, Servitium Regis: Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums in Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, 1, Cologne – Graz 1968, here p. 68. Gockel, Königshöfe ( cf. note 18 ) p. 27. In this context, Gockel cites Metz as the dominant authority on the importance of the capitulary de villis and its use in interpreting surviving Urbaren. Gockel, Königshöfe ( cf. note 18 ) p. 31.
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the management of royal resources 31. In his thorough-going investigation of the Carolingian and Ottonian fiscal resources in Regensburg and the wider Bavarian regnum, Schmid also followed Metz in identifying the capitulary de villis as being the basic model for the administration of royal fiscal properties that are held in dominium 32. Moreover, even before the appearance of „Das karolingische Reichsgut“ Franz-Josef Heyen wrote with regard to Boppard that the administration of this fiscal district was in accord with the models set out by the Capitulary de villis and the Brevium exempla 33. In this context, Heyen refers specifically to clear evidence of royal participation in asserting activities in the Boppard fisc 34. Much of the scholarship on the royal fisc, however, pre-dated McKitterick’s pathbreaking work on the practical use of written documents, and the explosion of research that followed in its wake. As a consequence, largely missing from of these discussions of the administration of the fisc was the role played by written documents, at the local level, in the court, and in communications between the two. Gockel did point in this direction, arguing that fiscal resources in the eastern regna were ‚inventoried‘ and ‚described‘ on behalf of the central administration, and leaves no doubt that these inventories and descriptions were, in fact, written documents 35. However, neither he nor any other scholars studying the fisc in the 1950s–1970s provide a detailed analysis of the <paper-work> that this would entail. Rather, these fiscal studies were developed against a historiographical background in which writing of all types was understood to have played only a very limited role in the activities of the government in eastern Francia 36. Calling attention to the
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Schalles-Fischer, Pfalz ( cf. note 18 ) p. 326. Schmid, Regensburg ( cf. note 18 ) p. 230, who cites Wolfgang Metz, Zur Erforschung des karolingischen Reichsgutes, Darmstadt 1971, p. 8 ss. for the central importance of capitulary de villis. Heyen, Boppard ( cf. note 18 ) p. 65. Ibid. Gockel, Königshöfe ( cf. note 18 ) p. 31. For a devastating critique of this out-dated model regarding the lack of lay literacy in the early middle ages, which focuses on the regular keeping of archives by laypeople, see Warren Brown, When Documents are Destroyed or Lost: Lay People and Archives in the Early Middle Ages, in: Early Medieval Europe 11, 2002, pp. 337–366, here p. 337 s. By contrast, in a series of studies Michael Richter worked diligently to diminish the importance of both Latin and literacy in the reign of Charlemagne and the Carolingian realm as a whole in order to press for an . Nevertheless, Richter does partially exempt from his elements of the secular aristocracy of the court and the church, at least at its upper levels. See Michael Richter, The formation of the medieval west. Studies in the oral culture of the barbarians, Dublin 1994; Idem, The Oral Tradition in the Early Middle Ages, Turnhout 1994; and Richter’s essays collected in Idem, Studies in Medieval Language and Culture, Dublin 1995; special attention in this collection should be given to: Die Sprachenpolitik Karls des Grossen ( ibid., pp. 86–108 ). Richter’s focus is, by and large, on oral performance in entertainment, e.g. <jongleurs>. In this context, he gives attention to Einhard’s famous observation ( Einhardi Vita Karoli Magni, ed. Oswald Holder-Egger [ MGH SS rer. Ger. 25 ] Hanovre 1911, ch. 29 ) that Charlemagne ordered that the barbara et antiquissima carmina be written down. This is not the place to contest the traditional Germanist view that barbara means German language carmina and not simply low culture as contrasted to the ancient histories Einhard mentioned earlier ( ch. 23 ). However, the more important point, in light of Richter’s thesis, is that Charlemagne wanted written copies of these carminia barbara. This desideratum constitutes fundamental evidence that having written copies was what was of importance to him and to
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pessimistic views of François Louis Ganshof regarding the use of the written word by Charlemagne’s government, for example, Carlrichard Brühl argued regarding the royal exploitation of fiscal resources: „Bestimmend für das Itinerar is aber nicht dieser wirtschaftliche Gesichtspunkt, wie das die behauptet, sondern das in Anbetracht der überwiegenden Schriftlosigkeit der Verwaltung unbedingte Erfordernis der persönlichen Anwesenheit des Herrschers in allen Teilen des Reiches.“ 37 The following section, therefore, is intended to provide a detailed examination of what <paperwork> actually was required by the capitulary de villis for the administration of royal fiscal resources during the late eighth and early ninth century to establish a base-line against which to compare the administration of the royal fisc in the late Carolingian East. It should be emphasized that this assessment of regarding the requirements set out in capitulary de villis represents the consensus of specialists on the Carolingian fisc. CAPITULARY DE VILLIS AND THE SCALE OF WRITTEN ADMINISTRATION OF THE FISC
The land-based estates of the royal fisc were divided into two major segments 38. One group of estates was maintained in the possession of the king. These were administered directly by his government officials both at the local level in the villae distributed throughout the countryside and by officials attached to the central government and based at the royal court, wherever it itinerated 39. The lands or estates, which were di-
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his view of the Carolingian court. Charlemagne did not order so-called <jongleurs> to be employed at court to sing such songs as part of putative living oral tradition. Finally, in order to understand Carolingian society in the context of the written word, it must be emphasized that there is a world of difference between the oral performance of carmina from memory for purposes of entertainment and the maintenance of scribes and notaries by the central government and by the local governments of the comites in the pagi for practical administrative purposes. The effort by Richter [ Michael Richter, „ … quisquis scit scribere, nullum potat abere labore“. Zur Laienschriftlichkeit im 8. Jahrhundert, in: Jörg Jarnut – Ulrich Nonn – Michael Richter ( eds. ), Karl Martell in seiner Zeit ( Beihefte der Francia 37 ) Sigmaringen 1994, pp. 393–404 ] to undermine the evidence produced by McKitterick ( supra ) fails. Research by McKitterick and others ( e.g. Nelson supra ) have greatly strengthened earlier arguments. See, for example, Rosamond McKitterick, Latin and Romance: an historian’s perspective, in: Roger Wright ( ed. ), Latin and Romance Languages in the Early Middle Ages, London 1991, pp. 130–145; and, Idem, The Written Word and Oral Communication: Rome’s Legacy to the Franks, in: Richard North and Tette Hofstra ( eds. ), Latin Culture and Medieval Germanic Europe, ( Germania Latina Conference 1, Mediaevalia Groningana 11 ) Groningen 1992, pp. 89–112. Both have been reprinted with the same pagination in: Rosamond McKitterick, The Frankish Kings and Culture in the Early Middle Ages, Aldershot 1995. Brühl, Fodrum ( cf. note 27 ) p. 74. It should be noted that some scholars prefer a tri-partite division of the royal fisc such that those properties held by office holders in ministerium are differentiated from those properties that are held in beneficium. In this regard see, for example, James Westfall Thompson, The Dissolution of the Carolingian Fisc in the ninth century, Berkeley 1935, p. 17. Most of the evidence for the use of this tripartite division by some Carolingian administrators comes from Francia occidentalis rather from the regions of Francia media and Francia orientalis that are the subject of this study. Consequently, we have chosen to follow the bi-partite division set out by Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) p. 92 s. For the administrators of the royal fisc, see Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 144–155. To gain some insight into the activities of royal officials, albeit judicial rather than fiscal, at the local level, see Katherine Bullimore, Folcwin of Rankweil: The World of a Carolingian Local Official, in: Early Medieval Europe 13, 2005, pp. 43–77.
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rectly held and administered by the government, commonly are considered the royal fisc. However, a second complex of the king’s facultates, also in the form of royal landed assets, belonged to the fisc, but these were held from the king as beneficia by various of his vassi and fideles. These royal dependents were responsible au fond for the administration of these estates, but they too were under the close scrutiny of royal ministri 40. The first category of lands, namely those held in dominium by Charlemagne, was organized into at least 600, and perhaps as many as 800, administrative units or villae 41. This does not include those properties that were gained following the conquest of the Lombard kingdom in 774, nor does it include those villae that were granted out as benefices to royal vassi and fideles. Each of the units of the royal fisc was commonly referred to as a villa, and had its own administrative cadre under the direction of a steward ( Lat. iudex, villicus, actor, or maior under the early Carolingians, later the title of minister was used ) 42. On the whole, the fiscal villae of the royal government, distributed throughout the regnum Francorum, were large and complex entities with a great many hundreds of free, semi-free, and non-free inhabitants and dependents attached to them through various arrangements 43. They were similar in organization and, generally, in their size to villae held by both ecclesiastics and laymen 44. The steward who was in charge of one of these fiscal units required a considerable staff, including clerks who were trained in the practical literacy of bureaucratic Latin to support his administrative efforts 45. The order of magnitude of the more than 600 administrative units of the royal fisc under direct control of Charlemagne’s officials north of the Alps cannot now be determined in terms of the total number of hectares they encompassed, or in the annual income they produced in cash and kind. It must be emphasized, however, that this information was available in great detail to the Carolingian court, just as comparable data was available to various monasteries and episcopal administrations as illustrated in surviving polyptychs 46. As will be seen below, one of the major stimuli behind the drawing
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For the bi-partite structure of the fisc, not to be confused with the bi-partite structure of individual villae, see Ganshof, Frankish Monarchy ( cf. note 1 ) p. 35; and Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) p. 92 s. Werner, Missus ( cf. note 1 ) pp. 191–239. Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 144–154; and Ganshof, Frankish Monarchy ( cf. note 1 ) p. 35 s. Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 111–119. For a detailed examination of ecclesiastical estates, see, for example, Das Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés, ed. Dieter Hägermann – Konrad Elmhäuser – Andreas Hedwig, Cologne – Weimar – Vienna 1993; and Konrad Elmhäuser – Andreas Hedwig, Studien zum Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés, Cologne – Weimar – Vienna 1993. For a helpful introduction to this sourcegenre, see Robert Fossier, Polyptyques et censiers ( Typologie des sources du Moyen Age occidental 28 ) Turnhout 1978; and Jean Durliat, Le polyptyque d’Irminon et l’impot pour l’armée, in: Bibliothéque de l’école des chartes 141, 1983, pp. 183–208, with a critique by Walter Goffart, Merovingian Polyptychs: Reflections on Two Recent Publications, in: Idem, Romes Fall and After, London, 1989, pp. 233–253. Also see the more recent study by Shoichi Sato, The Merovingian Accounting Documents of Tours, in: Early Medieval Europe 9, 2000, pp. 143–161. With regard to the wide-spread use of written documents by Carolingian administrative officials and clerks, see Ganshof, Frankish Monarchy ( cf. note 1 ) p. 38; Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) p. 1–36; and Mersiowsky, Regierungspraxis ( cf. note 5 ). See Bernard S. Bachrach, Charlemagne’s Royal Fisc in Military Perspective, in: Felice Lifschitz and Celia Chazelle ( eds. ), Paradigms and Methods in Early Medieval Studies, New York 2007,
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up of polyptychs was the central government’s requirement that the information recorded in these surveys be made available to the royal court 47. Charlemagne regularly had agents sent out from court, men frequently referred to in the sources as missi dominici, who oversaw the periodic compilation of inventories of all of the villae of the royal fisc 48. This practice was so common under Charlemagne, that the ruler developed the habit of decreeing nostri fisci describantur in each administrative district overseen by missi ( the missaticum ) throughout the regnum Francorum 49. Charlemagne decided relatively soon after assuming the Frankish throne, and perhaps as early as 771, that is following the death of his brother Carloman, that some aspects of the royal fiscal administration were idiosyncratic 50. Charlemagne, who was dedicated to a policy of institutional consistency in a very wide range of affairs, ordered that uniform documentation, where applicable, be produced by all of the stewards who administered the villae of the royal fisc 51. This set of detailed, but not exhaustive, rules and regulations survive in the frequently discussed capitulary de villis 52. The very breadth of detail that is exposed by the seventy chapters of this document illustrates two important facts about the royal fisc. First, the administrators of the central government possessed an immense knowledge of the structure and organization of royal
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pp. 119–137, with the relevant literature cited there. With regard to the transmission of this information to the royal court by the officials of the fisc, as well as by missi, see Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) p. 281. Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 220–227. Ganshof, Frankish Monarchy ( cf. note 1 ) pp. 121 note 153, and 135 note 261–263, list more than a dozen orders to dispatch missi to carry out these duties. In this regard, see ( MGH Capitularia regnum Francorum, ed. Alfred Boretius, Hanovre 1883 ) no. 80, pp. 176 s., ch. 7. For historical context of Charlemagne’s administrative practices, it should be noted Einhard emphasizes that a divisio had been made between Charlemagne’s father Pippin and the latter’s brother Carloman following the death of their father Charles Martel in 741. See Einhard, Vita Karoli Magni ( cf. note 35 ) ch. 3. By this time, it is clear that the mayors of the palace had the bureaucratic assets at their command that were required to carry out a complicated inventory of the wealth of the kingdom. Thus, for example, in 751, shortly after Carloman’s retirement to the monastery of Montecassino, Pippin went well beyond surveying simply royal lands. In one of his first acts as rex Francorum, Pippin had a descriptio made of the res ecclesiarum. This was executed prior to a divisio which saw beneficia granted to vassi dominici pro verbo regis for the meeting of government needs. See, in this regard, Annales Guelferbytani, ad a. 751, Annales Nazariani, ad a. 751, in: MGH SS 1, ed. Georg Heinrich Pertz, Hanovre 1826, p. 27; Annales Alamannici, ad a. 751, in: ibid., p. 26; and see the discussion by François Louis Ganshof, Zur Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Vertrages von Verdun, 843, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 12, 1956, 313–330, and translated as: The Genesis and Significance of the Treaty of Verdun ( 843 ), by Janet Sondheimer in: François Louis Ganshof, The Carolingians and the Frankish Monarchy: Studies in Carolingian History, London 1971, pp. 289–302, here p. 294. Ganshof, Frankish Monarchy ( cf. note 1 ) p. 35. Regarding Charlemagne’s personality as an administrator, see François Louis Ganshof, Charlemagne, in: Speculum 24, 1949, pp. 520–528; and Thomas F. X. Noble, From Brigandage to Justice: Charlemagne, 785–794, in: Celia M. Chazelle ( ed. ), Literacy, Politics, and Artistic Innovation in the Early Medieval West: Papers Delivered at „A Symposium on Early Medieval Culture“ Bryn Mawr College, Latham ( Md. ) 1992, pp. 49–76. For an overview of which of these administrative policies were put into actual practice under Charlemagne and his successors, see Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) passim. The capitulary de villis is most easily accessible in MGH Capitularia regum Francorum I ( cf. note 48 ) no. 32. See, however, , Cod. Guelf. 254 Helmst. der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2 vols., ed. Calrichard Brühl, Stuttgart 1971, I:9–14, for a useful bibliographical orientation and facsimile.
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fiscal units. Secondly, the document makes clear the exceptional complexity of the estate-based component of Charlemagne’s fiscal administration. A careful reading of the capitulary de villis, especially in context with other documents, e. g. inventories and reports that were produced by one or another cadre of officials in Charlemagne’s central government, as well as charters illustrative of actions taken at the local level by officials from the royal court, sustains that impression of administrative complexity. The necessary conclusion, as will be made clear below, is that the administration of Charlemagne’s royal fisc was as sophisticated as its late Roman imperial predecessor in Gaul 53. It would not be an exaggeration to point out that Carolingian fiscal administration was superior to that of the contemporary Byzantine government as it functioned in those parts of the West that were still under its control 54. Finally, there is no reason to believe that the administration of the papal fisc during the early Middle Ages was superior to that of the Carolingians 55. As noted above, the stewards who administered the royal villae served locally and commanded a bureaucracy and staff of their own 56. Nevertheless, it should be emphasized, in light of the tendency among some historians to underestimate the importance of the Carolingian central government, that these administrative officials were appointed by the royal court and served at the king’s pleasure 57. Charlemagne was personally interested in the quality and ability of the stewards and made clear in his orders that these men were to be intelligent and careful as well as technically competent in a variety of areas, including accounting 58. The stewards were required to keep in very 53
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Regarding the structure and organization of the late Roman fisc in Gaul, see Arthur Hugh Martin Jones, The Later Roman Empire, 284–602: A Social, Economic, and Administrative Survey, 2 vols., Norman ( OK ) 1964, I: pp. 411–427. Concerning the Byzantine administration of its western assets, see Thomas S. Brown, Gentlemen and Officers: Imperial administration and Aristocratic Power in Byzantine Italy A. D. 554–800, Rome 1984, pp. 109–125. On the organization of the papal fisc, see Thomas F. X. Noble, The Republic of St. Peter: The Birth of the Papal State, 680–825, Philadelphia 1984, pp. 10–12, pp. 243–248. Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 144–55. For the state of the question, see Werner, Missus ( cf. note 1 ) p. 191–239; with the updating of this study by Innis, Charlemagne’s Government ( cf. note 9 ) passim. As noted above, Hummer, Politics and Power ( cf. note 26 ), is among the most recent in a list of self-styled social scientists, who see Carolingian government as primitive. He does not, however, seem to want to go as far as the so-called <processualists> of the <Bucknell group> Hummer, Politics and Power ( cf. note 26 ) p. 5, who find it useful to draw material from modern anthropological studies of non-literate pagan peoples from sub-Saharan Africa as a basis for treating early medieval government and society in a literate Christian context. For a critique of this type of work, see Bernard S. Bachrach, Anthropology and Early Medieval History: Some Problems, in: Cithara 34, 1994, pp. 3–10. With regard to central control over the appointment of stewards, see ( MGH Capitularia regum Francorum I [ cf. note 48 ] no. 32, pp. 82–91 ) chs. 5, 7, 10, 16, 45; and ch. 60 regarding service at the king’s pleasure. Capitulare Aquisgranense ( MGH Capitularia regum Francorum I [ cf. note 48 ] no. 77, pp. 170–172 ) ch. 19. The shibboleth that people in the early Middle Ages were innumerate as well as illiterate has been sustained far too long by scholars who would appear not to understand accounting with symbols with which they are not familiar, e. g. Roman numerals. On the wide-spread use of very sophisticated arithmetic models by a very broad cross section of the early medieval population. See Elizabeth AlföldiRosenbaum, The Finger Calculus in Antiquity and in the Middle Ages: Studies on Roman Game Counters I, in: Frühmittelalterliche Studien 5, 1971, pp. 1–9; and Wesley M. Stevens, Cycles of Time: Calendrical and Astronomical Reckonings in Early Science, in: Julius T. Fraser and Lewis Rowell
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close contact with the royal court on a regular basis both in person and through a detailed stream of written reports. Each steward might find himself at court up to four or five times a year 59. There, they reported directly to a bureaucracy composed of numerous domestici and lesser officials, who served under a man of comital rank. The latter, though obviously a political appointee, was required by the nature of his position to have a considerable expertise and knowledge concerning the administration of the fisc 60. A brief discussion of some of the obligations of the steward concerning his direct contacts with the royal court makes clear that high levels of control were exercised by the central government with regard both to annual production at each villa and the accurate reporting of these data. Each steward was required to submit a detailed annual report to the royal court at Christmas time, i. e. after the year’s agricultural cycle had been completed late in the autumn and the details concerning production had been tallied. Each report, in sum, provided a long list of the income earned by each fiscal unit, in both kind and in cash. This list took the form of a more or less systematized inventory of the villa that provided Charlemagne and his staff with the particular information that was wanted and was needed to carry on the business of the central government 61. As fragments of surviving documents make clear, this report was not an undifferentiated mass of information regarding each villa 62. Rather, the information provided by the stewards at Christmas time was subdivided into as many as several score rubrics, depending on the complexity of the estate, and likely bore a title similar to „An annual statement of royal income from villa X.“ 63
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( eds. ), Time and Process: Interdisciplinary Issues ( The Study of Time 7 ) Madison ( Connecticut ) 1993, pp. 27–51, p. 51; and Idem, Euclidean Geometry in the Early Middle Ages: A Preliminary Study, in: Marie-Thérèse Zenne ( ed. ), Villard’s Legacy: Studies in Medieval Technology, Science, and Art in Memory of Jean Gempel, Aldershot 2004, pp. 229–263. Also see Paul L. Butzer and Karl W. Butzer, Mathematics at Charlemagne’s Court and its Transmission, in: Catherine Cubitt ( ed. ), Court Culture in the Early Middle Ages: The Proceedings of the First Alcuin Conference, Turnhout, 2003, pp. 77–89, who make clear that exceptional importance that detailed understanding of complex mathematics played in real-world duties of Carolingian courtiers. These included, for example, the engineering specialists who designed and built the eight-sided Aachen chapel ( pp. 85–88 ), and the authors of computus works for calculating Easter, a mathematical problem that remained of substantial theoretical interest up through the end of the eighteenth century ( p. 79 ). For early medieval discussions of arithmetic questions, see Alcuin, in: Menso Folkerts, Die älteste mathematische Aufgabensammlung in lateinischer Sprache: Die Alkuin zugeschriebenen : Überlieferung, Inhalt, kritische Edition Vienna 1978; and Dhuoda, Liber manualis – Manuel pour mons fils, ed. and trans. Pierre Riché ( SC 225 ) Paris 1975, pp. 294 s., and nos. 5–6. Capitulare de villis ( cf. note 51 ) chs. 35 and ch. 20. These visits likely were facilitated by the tractoria system. With regard to this method of supporting travel by royal officials, see François Louis Ganshof, La Tractoria: Contribution à l’étude des origines du droit de gîte, in: Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 8, 1928, pp. 69–91. Ganshof, Frankish Monarchy ( cf. note 1 ) p. 39, notes that the queen was the nominal head of the fisc, a point which is set out in Capitulare de villis ( cf. note 51 ) chs. 27 and 45. The count of the fisc would appear to be the counterpart of the count of the palace, who was in charge of judicial matters. See Ganshof, Charlemagne and the Administration of Justice, in: Frankish Institutions ( cf. note 1 ) pp. 83–5. Capitulare de villis ( cf. note 51 ) ch. 62. See Ganshof, Frankish Monarchy ( cf. note 1 ) p. 36. Such a formulary likely followed the structure set out in Capitulare de villis ( cf. note 51 ) ch. 62.
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This primary document, which for the sake of clarity will be called report Number One, was supplemented by two other documents that are referred to here as reports Number Two and Number Three. These three reports, taken together, were intended to be comprehensive in nature. In part A of report Number Two, the steward recorded anything and everything that he had appropriated from the resources of the villa for the use of the central government 64. As indicated by a wide variety of requirements imposed by the central government on the villae of the fisc, such an account could be quite lengthy 65. In part B of report Number Two, the steward was required to provide a list of all of the goods and services that he had provided to all other persons, i. e. those who were not connected to the royal court 66. In part A of report Number Three, the steward was required to record all of the money payments that he made to anyone. In part B of the same report, he was required to provide a list of monies that remained under his direct control in the strongbox that was located at the villa for this purpose 67. The sources from which all of the money had been derived, whether paid out or retained at the villa, also had to be recorded in either part A or part B of report Number Three depending upon the disposition of the funds 68. In aggregate, these three annual reports, submitted at Christmas time by each of the stewards of the more than 600 administrative units of Charlemagne’s royal fisc that were held under direct royal control, provide the king’s domestici with an enormous volume of information 69. Not only did these officials have an accounting of the total gross and net income of the royal fisc, but also an accounting of the total expenses of the royal fisc. Finally, as a result of these reports, the central administration had a register of all of the individuals with whom the royal government maintained economic relationships through the operations of the estates of the fisc and a description, in economic terms, of all of these relationships. With these data at hand, the clerks serving under the domestici at the royal court were in a position, insofar as these documents were retained for a period of two or three years, to track the production of each of the individual fiscal units over time as well as of the fisc as a whole on a year to year basis 70.
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Capitulare de villis ( cf. note 51 ) ch. 55. See, for example, Capitulare de villis ( cf. note 51 ) chs. 8, 15, 17, 20, 23; and a great many more could be added. Ibid. chs. 55, 62. Ibid. chs. 55, 62. Ibid. chs. 55, 62. Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) pp. 280–283, and passim. Charlemagne would seem to have wanted to have available a profile of the fisc over time as implied, for example, by Capitulare de villis ( cf. note 51 ) chs. 4, 7, 37. On the maintenance of royal archives by the later Carolingians into the tenth century, see Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) p. 221; Verhein, Studien ( cf. note 22 ) part 2, p. 376; and most recently Brigitte Bedos-Rezak, Secular Administration, in: Frank Anthony Carl Mantello, Medieval Latin: An Introduction and Bibliographical Guide, Washington D. C. 1996, pp. 195–229, here p. 199. Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) p. 281, argues that there is no information to support the case that Charlemagne had a central archive. She indicates, instead, that the reports drawn up by the stewards of royal estates and by the missi, may have been collected in their own archives. Nevertheless, Nelson does not indicate that there is any information to support her contention. However, later in the same study ( pp. 286 s. ) Nelson contradicts herself noting that documents were drawn up for storage in Charlemagne’s royal archive. Regarding the production of multiple copies of documents for archiving purposes, including in the royal archives, see Cullen J. Chandler, Be-
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As will be seen below, the ability to have access to this information was crucial to the ability of the later Carolingian kings to make decisions regarding the disposition of royal revenues. Once these three reports had been submitted to the central government at Christmas time, the domestici at the royal court worked with these documents throughout the winter season to establish for each steward a set of detailed instructions, obviously in written form, regarding what was to be done at each villa during the forthcoming year 71. These instructions for each steward were based on an estimate of the needs of the royal government for the forthcoming year. With regard to military estimates, the clerks who served Charlemagne’s „general staff“ ( the magistratus ) were responsible for planning military operations that were to be undertaken by one or another royal army during the coming year 72. One additional point requires emphasis in this context. The domestici calculated what percentage of the funds that were in the possession of each steward from the previous year’s income from the villa, as recorded in report Number Three part B, would be needed by the central government for the forthcoming year’s activities 73. Once the detailed instructions regarding the plan for the next year’s work were completed by the staff of the domestici and the calculations regarding the money needed from each villa were finalized, the stewards were informed how much cash they were to bring with them to the court during their second required visit 74. It was standard operating procedure for the stewards to appear at court on Palm Sunday with the stipulated sums of money, and it was at that time that they also received their instructions for the operation of the villae during the forthcoming year 75. Despite the immense administrative detail included in this tri-partite set of annual reports, Charlemagne’s government recognized that interim reports from the stewards to the central government also were necessary. These reports were required in order to forestall problems that might need attention in a relatively narrow time frame. For example, among the great many reports of this type, the quantities of food stuffs, e. g. vegetables, fish, cheese, and butter, that were sent to the royal court from each villa for the Lenten season were to be enumerated. An account of the so-called ‚Lenten food‘, which also indicated what was not sent to the court but rather remained at the villa, also was to be forwarded by the steward to the domestici 76. In another bit of detailed micromanagement, the bureaucrats of Charlemagne’s central government imposed on the villa administration a requirement that each steward send a report to the royal court indicating whether there would be sufficient food on hand through the course of the winter and early spring to sustain the pigs that were raised on the farms of the villa.
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tween Court and Counts: Carolingian Catalonia and the aprisio Grant, 778–897, in: Early Medieval Europe 11, 2002, pp. 19–44, here p. 28 s. Capitulare de villis ( cf. note 51 ) chs. 7 and 62. Bernard S. Bachrach, Charlemagne and the Carolingian General Staff, in: The Journal of Military History 66, 2002, pp. 313–357; and Idem, Adalhard’s De ordine palatii: Some methodological observations regarding Chapters 29–36, in: Cithara 39, 2001, 3–36. Capitulare de villis ( cf. note 51 ) ch. 28. Ibid. Ibid. Ibid. ch. 44.
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This report had to reach the central government by no later than 1 September each year 77. Much more information can be adduced regarding the network of contacts, both personal and documentary, i. e. the <paper trail>, between the local administrators of the villae of the royal fisc and the officers with whom they dealt on a regular basis at court 78. In the present context, however, it must suffice to emphasize that each steward was required to attend the royal court in person several times each year or, if this was impossible, he had to send an acceptable substitute to represent him 79. In addition, perhaps a dozen written reports, some exceptionally detailed and recording several score items, were required by the central government for delivery to the court from each villa each year. In return, the central government provided each steward with detailed instructions for what was to be done at his villa each year 80. This resulted each year in the exchange of many thousands of documents between the more than 600 administrative units of Charlemagne’s royal fisc and the court. These documents, however, were only a small fraction of the total correspondence exchanged by government officials for various purposes throughout Charlemagne’s empire and the regna of his successors 81. ROYAL BENEFICIA
Lands held in beneficium by vassi dominici and by royal fideles constitute the second group of facultates that belonged to the royal fisc. These estates, in general, were administered under the immediate direction of the benefice holders 82. In addition to these estates, Charlemagne, Louis the Pious and the latter’s sons, followed in the tradition of their ancestors and ‚borrowed‘ lands that belonged to the church, and perhaps also from non-ecclesiastical sources, in order to sustain governmental operations. These lands generally were not kept in royal possession but were granted as beneficia pro verbo regis, to royal vassals 83. Despite the nature of these holdings, Carolingian 77 78
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Ibid. ch. 25. See, for example, Capitulare de villis ( cf. note 51 ) ch. 66, for reports regarding the number of wolves killed by dependents of each villa. Ibid. chs. 15, 20, 28. Ibid. chs. 30, 31, 33, 66. In this regard, see Mersiowsky, Regierungspraxis ( cf. note 5 ). Ganshof, Frankish Institutions ( cf. note 1 ) p. 51 s., curiously discounts this, but on the very next page discusses the service and payments owed to Charlemagne from these beneficia. For a critique of Ganshof ’s pessimism on this count, see Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) p. 285. For a more general discussion of Ganshof ’s pessimism in the immediate wake of the Second World War and his subsequent recovery, see Bernard S. Bachrach, Pirenne and Charlemagne, in: Alexander C. Murray ( ed. ), After Rome’s Fall: Narrators and Sources of Early Medieval History. Essays presented to Walter Goffart, Toronto 1998, pp. 214–231, p. 218, n. 21. For a useful survey of this practice in the West during the Carolingian period, see Giles Constable, Nona et Decima: An Aspect of Carolingian Economy, in: Speculum 35, 1960, 224–250. Constable did not identify this practice in the East. Janet L. Nelson, The Church’s Military Service in the Ninth Century: A Contemporary View? in: Studies in Church History 20, 1983, pp. 15–30, reprinted: Idem, Politics and Ritual in Early Medieval Europe, London 1986, pp. 117–132, here pp. 124–126, emphasizes that western bishops, including those such as Hincmar of Rheims who had very strong eastern connections, used precaria, at royal command, to support fighting men, but did not use this method exclusively.
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rulers, at least until c. 876–877, had these resources administered in the same way as they administered lands that had been assigned to vassi dominici as beneficia from the royal fisc, itself 84. As will be made clear, royal officials of the central government kept in close contact with the stewards of all lands held in beneficium by the king’s dependents. Scholars conservatively have estimated that Charlemagne had some 2,000 vassi dominici, i. e. men who held beneficia directly from him 85. In addition, there were as many as 700 counts, and each of these royal fideles held at least one beneficium from the royal fisc. This beneficium generally was referred to as the res de comitatu and sometimes was styled the comitatus or the ministerium in government documents. The purpose of this beneficium was to provide income to the count, which was intended to help defray the costs of administering the comital officium 86. Finally, many high ranking clerics, e. g. bishops, abbots, and abbesses, and many lesser clerical office holders also held beneficia from Charlemagne, Louis the Pious, and his sons 87. By the end of the seventh century, there were well in excess of 700 monasteries within the regnum Francorum and many more hundreds were constructed over the course of the eighth and ninth centuries 88. A great many of these monastic foundations, including such major houses as Lorsch, though founded by pious lay people were ‚acquired‘ by the Carolingian rulers and classified as royal monasteries during the eighth and the greater part of the ninth centuries 89. 84
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In ( MGH Capitularia regum Francorum I [ cf. note 48 ] no. 20, pp. 46–51 ) ch. 13, which was issued in 779, Charlemagne regularized the situation with regard to church lands granted as royal beneficia pro verbo regis. For additional discussion and texts, see Ganshof, Frankish Institutions ( cf. note 1 ) p. 148 s. note 387; Bernard S. Bachrach, Charles Martel. Mounted Shock Combat, the Stirrup and Feudalism, in: Studies in Medieval and Renaissance History 7, 1970, pp. 49–75, and reprinted with the same pagination in: Idem, Armies and Politics in the Early Medieval West, Aldershot 1993; Herwig Wolfram, Karl Martell und das fränkische Lehenswesen. Aufnahme eines Nichtbestandes, in: Jarnut – Nonn – Richter, Karl Martell ( cf. note 35 ) p. 61–78; and Ulrich Nonn, Das Bild Karl Martells in mittelalterlichen Quellen, in: ibid., pp. 9–21. In 743, only two years after Charles Martel’s death, Carolman, Charlemagne’s uncle, made it clear to ecclesiastics, who were complaining to the mayor of the palace about the use of church lands for military purposes, that the continued exploitation of these resources by the government was necessary due to imminentia bella. MGH Capitularia regum Francorum I ( cf. note 48 ) no. 11 ch. 2. Karl Ferdinand Werner, Heeresorganisation und Kriegsführung im deutschen Königreich des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Ordinamenti militari in occidente nell’ Alto Medioevo ( Settimane di Studio de Centro Italiano sull’alto Medievo 15 ) Spoleto 1968, pp. 791–843, here pp. 818–821. N.b. not all vassi dominici held beneficia from the king. Some, especially those assigned to the court as presentales ( infra palatio ) were not beneficed and some of them were even regarded by contemporaries as rather poor men ( pauperiores ). See, for example, Annales Laureshemenses, an. 802, and the discussion by Ganshof, Frankish Institutions ( cf. note 1 ) p. 21. See also, for example, Idem, Feudalism, trans. Philip Grierson, third English edit., New York 1964, 38. Ganshof, Frankish Institutions ( cf. note 1 ) p. 29; and Ganshof, Feudalism ( cf. note 84 ) p. 52 s. Capitulare de iustitiis faciendis ( cf. note 48 ) ch. 7. Regarding churches in the seventh century, see Hartmut Atsma, Les monastères urbains du nord de la Gaule, in: Revue d’histoire de l’église de France 62, 1976, pp. 163–187. For an overview of Carolingian policies towards monasteries, see Karl Voigt, Die karolingische Klosterpolitik und der Niedergang des westfränkischen Königtums: Laienäbte und Klosterinhaber, Amsterdam 1965. There are a number of studies dealing with Carolingian control over specific eastern houses. See, for example, Josef Semmler, Lorsch in der politischen und kirchlichen Welt der Karolinger, in:
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Charlemagne and his immediate successors undertook extensive efforts to keep current the government’s knowledge of the extent and value of all of these types of beneficia over time as well as what each benefice holder owed to the crown 90. The rigorously time-conditioned nature of this <paper-work> did not, of course, bode well for its survival, particularly given the high value of recycled parchment. Nevertheless, the relatively few documents that do survive permit us to conclude that vassi dominici held beneficia of immensely varying extent and value. On the smaller side, some beneficia held directly from the king would appear to have been composed of about thirty manses on average, i. e. homesteads for thirty families 91. By contrast, large beneficia held by important royal vassals are known to have been composed of as many as 200 mansi. Some important vassi dominici are known to have been granted as many as two complete villae while others are known to have possessed only a fraction of a villa 92. A villa might include 2,000 or more hectares of land with numerous buildings and several hundred dependents ranging from slaves to men who were legally free 93. For the purpose of obtaining the detailed information that was relevant to the effective functioning of his government, Charlemagne, and his successors, ordered extensive and frequent efforts that were aimed at keeping a real-time account of all landed assets held as beneficia from him. The main regular connection between the central government and these elements at the local level were the missi dominici, who acted directly with a royal mandatum in the name of the king 94. The regnum Francorum was di-
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Hermann Schefers ( ed. ), Das Lorscher Evangeliar. Eine Zimelie der Buchkunst des abendländischen Frühmittelalters, Darmstadt 2000, pp. 11–22; and Matthew Innes, State and Society in the Early Middle Ages: The Middle Rhine Valley, 400–1000, Cambridge 2000, which similarly focuses on the role played by the monastery of Lorsch in Carolingian politics. Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 220–222; and Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) p. 285. Regarding the size of the manse, Goffart, Military Duty ( cf. note 7 ) passim, makes the compelling argument that the records of such grants deal with „tributary manses,“ whether free or servile, that were attached and paid census to a mansus indominicatus. These tributary manses, for administrative purposes, were treated by the central government as roughly equivalent, although free manses were understood to be larger and more productive, and could be subject to higher rates of taxation. François Louis Ganshof, Benefice and Vassalage in the Age of Charlemagne, in: The Cambridge Historical Journal 6, 1939, pp. 147–175; and Ganshof, Feudalism ( cf. note 84 ) p. 37, for a useful summary. Ganshof, Feudalism ( cf. note 84 ) p. 36 s. Clerical villae are roughly of the same order of magnitude as royal villae. Attention should be drawn in this context, for example, to the polyptyque of St. Bertin and the polyptyque of St. Germain-des-Prés. See above for the citations, n. 42. The basic work on the missi remains Victor Krause, Geschichte des Instituts der missi dominici, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 9, 1890, pp. 193–300. Useful summaries with extensive documentation and more recent scholarly comment are provided by Ganshof, Frankish Institutions ( cf. note 1 ) pp. 23–26 and 119–124. Concerning the continuing use of the mandatum even into the post-Carolingian era, see Olivier Guillot, La droit romain classique et la lexicographie de terms du latin médiéval impliquant de pouvoir, in: La lexicographie du latin médiévale et ses rapports avec les recherches actuelles sur la civilisation du moyen-âge, Paris 18–21 octobre 1978 ( Colloques internationaux du Centre national de la recherche scientifique 589 ) Paris 1981, pp. 153–166. It should be emphasized that the vassi dominici were in the same position relative to the counts in whose jurisdictions they held lands as ecclesiastical immunity holders such as monasteries and bishoprics with respect to the economic aspects of their beneficia. However, in military matters, and likely judicial matters as well, these vassi dominici were under the jurisdiction of the count. See in this regard, Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 180–85, and 227–230; and Chandler, Between Court ( cf. note 69 ) passim.
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vided into missaticum, i. e. geographically delimited jurisdictions. In general, two missi dominici, usually a very high ranking lay curialis and a bishop or abbot, jointly headed a group of legal and investigative specialists who were assigned to each missaticum 95. These missi, who are best characterized as „ordinary“, can be contrasted with „extraordinary“ missi sent out by the king, also with his mandatum, on special missions. Both types of missi held a general warrant from the Carolingian kings to do everything that was necessary to make the administrative system work 96. The regular or ordinary missi dominici provided a consistent stream of high quality information to the central government from their missatica. The lists of benefices as well as detailed inventories of these properties from previous investigations were made available to Charlemagne’s missi before they left court 97. As a result, when they arrived in their missatica, the missi were able to compare the current condition of the benefices with their condition at the time of the previous investigative circuit. The missi were ordered to check personally the written descriptions against the facts on the ground and to bring the documents up do date on the basis of this comparison. The result was a detailed update of the information available to the royal court concerning the beneficia held by senior church officials as well as by laymen. As Charlemagne framed this order in one of his comparatively few capitularies that have survived: beneficia episcoporum, abbatum, abbatissarum … comitum sive vassalorum nostrorum … describantur 98. The compiling of these inventories was very thorough so that the beneficium of each and every vassus in each and every missaticum was to be described 99. In addition, each of the men who held a benefice from the benefice of a vassus dominicus, i. e. the casati of a royal vassal, were to be listed and the nature of the holding of each casatus was to be described as well 100. Charlemagne and his successors had their missi check and recheck, through a process of frequent and thorough inquests ( inquisitio ), the situation regarding the condition of all of these beneficia 101. The phrase diligenter inquirant was a watchword in these royal orders 102. In addition, the royal government assured that this information would 95
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For a list of orders requiring the missi to carry out surveys and inquests in regard to beneficia held by vassi dominici, see MGH Capitularia regum Francorum I (cf. note 48) no. 18, ch. 5; no. 23, ch. 35; no. 24, chs. 1, 6; no. 33, ch. 6; no. 34, chs. 10, 11; no. 46, chs. 6, 7; no. 49, ch. 4; no. 59, ch. 3; no. 62, ch. 9; no. 63, ch. 9; no. 64, ch. 14; no. 65, ch. 9; no. 77, ch. 4; no. 80, chs. 5, 7. Since only a very small fraction of the capitularies and edicts that Charlemagne issued during his reign survive, this list must be considered as very incomplete. We concur with the judgment by Ganshof, Feudalism (cf. note 84) p. 37 s., who, despite his pessimism regarding the long-term success of Charlemagne’s administrative efforts, concludes that those men who tried to cheat Charlemagne by embezzling royal facultates largely were unsuccessful. Ganshof, Frankish Institutions ( cf. note 1 ) pp. 23–26, and 119–124. Regarding the list-making culture of the Carolingians, see Bernard S. Bachrach, Early Carolingian Warfare: Prelude to Empire, Philadelphia 2001, 59, and the works cited in no. 62. Capitulare de iustitiis faciendis ( cf. note 48 ) ch. 7. See Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) p. 285, for the conclusion that the vicarii of the count actually compiled these lists in the centenae. Capitulare de iustitiis faciendis ( cf. note 48 ) ch. 5. Regarding the thoroughness of this checking process and its importance for assuring a regular stream of supplies to the king and court, see Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 210–213, and 231 s. For a list of orders requiring missi to carry out surveys and inquests in regard to beneficia held by vassi dominici, see MGH Capitularia regum Francorum I ( cf. note 48 ) no. 18, ch. 5; no. 23, ch. 35; no. 24, chs., 1 and 6; no. 33, ch. 6; no. 34, chs. 10–11; no. 46, chs. 6–7; no. 49, ch. 4; no. 59, ch. 3; no. 62, ch. 9; no. 63, ch. 9; no. 64, ch. 14; no. 65, ch. 9; no. 77, ch. 4; no. 80, chs. 5–7.
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be available to the bureaucrats of the court by requiring that the missi send detailed summaries ( in brevem ) regarding everything that they had learned 103. None of the very detailed letters that were issued by missi to the stewards of the villae located within their missatica have survived, nor would we expect such time-conditioned texts to be preserved except by fortuitous accident. However, through just such a stroke of fortune, we do have a surviving letter sent by missi to several counts operating within their missaticum that provides considerable information about the preparations that were necessary to make ready for an impending inquest. The missi indicated that they would be arriving soon to execute Charlemagne’s orders and also provided a timetable under which they would be operating. The letter was written in March, although the year is not known, and makes clear that the missi would be visiting very soon and were required to make a report of their findings to the king by midApril. In Charlemagne’s name, the missi urged vigorous cooperation. They admonished each of the letter’s recipients to „reread the capitularies“ that previously had been sent out by the central government. In addition, each recipient of the letter was admonished to recall whatever recent assignments he had been given orally by officials of the central government and to have ready for the missi two very detailed written lists 104. One list was to include all that had been done to comply with previous orders from the central government and the second list was to record those assignments that he had not yet completed, with accompanying explanations 105. In addition, the recipients were instructed that if any one of them was unsure of the meaning of any of the detailed instructions attached to the letter, see below, he was immediately to send a missus of his own to the relevant missi dominici to obtain the necessary clarifications so that he could make the proper preparations that were required before their arrival. The missi dominici obviously wanted to make sure that none of the recipients or their subordinates could defend themselves against potential charges of malfeasance by claiming ignorance concerning their orders or by claiming that the orders had been misunderstood. In order to avoid both of these problems, the recipients were instructed that their missus should be a man bene intelligentem 106. The recipients also were ordered to keep the letter sent by the missi dominici very safe and to make sure that they had read it through very often 107. With at least 600 royal estates directly under the control of the central government and perhaps an equal number held by royal vassals, one can readily estimate the vast number of such letters that were written each year that merely listed the spectrum of problems that the missi dominici would investigate. The frequent audits of the benefices held by the vassi dominici were intended, at least in part, to deter the natural inclination among these royal dependents, both lay 103 104
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Capitula de causis diversis ( MGH Capitularia regum Francorum I [ cf. note 48 ] no. 49, pp. 135 s. ) ch. 4. That the missi operated using written documents is no longer in dispute. However, it is also likely that much of the exchange between the missi and the royal officials at the local level took place orally. In this context, see Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) p. 266 s. Of course, in modern bureaucracies many hundreds, if not thousands, of words are spoken for each document that is issued. Capitula de missis dominicis ad comites directa ( MGH Capitularia regum Francorum I [ cf. note 48 ] no. 85, pp. 183 s. ) prologue. Capitula de missis dominicis ( cf. note 104 ) ch. 4. Capitula de missis dominicis ( cf. note 104 ) ch. 7.
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and ecclesiastical, to embezzle the resources of these estates into their own allodial properties for their own use, including not only land but also equipment and even personnel 108. It is likely, despite these energetic efforts at oversight, that at least some vassi dominici managed to steal at least some royal facultates. No society is crime free and in even the most effectively administered societies not all criminals are punished or even caught. Nevertheless, as scholars have come to recognize increasingly over the past decade and a half, it would be foolish bordering on recklessness to argue that Charlemagne or his successors lost any significant portion of the royal fisc through malfeasance 109. In addition to ensuring that the holders of benefices did not embezzle property and personnel, Charlemagne also insisted that they work to improve the resources that they held as beneficia from the king 110. Charlemagne and his successors, therefore, made sure to instruct their missi to investigate how effectively the lands that were held as beneficia were being cultivated 111. As noted above, the missi also were instructed to obtain lists on a regular basis from the holders of the beneficia that recorded what improvements had been ordered for the estates in question, which improvements had been made, and explanations regarding the improvements that had not yet been made. In sum, the prescriptive legislation of the Carolingian emperors required the production of an enormous volume of written documents at the local level, at the center, and in exchanges between the two. Scholars are now in agreement that the relatively small corpus of surviving descriptive documents from the late-eighth century up through the middle of the ninth, including polyptyques, charters, and letters confirm that this <paper-work> flowed in high volumes throughout the regnum Francorum during the reigns of Charlemagne, Louis the Pious, and the latter’s sons. What remains to be seen is whether this system of written administration remained in force in Francia orientalis and those parts of Francia media that fell under control of the eastern kingdom during the late ninth and early tenth century, that is the eve of the accession of Henry I, when there is almost universal agreement that written administration in the Carolingian sense ceased to function 112. The focus of this study, therefore, now shifts to the reigns of Arnulf, Zwentibold, and Louis the Child, in order to ascertain whether Carolingian fiscal administrative institutions, based on the extensive use of written documents, were still operative during the troubled times between Arnulf ’s coup d’état in 887 and the death of his teen-aged son Louis in 911. 108 109
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Ganshof, Feudalism ( cf. note 84 ) p. 37 s. MacLean, Kingship ( cf. note 9 ) pp. 12–15; and the earlier observations by Jane Martindale, The Kingdom of Aquitaine and the in: Francia 11, 1985, pp. 131–191, passim; and Nelson, Charles the Bald ( cf. note 10 ) p. 54 s., and 233. With regard to the continued control of the Bavarian fisc by the late Carolingians, see Schmid, Regensburg ( cf. note 18 ) passim, and with regard to continued Carolingian control over the fisc in the Rhineland, see Gockel, Königshöfe ( cf. note 18 ) passim. Capitula de causis diversis ( cf. note 102 ) ch. 4; and no. 77, ch. 4, bene illud immeliorare in omni re studeant. See, for example, Duplex legationis dictum (MGH Capitularia regum Francorum I [cf. note 48] no. 23, pp. 62–64) ch. 35; Breviarium missorum Aquitanicum, ibid., no. 24, pp. 65 s., ch. 6; Capitularia missorum specialia, ibid., no. 34, pp. 99–102, chs. 10, 11; Capitula de causis diversis, ibid. no. 49, pp. 135 s., ch. 4. In this context, see for example, Hagen Keller, Zum Charakter der <Staatlichkeit> zwischen karolingischer Reichsreform und hochmittelalterlichen Herrschaftsausbau, in: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, pp. 248–264, here p. 257.
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Bernard S. Bachrach – David S. Bachrach ARNULF, ZWENTIBOLD, AND LOUIS THE CHILD SOURCES OF INFORMATION
It is widely recognized that the sources available for the study of the activities of the royal fisc present a different profile during the reign of Louis the German than is the case for the latter ninth-century and the early tenth century. For the earlier period, as noted above, scholars have a considerable corpus of prescriptive materials, e. g. capitularies, with relatively few surviving descriptive texts, such as inventories, that make clear the ways in which the orders in the capitularies were carried out. These descriptive documents, which were naturally zeitbedingt, including not only polyptiques but also royal and so-called <private> charters, contained information regarding the actual administration of fiscal units. By contrast, the proportion of prescriptive to descriptive sources of information is reversed for the later Carolingian regna in the East. We have far fewer surviving prescriptive documents, but a much larger corpus of descriptive documents, including not only various types of property descriptions, but also a very large corpus of both royal and <private> charters that shed light on actual administrative practice 113. In addition to the very important studies of the late Carolingian fisc, noted above, these types of descriptive documents have received enormous attention more recently from scholars who have focused on the physical management of estates in connection with the question of the spread of the bi-partite system to regions east of the Rhine 114. 113
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Thomas Zotz, Beobachtungen zur königlichen Grundherrschaft entlang und östlich des Rheins vornehmlich im 9. Jahrhundert, in: Werner Rösener ( ed. ), Strukturen der Grundherrschaft im Frühen Mittelalter, 2nd edit., Göttingen 1993, pp. 74–125, here p. 80, emphasizes the importance of reading royal donation charters for the insights that they provide concerning estate management. Dieter Hägermann, Quellenkritische Bemerkungen zu den karolingerzeitlichen Urbaren und Güterverzeichnissen, in: ibid., pp. 47–73, here p. 47, identifies approximately twenty substantial documents that provide detailed information about the actual rather than theoretical organization, structure, exploitation, and administration of ecclesiastical and royal estates in the regions of Francia orientalis from the eighth to the early tenth century. This large corpus of texts includes material that relates both to fiscal lands and to lands that were granted by kings to various ecclesiastical institutions. For example, in a detailed study of the properties of the monastery of Weißenburg, Christophe Dette, Die Grundherrschaft Weißenburg im 9. und 10. Jahrhundert im Spiegel ihrer Herrenhöfe, in: ibid., pp. 181–196, makes clear that in the early eleventh century, the administrators of the house’s property were making use of documents dating all the way back to the ninth century and onwards, including detailed discussions drawn from royal records about resources once managed directly by fiscal officials. It should be emphasized that there was a less urgent need for prescriptive documents by the later Carolingians because not only did Charlemagne’s and Louis the Pious’ capitularies still have juridical force, but capitulary de villis, as noted above, remained fundamental to the organization of estates. It should be noted that bi-partite in this context refers to the division of a property into demesne land and a portion that is subdivided into various types of holdings usually denoted as tenements. With regard to the management of the properties of Lorsch, which included substantial royal grants, many of which were recorded in the so-called , see Franz Staab, Aspekte der Grundherrschaftsentwicklung von Lorsch vornehmlich aufgrund der Urbare des Codex Laureshamensis, in: Rösener ( ed. ), Strukturen ( cf. note 112 ) pp. 285–334, here p. 286, who criticizes the one-sided investigation of the that has focused almost exclusively on the properties held by the house rather than the administration of these properties. Staab, instead, insists on the importance of identifying the written documents that made possible the actual administration of Lorsch’s estates. In this vein, Staab writes: „Die genannten Arbeiten liefern daher, mehr oder weniger umfassend, nichts als Untersuchungen zur chronologischen Dynamik und räumlichen Ausdehnung der Lorscher Erwerbungen,
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In light of the very large corpus of descriptive documents that is available, and also the rather lengthy period under discussion here, we have limited this investigation to a discussion of the surviving royal acta of the late Carolingian rules in the East. These acta, either originals or copies, total 280 115. This figure, of course, does not taken into account the many hundreds of perdita that can be identified from this corpus of surviving texts 116. In limiting our treatment to royal acta, we have not treated the many thousands of detailed documents from the later ninth and early tenth centuries, which are to be found in the cartularies of such great monastic houses of the east Frankish kingdom such as Corvey, Fulda, Lorsch, and St. Gall 117. Many of these acta provide references to no longer extant royal documents and to agents of the royal government carrying out a wide spectrum of administrative tasks at the local level 118. We also are not pursuing the perdita of royal Urbaren identified within the context of ecclesiastical property inventories such as those produced at both Lorsch and Staffelsee 119. It should be emphasized that in focusing our attention on the descriptive information
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ohne sich damit zu beschäftigen, wie die Grundherrschaft der Abtei während ihres Bestehens gearbeitet hat. … Die Einsichtigkeit der Betrachtungsweise wäre nun, insofern sie von der Quellengrundlage her unumgänglich ist, nicht zu tadeln, wenn man sich ihrer bloß deutlich genug bewußt bliebe. Dies ist jedoch kaum der Fall, da allgemein der Eindruck vorherrscht, als habe die Abtei neben dem Lorscher Codex und den Unterlagen, auf denen er fußt, nämlich den Originalurkunden sowie einigen kleineren Listen verschiedener Art, keine anderen schriftlichen Grundlagen ihrer Verwaltung gekannt. Auch im 12. Jahrhundert wäre für Abt und Konvent die Vorstellung von ihrer Grundherrschaft im wesentlichen nur von der ungeheuren Masse der meist aus der Karolingerzeit herrührenden Besitztitel bestimmt gewesen. Es ist leicht einzusehen, daß dies nicht so gewesen sein kann.“ Die Urkunden Arnolfs, ed. Paul Kehr ( MGH Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 3, Berlin 1940 ); and Die Urkunden Zwentibolds und Ludwigs des Kindes, ed. Theodor Schieffer ( MGH Diplomata regum Germaniae ex stirpe Karolinorum 4, Berlin 1960 ). These charters will be cited hereafter as D Arn, D Zw, and D LK, for Arnulf, Zwentibold, and Louis the Child, respectively. This is true regarding information about a large corpus of perdita even if we apply the highly limiting criteria developed by Martina Hartmann in: Die Urkunden der Merowinger, 2 vols., ed. Theo Kölzer – Martina Hartmann – Andrea Stieldorf ( MGH DD regum Francorum e stirpe Merovingica ) Hanovre 2001, p. 490, where she limits the identification of written acta to those described with one of the following words: auctoritas, c( h )arta, cessio, decretum, donatio, edictum, epistola, instrumentum, litterae, mandatum, praeceptum, privilegium, testamentum, and tomus. See, for example, Die alten Mönchslisten und die Traditionen von Corvey, 1, ed. Klemens Honselmann, Paderborn 1982; Codex Diplomaticus Fuldensis, ed. Ernst Friedrich Johann Dronke, Kassel 1950; Codex Laureshamensis, ed. Karl Glöckner, Darmstadt, 1929–1936, 1–3; and Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, 2 vols., ed. Hermann Wartmann, Zürich, 1863–1866. Regarding the value of such cartularies, as well as letter collections and narrative sources, for identifying elements of written administration, see Karl Leyser, Ottonian Government, English Historical Review 96, 1981, pp. 721–753, repr. in: Karl J. Leyser, Medieval Germany and its Neighbours, 900–1250, London 1982, pp. 68–101, here pp. 74–78. It should be emphasized, however, that Leyser’s findings were highly impressionistic. He did not provide an in-depth analysis of any one of the massive eastern cartularies, much less a detailed study of all of the information that is available concerning royal written administration in the late Carolingian or Ottonian periods. In this context, see Staab, Grundherrschaftsentwicklung ( cf. note 113 ) p. 233, where he identifies ten separate underlying texts in the Lorsch Codex running from c. 800 to the end of the eleventh century; Gockel, Königshöfe ( cf. note 18 ) pp. 96–100, for a discussion of the information provided by the for the collection of taxes by the eastern Carolingians; and Konrad Elmshäuser, Untersuchungen zum Staffelseer Urbar, in: Rösener ( ed. ), Strukturen ( cf. note 112 ) pp. 335–369, here p. 352.
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found in royal charters we are eschewing an investigation of , i. e. the motivating force behind prescriptive acta that is the focus of so many scholarly quibbles regarding the earlier Carolingian period. Instead, we are focused on documents that provide a description of how royal written administration actually functioned under Arnulf and his sons. In this context, much ink has been spilled regarding the nature of charters, in general, and on royal charters, in particular, as repositories of ideological and/or symbolic representation 120. We certainly do not deny the ideological role that certain aspects of charters, e. g. proemia, could play in presenting a glorified, or at least a very positive, conception of royal power and interests. What is crucial in the present context, however, is not whether particular charters served this ideological function in a particular situation, but whether they also contained practical information regarding the written administration of a particular fiscal resource. As numerous scholars have shown, royal charters provide just this sort of information 121. It is clear that to seek only information about ideological or symbolic presentation in an exclusive manner from documents that were multi-valent in purpose is methodologically unsound. Other scholars caught up in the notion that royal chanceries were seriously understaffed with respect to the obligations with which they were tasked, have emphasized the role played by recipients in drawing up charters 122. We certainly agree not only that 120
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For a useful summary of the historiographical tradition in this regard, going back to Ernst Percy Schramm, see Timothy Reuter, The Medieval German Sonderweg?: The Empire and its Rulers in the High Middle Ages, in: Anne J. Duggan ( ed. ), Kings and Kingship in Medieval Europe, Exeter 1993, pp. 179–211. Crucial in this regard are the observations by Zotz, Beobachtungen ( cf. note 112 ) p. 70–80, who states with regard to obtaining information about the organization of estates: „ … vor allem aber die Königsurkunden mit ihren schon erwähnten zahlreichen Schenkungen, meist zwar sehr schematisch angelegt, aber bei näherem Zusehen doch auch für die hier interessierende Fragestellung wenigstens teilweise ergiebig.“ In this regard, we take issue with the argument by Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) p. 286, who concludes that the royal government produced very few documents because Charles the Bald may have had only four scribes at any one time working at the royal court. Nelson draws this conclusion on the basis of the observations by Georges Tessier, Recueil des Actes de Charles II le Chauve, 3 vols., Paris 1943–1955, III: pp. 46–91. In light of the documentary sample available to Tessier, it seems methodologically unsound from a statistical perspective to conclude there were an average of only four to five scribes working at Charles’ court at any one time. In sum, Tessier has been able to identify 461 extant royal charters issued by the government of Charles the Bald over a period of 37 years. Any careful reading of these surviving acta make clear that many hundreds more were issued but are no longer extant, as Tessier recognizes, 91. Of these 461 charters identified by Tessier, he concludes that 111, or fewer than twenty-five percent, survive as originals. On the basis of the total number of supposed originals, Tessier suggests that there were only twenty-two separate hands, and, therefore, only twenty-two scribes serving at the court of Charles the Bald over the course of 37 years. There is no way that these twenty-two hands, even if accurately identified, can in a statistical sense represent either the sum total of the scribes who wrote the 461 known charters, or the many hundreds of charters that are now lost. This criticism is sustained by the chronological distribution of the putative originals which, in many cases, result in only one scribe being identified at the court in a given year, or some cases in which the lack of any surviving originals, using Tessier’s reasoning, requires that there were no scribes operating in court in that year. Furthermore, Tessier’s argument regarding the small numbers of scribes employed by Charles II at any one time seems unlikely, on practical grounds, in the face of the enormous volume of documents that Nelson, herself, identifies as having been written up on a regular basis by the chancery office under Charlemagne and his successors unless, of course, we are to believe that the people who drew up
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this may have happened from time to time for reasons that are not in evidence, but also that the recipient may, on occasion, even have provided the parchment upon which the charter was written. However, the employer of the clerk or notary who drew up the charter containing information regarding the written administration of a royal fiscal unit is not at all relevant in the present context 123. What is at issue is whether the detailed written information regarding the particular royal estate was accurate. Insofar as the charter was intended to convey real possession of a real property or resource, it was in both the recipient’s interest and in the interest of the king that this information be not only accurate, but, indeed, precise so as to avoid future litigation that might involve the recipient or perhaps even the king. As numerous acta make clear, especially those that included word maps, both precision and accuracy were at a premium 124. A second point that requires emphasis here is that even if a particular recipient can be shown to have had his notary or scribe drawn up a particular charter, this in no way diminishes the scale of written documents required for the internal administration of the fisc. In this context, it is important to emphasize that the writing out of a highly ornate display charter complete with royal seals, which undoubtedly were intended to have ideological or symbolic as well as practical applications, was entirely different in kind from the writing up of quick and ready, time-conditioned administrative documents and writs, of the types identified by Eric Goldberg for the reign of Louis the German, which had a largely practical rather than symbolic application 125. RECORDS OF THE ROYAL FISC
In June of 888, very shortly after becoming king, Arnulf, whose main base of power was in Carinthia, issued a charter on behalf of the chapel of St. Mary in Aachen. In this act, he granted revenues from forty-three royal fiscal units in which it is made clear that the structure of the royal fisc, discussed above, was being maintained by
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charters did not do the other types of written administrative tasks identified by Nelson. Indeed, Tessier’s number seems rather ridiculously low if we consider, for the sake of comparison, the situation that existed in the early eleventh century in the relatively poor frontier bishopric of Merseburg during the episcopate Thietmar. In the period 1013–1018, Thietmar had available no fewer than eight episcopal clerks to whom, among other matters, he dictated portions of his Chronicon. Regarding this point, see Robert Holtzmann, Über die Chronik Thietmars von Merseburg, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 50, 1935, pp. 159–209, here p. 168; with the recent discussion by David S. Bachrach, Memory, Epistemology, and the Writing of Early Medieval Military History: The Example of Bishop Thietmar of Merseburg ( 1009–1018 ), in: Viator 38, 2007, pp. 63–90, here p. 71. In sum, it is rather far-fetched that the ruler of the wealthy West Frankish kingdom, whose administration was vast and productive, employed on average one-half of the number of scribes as a frontier bishop in the German kingdom. For an example of the recipient of a royal charter providing the scribe, see, for example, Heidecker, Communications ( cf. note 10 ) p. 103 s.; and Nicholas Brousseau, Die Urkunden Ludwigs des Deutschen, in: Wilfried Hartmann ( ed. ), Ludwig der Deutsche und seine Zeit, Darmstadt 2004, pp. 97–119, who argues that while Louis maintained a standard form for charters issued by his chancery, Charles the Bald frequently had charters written out by the recipients. For a discussion of the use of word maps for specifically military purposes, see Bachrach, Charlemagne ( cf. note 71 ) p. 336 s., n. 90, 91. Goldberg, Struggle ( cf. note 9 ) p. 216.
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Louis the German’s successors 126. Arnulf calls attention to the fact that some of the lands of the royal fisc, referred to here as villae, were held directly by the king and in royal possession, i. e. in regis dominium. He also calls attention to the fact that some villae belonging to the royal fisc, treated in this document, also were held as beneficia by royal vassals, i. e. quibuslibet personis beneficientur. Arnulf further makes clear that he is wellpositioned to give direct orders not only to the stewards ( ministri ) who administer the villae that were under direct royal control, but also that he gave orders to the stewards of the villae that were held from him as beneficia 127. It bears repeating that detailed instructions addressed by the central government to the ministri of the fiscal villae are denoted in capitulary de villis, as shown above, as written documents. In addition to demonstrating the continued functioning of the bi-partite structure of the royal fisc, this charter also provides considerable detail regarding how the written administration of both the central government and of each villa functioned. First, Arnulf identifies by name forty-three villae belonging to the royal fisc, some of which, as noted above, were under direct royal control and some of which were held as beneficia by royal vassals. The availability to the king of this list of forty-three villae surely permits the inference that these were not the only royal estates concerning which the central government had such detailed written information. Other documents, dealt with below, sustain his inference. Indeed, consistent with the information known to have been available to Charlemagne and his successors, it would seem likely that the central government of the later Carolingians in continued to possess a lengthy list of villae, which included an inventory of land and human resources, belonging to the royal fisc 128. The context in which the forty-three villae, under consideration here, were of interest to Arnulf, at this particular time, provides considerable additional direct and indirect information regarding the documentary basis of royal fiscal administration. This charter was issued by Arnulf as a confirmation of an earlier grant to the chapel of St. Mary of one-ninth ( pars nona ) of the annual gross product ( omnis conlaboratus ) of
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For the grant, see D Arn 31 This royal act does not survive in a sealed original. However, there is general agreement that copies made are authentic in all of their aspects. See the thorough diplomatic analysis by Paul Kehr, the editor, p. 45–6. D Arn 31, de nominatis iam XLIII villis, de omni conlaboratu dominii nostri et speciali peculiare omnium animantium et iumentorum seu ex omni censu quarumcumque rerum pars nona a ministris ipsarum villarum, sive in regis dominium sint sive quibuslibet personis beneficientur, absque negligentia iugiter tribuatur. In this context it is worth noting the observation by Wilhelm Störmer, Heinrichs II. Schenkungen an Bamberg: Zur Topographie und Typologie des Königs- und Bayerischen Herzogsguts um die Jahrtausend-Wende in Franken und Bayern, in: Lutz Fenske ( ed. ), Deutsche Königspfalzen: Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, 4, Pfalzen – Reichsgut – Königshöfe, Göttingen 1996, pp. 377–408, here 402. Störmer argues, with regard to the need for written portfolios that provided detailed information regarding fiscal possessions that: „Es ist eigentlich nicht möglich, daß der König und seine Kanzlei diese zahlreichen Orte aus dem Gedächtnis kennen konnte. Geht man in diesen Fällen nicht von Fälschungen im Sinne Faussners aus – eine diesbezügliche Klärung könnten m. E. nur die Historischen Hilfswissenschaften erbringen –, so kommt man ohne die Annahme von entsprechenden Vorlagen nicht aus. Das heißt im Klartext, daß Heinrich II. über eine Art Besitzverzeichnis der entsprechenden niederbayerischen Herzogs-bzw. Königsgüter schon vor 1007 verfügt haben mußte.“
Continuity of written administration
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each of the villae named in the charter 129. This annual gross product included crops, animals, and all sources of monetary income. Thus, it is obvious that in order for the stewards of the forty-three villae to provide the pars nona to St. Mary, each minister had to have a record of the gross product of his villa on an annual basis. This type of account, as noted above, had been required by Charlemagne, as well as by his successors including Louis the German. Indeed, the term, omnis conlaboratus, was used by the authors of the capitulary de villis to denote the production of the royal estates held by the government no later than the first decade of the ninth century and perhaps as early as 771 130. For the officials of the chapel of St. Mary to know that they were receiving the stipulated ninth and not some lesser percentage of the annual production of these villae, and for the king to know that his orders had been obeyed, both parties, the royal court and the beneficiary, needed copies of the annual inventory of production that the steward was required to compile 131. The information at issue here was to be found in a matrix of documents of the type that each steward was required by the regulations in capitulary de villis to present to the royal court at Christmas time. Further, if Arnulf were to know if the required inventory, compiled by the minister of each villa, was accurate, it was necessary, as Charlemagne had emphasized, for agents from the central government to check the steward’s accounts through an inquest at the villa, itself. This, of course, was the inquest process that was employed on a massive scale in a rather short period of time by the missi of Lothair, Louis the German, and Charles the Bald when they inventoried and recorded the facultates of the entire Carolingian empire that were to be allotted to each principal by the Treaty of Verdun in 843. This inventory, of course, included many of the royal estates later held by Arnulf 132. As with any agricultural enterprise, the gross annual output of each estate varied from year to year. Natural contingencies such as droughts, rainfall, cold spells, heat spells, as well as insect infestations and diseases, both those that effected crops and those that affected livestock, all could have an impact on overall production. In addition, some of the sources of revenue from royal estates came from goods, such as honey, clothing, and manufactured items, that were produced on a year-round basis. As a result, it was necessary not only to make a new inventory each year, but to keep running totals of production over the course of the year. This was also true of market taxes and tolls that were attached to some royal fiscal units 133. These administrative steps 129
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This grant of a ninth of the revenue from these royal villae should not be confused with the rent of ‚ninths‘ and ‚tenths‘ paid by the holders of precarial lands to the ecclesiastical institutions who held these in proprium. See Constable, Nona et Decima ( cf. note 82 ) passim. Concerning the use of the term conlaboratus as the standard technical term for the overall production of an estate which also is to be found in capitulary de villis, see Metz, Reichsgut ( cf. note 18 ) pp. 66 and 129. On this point, even a scholar such as Manfred Stimming, Das deutsche Königsgut im 11. und 12. Jahrhundert, 1, Die Salierzeit, Berlin 1922, p. 29, who was pessimistic concerning the use of written records by fiscal officials, regarded it as necessary that the king had a good idea of the resources and income of the fisc so that he could be in a position to grant fixed percentages to recipients. Ganshof, Genesis ( cf. note 48 ) passim. Cf. D Arn 142, D Zw 26, D LK 2, 57, 64. With regard to tolls in the Carolingian period, also see François Louis Ganshof, A propos du tonlieu à l’époque carolingienne, in: La città nell’alto medioevo ( Settimane di Studio del centro italiano di studi sull alto medioevo 6 ) Spoleto 1959, 485–508; Reinhold Kaiser, Teloneum Episcopi: Du tonlieu royal au tonlieu épiscopal dans les civitates de la Gaule ( VIe–
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had been required by Charlemagne, and undoubtedly had to be carried out by the ministri, who served as stewards in the forty-three villae listed in the grant of income to St. Mary’s chapel at Aachen. It must be emphasized that Arnulf ’s grant required that a pars nona be paid to the chapel on the basis of a year’s production and not upon some fictive quantity that would be operative regardless of the success or the failure of the annual harvest, the fecundity of various animals that were bred and raised on the estates of the each of the villae, or the productivity of the manufacturing units within the villae. It may be noted that the forty-three villae, discussed above in regard to Arnulf ’s act of June 888, dealt with lands of the royal fisc in the western parts of Francia orientalis, which, of course, was part of the Carolingians’ Frankish heartland 134. It should be emphasized, however, that the imposition of traditional Carolingian fiscal administration further to the east, as noted above, was continued by the later Carolingians. Thus, for example, in November 889, King Arnulf issued a charter to Bishop Arn of Würzburg ( 855–892 ) with regard to royal estates that had been developed under royal aegis in partibus orientalium Francorum vel de Sclavis 135. It is to be noted that the people living in these eastern lands maintained a very different culture from those who dwelt in the more westerly regions of what would become the German kingdom, where Latin was still a living language and Latin documents were the norm. In that part of the territory of the Slavs that was dominated by the Franks, Latin was a learned language taught at school that had to be adopted for administrative purposes by government officials 136. Arnulf ’s act dealing with royal estates in the eastern regions of his realm was, nevertheless, similar in many ways to the act he had issued earlier for the chapel of St. Mary at Aachen. In the later act, Arnulf confirmed to Bishop Arn, ten percent ( pars decima ) of the total annual production of twenty-three villae named in the charter 137. Thus, all of the <paper-work>, at least in duplicate, and probably in triplicate, that had to
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XIIe siècle ), in: Paravicini – Werner ( eds. ), Histoire comparée ( cf. note 1 ) pp. 469–485; Alain Stoclet, Immunes ab omni Teloneo: Étude de diplomatique, de philologie et d’histoire sur l’exemption de tonlieux au haut Moyen Age et spécialement sur la Praeceptio de navibus, Brussels – Rome 1999, pp. 45–86; and now Neil Middleton, Early Medieval Port Customs, Tolls and Controls on Foreign Trade, in: Early Medieval Europe 13, 2005, pp. 313–358. This is an exceptionally important and well known charter because of the very large number of villae that are listed by name. Several of the villae, such as Longlier ( Longolare ) were the possession of Frankish kings as early as the Merovingian period, and served as royal palatii. Other villae, such as Baelen ( Bailus ) appear for the first time in the surviving written record in this charter. This text, therefore, makes clear not only that the region marked by the Meuse, Moselle, and lower Rhine valleys, in which these villae were located, remained a central pillar of royal resources, but also that successive Carolingian kings had worked to expand these resources over the course of the ninth century. The original grant by Lothar II does not survive. Regarding the continuity and even expansion of royal resources in the middle Rhineland under the later Carolingians, see Gockel, Königshöfe ( cf. note 18 ) passim. D Arn 69. Goldberg, Struggle ( cf. note 9 ) pp. 179–181. D Arn 69, vir venerabilis Arn episcopus Vuirziburensis aeclesiae nostris obtulit obtutibus quaedam praecepta antecessorum nostrorum Pippini et Karlomanni nec non et Hludovuici augusti, in quibus continetur, qualiter ipsi pro suae mercedis augmento ad basilicam sancti Salvatoris … decimam tributi, quae de partibus orientalium Franchorum vel de Sclavis ad fiscum dominicum annuatim persolvere solebant, quae secundum illorum linguam steora vel ostarstuopha vocatur, ut de illo tributo sive reditu annis singulis pars decima ad predictum locum persolveretur sive in melle sive in paltenis seu in alia qualibet redibitione, quê, ut diximus, de pagis orientalium Franchorum persolvebatur.
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be produced and the administrative controls that were in place to assure proper functioning of the grant to St. Mary, also had to be in place to assure the proper functioning of the grant to Bishop Arn from lands located in territories where large numbers of Slavs lived. There is only one major difference between the substance of these two acta. The grant of income to St. Mary was provided, in part, from royal fiscal units that were under direct government control and also from royal fiscal units that were held as beneficia. The grant to Bishop Arn of Würzburg was paid out from the resources only of villae dominicae, that is units under direct royal control. The process of producing administrative reports by each villa of the royal fisc for the central government continued under Arnulf ’s sons, Zwentibold and Louis the Child. For example, Zwentibold granted to the episcopal church of Utrecht in June 896, one entire tenth ( omnis decima ) of what was produced annually from the king’s terrae that were located within the diocese of Utrecht 138. For this purpose, Zwentibold required the same type of detailed information that Arnulf had needed to make the grants, discussed above, to the chapel of St. Mary at Aachen and to the bishopric of Würzburg. It may be noted that this charter also provides additional information regarding the detailed records kept by Zwentibold’s central government. For example, the king granted to the bishopric of Utrecht one-tenth of the all of the tolls ( telonea ) and all of the market taxes ( de negotio ) that were owed to the royal government by merchants who did business at Dorestad 139. This grant concerning the toll income from Dorestad was a confirmation of an act originally made by Pippin, prior to his becoming king in 751, and which both Charlemagne and Louis the Pious also had confirmed. However, more important in the present context, is the fact that Zwentibold made an addition to the previous grant by including ten percent of the tolls and taxes that were collected each year from merchants by royal officials based at both Deventer and Tiel 140. These additions make clear that Zwentibold was not engaged in a pro forma process of confirming acta already in the royal archives but rather was making decisions on the basis of real-time conditions that were recorded in yet other documents that also were kept in the royal archives. Indeed, Zwentibold’s records concerning Tiel likely included information about fiscal incomes that had not existed a century and more earlier 141.
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D Zw 9, … omnem decimam de mancipias, terris et de teloneis vel de negotio et de omni re, undecumque ad partem regiam fisci teloneum accipere aut exigere videbatur. This grant is not be confused with the grant of tithes due from royal properties, which also were subject to written administrative practices. D Zw 9. D Zw 9. It should be emphasized that even if the king were to make a <pro forma> confirmation of an earlier grant, it was necessary for the royal government to have a copy of the act to be confirmed so that the copy of the beneficiary could be checked for accuracy. It should also be noted that at the time that Pippin made his original grant to the bishops of Utrecht, the commercial trading center at Tiel was far overshadowed by its better-established neighbor at Dorestad. Regarding Tiel’s emergence following the decline of Dorestad, see for example, Herbert Sarfatij, Tiel in Succession to Dorestad: Archaeology in the 10th- to 11th-century Commercial Centre in the Central River Area of the Netherlands, in: Herbert Sarfatij – H. J. H. Verwers and P. J. Woltering ( eds. ), In Discussion with the Past: Archaeological Studies Presented to Willem A. van Es, Zwolle 1999, pp. 267–278.
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Bernard S. Bachrach – David S. Bachrach ARCHIVING FISCAL RECORDS
In order for the acta discussed above to have been executed, it was necessary for the royal government to keep a portfolio or dossier for each royal estate. This was the case whether the villa was administered directly by the central government or was being held as a beneficium by a royal vassal. The information regarding the grants of property in beneficium was, of course, particularly important in each case to several individuals. First, the minister of the fiscal unit from which the property or resource was withdrawn had to be informed. The minister obviously could not be put in a position of trying to access revenues from, or issuing orders with regard to a property over which he no longer had jurisdiction. Moreover, in the annual report of the income from his villa, of the type discussed in detail above, the minister also had to report, as required by capitulary de villis, why it was that he no longer had revenues from the property that had been granted as a benefiicum. The fiscal officials attached to and working from the royal court also required information regarding the transfer of fiscal resources as beneficia to royal fideles. First, this was necessary so that these court-based officials were not confused by information in legitimate reports by ministri, and also so that they could deal effectively with fraudulent reports by ministri. Equally important, it was crucial to maintain an institutional memory in writing of the grant of particular fiscal resources so that the same facultates were not granted in error to more than one recipient 142. An enlightening example of this type of institutional memory can be seen during the transition in power following Arnulf ’s coup d’état in 887. At some point during the previous eleven years, Charles III made an agreement with Archbishop Liutbert of Mainz ( 863–889 ). The original text of the actum, in which the emperor granted lifetime usufruct of the monastery of Herrieden to the archbishop, is no longer extant. An additional clause in the original agreement was that a royal fidelis named Hatto was to receive lifetime usufruct of this monastery, if Hatto outlived Archbishop Liutbert 143. On 27 November 887, just a few months after his coup d’état against Charles, Arnulf made a new agreement with Archbishop Liutbert. Arnulf exchanged the lifetime usufruct of the royal fiscal property consisting of the monastery of Ellwangen in return for the monastery of Herrieden, then being held by Liutbert according to the terms of the original grant by Charles III. In addition, Arnulf permitted Charles’ fidelis Hatto to enjoy lifetime usufruct of Ellwangen if he should survive Liutbert 144. What is crucial to keep in mind, in the present context, is that Arnulf and his fiscal officials were aware of the status of the monastery of Herrieden, i. e. they did not consider it either as an allodial possession of Archbishop Liubert, personally, or as a possession of the archiepiscopal church of Mainz, but rather as fiscal land granted out as a beneficium many years earlier. The fact that Arnulf and his advisors had this information available al142
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Numerous documents, in the proemia, made clear that the information they contain was written down because human memory fades, thus institutional memory is written memory. For a discussion of the role of written documents in sustaining accurate institutional memory over time, see Bachrach, Memory ( cf. note 121 ) particularly p. 63–70. A summary of the agreement between Charles III and Archbishop Liutbert is contained as a fragmentum in D Arn 1. D Arn 1.
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most immediately upon assuming the throne is confirmed, in part, by the actions of Archbishop Liutbert. The prelate did not attempt to fool the king by representing Herrieden as anything other than a royal fiscal property that he held as a lifetime grant through a written charter 145. It should be noted that the monastery of Herrieden was located in Franconia, very far from Arnulf ’s own base of operations in the south-east, so that there is no reason why the new king, or any of his closest advisors, should have been aware, on the basis of personal experience, regarding the details of the status of the monastery as fiscal property 146. The fact that Arnulf succeeded his uncle as the result of a coup d’état, also should serve to focus our attention on the institutional, or perhaps transpersonal, nature of record keeping in the government of the eastern Carolingians 147. Among the types of documentation kept in each dossier, in addition to annual reports provided by stewards of the type discussed above, and the name of the recipient of the property if it were granted in beneficium, was a verbal map of all of the territory that was part of the villa. When a villa or even part of a villa that belonged to the royal fisc was granted as a beneficium or even as a gift in proprium, a description of the land in question was made part of the charter by which the grant was made. For example, when in December of 889, King Arnulf granted fiscal property consisting of forest land, which was part of the curtis of Weissenburg that, itself, belonged to the royal villa of Weissenburg, to the episcopal church of Eichstätt, the following description of the grant was included in the charter: ‚On the first side, it [ the forest land ] runs south along the road that goes from Bieswang [ east of Pappenheim ] to the spring that is in the middle of the field that is called Hiruzfeld and then along this same road to Salahindfeld. From there the road goes to a place called Helmrihheswinchil and then to the hall [ Teufelmauer located between Ober-Hochstatt and Burgsalach east of Weißenburg ]. From the hall, the boundary runs east up to the boundary with Nordgau just as the aforementioned count [ Ernst ] held the forest land in this area‘ 148.
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The body of the charter does not indicate whether the trade was proposed by Liutbert or by Arnulf. The monastery is identified as being in Francia in pago Swalavelda sitam. See D Arn 1. The existence of written records at court concerning the grant of fiscal properties as beneficia can be seen in numerous other documents as well. For example, in early January 888, Arnulf made a grant of the curtis of Neuhofen in the Traungau to the monastery of Kremsmünster. See D Arn 7. However, two earlier grants of property from this curtis had already been made, one to the abbot of Kremsmünster named Snelo, and a second to a royal fidelis named Burchard. In addition, the actual grant to the monastery makes clear that among the facultates of the curtis are those properties currently being held as beneficia by still other royal fideles. All of this information was available to the clerk who originally drew up the charter for Kremsmünster. For other examples of references to previous holders of particular properties as beneficia, see D Arn 14, 21, 28, 48, 54, 60, 64, 70, 77, 81, 87, 91, 95, 97, 98, 104, 134, 138, 144, 156, 159, 171, 173, D Zw 1, 8, 21, D LK 4, 18, 25, 30, 34, 38, 48, 59, 60, 67, 73, 76, 77. D Arn 72, inprimis de via quae ducit de Binuzwangen a meridie in fontem illum, qui est in medio campi qui dicitur Hiruzfeld, et inde per eandem viam in Salahinfeld, exinde vero in locum qui dicitur Hiruzfeld, et inde per eandem viam in Salahinfeld, exinde vero in locum qui vocatur Helmrihheswinchil et inde in illum Phal et sic per ipsum Phal in orientem usque in illam communem marcham Nordgauensium, veluti hactenus praedictus comes in ea parte ad forestum in vestitura habuerat. Noteworthy, in this context, is the fact that Arnulf ’s clerks used the same types of word maps for describing fiscal properties granted by his predecessors to recipients in Italy. See, for example, D Arn 125, where Arnulf confirmed in 894 the properties granted to the bishopric of Parma by Louis II, Karlmann, and Charles III.
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In this case, as is clear from the text, the forest land in question had been held as a beneficium by the comes Ernst. The verbal map of this property dates, therefore, back to the grant to Ernst, which is no longer extant, but which undoubtedly predated Arnulf ’s accession in 887. In this case, the grant of property to the monastery of Eichstätt again sheds light on continuity in institutional memory between the officials serving Arnulf and those who served his deposed uncle. Also worthy of note in this context is the use of the pagus boundary of Nordgau as being sufficiently permanent in nature so as to serve the same boundary function as the well-established via that ran from Bieswang. Although beyond the scope of this present study, the permanence of fixed pagus boundaries not only from reign to reign, but even from dynasty to dynasty is another element of written administration, including the wide-use of word maps, that would benefit from substantial further investigation. A considerably less detailed verbal map, at least as compared to the text just cited, is to be found in one of Zwentibold’s charters, which was issued in November 896 for the monastery of Stablo. In this act, the king granted a small piece of land ( paululum terre ) located nearby the monastery’s villa of Lierneux 149. The description runs as follows: ‚on one side it [ the boundary ] climbs the hill at Perreux. On the second side it [ the boundary ] leads to their field ( campus ) at Langlire. On the third side flows the Fontenaille [ located to the southwest of Stablo ]‘ 150. Clearly, in this case, the relatively brief word map used to describe the addition of a small property that already abutted a field owned by Stablo on the fourth side was considered sufficient for future administrative purposes by Zwentibold’s officials, and also by the monastery of Stablo whose royal protections and immunities would now apply to this property as well. In addition to maintaining verbal maps of all lands that belonged to each villa of the royal fisc, whether maintained directly by the central government or held as a beneficium, a great deal more data also was included in each estate record. This information was available for clerks who drew up charters for the king, whether they were employed at the royal court directly or by the recipient of the royal charter, who obviously would be given access to these data. For example, on 26 December 888, Arnulf agreed to the request made by one of his ministeriales, a fidelis named Heimo, to grant to the latter’s wife, Miltrudis, in proprium, a total of nine hobae ( Latin mansi ) belonging to the royal fiscal unit, which was located at Ramseiden in Saalfeldgau. Included in this grant were fifteen mancipia, who were attached to these royal fiscal lands. Of considerable interest with regard to the information that was available to the royal government, the name of each of these fifteen mancipia was included in the grant of the nine hobae regiae 151. It is obvious that the royal court also knew, in addition to the names of these mancipia, where they were living at the time the grant was made. Given the life cycle of mancipia this was certainly zeitbedingt information 152. Servile dependents, such as mancipia, were not the only people attached to royal villae, whose names were kept in the gov-
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D Zw 12. D Zw 12, scilicet una parte mons Preuz surgit, ex alia vero via ad campum eorum Anglariam ducens, et ex tercia Fundisneias vocatas defluit. D Arn 42. In this case, the mancipia were almost certainly unfree dependents living directly on the central demesne upon which they performed agricultural labor.
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ernment’s records. In June 888, for example, Arnulf approved an exchange of properties between Otto, the father of the future King Henry I, and the monastery of Corvey 153. In this case, Otto wished to trade royal fiscal properties, described here as beneficiatae, to Corvey to be held in permanent usus but not proprium by the monks. In return, the monastery was to hand over in ius to the king a substantial quantity of property that the king would then pass on in beneficium to Otto. In keeping with the traditional royal policy of recording in detail all royal assets, even those that were only to be held by the king in usum and, moreover, to be granted out in beneficium, the charter then records the numbers and legal status of the dependents now coming into possession of the royal fisc, as well as the properties that they held, in each of the fourteen settlements in which they were located. These dependents included scores of semi-free laeti as well as free coloni who held in possessio just under 120 mansi. The monastery also is recorded to have handed over the sixth part of a salt pan, the eighth part of an entire marca centered on the settlement of Sladforde, and eight mansi that were held as part of the beneficium of the advocatus of Corvey 154. Records regarding the contents of royal fiscal properties were also used in drawing up charters during the reigns of Arnulf ’s sons. In August 901, for example, the regents, who guided the reign of Louis the Child, oversaw a grant from the royal fisc of hoba una ad opus nostrum located at Burgkirchen ( south of Altötting in Upper Bavaria ) to the chapel of Ötting. This grant of a single mansus included a family of servi. The names of the father and mother are both given in the charter 155. A month later in September 901, Louis’ regents oversaw the grant of a iugum of wine-producing land to a monk named Ekkebert, who was a member of the community of St. Emmeram at Regensburg. Included in this grant were five vintners, who were attached to this property. Each man is named in the charter 156. These two documents, which are but a small sample of the extant records from Louis’ reign, help to illuminate the fact that the clerks who drew up royal charters had detailed and time-conditioned information not only about major fiscal holdings, but also about very minor properties, including those comprising but a single hoba and its inhabitants. THE CONFISCATION OF BENEFICIA
Close control over the villae of the royal fisc that were granted out in beneficium was maintained by Charlemagne and his successors through the reigns of the last of the eastern Carolingians, as seen above, by the fact that the ministri of these villae often were employed by the central government rather than by the benefice-holder. However, even in those cases where a benefice-holder employed his own steward or personally oversaw the organization of his estate, the Carolingian government still had consider153 154 155
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D Arn 28. Ibid. D LK 10, … hobam unam ad opus nostrum hactenus in loco qui dicitur Pohchirihha pertinentem cum habitatore desuper habitante Rodgrim nominato suaque uxore nomine Rihhit ac filiis eorum. D LK 11, … in pago Westermann in comitatu Liutpoldi prope villam que dicitur Matingan, id est in adiacenti monte iugerum unum ex vineis positum, quod isti vinatores nostri Germunt, Rodheri, Frumolt, Ellinhart, Gozmar annuatim laborare dionscuntur, iure perenni in proprietatem concessimus. For other examples of the possession by the royal court of detailed knowledge regarding fiscal properties, see D Arn 7, 33, 38, 51, 57, 73, 104, 115, 116, 117, 125, 158, 172; D Zw 16, 22; D LK 10, 11, 25, 35
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able information available about the property in question. When the holders of beneficia were seen by the government to have failed in their duties to the king, this information was used to facilitate the confiscation of these estates. The two major causes for confiscation, as the acta of the later Carolingians make clear, were the failure of the royal vassal to develop the economic resources of his beneficium, as the government of Charlemagne had required, or his failure to carry out the service required of him in a faithful manner. A particularly forthcoming charter granted in the name of Louis the Child in February 909 provides information regarding a royal vassal named Routhard, who held a villa at Enkirch ( located in the modern district of Bernkastel-Wittlich ) in beneficium from the king. According to the document, the court learned that Routhard ‚had neglected his lands.‘ As a result they were confiscated by the government 157. Apparently, the court was informed of Routhard’s sloth by Archbishop Ratbod of Trier, who likely was acting in the capacity of a missus of the king. As seen earlier in the Carolingian era, missi dominici were charged by the king with carrying out inquests of all types, including on lands held by royal vassals as benefices. The fact that Ratbod is not referred to specifically in this act with the quasi official title of the king’s missus should not be thought to undermine the view that he gained the relevant information concerning Ruothard’s benefice while carrying out an inquest 158. What is crucial to keep in mind in this context, moreover, is that the ability of Louis’ government and its agents to confiscate a beneficium ipso facto required that royal officials have the kinds of detailed information regarding the boundaries, dependents, and contents of the fiscal unit concerning which Charlemagne had required comital vicarii to keep detailed records 159. A much more serious delict than the neglect of a beneficium by a royal vassal was the failure to carry out one’s military duties or even to act treasonously against the king. Thus, for example, Louis the Child’s regents oversaw the trial of two royal fideles, named Adalhart and Henry, each of whom held a villa as a beneficium from the king. Following their conviction for having perpetrated a ‚great iniquity‘ against the king and according to the ‚judgment of the Franks, Swabians, Bavarians, Thuringians, and Saxons executed in a legal manner,‘ their benefices were confiscated by the central government and ‚returned to royal possession‘ 160. In considering this episode, it must be recalled that in all cases of confiscation, the royal government had to know exactly what resources pertained to the beneficium so that everything that was due to the fisc could be reclaimed by the fisc. It was also in the interest of the beneficiary that the court have a 157 158
159
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D LK 159, quas praefatus Ruothardus habuit ac etiam quas suo neglectu ademptas comperti sumus. It is a widely discussed feature of later Carolingian history, particularly in the East, that royal missi do not appear to have been used as frequently as had been the case under Charlemagne. Nevertheless, it is clear that Louis the German did dispatch missi regularly. See Goldberg, Struggle ( cf. note 9 ) p. 222. There is no reason to suspect that his successors failed to act in a similar manner. What is required, in this context, is a thorough investigation of the means by which Carolingian kings in the East projected their presence outside the boundaries of the royal court and royal itinerary. Some methodological observations regarding the employment of de facto permanent missi by Charles III are made by MacLean, Kingship ( cf. note 9 ) pp. 76–78. See Capitula de causis diversis ( cf. note 102 ) ch. 4, with commentary by Nelson, Literacy ( cf. note 1 ) p. 285, who argues that these lists were drawn up, and criticizes Ganshof for his pessimism on this point. D LK 23, … ob nequitiae eorum magnitudinem iudicio Franchorum, Alamannorum, Bauvoariorum, Thuringionum seu Saxonum legaliter in nostrum ius publicatae sunt.
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copy lest overzealous officials demand too much. In the case of Adalhart and Henry, the documents make clear that their villae contained properties that were located in five separate pagi 161. Moreover, these pagi were under the jurisdiction of no fewer than four and more likely six counts 162. Finally, these pagi were distributed over a wide region. In addition to the three middle-Main pagi of Gozfeldgau, Volkfeldgau, Iphgau, located near Würzburg, a fourth pagus, Badanachgau, was at the confluence of the Main and Tauber, while the fifth pagus, Grabfeld, was located in northern Thuringia, between the Werra and the Fulda rivers. As a consequence, the only people with a general overview of the entire set of properties in question were royal officials with access to the dossiers of beneficia that had been granted to the king’s fideles over time. The only other individuals who would have had access to detailed information regarding the extent of their beneficia were the two convicted traitors, who certainly would have had no interest in being forthright with investigators if the latter had no records against which to test their testimony regarding the extent and nature of their holdings. REGRANTING BENEFICIA
As discussed above, it was the norm for the early Carolingians and their successors to grant to each count a beneficium so that he could use the income to help him to defray the costs of administering his officium. This beneficium was composed of estates that belonged to the royal fisc. Such beneficia in the documents of those later Carolingians, who ruled in Francia orientalis, often were called the comital ministerium 163. Thus, for example, Count Adalbert, held from the royal fisc quasdam re iuris nostri as his ministerium, identified as the villa of Eschingen in Baargau 164. In June of 889, King Arnulf took the decision to repossess this villa and then to regrant it to the monastery of Reichenau 165. The confiscation of a beneficium held from the royal fisc required that the contents of the villa be inventoried. The results of this inquest then had to be checked against the records in the files at the royal court so that the government could be certain that all of the assets, as in the case discussed above, which belonged to the villa of Eschingen, had been repossessed prior to their being regranted. A sense of how much effort was required in such cases, even when properties were located in a relatively 161 162
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D LK 23. The counts, whose names are known, are Conrad in Gozfeldgau, Hesso and Pappo in Volkfeldgau, and Egino in Badanachgau. Some noteworthy changes in terminology took place under the later Carolingians in the East. Civitas, the traditional term for county, which often was maintained in the West, was largely abandoned in documents pertaining to the East. It was replaced by pagus, which also had the meaning of a segment of what previously was a civitas. Also the term comitatus was used in documents in the East to denote the administrative district overseen by a comes, which could include several pagi. However, comitatus originally had been used in documents to denote the beneficium held by the count from the royal fisc to help provide support for the administration of the county. This term, as noted above, frequently was replaced by ministerium in the East. D Arn 48. Count Adalbert had his center of administrative competence in a region known as Skerra otherwise known as the Schergau located between the upper reaches of the Danube and the Neckar rivers in modern Württemberg. D Arn 48.
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small geographical area, is illustrated by a situation concerning a benefice that was held by a nobilis vir named Hochwart, which King Arnulf repossessed in August 889. Hochwart’s beneficium was composed of at least 25 hobae ( Latin mansi ) divided among four villages in the Weitgau region of Westphalia and were distributed over an area of some forty kilometers southeast of the monastery of Corvey. Thus, before Arnulf regranted this confiscated beneficium to Abbot Bobbo of Corvey, all four villages had to be inventoried 166. As in several other cases, discussed in detail above, the grant of the beneficium to Hochwart may well have antedated Arnulf ’s accession, so that we may be seeing yet another example of institutional memory across reigns, i. e. long-term written record keeping. MAINTAINING GOVERNMENT RECORDS
All students of medieval history have heard about how King Philip II of France ( 1180–1220 ) lost a substantial part of the government’s archives when the wagons in which they were being hauled, as part of the royal baggage train, were swept away by a sudden flood 167. This story illustrates two important points. First, it is generally agreed that Philip, like King Henry I of England ( 1100–1135 ), maintained a bureaucratic kingship and thus needed many of his records close at hand 168. Secondly, despite what is generally regarded as massive progress in royal record keeping since the early Middle Ages, a great many of the essential documents required for the operation of the French royal government could be hauled in a few wagons as part of the king’s baggage train 169. There are indications in some of the documents issued by Arnulf, Zwentibold, and Louis the Child that like later rulers in France, the later Carolingian kings of Francia orientalis also transported a <working archive> in their baggage train. The charter, discussed above, that was issued by Arnulf for Miltrudis, the wife of the king’s fidelis and ministerialis Heimo, on 26 December 888, is particularly forthcoming in this context. First, it is to be noted that the royal villa at Ramseiden, from which nine hobae were granted to Miltrudis, was located in the Saalfeldgau, which is in the region of Salzburg. However, when Arnulf made this grant to Miltrudis, he was celebrating Christmas at Karnburg in Carinthia, which is located about 240 kilometers southeast of Ramseiden as the crow flies, and further by road. To put it simply, it is more than likely that Arnulf ’s information regarding the nine hobae regiae that belonged to the royal fisc as well as the names of the fifteenmancipia who were attached to the property, which he trans166
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D Arn 60. It should be noted that Corvey, despite Bobo’s request, was not given the property in proprium, but rather in ius et dominationem which indicates that Arnulf maintained the option of revoking this grant, as well. Of course, this would require that Arnulf ’s ministri maintain their records regarding the beneficium originally held by Hochwart. For other examples of the regranting of beneficia, some of which had been subject to confiscation, and all of which required a detailed knowledge by the royal court of the properties in question, See D Arn 21, 81, 97, 112, 120, 121, 131, 154; D Zw 12, 18; D LK 60, 76. See, for example, the discussion by John W. Baldwin, The Government of Philip Augustus, Berkeley 1986, p. 56. Charles Warren Hollister and John Wesley Baldwin, The Rise of Administrative Kingship: Henry I and Philip Augustus, in: American Historical Review 83, 1978, pp. 867–905. With regard to this progress, see Clanchy, Memory ( cf. note 2 ) passim.
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ferred to Miltrudis, was available to the king from the records of the fisc that were kept in the royal baggage train 170. A skeptical reader might hypothesize that if the steward of the royal villa at Ramseiden or any of his subordinates or any government official from the comitatus or pagus in which the villa was located were in the king’s entourage at Karnburg and was, by chance, carrying with him copies of the records for the villa at Ramseiden or perhaps that he had memorized these records, he could have provided Arnulf with the information that he needed to make the grant. However, no officials of this type are indicated as having been with the king at Karnburg or are mentioned in the royal act as having interceded on behalf of Miltrudis or Heimo, or participated in any way. In addition, it may be noted that Heimo had no previously known connection with Ramseiden, the Saalfeldgau, or the Salzburg region, on the strength of which he might have memorized extensive details regarding royal fiscal holdings. Indeed, it is clear that Heimo’s lands were concentrated in the area of St. Pölten, which is located in the Grünzgau about 250 kilometers east of Salzburg 171. If all of the dossiers, which contained the records of each royal villa, whether the unit was in the possession of the royal government or had been granted as a beneficium to a royal vassal, were carried in Charlemagne’s baggage, two wagons at most would be needed. This assumes that perhaps as many as 800 files were at issue, each weighing on average one kilogram and stored conveniently in wooden boxes. This estimate is based upon the hypothesis that Charlemagne used the type of special vehicles ( basternae ), which were designed to carry 500 kilogram loads on military campaign. Since the rulers of Francia orientalis possessed fewer fiscal units than had been possessed prior to the tripartite divisio of resources executed in 843, perhaps only one basterna was needed for the fiscal records of the royal government maintained by Arnulf, Zwentibold, and Louis the Child. This would hardly represent a hardship for the very large royal party that traveled on its regular itinerary, particularly when it is recalled that King Lothair, Louis the German’s elder brother, was known by contemporaries to transport his library with him, even while on military campaign 172. CONCLUSION
Charlemagne, likely basing his efforts on the work of previous rulers, refined and systematized the administration of the royal fisc. It was required that all villae be identified by place name, e. g. Ramseiden, and identified also within an administrative competence, e. g. the Saalfeldgau. In addition, all of the physical boundaries of each villa were defined in a word map. Finally, annual records were produced and provided to the royal court by the steward of each villa, which indicated what had been produced and how these products were distributed. Royal agents of the central government carried out regular inquests of these villae, whether they were held directly by the king or whether they had been granted as beneficia to royal vassals. This system of written administration for the villae of the royal fisc, which was used by Charlemagne and Louis 170 171 172
D Arn 42. Cf. D Arn 32. Goldberg, Struggle ( cf. note 9 ) p. 18.
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the Pious, was maintained by Louis the German in Francia orientalis following the Treaty of Verdun. Specialists in the study of the royal fisc, as contrasted with scholars who focus on high politics, have recognized for decades that the fiscal administrative system as developed under Charlemagne and implemented by his government, the government of Louis the Pious, and the latter’s sons, continued to be employed through the end of the reign of the last eastern Carolingian in 911. The insights of McKitterick, Nelson, Mersiowsky, Depreux, Goffart and many other scholars regarding the practical use of writing have made it possible to flesh out, in administrative terms, the enormous volume of <paper-work> that was necessary for the functioning of the royal fisc. Specialists studying the political history of early medieval Germany simply have failed to ask one of the most basic historical questions – how? How was it possible for the king to have detailed knowledge about royal estates when he was hundreds or even a thousand kilometers away from the property at issue? How did royal officials come to have the information necessary to identify the correct properties and appurtenances when confiscating or reassigning royal beneficia? How did royal officials come to have the information available that was needed to make grants of one-ninth of omnis conlaboratus of royal estates, including those sources of income, such as tolls, market taxes, honey production, and manufactured items, that not only accumulated all year round, but also differed from year to year? How did royal planners know whether a particular villa or group of villae had sufficient food on hand to support the royal court or army as it passed through a region? The answers were always there, but most scholars have refused, up until now, to look for them. Political historians consumed by the mystical and even nationalistic notions of Herrschaft, have seen administration as inimical to the cherished values of their heroic kings with their retinues of noble warriors. Many historians of the fisc, confronted by the historiographical model of a bereft of the practical use of the written word following the collapse of the western Roman empire, did not work out the underlying documentary requirements of the prescriptive legislation, such as capitulary de villis, that they identified as having legal force and practical application throughout the ninth and into the tenth century. They emphasized, instead, the identification of the enormous numbers of fiscal properties and resources that remained under the direct control of the last Carolingian kings in the East. Advances in historical knowledge leading to revisionist models come when scholars recognize that older paradigms not only fail to answer salient questions, but also fail to describe the reality of the sources of information that are available. We know today immeasurably more about the use of written documents in the late eighth and ninth centuries than Ganshof or Brühl would seem to have imagined possible. This study has brought into focus the voluminous studies that demonstrate both continued royal control over the enormous resources of the fisc, and the continued practical force of late-eighth and early ninth-century legislation regarding the administration of the fisc during the reigns of Arnulf, Zwentibold and Louis the Child. We have used these studies as the basis for confirming the significant insights of scholars such as Michael Gockel, who pointed the way towards a fuller appreciation of what the practical application of capitulary de villis actually entailed in terms of the massive use of the written word for fiscal administration.
Paranoia sangallensis
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Paranoia sangallensis. A Micro-Study in the Etiquette of Monastic Persecution „He who fights with monsters should look to it that he himself does not become a monster. And when you gaze long into an abyss the abyss also gazes into you.“ Friedrich Nietzsche, One spring day in 972, a peal of noisy laughter caught the attention of Empress Adelheid, who was passing through the corridors of the imperial palace in Saxony. Only seconds before, the emperor-to-be, Otto II, had finished reading a sheaf of pages given to him by his palatinus, Ekkehard II, originally a monk of St. Gall. The empress opened the door and asked why Otto was so amused. Instead Otto handed her the letter so she could learn of the fate that befell the h o l y monk Sandrat, the secret agent of her husband Otto the Great, during his visit to St. Gall, when he was supposed to reform the monastery. Adelheid could not contain her laughter either, but she decided that the story about this villain that had the ear of Otto ( auricularis patris ) could not reach her husband this way. Soon afterwards, the messenger who brought the letter from St. Gall presented it officially to Otto the Great and the empress, keeping a straight face, read it aloud. The story Otto heard embarrassed him especially when his son, Otto II who suddenly entered the room, feigning ignorance of the whole affair, read the letter and laughed again. „I am surprised you laugh at what makes me want to weep,‘‘ the emperor said. But the son answered that Otto I should have listened to his warnings not to send this hypocrite Sandrat to St. Gall. It was then agreed that all three should somehow repair the disaster that Otto had brought upon the heads of the monks. And indeed, already on the Ascension Day of the same year, the whole visitation accompanied by Bruno, the archbishop of Cologne, reached St. Gall 1.
Much of this story, written down around 1050 by a St. Gall monk by the name of Ekkehard ( IV ), is imprecise and raises doubt whether the author had access to any sound source enabling him to reconstruct the details of the events. It seems instead that he had used the erroneous remembrance of these events still circulating among the brothers of his monastery. There are several inaccuracies. First of all, during the spring of 972, the imperial palace in Magdeburg stood empty or, more precisely, its main resident was Hermann Billung. At that time, Otto the Great was still in Rome celebrating the marriage of his son to the Byzantine princess, Theophanu, and had only started to prepare for his eagerly anticipated trip home. They did arrive in St. Gall but in mid-August, not in May, and most likely for reasons other than those suggested by Ekkehard. Finally, presumably to everyone’s regret, the emperor’s brother, Archbishop Bruno could not have joined them because his corpse had at that stage been resting
1
„Miror te“, pater ait, „ridere, quod me libet flere.“, Ekkehard IV., Casus sancti Galli, ed. by Hans F. Haefele ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 10 ) Darmstadt 1980, cap. 144–146, pp. 278–282; all translations from the are mine.
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under the floor of St. Pantaleon in Cologne for nearly seven years 2. Indeed, not much can be supported in this otherwise very nice anecdote 3. Yet its central element, that is, the letter reporting Sandrat’s stay in St. Gall, which triggered such opposing reactions in its readers, is still an enigma. To be sure, the text did not survive to the present time and, given the many historical inconsistencies and the alternative story of Sandrat to be presented later, it can be doubted whether there was any letter at all. But if I were to summarize this non-extant, and possibly non-existent text, on the basis of the account of this visit that directly precedes the above-mentioned scenes in the , it would read as follows: the abbot and the brothers of St. Gall duly received the reforming monk Sandrat of St. Maximin in Trier, sent by the emperor. Sandrat was to instruct them in the proper observation of the according to the Lotharingian prescripts. Alas, he himself did not observe what he taught. Quite the contrary, his actions were unworthy of a monk and soon the situation got out of control: he drank too much wine, ate meat reserved only for the sick, punched and hit other brothers, urinated on their beds etc. What must have been left out of this letter, however, and what can be read into Ekkehard’s account, was the flip side of this incident, that is, the escalating mutual hostility between the two parties of this conflict and the way the monks of St. Gall provoked Sandrat to act in the manner he did. In what follows, then, I would like to analyze and explain the mechanisms of the mayhem Sandrat caused in St. Gall during his sixteen-week-long visit as depicted by Ekkehard IV. As noted above, the monks of St. Gall greatly contributed to this turmoil, so the more precise purpose of this study is to understand the processual and interactive character of the way Sandrat was treated. More generally, it is to describe the relationships of power and modes of social control, among which practices of stigmatization and exclusion had a prominent place, which could occur in early medieval monasteries. All these problems can be traced in Sandrat’s bitter fate, which, interestingly, bears striking resemblance to a more contemporary model of the exclusion of 2
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Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 2000, pp. 132–134; Johannes Duft – Anton Gössi – Werner Vogler, St Gallen, in: Elsanne Gilomen-Schenkel ( ed. ), Helvetia sacra, III/1: Frühe Kloster, die Benediktiner und Benedikterinnen in der Schweiz, Bern 1993, p. 1181; Josef Fleckenstein, Art. , in: LMA 2, 1983, cols. 753–755. It would be wrong however to dismiss this story a toto. St. Gall, which could count itself among the imperial monasteries since 818 thanks to Louis the Pious’s immunity, enjoyed a very special and close standing with the imperial court, e.g. during the ninth and tenth centuries Frankish and German kings and emperors visited the monastery on several occasions ( Emperor Charles III in 883; King Conrad I in 911; King Henry I in 930; and finally Emperor Otto I in 972 ). Putting this together with Ekkehard II’s nickname ( palatinus; he served at Otto I’s court ), and the ten years ( ~1020 – ~1030 ) that Ekkehard IV spent at Mainz Cathedral led by Archbishop Aribo, as well as the frequent encounters that monks and abbots of St. Gall had with worldly potentes, we can conclude that they had a considerable know-how as well as social capital to pursue their interests in the milieu of the court. Thus, the opening story should be read as an illustration of <der schwierige Weg zum Ohr des Herrschers>, an imagined but nonetheless probable situation that both for medieval as well as contemporary readers reveals the <Spielregeln> of access to a ruler’s attention. One can thus learn that this access was very restricted and that it took both one’s own agents at the court and benign, powerful middlemen ( and women ), supporters and intercessors, who stood in the immediate vicinity of the ruler as well as a great deal of diplomacy and theatricality to make one’s voice heard; see: Gerd Althoff, Verwandschaft, Freundschaft, Klientel. Der schwierige Weg zum Ohr des Herrschers, in: Idem, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, pp. 185–198.
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people suffering from paranoia, which will be used as the analytical framework in due course. Nevertheless, the synergy of the historical situation and the analytical model applied should not lead to a hasty conclusion that Sandrat also suffered from paranoia. On the contrary, in the following, his mental condition will neither become an explanatory factor nor a fact under scrutiny. It is however crucial to show that the pattern of persecution of paranoid persons may have a wider applicability, because in the historical perspective it can help us understand the manner in which early monastic communities could protect themselves from their enemies, be they even undesired reformers. It will also reveal the institutional resources that could be mobilized in order to strengthen internal cohesion and direct them towards punitive action 4. Starting with theory, some forty years ago Edwin Lemert and Erving Goffman developed a model describing the dynamics of the exclusion of paranoid people from society 5. The ruling diagnosis at that time was that the disorder made the sick person believe that people around him conspired against him. The real people in fact, not the imaginary pseudo-community, unable to share the ill person’s beliefs, reacted only to aggressive actions of that person. In this view, the causes of social chaos were to be found in the dysfunctional mind. What Lemert and Goffman did was to shift the focus from the individual to his environment and patterns of behavior, arguing that people did unify in a joint enterprise against the sick person. Even if there is some initial mental disorder, with possibly multiple social or endogenous causes, it often exacerbates and the person develops further paranoid patterns of behavior during his interaction with other people colluding against him. This type of behavior Lemert called , a sort of reaction to a reaction. „The secondary deviant, as opposed to his actions, is a person whose life and identity are organized around the facts of deviance“ 6, that is, around a socially held opinion of him as a deviant. How does it happen, then? In the early stages, deviant behavior seldom attracts anyone’s attention or, depending on the social environment in which it occurs, is explained away with other motives. At this point, the group that encounters the deviant remains still loosely organized in relation to him. When the conduct continues and intensifies it becomes an issue, a problem that everyone must somehow relate to, especially if there is a certain o p i n i o n circulating before the appearance of a deviation. The person is then put under surveillance and other people start to harmonize their actions towards the deviant and withhold their trust. As the group tightens and toughens, the person in turn often realizes that there is some parallel communication not involving him, feels excluded and reacts with even more eccentric conduct. In return the community often retaliates by stigmatizing the person, sometimes provoking open confrontation or even seeking help from the outside, which makes the identity of the deviant a public matter. Little by little, a mad person is manufactured, for deviance is only secondarily a question of condition of mind and first of all an effect of social labor that produces, 4
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Barbara H. Rosenwein – Thomas Head – Sharon Farmer, Monks and Their Enemies: A Comparative Approach, in: Speculum 66, 1991, pp. 764–795. Edwin M. Lemert, Paranoia and the Dynamics of Exclusion, in: Sociometry 25, 1962, pp. 2–20; Erving Goffman, The Insanity of Place, in: Idem, Relations in Public. Microstudies of the Public Order, New York – Toronto 1971, pp. 335–390. Edwin M. Lemert, The Concept of Secondary Deviation, in: Idem, Human Deviance, Social Problems, & Social Control, Englewood Cliffs 1967, pp. 40–64, at p. 41.
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attaches and executes labels, that is, social judgments in form of certain patterns of action 7. To solve the conflict one of the parties has to surrender and conform to the other’s rules or the troublesome individual has to be removed from the relationship, for example, by being hospitalized. In the broadest sense the whole process touches upon the problem of social control, that is, how people express grievances and control each other by showing their disapproval. Simply put, this is a mode of evaluation of such persons and their conduct by their social environment and this short definition constitutes the basic concept of deviance to be used here 8. Adding to this the fact that in our case everything happened in the context of a , for I believe the concept is justifiably applied here, separated from the outside world and consisting of very dense power relationships, we shall see that a deviant person was capable of pushing such an organization to the edge of complete pandemonium but that he had to contend with the most serious consequences as well 9. One may raise the question whether there actually were any paranoids in the Middle Ages 10. According to Ian Hacking, as long as there was no existing classification of paranoid persons, which means that being a paranoid was not an option that one could choose to be or be made into, we should avoid applying this diagnosis to times prior to Emil Kraepelin’s introduction of the term 11. Since we do not have any medieval yardstick of paranoid behavior to compare Sandrat’s conduct with and since, as noted above, it is not claimed that any kind of mental disturbance was involved here, the term paranoia will be avoided in the following and only <deviance> will be referred to instead. This is not to state that there have never been any mental cases throughout history; there have always been people who behaved oddly or even madly and Sandrat, in the eyes of the monks of St. Gall at least, was definitely one of them. Oddity of behavior, violence, rebellion and deviance in cloisters, some examples of which could nowadays be classified as abnormal, have indeed attracted the attention of medievalists. Some time ago, Jane Sayers, also referring to the Goffmanian model of , studied the inherent organizational tensions in the monasteries, that is, between the lay brothers and regular monks, or between pueri oblati and novices 12. More
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Spencer E. Cahill, Toward a Sociology of the Person, in: Sociological Theory 16, 1998, pp. 132–148, at pp. 141–142. Kai T. Erikson, Wayward Puritans. A Study in Sociology of Deviance, New York 1966, p. 6: „[ T ]he term <deviance> refers to conduct which the people of a group consider so dangerous or embarrassing or irritating that they bring special sanctions to bear against the persons who exhibit it. Deviance is not a property inherent in any particular kind of behavior; it is a property conferred upon that behavior by the people who come into direct or indirect contact with it.“ Cf. also Donald Black, The Social Structure of Right and Wrong, San Diego 1993, pp. 2–5, 19. Erving Goffman, Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates, Harmondsworth 31968, p. 17. For a discussion about the accountability of this concept in medieval research see: Wojtek Jezierski, Monasterium panopticum. On Surveillance in a Medieval Cloister – the Case of St. Gall, in: Frühmittelalterliche Studien 40, 2006, pp. 167–182, at p. 168 note 5. Ian Hacking, Making Up People, in: Idem, Historical Ontology, London 2002, pp. 99–114, at p. 99. Ian Hacking, The Social Construction of What?, Cambridge ( Mass. ) – London 2003, pp. 157–162; Ian Hacking, Mad Travelers. Reflections on the Reality of Transient Mental Illnesses, Cambridge ( Mass. ) 1998, pp. 53–56, 87–91. Jane Sayers, Violence in the Medieval Cloister, in: Journal of Ecclesiastical History 41, 1990, pp. 533–542.
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recently, there have been two large in-depth studies on the conflicts in medieval cloisters whose authors framed their objects of investigation in a different way than I would like to propose here. Steffen Patzold’s book provides an overview and a careful analysis of the inner-monastic conflicts in the Ottonian and early Salian Reich filtered from the narrative sources but the sociological apparatus is virtually absent 13. On the other hand, Thomas Füser’s study exploring the way the Cistercians and Cluniacs dealt with norms, deviance and social control in the High Middle Ages, even if equipped with sociological tools, focuses on the normative and regulative sources such as statutes, consuetudines, and constitutions of the orders 14. When it comes to studies on the conflicts and deviance in early medieval St. Gall, apart from the two chapters in Patzold’s book 15, these episodes attracted the attention of other scholars only in passing 16. Remarkably, the Sandrat episode in its entirety has never excited much interest 13
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Steffen Patzold, Konflikte im Kloster. Studien zu Auseinandersetzungen in monastischen Gemeinschaften des ottonisch-salischen Reichs ( Historische Studien 463 ) Husum 2000. Thomas Füser, Mönche im Konflikt. Zum Spannungsfeld von Norm, Devianz und Sanktion bei den Cisterziensern und Cluniazensern ( 12. bis frühes 14. Jahrhundert ), ( Vita regularis 9 ) Münster 2000. Füser’s work is part of a broader current in the study of medieval monastic institutions that originated in the Sonderforschungsbereich led by Gert Melville, see also: Gert Melville, Der Mönch als Rebell gegen gesatzte Ordnung und religiöse Tugend. Beobachtungen zu Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Gert Melville ( ed. ), De ordinae vitae. Zu Normvorstellungen, Organisationsformen und Schriftgebrauch im mittelalterlichen Ordenwesen ( Vita regularis 1 ) Münster 1996, pp. 153–186; Thomas Füser, Der Leib ist das Grab der Seele. Der institutionelle Umgang mit sexueller Devianz in cluniazensischen Klöstern des 13. und frühen 14. Jahrhunderts, in: ibid., pp. 187–245; Anke Biendarra – Jörg Öberste, Der Prior bei den Cluniazensern. Soziale Kontrolle und Kommunikation im Wandel vom 11.–13. Jahrhundert, in: Heinz Duchhardt – Gert Melville ( eds. ), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Cologne – Weimar – Vienna 1997, pp. 139–171. Patzold ( cf. note 13 ) pp. 63–90, 190–200. Mayke de Jong, Kloosterlingen en buitenstaanders. Grensoverschrijdingen in Ekkehards Casus Sancti Galli, in: Bijdragen en medelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 98, 1983, pp. 337–57; see also the expanded English version of this text: Eadem, Internal Cloisters: The Case of Ekkehard’s Casus Sancti Galli, in: Walther Pohl – Helmut Reimitz ( eds. ), Grenze und Differenz im frühen Mittelalter, Vienna 2000, pp. 209–221; Rüdiger Brandt, Fama volante – publica inspectio – populo moribus acceptus. Vorstellungen von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit in den Casus Sancti Galli Ekkehards IV, in: Gert Melville – Peter von Moos ( eds. ), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Cologne 1998, pp. 609–628; Jezierski ( cf. note 9 ). One study deserves to be mentioned separately nonetheless. Ernst Hellgardt suggested that in order to better understand the normative dimension of the , we should look at it through the prism of the ( Ernst Hellgardt, Die Casus Sancti Galli und die Benediktinerregel, in: Beate Kellner – Ludger Lieb – Peter Strohschneider [ eds. ], Literarische Kommunikation und soziale Interaktion: Studien zur Institutionalisierung mittelalterlicher Literatur, Frankfurt am Main 2001, pp. 27–50 ). Tracing back the particular episodes to the specific chapters of the supposedly underlying them, Hellgardt claimed that the was meant to be, on the one hand, a sort of evidence proving the regularity of the life of St. Gall monks, and a narrative expositio in the , a paradigmatic commentary with the educative function on the other. In his view, the for Ekkehard, almost in a Wittgensteinian sense, existed only in its application, which in turn depended on the context and the intention of the people using it. Not undermining Hellgardt’s conclusions, the incident with Sandrat shows that Ekkehard was thinking rather in Bourdieuian terms. These events present their own logic of practice, where the actors for the most part react to the actions of their adversaries and the constantly changing rules of the game, wheras the awareness of one’s own actions surfaces very rarely. Yes, there is some order in this disorder, but not necessarily that of the .
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even though this is one of the most rewarding stories that come to us from that time. The last remaining question is what kind of text we are about to read. As noted above, at least seventy years had passed between Sandrat’s visit and Ekkehard’s composition of the – long enough even for the deepest wounds to have healed 17. And yet almost every page of this account is saturated with anger, grief, and the gross injustice these monks sensed. This may be plain stylization but perhaps there was some genuine passion behind these words after all. We should remember that Ekkehard’s main source was the memory of these events conveyed by the brothers – a tradition in which Ekkehard himself was raised, since he joined St. Gall as a puerus oblatus in the 990s or early 1000s, which is to say that he must have learned the events from the monks who personally met Sandrat. This may excuse Ekkehard’s overall emotional attitude towards Sandrat, since these monks must have deeply resented this intrusion and an unwarranted examination of their peaceful life, which obviously insulted this life’s immaculate regularity. They had, but also gave themselves, all the right to feel unjustly offended. But, in analyzing this episode, one should balance this resentment against the plain fact that it was the monks of St. Gall who stood victorious in the end. Even if Sandrat had some advantage, being backed by Otto I at the beginning, and plagued them for some time, ultimately they succeeded in driving him away. They were righteous and he was evil. What this text does not acknowledge, or only very obliquely, is that in return the monks made his stay as unpleasant as possible and blamed him for all the sins in the world. These few chapters from the are in fact a story of persecution and the scapegoat mechanism structures it although everything is done to sweep this impression away 18. This is not to say that Sandrat did nothing wrong. What can be said though is that these monks, motivated by his misbehavior and holding an obvious numerical and physical superiority, retaliated in the name of their own righteousness. But did they really do that? Perhaps this claim is too strong; Ekkehard’s account is the only one we have so we cannot ascertain the full facts 19. Instead of treating this part of the as a factual source, we should rather see it as an expression of beliefs about right and wrong that these monks held. In this manner, the text is an indication of the desirable or punishable lines of action, in other words, an instruction for its monastic readers presenting available means of so17
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On Ekkhard and the composition of the see: Ernst Dümmler, Ekkehard IV von St Gallen, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 14, 1869, pp. 1–73; Gerold Meyer von Knonau, Ekkehart’s des Jüngeren ( IV. ) Bücher über die Vorfälle in dem Kloster des heiligen Gallus, in: Ekkeharti ( IV. ) Casus sancti Galli, ed. Gerold Meyer von Knonau, St Gallen 1877, pp. II–LXXXII; Hans F. Haefele, Einleitung, in: Casus sanci Galli ( cf. note 1 ) pp. 6–11. René Girard, The Scapegoat, transl. Yvonne Freccero, Baltimore 1989, pp. 118–121. Kassius Hallinger tried to reconstruct the circumstances of this visit and stated that the hostility towards Sandrat was due to the out-drawn implementation of the Lotharingian monastic reform in St. Gall. Indeed, some eight years before this visit ( ca. 964/5 ), a great commission of abbots and bishops investigated the observation of the in St. Gall, and for some time afterwards Abbot Kerbodo of Lorsch stayed in the monastery to ensure the proper following of its instructions. Sandrat’s reforming efforts, Hallinger’s argument goes, were simply too much for a community that had actually cherished the Lotharingian customs for some time, and the reformer’s unfriendly demeanor was the final nail in the coffin: Kassius Hallinger, Gorze-Kluny: Studien zu den monastischen Lebensformen und Gegensätzen im Hochmittelalter, 2 vols., Rome 1950–51, 1, pp. 187–199; see also: Casus sancti Galli, cap. 99–113, pp. 200–224.
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cial control, be they informal, ritual, or legal 20. Indeed, in this light this episode could be instructive ad extremum. A few words of guidance about the layout of this text are necessary. The Sandrat episode is thickly described and retold in its entirety without any significant omissions in eighth fragments with my readings inserted between them. The text of the is summarized and one or two important quotations are retained in every section. * * * Sandrat arrived at St. Gall the day before the celebration of St. Gall’s Day ( October 16th ), and entered the church with the pilgrims streaming in to venerate the saint. In his hand he was carrying the official letter from Otto the Great but the mission remained a secret kept from Otto II and Ekkehard II. In order to detect as much as possible, Sandrat hid himself among the laymen, planning to make his mission overt later on. Unfortunately for him, ‚the dean of Murbach, who stood next to the abbot [ of St. Gall ] said: „Take a look over there my Lord, Sandrat strolls among them, for I have seen him before, and he tries to hide himself. Yes, this is that despicable man that you see there, it is him!“ The abbot, who did not know him, called one of the brothers to him and pointed at the man [ Sandrat ] with his finger and ordered him to be led to the choir and given a place there.‘ Sandrat, whether he wanted to or not, followed the brother unable to conceal that he was caught. ‚And the eyes of everyone were fastened on him.‘ 21
Let us first take a closer look at the pointing gesture made initially by the dean and then somewhat extended by the abbot and his monk aimed at Sandrat, which basically was an act of recognition. But no recognition is innocent as it is shown by the Althusserian allegory of interpellation, which is strikingly reminiscent of the situation presented here. Althusser speaks of a policeman who hails, or interpellates, a passing pedestrian who then turns back, singled out, individuated from the anonymous crowd and thus subjects himself to the social order in whose name he has been called 22. Sandrat, similarly, hailed by these monks, was forced to put down his deliberately ambivalent and deceptive guise and his spectrum of possible identities was thus radically circumscribed. Simply put, he was subtly, yet irrevocably, subjected to the institution he had just entered. One should add that in this act of exposure and enforced recognition, on their terms and not his, Sandrat was given a face to be dealt with – constituent of his actual being as well as functioning as the tool of his subjection – an identity based on the guilt deriving from his surreptitious intentions 23. And not just any face, but a particularly ugly and treacherous one, which was to have serious consequences for the fu20
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Gerd Althoff, Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, pp. 48–51, 187; Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca 1992, pp. 321–324. One should remember that only a few copies of the survived to our days, all in St. Gall, which suggests that it was composed for internal use: de Jong ( cf. note 16 ) p. 342. Decanus autem de Muorbac iuxta abbatem astans: „Ecce Sandrat“, ait, „inter illos, si umquam eum vidi, domine mi, vitabundus graditur. Despectibilis ille enim, quem prospicis, ipse est.“; Accitoque quodam fratrum, digito monstratum in chorum duci et locari iubet.; Oculi enim omnium intenti erant in illum., Casus sancti Galli, cap. 137, p. 266. Louis Althusser, Ideology and Ideological State Apparatuses ( Notes towards an Investigation ), in: Idem, Lenin and Philosophy and other essays, transl. Ben Brewster, New York 2001, pp. 85–126, at pp. 116–119. Judith Butler, „Conscience Doth Make Subjects of Us All“ Althusser’s Subjection, in: Eadem, The Psychic Life of Power. Theories in Subjection, Stanford 1997, pp. 106–131, at pp. 106–109, 114–115; Giorgio Agamben, Means Without End. Notes on Politics, transl. Vincenzo Binetti – Cesare Casarino, Minneapolis – London 2000, pp. 91–100.
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ture of his mission. This was possible due to the fact that Sandrat was not arriving in an informational vacuum but into a certain preconception of his person. Even if Ekekhard II, a monk of St. Gall and a palatine at the court of Otto I 24, was not able to warn his brothers in advance of the approaching reformer, there were already some rumors indicating his deviant character vide, among others, the dean of Murbach’s remark. In the order of the , Sandrat appears for the first time as Ruodmann’s – abbot of Reichenau’s – candidate for the implementation of the Lotharingian monastic reform in St. Gall 25. Ruodmann, who is the epitome of evil in the , must have brought only the worst possible connotations. Ekkehard IV states as well that a year earlier Sandrat was involved in the subversive conspiracy at the royal court in Speyer against the monks of St. Gall during their efforts to install Notker ( 971–975 ) as abbot of St. Gall 26. All this suggests that a reputation of his unfriendly persona, strangeness, and some mutual hostility preceded his arrival, upon which the monks of St. Gall could build a biased image of him 27. Add to this the fact that Sandrat was caught under false pretenses – hiding himself and trying to appear as someone else – which could hardly arouse any sympathy towards him but rather made others feel their trust was betrayed. All this shows that already from the very first moment, Sandrat’s plans had the full potential to go wrong 28. After the mass the abbot wondered why this formally promised messenger arrived clandestinely. Even though he did not deny Sandrat the right to investigate the regularity of his monks, he nevertheless postponed reading the letter from the emperor to the next day and asked Sandrat to refrain from visiting the refectory and stay in the guest chambers duly prepared for him by the portanarius. The next day the abbot, having read the letter heralding the royal visit and beseeching the brothers to follow Sandrat’s instructions, scheduled a meeting ( colloquium ) with the brothers. They decided to keep the reformer in his quarters until the festivities were over. When this decision was announced to him, Sandrat exploded with rage and harshly threatened to leave St. Gall right away unless he was admitted into the claustrum. ‚But Richer [ the provost who announced the decision ] – despite the fact that the dean warned him, whispering into his ear, not to say anything against it – could not stand Sandrat’s insolent words: „If you are a true messenger, you will wait for the answer for which you were sent here. But if you do not want to remain faithful to your assignment – well, if the unbeliever leaves let him do so, as the apostle says.“‘ And the dean added: „By no means! Because we will not suffer when a messenger with a royal letter simply goes away, but we will rather take him into custody if he threatens to flee.‘‘ What is worse, the provost called his helpers and ordered them to take care of Sandrat according to his status but also added this caution: „Supervise him carefully so he will
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Johannes Duft, Ekkehardus – Ekkehart, in: Idem, Die Abtei St. Gallen, 2: Beiträge zur Kenntnis ihrer Persönlichkeiten, Sigmaringen 1991, pp. 211–220; Friedrich Wilhelm Bautz, Art. <Ekkehard II.>, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, http://www.bautz.de/bbkl/e/ekkehard_ii_v_st_g. shtml ( 2008–10–10 ). Casus sancti Galli, cap. 98–99, p. 200. Multumque anxius, quoniam Sandrat, quem prius diximus, tunc aderat et obloquia quedam iterum in nos susurrari regibus sciverat, animo fluctuabat., Casus sancti Galli, cap. 128, p. 248, for the whole episode see: cap. 128–133, pp. 248–258. In this respect the fact that the abbot of St. Gall, who, in the order of the narrative, must be identified with Notker the Abbot, did not know Sandrat, as Ekkehard writes, may suggest that his mission indeed happened before his election, that is, during the abbacy of Purchard ( 958–971 ); Hallinger, Gorze-Kluny, 1, pp. 195–197. It seems more likely though to assume that Ekkehard simply did not pay much attention to the details of his own story. Lemert ( cf. note 5 ) p. 7. Barbara A. Misztal, Normality and Trust in Goffman’s Theory of Interaction Order, in: Sociological Theory 19, 2001, pp. 312–324, at pp. 314–316.
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not leave without the abbot’s knowledge.‘‘ He promised that even the men who came with Sandrat would be disposed of in three days 29.
The colloquium summoned by the abbot is somewhat perplexing. It appears that the meeting was at least a little extraordinary, which is understandable since neither the messenger discussed nor the correspondence was of the usual kind. What is crucial here is that Sandrat himself was not invited to the colloquium. It makes sense if we remember that such colloquia secreta, which this meeting was to a certain extent, required confidentiality among its participants 30. This in turn implies that Sandrat did become the kind of a problem that demanded collusive cooperation backstage and that he was seen as anything but a trustworthy person. This impression finds support in the whisperings, an example of a furtive communication par excellence, between Richer and the dean. Sandrat’s reaction was a violent expression of his supposedly inappropriate demands and this was an obvious signal that he did not intend to keep his place, which is to say the place they were prepared to reluctantly grant him 31. In the eyes of these monks, Sandrat insisted on the unconditional access to their most inner sanctity as if it was his right whereas they thought of it as an exclusive privilege for which kings, bishops, and other potentes were prepared to pay both in real gold and in symbolic capital by subjecting themselves to the monastic forms of expression 32. At this interesting point both parties seem to have landed in a situational limbo, in which neither of them 29
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At Rikerus – decano, ne quicquam contra loqueretur, in aurem monente – proterviam tamen verborum eius ferre non valens: „Si fidelis nuntius es“, ait, „responsum, pro quo missus es, expectabis. Sin autem in commisso fidelis esse nolueris, infidelis“, inquit, „si discedit, ut ait apostolus, discedat.“ Et decanus: „Nequaquam“, ait; „enimvero litteris nobis regiis missum abire non patimur, sed et sub custodia, quoniam fugam minatur, volo, servetur.“ … Ipsum autem, ne abbate nostro inscio abeat, sollicite servate!, Casus sancti Galli, cap. 138, p. 268, for the whole episode see: cap. 137–138, pp. 266–268. Gerd Althoff, Colloquium familiare – colloquium secretum – colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters, in: Idem ( cf. note 3 ) pp. 157–184, at pp. 164–170. Goffman ( cf. note 5 ) pp. 364–365. It would take a separate essay to follow the theme of regular and irregular enterings of St. Gall’s closure by the people coming from the outside, a theme, in a manner of speaking, that lay close to Ekkehard’s heart. Mayke de Jong has largely contributed with such an approach (de Jong [ cf. note 16 ] pp. 212–216 ) by reading the through the lens of claustrum as a device ordering the past in Ekkehard’s text. She explores a number of episodes which contextualized and elaborated the theme of physical and symbolic dimensions of the closure, for example: the adventus of King Conrad I ( Casus sancti Galli, cap. 14, p. 40 ) and Otto I ( Casus sancti Galli, cap. 147, p. 284 ); the nocturnal break-in by Abbot Ruodmann ( Casus sancti Galli, cap. 91, pp.186–190 ); intrusions of Bishop Salomo of Constance ( Casus sancti Galli, cap. 3–5, pp. 20–26 ) and many other visits both by laymen and religious persons. None of these visits was unproblematic. On the contrary, each of these was, apparently, a near trauma occurence as the very core, the secret sanctity of the monastery, had to be exposed for the outsiders. Thereof the complex rites de passage for the visitors and a tradition of ranking them into the monastic hierarchy. On the other hand, there occurred severe and shaming punishments of the intruders accompanied by lengthy discussions by the monks of St. Gall putting it all down to memorable experience. No wonder, then, that Sandrat’s requests bypassing and openly ignoring all these hierarchies and more or less formal rules of access, without willingness to offer anything in return, sounded so outrageous. Compare: Goffman ( cf. note 5 ) p. 360: „[ The deviant person ] attempts to arrogate to himself informal privileges which are part of the status symbolism of the group and otherwise allocated. He attempts to use markers of place without having the place that is customarily marked by them.“; see also: Karl Schmid, Von den in Ekkeharts St. Galler Klostergeschichten, in: Frühmittelalterliche Studien 25, 1991, pp. 109–122; Lemert ( cf. note 5 ) p. 5.
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could leave or avoid contact with the other party; nor could either party advance its stipulations. The monks could not let Sandrat in, nor could they let him go, as long as his imperial letter was a means of power easy to activate 33. Instead, they decided to put him under surveillance, which confirms the already strong impression that they put no trust in him whatsoever 34. Sandrat was confused by the answer he received. He did not expect that there would be such cowled brethren ( cucullatum ) in the kingdom, who dared to turn down the royal reformer’s demands in this way. But three days later he was asked to come to the chapter again and the abbot clarified these issues for him. The abbot explained that regularity of his monks had been examined recently by the most illustrious figures in the kingdom. Sandrat’s undertakings, as many of his brothers said, seemed more like a visitation from an evil angel, even if provided with a royal decree. Sandrat answered that he only did what he was asked to do. He assured them that he had already corrected many monasteries in the kingdom with success: „I acted in a royal manner, for I have been sent by the king, and I begged for nothing.‘‘ In St. Gall he wanted to proceed likewise as soon as he was permitted. So the dean, speaking to the abbot, proposed they would grant him the due rank and allow him to examine their observation of the Rule in the entire monastery: „But since a regular monk cannot exist without an abbot, Sandrat, while giving his instructions, should patiently endure the fact that he found regular men here who will become his dean and abbot.‘‘ Sandrat responded that he had left his beloved abbot in Cologne, thus implying that he did not intend to submit to the regime of St. Gall. Hearing this, the hot-blooded dean threatened to report to Otto I that Sandrat declined what he was teaching and what he expected of the monks. The reformer exploded in tears of anger but could not do much about it. Before the chapter was resolved, the abbot reassured him of their benevolence towards him, but once again called to his mind that more renowned men had already reformed their customs. To show that his advice and instructions were nevertheless welcome, he ranked Sandrat right after the deans of St. Gall and asked him to scrutinize the life in the cloister for a week 35.
This fragment, despite the little explosion in the middle, may suggest that the monks actually withdrew a little from the very straight line they held previously, and that Sandrat advanced in his venture. Although they openly confronted him and even managed to threaten him by appealing to the emperor, what must have been a serious and credible warning considering how near to the court St. Gall stood 36, at the end of the day he could enter the cloister. But rather than a simple retreat, it is more reasonable to see this dispute as the effort made by these officials to construct Sandrat into a trustworthy person again, something their predecessors has successfully accomplished numerous times 37. In this case, they referred to a more general idea of a monk as a kind 33
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Edwin M. Lemert, Social Structure, Social Control, and Deviation, in: Idem ( cf. note 6 ) pp. 3–30, at p. 20; Goffman ( cf. note 5 ) p. 365. Jezierski (cf. note 9) pp. 170–171; more generally see: Rose L. Coser, Insulation from Observability and Types of Social Conformity, in: American Sociological Review 26, 1961, pp. 28–39, at pp. 28–29, 32–34. „Aput quos, quoniam ab imperio missus sum, imperiose quidem egeram, neque deprecative quicquam …“ … „Et quia regularis monachus absque abbate esse non poterit, qui sibimet abbas decanusque sit, hic invenisse inter doctrinas suas regulares viros patienter ferat.“, Casus sancti Galli, cap. 139, pp. 270, for the whole episode see: cap. 139–140, pp. 270–272. Johannes Duft, Geschichte des Klosters St. Gallen im Überblick vom 7. bis zum 12. Jahrhundert, in: Peter Ochsenbein ( ed. ), Das Kloster St. Gallen im Mittelalter. Die Kulturelle Blüte vom 8. bis zum 12 Jahrhundert, Darmstadt 1999, pp. 11–30; Dieter Geuenich, Liturgisches Gebetsgedenken in St. Gallen, in: ibid., pp. 83–94; Schmid ( cf. note 32 ) pp. 109–122. De Jong ( cf. note 6 ); Wojtek Jezierski, Non similitudinem monachi, sed monachum ipsum! An Investigation into the Monastic Category of the Person – the Case of St. Gall, in: Scandia 74, 2008, pp. 7–35, at pp. 13–17.
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of being for whom submission to the abbot’s power was the constitutive element of existence – regularis monachus absque abbate esse non poterit, as Ekkehards puts it. This made him potentially a reliable member of their team, if only he consented to this encroachment upon his autonomy. Seen in retrospect, it seems this was the last moment they were prepared to negotiate in order to re-establish mutuality in their relationship, however unpleasant the manner appeared. Another interesting element is the array of names Sandrat was called here and there, sometimes even straight to his face. They not only corroborate the existence of the background communication concerning him, which to a great part remained hidden, but also explain his aggravating responses to the abbot’s pronouncements. Excluded from all communication and remaining outside the claustrum but sensing he was being observed and the subject of gossip, this was perhaps the only, presumably unintentional, way he could get any meaningful feedback about his own behavior 38. The week under Sandrat came to an end and the reformer reported many things that displeased him. Among others he listed the noisy singing in the church, which irritated his ears and the vapour of the cooking pork, which irritated his nose. He even banned everyone including the sick from eating meat. The wine, on the other hand, in his opinion came in absolutely too small amounts. So the abbot, whose patience was wearing thin, assigned to Sandrat ten brothers, who would implement all his regulations no matter how inappropriate they were. On the side he confided to them that Sandrat’s regime was not to last for long, and encouraged them to prepare everything in the refectory to Sandrat’s pleasure. They should spare him nothing and even encourage him to drink more if he stopped. ‚The dean and the provost prompted them now and again to embarrass him with their proper conduct.‘ Truly, the wine made his behavior intolerable. One day he entered the refectory under the influence of the wine and one of the brothers said fiercely: „Take a look again at our half-schoolmaster, and how he became excited after the wine!“ ‚Sandrat caught these words from his lips, which the younger brother believed he had uttered secretly, and cried out: „I, your half-schoolmaster, will show you your place, as long as I am still in my senses!“ And he ran up to him and gave him … a heavy blow on the back. But he, being much stronger than Sandrat, shook off the blow at once and punched him with his fist on the temple so that Sandrat fell half-dead on the floor. He would have caused him even more harm, if the others had not stopped him.‘ 39
This violent incident has been suspended almost in medias res but this fragment is just packed with examples of mechanisms of social control. We see that after the critique of the regularity of life in St. Gall and the beginning of his regulations, Sandrat’s relation with the brothers moved beyond a point where nothing was as it used to be. First of all, a considerable allocation of responsibilities around a new, deviant version of his identity occurred. These ten monks assigned to Sandrat, who on the face of it were to facilitate his task, from the very beginning were instructed that their masterto-be was an immoral figure. More than that, they were in fact the abbot’s agents who would guarantee that this stigmatizing label was reinforced so it would stick in the fu-
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Lemert ( cf. note 5 ) p. 14. Decanus autem cum praeposito singulis fratrum, ut idoneis illum moribus frangerent, frequenter inculcabant. … „Ecce iterum semimagister noster, postquam mero incaluit!“ diceret. Ille verbum clam, ut putabat, a iuvene dictum ab ore eius illico rapines: „Semimagister tuus“, inquit, „ego, si insanio, tibi ostendere quantocius habebo!“ Insiliensque in hominem, bene quidem natum, sed et admodum litteratum, grandem ei manu in maxillam dedit. Ille vero multum eu robustior, brachio dicto citius extento, pugno illum in tympus validissime percussit seminecemque in terram cadere fecit et, nisi quod eum ceteri retinebant, maiora ei adhuc facere volebat., Casus sancti Galli, cap. 141, pp. 272–274, for the whole episode see: cap. 140–141, pp. 272–274.
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ture 40. In other words, a deliberate and clandestine decision had been made to classify his behavior in a new light, which changed the social environment around him – tasks were assigned and people were ordered to act accordingly. Even though Sandrat was still unaware of this fact it dramatically rearranged his scope of possible actions. From the initial, more or less accidental concept of Sandrat, now a sort of total identity was implacably disseminated about him 41. The dean and the provost provoking the young monks sharply contrasted their image of him with their view of themselves and gave them every reason to feel righteous and morally superior 42. No wonder then that the young impudent monk felt confident enough to insult and humiliate him. His example shows that what in the beginning was just vaguely localized name-calling repeated by the abbot, in due course and with more and more people joining the conspiracy against Sandrat, grew to daring insults uttered in his immediate presence. Finally, although clearly contradicting the most important prescriptions of the 43, the fight is an obvious signal that Sandrat lived on his nerves as he was catching the suspicious glances and derogatory remarks everywhere around him 44. There should be no doubt that St. Gall was irreversibly turning into a combat zone. The dean and the brothers, who entered the refectory at this very moment, rang the bells to call everyone to the chapter. The abbot ordered the others to tie the young monk to a pillar and castigate him. The young man’s blood was still boiling in the midst of the rods he was given, for he cried that because of this second Satan he had to suffer the way Christ had to suffer from Judas. Sandrat was dumbstruck and horrified. Unsure what to do he cast himself onto the floor in front of the abbot and begged him to absolve the adolescent and tell him, Sandrat, how to repair the situation. First the dean wondered angrily how Sandrat, the allegedly famous teacher, could now dare to ask their abbot to teach him. And the abbot added: „Since I have faithfully promised to my Lord, the king, now I have to suffer, oh you man of God! From what you have done to us up to this point I no longer know what rule you are teaching, when you attack my brothers like a madman and strike them with your bare hands.‘‘ The abbot emphasized that they both acted against the Rule, the first by striking the young monk in the first place, and the abbot himself by coercing the young man to give satisfaction to Sandrat. Everyone around pressed the abbot to write a letter to Otto II at last and describe all the things that happened there. But Sandrat raised himself and, to set an example to the others, spread out his coat on the floor and prostrating himself begged for pardon. And even though everyone insisted that the abbot should castigate him on the spot, the abbot asked Sandrat to stand up instead and make peace with the young monk. This lesson, however, did not prevent him from acting in a similar manner in the future 45. 40
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Jack Katz, Essences as Moral Identities: Verifiability and Responsibility in Imputations of Deviance and Charisma, in: The American Journal of Sociology 80, 1975, pp. 1369–1390, at pp. 1379–1380, 1383. Lemert ( cf. note 33 ) pp. 17, 23; Erving Goffman, Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity, Englewood Cliffs 1963, repr. New York 1986, pp. 2–4; Thomas S. Szasz, Psychiatric Classification as a Strategy of Personal Constraint, in: Idem, Ideology and Insanity. Essays on the Psychiatric Dehumanization of Man, London 1983, pp. 190–217. Norbert Elias – John L. Scotson, The Established and the Others. A Sociological Enquiry into Community Problems, London 21994, pp. XXII–XXVII, 103–104. St. Benedictus, Regula Benedicti/Die Benediktusregel, ed. on behalf of the Salzburg commission of abbots, Beuron 32001, cap. 70, pp. 234–236 ( the Latin text is taken from this edition, all translations of the Regula Benedicti are taken from: St. Benedict, The Rule of Saint Benedict, ed. by Timothy Fry, Collegeville 1998 ). Goffman ( cf. note 5 ) p. 381. „Quia regi domino fide, o vir Dei“, ait, „iuravi, quicquid nobiscum feceris, ego habeo pati usque ad id, quod nescio cuius regulê esse tu dicis, si fratres meos quasi stolide audax manu cedendos insiliveris. …“, Casus sancti Galli, cap. 142, pp. 274, for the whole episode see: cap. 141–142, pp. 274–276.
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Even if Sandrat cherished some illusions about his formal status as a royal messenger not being undermined thus far, which is usually preserved on the group’s part as long as possible in this kind of organizational crisis, by the time the young monk struck back and later when the dean started to reprove him, it must have become clear to him that this shield was not protecting him anymore 46. That was definitely the last part of his image to fall away – it was also the part that was virtually impossible to restore. Debasing himself in front of the abbot and asking of pardon to the young monk, he thereby acknowledged that it was he who should be taught and not to instruct others. In that rite de passage, to put it otherwise, Sandrat’s deviance received public recognition. His powerful argument, that is, the opportunity to leave and report everything to the emperor, was also finally snatched from him and was now being used to support the actions of his opponents 47. Of course, Sandrat was not completely defenseless, even if his scope of possible responses became radically restricted. Trying to resolve or at least impede the escalating conflict, he gave the convent satisfactio, a spiritually laden and thus very powerful ritual to amend the harm caused. The ritual was so central to Benedictine monasticism and so deeply inculcated in the monks’ minds throughout their education and in everyday life that it would have been astonishing if he had not resorted to it 48. However, satisfactio rested upon one crucial yet tacit condition shared by the performer of the ritual and its audience – the latter assumed that the submitting person acted voluntarily and with sincere intention to repair the loss while the amender was making the implication that his public was actually willing to accept his humble yet potentially humiliating gesture 49. Here this minimal amount of trust perished a long time ago. Only the abbot seemed to believe the ritual means were still effective, which explains why he made these two give each other the kiss of peace. Nonetheless, this spectacle of punishment staged in the chapter conveyed a very strong expression of collective conscience and reaffirmed the normative beliefs the monks of St. Gall held both about Sandrat and themselves and, in general, about the way things ought to be 50. Observe that the current reinforcing the group cohesion was already there due to the collaboration reached in the process of stigmatization, and the scene in the chapter was
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Lemert ( cf. note 5 ) p. 9. It seems that neither party was actually determined to refer to the emperor as a mediator in this conflict, but preferred to use it only as a threat. The very moralistic and uncompromising attitude that both sides adopted in certain correspondence with their opponents made them interested only in winning, not in a peaceful resolution of the conflict, see: Black ( cf. note 8 ) pp. 85–88, 144–157. Regula Benedicti, cap. 71, pp. 236–238; Koziol ( cf. note 20 ) pp. 181–185. Gerd Althoff, Genugtuung ( satisfactio ). Zur Eigenart gütlicher Konfliktbeilegung im Mittelalter, in: Joachim Heinzle ( ed. ), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt am Main – Leipzig 1994, pp. 247–265, at pp. 249–250, 260–261. For a thorough yet very fine sociological analysis of this type of face-saving ritual see: Erving Goffman, Interaction Ritual. Essays on Face-toFace Behavior, New York 1967, pp. 19–22. Giles Constable, The Ceremonies and Symbolism of Entering Religious Life and Taking the Monastic Habit, from the Fourth to the Twelfth Century, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale occidentale ( Settimane di studio del centro italiano di studio sull’alto medioevo XXXIII ) Spoleto 1987, 1, pp. 771–834, at pp. 776–777; more generally see: David Garland, Frameworks of inquiry in the sociology of punishment, in: The British Journal of Sociology 41, 1990, pp. 1–15, at pp. 8–9, 11–12; Goffman ( cf. note 9 ) pp. 39–40.
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only a violent eruption of this force 51. Force that, as we shall see, was bound to explode again. Only few days had passed and Sandrat’s presence became unbearable again due to all the wine he had imbibed. One night as he was staying drunk in the dormitory, the brothers could not get any sleep because of his snoring and all the noise he made. Suddenly he started to call loudly for his servant Hatto, who left St. Gall many days before. ‚Finally, this madman, raised himself and went barefoot and naked to pass his urine. He relieved himself on the bench standing by Father Ruomo’s bed, who left earlier disturbed by the noises.‘ The next morning the episode was reported to the dean who laid responsibility on Sandrat for his insobriety and abusive behavior. Just as before, he voluntarily ( sponte ) spread out his coat on the ground, prostrated himself and demanded to be whipped. And Ruomo, even though the dean did not urge him, grabbed the whip and gave Sandrat few juicy blows on the back. Stopped by the dean and inquired about the reason for his behavior Ruomo answered: „I do only what you ordered and what he asked for.“ ‚He pretended, namely, that he took his request seriously by mistake.‘ But the dean released Sandrat and made him rise. Ruomo, nevertheless, due to his excellent reputation, not only did not receive any reprimand but even gained some approval of the monks. In the end the abbot ordered Sandrat to be given the same guest chamber he had stayed in on arrival and assigned him one of the serfs as a conscientious custodian 52.
There is no need to repeat the observation about the consciousness of the collective forces materializing in this ritual, especially since for some time now these forces had materialized in the form of sheer violence. It is noteworthy, though, that Ekkehard IV accentuates the way Sandrat performed his act – on his own accord, willingly prostrating himself and asking for punishment. It would be difficult to rule out the possibility that Sandrat felt true remorse and wished to apologize for his behavior but his sincerity should be put in the proper context. In other words, to find free will and unconstrained choice on the part of a ceaselessly monitored and bullied man, who at this particular moment was surrounded by men full of vengeance, a situation and relationship he could neither abruptly terminate nor completely avoid, may appear as just pure hypocrisy. The alternative interpretation of this situation that can be proposed here is that it was essentially driven by the scapegoat mechanism, where the persecutors, by implying that the victim was actually a volunteer, try to conceal the social pressure and both symbolic and physical violence to which they resorted in their dealings with him 53. This is, in fact, what the whole dynamics of this aggravating relationship suggests; for the more Sandrat was oppressed by his persecutors and stripped of the possibilities of a more acceptable conduct ( that forced him to react in an abnormal manner ), the more he, i.e. his supposedly deviant mind, was seen as a purely voluntary and particularly willful source for his actions, which encouraged the monks to even more cruelty and name-calling. In this case, accentuating his autonomy makes sense only as a required element of sincerity in his ritual of submission, in which nobody believed anymore. Of course, this repeated deditio was bound to fail. As Gerd Althoff stresses it, rituals like this could be performed only once since their main contractual element was the implicit promise that the offender would not persist in his abusive be51 52
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Elias – Scotson ( cf. note 42 ) pp. 91–93. Sicque insaniens tandem ad urinam surrexit sine rocco et nudipes; Ruomonisque patris, propter inquietudinem eius tunc absentis, scamnum lecti perminxerat. … „Quod iussistis“, ait, „et quod ipse petiit, facio.“ Simulabat enim se nutum eius putasse. Casus sancti Galli, cap. 142, p. 276, for the whole episode see: cap. 142–143, p. 276. Girard ( cf. note 18 ) pp. 57–65, Lemert ( cf. note 33 ) p. 10; Giorgio Agamben, Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, transl. Daniel Heller-Roazen, Stanford 1998, pp. 157–158.
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havior in the future 54. Once this contract was breached the offended had every right to mete out justice. Sandrat was taking his chances but this deditio could not cancel his deviant status, which was announced in the on the occasion of his previous submission 55. In this light both submissions were recurrent efforts to save the remnants of his face and project a more tolerable image of himself, every time rejected by the monks with growing irritation. Putting this into the language of , especially during the latter incident – when being beaten by Ruomo – Sandrat was l o o p e d b a c k into the very constraint he tried to avoid and he was therefore denied any right to protect himself 56. This rejection and denial in turn indicate that the monks’ acceptance of his stigma exceeded its limits and Sandrat was no longer manageable on the cloistral ground and had to be expelled to his former quarters 57. One evening as he came back from the Compline, he saw his new servant eating meat and asked him for a piece begging him to keep the whole affair a secret. The custodian gave him not only the meat but poured some wine as well for which Sandrat paid him in gold and promised he would pay him more if only he could fetch more meat in the coming nights. The servant fulfilled his wishes every night always caring to close the door carefully behind them. But one day Richer caught him in his quest for meat and learnt what Sandrat had been doing in those last days. He gave some meat to the servant but warned him: „Do what I say if your life is dear to you! Next night only pretend you have closed the door but leave it unlocked.‘‘ 58
Sandrat must have been overjoyed. At last he had found someone, although socially distant, in this all-too-holy place, who had some understanding and wanted to participate in his bizarre practices 59. Now, surprisingly, his formal quarters, which he had found so confining in the beginning, became his personal territory, something he could identify with and appropriate 60. Sheltered from the watchful eyes of other brothers he could even pay for the illegal services, which must have offended a community founded on self-denial and mutual servitude 61. Remarkably, as Richer’s example shows, in the name of these values other people, like Sandrat’s servant, could be forced to show disloyalty as long as the cause seemed just 62. The way Richer pro54 55
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Althoff ( cf. note 20 ) pp. 23, 70–76, 84–85. Kai T. Erikson, Notes on the Sociology of Deviance, in: Social Problems 9, 1962, pp. 307–314, at pp. 311–312; Harold Garfinkel, Conditions of Successful Degradation Ceremonies, in: The American Journal of Sociology 61, 1956, pp. 420–424. Goffman ( cf. note 9 ) pp. 41–42: „: an agency that creates a defensive response on the part of the inmate takes this very response as the target of its next attack. The individual finds that his protective response to an assault upon self is collapsed into the situation; he cannot defend himself in the usual way by establishing distance between the mortifying situation and himself“; for more on the double sense of see also: Michael Lynch, The contingencies of social construction, in: Economy and Society 30, 2001, pp. 240–254, at pp. 248–249; Ian Hacking, Between Michel Foucault and Erving Goffman: between discourse in the abstract and face-to-face interaction, in: Economy and Society 23, 2004, pp. 277–302, at pp. 297–299. Goffman ( cf. note 41 ) pp. 120–123; Garfinkel ( cf. note 55 ) p. 423. „Sed quod tibi dico, ut de vita cures, facito! Ianuas nocte proxima serare te simulato, reseratasque sinito!“, Casus sancti Galli, cap. 143, p. 278. Goffman ( cf. note 9 ) pp. 57–60, 252–258. Goffman ( cf. note 41 ) pp. 80–82; Idem ( cf. note 9 ) pp. 213–217. Regula Benedicti, cap. 72, p. 238. Elias – Scotson ( cf. note 42 ) pp. XL–XLII; Lemert ( cf. note 5 ) pp. 11–12.
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ceeded with Sandrat turning this intimate and clandestine relationship against him also gives an idea of how relative the attitude towards the principle of visibility in the cloister was, and that secrecy could have both advantageous and harmful consequences. In other words, both and , things that were to be public and those that were to remain secret, were exploitable means to secure conformity within the community 63. Such an attitude did not remain without effect on the ethical dimension of this whole situation, especially if one also bears in mind the above-mentioned example of the young monks instigating Sandrat to drink more wine. It introduced de facto double moral standards, in light of which what was forbidden to the outsider was perfectly legitimate, almost advisable for the insiders, who, apparently, spoke in the name of a higher morality 64. The following night when Sandrat and his servant were eating greedily, Richer stepped in with a few brothers: „We find you by good works holy Master,“ he said and added that this meat would be more appropriate for the sick than for him. Then Richer raised the bowl and threatened he would throw it into Sandrat’s face but eventually put it down and cast out the good-for-nothing servant instead. Finally, all the brothers left the room and cautiously closed the door to the claustrum behind them so that this ‚crook of the king and kingdom‘ would not come in again. Sandrat, horror-struck he would be punished on the coming morning, fled from St. Gall and buried himself in the bushes on the nearest mountain. He was so afraid that the abbot would send somebody after him that he joined the pilgrims passing by on their way to Rome. ‚What was his fate afterwards, of which nothing certain can be said, I will pay no attention to because of the aversion to his name.‘ Soon a letter containing the description of the ‚tragedy of Sandrat the hypocrite‘ was written and sent to Otto 65.
Almost everything in this fragment is but a logical consequence and the ultimate effect of the whole course of persecution that started with Sandrat’s arrival and hardly needs to be elaborated upon. The only perplexing element is the form of Sandrat’s final punishment; a ( self ? )expulsion and return to the state of nature, for this perhaps would be the right way to interpret his concealment in the bushes after fleeing St. Gall. To explain this, however, we should return to the beating Sandrat received from Ruomo that was left aside previously and pursue the question, mainly for heuristic purposes, about the status of this whipping, the situation in which it occurred and the applicability of the just then. In a more traditional manner, one could see the abbot’s non-decision to react to Ruomo’s action, which was an obvious breach of the s’ instructions, as, in fact, an affirmative decision not to intervene and let popular justice have its way. But to maintain this would be to assume that at this point, the moment when Ruomo grabbed the whip and started to flagellate Sandrat, the was still in force and Abbot Notker still in control of the situation. I am not sure whether this was the case here. For it seems that at this very moment, admittedly very short – almost a twinkling of an eye but still! – the was rather set aside, suspended and deactivated opening a legal void invaded by forces 63
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Rüdiger Brandt, … stupris incumbere non pertimescit publice. Heimlichkeit zum Schutz sozialer Konformität im Mittelalter, in: Aleida Assmann – Jan Assmann ( eds. ), Schleier und Schwelle, 1: Geheimnis und Öffentlichkeit, Munich 1997, pp. 71–88; Idem ( cf. note 16 ) pp. 609–628; Hellgardt ( cf. note 16 ) pp. 35–36. Lewis A. Coser, Greedy Institutions. Patterns of Undivided Commitment, New York 1974, p. 104. „In bonis“, inquit, „operibus te, magister sancte, invenimus.“ … Sed quia postea fortunê habuerit, quia dubie affirmatum est, odio nominis eius libens ignoro. … Et hêc est tragedia Sandrati ypocritê, Casus sancti Galli, cap. 143, pp. 276–278, citation p. 278.
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usually incongruent with its prescriptions. To put it otherwise, everything that happened throughout the intensifying persecution led to and culminated in a momentary state of exception created around the reformer, in which neither the rights nor the obligations of the applied to Sandrat or his persecutors any longer. There are at least two tightly interrelated reasons to support this postulation. The first is the irreducible tension between the notions of potestas and auctoritas revealed in the wordings of the seventieth chapter of the , which should apply to situations like this, and Ekkehard’s text. The Rule stipulates: ‚no one has the authority to strike any of his brothers unless he has been given this power by the abbot‘ – nisi cui potestas ab abbate data fuerit 66. The potestas is thus delegated by the abbot and has its source in the . Ekkehard, on the other hand, says that Ruomo acted the way he did and could get away with that due to tante auctoritatis meritis suis – ‚the authority he had because of his merits.‘ 67 According to Giorgio Agamben, concepts of potestas and auctoritas, at least since their introduction in Roman law, are essentially incompatible and as practices of decision-making cannot exist side by side. Potestas is normative, legal, and springs from a constituted order; auctoritas is anomic, person-bound, and its source is an extra-legal charisma 68. It is, however, not necessary to refer to Roman law to account for the situation we are describing, for there is hardly any genealogical connection between these two facts to reckon with here 69. It can be argued that every established order, every legal rule for that matter, is inhered with the potestas-auctoritas tension and a possibility of a state of exception – a moment when law and the force of law are separated from one another and violence that once founded a given order may reappear in all its arbitrariness, either to salvage this order or to abolish it 70. If this argument is valid, then 66
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Regula Benedicti, cap. 70, pp. 67–68/234–236: ‚In the monastery every occasion for presumption is to be avoided, and so we decree that no one has the authority to excommunicate or strike any of his brothers unless he has been given this power by the abbot. Those who sin should be reprimanded in the presence of all, that the rest may fear. … If a brother, without the abbot’s command, assumes any power over those older or, even in regard to boys, flares up and treats them unreasonably, he is to be subjected to the discipline of the rule.‘ (Vitetur in monasterio omnis praesumptionis occasio, atque constitutimus, ut nulli liceat quemquam fratrum suorum excommunicare aut caedere, nisi cui potestas ab abbate data fuerit. Peccantes autem coram omnibus arguantur, ut ceteri metum habeant. … Nam in fortiori aetate qui praesumit aliquatenus sine praecepto abbatis vel in ipsis infantibus sine discretione exarserit, disciplinar regulari subiaceat. ) Ruomo autem tantê auctoritatis meritis suis erat, ut a nemine sit notatus, ab aliquibus etiam idonee fecisse sit dictus. Casus sancti Galli, cap. 142, p. 276. Giorgio Agamben, State of Exception, transl. Kevin Attell, Chicago 2005, pp. 74–88; Idem ( cf. note 53 ) pp. 8–9, 15–29. We have other medieval examples of a de facto state of exception ( a de iure state of exception, in the matter of fact, would be a contradiction in terms ) understood as a state of necessity which sets aside the existing legal order: Geoffrey Koziol, Is Robert I in hell? The diploma for Saint-Denis and the mind of a rebel king ( Jan. 25, 923 ), in: Early Medieval Europe 14, 2006, pp. 233–267, at pp. 251–253; John Edward Austin Jolliffe, Angevin Kingship, London 1955, pp. 87–109. Walter Benjamin, Critique of Violence, in: Idem, Selected Writings, 1: 1913–1926, Marcus Bullock – Michael W. Jennings ( eds. ), transl. Edmund Jephcott, Cambridge ( Mass. ) – London 2000, pp. 236–252; Carl Schmitt, Political Theology. Four Chapters on the Concept of Sovereignty, transl. George Schwab, Chicago 2005, pp. 5–15; Stanley Fish, Force, in: Idem, Doing What Comes Naturally. Change, Rhetoric, and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, Durham – London 1989, pp. 503–524; Jacques Derrida, Force of Law: The „Mystical Foundation of Authority“, in: Drucilla Cornell – Michael Rosenfeld – David Gray Carlson ( eds. ), Deconstruction and the Possibility of Justice, transl. Mary Quaintance, New York – London 1992, pp. 3–67; Agamben ( cf. note
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during the above-mentioned session of the St. Gall chapter a kenomatic void had opened, which made Ruomo unaccountable and his action extra-legal per definition. This leads us to the second, intimately related question about Sandrat’s status in these circumstances. A symbolical figure that best grasps his irresolvable suspension between different regimes of power as well as his final animal-like and feral condition is the notion of homo sacer, this one too stemming from the ancient Roman law 71. This figure, preserved to our day by Pompeius Festus and recently also evoked by Agamben, who revealed its fundamentally victimizing kernel, symbolizes the ultimate outlaw whom Sandrat became. Exactly as before, Rome provides but a figure to describe the possibility of an exemplary exclusion and dehumanization intrinsic to every instituted order. Through Sandrat’s disintegration and disempowerment, at the end of the day he belonged neither to the royal nor to the monastic ( or at least St. Gall’s ) order. In a manner of speaking, he could neither be killed ( vide his royal endorsement at the beginning ) nor could killing him inflict any punishment on the murderer ( vide Ruomo’s lack of culpability in the end ) 72. He became a banned wolf, an excepted body reduced to its bare life for whom the only way back to civilization was through a spiritual purification in Rome 73. * * * Ekkehard wrote accurately that he knew nothing of the reformer’s later fate and, perhaps for a nice finale, made up the whole ending for his story. By the time the abbot was sending off his envoy with the letter 74 to Otto the Great, Sandrat, rather than wandering southwards, was hastening north all along the Rhine. And quite a journey it must have been, something of Saul’s way to Damascus. For when we find him a year later, in 973, in Gladbach right outside Cologne he is, nomen omen, a holy man. Monks of
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68 ) passim; Pierre Bourdieu, Pascalian Meditations, transl. Richard Nice, Stanford 2000, pp. 94–96; Anders Bartonek, Agamben och det verkliga undantagstillståndet, in: Tidskrift för politisk filosofi 2, 2006, pp. 6–17; more generally: Peter Berger – Thomas Luckmann, The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, London 31971, repr. 1991, p. 121. ‚The homo sacer is the one whom the people have judged on account of a crime. It is not permitted to sacrifice this man, yet he who kills him will not be condemned for homicide; in the first tribunitian law, in fact, it is noted that „if someone kills the one who is sacred according to the plebiscite, it will not be considered homicide.“ This is why it is customary for a bad or impure man to be called sacred.‘ ( At homo sacer is est, quem populus iudicavit ob maleficium; neque fas est eum immolari, sed qui occidit, parricidi non damnatur; nam lege tribunicia prima cavetur <si quis eum, qui eo plebei scito sacer sit, occiderit, parricidia ne sit.> Ex quo quivis homo malus atque improbus sacer appellari solet. ), Pompeius Festus, , [ quoted and translated in: ] Agamben, Homo Sacer, p. 71. Agamben ( cf. note 53 ) pp. 71–111. Jacques Le Goff, Lévi-Strauss in Broceliande. A Brief Analysis of a Courtly Romance, in: Idem, The Medieval Imagination, transl. Arthur Goldhammer, Chicago – London 1988, pp. 107–131, at pp. 114–125; Valerie J. Flint, Space and Discipline in Early Medieval Europe, in: Barbara A. Hanawalt – Michael Kobialka ( eds. ), Medieval Practices of Space, Minneapolis 2000, pp. 149–166, at pp. 161–165. One may note that there are two letters framing Sandrat’s episode. The first one carried by him from Otto the Great is synonymous with his empowerment and authority, the second, sent to Otto by the abbot, is proof of his monstrosity, over which he had no influence. In other words, these two texts span his transition from absolute subjectivity to total subjection. On framing in the , see: Hans F. Haefele, Wolo cecidit. Zur Deutung einer Ekkehard-Erzählung, in: Deutsches Archiv 35, 1979, pp. 17–32, at p. 29.
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Gladbach remembered him ( both from his years there and at about the same time Ekkehard was composing the ) as a ‚vigorous man, especially in the raising of great works, and well-educated in rules of discipline, by the name of Sandrat.‘ 75 His mission there, assigned to him by archbishop Gero of Cologne, was to build a monastery and install a Benedictine convent, whose abbot he became the following year ( 974 ). Ironically, one of the first plausible witnesses to his painstaking efforts already in 973 was Otto II himself. Better yet, the author of the chronicle notes that after a few years when Sandrat’s mission was over and due to some rivalry for his post, this venerable and religious man ‚not defeated by evil, but triumphing over it with his wonderful patience … departed to empress Adelheid, with whom he shared the intimacy of confession.‘ 76 Later Sandrat was also abbot in Elsass and most likely in Ellwangen. He died in Gladbach in 986 77. These two one-sided images of Sandrat, one from St. Gall and one from Gladbach, are so incongruous and mutually exclusive that they do not add up to just one two-sided image of his person that is at all balanced and accurate. But this hardly comes as a surprise given the opposite experiences of him these two communities had and their divergent purposes and demands for producing him as a madman or a saint respectively. The is a history written by the victors, who could describe Sandrat just as they liked without respect for or interest in his individual traits. Yet this difficulty in weighing these two views against each other also creates an opening for the question that was recently posed by Geoffrey Koziol, whether we are still able to distinguish any individuals, any real people in the early Middle Ages, or if all that we get are merely social roles, relationships of power, and <Spielregeln> that obscure our view and make it virtually impossible to see any agency or choices of those people 78. When it comes to Sandrat, it is simply impossible to know that. But what this sociological approach, in many aspects rightly criticized by Koziol, may help us understand is how and what people might have been made into and what the mechanisms of social control looked like in those days. First of all, we should ask, limiting ourselves to the only, how extraordinary the example of Sandrat’s deviation was. For it should be remembered, as Goffman put it: „I know of no psychotic misconduct that cannot be matched precisely in everyday life by the conduct of persons who are not psychologically ill nor considered to be so.“ 79 75
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… virum conscivit strenuum prelibato operi preponendum, disciplinis regularibus apprime eruditum, nomine Sandradum. Chronicon Gladbacense, ed. by Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 4 ) Hannover 1861, pp. 74–77, cap. 2, at p. 75. Venerabilis itaque Sandradus non victus a malo, sed vincens malum patientie bono, invidie cessit, et ad imperatricem Adelheidem, cui etiam coniunctus erat confessionis familiaritate, secessit. Ibid., cap. 14, p. 76. Ekkart Sauser, Art. <Sandrat>, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, http://www.bautz. de/bbkl/s/s1/sandrart.shtml ( 2008–10–10 ). Koziol ( cf. note 69 ) pp. 236–238, 261–263; Idem, A father, his son, memory, and hope. The joint diploma of Lothar and Louis V ( Pentecost Monday, 979 ) and the limits of performativity, in: Jürgen Martschukat – Steffen Patzold ( eds. ), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Cologne – Weimar – Vienna 2003, pp. 83–103, at pp. 85–86; see also: Idem, Review article: The dangers of polemic: Is ritual still an interesting topic of historical study?, in: Early Medieval Europe 11, 2002, pp. 367–388. Goffman ( cf. note 49 ) p. 147; see also: Goffman ( cf. note 5 ) pp. 353–355; Erikson ( cf. note 8 ) pp. 7–19.
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Put bluntly, not every deviance makes one automatically a deviant – it is the person, or more precisely the opinion of the person, who gives character to the deed, not the other way round. And, indeed, Ekkehard reports several episodes and actions performed by the monks of St. Gall matching many elements of Sandrat’s behavior but which were never classified as monstrosities: Tuotilo, one of the three most famous senatores of St. Gall, and clearly a figure Ekkehard IV was very fond of, had beaten and blackmailed an erring monk from a different monastery 80. On another occasion he and his companions, Ratpert and Notker Balbulus, whose semi-secret comradeship held potentially full resemblances to the subversive relationship between Sandrat and his servant, illegitimately castigated the evil refectorarius Sindolf and brushed the whole affair under the carpet 81. Even the shameful, purely economic expectations of the cloister could be explained away as in the case of a foolish brother, Heribald, who, when the cloister was facing the immediate attack of the Hungarians in 926, doggedly demanded he should be given his due amount of shoe leather, which he felt cheated out of 82. These examples illustrate well enough how arbitrarily the image of Sandrat was painted and, generally, how context-dependent the classification of deviance is, without necessarily having anything to do with any kind of mental disturbance, but being an effect of social construction and narrative strategies. For instance, those four winter months that Sandrat spent in St. Gall in Ekkehard’s description feel like no more than two weeks, even if the author admits that he had left out many incidents from his stay 83. What we have in our hands therefore, and what Otto II and Adelheid found so risible, if we assume that the supposed letter contained more or less the same story, is a crystallized description intended to prove the image of Sandrat held by the monks of St. Gall – a total and incontrovertible identity of him as a monster 84. Out of once contingent and semantically polyvalent behavior the remembrance of this convent selected only these incidents that corroborated his stigma, at no point explaining them as involuntary or provoked by their own behavior but always springing from his twisted mind 85. The text we read, to refer to the language of psychiatry for the last time, is a meant to prove how sick Sandrat was and fix his position at the court, to which a copy was allegedly sent 86. The missing or at least deliberately deferred consti80
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Casus sancti Galli, cap. 40, p. 90; see also Hellgardt’s explanation on the relation of this episode to the : Hellgardt ( cf. note 16 ) pp. 41–42. Casus sancti Galli, cap. 36, pp. 82–84. Casus sancti Galli, cap. 52, p. 116. ‚I will pass over the other matters he taught and issued save the few extraordinary details, because all that had dire consequences; besides I could make a whole volume from these.‘ (Cetera plura, quê docuit et fecit, preter quedam insignia, quoniam omnia exitum malum habent, ex quibus quidem volumen facere possem, omitto.) Casus sancti Galli, cap. 140, p. 272. Erikson ( cf. note 55 ) p. 308, Lemert ( cf. note 5 ) p. 14. Putting it differently and paraphrasing Robert Musil, one could say that in the monks’ eyes, Sandrat was the source of his acts; in Sandrat’s eyes they had perched on him like birds that had flown in from somewhere or other. To the monks, Sandrat was a special case; for himself he was a universe, and it was very hard to say something convincing about a universe. Two strategies were here locked in combat, two integral positions, two sets of logical consistency.; see also: Goffman ( cf. note 9 ) pp. 82–83; Lemert ( cf. note 5 ) p. 8. Cahill ( cf. note 7 ) pp. 142–143.
Paranoia sangallensis
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tuent is the enormous labor, of which subsequent stages were reconstructed here, that had to be invested on the part of these monks to produce this monster and force him into this role, an image to which Sandrat only occasionally responded. It is time to drop this psychiatric approach and raise the question of what this patterned behavior means in the historical perspective. When it comes to the early medieval monastic life, there are two contentions I would like to substantiate. The first focuses on the audience of this story, that is, the brothers of St. Gall. What this account presented for them, apart from traditionally accentuated consolation, creation of identity, contribution to contemporary debates or simple entertainment 87, was an insight into the available means of social control. Young monks, whose education to a great extent consisted of reading historical works and emulating the transmitted examples 88, could infer practical knowledge from such narratives, a sort of intuitive manual for dealing with obstacles they came across in their own lives 89. What leads me to the second corollary is a particular difficulty with this research on monastic education. Although it does acknowledge learning from everyday practice, by concentrating too much on normative texts and younger monks or children, it leaves one with an impression that once m a n u f a c t u r e d these monks were thrown into the world to live as they were taught. As a matter of fact, monks or people in general were also manufactured or, as in Sandrat’s case, unmade both in everyday interaction rituals in the Goffmanian sense as well as in the more traditionally understood ritualized performances 90. As were the people so were the norms, for on the basis of the 87
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See for example: Wolfgang Eggert – Barbara Pätzold, Wir-Gefühl und Regnum Saxonum bei frühmittelalterlichen Geschichtsschreibern, Weimar 1984, pp. 64–69, 167–169; Gerd Althoff, Causa scribendi und Darstellungsabsicht: Die Lebensbeschreibung der Königin Mathilde und andere Beispiele, in: Michael Borgolte – Herrad Spilling ( eds. ), Litterae medii aevi. Festschrift für Johanne Autenrieth, Sigmaringen 1988, pp. 117–133, at p. 133; Hans-Werner Goetz, Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein, in: Historische Zeitschrift 255, 1992, pp. 61–97, at pp. 66–68, 79–96; Patzold ( cf. note 13 ) pp. 239–252. Regula Benedicti, cap. 63, pp. 218–220; Detlef Illmer, Totum namque in sola experientia usuque consistit. Eine Studie zur monastischen Erziehung und Sprache, in: Friedrich Prinz ( ed. ), Mönchtum und Gesellschaft im Frühmittelalter, Darmstadt 1976, pp. 430–459, at pp. 444–448; Mayke de Jong, Growing up in a Carolingian monastery: Magister Hildemar and his oblates, in: Journal of Medieval History 9, 1983, pp. 99–128, at pp. 114–120; Meta Niederkorn-Bruck, Wissensvermittlung im Kloster. Unterricht für den Gottesdienst – Unterricht im Gottesdienst. Wodurch und zu welchem Ende wurde den Mönchen historisches Wissen vermittelt, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 112, 2004, pp. 119–140; Sita Steckel, Lehrer und Schüler. Studien zur Kommunikation unter Gelehrten des Früh- und Hochmittelalters ( c. 800–1150 ), forthcoming. Take notice that many solutions that the monks of St. Gall resorted to in their conflict with Sandrat recur in the bitter quarrel the next generation, that is, the one between Sandrat and Ekkehard IV led with their abbot, Gerhard in the early 1000s: Casuum sancti Galli continuatio anonyma, ed. by Heidi Leuppi, Zürich 1987, cap. 5–16, pp. 78–110; on this conflict and the methods used see: Wojtek Jezierski, Verba volant, scripta manent. Limits of Speech, Power of Silence and Logic of Practice in some Monastic Conflicts in the High Middle Ages, in: Steven Vanderputten ( ed. ), Understanding Monastic Practices of Oral Communication ( Utrecht Studies in Medieval Literacy 21 ) Turnhout 2009, forthcoming; Patzold ( cf. note 13 ) pp. 90–110. For a general account of the methods of solving conflicts in monasteries see: ibid., pp. 252–305. Talal Asad, On discipline and humility in medieval Christian monasticism, in: Idem, Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianty and Islam, Baltimore – London 1993, pp. 55–79; Idem, Pain and Truth in Medieval Christian Ritual, in: ibid., pp. 83–123; more generally
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latter the former were called into being. My second contention about life in an early medieval monastery is, thus, that the norms on which it rested were only very rarely expressed explicitly, and were rather accumulated in minute, not always fully conscious decisions embraced in performances and actions rather than deliberations ( although here some elements of planning are evident ) 91. Start with belligerent looks and irritated tone of voice, make your adversary wait an eternity, then put him, as a deviant, under surveillance, shame and insult him, spread gossip about him exaggerating as much as possible, put on an act in front of him, make him crawl, punch him once or twice, and if it does not work finally write a letter to the emperor – this is how norms, judgments and power were, literally, embodied in social relations 92. Moreover, these infinitesimal choices also helped us to subconsciously realize, on the one hand who we are, and on the other, what evil looks like. For this is who Sandrat was for these monks – just another shape of the devil 93. Summing up, to foster an impression of Sandrat’s story being a Hobbesian vision of St. Gall falling apart during these sixteen weeks would not be entirely right. Violent conflicts such as this, although I claimed it is more an ex post construction rather than a veritable documentation, did occur in early medieval monasteries and they were handled according to some implicit grammar of available means and logic of power and persecution. Both symbolic and material measures as well as overt or gentle violence and even an image of oneself counted as weapons in these struggles, yet the consciousness of the choices these actors made should not be overemphasized. It seems that for the most part they were reactions to changing environment steered by socially distributed and incorporated schemes of perception and judgment 94. The way these conflicts proceeded was therefore an outcome of an oblivious collaboration between the opponents and not necessarily, as the medieval authors often state, the deviant characters of the troublemakers. As a final point, to see these clashes only in negative terms is to understand only half of the truth about them. In fact, they also had very productive effects for the communities, in which they took place, often reinforcing obedience, strengthening social cohesion and, competently displayed, even increasing a monastery’s status and winning generous sympathy from the court. Whether Sandrat was truly mad or not does not matter. What does matter is that a medieval monastery had sufficient means and the full potential to become a place insane enough to produce deviants of its own accord.
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see: Randall Collins, Theoretical Sociology, San Diego 1988, pp. 188–208; Cahill ( cf. note 7 ) pp. 132–148. Erikson ( cf. note 55 ) p. 310. On the incorporation of norms and order of power and their unconscious expression in patterns of perception and behavior see: Pierre Bourdieu, Masculine Domination, transl. Richard Nice, Stanford 2001, pp. 37–41; Idem ( cf. note 70 ) pp. 138–146; see also: Michel Foucault, The History of Sexuality, 1: An Introduction, transl. Robert Hurley, New York 21990, pp. 92–96. Erikson ( cf. note 8 ) pp. 66–159; Black ( cf. note 8 ) pp. 144–157. Pierre Bourdieu, The Logic of Practice, transl. Richard Nice, Cambridge 1990, pp. 126–127, 135–141.
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Double Meaning in Ritual Communication In the opinion of most modern scholars, ritual comprises one of the basic elements of the functioning of societies and applies to almost all spheres of life 1. Ritual is at the same time a frequently observed activity within all social groups, both on special occasions as well as in the most basic situations in everyday life. Ritual then, often not consciously differentiated from ceremony, is very often equated with ancient tradition and established custom, understood as a repetitive behavioural pattern with the involvement of specific participants and equipment 2, is the subject of research which – by its nature – must be interdisciplinary and multiaspectual 3. Researchers must take into account research on the history of culture, especially descriptions of the public manifestations of authority, court life and church ceremonies. The study of ritual is an inalienable part of analyses of social hierarchies, the manner of dissemination of cultural models and the functioning of memory on the scale of the individual as well as whole communities 4. It has occupied a permanent place in discussions on ideology, political thought and axiology of past societies 5. At the same time it has become an independent and fully acceptable subject of research 6. There is no doubt that ritual is strongly connected with the process of communication, both in personal contacts, within a sphere limited by intimacy and involving small numbers of people, as well as in
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This article is an extended and altered version of a public lecture delivered at the University of Heidelberg on 23rd November 2005. The author would like to thank Stefan Weinfurter and Bernd Schneidmüller for their participation in the discussion. Cf. International Encyclopedia of the Social Sciences 13, 1968, pp. 520–526 ( Edmund Ronald Leach ). The author emphasises the connection between ritual and religion, while ceremony is connected with non-sacral behaviours. We will return to this differentiation in a later part of this paper. Cf. Gerd Althoff – The Variability of Rituals in the Middle Ages, in: Gerd Althoff – Johannes Fried – Patrick J. Geary ( eds. ), Medieval Concepts of the Past. Ritual, Memory, Historiography, Cambridge ( Mass. ) 2002, pp. 71–75. Idem, Les rituels, in: Jean-Claude Schmitt – Otto Gerhard Oexle ( eds. ), Les tendances actuelles de l’histoire du Moyen Age en France et en Allemagne, Paris 2002, pp. 231–237. Cf. Victor Witter Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, Chicago 1970, the chapter , especially pp. 166–178. Cf. Giovanni Manetti, Introduction: The Concept of the Sign from Ancient to Modern Semiotics, pp. 29–31 and Umberto Eco, Jerusalem and the Temple as Signs in Medieval Culture, pp. 340–344, both works may be found in: Giovanni Manetti ( ed. ), Knowledge Through Signs. Ancient Semiotic Theories and Practices, Turnhout 1996. See the exceptionally interesting remarks of Gert Melville, L’institutionnalité médiévale dans sa pluridimensionnalité, in: Les tendances actuelles ( cf. note 3 ) pp. 243–264, especially pp. 251–254. Philippe Buc, The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory, Princeton 2001, pp. 3–12, draws attention to the role of literary convention used in the sources, connecting the descriptions of ritual behaviour rather with the literary devices of the authors, rather than with the actual events. I am not convinced by that interpretation.
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large scale events which sometimes become public spectacles 7. Ritual behaviour gives events an additional sense and gives them a somewhat different aspect from that which would be understood from merely observing the actual flow of events 8. Interpretation can vary, depending on how the ritual framework is apprehended, and this has an influence on the message which is directed to all the onlookers 9. Of fundamental significance is the degree of understanding and acceptance of the range of gestures and formulas added to the events. A clear assessment of the observed behaviour results however not only from approval or rejection of the sense of what was happening, but from the very fact of noticing the ritual. One can speak of the language of the ceremony as a set of gestures, formulae, behaviours and symbols which all make up the ritual setting 10. The participants and observers must not only know and notice them, but above all understand the sense of the individual elements and the message of the whole. Basic to the interpretation of events is differentiating <normal behaviour>, having no additional message, or further layers of significance, from activities ( situations ) which carry an additional sense given them by ritual. The additional significance created by ritual may have the form of a specific type of implied meaning which to a certain degree comments on the flow of events, portrays them and creating a certain narrative distance from them. It may however become also a new layer of significance, existing in some way parallel to the generally accepted interpretation. An assessment of an event depends equally on the type of situation as well as the context in which it takes place. Let us say therefore that ritual widens the range of significances and comprises a form of code which can be understood in several ways 11. The reaction of the observer depended not only on the reception of the message received, but firstly on whether it was noticed at all, and secondly on whether it was read in accordance with the intentions of the people creating it 12. Public image and a developing communis opinio was very often created by the use of ritual as a universal medium
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Cf. the remarks of Frans Theuws, Introduction: Rituals in Transforming Societies, in: Frans Theuws – Janet L. Nelson ( eds. ), Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages, Leiden 2000, pp. 8–10. Cf. Christian Wulf, Rituels. Performativité et dynamique des pratiques socials, in: Hermès 43, 2005, pp. 9–20, p. 14, where we find 10 functions of ritual in a process of communication. The author stressed that this enumeration did not exhaust the list of social functions nor of possible applications in communication. Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, pp. 18–21, convincingly showed the fundamental significance of public communication through ritual, especially for the creation of a public image of status and social rank. Cf. the cogent remarks of Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca 1992, pp. 54–58. The author emphasises the functioning of formulas and behaviours in specific, known and defined situations. We find an analogical method of understanding in the important article of Karl Leyser, Ritual, Ceremony, Gesture: Ottonian Germany, in: Idem, Communications and Power in Medieval Europe. The Carolingian and Ottonian Centuries, ed. Reuter Timothy, London 1994, pp. 189–213, especially pp. 212–213. Cf. the comments of an anthropologist, Edmond Ronald Leach, L’influence du contexte culturel sur la communication non verbale chez l’homme, in: Idem, L’unité de l’homme et autres essais, Paris 1980, pp. 25–75, especially pp. 43–47. Cf. Edmond Ronald Leach, Culture and Communication: the logic by which symbols are connected, Cambridge 1976, pp. 43–45.
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for communication on a wide scale 13. Public reception depended however not only on the accessibility of the message transmitted, but also on the understanding of successive layers of significance. Misunderstandings must have been not only frequent but also damaging, independently of whether the gestures 14 or ceremonies utilised in the observed and experienced ritual behaviour 15 were recognised and commented on. The behaviour of all participants in the ceremony, the accepted rules of behaviour in the course of these events, as well as established social norms, were all factors which had an influence on the social functioning of ritual 16. Each of these factors defined the interpretational framework of the observed situation 17. The well-known gesture of clasping somebody’s legs could have had a number of mutually separate meanings, which could equally supplement each other, creating however each time a somewhat different sense for the scene or event. This gesture could be connected with the expression of requests, represent begging for forgiveness or be an expression of vassalship 18. Each time it was used, it was a clear means of drawing at-
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Raymond Firth, Symbols Public and Private, London 1973, pp. 85–86, 167–168, draws attention to the many levels of ritual, which are composed of a whole range of symbols, the reception of which may vary greatly depending on the social and cultural context. The role of the gesture in the medieval world has been detailed in his works by Jean-Claude Schmitt, Entre le texte et l’image: Les gestes de la prière de Saint Dominique, in: Richard C. Trexler ( ed. ), Persons in Groups. Social Behavior as Identity Formation in Medieval and Renaissance Europe, Binghamton ( N.Y. ) 1985, pp. 195–197, and Jean-Claude Schmitt, La raison des gestes dans l’occident medieval, Paris 1990. For our discussion, the most interesting are a section of the chapter „La distinction“, pp. 135–152, and remarks in the chapter „Le langage des gestes“, pp. 253–262. Here we will not attempt a precise differentiation of ritual and ceremony, agreeing with the proposition of Gerd Althoff, who is of the opinion that this does not have much value for historical analysis; see Althoff ( cf. note 3 ) p. 72. Peter Burke sees the matter differently, he differentiates ritual, as having a rather more mystical significance, from ceremony which has a political, and extemporaneous, one, Cf. Peter Burke, The Repudiation of Ritual in Early Modern Europe, in: Idem, The Historical Anthropology of Early Modern Italy, Cambridge 1987, pp. 227–228. Alain Boureau, Ritualité politique et modernité monarchique, in: L’état ou le roi. Les fondations de la modernité monarchique en France ( XIVe – XVIIe siècles ), Paris 1996, pp. 9–25, on the other hand sees these two concepts as closely analogical. I agree with such a position. See the important article Hermann Kamp, Die Macht der Zeichen und Gesten. Öffentliches Verhalten bei Dudo von Saint-Quentin, in: Gerd Althoff ( ed. ), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, Stuttgart 2001, pp. 125–155, where the author emphasises the significance of ritual preparation and the performing of gestures, even when performed between two people in private without observers ( p. 144 ). Let us, however, note that this had its consequences because the information about this event and its precise course reached public opinion. We will not be able here to resolve the dispute over the principles of the social functioning of ritual. The polemics concerning this matter began with the publication of the first works on this topic, see the review by Philippe Buc of the book by Gerd Althoff, Die Macht der Rituale, in: Cahiers de civilisation médiévale 48, 2005, pp. 251–253. At the same time we agree with the author that there was the possibility of equivocal interpretation of the message and misunderstandings occurring, Buc ( cf. note 6 ) p. 8. On the subject of the ceremony of swearing fealty itself, see François Louis Ganshof, Feudalism, Toronto 1996 ( the English version of the earlier work Qu’est-ce que la féodalité?, [ 3. éd., rev. et augm. Bruxelles 1957 ] corrected and expanded ), pp. 72–80. Also: Jacques Le Goff, Le rituel symbolique de la vassalité, in: Idem, Pour un autre Moyen Âge, Paris 1978, pp. 349–420. Gerd Althoff, emphasises the connection between the act of homage with the granting of clemency and the creation of a special bond, see , in: Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter: Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, pp. 199–229, especially pp. 202–203.
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tention to the intentions and posture of the petitioner falling to the feet of the other person. The reaction of the person receiving the plea, the person accepting the agreement or accepting fealty could also not be hidden and the whole sequence of events was widely commented on in detail. At the same time we may reasonably suspect that the scene of clasping the legs was based on an established pattern of behaviour and repeated gestures of both parties. In the accounts of the praiseworthy deeds of Bolesław the Brave 19 in the Chronicle of Gall Anonim, we find a description of the behaviour of his wife Emnilda who many times implored the king on behalf of persons who had been condemned and thrown into prison. Attempting to gain clemency for them, she not only tried to change the opinion of the prince and present the condemned person’s activities in a better light, but even fell at his feet. This was magnanimous behaviour which was particularly effective and many times the prince pardoned the condemned. Emnilda did this on the occasion of a feast 20, when Bolesław was eating in the company of twelve of his closest advisors and their wives, at the same time discussing matters of state with them 21. The queen directed the conversation to the matter of an imprisoned condemned man, who had received the death sentence. She asked the king whether he regretted the sentence, and whether – if he could – he would have preferred to have changed it and show the prisoner mercy. The king then replied that he would. On hearing that, the queen, together with all present, fell at his feet and confessed that she herself had commanded the halting of the execution. Moved, the monarch embraced her, and raised her from the ground, thanking her for such a merciful ruse 22.
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More recent works, see Jerzy Strzelczyk, Bolesław Chrobry, Pozna´n 1999, especially pp. 219–221; also Gerd Althoff, Symbolische Kommunikation zwischen Piasten und Ottonen, in: Michael Borgolte ( ed. ), Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. Die Berliner Tagung über den „Akt von Gnesen“, Berlin 2002, pp. 293–308, especially pp. 306–307, where the traditional role of a queen as an advocate of mercy was emphasised. The author does not deny that the scene actually took place as described. I agree with such an opinion. On the topic of elaborate meals and the spectacle of feasts see Lothar Kolmer – Christian Rohr ( eds. ), Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen, Paderborn 2000, also Gerd Althoff, Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des Mahles im früheren Mittelalter, in: Irmgard Bitsch – Trude Ehlert – Xenia von Erzdorff ( eds. ), Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, Sigmaringen 1990, pp. 13–25. Interesting analogies are discussed by Marie-Thérèse Lorcin, Manger et boire dans les fabliaux: rites sociaux et hiérarchie des plaisirs, in: Denis Menjot ( ed. ), Manger et boire au Moyen Âge. Actes du Colloque de Nice ( 15–17 oct. 1982 ), Nice 1984, pp. 227–237 and Bruno Laurioux, Manger au Moyen Âge. Pratiques et discours alimentaires en Europe aux XIVe et XVe siècles, Paris 2002, pp. 191–208. Galli Anonimi Cronicae et gesta ducum sive principum Polonorum, ed. Karol Maleczynski, ´ Monumenta Poloniae Historica, n.s. 2, Kraków 1952, lib. I, cap. 13, p. 32, Habebat autem rex amicos duodecim consiliarios, cum quibus eorumque uxoribus omnibus curis et consiliis expeditis convivari multociens et coenare delectabatur, et cum eis regni familiarius et consilii misteria pertractabat. On the topic of the descriptions of feasting in Gall’s work see the recent work Marian Dygo, Uczty Bolesława Chrobrego, in: Kwartalnik Historyczny 112, 2005, pp. 41–54, there will be found a convincing polemic with the views earlier expressed by Jacek Banaszkiewicz, Trzy razy uczta, in: Stefan K. Kuczynski ´ ( ed. ), Społecze´nstwo Polski s´redniowiecznej, 5, Warsaw 1992, pp. 95–108. Galli Anonimi Cronicae ( cf. note 21 ) p. 33, Haec audiens regina sapiens et fidelis, pii furti se ream et consciam accusabat, et cum amicis duodecim et uxoribus eorum ad pedes regis pro sui dampnatorumque venia prosternebat. Quam rex benigne complexans, cum osculo de terra manibus sublevabat, eiusque fidele furtum, ymmo pietatis opera collaudabat.
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It is worth noting that everybody present took part in the ceremony of clasping the monarch’s legs, in this way not only had they supported the request, but also actively took part in the course of events. The undoubted gesture of humility was part of the queen’s subterfuge, utilised it is true with good intentions, but it also had a double significance, which must have been understood by all present. The supplication for clemency was preceded by her autonomous decision to halt the execution, and thus the gesture of prostration was at the same time an act of contrition and a request for forgiveness also from those around the queen. The ritual clasping of the royal knees was therefore not only a gesture begging for the life of the guilty person, but at the same time a confession of not allowing the royal orders to be carried out. It emphasised also a permanent and unchanging loyalty to the monarch. The actions of the monarch’s advisers were dictated by regis honorem ac regni utilitatem 23. Only such an interpretation of their behaviour could save the life of the condemned man and maintain the favour of the ruler towards his advisers. Let us note the emphasis of the double character of the behaviour of the queen and the whole group of advisers. The chronicler argues that the disobedience which they had committed served a good cause, but also served to strengthen the monarchy and the authority of the ruler. The evaluation of their behaviour however belonged to Bolesław, who had to take into account the effects of his orders not being carried out, being a questioning of his authority, but also the public form in which this insubordination was revealed. The expression of humility and probably also fear and assurance of loyalty all played a decisive role. This was emphasised by the use of the ritual gesture of clasping legs. In this way not only did the ruler learn of the intentions of the queen and his advisors, but also the entire court and those around the king received a declaration of loyalty and identification with the interests of the monarchy. An expression of thanks utilising gestures of the greatest gratitude is described by Ademar of Chabannes 24, who in his chronicle relates the close collaboration and personal friendship of bishop Wojciech and Emperor Otto III. The Bishop was in the closest circle of the Emperor, but in order to obtain food, had been selling wood he had brought from the forest on his own back, barefoot and at night. He kept this secret from everyone 25. The emperor learnt of this many days later and when he sent for the Saint, said in jest ‚Such a bishop as you should be sent to convert the Slavs!‘ The bishop, kissing the feet of the emperor at once said that he would undertake this mission. He acted thus in order that the emperor would not later forbid him from doing this 26. The kiss of the bishop was therefore a gesture of humble thanks 27. At the 23
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Ibid., … regina regis honorem ac regni utilitatem sic sapienter observabat, et rex eam cum amicorum consilio de suis petitionibus audiebat. On the subject of the author and his chronicle see Richard Landes, Relics, Apocalypse, and the Deceits of History. Ademar of Chabannes, Cambridge ( Mass. ) 1995. Ademari Cabannensis Chronicon, eds. Pascale Bourgain – Richard Landes – Georges Pon ( CC Cont. med. 156 ) Turnhout 1999, lib. III, cap. 31, pp. 151–152, Et quandocumque sanctus Adalbertus in aula imperatoris interesset, nocte intempesta solus ad silvam abiens, ligna propriis humeris, pedibus nudis, deferebat, nemine sciente, ad hospitium suum. Que ligna vendens, victum preparabat sibi. Ibid., Quod cum post multos imperator comperiens dies, cum pro sancto duceret, die quadam solito locutus cum eo, dixit jocando: Talis episcopus, sicut vos estis, debuisset pergere ad predicandum Sclavorum gentes. Mox episcopus, pedes imperatoris deosculans, ait se hoc incipere: nec postea imperator eum avertere potuit ab hac intentione.
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same time the clergyman wished to underline the fact that a decision had been taken, both, his own and also the receiving of the permission of the emperor. The clasping of Otto by the legs and kissing his feet was a way of showing that the discussion and indecision was over. The joke or the contrariness of the ruler had immediately been treated as a serious proposition. The humble and grateful bow was therefore at the same time in reality an expression of decisiveness and certainty. The kiss planted on the foot of the emperor was a ritual gesture of submission, and at the same time had a sacral character 28. It was done by a bishop who was commonly thought to be a holy man ( the chronicler directly refers to him as a saint ) and thus confers some religious authority on the ruler. The scene also showed in an especial way the greatness of Bishop Wojciech, his faith, determination, and also his precise plans for the future. A somewhat different implied significance of a similar prostration gesture is emphasised by Richer in his chronicle while recounting the story of a sitting of the State Council meeting to discuss the choice of a successor following the death of the young Louis V 29. His brother Lothair was still alive, as was Charles of Lotharingia, the uncle of the dead king, and who in accordance with tradition and dynastic law was desirous of ascending the throne. There were good prospects for his candidature, and despite the persistence of memory of the scandals in which he was involved and the successful campaign of the Robertines, he remained the most serious contender 30. In the speech of bishop Adalberon at the sitting of the council at Senlis reconstructed by the chronicler 31, we find not only a full argument in favour of the candidature of Hugh Capet, but also reasons why Charles should under no circumstances become king 32. Adalberon starts with undermining the principle of hereditary succession to the throne within the Carolingian dynasty 33. He clearly and decisively rejects the statement that the crown should go only to members of the ruling dynasty. In the course of this is formulated the thesis that a choice should be made on the grounds of the qualities of the 27
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For interesting remarks on the subject of the differentiation of different kinds of kisses in the sources, see Philippe Moreau, Osculum, basium, suavium, in: Revue de Philologie 52, 1978, pp. 87–97. Cf. the remarks of a sociologist on the subject of the ritual of the kiss: Willem Frijhoff, The kiss sacred and profane: reflections on a cross-cultural confrontation, in: Jan N. Bremmer – Herman Roodenburg ( eds. ), A Cultural History of Gesture. From antiquity to the present day, Cambridge 1991, pp. 210–218. Ferdinand Lot, Les derniers Carolingiens, Paris 1891, pp. 201–211. See also: Idem, Autour de la date du sacre d’Hugues Capet ( 1er juin ou 3 juillet 987? ), in: Dirk Peter Blok ( ed. ), Miscellanea mediaevalia in memoriam Jan Frederik Niermeyer, Groningen 1967, pp. 125–135. Yves Sassier, Hugues Capet: Naissance d’une dynastie, Paris 1990, pp. 188–192. We will find a precise, though certainly biased account of the scandal in Richer’s chronicle, Histoire de France ( 888–995 ), ed. Robert Latouche, Paris 1964, 2, pp. 154–159. On the subject of the chronicle see Hans-Henning Kortüm, Richer von Saint-Remi. Studien zu einem Geschichtsschreiber des 10. Jahrhunderts, Stuttgart 1985; also Robert Latouche, in the introduction to the publication of Richer’s chronicle ( cf. note 30 ) pp. V–XII. On the topic of political rivalry and election at the end of the tenth century in the West Frankish kingdom, see Yves Sassier, L’élection royale au temps de Hugues Capet et des premiers Capétiens, in: Yves Sassier, Structures du pouvoir, royauté et Res publica ( France IXe – XIIe siècle ), Rouen 2004, pp. 63–70. Long into the 11th and 12th centuries, the dynastic rights of the Carolingians were remembered and the rights of the Capetian rulers contested, see Karl Ferdinand Werner, Die Legitimität der Kapetinger und die Entstehung des , in: Idem, Structures politiques du monde franc ( VIe – XIIe siècles ), ( Collected studies 93 ) London 1979, pp. 206–222.
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character and spiritual attributes. ‚If we are to talk of the throne, the kingdom should not be received by heredity, but purely with regard to the purity of the body, wisdom of thought, piety and magnanimity.‘ 34 The words sapientia, fides, magnanimitas became therefore, during the deliverance of this speech, elements of the description of the ideal ruler who should rule a state. Then as the speech developed, the picture thus created was then confronted with Charles of Lotharingia. He was accused of dishonourable behaviour, laziness and foolishness as well as the service of a foreign king and also taking a wife of a lower station 35. The accusations were formulated in an exceptionally sharp manner, with the aim of ridiculing and humiliating the Carolingian. The chosen vocabulary was suited to the weightiness of the accusations, and the general sense of the speech was as brutal as it was disqualifying 36. The speech was ended by a conclusion in which the dissenting bishop compared the unworthy Carolingian with the second candidate, Hugo Capet. This took the form of a series of rhetorical questions which presented situations which were unimaginable and unacceptable. ‚Could the great duke ( magnus dux ) permit a woman chosen from among his vassals to become queen and achieve a position greater than his own? Would he agree to submit to such a person if many of equal or higher status to hers were to fall at his feet and clasp his knees?‘ 37 Here we note that the bishop used the term magnus dux, a reflection of the title dux Francorum given to Hugo the Great already in 936 by Louis d’Outremer 38. This was to remind listeners of Hugo’s high position, no less than that of the Carolingian prince. It was precisely in that context that the bishop made mention of the custom of clasping the senior’s legs in the swearing of fealty 39. The example given was to illustrate the real hierarchy among the Frankish elite and to clearly emphasise the existing divisions. The symbolism of the mentioned scene unequivocally defines who has a higher position in the social hierarchy and who grants investitures, protection and patronage. Charles of Lotharingia became therefore a person who was lower in position than the great duke, regardless of his descent and family relationships. Through the whole of the previous century, the Robertines had formed part of the structure of the ruling elite around the monarch, indeed, been at the very
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Richer ( cf. note 30 ) 2, p. 160, lib. IV, cap. 11, Non ignoramus Karolum fautores suos habere, qui eum dignum regno ex parentum collatione contendant. Sed si de hoc agitur, nec regnum jure hereditario adquiritur, nec in regnum promovendus est, nisi quem non solum corporis nobilitas, sed et animi sapientia illustrat, fides munit, magnanimitas firmat. Ibid., Sed quid dignum Karolo conferri potest, quem fides non regit, torpor enervat, postremo qui tanta capitis imminutione hebuit ut externo regi servire non horruerit et uxorem de militari ordine sibi imparem duxerit? On the topic of the accusation of having a wife of a low social station see Johanna Maria van Winter, Uxorem de militari ordine sibi imparem, in: Mediaevalia ( cf. note 29 ) pp. 122–124. Apart from the derogatory phrase fides non regit, we also find formulations suggesting chronic stupidity, capitis imminutione hebuit. Richer ( cf. note 30 ) p. 162, Quomodo ergo magnus dux patietur de suis militibus feminam sumptam reginam fieri sibique dominari? Quomodo capiti suo praeponet, cujus pares et etiam majores sibi genua flectunt, pedibusque manus supponunt? Cf. Karl Ferdinand Werner, Quelques observations au sujet des débuts du de Normandie, in: Droit privé et institutions régionales. Etudes offertes à Jean Yver, Paris 1976, pp. 691–709. The question of the ritual setting of the swearing of fealty has recently been discussed by Paul Hyams, Homage and Feudalism: a Judicious Separation, in: Natalie Fryde – Pierre Monnet – Otto Gerhard Oexle ( eds. ), Die Gegenwart des Feudalismus. Présence du féodalisme et présent de la féodalité. The Presence of Feudalism, Göttingen 2002, pp. 15–26.
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top, having the most eminent families of Franciae under them. Their domain, extensive possessions in the centre of the kingdom meant that they were among the highest situated persons in the state, sometimes more so than the king, to whom they dictated the conditions of exercising power 40. The public doing of homage was a visible symbol of this and a legal and ceremonial confirmation of their exceptional status. Reminding listeners of this in the course of the election of a new king had as its aim not only demonstrating the prestige and the scope of the power of the Robertines, but bluntly pointing to Hugo as the only person worthy to take the throne, and taking the force out of the arguments for the inheritance of the crown within the old dynasty. The majesty of the Carolingians was weakened and the legend of the great imperial clan was undermined and became part of a propaganda war. In such a situation, the story of the bows in homage took on the power of a sneer and lampoon directed at the rival to the throne. All the more effective as it was preceded by a long list of accusations and hard-hitting comments. At the same time however it recalled to mind the existence of a permanent hierarchy of prestige, which had been undermined by the Carolingian standing accused of irresponsibility and foolishness. The story of the clasping of the legs of a ruler is also found in the chronicle of Raoul Glaber with a somewhat different message. The chronicler tells of the history of the Carolingian dynasty beginning with the unhappy rule of Charles the Simple, betrayed and imprisoned by his trusted vassal and adviser Herbert de Vermandois 41. The seizure of the ruler was only possible due to the deceitful gaining of the trust of the monarch, who accepted the traitors’ invitation and did not suspect anything. During the solemn audience, the comes accepted the king’s kiss of peace adopting a very abased posture, but when he noticed that his son did not want to bow, sternly and publicly reprimanded him. The description of the audience is not precise in all its details, but undoubtedly the situation required the demonstration of great respect and deep humility. Herbert had bowed deeply, while his son remained standing upright, until the father struck him on the back of the neck 42, saying ‚You should know that a kiss from your senior and king cannot be accepted standing up.‘ 43 This probably meant the necessity of kneeling, and perhaps also clasping the ruler by the knees. The term toto se humilians corpore which Glaber uses to describe the behaviour of Herbert would suggest a gesture of great humility and abasement. In order to convince the king of his good intentions, the great comes had to demonstrate them with an exceptional act which would attract public attention. Clasping the knees of the monarch, and especially compelling his son
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Cf. Wojciech Fałkowski, Potestas regia. Władza i polityka w królestwie zachodniofrankijskim na przełomie IX i X wieku, Warsaw 1999, p. 160. Here will be found an analysis of the term used by the king to refer to Hugo the Great: pene totius imperii potenstissimus. On the subject of the Vermandois family see Karl Ferdinand Werner, Untersuchungen zur Frühzeit des französischen Fürstentums ( 9.–10. Jahrhundert ), in: Welt als Geschichte. Zeitschrift für universalgeschichtliche Forschung 20, 1960, pp. 87–106; Michel Bur, La formation du comté de Champagne, v. 950 – v. 1150, Nancy 1977, pp. 87–90. Rodulfi Glabri Historiarum libri quinque, ed. John France, Oxford 1989, p.12, lib.I, cap. 5, Surgens itaque rex osculum ei porrexit; ille vero toto se humilians corpore, osculum regis suscepit. Deinde cum eius filium osculatus fuisset, stansque iuvenis quamvis conscius fraudis, novus tamen calliditatis, regi minime semet supplicaret, pater cernens qui propter adstabat valenter alapam collo iuvenis intulit. Ibid., Seniorem, inquiens, et regem erecto corpore osculaturum non debere suscipere quandoque scito.
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to do the same must have caused astonishment and respect. This was, after all, a public event, in the view of witnesses and the most highly trusted persons in the court, observed with great attention and widely commented on 44. All the greater then was the public disgust at the later actions of the gentlemen from Vermandois. They had in the first place committed betrayal, but at the same time crossed the boundaries of fundamental and generally accepted behavioural norms. Ritual in this case emphasised the principle of loyalty and honour, which had in both cases been cast aside. All the more reason for that the reaction of the public opinion was so unequivocal. Herbert became a sinister character and the synonym for in the whole tradition of Frankish historiography 45. Glaber’s story does not concern a commendation ceremony, but only a public enactment of the emphasis of the loyalty of the whole clan from Vermandois in the royal service. The public reprimanding of the son served to bring to mind the respect due to a ruler, and also to emphasise complete obedience to the orders of the monarch. At the same time, it was to suggest that honor regis and the utilitas regni were the most important targets of the acts of Herbert and his entire family. Ritual behaviour had gained the confidence of the ruler and strengthened Herbert’s position by his side. In the context of the regrettable history of Charles the Simple Glaber also recalls the rule of Rudolph of Burgundy 46. The candidature of Rudolph for the throne of the kings of the Franks which had become vacant in 923 was opposed by Hugo the Great who also dreamed of attaining it. In secrecy he tried to ingratiate himself with a number of powerful figures, and at the same time turned for support to his sister Emma, the wife of Rudolph of Burgundy. His request was formulated as a direct question to the woman concerning who she would rather see on the Frankish throne, her brother Hugo, or her husband Rudolph 47. Emma in answer wisely replied that she preferred kissing the feet of her husband than her brother. Hugo then understood that he would be unable to gain her help and agreed to the coronation of his rival 48. The gesture of submission and fealty was therefore used in order to give an entirely unequivocal message in the ongoing political conflict over the Frankish crown 49. The account of Glaber, based on true facts and remembered events relied on the use of a mention of the well-known ritual, which could have been invented entirely as a beautiful and convincing literary device. In the story discussed here though it played the role of a believable emphasis of the loyalty and fidelity of Emma. The ritual therefore was used to convey an unequivocal and legible political message. It remains in clear contrast to the earlier description of another nobleman of Franciae, Herbert de Vermandois. The fig-
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Hyams ( cf. note 39 ) p. 18, correctly observes that each fealty oath took place in the presence of many people and every smallest detail of the manner of behaviour was under carefully observation. See August Eckel, Charles le Simple, Paris 1899, p. 135. On the topic of the rule of Rudolf of Burgundy see Philippe Lauer, Robert Ier et Raoul de Bourgogne, Paris 1910. Cf. Recueil des actes de Robert Ier et de Raoul, rois de France ( 922–936 ), ed. RobertHenri Bautier – Jean Dufour, Paris 1978, pp. XCVII–CXXII. Glaber ( cf. note 42 ) p. 14, lib. I, cap. 6, Hugo, cernens regnum rege destitutum, ac sciens regis instaurationem suo pendere arbitrio, misit ad sororem consulens illam quem potissimum ad regale eligeret culmen, se videlicet suum fratrem, an potius maritum praedictum scilicet Rodulfum. Ibid., Illa [ Emma ] igitur prudenter, ut fuerat consulta, respondit magis se velle regis mariti genu osculari quam fratris. Cf. remarks on the ritual of submission to a ruler presented by David A. Warner, Thietmar of Merseburg on Rituals of Kingship, in: Viator 26, 1995, pp. 55–58.
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ure of the traitor was contrasted with the portrait of a wise and responsible princess and wife, and the ritual is mentioned to link them both but also indicate their different moral significance. Let us note the great difference between the case of Emma, wife and duchess paying honour and the duchess who was the wife of Charles of Lotharingia, a person of low social standing who had earlier paid her honours to the most eminent men in the kingdom. In the one case the same ritual behaviour brought splendour to the husband and became a decisive argument for his glory, while in the second it compromises him and reduces his chances of success. At the same time, the kiss of Emma was a clear reflection of the commendation ceremony, expressing submission and faithful service, in which the osculum was one of the most important elements 50. Let us look at yet another example connected with conflict within the ruling family. The dramatic events at the end of the rule of Louis the Pious resulted from rivalry between his sons who were concerned with gaining the largest area of the empire which they were to rule over and from a succession of coalitions which were formed against the emperor 51. The aging ruler increasingly lost control over events 52. Successive revolts gained control over increasingly larger areas of the state, and a series of decrees concerning the division of the empire, the edition of ordinationes imperii, became merely transitory decisions, only temporarily stabilising the situation 53. The summit at Worms of spring 839 was one of a series which was to put an end to the fratricidal wars and the increasing chaos 54. The emperor summoned his oldest son Lothair who had for a long time rebelled against the established divisions 55. The aim of the meeting was to be the establishment of a peace between father and son and the confirmation of the latest partition of the Empire. The Annals of St Bertin clearly emphasised that Lothair had sought an agreement and submissively (humiliter ), apologised for his actions before all present. The emperor in his magnanimity forgave him his faults, provided that he would not further try to break the conditions of the agreement 56. Then it was read 50 51
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Cf. Ganshof ( cf. note 18 ) pp. 78–79. We find a characterisation of the situation in those years in the classic work of Gerd Tellenbach, Stämme und Reichspolitik von Ludwig dem Frommen bis zu Arnulf von Kärnten, in: Eduard Hlawitschka ( ed. ), Königswahl und Thronfolge in fränkisch-karolingischer Zeit ( Wege der Forschung 247 ) Darmstadt 1975, pp. 413–431, especially pp. 413–420. Cf. Rosamond McKitterick, Frankish Kingdoms under the Carolingians, London 1983, pp. 170–171; Adelheid Krah, Die Entstehung der <potestas regia> im Westfrankenreich während der ersten Regierungsjahre Kaiser Karls II. ( 840–877 ), Berlin 2000, pp. 36–43. Cf. Janet L. Nelson, The last years of Louis the Pious, in: Peter Godman – Roger Collins ( eds. ), Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious ( 814–840 ) Oxford 1990, pp. 147–159; Pierre Riché, Les Carolingiens. Une famille qui fit l’Europe, Paris 1983, pp. 156–161. Egon Boshof, Ludwig der Fromme, Darmstadt 1996, pp. 240–251; Wilfried Hartmann, Ludwig der Deutsche, Darmstadt 202, pp. 32–35. Astronomus, Vita Hludovici, ed. Ernst Tremp ( MGH SS rer. Germ. 64 ) Hannover 1995, pp. 542–544, cap. 62, … imperator generalem conventum in urbe Uuangionum, que nunc Vuarmatia dicitur, congregari praecepit. … ad filium suum Hlotharium in Italiam misit, iubens ut eidem placito interesset. Annales de Saint Bertin, ed. Félix Grat – Jeanne Vielliard – Suzanne Clémencet – Léon Levillain, Paris 1964, p. 31 ( ad a. 839 ), Quo palam omnibus ad genitoris vestigial suppliciter procidente et praeteritorum excessuum veniam humiliter postulante, imperator, misericordia qua incomparabiliter semper viguit flexus, quicquid in eum praecedentibus annis ipse suique deliquerant paterna benignitate concessit, ita tamen si nihil deinceps adversus eum pravis machinationibus molirentur.
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out a list of territories which formed the different parts of the empire determined by the division. Lothair swore an oath and only then could he return to Italy 57. The emperor used the full extent of his authority as a ruler and his military advantage, first establishing and then putting into full effect the conditions established by the meeting and the agreement. The meeting at Worms was also recounted by Nithard, who gives us a few additional details of the ceremony of the reconciliation of father with son. Lothair fell at the feet of Louis in the presence of selected advisors, admitted his guilt and asked for forgiveness 58. The monarch reacted graciously, gave him the kiss and forgave him all his misdeeds, giving thanks to God or his repentance and desire to reach an agreement. At the same time, as is confirmed by the Annals of Saint Bertin, he warned the young and ambitious king not to act against the decisions taken or the interests of the kingdom, or his younger brother Charles. The agreement reached resulted in part from, as has been noted by Gerd Althoff, the equivalence of the forces on both sides, and in part because other means of resolving the conflict had failed 59. Nithard clearly records that the mutinous son humbly fell to the feet of his father ( humillime ad pedes patris procidit ). This was accompanied by a public confession of guilt: ‚I admit before God and you, father, that I have sinned, and now I try not to prove myself worthy of the kingdom but of your mercy and forgiveness.‘ 60 The imperial kiss which was the response to these words signified full reconciliation and a return to favour. It followed, however, only after an open act of contrition, which was more important than the acceptance of the political conditions. A detailed political agreement, together with the definition of the boundaries of the three parts of the empire followed later, only after the public acknowledgement of the supremacy and authority of Louis the Pious and the expression of obedience and submissiveness 61. The striking similarity with the Biblical story of the prodigal son is not however merely the result of a literary device but, I think, a deliberate public staging of a spectacle for the benefit of the whole elite of the Empire 62. 57
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This is emphasised by the last sentence, describing the meeting at Worms. Ibid., Sacramentisque multifariam a Lothario susceptis, eum in Italiam redire permisit. Nithard, Histoire des fils de Louis le Pieux, ed. Philippe Lauer, Paris 1964, p. 30, lib. I, cap. 7, Lodharius humillime ad pedes patris coram cunctis procidit. Gerd Althoff has correctly emphasised the careful staging of this hearing of and humble pleas of Lothair, see Gerd Althoff, Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Althoff, Spielregeln ( cf. note 18 ) pp. 229–257, p. 238. Gerd Althoff, Das Privileg der . Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: Otto Gerhard Oexle – Werner Paravicini, Nobilitas. Funktion und Repräsentation des Adels in Alteuropa ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 133 ) Göttingen 1997, pp. 27–52, pp. 46–47. Ibid., „Novi me coram Deo et te, domine pater, deliquisse; non regnum sed indulgentiam et ut gratiam tuam merear quêso.“ ( The translation which we find in the French edition of that piece of text is inaccurate and misleading. ) On the topic of public display of repentance see Mayke de Jong, Power and humility in Carolingian society: the public penance of Louis the Pious, in: Early Medieval Europe 1, 1992, pp. 29–52. This is the sequence of events given in all the sources. The Annals of St. Bertin inform us that the emperor was undecided whether to give Lothair an audience and only the public pleading of his son persuaded him to forgive him. Annales de Saint-Bertin ( cf. note 56 ) p. 31 ( ad a. 839 ). Joel Thomas Rosenthal, The Public Assembly in the Time of Louis the Pious, in: Traditio, 20, 1964, pp. 25–40, especially pp. 38–40 has drawn attention to the public nature of the rule of Louis. Gerd Althoff demonstrated the similarities between Lothair’s expiation and the Biblical scene of the return of
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The ritual ceremony was a visible sign that there had been no change in the hierarchy of prestige and power, and that order had been restored to the kingdom and was guaranteed to last. The difficult and detailed negotiations concerning the territorial divisions no longer was of fundamental significance for determining the supreme position and authority of Louis the Pious on the scale of the universal empire and the whole dynasty 63. The contrition exhibited in the presence of the whole court was a political act, which incorporated known gestures for showing respect with a clear admission of guilty expressing a supplication for forgiveness 64. The public admittance of a readiness to accept the decision of the ruler required a familiarity with the symbolism of such a ceremony and the special language of supplication received in court in the presence of the entire elite of the state 65. Finally we will analyse a homage scene which was transformed into a caricature of itself. In 911 Charles the Simple decided to give the territory at the mouth of the Seine to a group of Norman warriors under the leadership of Rollo. The royal decision was named the treaty of Saint-Claire-sur-Epte and in effect meant handing control of these territories over to people who until recently had been just barbarians and pagans from over the sea 66. This was an attempt to set up a kind of a <Seine March> and extending the power of the Carolingian king over the unconquered warriors from the north. In this way there came into existence a new district of the kingdom, a small regnum, which (as a component of Carolingian rule) was to raise the prestige of the king of the West Franks and the role of the West Franks and enable the monarch to represent himself as one who could aspire to take a leading role on the scale of the whole former empire 67. This was certainly a risky move, but its realisation would lead to a considerable strengthening both of the personal authority of the king, as well as increasing the political possibilities of the Carolingian monarchy. The strong rivalry with the Robertines aspiring to the throne and with other powerful families from the Carolingian realms forced a search for new solutions which would be difficult for competitors to block 68. On the other hand, Charles the Simple never hid his imperial ambitions and his desire to extend his
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the Prodigal Son as well as the deliberate exposure of the apology of Lothair and his collaborates in front of the army, Althoff ( cf. note 9 ) pp. 61–63. The negotiations are described by Nithard ( cf. note 58 ) lib. I, cap. 7, p. 30–32. On the subject of the position of Louis the Pious himself see Karl Ferdinand Werner, Hludovicus Augustus. Gouverner l’empire chrétien – Idées et réalités, in: Godman – Collins ( cf. note 53 ) pp. 3–123, especially pp. 92–100. See Cyrille Vogel, Les rites de la penitence publique aux Xe et XIe siècles, in: Mélanges offerts à René Crozet à l’occasion de son 70. anniversaire, Poitiers 1966, 1, pp. 137–144. Kamp ( cf. note 16 ) p. 151, correctly emphasises that the details of the behaviour, the deepness of the bow, the posture of the body, the sound of the voice were all of great importance. Cf. the remarks of Koziol ( cf. note 10 ) p. 182. See Lucien Musset, Qu’est-ce qu’on sait sur traité de Saint-Claire-sur-Epte, in: Lucien Musset, Nordica et Normannica. Recueil d’études sur la Scandinavie ancienne et médiévale, les expéditions des Vikings et la fondation de la Normandie, Paris 1997, pp. 377–381. I reconstruct and discuss in a wider context this intent in: Fałkowski, Potestas regia ( cf. note 40 ) pp. 118–121. See Karl Ferdinand Werner, Les premiers Robertiens et les premiers Anjou ( IXe siècle – début Xe siècle ), in: Olivier Guillot – Robert Favreau ( eds. ), Pays de Loire et Aquitaine de Robert le Fort aux premiers Capétiens, Poitiers 1997, pp. 9–67, especially pp. 30–37.
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power over to the other side of the Rhein 69. The establishing of control over the Normans and obtaining peace on the northern border of Franciae was to make possible the great political ambition of joining Lotharingia to the realm and bringing Aachen under Charles’ control 70. The king therefore was executing a policy in the style of the old Carolingian rulers, according to the great patterns of the recent past. Unfortunately only indirect accounts of the treaty with the Normans have survived and only one description in the first Norman chronicle of Dudo of Saint Quentin. The description of the last phase of negotiations is especially humiliating for the Norman ruler and emphasises the pride, independence and military abilities of the Vikings. It is difficult to accept Dudo’s account uncritically. He had taken on the task of writing the history of the Norman dynasty and in carrying it out, and did not avoid exaggeration, pathos and open vindication of his patrons 71. The Norman tradition which was based on it completely changed the sense of the agreement, transforming it into an expression of a refusal to submit to anybody else. In this tradition, Rollo is asked to receive land quasi fundum et alodum, in sempiternum, but because it was very poor land and swampy, the Norman leader firmly refused. Accepting such a grant, the Normans would have had to live by raiding and could not agree to keep the peace or accept the gift 72. In subsequent rounds of negotiations, the land offered was changed and became bigger, and the bishops and more eminent men from Franciae tried to persuade Rollo to accept. The king was also under pressure from those around him to reach an agreement. The Frank elite argued that the ruler must take care of the spread of Christianity, and he should make the effort to obtain the alliance of such an excellent duke 69
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Cf. Eduard Hlawitschka, Lotharingien und das Reich an der Schwelle der deutschen Geschichte ( Schriften der MGH 21 ) Stuttgart 1968, pp. 194–206, Robert Parisot, Le royaume de Lorraine sous les Carolingiens, Paris 1899, pp. 582–600. From the autumn of 911, documents emitted by the chancellery of Charles the Simple have an altered dating formula, largiore hereditate indepta connected with the annexation of Lotharingia, probably on the 1st November 911, see Recueil des actes de Charles le Simple, roi de France, ed. Philippe Lauer, 2 vols., Paris 1940/1949, 1, Introduction, p. LXXXVI. For a recent discussion of the subject of the manner in which Dudo depicts the past see Wojciech Fałkowski, The Ambitions of the Normans and the Monarchy of the Last Carolingians. The Creation of Reality in the Chronicle by Dudo of Saint-Quentin, in: Quaestiones Medii Aevi Novae 9, 2004, pp. 117–121. See critical remarks on the style of his writing Henri Prentout, Étude critique sur Dudo de Saint-Quentin et son histoire des premiers ducs normands, Paris 1916, pp. 22–23; Marjorie Chibnall, Charter and Chronicle: the use of archive sources by Norman Historians, in: Christopher N. L. Brooke – David E. Luscombe – Geoffrey H. Martin – Dorothy Owen ( eds. ), Church and Governments in the Middle Ages. Essays presented to C. R. Cheney, Cambridge 1976, p. 4; Edmond-René Labande, L’historiographie de la France de l’ouest aux Xe et XIe siècles, in: La storiografia altomedievale ( Settimane di Studi del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 17 ) Spoleto 1970, pp. 751–791, p. 759. The edition used here is: Dudonis de Sancti Quintini, De moribus et actis primorum Normanniae ducum, ed. Jules Lair ( Mémoires de la Société des antiquaires de Normandie 23 ) Caen 1865, pp. 1–317, lib. II, cap. 28, p. 168, Rollo non potest tecum pacificari, quia terra quam illi vis dare inculta est vomere, pecudum et pecorum grege omnino privata hominumque praesentia frustrata. Non habetur in ea unde posit vivere, nisi rapina et praedatione. On the topic of the negotiations, see Fałkowski ( cf. note 71 ) pp. 122–125. The meaning of the phrase quasi fundum et alodum has been elucidated by Jean Yver, Les premières institutions du duché de Normandie, in: I Normanni e la loro espansione in Europa nell’Alto medioevo ( Settimane di Studi del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 16 ) Spoleto 1969, pp. 299–366, pp. 312–316.
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( ducem tanti honoris ) and not neglect the permanent and strong threat he posed 73. In the end the conditions of the treaty were established, it granted to Rollo the king’s daughter as a wife, the territory from the river Epte to the mouth of the Seine and the whole of Brittany. Then the bishop drew the warrior’s attention to the fact that he should kiss the feet of the monarch: ‚whoever gets such a gift should kiss the foot of the king‘. The answer to this was, ‚never, before nobody, will I bend my knee‘. Moved by the requests of the Franks, he made one of his warriors kiss the foot of the king. He, standing upright, took the foot of the king and lifted it to his lips and kissed it. The king fell to the ground.’ 74 The only comment of the Norman chronicler was that there was great laughter and there was some confusion. Then, as if nothing had happened, the whole Frankish elite confirmed the solemn oath of the peace treaty and conditions of the grant. The History of Dudo transforms the achievement of Charles the Simple into a humiliating event ridiculing the Carolingians who are presented as weak and incompetent rulers. The scene of triumph and satisfaction with success was transformed in the pages of the chronicle into a grotesque sneer. Charles became the butt of the jokes of all the Franks, who lacked courage, decency and dignity; they were unable to oppose their enemies in the field, they were unable to defend their beliefs, nor could not even rouse themselves in defence of the honour of the king, humiliated in front of two armies. The intent of the author is entirely clear and may be summarised as a vindication of the Norman dynasty and an attempt to disperse any reminders of the superiority of the Frankish kings over the barbarian pagans who had come from the distant and unknown North 75. There remains the question of why in the creation of the magnificent legend of the first rulers and the composition of a story of the beginning of their own state, the example of a well-known feudal ceremony was used. Why did the underlying significance of the feudal homage ceremony not undermine the careful construction of the propaganda of the court of Rouen at the beginning of the eleventh century? A caricature had been made of probably the best known ritual of a feudal society, the acceptance of the homage of a vassal by a senior, for the good of both and his glory. These ceremonies always took place in public and it is certain that their significance was generally known and understood. The memory and tradition of the homage of Rollo certainly persisted many years because William Longsword solemnly swore fealty to Charles the Simple in 927, even though the king had been powerless for
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Dudo ( cf. note 72 ) lib. II, cap. 24, p. 165, Non habebis ducem tanti honoris, nisi quod concupiscit feceris. Si non propter servitium quod reperit a te dederis, saltem da illi propter cultum Christianae religiositatis, … Et ne culmen totius regni tui, Ecclesiae, quae adnihiletur impetu infestantis exercitus, cuius advocationis patrocinio vice Christi fungens, debes esse rex et advocatus. A little earlier we find the pitiful request: … populus aut fame aut gladio moritur, aut forte captivatur. Tuere regnum, si non armis, vel consilio. Ibid., p. 169, lib. II, cap. 29, Rolloni pedem regis nolenti osculari dixerunt episcopi: Qui tale donum recipit, osculo debet expetere pedem regis. Et ille: Nunquam curvabo genua mea alicuius genibus, nec osculabor cuiuspiam pedem. Francorum igitur precibus compulsus, iussit cuidam militi pedem regis osculari. Qui statim pedem Regis arripiens, deprtavit ad os suum, standoque defixit osculum, regemque fecit resupinum. I have discussed the circumstances of this homage ceremony in: Fałkowski, Potestas regia ( cf. note 40 ) pp. 122–124. I discuss the aims of the author and the methods he uses in: Fałkowski, Ambitions ( cf. note 71 ) pp. 125–127, 146–150.
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many years 76. The court in Rouen had decided to the sense of the events, instead of bringing glory to the Carolingian, it was the prestige of Rollo that was increased. Instead of showing his gratitude as a recipient, he clearly showed the superiority and independence of the Normans 77. In the place of the routine workings of the Carolingian monarchy, we have a legend of irrepressible warriors rejecting standard behaviour and imposed cultural patterns. The ritual was in a way used against its creators and the culture which used it and used in order to convey a message which was the opposite of its old and well-established understanding 78. The use of ritual against its generally accepted interpretation, not in accordance with the original sense of the ceremony could seriously damage the reputations of those involved and carry an unintended message. We find a good example in the description of the reign of Bolesław the Bold in the chronicle of Gall Anonim 79. In 1069 he took Kiev and established as a ruler there Izaslav, one of the three brothers from the Rurikovich dynasty, and drove the others out 80. After the coronation, the prince asked Bolesław to come to him in public and give him the kiss of peace so that the whole populace could do him honour. An agreement was drawn up whereby the Kievan prince would pay as many gryvnas of gold as Bolesław’s horse took steps from the place it stood to the Russian prince. The gold was paid in advance. The Polish ruler however remained on his horse and rode up to Izaslav and without dismounting, taking him by the beard, gave him the kiss 81. Thus it was that a ceremony which is intended to emphasise the equality and mutual respect of two rulers was transformed into a humiliating spectacle reflecting the domination of one party over the other. At the same time it did not bring any glory to Bolesław, who for empty vanity and to show his full power had ridiculed the new prince and instead of strengthening his position had decisively weakened it 82. Even the 76
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Richer ( cf. note 30 ) lib. I, cap. 53, p. 104, … ibique filius Rollonis pyratae … Regis manibus sese militaturum committit fidemque spodet ac sacramento firmat. On the subject of the legitimation of the rule of Rudolf, see Wojciech Fałkowski, Contra legem regem sibi elegerunt. Les principes régissant l’exercice du pouvoir royal sous le règne de Charles le Simple, in: Cahiers de civilisation médiévale 35, 1992, pp. 227–239. Cf. Althoff, Spielregeln ( cf. note 18 ) p. 225, where the author emphasises that the act of homage always had as its aim a demonstration of submission. See Klaus van Eickels, Vom inszenierten Konsens zum systematisierten Konflikt, Stuttgart 2002, pp. 245–287, analysing the contradictions in Dudo’s argumentation points out that kissing the feet was not a gesture required in commendation ( p. 251 ). See Tadeusz Grudzinski, ´ Bolesław S´ miały – Szczodry i biskup Stanisław, Warsaw 1986, especially pp. 23–25, 42–45. Janet Martin, Medieval Russia, 980–1584, Cambridge 1995, pp. 49–50. Bolesław entered Kiev 2 May 1069 and as a sign of his victory struck the city’s Golden Gate with his sword. Galli Anonimi Cronicae ( cf. note 21 ) lib. I, cap. 23, p. 48 s., Ibi etiam quendam suis generis Ruthenum, cui pertinebat regnum, in sede regali constituit, cunctosque sibi rebelles a potestate destituit. ( … ) Rogatus itaque Bolezlavus largus a rege quem fecerat, ut obviam ad se veniret sibique pacis osculum ob reverentiam sue gentis exhiberet, Polonus quidem hoc annuit, sed Ruthenus dedit quod voluit. Computatis namque Largi Bolezlaui passibus equinis de statione ad locum conventionis, totidem auri marcas Ruthenus posuit. Nec tamen equo descendens, sed barbam eius subridendo divellens, osculum ei satis pretiosum exhibuit. Wladimir Vodoff, La titulature des princes russes du Xe au début du XIIe siècle et les relations extérieures de la Russie kiévienne, in: Idem, Princes et principautés russes ( Xe – XVIIe siècles ), ( Collected studies series 304 ) Northampton 1989, pp. 145–148, where we will find an analysis of the social position and prestige of the members of this extended dynasty.
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chronicler could not conceal his distaste and indignation. The story itself brought Bolesław rather more infamy than splendour. From the point of view of the king’s policies, it was a complete catastrophe, turning a grateful ally into an enemy, and the defeated pretenders to the Kievan throne had a powerful argument for overthrowing the established order 83. The account of the public ceremony of the reconciliation of the rulers created therefore an exceptionally negative public picture of the victor, against his intentions and the basic sense of the ritual 84. The granting of the osculum was a sign of mutual friendship and as a rule was a public show of the good state of relationships, accenting the agreement of a decision, or showing the existence of trust. In contrast to the underlying significance of the act, Bolesław behaved like a proud and dominating victor who had no regard for accepted custom and the symbolism of the ceremony in which he was taking part. The story recounted by Gall may actually have taken place, for we find an example of similar behaviour of the king a little further on in the pages of the chronicle. Again, he acted in the same way against the underlying principles of a ceremony, and by this demonstrated his contempt for his partner, and a complete disregard for the sense of the ritual setting of events went together with a display of pride and contempt, even in a moment of real weakness and threat to his life. Bolesław the Bold was driven out of Poland and went to Hungary, where he expected to find refuge and, eventually help in recovering the throne. Earlier, in 1077, he had helped László I obtain the Hungarian crown, and the latter had treated him as his friend, almost like a brother 85. Bolesław however did not accept the equality of both monarchs and had called László ‚his‘ king ( suum regem apellabat ), making it understood that he was the ruler with the higher prestige and position 86. This type of relationship between them had not initiated any conflict, because the Hungarian king recognised the decisive role of Bolesław in raising him to the throne and was ready to treat him in the same way ‚as a knight receives a duke, a duke a king, and a king the emperor.‘ 87 In this spirit he had gone to meet the exile, even though, as the chronicler stressed, ‚he had come to a foreign kingdom as a fugitive and a fugitive gets no hearing from even a peasant‘. During the welcome László dismounted from his horse and stood awaiting Bolesław as he drew nearer. The latter however, due to his pride did not want to dismount but decided to give his kiss while sitting on his horse as he would have done during a meeting 83
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On the topic of the political situation in Kievan Rus’ in this period, see Andrzej Poppe, Pa´nstwo i ko´sciół na Rusi w XI wieku, Warsaw 1968. The mutual cultural contacts between Bolesław’s Poland and Kievan Rus’ and the ideological basis of the power of the Rus’ princes are discussed by Wladimir Vodoff, Naissance de la chrétienté russe, Paris 1988, pp. 311–314; and also by Andrzej Poppe, Das Reich der Rus’ im 10. und 11. Jahrhundert, in: Idem, The Rise of Christian Russia ( Collected Studies Series 157 ) London 1982, p. 343; Idem, La naissance du culte de Boris et Gleb, in: Cahiers de civilisation médiévale 24, 1981, pp. 41–45. See Pal Engel, The Realm of St. Stephen. A history of Medieval Hungary, 895–1526, London 2001, pp. 31–32; Gyula Kristo, Histoire de la Hongrie médiévale, 1, Les temps des Árpáds, Rennes 2000, pp. 57–60. The exceptional character of László I is discussed by Gábor Klaniczay, Holy Rulers and Blessed Princesses. Dynastic cults in medieval central Europe, Cambridge 2002, p. 173. Galli Anonimi Cronicae ( cf. note 21 ) p. 53 s., lib. I, cap. 28, Non eum recipit, velud extraneum vel hospitem vel per parem recipere quisque solet, sed quasi miles principem vel dux regem vel rex imperatorem recipere iure debet. Bolezlauus Wladislavum suum regem apellabat, Wladislaus se per eum regem cognoscebat.
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with one of the princes. ‚Noticing this, László was somewhat offended and turned back.‘ 88 The chronicler’s description leaves no doubt that the greeting ceremony was wellknown to both parties, both the rulers and the people around them. Despite the relationship between the two men, the ritual of greeting imposed standards of behaviour, long accepted, generally understood and legible to everybody. Bolesław the Bold ignored these standards and once again his behaviour was very severely criticised. Instead of the recognition of his glory and past help, he gained the reputation of a man consumed by his own pride. Instead of good sense and shrewdness he exhibited foolishness, which prevented him from a sober analysis of his situation. The chronicler is hardly able to conceal his criticism and wisely observes, ‚a fugitive gets no hearing from even a peasant‘. The authority of the king was undermined, his majesty had been visibly damaged, and the good name of the great and victorious ruler had been sullied. The breaking of the rules of behaviour was to cost him very dearly. The aim he had wanted to achieve in entering Hungary was to remind the ruler of what he owed to Bolesław and the high position of the later in the circle of rulers in the past. This was probably to aid the establishment of the conditions for his stay and the moves made to obtain help in returning to his country. The results that his behaviour achieved were quite the reverse from what was intended and led to isolation and loss of prestige 89. The existence therefore of generally known norms of public behaviour did not of course prevent them being given a completely different content and manipulating the message. The court in Rouen, like all of those who were the recipients of the story contained in the first Norman chronicle was certainly aware of the precise significance of the gesture of kneeling at the feet and kissing them. All the more effectively was it possible to transform the ritual of a vassal’s homage into a gesture rejecting all subservience and negating the rights of the Carolingians to supremacy. It was made into a symbol of rejection of any kind of submissiveness and paying any special honour to the Frankish rulers. It was able to do this very skilfully, giving the story a sense of its own. The Norman rulers who had well-mastered the art of constructing public messages were well aware of this. The wide spread of the stories 90 about the events in Saint-Claire-sur-Epte disrupted the hierarchy of position and structure of internal relationships of the Frankish elite. Above all however it destroyed the Carolingian dynastic tradition and undermined the principle of the natural domination of the king over all the seniors of the kingdom. This was only possible through the use of a <strong> ritual, and therefore one 88
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Ibid., … nam cum regnum alienum fugitivus introiret, cumque nullus rusticorum fugitivo obediret, obviam ire Bolezlavo Wladislavus, ut vir humilis, properabat, eumque propinquantem eminus equo descendens ob reverentiam expectabat. At contra Bolezlauus humilitatem regis mansueti non respexit, sed in pestifere fastum superbie cor erexit. Hunc, inquit, alumpnum in Polonia educavi, hunc regem in Ungaria collocavi. Non decet eum me ut aequalem venerari, sed equo sedentem ut quemlibet de principibus osculari. Quod intendens Wladislauus aliquantulum egre tulit, et ab itinere declinavit. Situations involving exclusion and loss of social position by the functioning of ritual behaviour can be found in the work on the course of Early Medieval synods, Roger E. Reynolds, Rites of Separation and Reconciliation in the Early Middle Ages, in: Segni e Riti nella Chiesa Altomedievale Occidentale ( Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 33 ) Spoleto 1987, 1, pp. 405–433, pp. 420–426. The story of Charles the Simple’s fall not only entered the canon of Norman chronicles, but was also long repeated throughout France, cf. Chroniques des Comtes d’Anjou et des Seigneurs d’Amboise, ed. Louis Halphen, Paris 1913, p. 23.
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well-rooted in social consciousness and well-suited to the circumstances of the event. The ritual used in the fulfilment of this aim had to be suitably constructed and convey unequivocally the message describing the situation. The context of the event and its whole setting, and the ceremony employed had to be correctly chosen and matched to each other. Only then would the message effectively reach wide range of recipients and carried the required message, the one that its patrons wished to be conveyed. The version of Dudo, which was written at the beginning of the eleventh century 91, amalgamated two different elements, well-known but of somewhat different significance. On the one hand was the gesture of clasping the leg, meaning humility, gratitude and deferential appeal, and on the other the commendation ceremony, which was to provide the framework for legal collaboration and a formalised hierarchical connection. They were similar gestures, involving behaviour very similar to each other, but carrying a different meaning, and which could lead to very different interpretations of the message being communicated 92. Their incorporation into one message together with the brutal behaviour of the Normans led to the homage at Saint-Claire-sur-Epte becoming in effect a satire on the king, and the whole principle of having overlordship over the Norman rulers, in their reception by their public, however, both gestures were to be equated, one ritual merging into and accepted as something natural in one ceremony. This made believable the story prepared in the court at Rouen and allowed public opinion to be convinced of the veracity of the version of the story that had been created. In this way we are shown the real power of ritual. Bolesław the Bold however completely lost his attempt to take risks with the meaning of ceremonial ritual, and thus created a negative image for himself, and one very damaging to his interests. This shows how easily unskilled use made of ritual could turn against those organizing such a spectacle 93. Another group of examples connected with falling at the feet of especially trusted persons carry a completely different message. These are the expiation of Lothair at Worms and also both queens falling to the feet of their husbands, or bishop Wojciech kissing the feet of the emperor. In each of these cases the message within the ritual being enacted was the expression of the payment of the highest honour. Sometimes it took place with reference to the feelings between spouses, and sometimes also with a clear emphasis on deep gratitude. It was always also a creation of a very personal relationship between the two parties. At the meeting at Worms, the use of this ritual recalled the existence of the order of the state which had its basis in the person and authority of the emperor. The gesture of the wife of Bolesław the Brave also had in mind utilitas regni and served to strengthen the supreme power of the king, who is presented as the highest authority. 91
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The Chronicle was most probably finished just before 1020. The author of the only monograph on Dudo, Prentout ( cf. note 71 ) p. 14, merely gives a terminus ante quem of 1026. It is still a matter of debate whether the clasping behind the knees and kissing them was a necessary element of the swearing of fealty. Certainly the extension of hands was required and then the senior might offer a kiss, see Robert Boutruche, Seigneurie et féodalité, 1, Le premier âge des liens d’homme à homme, Paris 1959, p. 191. The author refers to the first account of a kiss as an element of the swearing of fealty in Casus S. Galli, cap. 16, ed. Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 2 ) Hannovre 1839, p. 141, when the abbot of the Saint Gall monastery became a vassal of Emperor Otto I. Cf. Mary Douglas, Natural Symbols. Explorations in cosmology, New York 1982, p. 9.
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The examples presented are therefore based on the same scheme of behaviour, which contains a public gesture of expressing respect and obedience by clasping the legs of the ruler and kissing them. They contain however two different basic meanings. One refers to a strict hierarchical relationship and is in effect a very much formalised ceremony, having far-going social and legal consequences. This is the case of descriptions of a vassal’s homage which was to be paid to the new king by his wife Emma, the barbarian warrior Rollo and the vassals of Hugo Capet. The second meaning however is connected with the emphasis on the personal devotion and the acknowledgement of the supremacy of the majesty of the ruler. This behaviour is considerably less formalised and more fitting to the situation, and to a greater extent based on emotions and previously existing personal links. The clasping of the legs became thus an act of abasement full of humility. Descriptions of falling to the feet of another person very frequently contain completely different interpretations of the event. They become in effect an account of one selected assessment and create an interpretational cliché which clearly and effectively imposes a manner of understanding the event. The propaganda or didactic content therefore obscures the original sense of the ritual, adding to it a dominant message. The scene of the vassal’s homage of Rollo therefore became a real lampoon of the Carolingian dynasty, a sneer at their ambitions to exercise supremacy over the Norman dynasty. The kiss of bishop Wojciech was intended to set the seal on the agreement that had been reached, the agreement of the emperor to his organization of a Slavic mission. The supplicatory abasement of Lothair signified a return to the hierarchy of authority both on the scale of the empire and also among members of the dynasty. The story of the homage paid to Hugo Capet was in effect a reminiscence of the behaviour of Charles of Lotharingia, which had been interpreted in accordance with political interests and became a blow struck in the ongoing fight over the throne. The declaration of Emma, in turn, was a generally understandable signal of her loyalty to and support for her husband. The wife of Bolesław Chrobry did the same, and at the same time she and the whole court emphasised their devotion to the monarch. Each of these stories carries a special communication which is based on the ritual discussed here, and used it as the foundation of the message, but at the same time tried to give it a specific interpretation. The content of the communication sometimes considerably diverged from the fundamental meaning of the ceremony. This resulted from the slight degree of formalisation manner of behaviour and the multiple meanings that can be attached to gestures and situations. The expression of the ritual depended after all on the context created by the situation in which it took place, which determined the sense of the message.
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ANNELIES AMBERGER
Insignienverlust – Insignienbesitz. Krone und Ring als Funeralinsignien im Grab Kaiser Heinrichs IV. und Herodesbilder in Lambach 1 I Bestattung und Grabinhalt, S. 189. – II Die Realien Krone und Ring und ihre Übergabeformeln in den Krönungsordines, S. 192. – 1. Die Krone und ihre Formeln, S. 192. – 2. Der Ring und seine Formeln, S. 193. – 3. Armillae und ihre Formeln, S. 198. – III Der ursprüngliche Besitzer des Ringes: Adalbero von Lambach-Wels, Bischof von Würzburg, S. 200. – IV Die Frage der Investitur, S. 203. – V Herodesdarstellungen im oberösterreichischen Benediktinerkloster Lambach, S. 209. – 1. Der Suizidversuch Herodes’ des Großen, S. 210. – 2. Der Herrschersturz des Herodes Agrippa I., S. 213. – VI Insignienverlust während der Herrschaft Heinrichs IV., S. 219. – VII Ikonographie der in Lambach dargestellten Kronen, S. 220. – VIII Der Tod Heinrichs IV. in zeitgenössischen Quellen, S. 222. – IX Bewertung, S. 224.
I BESTATTUNG UND GRABINHALT
Bei der im Jahre 1900 durchgeführten Öffnung der Saliergräber 2 im Dom von Speyer 3 fand man am 25. August im Grab Kaiser Heinrichs IV. eine Krone mit zuge1
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Der vorliegende Aufsatz legt am Beispiel einer Einzelfalluntersuchung ein Teilergebnis eines Forschungsprojekts zu Funeralinsignien vor, das im Rahmen einer DFG-Eigenen Stelle an der Hochschule für Philosophie SJ in München durchgeführt wird. Einen Überblick zum Forschungsvorhaben konnte ich auf Einladung des SFB <Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Forum Gesellschaftliche Symbolik> in Münster im Juli 2007 vortragen. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Hochschule für Philosophie SJ, Frau Prof. Dr. Sibylle Appuhn-Radtke und Herrn Prof. Dr. Hagen Keller danke ich sehr für die erwiesene Unterstützung und Gesprächsbereitschaft. Mein Dank für vielfache Hilfe gilt auch Franziska und Karolina Eff sowie lic. theol. Susanne Kaup M.A. Für die Einladung zur 11. Internationalen Rechtsikonographie-Konferenz, „Rechtsikonographie geistlicher und weltlicher Macht“, an der Adam-Mickiewicz-Universität im Juni 2009 in Poznan/Polen, bei der ich die hier vorgestellten Forschungen in Auszügen zur Diskussion stellen konnte, bin ich Herrn Dr. Andrzej Gulczy´nski von der Adam-Mickiewicz-Universität und Herrn PD Dr. Miloˇs Vec vom MaxPlanck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/Main, sehr zu Dank verpflichtet. Die vom 16. August bis 2. September 1900 unter Leitung von Hermann Grauert durchgeführte Grabung erfolgte im Auftrag der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Ein Grabungsbericht kam 1900 nicht zustande, doch existieren Protokolle von Wolfgang Maria Schmid, der an der Ausgrabung teilnahm, und Ergebnisse anthropologischer Untersuchungen von Johannes Ranke und Ferdinand Birkner, die zusammen mit neueren Untersuchungen von 1960/1964 die Grundlage für eine wissenschaftliche Publikation bildeten: Der Dom zu Speyer, bearb. von Hans Erich Kubach – Walter Haas, Text- und Bildband ( Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz 5 ) Berlin – München 1972, bes. 1: S. XX, S. 844–848, 887–888, 947–952, 2: Abb. 1475–1486. Zu den Grabungsumständen s. Thomas Meier, Zwischen Stiftern und Heiligen. Die Saliergräber im Speyerer Dom, in: Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 14, 1998, S. 37–48, bes. S. 37. S. a. Percy Ernst Schramm – Florentine Mütherich, Denkmale der deutschen Könige und Kaiser, 1, Ein Beitrag zur Herrschergeschichte von Karl dem Großen bis Friedrich II. 768–1250 ( Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 2 ) 2. erg. Aufl. München 1981, S. 177 Nr. 166 a–e, S. 400–402 Abb. 166; Kaiserdom und Domschatz, hg. vom Historischen Museum der Pfalz, Speyer
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Annelies Amberger
höriger Haube, ein Brustkreuz, ein Reliquienkreuz, eine Tunika oder einen Mantel, einen Ring, Sporen und Schuhe. Innerhalb einer größeren Gruppe von bei Funeralien gebrauchten und vorgezeigten Insignien wurden Grabbeigaben hinsichtlich ihrer ideellen Bedeutung bislang von der Forschung eher als nachrangige Objekte behandelt 4. Der hier gebrauchte Begriff umfasst grundsätzlich alle Insignien und Würdezeichen, die innerhalb des Trauerzeremoniells Verwendung fanden. Zu ihnen gehören im Wesentlichen drei Gruppen: 1. Bereits zu Lebzeiten des Herrschers existente ( Krönungs- )Insignien, die in bestimmten Fällen zu Funeralinsignien umfunktioniert wurden. 2. Den Krönungsinsignien nachgebildete, aber eigens für das Trauerzeremoniell hergestellte Insignien, und 3. Grabbeigaben. Mein Forschungsansatz geht davon aus, dass Funeralinsignien gleichwertig zu Krönungsinsignien die Rechtmäßigkeit von Herrschaft symbolisierten und Tugendvorstellungen vermittelten. Die Einbettung von Insignien in eine theologisch-metaphysische Ebene durch die bei der Krönung ausgesprochenen Übergabe- und Weiheformeln gilt meiner Ausgangsthese zufolge auch für Funeralinsignien. Sie waren als symbolische Zeichen Teil eines theologisch und philosophisch fundierten Repräsentationsgefüges, die unter Verweis auf Tugendkonzepte zur Legitimation der Herrschafts- oder Staatsvorstellung eingesetzt wurden. Die Mitgabe von Insignien ins Grab lässt sich also nur aus dem grundsätzlichen Verständnis von Insignien heraus nachvollziehen. Mit den hier vorgestellten Beispielen werden von den drei genannten Gruppen der Funeralinsignien nur Grabbeigaben besprochen. Die Heinrichs Bestattung mitgegebenen Insignien Krone und Ring zeigen exemplarisch, dass die Auswahl der Grabbeigaben sowohl vom allgemeinen Herrschaftsverständnis als auch von der persönlichen Situation Heinrichs IV. bestimmt war. Kaiser Heinrich IV. war nach seinem Tod am 7. August 1106 in Lüttich im westlichen Marienchor des dem heiligen Lambertus geweihten Domes vor dem 15. August sicut regem decebat bestattet worden 5. Papst Paschalis II. ( 1099–1118 ) bannte daraufhin
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2001, S. 26–29, S. 76–79. Zu Entstehung und Intention von Percy Ernst Schramms Publikationen s. David Thimme, Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes ( Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 75 ) Göttingen 2006, S. 226–242. Der 1061 der Gottesmutter geweihte Dom in Speyer wurde nach dem Wormser Dom zur Grablege der Salier, auch Angehörige der Hohenstaufer und der Habsburger ruhen hier. S. Hans Erich Kubach, Der Dom zu Speyer, Darmstadt 41998, S. 2, S. 105–106; Karl Schmid, Die Sorge der Salier um ihre Memoria. Zeugnisse, Erwägungen und Fragen, in: Karl Schmid – Joachim Wollasch ( Hgg. ), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter ( Münstersche Mittelalterschriften 48 ) München 1984, S. 666–726; Dethard von Winterfeld, Die Saliergrablege im Dom zu Speyer, in: Christoph Stiegemann – Matthias Wemhoff ( Hgg. ), Ausstellungskatalog Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik, 2 Bde., München 2006, Katalogbd., S. 239–241; ebd. S. 242 Nr. 353 das Brustkreuz Heinrichs IV. Eine Ausnahme bildet Thomas Meier, Die Archäologie des mittelalterlichen Königsgrabes im christlichen Europa ( Mittelalter-Forschungen 8 ) Stuttgart 2002. Annales Hildesheimenses ( ad a. 1106 ), hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 3 ) Hannover 1839, S. 111 Z. 10–12: Erat enim humatus, sicut regem decebat, si aput Deum meruisset, aput sanctum Lantbertum Leodio, honorifice, ab episcopo, qui semper sibi extitit fedelis in omnibus. Auch Gottfried von Viterbo berichtet von der königsgemäßen Bestattung; Gotifredi Viterbiensis Pantheon, cap. 41, hg. von Georg Waitz ( MGH SS 22 ) Hannover 1877, S. 255 Z. 14–15: aput Leodium moritur, et more regio ibi sepelitur. S. a. Gerd Althoff, Heinrich IV. ( Gestalten des Mittelalters ) Darmstadt 2006, S. 250; Joachim Ehlers, Grablege und Be-
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Bischof Otbert und das Kapitel von St. Lambertus, weil sie den zuletzt 1102 gebannten Kaiser in geweihter Erde bestattet hatten. Auf Anordnung König Heinrichs V. war der Leichnam dann am 15. August wieder aus der Kathedrale entfernt und in eine ungeweihte Kapelle außerhalb der Stadt gebracht worden 6. Da Heinrich IV. vor seinem Tod den Wunsch geäußert hatte, in Speyer neben seinen Ahnen bestattet zu werden, ordnete Heinrich V. seine Translation an, die noch im selben Jahr erfolgte. Das Volk in Lüttich wollte dies verhindern, um die dem Toten zugeschriebenen Segenswirkungen nicht zu verlieren 7. So machte der verstorbene Kaiser nochmals für eine Nacht Zwischenstation in St. Lambertus, bewacht von Angehörigen des Volkes. Schließlich wurde sein Leichnam nach Speyer gebracht. Nach den wurde er dort zuerst ebenfalls ehrenvoll im Dom empfangen, musste aber nach Intervention des Bischofs in die noch nicht geweihte Afrakapelle zwischen nördlichem Quer- und Langhaus des Domes gebracht werden, bevor er, nach Aufhebung des Banns, am 7. August 1111 nach königlicher Sitte neben seinem Vater Heinrich III. in Speyer bestattet wurde: cum frequentissimo episcoporum aliorumque principum conventu patrem suum regio more Spire sepelit 8. Auch der als Gegner Heinrichs IV. bekannte Ekkehard von Aura legt in seiner Chronik Wert auf die Feststellung, Heinrich sei ehrenvoll im Beisein der Reichsfürsten bestattet worden: presente filio suo cunctisque regni principibus honorifice humatus, requiescit 9.
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stattungsbrauch der deutschen Könige im Früh- und Hochmittelalter, in: Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft, Jahrbuch 1989, Göttingen 1990, S. 41, S. 45. Zum Leben Heinrichs IV. s. a. Matthias Becher, in: Bernd Schneidmüller – Stefan Weinfurtner ( Hgg. ), Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. ( 919–1519 ) Darmstadt 2003, S. 154–180. Frutolfs und Ekkehards Chroniken und die anonyme Kaiserchronik, hg. von Franz-Josef Schmale – Irene Schmale-Ott ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 15 ) Darmstadt 1972, S. 288 Z. 7–16. Zur Datierung der Ekkehard zugeschriebenen Chroniken ebd. S. 19–39. S. a. Franz-Josef Schmale, Art.<Ekkehard v. Aura>, in: LMA 3, 1986, Sp. 1765–1766. Dazu unten Kap. VIII, ab Anm. 162. Annales Hildesheimenses ( wie Anm. 4 ) S. 111 Z. 20–26. S. a. Ottonis et Rahewini gesta Friderici I. imperatoris, hg. von Georg Waitz – Bernhard von Simson ( MGH SS rer. Germ. 46 ) Hannover – Leipzig 31912, S. 26 Z. 17–23: imperator Heinricus aput Leodium Belgicae urbem diem obiit; sepultisque ibidem intestinis eius, corpus in Galliae civitatem Spiram deportatur ibique in aecclesia beatae dei genitricis … iuxta patrem, avum imperatores cultu regio sepelitur. In der Neuausgabe der Gesta, die nur den Text der auf das Widmungsexemplar zurückzuführenden Handschrift ediert, fehlt der Hinweis, Heinrich sei nach königlicher Sitte bestattet worden. S. Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, hg. von Franz-Josef Schmale ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17 ) 4. erw. Aufl. Darmstadt 2000, S. 156 Z. 19–22. Die Ereignisse um Heinrichs Tod zusammengefasst auch bei Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., 6: 1106 bis 1116, Leipzig 1907, S. 6–10, S. 206–207. Die Eingeweide Heinrichs blieben in Lüttich bestattet, sie sind seit der Zerstörung des dortigen Domes 1794 verloren. Kubach – Haas 1 ( wie Anm. 1 ) S. 34–37 mit Textquellen; zur Afrakapelle s. ebd. S. 47 Anm. 30; Albrecht Mann, Doppelchor und Stiftermemorie. Zum kunst- und kulturgeschichtlichen Problem der Westchöre, in: Westfälische Zeitschrift 111, 1961, S. 149–262, bes. S. 220; Hermann Grauert, Die Kaisergräber im Dome zu Speyer. Bericht über ihre Öffnung im August 1900, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philos.-philol. u. hist. Kl., Heft 4, 1900, München 1901, S. 539–617, bes. S. 552–553. Ekkehard ( wie Anm. 5 ) S. 244 Z. 25–26; Kubach – Haas 1 ( wie Anm. 1 ) S. 35 Nr. 80 und S. 35–36 Nr. 83.
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Annelies Amberger II DIE REALIEN KRONE UND RING 10 UND IHRE ÜBERGABEFORMELN IN DEN KRÖNUNGSORDINES
1. Die Krone und ihre Formeln Die im Sarkophag des Kaisers gefundene Krone entspricht in ihrem Aussehen ganz und gar nicht dem, was man sich unter einer kaiserlichen Insignie vorstellt. Insofern bestätigt sie zuerst das Urteil älterer und jüngerer Forschung, wonach es sich bei Grabbeigaben meist um minderwertige Kopien handelt 11. Die Krone Heinrichs IV. ( Abb. 26–27 ) besteht aus vergoldetem Kupfer, sie misst 20,9–21,1 cm im Durchmesser und 14,5 cm in der Gesamthöhe, wovon der Reif allein 5,1 cm ausmacht. Die Form der Krone zeigt einen einfachen Reif, der in symmetrischer Anordnung mit vier Lilien besetzt ist. Zwischen vorderer und hinterer Lilie verläuft ein 2 cm breiter Längsbügel. Die auf trapezähnlichen Gebilden sitzenden, stark stilisierten Lilien setzen sich aus zwei größeren seitlichen Blütenblättern und einem mittigen kleineren zusammen. Bei der Lilie der Stirnseite ist der mittlere Blütenstand dreigeteilt. Die Krone war bei ihrer Auffindung zerbrochen und ist im heutigen Zustand restauriert und teilweise ergänzt. Ihre Schlichtheit entspricht jedoch dem Original. Die Bedeutung ideeller Grundlagen von Herrschaftsinsignien 12 wird durch die in den Krönungsordines überlieferten Benediktionsformeln ersichtlich, die bei der Insignienübergabe gesprochen wurden. Ihre Kenntnis ist grundlegend für das Verständnis der in allen Insignien visualisierten Herrschaftssymbolik. Die Übergabeformeln bei der Krönung 13 von Königen und Kaisern können als ein Konzentrat idealer Herrschaftsvorstellungen gelesen werden. Der Gekrönte empfängt seine Krone durch die Gnade Gottes, er steht in einer geistigen Genealogie mit biblischen und heiligen Personen 14. 10
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Kubach – Haas 2 ( wie Anm. 1 ) Abb. 1477–1480, Abb. 1483–1484. Die Krone befindet sich im Diözesanmuseum in Speyer, Inv.Nr. D 7, der Ring im Domkapitel von Speyer. s. Ausstellungskatalog Das Reich der Salier, 1024–1125, Speyer, Historisches Museum der Pfalz, 23. März bis 21. Juni 1992, Sigmaringen 1992, S. 295 Nr. 1, Abb. S. 294, S. 295 Nr. 4, Farbabb. S. 291. In Heinrichs Grab wurden kein Zepter und kein Schwert gefunden. Auch in den Gräbern Konrads II. ( † 4. Juni 1039 in Utrecht ) und Heinrichs V. ( † 23. Mai 1125 in Utrecht ) fehlten entsprechende Realien. Kubach – Haas 1 ( wie Anm. 1 ) S. 930–937, S. 952–954. Dafür kann es verschiedene Gründe geben, die hier nicht weiter ausgeführt werden sollen. Wie stark die Bewertung der Objekte immer noch vom äußeren Augenschein abhängt, zeigt zuletzt ein Katalogbeitrag von Lothar Lambacher, der von der „Verwendung minderwertiger Materialien in flüchtiger Verarbeitung“ spricht. S. Ausstellungskatalog Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, 962–1806. Matthias Puhle – Claus-Peter Hasse ( Hgg. ), Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters, 29. Ausstellung des Europarates in Magdeburg und Berlin, und Landesausstellung Sachsen-Anhalt, Dresden 2006, Katalogbd., S. 371 ( zur Grabkrone der Anna von Habsburg, † 23. Februar 1281 ). Nikolaus Gussone, Art., in: Lexikon der christlichen Ikonographie 2, 1974, Sp. 661–671. Zum Bedeutungswandel der Krone zwischen dinglicher Realie und einer Metapher für den Staat s. Hartmut Hoffmann, Die Krone im hochmittelalterlichen Staatsdenken, in: Festschrift für Harald Keller. Zum sechzigsten Geburtstag dargebracht von seinen Schülern, Darmstadt 1963, S. 71–85. Eine gute Einführung zur Königskrönung mit ihren einzelnen Abschnitten bietet Eduard Eichmann, Königs- und Bischofsweihe, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philos.-philol. u. hist. Kl., Abhdl. 6, München 1928, S. 1–13. Die biblischen Texte: 2 Sam 1,10 und 12,30; 1 Par 20,2; Ps 20,4–5; Sir 45,6–14 und 47,7–8; Is 28,2 und 62,3; Ez 16,11–12 und 23,42; Hbr 2,7; 2 Tim 4,8. Alle Bibelstellen nach Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, hg. von Bonifatius Fischer, Stuttgart 31983.
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Inhaltlich sind im Wesentlichen zwei Bereiche angesprochen: die dem König von Gott zur Herrschaftsausübung verliehenen Tugenden und die daraus resultierenden Aufgaben. Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und der rechte Glaube sowie dessen Verteidigung sind wiederkehrend angesprochene Tugenden. Durch vorbildhaftes Leben im rechten Glauben und durch gute Werke soll der König eine gerechte und gute Herrschaft auf Erden ausüben, um sich so die ewige Krone und die Teilhabe an der ewigen Herrschaft im Paradies verdienstvoll zu erwerben. Ein früher, zu 869 datierter Ordo, der auf den Reimser Erzbischof Hinkmar ( 806–882 ) zurückgeht und anlässlich der Krönung Karls des Kahlen am 9. September 869 Verwendung fand, verbindet die Kronenformel mit der Salbung: Coronet te Dominus corona gloriae in misericordia et miserationibus suis, et ungat te in regni regimine oleo gratiae Spiritus sancti sui, unde unxit sacerdotes, reges, prophetas, et martyres, qui per fidem vicerunt regna, et operati sunt iustitiam, atque adepti sunt promissiones: eisdemque promissionibus gratia Dei dignus efficiaris, quatenus eorum consortio in coelesti regno perfrui merearis. … Victoriosum te atque triumphatorem de visibilibus atque invisibilibus hostibus semper efficiat: et sancti nominis sui timorem pariter et amorem continue cordi tuo infundat, et in fide recta ac bonis operibus perseverabilem reddat, et pace in diebus tuis concessa, cum palma victoriae te ad perpetuum regnum perducat. Et qui te voluit super populum suum constituere regem et in praesenti seculo felicem, et aeternae felicitatis tribuat esse consortem. … Clerum ac populum, quem sua voluit opitulatione tuae subdere ditioni, sua dispensatione, et tua administratione, per diuturna tempora te faciat feliciter gubernare, quo divinis monitis parentes, adversitatibus omnibus carentes, bonis omnibus exuberantes, tuo ministerio fideli amore obsequentes, et in praesenti saeculo pacis tranquillitate fruantur, et tecum aeternorum civium consortio potiri mereantur. … Quod ipse praestare dignetur. Coronet te Dominus corona gloriae atque iustitiae, ut cum fide recta et multiplici bonorum operum fructu, ad coronam pervenias regni perpetui, ipso largiente, cuius est regnum, et imperium in saecula saeculorum 15. Der etwa 980 für Ratold ( 972–986 ), den Abt des Klosters Corbie, kopierte englische Ordo ändert die Schlussformel: Coronet te Deus corona glorie atque iustitiae, honore et opere fortitudinis 16. In dem bereits um 900 entstandenen, nach Carl Erdmann benannten Ordo wird das eigentliche Ziel der Krönung besonders deutlich, es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Erlangung der ewigen Krone: Impono tibi coronam regalem, qua ornatus ita vivas in terris, ut pro te et pro tibi commissis aeternum coronam recipere merearis in celis 17. 2. Der Ring und seine Formeln ( Abb. 28–31 ) Der Ring als Grabbeigabe des Kaisers, der die Investitur mit Ring und Stab im Streit mit dem Papst vehement als sein Recht beanspruchte und verteidigte, erfordert ein besonderes Augenmerk, da er nun, im Gegensatz zur Krone, in Form und Material 15
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Ordines coronationis Franciae. Texts and Ordines for the coronation of Frankish and French kings and queens in the Middle Ages, hg. von Richard A. Jackson, 1, Philadelphia 1995, S. 87, S. 107–108, Nr. 29–32, Nr. 34 ( Ordo VII ). Eine inhaltlich ähnliche Schlussformel im Ordo Ludwigs des Stammlers ( 877 ). Ordines Franciae 1, S. 122–123, Nr. 27 ( Ordo VIII ). Ordines Franciae 1 ( wie Anm. 14 ) S. 168, S. 186 Nr. 22 ( Ordo XV ). Ordines Franciae 1 ( wie Anm. 14 ) S. 142–143, S. 152 Nr. 36 ( Ordo XIII ). Die Verleihung der ewigen Krone nach Apc 2, 10: esto fidelis usque ad mortem et dabo tibi coronam vitae; Apc 3, 11: venio cito tene quod habes ut nemo accipiat coronam tuam; 1 Pt 5, 4: et cum apparuerit princeps pastorum percipietis inmarcescibilem gloriae coronam.
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von hervorragender Qualität ist. Der Grabungsleiter Hermann Grauert beschreibt den Fund folgendermaßen: „An dem Ringfinger seiner rechten Hand fand man einen großen, schönen, schweren, goldenen Ring. In feiner Filigranarbeit romanischen Stils ist auf der Oberseite des Rings gefasst ein verhältnissmässig grosser, ungeschliffener, matter Saphir. Um denselben gruppiren sich im Dreipass gestellt à jour gefasst drei Perlen, die zum Theil vermodert sind. Auf dem Reif aber trägt der Ring in Capitalis den Namen ADELBERO EPISCOPUS. Wir haben es also nicht mit einem eigentlichen Königsring, sondern mit einem Bischofsring zu thun.“ 18 Der künstlerisch aufwendig gestaltete Ring besteht aus einem Reif aus 24karätigem, rötlichfarbigem Gold, das glatt poliert ist 19. Das Gewicht von 22 g übertrifft das für Ringe dieser Art übliche Durchschnittsgewicht von 8–12 g um etwa das Doppelte. Die Gesamthöhe des Ringes beträgt 37 mm, davon weist der Reif allein einen inneren Durchmesser von 22 mm auf. Die Breite des Reifs misst 4 mm, die Dicke 2 mm. Die Fläche der aufgesetzten Schmuckplatte erstreckt sich über 28 mm. Die Capitalisinschrift ADELBERO EPS befindet sich an der Außenseite des Reifs. Am oberen Zusammenschluss teilen sich beide Reifenden, so dass sie beim Ringschluss vier Voluten ausbilden, die von der darauf sitzenden Schmuckplatte verdeckt sind. Diese trägt einen großen, hellen Saphir im gemugelten Cabochonschliff, der symmetrisch von drei, nicht mehr vollständig erhaltenen Perlen umkränzt ist 20. Die Schmuckplatte zeigt im Grundriss einen großen mittleren Kreis mit dem in eine filigrane Dreiblattkrabbenfassung eingebetteten Saphir. Daran sind in gleichmäßiger Verteilung nach Art eines Dreiecks drei die Perlen fassende kleinere Kreise aus winzigen Goldfiligranperlen angesetzt. Der Aufbau der Schmuckplatte wird formal von hochgezogenen Halbrundbögen gestaltet. Schmid datiert den Ring aufgrund stilistischer Merkmale, insbesondere der Höhe der Schmuckplatte und der Blätterkranzfassung des Saphirs in die 1020er bis 1030er Jahre oder etwas später. Als Produktionsort schlägt der Autor eine rheinische oder davon beeinflusste Werkstatt vor 21. Die bei häufigem Tragen eher hinderliche Breite der Schmuckplatte, durch die die Bewegungen der benachbarten Finger eingeschränkt waren, lässt nach Schmid auf seine Verwendung als Zeremonialring schließen 22. Es gibt vergleichbare, aus Grabfunden erhaltene Bischofsringe, die ins 11. und 12. Jahrhundert
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Grauert ( wie Anm. 7 ) S. 582. Grauert will die Möglichkeit, dass der Ring erst 1111 bei der Bestattung in Speyer an des Kaisers Finger gesteckt wurde, nicht ganz ausschließen. Kubach – Haas 1 ( wie Anm. 1 ) wollen sich in der Frage, ob der Sarkophag 1111 nochmals geöffnet wurde, nicht festlegen ( S. 948: „steht dahin“ ). Die ausführliche Beschreibung des Rings bei Wolfgang Maria Schmid, Der Ring Kaiser Heinrichs IV., in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 6, 1911, S. 13–25, bes. S. 13–14; s. a. Schramm – Mütherich ( wie Anm. 1 ) S. 39–40; Ausstellungskatalog Adalbero. 900 Jahre St. Adalbero, Bischof von Würzburg. Wirken und Verehrung in Würzburg und Lambach, Diözese Würzburg im Marmelsteiner Kabinett vom 4. Oktober bis 4. November 1990, Würzburg 1990, S. 48, Katalognummer 13. Vergleichbare Steinkombinationen auf Bischofsringen sind aus dem 12. und 13. Jahrhundert für England überliefert: Heinrich von Blois, Bischof von Winchester ( † 1171 ), und Stephan Langton, Erzbischof von Canterbury ( † 1228 ); s. Charles Oman, British rings, 800–1914, London 1974, S. 47. Eine Liste mit Ringbeigaben aus Gräbern von Königen und Bischöfen bei Meier ( wie Anm. 3 ) S. 96–103. Schmid ( wie Anm. 18 ) S. 16–19. Schmid ( wie Anm. 18 ) S. 15, S. 19.
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datieren und von denen einige ebenfalls namentlich bezeichnet sind 23. Im Grab des Mainzer Erzbischofs Aribo ( † 1031 ) fand man einen Goldring mit der auf der Schmuckplatte um den Saphir herum angebrachten Inschrift ARIBO ARCHIEPS 24. Ein goldener Siegelring mit der Namensinschrift PILIGRIMUS ARCHIEPC. wurde im Grab des Erzbischofs Pilgrim von Köln ( † 1036 ) in St. Aposteln in Köln gefunden 25. Der Goldring aus dem Grab des Bischofs Maurus ( † 1118 ) im Krakauer Dom trägt an der Innenseite des Reifs die Inschrift MAVRS.EPC 26. Erzbischof Adalbero von Trier ( † 1152 ) hatte einen Goldring mit einem großen Saphir bei sich 27. Ein Ring wird bei der Krönung von Königen 28 und der Weihe von Bischöfen verliehen 29. Er ist Symbol für ein Amt und die damit verbundene Verfügungsgewalt. Im Falle der Grabbeigabe Heinrichs IV. gilt es vorerst zu unterscheiden zwischen Königsund Bischofsring. Als Herrschaftszeichen galt der Ring bereits in der biblischen Josephsgeschichte, als der ägyptische Pharao Joseph durch Weitergabe seines Ringes zu seinem Statthalter machte 30. 23
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Auch Ringe, die keine Namen, sondern die Aufschrift Pax vobis tragen, existieren. S. Joseph Braun, Art., in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte 2, 1948, Sp. 784–787, bes. Sp. 787, mit einem dem hl. Adalbert zugeschriebenen, aus dem 10. Jahrhundert stammenden Beispiel. Braun ( wie Anm. 22 ) Sp. 787; Ausstellungskatalog Reich der Salier ( wie Anm. 9 ) S. 335 Nr. 1, Farbtafel S. 337. Der Ring wurde bei der Graböffnung am 17. August 1643 gefunden, er ist heute verloren. S. Fritz Arens, Beigaben in Bischofsgräbern. Der Ring aus dem Grabe des Erzbischofs Adolph I. von Nassau im Mainzer Dom, in: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 60/61, 1965/66, S. 118–124, bes. S. 120; Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz VI. 4: Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln, 1: Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Köln, bearb. von Wilhelm Ewald – Hugo Rahtgens, Düsseldorf 1916, S. 150. Arens ( wie Anm. 24 ) S. 120; Braun ( wie Anm. 22 ) Sp. 787, Abb. 3–4. Ringe in Gräbern polnischer Bischöfe untersuchte jüngst Andrzej Gulczynski, ´ Annulus episcopalis. Zarys problematyki ikonograficzno – I archeologicznoprawnej, in: Bi˙zuteria w Polsce: tre´sci – teksty – przesłania ( Materiały VI sesji naukowej zorganizowanej przez Toru´nski Oddział Stowarzyszenia Historyków Sztuki … w Gda´nsku, w dniach 17–18 marca 2005 roku, red. naukowa Katarzyna Kluczwajd ) Toru´n 2006, S. 37–47. Die ältesten vom Autor besprochenen Beispiele aus der Kathedrale von Posen datieren ins 12. Jahrhundert. Arens ( wie Anm. 24 ) S. 120; Johann N. von Wilmowski, Die historisch-denkwürdigen Grabstätten der Erzbischöfe im Dome zu Trier und die archäologisch-liturgisch und kunstgeschichtlich bemerkenswerthen Fundgegenstände in denselben, Trier 1876, Textbd. S. 4–5, 19, Tafel X.4. Zeichen königlicher Herrschaft war der Siegelring nachweislich im 9. Jahrhundert bei den fränkischen Königen. S. Percy Ernst Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert, 2 Bde. ( Schriften der MGH 13 ) 1, Stuttgart 1954, S. 190 die Beispiele der Ringe Ludwigs des Frommen und Lothars I. Zu verschiedenen Funktionen des Rings s. Hans-Joachim Becker, Art., in: HRG 4, 1990, Sp. 1069–1070. Odilo Engels, Art., in: LThK 5, 1996, Sp. 38; Johannes Wagner u. a., Art., in: LThK 8, 1963, Sp. 1314–1316; Michael Schmauder – Ruprecht Berger, Art., in: LThK 8, 1999, Sp. 1192–1194; Henri Leclercq, Art., in: Dictionnaire d’Archéologie chrétienne et de Liturgie 1, 1907, Sp. 2174–2223, bes. Sp. 2181–2186, Sp. 2209–2210. Beispiele früh- und hochmittelalterlicher Bischofsringe auch bei George Frederick Kunz, Rings for the finger, New York 1973, S. 265–277. Zur Bischofsweihe ausführlich Odilo Engels, Der Pontifikatsantritt und seine Zeichen, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale occidentale ( Settimane di Studio del Centro italiano di Studi sull’alto medievo 33 ) 2, Spoleto 1987, S. 707–766, zum Ring bes. S. 754–759. Bibeltexte zur Ringverleihung: Gn 41,42; Est 3,10 und 8,2/8/10; Dn 6,17 und 14,10/13; 3 Rg 21,8. S. Eduard Eichmann, Die Kaiserkrönung im Abendland. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des Mittelalters. Mit besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Rechts, der Liturgie und der Kirchenpolitik, Würzburg 1942, 2, S. 95.
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Der sakramentale Charakter des Ringes geht aus einer 1111/12 entstandenen und gegen die Laieninvestitur argumentierenden Schrift des Placidus von Nonantula hervor: 31 Si vero imperator fidelis vel aliquis princeps quod sibimet iure competit pastori aecclesiae dare voluerit, investitura ceteris hominibus consueta concedere debet, non pastorali virga seu episcopali anulo, quibus misteria domini Christi signantur, et ideo sacrata verissime comprobantur. Dignum enim non est, ut terrenarum rerum investitura a terrenis principibus episcopalibus insignibus detur, quia, ut diximus, Spiritus sancti donum per haec designatur. Der Ring des Königs wird nicht in allen Ordines genannt 32. Die Übergabe während der Krönung erfolgte nach der Salbung der Hände. Nach dem 900 datierten <Erdmann Ordo>, dem 900–950 entstandenen und dem für Ratold kopierten Ordo war der Ring der königlichen Würde vorrangig Zeichen des rechten Glaubens, der durch den König gefestigt und verteidigt werden sollte, damit er selbst ruhmreich in Ewigkeit sei 33. Der überliefert: Anuli traditio: Accipe regie dignitatis anulum, et per hunc in te catholice fidei cognosce signaculum, quia ut hodie ordinaris caput et princeps regni ac populi, ita perseverabilis auctor ac stabilitor christianitatis et christiane fidei, ut felix in opere, locuplex in fide, cum rege regum gloriereis per evum 34. Dass der dem König oder Kaiser bei der Krönung verliehene Ring auch als eine Art Bischofsring zu verstehen war, geht aus der Beschreibung eines aus der Mitte des 11. Jahrhunderts stammenden oberitalienischen Kaiserkrönungsordo hervor, in dem der dem Kaiser überreichte Ring als Bischofsring bezeichnet wird: In capite portat dyademam, in
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Placidi monachi Nonantulani liber de honore ecclesiae ( MGH Ldl 2, hg. von Ernst Dümmler u. a. ) Hannover 1892, S. 612 Z. 4–9; Verena Labhart, Zur Rechtssymbolik des Bischofsrings ( Rechtshistorische Arbeiten 2 ) Köln – Graz 1963, S. 85. Innozenz III. ( 1198–1216 ) wird später den sakramentalen Charakter des Ringes erneut betonen, indem er ihn als Gabe des Heiligen Geistes, die Weisheit und Erkenntnis schenkt, sowie als Zeichen des Glaubens und des Bundes zwischen Christus und der Kirche interpretiert; De sacro altaris mysterio, lib. 1, cap. 46 und 61, Migne PL 217, Sp. 791 A und 796 C. Volkhard Huth, Reichsinsignien und Herrschaftsentzug. Eine vergleichende Skizze zu Heinrich IV. und Heinrich ( VII. ) im Spiegel der Vorgänge von 1105/6 und 1235, in: Frühmittelalterliche Studien 26, 1992, S. 287–330, bes. S. 309 Anm. 99, weist darauf hin, dass die Ringübergabe an einen Kaiser erst für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts in den Kaiserordines nachweisbar ist. Doch sind die Formeln der Königskrönung auch für die des Kaisers maßgebend. Zum Ring als Herrschaftszeichen s. a. Athanasios A. Fourlas, Der Ring in der Antike und im Christentum ( Forschungen zur Volkskunde 45 ) Münster 1971, bes. S. 98–108. S. a. Percy Ernst Schramm, Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. zum 16. Jahrhundert, 1, Darmstadt 1960, S. 59–60, S. 202. In späterer Zeit symbolisierte der Ring die Hochzeit des Königs mit dem Königtum. Ordines Franciae 1 ( wie Anm. 14 ) S. 154, S. 162 Nr. 6 ( Ordo XIV ).<Erdmann Ordo>: Accipe anulum, signaculum sancte fidei, per quem scias repellere cunctas hereses, et catholice fidei perseverabilitati conecti. Sub hoc anulo hortamur te per gratiam omnipotentis Christi Dei nostri integritatem fidei custodire, et a tramite veritatis numquam recedere; Ordines Franciae 1, S. 148 Nr. 8, S. 152 Nr. 34 ( Ordo XIII ).: Accipe anulum, signaculum videlicet sanctae fidei, soliditatem regni, augmentum potentiae, per quae scias triumphali potentia hostes repellere, hereses destruere, subditos coadunare et catholicae fidei perseverabilitati conecti; Ordines Franciae 1, S. 185 Nr. 16–17 ( Ordo XV ). Bei der Königinnenkrönung im gilt der Ring als Zeichen der Trinität: Tunc debet ei anulus mitti digito. Accipe anulum fidei, signaculum sanctae trinitatis, quo possis omnes haereticas pravitates devitare, et barbaras gentes virtute tibi prestita ad agnitionem veritatis advocare; Ordines Franciae 1, S. 195 Nr. 51 ( Ordo XV ). Fast wortgleich der Kölner Ordo 141 ( nach dem Manuskript 141 in der Kölner Dombibliothek, 1000–1050 datiert ), Ordines Franciae 1, S. 201, S. 215–216 Nr. 56 ( Ordo XVI ).
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dextra portat sceptrum, et in digito habet unum annulum episcopalem in sinistra habet pillam auream 35. Ein Bischofsring war unterschiedlich definiert: als Ehrenring, als Siegelring und als Weihering 36. Er sollte aus reinem Gold hergestellt und mit einem glatten Edelstein geschmückt sein. Die Rechtsymbolik des Ringes ist von der Weihesymbolik zu trennen. Wurde ein Bischof abgesetzt, so verlor er die Jurisdiktionsgewalt, die Weihe war und ist wie jedes Sakrament aber beständig 37. Das erste nachweisbare schriftliche Zeugnis eines Bischofsrings datiert in das Jahr 633, als auf dem 4. Konzil von Toledo bestimmt wurde, dass ein zu Unrecht vom Amt suspendierter Bischof bei Wiedereinsetzung seinen Ring zurückbekommen muss, was die vorherige Abgabe des Ringes voraussetzt 38. Neben dem Investiturring konnten Amtsträger Siegel- und Zeremonialringe besitzen. Der Siegelring trug in der Regel einen Siegelstein und hatte den Namen des Besitzers eingraviert 39. Gregor von Tours berichtet, dass Chlodwig I. Briefe von Bischöfen als authentisch betrachtete, wenn sie mit ihren Ringen gesiegelt waren 40. Siegel und Siegelringe wurden meist nach dem Tod des Besitzers zerstört, damit sie nicht für weitere Rechtshandlungen missbraucht werden konnten. Der Zeremonialring 41 wurde zu den Amtshandlungen getragen, ein Bischof konnte mehrere davon haben, besonders wenn er mehrere Diözesen leitete. Der Zeremonialring ist kein Siegelring und auch nicht namentlich bezeichnet 42. 35
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Ordines coronationis imperialis, hg. von Reinhard Elze ( MGH Fontes iuris germanici antiqui 9 ) Hannover 1960, S. 34 Nr. 1 ( Ordo XIII ). Der Hinweis auch bei Philippe Depreux, Investitura per anulum et baculum. Ring und Stab als Zeichen der Investitur bis zum Investiturstreit, in: Jörg Jarnut – Matthias Wemhoff ( Hgg. ), Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung ( Mittelalter Studien 13 ) München 2006, S. 169–195, bes. S. 186. Labhart ( wie Anm. 30 ) S. 9, S. 15. Octavius Morgan, On Episcopal and other Rings of Investiture, in: Archaeologia or Miscellaneous Tracts Relating to Antiquity 36, 1855 S. 392–399, bes. S. 392, spricht von der zweifachen Bedeutung des Bischofsrings, der praktischen und der symbolisch-mystischen. S. a. Petro Josepho Rinaldi-Bucci, Insignibus episcoporum commentaria, commentarium quartum: de annulo, Regensburg 1891, S. 12–19; Maximilian Herberger, Art, in: HRG 2, 1978, Sp. 407; Becker ( wie Anm. 27 ) Sp. 1069; Eichmann ( wie Anm. 12 ) S. 23; ein Überblick bei Philippe Depreux, Symbole und Rituale – Die Investitur als formaler Akt, in: Ausstellungskatalog Canossa 1077 ( wie Anm. 2 ) Essaybd., S. 159–167, bes. S. 159, S. 163–165; Ders. ( wie Anm. 34 ) S. 178–190. Zur Möglichkeit, einen Bischof unter bestimmten Voraussetzungen auch im geistlichen Sinne abzusetzen s. Labhart ( wie Anm. 30 ) S. 19–20. Isidor von Sevilla, Concilia Hispaniae: Toletanum IV, Migne PL 84, Sp. 374 D–375 A: De ordine quo depositi iterum ordinantur. Episcopus, presbyter, aut diaconus, si a gradu suo injuste dejectus in secunda Synodo innocens reperiatur, non potest esse quod fuerat nisi gradus amissos recipiat, ut si episcopus fuerit recipiat coram altario de manu episcoporum orarium, annulum et baculum; si presbyter, orarium et planetam; si diaconus, orarium et albam, si subdiaconus, patenam et calicem; sic et reliqui gradus ea in reparationem sui recipiant, quae cum ordinarentur perceperant. S. a. Sancti Isidori Hispalensis episcopi de ecclesiasticis officiis, II, 11, Migne PL 83, Sp. 783 C–784 A. Bis zum 11. Jahrhundert waren die meisten Bischofsringe Siegelringe. Zur Funktion der Ringe bei Geistlichen s. a. Heinz Battke, Die Ringsammlung des Berliner Schloßmuseums, zugleich eine Kunstund Kulturgeschichte des Ringes, Berlin 1938, S. 40–44; Edmund Waterton, On Episcopal Rings, in: The Archaeological Journal 20, 1863, S. 224–238, bes. S. 225–226. Appendix ad opera Sancti Gregorii Turonensis: Clodovei regis epistola ad episcopos: si veraciter agnoscitis vestras epistolas de annulo vestro infra signatas, Migne PL 71, Sp. 1158 B. Battke ( wie Anm. 38 ) S. 42 spricht auch von Pontifikalringen, obwohl in den Inventaren dies eher als Oberbegriff verwendet wurde. Battke ( wie Anm. 38 ) S. 67 ( zu Nr. 51 ) zählt den Ring im Grab Heinrichs IV. zu den Zeremonialringen.
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Aus Benedictio und Übergabeformeln für den Bischofsring ist dessen Bedeutung als Zeichen des Glaubens, das die Binde- und Lösegewalt des Bischofs zum Ausdruck bringt, ersichtlich. Der Ring ist Zeichen des Bundes mit der Braut Christi, der Kirche, ein Türöffner zum himmlischen Reich und zum ewigen Heil. Die Formeln aus karolingischer Zeit lauten: 43 Creator et conservator humani generis, dator gratiae spiritualis, largitor aeternae salutis: tu Domine permitte tuam benedictionem super hunc annulum, ut quicunque hoc sacrosanctae fidei signo insignitus incedat, in virtute caelestis defensionis ad aeternam vitam sibi proficiat … Accipe annulum discretionis et honoris fidei signum, ut quae signanda sunt, signes: et quae aperienda sunt, prodas quae liganda sunt, liges: quae solvenda sunt, solvas: atque credentibus per fidem baptismatis: lapsis autem, sed poenitentibus, per ministerium reconciliationis ianuas regni coelestis aperias: cunctis vero de thesauro dominico nova et vetera proferas ad aeternam salutem hominibus, consolatus gratia Domini nostri. Memor sponsionis et desponsationis ecclesiasticae, et delectionis Domini Dei tui, in die qua assecutus es hunc honorem, cave ne obliviscaris illius. Accipe annulum pontificalis honoris, ut sis fidei integritate ante omnia munitus, misericordiae operibus insistens, infirmis compatiens, bene volentibus congaudens, aliena damna propria deputans, de alienis gaudiis tanquam de propriis exultans. Accipe annulum, fidei scilicet signaculum, quatenus sponsam Dei, sanctam videlicet ecclesiam, intemerata fide ornatus, illibate custodias 44. Hinkmar von Reims, der 872 seine 845 erfolgte und vorbildhaft wirkende Bischofsweihe schildert, sagt zum Ring: [ Consecrator ] mittat annulum in dexterae manus digito qui praecedit minimum, dicens ad quid illi annulus datur. Signum est enim fidei, ut audientibus se ex divinis mysteriis signet quae et quibus signanda sunt, et aperiat quae et quibus aperienda sunt 45. 3. Armillae und ihre Formeln Armillae fanden sich nicht in Heinrichs IV. Grab. Die Übergabeformel in den Ordines, ihre auch symbolisch zu deutende Kreisform und ihre Darstellung in den unten geschilderten Szenen eines Wandmalereizyklus verlangen jedoch, sie in die Überlegungen mit einzubeziehen. Dies insbesondere der Kreissymbolik wegen, die wiederum auf den Fingerring verweist. 43
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Beispiele für Ringformeln zur Bischofsweihe bei Michel Andrieu, Le sacre épiscopal d’après Hincmar de Reims, in: Revue d’Histoire Ecclésiastique 48, 1953, S. 22–73, bes. S. 54–60. Die Formel im Mainzer Pontifikale von ca. 960, in: De divinis catholicae ecclesiae officiis et mysteriis, hg. von Melchior Hittorp, Paris 1610, Sp. 111–112: Benedictio annuli. Creator et conservator humani generis, dator gratiae spiritualis, largitor aeternae salutis: tu Domine permitte tuam benedictionem super hunc annulum, ut quicunque hoc sacrosanctae fidei signo insignitus incedat, in virtute caelestis defensionis ad aeternam vitam sibi proficiat … Quando datur annulus. Accipe annulum discretionis et honoris fidei signum, ut quae signanda sunt, signes: et quae aperienda sunt, prodas quae liganda sunt, liges: quae solvenda sunt, solvas, atque credentibus per fidem baptismatis: lapsis autem, sed poenitentibus, per ministerium reconciliationis ianuas regni coelestis aperias: cunctis vero de thesauro dominico nova et vetera proferas ad aeternam salutem hominibus, consolatus gratia Domini nostri. S. a. Percy Ernst Schramm, Die Krönung in Deutschland bis zum Beginn des Salischen Hauses ( 1028 ), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 55, Kan. Abt. 24, 1935, S. 184–332, bes. S. 309 Nr. 7, beide Zitate S. 327–328, Anm. 3; bei Andrieu ( wie Anm. 42 ) S. 58 die Formel aus einem englischen Pontifikale des 10. Jahrhunderts. Weitere Formeln des 10. Jahrhunderts betonen den Ring als Zeichen des Glaubens und des Bundes mit der Kirche: Accipe anulum pontificalis honoris, ut sis fidei integritate munitus … Sub hoc anulo fidei commendamus tibi sponsam Christi, Ill. Ecclesiam, ut eam sanctam et immaculatum custodias in conspectu illius in omni bonitate – Benediccio anuli. In nomine domini nostri Iesu Christi, accipe anulum, ut sicut ipse ecclesiam suo sibi desponsavit sanguine; zit. Andrieu ( wie Anm. 42 ) S. 57 ( nach zwei Pontifikalien aus Cahors und Aurillac ). Hincmari Rhemensis archiepiscopi epistolae, ep. 29, Migne PL 126, Sp. 188 A; Andrieu ( wie Anm. 42 ) S. 54–62.
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Das Anlegen von Armspangen bei der Krönung eines Königs wird im Alten Testament beschrieben 46. In Krönungsordines werden Armillae seit dem 10. Jahrhundert als Herrschaftszeichen geführt 47. Für die Krönung Ottos I. am 7. August 936 in Aachen beschreibt Widukind von Corvey 967 die Übergabe der Armillae: Deinde sumptis armillis ac clamide induit eum: „His cornibus“, inquit, „humitenus demissis monearis, quo zelo fidei ferveas, et in pace tuenda perdurare usque in finem debere“ 48. Nach dem um 950 für das Pontificale Romano-Germanicum verfassten sogenannten Mainzer Ordo werden die Armillae, der Ring und der Mantel nach der Salbung und der Schwertübergabe angelegt, mit einer gemeinsamen Formel, die inhaltlich allerdings nur auf einen Ring eingeht: Accinctus autem ense, similiter ab illis armillas et pallium et anulum accipiat, dicente metropolitano: Accipe regiae dignitatis anulum, et per hunc in te catholicae fidei cognosce signaculum, quia ut hodie ordinaris caput et princeps regni ac populi, ita perseverabis auctor ac stabilitor christianitatis et christianae fidei, ut felix in opere, locuples in fide cum Rege regum glorieris. Per eum, cui est honor et gloria per infinita saecula saeculorum. Amen 49. Da in der beschreibenden Vorrede zur Übergabeformel von Armillae und Ring die Rede ist, kann man zumindest vermuten, dass eine Ringformel beide Ringsymbole umfasste 50. Im Ordo des Königs Edgar von 973, der neben westfränkischen auch Texte des Mainzer Ordo übernimmt, werden Armillae ebenfalls ohne Formel überreicht 51. Eine einflussreiche Neuredaktion erfolgte gegen 1100 im Anselm-Ordo, der vermutlich vom Kanzler Wilhelms I. und Bischof von Salisbury, dem hl. Osmund stammt. Die Armillae sind mit einer Formel vermerkt, nach der sie Zeichen für Weisheit und Aufrichtigkeit sind, und den König umfangen wie Gott ihn umfängt als Stärkung gegen Feinde 52. Bis zum 11. Jahrhundert sind Armillae als Herrscherinsignien für das deutsche Reich, für England und zudem für Ungarn 53 nachweisbar. Aus dem inhaltlich überlieferten Testament Kaiser Ottos IV. ( † 19. Mai 1218 ) geht hervor, dass Ring und Armillae zur Ausstattung eines toten Kaisers gehören konnten: Ordinavit ut corona quam mortui suae praeparaverat redimeretur pro XXX. 46 47
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Ez 16,11–12; 2 Sm 1,10; Eichmann ( wie Anm. 12 ) S. 5. Schramm ( wie Anm. 27 ) 2, S. 538–553; Rainer Kahsnitz, Armillae aus dem Umkreis Friedrich Barbarossas, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1979, S. 7–46. Widukind, Rerum gestarum Saxonicarum, lib. 2, cap. 1, hg. von Hans-Eberhard Lohmann – Paul Hirsch ( MGH SS rer. Germ. 60 ) Hannover 51935, S. 66 Z. 10–12. Schramm ( wie Anm. 43 ) zit. S. 308. Von Widukind wissen wir auch, dass die Armillae wie die anderen Insignien vor der Übergabe auf dem Altar lagen. Ebd. S. 65 Z. 12–15 und S. 66 Z. 10–12; Schramm ( wie Anm. 43 ) S. 307/308. S. a. Hagen Keller, Die Einsetzung Ottos I. zum König ( Aachen, 7. August 936 ) nach dem Bericht Widukinds von Corvey, in: Mario Kramp ( Hg. ), Ausstellungskatalog Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos, 1, Mainz 2000, S. 265–273. Schramm ( wie Anm. 43 ) S. 317–318 Nr. 15; dieselbe Formel in einer Redaktion des Ordo ( etwa 980 ) ebd. S. 330 Nr. 15. Schramm ( wie Anm. 43 ) S. 202–203, geht davon aus, dass die Armillae den Siegelring ersetzten, der der eigenständigen Entwicklung eines Siegels wegen seine ursprüngliche Funktion verloren hatte und damit als solcher verzichtbar wurde. Percy Ernst Schramm, Ordines-Studien III: Die Krönung in England, in: Archiv für Urkundenforschung 15, 1938, S. 305–391, bes. S. 312–313 Nr. 5, S. 322, S. 354–356; s. a. Edward Francis Twining, European Regalia, London 1967, S. 258–261. Schramm ( wie Anm. 50 ) S. 354–355; Schramm ( wie Anm. 27 ) 2, S. 550. Éva Kovács, Les fragments d’une armilla byzantine a Veszprém, in: Acta Historiae Artium 12, 1966, S. 347–352.
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marchis: ut eo mortuo super caput ejus poneretur, et indueretur … annulus in digito, armillae in brachiis 54. III DER URSPRÜNGLICHE BESITZER DES RINGES: ADALBERO VON LAMBACH-WELS, BISCHOF VON WÜRZBURG
Die Inschrift des Ringes in Heinrichs Grab verbietet eine Definition als annulus regalis oder imperialis, es handelt sich vielmehr um den Investiturring eines Bischofs. Als Besitzer wird ein Bischof Adalbero genannt. Hermann Grauert hält den Ring für das ursprüngliche Eigentum eines Erzbischofs mit Namen Adalbero, der nach dessen Tod an Heinrich geschickt wurde zur Investitur des Nachfolgers durch Heinrich, oder als ius spolii, also als an den Kaiser fallende Erbschaft eines Bischofs 55. Für die fragliche Zeit kämen nach Grauert die Bischöfe Adalbero III. von Metz ( 1047–1072 ), Adalbero von Worms ( 1065–1070 ), Adalbero von Würzburg ( 1010/15–1090 ) und Adalbero von Trient ( 1084–1106 ) in Frage 56. Zeitlich am nächsten sind die beiden Letztgenannten. Fritz Arens und Joseph Braun hielten den Ring im Grab Heinrichs IV. für den Ring Adalberos III. von Metz 57. Nach Schramm war der Ring ein Geschenk eines Unbekannten an Heinrich IV., das dieser so sehr schätzte, dass er es mit ins Grab nahm 58. Wolfgang Maria Schmid vertrat ebenfalls die These, der Ring sei als persönliches Geschenk eines Bischofs an Heinrich als Zeichen der Erinnerung gegangen 59. Schmid entschied sich letztendlich für Adalbero III. von Metz, obwohl auch er den Würzburger Bischof Adalbero von Lambach-Wels ins Gespräch brachte 60. Der Autor begründete das vorwiegend mit seiner stilanalytischen Datierung des Ringes vor der Mitte des 11. Jahrhunderts, die einen später lebenden Bischof ausschließe und der Schreibweise , die auch für den Metzer Bischof nachweisbar sei 61. Das stilistische 54
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Narratio de morte Ottonis IV. imperatoris, in: Thesaurus novus anecdotorum, hg. von Edmund Martène – Ursin Durand, 3, Sp. 1378, Paris 1717, ND Paris 1968; Kahsnitz ( wie Anm. 46 ) S. 8. Zur Zeit Heinrichs IV. fielen vom König oder Kaiser verliehene Regalien nach dem Tod des Belehnten wieder an das Reich zurück. Eine differenzierte Darstellung des Regalienbegriffs bietet Johannes Fried, Der Regalienbegriff im 11. und 12. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 29, 1973, S. 450–528, bes. S. 483–486, S. 523–524. Missverständlich zum Ring in Heinrichs Grab ist Labhart ( wie Anm. 30 ) S. 90 u. Anm. 75, nach der man annehmen könnte, Heinrich habe diesen Ring bei seiner Kaiserkrönung verliehen bekommen. Grauert ( wie Anm. 7 ) S. 582–583. Adalbero von Trient, ein Augsburger Kanoniker, war seit 1084 Bischof von Trient und 1093 Kanzler Heinrichs IV. in Italien. S. Alfred Gawlik, Bischof Adalbero von Trient und Bischof Oger von Ivrea als Leiter der italienischen Kanzlei unter Kaiser Heinrich IV., in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 26, 1970, S. 208–219. Arens ( wie Anm. 24 ) S. 120, S. 123 Anm. 27; Braun ( wie Anm. 22 ) Sp. 787. Schramm – Mütherich (wie Anm. 1) S. 40, S. 177 der Hinweis, der Name sei nicht sicher zu bestimmen. Schmid ( wie Anm. 18 ) S. 20. Schmid ( wie Anm. 18 ) S. 24–25. Die Identifikation übernimmt Battke ( wie Anm. 38 ) S. 67 ( zu Nr. 51 ). Meier ( wie Anm. 3 ) S. 100, S. 146, stellt die Frage nach der Identifikation nicht. Schmid ( wie Anm. 18 ) S. 21–25. Zieht man die Möglichkeit unterschiedlicher Schreibweisen in Betracht, so käme noch Adalbert, der Erzbischof von Hamburg-Bremen ( um 1000–1072 ) in Frage, der auf Heinrich IV. großen Einfluss ausübte und deswegen von den Fürsten verjagt wurde. 1069 holte Heinrich ihn jedoch wieder an seinen Hof zurück. Sein ihm von Heinrich III. 1043 verliehenes Erzbischofsamt verlor er nie, so dass kein Grund für eine Ringrückgabe vorlag. S. Adalbert I., in: Friedrich Wilhelm Bautz ( Hg. ), Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 1, 1990, Sp. 24; Peter Johanek, Art., in: LThK 1, 1993, Sp. 128–129.
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Argument muss nicht ausschlaggebend sein, denn längst gelten in der Kunstgeschichte Stilanalyse und Stilkritik als eine von mehreren möglichen Methoden zur Einordnung von Kunstwerken. Nicht selten existiert ein älterer Stil zeitlich parallel zu einem neueren. Wesentlich für unseren Ring sind die Fragen, welchen Zweck er zu Lebzeiten des Besitzers erfüllte und weshalb ein Bischofsring im Besitz des Kaisers sein sollte. Der von Hermann Grauert ins Gespräch gebrachte Adalbero von Lambach-Wels war 1045 von König Heinrich III. zum Bischof von Würzburg ernannt worden, einem Bistum, das zu den bedeutendsten im Reich gehörte 62. Bei der Besprechung zweier Herodesdarstellungen aus der Zeit um 1100 in einem der folgenden Kapitel wird sich zeigen, dass dieser Würzburger Bischof mit einiger Sicherheit als erster Besitzer des Ringes in Heinrichs IV. Grab identifiziert werden kann. Adalbero dürfte in der Würzburger Domschule erzogen worden sein und war vermutlich Hofkaplan Heinrichs III., seit 1057 hielt er sich häufiger am Königshof auf. Das Verhältnis zu Heinrich IV. war zuerst gut 63. Marianus Scottus ( 1028–1082 ), der in Würzburg zum Priester geweiht worden war, berichtet in seiner Chronik sogar, Adalbero sei neben Hugo von Cluny 1051 Taufpate Heinrichs IV. gewesen 64. Am 29. Juni 1066 krönt er Bertha von Savoyen, Heinrichs erste Frau, in Würzburg. Erzbischof Werner von Magdeburg zählt Adalbero zu den engen Vertrauten des Königs, weshalb er ihn 1075 um Vermittlung im Krieg mit den Sachsen bittet 65.
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Vita Sancti Adalberonis, cap. 4, hg. von Irene Schmale-Ott ( Quellen und Forschungen zur Geschichte des Hochstifts Würzburg 7 ) Würzburg 1954, S. 20; Germania Sacra, hg. vom Max-Planck-Institut für Geschichte, NF 1, Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz, Teil 1: Das Bistum Würzburg. Die Bischofsreihe bis 1254, bearb. von Alfred Wendehorst, Berlin 1962, S. 100–117, ebd. S. 1–4 zu Verfasser und Datierung; Ders., Adalbero, Bischof von Würzburg und Gründer Lambachs, in: Ausstellungskatalog 900 Jahre Klosterkirche Lambach, Benediktinerstift Lambach vom 20. Mai bis 8. Oktober 1989, Linz 1989, S. 17–24; Ders., Art., in: LThK 1, 1993, Sp. 127–128; Werner Goez, Adalbero Bischof von Würzburg, in: Fränkische Lebensbilder. Neue Folge der Lebensläufe aus Franken ( Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, Reihe VII A ) 6, 1975, S. 30–54; Theodor Schieffer, Art., in: LMA 1, 1980, Sp. 94–95. Adalbero wird als Sohn des Markgrafen Arnold II. von Lambach genannt bei Meyer von Knonau ( wie Anm. 7 ) 1: 1056–1069, Leipzig 1890, S. 187; Georg Juritsch, Adalbero, Graf von Wels und Lambach, Bischof von Würzburg und Gründer des Benediktiner-Stiftes Lambach in Ober-Oesterreich. Ein Beitrag zum Investiturkampfe, Braunschweig 1887; Leo Trunk, Sprachgeschichtliche und metrische Überlegungen zum Namen des Würzburger Bischofs, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 43 ( Archiv des Historischen Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg 114 ) Würzburg 1991, S. 80–87. Allgemein zum Verhältnis zwischen Hofkapelle und Heinrich IV. s. Josef Fleckenstein, Hofkapelle und Reichsepiskopat unter Heinrich IV., in: Josef Fleckenstein ( Hg. ), Investiturstreit und Reichsverfassung ( Vorträge und Forschungen 17 ) Sigmaringen 1973, S. 117–140. Mariani Scotti chronicon ( ad a. 1108 ) hg. von Georg Waitz ( MGH SS 5 ) Hannover 1844, S. 564 Z. 2–4: Heinricus eandem urbem [ Würzburg ] congregato exercitu obsedit et cepit, episcopoque Alberoni, quia suus erat patrinus, concessit, ut remaneret sibi fidelis et episcopus urbis. Dáibhi Ó. Cróinín, Art.<Marianus Scottus>, in: LMA 6, 1993, Sp. 285–286; Wendehorst, Germania sacra ( wie Anm. 61 ) S. 102; Meyer von Knonau ( wie Anm. 7 ) 4: 1085–1096, Leipzig 1903, S. 131; Wendehorst, in: 900 Jahre Lambach ( wie Anm. 61 ) S. 18. Selbst wenn der Wahrheitsgehalt des Berichts nicht zu verifizieren ist, so zeigt er doch, als wie eng das Verhältnis der beiden in den Augen der Zeitgenossen galt. Wendehorst, in: Germania Sacra ( wie Anm. 61 ) S. 105.
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Doch Adalbero wechselte ins Lager der Gregorianer und tat dies erstmals durch seinen Protest gegen Heinrich auf der Wormser Synode am 24. Januar 1076 kund, als der König den Papst für abgesetzt erklärte. Adalbero wurde zum erbitterten Gegner Heinrichs IV., er gehörte zu der Gruppe von Fürsten und Bischöfen, die Ostern 1076 den Königssturz beschlossen, der dann durch Heinrichs Auftritt in Canossa abgewendet wurde. Nach seiner Beteiligung an der Wahl Rudolfs von Rheinfelden am 15. März 1077 in Forchheim, zuvor hatte man Heinrich förmlich abgesetzt, musste er Würzburg verlassen. Das kaisertreue Würzburg war für Heinrich in seinem Kampf gegen die Sachsen von strategischem Gewicht, so dass er bestrebt war, es nicht wieder in die Hände Adalberos fallen zu lassen. An dem am 12. November 1077 durch den Kardinaldiakon Bernhard und Erzbischof Siegfried von Mainz im Auftrag des Papstes ausgesprochenen Anathema Heinrichs war Adalbero beteiligt. Heinrich erklärte ihn und andere Geistliche, darunter den Erzbischof Gebhard von Salzburg ( um 1025–1088 ), der an der Vertreibung Adalberts von Hamburg-Bremen 1066 und den Vorgängen in Forchheim beteiligt war, und Bischof Altmann von Passau ( 1010/1020–1091 ), mit denen zusammen Adalbero als gregorianischer Parteigänger auftrat, jedoch erst auf der nachösterlichen Synode in Mainz 1085 für abgesetzt 66. Das wäre die Zeit gewesen, in der Adalbero seinen Bischofsring hätte zurückgeben müssen 67. Adalbero konnte 1086 nach einem Sieg des Gegenkönigs Hermann von Salm über die kaiserlichen Truppen noch einmal für kurze Zeit das Würzburger Bistum in Besitz nehmen 68. Heinrich gewann das Bistum jedoch bald wieder zurück. Er bot Adalbero die Versöhnung und die Rückkehr in sein altes Bischofsamt an, doch dieser lehnte ab. Im oberösterreichischen Lambach gründete Adalbero aus dem Besitz seiner Familie ein Benediktinerkloster, in dem er seine letzten Lebensjahre verbrachte. Er starb dort am 6. Oktober 1090, nachdem am 14. oder 15. September 1089 Bischof Altmann von Passau den Hochaltar der Klosterkirche geweiht hatte 69. Adalbero wurde in der Kirche bestattet 70. Die Kanonisation erfolgte am 5. Juli 1883. Verehrung und Kult 66
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Heinz Dopsch, Art., in: LThK 4, 1995, Sp. 325; Tilman Struve, Art., in: LMA 4, 1989, Sp. 1163–1164; Theodor Schieffer, Art., in: LMA 1, 1980, Sp. 477–478; Egon Boshof, Art., in: LThK 1, 1993, Sp. 471–472. Beide waren von Heinrich IV. durch die Übergabe von Ring und Stab in ihr Amt eingesetzt worden. S. Rudolf Schieffer, Die Entstehung des päpstlichen Investiturverbots für den deutschen König ( Schriften der MGH 28 ) Stuttgart 1981, mit den entsprechenden Quellen S. 96 Anm. 217. Gebhard von Salzburg betrachtete noch 1081, in einer Art Rückschau die Investitur durch den König als eine normale Sache ( Ders., S. 127–128 ). Josef Fleckenstein, Heinrich IV. und der deutsche Episkopat in den Anfängen des Investiturstreits. Ein Beitrag zur Problematik von Worms, Tribur und Canossa, in: Josef Fleckenstein – Karl Schmid ( Hgg. ), Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, Freiburg u. a. 1968, S. 221–236, bes. S. 229–230, schildert einen Fall von Amtsenthebung am Beispiel des von Heinrich IV. eingesetzten Karl von Konstanz. Der Bischof kam 1071 auf Betreiben der Konstanzer Kanoniker vor die Reichssynode in Mainz, wo er der Simonie angeklagt wurde. Als Heinrich erkannte, dass er ihn nicht halten konnte, willigte er in seine Resignation ein, worauf Karl von Konstanz Ring und Stab an den König zurückgab. Meyer von Knonau ( wie Anm. 7 ) 4, S. 128–131. Wendehorst, in: Germania Sacra ( wie Anm. 61 ) S. 113–114; Meyer von Knonau ( wie Anm. 7 ) 4, S. 287–288. Vita Adalberonis, cap. 7 und 8 ( wie Anm. 61 ) S. 26, S. 36, S. 38.
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sind in Lambach jedoch schon bald nach dem Tod nachweisbar 71. Bei der Öffnung seines Grabes fand sich anscheinend kein Ring, zumindest ist nichts Entsprechendes überliefert 72. Die Ende des 12. Jahrhunderts von einem Lambacher Mönch verfasste berichtet jedoch von einer wundersamen Begebenheit, nach der bei der Weihe der Kirche 1089 der Edelstein aus Adalberos Bischofsring auf ein Reliquiar fiel, was Adalbero als göttliches Zeichen verstand, an eben dieser Stelle sein eigenes Grab zu errichten 73. Die Begebenheit muss keineswegs im Gegensatz zur These stehen, beim Ring in Heinrichs Grab handle es sich um denjenigen Adalberos. Sie zeigt vielmehr, dass die gemma pontificalis anuli ein Stein des Anstoßes war, weil der Ring im Leben des Verehrten eine so entscheidende Rolle spielte. Die Episode ist somit legendär als Reaktion auf die Absetzung des verehrten Bischofs zu verstehen, die sich symbolisch in der Ringrückgabe äußerte. Das schließt nicht aus, dass Adalbero weitere Ringe besaß, die er als Ersatz für seinen Investiturring verwenden konnte. Der Ring dürfte in Heinrichs Besitz durch die erzwungene Rückgabe gelangt sein 74. Ein Ring mit dem Namen Adalberos ist sicher nicht zufällig an den Finger des toten Kaisers gesteckt worden. Hätte man nur irgendeinen Ring als Ersatz für eine Herrscherinsignie gebraucht, so hätte sich einer im Bestand Heinrichs oder eines seiner Getreuen finden lassen. Die Wahl war nicht unüberlegt. Die dem Ring in Heinrichs Grab eigene Schreibart des Namens anstelle von spricht nicht gegen Adalbero von Würzburg, denn sein Bischofssiegel trug ebenfalls die erstgenannte Schreibung des Namens 75. IV DIE FRAGE DER INVESTITUR
Der Bischofsring in Heinrichs Grab kann nur im Zusammenhang mit der wesentlichen Problematik des Investiturstreits gesehen werden, dem Recht zur Einsetzung von Bischöfen mit Ring und Stab durch König oder Kaiser. In der Auseinandersetzung zwischen Heinrich IV. und den Bischöfen ging es unter anderem um die Frage, wer zur Verleihung des Ringes berechtigt war. Bis zum Wormser Konkordat 1122 war es üblich, dass der Ring dem Bischof zuerst vom König und dann vom Konsekrator verliehen wurde 76. Während der deutsche König den Stab bereits seit dem 9. Jahrhundert überreichte, wurde die Übergabe eines Ringes an den erwählten Bischof zusätzlich
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In Münsterschwarzach wird er seit dem 17. Jahrhundert und in Würzburg seit dem 18. Jahrhundert verehrt. S. Wendehorst, in: Germania Sacra ( wie Anm. 61 ) S. 116; Heinrich Schmidinger, Die Verehrung des hl. Adalbero, in: 900 Jahre Lambach ( wie Anm. 61 ) S. 43–52. Das Grab wurde am 19. November 1789 geöffnet. Schmidinger ( wie Anm. 70 ) S. 43–52, bes. S. 50, S. 154 Nr. II.18. Vita Adalberonis, cap. 8 ( wie Anm. 61 ) S. 36: Et cum iam gerula sacra gerens ossicula loco confessionis imponenda esset, gemma pontificalis anuli elaps thecam incidit confessionis … episcopus … aliquod divinum hac in re presagium intelligens … „Hec“, inquiens, „requies mea in seculum seculi: hic habitabo, quoniam elegi eam“ [ nach Ps 131, 14 ]. Erstmals nachweisbar ist ein solcher Vorgang im Fall des Erzbischofs von Ravenna, Widger, der 1046 vom Amt zurücktrat. S. Depreux ( wie Anm. 34 ) S. 192. Rundsiegel auf einer gefälschten Urkunde vom 7. Juli 1069: Adelber Wirceburgensis episcop.; s. 900 Jahre St. Adalbero ( wie Anm. 18 ) S. 38 Kat.nr. 3. Labhart ( wie Anm. 30 ) S. 52–55.
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zum Stab erstmals im 11. Jahrhundert praktiziert 77. Sie scheint unter Heinrich III., der ein Befürworter der Kirchenreform war, gängige Praxis geworden zu sein 78. Nach dem Tod des Bischofs wurden Ring und Stab in der Regel, nach der Absetzung musste er an den König zurückgegeben werden 79. Eine Gesandtschaft überbrachte nach dem Tod eines Bischofs dem König den Bischofsstab und den Ring und bestimmte oft gemeinsam mit dem König einen Nachfolger, der dann investiert wurde 80. Diese zumindest für einen gewissen Zeitraum praktizierte Ringrückgabe 81 musste die Anfertigung von Duplikaten zur Folge haben, denn in zahlreichen Bischofsgräbern wurden Ringe gefunden. Dabei handelt es sich in nicht wenigen Fällen keineswegs um minderwertige Kopien, sondern um kunstvoll ausgeführte Goldringe mit Edelsteinen. Auch aus der Zeit der Salier sind bischöfliche Amtsringe als Grabbeigaben bekannt 82. Der Ring war ebenso wie der Stab des Bischofs und wie Krone und Zepter des Königs Amtsinsignie, mit der der Bischof ins Jenseits eintrat, und die deshalb im oder als mit ins Grab gegeben wurde. Doch standen letztendlich nicht nur die Insignien Ring und Stab im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, vielmehr ging es um das Recht der Macht zur Verleihung aller herrscherlichen Insignien und Regalien 83. Die öffentliche Übergabe von Realien als Amtszeichen erfuhr seit dem 10. Jahrhundert eine Zunahme an Bedeutung und Häufigkeit 84. Die im Eigenkirchenrecht begründete Einsetzung Geistlicher durch den König war über lange Zeit kein Gegenstand offenen Streits, zumal Klerus und Volk ein gewisses Mitspracherecht zustand. Dessen mehr oder weniger gelungene Umsetzung in die Praxis war Anlass gelegentlicher Diskussionen und Auseinandersetzungen. Im Allgemeinen jedoch wurde die Investitur durch Laien als eine Art Gewohnheitsrecht
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Claudia Zey, Papsttum und Investiturstreit, in: Heiliges Römisches Reich ( wie Anm. 10 ) Essaybd., S. 147–157. S. a. Hagen Keller, Die Investitur. Ein Beitrag zum Problem der <Staatssymbolik> im Hochmittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 27, 1993, S. 51–86, bes. S. 61 und S. 62 Anm. 46, mit einem schon unter Heinrich II. zu datierenden Beispiel einer Ringübergabe durch den König ( 1012 an den Erzbischof von Magdeburg ); Schieffer ( wie Anm. 65 ) S. 11 ( die Investitur des Eichstätter Bischofs Gundekar 1057 ), dort S. 13–16, S. 100–101, zur Entstehung und einer erstmals nachweisbaren Anwendung des Begriffs investitura. Depreux ( wie Anm. 34 ) S. 187. Arens ( wie Anm. 24 ) S. 119. Die Rückgabe eines Bischofsrings war vermutlich nicht nur in Deutschland Brauch. Arens, S. 119, S. 123 Anm. 27, verweist auf wenige Beispiele aus England und Frankreich. Bei Johannes Kirchmann, De annulis liber singularis, Leiden 1672, cap. 20, S. 183 heißt es: Quando autem casu veniebat, ut Episcopus sive Abbas moreretur, tunc Principes ac primores ejus Collegii aut civitatis annulum ac virgam pastoralem defuncti ad aulam Imperatoris transmittebant, qui postea sacra illa insignia, cuicunque vellet, conferebat. Fleckenstein ( wie Anm. 66 ) S. 224. Morgan ( wie Anm. 35 ) S. 396–397, vermutet, dies sei bis zum Wormser Konkordat von 1122 üblich gewesen, denn als das Investiturrecht an die Kirche ging, konnte die Rückgabe nach dem Tod eines Bischofs entfallen. S. Braun ( wie Anm. 22 ) und die oben angeführten Beispiele ( bei Anm. 24 ). Der Investiturbegriff ist umfassender zu verstehen als dies hier dargelegt wird. Hagen Keller ( wie Anm. 76 ) S. 55–56, versteht die Investitur als eine zeichenhaft-symbolische Handlung zur Einweisung in ein Amt und als „Interaktion von Herrschaftsträgern“, durch die deren Machtverhältnis zueinander gezeigt wird, das zudem als Teil einer weiterreichenden Ordnung verstanden wird. S. Keller ( wie Anm. 76 ) S. 56.
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akzeptiert. Probleme gab es besonders im Hinblick auf den Ämterkauf 85. Die Frage nach dem Recht des Königs, die Investitur mit Ring und Stab durchzuführen, formulierte Humbert von Silva Candida ( vor 1026–1061 ) als einer der ersten in seiner 1057 entstandenen Schrift 86. Erste Verbote der Investitur stammen vom Januar 1078 und vom 19. November desselben Jahres 87. Richtig akut scheint die Frage hingegen erst um 1100 geworden zu sein, also wenige Jahre vor Heinrichs Tod 88. Der Empfang von Insignien aus der Hand des Königs hatte sowohl weltlich-rechtlichen Charakter, der mit Regalienbesitz verbunden war, als auch überweltlich-geistlichen Charakter, den der König durch seine eigene Krönung erhielt und stellvertretend weitergab. Dieser Anspruch, im Investiturvorgang die weltliche und geistliche Macht zu repräsentieren, war ein Kernbereich des zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. ausgetragenen Konflikts. Die Amtsinsignien waren die sichtbaren und wohl von vielen verstandenen Zeichen der mit ihnen verbundenen Symbolik. Die Verleihung der virga pastoralis oder des baculus pontificalis durch den König blieb jedoch ein zu Heinrichs IV. Zeiten übliches Verfahren, an dem Humberts Traktat vorerst nichts geändert hatte 89. Heinrich V. bestand nach dem Tod seines Vaters ebenfalls auf seinem Investiturrecht, musste jedoch mit dem Abschluss des Wormser Konkordats am 23. September 1122 darauf verzichten und durfte nur noch die weltliche Investitur des Bischofs mit einem Zepter vornehmen. Eine Verteidigung der königlichen Rechte unter Hinweis auf die Salbung des Herrschers unternimmt der <normannische Anonymus> in seinen um 1100 verfassten 85
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Nach Schieffer ( wie Anm. 65 ) S. 26–36, war die Simonie Ausgangspunkt, die Investiturfrage hingegen eine Folge des Streits. Eine Zusammenfassung der Ereignisse auch bei Tilman Struve, Salierzeit im Wandel. Zur Geschichte Heinrichs IV. und des Investiturstreits, Köln u. a. 2006, S. 97–116. Humberti cardinalis adversus simoniacos, lib. 3, cap.6 (MGH Ldl 1, hg. von Ernst Dümmler u. a.) Hannover 1891, S. 205 Z. 11 ff.: Quid enim ad laicas pertinet personas sacramenta ecclesiastica et pontificalem seu pastoralem gratiam distribuere, camyros scilicet baculos et anulos, quibus praecipue perficitur, militat et innititur tota episcopalis consecratio? … Porro anulus signaculum secretorum caelestium indicat, praemonens praedicatores, ut secretam sapientiam Dei cum apostolo dissignent et loquantur inter perfectos, quam velut signatam reticent imperfectis, quibus nondum solido cibo, sed solo lacte opus est, sive ut tanquam amici sponsi fidei arram sponsae ipsius, quae est ecclesia, sine intermissione exhibeant et commendent. … Quid enim sibi iam pertinet aut prodest baculum et anulum, quos portat, reddere? Nunquid quia a laica persona dati sunt: Sed etiam a laico baptisma datum non est iterandum sed oratione et unctione a sacerdote, si supervivitur, supplendum; sine quibus, nisi forte supervivatur, regnum caelorum indubitanter intratur, cum sine aquae lavacro nullus. Unde palam est omne episcopale officium in baculo et anulo eis datum, sine quorum initiatione et auctoritate episcopari nequeunt, cum sine unctione visibili constet sanctis apostolis hoc attributum in sola perceptione curae pastoralis, quae baculo et anulo visibiliter monstratur et datur; ebd. lib. 3, cap. 15, S. 217 Z. 29–38: Quapropter saeculariter potentes, ne potenter tormenta patiantur, inter alia ecclesiastica sacramenta caveant anulis et virgis ecclesiasticis quemlibet insignire, scientes hoc non sui officii, sed sacerdotum esse … ipsi multo magis anulum praedicationis seu ecclesasticae desponsationis dant in manu eius. Quorum enim non est baptizare et praedicare, multo minus est anulum dare, quo specialius commendatur praedicatio et magisterium rectorum ecclesiae, quorum est etiam vitulum saginatum adducere et occidere, sacramenta scilicet corporis et sanguinis Christi familiae eius epulaturae praeparare. S. Rudolf Schieffer, Art. , in: LMA 5, 1991, Sp. 207–208; Labhart (wie Anm. 30) S. 82. Schieffer ( wie Anm. 65 ) S. 162–173, S. 204. In den Verboten wird explizit auf den König oder Kaiser Bezug genommen. Die Texte bei Stefan Beulertz, Das Verbot der Laieninvestitur im Investiturstreit ( MGH Studien und Texte 2 ) Hannover 1991, S. 5–8, Nr. 3 und Nr. 5. S. a. Johann Englberger, Gregor VII. und die Investiturfrage. Quellenkritische Studien zum angeblichen Investiturverbot von 1075 ( Passauer historische Forschungen 9 ) Köln 1996; Labhart ( wie Anm. 30 ) S. 86–87. Beulertz ( wie Anm. 86 ) bes. S. 158–160. Zu dessen Rezeption s. Schieffer ( wie Anm. 65 ) S. 41–47.
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Traktaten, wenn er feststellt, dass der Bischof Ring und Stab nicht aus der Hand eines Laien empfängt, sondern aus der Hand des durch die Salbung von Gott erwählten und geheiligten Königs 90. Auch die Konstantinische Schenkung lieferte Argumente für das Recht des Kaisers, Ring und Stab an Bischöfe zu verleihen. In der nicht sicher zugeschriebenen, um 1111 verfassten verwendet der Autor die Machtübergabe durch Konstantin an den Papst gegen die Gregorianer. Denn wenn selbst der Papst die Zeichen der Macht aus der Hand Konstantins, der doch nur weltlicher Herrscher war, nicht verschmähte, weshalb sollte dem Kaiser (Heinrich) untersagt sein, Ring und Stab an Bischöfe zu verleihen, die doch einem niedrigeren Stand angehören als der Papst 91. Auch wenn wir die Kenntnis dieser Schrift am Hof Heinrichs IV. nicht voraussetzen können, so spiegelt sie sicher gängiges Gedankengut wider. Der Luccheser Bischof Rangerius ( vor 1097–1112 ) gibt das Verständnis des Ringes aus Sicht der Gregorianer in seinem 1110 verfassten wieder, wenn er den Ring als heiliges Zeichen und Hochzeitsring mit der Braut Kirche bezeichnet, der nicht von einem Laien verliehen werden dürfe 92. Die von Gregor VII. am 90
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Tractatus Eboracenses, lib. 4 und 5 ( MGH Ldl 3, hg. von Ernst Dümmler u. a. ) Hannover 1897, S. 676 Z. 27–34, S. 677, Z. 24–37, S. 679 Z. 12–19, S. 678 Z. 28–32: Unde manifestum est reges habere sacrosanctam potestatem ecclesiastici regiminis super ipsos etiam pontifices Domini et imperium super eos, ut et ipsi pie fideliterque regant sanctam ecclesiam, inmaculatam sponsam inmaculati sponsi, dignam digni, divinam Dei, celestem celestis. Non est igitur contra regulam sanctitatis, si eis conferunt signa sacri regiminis, id est baculum et anulum honoris, quibus etiam habent tribuere potestatem et ministerium regendi. Nunc autem inseramus benedictionem et consecrationem sacerdotis et regis, ut in eis videamus, quid virtutis et gratie, quid sanctitatis et celestis prerogative in ipsis efficiant. … Hac uncitone perunxit eum Christus in regimen, unde unxit sacerdotes, reges et prophetas ac martires, qui per fidem vicerunt regna et operati sunt iusticiam atque adepti sunt promissiones. Hec est Dei sacratissima unctio, qua nulla reperitur sacratior. Hec super capud eius defluit et ad interiora descendit et cordis illius intima penetrat, et promissionibus, quas adepti sunt victoriosissimi reges, gratia Dei dignus efficitur, quatinus et in presenti seculo feliciter regnet et ad eorum consortium in celesti regno perveniat. Hec est illius signum unctionis et exemplum, qua Deus pater filium suum unigenitum uncxit oleo exultationis pre participibus suis. Hac unctione tante religionis gratiam sortitur, ut exempla Aaron in Dei servitio debeat imitari, id est sicut summus pontifex in his qui Dei sunt Domino famulari. Nam et iuxta ritum pontificis accipit anulum, signaculum videlicet sancte fidei, soliditatem regni, augmentum potentie, per que sciat triumphali potentia hostes repellere, hereses destruere, subditos coadunare, et catholice fidei perseverabilitati conecti. Unde manifeste datur intelligi, quod per anuli sacramentum pontificale sortitus est ministerium. … Ei ergo qui talibus ac tantis benedictionibus benedicitur, qui talibus ac tantis sacramentis consecratur et deificatur, nullus est iure preferendus, quia nullus pluribus vel melioribus benedicitionibus benedicitur, nullus pluribus et maioribus sacramentis consecratur et deificatur, immo nec tot nec paribus, ac per hoc nullus est ei coequandus. Quare non est appellandus laicus, quia christus Domini est, quia per gratiam Deus est, quia summus rector est, quia pastor et magister et defensor et instructor sancte ecclesie summus est … quia presul princeps et summus est … Si ergo presul princeps est, et summus presul est, quia super alios presules principatum habet, quapropter cum aliis presulibus tribuit virgam et anulum, sacri videlicet signa regiminis, quod est honor, immo officium regis, quoniam a regendo dicitur rex, non laica manus hec tribuit, sed sanctificata manus presulis. S. Labhart ( wie Anm. 30 ) S. 88–89; Peter Classen, Art., in: LMA 1, 1980, Sp. 673–674. Gregorii Catinensis monachi Farfensis orthodoxa defensio imperialis ( MGH Ldl 2 ) ( wie Anm. 30 ) S. 537 Z. 29–35: In quibus nimirum verbis audenter et catholice conicere possumus, quia, si Constantinus, qui utique erat terreni dominus tantummodo iuris, super vertice pape manibus suis posuit imperiale frigium et non est hoc agere veritus, ymo benignissima devotione fidelique peregit mente, nec papa quoque dedignatus est suscipere illud: quare orthodoxo imperatori interdicitur, ut baculum vel anulum episcopis vel prelatis eclesiae, qui certe inferioris ordinis pape sunt, et in eorum manibus non largiatur? S. a. Labhart ( wie Anm. 30 ) S. 89. Die Zuschreibung an den Mönch Gregor von Catino aus Farfa scheint überholt. S. Herbert Zielinski, Art., in: LMA 4, 1989, Sp. 1682. Rangerii episcopi Lucensis liber de anulo et baculo ( MGH Ldl 2 ) ( wie Anm. 30 ) S. 509 Z. 14–19, S. 527 Z. 9–12: Anulus et baculus duo sunt sacra signa, nec ullo / De laici manibus suscipienda modo. / Anulus est sponsi,
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3. März 1075 formulierten Leitsätze im machten seine Position überaus deutlich. Im achten Satz erhebt er den Anspruch, er allein dürfe die kaiserlichen Herrschaftszeichen verwenden: Quod solus possit uti imperialibus insigniis 93. Gregor nennt keine einzelnen Insignien, er spricht von den kaiserlichen Insignien, ohne Heinrich IV. explizit anzusprechen, der ja erst am 31. März 1084 vom Gegenpapst Clemens III. in Rom zum Kaiser gekrönt wurde. Gregor versucht jedoch, die Macht des Königs zu begrenzen. Zuerst hatte er Heinrich noch in einer Weihnachten 1075 in Goslar verlesenen Mahnung zur Umkehr bewegen wollen. Die im Februar 1076 ausgesprochene Absetzung und Exkommunikation entband die Christen in Heinrichs Reich von ihrer Gehorsamspflicht dem König gegenüber 94. Heinrich selbst hatte zuvor auf der Wormser Synode am 24. Januar 1076 als Antwort auf Goslar die Absetzung Gregors ausgesprochen und sowohl in der Eingangs- als auch in der Schlussformel dezidiert sein Gottesgnadentum ins Feld geführte: Heinricus non usurpative, sed pia dei ordinatione rex und Ego Heinricus dei gratia rex 95. Als Heinrich zur Lösung vom Bann und damit zur Wiedererlangung seiner Macht am 28. Januar 1077 im Innenhof der Burg von Canossa stand, tat er dies barfuß und im Büßergewand, ohne irgendein Herrschaftszeichen: Venit ille [ rex ] … deposito cultu regio, nihil preferens regium, nihil ostentans pompaticum, nudis pedibus 96. Zu Beginn seiner Inszenierung hatte Heinrich dem Papst angeboten, die Herrschaft freiwillig abzugeben, wenn Gregor ihn nur erst vom Bann lösen wolle, damit er sich in einem Verfahren als Mitglied und nicht außerhalb der Kirchengemeinschaft verantworten könne 97. Gregor
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sponsae datur anulus, ut se / Noverit unius non alium cupere. / Gemma notat sponsam, sponsus signatur ab auro / Haec duo conveniunt, sicut et illa duo. … Praesule sacrato sollemniter atque peruncto / Anulus et baculus in sacra signa datur. / Anulus, ut sponsum se noverit et sibi iunctam, / Non sibi, sed Christo, diligat ecclesiam. Das Verständnis des Bischofsrings als Ring der Kirche ist schon in karolingischer Zeit nachweisbar. S. Waterton ( wie Anm. 38 ) Zit. S. 226, mit zwei Beispielen: Annulo sanctae nostrae Ecclesiae, Bischof David von Benevent; annulo Ecclesiae nostrae, Bischof Rathbodus von Trier. S. a. Victor Leroquais, Les Pontificaux manuscrits des Bibliothèques publiques de France, I, Paris 1937, 1, S. 10; Elke Goez, Art., in: LThK 8, 1999, Sp. 827. Gregorii VII registrum, lib. 2, Nr. 55a, hg. von Erich Caspar ( MGH Epp. sel. 1 ) Berlin 1920, S. 204. Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV. Brunos Sachsenkrieg, hg. von Franz-Josef Schmale ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 12 ) Darmstadt 31963, S. 288 Z. 13–19: Hac itaque fiducia fretus, pro ecclesiae tuae honore et defensione, ex parte omnipotentis Dei Patris et Filii et Spiritus sancti, per tuam potestatem et auctoritatem Heinrico regi, filio Heinrici imperatoris, qui contra tuam ecclesiam inaudita superbia insurrexit, totius regni Teutonicorum et Italiae gubernacula contradico et omnes christianos a vinculo iuramenti, quod sibi fecerunt vel facient, absolvo et, ut nullus ei sicut regi serviat, interdico. Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV. ( wie Anm. 93 ) Die Briefe Heinrichs IV., S. 65 Z. 15 und S. 68 Z. 1. Lampert von Hersfeld, Annalen, neu übersetzt von Adolf Schmidt, erläutert von Wolfgang Dietrich Fritz ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 13 ) Darmstadt 31957, S. 406 Z. 17–20; s. a. Quellen zum Investiturstreit. 1. Teil: Ausgewählte Briefe Papst Gregors VII., hg. von Franz-Josef Schmale ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 12a ) Darmstadt 1978, Nr. 27 S. 242: Ibique per triduum ante portam castri deposito omne regio cultu miserabiliter. Brunos Sachsenkrieg ( wie Anm. 93 ) S. 330/332. Lampert ( wie Anm. 95 ) S. 404 Z 27–31, S. 406 Z. 1–3: proinde obnixius petere … ut solo interim anathemate absolvatur et communionis ecclesiasticae gratiam recipiat … et iuxta sententiam eius regnum vel retenturus … vel equo animo, si causa cecidisset, amissurus.
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fordert von ihm den vorherigen Verzicht auf Insignien und Herrschaft: „Si veraciter“, inquit, „eum facti penitet, coronam et caetera regni insignia in argumentum verae et ex animo actae penitudinis nostrae potestati dedat et se post tam contumax admissum regio nomine et honore deinceps indignum profiteatur“ 98. Er empfing den König schließlich ohne die Einlösung seiner Forderung. Heinrich hatte die Insignien nicht an den Papst übergeben, aber er hatte darauf verzichtet, sie zu tragen, als er zum Bußgang antrat. Gregor hob den Bann auf, verlangte von Heinrich aber, dass er bis zum endgültigen Urteil über die Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft keine Insignien tragen dürfe: Usque ad eam autem diem, qua causa eius legitime discussa terminaretur, nulla regii cultus ornamenta, nulla regiae dignitatis insignia sibi adhiberet 99. Neben der üblichen Sammelbezeichnung insignia hatte Gregor in seiner Aufforderung zur Insignienabgabe als Realie die Krone genannt. Dezidiert in der Kronenübergabeformel kommt zum Ausdruck, dass des Königs Macht von Gott verliehen ist. Die in den Krönungsordines überlieferten Insignienübergabeformeln stellen als Quelle aller königlichen oder kaiserlichen Macht die Gnade Gottes in den Mittelpunkt, durch die diese Macht erst verliehen wird. Dass besonders unter den Saliern das sakrale Herrschaftsverständnis stark ausgeprägt war, hat Erkens kürzlich dargelegt 100. Heinrich III. ( 1017–1056 ) wurde als alter post Christum bezeichnet 101. Gregor VII. hingegen kehrte in seinem Schreiben an Hermann von Metz vom 15. März 1081 im Hinblick auf seinen Gegenspieler Heinrich IV. diese Sicht um, als er das Gegenbild vom guten, Christus dienenden König zum tyrannischen, dem Teufel dienenden König, der seinen Königstitel zu Unrecht trägt, entwarf 102. Am 7. März 1080 formulierte Gregor auf der Fastensynode in Rom nochmals seine Ablehnung der Laieninvestitur. Sollte ein Herrscher einen Geistlichen investieren, so soll er noch im Diesseits die göttliche Strafe erleiden, um sein Seelenheil im Jenseits nicht zu verwirken: Si quis imperatorum regum … vel quilibet secularium potestatum aut personarum investituram episcopatuum vel alicuius ecclesiastice dignitatis dare presumpserit … divine animadversionis ultionem in hac presenti vita tam in corpore suo quam ceteris rebus suis sentiat, ut in adventu Domini spiritus salvus fiat 103. Um den Vollzug dieser Strafe bittet Gregor die Erzväter und Heiligen, immer noch die Rettung von Heinrichs Seele im Blick: Agite nunc, 98 99 100
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Lampert ( wie Anm. 95 ) S. 406 Z. 7–10. Lampert ( wie Anm. 95 ) S. 408 Z. 1–3. Franz-Reiner Erkens: Der pia Dei ordinatione rex und die Krise sakral legitimierter Königsherrschaft in spätsalisch-frühstaufischer Zeit, in: Jarnut – Wemhoff ( wie Anm. 34 ) S. 71–101; Ders., Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006, S. 190–214. Zum geistlichen Charakter des Königtums s. a. Hagen Keller, Das Bildnis Kaiser Heinrichs im Regensburger Evangeliar aus Montecassino ( Bibl. Vat., Ottob. lat. 74 ). Zugleich ein Beitrag zu Wipos, in: Frühmittelalterliche Studien 30, 1996, S. 173–214, bes. S. 201–204 am Beispiel der Diakonsstola als Bestandteil des Herrscherornats. Wipo, Tetralogus, hg. von Harry Bresslau ( MGH SS rer. Germ. 61 ) Hannover 31915, S. 76 Z. 19; Erkens ( wie Anm. 99 ) S. 73. Gregorii VII Registrum, lib. 8, Nr. 21 ( wie Anm. 92, MGH Epp. sel. 2.2 ) Berlin 1923, S. 557 Z. 11–19, weitere Vergleiche S. 548 Z. 18–21, S. 552 Z. 13–17; Nikolaus Staubach, Der König als membrum diaboli? Augustinusrezeption in der Publizistik des Investiturstreits, in: Frühmittelalterliche Studien 33, 1999, S. 109–124, bes. S. 113–114, S. 124 zur rezeptionsgeschichtlich interessanten Deutung der auf Augustinus zurückgehenden Interpretation Gregors im Werk Ottos von Freising. Briefe Gregors VII. ( wie Anm. 95 ) Nr. 107, S. 328, cap. 2.
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queso, patres et principes sanctissimi … Et in predicto Heinrico tam cito iudicium vestrum exercete, ut omnes sciant, quia non fortuitu sed vestra potestate cadet, confundetur, utinam ad penitentiam ut spiritus sit salvus in die Domini 104. Der Brief vom 15. März 1081 an den Metzer Bischof Hermann, in dem Gregor auf den zweiten von ihm 1080 gegen Heinrich ausgesprochenen Bann eingeht, nimmt nun keine Rücksicht mehr auf des Königs Seelenheil. Mit einem Zitat aus den Schriften Gregors des Großen verlangt er die gerechte Strafe Gottes beim Jüngsten Gericht für den König: Si quis vero regum sacerdotum iudicium atque secularium personarum hanc constitutionis nostrae paginam agnoscens, contra eam venire temptaverit, potestatis honorisque sui dignitate careat reumque se divino iudicio existere de perpetrata iniquitate cognoscat, et nisi ea quae ab illa sunt male ablata restitueret vel digna poenitentia illicite acta defleverit, a sacratissimo corpore ac sanguine domini redemptoris nostri Iesu Christi alienus fiat atque in aeterno examine districtae ultioni subiaceat 105. Nach religiösem Verständnis der Zeit musste der Kaiser also tatsächlich um sein Seelenheil fürchten, sollte er Gregors Verdikt nichts entgegenzuhalten haben. V HERODESDARSTELLUNGEN IM OBERÖSTERREICHISCHEN BENEDIKTINERKLOSTER LAMBACH 106
Adalbero von Lambach-Wels, der spätere Bischof von Würzburg, wandelte 1056 ein bereits von seinem Vater, Graf Arnold II., gegründetes Kanonikerstift in ein Benediktinerkloster um, und ließ den schon begonnenen Bau von Kloster und Kirche zu Ende führen 107. Bischof Altmann von Passau weihte 1089 den Hochaltar zu Ehren Mariae und des heiligen Kilian und Gefährten. Der erste Abt von Lambach war der aus Münsterschwarzach stammende Ekkebert von Gorze ( Abt von 1056–1076/77 ). Er und seine Nachfolger Pezemann ( 1074–1105 ) und Sigibold ( 1105–1116 ) gehörten wie Adalbero von Würzburg, Gebhard von Salzburg und Altmann von Passau zu den Gregorianern. Die barockisierte Kirche birgt in ihren Mauern ein Kleinod der frühromanischen Wandmalerei. Die Klosterkirche war doppelchörig angelegt, der Westchor war bis zur Melker Reform 1429 Hauptchor 108. Neben verschiedenen Umbaumaßnahmen er-
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Briefe Gregors VII. ( wie Anm. 95 ) S. 338. Gregorii VII Registrum ( wie Anm. 101 ) S. 550 Z. 11–18. Der Ort befindet sich auf etwa halber Wegstrecke Zwischen Salzburg und Linz am Zusammenfluss von Traun und Ager. Das Kloster lag im Gebiet der Erzbistums Salzburg und des Bistums Passau. S. Jochen Martin ( Hg. ), Atlas zur Kirchengeschichte. Die christlichen Kirchen in Geschichte und Gegenwart, Freiburg u. a. 1987, S. 75–78. Zur kurzen Gründungs- und Baugeschichte s. Pius Schmieder, Notizen zur älteren Baugeschichte der Stiftskirche und des Klosters zu Lambach, in: Mittheilungen der K.K. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 11, 1866, S. 15–26; Erich Trinks, Die Gründungsurkunden und Anfänge des Benediktinerklosters Lambach, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereins 83, 1930, S. 77–152. Zur Familiengeschichte s. Peter Josef Joerg, Die Heimat und die Vorfahren des heiligen Adalbero, Grafen von Lambach-Wels, Bischofs von Würzburg ( 1045–1090 ), in: Herbipolis jubilans. 1200 Jahre Bistum Würzburg. Festschrift zur Säkularfeier der Erhebung der Kiliansreliquien ( Würzburger Diözesangeschichtsblätter, 14/15 ) Würzburg 1952, S. 235–247; s. a. Meyer von Knonau ( wie Anm. 7 ) 1, Leipzig 1890, S. 208. Hierfür dürfte eine bewusste Orientierung an Alt-St. Peter in Rom, das ebenfalls gewestet war, ursächlich oder mitbestimmend gewesen sein.
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folgte 1639 eine Erhöhung der Westtürme, die aus statischen Gründen den Einbau von Verstärkungsmauern erforderte, unter denen die 1957 entdeckten und wieder freigelegten Fresken 109 der romanischen Kirche verborgen und geschützt waren. Die barockisierte Architektur und Ausstattung gehen im Wesentlichen auf die Jahre 1652–1656 zurück. Der christologische Bilderzyklus umfasst Kindheit und Wirken Jesu nach biblischen und apokryphen Quellen. Hinzu kommen drei Herodesszenen, die auf Josephus Flavius und zeitgenössischen Texten basieren. Alle drei Darstellungen befinden sich im ehemaligen Hauptchor in unmittelbarer Nähe zur Apsis, deren Ausmalung selbst nicht erhalten ist. Allein dieser Bildanordnung wegen ist ihr Stellenwert hinsichtlich der programmatischen Aussage hoch anzusetzen. Die nun folgende Besprechung zweier dieser Herodesbilder beschränkt sich hinsichtlich Ikonographie und Ikonologie auf die für unsere Fragestellung relevanten Bildelemente 110. Weitere Motive wie der erhöhte Thron des Herrschers als ein Zeichen von Superbia oder die Teufelchen auf den Architekturabbreviaturen werden hier nicht ikonographisch und ikonologisch untersucht, obwohl auch sie wesentlich mit der Interpretation Heinrichs IV. im Zusammenhang stehen. Auch auf eine ausführliche Besprechung Herodes’ als negativen Beispiels wird aus naheliegenden Gründen hier verzichtet 111. 1. Der Suizidversuch Herodes’ des Großen ( Abb. 32 ) 112 Der Selbstmordversuch Herodes’ befindet sich im oberen Bildregister an der Südwand des Südturmes im linken Bildfeld, die Szene folgt unmittelbar auf die Flucht
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Der Begriff wird hier nicht im streng materialtechnischen Sinn gebraucht, denn es handelt sich um eine Mischtechnik, „ein Fresko mit Secco-Einträgen auf einem einschichtigen Putz aus Kalk und Sand“. S. Norbert Wibiral, Die romanische Klosterkirche in Lambach und ihre Wandmalereien. Zum Stand der Forschung ( Österreichische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Kommission für Kunstgeschichte 4 ) Wien 1998, Zit. S. 19, S. 20–22, 38 zu den Herodesdarstellungen ( dort auch weitere Literatur ), S. 47 ein graphisches Schema zur Szenenabfolge; Ders., Die Entdeckung und Freilegung der Wandmalereien des 11. Jahrhunderts im ehemaligen Westchor der Klosterkirche von Lambach, in: Ausstellungskatalog Denkmalpflege in Österreich, Wien 1970, S. 91–95; Otto Demus, Romanische Wandmalerei, München 1968, S. 95–96, S. 202–205; Heidrun Stein-Kecks, Wandmalerei im Zeitalter des Investiturstreits – Programmbilder und Bildprogramme im Streit um die Macht in Kirche und Welt, in: Ausstellungskatalog Canossa 1077 ( wie Anm. 2 ) Essaybd., S. 395–406, bes. S. 403–404. Annelies Amberger, Flavius Josephus und König Herodes. Arbeiten zur hochmittelalterlichen Ikonographie, in: Kunstchronik 52, 1999, S. 589–600, bes. S. 594–598. Die Kenntnis der Wandmalereien verdankt die Forschung Norbert Wibiral, der in seinen zahlreichen Publikationen auf die programmatische Bedeutung und hohe künstlerische Qualität der Bilder hingewiesen hat. Seine in vielen Einzeluntersuchungen vorgelegten Ergebnisse können hier nur summarisch mit dem Hinweis auf die genannten Publikationen gewürdigt werden. Bei der dritten Szene handelt es sich um die Darstellung einer von Herodes ausgeübten Bestechung, die als deutliche Anspielung auf die Simonie zu verstehen ist. Diese Szene ist ebenso wie die beiden anderen an prominentem Ort innerhalb des Chorbereichs angebracht und argumentiert bildersprachlich ebenso propagandistisch, was Rudolf Schieffers These ( wie Anm. 84 ) von der ursächlichen Wirkung der Simonie im Investiturstreit bestärkt. S. unten bei Anm. 138. Annelies Amberger, Herodes der Große als Selbstmörder, in: Annelies Amberger – Erika Weigele-Ismael u. a. ( Hgg. ): Per assiduum studium scientiae adipisci margaritam. Festgabe für Ursula Nilgen zum 65. Geburtstag, St. Ottilien 1997, S. 201–229.
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der Heiligen Familie nach Ägypten 113. Im Mittelpunkt der Szene liegt Herodes leicht aufgerichtet auf einem zur Bildebene schräg stehenden Bett. Er ist in eine blaufarbene Tunika mit einer kostbar bestickten und mit Edelsteinen besetzten roten Borte gekleidet. Seine Beine sind von einer schwungvoll drapierten Decke in Goldgelb umhüllt. Der betrübt blickende König ist gerade dabei, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ein Messer in seiner rechten Hand, das in Brusthöhe die rechte Seite des Oberkörpers berührt, zeugt davon. Die linke Hand hält einen runden Gegenstand, einen Apfel, den er wie zum Schein zum Mund führt. Herodes von seinem Tun abzuhalten, ist ein Mann herangeeilt, der den Verzweifelten an beiden Armen festhält. Aus der von kleinen Teufeln bevölkerten Hintergrundarchitektur treten zwei Frauen und ein weiterer Mann hervor. Zwischen Herodes und den beiden Frauen befindet sich in der rechten Bildhälfte unterhalb von Herodes’ Bett ein gemauerter, mit Kacheln versehener kleiner Tisch, von dem aus ein Mäuerchen nach vorne gezogen ist. Auf dem Tisch liegen die Krone und zwei Armillae 114. Obwohl die Insignien in der Darstellung zeichenhaften Charakter haben, sind die formalen Grundelemente gut erkennbar 115. Die Giebelkrone ist an den Verbindungsstellen der einzelnen Glieder mit Aufsätzen versehen. Perlenschmuck ist durch weiße und schwarze Pünktchen angedeutet. Auf der nach vorne ragenden Mauer liegt der Purpurmantel, dessen Ende auf dem Bett hängt. Textbasis für diese Darstellung sind das ( 75–79 n. Chr. ) und die ( 93–94 n. Chr. ) des jüdischen Geschichtsschreibers Jose113
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Zur Diskussion um die Benennung dieser Szene s. Amberger ( wie Anm. 108 ) S. 594–595, und die Erwiderung durch Norbert Wibiral, Adventus in Israel: Überlegungen zum Reisebild der Heiligen Familie in Lambach, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 54, 2000, S. 222–243. Die Identifikation als Armillae auch durch Percy Ernst Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Nachträge aus dem Nachlaß ( Schriften der MGH 13.4 ) München 1978, S. 32 ( zu S. 543 ), ebd. S. 31–32 weitere Beispiele für Armillae bis zum 12. Jahrhundert; Johanna Müller, Art., in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte 1, 1937, Sp. 1052–1058, bes. Sp. 1052–1055; Kahsnitz ( wie Anm. 46 ) S. 10. Bildliche Darstellungen von Armillae, soweit sie eindeutig als solche zu identifizieren sind, zeigen vor dem 12. Jahrhundert in der Regel edelsteingeschmückte Reifen, und nicht wie in den wenigen bekannten Exemplaren maasländischer Herkunft, applizierte Szenen auf schildartig verbreiterten offenen Armspangen. S. Kahsnitz ( wie Anm. 46 ) S. 10–17, dort Abb. 6–9 die vier zwischen 1170/1180 datierten Exemplare, von denen jeweils eines sich im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg und im Louvre in Paris befindet, während zwei aus dem Schatz Friedrichs I. Barbarossa nur noch nach dem etwa 1750 entstandenen Stich von Johann Adam Delsenbach überliefert sind. Erwähnenswert ist dieses Paar der bis 1796 zu den Reichsinsignien gehörenden Armillae aus einem ganz besonderen Grund: sie waren aus Kupfer. So beschrieb sie der Nürnberger Historiker Christoph Gottlieb von Murr ( Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in des H. R. Reichs freyen Stadt Nürnberg und auf der hohen Schule zu Altdorf, Nürnberg 1778, S. 261: „sie sind von Kupfer“ ). Auf dem kupfernen Trägerschild waren die maasländischen Emails von hervorragender Qualität aufgebracht. Das heißt, dass es auch im Bestand der Reichsinsignien Objekte aus unedlen Metallen gab. Die Qualität des Metalls war also keineswegs allein ausschlaggebend für die Bedeutung der Insignien. Die Armillae gingen 1796 verloren, als die Reichsinsignien vor den französischen Revolutionstruppen von Nürnberg nach Wien verbracht wurden. Lt. Müller ( wie Anm. 113 ) Sp. 1054 befanden sich die Armillae vor ihrem Verlust in Wien in der Schatzkammer des Allerhöchsten Kaiserhauses; s. a. Hermann Fillitz, Die Reichskleinodien: Entstehung und Geschichte, in: Heiliges Römisches Reich ( wie Anm. 10 ) Essaybd., S. 61–72, bes. S. 70, S. 63 Abb. 3; Albert Bühler, Die Flüchtung der Nürnberger Reichskleinodien 1796 und ihre Reklamierung nach deutschen Quellen, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 46, 1955, S. 481–510.
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phus Flavius ( 37–um 100 n. Chr. ). Die Ereignisse werden dort folgendermaßen geschildert: Herodes ( um 73–4 v. Chr. ) 116, dem die Rebellion seines Sohnes Antipatros schwer zu schaffen machte und der zudem an einer unheilbaren Krankheit litt, wollte sein Leben beenden. Er verlangte von seinem Krankenlager aus nach einem Apfel und einem Messer, diesen zu schälen. Als er das Erbetene erhalten hatte, versuchte er, sich mit dem Obstmesser zu erstechen. Sein Vetter Achiab eilte jedoch herbei und fiel dem Unglücklichen in den Arm 117. Das Geschehen bewirkte im Palast große Bestürzung, weitere Angehörige kamen hinzu. Im und in den gelingt also die Durchführung des Suizids nicht. Anders hingegen bei den christlichen Exegeten und in den diesen folgende Darstellungen der Episode. Sie lassen den Selbstmord gelingen und deuten ihn als Strafe Gottes für den bethlehemitischen Kindermord 118. Die Verhinderung der Tat ist im Vergleich mit den bekannten Bild- und Textquellen singulär im Lambacher Bild. Abweichungen vom ikonographischen Standard weisen in der Regel Bezüge zur zeitpolitischen Situation auf, so auch hier. Heinrich IV. befand sich 1090 auf seinem dritten Italienzug. Ab 1092 wandte sich das Blatt gegen den anfangs erfolg- und siegreichen Kaiser 119. Die Misserfolge begannen mit einem Überraschungsangriff durch die in der Burg von Canossa Belagerten und der anschließenden Flucht von Heinrichs Heer. Sie führten weiter über das erneute Aufflammen der Gegnerschaft in den Stammlanden und kulminierten 1093 im Abfall von Heinrichs Sohn Konrad, der ihn auf dem Italienzug begleitet hatte, und der schließlich von Heinrichs Gegnern in Mailand zum König gekrönt wurde, und dem Papst Urban II. schon die Kaiserkrönung versprach. Zudem besetzten Heinrichs Gegner wichtige Alpenübergänge, so dass eine Rückkehr nach Deutschland nicht möglich war, erst 1097 gelang sie ihm. Nach Bernold von Konstanz ( um 1050–1100 ) wollte der Kaiser 1093 den Ausweg eines Suizids wählen, der jedoch misslang, da Leute aus seinem Gefolge eingriffen: Heinricus vero pater regis in quandam munitionem se contulit, ibique diu absque regia dignitate moratus, nimioque dolore affectus, se ipsum, ut aiunt, morti tradere voluit, sed a suis praeventus ad effectum pervenire non potuit 120. Bernold, obwohl Gegner Heinrichs, verweist immerhin darauf, dass er das 116 117
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Helmut Merkel – Dieter Korol, Art., in: RAC 14, 1988, Sp. 815–849. Antiquitates Iudaicae, lib 17, cap. 9; Bellum Iudaicum, lib. 1, cap. 21; Flavii Iosephi … opera … Ruffino … interprete, hg. von Iohannes Frobenius, Basileae 1524, S. 495–496, 653–654: Hinc totum eius corpus morbo occupatum variis doloribus deferebatur. Nam febris quidem non mediocris erat: prurigo autem intolerabilis habebat omnem corporis superficiem. Assiduis autem vexebatur colli tormentis, pedesque tamquam ex intercutis vitio tumuerant. Quin et inflatio ventriculi putredoque testiculorum vermiculos generans … Herodes … doloribus que rursum victus ( nam inedia tussisque pariter violentia distendebatur ) fatum praevenire conatus est: sumptoque malo, etiam cultellum poposcit: sectum enim comedere consueverat. Deinde circunspecto ne quis arbiter impediret, tanquam se percussurus dexteram sustulit. Cum vero Aciabus consobrinus eius accurisset, manumque continuisset, ululatus maximus in regia statim, quasi rex mortuus esset, excitatus est. Zu den Kommentatoren gehören neben anderen Eusebius ( 260–339 ) Migne PG 20, Sp. 85 B–106 D; Remigius von Auxerre ( 841–908 ) Migne PL 131, Sp. 897 D–898 B; Honorius Augustodunensis ( 1080–1137 ), Migne PL 172, Sp. 839 B–840 A; s. a. Amberger ( wie Anm. 111 ) S. 201 ff. Zu den Ereignissen s. Althoff ( wie Anm. 4 ) S. 209–219; Tilman Struve, Heinrich IV. Die Behauptung einer Persönlichkeit im Zeichen der Krise, in: Frühmittelalterliche Studien 21, 1987, S. 318–345, bes. S. 333–334. Berthold und Bernolds Chroniken, hg. von Ian Stuart Robinson ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 14 ) Darmstadt 2002, S. 394. Der Bericht vom Abfall Konrads ebd. S. 392.
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Ereignis nur vom Hörensagen kennt 121. Wie gern die Gegner Heinrichs das Gerücht aufnahmen, zeigt die Szene in Lambach, die einzig bekannte ihrer Art. Zwei Motive aus Bernolds Chronik sind in unserem Zusammenhang von größerem Interesse. Zuerst die Tatsache, dass der Suizidversuch Heinrichs von den Seinen verhindert wurde. Der aktuelle Bezug zum Investiturstreit ist allein schon durch die Daten gegeben, die für 1089 die Altarweihe der Klosterkirche überliefern. Die Tatsache, dass mit Adalbero von Würzburg ein entschiedener Gegner Heinrichs als Auftraggeber tätig war, bestätigt die politische Aktualität, ungeachtet vorerst der Tatsache, dass Adalbero bereits 1090 verstarb. Noch wichtiger für unsere Frage nach der Bedeutung von Heinrichs IV. Grabbeigaben ist jedoch Bernolds Hinweis absque regia dignitate, der Kaiser war also bar jeglicher herrscherlicher Würdezeichen. Deposito culto regio, nihil preferens regium, so hatte Lampert von Hersfeld in den Annalen zum Jahr 1077 den vor Canossa büßenden Heinrich geschildert 122. Deposito culto regio ist auch Herodes im Fresko dargestellt, Krone und Armillae liegen prominent auf der kleinen Mauer. Josephus jedoch erwähnt Insignien in seinem Bericht mit keinem Wort. Das Bild wurde aktualisiert und Herodes-Heinrich hatte die Insignien anscheinend selbst abgelegt. Zumindest wurde ihm das unterstellt, denn in den Augen seiner Gegner besaß er diese Herrschaftszeichen zu Unrecht, so dass sein Handeln nur konsequent war. Mit seiner Tat stellte er sich außerhalb der christlichen Gemeinschaft, denn der Selbstmord war eine Todsünde. 2. Der Herrschersturz des Herodes Agrippa I. ( Abb. 33–34 ) Das Lünettenfeld an der Westwand des Südturmes im ehemaligen Hauptchor in Lambach wird von einer einzigen Szene eingenommen, deren Thematik eine Datierung in die Zeit zwischen Sturz und Tod Heinrichs IV. nahelegt. Die Darstellung wird durch fünf Bildelemente bestimmt: einen thronenden und einen gestürzten König, einen vom Himmel herabstoßenden Engel, eine Sonnenfinsternis und eine Gruppe von Männern. Im linken Bilddrittel sitzt frontal ein prächtig gewandeter Herrscher auf seinem erhöht angebrachten Thron, ein Schwertträger zu seiner Seite. Der König ist mit einer weißen Tunika bekleidet, die wie schon diejenige des Königs im Suizidversuch mit einer kostbaren roten Bordüre eingefasst ist. Darüber trägt er eine goldene Chlamys mit auffälligen, edelsteinbesetzten Emails. In der rechten Hand hält der König ein silbernes Langzepter, in seiner linken Hand einen goldenen Globus, gekrönt ist er mit einer Querbügelkrone mit runden Aufsätzen und pendilienartigen Ausläufern. Gemmen, Edelsteine und Perlen sind deutlich erkennbar. Von der linken Seite des Thronenden ausgehend verlaufen Lichtstrahlen in Form von drei wasserblauen Linien parallel zur Gruppe der rechts stehenden Männer hin, von denen die vorderen sich zum Schutz vor den Strahlen die Augen bedecken. Unterstrichen wird die Majestät des Thronenden zusätzlich durch Stilmittel, die in künstlerisch höchst wirkungsvoller Manier das Antlitz des Königs formen. Der kleine volle Mund des Herrschers lässt diesen zuerst sanft erscheinen. Fast gegenläufig hierzu sind die gekonnt gesetzten Pinselstriche, die Oberlippen- und Kinnbart in nur wenigen Linien charakterisieren, und die 121
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Zur Neigung von Heinrichs Widersachern und deren Motive, Gerüchte dieser Art aufzugreifen s. Althoff ( wie Anm. 4 ) S. 254–273. Lampert ( wie Anm. 95 ) S. 406 Z. 17–20.
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dem Herrscher das dann insgesamt eher bedrohlich und mürrisch wirkende Aussehen geben. Aus dem Himmel stößt ein Engel zum Thronenden mit mahnend erhobenen Händen hervor. Über ihm, im Bereich der die Szene rahmenden Bänder, befindet sich eine verschattete Sonne. In der Mitte der Szene spielt sich ein dramatisches Ereignis ab. Der links noch thronende Herrscher ist zu Boden gestürzt. Zwei zu seinen Seiten stehende Männer versuchen ihn zu stützen. Die Krone des Königs ist im Fall begriffen, der Globus vor die Füße des blau gekleideten Mannes gerollt 123. Krone und Chlamys des Gestürzten sind nun ohne Edelsteinbesatz. Dargestellt ist hier eine Episode nach den 124 und der Apostelgeschichte 125. Iulius Herodes Agrippa I. ( 10 v. Chr.–44 n. Chr. ) 126 veranstaltete zu Ehren des römischen Caesar Schauspiele. Um an ihnen teilzunehmen, begab er sich eines Morgens in das Theater. Er trug ein aus Silber gewirktes Kleid, das von den ersten Strahlen der Morgensonne getroffen wurde. Die Menge, die vom Glanz des die Strahlen widerspiegelnden Gewandes geblendet war, lobpries ihn und verehrte ihn wie einen Gott. Da er sich das gefallen ließ, musste er die Strafe Gottes erleiden. Ein Uhu kündigte ihm noch im Stadion seinen Tod an, und fünf Tage später starb Agrippa. In der Apostelgeschichte ist die Erzählung dahingehend variiert, dass Agrippa sofort von einem Engel des Herrn mit dem Tod bestraft wird. Bei den christlichen Exegeten wird Herodes Agrippa für die Hinrichtung des Apostels Jakobus und die Gefangennahme Petri verantwortlich gemacht 127. Thematisiert ist in erster Linie die Superbia des Königs. Zwei Bildmotive lassen sich aus der Apostelgeschichte und Josephus nicht erklären: die verdunkelte Sonne, die keineswegs Ursprung der sich auf den Edelsteinen spiegelnden Strahlen sein kann, und der gestürzte König. Für sie sind nun wiederum aktuelle Ereignisse aus der Entstehungszeit der Fresken heranzuziehen. Eine Sonnenfinsternis fand nach den Berichten Bernolds und Ekkehards am 23. September 1093 statt 128. In Bezug zum Datum wäre das Motiv also besser beim Herodesselbstmord an123
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Der am Boden liegende Globus ist fast nicht mehr sichtbar, s. Norbert Wibiral, Zur Bildkomposition des Lambacher, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 40, 1986, S. 98–111, bes. S. 99. Antiquitates Iudaicae, lib. 19, cap. 7, Iosephi opera ( wie Anm. 116 ) S. 571: Igitur cum tertium annum in Iudaeae complesset regno venit in Caesaream civitatem … ibique spectaculum ad honorem Caesaris pro eius salute celebrabat: ad quam festivitatem omnis provinciae multitudo nobilium, simul et procerum una convenerat. Secunda vero spectaculorum die, stola vestitus undique argento contexta, ita ut textus esset valde mirabilis, venit ad theatrum incipiente die, et primis radiis sole oriente demissis, argenti claritas repercussa fulgorem reddidit valde perspicuum, et oculis inspicientibus formidandum. Mox autem adulatores voces favorabiles emittebant, quae nec illi bonae pro veritate videbantur, deum scilicet appellantes eum: atque dicentes: Propitius nobis esto, quia licet hactenus te velut hominem timuerimus, attamen iam nunc superioris naturae te esse conspicimus. Has autem voces rex nequaquam compescuit, nec impia eorum verba compressit. Post paululum vero respiciens, vidit supra suum verticem in quodam fune sedentem bubonem: quem etiam mox esse malorum causam intellexit, qui fuerat ei aliquando bonorum … Quinque vero continuis diebus ventris dolore confectus, vita privatus est. Apg 12, 21–23: statuto autem die Herodes vestitus veste regia sedit pro tribunali et contionabatur ad eos; populus autem adclamabat dei voces et non hominis; confestim autem percussit eum angelus Domini eo quod non dedisset honorem Deo et consumptus a vermibus exspiravit. Der Verlust der Krone als Folge des Hochmuts in Ier 13, 15–18. Josef Blinzler, Art., in: LThK 5, 1960, Sp. 265. Migne PG 20, Sp. 157 A–162 B ( Eusebius ) und Migne PL 29, Sp. 703 C–704 C ( Hieronymus ). Berthold und Bernolds Chroniken ( wie Anm. 119 ) S. 396/398: Signum in sole factum est VIIII. Kal. Octobris ante meridiem, ut circulus quidam in illo appareret, et ipse in sereno celo obscurissime luceret. Sed hoc magis quidam eclipsin quam signum fuisse putaverunt, praecipue cum luna esset vicesima octava ea die. Frutolf ( wie Anm. 5 ) S. 106
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gebracht gewesen. Doch wird in dessen Textquellen keine Sonne erwähnt, hingegen in denen zur Superbia Herodes Agrippas explizit eine solche genannt. Durch die Änderung einer strahlenden Sonne des Textes in eine verdunkelte im Bild aktualisierte man dieses und verwies zugleich zeichenhaft auf das durch einen schlechten Herrscher verursachte Unheil. Die vom Maler so eindrucksvoll wiedergegebene Gestalt des thronenden Herrschers lässt Assoziationen mit Beschreibungen der Gestalt Heinrichs IV. zu, wie sie Zeitgenossen überliefern. Die Vita schildert ihn in seiner kaiserlichen Majestät und beschreibt vor allem sein Gesicht in einer Weise, die man im Bild zu sehen glaubt: Ille modo personam imperatoris … gerebat … quod in vultu terribile quoddam decus praeferebat, unde intuitus aspicientium tamquam fulmine reverberaret 129. Der Autor der anonymen Kaiserchronik beschreibt ihn: Pluribus etiam testibus approbare poterimus, quod nemo nostris temporibus natu, ingenio, fortitudine et audacia, statura quoque totaque corporis elegantia fascibus aptior videretur imperialibus 130. Fast wörtlich ebenso Ekkehard von Aura, der jedoch die schöne äußere Erscheinung im Gegensatz zu Heinrichs Lastern sieht: Pluribus autem testibus comprobare poterimus, quod nemo nostris temporibus natu, ingenio, fortitudine et audacia, statura etiam totaque corporis elegantia videretur fascibus imperialibus ipso aptior, si tamen in conflictu viciorum homo non degeneraret vel succumberet inferior 131. Der im Rahmen der 1900 durchgeführten Graböffnung erstellte anthropologische Befund zeigt dieselbe Tendenz: „Das Bild Heinrichs IV. … als das eines großen, starken, untadelig gewachsenen Mannes … die Gestalt eines schlanken, aber kräftigen, beinahe athletischen Mannes, zu allen ritterlichen Übungen geschickt und in ihnen geübt. Im Antlitz erscheint männliche Kraft mit beinahe weiblicher Anmut gepaart.“ Das Gesicht wies „einen energischen Ausdruck“ sowie eine „gewisse Weichheit und besondere individuelle Schönheit“ auf 132. Dem zu Boden gestürzten Herrscher kommen nur zwei der Umstehenden zu Hilfe, die übrigen Anwesenden stehen daneben und blicken zum strafenden Engel empor. Der mittlere Mann der zweiten Reihe wechselt einen Blick mit einem vor ihm in der ersten Reihe stehenden Mann. In einer der vielen Auseinandersetzungen mit den Sachsen hatten diese 1075 dem König die bedingungslose Unterwerfung gegen Straffreiheit angeboten. Heinrich hatte angenommen, sich aber nicht an die Vereinbarung gehalten und die beteiligten sächsischen Adeligen gefangen genommen. Lampert von Hersfeld rekurriert in diesem Zusammenhang auf die Milde des Königs, die dieser denen, die am Boden lagen, wohl versprach, aber nicht walten ließ 133. Nun liegt der König im Lambacher Fresko selbst am Boden, die Krone ist noch im Fall begriffen. Außer seinen beiden engen Getreuen zeigt sich niemand milde. Gregor hatte auf der Fasten-
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Z. 7–8: Anno Domino MXCIII … Eclypsis solis facta est VIIII. Kalendas Octobris hora tercia, et mortalitas magna subsecuta est. Eine Sonnenfinsternis galt allgemein als Prodigium. S. Amberger ( wie Anm. 111 ) S. 209 Anm. 21 ( mit weiterer Literatur zum naturwissenschaftlich relevanten Nachweis ). Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV. Das Leben Kaiser Heinrichs IV., cap. 1, hg. von Franz-Josef Schmale ( wie Anm. 93 ) S. 412 Z. 25–26. Kaiserchronik ( wie Anm. 5 ) S. 244 Z. 20–23. Ekkehard ( wie Anm. 5 ) S. 288 Z. 27–31. Kubach – Haas 1 ( wie Anm. 1 ) S. 1065. Lampert ( wie Anm. 95 ) S. 296 f., Z. 30 ff. Auch der Autor des bittet den König, gegen die, die am Boden liegen, Milde zu zeigen; s. Das Lied vom Sachsenkrieg, Carmen III, 289–294, hg. von Franz-Josef Schmale ( wie Anm. 93 ) S. 188.
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synode 1080 den Verlust der Königswürde Heinrichs wegen dessen Hochmut und Ungehorsam, das Königtum Rudolfs von Schwaben hingegen mit dessen Demut und Gehorsam gerechtfertigt: Sicut enim Heinricus pro sua superbia inoboedientia et falsitate a regni dignitate iuste abicitur, ita Rodulfo pro sua humilitate oboedientia et veritate potestas et dignitas regni conceditur 134. Eine Schilderung wesentlicher Motive der gemalten Szene glaubt man auch in dem Bericht aus der um 1167 verfassten Slawenchronik des Helmold von Bosau ( um 1120–nach 1177 ) vor sich zu haben. Nach dem Beschluss vom Dezember 1105 in Mainz, Heinrich zur Abdankung zu zwingen 135, kamen die Erzbischöfe von Mainz und Köln sowie der Bischof von Worms nach Ingelheim, um ihm die Nachricht zu überbringen. Heinrich weigerte sich und verlangte ein öffentliches Verfahren, was ihm nun wiederum die Bischöfe abschlugen. Nach Helmold von Bosau legte Heinrich daraufhin die Insignien an und setzte sich auf einen Thron, um den Abgesandten in einer Rede und sichtbar durch die herrscherlichen Zeichen die göttliche Herkunft seines Amtes zu verdeutlichen. Diese reagierten erst zaudernd, um ihm dann die Krone vom Kopf zu reißen und ihn vom Thron zu stürzen: Vidensque, quia legati venissent milicia stipati, et non esset locus resistendi, fecit sibi regiam exhiberi preparaturam, qua indutus et in sedem receptus legatos alloquitur dicens: „Haec quidem imperialis honoris insignia michi prestiti eterni regis pietas et principum regni electio concors. Potens est autem Deus, qui me ad hoc culmen sua dignatione provexit“ … Ceperunt igitur pontifices hesitare, quid agerent … Tandem Mogontinus allocutus est socios dicens … „Quem meritum investivimus, inmeritum quare non divestiamus?“ Statimque accepto conamine regem aggressi sunt eique coronam de capite abruperunt, deinde sublatum de sede purpura ceterisque quae ad sacram vestituram perinent funditus exuerunt 136. Der im vollen Ornat thronende Herrscher, der schon gestürzte Kaiser und die im Fall befindliche Krone sind in Lambach dargestellt. Helmolds Chronik datiert zwar Jahrzehnte nach den Wandbildern, doch er scheint aus einer verlässlichen Quelle geschöpft zu haben. An dieser Stelle lohnt ein Blick zurück auf die Suizidszene. Helmold berichtet in seiner Chronik nämlich auch davon, wie man Heinrich zur Abdankung aufforderte: Er sollte Krone, Ring und Purpur an seinen Sohn übergeben: Fac nobis reddi coronam, anulum et purpuram ceteraque ad investituram imperialem pertinentia, filio eius deferenda 137. Genau diese drei genannten Insignien sind im Suizidversuch dargestellt, und Herodes-Heinrich trägt sie nicht, sondern hat sie abgelegt. Die Szenen in Lambach dürften somit eine gewisse Authentizität besitzen, die spätere Textquelle bestätigt nachträglich die Bildaussage. Durch den gestürzten, aber keineswegs toten Herrscher, wie es ja die zugrunde liegenden älteren Schriftquellen nach der Bibel und Josephus verlangt hätten, ist ein 134 135 136
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Briefe Gregors VII. ( wie Anm. 95 ) Nr. 107, S. 338. Dazu bei Anm. 150. Helmold von Bosau, Slawenchronik, cap. 32, hg. von Bernhard Schmeidler – Heinz Stoob ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 19 ) Darmstadt 1963, S. 132 Z. 18–23 und S. 134 Z. 9–17. Zu Helmold von Bosau die Einleitung ebd. S. 1–16; Wilfried Ehbrecht, Art., in: LMA 4, 1989, Sp. 2124–2125. Huth ( wie Anm. 31 ) S. 296–298, bes. S. 327–328, geht von einer Erfindung des Chronisten aus. Sollte es sich tatsächlich um eine Fiktion handeln, dann wäre sie gemäß dem Bilddokument in Lambach schon zu Lebzeiten Heinrichs IV. erfunden worden. Die Möglichkeit, dass im Bild nur der Wunsch nach Heinrichs Sturz zum Ausdruck kommt, erscheint mir ebenso wenig plausibel wie eine Textfiktion bei Helmold. Helmold, cap. 32 ( wie Anm. 135 ) S. 130 Z. 17–18.
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wichtiger Anhaltspunkt zur Datierung gegeben. Wäre das Bild nach Heinrichs IV. Tod entstanden, so hätten die Programmkonzeptoren nicht die Darstellung des gestürzten, sondern des toten Herodes-Heinrich in Auftrag geben können, da damit ja die Schwere seiner Vergehen betont worden wäre. Es handelt sich bei dem Dargestellten im Sinne einer Identitätsüberlagerung vielmehr auch um den gestürzten Kaiser Heinrich IV. 138 Herodes wird als Exemplum für den schlechten Herrscher an sich vorgeführt. Dieses negative Herrschaftsmodell wird auf Heinrich IV. übertragen, der nicht der idealen Herrscherfiktion entsprach. Die Aktualisierung Herodes’ als Exemplum für den schlechten Herrscher während des Investiturstreits zeigen verschiedene Schriften, darunter auch die des Salzburger Erzbischofs Gebhard, der zusammen mit Adalbero und Altmann von Passau Gegner Heinrichs IV. war 139. Aus Sicht des Papstes besaß Heinrich IV. die Kaiserkrone unrechtmäßig, denn er war mehrmals vom rechtmäßigen Papst gebannt und am 31. März 1084 in Rom vom Gegenpapst Clemens III. zum Kaiser gekrönt worden 140. Schon im Schreiben an Her138
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Zur Bezeichnung Heinrichs als exrex in Brunos Sachsenkrieg s. Wolfgang Eggert, Heinricus rex depositus? Über Titulierung und Beurteilung des dritten Saliers in Geschichtswerken des frühen Investiturstreits, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108, 2000, 117–134, bes. S. 117–125. Gebehardi Salisburgensis Archiepiscopi epistola, cap. 30 (MGH Ldl 1) (wie Anm. 85) S. 277 Z. 2–4. Vergleiche mit Herodes verschiedentlich, so bei Hugo von Fleury, Tractatus de regia potestate et sacerdotali dignitate, lib I, cap. 9 (MGH Ldl 2) (wie Anm. 30) S. 477 Z. 8–10: Solent etiam homines huiusmodi ignominiosa morte vitam terminare aut in turpi paupertate deficere, sicut Herodes et Pilatus; quorum Herodes vermibus scaturriens miserabiliter expiravit. Gerhoch von Reichersberg greift in der um 1160 entstandenen Schrift über den Antichrist auf Herodes Agrippa als Exemplum für Superbia zurück (De investigatione Antichristi, lib. 1, cap. 4 [MGH Ldl 3] [wie Anm. 89] S. 312–313 Z. 42 ff.). Auch Heinrich V. wird in einem 1111 anonym verfassten Gedicht wegen der Gefangennahme Paschalis’ II. (1099–1118) mit Herodes und Nero verglichen. Rhythmus de captivitate Paschalis papae (MGH Ldl 2) S. 673, V. 4: Legat qui vult istorias, / Dicat, si legit talia. / Nam Herodis nequicia / Ad istius nequiciam / Comparata est sanctitas, / Et Neronis crudelitas. Heinrich Banniza von Bazan, Die Persönlichkeit Heinrichs V. im Urteil der zeitgenössischen Quellen, Berlin 1927, S. 41. Die Lambacher Fresken zeigen, dass auch die Person Heinrichs IV. mit der Identität Herodes’ überlagert wurde. Herodes Turbator als Exemplum für den schlechten König geht auf Mt 2,3 zurück, wo die Magier Herodes nach dem neugeborenen König fragen: audiens autem Herodes rex turbatus est. Auch die Gegner Gregors VII. vereinnahmten diese Bezeichnung für ihre Propaganda. Nach der erneuten Bannung Heinrichs IV. durch Gregor VII. am 7. März 1080 (Fastensynode), die ihrerseits die Absetzung Gregors durch Heinrich zur Folge hatte, nahmen auf einer Bischofssynode im Mai in Mainz mehrere Bischöfe für Heinrich Stellung. Huzmann von Speyer bezeichnete in diesem Zusammenhang Gregor in einem von Synodenmitgliedern verfassten Brief als perturbator und invasor: Quo inito consilio, tam primates quam minores firmiter fideliterque decrevimus: ut Hildebrandus, ille sedis apostolicae subdolus invasor, divinarum humanarumque legum execrabilis perturbator, Deo opitulante omnimodis abdicetur; Udalrici Babenbergensis Codex, Monumenta Bambergensia, hg. von Philipp Jaffé (Bibliotheca Rerum Germanicarum 5) Berlin 1869, S. 127 Nr. 60. Auch Erzbischof Liemar von Hamburg-Bremen wird in einer Urkunde vom 22. Juni 1083 als Helfer gegen den päpstlichen perturbator orbis mit der Schenkung eines Klosters belohnt: apud sedem apostolicam contra Hildebrandum perturbatorem orbis magnis difficultatibus et anxietatibus legatione nostra functus est. S. Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser: Die Urkunden Heinrichs IV., Nr. 351, bearb. von Dietrich von Gladiss – Alfred Gawlik (MGH DD regum et imperatorum Germaniae 6) Berlin u. a. 1941–1978, S. 464 Z. 7–9; s. a. Althoff (wie Anm. 4) S. 168–171, S. 187. Eine erste für 1065 geplante Kaiserkrönung durch Alexander II. scheiterte kurzfristig. S. Althoff ( wie Anm. 4 ) S. 59–60, S. 190–192; Tilman Struve, Art., in: LMA 4, 1989, Sp. 2041–2043. Der Vorwurf des unrechtmäßigen Insignienbesitzes wurde von Heinrichs Parteigängern aufgenommen. Die Petrus Grassus zugeschriebene und etwa 1083/84 entstandene Verteidigungsschrift geht darauf ein. Petri Crassi defensio Heinrici IV. regis ( MGH Ldl 1 ) ( wie Anm. 85 ) S. 434 Z. 33–37: Sed ne de talibus
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mann von Metz vom 15. März 1081 hatte er ihn ja zu den Werkzeugen des Teufels gezählt und ihm den Königstitel aberkannt 141. Die kaisertreue Partei sah dies natürlich anders. Sie versuchte, in den Streitschriften den Insignienbesitz unter verstärktem Hinweis auf den sakralen Charakter des Königtums zu legitimieren und zudem das Recht des Königs zur Bischofsinvestitur zu untermauern 142. Aus Sicht Heinrichs wiederum war es gefährlich, den Kaiser abzusetzen. Darauf lässt er in einer zugunsten des Utrechter Bischofs am 1. Februar 1089 in Regensburg ausgestellten Schenkungsurkunde hinweisen: In nomine sancte et individue trinitatis. Heinricus divina favente clementia Romanorum imperator augustus. Regum vel imperatorum persona, sicut inter homines est altissima, ita ad deponendum vel iudicandum hominibus est periculosissima. Quod considerantes sancti patres regum vel imperatorum persecutores sicut dei ordinationi restistentes inremediabili pene decreverunt subiacere; altitudini reatus comparantes altitudinem vindicte vix et non nise multum penitentibus relinquentes spem venie in futuro, quam negant in presenti seculo 143. Nach den bisherigen Ausführungen stellt sich konkret die Frage nach Datierung und Auftraggeber der Herodesbilder. Da hier nur zwei Szenen eines Gesamtzyklus besprochen wurden, muss die Diskussion mit Bedacht geführt werden. Die Bilder gehören zu den Schlüsselszenen, so dass die bislang mit der Altarweihe 1089 verbundende Datierung der Fresken zu relativieren ist, sie muss zumindest für die Herodesbilder auf die genannten Daten heraufgesetzt werden. Wenn die Herodesdarstellungen ab 1093, dem Jahr des angeblichen Suizidversuchs Heinrichs IV., oder eher noch um 1105/06 datieren – denn die Ikonographie des Herrschersturzes impliziert die erzwungene Abdankung Heinrichs IV., noch nicht aber dessen Tod 144 –, kommt für sie der 1090 verstorbene Adalbero von Lambach-Wels als Auftraggeber nicht in Frage. Vorstellbar hingegen ist die Konzeption dieser Szenen durch die Äbte Pezemann ( † 1105 ) und Si-
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aliquis in aliquo tempore, o rex, contra benignam celsitudinem vestram inducat, non legibus, sed vi et armis coronam acquisitam esse vestrae maiestati, induxi animum pro sensus mei parvitate hunc libellum scribere, in quo vestrae beatitudinis aequitas et iusticia et adversariorum error lucide declarari possit. Den Vorwürfen Gregors VII. wird entgegnet: Sed manifestum est, quia hic monachus in tanta crudelitate pater appellari nullatenus potest. Iam enim pridem H[ enricum ] regem non in legum benignitate, non paterno more, sed contra leges excommunicando, anathematizando, regno eius in omni dolo insidias faciendo, ipsi mortem contra humanae naturae modum parando emancipavit. Sic autem emancipatus filius, omni ambiguitate exclusa, patrem in iudicium, de iudicio in culleum vocare potest; ( MGH Ldl 1 ) S. 441 Z. 6–11. Tilman Struve, Die Salier und das römische Recht. Ansätze zur Entwicklung einer säkularen Herrschaftstheorie in der Zeit des Investiturstreits, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse 1999, H. 5, Mainz, Stuttgart 1999, S. 44–53, S. 67–68 ( S. 44, Anm. 136 weitere Literatur ). S. o. Anm. 101. Excerpta ex Widonis Osnabrugensis libro de controversia inter Hildebrandum et Heinricum imperatorem ( MGH LdL 1 ) ( wie Anm. 85 ) S. 467: rex … cum oleo consecrationis inunctus sacerdotalis ministerii particeps; Erkens, Herrschersakralität ( wie Anm. 99 ) S. 209; Karl Jordan, Der Kaisergedanke in Ravenna zur Zeit Heinrichs IV. Ein Beitrag zur Vorgeschichte zur staufischen Reichsidee, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 2, 1938, S. 85–128. Urkunden Heinrichs IV., Nr. 402 ( wie Anm. 138 ) S. 531 Z. 27–33; Struve ( wie Anm. 118 ) S. 323 Anm. 24. Ob auch die Ausführung noch vor Heinrichs Tod erfolgte, kann nicht beantwortet werden. Eine Datierung in „die 1. Hälfte oder die Mitte des 12. Jahrhunderts“ schon bei Schramm, Nachträge ( wie Anm. 113 ) S. 32, dort ohne nähere Begründung. Wibiral ( wie Anm. 108 ) S. 23–35, S. 37, spricht sich für eine Datierung in das letzte Drittel des 11. Jahrhunderts aus.
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gibold ( 1105–1116 ), die möglicherweise das Bildprogramm hier entscheidend änderten 145. Percy Ernst Schramm ging davon aus, dass die Bilderpublizistik des Investiturstreits „aus dem überzeitlichen, repräsentativen Herrscherbild das ein bestimmtes, einmaliges Ereignis festhaltende Geschichtsbild entwickelt“ habe 146. Die Lambacher Herodesbilder sind ein Beleg für eine dieser Entwicklungsstufen. Sie verweisen auf historische Ereignisse und vermitteln gleichzeitig über die Symbolik der Insignien das transzendent verstandene Königtum, eine Symbolik, die dem Kaiser über den Tod hinaus im Jenseits wesentlich erschien. VI INSIGNIENVERLUST WÄHREND DER HERRSCHAFT HEINRICHS IV.
Der Verlust der Insignien spielte in Heinrichs Herrschaft nicht nur beim Verfahren der erzwungenen Abdankung eine Rolle 147. Er hatte schon viel früher einmal gedroht, nämlich während der Zeit der Rivalitäten von Erzbischöfen und Reichsfürsten, die sich als potentielle Königsberater ausgeschlossen sahen. Erstmals bei seiner Entführung 1062 durch Erzbischof Anno von Köln hatte dieser die Insignien des als zweijähriger in Aachen zum König gekrönten Heinrich in seinen Besitz gebracht 148. Im Jahr von Heinrichs Schwertleite, 1065, war Erzbischof Adalbert von Hamburg-Bremen sein bevorzugter Ratgeber geworden. Auf einem Hoftag in Tribur beschlossen Adalberts Gegner, unter ihnen Erzbischof Gebhard von Salzburg, Heinrich vor die Wahl zwischen seiner Königsherrschaft und seinem bischöflichen Freund und Berater zu stellen. Nachdem Heinrich erst noch Zugeständnisse machte, aber die Insignien auf jeden Fall behalten wollte, versuchte er nach Ablehnung seines Ansinnens auf den Rat Adalberts hin mit den Insignien zu fliehen, was scheiterte und zu Adalberts Vertreibung führte 149. Ein weiteres Mal stand der Besitz oder Verlust der Insignien 1077 vor Canossa zur Diskussion 150. Endgültig verlor der Kaiser Macht und Insignien aber, als sein Sohn zum offenen Widersacher wurde. Heinrich V. ließ im Dezember 1105 auf dem Reichstag von Mainz seinen Vater auffordern, ihm Kreuz, Krone, Lanze und andere Insignien zu überlassen. In der anonymen Kaiserchronik wird die am 5. Januar 1106 in Ingelheim erfolgte Übergabe der königlichen und kaiserlichen Insignien Krone, Zepter, 145 146
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Zu den Äbten s. 900 Jahre Lambach ( wie Anm. 61 ) S. 75–77. Percy Ernst Schramm, Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit. 751–1190, hg. von Florentine Mütherich, Neuauflage unter Mitarbeit von Peter Berghaus – Nikolaus Gussone – Florentine Mütherich, München 1983, S. 116. Die Ereignisse von der erzwungenen Abdankung bis zum Tod Heinrichs IV. auch in Mayer von Knonau ( wie Anm. 7 ) 5: 1097–1106, Leipzig 1904, S. 259–270, 279, 284–292, 296–315. Becher ( wie Anm. 4 ) S. 155, S. 161. Lampert ( wie Anm. 95 ) S. 108 Z. 13–21: Statuta die tristis in regem omnium vultus, tristis erat sententia, ut aut regno se abdicaret aut archiepiscopum Premensem a consiliis suis atque a regni consortio amoveret. Tergiversanti et, quid pocius eligeret, hesitanti archiepiscopus consilium dedit, ut proxima nocte, ablatis secum regni insignibus, clam aufugeret et Goslariam aut in alium locum se reciperet, ubi ab iniuria tutus foret, donec turba haec conquiesceret. Advenient vespera thesauros regios per satellites et socios fraudis suae iam exportare ceperat, cum repente ad ministros regis consilium hoc, nescio quo indicio, permanavit. S. a. Althoff ( wie Anm. 4 ) S. 60–64; Huth ( wie Anm. 31 ) S. 296–297; Becher ( wie Anm. 4 ) S. 162. Dazu oben bei Anm. 95.
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Reichsapfel, Kreuz und Lanze geschildert: Cui cum legati absolutionem seu penitentie modum absque generalis synodi discussione et apostolice sedis censura se reddere non posse perhiberent, ipse partis utriusque consiliis annuens regalia vel imperialia insignia, crucem scilicet et lanceam, sceptrum, globum atque coronam filii potestati tradidit 151. Ein unbekannter Miniator hat die Übergabeszene in Ekkehards Chronik ( Abb. 35 ) nur mit den drei Kerninsignien Krone, Zepter und Reichsapfel ausgestattet 152. Heinrich selbst nennt in seinem um Beistand bittenden Brief an Philipp I. von Frankreich Krone, Zepter, Kreuz, Lanze und Schwert 153. Heinrich wurde nach seinem Sturz in der Burg Böckelheim festgesetzt, konnte jedoch nach Lüttich fliehen, wo ihm Bischof Otbert Zuflucht gewährte. Heinrich V. sah die Gefahr einer Umkehrung der Machtverhältnisse und berief einen Reichstag für Ostern 1106 nach Lüttich ein. Die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn flammte erneut auf. Als Heinrich IV. erkrankte und sein Ende nahen sah, wollte er sich mit seinem Sohn aussöhnen. Die Vita berichtet, dass er zu diesem Zweck den Ring und das Schwert an den in Aachen weilenden Sohn schicken ließ: Qua tempestate mentis dum fluctuarent, subito fama veniens nubila tantae perturbationis in serenum convertit. Retulit enim imperatorem mortis debitum persolvisse. Ad quam famam primo hesitabant, sed cum nuncius extremum munus patris, anulum videlicet et gladium, cum mandatis filio portans venisset, tanta laeticia oborta est, ut voces gratulantium vix sedari possent 154. Die geben uns weiterhin Auskunft, um wen es sich bei den Überbringern der Insignien handelt: Heinrichs Kämmerer Erkembald und den Bischof von Münster, Burchard, der sich in des Kaisers Gefangenschaft befand 155. Allerdings wird in den Hildesheimer Annalen nicht der Ring, sondern ein Diadem als Insignie genannt 156. VII IKONOGRAPHIE DER IN LAMBACH DARGESTELLTEN KRONEN
Die Ikonographie der oben besprochenen Lambacher Bilder ist in der Gesamtheit nicht von bestimmten Vorbildern herleitbar, obwohl sich für einzelne Motive solche finden lassen 157. Angesichts der herausragenden Rolle, die der Insignienverlust in 151
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Kaiserchronik ( wie Anm. 5 ) S. 238 Z. 10–14. S. a. Vita Heinrici IV. imperatoris, hg. von Wilhelm Wattenbach – Wilhelm Eberhard ( MGH SS rer. Germ. 58 ) Hannover 31899, S. 34 Z. 10–14: Statim misso legato patri mandavit, ut si vitam servare vellet, absque mora sibi crucem, coronam et lanceam caeteraque regalia transmitteret et munitiones, quas firmissimas tenebat, in manum eius transferret. Eine zusammenfassende Schilderung der Vorgänge bei Huth ( wie Anm. 31 ) S. 292–295. Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, ms. lat. 2o 295, fol. 99r; Schramm – Mütherich ( wie Anm. 145 ) S. 250 Nr. 184, S. 441 Abb. 184. Briefe Heinrichs IV. ( wie Anm. 94 ) Nr. 39, S. 128 Z. 13–16: At ego – etsi omnis terra, quantum inhabitatur, regni mei terminus esset, nolens vitam regno commutare – quia vellem nollem sic agendum et sic diffinitum intelligebam, coronam sceptrum crucem lanceam gladium misi Moguntiam. Leben Kaiser Heinrichs IV., cap. 12 ( wie Anm. 128 ) S. 464 Z. 14–19; s. a. Meyer von Knonau ( wie Anm. 7 ) 6: 1106 bis 1116, Leipzig 1907, S. 6; Althoff ( wie Anm. 4 ) S. 250. Burchard ( † 1118 ) war ursprünglich Ratgeber Heinrichs IV. und gehörte später zum Kreis Heinrichs V.; Peter Johanek, Art.<Buchard von Münster>, in: LThK 2, 1994, Sp. 799. Annales Hildesheimenses ( wie Anm. 4 ) S. 111 Z. 5–7: Gladium et diadema, quae adhuc secum habebat, filio suo misit cum Erkenbaldo, fidelissimo camerario suo, et Burchardo episcopo de Monestere, quem tunc vinctum tenebat; Grauert ( wie Anm. 7 ) S. 583. Ein Diadem im Besitz Heinrichs IV. auch nach der erzwungenen ersten Insignienabgabe vom 5. Januar 1106 in Mainz an Heinrich V. ist nicht ungewöhnlich. Zur Ikonographie des Suizids s. Amberger ( wie Anm. 111 ). Zum Herrschersturz hat Wibiral ( wie Anm. 122 ) bereits wichtige Ergebnisse vorgelegt. Eine detaillierte ikonographische Analyse der Szene
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den Fresken und während Heinrichs Herrschaft spielte, ist hier vor allem die Frage einer möglichen Vergleichbarkeit der Kronen in den Herodesszenen mit anderen Kronendarstellungen aus der Königs- und Kaiserzeit des Saliers von Interesse. Zwar zeigen die Bilder in Lambach verschiedene Herrschaftsinsignien, doch steht die Krone im Vordergrund der folgenden Vergleiche, da der tote Kaiser im Grab eine Krone trug, während Zepter, Globus und Schwert als Beigaben fehlten. In Lambach ist im Suizidbild eine Krone zu sehen, deren Reif offensichtlich aus einzelnen Gliedern gefügt ist, woraus die Giebelform resultiert. Die Szene des Herrschersturzes zeigt hingegen eine Querbügelkrone. Diese beiden Kronenmodelle können denen auf Herrscherbildern Heinrichs IV. gegenübergestellt werden. Auf fast allen in die Zeit von 1056–1106 datierten Münzbildnissen ( Abb. 36–37 ) trägt Heinrich IV. Kronen, die im Typus den beiden in Lambach dargestellten entsprechen, wobei es unerheblich ist, ob die Münzen vor oder nach der Kaiserkrönung geprägt wurden 158. Auch die in Lambach deutlich erkennbaren knaufartigen Aufsätze beider Kronen sieht man auf den Münzen. Ähnliches gilt für die Miniatur im Krakauer Evangeliar ( Abb. 38 ), die Heinrich IV. zwischen seinen Söhnen Heinrich V. und Konrad zeigt 159. Heinrich trägt hier wie die beiden Söhne eine Krone mit den kugeligen Aufsätzen und pyramidalem Aufbau, dessen Dreieckform sich allerdings nicht aus einzelnen Reifgliedern herleiten lässt, wie das in der Suizidszene der Fall ist. Die Art der Kronendarstellungen bewegt sich grundsätzlich zwischen einem auf wesentliche Elemente reduzierten Schema und gewissen detaillierten Angaben. So sind als Grundformen der runde oder eckige Kronreif, der Bügel und die runden Aufsätze vorhanden, während die Details mithilfe von angedeu-
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wäre weiterhin wünschenswert, denn die einzelnen Motivgruppen lassen sich mit Darstellungen der Rota fortunae, des Antichrist und der Herrscherhuldigung in Verbindung bringen, die zeitlich jedoch Lambach nachfolgen. Die Übernahme von Darstellungen aus vorikonoklastischen illustrierten Josephus-Handschriften, die Wibiral ( wie Anm. 108 ) S. 23, S. 38, noch annimmt, kann seit der Publikation von Ulrike Liebl ausgeschlossen werden ( Die illustrierten Flavius-Josephus-Handschriften des Hochmittelalters [ Europäische Hochschulschriften. Reihe XXVIII: Kunstgeschichte 304 ] Frankfurt am Main u. a. 1997 ). Zum Fortuna-Motiv in Schriften, die Heinrichs Leben zum Inhalt haben s. Hans Frieder Haefele, Fortuna Heinrici IV. imperatoris. Untersuchungen zur Lebensbeschreibung des dritten Saliers ( Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 15 ) Graz – Köln 1954. Schramm – Mütherich ( wie Anm. 145 ) S. 238–243, S. 420–427 Abb. 171. 1a–80. Münzen und Siegel waren wichtige Medien der visuellen Kommunikation im Herrschaftsbereich. Für die vorsalischen Könige und Kaiser hat sie Hagen Keller untersucht ( Zu den Siegeln der Karolinger und der Ottonen. Urkunden als in der Kommunikation des Königs mit seinen Getreuen, in: Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, S. 400–441; Ottonische Herrschersiegel. Beobachtungen und Fragen zu Gestalt und Aussage und zur Funktion im historischen Kontext, in: Konrad Krimm – Herwig John [ Hgg. ], Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum fünfundsechzigsten Geburtstag, Sigmaringen 1997, S. 3–51 ). Regensburg, 1106–1111, Krakau, Bibliothek des Domkapitels, cod. 208, fol. 2v; Schramm – Mütherich ( wie Anm. 145 ) S. 244 Nr. 173, S. 249 Nr. 183, S. 429 Abb. 173. Dem Giebelkronentypus des Suizidbildes entspricht auch die Krone des thronenden Kaisers auf fol 1r derselben Handschrift, bei dem es sich um Heinrich IV. oder Heinrich V. handelt. S. Schramm – Mütherich ( wie Anm. 1 ) S. 177 Nr. 165, S. 399 Abb. 165. Eine weitere Miniatur eines salischen Herrschers ist in ihrer Benennung ebenfalls ungesichert. Sie zeigt eine Krone mit rundem Querbügel und den Aufsätzen: Evangelistar, Reichenau, Mitte 11. Jahrhundert, Berlin, SMPK, Kupferstichkabinett, ms. 78 A. 2, 14. Dazu Schramm – Mütherich ( wie Anm. 145 ) S. 233 Nr. 159, S. 410 Abb. 159.
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tetem Edelstein- und Perlenbesatz erkennbar sind 160. Gleichwohl gewinnen die Wandmalereien und Miniaturen im Gegensatz zu Münzen und Siegel durch die Farbmodellierung eine differenziertere Formgebung. Vier Lilien sind die kennzeichnenden Formen der Grabkrone Heinrichs IV. Auf überlieferten Denkmälern der Regierungszeit Heinrichs ist die Lilie als Formelement der Insignien durchaus vorhanden. Als Beispiele können ein Kaisersiegel und eine Münze aus Heinrichs Kaiserzeit angeführt werden ( Abb. 39–40 ). Die dort dargestellten Kronen sind am Kreuzungspunkt der Bügel ebenso mit der stilisierten Lilienblüte überhöht wie die Zepter 161. In der Miniatur ( Abb. 35 ) zur erzwungenen Insignienabgabe in Ekkehards Chronik hält Heinrich V. gleichfalls ein Lilienzepter in der Hand 162. Wenn die Lilie also Formelement von Heinrichs Insignien war, sie auf den Insignien in Lambach aber fehlt, und Herodes dort als rex impius zu verstehen ist, so ist die Frage nach der Relevanz der Grabkrone Heinrichs auch im Hinblick auf ihre formale Gestaltung von Interesse, denn auf der Grabkrone ist die Lilie neben dem tragenden Reif das einzige und wesentliche Gestaltungselement. VIII DER TOD HEINRICHS IV. IN ZEITGENÖSSISCHEN QUELLEN
Entscheidende Motive zum Jenseitsverständnis mittelalterlicher Herrscher sind die Liebe und Verehrung der Armen, galten die Armen doch als wichtige Fürbitter vor Gott. An ihnen getane Werke der Barmherzigkeit öffneten den Weg ins Himmelreich 163. „In der Selbsterniedrigung des Armendienstes bereitet sich also nichts weniger vor als die letzte, himmlische Herrschererhöhung.“ 164 Diese himmlische Erhöhung ist in den Augen des anonymen Autors von Heinrichs Vita der gerechte Lohn für den auf Erden von seinen Gegnern gedemütigten Kaiser. Sichtbares Zeichen dafür ist die Krone, die ihm keiner mehr rauben wird. Der kaisertreue Autor, der den Tod seines Kaisers beklagt, weist mehrmals auf Heinrichs Taten der Barmherzigkeit an den Armen hin, die ihm trotz des Insignienverlustes die ewige Krone sichern: Vobis quoque, ó pauperes, vel maxima causa dolendi est; nam nunc demum pauperes facti estis, cum paupertatis vestrae consolatorem amisistis … Ad exequias illas viduae, pupilli, denique totius patriae pauperes conveniunt, deflent se orbatos patre, fundunt in corpus lacrimas, deosculantur largas manus … Sed nec tumulum deserebant, ibi vigiliis, lacrimis et orationibus vacabant, plangendo recitantes et recitando plangentes, quaenam opera misericordiae fecisset in se, quamquam mors eius plangenda non fuit, quam bona vita praecessit, qui fidem rectam, spem firmam, compunctionem cordis amaram in extremis suis tenuit … Felix es, imperator H[ einrice ], qui tales excubias, tales intercessores tibi parasti, qui nunc multipliciter auctum de manu Domini recipis, quod 160
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Schematische Umrisszeichnungen von Kronen weiterer Salier bei Schramm – Mütherich ( wie Anm. 145 ) S. 142–143. Die Formen unterscheiden sich nicht wesentlich von den geschilderten. Schramm – Mütherich ( wie Anm. 145 ) die genannten und weitere Beispielen S. 419 Abb. 168–169, S. 421 Abb. 17–18, S. 422 Abb. 21–25, S. 423 Abb. 31a-b, S. 424 Abb. 46 und 49. S. Anm. 151. Leben Kaiser Heinrichs IV. ( wie Anm. 128 ) cap. 1, S. 410 Z. 27–28 ( nach Lc 16,9 ): Facite vobis amicos de mammona iniquitatis, ut, cum defeceritis, recipiant vos in aeterna tabernacula. Zit. Lothar Bornscheuer, Miseriae regum. Untersuchungen zum Krisen- und Todesgedanken in den herrschaftstheologischen Vorstellungen der ottonisch-salischen Zeit ( Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 4 ) Berlin 1968, S. 158.
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in manus pauperum abscondisti. Turbolentum regnum pro tranquillo, defectivum pro aeterno, terrenum pro celesti mutasti. Nunc demum regnas, nunc diadema portas, quod tibi nec heres tuus praeripiat, nec adversarius invideat 165. Die Armen betrauern den Tod des Kaisers, denn er sorgte für sie wie ein Vater 166, sie wiederum sind ihm über den Tod hinaus treu und werden zu seinen Fürbittern. Die Vita betont Heinrichs Armenfürsorge und schreibt ihm die Tugenden der Humilitas und der Caritas-Misericordia zu 167, die zu den wichtigsten Herrschertugenden gehörten 168. Tatsächlich gibt es Belege für eine gezielte Armenfürsorge durch den Kaiser 169. Armenspeisung, Krankenpflege und Totengedenken werden in Heinrichs Vita besonders hervorgehoben 170. Die Verehrung des Kaisers durch die Armen zeigte sich schon unmittelbar nach seinem Tod in Lüttich. Vor der Überführung seines Leichnams nach Speyer berührten sie den Sarg und legten Saatkörner darauf – man denkt hier an Berührungsreliquien –, da sie sich davon Heil für die Kinder und gute Felderträge versprachen: una cum predictis pauperibus clericis circa corpus extractis gladiis vigilaverant, quorumdam seniorum consilium vix potuerunt reprimi. Nam tantum exarserant in eius immoderatum favorem ut quotquot illius tetigissent feretrum se sanctificatos ab eo crederent. Nonnullis etiam terram sepulchri eius ungulis propriis scalpentibus et per agros suos domosque quasi pro benedictione spargentibus alii frumenta vetera feretro ipsius superiacebant ut una cum novis immixta illa sererent sperabant enim taliter fertilem sibi messem profuturam 171. Noch nach seiner Bestattung in der ungeweihten Afrakapelle in Speyer kamen Menschen aus dem Volk, um den Toten zu ehren 172. 165
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Leben Kaiser Heinrichs IV. ( wie Anm. 128 ) S. 410 Z. 10–12, S. 464 Z. 22–30, S. 466 Z. 2–7; Struve ( wie Anm. 118 ) S. 341–343; Althoff ( wie Anm. 4 ) S. 251–252. Die Annales Ottenburani, hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 5 ) Hannover 1844, S. 9 Z. 5–6, verzeichnen den Tod Heinrichs mit den Worten: Heinricus imperator, pauperum pater, Leodii obiit 7. Id. Augusti. Karl Schmid ( wie Anm. 2 ) S. 706–721; Bornscheuer ( wie Anm. 163 ) S. 156–160. Auch in den Tugendkatalogen Heiliger wird die Armenfürsorge häufig angeführt. S. Ludwig Hertling, Der mittelalterliche Heiligentypus nach den Tugendkatalogen, in: Zeitschrift für Aszese und Mystik 8, 1933, S. 260–268, bes. S. 261–262. So z. B. im Fürstenspiegel des Bischofs Jonas von Orléans ( 828/831 ); s. Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters, hg. von Hans Hubert Anton ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 45 ) Darmstadt 2006, S. 12, S. 62/64. Die Übernahme der griechischen Tugendkonzepte durch die frühchristlichen Autoren wurde durch die Vorstelllung der Philosophen von einer, deren Ausdruck alle Tugenden sind, erleichtert; christliche Autoren setzten diese Quelle aller Tugenden oft mit Caritas gleich. S. Sibylle Mähl, Quadriga virtutum. Die Kardinaltugenden in der Geistesgeschichte der Karolingerzeit ( Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, H. 9 ) Köln – Wien 1969, S. 7–15; Ludwig Hödl, Art., in: LMA 5, 1991, Sp. 1963–1965. Ein Vergleich der drei theologischen Tugenden mit den Gaben der Heiligen Drei Könige wird dem hl. Chrysostomos zugeschrieben: Cumque … tres virtutes eum, qui ad Christum accedit, possidere oporteat … fidem, spem, et caritatem, apertis thesauris sui cordis, obtulerunt fidem, ut aurum fulgens, spem, ut thus suaveolens, caritatem ut myrrham membra Ecclesiae conglutinantem. Zit. Hermann Crombach, Primitiae gentium seu historia ss. trium regum magorum evangelicorum …, Köln 1654, S. 442. S. dazu Karl Schmid ( wie Anm. 2 ) S. 709–710, mit Beispielen von Speisungen und Einkleidungen. Leben Kaiser Heinrichs IV. ( wie Anm. 128 ) cap. 1, S. 410/412, Z. 10 ff. Sigeberti Gemblacensis chronographia, hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 6 ) Hannover 1844, S. 372 Z. 46–51; s. a. Erkens ( wie Anm. 99 ) S. 98; Meyer von Knonau ( wie Anm. 7 ) 6, S. 9–10. Annales Hildesheimenses ( wie Anm. 4 ) S. 111 Z. 22–29; Struve ( wie Anm. 118 ) S. 342: Cumque 3. Non. Sept. illuc allatus esset, solito more defunctorum exequiis honorifice a clero et populo suscipitur et in basilicam sanctae Mariae, quam summo studio construxerat, portabatur. Idcirco episcopus interdixit ullum divinum ibi celebrare officium,
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Vom guten Sterben Heinrichs berichtet die anonyme Kaiserchronik. Der Kaiser habe gebeichtet, die heilige Krankensalbung empfangen und sei dann friedlich verstorben 173. Ebenso von Mitleid geprägt wie in der Vita ist der Tenor in der <Slawenchronik> Helmolds von Bosau. Er beklagt vor allem die dem Kaiser trotz seiner Reue und Buße versagte Gerechtigkeit, die schon dem biblischen David zuerkannt wurde 174. Ekkehard bedauert in seiner Chronik, dass Heinrichs Tod Jubel auslöste und nicht Trauer, gibt aber auch das vernichtende Urteil der Gregorianer über den Häretiker Heinrich wieder 175. Eher abwägend, durchaus auch die Vorzüge des Kaisers betonend sind die , die ihn nach dem Tod so bewerten: Enimvero ut de illo omnia loquar, erat valde misericors. Aliqui enim, dum sederet ad requisita naturae, eum perforare volentes, capti sunt, et ante eum ducti; qui convicti et confessi, abire iussi sunt impuniti. Multi etiam principes, qui ei multa mala fecerunt atque magnum contemptum ingesserunt, mox ut ei se prostraverunt, omnia eis condonavit, Et quamvis esset valde compatiens et misericors in elemosinis pauperum, obstinata tamen mente in excommunicatione permansit; quae omnia bonitatis eius opera obnubilant 176. IX BEWERTUNG
Bei den folgenden Überlegungen gilt es, vom Standpunkt Heinrichs und seiner Gefolgsleute auszugehen. Nach einem aus den Krönungsformeln ableitbaren Herrscherverständnis stand Heinrich in einer Reihe mit Priestern des Alten Testaments. Der König hatte Anteil am Bischofsamt, was in der Krönungsformel, die der Erzbischof oder Papst beim Aufsetzen der Krone sprach, zum Ausdruck kam: Accipe coronam regni … per hanc te participem ministerii nostri non ignores 177. So hatte das christliche König- oder Kai-
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donec purgarentur ab hoc facto. Et sic extra monasterium fecit corpus statui in capella nondum consecrata. Unde factus est tumultus et planctus magnus in populo, quia dilexit locum et populum prae omnibus. Post haec multo tempore inhumatum corpus ab incolis ibi frequentabatur. Kaiserchronik, lib. 3 ( wie Anm. 5 ) S. 244 Z. 9–12: Referunt qui aderant bona illum confessione nec sine magna fiducia finem vite fecisse rebusque suis per omnia dispositis, nunciis quoque tam ad apostolicum pontificem quam ad filium regem destinatis sumpto viatico velut obdormiens expirasse. S. a. Bernd Schneidmüller, Canossa und der harte Tod der Helden, in: Jarnut – Wemhoff ( wie Anm. 34 ) S. 103–131, bes. S. 120–121. Helmold ( wie Anm. 135 ) cap. 33, S. 140 Z. 8–15: Quis enim vel minimam honoris sui iacturam equanimiter ferat? Legimus autem, quia multi peccaverunt, quibus tamen subventum est penitentiae remedio. Certe David peccans et penitens rex et propheta permansit. Rex autem Heinricus ad vestigia apostolorum iacens, orans et penitens, gratis pessundatus est nec invenit tempore gratiae, quod ille obtinuit duro legis tempore. Sed disputaverint de his qui scierint vel ausi fuerint. S. a. Huth ( wie Anm. 31 ) S. 302–303. Ekkehard ( wie Anm. 5 ) S. 286 Z. 25 ff. und S. 288 Z. 17 ff.: sed … post dies aliquot … fama mortis ipsius Heinrici imperatoris subsequitur. Miserabile tamen dictu est tanti nominis, tante dignitatis tantique animi virum sub professione christiana mundum tanto tempore lucratum nec ad instar cuiuslibet pauperis defuncti pium vel compassivum luctum a quavis inter tot christianos persona promeruisse, sed potius universorum tam ibidem quam ubivis vere Christianorum corda simul et ora infinito nimis tripudio sui obitus rumore replesse. Non altius concinebat Israel Domino Pharaone demerso … Hic finis, hic interitus hecque sors ultima Heinrici illo sub vocabulo IIII. Romanorum imperatoris a suis appellati, a catholicis vero … archipyrata simul et heresiarcha nec non et apostata persecutorque plus animarum quam corporum competenter dicebatur. Annales sancti Disibodi ( ad a. 1106 ), hg. von Georg Waitz ( MGH SS 17 ) Hannover 1861, S. 19 Z 45–50; s. a. Struve ( wie Anm. 118 ) S. 337. ‘Ordo der elf Formeln’ ( 900–950 ) und der Ordo Köln, Dombibliothek 141 ( 1000–1050 ); Ordines Franciae I ( wie Anm. 14 ) S. 161 Nr. 4 ( Ordo XIV ), S. 209 Nr. 27 ( Ordo XVI ); Georg Waitz, Die Formeln der deutschen Königs- und der römischen Kaiserkrönung ( Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 18 ) Göttingen 1873, S. 42, S. 82.
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sertum eine über die weltliche Herrschaft hinausgehende Bedeutung 178. Heinrich war gesalbter König – christus Domini –, das verlieh seinem Herrschertum sakralen Charakter, was ihn wiederum zum vicarius Dei bestimmte 179. Aus der Kronen- und Ringformel geht hervor, was für Heinrichs Seelenheil und seinen Anspruch auf Mitherrschaft im Jenseits entscheidend war: der König soll eine gute und gerechte Herrschaft auf Erden ausüben und den rechten Glauben bewahren und verteidigen, um so die ewige Krone zu erlangen 180. Die reale und die ewige Krone wurde von Gott verliehen 181. Beim Krö178
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Allein die Tatsache, dass aus vielen Schriften des Investiturstreits der Versuch der Zurückdrängung der Herrschersakralität von Seiten der Reformgeistlichen hervorgeht, zeigt die Bedeutung, die die Kaisergegner ihr beimaßen. Für den zu den Reformbefürwortern zählenden Petrus Damiani ( 1006–1072 ) gehörte die Königssalbung zu den Sakramenten. Petri Damiani liber gratissimus, cap. 10 ( MGH Ldl 1 ) ( wie Anm. 85 ) S. 31 Z. 16–17: Reges enim et sacerdotes, licet nonnulli eorum reprobi sint per notabilis vitae meritum, dii tamen et christi dici repperiuntur propter accepti ministerii sacramentum. S. Johannes Laudage, Art., in: LThK 8, 1999, Sp. 119–120; Eichmann ( wie Anm. 12 ) S. 13. Ähnlich später bei Petrus von Blois ( 1130–1211 ). Petri Blesensis epistolae, ep. 149, Migne PL 207, Sp. 440 D: Fateor quidem, quod sanctum est domino regi assistere; sanctus enim et christus Domini est: nec in vacuum accepit unctionis regiae sacramentum. S. Rolf Grosse, Art., in: LThK 8, 1999, Sp. 112–113. Der Gregorianer Werinher, Bischof von Magdeburg, führte das Gottesgnadentum des Kaisers und die Aussicht auf die ewige Krone ins Feld, um des Kaisers Gnade in seiner Angelegenheit zu erwirken. Er bat Adalbero von Würzburg und Siegfried von Mainz um Fürsprache beim Kaiser. Diese möchten Heinrich daran erinnern, dass er Stellvertreter Christi sei und sich durch barmherzige Taten die ewige Krone verdienen möge: Deinde domino nostro regi dignetur almitas vestra suggerere, ut recordetur se coelestis regis vicem simul et nomen habere, qui dicit se misericordiam magis velle quam sacrificium … quatenus, dum hoc recogitans eum, cuius est membrum et cuius nomen habet, actibus studet imitari, mereatur in regno coelesti beatitudinis aeternae gloria coronari; s. Brunos Sachsenkrieg ( wie Anm. 93 ) S. 258 Z. 18–24. Die Kritiker des Gottesgnadentums führten das Beispiel Sauls an, der, obwohl gesalbt, von Gott verstoßen wurde; s. 2 Sm 1, 21. Die aus Sicht der Gregorianer unrechtmäßige Kaiserkrönung durch den Gegenpapst musste für die Kaisertreuen ohne Belang sein, denn schon die Königssalbung machte Heinrich zum christus Domini. Hans Hubert Anton, Art.<Salbung>, in: LMA 7, 1995, Sp. 1288–1292; Bernd Willmes – Paul-Gerhard Müller, Art.<Salbung>, in: LThK 8, 1999, Sp. 1479–1482. Zum sakral verstandenen Königtum auch Josef Fleckenstein, Rex canonicus. Über Entstehung und Bedeutung des mittelalterlichen Königskanonikates, Festschrift Percy Ernst Schramm zu seinem 70. Geburtstag von Schülern und Freunden zugeeignet, 1, Wiesbaden 1964, S. 57–71, bes. S. 59–62, S. 69 mit Anm. 50 ( dort Nachweise für die Bezeichnung des Königs als christus Domini ), S. 71; Bernhard Töpfer, Zur Entsakralisierung der Herrscherwürde in der Zeit des Investiturstreits, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 6, 1982, S. 163–171, bes. S. 164 ff. Davon, dass die Inhalte der Krönungsformeln als wertevermittelnd verstanden wurden, zeugt noch Julius von Rohr, der in seinem 1733 publizierten Zeremonialwerk zum Ring bedauernd rekapituliert: „Einige Politici haben allerhand gute Gedanken vorgetragen, was die Kleinodien des Reichs bedeuten, und wie sich grosse Herren hierbey einer und der andern Pflicht ihrer Regierung erinnern sollen und können [ … ] der Ring [ bedeutet ] die Verbindung des Königes mit dem Volck, mit dem es gleichsam verlobet [ … ] Ich glaube, dass die wenigsten grossen Herren an ihren Crönungs-Tagen sich bey diesen moralischen Reflexions lange aufhalten, und dass die meisten sie vielmehr den Schulfüchsereyen beyzehlen werden“. Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der großen Herren, III. Theil, IV. Cap., § 19, hg. und kommentiert von Monika Schlechte, Weinheim 1990, S. 594. Rohr ( 1688–1742 ) war Jurist und Kammerrat des Herzogs von Sachsen-Merseburg. Zum Werk Rohrs s. a. Miloˇs Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation ( Ius Commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte. Sonderhefte. Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 106 ) Frankfurt a. M. 1998, S. 80–98. Karl der Große bezeichnet sich in einer Urkunde vom 29. Mai 801 als von Gott gekrönter Kaiser: Karolus … augustus a deo coronatus magnus pacificus imperator Romanum gubernans imperium, qui et per misericordiam
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nungsakt lagen die Insignien auf dem Altar, also in Gottes Hand. Aus den Händen des Coronators als Vermittler empfing Heinrich sie. Im Tod gab er sie an Gott zurück, in der Hoffnung, erneut, nun aber mit der ewigen Krone gekrönt zu werden. Gott allein, der ihn zum König berufen hatte, erkannte er als seinen Richter an, wie aus dem von Gottschalk von Aachen verfassten Schreiben von 1076 hervorgeht, in dem Heinrich den Papst zur Abdankung auffordert: Heinricus non usurpative, sed pia dei ordinatione rex … Qui dominus noster Iesus Christus nos ad regnum … vocavit … Me quoque, qui licet indignus inter christos ad regnum sum unctus, tetigisti, quem sanctorum patrum traditio soli deo iudicandum docuit nec pro aliquo crimine, nisi a fide, quod absit, exorbitaverim, deponendum asseruit 182. Von den erhaltenen Denkmälern wissen wir, dass die Lilie Formelement von Heinrichs Insignien war 183. Heinrich hatte nun in dieser Welt nicht nur die Insignien an sich verloren, sondern mit ihnen auch die Lilie, die als Symbolblume besonders für die Tugend der Gerechtigkeit galt 184. Zwar tragen auch die Grabkronen der Kaiser Konrad II. ( † 1039 ), Heinrich III. ( † 1056 ) und der Kaiserin Gisela ( † 1043 ) Lilienaufsätze 185, so dass die Krone Heinrichs IV. eine salische Tradition weiterführt. Trotzdem möchte ich für seine Lilienkrone als zusätzliches Argument die besondere machtpolitische und persönliche Situation des Kaisers geltend machen, da die Lilienkrone, mit der er in das Reich Gottes einging, in ihrer formalen Gestaltung seine Tugenden zusätzlich unterstreicht. Für Tugenden wie Gerechtigkeit und die vom Vitenschreiber gepriesene Barmherzigkeit sollte Heinrich durch die Erlangung der ewigen Krone und der ewigen Mitherrschaft durch Gottes Gnade belohnt werden 186. Hierin liegt der eigentliche Grund für die Bestattung des toten Kaisers mit der Krone. Auf diese ewige Krone hoffte er, obwohl er die Krone der weltlichen Herrschaft hatte abgeben müs-
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dei rex Francorum atque Langobardorum; Die Urkunden der Karolinger, 1: Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen, hg. von Engelbert Mühlbacher ( MGH DD Karolinorum ) Hannover 1906, Nr. 197 S. 265 Z. 13–15. Konrad Amann, Königswahl und Kaiserkrönung. Vom Romanum Imperium gubernans zum<erwählten Kaiser>, in: Bernd Heidenreich – Frank-Lothar Kroll ( Hgg. ), Wahl und Krönung, Frankfurt 2006, S. 9–28, bes. S. 10–11. Nach Ps 20,4–5 wird dem Gekrönten die Bitte um ewiges Leben erfüllt. Ein Brief des Petrus Damiani an Heinrich III. spielt darauf an: Omnipotens Deus, qui tibi terreni imperii gubernacula tribuit, et ad faciendam iusticiam suam diu in hac te vita custodiat, et post mortalis vitae decursum ad caelestia regna perducat. Die Briefe des Petrus Damiani, hg. von Kurt Reindel, Teil 1, Nr. 20 ( MGH Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 4 ) München 1988, S. 202; Percy Ernst Schramm, „Mitherrschaft im Himmel“: Ein Topos des Herrscherkults in christlicher Einkleidung ( vom 4. Jahrhundert an festgehalten bis in das frühe Mittelalter ), in: Peter Wirth ( Hg. ), Polychronion. Festschrift Franz Dölger zum 75. Geburtstag, Heidelberg 1966, S. 480–485, bes. S. 485, dort weitere Beispiele aus karolingischer und salischer Zeit. Briefe Heinrichs IV. ( wie Anm. 94 ) Nr. 12, S. 64 Z. 15, S. 66 Z. 9–10, Z. 18–19; Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter, hg. von Rudolf Buchner, Darmstadt 21954, S. 82, S. 205–206, S. 209; Erkens, Herrschersakralität ( wie Anm. 99 ) S. 203. Dazu oben bei Anm. 160. Die Deutung der Lilie geht im Wesentlichen auf Ps 44,1/7 zurück, der Eingang in die Übergabeformel des Zepters fand. Weitere Quellenbelege bei Margarete Pfister-Burkhalter, Art, in: Lexikon der christlichen Ikonographie 3, 1971, Sp. 100–102, bes. Sp. 100. Formentwicklung und -bedeutung der Lilie sind auch Teil des Forschungsprojekts zu Funeralinsignien. Auf zwei Abhandlungen über die Lilie sei verwiesen: Jean Tristan de Saint-Amant, Traicte du lis, symbole divin de l’esperance, contenant la iuste defense da sa gloire, dignité, et prerogative, Paris 1656; Jean-Jacques Chiflet, Lilium Francicum veritate historica, botanica et heraldica illustratum …, Antwerpen 1658. S. Ausstellungskatalog Reich der Salier ( wie Anm. 9 ) S. 289–295, mit Abb. ebd. Nach 2 Tim 4,8.
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sen. Der zu Lebzeiten seinen Gegnern als rex iniquus berüchtigte Kaiser trat als rex pius vor Gott. Zieht man nun noch einmal die Darstellungen in den Lambacher Fresken heran, insbesondere die herausragende Rolle, die der Insignienverlust darin spielt, so dürfte Adalbero von Lambach-Wels als einstiger Träger des in Heinrichs Grab gefundenen Ringes mit einiger Gewissheit zu benennen sein. Das gilt auch angesichts der Tatsache, dass ein Fingerring in den Bildern selbst gar nicht dargestellt ist, denn die Ringsymbolik kommt in den Armillae zum Ausdruck. Doch so wie Adalbero durch Heinrich IV. seiner Investiturinsignie beraubt wurde, so verliert der Kaiser selbst in den Fresken seine Insignien durch das Eingreifen Gottes. Diese Deutung hat auch dann Bestand, wenn man eine Beteiligung Adalberos an der Planung der Herodesbilder angesichts von dessen Tod 1090 ausschließen muss. Seine Anhänger handelten offenbar in seinem Sinne. Die Herodesszenen beziehen ikonographisch und ikonologisch eindeutig Position gegen Heinrich, indem sie die abgelegten und abfallenden Insignien prominent visualisieren. Der Pontifikalring mit Adalberos Namen in Heinrichs Grab war aus des Kaisers Sicht Zeichen für sein Recht zur Einsetzung und Absetzung von Bischöfen. Heinrich proklamierte damit sein Investiturrecht. Allerdings sollte der Ring nicht ausschließlich als letzter Akt einer falsch verstandenen Rechthaberei des Kaisers oder seiner Gefolgsleute verstanden werden. Denn der Ring war zugleich ein Symbol, das den Herrscher zusammen mit den anderen Grabbeigaben als Stellvertreter Christi auf Erden auswies, der seine Macht nicht mittelbar, sondern unmittelbar als von Gott gegeben verstand 187. Er symbolisierte die Verbundenheit und Treue des christlichen Kaisers mit Gott und seiner Kirche. Aus Sicht Heinrichs und seiner Anhänger hatte Adalbero der Kirche Schaden zugefügt, weil er an ihrer Spaltung mitwirkte und gegen den von Gott eingesetzten König opponiert hatte. Hatte Heinrich diesen besonderen Ring auch deswegen mit ins Grab bekommen, weil seine Getreuen meinten, er habe das Versprechen, die Kirche zu schützen eingelöst, als er den Bischof absetzte? Eine zufällige, aus den Zeitumständen heraus dem Fundus der noch verfügbaren Realien geschuldete Auswahl der Grabbeigaben darf man meiner Ansicht nach also nicht vermuten. Angesichts der symbolischen Bedeutung spielt die Tatsache, dass Krone und Ring sich nach heutigen Maßstäben in Form und Materialwert enorm unterscheiden, dort unedles Kupfer in einfacher Ausführung, hier edles Gold und Edelsteine in künstlerisch beachtlicher Ausführung, eine geringe Rolle. Die einfache, mit großer Wahrscheinlichkeit eigens angefertigte Krone, deren Form auf Wesentliches reduziert ist, ist nicht ungewöhnlich, wie die Kronen in den Gräbern anderer Salier zeigen. Gerade die reduzierte Form der Krone verweist auf die hinter den bildhaften Zeichen stehenden Ideen und Werte 188. Mehrere Male war Heinrich durch den Einfluss der Gregorianer vom Verlust der Insignien bedroht, am Ende musste er sie unfreiwillig abgeben. Im Tod und für das 187 188
S. a. Keller ( wie Anm. 76 ) S. 73–74, S. 85–86. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob der Streit zwischen Regnum und Sacerdotium nicht auch den bewussten und vermehrten Einsatz von Insignien beim Tod eines Herrschers zur Folge hatte. Die Tatsache, dass wir aus der vorsalischen Zeit nur wenige Nachrichten über Funeralinsignien haben, mag auch, aber vielleicht nicht nur der lückenhaften Überlieferung geschuldet sein.
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Reich Gottes konnte er Insignien wiedergewinnen 189, die seine Einsetzung durch Gott sichtbar machten 190, und die ihm die ewige Krone und Mitherrschaft versprachen. Bischofsring und Lilienkrone waren Ausweis seines Investiturrechts und seiner guten und tugendhaften Regierung, der Kaiser konnte somit getrost vor Gottes Richterstuhl treten 191. <Spoliatus imperialis dignitatis insigniis> – das war Heinrichs IV. Schicksal am Ende seines Lebens in dieser Welt. – so konnte er als gläubiger Christ ins ewige Leben übergehen. Vor dem am Beispiel der Grabbeigaben Kaiser Heinrichs IV. und den Wandmalereien in Lambach skizzierten Hintergrund darf man vermuten, dass Bilder und Bildzeichen normative Wirkung entfalten konnten, insofern sie die moralischen und sozialen Werte einer gesellschaftlichen Gruppe zum Ausdruck brachten und in ihrer propagandistischen Anlage Anhänger und Gegner anzusprechen suchten – selbst wenn daraus keine Aussagen im Sinne eines modernen Rechtspositivismus ableitbar sind. Rechtspositivistisch existierte noch keine Haftung eines Herrschers als Person. Eher wäre von einer normativen Ethik zu sprechen, die an die Träger der Zeichen appellierte. Nicht das Volk konnte den Kaiser zur Verantwortung ziehen, wenn er die bei der Krönung gegebenen Versprechen nicht einlöste, sondern vor Gottes übergesetzlichem Recht musste er Rechenschaft ablegen 192. Die in den Krönungsformeln genannten Tugenden sind neben anderen Werten Grundwerte der Ethik und galten für den christlichen Herrscher des Mittelalters als von Gott gesetzt. Die gelungene oder misslungene moralische Umsetzung kommt in der eigenständig formulierten Sprache der Zeichen und Bilder zum Ausdruck, die auch ohne erklärende Texte verständlich war.
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Zu diesen zählen auch die hier nicht weiter besprochenen anderen Grabbeigaben wie Brust- und Reliquienkreuz, Tunika, Sporen, Schuhe und vielleicht ein Gesichtsschleier ( Ein Seidengewebe ist nicht mehr sicher zuzuordnen. Einer der Ausgräber bezeichnete es als Schleier. S. Kubach – Haas 1 [ wie Anm. 1 ] S. 951 g ). Das Brustkreuz kann ebenso als Zeichen seines sakralen Status verstanden werden; ein Brustkreuz gehört auch zu den Insignien eines Bischofs. Rupert Berger, Art., in: LThK 2, 1994, Sp. 736. Zur gleichrangigen Bedeutung geistlicher und weltlicher Insignien Honorius von Autun, Gemma animae, lib. 1, cap. 73, Migne PL 172, Sp. 566 D: Quod episcopus spiritualiter agat vicem imperatoris. Procedit pontifex cum baculo, quasi imperator cum sceptro. Ante pontificem portantur sancta, sicut ante regem imperialia. Ante archiepiscopum crux portatur, sicut ante imperatorem gestatur; qui pallio decoratur, sicut rex corona perornatur. S. a. Thomas Zotz, Pallium et alia quaedam archiepiscopatus insignia. Zum Beziehungsgefüge und zu Rangfragen der Reichskirchen im Spiegel der päpstlichen Privilegien des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Helmut Maurer – Hans Patze ( Hgg. ), Festschrift für Berent Schwineköper zu seinem siebzigsten Geburtstag, Sigmaringen 1982, S. 155–175, bes. S. 175; Pierre Salmon, Mitra und Stab. Die Pontifikalinsignien im römischen Ritus, Mainz 1965, S. 17. So auch Keller, Siegel der Karolinger ( wie Anm. 157 ) S. 423. S. Wolfgang Kersting, Art., in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 7, 1989, Sp. 405–433, bes. Sp. 407 der Hinweis auf die Pflichtenlehre des Mailänder Bischofs Ambrosius, nach der die Pflichterfüllung eine der Voraussetzungen für die ewige Seligkeit war. Vgl. u. a. Jan M. Broekman, Art., in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8, 1992, Sp. 315–327, bes. Sp. 316, Sp. 322; Maximilian Herberger, Art., in: ebd. Sp. 221–229, bes. Sp. 221/222, spricht von der „religiöse[ n ] Rückbindung“ des Rechts und „eschatologische[ r ] Verantwortlichkeit“ des Rechtsbrechers. S. a. Kersting ( wie Anm. 190 ) Sp. 405–408.
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CLAUDIA GARNIER
Die Legitimierung von Gewalt durch die hoch- und spätmittelalterliche Friedensbewegung Violentia und potestas: Aspekte der Gewalt in der mittelalterlichen Herrschaftsordnung, S. 229. – Die Rolle der Gewalt in den Gottesfrieden des frühen Mittelalters, S. 232. – Die Legitimierung adliger Gewalt in den Landfrieden des 12. und 13. Jahrhunderts, S. 234. – Die Akteure der Gewalt – die Opfer der Gewalt, S. 238. – Die Entgrenzung oder die Kontrolle der Gewalt im ausgehenden Mittelalter, S. 243.
VIOLENTIA UND POTESTAS: ASPEKTE DER GEWALT IN DER MITTELALTERLICHEN HERRSCHAFTSORDNUNG
Gewalt bestimmt die Wahrnehmung der modernen Welt ebenso, wie sie alle menschlichen Kulturen auf die unterschiedlichste Art und Weise geprägt hat. Dabei galt das Mittelalter im allgemeinen Bewusstsein lange Zeit als diejenige der vormodernen Epochen, in der Gewalt besonders brutal, ungezügelt und hemmungslos zum Einsatz kam. Auf den ersten Blick scheint der Titel des vorliegenden Beitrags dieses Verdikt zu bestätigen, denn wenn man die Legitimierung der Gewalt durch die Friedensbewegung in den Blick nimmt, redet man den Vorstellungen vom martialischen Mittelalter offenbar das Wort 1. Doch gerade dieses Ziel ist nicht anvisiert, denn Studien zu Formen und Funktionen vormoderner Gewalt haben längst belegt, dass in den mittelalterlichen Gemeinwesen sehr wohl regelhafte Verhaltensformen zu rekonstruieren sind, die die Auswüchse der physischen Gewaltanwendung zu kanalisieren versuchten. Wenn im Folgenden dennoch von der Legitimierung der Gewalt gesprochen werden soll, so ist dies vor allem durch das Erkenntnisinteresse motiviert, ihren Stellenwert in der mittelalterlichen Gesellschaft zu bestimmen und daraus Aussagen für die spezifischen Strukturen der vormodernen Herrschaftsordnung abzuleiten. Die folgenden Ausführungen kommen allerdings nicht ohne einige definitorische Vorüberlegungen aus, die das Phänomen Gewalt ein wenig genauer eingrenzen sollen. Gewalt ist ein Thema, das in den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen breites Interesse gefunden hat – in den Sozial- ebenso wie in den Literatur- und Geschichts-
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Hartmut Boockmann, Das grausame Mittelalter. Über ein Stereotyp, ein didaktisches Problem und ein unbekanntes Hilfsmittel städtischer Justiz, den Wundpegel, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 38, 1987, S. 1–9; Gerd Althoff, Schranken der Gewalt. Wie gewalttätig war das ?, in: Horst Brunner ( Hg. ), Der Krieg im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit: Gründe, Begründungen, Bilder, Bräuche, Recht ( Imagines medii aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung 3 ) Wiesbaden 1999, S. 1–23; Valentin Gröbner, Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter, München – Wien 2003, S. 24 ff., der vom Mittelalter in der landläufigen Wahrnehmung als „Chiffre für exotisch-barbarisches Anderes, als utopischer Ort ungeregelter physischer Gewalt“ spricht.
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wissenschaften 2. Das hilfreichste Strukturierungsmodell bietet dabei die soziologische Gewaltforschung, die das Thema in den vergangenen Jahrzehnten aus unterschiedlichsten Perspektiven in den Blick genommen hat 3. Zu nennen sind in erster Linie die anthropologisch orientierten Arbeiten des 2002 verstorbenen Freiburger Soziologen Heinrich Popitz 4. Hier erscheint Gewalt als zentrales Element der Machtausübung, als strategisch eingesetztes Mittel innerhalb bestimmter sozialer Ordnungen. Sie begegnet bei Popitz als „Aktionsmacht“, die „anderen in einer gegen sie gerichteten Aktion Schaden zufügen“ kann 5. Dabei kann der Gewaltbegriff weit oder auch relativ eng gefasst werden, wobei sich die engere Definition vor allem auf die körperliche Gewalt bezieht. Von letzterer wird in diesem Beitrag die Rede sein. Die Eingrenzung von Gewalt ist demnach nur durch die Existenz sozialer Ordnungen möglich, die ein spezifisches Normensystem entwickeln und durch bestimmte Sanktionsmaßnahmen absichern. Die Aufrechterhaltung einer solchen sozialen Ordnung bedarf jedoch wiederum der Gewalt. Gewaltreduktion kommt also nicht ohne Gewalt oder zumindest ihre Androhung aus – so die einfache Bilanz. Allerdings ergibt sich daraus eine spezifizierte Form der Gewaltanwendung, indem zwischen der durch die soziale Ordnung erlaubten, also legitimen, und der unerlaubten, illegitimen Gewalt unterschieden wird 6. Diese Distinktion führt bereits zum vormodernen Zugriff auf das Phänomen, denn Gewalt besitzt auch hier zwei Facetten, die sich relativ passgenau in das eben beschriebene Modell einfügen lassen. Sie begegnet zum einen in Gestalt der potestas, also der Durchsetzung von Macht und Herrschaft, und zum andern in Form individueller Gewaltanwendung ( violentia ). Während es sich bei der potestas um eine an Recht und Herrschaft geknüpfte und somit sozial lizenzierte Form der Gewalt handelte, stand die violentia in der Regel im Widerspruch zum Recht, war also eine illegitime Form der Gewaltanwendung. Wenn sich die traditionelle Geschichtswissenschaft diesem Themenspektrum zugewandt hat, dann wurden vor allem Formen und Strukturen der Herrschaftsordnungen aus den unterschiedlichsten Perspektiven erforscht, so dass die potestas im Vordergrund stand 7. Die violentia begegnete dabei als kontrafaktisches Ele-
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Aus mediävistischer Perspektive vgl. zunächst die aktuellen Sammelbände: Manuel Braun – Cornelia Herberichs ( Hgg. ), Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, München 2005; Rolf Peter Sieferle – Helga Breuninger ( Hgg. ), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Frankfurt am Main – New York 1998; Günther Mensching ( Hg. ), Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter. Symposium des Philosophischen Seminars der Universität Hannover vom 26. bis 28. Februar 2002, Würzburg 2003. Paul Hugger, Elemente einer Kulturanthropologie der Gewalt, in: Ders. – Ulrich Stadler ( Hgg. ), Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart, Zürich 1995, S. 17–27; Trutz von Throtha ( Hg. ), Soziologie der Gewalt ( Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderbd. 37 ) Wiesbaden 1997; Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 32001; Christoph Liell – Andreas Pettenkofer, Kultursoziologische Perspektiven in der Gewaltforschung, in: Dies. ( Hgg. ), Kultivierungen von Gewalt. Beiträge zur Soziologie von Gewalt und Ordnung ( Kultur, Geschichte Theorie. Studien zur Kultursoziologie 2 ) Würzburg 2004, S. 9–40. Heinrich Popitz, Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 21992. Ebd., S. 43. Ebd., S. 63. Art.: <Macht, Gewalt>, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 3, Stuttgart 1982, S. 817–935, bes. S. 835–847 zur funktionalen Zuordnung von Macht und Gewalt im Mittelalter; vgl. auch Ralf Pröve, Gewalt und Herrschaft in der Frühen Neuzeit.
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ment, das es zu bekämpfen galt und das durch staatliche Verdichtungs- und politische Institutionalisierungsprozesse immer weiter eingegrenzt wurde. Auch die Überlegungen zur Zivilisationstheorie lassen sich daran nahtlos anknüpfen. Durch zunehmende Disziplinierung – so deren zentrale Erkenntnis – seien Affekte und Triebe gemindert worden, so dass im Verlauf der Frühen Neuzeit die violentia des im Mittelalter noch weitestgehend affektunkontrollierten Menschen deutlich reduziert worden sei. Diese Vorstellung läuft im Grunde auf eine lineare Reduktion der individuellen Gewaltanwendung hinaus, so dass in erster Linie die Dysfunktionalität der violentia in der politischen Ordnung des Mittelalters beschrieben oder die Gewalt aus moralisierender Perspektive verurteilt werden konnte 8. Dass Gewalt in bestimmten Gesellschaften jedoch auch ein integratives Potential besitzen konnte, dass auch die individuelle violentia das soziale Gefüge nicht nur zerstören, sondern durchaus festigen konnte, war eine Vorstellung, die vor allem in Anbetracht der Erfahrungen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts nicht gedacht werden konnte. Erst langsam, etwa seit den 1990er Jahren, setzte sich in den Geschichtswissenschaften die Einsicht durch, dass der Gewaltanwendung unter bestimmten Voraussetzungen durchaus eine gesellschaftsstabilisierende Funktion zukommen konnte 9. Dazu bedurfte es jedoch zunächst der Erkenntnis, dass die individuelle violentia in den mittelalterlichen Jahrhunderten keineswegs so unkontrolliert verlief, wie es die Vorstellungen eines linearen Glauben machen. Versteht man Konflikt und Gewalt einerseits und Frieden andererseits als Komplementärzustände, so kann man davon ausgehen, dass sich die spezifischen Eigenarten und Probleme des Phänomens Gewalt dort offenbaren, wo man sich besonders um ihre Vermeidung bemühte. Auf dem Prüfstand stehen in den folgenden Ausführungen daher die Maßnahmen, die den Frieden aufrichten, gewährleisten und stabilisieren sollten und die auf ihre Positionierung gegenüber der Gewalt und Gewaltanwendung untersucht werden sollen. Im Zentrum der Analyse wird also die mittelalterliche Friedensbewegung stehen, die in erster Linie eine Reaktion auf die vielfältigen Erscheinungsformen von Gewalt war. Wenn sich die Geschichts- und auch die historischen Rechtswissenschaften mit diesem Thema beschäftigen, wird im Allgemeinen zwischen zwei Erscheinungsformen unterschieden: der pax ordinata auf der einen und der pax iurata auf der anderen Seite 10. Ersterer war ein gebotener Friede und wurde von weltlichen wie geistlichen Herrschaftsträgern angeordnet. Die theoretische Grundlage hat bereits Augustinus gelegt: Friedfertiges Zusammenleben sei nur möglich durch die con-
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Formen und Formenwandel von Gewalt, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47, 1999, S. 792–806. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., um eine Einleitung vermehrte 5. Aufl., Frankfurt am Main 1978; Jonathan Fletcher, Violence and Civilization. An Introduction to the Work of Norbert Elias, Cambridge 1997. Gerd Schwerhoff, Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht, in: Historische Zeitschrift 266, 1998, S. 561–605; Martin Dinges, Formenwandel der Gewalt in der Neuzeit. Zur Kritik des Zivilisationstheorie von Norbert Elias, in: Sieferle – Breuninger ( Hgg. ), Kulturen der Gewalt ( wie Anm. 2 ) S. 171–194. Wilhelm Janssen, Art.: , in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 2, Stuttgart 1975, S. 543–591.
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cordia imperandi et oboediendi, durch die Eintracht von Befehl und Gehorsam – so Augustinus in seinem berühmten 19. Buch der , das die Legitimierung mittelalterlicher Herrschaft schlechthin bot. Damit schuf er eine transzendentale Grundlage mittelalterlicher Herrschaft, deren Ziel die Aufrechterhaltung der Ordnung und somit des Friedens bildete 11. Neben dem herrschaftlich strukturierten Frieden begegnet eine zweite Form, die pax iurata 12. Dabei handelte es sich um Friedenschlüsse, die mehr oder weniger gleichwertige Partner miteinander eingingen und durch einen Eid absicherten. Dies war etwa der Fall im spätmittelalterlichen Einungswesen, wenn sich Personen, die gleiche Interessen hatten, zu einer Rechts- und Friedensgemeinschaft zusammenschlossen. In den folgenden Ausführungen soll aus arbeitsökonomischen Gründen vor allem erstere Form, die pax ordinata, im Zentrum der Betrachtung stehen. Diese Bemühungen um den Frieden waren zum einen einem Ideal geschuldet, das in der Wahrung von pax und iustitia die zentralen Aufgaben jeglicher Herrschaftsträger sah 13. Zum anderen begegneten sie der omnipräsenten Anwendung physischer Gewalt, die vor allem in den Rechts- und Besitzkonflikten des Adels zum Ausbruch kam. Um die hoch- und spätmittelalterlichen Friedenserlasse adäquat zu beurteilen, ist – allerdings in der gebotenen Kürze – zunächst ein chronologischer Rückgriff auf die frühmittelalterliche Friedensbewegung nötig, da bereits hier wichtige strukturelle Grundlagen begegnen, die später aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. DIE ROLLE DER GEWALT IN DEN GOTTESFRIEDEN DES FRÜHEN MITTELALTERS
Nimmt man die Erlasse in den Blick, die von Herrschaftsträgern fixiert wurden, um ihrer zentralen Aufgabe der Rechts- und Friedenswahrung nachzukommen, so ist für das 10. und 11. Jahrhundert vor allem die so genannte Gottesfriedensbewegung zu nennen, die im Südwesten Frankreichs ihren Ausgang nahm 14. Vor dem Hintergrund 11
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Aurelius Augustinus, De civitate Dei, hg. von Bernhard Dombart – Alphons Kalb ( CC 48 ) Turnhout 1955, 19, 16, S. 683: Quia igitur hominis domus initium siue particula debet esse ciuitatis, omne autem initium ad aliquem sui generis finem et omnis pars ad uniuersi, cuius pars est, integritatem refertur, satis apparet esse consequens, ut ad pacem ciuicam pax domestica referatur, id est, ut ordinata imperandi oboediendique concordia cohabitantium referatur ad ordinatam imperandi oboediendique concordiam ciuium. Bernhard Töpfer, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie ( Monographien zur Geschichte des Mittelalters 45 ) Stuttgart 1999, S. 59 ff. Lothar Kolmer, Promissorische Eide im Mittelalter ( Regensburger historische Forschungen 13 ) Kallmünz 1989, S. 178 f.; Otto Gerhard Oexle, Friede durch Verschwörung, in: Johannes Fried ( Hg. ), Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter ( Vorträge und Forschungen 43 ) Sigmaringen 1996, S. 115–150. Hans Hattenhauer, Pax et iustitia ( Berichte aus der Sitzung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg, Jg. 1/H. 3 ) Göttingen 21987; Klaus Schreiner, „Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküßt“ ( Ps. 84, 11 ). Friedensstiftung durch symbolisches Handeln, in: Fried ( Hg. ), Träger und Instrumentarien des Friedens ( wie Anm. 12 ) S. 37–86. Hartmut Hoffmann, Gottesfriede und Treuga Dei ( Schriften der MGH 20 ) Stuttgart 1964; HansWerner Goetz, Kirchenschutz, Rechtswahrung und Reform. Zu den Zielen und zum Wesen der frühen Gottesfriedensbewegung in Frankreich, in: Francia 11, 1983, S. 193–239; Reinhold Kaiser, Selbsthilfe und Gewaltmonopol. Königliche Friedenswahrung in Deutschland und Frankreich im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 17, 1983, S. 55–72; Thomas Head – Richard Landes ( Hgg. ), The peace of God. Social Violence and Religious Response in France around the Year 1000, Ithaca –
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steigender Gewalt, die durch regionale Adelsstreitigkeiten vor allem in Aquitanien außer Kontrolle geraten war, sahen sich die dortigen Bischöfe gezwungen, Friedensmaßnahmen zu ergreifen. Dies geschah nicht ohne Grund, denn da das westfränkischfranzösische Königtum kaum noch den notwenigen Einfluss besaß, ergriffen nun die Bischöfe die Initiative, um den Auswüchsen von Krieg und Gewalt entgegenzutreten. Sie verurteilten dabei nicht die Waffengänge selbst, sondern die Tatsache, dass Unbeteiligte und zumeist auch Unbewaffnete unter den Gewaltverbrechen der Konfliktführenden zu leiden hatten. Auf Konzilien und Synoden erließen Bischöfe Verfügungen, die den Konfliktaustrag kanalisieren sollten. So standen spezielle Personengruppen unter einem Sonderschutz – und zwar vor allem diejenigen, die aufgrund ihrer Waffenlosigkeit besonders hilflos waren, wie Kleriker, Bauern oder Reisende, also etwa Kaufleute oder Pilger. Auch bestimmte Orte, in erster Linie Kirchen, sollten einem besonderen Friedensschutz unterliegen. Zudem sollte an bestimmten Tagen und Perioden im Kirchenjahr auf Gewaltanwendung verzichtet werden, also Waffenruhe herrschen. Den Höhepunkt bildete im Jahr 1054 das Konzil von Narbonne, das die Friedenszeiten so fixierte, dass Waffengänge nur noch an 80 Tagen im Jahr erlaubt sein sollten 15. Vom Kerngebiet Aquitaniens breitete sich die Gottesfriedensbewegung über Burgund bis in den Norden Frankreichs und von dort ins Reich aus. Die Initiatoren der Bewegung waren in der Regel zwar regionale kirchliche Würdenträger, die sich jedoch oft im Verbund mit Laien eidlich auf die Friedensziele verpflichteten. Was auf den ersten Blick als ein durchaus schlüssiges Konzept der Friedenswahrung erscheint, weist jedoch bei einer genaueren Analyse durchaus kritische Bruchstellen auf. Dies bringt einer der frühen Gottesfrieden, der im Jahr 989 im Kloster Charroux von Erzbischof Gumbald von Bordeaux einberufen wurde, deutlich zum Ausdruck 16. Er verhängte als Strafe für Raub und Übergriffe auf Kleriker die Exkommunikation, sofern keine Kompensation des Schadens oder ein Ausgleich erfolgte 17. Der Ausschluss aus der christlichen Gemeinschaft drohte also nicht sofort im Falle des Friedensbruchs, sondern dann, wenn sich der Missetäter einer Kompensation widersetzte. Die Strafe griff also erst, wenn sich der Friedensbrecher widerspenstig zeigte und sich auf keinerlei Ausgleich einließ. Der Gottesfrieden von Charroux ist kein Einzelfall. Auch das Konzil von Narbonne verfügte im Jahr 1054, dass der Missetäter der christlichen Kommunität verwiesen werden sollte, wenn er sich nicht einer satisfactio
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London 1992; Hans-Werner Goetz, Die Gottesfriedensbewegung im Lichte neuerer Forschungen, in: Arno Buschmann – Elmar Wadle ( Hgg. ), Landfrieden. Anspruch und Wirklichkeit ( Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft NF 98 ) Paderborn u. a. 2002, S. 31–54. Mansi 19, cap. 3, Sp. 828; Hoffmann, Gottesfriede ( wie Anm. 14 ) S. 95. Mansi 19, Sp. 89 f.: Si quis ecclesiam sanctam infregerit, aut aliquid exinde per vim abstraxerit, nisi ad satis confugerit factum, anathema sit. Si quis agricolarum, ceterorumve pauperum, prædaverit ovem, aut bovem, aut asinum, aut vaccam, aut capram, aut hircum, aut porcos, nisi per propriam culpam, si emendare per omnia neglexerit, anathema sit. Zu diesem Frieden vgl. Hoffmann, Gottesfriede ( wie Anm. 14 ) S. 25 f.; Dietmar Willoweit, Die Sanktionen für Friedensbruch im Kölner Gottesfrieden von 1083. Ein Beitrag zum Sinn der Strafe in der Frühzeit der deutschen Friedensbewegung, in: Ellen Schlüchter ( Hg. ), Recht und Kriminalität. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Krause zum 70. Geburtstag, Köln 1990, S. 37–52, bes. S. 42 f. Zum Instrumentarium der Exkommunikation vgl. Georg May, Art.: , in: Theologische Realenzyklopädie 5, 1980, S. 170–182.
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bereit erklären wollte 18. Gewalttaten, denen eine Wiedergutmachung ( satisfactio, emendatio ) folgte, blieben also ungestraft 19. So schränkten die Gottesfrieden die Gewaltanwendung zwar räumlich, zeitlich und personenbezogen ein, doch in letzter Konsequenz positionierten sie sich der violentia gegenüber in einer recht ambivalenten Art und Weise. Sie blieb dann ein gerechtfertigtes und anerkanntes Mittel zur Durchsetzung individueller Rechtsansprüche, wenn nicht nur der Weg des bewaffneten Konflikts beschritten, sondern wenn gleichzeitig auch Versuche einer Einigung – so etwa durch die Leistung materieller Kompensation – eingeschlagen wurden. Von einer Negation physischer Gewalt kann also nur sehr bedingt Rede sein. Die Gottesfrieden blieben im Großen und Ganzen auf das Gebiet des heutigen Frankreich beschränkt, während sie im deutschen Reich erst im endenden 11. Jahrhundert auftauchten, und zwar im Westen in Lüttich ( 1081/82 ) und in Köln ( 1083 ) 20. Hier wurden sie jedoch schnell von einer neuen Form der Friedensmaßnahmen abgelöst, den so genannten Landfrieden. DIE LEGITIMIERUNG ADLIGER GEWALT IN DEN LANDFRIEDEN DES 12. UND 13. JAHRHUNDERTS
Während im 12. Jahrhundert die Initiative der Friedenswahrung bei den Herrschern selbst lag, verlagerte sich die Zuständigkeit seit dem 13. Jahrhundert zunehmend auf die weltlichen und geistlichen Territorialherren. Diese gingen, oft im Verbund mit Städten, Landfriedensbündnisse ein, die den Beteiligten Schutz und Frieden garantieren sollten 21. Während diese Maßnahmen im 12. Jahrhundert allgemein als pax oder pax terrae bezeichnet wurden, begegnet seit dem 13. Jahrhundert der Terminus lantfride. Die permanenten Friedenserlasse im römisch-deutschen Reich resultierten vor allem aus der spezifisch mittelalterlichen Form adliger Konfliktkultur, denn die politischen Führungsschichten des Hoch- und Spätmittelalters trugen Rechts-, Besitz18
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Mansi 19, cap. 4, Sp. 828: Illi autem qui rebelles extiterint, vel transgressores, sive qui auxilium eis in aliquo præbuerint, tamdiu anathematis vinculo subjaceant, quousque digne arbitrio proprii episcopi satisfaciant. Ebd., cap. 29, Sp. 832: Si autem quislibet hominum, vel fæminarum, ab hac die & deinceps ausu temerario hujus nostræ institutionis violator extiterit: anathematis vinculo feriatur, & a sancta Dei ecclesia procul pellatur, & ab omnium cœtu Christianorum tamdiu separetur, donec ad satisfactionem indubitanter veniat. Zur Bedeutung dieser Termini für die Gottesfrieden vgl. Goetz, Kirchenschutz, Rechtswahrung und Reform ( wie Anm. 14 ) bes. S. 193 ff., 220 ff. Aus dieser Perspektive ist es sicherlich alles andere als ein Zufall, dass die Bischöfe des westfränkisch-französischen Raums in der Gottesfriedensbewegung aktiv waren, denen in ihren Gebieten auch die weltlichen Herrschaftsrechte oblagen. Vgl. dazu vor allem Reinhold Kaiser, Bischofsherrschaft zwischen Königtum und Fürstenmacht. Studien zur bischöflichen Stadtherrschaft im westfränkisch-französischen Reich im frühen und hohen Mittelalter ( Pariser historische Studien 17 ) Bonn 1981, S. 218 ff. Hans-Werner Goetz, Der Kölner Gottesfrieden von 1083. Beobachtungen über Anfänge, Tradition und Eigenart der deutschen Gottesfriedensbewegung, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 55, 1984, S. 39–76. Joachim Gernhuber, Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235 (Bonner rechtswissenschaftliche Abhandlungen 44) Bonn 1952; Buschmann – Wadle (Hgg.), Landfrieden (wie Anm. 14); vgl. die Übersicht der zahlreichen regional angelegten Studien bei Elmar Wadle, Gottesfrieden und Landfrieden als Gegenstand der Forschung nach 1950, in: Ders., Landfrieden, Strafe, Recht. Zwölf Studien zum Mittelalter (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 37) Berlin 2001, S. 11–39; Ders., Frühe deutsche Landfrieden, in: ebd., S. 75–102.
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und Ehrstreitigkeiten in der Regel kämpferisch aus und bedienten sich der bewaffneten Selbsthilfe, der Fehde 22. Die hoch- und spätmittelalterlichen Friedensordnungen positionierten sich in der Regel gegenüber dieser Form der Konfliktführung in einer Art und Weise, die sich stark an der Gottesfriedensbewegung orientierte. So stellten die Erlasse zunächst bestimmte Orte und Personengruppen unter einen Sonderfrieden, um so Übergriffe auf Unbeteiligte zu vermeiden: „Allen Kirchen und deren Vorhöfen, den Mönchen, Geistlichen, Laienbrüdern, Kaufleuten ( … ) haben wir Frieden geschworen,“ heißt es im Bayerischen Landfrieden von 1094 23. Ein wenig ausführlicher wird dann zehn Jahre später der Schwäbische Landfriede: „Die Geistlichen, Kirchen, Friedhöfe und Kirchengüter sollen Frieden haben; ebenfalls sollen alle Menschen Frieden haben in den Wohnhäusern und jeglichem Gebäude, auch auf den Höfen innerhalb der rechtmäßigen Hausgrundstücke ( … ). Frauen sollen von niemandem Vergewaltigung erleiden. Kaufleute und Bauern sollen Frieden haben.“ 24 Während die frühen Frieden einen partiellen Gewaltverzicht forderten, wandelten sich die Ansprüche seit der Mitte des 12. Jahrhunderts und setzten sich eine umfassende pax zum Ziel. So formulierte Friedrich Barbarossa im Jahr 1152, „dass wir ( … ) allen Leuten gegenüber ihr Recht bewahren wollen und einen lange ersehnten und längst für das Land notwendigen Frieden, der überall in sämtlichen Gebieten des Reichs gehalten werden soll, kraft königlicher Vollmacht verkünden.“ 25 Die Befriedung einzelner Personengruppen oder Örtlichkeiten wurde zugunsten eines allgemeinen und für alle gültigen Friedenserlasses aufgehoben. Auch in seinem ronkalischen Landfrieden, den der Staufer im Jahr 1158 erließ, klingen ähnliche Vorstellungen an. In diesem Friedenswerk ist ebenfalls die Rede von einer pax vera et perpetua, der sich ausnahmslos alle Mitglieder des Reichs zu unterwerfen hatten 26. 22
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Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien 51965, ND Darmstadt 1984, S. 77 ff.; zu kritischen Wertung Brunners vgl. vor allem Hans-Henning Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpaß?“ Carl Schmitt, Otto Brunner und die Konstruktion der Fehde, in: Zeitschrift für historische Forschung 282, 2006, S. 585–617; Hillay Zmora, State and Nobility in Early Modern Germany. The Knightly Feud in Franconia. 1440–1567, Cambridge 1997; Alexander Jendorff – Steffen Krieb, Adel im Konflikt. Studien zu den Austragungsformen der Fehde im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für historische Forschung 30, 2003, S. 179–206 sowie die in Anm. 62 genannte Literatur. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 1, hg. von Ludwig Weiland ( MGH LL 4,1 ) Hannover 1893, Nr. 427, S. 610: Omnibus êcclesiis earumque atriis, monachis, clericis conversis, mercatoribus ( … ) pacem iuravimus ( … ). Übersetzung nach: Quellen zur deutschen Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, ausgew. und übers. von Lorenz Weinrich ( Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 32 ) Darmstadt 1977, Nr. 42, S. 160 f. ( zukünftig: FSGA 32 ). Const. 1 ( wie Anm. 23 ) Nr. 430, cap. 1, S. 614: Clerici et ecclesiae et cimiteria et dotes aecclesiarum pacem habeant; similiter omnes homines pacem habeant in domibus et in quolibet aedificio et in curiis etiam infra legitimas areas domuum ( … ). Mulieres nullius violentiam paciantur. Mercatores et agricolae pacem habeant. Übersetzung nach: FSGA 32 ( wie Anm. 23 ) Nr. 45, S. 168 f. Die Urkunden Friedrichs I. Erster Teil. 1152–1158, bearb. von Heinrich Appelt ( MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 10 ) Hannover 1975, Nr. 25, S. 41: Inde est, quod nos ( … ) quibuscumque personis ius suum conservare volumus et pacem diu desideratam et antea toti terre necessariam per universas regni partes habendam regia auctoritate indicimus. Übersetzung nach: FSGA 32 ( wie Anm. 23 ) Nr. 57, S. 217. Die Urkunden Friedrichs I. Zweiter Teil. 1158–1167, bearb. von Heinrich Appelt ( MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 10 ) Hannover 1979, Nr. 241, S. 33: Hac edictali lege in perpetuum valitura iubemus, ut omnes nostro subiecti imperio veram et perpetuam pacem inter se observent, et ut inviolatum inter omnes fedus perpetuo servetur.
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Diese erscheint zunächst als Versuch, die Gewaltanwendung völlig zurückzudrängen, doch Umsetzung einer umfassenden pax erwies sich in der Praxis als problematisch, wenn nicht gar als unmöglich. Warum Barbarossa mit seinem Konzept des absoluten Friedens scheiterte, wird sehr leicht verständlich, wenn die Frage nach Alternativen zum bewaffneten adligen Konfliktaustrag gestellt wird. Denn die Durchsetzung einer solchen Ordnungsvision setzt voraus, dass Streitigkeiten auf einem anderen Weg gelöst werden konnten, und hier bietet sich vor allem das Gerichtsverfahren an 27. Dies verfügt etwa der ronkalische Landfrieden von 1158, der Konfliktgegner auf den Gerichtsweg verweist: „Wenn aber jemand glaubt, er habe in irgendeiner Sache oder Handlung Recht gegen jemanden, so soll er sich an die richterliche Gewalt wenden, und durch sie soll er das ihm zustehende Recht erlangen.“ 28 Und auch die jeweiligen Richter wurden darauf verpflichtet, im Sinne des Friedens erlittenes Unrecht zu verfolgen und den Geschädigten zu einer Wiedergutmachung zu verhelfen 29. Die Möglichkeit, Konflikte auf dem Gerichtsweg auszutragen, war allerdings recht eingeschränkt, denn die höchste Gerichtsbarkeit war bis in die Mitte des 13. Jahrhundert an die Person des Königs gebunden. Vor allem ranghohe Fürsten konnten sich also ausschließlich an den Herrscher selbst wenden, und hier stieß man – in der modernen Verwaltungssprache formuliert – auf Kapazitätsprobleme. Das absolute Friedensgebot Friedrich Barbarossas blieb eine Ordnungsvision, deren fehlende Anbindung an die realen Verhältnisse der Staufer schnell erkannte. In seinen späteren Landfrieden ist von diesem Anspruch nichts mehr zu lesen, so dass Barbarossa in seinem rheinfränkischen Frieden von 1179 und dem so genannten von 1188/89 zu den traditionellen Formen der Friedenswahrung zurückkehrte und bestimmte Zeiten, Orte und Personen unter einen besonderen Friedensschutz stellte 30. ‚Dörfer, Dorfbewohner‘ – so der rheinfränkische Frieden von 1179 – ‚Geistliche, Mönche, Frauen, Kaufleute, Mühlen, Juden (…) sollen den ganzen Tag über Frieden haben (…). Wenn jemand einen Feind hat, den er verfolgen will, mag er ihn verfolgen auf dem freien Feld (…). Niemandem wird es aber gestattet, einen Feind zu verfolgen, es sei denn an bestimmten Wochentagen, und zwar am Montag, Dienst und Mittwoch bis Sonnenuntergang. An den anderen vier Tagen soll er vollen Frieden haben.‘ 31 Hier ist nichts mehr von der großen Idee des umfassenden Friedens zu lesen. Das ursprünglich intendierte absolute Verbot des bewaffneten Konfliktaustrags und somit die Ausschaltung jeglicher 27
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Hanna Vollrath, Die deutschen königlichen Landfrieden und die Rechtsprechung, in: La giustizia nell’alto medioevo ( secoli IX–XI ) ( Settimane di studio del centro italiano sull’alto medioevo 44,1 ) Spoleto 1997, S. 591–619; Gerhard Dilcher, Friede durch Recht, in: Fried ( Hg. ), Träger und Instrumentarien des Friedens ( wie Anm. 12 ) S. 203–227. Die Urkunden Friedrichs I. Zweiter Teil ( wie Anm. 26 ) Nr. 241, S. 33: Si quis vero aliquod ius de quacumque causa vel facto contra aliquem se habere putaverit, iudicialem adeat potestatem et per eam ius sibi competens assequatur. Übersetzung nach: FSGA 32 ( wie Anm. 23 ) Nr. 65, S. 251. Ebd. Die Urkunden Friedrichs I. Vierter Teil. 1181–1190, bearb. von Heinrich Appelt ( MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 10 ) Hannover 1990, Nr. 988, S. 275 f. ( ). Die Urkunden Friedrichs I. Dritter Teil. 1168–1180, bearb. von Heinrich Appelt ( MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 10 ) Hannover 1985, Nr. 774, S. 329: Wille, willarum habitatores, clerici, monachi, feminê, mercatores, agricole, molendina, Iudei ( … ) omni die pacem habeant ( … ). Si quis habet inimicum, quem persequi voluerit, persequatur eum in campo ( … ) Persequi vero inimicum nulli conceditur nisi certis diebus in septimana, videlicet feria IIa, IIIa, IIIIa usque in occasum solis. Aliis IIIIor diebus plenam pacem habeat.
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individueller violentia wurde durch die althergebrachten partiellen Selbsthilfeverbote ersetzt. Man könnte Friedrich Barbarossa einerseits einen Rückschritt hinter die eigenen Ordnungskonzeptionen vorwerfen, aber dies trifft den Sachverhalt wohl nur sehr unzureichend. Mit der Bilanz, dass er seine Gebote an die gegebenen Möglichkeiten der realen Umsetzung anpasste, wird man ihm sicherlich gerechter. Denn nur wenn anerkannte Möglichkeiten eines alternativen Konfliktaustrags angeboten wurden, konnte die bewaffnete Selbsthilfe dauerhaft unterbunden werden. Erst der Mainzer Landfrieden, den Friedrich II. im Jahr 1235 erließ, trug diesem Umstand Rechnung 32. In diesem Friedenswerk entfielen sämtliche Ausführungen über räumliche oder zeitliche Begrenzungen der Gewaltanwendung. Die Pax Moguntina widmete sich ausschließlich der Stärkung der herrscherlichen Gerichtsbarkeit, die in der Einsetzung eines Hoftrichters ihren Ausdruck fand. Auch nachgeordnete Funktionsträger sollten in ihren Gebieten die Gerichte stärken. Sie seien dafür zuständig, ‚dass niemand Rächer seines eigenen Schmerzes sei; denn wo die Kraft des Rechtes schwindet, wütet grausame Willkür‘ – so die schlüssige Begründung 33. Auf Reichsebene führte der Mainzer Landfrieden mit der Einsetzung des Hofrichters eine entscheidende Neuerung ein. So verfügte Friedrich II., ‚dass die Rechtssachen der Kläger, bei denen wir nicht selbst den Vorsitz führen können, durch einen Mann von erprobter Treue und edlem Rufe entschieden werden, der an unserer Statt das Gericht leitet. ( … ) und dabei soll er allen Klägern Recht verschaffen – ausgenommen über Fürsten und andere hohe Leute – in Streitsachen, die Leute, Recht, Ehre, Lehen, Besitz und deren Eigentum berühren ( … ).‘ 34
Dem Hofrichter wurde außerdem ein Notar zur Seite gestellt, der die entsprechenden Streitfälle, die Namen der beteiligten Parteien, die Entscheidungen und Strafen aufzuzeichnen sowie schriftliche Klagen entgegen zu nehmen und zu bewahren hatte 35. Die Einsetzung eines Hofrichters im römisch-deutschen Reich war insofern eine beachtliche Neuerung, als bisher die höchste Gerichtsbarkeit alleine dem Herrscher selbst vorbehalten war. Doch die Institution wies insofern gewisse defizitäre Strukturen auf, als es sich im 13. Jahrhundert noch um ein Reisekönigtum handelte, so dass sich der Hofrichter am ambulanten Regierungsstil des reisenden Königs orientieren musste. Warum dem Hofrichter kein fester Präsenzort zugewiesen wurde, wird schnell ersichtlich, wenn man sich die Aufgabenverteilung zwischen König und Hofrichter ein wenig genauer ansieht. Denn für die Streitfälle zwischen den Fürsten und den „ganz hohen Leuten“ war weiterhin der König selbst zuständig. Aus dieser Perspektive ist es 32
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Elmar Wadle, Die Delegitimierung der Fehde durch die mittelalterliche Friedensbewegung, in: Ders., Landfrieden, Strafe, Recht ( wie Anm. 21 ) S. 103–122, S. 116 f. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 2, hg. von Ludwig Weiland ( MGH LL 4,2 ) Hannover 1896, Nr. 196, cap. 5, S. 243: Ad hoc magistratus et iura sunt prodita, ne quis sui doloris vindex sit, quia ubi iuris cessat auctoritas, excedit licencia seviendi. Übersetzung nach: FSGA 32 ( wie Anm. 23 ) Nr. 119, S. 469. Const. 2 ( wie Anm. 33 ) Nr. 196, cap. 28, S. 246 f.: ( … ) querelancium causas, quibus personaliter presidere non possumus, per virum probate fidei, opinionis honeste, prepositum iudiciis loco nostri volumus terminari. ( … ) iuditio presideat ( … ) ius reddens omnibus querelantibus, preterquam de principibus et aliis personis sublimibus, in causis que tangunt personas, ius, honorem, feoda, proprietatem vel hereditatem eorundem, et nisi de causis maximis; predictorum etenim discussionem et iudicium nostre celsitudini reservamus. Übersetzung nach: FSGA 32 ( wie Anm. 23 ) Nr. 119, S. 483. Const. 2 ( wie Anm. 33 ) Nr. 196, cap. 29, S. 247.
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evident, dass niemand anders als der Herrscher selbst diesen Verfahren vorsitzen konnte. Daher bedurfte es der permanenten Interaktion zwischen König und Hofrichter, die aus diesem Grunde nicht räumlich getrennt sein konnten. In Anbetracht der Tatsache, dass sich der Mainzer Landfriede vor allem dem Ausbau und der Stärkung der Gerichtsstrukturen widmete, nimmt es kaum Wunder, dass er auch die adlige Fehdeführung in dieses Rechts- und Friedenskonzept aufnahm. Und entsprechend verfügt der Mainzer Landfriede: ‚Deshalb setzen wir fest, dass niemand – ganz gleich, in welcher Sache ihm Schaden oder Belästigungen zugefügt wurde – sich selbst rächt, bevor er nicht seine Klage vor seinem Richter vorgetragen und dem Recht gemäß bis zu einem rechtskräftigen Urteil geführt hat.‘ 36 Also ein Ende des adligen Rechts auf legitime Gewaltanwendung? Was auf den ersten Blick durchaus als Versuch erscheint, adlige Waffengänge zu unterbinden, offenbart sich auf den zweiten Blick als das genaue Gegenteil. Denn über das Verhältnis von Gericht und Selbsthilfe heißt es nur wenige Sätze später: ‚Wenn aber jemand vor dem Richter ( … ) in einer Streitsache Klage führt und wenn er dabei nicht Recht erhält und nun notgedrungen seinem Feind den Frieden aufkündigen muss ( … ), so soll er dies bei Tag tun ( … ).‘ 37 Mit anderen Worten: Derjenige, der vor Gericht aus welchen Gründen auch immer sein Recht verfehlte, durfte einen Waffengang starten, und zwar dann, wenn er ihn förmlich angekündigt hatte. Danach sollte noch drei Tage Waffenruhe herrschen, bevor der Konflikt offen ausbrach. Die Dreitagesfrist galt als Schutz vor unvermittelten Übergriffen der Gegner, ebenso wie die Tatsache, dass die Ankündigung bei Tag geschehen sollte. Die bewaffnete Selbsthilfe wurde im Mainzer Landfrieden also anerkannt, sofern zuvor ein Gericht eingeschaltet worden war und sich die Gewaltanwendung danach in standardisierten Bahnen bewegte 38. Aus diesen und ähnlichen in den Landfrieden fixierten Bestimmungen entwickelte sich im Verlauf des Hoch- und Spätmittelalters ein komplexes Regelwerk, das den inneradligen bewaffneten Konfliktaustrag immer stärker regulierte, jedoch niemals ganz unterband. DIE AKTEURE DER GEWALT – DIE OPFER DER GEWALT
Die Akzeptanz der Fehde als Mittel der Streitbeilegung in den Friedenswerken führte dazu, dass sich am Charakter der adligen Konfliktführung vom 12. bis zum 15. Jahrhundert erstaunlich wenig änderte. Um sich der Fehde als legitimes Mittel des bewaffneten Konfliktaustrags zu bedienen, bedurfte es mehrerer Voraussetzungen: Zum ersten musste der Geschädigte ein erlittenes Unrecht ( iniuria ) geltend machen,
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Ebd., cap. 5, S. 243: Statuimus igitur, ut nullus, in quacumque re dampnum ei vel gravamen fuerit illatum, se ipsum vindicet, nisi prius querelam suam coram suo iudice propositam secundum ius usque ad diffinitivam sentenciam prosequatur ( … ). Übersetzung nach: FSGA 32 ( wie Anm. 23 ) Nr. 119, S. 469. MGH Const. 2 ( wie Anm. 33 ) Nr. 196, cap. 6, S. 243: Si quis vero coram iudice ( … ) in causa processerit, si ius non fuerit consecutus et necessitate cogente oportet eum diffidare inimicum suum ( … ) hoc diurno tempore faciat, et ex tunc usque in quartum diem, id est post tres integros dies, diffidans et diffidatus integram pacem servabunt sibi in personis et rebus. Übersetzung nach: FSGA 32 ( wie Anm. 23 ) Nr. 119, S. 469. Vgl. Wadle, Delegitimierung der Fehde ( wie Anm. 32 ) S. 116, der den „Grundsatz der Subsidiarität der Fehde gegenüber dem gerichtlichen Streitaustrag“ betont.
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bevor er zu den Waffen griff 39. Entschieden sich die Parteien für die Anwendung physischer Gewalt, so hatten bis zum Ausbruch des offenen Konflikts bestimmte Fristen zu verstreichen, die etwa der oben bereits angeführte Mainzer Reichslandfrieden verfügte 40. Das Ziel der bewaffneten Kämpfe war es, den adligen Gegner so weit zu schwächen, dass er zum Einlenken und Verhandeln gezwungen war. Daher richtete sich die Gewalt in der Regel nicht gegen den Gegner selbst, seine Familie oder seine Verwandten. Vielmehr versuchte man, so lange seine materiellen Ressourcen zu schädigen, bis er zur Preisgabe seiner Ansprüche und zu Friedensverhandlungen gezwungen war. So wandten sich die Übergriffe meist gegen die ökonomischen Lebensgrundlagen des Gegners, vor allem gegen Einrichtungen, die der Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs dienten, also in erster Linie gegen seine Grundherrschaften. Auch die Störung von Handelskontakten kann diesen Maßnahmen zugerechnet werden, denn auch so konnte der Kontrahent von wichtigen Versorgungswegen abgeschnitten werden. Diese Übergriffe erfolgten in der Regel durch das so genannte Schadentrachten, das sich zur klassischen Form der Fehdeführung entwickelte und ein in den Landfrieden akzeptiertes Mittel der Gewaltanwendung war 41. Im Schadentrachten offenbarte sich das eigentliche Gewaltpotential der hoch- und spätmittelalterlichen Fehdeführung, indem der Gegner mit Raub, Plünderung und Brandschatzung überzogen wurde. Noch die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. entschied im Jahr 1356, dass „es nicht erlaubt sei, unter dem Vorwand der Fehde jemanden mit Brandstiftung, Raub oder Plünderung anzugreifen, außer wenn die Fehde drei natürliche Tage zuvor dem zu Befehdenden persönlich oder an dem Ort, wo er zu wohnen pflegt, öffentlich angesagt worden ist und diese Fehdeansage durch glaubwürdige Zeugen zuverlässig bewiesen werden kann.“ 42 Mit anderen Worten: Raub, Plünderung und Brandschatzung wurden als probate Mittel des Konfliktaustrags akzeptiert, sofern sich der Fehdeführende an die standardisierten Verfahrenswege hielt. Daher war es in den seltensten Fällen der adlige Gegner selbst, gegen den sich die Fehde- und Gewalthandlungen richteten, sondern seine Bauern und Hintersassen. Diese Konfliktpraxis entsprach nicht nur dem taktischen Kalkül des Schadentrachtens, sondern zog auch eine deutliche Grenze zwischen den adligen Fehdeführenden und der betroffenen Landbevölkerung. Darauf hat Gadi Algazi in seiner gleichermaßen beachteten wie umstrittenen Studie über hingewiesen, und er brach damit erstmals mit der lange verbreiteten Vorstellung, dass ein wechselseitiges Verpflichtungsverhältnis von Herren und Bauern existiert habe 43. Schenkt man normativen Quellen Glauben, so beruhte diese reziproke 39
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Janine Fehn-Claus, Erste Ansätze zu einer Typologie des Fehdegründe, in: Brunner ( Hg. ), Der Krieg im Mittelalter ( wie Anm. 1 ) S. 93–138. Vgl. dazu oben Anm. 37 und die Verfügungen in der Goldenen Bulle in Anm. 42. Brunner, Land und Herrschaft ( wie Anm. 22 ) S. 77 ff. Die Goldene Bulle, in: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 11, hg. von Wolfgang Fritz (MGH LL 4,11) Weimar 1978–1992, S. 535–633, cap. 17, S. 606: (…) nec licere pretextu diffidationis cuiuslibet quempiam invadi per incendia, spolia vel rapinas, nisi diffidatio per tres dies naturale ipsi diffidando personaliter vel in loco, quo habitare consuevit, publice fuerit intimata possitque de intimatione huiusmodi per testes ydoneos fieri plena fides. Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch ( Historische Studien 17 ) Frankfurt am Main 1996. Vgl. die Rezensionen von
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Bindung auf der Pflicht von Dienst und Abgabe durch die Hintersassen einerseits und den Schutz- und Schirmleistungen des Herrn andererseits. Dafür steht exemplarisch etwa der Schwabenspiegel, der den Bauern folgende Verhaltensregeln nahelegt: ( … ) von dem gùte svln wir den herren dienen. ( … ) wir ( … ) svln den herren dar vmbe dienen, daz si vns beschirmen. vnde beschirment si vns nvit, so sin wir in nvit dienestes schuldig nach rehte 44. Doch im Kontext der Adelsfehden stellt Algazi fest, dass sich die Gewalt beim Schadentrachten nicht nur gegen die Bauern des adligen Gegners richtete, sondern indirekt auch gegen die eigenen Hintersassen. Diese waren die Leidtragenden, wenn es zu einem Übergriff des Gegners kam. Dies führte zu einer beinahe paradoxen Erscheinungsform von Gewalt und Schadentrachten einerseits und der Schutz- und Schirmpflicht des adligen Herrn andererseits. Denn in dem Augenblick, indem der Grundherr seinen Gegner überfiel, forderte er wiederum dessen Eingreifen heraus, setzte also seine eigenen Hintersassen der physischen Gewalt aus. Dies beschreibt etwa eine Fehde, die der Abt von St. Gallen, Berthold von Falkenstein, in der Mitte des 14. Jahrhunderts mit dem benachbarten Bischof Eberhard II. von Konstanz austrug. Aus dem Bericht des Christian Kuchimeister von St. Gallen ist folgender Verlauf zu rekonstruieren. Zunächst brannte der Konstanzer Bischof ein Dorf der Abtei St. Gallen nieder und vernichtete das gesamte Umland. Die Antwort seines Gegners folgte auf den Fuß, indem nun der Abt von St. Gallen die Besitzungen des Bischofs und die seiner Gefolgsleute zerstörte. Der Bericht schließt mit den schlichten Worten: ( … ) das wart alles uerbrent ( … ). 45 Man könnte also etwas überspitzt den Befund formulieren: Das Bedürfnis, vor Gewalt zu schützen, produzierte Gewalt – der Schutz vor Gewalt erzeugte Gewalt. Die Bauern waren somit die „ungenannten Adressaten“ der Fehdeansagen, so Algazi 46. Vor diesem Hintergrund perpetuierte der adlige Konfliktaustrag das Schutzbedürfnis der Bauern und hatte aus der Perspektive der adligen Grundherrn eine systemerhaltende Funktion. Erst die lieferte der die Daseinsberechtigung, so die These Algazis. Für die adligen Fehdegegner selbst verliefen diese Konfrontationen hingegen vergleichsweise harmlos. Von der so genannten aus der Mitte des 12. Jahrhunderts liest man in der von einem Gefecht mit insgesamt über 2000 Rittern: am Ende fand einer den Tod und 900 wurden gefangen genommen 47. Die Gefangennahme entsprach zum einen dem Ethos des mittelalter-
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André Holenstein, in: Zeitschrift für historische Forschung 25, 1998, S. 592–597; Howard Kaminsky, in: Speculum 73, 1998, S. 799–802, sowie die Ausführungen bei Sigrid Schmitt, Schutz und Schirm oder Gewalt und Unterdrückung. Überlegungen zu Gadi Algazis Dissertation „Herrengewalt und Gewalt der Herren im Spätmittelalter“, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 89, 2002, S. 72–78. Der Schwabenspiegel oder schwäbisches Land- und Lehenrechtbuch nach einer Handschrift vom Jahr 1287, hg. von Friedrich Leonhard Anton Freiherrn von Lassberg, 3. Aufl. hg. von Karl August Eckhardt ( Bibliotheca rerum Historicarum. Neudrucke 2 ) Aalen 1972, cap. 308, S. 133. Cristân der Kuchimaister, Nüwe casus monasterii Sancti Galli, hg. von Eugen Nyffenegger ( Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker NF 60 ) Berlin – New York 1974, S. 37 f., Zitat S. 38; Algazi, Herrengewalt ( wie Anm. 43 ) S. 133. Algazi, Herrengewalt ( wie Anm. 43 ) S. 142 ff. Historia Welforum, hg. und übers. von Matthias Becher, in: Quellen zur Geschichte der Welfen und die Chronik Burchards von Ursberg ( Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 18b ) Darmstadt 2007, cap. 30, S. 82 f.
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lichen Rittertums, das nicht nur aus laikalen Kriegsidealen, sondern auch aus christlichen Werten gespeist wurde. Zum anderen sollte aber auch nicht übersehen werden, wie lukrativ das Geschäft mit den Gefangenen war, da diese in der Regel von ihren Verwandten oder Verbündeten gegen materielle Leistungen ausgelöst wurden 48. Doch zurück zur so genannten : Nachdem das eben angeführte Gefecht für die adligen Konfliktgegner ein recht glimpfliches Ende gefunden hatte, verlegten sich die Gegner wieder auf das Schadentrachten und überzogen den Feind mit Plünderungen und Brandschatzungen ( depredationibus ac incendiis ) 49. Da Adelsfehden selten bis zur letzten Entscheidung ausgetragen wurden, reduzierte auch dieser Umstand die Auswirkungen der physischen Gewalt auf die adligen Konfliktgegner. Oft kamen bereits in einem sehr frühen Stadium Vermittler ( mediatores ) zum Einsatz, die sich für eine gütliche Beilegung des Konflikts einsetzten. In einigen Fällen wurden sie sogar noch vor dem Ausbruch der Waffengänge aktiv. Zumeist handelte es sich um hochrangige weltliche oder geistliche Funktionsträger, die ihr persönliches Prestige in die Waagschale warfen. Eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen der gütlichen Entscheidungsfindung war die Tatsache, dass die mediatores gleichwertige Bindungen an beide Streitparteien besaßen und nur unter dieser Voraussetzung als Garant einer gerechten Entscheidungsfindung galten. So konnte es sich um Verwandte oder Bündnispartner handeln oder Personen, die in einem Lehnsverhältnis zu den Konfliktgegnern standen. Sie verhandelten in der Regel getrennt mit beiden Parteien und fanden nach Rücksprache einen Kompromiss, bei dem beiden Seiten das Gesicht zu wahren vermochten und ihre jeweilige Interessen berücksichtigt fanden. Durch den Einsatz von Vermittlern gelang es nicht selten, eine Eskalation der Konflikte zu verhindern oder zu einem recht frühen Zeitpunkt einzulenken. Doch auch wenn die Waffengänge bereits ausgebrochen waren, setzten sich Vermittler für die Beilegung des Streits ein 50. Falls sich ein Kontrahent tatsächlich geschlagen geben musste, nahm er in der Regel keinen Schaden an Leib und Leben. Vielmehr hatte er materielle Wiedergutmachung zu leisten und sich durch mehr oder weniger aufwändig gestaltete Unterwerfungsrituale vor dem Sieger zu demütigen. So kompensierte er nicht nur den materiellen Schaden, sondern würdigte gleichermaßen dessen Ehre. Daher verliefen derartige Unterwerfungen immer wieder nach einem ähnlichen Schema. Durch zeichenhaftes Handeln bekannte sich die unterlegene Partei zu ihrem Unrecht und symbolisierte dies durch einen bestimmten Habitus. Zu nennen ist beispielsweise das Tragen eines Büßergewands und der Barfußgang, mit dem die Schuldigkeit zum Ausdruck gebracht wurde. Nicht selten hielten die Unterworfenen zudem Gegenstände in den Händen, wie etwa Schwerter oder Stricke, die auf die eigentlich verdiente Strafe hinweisen sollten. Danach warfen sich die Besiegten der überlegenen Partei zu Füßen und baten um Gnade, die sie in der Regel auch erhielten. Es ging um die satisfactio, die Genugtuung, 48
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Martin Kintzinger, Geiseln und Gefangene im Mittelalter. Zur Entwicklung eines politischen Instrument, in: Andreas Gestrich ( Hg. ), Ausweisung und Deportation. Formen der Zwangsmigration in der Geschichte, Stuttgart 1995, S. 41–59; Adalbert Erler, Der Loskauf Gefangener. Ein Rechtsproblem seit drei Jahrtausenden, Berlin 1978. Historia Welforum ( wie Anm. 47 ) cap. 30, S. 84 f. Hermann Kamp, Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter ( Symbolische Kommunikation in der Vormoderne ) Darmstadt 2001.
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die dem Sieger geschuldet war und durch die seine verletzte Ehre wiederhergestellt wurde 51. Solange die Landfriedensbewegung den bewaffneten adligen Konfliktaustrag als Rechtsmittel akzeptierte, nahm sie Gewalt nicht nur billigend in Kauf, sondern bot ihr vielmehr eine verlässliche Legitimationsbasis. Die Landfrieden erkannten Fehdehandlungen als alternative Verfahren zum Gerichtsentscheid oder zur gütlichen Einigung an, und zwar dann, wenn der jurisdiktionelle Weg gescheitert oder ausgeschöpft war. Aus dieser Perspektive waren individuelle violentia und potestas keine gegensätzlichen, sich ausschließenden Formen der Gewalt, vielmehr erwies sich die violentia als ein Element von Recht und Herrschaft, sofern sie sich in bestimmten Formen bewegte. Die Festschreibung des Rechtscharakters der Adelsfehden führte dazu, dass ihre standardisierten Formen anerkannt wurden: Man löschte den Gegner selten physisch aus, sondern versuchte ihn durch die Schädigung seiner ökonomischen Grundlagen zum Einlenken zu zwingen. Von einer gewissen Gewaltregulierung durch die Friedensbewegung kann zwar durchaus gesprochen werden, doch man sollte die Tatsache nicht übergehen, dass der Schutz vor übermäßiger Gewaltanwendung ein durchaus exklusiver war. Er beschränkte sich auf die Gruppe des Adels bzw. der Fehdeführenden selbst. Alle Versuche der Landfrieden, den Konfliktaustrag zu kanalisieren, dienten letzten Endes weniger dem Schutz der Waffenlosen, sondern sie förderten eine kalkulierbare Fehdeplanung und -taktik. Diese ermöglichte es den adligen Konfliktgegnern, jederzeit die Waffengänge abzubrechen und eine Lösung des Streits am Verhandlungstisch zu erzielen. Für die spezifischen Erfordernisse der mittelalterlichen Adelsgesellschaft erwies sich diese Konfliktpraxis durchaus als stabilisierendes Element. Die Adelsfehden reproduzierten fortwährend die soziale Ordnung, indem sie den Fehdeführenden und den Fehdegeschädigten unterschiedliche Formen legitimer Gewaltanwendung zugestanden. Denn in den Friedensordnungen erscheint die Fehdeführung allein als exklusives Vorrecht des Adels. Dass man aus diesen normativen Verfügungen nicht schließen darf, dass es in der Praxis keine gegeben habe, hat Christine Reinle in ihrer Studie über belegt 52. Interessanterweise entwickelte sich in diesen Konflikten eine den Adelskonflikten vergleichbare Regelhaftigkeit. Doch die bäuerlichen Formen des bewaffneten Konfliktaustrags waren durch die Friedensordnungen nicht legitimiert, so dass diese Form der violentia tatsächlich im Ge51
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Gerd Althoff, Genugtuung ( satisfactio ). Zur Eigenart gütlicher Konfliktbeilegung im Mittelalter, in: Joachim Heinzle ( Hg. ), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt am Main 1994, S. 247–265; Gerd Althoff, Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 99–125; Gerd Althoff, Compositio. Wiederherstellung verletzter Ehre im frühen und hohen Mittelalter, in: Klaus Schreiner – Gerd Schwerhoff ( Hgg. ), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ( Norm und Struktur 5 ) Köln – Weimar 1996, S. 63–76; Jean-Marie Moeglin, Fürstliche Ehre und verletzte Ehre der Fürsten im spätmittelalterlichen deutschen Reich, in: ebd., S. 77–91; Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert ( Symbolische Kommunikation in der Vormoderne ) Darmstadt 2001. Christine Reinle, Bauernfehden. Studien zur Fehdeführung Nichtadliger im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich, besonders in den bayerischen Herzogtümern ( Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 170 ) Wiesbaden 2003.
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gensatz zu Recht und Herrschaft stand. Christine Reinle hat es in ihren Überlegungen zur in Auseinandersetzung mit der These Algazis wie folgt auf den Punkt gebracht: Demnach bestand die Macht des Adels weniger im Monopol der physischen Gewaltanwendung, sondern in der „Definitionshoheit darüber, was als Recht und was als Unrecht betrachtet werden sollte.“ 53 Als legitim galt die Waffengewalt des Adels, außerhalb des Rechts stand diejenige der nichtadligen Bevölkerung. Die Konvergenz von potestas und bestimmten Formen der violentia bedeutet nicht, dass das Mittelalter eine Epoche der zügellosen und unkontrollierten Gewaltanwendung war. Es ist in erster Linie den Landfrieden zu verdanken, dass sich die Adelsfehde als ein vergleichsweise standardisiertes Verfahren des Konfliktaustrags etabliert hat. Doch die Gewalt wurde nur in eine ganz bestimmte Richtung kanalisiert. Aus dieser Perspektive kann man der Gewaltanwendung durch die Fehde durchaus ein gesellschaftsstabilisierendes Potential zuschreiben, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen erwies sich die bewaffnete Selbsthilfe innerhalb des Adels insofern als ein integratives Moment, da sich durch die Regelhaftigkeit des Konfliktaustrags ein Repertoire an Verhaltensweisen entwickelte, das die Basis für den sozialen Zusammenhalt des Adels bildete. Die starke Ritualisierung der Gewaltanwendung ermöglichte es den adligen Gegnern, jederzeit den bewaffneten Konflikt zu beenden und eine Entscheidung durch gütliche Schlichtung oder Gerichtsverfahren herbeizuführen. Neben diesen endogenen Faktoren sind jedoch auch die exogenen Auswirkungen des adligen Konfliktaustrags zu berücksichtigen. Denn durch die Abgrenzung von den eigenen Hintersassen, die von den Gewaltauswirkungen der Raub- und Plünderungszüge am meisten betroffen waren, wurde die funktionale Zuständigkeit der einzelnen Gesellschaftsgruppen dauerhaft fixiert. Faktoren, die den Adel gruppenintern stabilisierten, wirkten nach außen als Mechanismen der Distinktion. Insofern entspricht die Zuschreibung legitimer Gewaltanwendung in der Fehde dem funktionalen Gesellschaftsmodell des Mittelalters, das die Aufgaben der oratores, bellatores und laboratores klar verteilte 54. DIE ENTGRENZUNG ODER DIE KONTROLLE DER GEWALT IM AUSGEHENDEN MITTELALTER
Attestiert man der spezifisch mittelalterlichen Gewaltpraxis ein integratives Potential, so wird man sich auch von einem geläufigen, durch jüngere Arbeiten jedoch in Frage gestellten Forschungsparadigma lösen müssen. Viele Studien über die mittelalterliche Friedenswahrung entwickeln eine Art Progressionsmodell, in dem die Entstehung staatlicher Strukturen und Institutionen in der Frühen Neuzeit das Potential der vermeintlich ungezügelten Gewaltanwendung des Mittelalters deutlich verringert 53
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Dies., Bauerngewalt und Macht der Herren. Bauernfehden zwischen Gewohnheitsrecht und Verbot, in: Braun – Herberichs ( Hgg. ), Gewalt im Mittelalter ( wie Anm. 2 ) S. 105–122, S. 120. Zur funktionalen Dreiteilung der mittelalterlichen Gesellschaft vgl. Art.: <Stand, Klasse>, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 6, 1990, S. 155–284, bes. 185 ff.; Georges Duby, Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt am Main 1986, franz.: Les trois ordres ou l’imaginaire du féodalisme, Paris 1978; Otto Gerhard Oexle, Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters, in: Winfried Schulze ( Hg. ), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, S. 19–51.
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habe. Mit dieser These einer linearen Entwicklung der Gewaltreduktion korrespondierte der Befund, dass durch den Ausbau der Gerichtsbarkeit die Fehde langfristig ihre Daseinsberechtigung verlor 55. Eine wichtige Zäsur war aus dieser Perspektive der Ewige Landfriede, in dem ein absolutes Fehdeverbot erlassen wurde und die Streitparteien auf den Gerichtsweg verwiesen wurden 56. Das Mandat Maximilians I., das den Frieden am 7. August 1495 auf dem Wormser Reichstag kodifizierte, setzte sich zum Ziel, dass ein standhaftiger, verfenglicher fride ( … ) im Reiche aufgericht und in bestendlichem wesen erhalten und gehandthapt werden sollte 57. Die Streitparteien bereits existierender oder künftig entstehender Konflikte sollten sich entweder an bestehende Gerichte oder an das neu ins Leben gerufene Reichskammergericht wenden, ebenso konnten sie ihre Auseinandersetzungen auf dem Weg der Schiedsgerichtsbarkeit beilegen 58. Um keinen Zweifel an der Definition der ins Auge gefassten Gewalthandlungen aufkommen zu lassen, liefert das Mandat eine recht ausführliche Beschreibung der Konfliktführung, die relativ passgenau dem Schadentrachten entspricht. Verboten wurde das bevehden, bekriegen, berauben, fahen, uberziehen, belegern, andererseits von einich sloß, stette, merkt, befestigung, dörfer, hove oder weyler absteygen oder on des andern willen mit gewaltiger tat frevenlich einnemen oder geverdlich mit prand oder in ander wege dermassen beschedigen 59. Die Umsetzung der Norm in die Praxis erwies sich jedoch als schwierig, ist doch gerade das 16. Jahrhundert von Konflikten mit bis dahin unbekannten Dimensionen zügelloser Gewaltanwendung gekennzeichnet, wie Detailstudien in den vergangenen Jahren eindrücklich gezeigt haben. Neu war dabei nicht die Anwendung physischer Gewalt, sondern die Tatsache, dass sie sich nun gegen die Person des Gegners selbst wandte 60. Trotz dieser Relativierung des <Ewigen Landfriedens> wird man dem 15. und 16. Jahrhundert durchaus den Charakter einer Achsenzeit zusprechen können – jedoch aus einer anderen Perspektive, die der spezifischen Bedeutung der vormodernen Gewaltpraxis Rechnung trägt. Die mittelalterliche Gesellschaftsordnung wurde solange durch normierte Formen des Konfliktaustrags aufrechterhalten, wie die Balance zwischen regulierter violentia und blinder, unkontrollierter Gewalttätigkeit aufrecht erhalten werden konnte. Dies gelang vor allem deswegen, weil sich die Form der legitimen Gewaltanwendung auf die Träger der politischen Ordnung, auf den Adel, beschränkte 55
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Exemplarisch Wadle, Die Delegitimierung der Fehde ( wie Anm. 32 ) S. 103–122; Ders., Der Ewige Landfriede von 1495 und das Ende der mittelalterlichen Friedensbewegung, in: Ders., Landfrieden, Strafe, Recht ( wie Anm. 21 ) S. 183–196. Mattias G. Fischer, Reichsreform und „Ewiger Landfrieden“. Über die Entwicklung des Fehderechts im 15. Jahrhundert bis zum absoluten Fehdeverbot von 1495 ( Untersuchungen zur deutschen Staatsund Rechtsgeschichte NF 34 ) Aalen 2007. Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., 5,1. Reichstag von Worms 1495, bearb. von Heinz Angermeier ( Deutsche Reichstagsakten. Mittlere Reihe 5/1 ) Göttingen 1981, Nr. 334, S. 363. Ebd., Art 1, S. 363; Ingrid Scheurmann ( Hg. ), Frieden durch Recht. Das Reichskammergereicht von 1495–1806, Mainz 1994; Fischer, Reichsreform ( wie Anm. 56 ) S. 233 ff. Reichstagsakten 5,1 ( wie Anm. 57 ) Nr. 334, Art. 1, S. 363. Peter Ritzmann, „Plackerey in teutschen Landen“. Untersuchungen zur Fehdetätigkeit des fränkischen Adels im frühen 16. Jahrhundert und ihrer Bekämpfung durch den Schwäbischen Bund und die Reichsstadt Nürnberg, insbesondere am Beispiel des Hans Thomas von Absberg und seiner Auseinandersetzung mit den Grafen von Öttingen ( 1520–1531 ), München 1995; Christoph Müller-Tragin, Die Fehde des Hans Kohlhase. Fehderecht und Fehdepraxis zu Beginn der frühen Neuzeit in den Kurfürstentümern Sachsen und Brandenburg ( Züricher Studien zur Rechtsgeschichte 35 ) Zürich 1997; Zmora, State and Nobility ( wie Anm. 22 ).
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und somit eine gruppeninterne Angelegenheit war. Durch den Aufstieg neuer sozialer Schichten überwanden die Waffengänge nun die ständischen Grenzen 61. Vor allem waren es die Städte, die sich mit dem benachbarten Adel kämpferische Auseinandersetzungen lieferten und die im ausgehenden Mittelalter integrativer Bestandteil der Fehdepraxis wurden 62. Gegenüber dem Gegner niederer sozialer Provenienz verloren die gruppenstabilisierenden Funktionen der adligen Gewaltanwendung ihre Wirkung. Ebenso verlor der regelhafte Konfliktaustrag, wenn er nicht mehr intern, sondern ständisch übergreifend geführt wurde, seine distinktiven Funktionen nach außen. Einen sinnfälligen Ausdruck fanden die gewandelten Rahmenbedingungen etwa in den Auseinandersetzungen des territorialen Adels mit den benachbarten Städten. Bezeichnend ist an dieser Stelle ein Ausspruch, den die Zimmersche Chronik dem Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Ansbach in den Mund legt. Zum Problem, dass der fränkische Niederadel die Bürger mit Raub und Plünderungen bedrohte, also mit Fehden überzog, soll der Markgraf einen recht bezeichnenden Kommentar geliefert haben: Es geet wol hin, den kaufleuten die deschen schütlen, aber allain am leben solt ir inen nichs thon. Diese Stellungnahme ist zwar ebenso zynisch wie fiktiv, doch sie zeigt deutlich, dass hier offenbar andere Maßstäbe der Gewaltkontrolle gesetzt wurden, als dies innerhalb der Adelskonflikte der Fall war. Zwar verweist die Zimmersche Chronik in diesem Kontext darauf, dass es in Franken ein vermeintliches altes Adelsprivileg sei, uf den straßen unstrefflichen zu rauben und aim andern das sein zu nemen (…) 63. Doch als fränkische Eigenart wird man diese Konfliktpraxis kaum bezeichnen können, das Phänomen ist in allen Regionen des spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reichs zu fassen. Als der westfälische Kartäusermönch Werner Rolevinck in seinem <Westfalenbuch> eine Darstellung seiner Heimat bot, hob er darin ebenfalls das räuberische Treiben des westfälischen Adels hervor. Aus seiner Perspektive war es die unglückselige Armut, die viele gering bemittelte Ritter in Westfalen zu Straßenraub und Überfällen zwang. Und so existierte nach Auskunft des Werner Rolevinck ein bezeichnender westfälischer Vers: „Auf Raub ausreiten ist keine Schande, das tun die Besten im Lande.“ 64 Das in der älteren Forschung entwickeltet Deutungsmuster, nach dem viele Niederadlige im Zuge der vermeintlichen ökonomischen und sozialen Krise des Spätmit61
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Vgl. dazu vor allem Volker Schmidtchen, Kriegswesen im Mittelalter. Technik – Taktik – Theorie, Weinheim 1990, S. 39 ff. Dieter Neitzert, Die Stadt Göttingen führt eine Fehde 1485/86. Untersuchung zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von Stadt und Umland ( Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen 30 ) Hildesheim 1992; Christoph Terharn, Die Herforder Fehden im späten Mittelalter. Ein Beitrag zum Fehderecht ( Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte 6 ) Berlin 1994; Andreas Widmer, „daz ein bùb die eidgenossen angreif“: Eine Untersuchung zu Fehdewesen und Raubrittertum am Beispiel der Gruber-Fehde ( 1390–1430 ) ( Geist und Werk der Zeiten 85 ) Bern u. a. 1995; Thomas Vogel, Fehderecht und Fehdepraxis im Spätmittelalter am Beispiel der Reichsstadt Nürnberg ( 1404–1438 ) ( Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte 11 ) Frankfurt am Main u. a. 1998; vgl. noch immer die Studie von Elsbeth Orth, Die Fehden der Reichsstadt Frankfurt am Main im Spätmittelalter. Fehderecht und Fehdepraxis im 14. und 15. Jahrhundert ( Frankfurter Historische Abhandlungen 6 ) Wiesbaden 1973. Die Chronik der Grafen von Zimmern 2, hg. von Hansmartin Decker-Hauff, Sigmaringen 31981, S. 185. Werner Rolevinck, De laude antiquae Saxoniae nunc Westphaliae dictae. Ein Buch zum Lobe Westfalens, des alten Sachsenlandes, lat. und dt. hg. von Hermann Bücker, Münster 1953, S. 206 f.: Ruten, roven, dat en is gheyn schande, dat doynt die besten van dem lande.
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telalters dem rapiden Rückgang ihrer Vermögen und ihrer Einnahmen mit Raubzügen begegneten, stellt sich in der sozialen Wirklichkeit jedoch weitaus differenzierter dar 65. Denn es waren nicht unbedingt die Teile des Ritteradels, die sich unter dem Deckmantel der Fehde aus schierer Not mit Raub- und Plünderung ihr Einkommen sicherten. Manchmal waren es auch durchaus erfolgreiche Adelsfamilien, für die diese Tätigkeiten eine Art darstellten. So hat bereits Regina Görner in ihrer Studie zum spätmittelalterlichen Niederadel Westfalens betont, dass Raub- und Plünderungszüge nur in den wenigsten Fälle aus Armut geführt wurden 66. An dieser Stelle soll es nun aber nicht um die ökonomischen Motivationen des fehdeführenden Niederadels im Spätmittelalter gehen. Ebenso wenig soll die problematische, von der historischen Forschung des 19. Jahrhunderts geprägte Terminologie des diskutiert werden. Dies ist an anderer Stelle längst geleistet 67. Im Fokus steht vielmehr die Frage, welche Folgen die zwischenständische Konfliktführung für das Ausmaß der Gewaltanwendung besaß. Der Befund ist einfach auf den Punkt zu bringen: Die Konflikte des 15. und 16. Jahrhunderts wurden mit einer bis zu diesem Zeitpunkt unbekannten physischen Brutalität geführt – und die Gewalt richtete sich nun gegen die Person des Gegners selbst und weniger gegen seine Hintersassen. Überliefert sind in diesem Zusammenhang etwa die Gewaltexzesse des fränkischen Adligen Hans Thomas von Absberg, der in den 1520er Jahren als traurige Berühmtheit erlangte. Er verstümmelte seine Gegner, indem er ihnen die rechte Hand abschlug. Bei den so Geschädigten handelte es sich um Bürger der Stadt Nürnberg, nicht um standesgleiche adlige Kontrahenten. Noch schlimmer traf es diejenigen, die diese Taten als Augenzeugen verfolgten: Sie wurden sofort getötet 68. Mit einem anderen Adligen, dem fränkischen Ritter Cunz Schott, hatten die Nürnberger bereits im Jahr 1499 ähnliche Erfahrungen gemacht. Auch er lag mit der Stadt in einer Fehde, bemächtigte sich im Verlauf des Konflikts eines Kaufmannes namens Wilhelm Derrer und ging mit ihm ebenso erbarmungslos um 69. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf eine ähnlich demons65
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Peter Schuster, Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz eines sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 269, 1999, S. 19–55. Regina Görner, Raubritter. Untersuchungen zur Lage des spätmittelalterlichen Niederadels, besonders im südlichen Westfalen ( Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung 18 ) Münster 1987, S. 229 ff. Dazu vor allem Kurt Andermann, Kurt, Raubritter, Raubfürsten, Raubbürger? Zur Kritik eines untauglichen Begriffs, in: Ders. ( Hg. ), „Raubritter“ oder „Rechtschaffene vom Adel“? Aspekte von Politik, Friede und Recht im späten Mittelalter ( Oberrheinische Studien 14 ) Sigmaringen 1997, S. 9–29; Werner Rösener, Zur Problematik des spätmittelalterlichen Raubrittertums, in: Helmut Maurer – Hans Patze ( Hgg. ), Festschrift für Berent Schwineköper zu seinem siebzigsten Geburtstag, Sigmaringen 1982, S. 469–488. Joseph Baader ( Hg. ), Verhandlungen über Thomas von Absberg und seine Fehden gegen den schwäbischen Bund. 1519 bis 1530 ( Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 114 ) Tübingen 1873, ND Leipzig 1931, S. 28 ff., 33 ff., 40 ff., 179 ff., 191 ff.; Ritzmann, „Plackerey“ ( wie Anm. 60 ) S. 248 f. Heinrich Deichsler, Chronik ( 1488–1506 ), hg. von Karl Hegel, in: Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg 5 ( Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis 16. Jahrhundert 11 ) Leipzig 1874, S. 535–706, S. 605; dazu Valentin Gröbner, Der verletzte Körper und die Stadt, in: Thomas Lindenberger – Alf Lüdtke ( Hgg. ), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt am Main 1995, S. 162–189, S. 183 f.
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trative Geste der Gewalt, derer sich der Schwabe Hans Strauß im Jahr 1514 in einer Fehde gegen die Reichsstadt Schwäbisch Hall bediente und mit der er die Stadt zur Annahme eines Vertrags zwingen wollte. Neben den konventionellen Mitteln des Schadentrachtens schlug auch er einem Bürger der Stadt die Hand ab. Danach schickte er den so Verstümmelten nach Hall, nicht ohne ihm zuvor die Hand um seinen Hals gehängt zu haben 70. Die Wahrnehmung der Gewaltbereitschaft des eben erwähnten Hans Thomas von Absberg reichte sogar so weit, dass man ihm die Kastration eines Geistlichen zuschrieb, die er eigenhändig vorgenommen haben soll. Die Faktizität dieses Vorwurfs ist zwar nicht mehr genau zu klären, aber dass man ihn überhaupt für fähig hielt, diese Tat begangen zu haben, ist für sich genommen bereits ein Indiz für seine Gewaltbereitschaft 71. Ähnlich verhielt es sich in der berühmten Fehde des Hans Kohlhase, der im Jahr 1538 einem Priester eine ähnliche Strafe zumindest androhte, falls er nicht seinen Forderungen Folge leisten wolle: ( … ) wo nicht, so will ich euch und allen den Pfaffen die hodenn ausschneiden, hiemit gott gesund befolhen 72. Vorwürfe seiner Gegner, er habe der Gemahlin eines Gefangen die Brust abgeschnitten und sie danach mit zusammengebundenen Gliedmaßen über mehrere Tage vor sich hin vegetieren lassen, wies er allerdings weit von sich. Dies sei nicht mehr als eine üble Nachrede 73. Was auf den ersten Blick als vermeintlich affektunkontrolliertes Verhalten, als Entfesselung roher Brutalität erscheint, kann bei einer genaueren Analyse durchaus als rational eingesetzte physische Gewalt bezeichnet werden. Der Vorwurf der genitalen Verstümmelung war offenbar ein Stereotyp, um Gegner zu diffamieren oder ihnen zu drohen, denn bei keinem der überlieferten Fällen ist die wirkliche Umsetzung der Tat bezeugt 74. Ganz anders verhält es sich hingegen mit dem Verlust der rechten Hand. Das Abschlagen der rechten Hand versehrte den so Geschädigten nicht nur physisch, denn sie galt als Schwur- und Kampfhand. Für einen adligen Krieger bedeutete ihr Verlust den Ausschluss aus seinem angestammten Metier, so dass man im gewissen Sinne auch von einer sozialen Ausgrenzung sprechen kann. Ebenso galt das Abschla-
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Dazu ausführlich Reinle, Bauernfehden ( wie Anm. 52 ) S. 187 f. Johann Herolt, Chronica, zeit- uund jarbuch vonn der statt Hall ursprung uund was sich darinnen verloffen und wasz fur schlösser umb Hall gestanden durch M. Johann Herolt zusammengetragen, hg. von Christian Kolb, in: Geschichtsquellen der Stadt Hall 1 ( Württembergische Geschichtsquellen 1 ) Stuttgart 1894, S. 35–270, S. 179: Anno domini 1514 ( … ) hat Hans Straus vonn Newenstein ( … ) ein brief zu nacht an das Weillerthor klaibt unnd darmit abgesagt; desselben nachts zu Heymbach ein haus unnd scheurn verbrent. ( … ) Er hat einem sporer ( … ) die eine handt abgehawen, an sein halsz gehenckt, darmit gen Hall geschickht, Ziegelbrun verbrendt, desgleichen Orlach, den fessern die boden auszgeschlagen unnd den wein in die erden lassen lauffen, wo er ein furmann ankommen, der wein gen Hall gehörig gefürt hat. Es war ein köner, geheckher, drutziger, freiher mensch, meint er wolt mit solchem schaden unnd muetwill die vonn Hall dahin pringen, das sie einen vertrag mit ime annemmen. Ritzmann, „Plackerey“ ( wie Anm. 60 ) S. 568, Anm. 1; Baader ( Hg. ), Verhandlungen über Thomas von Absberg ( wie Anm. 68 ) S. 179, Anm. 1. Zitiert nach: Müller-Tragin, Fehde ( wie Anm. 60 ) S. 77; vgl. Susan Tuchel, Kastration im Mittelalter ( Studia humaniora 30 ) Düsseldorf 1998. Müller-Tragin, Fehde ( wie Anm. 60 ) S. 69. Vgl. dazu Tuchel, Kastration (wie Anm. 72) S. 307 f., die betont, dass die Kastration „nur gelegentlich zur Verhöhnung und Verspottung von Gegnern entweder ausgeübt oder der Gegenseite vorgeworfen“ wurde. Vor allem sei der Vorwurf der genitalen Verstümmelung ein Stereotyp in der mittelalterlichen Chronistik, um Kontrahenten zu diffamieren oder die Andersartigkeit einer fremden Kultur zu betonen.
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gen der rechten Hand als Strafe bei Meineid 75. Das Verhalten, das der Hans Thomas von Absberg, der Schwabe Hans Strauß oder der fränkische Ritter Cunz Schott an den Tag legten, war daher wohl weniger ein Ausweis unüberlegter Gewalt. Wenn Hans Strauß die Annahme eines Vertrags mit dem Abschlagen der Schwurhand eines Gegners zu erzwingen versuchte, so handelte es sich um eine durchaus bewusst eingesetzte Demonstration seiner Forderungen. Ebenso deutlich wird dies bei der Verstümmlung, die der Ritter Cunz Schott vornahm und von der der Nürnberger Chronist Heinrich Deichsler äußerst detailliert berichtet 76. Denn auch in diesem Fall ging der Niederadlige alles andere als unkontrolliert an sein Werk. Nachdem der Nürnberger Kaufmann Wilhelm Derrer seine Hand auf einen Block legen musste, bat er den Ritter inständig um Gnade. Als sich Cunz Schott unerbittlich zeigte und sogar mit dem sofortigen Tod drohte, bot ihm der Nürnberger Händler die linke Hand. Sein Gegner beharrte allerdings auf der Rechten. Schott schlug mit dem Schwert zu, traf aber nicht die ganze Hand, sondern die Finger, weil sein Opfer zurückschreckte. „So schreibst Du mir keinen Brief mehr,“ soll Schott seine Tat kommentiert haben 77. Als der fränkische Ritte erneut zum Schlag ausholte, zog der Kaufmann erneut seine Hand weg, erlitt diesmal aber eine gravierende Handverletzung. Mit diesen Wunden schickte Cunz Schott den Kaufmann in seine Heimatstadt zurück 78. Trotz der offensichtlichen Gewaltbereitschaft handelte es sich hier weniger um blindwütiges Zuschlagen oder entfesselte Brutalität, sondern um eine, wenngleich überaus makabre Präsentation des Standpunkts einer Fehdepartei. Es ging dem fränkischen Niederadligen nicht um die bloße Verstümmelung seines Gegners, sondern um die Schädigung der rechten Hand. So wie die Rechte beim Adel die Kampfhand darstellte, so war sie auch bei den Stadtbürgern diejenige, die ihnen die Ausübung ihrer Tätigkeit als Kaufmann oder Handwerker ermöglichte. Zudem handelte es sich bei dem geschädigten Wilhelm Derrer nicht um einen beliebigen Bürger der Stadt, sondern um einen ranghohen Vertreter, nämlich um einen der Bürgermeister. Schotts Bemerkung, dass ihm Wilhelm Derrer nun keine Briefe mehr schreiben könne, ist sicherlich als Hinweis auf schriftliche Fehdeansagen zu verstehen oder auf Urteile des Nürnberger Rats. Der Ritter brachte somit in überaus zynischer Art und Weise die Missachtung der Rechtsansprüche seiner Gegner zum Ausdruck. 75
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Markus Kobler, Art.: , in: HRG 1, 1971, Sp. 1927 f.; Rudolf His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters 2, Weimar 1935, S. 9 ff.; vgl. auch Ritzmann, „Plackerey“ ( wie Anm. 60 ) S. 248, Anm. 4, der in diesem Zusammenhang zu bedenken gibt, dass auch in den niederbayerischen Landesordnungen des 15. Jahrhunderts das Handabschlagen als Strafe begegnet und mit der Todesstrafe gleichgesetzt wird. Heinrich Deichsler, Chronik ( wie Anm. 69 ) S. 598; zu Heinrich Deichsler vgl. Joachim Schneider, Heinrich Deichsler und die Nürnberger Chronistik des 15. Jahrhundert ( Wissensliteratur im Mittelalter 5 ) Wiesbaden 1991. Heinrich Deichsler, Chronik ( wie Anm. 69 ) S. 605: Item am samstag nach ostern da hieb Cuntz Schott dem Wilhelm Derrer sein hant ab ( … ) und er notet in, das er die hant must auf einen stok legen. er wolts am ersten nit tun und da sprach [ er ] zu im: leg auf oder ich stich ein schwert durch dich. der Derrer sprach: lieber herr, ich pit euch schont meiner dreier kind daran. er sprach: leg pald her, so stecht neur zu. da leget er die linken hant dar, da must er die rehten hant darlegen: so schreibstu mir keinen brief mer. Ebd., ( … ) item da nam er zum ersten sein swert und hieb dar, da zucket der Derrer, da hieb er im mitten in die vinger. da nam er doch einen dilitz. da must er aber darlegen, da hieb er aber dar und wolt im die hant in dem glid herab hawen, da zuket er im aber ein wenig, da hieb er im mitten in die hant und das der daumen neur an eim heutlein hieng. und der Schott stieß im die hant in den pusen, sprach: trag sie deinen herrn haim.
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Ganz ähnlich klingen die Taten, derer sich Hans Thomas von Absberg schuldig gemacht hatte. Auch er beharrte darauf, seine Opfer an der rechten Hand zu schädigen, während diese das Argument ins Feld führten, dass sie dann ihrem täglichen Broterwerb nicht mehr nachgehen konnten. So bat im Juli 1522 ein Nürnberger Böttcher den Absberger und seine Helfer, ( … ) das sy inen alls einen armen hantwercksman seins hantwerckhs nit berauben woltten ( … ) 79. Sein Klagen und fußfälliges Bitten um Gnade blieben erfolglos, ebenso sein Angebot, statt der rechten die linke Hand zu bieten. Die grausamen Maßnahmen setzte der Absberger in direkten Bezug zur Härte der kommunalen Gerichts- und Strafpraxis: Lege dein hannt auff; die mustu verliren; dann deine herrn von Nürmberg hauen uns die köpff ab, und henncken unns; dergleichen wollen wir den iren auch thun; und darum lege pald dein rechte hanth auff, oder ich will das schwert durch dich stoßen, und mußt sterben 80. Hier ist eine ähnliche Argumentation wie im Fall des Cunz Schott zu rekonstruieren: Durch vermeintliches Unrecht, durch ein unangemessen hartes Strafwesen forderten die kommunalen Obrigkeiten die Brutalität ihrer Gegner nahezu heraus. Dass dieser Vorwurf nicht ganz abwegig ist, haben regionale Studien zum städtischen Strafwesen im ausgehenden Mittelalter und am Übergang zur Frühen Neuzeit demonstriert. Denn auch die Kommunen gingen im Interesse der inneren und äußeren Friedenswahrung mitunter äußerst unnachgiebig mit ihren Gegnern ins Gericht und scheuten ebenso wenig vor der Anwendung physischer Gewalt zurück. Dies galt vor allem für Städte wie Nürnberg, die durch den Ausbau ihrer Territorialherrschaft in Auseinandersetzung mit dem benachbarten Niederadel gerieten 81. Man wird selbstverständlich in Rechnung stellen müssen, dass die Schilderungen vermeintlich enthemmter adliger Gewalt aus der Perspektive der geschädigten Städte stammen und daher eine gewisse intentionale Übertreibung der Grausamkeit des Gegners nicht auszuschließen ist. Dass zwei oder dreimal zugeschlagen wurde, bis der adlige Kontrahent sein blutiges Werk vollendet hatte, ist sicherlich „ein literarisches Muster, wie eine solche Geschichte erzählt werden muß.“ 82 Als reines Vorwurfstereotyp, das jeglicher Faktizität entbehrt, wird man diese Fälle dennoch nicht abtun dürfen. Vielmehr bedingten die Härte der städtischen Strafpraxis und die mitunter brachialen Selbstbehauptungsversuche des landsässigen Adels einander, so dass die Entscheidung nach dem eigentlichen Aggressor der physischen Gewalt eine perspektivische sein dürfte.
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Baader ( Hg. ), Verhandlungen über Thomas von Absberg ( wie Anm. 68 ) S. 29. Ebd. Zur wechselseitigen Wahrnehmung der Gewaltbereitschaft vgl. Klaus Graf, „Der adel dem purger tregt haß“. Feindbilder und Konflikte zwischen städtischem Bürgertum und landsässigem Adel im späten Mittelalter, in: Werner Rösener ( Hg. ), Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit ( Formen der Erinnerung 8 ) Göttingen 2000, S. 191–204. Allgemein vgl. Susanna Burghartz, Disziplinierung oder Konfliktregulierung? Zur Funktion städtischer Gerichte im Spätmittelalter: Das Züricher Ratsgericht, in: Zeitschrift für historische Forschung 16, 1989, S. 385–407; Gerd Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991; Peter Schuster, Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz, Paderborn 1999. Zu Nürnberg vgl. Rudolf Endres, Grundzüge der Verfassung der Reichsstadt Nürnberg, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 111, 1994, S. 405–421; Helmut Martin, Verbrechen und Strafe in der spätmittelalterlichen Chronistik Nürnbergs ( Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Fallstudien 1 ) Köln – Weimar – Wien 1996. Gröbner, Der verletzte Körper ( wie Anm. 69 ) S. 184.
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Valentin Gröbner hat vor einigen Jahren eine Studie über die vorgelegt, die mit Beschreibungen grausamster Gewalttaten übersättigt ist 83. An dieser Stelle ist vor allem der Hinweis wichtig, dass viele der Gröbner zur Verfügung stehenden Beispiele aus dem 15. und 16. Jahrhundert nicht aus adelsinternen Kämpfen stammen, sondern aus Konflikten, die eine politische Kraft nichtadliger Herkunft – nämlich die Eidgenossen – austrug. Welches Ausmaß die Anwendung der körperlichen Gewalt erreichte, soll exemplarisch an einer Begegnung präsentiert werden, bei der ein eidgenössisches Heer Ende April 1487 eine vernichtende Niederlage gegen den Herzog von Mailand erlitt 84. Der Rat der Stadt Luzern ließ anhand der Aussagen von Augenzeugen einen Bericht anfertigen, den er als Klageschrift an den Herzog von Mailand sandte und der die grausamsten Gewaltexzesse zutage förderte. Die Mailänder hätten einigen Besiegten die Finger abgehauen und sie danach an ihren Hüten zur Schau getragen. Anderen hätten sie die Hände abgeschlagen und an ihrer Kleidung gleich einer Trophäe befestigt 85. Auch diejenigen, die sich ergeben wollten, erfuhren keine Gnade, da man sie trotz ihrer Bereitschaft zum Einlenken getötet hätte 86. Einigen sei sogar bei lebendigem Leib den Bauch aufgeschnitten, die Eingeweide entnommen und das Herz durchbohrt worden, teilweise, um so den Schmerz und das Leid zu steigern, teilweise um zu erkunden, wie lange der so geschundene Körper dieses Prozedere überleben konnte 87. Anderen, die schönes Haupthaar hatten, seien die Köpfe abgeschlagen worden, um sie danach auf Stangen durch die Stadt zu tragen 88. Die entnommenen Organe hätten die Mailänder teilweise gebraten, der Bauchspeck der Getöteten sei zum Kauf angeboten worden. Manche der Augenzeugen wollen sogar erfahren haben, welcher Preis für diese <Ware> erzielt wurde 89. Der Mailänder Regent, der auf diese Klageschrift antwortete, bestritt zwar nicht grundsätzlich die Vorwürfe: ( … ) die vinger abgehüwen und in die baretten gesteckt, mog sin. Jedoch machte er dafür nicht seine regulären Kämpfer verantwortlich, sondern , die nach einem Gefecht bei Nacht die Gefallenen beider Lager aus reiner Profit- und Beutegier plünderten und schändeten 90. Selbstverständlich ist in diesem Fall die Intention der in Luzern erhobenen Augenzeugenberichte in Rechnung zu stellen, 83 84
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Gröbner, Ungestalten ( wie Anm. 1 ) S. 139 ff., der folgende Fall. Dokumente zur Geschichte des Bürgermeisters Hans Waldmann, hg. von Ernst Gagliardi ( Quellen zur Schweizer Geschichte NF 2,1 ) Basel 1911, Nr. 231, S. 371–378. Ebd., S. 372: ( … ) do haben die walchen den tütschen die vinger abgehuwen und die in die baretten gesteckt ( … ). Ebd., S. 377: Sy haben ouch etlichen die hend abgehüwen und die uff die ermel gemacht und alsso getragen. Ebd., S. 372. Ebd., S. 375 f.: ( … ) sy haben etlich dütschen, dewil sy dennocht gelept hant, uffgehüwen und inen daz schmer harusgeschnitten, ouch daz dermen us dem lib getann und hant wellen lùgen und versùchen, wie lang einer demnach leben möcht ( … ). ( … ) und haben sy alsso lebent uffgeschnitten und sy mit den mesren in die herz gestüpft, damit sy inen ein langen tod möchten angetùn ( … ). Ebd., S. 377: Demnach do haben die walchen gelùgt, wo einer hüpsch har gehept; dem haben sy daz houpt abgeschlagen und daz gann Tùm getragen und da uffgesteckt, als weren es berenhöpter. Ebd., S. 378: ( … ) als inen daz geweid usgeschnitten, lung, leber und anders ( … ) daz in ein kessel getan, das gesotten und vil übigkeit getriben ( … ). Dass die Mailänder den Bauchspeck ( schmer ) zum Kauf angeboten hätten, erscheint an zahlreichen Stellen ( S. 372, 374 ff. ). Ebd., S. 372, Anm. 2: ( … ) daz sig beschechen von unnützen lütten, an denen nit vil glegen. Es sig ouch nachtz beschechen von lütten, die gern gùt gewünnen und alsso daz die dotten, nackend und usgezogen, ungestalt, als wund lüt werden, die sinen und die unsern under einandren glegen, mogen sömlich unnütz lütt beden teillen daz schmer usgeschnitten und darab gelt gelöst ( … ).
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denn die bis zu diesem Zeitpunkt siegverwöhnten Truppen mussten sich immerhin für eine vernichtende Niederlage rechtfertigen. Aus dieser Perspektive war es nahe liegend, dem Gegner übermäßige Grausamkeit vorzuwerfen. Trotz dieser Einwände bleibt jedoch der Befund, dass man den Kämpfen des 15. und 16. Jahrhunderts ein größeres physisches Gewaltpotential attestieren muss, als dies in den inneradligen Auseinandersetzungen des Hoch- und Spätmittelalters ausgemacht werden kann. Spätestens an diesem Punkt verlor die bewaffnete Selbsthilfe ihre für die mittelalterliche Adelsgesellschaft integrative Wirkung, denn ihre ursprünglichen Funktionen waren von der sozialen Wirklichkeit längst überholt. Die Tendenz, mit dem Gegner schonungsloser umzugehen, als dies in den inneradligen Auseinandersetzungen der Fall, ist unverkennbar. Der Grund ist wohl weniger in der zügellosen Gewaltbereitschaft, in der vermeintlich entfesselten Brutalität zu suchen. Vielmehr fehlte in den beschrieben Konflikten ein alle sozialen Gruppen verpflichtender Verhaltenscodex, wie er im inneradligen Milieu mit den Regeln der Fehdeführung existierte. Daher entsprang der Umgang mit dem Gegner keinem wie auch immer gearteten ständischen Bewusstsein, sondern er folgt rein pragmatischem und taktischem Kalkül. Insofern ist die wachsende Gewaltbereitschaft weniger als Produkt sittlicher Verrohung des späten Mittelalters zu bezeichnen, sondern sie war das Ergebnis der gewandelten sozialen Grundlagen der Konfliktführung. Da der Kampf längst kein Geschäft des Adels mehr war, boten die bis zu diesem Zeitpunkt praktizierten Regeln der Affektkontrolle keine Basis der Interaktion mehr. So gesehen kann man das absolute Fehdeverbot von 1495 und somit das Ende der durch die Friedenswahrung legitimierten Gewaltanwendung als Antwort auf die gewandelten sozialen Rahmenbedingungen interpretieren. Der Ewige Landfriede ist aus dieser Perspektive tatsächlich eine Zäsur. Er ist jedoch kein Einschnitt, wie er in traditioneller Weise beschrieben wird, nämlich dass nun der Gerichtsweg endgültig die bewaffnete Selbsthilfe überflüssig gemacht habe. Denn in der Praxis existierte die Fehde noch lange Zeit weiter. Doch in dem Augenblick, in dem die violentia zu einem Zustand wurde, der Recht und Herrschaft tatsächlich gefährdete, hatte die mittelalterliche Praxis der Gewaltanwendung ihr stabilisierendes Potenzial verloren. Potestas und violentia waren nun in der Tat zu konträren Zuständen geworden und daher konnten die Friedensordnungen die Gewalt nicht weiter legitimieren. Es würde das Erkenntnispotenzial dieses Zugriffs deutlich einschränken, wollte man Gewaltanwendung ausschließlich aus ethischer oder moralisierender Perspektive beschreiben. Dies soll nicht die menschenverachtenden Formen der physischen Gewaltanwendung des Mittelalters beschönigen oder gar gutheißen, ganz im Gegenteil. Man würde jedoch die Funktionsweisen der mittelalterlichen Gesellschaft verkennen, wenn man die Formen der Gewaltanwendung ausschließlich aus der Perspektive ihrer Dysfunktionalität werten würde. Gewalt war so lange ein Kohäsionsprinzip der politischen Ordnung, wie sie die Gestalt einer funktionalen Gesellschaftsordnung widerspiegelte, in der die Aufgaben klar verteilt und zugeordnet waren. In dem Augenblick, indem soziale Wandlungsprozesse die Gesellschaftsordnung veränderten, positionierte sich auch das Verhältnis zur Gewalt neu.
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Rollen Vergils im Mittelalter
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Rollen Vergils im Mittelalter 1 I. Einleitung, S. 253. – II. Einzelfälle: Vergil als Prophet und Weiser des Altertums, S. 257. – 1. Vergil in der Wurzel Jesse ( Abb. 50 ), S. 257. – 2. Vergil im Chorgestühl der Kathedrale in Zamora ( Abb. 43 ), S. 258. – 3. Die Sibylla Erythraea in der Wurzel Jesse des Ingeborgpsalters ( Abb. 51–52 ), S. 259. – 4. Die Sibylle und Vergil am Portal der Kathedrale zu Laon ( Abb. 44–46 ), S. 260. – 5. Vergil im , S. 261. – 6. Zum Lektionar von Arles, S. 261. – 7. Die Sibylle und Vergil in dem mittelhochdeutschen Bibelepos ( Abb. 53–54 ), S. 262. – 8. Maria als Thron Salomos: Vergil und Albumasar ( Abb. 47–48 und 55 ), S. 263. – 9. Vergil unter den Astrologen ( Abb. 58 ), S. 266. – 10. Vergil in der Genesis-Initiale der Merseburger Bibel ( Abb. 49 und 56–57 ), S. 267. – Anhang, S. 269.
I. EINLEITUNG
Die uns bekannten und verfügbaren Vergildarstellungen verteilen sich hauptsächlich auf zwei getrennte, sukzessiv einsetzende Traditionsstränge bzw. Rezeptionsbahnen, zwischen denen es jedoch, wie in der Stemmatik üblich, Verflechtungen und Querverbindungen gibt. Der ältere Strang, der mindestens ins erste nachchristliche Jahrhundert, vielleicht sogar noch in spätaugusteische Zeit zurückreicht, ist an die Werk- und Textüberlieferung gebunden. Er ist, soweit wir sehen, durchgängig und bleibt der Hauptstrang. Vergil wird in ihm als Autor, speziell als poeta präsentiert. In diesen Darstellungen haben wir es also mit Autorbildern zu tun. Diese sind häufig an einer vorgegebenen ikonographischen Typologie mit unspezifischen Autorkonzeptionen orientiert und überdies eingebunden in den zeitgenössischen Literaturbetrieb mit seinen jeweils geltenden Konventionen. Das schließt jedoch nicht aus, dass auch ganz besondere, eigens auf den gemeinten individuellen Autor, hier also den Dichter Vergil bezogene Konzeptionen zur Darstellung kommen, hinter denen dann die Vorstellungen des Auftraggebers ( unser schönstes Beispiel ist Petrarca 2 ) oder einer bestimmten Schule stehen können.
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Diesem Aufsatz liegt ein Lichtbildervortrag zugrunde, den ich an mehreren Universitäten, zuletzt in Münster und Marburg gehalten habe. Die veränderte Darstellungsweise hatte eine durchgehende Umarbeitung zur Folge, bei der viele Materialien ungenutzt bleiben mussten, wodurch Lücken und Verschiebungen entstanden. Ihnen zum Opfer gefallen ist schließlich ein zweites Kapitel über „Darstellungen des Autors und Dichters Vergil“. Dass die Arbeit noch zur Publikation kommen konnte, verdanke ich der kompetenten technischen Unterstützung und der großen Geduld von Freunden und Kollegen in Münster, allen voran Christel Meier-Staubach. Mit Petrarcas Namen verbunden sind – neben dem von Simone Martini in Petrarcas Auftrag ausgeführten Frontispiz – die Strophen aus einer Sequenz zum Fest der , die Petrarca in seinem Vergil-Codex ( Mailand, Biblioteca Ambrosiana S.P. 10,27 ) eingetragen hat: Ad Maronis mausoleum / ductus fudit super eum / piae rorem lacrimae / Quem te, inquit, reddidissem / si te vivum invenissem / poetarum maxime. – ‚Zum Grabmal Maros geführt vergoss er über ihn frommer Träne Nass. Welchen ( sc. Christen ) hätte ich aus dir, sagte er, gemacht, wenn ich dich lebend getroffen hätte, größter aller Dichter.‘
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Der andere Rezeptionsstrang tritt erst spät, bezeichnenderweise in dem so klassiker- und antikenfreundlichen zwölften Jahrhundert in Erscheinung, sporadisch und zum Teil mit erheblichen Divergenzen. Vergil ist hier in Sonderrollen und textfremden Zusammenhängen gezeigt, etwa als Prophet der Geburt Jesu in dem untersten Rankenwerk der Wurzel Jesse oder im äußersten Bogen von Marienportalen christlicher Kathedralen, ja als dramatische Person im geistlichen Weihnachtsspiel, dem . Er ist beansprucht als Philosoph und Weiser neben und mit Platon und Aristoteles im Disput über Schöpfungs- und Prinzipienlehre, als Astrologe und Magier inmitten teilweise recht okkulter Zunftgenossen bei der Betrachtung des Planetenhimmels. Häufig erscheint er in Kooperation mit der die Ankunft Christi verkündigenden heidnischen Sibylle, als Pendant des arabischen Astrologen Albumasar, schließlich eingereiht – als einziger Lateiner – unter die erlauchtesten Vertreter heidnischer Gelehrsamkeit und mysteriösen Wissens: Apollo Milesius und Hermes Trismegistos. In all diesen Darstellungen ist Vergil aufgrund bestimmter Textpassagen seiner Werke in christlichen Dienst genommen als Zeuge für christliche Wahrheiten und Lehren, teils als propheta Christi, teils als Weiser des Altertums, als Seher oder vates. Die Voraussetzungen für diese Funktionen waren bereits in der Spätantike entstanden. Darauf ist später noch einzugehen. Zuvor sei kurz auf zwei sehr unterschiedliche, in gewissem Grade konträre mittelalterliche Rollen Vergils hingewiesen, erstens auf die mit der Legende von dem menschenfreundlichen Zauberer und Thaumaturgen ( so Wolfram von Eschenbach, Parzival 656 ) tradierte, die völlig aus dem bisher skizzierten Rahmen fällt und auch gänzlich werkunabhängig ist: die literarisch erstmals im späten 13. Jahrhundert für Vergil bezeugte Rolle eines düpierten Liebhabers, der sich freilich nach seiner öffentlichen Bloßstellung durch die von ihm umworbene Schöne mithilfe seiner magischen Kunst an der hinterhältigen Dame gründlich zu rächen weiß. Es handelt sich um die weit verbreitete Geschichte von Vergil im Korb. Sein Malheur hat ihm auch einen Platz in den besonders in der höfischen, aber auch in moraldidaktischer Literatur so oft rezitierten Katalogen der so genannten Minnesklaven bzw. der Opfer weiblicher List und Perfidie eingebracht. Vergil befindet sich darin in illustrer Gesellschaft: auch Aristoteles gehört zum Repertoire, dazu König David, Salomon, der starke Samson und schon der erste Mann der Schöpfung, Adam. Im anderen Fall wird Vergil um die Mitte des 13. Jahrhunderts von seiner Heimatstadt Mantua aus kommunalpolitischen Gründen zum Stadtpatron erhoben. Sein Bild wird ( im Jahr 1257 bei der Umstellung auf venezianische statt kaiserlicher Währung ) auf Münzen gesetzt und als monumentale Sitzplastik an öffentlichen Gebäuden angebracht, zunächst im Palazzo della Ragione, vermutlich im großen Ratssaal, und zwar in der Kleidung eines Rechtsgelehrten, also in der Funktion als oberster Richter, „vor dem nach Aussage der Quellen die Beschlüsse des Großen Rates vorgelesen und die Normengewichte und Normmaße gesichert werden mussten“ 3. Eine jüngere, etwas hieratisch anmutende Sitzfigur in einer Aediculanische an der Fassade des Palazzo Comunale ( an der Piazza Broletto, heute noch dort ) zeigt den Stadtpatron Vergil, der in einer Kathedra sitzt und ein pelzbesetztes Barett trägt, sozusagen als die allwissende 3
Zitiert aus der Rezension von August Buck, zu Viktor Pöschl ( Hg. ), 2000 Jahre Vergil ( s. Anm. 3 ), in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 8, 1984, S. 121–124, hier S. 123.
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Amtsperson seiner Heimatstadt, inschriftlich beglaubigt als VIRGILIUS MANTUANUS POETARUM CLARISSIMUS ( Vorderseite des Schreibpultes; auf der Sockelplatte steht das allbekannte Grabepigramm Mantua me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc / Parthenope; cecini pascua rura duces 4 ) ( Abb. 41–42 ). Im frühen 14. Jahrhundert hat dann Dante den weisen Dichter – mit seinen eigenen Worten quel savio gentil che tutto seppe ( Inferno 7,3 ) – zum ersten Führer und Begleiter auf seiner Jenseitswanderung gemacht, und als solcher erscheint Vergil auch regelmäßig neben Dante in den zahlreichen illustrierten Handschriften der , die durch die bewunderungswürdige Arbeit von Marcella Roddewig zugänglich geworden sind 5. Bevor wir uns den Einzelfällen zuwenden, sind wenigstens stichwortartig die Hauptaspekte und Funktionen zu nennen, die in der Spätantike mit Werk und Person des Dichters Vergil verbunden waren und an das Mittelalter vermittelt werden konnten. An erster Stelle ist an seine Rolle als vorrangiger Schulautor zu denken, die seit dem Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts gefestigt war aufgrund seiner Kanonisierung als mustergültiger Gipfelautor ( princeps der lateinischen Dichter ) durch den öffentlichen Rhetoriklehrer Roms, Quintilian. Der Gebrauch der Vergiltexte zu Unterrichtszwecken auf allen Stufen förderte ihre Kommentierung, Glossierung und sonstige Aufbereitung durch Viten und Werkeinführungen ( sog. accessus ) und garantierte schließlich die Erhaltung bzw. Tradierung auch in Krisenzeiten und nach dem Untergang des weströmischen Reiches 6. Zweitens: Von maßgeblicher Bedeutung für die Vergilrezeption war der bereits den Werken inhärente Bezug auf die griechischen Vorbilder, zumal der die höchstrangige Gattung repräsentierenden auf Homer. Er schlägt sich nieder in der komparatistisch verfahrenden antiken Literaturkritik ( Beispiele: Quintilian und Macrobius in den Saturnalien ) und in den Methoden der Texterklärung. Drittens: im Laufe der Zeit kommt es zur Angleichung Vergils an die geltende Auffassung Homers als des allwissenden, in den freien Künsten und allen wissenschaftlichen Disziplinen kundigen Dichters. Auch Vergil gilt jetzt als omnium disciplinarum peritus, ja, peritissimus ( T. 3 ) 7 und als erroris ignarus; vgl. T. 2: totus Vergilius scientia plenus est, usw. In der Spätantike, zu Beginn des 5. Jahrhunderts, unternahm es vor allem Macrobius, der in philosophischer Hinsicht als Neuplatoniker einzustufen ist, in seinen Saturnalien, einem literarischen Vergilsymposium, die These vom allwissenden 4
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Mehr zu den Mantuaner Vergilbildern bei Wolfgang Liebenwein, Princeps poetarum. Die mittelalterlichen Vergil-Bilder in Mantua, in: Viktor Pöschl ( Hg. ), 2000 Jahre Vergil. Ein Symposion ( Wolfenbütteler Forschungen 24 ) Wiesbaden 1983, S. 109–151 ( darunter 16 Abb. ); Pierluigi Tozzi u. a., Art. <Mantova>, in: Enciclopedia Virgiliana 3, 1987, S. 356–358 und Tafel 22; Secondina Lorenza Cesano, Numismatica virgiliana, in: Vergilio nel Medio Evo ( = Studi medievali NS 5, 1932 ) S. 109–151 ( zu den Mantuanischen Vergilprägungen ). Marcella Roddewig, Dante Alighieri, Die göttliche Komödie. Vergleichende Bestandsaufnahme der Commedia-Handschriften, Stuttgart 1984. Vgl. vor allem Quintilian, Institutio oratoria 10,1,46–51 und 85 f.; dazu Antonie Wlosok, Zur Geltung und Beurteilung Vergils und Homers in Spätantike und früher Neuzeit, in: Dies., Res humanae – res divinae. Kleine Schriften, hg. von Eberhard Heck und Ernst A. Schmidt, Heidelberg 1990, S. 476–498. Die mit T. 1–6 bezeichneten Textstellen befinden sich im Anhang zu diesem Aufsatz.
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und unfehlbaren Vergil systematisch zu begründen. Vergils Werk schien nun geeignet, in wichtige Wissensgebiete einzuführen und enzyklopädische Bildung zu vermitteln. Viertens: Vor allem aber konnte es als sacrum poema den dafür Empfänglichen philosophische Wahrheiten verkünden, die man unter der poetischen Gestaltung in Bildern und Geschichten ( fabulae ) verborgen glaubte ( T. 1, 2 und 5 ). Denn der damals vorherrschenden philosophischen Dichtungskonzeption zufolge war Dichten allegorisches, figürlich verschlüsseltes Reden, enthielten die Dichtungen alter Zeit verhülltes Wissen über die Geheimnisse des Alls und des Göttlichen, also verschleierte Wahrheit, die vom Exegeten durch behutsame Allegorese erschlossen werden musste. Macrobius spricht im Blick auf dieses bei Vergil beobachtete poetische Verfahren der Erzeugung eines Doppelsinnes von der Observanz einer gemina doctrina, einer zweifachen Lehre oder wissenschaftlichen Disziplin, nämlich der Poetik und der Philosophie ( T. 4 ). Diese Theorie der gemina doctrina wurde dann besonders im 12. Jahrhundert von den philosophisch orientierten Vergilkommentatoren aufgegriffen und hermeneutisch fruchtbar gemacht. Sie wirkte nachhaltig weiter und beeinflusste nicht nur das Vergilverständnis Dantes in seiner , sondern auch das Vergilverständnis führender italienischer Humanisten des 14. und 15. Jahrhunderts wie Petrarca, Boccaccio, Coluccio Salutati und Christoforo Landino. Fünftens: Ein neuartiger Versuch der allegorisierenden Erschließung der , der sie auch für Christen lesbar und verwendbar machen sollte, entstand an der Schwelle zum Mittelalter in der <Erklärung des Inhaltes der Aeneis in moralphilosophischer Hinsicht> ( <Expositio Virgilianae continentiae secundum philosophos moralis> ) des Fulgentius ( um 500 ). Hiernach wollte Vergil mit der Geschichte seines Aeneas den stufenweise fortschreitenden Weg des Menschen zur höchstmöglichen sittlichen Vollendung, welche die Erreichung der höchsten Erkenntnisstufe voraussetzt, aufzeigen und damit eine Anleitung und Ermunterung zur ethischen Lebensführung geben. Als Ziel und Höhepunkt des epischen Lebensweges des Aeneas gilt hier die Begegnung mit dem Vater Anchises im Elysium, wobei Anchises etymologisiert ist als Ν , habitans in excelsis ( T. 6 ). Dieses Konzept hat die spätere mittelalterliche Aeneisallegorese maßgeblich beeinflusst. Sechstens: Die christliche Vergilrezeption hat freilich viel früher eingesetzt, nämlich gleich bei den ersten lateinischen Apologeten, positiv da, wo man mit paganen Zeugnissen für christliche Lehren arbeitete. Das geschah zunächst bei Minucius Felix 8 und dann in großem Umfang bei Laktanz ( hier: inst. 1,5,11 ff. und epit. 3,4 ) und betrifft hauptsächlich den Gottesbegriff. Vergil fungiert zum Beispiel als Zeuge ( testis ) für den monotheistischen Schöpfergott; zitiert werden die Weltgeistpartien aus Aeneis 6,724 ff. ( philosophische Offenbarungsrede des Anchises ) und Georgica 4,221 ff. Bei Laktanz ist Vergil zusammengestellt mit Ovid ( met. 1,57.79: fabricator mundi, rerum opifex ). Es folgen unter den Philosophen an erster Stelle Plato (qui omnium sapientissimus iudicatur, inst. 1, 5,23 ) und unter der Rubrik divina testimonia ( inst. 1,6 ) Hermes Trismegistos und die Sibylle( n ). Diese Kombinationen tauchen im Mittelalter wieder auf. Siebtens: Zu nennen ist schließlich die christlich-messianische Auslegung der vierten, vom Dichter eingangs ausdrücklich mit einem Sibyllenorakel ( Cumaeum carmen ) verknüpften Ekloge auf die Geburt Jesu und den Anbruch einer Heilszeit. Lei8
Minucius Felix 19, 2; dazu Stefan Freund, Vergil im frühen Christentum, Paderborn 2003, S. 101–191.
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tende Stichwörter sind puer und virgo sowie nova progenies ( caelo dimittitur alto ), Zeiterneuerung. Greifbar ist eine durchgängige christliche Allegorese des Gedichtes für uns erstmals in der bei Eusebius überlieferten offiziellen Verlautbarung Kaiser Konstantins ( aus dem frühen 4. Jahrhundert ). Sie wurde in der lateinischen Kirche zunächst mit großer Zurückhaltung aufgenommen, Hieronymus lehnte sie strikt ab, Augustinus reduzierte den messianischen Gehalt auf die Sibyllenprophetie und sprach Vergil jedes tiefere Verständnis des übernommenen Inhaltes ab. Zum propheta Christi ist Vergil wenig später trotzdem mithilfe der Autorität Augustins geworden, nämlich durch einen diesem untergeschobenen, also pseudoaugustinischen Sermo ( , heute dem karthagischen Bischof Quodvultdeus zugeschrieben ), der bereitwillig rezipiert und in westliche Lektionare aufgenommen wurde. Für Fulgentius ( T. 6 ) ist Vergil bereits auf sein geheimnisvolles prophetisches Wissen festgelegt. II. EINZELFÄLLE: VERGIL ALS PROPHET UND WEISER DES ALTERTUMS
1. Vergil in der Wurzel Jesse ( Abb. 50 ) In der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel befindet sich eine Psalterhandschrift vom Anfang oder der Mitte des 13. Jahrhunderts 9. Sie enthält auf fol. 6v eine Darstellung der Wurzel Jesse 10, das ist des Stammbaums Christi. Unter alttestamentlichen Propheten, die die Geburt eines Heilands vorausgesagt haben, erscheint auch Vergil, als Brustbild in dem untersten Außenbogen rechts, gekennzeichnet durch den Text seines Spruchbandes: iam nova progenies ( Verg., ecl. 4,7 ). Ihm gegenüber im linken untersten Außenbogen befindet sich der moabitische Seher oder Wahrsager ( ariolus ) Balaam bzw. Bileam auf seiner Eselin mit einer Peitsche in der linken Hand. Er verkündet den Aufgang des Jakobssternes, lesbar sind noch die Worte orietur stella ( Num 24,12; dort auch die ganze Geschichte von Bileam, seinem Esel und dem ihm in den Weg tretenden Engel ). Der Bildtyp des Stammbaums Jesse hat sich aus der Schriftstelle Jes 11,1 entwickelt: Et egredietur virga de radice Jesse et flos de radice eius ascendet. In der Einheitsübersetzung: ‚Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht‘; nach Martin Luther: ‚Und es wird eine Rute aufgehen von dem Stamme Isais und ein Zweig aus seinen Wurzeln Frucht bringen.‘ Zu der voll entfalteten Form der Wurzel Jesse gehören folgende Elemente: 9
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Cod. Guelferbytanus 568 Helmstadiensis ( Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek ) aus dem Zisterzienserinnenkloster Wöltingerode bei Goslar. Dazu: Arthur Haseloff, Eine thüringisch-sächsische Malerschule des 13. Jahrhunderts, Straßburg 1897, S. 15 f., 87–89, Abb. 72. Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel: Die Helmstedter Handschriften, beschrieben von Otto von Heinemann, 2, Wolfenbüttel 1886 ( ND Frankfurt am Main 1965 ), S. 10–13; Mittelalterliche Hss. der HAB, ausgewählt und erläutert von Wolfgang Milde, Frankfurt am Main 1972, S. 138 f. Émile Mâle, Virgile dans l’art de moyen âge français, in: Vergilio nel Medio Evo ( wie Anm. 3 ) S. 324–331; Abb. nach S. 326; Josef Fink, Virgil among the Prophets and Confessors. Two representations of the poet in Bible illustration, in: Folia 11, 1957, S. 3–17; Arthur Watson, The Early Iconography of the Tree of Jesse, London 1934 ( reich an guten Abbildungen ); Gertrud Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst, 1, Gütersloh 1966, S. 246–255, Abb. 23–43; Alois Thomas, Art. <Wurzel Jesse>, in: Lexikon der christlichen Ikonographie 4, 1972, Sp. 549–558.
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a. Der liegende Jesse, das ist der Vater Davids, als Fundament; b. Der aus oder hinter ihm aufsteigende Stamm, gebildet aus Vorfahren Jesu, hier: den in Ganzfigur auf Thron und mit Zepter dargestellten illustren Königen David und Salomon, der Mutter Maria ( nimbiert ) und ganz oben dann Christus selbst mit Kreuznimbus; c. Ast- und Blattwerk in Form von stilisierten, hier kreisförmig ausgerollten Rankenwindungen, in denen weitere Personen in Halbfigur untergebracht sind ( hier noch drei jüngere Könige, der Verkündigungsengel und ganz oben zwei schwer bestimmbare Figuren – wahrscheinlich adorierende Engel? ); d. Nicht zum Stammbaum gehörende Außenfelder, hier: rahmende Ausbiegungen, mit Propheten, die durch ihre Spruchbandtexte bezeichnet sind. In unserem Bild finden wir rechts über Vergil zweimal Jesaja, zunächst mit dem Spruch 7,14 ( Ecce virgo concipiet et pariet ), in der Ausbuchtung darüber, also der dritten von unten, mit Jes 11,1 ( der Wurzel-Jesse-Prophetie ). Konsequenterweise sind die beiden Propheten aus der heidnischen Welt, Balaam und Vergil, in der untersten Etage angesiedelt. 2. Vergil im Chorgestühl der Kathedrale in Zamora ( Abb. 43 ) Ein Scheinproblem hat die Forschung gelegentlich beunruhigt: die weiblich anmutende Kopfbedeckung des zudem noch bartlosen Vergil in unserem Bild. Sie passe, so wurde argumentiert, eher zu einer Sibylle 11. Dieser Einwand trifft jedoch nicht. Denn in dieser Zeit werden Propheten und Magier, aber auch Weise und Philosophen des Altertums häufig mit tuchartigen, oft bombastisch aufgebauten Kopfbedeckungen dargestellt. Im Malerbuch vom Athos ist es sogar für einige vorgeschrieben 12. Speziell zu Vergil haben wir ein schönes Beispiel in einem holzgeschnitzten Relief am Chorgestühl der Kathedrale von Zamora 13 in Spanien vom Anfang des 16. Jahrhunderts 14. Vergil erscheint hier ( im Kontext von acht Sibyllen, verschiedenen Propheten, dem babylonischen König Nebukadnezar und einer Verkündigungsszene ) ebenfalls bartlos und mit kunstvollem Kopfputz, wie er in ein aufgeschlagenes Buch blickt, das er in der linken Hand hält. Auf einem Band, das über seinen Arm läuft, steht N ( kaum sichtbar ) PROGENIES. Der Bildtitulus lautet: VERGILIUS BUCOL. 4. Vergil ist gleichsam aufgestiegen in den inzwischen angeschwollenen Chor heidnischer und vorchristlicher ‚Zeugen‘, Seher und vates, die wissentlich oder unwissentlich künftige Heilsereignisse wie die Geburt eines Erlösers oder das endzeitliche Weltgericht 11 12
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Zu dieser Problematik s. Fink ( wie Anm. 9 ) S. 3 ff., S. 11 u. ö. Dazu gehört ‚der Seher Balaam, ein Greis mit rundem Barte, trägt ein Tuch auf seinem Haupte und sagt: Es wird ein Stern ausgehen aus Jakob …‘ ( zitiert nach der deutschen Übersetzung von Godehard Schäfer, Trier 1855, § 207, ND München 1960 ). Zum Chorgestühl der Kathedrale in Zamora: Manuel Gómez-Moreno, Catálogo monumental de España, Provincia de Zamora ( 1903–1905 ), Madrid 1927, S. 113–117, mit Abb. 101–111; Luigi Suttina, L’effigie di Virgilio nella Cattedrale di Zamora, in: Vergilio nel Medio Evo ( wie Anm. 3 ) S. 342–344, darauf eine gute Abbildung. – Großer Dank für die Hilfe bei der Beschaffung von Forschungsliteratur gebührt Carmen Morenilla / Valencia. Die Datierung des Gestühls hat lange geschwankt zwischen einem frühen Ansatz im 12. Jahrhundert ( befürwortet u. a. von Charles Homer Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge [ Mass. ] 1927, S. 106; vgl. Watson [ wie Anm. 9 ] S. 22 ) und einer Spätdatierung auf den Anfang des 16. Jahrhunderts Diese ist inzwischen akzeptiert.
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vorausgesagt haben. Die Rollen der einzelnen Personen haben sich im Laufe der Zeit verfestigt. Vergil ist in der Regel mit der Ankündigung einer nova progenies befasst, wobei die Bedeutung des Ausdrucks progenies nicht präzisiert wird, so dass sich verschiedene Auffassungen anbieten 15. In unserem Zusammenhang geht es vor allem um die Frage, ob progenies auf eine einzelne Person bezogen werden soll – das wäre dann der puer aus der 4. Ekloge – oder auf ein Kollektiv, etwa eine neue Generation oder ein neues Menschengeschlecht, und das wären die Christen als das neue Volk, wie sie sich selbst verstehen. Auf sie ist die Auslegung der 4. Ekloge in der Rede Konstantins auch tatsächlich bezogen. Das geht aus dem Text eindeutig hervor ( Or. Const. 19,4 16 ): Der Exeget redet von der Entstehung und Ausbreitung der christlichen Religion unter Tiberius: ‚Zu dessen Zeit erst … verbreitete sich das Geheimnis seiner ( sc. des Erlösers ) heiligen Religion und es erstand das neue Geschlecht des Volkes, von dem, wie ich glaube, der Fürst der römischen Dichter singt: „Darauf wird ein neues Geschlecht von Menschen dem Erdkreis sich zeigen“; und wiederum in einer der bukolischen Dichtung ganz fremden Weise: „Lasst von großer Kunde uns singen, sizilische Musen!“ Was ist deutlicher als dies? Er setzt ja hinzu: „Schon ist zum Ende gekommen der Spruch des Orakels von Kumä“. Und er meint mit der Kumäerin offenbar die Sibylle‘. Dieser Sibylle, auf deren Orakelspruch (Cumaeum carmen ) 17 sich der Dichter eingangs bezieht, bleibt er zugeordnet, aus der Sicht des Exegeten ‚als Weiser und Wissender‘, aber nicht als Weissagender, denn er war ‚kein Prophet‘ ( ib. 20,8 ). Die prophetische Qualität wurde offenbar nur der Sibylle – hier also der Cumana – zugestanden, nicht auch dem Dichter Vergil. Eine Benutzung des sibyllinischen Textes dagegen wurde kaum in Frage gestellt und auch vom Autor selbst angedeutet. 3. Die Sibylla Erythraea in der Wurzel Jesse des Ingeborgpsalters ( Abb. 51–52 ) Wir wenden uns jetzt der anderen Sibylle zu, die zu den vornehmsten Zeugen der paganen Welt gehört, der Erythraea 18. In der Kaiserrede ( Or. Const. 18,3 und 5 ) ist von ihr gesagt, dass sie bei ihrer Prophezeiung von göttlicher Begeisterung erfüllt war und dass sie von Gott zu dieser Aufgabe berufen und auserwählt war. Unter ihrem Namen war ein langes christliches, akrostichisch abgesichertes Sibyllinum über den Weltuntergang und das Jüngste Gericht in Umlauf. Dieses Akrostichon war in der erwähn15
Dazu Pierre Courcelle, Les exégèses Chrétiennes de la quatrième éclogue, in: Revue des études anciennes 52, 1957, S. 294–319, zumal 298 f. Karl Strecker, „Jam nova progenies caelo dimittitur alto“, in: Vergilio nel Medio Evo ( wie Anm. 3 ) S. 167–186. Antoine Foucher, Art. <progenies>, in: Thesaurus Linguae Latinae 10, 2, Fasc. 11, 1999, Sp. 1757–1761. Maria Becker, Iam nova progenies caelo dimittitur alto. Ein Beitrag zur Vergil-Erklärung, in: Hermes 131, 2003, S. 456–463. 16 Sibyllinische Weissagungen. Oracula Sibyllina, Urtext und Übersetzung, ed. Alfons Kurfess, München 1951. 17 Dazu Antonie Wlosok, ( Verg., ecl. 4,4 ): Sibyllenorakel oder Hesiodgedicht?, in: Forma Futuri. Studi in onore del Cardinale Michele Pellegrino, Turin 1975, S. 639–711; ND in: Dies., Res humanae ( wie Anm. 5 ) S. 302–319; Dies., Zwei Beispiele frühchristlicher : Polemik ( Lact. div. inst. 5, 10 ) und Usurpation ( Or. Const. 19–21 ), in: Pöschl ( Hg. ), 2000 Jahre Vergil ( wie Anm. 3 ) S. 63–86; ND in: Dies., Res humanae ( wie Anm. 5 ) S. 437–459, S. 444–455. 18 Vgl. Lactantius, De ira Dei 22,5 und Augustinus, De civitate Dei 18,23.
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ten Rede Kaiser Konstantins mit der 4. Ekloge Vergils kombiniert; Augustin zitiert es in lateinischer Übersetzung ( civ. 18,23 ). Es wird meist nach den Anfangsworten als iudicii signum bezeichnet. Diese Sibylle, die Prophetin der zweiten Ankunft Christi als des Weltrichters, ist später in die liturgische Sequenz Dies irae, dies illa solvet saeclum in favilla teste David cum Sibylla und damit in die Totenmesse eingegangen 19. Als wahrhaft königliche Erscheinung ist sie in der Wurzel Jesse des Ingeborgpsalters dargestellt ( Musée Condé, Chantilly, ms. 9, fol. 14v ) 20. Bemerkenswert sind die hohe Platzierung als oberste Rahmenfigur auf der rechten Seite, die Krone und vor allem die Inspirationstaube. Sie deutet an, dass ihre Verlautbarungen genauso wie die der anderen biblischen Gestalten als göttlicherseits ( durch den heiligen Geist ) inspiriert gelten sollen. Auf ihrem Schriftband lesen wir einen Vers aus dem alten lateinischen Sibyllinum: omnia cessabunt, tellus confracta peribit ( aus Aug. civ. 18,23, Z. 37 ). 4. Die Sibylle und Vergil am Portal der Kathedrale zu Laon ( Abb. 44–46 ) Vergil und die Sibylle sind um 1200 auch beide zusammen als Großplastiken an französischen Kathedralen dargestellt worden, zum Beispiel am Marienportal der Kathedrale zu Laon 21. Die Abbildungen zeigen: die Gesamtansicht der Wölbung mit Tympanon ( Maria im Zentrum ) ( Abb. 44 ), den Ausschnitt aus der linken Bogenseite mit Vergil im äußersten ( = vierten ) Bogen, als zweite Figur von unten ( Abb. 45 ), den Ausschnitt aus der rechten Bogenseite mit Sibylle als zweiter Figur von unten im äußersten Bogen ( Abb. 46 ) 22. Die Skulpturen, die im <Stil 1200> datiert werden, sind sehr stark restauriert, da sie in der französischen Revolution brutal verwüstet, besonders die Köpfe abgeschlagen worden waren. Die Identität ist aber bei vielen Gestalten, so bei Vergil und der Sibylle, durch erhaltene Reste aus Namensbeischriften oder beigegebenen Spruchtexten gesichert 23. Bei Vergil stand ein Teil des Verses iam nova progenies aus der 4. Ekloge. Die Sibylle ist die erythräische, das heißt die Prophetin des Weltgerichts. Sie kündigt die Ankunft eines rex e caelo, eines himmlischen Weltrichters an und nennt das erste Zeichen: tellus sudore madescet. Vergil und die Sibylle befinden sich in den beiden äußersten Bögen, jeweils als die zweite Figur von unten, stehen sich also gegen19
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Vgl. Luise Abramowski, Der Bamberger Reiter, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 98, 1987, S. 219 f.; Lucas Kunz, Art. , in: Lexikon für Theologie und Kirche 3, 1959, Sp. 380 f. Florens Deuchler, Der Ingeborgpsalter, Berlin 1967, S. 32–34, Abb. 18 ( Wurzel Jesse auf fol. 14v ); Der Ingeborgpsalter, vollständige Faksimile-Ausgabe der Handschrift Ms. 9 olim 1965 aus dem Besitz des Musée Condé, Chantilly, hg. von Florens Deuchler, 2 Teile, Faksimile und Kommentar Graz 1985 ( Kommentar zuerst Berlin 1967 ). Dazu: Marie-louise Therel, Étude iconographique des voussures du portail de la Vierge-Mère à la cathédrale de Laon, in: Cahiers de civilisation médiévale 15, 1972, S. 41–51; Karl Young, The Drama of the Medieval Church, 2, Oxford 1933, S. 125–171 ( The Procession of Prophets ); Émile Mâle, L’art religieux du XIIIe siecle en France. Étude sur l’iconographie du moyen âge et sur ses sources d’inspiration, Paris 1948; deutsche Ausgabe: Die Gotik. Kirchliche Kunst des XIII. Jahrhunderts in Frankreich ( Übers.: Gerd Betz ), Stuttgart – Zürich 1986. Dem Konservator des zuständigen Museums von Laon sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt für die Überlassung der hier verwendeten Photographien und für den Hinweis auf den wichtigen Aufsatz von Marie-louise Therel ( wie Anm. 20 ). Hierzu äußerte sich Monsieur Rémi Bazin aus Laon in einem Schreiben vom 15. Januar 1999 sehr zuversichtlich: „Malgré les dégradations causées par les révolutionnaires l’iconographie est authentique et l’ensemble demeure un beau témoignage du <style 1200> dans le nord de la France.“ Gern schließe ich mich seiner Zuversicht an.
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über. Sie können in dieser Positionierung als Komplementärfiguren verstanden werden, die Anfang und Ende des großen heilsgeschichtlichen Bogens von der ersten Ankunft des Erlösers bis zum abschließenden Weltgericht markieren. Unter Vergil ist wahrscheinlich das Einhorn mit der Jungfrau dargestellt, neben ihm im dritten Bogen Daniel in der Löwengrube. Als weitere pagane Zeugen fungieren Balaam ( vierte Figur links außen, inschriftlich gesichert ) und Nebukadnezar ( in der Version der Vulgata: Nabuchodonosor ), repräsentiert durch die Szene der drei hebräischen Männer im Feuerofen aus Daniel 3 ( rechts außen, unterstes Feld ). 5. Vergil im Für Laon ist etwa aus der gleichen Zeit ein geistliches Spiel überliefert mit der Bezeichnung 24. Es handelt sich um ein liturgisches Weihnachtsspiel, das sich aus dem inzwischen als Lesung (lectio ) verwendeten alten pseudoaugustinischen <Sermo Contra Iudaeos, Paganos, et Arianos> 25, der bereits Ansätze zur dramatischen Gestaltung enthält, entwickelt hat. In diesem sermo wird eine Reihe jüdischer und heidnischer Zeugen, denen messianische Weissagungen zugeschrieben sind, gleichsam aufgerufen und zur Abgabe ihres Zeugnisses aufgefordert. Im 12. Jahrhundert begegnet der Text nahezu unverändert im Lektionar von Arles, war dort also in liturgischem Gebrauch. Ich füge hier einen Auszug aus dem an die Heiden ( gentes ) gerichteten Abschnitt ein, der die Befragung der drei disparaten Zeugen, des poeta ( Vergil ), des rex ( Nabuchodonosor ) und der Sibylle enthält. 6. Zum Lektionar von Arles 26 Sermo Beati Augustini Episcopi de Natale Domini Lectio Sexta: … Ecce, inquit, convertimus nos ad gentes. Demonstremus etiam nos ex gentibus testimonium Christo fuisse prolatum, quoniam veritas non tacuit clamando etiam per linguas inimicorum suorum. Nonne quando ille poeta facundissimus inter sua carmina: I a m n o v a p r o g e n i e s c e l o d e m i t t i t u r a l t o , dicebat, Christo testimonium perhibebat? In dubium hoc veniat nisi alios ex gentibus idoneos testes pluraque dicentes in medio introducam. Illum, illum regem qui vestram superbiam captivando perdomuit, Nabuchodonsor, regem scilicet Babilonis, non pretermittam. Dic, Nabuchodonsor, quid in fornace vidisti quando tres viros iustos iniuste illuc miseras, dic, dic quid tibi fuerit revelatum … Quid Sibilla vaticinando etiam de Christo clamaverit in medium proferamus … Audite quid dixerit: I u d i c i i s i g n u m : T e l l u s s u d o r e m a d e s c e t ; / E c e l o r e x a d v e n i e t per secla futurus … In der Folgezeit wurde der Text wiederholt bearbeitet und immer mehr zu einem dramatisch inszenierten Aufmarsch von Propheten und Weissagern ausgestaltet. In dem Spiel aus Laon liegt bereits die voll entwickelte Form eines versifizierten Singspiels vor, mit verteilten Rollen ( Lektor, Kantoren, Chöre, Appellatores, einzelnen Zeugen ) und dramaturgischen Anweisungen zur Ausstattung der einzelnen Personen 24
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Laon, Bibl. de la Ville, Ms. 263 ( Troparium-Hymnarium Laudunense, s. XIII ), fol. 147v–149r; Young ( wie Anm. 20 ) S. 125 und 145–153. Pseudo-Augustinus, Sermo Contra Iudaeos, paganos, et Arianos, inzwischen dem karthagischen Bischof Quodvultdeus ( gest. etwa 453 in Kampanien ) zugeschrieben. Editionen: René Braun ( CC 60 ) Turnhout 1976; Migne PL 42. Lektionar von Arles: Paris, Bibliothèque Nationale de France, ms. lat. 1018, fol. 129r–132v ( und weitere Handschriften ); Young ( wie Anm. 20 ) S. 125–132; Textauszug S. 129 f.
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bzw. Spieler. Die Anweisungen für die hier durch die Einfügung Balaams auf vier erhöhten paganen Rollen lauten: Virgilius: cum cornu et calamo, edera coronatus, scriptorium tenens. Nabugodonosor: regio habitu, superbo incessu. Sibilla: veste feminea, decapillata, edera coronata, insanienti simillima … Balaam: super asinam, curvus, barbatus, palmam tenens, calcaribus urgens 27. Die vier Zeugen der heidnischen Welt, die an dem Portal der Kathedrale dargestellt sind, treten auch in dem Spiel auf. Dessen Text trägt daher für eine Reihe von Gestalten und Szenen an dem Portal der Kathedrale, in der ja die Aufführungen stattfanden, zur Erklärung bei. 7. Die Sibylle und Vergil in dem mittelhochdeutschen Bibelepos ( Abb. 53–54 ) Die Zeugenreihe des geistlichen Dramas wurde schließlich in das im frühen 14. Jahrhundert entstandene mittelhochdeutsche Bibelepos eingebaut 28. Die heidnischen Zeugen sind hier auf drei reduziert, da Balaam als Prophet des Jakobsternes zu den Patriarchen versetzt ist ( V. 1302–1312 ). Dadurch entspricht die Zusammenstellung wieder der des pseudoaugustinischen Ausgangstextes mit der Folge: Sibilla ( V. 1759–1846 ), Nabuchodonôsor ( V. 1847–1902 ), Virgilius ( V. 1903 bzw. 1912–1992 ). Die Sibylle und Vergil sind dadurch herausgehoben, dass ihre ursprünglichen Basistexte, das umfangreiche der erythräischen Sibylle zugeschriebene Akrostichon und Vergils 4. Ekloge, nahezu vollständig aufgenommen und dabei erstmals ins Deutsche übersetzt wurden. Sie sind aber, wie Walter Haug 29 durch sorgfältige Detailanalysen gezeigt hat, im Dienste einer heilsgeschichtlichen Konzeption neu geordnet und jeweils zu einer Doppelprophetie auf das zweimalige Erscheinen Christi umgestaltet, sein Erscheinen durch die Menschwerdung und seine Wiederkehr zum Weltgericht. Zu den auffälligsten Konsequenzen der Um- und Neuinterpretation gehört zum Beispiel, dass in der umgebauten Prophetie der erythräischen Sibylle die Signalworte gerihtes zeichen ( V. 1784; das iudicii signum des lateinischen Sibyllenorakels ) nicht mehr am Anfang stehen, sondern erst nach mehr als 10 Versen kommen, die nun auf das Erdenleben Jesu zu beziehen sind. Der Verfasser der <Erlösung> hat den beiden heidnischen Hauptzeugen, der Sibylle und Vergil, ein erstaunliches Wissen über den Heilsplan Gottes zugesprochen. Wie kommen sie zu diesem Wissen? Von gode, erklärt der Erzähler wiederholt bei der Vorstellung der als Zeugen aufgebotenen heidnischen Weissager. Voran steht Sibylle, die heidenische maget: von gode hatte sie die kraft, / daz sie sô wol gekundet hât / den heimelîchen godes rât ( V. 1762–1764 ). Den Abschluss bildet der heidene Virgilius ( V. 1910 ): der zû der bodeschaft erwelt / auch sunderlîch von gode was ( V. 1904 f. ). Selbst von Nebukadnezar wird gesagt: von gode hatte er dise kraft / daz er die hôhe bodeschaft / hât gekundet in die lant ( V. 1899–1901 ). Im Eingangsteil wird am Ende des Propheten- und Weissager-Kata27 28
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Young ( wie Anm. 20 ) S. 145. Ausgabe: Die Erlösung, hg. von Friedrich Maurer, Leipzig 1934 ( ND Darmstadt 1964 ); Ders., Art. <Erlösung>, in: Deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon 1, 1933, Sp. 582–585. Walter Haug, Die Sibylle und Vergil in der <Erlösung>, in: Hans Ulrich Gumbrecht ( Hg. ), Literatur in der Gesellschaft des Mittelalters, Heidelberg 1980, S. 71–94.
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logs auch auf die Heiden verwiesen: … der heiden etslîch / kam himelische bodeschaft / von des heiligen geistes kraft ( V. 1174–1176 ). Unter den Handschriften der Erlösung gab es mehrere Bilderhandschriften 30. Am vollständigsten erhalten ist eine in der Stadtbibliothek Nürnberg befindliche Papierhandschrift ( Ms. Solger 15.2°, datiert um 1465 ). Die Sibylle und Vergil sind beide ausgezeichnet durch eine farbige, gerahmte Miniatur, die zu Beginn des zugehörigen Textabschnittes in die Textkolumne eingefügt ist, auf fol. 111v die Sibylle, auf fol. 112v Vergil: die Sibylle jung und königlich, mit leuchtender Krone, Vergil mit aufwärts gewandtem ( visionärem? ) Blick, nach Kopfbedeckung und Gewand zu urteilen als Weiser konzipiert, so wie er im Text genannt ist ( in siner schrift der wîse las, V. 1906 ), erwählt von Gott. Im Text seiner Banderole ist er namentlich vorgestellt und verkündet ebenso wie bei seinem Auftritt in der <Erlösung> ( V. 1912 f. ) und unter Berufung auf die Sibylle das Kommen der Endzeit: tempora novissima venient. Bei der Sibylle hat sich der Schreiber offensichtlich vergriffen und ihr einen Text der tiburtinischen Sibylle aus der Octavianlegende gegeben, der bei der Erscheinung der Jungfrau mit dem Kinde am Himmel gesprochen wird: hic puer est, / cerne, te maior oc / taviane. 8. Maria als Thron Salomos: Vergil und Albumasar ( Abb. 47–48 und 55 ) Die Abbildungen stellen dar: eine Gesamtansicht, farbig ( Abb. 55 ), einen Ausschnitt der linken Seite mit Vergil und Sibylle ( Abb. 47 ), sowie einen Ausschnitt der rechten Seite mit Albumasar und Sibylle ( Abb. 48 ). Es handelt sich um ein westfälisches Altarbild aus dem Zisterzienserinnenkloster Beatae Mariae Virginis in Wormeln bei Warburg in Westfalen. Heute befindet es sich in den Staatlichen Museen zu Berlin 31. Es wurde mehrfach restauriert; links fehlt eine Leiste von etwa 18 cm, die irgendwann abgesägt wurde 32. Die ganze Darstellung ist voller Theologie und Theologen ( letztere aufgereiht mit mariologischen Sätzen in der obersten , von links nach rechts: Fulgentius, 30
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Friedrich Maurer, Überlieferung und Textkritik der Erlösung, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 68, 1931, S. 196–214; die Bilder ebd., S. 201 f.; Die Nürnberger Papierhandschrift, hg. von Dems., Anhang, S. 313 f.; Wilhelm Vöge, Jörg Syrlin der Ältere und seine Bildwerke, 2, Stoffkreis und Gestaltung, Berlin 1950 ( Bd. 1 ist nicht erschienen ), Abb. 47 und 48; Nürnberg, Stadtbibliothek, Bd. 1, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, Beschreibung des Buchschmucks: Heinz Zirrbauer, Wiesbaden 1965, S. 471. Staatliche Museen zu Berlin, Preuß. Kulturbesitz, Gemäldegalerie, Kat. Nr. 1844, Inv. Nr. 887; Dat.: Ende des 14. Jahrhunderts; Maße: H. 110, Br. 208. Wolfgang Eckhardt, Maria als Thron Salomonis, in: Westfälische Malerei des 14. Jahrhunderts ( Ausstellungskatalog Landesmuseum Münster ), hg. von Paul Pieper, Münster 1964, Nr. 96, S. 77–81. Hermann Eising, Die Predigt der Sibyllen, in: Alois Schröer ( Hg. ), Monasterium. Festschrift zum 700jährigen Weihegedächtnis des Paulus-Domes zu Münster, Münster 1966, S. 275–296, S. 281. Christoph Leidl, Der Seher Vergil, in: Niklas Holzberg – Friedrich Maier ( Hgg. ), Ut poesis pictura. Antike Texte in Bildern, 2, Bamberg 1993, S. 29–40; Konrad Schilling ( Hg. ), Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein ( Ausstellungskatalog und Handbuch ) Köln 1963; Ferdinand Piper, Maria als Thron Salomos und ihre Tugenden bei der Verkündigung, in einem mittelalterlichen Bilderkreise, insbesondere in einem Gemälde des christlichen Museums der Universität zu Berlin, in: Jahrbücher für Kunstwissenschaft 5, 1873, S. 97–137; Schiller, Ikonographie ( wie Anm. 9 ) S. 33–36, Abb. 256–259; Alfred Stange, Deutsche Malerei der Gotik, 2, Berlin 1936, S. 128 f., Abb. 163; Vöge, Syrlin ( wie Anm. 29 ).
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Beda und auf der rechten Seite Gregor der Große, Bernhard von Clairvaux, Augustinus ). Das Bild thematisiert und interpretiert die Inkarnation des Gottessohnes und seine Geburt aus einer reinen, tugendhaften Jungfrau, eben Maria. Deren besondere, der Situation entsprechenden Tugenden stehen personifiziert als Frauengestalten in der Mittelreihe. Die Ereignisse der Ankündigung der Geburt des Kindes durch den Engel und die Geburt im Stall sind in den beiden architektonisch durch Baldachine mit Maßwerk und freihändigen Konsolen abgegrenzten seitlichen Räumen links und rechts oben neben Maria szenisch vergegenwärtigt. Maria selbst steht nochmals beherrschend in der Mitte. Sie wird in diesem Bild auf eine sehr eigentümliche Weise als Gottesmutter verherrlicht. Ihr Erscheinungsbild hat kosmische Dimensionen und ist an die mysteriöse, meist als Ecclesia verstandene Frau aus der Johannesapokalypse ( Apoc 12 ) angeglichen. Sie trägt eine ( verblasste ) Sternenkrone ( Zwölfzahl? ) auf dem Kopf, steht mit den Füßen auf der nach unten gekehrten silbernen Mondsichel und mit dem Körper vor der goldenen Sonnenscheibe. Diese Gottesmutter erscheint hier mit ihrem Kinde stehend als Thron Salomos, gemeint ist der des wahren Salomo, und das ist bei Voraussetzung eines typologischen Bezuges zwischen Salomo und Christus dieser selbst. Im mittelhochdeutschen Epos ( V. 2215 ff. ) ist treffend vom Marientabernakel die Rede. Der Thron Salomos ist in den alttestamentlichen Geschichtsbüchern ( 1 Kg 10, 18–20; 2 Chron 9, 17 ff. ) eingehend beschrieben. Charakteristisch sind vor allem die sechs Stufen mit je sechs Löwen zu beiden Seiten, also insgesamt zwölf Löwen nach der Zahl der Stämme Israels. Sechs Stufen und zwölf Löwen sind auch in unserem Bild zu sehen. Aber die Löwen tragen jetzt Schriftbänder mit Sätzen aus dem christlichen Glaubensbekenntnis, dem so genannten <Apostolicum>, die namentlich den einzelnen Aposteln zugewiesen sind ( Beginn links unten mit Petrus und Credo in unum Deum ). Die Löwen repräsentieren also die zwölf Apostel. Damit kommt ein ekklesiologischer Zug in die ganze Konzeption. Der Thron Salomos, des Inbegriffs menschlicher Weisheit, galt schon früh als Bild für den Sitz oder das Haus, die Wohnung der Weisheit. Christus wird bereits im Neuen Testament ( Mt 12, 42 ) ausdrücklich über Salomo gestellt als die ewige göttliche Weisheit. Mit der Inkarnation nahm er in Maria Wohnung, sie wird dadurch zum Sitz oder Thron der Weisheit. Zugleich verweist sie auf die christliche apostolische Kirche. Die Gestalten der Gottesmutter, der ewigen Weisheit und der Ecclesia fließen in dieser komplexen Komposition somit zusammen. Unser Interesse muss aber auch und vor allem den vier noch gar nicht erwähnten paganen Gestalten auf dem Bild gelten. Es sind die zu beiden Seiten der apostolischen Löwen stehenden bärtigen Männer mit überlangen Spruchbändern und die beiden in der untersten Etage auf felsigem Boden sitzenden Frauengestalten mit streng gebundenen Kopftüchern und den üblichen Textbändern. Sie sind symmetrisch der Bildmitte zugewandt und weisen mit den Fingern auf Maria. Von den vier Gestalten sind drei namentlich bezeichnet, die beiden zur rechten Seite und die männliche auf der linken. Es ist , der die Verse 4 und 5 seiner Ekloge aufsagt, in denen von einem Cumaeum carmen und der Erneuerung der Zeit die Rede ist. Die zugehörige weibliche Figur, fraglos die entsprechende Sibylle, also die Cumana, fährt mit den Versen 6 und 7 fort, in denen die nova progenies angekündigt wird und mit dieser auch die Wiederkehr
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der ‚Jungfrau‘ und der Herrschaft Saturns ( iam redit et virgo, redeunt Saturnia regna ). Die wichtigsten Ankündigungen sind also der Sibylle zugeschrieben, sie ist auch die Inspiratorin Vergils. Ihrem Vergiltext ist noch ein zusätzlicher, wohl durch die Legenda aurea des Jacobus de Voragine vermittelter Spruch 33 zugefügt, der auf den Kreuzestod Christi und das Leiden verweist, das die Menschwerdung mit sich bringt. Er lautet: felix ille deus ligno qui pendet ab alto. In einer älteren, ursprünglich griechischen Fassung des Spruches gilt die Seligpreisung, wie erwartet, dem Kreuzesholz: O ter beatum lignum, in quo deus extensus est 34. Die andere Sibylle rechts unten im Bild ist durch Beischrift als Sibilla Samia ausgewiesen 35. Ihr Spruch ist fehlerhaft geschrieben, aber verständlich und theologisch gehaltvoll: veniet agnus celestus [ sic ], humiliabitur deus, iungetur divinitati humanitas [ et iacebit in feno agnus ] et puellari officio educabitur deus et homo. Der Hauptakzent liegt in diesem Spruch auf der Selbsterniedrigung Gottes durch die Menschwerdung und auf der daraus erwachsenden Vereinigung von ‚Gott und Mensch‘, die noch im letzten Satz in menschliche Alltäglichkeit wie die Versorgung des Kindes übergeht. Die eigentliche Attraktion ist jedoch Vergils weissagende Pendantfigur: der arabische Astrologe Albumasar 36 – so lautet die mittellateinische, aus dem arabischen Abu Ma’sar entstandene Namensform –, der im 9. Jahrhundert in der arabisch-islamischen Welt ( er ist geboren in Afghanistan, gestorben im Irak; seine Schule war Baghdad ) gelehrt und gewirkt hat. Er ‚zitiert‘ aus seiner in die Astrologie, dem Introductorium maius, das um die Mitte des 12. Jahrhunderts ( 1130 und 1150 ) wiederholt ins Lateinische übersetzt worden war 37, 33 34 35
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Hierzu Vöge, Syrlin ( wie Anm. 29 ) S. 163 f. mit Tabelle I. Oracula Sibyllina 6, 26 ( wie Anm. 15 ): „Du glückseliges Holz, an dem Gott einstens gehangen“. Zur Sibilla Samia s. Vöge, Syrlin ( wie Anm. 29 ) Tabelle I, Reihe f und Tabelle II, Sp. 4–6; vgl. Tabelle II, Sp. 1–3 ( als vaticinium der Sibilla Erithea ); Ausstellungskatalog, Landesmuseum Münster 1964, S. 78. Zu Albu Mashar: José Maria Millás, in: Encyclopaedia of Islam 1, 1960, S. 139 f.; Richard Lemay, Art. , in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1, 1971, S. 584–587. Angeführt sei hier noch die schöne Strophe aus dem Marienhymnus des Johannes von Garlandia ( verfasst 1248/49 ): ut Albumasar testatur / inter stellas declaratur / virgo lactens puerum ( v. 976–978 ). Dazu: The <Stella maris> of John of Garland, together with a study of certain collections of Mary legends made in Northern France in the twelfth and thirteenth centuries, hg. von Evelyn Faye Wilson ( The Mediaeval Acad. of America Publ. XLV ) Cambridge ( Mass. ) 1964; Gisela Hilder, Abu Ma’shars und der altfranz. , in: Zeitschrift für romanische Philologie 88, 1972, S. 22–33. Der Vorgang ist auch im Rosenroman ( V. 19163–19190, übers. von Karl August Ott ) erwähnt, zusammen mit Zitaten aus Vergils <Bucolica> und der Sibylle, die, so heiße es, ‚vom heiligen Geist unterrichtet war‘. Die beiden frühesten Übersetzungen ins Lateinische stammen von Johannes Hispalensis ( Jean de Séville) und Hermannus de Carinthia und liegen jetzt unter dem Titel in der großen kritischen Edition von Richard Lemay, Bd. 5 und Bd. 8, Neapel 1995, vor. Den arabischen Text hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts Karl Dyroff herausgegeben, mit dessen Unterstützung Franz Boll eine deutsche Übersetzung anfertigte, die er mit dem
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den Anfang des 6. Buches (6,1) über das Sternbild der Jungfrau (Virgo): In prima facie Virginis ascendet virgo pulcherrima honesta et mun(da) et sequitur 38 nutret [sic] puerum 39 quaedam gens vocat ihm (=jhesum). ‚Im ersten Dekan (= facie) der Jungfrau wird eine wunderschöne, ehrbare und reine Jungfrau aufgehen. Und es folgt: Sie nährt einen Knaben, <welchen> ein gewisses Volk (arab.: Plural – einige Völker) Jesus nennt.‘ 40 Das ist eine sensationelle Botschaft, aber sie wird wie wohlbegründetes Lehrbuchwissen dargeboten, was ihr den Anschein der Wissenschaftlichkeit verleiht. Mit der Aufnahme des gelehrten Astrologen Albumasar in die pagane Zeugenreihe ist diese um eine Autorität aus der arabisch-islamischen Welt bereichert. Vergil steht ihm an Rang nicht nach, zu deutlich sind beide auf gleicher Ebene und in weitgehender Symmetrie dargestellt. Es könnte aber sein, dass Vergil in diesem Kontext mehr als Philosoph gesehen ist. Jedenfalls ist er hier nicht wie so oft als poeta mit Höchstprädikat ( z. B. excellentissimus poetarum ) eingeführt. 9. Vergil unter den Astrologen ( Abb. 58 ) Auf dem Titelbild zu der Wiener Handschrift des 41 ist eine Versammlung von zwölf, zum Teil lebhaft gestikulierenden Astrologen und Philosophen bei der Betrachtung des Planetenhimmels dargestellt 42. Alle zwölf Personen sind durch Namensbeischriften bezeichnet, die leidlich lesbar, aber größtenteils nicht identifizierbar sind. Sie lauten: Librios, Nacharel, Virgilius, Nabor, Seneca, Zatoris, Alauo, Theodosi( us ), Ismahel, Putivar, Gedeon, Aristoteles 43. Umso mehr treten die wenigen bekannten hervor. Es sind vor allem Seneca ( Mitte rechts ), Aristoteles ( im Vordergrund links ) und Vergil ( teils über, teils hinter Aristoteles ), arrangiert um ein in der Bildmitte stehendes Lesepult, auf dem ein zum Betrachter arabischen Text in seinem Buch <Sphaera> veröffentlichte: Franz Boll, Sphaera. Neue griechische Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Sternbilder, mit einem Beitrag von Karl Dyroff, Leipzig 1903, ND 1967. Boll gab auch die mittelgriechische Übersetzung des Kapitels über die Jungfrau ( aus den <Mysteria> 3,21 ) heraus im Catalogus Codicum Astrologorum Graecorum 5,1, Brüssel 1904, S. 162 f. Das scheinbar störende et sequitur wird von Eising (wie Anm. 30) S. 281 Anm. 24, einleuchtend erklärt als „die technische Angabe über eine Auslassung im Zitat“, die hier abgekürzt verwendet ist. Die volle Formel et sequitur post pauca findet sich in den von Vöge, Syrlin (wie Anm. 29) Tabelle III, Sp. 3–5, zusammengestellten Zitaten. – Den Hinweis auf diese Erklärung verdanke ich Wolfgang Hübner (brieflich). Das Wort quem ist hier offensichtlich ausgefallen. In den anderen drei Zitierungen dieser Stelle ist es vorhanden. Vgl. Vöge, Syrlin ( wie Anm. 29 ). Weitere Varianten ebd., Tab. 3,2–5. Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Ser. nov. 2652, fol. 2r ( Ende 14. Jahrhundert ); Faksimile-Ausgabe: Losbuch in deutschen Reimpaaren. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis series nova 2652 der Österreichischen Nationalbibliothek, hg. von von Werner Abraham ( Codices selecti 38 ) Graz 1972/1973; Otto Mazal, Die Sternenwelt des Mittelalters, Graz 1993, Farbtafel 26 mit S. 85. Auf fol. 2v ist eine entsprechende Gruppe von 12, zumeist aus dem Alten Testament bekannten jüdischen Astrologen und Propheten zusammen gestellt. Fol. 1v enthält eine Liste mit 72 Namen. Unter diesen finden sich alle auf den beiden ganzseitigen Miniaturen ( fol. 2r und v ) vorkommenden Personen. Sie galten offenbar als Urheber der Orakelverse. In manchen Versen werden sie genannt ( ‚wie [ Name ] verkündete‘ ), dann steht der Name rot auf dem Rand wiederholt. Auf der Farbreproduktion der ganzseitigen Eingangsminiatur fol. 2r ist bei Otto Mazal ( Tafel 26 ) der untere Rand des Blattes so beschnitten, dass links unten drei Namen weggefallen sind: Putivar, Gedeon und Aristoteles. Vgl. dagegen Vöge, Syrlin ( wie Anm. 29 ) Abb. 46 ( auf S. 113 ).
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gekehrtes aufgeschlagenes Buch liegt, in dem rechts oben deutlich die Worte Gedeon in luna zu lesen sind. Seneca scheint vorzulesen und zu erläutern, Aristoteles gibt die Botschaft dozierend weiter an den neben ihm sitzenden erschreckt wirkenden Gedeon. Dahinter peilt Vergil mit einem Sextanten den Planeten Saturn an, womit seine Ankündigung redeunt Saturnia regna aus der 4. Ekloge evoziert ist. Vergils Aufnahme unter die Astrologen entspricht ganz dem eingangs skizzierten spätantiken Vergilbild, nämlich der Vorstellung eines allwissenden, in den artes und sämtlichen wissenschaftlichen Disziplinen kundigen Dichters. Zu den artes liberales gehört auch die Astrologie bzw. Astronomie 44, und die antiken Kommentatoren haben nicht versäumt, auf deren Vorhandensein im Werk Vergils hinzuweisen. Fulgentius ( Virg. cont. p. 84, 9 ) zum Beispiel bemerkt zu den Georgica: primus ( sc. liber ) vero georgicorum est omnis astrologus, und Macrobius ( Sat. 1, 24, 18 ) bewundert, wie geschickt und kompetent Vergil die ‚Astrologie und gesamte Philosophie‘ ( astrologia totaque philosophia ) in sein Werk eingearbeitet habe 45. 10. Vergil in der Genesis-Initiale der Merseburger Bibel ( Abb. 49 und 56–57 ) Zu den Schätzen des Domstiftes in Merseburg gehört eine großformatige dreibändige Bibel (Bibl. Hs 1) 46. Sie wird eingeleitet durch eine ganzseitige Miniatur (fol. 9r), in deren Mittelfeld die Initialbuchstaben des ersten Wortes der Genesis, also IN (erweitert auch zu IN PRINCIPIO), kunstvoll verschränkt dargestellt sind, kombiniert mit einer aufsteigenden Leiste aus sieben nach oben geöffneten Medaillons mit Schöpfungsszenen. Den Anfang bildet das FIAT LUX in der untersten Zone. In dem breiten äußeren Rahmen sind in sechs herausragenden Medaillons Szenen aus der Entstehungsgeschichte der einzelnen Bibelversionen dargestellt, angefangen bei dem nach Diktat schreibenden Mose (oben links) bis zur Übergabe der Vulgata an Papst Damasus durch Hieronymus (unten rechts). Die Zwischenräume sind ausgefüllt durch paarweise angeordnete Halbfiguren, die sich als Verfasser einzelner biblischer Bücher vorstellen (Abb. 49). In der untersten Zone, in deren Mitte der erste Schöpfungsakt kraft des göttlichen FIAT LUX erfolgt ist, agieren vier heidnische Philosophen, aufgeteilt in zwei disputierende Paare, durch Namensbeischriften ( jeweils links in Kopfhöhe ) eindeutig identifizierbar: zur linken Seite Platon und Aristoteles, zur rechten die Lateiner Virgilius und Ovidius. In allen vier Spruchbandtexten kommt das Wort PRINCIPIUM vor. 44
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Die Begriffe und waren damals nicht scharf gegeneinander abgegrenzt. Sie wurden weithin synonym gebraucht, auch bei der Bezeichnung der Himmelskunde der artes liberales. Im Ganzen scheint der Ausdruck astrologia bevorzugt gewesen zu sein. Siehe Wolfgang Hübner, Die Begriffe und in der Antike. Wortgeschichte und Wissenschaftssystematik mit einer Hypothese zum Terminus „Quadrivium“ ( Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse / Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz 7 ) Mainz 1989, passim, zumal S. 31–40. – Wolfgang Hübner habe ich für hilfreiche Hinweise und Auskünfte sehr zu danken. Vgl. auch Seneca, epistulae morales 88,14; Servius, georg. 1,229. Detlef Doering, Aus Merseburger Handschriften ( Gabe des Vereins zur Erhaltung der Denkmäler der Provinz Sachsen für 1900 ) Magdeburg 1901; Hermann Deckert, Dom und Schloß zu Merseburg, Burg bei Magdeburg 1935; Alfred Stange, Beiträge zur Sächsischen Buchmalerei des 13. Jahrhunderts, in: Münchener Jahrbuch der Bildenden Kunst, NF 6, 1929, S. 328–330; Maria Glaser, Die Merseburger Bibel, Diss. München 1996 ( nur Mikrofiche ) und Diss. München 1998 ( mit reichem Angebot an Texten und Forschungsliteratur ).
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Dieses zeigt offensichtlich den Hauptgegenstand der dargestellten philosophischen Disputation an, nämlich die damals theologisch hoch aktuelle und entsprechend kontroverse Prinzipienlehre und die mit dieser verbundene( n ) Schöpfungslehre( n ). In diesen Zusammenhang gehört auch die Timaios-Exegese, bei der passende Vergilzitate sehr willkommen waren 47. Die Texte auf den Spruchbändern sind an mehreren Stellen nicht mehr genau lesbar. Bei Platon zum Beispiel lasen Doering und Stange PRINCIPIA OMNIUM ADMIROR mit der Übersetzung ‚Ich bewundere die Anfänge alles Seins‘. Maria Glaser dagegen tritt entschieden für die Lesung PRINCIPIUM OMNIUM ADMIROR ein; wohl zu Recht. Auch bei Aristoteles gibt es Differenzen. DUO SUNT PRINCIPIA – ‚Zwiefach sind die Quellen des Seins‘, so Doering und Stange, dagegen Maria Glaser DUO FECIT PRINCIPIA. Bei Vergil und Ovid stehen Kurzfassungen 48. Vergil hat PRINCIPIO CELUM, Ovid hat PRINCIPIO TERRAM. Insgesamt sind hier als die beiden in der griechischen Welt führenden paganen Philosophen versammelt, Platon und Aristoteles, und, in Entsprechung zu diesen beiden, zwei Repräsentanten der als gottnah geltenden Dichter und Weisen, die Lateiner Virgilius und Ovidius. Als Repräsentanten der gentes befinden sie sich im . Aber sie kommen zu Wort und werden gehört und akzeptiert als Autoritäten mit hoher Zeugenqualität. Diese Einschätzung wurde von aufgeschlossenen Theologen wie Thierry von Chartres 49, Abaelard und früheren ( zum Beispiel Christian von Stablo ) zurückgeführt auf die Möglichkeit einer partiellen Teilhabe an der Wahrheit oder, anders formuliert, einer stufenweisen Erkenntnis des Schöpfergottes. Christian von Stablo hat sich in seinem etwa 865 verfassten Matthäuskommentar 50 ( expos. in Matth. 46, zu Mt 29 f. ) zur möglichen Erkenntnisleistung der gentes mit klaren Worten geäußert: ‚Die Juden wussten etwas vom Schöpfer durch das Gesetz und die heidnischen Philosophen ( gentilum philosophi ) erkannten durch natürliche Wissenschaft den Schöpfer des Himmels‘, es folgt Entsprechendes über Platon, je ein Zitat aus Vergil und der Sibylle, und nochmal: ‚Die Juden hörten durch die Propheten, auch die Heiden waren nicht in allem unwissend, sondern ihre Weisen haben ähnlich prophezeit‘ 51. Das mag genügen. Ite domum saturae, venit Hesperus, ite capellae. *** 47
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In Frage kommen in diesem Kontext vor allem die Aeneisverse 6,724–726, ferner georg. 2,35 und Aen. 4,221. Doering, Stange und Glaser wie Anm. 45. Empfehlenswert vor allem: Thierry ( Theoderich ) von Chartres, De sex dierum operibus, im Beitrag von Nikolaus M. Häring, Die Erschaffung der Welt und ihr Schöpfer nach Thierry von Chartres und Clarenbaldus von Arras, in: Werner Beierwaltes ( Hg. ), Platonismus in der Philosophie des Mittelalters ( Wege der Forschung 197 ) Darmstadt 1969, S. 160–267, S. 241 f. Christian von Stablo, Expositio in Matthaeum 46, Migne PL 106, Sp. 1427, zu Mt 29 f. Übersetzung nach Joannes Maria Pfättisch, Der prophetische Charakter der 4. Ekloge Vergils bis Dante, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 139, 1907, S. 637–646 und 734–751, S. 739.
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ANHANG:
T. 1 Servius in Aen. 6,719: Loquitur quidem poetice …, tangit tamen quod et philosophi dicunt … Miscet philosophiae figmenta poetica et ostendit tam quod est vulgare, quam quod continet veritas et ratio naturalis. Nam secundum poetas hoc dicit …, secundum philosophos hoc dicit … T. 2 Servius in Aen. 6: Totus quidem Vergilius scientia plenus est, in qua hic liber possidet principatum … et dicuntur aliqua simpliciter, multa de historia, multa per altam scientiam philosophorum, theologorum, Aegyptiorum. ‚Der ganze Vergil ist voll gelehrten Wissens, worin dieses Buch den ersten Platz einnimmt …, in welchem einiges einfach gesagt ist ( d. h. ohne tieferen Hintersinn ), vieles aus der Geschichte kommt ( d. h. der historischen Instruktion dient ) und vieles dem tiefen Wissen der Philosophen, Theologen und Ägypter entspricht.’ T. 3 Macrobius: Sat. 1,16,12: Maro omnium disciplinarum peritus; 1,24,1 ff., bes. 10: operis sui multiplex doctrina; 5,2,2 u. ö. Vgl. somn. 1,6,44: nullius disciplinae expers; 1,15,12: disciplinarum omnium peritissimus; 2,8,1: Vergilius, quem nullius umquam disciplinae error involvit; ib. 8: quem constat erroris ignarum. T. 4 Macrobius, somn. 1,9,8: Hoc et Vergilius non ignorat, qui, licet argumento suo serviens heroas in inferos relegaverit, non tamen eos abducit a caelo, sed aethera his deputat largiorem, et nosse eos solem suum ac sua siderea profitetur, ut g e m i n a e d o c t r i n a e observatione praestiterit e t p o e t i c a e f i g m e n t u m e t philosophiae veritatem. T. 5 Macrobius: Somn. 1,2,11: sub pio figmentorum velamine; vorher: per figmenta vera referre. Über Homer, ib. 2,10,11: Homerus, divinarum omnium inventionum fons et origo, sub poetici nube figmenti verum saptientibus intelligi dedit. – Vgl. auch Sat. 1,24,1 ff., bes. 12–14. T. 6 Fulgentius, Virg. cont. p. 102 f. ed. Helm Denique ipsum nomen Anchisae considera; Anchises enim Grece quasi ano scenon, id est patrium habitans; unus Deus enim pater, rex omnium, solus habitans in excelsis, qui quidem scientiae dono monstrante conspicitur. Nam et vide quid filium docet: P r i n c i p i o c a e l u m a c t e r r a m camposque liquentes / lucentemque globum lunae Titaniaque astra / s p i r i t u s i n t u s a l i t ( Aen. 6,724 ff. ) … Es folgt die Erwähnung der Reinkarnationslehre, bei der der Zuhörer ( = Fulgentius ) den Exegeten ( = Vergil ) anfährt: … itane tuum clarissimum ingenium tam stultae defensionis fuscare debuisti caligine? Tune ille qui dudum in bucolicis mystice persecutus dixeras: I a m r e d i t e t v i r g o , r e d e u n t S a t u r n i a r e g n a ; i a m n o v a p r o g e n i e s c a e l o p r o m i t t i t u r ( d e m i t t i t u r ) a l t o ( Verg., ecl. 4,6 f. ). Vergil erwidert: … paganus non essem; nullo enim omnia vera nosse contingit nisi vobis, quibus sol veritatis inluxit.
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PETRA KORTE
Christlicher Hades und vergilisches Fegefeuer. Die antike Unterwelt in der mittelalterlichen Rezeption I.
In seinem 1924 erschienenen Roman lässt Thomas Mann den Protagonisten Hans Castorp in ein Sanatorium hoch in den Schweizer Alpen reisen. Gleich an seinem ersten Morgen dort veranschaulicht ihm einer der Patienten, ein gewisser Herr Settembrini, seine Sicht ihrer Lage: Er erkundigt sich, wie viele Monate des Auskurierens die Sanatoriumsärzte, von Settembrini scherzhaft nach den Unterweltrichtern Minos und Radamanth genannt, dem Neuankömmling Castorp verordnet hätten. Auf dessen Erklärung, er sei völlig gesund und besuche nur seinen Vetter, ruft Settembrini aus: „Potztausend, Sie sind nicht von den Unsrigen? Sie sind gesund, Sie hospitieren hier nur, wie Odysseus im Schattenreich? Welche Kühnheit, hinab in die Tiefe zu steigen, wo Tote nichtig und sinnlos wohnen.“ 1 Hier wird er von Castorp unterbrochen, dem angesichts der Höhenlage des Sanatoriums diese Metaphorik – wahrscheinlich ebenso wie dem Leser – als verfehlt erscheint. Doch weder der Charakter Settembrini, ein hochgebildeter Literat, noch der Autor sind verdächtig, diesen Vergleich mangels besserer Alternativen zu bemühen 2. Was den betrifft, so ist dies nur ein dezenter erster Anklang des roten Fadens Unterwelt, die im Verlauf mehrfach als Referenz für das der Realität im Flachland enthobene Sanatorium und seine Gesellschaft dient und auf Hans Castorps Schneetraum als Höhepunkt zusteuert. Was den Schriftsteller Mann angeht, begegnet der Unterwelt-Topos auch in anderen seiner Werke, so z. B. in der Tetralogie <Josef und seine Brüder>, begonnen 1926. Etliche Motive des biblischen Stoffs sind in dieser Bearbeitung explizit als Unterwelt ausgewiesen wie die Grube, in die die Brüder Josef werfen, das untere Land Ägypten und Josefs Gefängnis 3. Thomas Manns Oeuvre liefert nur einige von vielen Belegen für die Langlebigkeit des antiken Unterwelt-Motivs. Weitere finden sich beispielsweise bei T. S. Eliot, Derek Walcott, Jorge Luis Borges oder Thomas Pynchon 4; James Joyce gestand der epischen
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Thomas Mann, Der Zauberberg, Berlin 1924, ND Stuttgart o. J., S. 77. Dies stellt Mann in einer Einführung in den Zauberberg für Studenten der Universität Princeton klar, ebd., S. 14.: „‚Zum Leben‘, sagt einmal Hans Castorp zu Madame Chaucat, ‚zum Leben gibt es zwei Wege: der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg.‘ Diese Auffassung von Krankheit und Tod, als eines notwendigen Durchganges z u m W i s s e n [meine Hervorhebung ], zur Gesundheit und zum Leben, macht den zu einem Initiationsroman“. Isabel Platthaus, Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne, München 2004, S. 213. Ebd., S. 212 ff.
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Tradition noch einmal so viel Autorität zu, dass er das sechste Kapitel seines zu einer Hadesfahrt gestaltete – die in Form eines Dubliner Leichenzugs das gesamte Personal der antiken epischen Unterwelt begegnen lässt –, um sie noch im selben Werk an späterer Stelle zu dekonstruieren 5. Bis zur kopernikanischen Wende hatte die Existenz der Unterwelt oder zumindest ihre Möglichkeit nicht in Frage gestanden; spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber war diese Annahme ad acta gelegt und das Konzept endgültig in die Metaphorik überführt. Dennoch hatte es offenbar nichts von seiner Attraktivität verloren. Den zu Beginn genannten Vertretern der modernen Literatur mag auch Sigmund Freuds Engführung von Psychoanalyse und Reise des epischen Helden die Anschlussfähigkeit des antiken Topos noch einmal aufgezeigt haben. Freud hatte u. a. seinem Werk programmatisch das Vergil-Zitat Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo 6 vorangestellt, mit dem in der Juno die Kräfte der Unterwelt für ihre Interessen zu mobilisieren ankündigt, eine durchaus mehrdeutige Programmatik: Einerseits das Unterbewusste in der Rolle der Juno als Agitatorin, andererseits der Psychoanalytiker als der epische Held, der den Abstieg antritt. Der allegorische Sinngehalt der Unterwelt, ihre Funktionalität innerhalb einer narrativen Strategie, vielleicht sogar die Qualitäten eines Archetyps machen ihre Attraktivität für die rationalistische Moderne plausibel und scheinen ihre dauerhafte Aktualität also vollkommen zu erklären. So wird auch verständlich, weshalb innerhalb der letzten gut zwei Jahrzehnte eine ganze Reihe von Untersuchungen sowohl aus literaturwissenschaftlicher als auch kulturhistorischer Perspektive dem Unterwelt-Komplex gewidmet wurde 7 – aber umso bemerkenswerter ist es, dass kaum eine Publikation die Kontinuität der mittelalterlichen Unterweltrezeption berücksichtigt, sondern fast alle die Tradition erst mit Dante wieder einsetzen lassen 8. Der starken Präsenz der antiken Unterwelt in der Kommen5
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In Kapitel 15,, das in seiner netzartigen Erzählstruktur die herkömmliche narrative Organisation konterkariert, vgl. Platthaus ( wie Anm. 3 ) S. 15 f. und 156 ff. Aeneis, in: P. Vergili Maronis Opera, hg. von Roger A. B. Mynors, Oxford 1969, S. 103–422, 7,312, S. 265. Beispielsweise Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main 1989; Evans Lansing Smith, Rape and Revelation. The Descent to Underworld in Modernism, Lanham – London 1990; Richard lehan, Cities of the Living / Cities of the Dead: Joyce, Eliot, and the Origins of Myth in Modernism, in: The Modernists. Studies in a Literary Phenomenon, hg. von Lawrence B. Gamache – Ian s. MacNiven, Rutherford 1987, S. 61–74; Wendy Lesser, The Life below the Ground. A Study of the Subterranean in Literature and History, Boston – London 1987; Platthaus ( wie Anm. 3 ); Ronald R. MacDonald, The Burial-Places of Memory – Epic Underworlds in Vergil, Dante and Milton, Amherst 1987, Rosalind Williams, Notes on the Underground – An Essay on Technology, Society, and the Imagination, Cambridge ( Mass. ) – London 1990. David L. Pike, Passage through Hell. Modernist Descents, Medieval Underworlds, Ithaca – London 1997. Pike konzentriert sich auf den seiner Meinung nach in der Moderne häufig überbetonten gegenseitigen Ausschluss von Fakt und Fiktion ( oder von Mythos und Geschichte ) in einer auf Bekehrung des Lesers ausgerichteten, christlich-autobiographischen Descensus-Rezeption, ebd., S. 21: „It becomes an issue of theology versus art, of religious versus literary texts: either the Confessions is inspired Christian doctrine or it is the first work of literary autobiography; either Dante thought he was a divinely inspired prophet or he thought he was a poet imaginatively rendering an allegory. Now, this either/or choice is inherited to a large degree from modernist renderings of the past and obscures the fact that these allegories of conversion are constructed out of the force field created between the extremes of fiction and theology [ … ]. This becomes clear with a closer look at the medieval construction of those
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tierung und Dichtung von der Spätantike bis ins Spätmittelalter wird eine solche Betrachtungsweise kaum gerecht, zumal damit auch die Voraussetzungen zum wirklichen Verständnis Dantes und anderer nicht gegeben sind. Allerdings ist anzumerken, dass die Forschung innerhalb des mythologischen Motivkomplexes die Einzelmotive unterschiedlich stark beachtet hat. Am besten dokumentiert ist das Fortleben des Orpheus-Mythos in allen Epochen 9, kaum hingegen die mittelalterliche Rezeption des Raubs der Proserpina. In der literarischen Rezeption liegt der Schwerpunkt deutlich auf dem Motiv der katábasis, dem Unterwelt- oder Höllengang, der, obgleich wiederum aus Einzelelementen synthetisiert, durchaus als geschlossenes Motiv zu betrachten ist. Spätantike und Mittelalter hatten dafür Vergils Darstellung im sechsten Buch der als autoritativ angesehen, doch trat die auctoritas Vergil spätestens mit dem Originalitätsanspruch des Sturm und Drang hinter Homer zurück und galt nur mehr als Epigone. Für die moderne Rezeption des Unterweltgangs dürfen Homer, Vergil und Dante schließlich als gleichrangig angesehen werden. Während das Desiderat einer Behandlung der mittelalterlichen katábasis-Tradition in den komparatistisch ausgerichteten Untersuchungen moderner Sprachen bisher nicht festgestellt wurde, hat seitens der Klassischen Philologie Andrew Laird vor rund einem Jahrzehnt die fehlende Forschung zur literarischen Wirkungsgeschichte speziell der vergilischen Unterwelt beklagt und einen ersten Versuch unternommen, die Lücke zu füllen, beschränkte sich allerdings auf sehr wenige Beispiele 10. Selbst in der neuesten Publikation zur vergilischen Wirkungsgeschichte „The Virgilian Tradition. The first fifteen hundred Years“ 11, einem umfangreichen Repertorium in der Nachfolge von Domenico Comparettis Standardwerk „Virgilio nel medio evo“ 12, fällt mit nur zwei Testimonien die katábasis gegenüber anderen Motiven und Figuren deutlich ab. Obgleich eine im engeren Sinne literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Fortleben der vergilischen Unterwelt im Mittelalter also erst vor relativ kurzer Zeit angezeigt wurde, ist ihr Einfluss auf die christliche Konzeption von Hölle und Fegefeuer schon lange benannt 13, wenn auch nicht eingehend bearbeitet.
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two leaps as the tension between two modes of allegory.“ Allerdings beschränken sich auch bei ihm die Vertreter der christlich-mittelalterlichen Adaptation auf Augustinus, Bernardus Silvestris und Dante. Für das Mittelalter beispielsweise John B. Friedman, Orpheus in the Middle Ages, Cambridge ( Mass. ) 1970; Klaus Heitmann, Typen der Deformierung antiker Mythen im Mittelalter. Am Beispiel der Orpheus-Sage, in: Romanistisches Jahrbuch 14, 1963, S. 45–77. Andrew Laird, The Poetics and Afterlife of Virgil’s Descent to the Underworld: Servius, Dante, Fulgentius and the Culex. A paper given to the Virgil Society on 12. February 2000, in: Proceedings of the Virgil Society 24, 2001, S. 49–80, S. 49: „This is a common failing among historians of literary tradition and sociologists of literature, who often assume that researching into the fortunes of an ancient text in later times does not require close engagement with its contents.“ The Virgilian tradition. The first fifteen hundred years, hg. von Jan M. Ziolkowski – Michael C. J. Putnam, New Haven – London 2008. Domenico Comparetti, Virgilio nel medio evo, Livorno 1872; im Weiteren in der englischen Übersetzung verwendet: Ders., Vergil in the Middle Ages, Princeton 1997. Z. B. Pierre Courcelle, Les Péres de l’Église devant les Enfers Virgiliens, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 30, 1955, S. 5–74; Jacques Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers, München 21991, S. 36 ff.; Colin M. Wells, Aeneas in Purgatory, in: Howard Jones – Alexander G. McKay – Robert M. Wilhelm ( Hgg. ), The two Worlds of the Poet. New Perspectives on Vergil, Detroit 1992, S. 179–188.
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Eine Untersuchung des Fortlebens der antiken mythologischen Unterwelt im Mittelalter 14 kann sich zwar nicht ausschließlich auf die Wirkungsgeschichte des sechsten Buchs der beschränken, muss sie aber doch in ihr Zentrum stellen; kein anderer Text hat das Mittelalter so ausführlich über Personal und Topographie des Hades informiert, zumal auch die zugehörige spätantike Kommentierung überliefert wurde und eine feste Größe in der mittelalterlichen Schullektüre bildete. Dem damaligen Leser wird Vergils epische Ausgestaltung des Unterweltgangs ( das Motiv selbst war immerhin auch durch den Orpheus- oder Herkules-Mythos vertraut ) originell erschienen sein, denn im lateinischsprachigen Westeuropa war Vergils großes Vorbild Homer nur durch die und durch verschiedene Trojadichtungen bekannt. Die nekyia des Odysseus war dagegen kein Begriff. Dabei wurde für die moderne Literaturwissenschaft gerade die nekyia, das des elften Buchs der , zum Schlagwort und zur Bezeichnung für das mythische Motiv eines Unterweltgangs, wie er in allen antiken Kulturen des Nahen Ostens und des Mittelmeerraums verbreitet war. In einer steigt ein Gott, Halbgott oder Mensch in die Unterwelt hinab, um wie Odysseus oder Aeneas Erkenntnis über die Zukunft zu erlangen oder um wie Orpheus, Pirithous und Theseus, Herkules oder Christus jemanden von dort zu befreien und so die Macht des Ortes und seines Herrschers zu brechen. Genau hier liegt die Besonderheit mittelalterlicher Unterweltgänge: Eine reine imitatio in Form eines Hadesabstiegs verbot sich für einen mittelalterlichen, christlichen Autor; die Gründe hierfür werden im Folgenden erläutert. Stattdessen ist die mittelalterliche Verarbeitung des Abstiegsmotivs durch die spätantike Kommentartradition gefiltert und durch deren ausgiebige mittelalterliche Fortführung geprägt. Es ist daher sinnvoll, hier nicht mehr von einer zu sprechen, sondern – mit dem Terminus der Kommentare – vom descensus. Der Unterschied liegt in der Verständnisebene: Ist die Nekyia der Wortlaut der Erzählung, so baut der Descensus bereits auf dessen übertragener Ausdeutung auf. Der Unterweltgang des Hans Castorp stellt daher ebenso wenig wie der Hades des eine bloße weitere Variante des antiken mythologischen Motivs dar, sondern das Produkt der allegorischen Deutungstradition. Oder anders gesagt: Der Schauplatz einer Nekyia ist notwendig das Totenreich, der eines Descensus je nach Bedarf ein Schweizer Bergsanatorium, Dublin o. ä. Eben dies ist die Schwachstelle der oben genannten Publikationen: Sie ignorieren den Einfluss mittelalterlicher Hermeneutik auf die spätere Unterweltrezeption. Doch gerade ihr enormes Deutungspotenzial hebt die mythologische Unterwelt von allen anderen Mythologemen ab ( und lässt ihr damit eine Sonderstellung in der Mythenrezeption zukommen ), sicherte ihr eine kontinuierliche Rezeption und macht sie auch für die moderne Literatur verwertbar und interessant. Die Entwicklung dieses Deutungspotenzials vollzog sich allerdings schon lange vor Homer. In den ältesten schriftlichen Bearbeitungen des Themas, die den altorien14
Die Wirkungsgeschichte der antiken Unterwelt in der mittelalterlichen Dichtung nachzuzeichnen ist das Ziel meiner Dissertation, die derzeit unter dem Arbeitstitel „Die antike Unterwelt in der lateinischen Dichtung des Mittelalters“ am Seminar für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter der Betreuung von Prof. Dr. Christel Meier-Staubach entsteht.
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talischen Mythologien entstammen, ist zwar ein wichtiger Bestandteil, die Gleichsetzung von Unter- und Totenwelt, schon gegeben, zumal sie bereits ein fest umrissenes Handlungsschema des Unterweltgangs kennen 15, doch handelt es sich zumeist um aitiologische Erzählungen zur Vegetations- und Jahreszeitenzyklik oder zum Zuständigkeitsbereich eines Gottes. Hier steht nicht unbedingt der furchteinflößende Charakter des Totenreichs im Vordergrund, sondern wird in verschiedener Weise die enge Verknüpfung von Vergehen und Wieder- oder Neuentstehen zum Ausdruck gebracht. Im sumerischen Mythos vom Unterweltgang der Fruchtbarkeitsgöttin Inanna 16 ( Anfang zweites Jahrtausend v. Chr. ) stockt die Fortpflanzung auf der Erde, solange die Unterweltgöttin Ereschkigal ihre Schwester Inanna – von allen Insignien ihrer Macht entblößt und damit w i e eine Tote – in ihrem Reich festhält. Um wieder zur Oberwelt zu gelangen, muss Inanna ein Pfand stellen; die Wahl fällt auf ihren Geliebten DumuziTammuz, der fortan sein Dasein in der Unterwelt fristet, jedoch jedes halbe Jahr von seiner Schwester Geschtinanna abgelöst wird und ans Licht zurückkehrt 17. Der jüngere, in unterschiedlichen Entwicklungsstufen überlieferte Stoff um das unterweltliche Herrscherpaar Ereschkigal und Nergal ( vor 1200 v. Chr. 18 ) enthält ebenfalls Fruchtbarkeitsmotivik in Form der Liebesgeschichte und Vereinigung der beiden Gottheiten. Nergal, der in einer seiner Funktionen als Vegetationsgott dem griechischen Pluton nahesteht 19, wird in dieser Aitiologie von einem Oberweltgott auch zum Herrscher der Unterwelt. In den ugaritischen Texten über den Unterweltgang des Ba’al ( um 1500 v. Chr. 20 ) scheint im Tod des Protagonisten, der von seinem Kontrahenten Mot verschlungen wird, und seiner Wiedererweckung nach Mots Tod und Zerreißung ein vegetationszyklisches Motiv ähnlich dem des Dumuzi-Tammuz-Mythems auf 21. Dieser archaisch anmutende Unterweltaspekt bleibt mit dem Mythos vom Raub der Persephone/Proserpina und den damit verbundenen Kulten auch in der griechisch-römischen Antike aktuell 22. 15
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Vgl. Manfred Hutter, Altorientalische Vorstellungen von der Unterwelt. Literar- und religionsgeschichtliche Überlegungen zu „Nergal und Ereˇskigal“, Freiburg/Schweiz 1985, S. 148 ff., besonders S. 150; 154 f. Bzw. nach akkadischer Version der Göttin Ischtar. Das Gilgamesch-Epos, eingeführt, rhythmisch übertragen und mit Anmerkungen versehen von Hartmut Schmökel, Stuttgart u. a. 61984, S. 63, Anm. 1.: „[ … ] nach Art eines Vegetationsgottes“. Hutter ( wie Anm. 15 ) S. 55 f. Ebd., S. 70 Anm. 15. Ebd., S. 132. Auch wenn von einer rein funktionellen Lesart aufgrund der problematischen Textgenese abzusehen ist, ebd., S. 133. Etwa zeitgleich – in der überlieferten Form von 1300 v. Chr. – bietet außerhalb des mesopotamischen Raums der hethitische Mythos um den Getreidegott Kumarbi, der von Teˇssˇop in die Unterwelt gestoßen wird und damit wahrscheinlich die Aussaat verkörpert, ein weiteres Beispiel von mythologisch verarbeiteter Vegetationszyklik. Kumarbi, der seinem Kontrahenten Anu die Genitalien abbeißt und, von dessen Sperma geschwängert, seinen mächtigen Nachfolger, den Wettergott Teˇssˇop gebiert, wirkte in Gestalt des Kronos in Hesiods Theogonie und damit der griechischen Mythologie nach, vgl. Volkert Haas, Geschichte der hethitischen Religion ( Handbuch der Orientalistik Abt. 1, 15 ) Leiden 1994, S. 83, Anm. 16; 84 ff. Jane Ellen Harrison, Prolegomena to the Study of Greek Religion, Cambridge 21908, S. 121 ff., geht aus von einer aitiologischen Entstehung des Persephone-Mythos zur Erklärung der Bestandteile eines etablierten chthonischen Kults, deren ursprüngliche Bedeutungen nach Jahrhunderten nicht mehr nachvollziehbar waren.
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Die eindrücklichste Auseinandersetzung mit dem Jenseits bietet in der Frühzeit das Gilgamesch-Epos, eine geschickt verknüpfte Kompilation verschiedener babylonisch-sumerischer Einzelmythen aus dem dritten Jahrtausend v. Chr., die Anfang des zweiten Jahrtausends auf zwölf Steinplatten fixiert wurde. Sicherlich sind ihre JenseitsSequenzen keine direkten Vorläufer der Tradition des allegorisch ausdeutbaren Motivs des Unterweltgangs zu nennen. Trotzdem lohnt ein genauerer Blick, denn viele charakteristische Erzählelemente sind hier bereits gegeben. Die Wirkmacht des Stoffes ist nicht zu unterschätzen, er war als Schultext zum Erlernen der Keilschrift im Nahen Osten weit verbreitet und wirkte nachweislich auf das Erzählgut anderer Völker ein. Dreimal begegnet das Jenseits im gesamten Werk unter einer jeweils anderen vorherrschenden Perspektive, und gleich die erste dieser Darstellungen unterscheidet sich gravierend von den vorgenannten Beispielen: Enkidu, der Gefährte Gilgameschs, liegt im Sterben, als ihm ein böser Traum die Totenwelt vor Augen führt. Sie ist das von dämmriger Dunkelheit geprägte ‚Haus des Staubs‘ 23, aus dem es für den Menschen keine Rückkehr gibt 24, in dem die Totenseelen Vogelgestalt besitzen und die im einstigen Leben Mächtigen ihren Status ( einstmals manifest in ihren Insignien, nun durch deren Fehlen ) verlieren, um den Unterweltgottheiten zu dienen 25. Enkidus Gram über den nahenden Tod, das Hadern mit seinem Lebensweg und der Schrecken über sein Traumgesicht zeigen, dass hier nicht wie in den übrigen Beispielen eine Gottheit in mythologisch-distanzierender Reflexion eines rudimentär animistischen Weltbildes agiert. Stattdessen erhält die zutiefst menschliche Furcht vor dem Tod und dem Danach ihr Ventil. Die Verzweiflung angesichts des Unabwendbaren und die Auflehnung gegen das Schicksal, die nach Enkidus Tod auf Gilgamesch übergehen, bestimmen als Grundmotive den weiteren Handlungsverlauf des Epos. Doch bei aller tragischen Eindringlichkeit zeigt die Passage, dass ein bloßer Todesfall der Unterwelt noch keinen Mehrwert verleiht. Ein Unterweltverständnis, das in irgendeiner Form über das eines unterirdischen Aufenthaltsorts der Toten hinausgehen soll, funktioniert nur, wenn dem Gang dorthin auch die Rückkehr folgt. Eine solche Sequenz schließt sich an: Geschockt vom Tod seines Freundes macht sich der Heroe auf, das Geheimnis der Unsterblichkeit zu erfahren. Er erhofft Aufklärung von seinem legendären Vorfahren Utnapischtim, dem die Götter selbst Unsterblichkeit verliehen und der seitdem an ‚der Ströme ferner Mündung‘ 26 weilt. Hierbei handelt es sich um einen mythischen Ort 27, den vor allem seine Unzugänglichkeit als Anderswelt charakterisiert, denn ein Gewässer mit dem Namen ‚Todeswasser‘ 28 trennt ihn von der restlichen Welt ab. Zwar bringt Gilgamesch den Fährmann in Utnapischtims Diensten mit einer List dazu, ihn überzusetzen, doch hat er bei Utnapischtim mit seinem Anliegen keinen Erfolg; anstelle des Geheimnisses der Unsterblichkeit wird ihm lediglich der Standort eines Krauts enthüllt, dessen Genuss ein einziges Mal die Jugend zurückbringen kann. Kurz nachdem Gilgamesch es gepflückt hat, wird es ihm von einer Schlange geraubt, so dass die
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Gilgamesch-Epos ( wie Anm. 17 ) S. 74 f. Ebd., Anm. 5. Ebd. Ebd., S. 105. Nicht etwa um die Mündung von Euphrat und Tigris, ebd., S. 105 Anm. 6. Ebd., S. 89; 92 f.
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ganze Unternehmung vergeblich war. Diese Mythe ist insofern beachtlich, als sie die Bestandteile aufweist, die später die unterirdische Totenwelt zu der deutungsgeladenen Unterwelt der literarischen Tradition machen, ohne aber selbst von einem Unterweltgang zu handeln. Erstens enthält sie besagte Rückkehr; zwar muss Gilgamesch gewisse Schwierigkeiten überstehen, um an sein Ziel zu gelangen, aber der Rückweg ist ihm möglich, ohne dass er zuvor besondere Vorkehrungen treffen muss. Zweitens erhofft sich Gilgamesch einen Erkenntnisgewinn, und genau diese Hoffnung ist auch für die Unterweltgänger der klassischen antiken Literatur ein Hauptmotiv. Noch scheinen allerdings die beiden dargestellten Jenseitsbereiche – zum einen die realitätsentrückte Ferne, die zum Erwerb übermenschlichen Wissens aufgesucht wird, zum anderen die Unterwelt als Sitz der chthonischen Götter, die die Toten aufnimmt und neues Leben hervorbringt – gerade darin unvereinbar, ob ein lebender Mensch sie erreichen und auch wieder verlassen kann. Bei Homer und Vergil werden diese beiden Sphären im Hades aufgehen, und zumindest Vergil, der seinen Helden Aeneas den Hades betreten und durchwandern lässt, wird die Rückkehr als ein eigenes Problem thematisieren. Die dritte Jenseits-Passage, eine Übernahme der sumerischen Dichtung , steht am Schluss des Epos. Sie erinnert an die vorherige Traumschilderung des todkranken Enkidu und wurde vielleicht aus genau diesem Grund der ansonsten stringent erzählenden Mythenkompilation angefügt 29, wirkt aber im Anschluss an Gilgameschs Reise zu Utnapischtim isoliert. Die Erzählung nimmt ihren Ausgang von einer mythischen Trommel und dem dazugehörigen Schlegel, die durch ein Missgeschick Gilgameschs in die Unterwelt fallen. Enkidu erklärt sich bereit, die Gegenstände zurückzuholen und erhält etliche formelhafte Weisungen, die ihm ein unbehelligtes Betreten und Verlassen der Unterwelt ermöglichen sollen. Da Enkidu jede Einzelne dieser Weisungen missachtet, muss er schließlich in der Unterwelt bleiben, doch erreicht Gilgamesch durch Vorsprechen bei verschiedenen Göttern, dass er durch eine Bodenspalte noch einmal emporkommen und ihm die Verhältnisse in der Unterwelt detailliert schildern kann. Enkidus weiteres Schicksal ist aus den erhaltenen Fragmenten ebenso wenig zu erschließen wie der Verbleib von Trommel und Schlegel. In der Literatur wird die Möglichkeit, dass er als Lebender in der Oberwelt bleibt, nicht erwähnt; Meinungsverschiedenheiten ergeben sich stattdessen in der Frage, ob er in seinem Fleisch oder als Totengeist der Unterwelt entsteigt. Inwiefern die eine oder die andere Möglichkeit am Text festzumachen ist, kann hier nicht diskutiert werden 30. Die Geistgestalt scheint jedoch plausibel, wenn die Szene als Nekromantie verstanden wird; in diesem Sinn finden sich verwandte Szenen in der alttestamentarischen Erzählung über die Hexe von Endor (1. Sam 28) und in der Nekyia der 31. Unter Vorbehalt wäre dann festzustellen, dass das Gilgamesch-Epos bereits alle narrativen Varianten enthält, in denen die Unterwelt in der späteren klassisch-antiken Literatur begegnet – das Totenreich als Schauplatz der Erkenntnissuche oder als Hintergrund einer Nekromantie. 29
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Ebd., S. 113; anders Hutter ( wie Anm. 15 ) S. 146 Anm. 84, der die Hinzufügung dem Interesse von Beschwörungspriestern zuschreibt. Die Übersetzung von Schmökel enthält explizit die Wörter Geist bzw. Totengeist und verweist in einer Anmerkung gar auf die entsprechende Vokabel ( Gilgamesch-Epos [ wie Anm. 17 ] S. 118, Anm. 3; 119 ), Hutter dagegen geht offenbar von einer Lesart aus, die Enkidus Gestalt völlig offen lässt und spricht sich für eine Rückkehr im Fleisch aus ( Hutter [ wie Anm. 15 ] S. 147 f. Anm. 87 ). Gilgamesch-Epos ( wie Anm. 17 ) S. 118 Anm. 5.
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Die Bereiche der Unterwelt – nämlich der Totenwelt und des Erkenntnisraums – rücken in Homers Nekyia dichter zusammen; eine Autopsie des Hades ist nun auch einem lebenden Menschen möglich. Anders als Gilgamesch, der nur mittelbar durch die Totenbefragung etwas über die Unterwelt und darüber, wie die Geister ihr Dasein fristen, erfährt, kann Odysseus zumindest bis zum Eingang der Unterwelthöhle vordringen und sogar selbst in den Hades spähen. Die Auskunft, um derer willen er kommt, ist schwieriger zu erlangen als die bloße Information über das Dasein der Totenschatten; sie erfordert eine echte Prophezeiung, für die er den auch im Schattenreich noch unfehlbaren Seher Teiresias konsultieren muss. Doch es bleibt nicht bei der Zukunftsschau, sondern es erschließt sich auch noch die nähere und fernere Vergangenheit aus mehreren Dialogen mit weiteren Schatten und aus dem, was Odysseus im dämmrigen Hintergrund der Unterwelthöhle wahrnimmt. Neben der Zukunftsschau durch Teiresias setzt daher auch der Rückblick, den die übrigen sprechenden Schatten geben, die an den Anfang einer narrativ-funktionalen Tradition des Unterweltgangs: Der Hades bietet die Möglichkeit, der Vergangenheit zu begegnen; diese Möglichkeit kann innerhalb einer hochartifiziellen epischen Ausgestaltung hervorragend der Erzählökonomie dienen. So eröffnen die Begegnungen des Odysseus in der Unterwelt einen weit größeren Rückblick als der nähere Erzählkontext seiner Berichterstattung bei den Phäaken; Erwähnung finden in der Hadessequenz nämlich nicht nur die Geschehnisse des trojanischen Kriegs, sondern auch die einer ferneren mythologischen Vergangenheit. Die Prophezeiung des Teiresias, der eigentliche Zweck der Nekyia, nimmt dagegen wenig Raum ein, stellt Odysseus aber einen friedlichen, also nicht durch den zürnenden Poseidon herbeigeführten Tod vor Augen. Indem das Ende des epischen Helden und damit scheinbar auch der Erzählung vorweggenommen wird, ergibt sich ein weiterer strukturierender Effekt des Unterweltgangs als eines „narrativen Programms in Kleinform“ 32: „[ Das ] Ende, das sich idealiter mit dem Ende der epischen Erzählung decken soll, wird im Kontext der katábasis jedoch zugleich vermieden und hinausgezögert: Die Unterweltreise, innerhalb derer die erzählerische Teleologie aufgedeckt wird, erscheint [ … ] als der Umweg par excellence, und während sie zum Einen den Endpunkt des Erzählens markiert – das Ende wie auch den Tod –, ist sie zum anderen der Ausgangspunkt für neue Verwicklungen und einen Aufschub dieses angekündigten Endes.“ 33 Diese Funktionalität ist auf die Nekyia der übertragbar, doch geht Vergil, ganz im Sinne einer aemulatio, um einiges weiter in seiner Hadesdarstellung. Er lässt seinen epischen Helden nicht nur zum Eingang der Unterwelt gelangen, sondern auch tief in sie vordringen. Ganz originell ist dies nicht, sondern hat ein klares Vorbild in hellenistischen Unterweltwanderungen 34, die allerdings nicht dem epischen Kontext entstammen. Gerade die Anlehnung an eine solche Textsorte eröffnet völlig neue Möglichkeiten in der epischen Ausgestaltung der Unterwelt und bewegt den Dichter 32 33 34
Platthaus ( wie Anm. 3 ) S. 14. Ebd. Diese Textsorte unterscheidet sich von der Nekyia durch die Anwesenheit eines Führers; hierzu Martha Himmelfarb, Tours of Hell. An Apocalyptic Form in Jewish and Christian Literature, Philadelphia 1983, S. 49 f.
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zu einem <Musenanruf > anderer Art, in dem noch der Respekt vor dem eigentlich menschlicher Kenntnis entzogenen Tabubereich mitschwingt: Di, quibus imperium est animarum, umbraeque silentes / et Chaos et Phlegethon, loca nocte tacentia late, / sit mihi fas audita loqui, sit numine uestro / pandere res alta terra et caligine mersas. 35 Andererseits ergibt sich aus dem vollzogenen Eintritt in den Hades das Problem, wie ihm wieder zu entkommen sei; auf diesen Sachverhalt weist die Sibylle den zuversichtlichen Aeneas ausdrücklich hin: noctes atque dies patet atri ianua Ditis; / sed reuocare gradum superasque euadere ad auras, / hoc opus, hic labor est. 36 Die Sibylle als Führerin und zusätzliche Protagonistin des Unterweltgangs erläutert nicht nur wie in den jüdisch-hellenistischen Jenseitsreisen die Organisation des eschatologischen Ortes, die sich nach moralischem oder gar strafrechtlichem Wohl- und Fehlverhalten der Toten im Leben richtet; sie kann mit ihrem Wissen über das Unbekannte die Handlung plausibel steuern und auch vom vollkommen unzugänglichen Bereich des Tartarus berichten. So fließt die mythische Vorzeit nur mittelbar durch die Worte der Sibylle in die Darstellung ein, während die unmittelbaren Begegnungen überwiegend die persönliche Vergangenheit des Aeneas aufrufen. Bei dieser Gelegenheit übertrifft Vergil sein Vorbild Homer mithilfe der Kontrastimitation: Erschließt sich Odysseus durch eigenes Schauen die mythisch entrückte Vorgeschichte ( beispielsweise im Heroinen-Katalog ) und betrifft die Prophetie mit der Ankündigung seines Todes sein persönliches Schicksal, erhält Aeneas den Vorausblick auf eine überpersönliche Geschichtlichkeit, die die erzählte Zeit bis zur Herrschaft des Augustus ausdehnt. IV.
Vergil genoss nicht nur bald unter seinen heidnischen Lesern und Kommentatoren den Ruf eines mit allumfassender Einsicht begabten vates. Seine Hadesgestaltung wirkte zusammen mit frühen Jenseitsvisionen wie der Petrusapokalypse oder der , denen ebenfalls die durch die jüdische Rezeption vermittelten hellenistischen Jenseitswanderungen zugrunde lagen, auf die Ausprägung einer christlichen Höllenvorstellung ein; die mittelalterlichen Jenseitsvisionen sind dem jüdisch-hellenistischen Traditionsstrang jedoch stärker verpflichtet als Vergil. Visionsberichte wurden seit der Urkirche als ganz eigenes Instrument christlicher Unterweisung genutzt; ein solches frühes Dokument ist der <Pastor Hermae>, der in Naherwartung der Parusie die Bußpraxis der Gemeinden stärken sollte. In der Spätantike wurde zunehmend die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten betont: es kursierten offenbar bereits etliche Erzählungen über die Erscheinungen einzelner Totenseelen, die um ein verstärktes Gebetsgedenken baten, und die sich nach kurzer Zeit erneut zeigten – je nach Erfüllung ihrer Bitte entweder dankbar oder vorwurfsvoll. Zu unterscheiden sind in diesem Bereich Berichte tatsächlicher Jenseitsvisionen und solche von Apparitionen, in denen der Tote im Diesseits erschien. An letzteren lässt sich bereits eine ausgeprägte Vorstel35
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Aeneis ( wie Anm. 6 ) 6, 264–267, S. 235. Die Bitte des Dichters um Erlaubnis, sein eigenes, sakrales Wissen einer nicht initiierten Öffentlichkeit bekannt zu machen, kontrastiert mit einer inspirierten Fiktionalität und wird an der späteren, volkstümlichen Sicht Vergils als eines Nekromanten keinen geringen Anteil gehabt haben. Ebd., 127–129a, S. 231.
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lung vom Fegefeuer festmachen 37, denn obgleich diese Berichte mitunter auf ähnliche antike Darstellungen zurückgehen, in denen die Seelen Verstorbener Dienste von den Lebenden einfordern 38, hätte deren christliche Rezeption ohne die Annahme eines Orts und Zustands temporärer Läuterung keinen Sinn ergeben. Für die frühmittelalterliche Memorialpraxis war diese Vorstellung konstituierend und dementsprechend erlebte die Textsorte der Vision in der Karolingerzeit eine Blüte, zumal sie nun außerdem zu einem Instrument politischer Propaganda wurde. Der Visionär begegnete in der Hölle häufig prominenten Personen aus Adel und Klerus, deren Parteinahme für die falsche Seite hier die angemessene Strafe erhielt. Ganz anders als in den früheren, antiken Unterweltfahrten erhielt die Hölle in diesen <politischen Visionen> ein konkretes, historisches Personal; das Jenseits wurde zum Spiegel der zeitgenössischen Gesellschaft des Autors/Visionärs. Erwartungsgemäß hat die Mythologie hier wenig Platz; stattdessen zeigt sich antiker Einfluss darin, dass die epische Qualität auch dieses Genres entdeckt und entsprechend gestaltet wurde, besonders deutlich wird dies an der . Die Sterbevision einer Höllenwanderung, die der Reichenauer Mönch Wetti unter Führung eines Engels absolvierte, schrieb zunächst der Reichenauer Abt Heito in Prosa nieder, bevor Walafrid Strabo seine Vorlage in den epischen Hexameter übertrug und damit den ersten versifizierten Visionsbericht des Mittelalters lieferte. Dante nutzte in seiner diese Form, doch wirkten auf seine Darstellung auch maßgeblich andere weit verbreitete mittelalterliche Prosa-Visionen wie die des Tnugdal, des Thurkill oder des Bauern Gottschalk. Im Kontext der Apokryphen und Visionsliteratur ist ein sonderbarer Dialog zwischen dem Satan und dem personifizierten Hades im Nikodemus-Evangelium zu erwähnen. Hades fungiert hier keinesfalls als heidnisches Pendant zum christlichen Unterweltherrscher, sondern erscheint als Personifikation des Unterweltortes selbst, der nach der Höllenfahrt Christi auf dessen Befehl den besiegten Satan gefangen nimmt. Gerade die Personifizierung scheint rätselhaft; zwar konnte der Name in der Antike synonym zu Pluto den Herrscher der Unterwelt ebenso wie die Unterwelt selbst bezeichnen, doch die Tradition des Hades als eines selbständigen erfordert eine genauere Untersuchung 39. Mit der einfachen Übernahme vergilischer Bilder für eine christliche Unterweltvorstellung, die wegen der allgemeinen Bekanntheit ebenso wie aus Mangel an biblischen Höllenschilderungen nahe lag, tat sich das spätantike Christentum dennoch schwer. Die patristischen Autoren sprachen sich mitunter gezielt gegen eine Gleichsetzung aus, denn die schnell etablierte Vergil-Allegorese, die auch und insbesondere den Hades der betraf, stand der christlichen Vorstellung von einem transzendenten Strafort entgegen. Wo es um die Darstellung der eigentlichen, christlichen Hölle oder des Fegefeuers ging, war man auch Jahrhunderte später noch darauf bedacht, dieses Bild nicht antikisch zu verzerren. Die einschlägigen spätantiken Kommentare des
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Hierzu Erich Fleischhack, Fegfeuer. Die christlichen Vorstellungen vom Geschick der Verstorbenen geschichtlich dargestellt, Tübingen 1969, S. 25 ff. Hierzu Franz Neiske, Vision und Totengedenken, in: Frühmittelalterliche Studien 20, 1986, S. 137–185. In eben dieser Tradition steht auch die mittelalterliche Ikonographie des Höllenschlunds, der immer als Tiermaul dargestellt wird.
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Servius oder des Macrobius ( beide Anfang des 5. Jahrhunderts ) sprachen sich klar für eine übertragene, neuplatonische Lesart aus, die die epische Unterwelt als die dunkle irdische, der des klaren Äthers gegenüber gestellte Sphäre bzw. als den fleischlichen Leib, das dunkle Gefängnis der erkenntnisbegabten Seele, begriff. Ein solches Hades-Verständnis war jedem gebildeten Römer vertraut; gerade deshalb scheinen die patristischen Autoren, die gerne und reichlich gerade aus dem sechsten Buch der zitieren 40, vermieden zu haben, diese Verse zur Veranschaulichung der christlichen Hölle heranzuziehen, denn sofort wäre die allegorische Übertragung evoziert worden. Stattdessen wurde verschiedentlich gemahnt, dass das infernum der Bibel in seinen Details auf keinen Fall wie der vergilische Hades vorzustellen sei 41. Dennoch war das Bedürfnis der nicht mehr ganz jungen Religion, endlich eine gewisse Klarheit über die Verhältnisse nach dem Tod zu schaffen, zu dieser Zeit offenbar nicht mehr zu übergehen, so dass auch die Patristik ergänzend zu den volkstümlicheren Visionstexten systematische Antworten finden musste auf die Fragen, die die Evangelien offen ließen: In welchem räumlichen Verhältnis stehen und zueinander, wie unterscheidet sich das Jenseits vor dem Jüngsten Gericht von dem danach, wie empfinden die Seelen, deren Leiber noch nicht wieder auferstanden sind, körperliche Qualen und ist die Hölle ewig? Für eine ausgefeilte christliche Höllenkonzeption und eine einheitliche Eschatologie bedurfte es allerdings noch geraumer Zeit. Die neuplatonischen, mythenkritischen Deutungsmuster sicherten gleichwohl der heidnischen Unterwelt ihr Überleben in der christlichen Rezeption, denn sie bedienten sich einer Moralisierung, nach der Hadestopographie und -personal für Laster und Verfehlungen der Seele in ihrem Erdenleben standen. Der tief in die Erde gesenkte Tartarus und das liebliche Elysium, der Verlauf der Unterweltflüsse Acheron, Phlegethon, Styx, Lethe und Cocytus, selbst der Weg durch diese Landschaft wurden zum Gegenstand der übertragenen Ausdeutung. Hinzu traten die Bewohner und die paradigmatischen Büßer: Die Monstren und Personifikationen der Laster im ersten Schlund, dem Vorhof des 40
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Hierzu Courcelle ( wie Anm. 13 ) passim; zu Vergilzitaten allgemein Stefan Freund, Vergil im frühen Christentum. Untersuchungen zu den Vergilzitaten bei Tertullian, Minucius Felix, Novatian, Cyprian und Arnobius, Paderborn – München u. a. 22003; Gerhard A. Müller, Formen und Funktionen der Vergilzitate bei Augustin von Hippo. Formen und Funktionen der Zitate und Anspielungen, Paderborn – München u. a. 2003. Beispielsweise Augustinus, De cura pro mortuis gerenda, hg. von Joseph Zycha ( CSEL 41 )Wien 1900, II, 3, S. 624, 4, zu den unbestatteten Toten: Ac primum utrum intersit aliquid ad inferendam uel augendam miseriam post hanc uitam spiritibus hominum, si eorum corpora sepulta non fuerint, non secundum opinionem utcumque uulgatam, sed potius secundum religionis nostrae sacras litteras est uidendum. Neque enim credendum est, sicut apud Maronem legitur, insepultos nauigando atque transeundo inferno anne prohiberi, quia scilicet „Nec ripas datur horrendas et rauca fluenta / transportare prius quam sedibus ossa quierunt.“ Quis cor christianum inclinet his poeticis figmentis [ … ]; auch Ambrosius schließt sich in De bono mortis, hg. von Carl Schenkel ( CSEL 32,1 ) Wien 1896, 8, 33, S. 731, 23, der gängigen Vorstellung von den Strafen nach dem Tod nicht an: Duabus autem ex causis mortem insipientes uerentur; una quod eam interitum appellent. Interitus autem hominis esse non potest, cum anima superstes corpori sit, saluo eo quod ipsum corpus manet resurrectio. Altera autem causa quod poenas reformident, poetarum uidelicet fabulis territi, latratus Cerberi et Cocyti fluminis tristem uoraginem, Charonem tristiorem, Furiarum agmina aut praerupta Tartara, tunc … quibus Hydra saevior sedem habeat, Tityi quoque viscera reparandis fecunda suppliciis, quae uultur immanis sine ullo fine depascitur, Ixioni quoque orbis perpetuam sub poenae atrocitate uertiginem, tum saxi desuper inminentis super capita adcubantium inter epulas inpendentem ruinam. Haec plena sunt fabularum: nec tamen negauerim poenas esse post mortem … Beides zitiert nach Courcelle ( wie Anm. 13 ) S. 17 Anm. 3; 28 f. Anm. 11.
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Erebus 42; die Furien sowie die zu ewiger Marter verurteilten Frevler im Tartarus wie beispielsweise Ixion auf einem ununterbrochen wirbelnden Rad oder der Gigant Tityos, dessen immerfort nachwachsende Leber ein Geier beharrlich zerhackt. Mit den 43, die als Abhandlung über das Fortleben der Seele nach dem Tod vielfach auf Vergils Unterweltdarstellung rekurrieren 44, überlieferte Macrobius ebenso wie Servius, der eine geschlossene Kommentierung des vergilischen Gesamtwerks vornahm 45, diesen antiken Bildungshorizont an das Mittelalter. Die überwiegend sprachlichen und inhaltlichen Erläuterungen des römischen Grammatiklehrers Servius wurden zwar ungleich stärker rezipiert, denn sie dienten im mittelalterlichen Schulbetrieb als Standardkommentar, den eine erweiterte Fassung aus dem 7./8. Jahrhundert um reichhaltige mythologische Informationen ergänzte 46; für den mittelalterlichen Zugang zur antiken Unterwelt erwies sich Macrobius hingegen als wirkmächtiger. Beide spätantiken Interpretatoren teilten aber bezüglich der Unterwelt eine Meinung: Unter Berufung auf ältere Autoritäten, die diese Einschätzung schon vor den Erkenntnissen der Naturphilosophie geäußert hätten, werteten sie die Bestandteile der Unterwelt als Metaphern für die irdische Haltung der Seele, wie es Macrobius ganz explizit formuliert: antequam studium philosophiae circa naturae inquisitionem ad tantum vigoris adolesceret, qui per diversas gentes auctores constituendis sacris caerimoniarum fuerunt, aliud esse inferos negaverunt quam ipsa corpora, quibus inclusae animae carcerem foedum tenebris, horridum sordibus et cruore patiuntur. hoc animae sepulcrum, hoc Ditis concava, hoc inferos vocaverunt, et omnia, quae illic esse credidit fabulosa persuasio, in nobismet ipsis et in ipsis humanis corporibus adsignare conati sunt. 47 Zudem hatte laut Servius die Naturphilosophie die Einsicht geliefert, dass innerhalb des Erdreichs kein Raum für eine wörtlich verstandene Unterwelt und vor allem nicht für den Tartarus vorhanden sei: noctes atque dies patet atri ianua ditis id est omni tempore homines in fata concedunt. et hoc poetice: nam Lucretius ex maiore parte et alii integre docent inferorum regna ne posse quidem esse: nam locum ipsorum quem possumus dicere, cum sub terris esse dicantur antipodes? in media vero terra eos esse nec soliditas patitur, nec terrae: quae si in medio mundi est, tanta eius esse profunditas non potest, ut medio sui habeat inferos, in quibus esse dicitur Tartarus, de quo legitur bis patet in praeceps tantum tenditque sub umbras, quantus ad 42
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Die Laster entsprechen nicht dem ohnehin erst sehr spät etablierten katholischen Kanon, sondern hier handelt es sich um Gram (luctus), Sorgen (curae), Krankheiten (morbi), Alter (senectus), Angst (metus), Hunger (fames), Armut (egestas), Tod (letum), Mühsal (labor), Schlaf (sopor) und Sinnesfreuden (mentis gaudia), Krieg (bellum) und Zwietracht (discordia) (Aeneis [wie Anm. 6] 6,274–281, S. 235 f.). Auch die Kammern der Furien verortet Vergil – trotz der widersprüchlichen weiteren Darstellung – schon im ersten Schlund, außerdem erblickt Aeneas dort die Ulme, die die nichtigen Träume in ihrem Laub beherbergt, und monströse Wesen wie Zentauren, Skyllen, den hundertarmigen Briareus, die lernäische Schlange, die Chimaera, Gorgonen, Harpyen und den dreileibigen Riesen Geryon (Aeneis [wie Anm. 6] 6,282–289, S. 236). Ambrosii Theodosii Macrobii Commentarii in Somnium Scipionis, hg. von Jacob Willis, Leipzig 1963. Hauptgegenstand der ist der Traum des Scipio, den Cicero an das Ende seiner staatstheoretischen Schrift stellte und der schildert, wie Scipio die Seelen verdienter Staatsmänner in der Milchstraße auf Sternen als Wohnstätten erblickt. Macrobius zieht für seine Ausführungen neben der auch die platonische Vision des Er heran, um ein Fortleben der Seelen je nach ihrem irdischen Verhalten zu begründen. Servii Grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, hg. von Georg Thilo – Hermann Hagen, Leipzig 1884, ND Hildesheim 1986. Diese Fassung ist nach ihrem ersten neuzeitlichen Herausgeber Pierre Daniel ( Paris 1600 ) als Scholia Danielis benannt, vgl. Anne Uhl, Art.<Servius>, in: LMA 7, 1994, Sp. 1797 f., Sp. 1797. Macrobius ( wie Anm. 43 ) 1.10,9 f., S. 43.
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aetherium caeli suspectus Olympum. In die physikalische Ausdeutung fügt sich die Angabe der neun Kreise, in denen die Styx die Unterwelt umfließt, schlüssig ein: ergo hanc terram in qua vivimus inferos esse voluerunt, quia est omnium circulorum infima, planetarum scilicet septem, Saturni, Iovis, Martis, Solis, Veneris, Mercurii, Lunae, et duorum magnorum. hinc est, quod habemus et novies Styx interfusa coercet: nam novem circulis cingitur terra. ergo omnia quae de inferis finguntur, suis locis hic esse conprobabimus. Aus dem physikalisch-rationalistischen Verständnis der Unterwelt als der irdischen ergibt sich, fast schon zwingend, der moralische Sinn: quod autem dicit „patet atri ianua Ditis sed revocare gradum superasque evadere ad auras hoc opus hic labor est“ aut poetice dictum est aut secundum philosophorum altam scientiam, qui deprehenderunt bene viventium animas ad superiores circulos, id est ad originem suam redire: […] 48 Demnach seien die topographischen Gegebenheiten und das Personal der Unterwelt in einzelne Gemütsregungen oder Seelenhaltungen aufzuschlüsseln; die Unterweltflüsse stehen für das Vergessen der Seele über ihren himmlischen Ursprung, sobald sie in den Körper eintritt, das Feuer des Zorns und der Begierde, Reue, Trauer oder Hass, wie Servius bündig zusammenfasst: tartarei acherontis Acheronta vult quasi de imo nasci Tartaro, huius aestuaria Stygem creare, de Styge autem nasci Cocyton. et haec est mythologia: nam physiologia hoc habet, quia qui caret gaudio sine dubio tristis est. tristitia autem vicina luctui est: unde haec esse apud inferos dicit. 49 Die Unterweltbüßer verkörpern bei Macrobius unter anderem Gier (Tantalus), Unbedachtheit (Ixion) oder Gewissensqual (Tityos): illos aiunt epulis ante ora positis excruciari fame et inedia tabescere, quos magis magisque adquirendi desiderium cogit praesentem copiam non videre; et in affluentia inopes, egestatis mala in ubertate patiuntur, nescientes parta respicere, dum egent habendis. illos radiis rotarum pendere districtos qui nihil consilio praevidentes, nihil ratione moderantes, nihil virtutibus explicantes, seque et actus omnes suos fortunae permittentes, casibus et fortuitis semper rotantur; saxum ingens volvere inefficacibus laboriosisque conatibus vitam terentes; atram silicem lapsuram semper et cadenti similem illorum capitibus imminere qui arduas potestates et infaustam ambiunt tyrannidem numquam sine timore victuri, et cogentes subiectum vulgus odisse dum metuat, semper sibi videntur exitium quod merentur excipere 50. Der für die Moralisierung grundlegenden Annahme, dass die Seele nach ihrem Tod entsprechend ihrer Haltung im irdischen Leben fortdauern werde, konnte von christlicher Seite zugestimmt werden. Als schwieriger erwies sich dagegen die Auseinandersetzung mit der Rede des Anchises, an der insbesondere die Patristik Anstoß nahm 51. Während seine Aussagen über 48 49
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Servius ( wie Anm. 45 ) 6,127, S. 178. Servius ( wie Anm. 45 ) 6,295, S. 213; ausführlicher, aber grundsätzlich ähnlich Macrobius ( wie Anm. 43 ) 1.10,10 f., S. 43 f.: oblivionis fluvium aliud non esse adserentes quam errorem animae obliviscentis maiestatem vitae prioris, qua antequam in corpus truderetur potita est, solamque esse in corpore vitam putantis. pari interpretatione Phlegethontem ardores irarum et cupiditatum putarunt, Acherontem quicquid fecisse dixisseve usque ad tristitiam humanae varietatis more nos paenitet, Cocytum quicquid homines in luctum lacrimasque compellit, Stygem quicquid inter se humanos animos in gurgitem mergit odiorum. ipsam quoque poenarum descriptionem de ipso usu conversationis humanae sumptam crediderunt, vulturem iecur immortale tondentem nihil aliud intellegi volentes quam tormenta conscientiae, obnoxia flagitio viscera interiora rimantis, et ipsa vitalia indefessa admissi sceleris admonitione laniantis, semperque curas, si requiescere forte temptaverint, excitantis tamquam fibris renascentibus inhaerendo nec ulla sibi miseratione parcentis lege hac qua se iudice nemo nocens absolvitur nec de se suam potest vitare sententiam. Ebd., 1.10,13 ff., S. 44. Die Patristik setzte sich auch mit den Tartarusstrafen auseinander und stand in ihren Ergebnissen denen der übrigen Kommentatoren mehr oder weniger nah; am stärksten hob sich dabei Augustinus mit seiner Lesart der Unterwelt ab und bot mit seinen Auslegungen in die Grundlagen für verschiedene doktrinale Entwicklungen, Courcelle ( wie Anm. 13 ) S. 5–74; 29; 37; 52 ff.
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die Weltseele und den Leib-Seele-Dualismus auch christlich-neuplatonischen Deutungsmustern zugänglich waren 52, blieb seine Lehre von der Seelenwanderung untragbar 53. Zu der philosophischen Autorität, die zumindest die heidnischen Rezipienten dem augusteischen Dichter spätestens zu diesem Zeitpunkt nahezu ohne Einschränkung zubilligten, trat die literarische, deren Anerkennung auch die christlichen Leser nicht verweigern konnten. Mit der wurde die Unterweltszene gewissermaßen zu einem proprium des lateinischen Epos, sei es als tatsächlicher Unterweltgang wie bei Silius Italicus oder als Nekromantie bei Lukan oder Statius. Die Dechiffrierung der Unterweltbestandteile, wie sie Servius und Macrobius vorgenommen hatten, ergab freilich noch keine geschlossene allegorische Auslegung; eine solche, dezidiert christliche entwickelte etwa ein Jahrhundert später der nordafrikanische Autor Fulgentius in einem Werk, das die Literaturwissenschaft lange Zeit befremdete 54. In dem Dialog mit dem Titel <Expositio Virgilianae Continentiae secundum Philosophos moralis> 55 wandte Fulgentius eine aus der Homerexegese übernommene Dichtungstheorie an, nach der unter einer rein fiktionalen Erzähloberfläche eine Wahrheit zu entdecken sei, die die eigentliche moralische Unterweisung liefere 56. Diese Theorie hatte er bereits zuvor in seinen <Mytologiae>, einem für das Mittelalter ebenfalls maßgeblichen mythographischen Kompendium, angewendet und die antike Mythologie mit einer ausgiebig etymologisierenden Allegorese moralisch ausgedeutet. Angewandt auf die , ergab sich für ihn eine Lesart, die das gesamte Epos als eine Allegorie des menschlichen Lebens auswies und in der die Unterwelt den Zeitraum der Erkenntnissuche darstellte. Aber es war nicht nur die hermeneutische Methode, die Fulgentius den Ruf eines Wahnsinnigen einbrachte, sondern auch die Textform: Nach einer Vorrede an einen kirchlichen Oberen entspinnt sich nämlich ein Dialog zwischen dem literarischen Ich des Autors und dem auferstandenen Vergil selbst, in dessen Verlauf der augusteische Dichter sein eigenes Epos ausdeutet. Dabei wurde die – eigentlich sehr konsequente – Autorintention offenbar verkannt: Fulgentius unternahm seinen eigenen Descensus und beschwört als Nekromant den Wahr52 53 54
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Ebd., S. 45 ff. Ebd., S. 51; 53 ff. William Ramsay, Dictionary of Greek and Roman Biography and Mythology, hg. von William Smith, hier zitiert nach Terence A. McVeigh, The Allegory of the Poets. A Study of Classical Tradition in Medieval Interpretation of Virgil, New York 1964, S. 111, Anm. 1: „The absurdity of this piece is so glaring, that, had it been composed in a different age, we should have at once pronounced it to be a tedious and exaggerated burlesque“; Comparetti ( wie Anm. 12 ) S. 112: „[ … ] it is hard to conceive how any sane man can seriously have undertaken such a work, and harder still to believe that other sane man should have accepted it as an object for serious consideration“; ebd., S. 116: „He may be looked upon as the caricature of all who went before or followed after him in the field of allegorical interpretation [ … ].“ Fabii Planciadis Fulgentii v. c. Expositio Virgilianae Continentiae secundum Philosophos Moralis, hg. von Rudolf Helm ( Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana ) Stuttgart 1848, ND Stuttgart 1970. Vgl. McVeigh ( wie Anm. 54 ) S. 86; Robert Edwards, The Heritage of Fulgentius, in: Aldo S. Bernardo – Saul Levin ( Hgg. ), The Classics in the Middle Ages. Papers of the Twentieth Annual Conference of the Center for Medieval and Early Renaissance Studies, Binghamton ( N.Y. ) 1990, S. 141–151, S. 142; Robert Edwards, Fulgentius and the Collapse of Meaning, in: Helios N. S. 3, 1976, S. 17–35, passim.
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heit kündenden Vergil – ebenso, wie es Vergil seinen Helden Aeneas mit Anchises hatte tun lassen. Die -Kommentierung war zu dem Schluss gekommen, dass der Dichter damit seine Einsicht in die tiefsten Geheimnisse bewiesen hatte, was also hätte Fulgentius, der sich deutlich in die Tradition der Vergil-Exegese stellte, Näherliegendes tun können, als den vates Vergil nun die einzige, bisher aber noch nicht hinreichend enthüllte Wahrheit seines Epos, nämlich die christlich-moralisierende, teilweise gar theologische Unterweisung darlegen zu lassen? Über die Defizite seiner angestrebten, geschlossenen Auslegung scheint sich der Autor bewusst gewesen zu sein, zumindest lässt er den Dialogpartner mehrfach Vergil unterbrechen, um ihm das, was er ( nach christlichem Maßstab ) eigentlich gemeint haben sollte, in den Mund zu legen. Regelmäßig entgegnet ihm Vergil bei diesen Versuchen, dass eine solche Einsicht den Erleuchteten vorbehalten sei 57. Der Reihe nach legt Vergil die einzelnen Bücher der nach den Lebensaltern aus, beginnend mit der Geburt, für die der Schiffbruch am Anfang steht. Das sechste Buch durchbricht die zunächst gleichmäßig fortschreitende Zuordnung von einem Buch zu einer aetas und es wird nicht wie folgerichtig dem Greisenalter und Tod gleichgesetzt. Stattdessen umfasst es das Mannesalter, das die Ungewissheit der Kindheit und Jugend hinter sich gelassen habe und nun auf der Suche nach Weisheit und Erhellung der Zukunft sei. Umfassende Etymologisierungen der Personennamen stützen die Deutung 58, verschiedene Bestandteile des Descensus stehen für den hier zentralen Wissenserwerb. Für denjenigen, der Erkenntnis gewonnen habe, berge die Unterwelt zunächst die Einsicht der eigenen Laster, des Trugs der Traumbilder und der Nähe des Greisenalters zum Tod; als Höhepunkt des Unterweltgangs, der Station für Station abgearbeitet wird, verkörpert Anchises das Wissen selbst, das zur Gotteserkenntnis verhilft 59. Obwohl mit den eine geschlossene Allegorese der also erst unter christlichen Vorzeichen entstand, liegt doch die eigentliche Innovation in der wichtigen Rolle von Wissen und Erkenntnis und dessen Verortung in der Unterwelt. Die negative Sicht des Hades als Metapher für die dunkle Zeit der Gefangenschaft, die die Seele in ihrem irdischen, affektierbaren Körper auszuhalten hat, wird dadurch überwunden; äußerst positiv besetzt weist er bei Fulgentius den Menschen zur Selbst- und schließlich zur Gotteserkenntnis. Die fulgentianische Allegorese und insbesondere seine Etymologien prägten den weiteren Umgang mit der antiken Mythologie entscheidend, doch die Interpretation der vergilischen Unterwelt hatte einen vorläufigen Haltepunkt erreicht. Die Mythographen des Frühmittelalters zeigten kein Interesse an einer immer neuen Auseinandersetzung mit Vergil und wendeten stattdessen die Ergebnisse der -Auslegung nun auf andere
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Fulgentius ( wie Anm. 55 ) S. 87,6 ff.; 89,3 ff. So habe Aeneas den vom Mast ins Meer gestürzten und ertrunkenen Steuermann Palinurus vor seinem Descensus verlieren müssen, denn sein Name stamme von planonorus und bedeute ‚umherirrende Sicht‘ ( nämlich die der Jugend ); auch Misenus habe er vor dem Betreten des Hades begraben müssen, da sein Name – zusammengesetzt aus ‚Lob‘ ( misio ) und ‚hassen‘ ( enos ) – meine, dass die eitle Ruhmsucht abzulegen sei, bevor man zu den Geheimnissen der Weisheit vordringen könne, ebd., S. 96,3 ff. Der Zusammenhang des Namens Anchises mit der Gotteserkenntnis ist nur mittelbar: Anchises heiße im Griechischen ano scenon, ‚das Vaterland bewohnend‘; ein Gott bewohne nämlich als Vater und König aller Dinge die Höhe und er sei durch die Gabe des Wissens zu erkennen, ebd., S. 102,9 ff.
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Texte an 60. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf die Unterweltgänge anderer mythologischer Helden, vor allem auf die von Boethius in der verarbeiteten Descensus des Orpheus ( der im Frühmittelalter freilich auch aus Vergils bekannt war ) und des Herkules 61. Zunehmend wurde in der Unterweltallegorese ihr Verweischarakter auf die Strafen der christlichen Hölle betont, ohne dass die etablierte Trennschärfe zwischen dem christlichen und dem heidnischen Konzept aufgegeben wurde. Trotz des Einschnitts in der Karolingerzeit – der ohnehin nur die Entwicklung immer neuer allegorischer Konzepte betrifft 62 – wird aus dem Genannten deutlich, dass das Maß, in dem die mittelalterliche Rezeption der antiken Unterwelt von Vergil und seinen Kommentatoren geprägt wurde, kaum zu überschätzen ist. Dennoch konnte der spätantike oströmische Dichter Claudian (gestorben nach 404) die epische Tradition der Unterweltdarstellungen noch um ein wichtiges Motiv bereichern. Es handelt sich dabei um die Anfangssequenz seiner Invektive . Der Adressat dieser Schmähschrift war der zum Zeitpunkt ihrer Abfassung bereits ermordete Emporkömmling Flavius Rufinus, dessen Karriere als hoher Beamter unter Kaiser Theodosius begonnen hatte und 395 durch ein spektakuläres Attentat beendet wurde. Sein größter Konkurrent Stilicho übernahm daraufhin seine Amtsgewalt und beauftragte Claudian mit dem Verfassen einer Propagandaschrift, die auf die größtmögliche Verunglimpfung des früheren Gegners abzielte 63. Der Dichter lässt Rufinus daher als Zögling der Furien auftreten, die voller Abscheu über die Prosperität der Städte in einer Versammlung der Unterweltbewohner ihre Vernichtung beschließen. Megära schlägt für diese Aufgabe Rufinus vor, den sie zwar erzogen habe, der sie jedoch an Bösartigkeit noch überträfe. Entsprechend den realen Gegebenheiten versagt Rufinus bei seiner Aufgabe und wird nach seinem Tod an einen Strafort noch unterhalb des Tartarus verbannt. Claudian ist in seiner Unterweltdarstellung weitestgehend von Vergil abhängig; obwohl er im Gegensatz zu diesem erst spät Schulautor wurde 64, sind seine Dichtungen als Corpus in Handschriften seit dem 9. Jahrhundert überliefert 65. Das Motiv der Unterweltversammlung fand einen langen Nachhall nicht nur in der Bibelepik 66, in der die Mächte des Hades zu denen der Hölle werden, um – selbstverständlich im Einklang mit dem göttlichen Heilsplan – Christi Tod durchzusetzen. 60
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Prominentestes Beispiel ist Remigius von Auxerre ( ca. 841–908 ), der die Unterweltpassagen über Orpheus und Herkules in der des Boethius anhand desselben Deutungsmusters kommentiert, vgl. Jane Chance, Medieval Mythography. From Roman North Africa to the School of Chartres A. D. 433–1177, Gainesville u. a. 1994, S. 215 ff; Zur frühmittelalterlichen Kommentierung s. auch Diane K. Bolton, The Study of the Consolation of Philosophy in Anglo-Saxon England, in: Archives d’Histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 44, 1977, S. 33–78; John J. H. Savage, Mediaeval Notes on the Sixth Aeneid in Parisinus 7930, in: Speculum 9, 1934, S. 204–212. Chance ( wie Anm. 60 ) S. 205–241. Für die reine Tradierung des Unterweltkomplexes liefern etliche Mythenkompendien wie die der ersten beiden Vatikanischen Mythographen wiederum den Eindruck ausgeprägter Kontinuität. Alan Cameron, Claudian. Poetry and Propaganda at the Court of Honorius, Oxford 1970, S. 63 ff. Günther Glauche, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlung des Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt, München 1970, S. 125. Rainer Kurz, Art., in: LMA 2, 1983, Sp. 2130 f., Sp. 2131. Herausragend in der des Marco Girolamo Vida und Jacopo Sannazaros ; alle prominenten Beispiele listet Olin H. Moore, The Infernal Council, in: Modern Philology 16, 1918, S. 169–193, auf.
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Auch in den großen Dichtungen des 12. Jahrhunderts und hier insbesondere in der ( ca. 1147/48 ) des Bernardus Silvestris, der ( 1178–1182 ) Walters von Châtillon und im ( 1182/82 ) Alans von Lille wurden eben diese Motive, der Unterweltgang und die Unterweltversammlung, wieder aufgenommen. Nachdem die exegetische Tradition die Unterweltbestandteile allegorisiert und gewissermaßen voneinander isoliert hatte, wurde nun auch ihre epische Verwendung wiederbelebt. Dass darüber hinaus auch der Mythos als Erzählform wieder an Relevanz gewann, zeitigte vor allem die Naturphilosophie der Schule von Chartres und ihre verstärkte Auseinandersetzung mit der neuplatonischen Kosmologie. Bereits Boethius hatte diese in der mit ihren verschiedenen Instanzen von Gottesemanationen dargestellt und seine Kommentatoren mit der Schwierigkeit konfrontiert, die hier vertretenen Lehren vom Demiurgen, der Weltseele und der Konditionierung der menschlichen Seele mit christlichen Glaubenssätzen zu vereinbaren. Im 12. Jahrhundert hatte sich auch die Quelle dieser Lehren, der platonische Dialog <Timaios>, in der lateinischen Übersetzung des Chalcidius in Westeuropa verbreitet und war so der lateinischen Rezeption zugänglich geworden. Der <Timaios> lieferte einen Schöpfungsmythos, der philosophischen Ansprüchen in viel höherem Maß nachkam als die Genesis und der Beginn des Johannesevangeliums. Beide Schöpfungsmythen miteinander in Einklang zu bringen, gelang mit Hilfe einer poetischen Theorie des , wann immer Platons Aussagen dem Bibelwort unvereinbar widersprachen. Das Verfahren eines solchen verhüllten Sprechens hatte wiederum Macrobius in den 67 thematisiert, die in der Chartrenser Rezeption selbst zum Gegenstand der Kommentierung wurden 68. Macrobius ordnete unter dem Begriff der narratio fabulosa Ciceros Verarbeitung des Scipio-Traums ein, da innerhalb eines fiktiven Erzählrahmens eine philosophische Wahrheit ausgedrückt würde, und unterschied davon die fabula als eine vollständig fiktionale Erzählung 69. Aus seinen Ausführungen über die verschiedenen, je nach Sujet erlaubten Arten direkten oder indirekten Sprechens destillierten die Chartrenser Literaturtheoretiker das integumentum. Der Begriff konnte sowohl das Verfahren, rationell nicht mehr fassbare Sachverhalte in eine fiktionale Erzählung zu kleiden, als auch die verhüllende Erzähloberfläche und die zu enthüllende philosophische Wahrheit bezeichnen. Scharf zu trennen war davon die allegoria, die als Art des indirekten Sprechens der Heiligen Schrift vorbehalten blieb. Zwei Kommentare aus dem 12. Jahrhundert zur und zu Martianus Capellas geben eine Definition von integumentum und allegoria; es handelt sich dabei 67 68
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Macrobius ( wie Anm. 43 ) 1.2,7–21, S. 5 ff. Beispielsweise bei Wilhelm von Conches, vgl. Peter Dronke, Fabula. Explorations into the Uses of Myth in Medieval Platonism, Leiden – Köln 1974, S. 13–78, und Frank Bezner, Vela veritatis. Hermeneutik, Wissen und Sprache in der intellectual history des 12. Jahrhunderts, Leiden – Boston 2005, S. 263–298. ‚Hülle‘ ( velamen, Macrobius [ wie Anm. 43 ] 1.2,11, S. 6 ) nannte Macrobius den fiktiven Erzählrahmen, bezog die Verhüllung jedoch nicht auf die philosophische Aussage; erst eine Umdeutung seiner Ausführungen bewirkte, dass für ein solches Sujet indirektes Sprechen angemessen sei, hierzu Philip Damon, Allegory and Invention. Levels of Meaning in Ancient and Medieval Rhetoric, in: Bernardo – Levin ( Hgg. ) The Classics ( wie Anm. 56 ) S. 113–127, S. 116.
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um die loci classici zur integumentalen Theorie. Der -Kommentar begnügt sich dabei zunächst mit einer Ausführung zum integumentum: Integumentum est genus demonstrationis sub fabulosa narratione veritatis involvens intellectum, unde etiam dicitur involucrum. 70 Den Unterschied zur allegoria verdeutlicht erst der Martianus-Kommentar, der mit einer Diskussion über den verborgenen Sinn beginnt: Genus doctrine figura est. Figura autem est oratio, quam involucrum dicere solent. Hec autem bipertita est: partimur namque eam in allegoriam et integumentum. Est autem allegoria oratio sub historica narratione verum et ab exteriori diversum involvens intellectum, ut de lucta Iacob. Integumentum vero est oratio sub fabulosa narratione verum claudens intellectum, ut de Orpheo. Nam et ibi historia et hic fabula misterium habent occultum. [ … ] Allegoria quidem divine pagine, integumentum vero philosophice competit. 71 Beide Formen werden in das „umfassende System literarischer Rhetorik“ 72 eingeordnet. Als Verfasser der Kommentare gilt – obwohl heftig umstritten – Bernardus Silvestris 73. Vorausgesetzt, die Zuordnung stimmt, zeigt sich Bernard damit als umfassend versiert in den literarkritischen Strömungen seiner Zeit und maßgeblich an ihrer Systematisierung beteiligt. Lange Zeit wurde der Kommentator und Dichter mit dem gleichnamigen Leiter der Chartrenser Domschule identifiziert. Nachzuweisen ist jedoch einzig seine Lehrtätigkeit in Tours 74, so dass er vermutlich ihrem weiteren geistigen Umfeld zugehörte; dennoch gilt er als ein Musterautor der gemeinhin als <Schule von Chartres> bezeichneten, naturphilosophisch ausgerichteten theologischen Strömung. In seiner Auslegung der als ein integumentum des menschlichen Lebens 75 hielt Bernard sich eng an die Lesart des Fulgentius und übernahm in weiten Teilen auch dessen Etymologien; größeres Gewicht noch als sein Vorgänger legte er dabei auf die Rolle der artes für Wissenserwerb und Gotteserkenntnis. Darüber hinaus spitzte er das Dichtungsverständnis der zu: Der Dichter, in diesem Fall Vergil, schreibt als Philosoph 76; die zuvor nicht genauer erklärte, gewissermaßen der Inspiration geschuldete Einsicht in philosophische Wahrheiten, die sich erst aus der Erzähloberfläche ergeben, wird ersetzt durch ein bewusstes Nebeneinander von Fiktion und lehrhaftem Kern. Leider ist der Kommentar unvollständig und bricht im sechsten Buch kurz vor Erreichen des Elysium ab, doch selbst in dieser unvollständigen Form übersteigen die Erläuterungen zum sechsten Buch die vor70
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Commentum quod dicitur Bernardi Silvestris super sex libros Eneidos Virgilii, hg. von Julian W. Jones – Elizabeth F. Jones, Lincoln 1977, S. 3. Bernard Silvestris, Commentaire sur Martianus Capella, hg. von Édouard Jeauneau, in: Lectio Philosophorum. Recherches sur l’École de Chartres, Amsterdam 1973, S. 39–48, S. 40. Christel Meier, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorieforschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen, in: Frühmittelalterliche Studien 10, 1976, S. 1–70, S. 10. Gesichert scheint nur, dass beide Kommentare von demselben Autor stammen; zwar konnte Bernards Autorschaft bislang nicht nachgewiesen werden, doch wurden alle Alternativvorschläge widerlegt, vgl. David L. Pike, Bernard Silvestris’ Descent into the Classics. The Commentum super sex libros Aeneidos, in: International Journal of the Classical Tradition 4, 1998, S. 343–363, S. 346; allgemein zum Problem Julian W. Jones, The So-Called Silvestris Commentary on the Aeneid and two other Interpretations, in: Speculum 64, 1989, S. 835–848. Bernardi Silvestris Cosmographia, hg. von Peter Dronke, Leiden 1978, S. 1 ff. Commentum quod dicitur Bernardi Silvestris ( wie Anm. 70 ) S. 3: Scribit ergo in quantum est philosophus humane vite naturam. Modus agendi talis est: in integumento describit quid agat vel quid paciatur humanus spiritus in humano corpore temporaliter positus. Ebd.
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herigen Abschnitte um ein Vielfaches und machen gut ein Drittel des Fragments aus. Bemerkenswert ist zudem eine neuartige, noch nicht in der spätantiken oder fulgentianischen Exegese vorweggenommene Auslegung des Descensus-Motivs selbst, die vier Arten des Abstiegs in die Unterwelt unterscheidet. Dieses vierfache Schema hatte kurz zuvor der einflussreiche Chartrenser Gelehrte Wilhelm von Conches in seiner Glossierung der entwickelt 77, nun adaptierte es Bernard unter geringfügigen Veränderungen für den Descensus des Aeneas. Wie Wilhelm unterschied er vier Arten des Abstiegs, die sich entweder auf die wörtliche Unterwelt als Totenreich oder auf die übertragene, neuplatonische Unterwelt als Erde bzw. menschliches Leben beziehen: Descensus autem quadrifarius est: est autem nature unus, virtutis alius, vicii tercius, artificii quartus. Naturalis est nativitas hominis: ea enim incipit naturaliter anima esse in hac caduca regione atque ita in inferis descendere atque a divinitate sua recedere et paulatim in vitium declinare, et carnis voluptatibus consentire; sed iste omnium communis est. Est autem alius virtutis qui fit dum sapiens aliquis ad mundana per considerationem descendit, non ut in eis intentionem ponat, sed ut eorum cognita fragilitate, eis abiectis, ad invisibilia penitus se convertat et per creaturarum cognitionem creatorem evidentius cognoscat. Sed hoc modo Orpheus et Hercules qui sapientes habiti sunt descenderunt. Est vero tercius vitii, qui vulgaris est, quo ad temporalia pervenitur atque in eis tota intentio ponitur eisque tota mente servitur nec ab eis amplius dimovetur. Taliter Euridicem legimus descendisse. Hic autem irrevocabilis est. Quartus vero artificialis est dum nigromanticus aliquis artificio nigromantico per aliquod execrabile sacrificium demonum petit colloquium eosque de futura consulit vita. 78 Bernard wertet die fiktive Erzähloberfläche der als die Schilderung eines okkult-magischen Abstiegs, das integumentum dagegen behandelt für ihn den Descensus im zweiten, geistig-tugendhaften Sinn 79. Demnach bildet der Abstieg nur den Ausgangspunkt zur Gotteserkenntnis gemäß dem Programm der Chartrenser Naturphilosophie: Per creaturarum ad creatoris cognitionem. Ohne den Kommentar im Detail nachzuvollziehen, sind zwei Punkte für Bernards Dichtungsverständnis und seine spätere eigene mythopoetische Betätigung in der herauszustreichen: – Das infernum stellt den menschlichen Körper dar 80 und der descensus ist ein allumfassendes Motiv des menschlichen Lebens, zum einen als seine grundlegende Bedingung, indem erst der Abstieg der Seele in den Körper es konstituiert, zum anderen als Scheidepunkt seiner moralischen Entwicklung zu Tugend oder Laster. – Vergil schreibt als Dichter und als Philosoph. Beiden Instanzen ist jeweils eine zusammenhängende Verständnisebene zuzuordnen, die oberflächliche Erzählung und die philosophische Aussage. Der poeta tritt allerdings als Schöpfer der fiktiven Oberfläche zurück hinter einem Verständnis als Handwerker (artifex ), der die zu vermittelnden Inhalte in eine für den Leser begreifbare Form bringt 81. In dieser Funktion verfügt der 77 78 79 80 81
Vgl. Chance ( wie Anm. 60 ) S. 411. Commentum quod dicitur Bernardi Silvestris ( wie Anm. 70 ) S. 30. Ebd. Ebd., S. 29: Cum itaque nil sit inferius humano corpore, infernum id appellaverunt. Brian Stock, Myth and Science in the Twelfth Century. A Study of Bernard Silvester, Princeton 1972, S. 41; diese Auffassung findet sich auch bei Alan von Lille im Binnenprolog des wieder – im Vorfeld der Passage, in der der Autor sich der Darstellung der göttlichen Dinge zuwendet, Alanus ab Insulis, Anticlaudianus, hg. von Robert Bossuat ( Textes philosophiques du moyen âge 1 ) Paris 1955, 5,273–277, S. 131.
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Dichter über ebenso viel Einsicht in die Geheimnisse der Naturphilosophie wie der Naturphilosoph selbst 82. Bernard nutzte diese Kompetenz, denn er wagte als erster, das problematische Verhältnis von Mythos und Wissenschaft als artifex eines neuen Mythos mit der Allegorie einer neuartigen „mythologische[ n ] Gesellschaft“ 83 anzugehen und die Perspektive des Kommentators zu verlassen 84. In der ( beendet vermutlich 1147/48 85 ), einem Prosimetrum in zwei Büchern, entwickelte Bernard eine zweiteilige des Schöpfungsaktes, in dem die einzelnen Schöpfungsinstanzen bzw. Theophanien als Personifikationen zuerst den Makro-, dann den Mikrokosmos hervorbringen. Am Ende steht als Ergebnis die universale Ordnung, die beide miteinander verbindet 86. Mit diesem neuplatonischen integumentum gelang es dem Dichter, die Maßgaben des <Timaios> mit dem biblischen Schöpfungsbericht zu vereinen, denn die handlungstragenden Allegorien bleiben mehrdeutig und stellen sowohl Prinzipien der Schöpfung als auch Geschaffenes dar; sie delegieren ihre Aufgaben an „untergeordnete Gewalten [ … ], ohne ihre Kompetenzen einschränken zu lassen“ 87. Das integumentum 88 der beginnt mit der Klage der Natura vor Noys, ihrer eigenen Mutter und der ersten Emanation Gottes, in der sie die Unförmigkeit ihrer Tochter Silva, der chaotischen und von der Gegensätzlichkeit der Elemente aufgewühlten Materie, anprangert und um deren ( Neu- )Ordnung bittet. Noys offenbart sich als die göttliche ratio und will der Bitte der Natura nachkommen. Der Zustand von Silva/Yle ist kritisch und noch zum Übel geneigt; Noys und Providentia vermögen dies weitestgehend aufzuheben und die Elemente in amicicia zu verbinden. Der Mundus, der aus Yle durch Schönheit und Bindung geworden ist, erhält die Weltseele Endelichia, eine weitere Theophanie und Emanation der Noys, zum Ehebündnis. Die ungleiche Verbindung zwischen der Endelichia von höherer Abkunft und dem jüngst geordneten Mundus stellt den Beginn des belebten Universums dar, das sich nun entfaltet und im Folgenden ausführlich beschrieben wird. Der zweite Teil <Microcosmus> hat die Erschaffung des Menschen zum Thema, die Noys Natura als Vollendung des Schöpfungswerks überträgt. Diese Aufgabe habe Natura zunächst gemeinsam mit Urania als „Legatin der Vorsehung“ 89 oder dem Prinzip himmlischen Daseins 90, später auch mit Physis als „Prinzip der vollkommenen sublunaren Ordnung“ 91 oder des materiellen Daseins 92 zu erfüllen. Natura bricht daher zum Sitz der Urania auf. Nach langer, beschwerlicher Suche, auf der sie unter an82 83 84 85
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Stock ( wie Anm. 81 ) S. 43. Ebd., S. 9. Ebd. André Vernet ( mit Winthrop Wetherbee ), Art., in: LMA 1, 1980, Sp. 1978 f., Sp. 1978; Cosmographia ( wie Anm. 74 ) S. 2. Ebd., S. 14. Bernd Roling, Das Moderancia-Konzept des Johannes de Hauvilla. Zur Grundlegung einer neuen Ethik laikaler Lebensbewältigung im 12. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 37, 2003, S. 167–258, S. 171. Die folgende Inhaltsangabe richtet sich weitgehend nach derjenigen Dronkes ( wie Anm. 74 ) S. 31–49. Roling ( wie Anm. 87 ) S. 174. Cosmographia ( wie Anm. 74 ) S. 40. Roling ( wie Anm. 87 ) S. 174. Cosmographia ( wie Anm. 74 ) S. 40.
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derem im Wendekreis des Krebses eine große Menge von Seelen sieht, die ihren Abstieg zur Erde beklagen, gelangt sie zum Sitz Uranias. Die Gesuchte erklärt sich sofort bereit, ihr zur Erde hinab zu folgen und eine menschliche Seele mit sich zu bringen. Sie soll über eine Vernunftbegabung verfügen, die derjenigen Gottes und seiner Emanationen gleicht, so dass sie nach dem Tod des Körpers unter die Himmlischen aufgenommen werde. Zunächst begeben sich Natura und Urania zum Heiligtum Gottes, das außerhalb des Universums liegt. Hier bitten sie um Unterstützung für ihre Aufgabe und treten den Abstieg durch die einzelnen Himmelskreise an, auf der sie deren jeweilige Herrscher ( oyarses 93 ) in Augenschein nehmen. Dem obersten Kreis des Saturn, der von eisiger Kälte geprägt ist, folgt der heilsame Herrschaftsbereich Jupiters. Jupiter führt in seiner rechten Hand ein Zepter und in seiner Linken eine Waage, auf der er göttliche und menschliche Belange austariert. Diese entfaltet die Parze Clotho in ihrer zeitlichen Reihenfolge; als ihr Reich gelte daher die Ätherregion vom Kreis des Saturns bis zu der des Mondes. Im Kreis des aggressiven Mars erblickt Natura den feurigen Fluss Phlegethon, der hier entspringt und die wütende Natur des Planeten unterstreicht. Nach den Regionen des Sol, des Merkur und der Venus bildet die Grenze zum Mondbereich die Scheidelinie von Äther und Atmosphäre, von unveränderlicher Ruhe und ständig sich ändernder materieller Welt. Urania erklärt, dass aufgrund der Unveränderlichkeit die Griechen das Elysium im Äther angesiedelt hätten, die Atmosphäre sei dagegen geprägt von der Unruhe der alten Silva und wirke in solcher Weise auch auf den Menschen, der diese Region bewohnt. Luna beeinflusse durch ihre große Nähe zur Erde die irdischen Vorgänge stärker als die übrigen Oyarses. Auf den Mondkreis folgt schließlich die Atmosphäre, deren Herrscher Pluto oder Summanus ( summus manium – ‚Höchster der Schatten‘ ) sei, doch solle Natura ihn nicht gering schätzen, weil seine Gewalt nur bis zur Mondsphäre reiche; die Luft sei das Mittel der Atmung, ohne sie könnten die Dinge nicht unversehrt existieren. Aus der Zusammenfassung wird ersichtlich, welches Gewicht dem Abstieg der Seele, die mit Natura und Urania ihren Weg durch die Himmelsregionen zurücklegt, beigemessen ist; in großer Breite wird dieser descensus naturalis, der erste des vierfachen Schemas aus dem -Kommentar, bis zum Herrschaftsbereich Plutos nachvollzogen. Sein Reich ist dem dualistischen neuplatonischen Modell entsprechend der Erdbereich, doch es fällt auf, dass einzelne Bestandteile der antiken Unterwelt in anderen Ätherregionen verortet sind wie die Parze Clotho bei Jupiter oder der Phlegethon im Kreis des Mars. Der Abstieg vereinigt zwei Aspekte in sich, einerseits den des platonischen Seelenabstiegs, andererseits den der Himmelsreise und die hierzu gehörigen astrologischen Ausführungen; Bernard verwendete vor allem Macrobius, 1.11 und 12 94 und Martianus Capella; für einige Sterne und Sternbilder müssen ihm zudem weitere, nicht genau zu bestimmende Quellen zur Verfügung gestanden haben 95. 93
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Es handelt sich bei diesem Wort vermutlich um eine Verstümmelung des Begriffs ousiarches, den der , eine Quelle der , zur Bezeichnung der Herrscher über die einzelnen Himmelsregionen verwendet; vgl. auch Cosmographia ( wie Anm. 74 ) S. 53. Stock ( wie Anm. 81 ) S. 179. Stock schlägt bereits für die Entstehung des Megacosmus mit Vorsicht Manilius’ vor ( ebd., S. 72 f. Anm. 117 ), doch weist Dronke für die astrologische Sektion auf einige wichtige Abweichungen der hin und verweist alternativ auf das anonyme astrologische Lehrgedicht , Cosmographia ( wie Anm. 74 ) S. 19 ff.
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Macrobius’ Überlegungen gehen aus von zwei Arten des Todes, dem des Körpers, bei dem die Seele von den materiellen Fesseln gelöst werde und in Freiheit zu ihrem Ursprung zurückkehren könne, und dem der Seele, d. h. deren Eintritt in den Körper 96. Als Reich des Dis, so Macrobius, sei platonischen Annahmen zufolge die von Veränderlichkeit geprägte Sphäre zwischen Erde und Mond zu betrachten 97. Bernard lässt Urania zu Beginn der Himmelsreise diesen Dualismus, der der gesamten Allegorie der unterliegt, referieren: Velle Dei, mixtura mo ulatio nexum, / Nexus amititiam pariat sacer, / Ne pigeat mentem cecas habitare tenebras / Hospitiumque pati grave corporis, / Nec propria de carne queat fecisse querelam / Spiritus imperiis subiectior. / Ut concors sibi disparitas coniuret amice, / Huius ad artis opus comes evocor. 98 Urania ist dabei ebenso von der retardierenden Wirkung der materiellen Sphäre betroffen wie die Seele: In terris homo terrenus fabricabitur hospes, / Et descensus eo michi non levis: / Humida colluvies, humili contermina terre, / Leserit e facili nostrum iubar. 99 Der vornehmliche Zweck des Abstiegs für die Seele, auf dem auch der Schwerpunkt von Bernards Darstellung liegt, besteht in ihrer Vorbildung über Bestimmung, Entscheidungsfreiheit und Zufall sowie darin, dass die Planeten mit ihren verschiedenen Charaktereigenschaften Einfluss auf sie nehmen können. Dies sei der göttliche Anteil des Menschen, indem sich seine Seele erinnern werde und, durch den Tod vom Körper gelöst, als Gott wieder in den Himmel eingehe, wie Urania ihre Schwester Natura über den göttlichen Plan in Kenntnis setzt: Mens humana michi tractus ducenda per omnes / Ethereos, ut sit prudentior: / Parcarum leges et ineluctabile fatum / Fortuneque vices variabilis, / Que sit in arbitrio res libera, cesse, / Quid cadat ambiguis <sub casibus;> / More recordantis quam <multa reducet> eorum / Que cernet, penitus <non immemo>r. / Ingeniis animoque deos celumque sequetur, / Ut regina suum vas incolet. 100 Wie Stock feststellt, übergeht Bernhard den Eintritt der Seele in den Äther, den Bereich der sieben Planeten, vermutlich weil nach seiner Konzeption die Schaffung der Seele unklar bleibt und am ehesten den Theophanien zuzurechnen ist 101. Die Grundstruktur des Abstiegs nach Macrobius bleibt jedoch erhalten: Die Seele passiert die Sphären der einzelnen Planeten, die in verschiedener Art sowohl sie als auch das irdische Leben beeinflussen 102. Jupiter, der zweite der Oyarses nach Saturn, tritt auf als milder, die Grausamkeit seines Vorgängers ausgleichender Herrscher, der die Bestimmungen des Universums auf seiner Waage in Balance bringt. Realisiert werden diese Bestimmungen von der Parze Clotho, nach antiker Tradition diejenige der Schicksalsgöttinnen, die den Menschen ins Leben ruft. Diese Kompetenz erweiterte Bernard: In der setzt Clotho die zeitlichen Ereignisse in korrekter Reihenfolge um. Ist sie auch keine 96 97 98 99 100 101
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Macrobius ( wie Anm. 43 ) 1.11.1, S. 45. Ebd., 1.11,6, S. 46. Cosmographia ( wie Anm. 74 ) Microcosmus 4,7–12, S. 126. Ebd., 4,21–24, S. 126. Ebd., 4,31–40, S. 127. Stock ( wie Anm. 81 ) S. 179: „[ … ] Bernard has omitted the initial entrance of the soul into the planetary spheres perhaps because he feels the anima is created totally by natural forces.“ Saturn verleiht Vernunft, Jupiter Tatkraft, Mars Streitlust, Sol Entscheidungsfähigkeit, Venus Verlangen, Merkur Rede- und Interpretationsvermögen, Cosmographia (wie Anm. 74) Microcosmus 5,5–22, S. 128 ff.; vgl. dazu Macrobius (wie Anm. 43) 1.12,14, S. 50; völlig abweichend ist die Darstellung Merkurs.
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souveräne Herrscherin, sondern handelt auf Weisung Jupiters, ist sie doch durch ihren Wirkungsbereich allen Oyarses vorangestellt, denn sie gebietet über den immensen Bereich zwischen den Sphären Saturns und Lunas: In consistorio suo Iupiter regia prenitebat maiestate: manum quidem sceptratus dexteram, de sinistra suspenderat momentanam, ad cuius equilibritatem nunc hominum nunc res superum pensitaret. Quicquid igitur statera fidelior iustis ponderibus exequasset, imperiosi vultus femina, Clotos, per ordinem successionibus temporum explicabat. Ea igitur, quod exequatam refixamque rerum seriem et distribuat et evolvat, tam plenissime sibi nomen maiestatis insumpsit, ut quicquid spacii Lunam interiacet et Saturnum regnum Clotos appelletur. 103 Clothos Aufgabe und ihr Einflussbereich stehen irritierend nebeneinander; während Jupiter himmlische u n d menschliche Belange austariert, die Clotho der Darstellung nach sämtlich in ihrem korrekten Ablauf umsetzt, erstreckt sich ihr Einfluss hingegen nicht bis zur Erde. Genauere Klärung gibt erst eine spätere Stelle ( Microcosmus 11,7 ), die alle drei Parzen mit ihrem Wirkungsbereich aufführt: Unde Attropos, Clothos, Lachesis, iurata providencie fatoque germanitas, similem – sed dissimili loco – mundane administrationis diligenciam curamque sunt sortite. Ortosperam firmamentis Attropos, planetarum erraticam Clothos, Lachesis terrena disponit. Die Parzen sind in Bernards Konzeption nicht mehr mit unterschiedlichen Aufgaben betraut; alle regeln wie Clotho den Ablauf der Ereignisse, doch in unterschiedlichen Regionen. Unterhalb der Sphäre des Mondes, des letzten der sieben Planeten, liegt die Scheidelinie zwischen dem unveränderlichen und milden Äther und der Luft, die, geprägt von der ursprünglichen Eigenschaft der Silva, unruhig und affektierbar ist: Erat limes aeris etherisque intervius, qui linee mediantis obiectu naturam regionum disparabat alterutram. Supra: quies intermina, serenum perpetuum, tranquillitas etheris inconcussa. Unde superna, quia non ad aliud et ad aliud momento mutationis emigrant, eo ab incolumitate et decore proprio nullatenus alteratur. Ea quidem in parte celi, quia natura est invariabili mulcebris, et quieta, solers Grecia campos consentit elisios, et felices animas alma sacrata et nunquam desitura lucis amenitate vestiri. [21] Infra, aeris qualitas turbidior infunditur, cuius mutabilis convertitur species, quotiens expositas passionibus materias contrarietas accidentium interpellat. Unde homines, quia locum incolunt inquietum – tumultus instar veteris – motus permutationis necesse est experiri. Quippe que de celo sideribusque decesserat potentius expurgata, in inferioribus remansit ad plurimum – Silve necessitas influentis. 104 Die Grenze zwischen den Regionen ist auch im Aufbau der deutlich gezogen, obwohl schon in der Beschreibung der Luna der Übergang in die beschwerlichere Körperlichkeit markiert wird. Sie ist bereits von größerer Dichte und übt durch ihre geringe Entfernung zur Erde die stärkste Wirkung auf die Belange des Menschen aus: Luna igitur, divisorem et mediastinum limitem intercurrens, feculente quidem, et reliquorum comparatione siderum corpulentie grossioris, divinas et inmortales vivacitates ignium pascens, ethin 105 etiam que crescendi natura est inferioribus subministrat. […] sicut maris excrescentias et sollicitat et exponit, sic terrenis substantiis quanto vicinior tanto potentior invenitur. […] Unum idemque numen, pro diversitate potentie et officii, nunc Lucinam in lampade, nunc Venatricem in pharetra, nunc Reginam Tartaream sertato capite preferebat 106.
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Cosmographia ( wie Anm. 74 ) Microcosmus 5,9, S. 129. Ebd., 5,20,4–21,7, S. 132. Ebd., S. 169: „In his Aeneid commentary [ … ] Bernard claims that there is a feminine noun, ethis, which means mos vel consuetudo.“ Gemeint ist die Identifikation Lunas mit der Geburtsgöttin Lucina, der Jagdgöttin Diana und der Unterweltkönigin Hekate, Cosmographia ( wie Anm. 74 ) Microcosmus 5,22, S. 132 f.
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Trotz der Mittlerposition Lunas fügt Bernard zum Übertritt der Seele bzw. der beiden Theophanien in die Atmosphäre ein Gedicht ein, in dem nochmals die Phänomene der Himmelsreise subsumiert werden, und beginnt die folgende Prosa mit Uranias Erklärungen zu den Geistwesen des Universums. Ihre Hierarchie wird, erneut ausgehend von den Engeln des Firmaments, bis zu den Dämonen der Erde referiert; erst als die Schilderung diesen Punkt erreicht hat, benennt Urania den Oyarses der Atmosphäre, Pluto: A principiis igitur aeris adusque terre superficiem contingentis, precipuus est Oyarses Plutonius, dixerim vel Summanus, quia – summus manium – a lunari iam circulo imperii regnique sui latitudines ordiatur 107. Porro numen cuius potestas in aere, maiestatis auctoritate apud conscientiam tuam nolo sordeat aut vilescat. Aer namque spirandi est organum, et sine aeris beneficio rerum incolumitas non subsistit. 108 In zwei Sätzen ist der abgehandelt; die große Zäsur, die Bernard nach dem zusammenhängenden Lauf vom göttlichen Sitz im Tugaton durch das Firmament und den Äther setzt, stellt eine Art von retardierendem Moment dar, das eine sehr hintergründige Spannung erhöht. Pluto als Herrscher der untersten Sphäre überraschte den zeitgenössischen Rezipienten der , dem die neuplatonischen Deutungsmuster wohlbekannt waren, nicht. Statt dessen kommt nun ein Descensus, der für Natura ebenso wie für den Leser mit einem negativen Vorzeichen belastet ist, zu einem zunächst nicht zu erwartenden positiven Abschluss, denn der erste Eindruck, den Natura zu Beginn ihrer Himmelsreise über den göttlichen Plan für den Menschen gewinnt, ist immerhin niederschmetternd: Schon auf ihrer Suche nach Urania erblickt sie die bekümmerten Seelen, die mit Grabesmienen und unter Tränen ihren Weg in die menschlichen Körper durch den Wendekreis des Krebses antreten: Itaque Cancri circa confinium 109 turbas innumeras, vulgus aspicit animarum 110, que quidem omnes vultibus quibus itur ad exequias et quibusdam quasi lacrimis exturbate. Quippe de splendore ad tenebras, de celo Ditis ad imperium, de eternitate ad corpora per Cancri domicilium que fuerant descensure, sicut pure, sicut simplices, obtusum cecumque corporis quod apparari prospitiunt habitaculum exhorrebant. 111 Die ominöse Wirkung dieser Erscheinung dauert nicht lange an: Schon in der ersten Rede der Urania wird das negative Vorzeichen aufgehoben, indem sie die hei-
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Hier ruft Bernard wiederum die Worte Martianus Capellas auf: denique haec omnis aeris a luna diffusio sub Plutonis potestate consistit, qui etiam Summanus dicitur quasi summus Manium, Martianus Capella, hg. von James Willis, Leipzig 1983, 2,161, S. 48. Dort folgen im Text die Deutung der Proserpina als Luna und Vorsteherin der Erde sowie Hierarchie und Unterschiede der Manen. Cosmographia ( wie Anm. 74 ) Microcosmus 7,12, S. 136. Bernard übernimmt hier abermals Informationen aus Macrobius, der den Wendekreis des Krebses als Schleuse zur Erde, den des Steinbocks als umgekehrten Weg überliefert, Macrobius ( wie Anm. 43 ) 1.12.1 f., S. 47 f. Das Bild der Seelenschar, das sich Natura bietet, noch bevor überhaupt der erste Mensch geschaffen ist, liefert ein Beispiel für ein weiteres der theologischen Kernprobleme, die in der versammelt sind, nämlich das Nebeneinander linearer Temporalität und überzeitlicher, nicht-linearer Vorsehung Gottes. Die bewusste Ambiguität, in der Bernard dieses und andere Probleme belässt, zeigt die Möglichkeiten auf, die das integumentum zur geeigneten Darstellungsform für seine Kosmogonie macht: Sie lässt die Verarbeitung des Paradoxons zu, ohne es bis zum letzten, nicht auflösbaren Widerspruch zuzuspitzen. Zu Bernards Umgang mit der poetischen Zweideutigkeit im -Kommentar vgl. Peter Godman, Opus consummatum … omnium artium imago. From Bernhard of Chartres to John of Hauvilla, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 124, 1995, S. 26–71, S. 45; 55. Cosmographia ( wie Anm. 74 ) Microcosmus 3,8, S. 125.
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lige Verbindung zwischen hinfälligem und ewigem Teil des Menschen aufzeigt. Im weiteren Verlauf gewinnt der Descensus der Seele durch immer neue Belehrungen der Urania weiteren Optimismus, der mit dem Hinweis, Pluto sei nicht geringer zu achten als die ätherischen Oyarses und gebiete über ein unabdingbares organum, nicht mehr zu ihrem Höhe-, sondern schlicht zu ihrem Endpunkt gelangt. Bernard verkehrt so die erste pessimistische Sicht des <eigentlichen> Todes mit dem Eintritt in den Körper ins Gegenteil: Zwar ist das Gefäß aus Resten verfertigt, schwach und von den Leidenschaften gesteuert, doch verwahrt es einen göttlichen Anteil, der seine Herkunft auch in diesem Zustand nicht vergisst und preisgibt. Nachdem alle Beteiligten bereits hochzufrieden sind mit dem geschaffenen Megacosmus, stellt doch gerade der Microcosmus, der physische Mensch, seine Krönung dar, nicht die Seele allein 112. Damit ist die platonische Gleichsetzung von Unterwelt/Todesreich und irdischem Leben, die Bernard in seiner Kommentierung – wie schon bei Fulgentius deutlich zum Positiven verändert – als den Weg zur Gotteserkenntnis mit den Mitteln der artes bewertete, auch in ihrer remythisierenden Verarbeitung in ein neues, optimistisches Licht gerückt 113. Bernard erlebte die imposante Wirkungsgeschichte seines Werks nur noch in ihren Anfängen, nicht mehr jedoch die großen Dichtungen, die unter dem nachhaltigen Eindruck der entstanden – vor allem die ( 1178–1182 ) Walters von Châtillon und den ( 1182/82 ) Alans von Lille. Die , ein antikisierendes Epos in zehn Büchern über das ruhmreiche Leben und den jähen Tod Alexanders des Großen, wies dabei in seiner gesamten Anlage in eine völlig andere Richtung als die integumentale Dichtung. Walter sah sich eher als einen historicus in der Tradition Lucans denn als philosophus, ungeachtet seiner umfassenden Kenntnis aller antiken und spätantiken Stilvorbilder. Seine herausragende Dichtkunst bewirkte, dass die sehr schnell Schultext wurde. Der Tatenbericht basiert auf dem historischen Überlieferungsstrang, wie ihn die des Curtius Rufus vermittelten. Die Elemente sagenhafter Verklärung, die ein weiterer, romanhafter Strang tradierte, blendete Walter weitestgehend aus. Das Epos entstand im Umfeld des französischen Königshauses; der Widmungsadressat und Mäzen des Dichters Wilhelm von Champeaux war der Onkel und Berater des Königs Philippe II. Auguste. In vielerlei Hinsicht richtete sich das Epos als eine Art Fürstenspiegel auch an den jungen Herrscher, denn die Figur Alexanders wird sowohl in ihrem Aufstieg als nachahmenswertes wie auch in ihrem plötzlichen, durch Hybris selbstverschuldeten
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Stock ( wie Anm. 81 ) S. 186 f. Eine völlig andere und bisher isolierte Bewertung der Aussageabsicht äußert Christine Ratkowitsch, Die Cosmographia des Bernardus Silvestris. Eine Theodizee, Köln u. a. 1995, und stellt den ohne Zweifel vorhandenen Aspekt einer Rechtfertigung über das Zustandekommen des Bösen in einer von einem vollkommenen Gott vorgenommenen Schöpfung in den Mittelpunkt. Als zwingend für diese Interpretation sei demnach die Delegation der Erschaffung des Menschen an immer niedrigere Emanationen zu erachten: Je weiter diese von der göttlichen Vollkommenheit entfernt und depraviert seien, desto mangelhafter müsse das Ergebnis ausfallen; gerade in der aber sei die Kette der Emanationen auffällig lang, vgl. ebd., S. 124 ff. Völlig ausgeblendet wird in dieser Lesart die explizite und unabdingbare Beteiligung Uranias als des himmlischen/göttlichen Anteils, die Aufwertung der Erdsphäre gegenüber dem neuplatonischen Modell sowie die Synthese von Seele und physischem Körper des Menschen zur Vollendung des Schöpfungswerks.
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Untergang als abschreckendes Beispiel vorgeführt. Im Prolog stellt sich Walter selbstbewusst in die Reihe illustrer Epiker der Antike und erschließt in seinem Streben nach bestmöglicher Imitation sogar einen Weg, den Descensus der für einen christlichen Kontext umzugestalten. So ist es in der die personifizierte Natura, die sich zu Beginn des 10. Buches in die Unterwelt begibt, da sie sich durch Alexanders unstillbaren Eroberungseifer bedroht fühlt. Dessen Ankündigung, der Erdkreis sei ihm zu eng und er werde daher die Geheimnisse der Natura mit Hilfe seiner bewaffneten Heerscharen offenbaren, werden von ihr als eine Beleidigung für sie und die gesamte Welt aufgenommen 114. Sie ersucht Luzifer um Hilfe bei der Vernichtung des Makedonen, der daraufhin eine Unterweltversammlung einberuft. Hier schlägt Prodicio vor, ihren Zögling Antipater, einen Präfekten aus Alexanders Heer, durch ein mit Wein vermischtes und in einem Pferdehuf gereichtes Gift zu ermorden. Im weiteren Verlauf des zehnten Buchs wird die Intrige erfolgreich umgesetzt und der im Krieg unbesiegte Feldherr findet durch das Gift den Tod. Die Figur der Natura erscheint an genannter Stelle erstmalig als Handlungsträgerin innerhalb des Epos; an ihr tritt der Einfluss der am deutlichsten zutage, wenn sie auch keine originelle Erfindung des Bernardus Silvestris, sondern vielmehr eine Neukonzeption der Chartrenser Philosophie darstellt. Walter übernimmt die Charakteristika, mit denen Natura in der ausgestattet wurde, als die Stellvertreterin und Werkmeisterin Gottes, die auch eine moralische Instanz bildet. Die gesamte Passage lässt sich in zwei Großabschnitte gliedern, den descensus Naturae und die Unterweltversammlung, innerhalb derer weitere Versgruppen zu unterscheiden sind: I. I. i. ii. iii. iv. v. II. II. i. ii. iii. iv. [ v.
Descensus Naturae ( 31–107 ) Die Laster am Eingang zur ‚stygischen Stadt‘ ( 31–57 ) Beschreibung des 1. Straforts ( 58–73 ) Leviathan ( 74–81 ) Rede der Natura ( 82–104a ) Rückzug der Natura, Zustimmung Leviathans ( 104b–107 ) Unterweltversammlung ( 108–163 [ 167 ] ) Einberufung der Versammlung am 2. Strafort; Beschreibung des Orts ( 108–125 ) Rede Leviathans ( 126–142 ) Rede der Proditio ( 143–159a ) Zustimmung der Versammlung ( 159b–162 ) Aufbruch und Rückkehr der Proditio ( 163–167 ) ]
Die Zweiteilung der Passage wird dadurch gestützt, dass Walter im ersten Teil, dem Unterweltgang, weitestgehend der , im zweiten, der Unterweltversammlung, Claudians folgt. Gleich zu Beginn ihres Descensus trifft Natura vor den Toren der Unterwelt auf eine verschwisterte Schar von Lastern, die als monstra sorores die monstra im Vorhof der vergilischen Unterwelt evozieren ( 6,174–279 ). Die Laster der 114
Galteri de Castellione Alexandreis, hg. von Marvin L. Colker, Padua 1978, 10,6–10, S. 253.
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sind freilich christlich geprägt und stimmen nicht mit dem Katalog der überein; zudem wird die verwandtschaftliche Beziehung der Personifikationen besonders betont: Ante fores herebi Stigiae sub menibus urbis Liuentes habitant terrarum monstra sorores, Inter quas antris aliarum mater opacis Abscondit loculos et coctum mille caminis Faucibus infusum siccis ingutturat aurum, Explerique nequit sitis insatiabilis ardor. Subsannans alias cunctis supereminet una Dedignata parem flagrante Superbia uultu. Mersa iacens ardente luto torquetur et ardet Pube tenus totis exhausta Libido medullis. Nauseat Ebrietas, Gula deliciosa ligurrit Et mendica suos consumit morsibus artus. Immemor Ira sui est et quo rapit impetus illuc Ebria discurrit et se sociasque flagellat. Prodicioque, Doli comes, et Detractio, macri Filia Liuoris, que cum bene facta negare Non possit, quocumque modo peruertere temptat Et minuit laudes quas non abscondere fas est. 115 Der Lasterkatalog entspricht keinem streng umrissenen Kanon; sowohl Bestandteile der später etablierten sieben Todsünden als auch Vergehen sind hier versammelt. Ihre Zahl bleibt dabei sehr überschaubar und dicht an der verschiedener bekannter Lasterreihen, die zumeist die Zehn nicht überschreiten. Dies widerspricht der gängigen mittelalterlichen Praxis nicht, die verschiedene Hierarchien der Laster untereinander kennt 116. Nachdem Walter das Geschehen vor den Unterweltmauern beschrieben hat, geht er direkt über zu einem weit in die Tiefe, nämlich in die äußerste Höhle des baratrum abgeschiedenen Strafortes und damit zu einem Bereich, der dem christlichen Fegefeuer entspricht: Est locus extremum baratri deuexus in antrum, Perpetua fornace calens ubi crimina punit Et sontes animas ultricis flamma Iehennae. Et licet unus eas atque idem torreat ignis, Non tamen infligunt equas incendia penas
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Ebd., 31–48, S. 254 f. Morton W. Bloomfield, The Seven Deadly Sins. An Introduction to the History of a Religious Concept with Special Reference to Medieval English Literature, Michigan 1952. S. 92 ff.; hierzu auch Siegfried Wenzel, The Seven Deadly Sins. Some Problems of Research, in: Speculum 43, 1968, S. 1–22; Christoph Flüeler – Martin Rohde ( Hgg. ), Laster im Mittelalter. Vices in the Middle Ages, Berlin – New York 2009.
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Omnibus. Hii leuius torquentur, seuius illi. Sic se conformat meritis cuiusque Iehenna Vt qui deliquit leuius, leuioribus ille Subiaceat penis, et qui grauiore reatu Excessit grauius, grauiorem sentiat ignem. 117 Der hier evozierte Tartarus, der nach antiker Vorstellung die dauerhaft verurteilten Frevler beherbergt, ist in der der Ort temporärer Läuterung. Zwar brennt die Feuerstelle, in der die schuldigen Seelen bestraft werden, ewig, doch setzt die Flamme, obwohl für alle Seelen dieselbe, nicht allen in demselben Maß zu. Je nach Schwere des Vergehens spürt die eine Seele die Flamme weniger, die andere mehr; der Effekt ist ganz deutlich der eines Reinigungsfeuers. Walter verdeutlicht die individuelle Wirkung mit einer an Vergil angelehnten Formulierung: Es verhalte sich, wie wenn zu den Hundstagen im Hochsommer dasselbe Sonnenlicht einen Gesunden in ausgelassene Stimmung versetze, einen Kranken hingegen quäle 118. Dieser Vergleich ist paradigmatisch für die Wirkungsweise des Fegefeuers und findet sich beispielsweise bereits im siebten Jahrhundert bei Julian von Toledo; allerdings erleiden es in seiner Konzeption die verdammten Seelen, also diejenigen, die nicht mehr aus der Hölle entkommen können. Im zwölften Jahrhundert adaptierte Petrus Lombardus die Wirkungsweise der Höllenflamme 119 in den <Sententiae>, in denen er die unterschiedlichen und in Teilen sich widersprechenden Lehräußerungen der Väter zu einzelnen theologischen Punkten ( sententiae ) gesammelt und nach scholastisch-dialektischer Methode auflöste. Es ist anzunehmen, dass Walter von Châtillon die Sentenzen kannte, denn sie erlangten schnell einen hohen Bekanntheitsgrad. Darüber hinaus könnte er sein Studium an der Sorbonne in eben jenem Zeitraum 1155–88 absolviert haben, in dem Petrus Lombardus, selbst Professor der Theologie in Paris, ebendort geschrieben hatte und las. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass Walter sich mit seiner Fegefeuer-Konzeption theologisch auf der Höhe seiner Zeit befand. Am Ort des Fegefeuers begegnet Natura dem Fürsten der Hölle, bezeichnet als Leviathan. Er steht inmitten des Feuers und facht beständig die Glut an, unterbricht für Natura jedoch sofort sein Tun. Natura bringt ‚die gemeinsame Klage der Menschen und Götter‘ 120 vor und bittet darum, Alexanders Untergang herbeizuführen. Sie listet die ungeheuerlichen Ambitionen des Feldherrn auf: So wolle er die Nilquellen aufspüren, das Paradies belagern, die Unterwelt erobern und schließlich womöglich ‚die Sonne einer anderen Natur sehen‘ 121. Leviathan sichert daraufhin seine Unterstützung zu und beruft ohne zu zögern eine Versammlung nach der Vorlage Claudians ein. Ort der Zusammenkunft ist die uralte ‚Ebene der Verworfenen‘:
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Alexandreis ( wie Anm. 114 ) 10,58–67, S. 255 f. Ebd., 71–73, S. 255: Sicut in estiui cum tempore noxius agros / Syrius exurit, sub eodem lumine solis / Sanus lasciuit, cruciatur et estuat eger; vgl. Aeneis ( wie Anm. 6 ) 10,273–275, S. 341. Le Goff ( wie Anm. 13 ) S. 123 Anm. 142. Alexandreis ( wie Anm. 114 ) 10,88, S. 257. Zur Problematik des Götterapparats vgl. Otto Zwierlein, Der prägende Einfluss des antiken Epos auf die des Walter von Châtillon ( Abh. Akad. Mainz, Geistes- und Sozialwiss. Kl. 1987 Nr. 2 ) Stuttgart 1987, S. 56 ff. Alexandreis ( wie Anm. 114 ) 10,97–100, S. 257.
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iacet inueterata malorum Planicies, durata gelu et niue saucia, cuius Nec sol indomitum nec mitigat aura rigorem. Hic sontes animae passim per plana iacentes Mortis inauditae torquentur agone, quibus mors Est non posse mori. 122 Ganz offensichtlich ist die Darstellung nun zur Hölle selbst gekommen, dem Ort ewiger Strafe; der unsäglichen Pein der verdammten Seelen verleiht Walter als Perpetuierung der Todesqual in alle Ewigkeit Ausdruck. Anders als das Fegefeuer ist sie außerdem durch die klimatischen Extreme als ein wahrer locus horribilis charakterisiert. Dieser grauenhafte Ort bietet die passende Kulisse für die Unterweltversammlung, deren offenbar zahlreiche Teilnehmer Walter jedoch nicht im Einzelnen benennt 123. Die anschließende Rede Leviathans liefert einige wichtige Informationen für sein Engagement, denn nachdem er der Versammlung die Worte der Natura mitgeteilt hat, fügt er außerdem einen ihm bekannten Schicksalsspruch hinzu, der das Ende seines Reiches und seiner Herrschaft ankündigt: [ … ] Ecce, sed id taceo, rupto parat obice terrae Tartareum penetrare Chaos belloque subactis Vmbrarum dominis captiuos ducere manes. Est tamen in fatis, quod abhominor, affore tempus Quo nouus in terris quadam partus nouitate Nescio quis nascetur homo qui carceris huius Ferrea subuersis confringet claustra columpnis, Vasaque diripiens et fortia fortior arma, Nostra triumphali populabitur atria ligno. Proinde, duces mortis, nascenti occurrite morbo Et regi Macedum. ne forte sit ille futurus Inferni domitor, leto precludite uitam. 124 Leviathan erkennt fälschlich in Alexander den gefürchteten Aggressor. Walter fügt an dieser Stelle einen heilsgeschichtlichen Durchbruch ein, indem er den Abstieg Christi in die Hölle und seinen Sieg über Tod und Teufel als eine Bestimmung des fatum einfließen lässt – eine eigenwillige Verbindung christlicher und heidnisch-antiker Vorstellungen. Wie schon einmal begehrt Leviathan gegen die ( göttliche ) Fügung auf und übersieht in seinem Plan die Diskrepanz, die sich ergäbe, würde Natura als vicaria Dei ihn mit der Vernichtung des Menschen beauftragen, der zum Sieg über ihn vorherbestimmt ist. Dennoch kann Leviathan sofort die Zustimmung des Unterweltvolks erlangen 125, und Proditio bietet ihre Hilfe zum Mord an, da sie gleich den Furien bei Claudian über einen bösartigen Zögling in Alexanders Reihen verfügt: 122 123 124 125
Ebd., 10,109b–114a, S. 257 f. Walter nennt nur die Kollektivbezeichnung, ebd., 10,121 f., S. 258: satrapae Stigis und tenebrarum [ … ] duces. Ebd., 10,131–142, S. 258. Anders in der Unterweltversammlung bei Claudian, in der die Rednerin Alecto der Unterstützung der Megära bedarf, um die Zuhörerschaft zu überzeugen.
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[ … ] presto est occasio dandi. Nam meus Antipater, Macedum prefectus, ab ipsis Cunarum lacrimis pretendere doctus amorem Voce sed occultis odium celare medullis, Ad regem ire parat, Babylona citatus ab ipso Vt sub eo senium consumat et aspera rursus Perferat emeritus castrensis tedia uitae. Hoc, ego si dea sum qua nulla potencior inter Noctigenas, si me uestram bene noctis alumpnam, Hoc mediante duci uirus letale datura Euehor ad superos. 126 Bis zu diesem Resultat der Versammlung folgt Walter der Vorlage Claudians, nur sein Personal ist ein anderes. Während bei Claudian schließlich Megära ihren Zögling Rufinus zur Problemlösung vorschlägt und sich auf ‚schnellen Schwingen‘ 127 zu ihm begibt, ist es bei Walter die Personifikation des Verrats, Proditio, die Antipater auf ‚vergifteten Flügeln‘ 128 aufsucht. Die Qualifikation der Männer für ihre Aufgabe ist bei beiden Dichtern die gleiche, nämlich die Fähigkeit zur Heuchelei: Auch Rufinus zeichnet sich dadurch aus, dass er gelernt habe, Treue zu heucheln und bedrohliche Absichten und Betrug mit einem gewinnenden Lächeln zu verdecken 129. Insgesamt bietet Walter von Châtillon mit seiner Unterweltdarstellung eine Amalgamierung orthodoxer, bereits scholastischer Theologeme und der antik-paganen Vorstellung des Ortes. Dazu variiert er das Descensus-Motiv; nicht der menschliche Protagonist, sondern Natura tritt den Weg in die ‚stygische Stadt‘ an, deren Darstellung der christlichen Hölle entspricht und eine Aufteilung in Fegefeuer und einen Strafort für die in Ewigkeit verdammten Seelen aufweist. Der Ablauf des Descensus folgt zunächst der Schilderung der : Natura begegnet am Eingang zur Unterwelt den personifizierten Lastern, anhand ihres weiteren Wegs wird die Topographie angedeutet, ihr Ziel besteht in der Unterredung mit Leviathan. Nachdem Walter damit den Unterweltgang der in stark komprimierter Form nachvollzogen hat, löst er sich von dieser ersten Vorlage, denn Naturas Begegnung mit Leviathan stellt – anders als die des Aeneas mit Anchises – nicht den Höhepunkt dar, nach dem die Passage rasch zum Ende gebracht wird. Vielmehr ermöglicht Naturas Auftrag, zu einem zweiten Teil mit dem zentralen Motiv der Versammlung nach Claudians überzuleiten. Die prophetische Rede des Anchises wird imitiert durch den heilsgeschichtlichen Ausblick aus Leviathans Mund, der für die Adressaten der Rede unverständlich bleibt, der Leser jedoch zu entschlüsseln weiß. Die Umprägung der antiken Vorgaben gelingt neben der Adaptation des Ortes vor allem durch die der Figuren: So imitiert Walter beispielsweise die Laster der mit spezifisch christlichen vitia, die claudianischen Protagonisten der Unterweltversammlung Alecto und Megära ersetzen Leviathan und 126 127 128 129
Alexandreis ( wie Anm. 114 ) 10,149b–159a, S. 259 f. In Rufinum, in: Claudianus Carmina, hg. von. John B. Hall, Leipzig 1985, S. 12–51; V. 122, S. 17. Alexandreis ( wie Anm. 114 ) 10,164, S. 260. In Rufinum ( wie Anm. 127 ) V. 97 ff., S. 16 f.: meque etiam tradente dolos artesque nocendi / edidicit simulare fidem sensusque minaces / protegere et blando fraudem praetexere risu, / plenus saeuitiae lucrique cupidine feruens.
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Proditio. Trotz des aufmerksamen Ummodelns einerseits nimmt Walter sich andererseits die dichterische Freiheit, einige antike und in seiner Konzeption eigentlich diskrepante Faktoren wie Götterapparat und fatum beizubehalten, doch während diese Widersprüche allegorisch aufzulösen sind, bleibt für die Unterwelt der das Gegenteil festzuhalten: Sie ist gerade nicht die neuplatonische Allegorie der Welt, auf die die exegetische Tradition den antiken Hades mittlerweile nahezu festgelegt hatte, sondern vermittelt – wenn auch literarisch überformt – ein Bild des eigentlichen christlichen Höllenortes. Die Imitation der antiken Epiker, wie sie Walter von Châtillon und andere verfolgten, stieß neben der Bewunderung für die Stilbeherrschung auch verbreitet auf Kritik, die sich zumeist an der Erzählform entfachte. Mancher Rezipient stellte nun als obligaten Anspruch an einen poetischen Text, dass dieser gemäß der integumentalen Theorie auch philosophische Inhalte über seine Erzähloberfläche hinaus vermittelte. Ein historisches Epos und größtenteils reiner Tatenbericht entsprach dieser Forderung nicht und hätte, selbst wenn eine übertragene Auslegung möglich gewesen wäre, seine Kompetenzen überschritten, denn wie bereits erwähnt, war die Vermittlung von höheren Wahrheiten durch den historischen Bericht allein der Heiligen Schrift vorbehalten. Ein prominenter Kritiker war der Pariser Theologie-Magister A l a n v o n L i l l e , der in der historischen Epik Walters von Châtillon ein Paradebeispiel für ein solches falsches Sujet und das Gegenteil seiner eigenen Dichtungskonzeption erkannte. Wie Bernardus Silvestris entwickelte Alan einen Mythos zur Vermittlung theologischer Inhalte, zunächst in dem Prosimetrum ( 1160/70 ), später im . Beide Werke sind stark von der beeinflusst und stehen auch untereinander in augenfälligem Verhältnis: Im klagt die personifizierte Natura dem Dichter-Ich in einer Erscheinung die Depravation des Menschen, im Anticlaudian beschließt sie aus Unzufriedenheit über ihre bisherigen Werke, den neuen, vollkommenen Menschen zu erschaffen. Das integumentale Verfahren des Anticlaudian ist dennoch verschieden von dem der , denn in ihm stehen agierende allegorische Figuren neben sich selbst erklärenden Personifikationen und schließlich Gott selbst, den Engelchören sowie den Kerngestalten seines Heilsplans Christus und Maria. Hinzu treten Alans eigene ambivalente Angaben über die Sinnebenen, die er im Prosaprolog zu den neun Büchern des Anticlaudian darlegt 130. Zwar evozieren die dort genannten drei Sinnebenen das Modell des biblischen dreifachen Schriftsinns, doch hält die Austauschbarkeit der Begriffe allegoria und integumentum „die Verstehensmodi des Werks zugleich nach der theologischen und der rhetorischpoetischen Seite hin offen“ 131. Das integumentum selbst ist verhältnismäßig leicht nachzuvollziehen: Nachdem Natura die Erschaffung des vollkommenen Menschen beschlossen hat, beruft sie die Tugenden zu sich ein, denn jede soll den neuen Menschen mit ihren Gaben beschenken. Die Seele kann jedoch nur Gott geben, so dass die Versammlung Prudentia zu 130
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Anticlaudianus ( wie Anm. 81 ) S. 56: In hoc etenim opere litteralis sensus suauitas puerilem demulcebit auditum, moralis instructio proficientem imbuet sensum, acutior allegoriae subtilitas perficientem acuet intellectum. Hier zitiert mit der von Meier ( wie Anm. 72 ) S. 20 Anm. 87 vorgeschlagenen Vertauschung von perficientem und proficientem, die auch handschriftlich belegt ist. Anticlaudianus ( wie Anm. 81 ) S. 21.
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einer Himmelreise bestimmt. Diese tritt sie an mit einem Wagen, den die artes liberales bauen und der von den Pferden der fünf Sinne gezogen wird. Als die Gesandte den Sternenhimmel hinter sich gelassen hat, sieht sie sich außerstande, den weiteren Weg zu bewältigen. Erst mit Hilfe der Theologia gelangt sie zum Empyreum und erblickt dort so Wunderbares, dass ihre Verstandeskraft den Sensationen nicht standhalten kann: Beim Eintritt in das Innere des Empyreums wird sie ohnmächtig. Nun kommt ihr Fides zur Hilfe und reicht einen Trank und einen Spiegel, durch den erst Prudentia den Glanz der höchsten Dinge ertragen kann. Sie schildert Gott ihr Anliegen, worauf sie die Seele eines himmlischen Menschen erhält und zur Erde zurückkehrt. Nun erschaffen Natura und Concordia den neuen Menschen, den die Tugenden beschenken. Als Alecto durch Fama Nachricht von der neuen Kreatur erhält, beruft sie eine Versammlung der Unterwelt ein und zieht mit den Lastern in den Krieg. Die Tugenden rüsten den neuen Menschen und mit ihrer Hilfe kann er die Entscheidungsschlacht gewinnen, so dass ein Goldenes Zeitalter anbricht. Wie Alan schon mit dem vollständigen Titel deutlich zu verstehen gibt, liefert Claudians den Subtext seiner Dichtung; ebenso deutlich wird auch seine Umkehrung der claudianischen Vorlage. Während diese die Erschaffung des vollkommen bösen Menschen durch die Furien darstellt, setzt Alan ihm die des vollkommen guten Menschen entgegen. Wie bei Claudian gleich zu Beginn Alecto eine Unterweltversammlung einberuft, um ihren Vernichtungsplan zu verkünden und Zustimmung einzuholen, versammelt zu Beginn des die unzufriedene Natura die Tugenden an ihrer Wohnstatt. Claudians Eingangsszene verwendet Alan wiederum am Ende seiner Dichtung, wo Alecto von der Unterweltversammlung den Konsens zum Krieg gegen neuen Menschen sucht. Die Handlung der Unterweltversammlung im ist knapp, doch gewinnt die Szene einen beachtlichen Umfang und ein entsprechendes Gewicht aus Alans enzyklopädischem Lasterkatalog. Eine inhaltliche Zäsur trennt deutlich zwei etwa gleich große Abschnitte: Der Unterweltversammlung mit der Rede der Alecto folgt die Formierung des infernalischen Heeres, die den Auftakt zum abschließenden Kampf zwischen den Lastern und dem neuen Menschen bildet. Der Ablauf der Unterweltversammlung ist allerdings nicht identisch mit dem antiken Subtext: Während bei Claudian die Zuhörerschaft nach Alectos Rede gespalten ist und sich erst durch eine weitere Rede der Megära überzeugen lässt 132, stimmen bei Alan die Scharen sofort begeistert Alectos Plan zu. Gerade die Verse, die die Zusammenkunft einleiten 133, rufen (wie in der ) sofort die Vorlage wach, denn Claudian fasste diese Szene bereits in ähnliche Worte 134. In beiden Werken folgt nun die Aufzählung der pestes. Bilden die Personifikationen bei Claudian eine Hierarchie 135, führt Alan sie stattdessen in einer asyndetischen Reihung auf 136. 132 133
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In Rufinum ( wie Anm. 127 ) S. 15, V. 68. Anticlaudian ( wie Anm. 81 ) 8,160 ff., S. 177: Ergo suas pestes pestis praedicta repente / Conuocat, ad cuius nutum glomerantur in unum / Tartarei proceres [ … ]. In Rufinum ( wie Anm. 127 ) S. 14, V. 28 ff.: protinus infernas ad limina sorores, / concilium deforme, uocat. glomerantur in unum / innumerae pestes Erebi [ … ]. Ebd., V. 30–38. Anticlaudian (wie Anm. 81) 8,163–167, S. 177. Peter Ochsenbein, Studien zum Anticlaudianus des Alanus ab Insulis, Bern – Frankfurt 1975, S. 141: „Es ist nicht möglich, hier ein bestimmtes Schema herauszulesen; es scheint nämlich, daß die Reihenfolge der Laster wesentlich vom Versmaß her bestimmt wird.“
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Dabei erstaunt, dass sie nur bedingt den Lastern entsprechen, die in der späteren Marschordnung wiederkehren, und sogar Mehrfachnennungen erscheinen, die sich bestenfalls durch unterschiedliche Bedeutungsnuancen erklären lassen. Zu trennen sind der „unentwirrbare Haufe von antiken Dämonen ( Tartarei proceres, rectoresque noctis, V. 162 ) und Lastern der christlichen Glaubenslehre ( culpaeque magistri, V. 163 )“ 137 und die eigentliche Lasterschar, die später zum Kampf gegen den homo novus und die Tugenden antritt. Doch auch unter Abzug mancher antik-mythologischen Gestalten in der Versammlung geht Alans Darstellung weit über die in der mittelalterlichen Literatur verbreiteten Tugend- und Lasterkataloge hinaus. Man mag hierin eine enzyklopädische Auflistung erkennen; die ungewöhnliche Zusammenstellung, die nach christlich-dogmatischen Vorstellungen kaum als lasterhaft einzuordnende Größen wie pauperies oder ignobilitas beinhaltet, weist jedoch auch in das Wertesystem höfischer Kultur 138. Dass der Dichter die Laster und auch die Tugenden hier in anderem Kontext zusammenstellt als dem theologischen und damit eine andere Intention verfolgt, belegt der Vergleich mit einem weiteren seiner Werke, dem Traktat , der das Thema nach christlichem Wertesystem behandelt 139. Der Katalog im hängt dagegen stark von der Figur des homo novus ab, die jedoch „bis heute noch keine befriedigende Deutung gefunden [ hat ]“ 140. Der Aufmarsch des Lasterheeres ist eindeutig in der Unterwelt verortet; erst nach der Formierung ergießen sich ihre Plagen über den Erdkreis 141. Die Übernahme des Hades bzw. der Hölle als ständigen Aufenthaltsorts der Laster von Vergil wurde bereits in der festgestellt. Obwohl die Subtexte starke Assoziationen des Ortes hervorrufen, besteht Alans Unterwelt weniger in einem geographischen Ort als vielmehr in einer Prosopographie, die Betonung liegt auf den Gestalten, nicht etwa auf dem Ausgangspunkt des egressus. Zwar ist die Assoziation mit der Unterwelt hinreichend gegeben, und Walter von Châtillon beweist in der , dass die Übernahme antiker Hades-Darstellungen einer christlichen Adaptation nicht im Weg steht, doch spielt die räumliche Gegebenheit keine Rolle im und wäre der Werkintention vielleicht sogar abträglich. Allein Alecto und Pluto erscheinen als Komponenten des antiken Hades; dem Unterwelt-Herrscher wird jedoch keine Funktion zugeschrieben, sondern er dient gewissermaßen als Metonymie lediglich dazu, die Herkunft der Lasterscharen zu charakterisieren. Die antiken dämonischen Gestalten bleiben unbenannt und im Dunkeln; die vitia als Bewohner des Tartarus gehen zwar ebenfalls auf die antike Literatur zurück, doch ist ihre Bedeutung mittlerweile derart christlich geprägt, dass sie auch in einer Darstellung der christlichen Hölle unproble137
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Hans Robert Jauss, Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der Psychomachia ( von Prudentius zum ersten Romanz de la Rose ), in: Ders. – Dieter Schaller ( Hgg. ), Medium Aevum Vivum: Festschrift für Walther Bulst, Heidelberg 1960, S. 179–216, S. 190. Ebd., S. 198 f. Hier findet sich die zu diesem Zeitpunkt noch nicht die kanonische Siebenzahl der vitia capitalia, s. hierzu Le traité d’Alain de Lille sur les vertus, les vices et les dons du Saint-Esprit, hg. von Odo Lottin, in: Mediaeval Studies 12, 1950, S. 20–56, S. 40 f. Jauss ( wie Anm. 137 ) S. 198 Anm. 60; hierzu auch Christel Meier, Zum Problem der allegorischen Interpretation mittelalterlicher Dichtung. Über ein neues Buch zum des Alan von Lille, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 99, 1977, S. 250–296, S. 257 ff. Anticlaudian ( wie Anm. 81 ) 8,338–340, S. 183.
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matisch verortet werden könnten. Trotzdem lässt Alan nicht den Eindruck entstehen, es handle sich dabei um den Sitz Satans und einen Strafort der Seelen; genau diese Elemente, die erst die christliche Hölle konstituieren, fehlen. Der besitzt keinen eschatologischen Horizont, der homo novus ist in der Lage, moralische Perfektion zu erlangen, indem er sich beständig den ihn anfeindenden Lastern stellt. Das Rüstzeug dazu bieten ihm die Tugenden, wie aus Alans Allegorie klar hervorgeht 142. Die Psychomachie im abschließenden neunten Buch des stellt somit den notwendigen Schluss dar, denn der homo novus muss durch sie erst die rechte Haltung erlangen: Die Erlösungstat, die Christus einmal für die Menschheit vollzogen hat, ist nun durch den Menschen selbst immer wieder zu erneuern. Alans Konzeption bietet keinen Raum für einen Strafort – vielmehr ergibt sich die Unterwelt des aus der Schar der Laster als Personifikationen moralischer Anfeindungen, deren Verortung aus Vergil und Claudian bekannt war, so dass ihre Erwähnung in Verbindung mit Alecto für den gebildeten Leser unweigerlich auch den Ort aufrief. Details der Topographie, der dort Bestraften und der sonstigen Bewohner fehlen hingegen; der Sinngehalt, der all diesem in der Kommentartradition zugeschrieben worden war, geht in den Lasterscharen auf. Es bleibt, die Funktion der Alecto zu klären. Jauss weist darauf hin, dass sie nicht mehr Teil des Lasterheeres ist, das gegen die Tugenden in den Krieg zieht. Somit setzt Alan sie nicht mit den vitia gleich. Stattdessen „benutzt [ er ] wieder wie Claudian den klassischen Apparat der Furien um die epische Handlung in Gang zu bringen und gibt nun Alecto die Stellung einer domina aller Laster. [ … ] In [ der ] Trennung der Funktionen gewinnen die antiken Figuren wieder ihren mythologischen Rang zurück: sie intervenieren oder bringen die Handlung in Gang und sind darin den allegorischen Personifikationen übergeordnet [ … ]“ 143. VI.
Im 12. Jahrhundert entstanden noch weitere Texte, in denen die antike Unterwelt einen bedeutsamen Platz einnahm, darunter beispielsweise auch die große allegorische Dichtung des Johannes von Hauvilla, der sein Anliegen der moralischen Didaxe mithilfe eines komplexen raumallegorischen Verweissystems verfolgte; der mythologische Ort und seine Bewohner werden zu Mittlern zwischen dem Diesseits und dem eschatologischen Ort der Hölle, indem die räumlichen Bewegungen der durch das Unterweltpersonal repräsentierten Laster zwischen Unter- und Oberwelt sowie die Beschaffenheit von Landschaft und Gebäuden die Konsequenz moralischen Fehlverhaltens widerspiegeln. Neben der Rezeption in den Großdichtungen wird die Unterweltkommentierung wieder aufgenommen und zusätzlich wie von Baudri von Bourgueil und Rahewin von Freising in Lehrgedichten aufbereitet. Es ist jedoch berechtigt, die , die und den als die zentralen Texte 142
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Über das Verständnis des Dichters, wie sie zu handhaben seien, gibt wiederum sein Traktat Aufschluss: Demnach ist die Tugend zunächst ein natürliches menschliches Vermögen; hat der Mensch die nötige Reife erlangt, muss er dieses Vermögen richtig einsetzen. Durch wiederholten richtigen Einsatz der Tugend erwirbt der Mensch schließlich eine moralisch korrekte Haltung, Ochsenbein, Studien ( wie Anm. 136 ) S. 142 f.; Le traité d’Alain de Lille ( wie Anm. 139 ) S. 26 f. ( Caput I: De Uirtutibus, Art. I De natura uirtutis ). Jauss ( wie Anm. 137 ) S. 190.
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mittelalterlicher Unterweltrezeption vor Dante zu werten ( und daher diese kurze Betrachtung auf sie konzentriert zu haben ); obwohl sie aufgrund der wieder gewonnenen Stilhöhe, ihrer mitunter komplexen Sujets und deren innovativer Behandlung zu den wichtigsten – und den am gründlichsten erforschten – Dichtungen des Mittelalters zählen, ist der in ihnen und im gesamten 12. Jahrhundert so augenfälligen Präsenz der antiken Unterwelt bisher kaum Aufmerksamkeit gewidmet worden. Für ein wirkliches Verständnis ist es daher unbedingt angezeigt, Verfahren und Zweck ihrer Unterweltrezeption sowie die zugrunde liegende Kommentartradition zu beleuchten. Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen konnten, sollte der übliche Brückenschlag von Vergil zu Dante um den Pfeiler der hochmittelalterlichen Rezeption ergänzt werden, waren doch für Dantes Höllengang in der – wenn man ihn gewissermaßen als Fluchtpunkt der Descensus-Tradition begreifen will – eben nicht nur die auctoritas Vergil und die mittelalterliche Visionsliteratur wichtige Voraussetzungen, sondern in nicht zu unterschätzendem Maß auch die mittelalterliche Allegorese 144. Dante führte damit die drei maßgeblichen Stränge der Unterweltrezeption zusammen, die sich seit Beginn der christlichen Auseinandersetzung mit dem antik-mythologischen Hades auseinanderbewegt hatten: Den einen Strang bildete die übertragene Ausdeutung nach platonisch-dualistischen Mustern, wie sie die spätantiken heidnischen Vergil-Kommentatoren propagiert hatten; nach ihr stand der Hades für das irdische Menschenleben im fleischlichen Leib, das in seiner Düsternis voll eitler Trugbilder und Schatten dem strahlenden und ruhigen Äther als Ursprungsort der Seelen entgegengesetzt war. Der Unterweltgang stellte die Bewährungszeit der Seele dar, die dort verorteten Lasterpersonifikationen und Büßer repräsentierten die Anfeindungen, denen sie zu widerstehen hatte, um erfolgreich die Rückkehr in ihre Heimat anzutreten. Die große Präsenz der spätantiken Deutungsmuster in Kommentierung und Dichtung ist nicht zuletzt auch in hohem Maße den zum Schullektürekanon zugehörigen Vergilkommentaren zuzuschreiben. An das moralisierte Verständnis der Mythologie konnte die patristische VergilLektüre anknüpfen, die als ein zweiter Strang zu betrachten ist. Sie stand inhaltlich der spätantiken heidnischen Kommentierung sehr nah, denn aus der analogen christlichen Vorstellung eines Leib-Seele-Dualismus und des Seelenverdienstes ergab sich die Anschlussfähigkeit der übertragenen Ausdeutung für die christliche Rezeption. Die Grenze zwischen allegorischer Unterwelt und christlicher Hölle wurde dabei streng beachtet, denn diese sollte keinesfalls ihrer eschatologischen Aktualität beraubt und zu einem bloßen Bild degradiert werden. Ein dritter Strang, derjenige der Visionsliteratur, ließ dagegen die antike Unterwelt umgekehrt zur christlichen Hölle werden und übernahm Züge von Vergils Darstellung. Zwar lag das eigentliche Vorbild der Visionen in den Jenseitswanderungen der jüdisch-hellenistischen Tradition, aber da Vergil selbst auf derartige Texte zurückgegriffen hatte, konnten vor allem die frühmittelalterlichen Visionsberichte an die epische Darstellung anknüpfen. Die Unterwelt der lieferte eine Folie für die 144
Die Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Hermeneutik bildet immerhin den Kern des Widmungsbriefs an Cangrande della Scala. Dass Dante sich in die Tradition der allegoria stellt, also seiner Darstellung die Autorität des Bibelwortes zugestanden wissen will, ist kaum als Abwertung des Einflusses der vorhergehenden Literaturtheorie zu verstehen.
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literarische Ausgestaltung und zudem ein Repertoire für eine möglichst eindrückliche und drastische Höllenschilderung, wie sie derartige Texte verfolgten 145. Um die Unvereinbarkeit beider Stränge aufzuheben und in einer allegoria einen lebenden Menschen die Hölle durchwandern zu lassen, bedurfte es einer neuartigen Form, die Dante schließlich in der Vision der vorlegte; ihr inferno beherbergt gleichzeitig sowohl die gequälten Seelen historischer Persönlichkeiten als auch etliche allegorische Gestalten der antik-paganen Tradition; eine solche Verquickung von Historizität und Allegorese ist in keinem früheren Text zu beobachten. Die Komplexität der danteschen Darstellung provozierte eine ungeheure Kommentierungstätigkeit, angefangen bei seinem Sohn Pietro Alighieri, der manch unorthodoxe Konzeption seines Vaters posthum zu rechtfertigen suchte 146, bis zu Galileo Galilei, der in der berühmten Vorlesungsreihe der Accademia Fiorentina zur über die Maße des inferno sprach 147. Die Revolution des ptolemäischen Kosmos und das Zerbrechen des mittelalterlichen Weltbilds bedrohte vor allem die christliche Vorstellung von einer unterirdischen Hölle. Das metaphorische Konzept, das sich bereits seit der Spätantike von der Annahme eines geographischen Unterweltortes gelöst hatte – dessen Existenz war immerhin schon von Servius gut begründet ausgeschlossen worden 148 – überstand indes selbst die neuzeitliche Rationalisierung des Untergrundes. Gerade der mechanische Umgang mit dem Erdreich, seine Bearbeitung und Erforschung im Zuge des industrialisierten Bergbaus, der Archäologie und der modernen Geowissenschaften 149 bewirkten in der Reflexion dieser Prozesse die Wiederaufnahme der metaphorischen Tradition und sicherten so letztlich das Fortleben der antiken Unterwelt und des Descensus-Motivs für die Moderne.
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Sicherlich spielen für die Visionsliteratur auch volkstümliche Höllenvorstellungen eine immense Rolle; ein des Lesens Unkundiger wird in einer Höllenvision kaum die vergilische Unterwelt erblicken. So z. B. die bereits in der Hölle leidende Seele des Frate Alberigo, dessen Körper, besessen von einem Dämon, noch wie lebendig auf Erden wandelt, Inf. XXXIII,122 ff., hierzu Bernd Roling, Der Fall des Frater Albericus. Dante, Inferno, Gesang 33, und die Kontinuität von Person und Schuld, in: Andreas Speer – David Wirmer ( Hgg. ), Das Sein der Dauer, Berlin – New York 2008, S. 320–338. Galileo Galilei, Vermessung der Hölle Dantes, in: Ders., Sidereus Nuncius – Nachricht von neuen Sternen, hg. von Hans Blumenberg, Frankfurt am Main 1965, S. 231–250. S. oben Anm. 48. Hierzu beispielsweise Humphrey Jennings, Pandaemonium 1660–1886. The Coming of the Machine as Seen by Contemporary Observers, London 1985; Lesser ( wie Anm. 7 ); Platthaus ( wie Anm. 3 ) S. 24–53; Williams ( wie Anm. 7 ).
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KERSTIN SEIDEL
Vorzeigen und nachschlagen. Zur Medialität und Materialität mittelalterlicher Rechtsbücher 1 I
Gegen Ende des Jahres 1401 trug der Lüneburger Stadtschreiber in das neu angelegte Stadtbuch einen Ratsbeschluss ein, der die Reihenfolge der Rechte, die in der Stadt gelten sollten, festlegte: Der Rat wollte zuerst nach Stadtrecht, dann nach <Sachsenspiegel>-, nach <Schwabenspiegel>- und zuletzt nach geistlichem Recht richten 2. Zeitgleich ließ der Lüneburger Rat das Stadtrecht neu aufschreiben und ein <Sachsenspiegel>- sowie ein <Schwabenspiegel>-Manuskript anlegen, womit die Rechte auch materiell zugänglich gemacht wurden. Dieser Fall soll als Ausgangspunkt für eine Untersuchung des herrschaftskulturellen Umgangs mit Rechtsbüchern dienen. <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel> als übergeordnete Rechte auf der einen Seite 3 und das partikulare städtische Recht auf
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Dieser Beitrag entstand im Rahmen des SNF-Projekts <Materialien, Techniken und Wissensbestände der weltlichen Administrationskultur> sowie des Teilprojekts <Medien der Ordnung. Praktiken des Umgangs mit Rechtsaufzeichnungen und Wandel der politischen Kultur ( 1200–1500 )> des NCCR <Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven> unter der Leitung von Prof. Dr. Simon Teuscher. Ich danke Rainer Hugener, Stefan Kwasnitza, Lena Rohrbach und Simon Teuscher für konstruktive Diskussionen sowie Hiram Kümper und Marek Wejwoda dafür, dass sie mir unveröffentlichte Manuskripte ihrer Arbeiten zur Verfügung stellten. Stadtarchiv Lüneburg, AB 3, fol. 13r. Dieser Ratsspruch wurde in der Literatur vielfach besprochen, zum Beispiel von Wilhelm Reinecke, Geschichte der Stadt Lüneburg, Lüneburg 1933, 1, S. 329 f.; Ulrich Drescher, Die Lüneburger Ratshandschriften des Sachsenspiegels, in: Ruth Schmidt-Wiegand – Dagmar Hüpper ( Hgg. ), Der Sachsenspiegel als Buch, Frankfurt am Main 1991, S. 105–142 und 441–453; Eckhart Thurich, Die Geschichte des Lüneburger Stadtrechts im Mittelalter, Lüneburg 1960, S. 59; Eberhard Isenmann, Zur Rezeption des römisch-kanonischen Rechts im spätmittelalterlichen Deutschland im Spiegel von Rechtsgutachten, in: Jan A. Aertsen – Martin Pickavé ( Hgg. ), „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin – New York 2004, S. 206–228, hier S. 213. – Dass das Stadtrecht zuerst gelten sollte und die Spiegelrechte, die allgemeinere Gültigkeit beanspruchten, untergeordnet wurden, entspricht durchaus mittelalterlichen Rechtsvorstellungen, nach denen das Recht mit dem engeren Gültigkeitsrahmen dem umfassenderen vorgehe. Vgl. Andreas Daniel, Gemeines Recht. Eine systematische Einordnung der Rechtsfigur und ihrer Funktion sowie die Bestimmung der inhaltlichen Probleme aus der Sicht des 18. Jahrhunderts, Berlin 2003, S. 185 f.; Gerhard Dilcher, Die stadtbürgerliche Gesellschaft und die Verrechtlichung der Lebensbeziehungen im Wandlungsprozeß zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Hartmut Boockmann u. a. ( Hgg. ), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, 1 ( Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische Klasse, 3. Folge, Nr. 228 ) Göttingen 1998, S. 93–114, hier S. 106. Die umfangreiche Forschung zum <Sachsenspiegel> soll hier nicht aufgerollt werden. Einen aktuellen Forschungsüberblick bieten Rolf Lieberwirth – Frank-Michael Kaufmann, Einleitung, in:
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der anderen interessieren dabei nicht nur als normative Rechtstexte, sondern vor allem in ihren medialen Funktionen und in ihrer Materialität 4. Vor allem in der Forschung zu den Rechtsbüchern sind derartige Aspekte bislang zu wenig beachtet worden. Der <Sachsenspiegel> wurde oftmals zu selbstverständlich als geltendes Recht aufgefasst. Da Textvarianten oder die Biographie des Autors häufig im Zentrum des Interesses standen, liegt der Schwerpunkt der Forschung zumeist auf der frühen Überlieferung, wenngleich diese erst ein gutes halbes Jahrhundert nach der rekonstruierten Abfassungszeit des Rechtsbuchs lag 5. Dabei wurde vielfach nicht bedacht, dass die materielle Ausgestaltung vieler Handschriften – vor allem der späteren aus dem 14. und 15. Jahrhundert – und deren erschließbare Gebrauchszusammenhänge nicht immer eindeutig auf einen Einsatz in der Gerichtspraxis hindeuten 6.
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Frank-Michael Kaufmann ( Hg. ), Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Buch’sche Glosse ( MGH Fontes iuris Germanici antiqui, N.S. 7/1–3 ) Hannover 2002, S. XVII–LXXX, vor allem S. XVII– XXII. Ein kommentierter Überblick über die Literatur zum <Sachsenspiegel> findet sich auch bei Hiram Kümper, Sachsenspiegel. Eine Bibliographie – mit einer Einleitung zu Überlieferung, Wirkung und Forschung, Nordhausen 2004. Zum <Schwabenspiegel> wurde ungleich weniger Forschungsliteratur produziert. Vgl. vor allem die entsprechenden Artikel in den einschlägigen Lexika: Peter Johanek, Art. <Schwabenspiegel>, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 8, 1992, Sp. 896–907; Winfried Trusen, Art. <Schwabenspiegel>, in: HRG 4, 1990, Sp. 1547–1551; Karin Nehlsen-von Stryk, Art. <Schwabenspiegel>, in: LMA 7, 1995, Sp. 1603–1605; sowie Harald Rainer Derschka, Der Schwabenspiegel. Übertragen in heutiges Deutsch mit Illustrationen aus alten Handschriften, München 2002. Vgl. zu einem derartigen Ansatz Simon Teuscher, Kompilation und Mündlichkeit. Herrschaftskultur und Gebrauch von Weistümern im Raum Zürich ( 14.–15. Jahrhundert ), in: Historische Zeitschrift 273, 2001, S. 289–333, hier S. 291.; Ders., Erzähltes Recht. Lokale Herrschaft, Verschriftlichung und Traditionsbildung im Spätmittelalter, Frankfurt am Main – New York 2007; Roger Sablonier, Verschriftlichung und Herrschaftspraxis. Urbariales Schriftgut im spätmittelalterlichen Gebrauch, in: Christel Meier u. a. ( Hgg. ), Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur ( Münstersche MittelalterSchriften 79 ) München 2002, S. 91–120. Explizit zu Rechtsbüchern künftig Lena Rohrbach, Pragmatik in Szene gesetzt. Mediale Dimensionen spätmittelalterlicher Handschriften des Jyske Lov, in: Bibliotheca Arnamagnæana, Opuscula ( 2009 ); Dies., Die Fabrikation des Rechts. Implikationen medialer Ausformungen in west- und ostnordischen Rechtsbuchhandschriften, in: Agneta Ney u. a. ( Hg. ), Saga and East Scandinavia. Preprint Papers of the 14th International Saga Conference, Uppsala, 9th–15th August 2009, 2, Gävle 2009, S. 807–815. Jüngst Christa Bertelsmeier-Kierst, Kommunikation und Herrschaft. Zum volkssprachlichen Verschriftlichungsprozeß des Rechts im 13. Jahrhundert ( Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beiheft 9 ) Stuttgart 2008. – Die Entstehungszeit des <Sachsenspiegels> liegt nach übereinstimmender Meinung aller aktuellen Darstellungen zwischen 1220 und 1235. Vgl. jüngst etwa Heiner Lück, Der Sachsenspiegel als Kaiserrecht. Vom universalen Geltungsanspruch eines partikularen Rechtsbuches, in: Matthias Puhle – Claus-Peter Hasse ( Hgg. ), Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 962 bis 1806, 2: Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters, Magdeburg 2006, S. 263–275, hier S. 263. Die ältesten Handschriften sind allerdings erst aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bzw. der Wende zum 14. Jahrhundert erhalten. Anders Bertelsmeier-Kierst, die ein Fragment auf Mitte des 13. Jahrhunderts datiert. Vgl. Christa Bertelsmeier-Kierst, Zur ältesten Überlieferung des Sachsenspiegels, in: Stephan Buchholz – Heiner Lück ( Hgg. ), Worte des Rechts – Wörter zur Rechtsgeschichte. Festschrift für Dieter Werkmüller zum 70. Geburtstag, Berlin 2007, S. 56–77. Ohnehin legen wenige Arbeiten das Augenmerk auf konkrete Gebrauchssituationen. Ausnahmen bilden hier die Arbeiten von Ruth Schmidt-Wiegand und Dagmar Hüpper: Ruth Schmidt-Wiegand, Gebrauchssituationen im Spiegel der Mitüberlieferung. Die deutschen Rechtsbücher des 13. und 14. Jahrhunderts in ihren Codices, in: Hagen Keller ( Hg. ), Der Codex im Gebrauch. Akten des
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Eine Betrachtungsweise, welche die Manuskripte und einzelne Elemente der Codices als einen medialen Komplex betrachtet, der nicht nur über den Text, sondern auch über die Materialität Sinn produziert, kann aber den Blick schärfen für weitere Gebrauchszusammenhänge und für vielfältige, unter Umständen ambivalente Bedeutungen, mit denen die Bücher versehen wurden 7. Im Folgenden sollen zunächst die Rahmenbedingungen des eingangs angesprochenen Ratsbeschlusses untersucht und damit eine Phase in den Blick genommen werden, in der sich die Schriftlichkeit im Umfeld des Lüneburger Rats ausdifferenzierte und Ansätze einer Neuordnung der städtischen Rechte zu beobachten sind ( II ). Im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts legte der Lüneburger Rat weitere Rechtsbücher an, die mit innovativen Ordnungssystemen versehen und mit neuartigen Arbeitstechniken erschlossen wurden. Deren Gebrauchszusammenhänge und Funktionsweisen müssen im Hinblick auf einen möglichen Wandel im herrschaftskulturellen Umgang mit Recht und Rechtsschriftlichkeit untersucht werden ( III ). Abschließend sollen die Ergebnisse, die anhand des Lüneburger Fallbeispiels gewonnen wurden, in eine allgemeine Diskussion des Umgangs mit Rechtsbüchern im späten Mittelalter eingeordnet werden ( IV ). II
Der Beschluss, mit dem die Ordnung der in der Stadt geltenden Rechte festgeschrieben wurde, wurde in einer Zeit gefasst, in der die Schriftproduktion des Lüneburger Rats auf einem Höhepunkt angelangt war. In den gut zwei Jahrzehnten zwischen 1390 und 1410 wurden in der städtischen Kanzlei zahlreiche neue Dokumente produziert, genutzt und archiviert 8. Neben einer neuen Qualität der Verwaltungstätig-
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Internationalen Kolloquiums 11.–13. Juni 1992 ( Münstersche Mittelalter-Schriften 70 ) München 1996, S. 69–86; Dies., Rechtsbücher als Ausdruck pragmatischer Schriftlichkeit. Eine Bilanz, in: Frühmittelalterliche Studien 37, 2003, S. 435–475; Dagmar Hüpper, Auftraggeber, Schreiber und Besitzer von Sachsenspiegel-Handschriften, in: Ruth Schmidt-Wiegand – Dagmar Hüpper ( Hgg. ), Der Sachsenspiegel als Buch, Frankfurt am Main 1991, S. 57–104. Vgl. zu den Stichworten <Medialität> und <Materialität> Fabio Crivellari u. a., Einleitung. Die Medialität der Geschichte und die Historizität der Medien, in: Dies. ( Hgg. ), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, S. 9–45, hier S. 21 mit dem grundlegenden Gedanken, dass Medien nicht als das Materielle jenseits des Inhalts, den sie transportieren, angesehen werden dürfen, sondern als Elemente, die selbst Bedeutungen tragen und generieren. Vgl. auch grundlegend Christian Kiening, Medialität in mediävistischer Perspektive, in: Poetica 39, 2007, S. 285–352; sowie Marita Blattmann, Über die <Materialität> von Rechtstexten, in: Frühmittelalterliche Studien 28, 1994, S. 333–354. Vgl. Heiko Droste, Schreiben über Lüneburg. Wandel von Funktion und Gebrauchssituation der Lüneburger Historiographie ( 1350 bis 1639 ) ( Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 195 ) Hannover 2000, vor allem S. 61; Ulrich Meier, Freiheit und Recht, Rat und Tat. Zur Selbstdarstellung des Stadtbürgertums in den Bildprogrammen niederdeutscher Rathäuser des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Ursula Schädler-Saub – Angela Weyer ( Hgg. ), Mittelalterliche Rathäuser in Niedersachsen und Bremen, Petersberg 2003, S. 35–48. – Zu den Aspekten des <making>, und <using> von Schriftstücken vgl. Michael Clanchy, From Memory to Written Record. England 1066–1307, Oxford 1993. Allgemein zur Ausdifferenzierung von Schriftgut Hans Patze, Neue Typen des Geschäftsschriftguts im 14. Jahrhundert, in: Ders. ( Hg. ), Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, 1 ( Vorträge und Forschungen 13 ) Sigmaringen 1970, S. 9–64; Hagen
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keit zeigt sich hierin auch, wie der Rat seine Machtposition gegenüber dem Stadtherrn, der Gemeinde und auswärtigen Herrschaftsträgern intensivierte und medial in Szene setzte. Unter den vielen neuen Dokumenten, die um die Jahrhundertwende entstanden, befanden sich drei Bücher, die für die Umsetzung des Ratsspruchs von 1401 von entscheidender Bedeutung waren: das Stadtbuch, welches Stadtrecht und Privilegienabschriften enthielt, ein <Sachsenspiegel>- und ein <Schwabenspiegel>-Manuskript 9. Ob die Rechtsbuch-Manuskripte erst in Reaktion auf den Ratsspruch angeschafft wurden oder bereits vorhanden waren, lässt sich nicht mit Sicherheit klären. Sicher ist aber, dass der <Sachsenspiegel> im Umkreis des Lüneburger Rats bekannt war. Der Rats- und Richteherr Johannes Hoyemann nämlich hatte in seinem Testament vom 21. Juli 1401 festgelegt, dass er seine twe boke van dem sassenspeygele dem Lüneburger Bürgermeister Albert van der Molen vermachen wollte 10. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass der <Sachsenspiegel> in der Rechtsprechung des Lüneburger Rats bereits eine Rolle gespielt hatte, bevor ihm 1401 auch offiziell der Status eines untergeordneten Rechts verliehen wurde. Dass mit Hoyemann ein Rats- und Richteherr im Besitz eines <Sachsenspiegel>-Manuskripts war, spricht jedenfalls für die Relevanz des Rechtsbuchs im Umkreis des Lüneburger Rats. Für Albert van der Molen könnte die Erbschaft den Anstoß dazu gegeben haben, den <Sachsenspiegel> als subsidiäre Rechtsquelle in den städtischen Statuten festhalten zu lassen. Unter den Bürgermeistern und Ratsherrn, die nur ein knappes halbes Jahr nach der Testamentserrichtung Hoyemanns den Spruch fassten, erscheint van der Molen jedenfalls an zentraler Stelle 11. Die Rechtsbuch-Handschriften, die der Rat um 1400 anschaffte, waren überaus prachtvoll ausgestattet. Der <Sachsenspiegel> wurde durch goldene Zierinitialen und üppiges Rankenwerk auf der jeweils ersten Seite von Land- und Lehnrecht sowie durch eine ganzseitige Miniatur zwischen Register und Vorrede zum auratischen Manu-
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Keller, Vom heiligen Buch zur Buchführung. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 26, 1992, S. 1–31. Vgl. etwa auch Jeannette Rauschert, Herrschaft und Schrift. Strategien der Inszenierung und Funktionalisierung von Texten in Luzern und Bern am Ende des Mittelalters ( Scrinium Friburgense 19 ) Berlin – New York 2006. Stadtarchiv Lüneburg, AB 3; Ratsbücherei ( RB ) Lüneburg, Ms. jurid. 2; RB Lüneburg, Ms. jurid. 3. Vgl. Uta Reinhardt ( Bearb. ), Lüneburger Testamente des Mittelalters. 1323 bis 1500 ( Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 37/22 ) Hannover 1996, Nr. 58, S. 85. Vgl. Stadtarchiv Lüneburg, AB 3, fol. 13r. Albert van der Molen wird als Bürgermeister an zweiter Stelle unter den Ratsherrn und Bürgermeistern genannt, die den Beschluss von 1401 fassten. Vgl. zu van der Molen und Hoyemann auch die Liste der Ratsherren bei Irene Stahl, Lüneburger Ratslinie 1290–1605, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 59, 1987, S. 139–187, Nr. 146 ( van der Molen ) und Nr. 152 ( Hoyemann ). Van der Molen war 1386 erstmals in den Rat gewählt worden, zwischen 1393 und 1425 war er 19 Mal Bürgermeister. Hoyemanns Ratskarriere war sehr viel kürzer: Er wurde 1391 in den Rat gewählt und amtierte bis zu seinem Tod im Jahr 1401 fünf Mal. – Die von Hoyemann erwähnten <Sachsenspiegel>-Manuskripte sind nicht mehr nachzuweisen. Denkbar wäre aber, dass der <Sachsenspiegel>, der sich später im Besitz des Rats befindet, mit demjenigen Hoyemanns identisch ist. Dafür spricht, dass die Titelminiatur, die den Rat als Besitzer des Manuskripts ausweist, erst nachträglich in den Codex eingebunden wurde. Vgl. Drescher, Ratshandschriften ( wie Anm. 2 ) S. 114. Der Erbe Albert von der Molen könnte sein neues Buch dem Rat zur Verfügung gestellt haben.
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skript 12. Schriftniveau, Seitenlayout und Miniaturen sind hier zentral bedeutsame Medien im Dienste der Zurschaustellung von Macht und Reichtum des Lüneburger Rats. Eine solch saubere und prächtige Ausführung eines deutschsprachigen Rechtsbuchs war keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Schon das <Schwabenspiegel>-Manuskript ist weitaus weniger prachtvoll ausgestattet. Statt in Gold sind die Initialen in blau und rot gestaltet. Doch wie beim <Sachsenspiegel> weist das großzügige zweispaltige Layout des <Schwabenspiegels> auf die kommunikativen Funktionen der Lüneburger Rechtsbücher: Sie dienten vor allem als Medien der Macht. Aura und Prachtentfaltung der Codices standen eindeutig im Vordergrund, der Textinhalt trat demgegenüber zunächst zurück. Dass die Codices tatsächlich einer – wenn auch möglicherweise auf die Ratsherren beschränkten – Öffentlichkeit zugänglich waren und in dieser Wirkung entfalteten, legen die Ketten, die sich am Einband des <Sachsenspiegels> befinden, nahe. Auch wenn die Pracht der Codices den Textinhalt zunächst zurückdrängte, so ist doch der Inhalt grundsätzlich bedeutsam, vor allem die Tatsache, dass es sich um Bücher des Kaiserrechts handelt 13. Zentrale Medien der Inanspruchnahme des Kaiserrechts für den Lüneburger Rat sind die Miniaturen, die in beiden Manuskripten enthalten sind 14. Die Illustrationen ähneln sich in ihrem Aufbau stark, beide zeigen die Übergabe eines Buchs durch den Kaiser an eine vor ihm kniende Figur 15. Im <Sachsenspiegel> sind die dargestellten Figuren durch Spruchbänder zu identifizieren: Beim Kaiser handelt es sich um Karolus magnus, der das Buch empfangende Fürst ist mit Wedekindus [ fortis? ] dux Saxoniae bezeichnet 16. Eine im Hintergrund stehende Figur wurde nachträglich als Eyke bezeichnet. Das Bildmotiv rekurriert auf das zeitgenössische Verständnis des <Sachsenspiegels>. Zweifellos zeigt es die Privilegierung der Sachsen mit dem <Sachsenspiegel> ( das rote Buch ) durch Karl den Großen. 12
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Vgl. zur Aura von Schrift und Schriftstücken jüngst Lena Rohrbach, Aura. Einleitung, in: Christian Kiening – Martina Stercken ( Hg. ), SchriftRäume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne, Zürich 2008, S. 199–206. Zu den Miniaturen der Lüneburger Rechtsbücher vgl. Drescher, Ratshandschriften ( wie Anm. 2 ) S. 112 ff.; Ulrike Lade-Messerschmied, Illuminierte Ratshandschriften im Westniederdeutschen. Auftraggeber und Besitzerhinweise im Buchschmuck, in: Niederdeutsches Wort 29, 1989, S. 27–60; Norbert H. Ott, Titelminiaturen und Besitzerhinweise. Zu zwei Lüneburger Rechtsspiegel-Handschriften des frühen 15. Jahrhunderts, in: Exlibriskunst und Graphik. DEG Jahrbuch, 1980, S. 3–10; Hiram Kümper, Miniaturen und Bilder in Sachsenspiegelhandschriften abseits der Codices picturati, in: Concilium medii aevi 9, 2006, S. 103–140, hier S. 121–126. Vgl. zum <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel> als Kaiserrecht Winfried Trusen, Die Rechtsspiegel und das Kaiserrecht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 102, 1985, S. 12–59; Hermann Krause, Kaiserrecht und Rezeption ( Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1952, 1. Abhandlung ) Heidelberg 1952, S. 86–92. Vgl. zu den Miniaturen in den <Sachsenspiegel>-Manuskripten im Allgemeinen Kümper, Miniaturen ( wie Anm. 11 ); Norbert H. Ott, Vorläufige Bemerkungen zur <Sachsenspiegel>-Ikonographie, in: Ruth Schmidt-Wiegand ( Hg. ), Text – Bild – Interpretation. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels ( Münstersche Mittelalter-Schriften 55 ) München 1986, 1, S. 33–44; Ders., Rechtsikonographie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Der Sachsenspiegel im Kontext deutschsprachiger illustrierter Handschriften, in: Ruth Schmidt-Wiegand ( Hg. ), Eike von Repgow, Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift. Cod. Guelf. 3. 1. Aug. 2°. Kommentarband, Berlin 1993, S. 119–141. Zu den Illustrationen von <Schwabenspiegel>-Manuskripten vgl. Derschka, Schwabenspiegel ( wie Anm. 3 ) S. 387–430. Vgl. RB Lüneburg, Ms. jurid. 2, Bl. 20v, Ms. jurid. 3, Bl. 13v. Vgl. auch Drescher, Ratshandschriften ( wie Anm. 2 ) S. 114 f.
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Daran, dass der <Sachsenspiegel> im 14. und 15. Jahrhundert als Kaiserrecht angesehen wurde, kann kaum ein Zweifel bestehen 17. Der Text des <Sachsenspiegels> selbst präsentiert zwei Deutungen zur Herkunft seiner Rechtsregeln, die erste in der Reimvorrede: Dit recht hebbe ek selve nicht irdacht, / it hebbet van aldere an unsik gebracht / Unse guden vorevaren. 18 Im Textus prologi heißt es jedoch: Nu aver we bekart sin unde uns Got weder geladet hevet, nu halde we sine e unde sin gebot, dat uns sine wissagen gelart hebben unde gude geistleke lude unde ok kerstene koninge gesat hebben: Constantin unde Karl, an den Sassen lant noch sines rechten tut. 19 Zunächst wird so das alte Herkommen der Rechtsregeln betont. Dann aber wird eine Deutung präsentiert, die die Rezeption des <Sachsenspiegels> offenbar nachhaltiger prägte: Der <Sachsenspiegel> wurde auf die Kaiser Konstantin und Karl zurückgeführt, beides Kaiserfiguren, die bereits in der mittelalterlichen Rezeption als Prototypen des idealen Herrschers galten 20. Später, in der Umarbeitung des <Sachsenspiegels> zum so genannten , die vor 1275 angesetzt wird, wird der Satz aus der Reimvorrede abgewandelt bzw. konsequent vereindeutigt: Ditz reht hân ich nicht erdâht, / Ez habent d i e k ü n i g e an uns brâht / Mit wîser meister lêre. 21 Der Bezug auf Königs- bzw. Kaiserrecht wird hier noch einmal verstärkt. 17
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Vgl. Krause, Kaiserrecht ( wie Anm. 13 ); Trusen, Rechtsspiegel ( wie Anm. 13 ); Lück, Sachsenspiegel ( wie Anm. 5 ). Vgl. allgemein auch Gerhard Dilcher, Der mittelalterliche Kaisergedanke als Rechtslegitimation, in: Dietmar Willoweit ( Hg. ), Die Begründung des Rechts als historisches Problem, München 2000, S. 153–170; Ders., Mythischer Ursprung und historische Herkunft als Legitimation mittelalterlicher Rechtsaufzeichnung zwischen Leges und Sachsenspiegel, in: Peter Wunderli ( Hg. ), Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation, Sigmaringen 1994, S. 141–155. Karl August Eckhardt ( Hg. ), Sachsenspiegel. Landrecht ( MGH Fontes iuris Germanici antiqui, N.S. 1, 1 ) 2., neubearbeitete Aufl. Göttingen u. a. 1955, S. 41, Vers 151–153. Ebd., S. 52 – Die Forschung stellte sich früh die Frage, ob Eike von Repgow auf schriftliche Rechtsaufzeichnungen zurückgegriffen hatte. Nachdem wörtliche Übernahmen aus den frühen Volksrechten wie der nicht nachgewiesen werden konnten, konzentrierte man sich darauf, indirekte Beeinflussungen in den Bereich des Möglichen zu rücken. Vgl. Gerhard Theuerkauf, Sachsenrecht im Übergang von der Lex Saxonum zum Sachsenspiegel, in: Stefan Weinfurter ( Hg. ), Die Salier und das Reich, 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, Sigmaringen 1991, S. 415–423, hier S. 423. Vgl. auch Eva Schumann, Rezeption frühmittelalterlichen Rechts, in: BerndRüdiger Kern u. a. ( Hgg. ), Humaniora – Medizin, Recht, Geschichte. Festschrift für Adolf Laufs, Heidelberg u. a. 2005, S. 338–386. – Im Hinblick auf die Rezeption und Wahrnehmung des <Sachsenspiegels> durch seine Benutzer im 15. Jahrhundert scheint die Frage aber falsch gestellt zu sein. Entscheidend ist nicht so sehr, welche Kenntnisse Eike von Repgow von den frühmittelalterlichen Rechten hatte, sondern inwiefern die späteren Nutzer und Interpretatoren den <Sachsenspiegel> jedenfalls zum Teil für die Verschriftlichung der Privilegien Karls des Großen hielten. Vgl. zur Rezeption Karls des Großen Werner Röcke, Literatur und kulturelles Gedächtnis. Zur Rezeptionsgeschichte Karls des Großen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Das Mittelalter 4/2, 1999: Karl der Große in Renaissance und Moderne. Zur Rezeptionsgeschichte und Instrumentalisierung eines Herrscherbildes, S. 5–9, vor allem S. 6; vgl. auch Bernd Schütte, Karl der Große in der Geschichtsschreibung des hohen Mittelalters, in: Bernd Bastert ( Hg. ), Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos, Tübingen 2004, S. 223–245. Karl August Eckhardt – Alfred Hübner ( Hgg. ), Deutschenspiegel und Augsburger Sachsenspiegel ( MGH Fontes iuris Germanici antiqui, N.S. 3 ) 2., neubearbeitete Aufl., Hannover 1933, S. 77. Der Deutschenspiegel ist vollständig nur in einer Handschrift überliefert: Innsbruck, Universitätsbibliothek, Hs. 922; vgl. Ulrich-Dieter Oppitz, Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters, 2, Köln u. a. 1990, Nr. 731.
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Wohl schon in den Jahren nach 1250 hatte sich die Auffassung, im <Sachsenspiegel> liege Kaiserrecht vor, durchgesetzt 22. In der im 14. Jahrhundert entstandenen Magdeburger Weichbildchronik, die einen Abriss der Universalgeschichte von der Schöpfung über die Sintflut, die Zerstörung Trojas, Caesar als erstem römischen Kaiser bis hin zu den deutschen Königen von Otto I. bis Wilhelm von Holland bietet, heißt es über Konstantin: Er bekert auch die Sachsen und gabe ir privilegium, daz wir den sachsenspigel heisen, den sint Ecke von Repchow diu[t]z machte alz er in in latino vant. 23 In der ersten Glosse zum <Sachsenspiegel>, die Johann von Buch nach 1325 verfasste, wird der <Sachsenspiegel> dann als Privileg Karls für die Sachsen angesprochen. Auf diese späteren Zuspitzungen wird man das Hauptaugenmerk legen müssen, wenn man die Auffassungen, die im Umkreis des Lüneburger Rats über den Charakter des <Sachsenspiegel>-Rechts kursierten, verstehen will. Im Falle des <Schwabenspiegels> wird schon anhand seiner zeitgenössischen Bezeichnung deutlich, als was er verstanden wurde: als keyserrecht 24. Dementsprechend weist die Miniatur im <Schwabenspiegel>-Manuskript einige kleine Abweichungen gegenüber der im <Sachsenspiegel> auf. Die Spruchbänder fehlen hier, so dass Kaiser und Fürst nicht eindeutig identifizierbar sind, was im Falle des Fürsten sicherlich der Absicht entsprach, ihn für einen beliebigen Vertreter eines Herrschaftsträgers im deutschen Reich stehen zu lassen. Besonders aufschlussreich sind die Wappen, die in die Miniaturen eingearbeitet wurden. Sie beschreiben den Gültigkeitsrahmen der Rechte und fungieren als Mittel der Aneignung. In der Miniatur des <Sachsenspiegels> sind lediglich zwei Wappen zu sehen: dasjenige des Fürstentums Lüneburg und das der Stadt Lüneburg. Die beiden Wappen zeigen an, dass das <Sachsenspiegel>-Recht für die Stadt Lüneburg und für das umliegende Herzogtum, in das Lüneburgs Herrschaft expandierte, Gültigkeit hatte. In der Miniatur im <Schwabenspiegel> sind wieder die Wappen von Stadt und Herzogtum zu sehen, diesmal allerdings ergänzt um die Darstellung der Wappen von Reich und Kurfürsten. Damit wird der weitere Gültigkeitsrahmen des keyserrechts umschrieben, der das ganze Reich einschließen sollte. Mit der Darstellung des Stadtwappens aber wurden das Recht und der Akt der Verleihung des Rechts durch den Kaiser an die Stadt Lüneburg gebunden 25. Der Lüneburger Rat beanspruchte das Kaiserrechts für sich und setzte dies medial in Szene. Das Lüneburger Stadtbuch von 1401, der so genannte , reicht an das Ausstattungsniveau der Rechtsbücher nicht heran 26. Wohl aber erscheint 22 23 24
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Trusen, Rechtsspiegel ( wie Anm. 13 ) S. 28. Ebd., S. 29. In der Literatur zu Lüneburg wurde das hier genannte keyserrecht oftmals irrtümlich mit dem römischen Recht identifiziert. So noch Krause, Kaiserrecht ( wie Anm. 13 ) S. 122, Anm. 640. Das Titelschildchen auf dem <Schwabenspiegel>-Band legt jedoch eine Identifizierung von Kaiserrecht und <Schwabenspiegel> nahe. Vgl. auch Thurich, Geschichte ( wie Anm. 2 ) S. 60. Vgl. Ott, Titelminiaturen ( wie Anm. 12 ) S. 3 und 8. Zum Namen siehe unten nach Anm. 36. Im Lüneburger Stadtarchiv lassen sich drei Handschriften finden, die als bezeichnet werden: der von 1290 ( Stadtarchiv Lüneburg, AB 1, auch genannt ), der von 1401 ( AB 2 ) und die hier besprochene Handschrift (, AB 3 ). Das älteste Stadtbuch wird zeitgenössisch auch als bezeichnet. Vgl. Wilhelm Reinecke ( Hg. ), Lüneburgs ältestes Stadtbuch und Verfestungsregister, Hannover – Leipzig 1903, S. VI. Zu Stadtbüchern allgemein vgl. Martin Kintzinger, Art. <Stadtbücher>, in: LMA 8, 1996, Sp. 12–13.
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es an den Rechtsbüchern orientiert zu sein und unterscheidet es sich in einigen Aspekten von den früher und zeitgleich angelegten Büchern des Rats, die dem bloßen Festhalten von Erinnerungswürdigem dienten, das gestrichen wurde, sobald es an Aktualität verloren hatte 27. Diese Bücher waren meist einspaltig, Absätze oder Sinnabschnitte oftmals nicht deutlich markiert, Ordnungskriterium der Materie war vielfach lediglich die Chronologie, in der die Einträge gemacht wurden, manchmal nicht mal das 28. In seiner zweispaltigen Anlage und sauberen Ausführung orientierte sich das Stadtbuch deutlich am Layout der Rechtsbücher 29. Ähnlich wie diese enthält es Texte, die für die Rechtsprechung und Herrschaftsausübung des Rats von zentraler Bedeutung waren. Ganz offensichtlich sollten hier Texte in einem Codex zusammengestellt werden, die das Rechtssystem der Stadt repräsentierten und für ihre Autonomie von großer Bedeutung waren 30. Außerdem handelt es sich um ein Buch, das alle Texte versammelt, in denen man – wie im <Sachsenspiegel> und im <Schwabenspiegel> – Rechtsregeln nachschlagen konnte und Anleitungen für die Rechtspraxis fand. Am Anfang des Manuskripts stehen Abschriften von 18 Privilegien für die Stadt Lüneburg, die aus den Jahren 1244 bis 1349 stammen. Die einzelnen Urkundenabschriften sind bis auf wenige Ausnahmen mit lateinischen Rubriken versehen, die auf ihren Inhalt hinweisen. Die Texte selbst folgen dem Wortlaut der Urkunden, wobei drei der 18 Privilegien auf Deutsch abgefasst sind, die übrigen in lateinischer Sprache. Während die Wahl der lateinischen Sprache hier der Wiedergabe des Originaltextes geschuldet ist, folgt sie an anderer Stelle bewusster Entscheidung: Die Rubriken zu allen Urkunden, wie auch die Überschriften zu allen folgenden Artikeln, wurden in Latein abgefasst 31. Damit wurde eine Sprache gewählt, die zu dieser Zeit in vielen Kanzleien im deutschsprachigen Raum, so auch in Lüneburg, als Hauptgeschäftssprache bereits abgelöst war. Möglicherweise fiel der Einsatz der lateinischen Sprache umso mehr ins Auge und verlieh dem Stoff mehr Autorität, die sich etwa aus der Analogie zu Büchern des römischen Rechts speisen konnte. Die Reihenfolge der Privilegien, die das Stadtbuch eröffnen, folgt nicht streng der Chronologie. Stattdessen prägte zunächst das Prestige der Aussteller die Ordnung 32: 27 28
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So im , Stadtarchiv Lüneburg, AB 6. Vgl. Stadtarchiv Lüneburg, AB 1 ( ; größtenteils einspaltig und schmucklos ) und AB 2 ( , größtenteils schmucklos ). Das Buch war auf Nachträge angelegt und enthält auch zahlreiche später hinzugefügte Textpassagen. Benutzt wurde es bis 1603. Vgl. Droste, Schreiben ( wie Anm. 8 ) S. 430. Vgl. Droste, Schreiben ( wie Anm. 8 ) S. 61. Lediglich die nachträglich eingefügten Überschriften zu einzelnen Paragraphen sind auf Deutsch abgefasst. Bezeichnenderweise sind diese in der Teiledition des weggelassen worden – wie alle Passagen, die nicht dem entsprechen. Vgl. Wilhelm Theodor Kraut ( Hg. ), Das alte Stadtrecht von Lüneburg, Göttingen 1846. Das entspricht der im Mittelalter üblichen Ordnung von Archiven, die Urkunden nach dem Rang ihrer Aussteller ordneten. Vgl. Randolph C. Head, Abbildung von Herrschaft. Archivgut, Archivordnung und die Repräsentation politischen Wissens in der frühneuzeitlichen Schweiz, in: Michael Böhler ( Hg. ), Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers, Genf 2000, S. 113–127; Bernhard Schnell, Zur Bedeutung der Bibliotheksgeschichte für eine Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte, in: Kurt Ruh ( Hg. ), Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, Tübingen 1985, S. 221–230. – Die Ordnung ist nur bis zur zwölften Urkunde durchgehalten, danach folgen wiederum Privilegien der Herzöge.
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Am Anfang stehen Privilegien der Herzöge Otto, Albert und Johann, es folgt eine Urkunde, die mit Abt Thomas einen hohen geistlichen Würdenträger als Aussteller hat, ein Graf und ein Stadtrat. Die Reihenfolge der Privilegien weist über das Buch hinaus in den physischen Raum des Archivs hinein, in dem die Ordnung der Urkunden herrschaftstopographischen Gesichtspunkten folgte. Erst nach zwei leeren Seiten folgt der eingangs zitierte Ratsspruch, der die Reihenfolge der Rechte für die Stadt Lüneburg regelte ( 13r ). Auf der folgenden RectoSeite beginnt – hier nun ohne einleitende Überschrift – die deutsche Übertragung des Stadtrechtsprivilegs von 1247 und damit das Kernstück des . Die niederdeutsche Übersetzung soll das Stadtrecht offenbar den aktuellen Bedürfnissen der Stadtverwaltung anpassen, in der sich im 15. Jahrhundert das Deutsche als Geschäftssprache durchsetzte. Wie im Falle der übrigen Privilegien wurde die Urkundenform zwar im Layout des Buchs aufgelöst, auf textueller Ebene aber beibehalten 33. Die typischen Urkundenmerkmale von der Invocatio bis zum Eschatokoll mit Zeugennennungen und Datierung fehlen nicht. Im direkten Anschluss an die Neuredaktion des Stadtrechts folgen weitere Rechtsregeln, zunächst Bestimmungen über Heergewäte und Gerade, dann eine Passage zum Ablauf des Eddag ( 17r–18v ) und die Artikel, die regelmäßig bei der Bursprake am Michaelistag verkündet wurden ( 19r–v ). Im Gegensatz zu den Rechten, die in den Privilegien festgesetzt wurden, handelt es sich bei diesen Regelungen offenbar um städtische Satzungen. Dies wird unterstrichen durch einen paratextuellen Einschub, der den Charakter des Buchs und der darin enthaltenen Rechtsregeln beschreibt 34: In deme namen des vaders und des sones und des hilgen geistes beghinne wi en bok des rechtes der stad to Luneburch. Des sint de radmanne de olden und de nyen to rade worden mit den wisesten van der stad, dat se bescreven hebbet laten ere stad recht, also se van olden des hebbet her ut ghe hat. Dor de sake dat id nicht vergheten enworde und recht sihe beide armen unde riken. 35 Deutlich manifestiert sich hier der Wille, das alte Recht zu ordnen und für Gegenwart und Zukunft zugänglich zu machen. Bemerkenswert ist der Umstand, dass der Lüneburger Rat vom Recht im Singular (bok des rechtes ) spricht. Somit wird innerhalb der doch disparaten Inhalte, die das Buch vereint, ein hohes Maß an Kohärenz geschaffen. Der 33
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Ähnlich zur Handfeste von Fribourg, von der eine Version gemeinsam mit dem <Schwabenspiegel> überliefert ist, Stefan Kwasnitza, Lesepraktiken, Ostentationsakte und Traditionsbildung am Beispiel der Freiburger Handfeste, in: Eckart Conrad Lutz u. a. ( Hgg. ), Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, Zürich 2009. Als Paratexte sollen alle textuellen Elemente verstanden werden, die nicht zum autoritativen Text des <Sachsenspiegels> gehören, zum Beispiel Titel, Überschriften, Zwischenüberschriften, Gebrauchsanweisungen für Register oder ganze Texte, Hinweise an den Leser, allgemein Kolophone. Vgl. zu einer – freilich an Texten und Büchern der Neuzeit gebildeten – Theorie der Paratexte Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982; vgl. Ders., Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main 22003. Vgl. zu Kapitelüberschriften, Explicit- und Incipit-Formeln und weiteren Elementen der Buchgliederung Nigel F. Palmer, Kapitel und Buch. Zu den Gliederungsprinzipien mittelalterlicher Bücher, in: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, S. 43–88. Stadtarchiv Lüneburg, AB 3, fol. 15v. Zu Begriffen für städtische Rechtsaufzeichnungen vgl. Dagmar Hüpper, Wort und Begriff Text in der mittelalterlichen deutschen Rechtsüberlieferung, in: Ludolf Kuchenbuch – Uta Kleine ( Hgg. ), im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216 ) Göttingen 2006, S. 229–252, hier S. 232.
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Passus bezieht sich aber offenbar nicht auf die Privilegienabschriften zu Beginn des Buchs, sondern auf die Artikel, die genuin städtisches Recht darstellen, nämlich die Regeln zu Heergewäte und Gerade, zu Eddag und Bursprake, und die Passagen, die zahlreiche Bestimmungen zum Erbrecht enthalten. Als letzte Einträge, die auf die Zeit der ursprünglichen Anlage des Buchs zurückgehen, finden sich im Bestimmungen zu den einzelnen Zünften bzw. Gewerben sowie zu Steuern und Zöllen. Der wurde um zahlreiche weitere Einträge ergänzt und blieb bis ins 17. Jahrhundert hinein in Gebrauch. Zusammen mit den Rechtsbüchern bildete er eine wichtige Grundlage der städtischen Rechtspraxis. Aus einem solchen Verständnis heraus erklärt sich möglicherweise der Name des Buchs: 36. Als wird nach seinem Verfasser ein im Mittelalter weit verbreitetes Grammatiklehrbuch bezeichnet 37. Die Benennung des Stadtbuchs mit diesem Namen hat verschiedene Implikationen. Zunächst kann der im Sinne eines Grundlagenwerks für das Recht der Stadt Lüneburg gelten, der dieses in einer Weise strukturiert präsentiert wie eine Grammatik die Grundlagen und Bauprinzipien einer Sprache. Weiterhin sollte wohl der Charakter des Werks als Nachschlage- und Lehrwerk betont werden. Vor allem eine Passage des , in der Rechtsfälle und Lösungswege für die geschilderten Probleme dargeboten werden, macht dies deutlich. Hier wurde das Stadtrecht offenbar in Analogie zum gelehrten Recht als vorhandenes, auslegbares Substrat der Rechtsprechung verstanden, als Gegenstand von Studium und Kommentar. Auf einer codexübergreifenden Ebene ist neben dem eingangs angesprochenen Ratsbeschluss ein weiteres mediales Element zu nennen, das den <Sachsenspiegel>, den <Schwabenspiegel> und den – nunmehr unter materiellen Gesichtspunkten – miteinander in Beziehung setzt: Alle drei Bücher weisen gleich aussehende Titelschildchen auf der Außenseite des Einbands auf, die den Inhalt bezeichnen ( sassenspeigel cum glossa, keyserrecht, Donatus burgensium ) und so nicht nur den effizienten Zugriff ermöglichten, sondern außerdem Kohärenz und Ordnung innerhalb des Rechtssystems herstellten. Betrachtet man den Spruch des Lüneburger Rats und die Anlage der beschriebenen Manuskripte als Elemente einer grundsätzlichen Neuordnung des Rechts 38, als Moment der Etablierung eines Rechtssystems, das sich materiell in den herausragenden Handschriften manifestiert, dann darf ein Seitenblick auf ein weiteres Manuskript nicht fehlen, das um 1412 angelegt wurde: das 39. Die Handschrift ist in mehrerlei Hinsicht interessant. Zunächst einmal handelt es sich um einen weiteren Baustein zum Lüneburger Rechtssystem, enthielt es doch Abschriften herzoglicher Privilegien und somit verbriefte Rechte der Stadt. Diese und die mit ihnen erworbene Stellung wurden in dem reich verzierten und prachtvoll ausgestatteten Buch 36
37 38
39
Vgl. Reinecke, Stadtbuch ( wie Anm. 26 ) S. VII. Reinecke führt die Bezeichnung darauf zurück, dass das Buch „im städtischen Rechts- und Geschäftsleben beständig zur Hand“ sein musste und damit eine ebensolche Präsenz und Bedeutung wie das verbreitete Grammatiklehrbuch bekommen konnte. Vgl. Colette Jeudy, Art. , in: LMA 3, 1986, Sp. 1238–1240. So etwa Thurich, Geschichte ( wie Anm. 2 ); Carl Haase, Das Lüneburger Stadtrecht. Umrisse seiner Geschichte, in: Ulrich Wendland ( Hg. ), Aus Lüneburgs tausendjähriger Vergangenheit. Festschrift, Lüneburg 1956, S. 67–86; auch Droste, Schreiben ( wie Anm. 8 ) S. 61. Stadtarchiv Lüneburg, AB 23.
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eindrücklich zur Schau gestellt. Daneben weist das Buch über sich hinaus in den Raum des Ratsarchivs. Das Register bietet Volltextregesten der Privilegien. Am Rand wurde zu jeder Urkundenabschrift ein Großbuchstabe gesetzt, der auf die entsprechende Truhe oder Lade im Ratsarchiv verwies 40. Ein derartiges Ordnungssystem ermöglichte das effiziente Auffinden und Versorgen von Originalurkunden, repräsentiert aber auch die herrschaftspolitische Vernetzung des Lüneburger Rats und stellt damit ein wichtiges Element der Machtinszenierung dar. Rechtsprechung als wichtiges Herrschaftsrecht des Lüneburger Rats wurde um 1400 durch verschiedene prachtvolle Manuskripte eindrücklich inszeniert. Diese Zurschaustellung von Autonomieansprüchen richtete sich vor allem an den herzoglichen Stadtherrn, von dem der Lüneburger Rat zunehmende Unabhängigkeit erlangte, aber auch an die anderen Städte des Fürstentums Lüneburg, gegenüber denen die Stadt ihre führende Position innerhalb des Territoriums ausbauen und verteidigen wollte 41. Neben dem beschriebenen qualitativen Sprung der Schriftproduktion und der damit einhergehenden Inanspruchnahme des Kaiserrechts durch den Stadtrat fallen weitere Maßnahmen in diese dynamische Zeit an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, die auf eine Intensivierung und Inszenierung der Lüneburger Machtstellung nach außen und innen hindeuten. Besonders hervorzuheben sind die Neubauarbeiten am Rathaus. Der Lüneburger Rat ließ sein Sitzungszimmer mit einer Darstellung der ausgestalten 42. Diese Helden – Hektor von Troja, Alexander der Große und Julius Caesar, Judas Makkabäus, David und Josua sowie Artus, Karl der Große und Gottfried von Bouillon – symbolisierten gute Herrschaft, zu der als zentraler Bestandteil auch gute Rechtsprechung gehörte, und mahnten diese an. Mit Karl dem Großen wird außerdem die Darstellung aus den Miniaturen im dreidimensionalen Raum wieder aufgenommen.
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Noch heute kann man im Lüneburger Rathaus mit Buchstaben versehene Archivladen sehen. Diese stammen jedoch erst aus dem 16. Jahrhundert. Vgl. Antje-Nicola Kreuzberg, Das Alte Archiv und seine wandfeste hölzerne Ausstattung, in: Ursula Schädler-Saub – Angela Weyer ( Hg. ), Mittelalterliche Rathäuser in Niedersachsen und Bremen, Petersberg 2003, S. 158–161 ( mit Abbildungen ). Die Anfänge von Ratsarchiv und -bibliothek liegen im Dunkeln. Reinecke und ihm folgend Kaegbein vermuten, dass um 1400 eine Bibliothek bestanden habe, beide geben jedoch keine Belege an. Die Verweisstruktur des Registers der Privilegien ist meiner Ansicht nach sicherlich als Hinweis auf ein Archiv zu werten. Ebenso verweist möglicherweise das Ordnungssystem der Titelschildchen auf den Rechtsbüchern auf das Vorhandensein einer Art von Bibliothek. Vgl. Paul Kaegbein, Deutsche Ratsbüchereien bis zur Reformation, Leipzig 1950, S. 31; Reinecke, Geschichte ( wie Anm. 2 ) 2, S. 190 f. Vgl. zur Geschichte der Stadt Lüneburg Reinecke, Geschichte ( wie Anm. 2 ); zum Stadtrecht Thurich, Geschichte ( wie Anm. 2 ). Vgl. Meier, Freiheit ( wie Anm. 8 ) S. 41. Vgl. zur Darstellung der weiterhin Ulrich Meier, Vom Mythos der Republik. Formen und Funktionen spätmittelalterlicher Rathausikonographie in Deutschland und Italien, in: Andrea Löther ( Hg. ), Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, München 1996, S. 345–387. In den Amtsstuben von Rat- und Zunfthäusern ist die Darstellung der seit dem 14. Jahrhundert verbreitet. – Ulrich Meier stellt außerdem in der Zeit um die Jahrhundertwende eine Neuorientierung des kollektiven Gedächtnisses fest, in dessen Mittelpunkt die Erinnerung an eine Abwehraktion der Lüneburger Bürger und Einwohner gegen die Truppen des herzoglichen Stadtherrn stand. Vgl. Meier, Freiheit ( wie Anm. 8 ) S. 41.
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Im Jahr 1410 richtete der Lüneburger Rat Rechtsanfragen an verschiedene Städte 43. Das Ratsgericht hatte einen Erbfall zu entscheiden, der sich nach Stadtrecht nicht lösen ließ und daher – den städtischen Statuten entsprechend – mit Hilfe der Rechtsregeln aus dem <Sachsenspiegel> beurteilt werden sollte 44. Es ging dabei um das Erbe des Lüneburger Bürgers Johann von Erpensen und um dessen komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse. Um das Erbe stritten die Westvalesche und die Stoteroggesche, die Töchter von Johanns Vollgeschwistern, auf der einen Seite und Albert Hoyke, der ein Sohn von Johanns Halbschwester war, auf der anderen. Auf die offenbar weit gestreute Anfrage Lüneburgs antworteten die Räte von Minden, Göttingen, Erfurt und Goslar sowie die Magdeburger Schöffen. Aus den Antworten lassen sich ganz unterschiedliche Strategien des Umgangs mit der Rechtsmaterie des <Sachsenspiegels> ablesen, die auf verschiedenartige Rahmenbedingungen verweisen. So schrieb der Mindener Rat, er habe sich mid den ghennen, de sik mid vns des vorstan, beratschlagt, um zu seinem Urteil zu gelangen 45. Die Mindener zogen also offenbar einen Rechtskundigen hinzu, der Kenntnisse über den <Sachsenspiegel> hatte. Ähnlich verfuhr der Göttinger Rat, der seinem Antwortbrief sogar das Rechtsgutachten eines gelehrten Juristen beifügte. Dieser behandelte den <Sachsenspiegel> nahezu analog zum gelehrten Recht, indem er erklärte, dat in deme seuentegeden capitele des ersten boyke vnses sasseschen lantrechtes, dat an geyd: „Wur dat kynd is vrygh vnde echt etc.“ in deme verden §, dar steyd: „Wan auer eyn erue versusterd vnde verbrodert, alle de sek gelyck na to der sybbe gestyppen mogen, de nemen gelyken del dar an.“ 46 An diesem Beispiel wird die Autorität des geschriebenen Wortes und der Ordnung des Rechts ganz deutlich. Der Jurist zitierte wörtlich aus dem autoritativen Text des <Sachsenspiegels> und der Glosse zu diesem und merkte überdies den genauen Ort an, an dem man die angewendeten Rechtsregeln nachschlagen könnte (Landrecht, erstes Buch, Artikel 17, Paragraph 4). Man wird davon ausgehen können, dass der Rechtsgelehrte selbst im Besitz eines <Sachsenspiegel>-Manuskripts gewesen sein wird oder dass er jedenfalls Zugang zu einem solchen hatte. Damit ist auch nachgewiesen, dass der Göttinger Rat, auch wenn er selbst keinen <Sachsenspiegel> besessen haben mag, wenigstens indirekt auf dessen Wissensbestand zugreifen konnte. Dasselbe gilt für Goslar nicht. Offenbar war hier weder eine Handschrift des <Sachsenspiegels> vorhanden, noch ein Rechtskundiger bekannt, den man hätte befragen können. So fiel die Antwort des Goslarer Rats negativ aus. Man kenne sich mit dem <Sachsenspiegel> nicht aus, könne aber gerne eine Auskunft nach eigenem Stadtrecht erteilen, wenn dies gewünscht werde 47. 43
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Friedrich Ebel, Halue bort scrikket nicht. Bemerkungen zu einer Lüneburger Rechtsanfrage aus dem Jahre 1410, in: Zeitschrift für Historische Forschung 9, 1982, S. 47–62. Die ab 1490 erhaltenen Gerichtsbücher des Ratsgerichts ( Stadtarchiv Lüneburg, AB 951–22: Libri actorum, 1490 bis 1682 ) zeigen, dass der <Schwabenspiegel> und das geistliche Recht im Gegensatz zum <Sachsenspiegel>, der immerhin einige Male erwähnt wird, in der Rechtsprechung keine Rolle gespielt hat. Vgl. Thurich, Geschichte ( wie Anm. 2 ) S. 59 f. Für den freundlichen Hinweis auf das Vorkommen des <Sachsenspiegels> in den Gerichtsbüchern danke ich Andreas Litschel, Bielefeld. Vgl. Ebel, Halue bord ( wie Anm. 43 ) S. 58, Nr. 1. Vgl. ebd., S. 59, Nr. 2b. Vgl. ebd., S. 59, Nr. 3.
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Wiederum anders stellt sich die Situation in der Universitätsstadt Erfurt dar. Der Erfurter Rat teilte zwar mit, daz wyr stadtrecht habin vnde vns an sechsch lantrecht nicht halden, doch legte er das Rechtsproblem einem erbarn meister der gemeinen schule bie vns, der eyn doctor ist geistliches vnde keyser rechtis, vor 48. Anders als dem Göttinger Rechtsgelehrten war dem Erfurter Juristen der <Sachsenspiegel> aber offenbar nicht zugänglich 49, denn er konnte nur eine gesicherte Auskunft nach gemeyne[ m ] keyser rechte – wahrscheinlich gelehrtem römischem Recht – geben, äußert sich aber unsicher in Bezug auf die Übereinstimmung mit dem <Sachsenspiegel>: Er meyne ouch wol, dass nach dem <Sachsenspiegel> gleich zu entscheiden sei 50. Sein Urteil stimmt mit dem des Göttinger Gelehrten, der sich auf einen Artikel des <Sachsenspiegels> berufen kann, freilich nicht überein. Der Lüneburger Rat entschied schließlich am 14. Mai 1411 – der Mehrheit der Empfehlungen entsprechend –, dat na sassesschem landt rechte de Westvalessche vnd de Stoteroggessche, alse se vnd Johann van Erpensen vuller brodere vnd sustere kindere sint, vnd Albert Hoyke, de desselven Johans halffsustere sone sy, to sinem, Johans, nalaten gude tonemende like na erven sin. 51 Dieses Urteil ist der erste ausdrückliche Hinweis auf die Anwendung des <Sachsenspiegel>-Rechts in der Gerichtspraxis des Lüneburger Rats. Auch die weitere Anschaffungspraxis von Rechtsbüchern belegt die nun intensivierte Auseinandersetzung mit den Inhalten des <Sachsenspiegels> und des <Schwabenspiegels>. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erwarb der Lüneburger Rat weitere Rechtsbuchhandschriften, von denen drei hier genauer betrachtet werden sollen: eine Gebrauchshandschrift des <Sachsenspiegels>, ein Rechtsabecedarium und ein prachtvolles, glossiertes <Sachsenspiegel>-Manuskript 52. Ein schlanker Band, der nur den <Sachsenspiegel> enthält, ersetzte die prunkvollen Handschriften in der Praxis möglicherweise bald 53. Während die prächtigen Codices vor allem darauf abzielten, auratische und symbolische Wirkung zu entfalten und den Rat als Besitzer der Kaiserrechtsbücher zu inszenieren, war diese neue, wenig aufwendig gestaltete und in einer einfachen Kursive geschriebene Handschrift für ein rasches Nachschlagen von Rechtsregeln bestens geeignet. Das Manuskript weist in direktem Anschluss an die Reimvorrede ein paratextuelles Element auf, das auf das zeitgenössische Verständnis des <Sachsenspiegels> deutet: Wey dit bock sal weten, des wete, dat dat erste bock is van erue to nemende, dat andere van vredebrake, dat derde van gericht. Ok sal he weten, dar de numerus erst ansteit vor deme groten bockstaue, de numerus wiset vp dat na deme numerus volget vn nicht vppe dat dat vor geyt. 54 Diese Textpassage erklärt nicht nur die Funktionsweise der Artikelnummerierung im <Sachsenspiegel>, sondern gibt auch in 48 49
50 51 52 53
54
Vgl. ebd., S. 60, Nr. 4a. In der Erfurter Universitätsbibliothek ist erst für die Zeit nach 1497 mit Sicherheit ein <Sachsenspiegel> nachzuweisen. Der aus dieser Zeit stammende Standortkatalog des zur Artistenfakultät gehörenden Collegium universitatis verzeichnet einen glossierten <Sachsenspiegel> ( Speculum saxonicum ). Vgl. Ingrid Baumgärtner, Meßbares Wissen. Juristische Handschriften an spätmittelalterlichen deutschen Kollegien und Universitäten, in: Vincenzo Colli ( Hg. ), Juristische Buchproduktion im Mittelalter ( Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 155 ) Frankfurt am Main 2002, S. 741–803, hier S. 767. Vgl. Ebel, Halue bord ( wie Anm. 43 ) S. 60, 4b. Vgl. Stadtarchiv Lüneburg, AB 61, fol. 3v ( zeitgenössische Foliierung, moderne Zählung 14v ). RB Lüneburg, Ms. jurid. 16, Ms. jurid. 14 und Ms. jurid. 1. RB Lüneburg, Ms. jurid. fol. 16. Vgl. dazu Erika Sinauer, Eine Lüneburger Sachsenspiegelhandschrift, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 45, 1925, S. 408–413. RB Lüneburg, Ms. jurid. fol. 16, 2r.
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knappen Strichen den Inhalt des Rechtsbuchs wieder. Der erste Teil handele vom Erbe, der zweite vom Brechen des Friedens und der dritte vom Gericht. Ganz so knapp und strukturiert wird man den Inhalt der Bücher des <Sachsenspiegels> kaum zusammenfassen können 55. Doch zeigt sich hier, welche Aspekte des Textes für die Praxis die bedeutsamsten waren. Diese Inhalte waren es, die den <Sachsenspiegel> und die konkrete, für den Gebrauch vor Gericht verwendbare Handschrift für den Lüneburger Rat wertvoll machten. Ebenfalls dem effizienten Nachschlagen von Rechtsregeln scheint der <Schlüssel des sächsischen Landrechts> 56 gedient zu haben, ein Rechtsabecedarium, das möglicherweise schon in den 1430er Jahren im Umkreis oder Besitz des Rats vorhanden war 57. Abecedarien fügen den Stoff verschiedener Rechtsbücher zusammen und ordnen ihn neu, nämlich in alphabetischer Reihenfolge, an 58. Diese Ordnung diene per faciliorem modum inveniendi materias, wie es in der Vorrede eines Abecedariums heißt 59. Die alphabetische Ordnung von Stoff jeglicher Art war im Mittelalter allerdings nicht die gebräuchlichste. Viele enzyklopädische Werke folgten anderen Ordnungsmustern, die beispielsweise an der Heilsgeschichte oder an einer gedachten harmonischen Weltordnung orientiert waren 60. Eine alphabetische Anordnung von Wissen war 55
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Über die Systematik des <Sachsenspiegels> ist vieles vermutet worden, etwa dass der <Sachsenspiegel> einem Ordnungssystem folge, dass dem modernen Leser nicht mehr zugänglich sei ( Molitor ), dass er entlang der Dekretalensammlung konzipiert sei ( Theuerkauf ) oder dass er sich am Verfahren orientiere ( Ignor ). Vgl. Erich Molitor, Der Gedankengang des Sachsenspiegels, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 65, 1947, S. 15–69; Gerhard Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium iuris. Rechtsaufzeichnung und Rechtsbewußtsein in Norddeutschland vom 8. bis zum 16. Jahrhundert, Köln u. a. 1968, S. 107–165; Alexander Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, Paderborn u. a. 1984, S. 260–281. Vgl. zum <Schlüssel des sächsischen Landrechts> Helmut Coing, Römisches Recht in Deutschland, in: Ius Romanum Medii Aevi, 5/6, Mailand 1964, S. 170 f.; Oppitz, Rechtsbücher ( wie Anm. 21 ) 1, S. 77; Helene Bindewald, Studien zur Entstehung der Sachsenspiegelglosse, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 15, 1959, S. 464–515; Erika Sinauer, Der Schlüssel des sächsischen Landrechts, Breslau 1928. Auf der Innenseite des Vorderdeckels befindet sich am oberen Rand die Datierung Anno etc. LIIII und der Besitzervermerk dit hert Hinrikes son. Die Datierung bezieht sich wahrscheinlich auf den Zeitpunkt, zu dem die genannte Person, die in der Forschung mit einem Sohn des Bürgermeisters Heinrich Lange identifiziert wird, die Handschrift erworben hat. Die Anlage des Manuskripts ist dementsprechend früher anzusetzen. Vgl. Marlis Stähli, Handschriften der Ratsbücherei Lüneburg, 3: Die theologischen Handschriften, Quartreihe: Die juristischen Handschriften, Wiesbaden 1981, S. 137 f. Vgl. auch Sinauer, Schlüssel ( wie Anm. 56 ) S. 32 f. mit einer Beschreibung der Handschrift. Vgl. Wieland Carls, Art. , in: HRG 1, 22008, Sp. 6–8; Helgard Ulmschneider, Art. , in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 7, 1989, Sp. 1058–1062. Zitiert nach Emil Steffenhagen, Das Preetzer Abecedarium mit dem Richtsteig Landrechts, in: Zeitschrift für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte 22, 1892, S. 299–302, hier S. 300. Zur Pragmatik der alphabetischen Ordnung von Registern Heinz Meyer, Ordo rerum und Registerhilfen in mittelalterlichen Enzyklopädiehandschriften, in: Frühmittelalterliche Studien 25, 1991, S. 315–339; Helmut Zedelmeier, Facilitas inveniendi. Zur Pragmatik alphabetischer Buchregister, in: Theodor Stammen – Wolfgang E. J. Weber ( Hgg. ), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin 2004, S. 191–203. Vgl. Richard H. Rouse – Mary A. Rouse, Preachers, Florilegia and Sermons. Studies on the Manipulus florum of Thomas of Ireland, Toronto 1979, S. 34; Meyer, Ordo ( wie Anm. 59 ); Paul Michel, Ordnungen des Wissens. Darbietungsweisen des Materials in Enzyklopädien, in: Ingrid Tomkowiak ( Hg. ), Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens, Zürich 2002, S. 35–83.
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nicht selbstverständlich und wurde daher in der Regel durch den Autor gerechtfertigt und erklärt 61. Seit dem 13. Jahrhundert begann die alphabetische Ordnung im christlichen Abendland jedoch Fuß zu fassen 62. Rechtstexte, deren Materie in alphabetischer Reihenfolge dargeboten wurde, entstanden ab dem Ende des 13. Jahrhunderts zunächst in lateinischer Sprache 63. Die ersten volkssprachigen Abecedarien folgten erst ein weiteres Jahrhundert später. Der <Schlüssel des Sächsischen Landrechts> ist ein Abecedarium, das im norddeutschen Raum relativ weite Verbreitung gefunden hat 64. Der Verfasser des <Schlüssels> ist nicht bekannt. Vermutlich handelt es sich um einen Geistlichen aus dem Kloster Lehnin in Brandenburg. Der Text wurde vor 1421 verfasst, mit Nachträgen und einer zweiten Überarbeitung wurde er 1432 fertig gestellt. Er enthält in alphabetischer Reihenfolge 562 Schlagworte von abbet bis wunden 65. Zu einem Stichwort wurden jeweils die passenden Abschnitte aus dem <Sachsenspiegel>, der Glosse zum <Sachsenspiegel> und dem <Schwabenspiegel> geboten. Der Verfasser erklärt sein Vorgehen und die Ordnungsstrukturen seines Werkes in der Vorrede: Eyn wise is dat men to hope summet in eynem boke vt velen bukeren, dat to sammene horet. Sulke bokere heten summen. Dy andere is wor von eyner materien in mennigen steden gescreuen is, Dat me dat in eyn bringet, dat is beide mit worden vnde mit synne. Sodane bokere heten concordancien. Dy drudde dat dy materien registreret vnde schigket na der schigkinge der bokstaue in dem alphabete. Dy bokere sin genomet tabelen. Abschließend gibt er an dieser Stelle noch Auskunft darüber, welche Texte er in welcher Art verarbeitet hat: Na der summen sint hier dat keiserrecht vnde dy Sassenspygel mit der glosen in eyn gebracht. Na der concordancien sint dy materien, dy in eyn horen, by eynander gebracht. Na der tabulen is dit buk gesat alphabetice. 66 Diese Organisationsstrukturen schaffen einen völlig neu zusammengestellten Text, der sich über die Logik der alphabetischen Ordnung leicht erschließen lässt. Die veränderte Anordnung und Zugänglichkeit deutet auf neue Methoden, mittels derer man die Rechtsmaterie benutzen konnte. Offenbar wurde die Kenntnis des ganzen Stoffs nun nicht mehr wie selbstverständlich vorausgesetzt, sondern mit der alphabetischen Reihenfolge eine Anordnung des Stoffs etabliert, die es auch demjenigen, der mit dem Text nicht vertraut war, erlaubte, Rechtsregeln zu finden und Rechtsfälle zu entscheiden. Das Zusammenfügen verschiedener Rechtsquellen machte außerdem das Nachschlagen in mehreren Büchern überflüssig. Die Originaltexte von <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel> bleiben jedoch in starkem Maße präsent, wird doch im Text fortwährend explizit auf sie verwiesen. Zitate
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Rouse – Rouse, Preachers ( wie Anm. 60 ) S. 34; Michel, Ordnungen ( wie Anm. 60 ) S. 71. Rouse – Rouse, Preachers ( wie Anm. 60 ) S. 35 f. Vgl. Ulmschneider, Art. ( wie Anm. 58 ). Unter den deutschsprachigen Rechtsabecedarien ist es mit 18 Handschriften sogar das am weitesten verbreitete. Es folgen das mit zehn und das mit sieben Manuskripten. Vgl. Oppitz, Rechtsbücher ( wie Anm. 21 ) 1, S. 77 f. Vollständige Handschriften existieren in Aschaffenburg HB Ms. 46, Berlin SBPK Ms. germ. fol. 843, Berlin SBPK Ms. germ. fol. 900, Bremen Universitätsbibliothek, GC 6070, Breslau/Wroclaw WAP Rep. 135 V 2, Eisleben St. Andreas Bibl. Ms. 127, Hildesheim Stadtarchiv Best. 52 HM Nr. 368, Krakau BJ Przyb. 43/60 und Lüneburg RB Ms. jurid. 14. Signaturen nach Oppitz, Rechtsbücher ( wie Anm. 21 ) Bd. 2. Sinauer, Schlüssel ( wie Anm. 56 ) S. 132. Vgl. auch Oppitz, Rechtsbücher ( wie Anm. 21 ) 1, S. 77. Sinauer, Schlüssel ( wie Anm. 56 ) S. 281.
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aus dem <Sachsenspiegel>, der Glosse und dem <Schwabenspiegel> werden jeweils mit einer genauen Angabe des entsprechenden Artikels und Paragraphen zitiert. Eine solche Praxis bezeugt erneut die große Bedeutung, die den autoritativen Originaltexten zukam. Bereits der oben angesprochene Umgang des Göttinger Rechtsgelehrten mit dem <Sachsenspiegel> hatte gezeigt, dass exakt und nachprüfbar – wie bei der Auslegung des gelehrten Rechts – auf bestimmte Textstellen des Rechtsbuchs verwiesen wurde. Ob die Abecedarien in der Praxis tatsächlich in der intendierten Weise gebraucht wurden, ist schwer zu entscheiden. Als Überblicksdarstellung scheinen sie durchaus praktisch gewesen zu sein. Der Lüneburger Band weist allerdings keine Nutzungsspuren auf. Die Zahl der überlieferten Abecedarien ist außerdem recht gering und fast ausschließlich auf den norddeutschen Raum beschränkt. Abecedarien scheinen die Rechtsbücher, die ebenfalls zunehmend mit elaborierten Arbeitstechniken erschlossen wurden, ergänzt, aber wohl nicht abgelöst zu haben. Die Originaltexte waren in den Texten der Abecedarien stets deutlich präsent. Die alphabetische Ordnung muss nicht unbedingt als praktischer oder besser anwendbar wahrgenommen worden sein als die ursprüngliche Textgestaltung. Doch scheint sie sich im Laufe des späten Mittelalters immer mehr durchgesetzt zu haben. Das Abecedarium trug möglicherweise zur Effektivitätssteigerung in der städtischen Verwaltung bei, war aber auch eine Art Statussymbol der Gelehrsamkeit, ein Zeichen für die Fähigkeiten des Lüneburger Rats, mit der Rechtsmaterie umzugehen, und ein Dokument, das auswies, dass man in Lüneburg Schriftstücke, die mit innovativen Arbeitstechniken erstellt waren, wenn nicht benutzte, so doch wenigstens besaß. Als Ergänzung zu <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel> und als Findmittel für deren Inhalte kann man sich das Abecedarium gut in der Hand der Lüneburger Ratsherren vorstellen. Eigene Autorität entfaltete es als Dokument oder als Bezugsgröße aber nicht. In der Rechtspraxis wurde stets auf Textstellen aus <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel> Bezug genommen, auch wenn diese möglicherweise aus dem Abecedarium gewonnen wurden. Auf materieller Ebene konnte das effektive Abecedarium den autoritativen Manuskripten offenbar ebenfalls nicht zur Gänze den Rang ablaufen. In den 1440er Jahren legte der Lüneburger Rat erneut ein repräsentatives <Sachsenspiegel>-Manuskript an. An dieser neuen Handschrift sind zwei Besonderheiten herauszustreichen: erstens die Glosse, die aus der Feder des Lüneburger Ratsherrn Brand von Tzerstede stammt, und zweitens die vier prachtvollen Miniaturen, die zu Beginn des Codex aufeinander folgend eingearbeitet sind 67. Der Lüneburger Glossator Brand von Tzerstede hatte ab 1414 in Leipzig 68 studiert und wurde nach seiner Rückkehr nach Lüneburg 1436 Ratsherr. Bis 1443 gehörte 67
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Vgl. Uta Reinhardt, Brand ( Hildebrand ) von Tzerstede, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 9, 1995, Sp. 1195 f. Obgleich der <Sachsenspiegel> nicht auf dem offiziellen Lehrplan der Leipziger Universität zu finden war, war er doch im Umkreis der dortigen Rechtsgelehrten bekannt und wurde sogar in Rechtsgutachten – vor allem von Dietrich von Bocksdorf – zitiert. Brand von Tzerstedes Aufenthalt in Leipzig überschneidet sich zeitlich mit dem des Juristen Tammo von Bocksdorf, der von 1410 bis zu seinem Tod 1436 in Leipzig wirkte und unter anderem ein Remissorium zum <Sachsenspiegel> verfasst hat. Vgl. Marek Wejwoda, Dietrich von Bocksdorf ( 1405/10–1466 ). Ein Niederlausitzer als Rechtsgelehrter und Universitätsprofessor, in: Niederlausitzer Studien 35, 2009, S. 26–59.
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er dem Rat im Amt des Richteherrn an, hatte also direkt in der Rechtsprechung zu tun. Bis zu seinem Tod im Jahr 1451 war er mit Unterbrechungen im Amt 69. Möglicherweise haben ihn diese beiden wichtigen Karrierestationen – das Studium in Leipzig und die Tätigkeit im Ratsgericht – dazu bewogen, sich selbst an eine Kommentierung des <Sachsenspiegels> zu wagen: Im Studium erwarb er Kenntnisse des gelehrten Rechts und der damit verbundenen Arbeitstechniken, kam wohl auch mit dem <Sachsenspiegel> in Berührung; im Umfeld des Lüneburger Rats übte er dann den praktischen Umgang mit dem <Sachsenspiegel> 70. Die Glossierung ist eine Kulturtechnik, die aus dem Bereich des gelehrten Rechts adaptiert und seit dem 14. Jahrhundert auf den <Sachsenspiegel> angewendet wurde. Der <Sachsenspiegel> wurde erstmals nach 1325 durch den markbrandenburgischen Hofrat Johann von Buch mit einem gelehrten Kommentar versehen 71. Buch strebte mit seiner Glosse die Harmonisierung von gelehrtem und Volksrecht an und wollte so Ordnung in den teils unverständlichen, teils widersprüchlichen Stoff des <Sachsenspiegels> bringen. Die erstmalige Glossierung durch Johann von Buch hatte zur Folge, dass die Textentwicklung des <Sachsenspiegels> zum Stillstand kam und Veränderungen fortan nur noch innerhalb der Glosse vorgenommen wurden 72. Auf die Manuskript-Gestaltung hatte die Glossierung ebenfalls Auswirkungen 73. Die Glossierung eines Textes oder von Textteilen stellt ganz neuartige Anforderungen an das Layout. Der Umfang der Glosse übersteigt den des textus bei Weitem, so dass – bei gewissen Arten der Darstellung – nur durch einen kleineren Schriftgrad der Glosse gewährleistet werden kann, dass die zueinander gehörenden Textpassagen auch ( annähernd ) auf derselben Seite stehen. Durch die Kommentierung wird das Rechtsbuch aber auch mit Autorität versehen. Dass sich das Layout der Rechtsbücher an Werken des gelehrten Rechts orientierte, war sicherlich ein wichtiger Aspekt, der zur Ranger69 70
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Vgl. Drescher, Ratshandschriften ( wie Anm. 2 ) S. 126. Dass der Lüneburger Rat in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg und darüber hinaus als wichtige Instanz in der Auslegung des <Sachsenspiegel>-Rechts galt, wird aus folgender Episode deutlich: In den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts wandte sich der Rat der Stadt Hannover an den Lübecker Rat, um dort eine Rechtsauskunft einzuholen. Die Lübecker antworten, dat unser stadrecht, dar wy mede bewedemet sin unde dat recht dar nach gy jw riechten sek nicht allens vorlopen wente alze vornemen so richten gy na deme Sasseschen Speygele darumme est yd jowe beschedenheyt behagede, so möchte gy jw des rechtes von unsen Vründen den van Lüneborgh beceghen laten. Vgl. Friedrich Ebel, Statutum und ius fori im deutschen Spätmittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 93, 1976, S. 100–150, hier S. 123. Zur Buch’schen Glosse jüngst Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse ( MGH Schriften 56 ) Hannover 2007. Vgl. zum Autor Hiram Kümper, Art. <Buch, Johann von>, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 24, 2005, Sp. 370–373. Vgl. zur Kulturtechnik der Glossierung auch Kuchenbuch – Kleine ( Hgg. ), im Mittelalter ( wie Anm. 35 ). Vgl. Bernd Michael, Deutsche Rechtshandschriften. Anmerkungen zur Verschriftlichung des Rechts, in: Peter Jörg Becker – Eef Overgaauw ( Hgg. ), Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003, S. 292–298, vor allem S. 297. Vgl. zum Beispiel Michael, Rechtshandschriften ( wie Anm. 72 ) S. 297; vgl. auch M. B. Parkes, The Influence of the Concept of Ordinatio and Compilatio on the Development of the Book, in: Jonathan James Graham Alexander – Margaret T. Gibson ( Hgg. ), Medieval Learning and Literature. Essays presented to Richard William Hunt, Oxford 1976, S. 115–141, vor allem S. 116.
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höhung des <Sachsenspiegels> im späten Mittelalter beitrug 74. Der <Sachsenspiegel> wurde durch die Glossierung zu einem „kulturellen Text“ im Sinne von Jan und Aleida Assmann 75, wie Dagmar Hüpper herausstellt. Er wurde durch die Anwendung der Kulturtechnik „überhistorisch verbindlich“, „kanonisiert“ und besaß „das Privileg einer Form von Exegese, die den Text durch anreichernde Leseerfahrung auffüllt und auratisiert“ 76. Die Glosse von Brand von Tzerstede orientierte sich weitestgehend an der des Johann von Buch, fügte aber auch Material an, das sich nicht bei Buch, sondern in anderen Glossenvarianten findet 77. Tzerstede wollte offenbar autoritative Glossenteile zusammenbringen, statt einen neuen Kommentar zu schreiben. Von Interesse ist hier aber nicht so sehr die Herkunft dieser Glossentexte, sondern das Selbstverständnis, das aus Tzerstedes Tätigkeit sprach. Tzerstede verfasst die Glosse Gode to loue vnde dem gemenen gude, vnde besundergen deme rade to luneborch to eren vnde to nutticheyd. 78 Damit umschreibt er die beiden Pole, zwischen denen die Wirkung seiner Glossierungstätigkeit anzusiedeln ist. Das ist auf der einen Seite der pragmatische Nutzen für den Rat (nutticheyd ), auf der anderen die Ehre, die dem Rat und Tzerstede selbst dadurch zuteil wurde. Konkret bedeutete dies, dass Tzerstede den Rechtsstoff des <Sachsenspiegels> für die Rechtspraxis des Lüneburger Rats erschließen wollte. Dieser Umstand sollte jedoch nicht allein im Sinne einer Effektivierung der Stadtverwaltung und Rechtsprechung verstanden werden. Indem der Ratsherr sich der Arbeitstechnik der Glossierung bediente, schrieb er sich und den Lüneburger Rat als Adressaten und intendierten Nutzer des glossierten Buches auch bestimmten Traditionen ein. Er markierte seine Zugehörigkeit zu einer Expertenkultur, als deren Angehöriger er mit bestimmten Techniken vertraut war. Außerdem sollte wohl der Aspekt des gerechten, richtigen Richtens, an den das Seelenheil des Richters geknüpft war, nicht außer Acht gelassen werden. Den <Sachsenspiegel> begreift Brand von Tzerstede eindeutig als Kaiserrecht, was er detailliert ausführt: Das Landrecht schreibt er Kaiser Karl, das Lehnrecht Friedrich I. zu. Die in anderen <Sachsenspiegel>-Manuskripten nicht vorkommenden Überschriften der Artikel 82 bis 88 des dritten Buchs verweisen allesamt auf kaiserliche constitutiones: zum Beispiel wird der Artikel III 82 des Landrechts als Prima constitucio Ottonis magni bezeichnet, in der Überschrift zu Artikel 83 heißt es: Sequitur secunda constitucio Ottonis magni imperatoris, zu Artikel 87: Constitucio Frederici imperatoris prima 79. 74 75
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Vgl. Michael, Rechtshandschriften ( wie Anm. 71 ) S. 296. Vgl. Aleida Assmann, Was sind kulturelle Texte?, in: Andreas Poltermann ( Hg. ), Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, Berlin 1995, S. 232–244; vgl. auch Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 42002. Vgl. Hüpper, Wort ( wie Anm. 34 ) S. 249; Assmann, Kulturelle Texte ( wie Anm. 75 ) S. 237. So zum Beispiel Emil Steffenhagen, Die Entwicklung der Landrechtsglosse des Sachsenspiegels, 4: Die Tzerstedische Glosse, Wien 1884, S. 5 und S. 13; aber auch Kannowski, Umgestaltung ( wie Anm. 71 ) S. 8. Anderer Meinung ist Rolf Lieberwirth, Die geplanten Editionen von SachsenspiegelGlossen, in: Heiner Lück – Werner Freitag ( Hgg. ), Historische Forschung in Sachsen-Anhalt. Ein Kolloquium anlässlich des 65. Geburtstages von Walter Zöllner, Stuttgart – Leipzig 1999, S. 105–124, hier S. 109. Zitiert nach Steffenhagen, Entwicklung ( wie Anm. 77 ) Nr. 4, S. 228 f. Vgl. ebd., S. 12 f.
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Die Bezugnahme des Lüneburger Rats auf die Autorität der Kaiser ist auffällig. Und sie kommt auch in einem anderen Medium zur Geltung: Schon die RechtsbuchHandschriften, die um 1400 angelegt worden waren, enthielten – wie oben angesprochen – ganzseitige Titel-Miniaturen, in denen sich Kaiserrecht und lokale Herrschaft durchdrangen. Der Codex von 1442 enthält nun vier ganzseitige Miniaturen, die jeweils die Verleihung von Herrschaftsgewalt zeigen. Nicht mehr die Rückführung des Rechts auf Karl den Großen oder andere Kaisergestalten stand hier im Mittelpunkt, sondern die Privilegienvergabe 80. Das erste Bild ist eine Darstellung der Zwei-Schwerter-Lehre, wie sie sich ähnlich auch in anderen <Sachsenspiegel>-Manuskripten findet, handelt es sich doch um die bildliche Umsetzung des ersten Artikels des <Sachsenspiegels> 81. In der zweiten Miniatur ist eine Kaiserfigur zu sehen, die eine Urkunde an die vier Fürsten von Bayern, Schwaben, Franken und Sachsen überreicht 82. Das dritte Bild ähnelt stark den Darstellungen aus den früheren Lüneburger Rechtsbuch-Manuskripten. Man sieht den Kaiser, der einem Fürsten eine Urkunde überreicht. In der Forschung wird die Figur des Kaisers mit Karl IV. identifiziert, der den Herzog von Sachsen mit dem Land Lüneburg belehnt. Es handelt sich dabei um eine Episode aus dem Lüneburger Erbfolgekrieg von 1370 bis 1388 83. Im vierten Bild schließlich ist ein doppelter Überreichungsakt dargestellt: Der Herzog von Braunschweig-Lüneburg ( erkennbar wiederum am Wappen ) empfängt vom Kaiser eine Urkunde und gibt gleichzeitig ein Schriftstück, vermutlich das Lüneburger Stadtrecht, an eine Person weiter, die durch das zu ihren Füßen liegende Stadtwappen als Mitglied der Lüneburger Stadtgemeinde identifiziert werden kann. Die Darstellung nimmt wohl Bezug auf die Verleihung des Lüneburger Stadtrechts durch Otto das Kind im Jahr 1247 84. Der Kaiser wäre dementsprechend mit Friedrich II. zu identifizieren. In diesem letzten Bild steht die Überreichung des Rechtsbuchs nicht mehr im Zentrum, sondern tritt deutlich hinter die Verleihung des Stadtrechts zurück 85. Die Rechte, die Lüneburg für sich beanspruchte, waren hier in den bildlichen Darstellungen festgehalten. Der Rat setze damit ins Bild, was längst Realität war. Mit dem Erwerb von Privilegien vom Landesherrn hatte er sich zunehmend von diesem unabhängig gemacht und eine starke und autonome Position innerhalb des Fürstentums erlangt, sowohl gegenüber dem Herzog als auch gegenüber den anderen Städten.
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Vgl. Drescher, Ratshandschriften ( wie Anm. 2 ) S. 130. Im Bild in Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 167, fol. 18r, online einsehbar unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg167/0045. Vgl. Eckhardt, Sachsenspiegel ( wie Anm. 18 ) S. 69, Landrecht I § 1. Laut Drescher, Ratshandschriften ( wie Anm. 2 ) S. 133 nimmt das Bild Bezug auf <Sachsenspiegel> Landrecht III 53 § 1, in dem es um die Entstehung der vier deutschen Herzogtümer geht. Vgl. Eckhardt, Sachsenspiegel ( wie Anm. 18 ) S. 238. Brand von Tzerstede schrieb bereits in der Glosse zur Vorrede, dass die deutschen Lande in vere gedelet wären, alse sassen, beyeren, swaven unde vranken. Vgl. Steffenhagen, Entwicklung ( wie Anm. 77 ) S. 224. Vgl. Drescher, Ratshandschriften ( wie Anm. 2 ) S. 135. Ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 138 f.
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Eine weitere Besonderheit des letzten Bildes aus dem Tzerstede-Codex sind die 24 nachträglich eingefügten Wappen derjenigen Lüneburger Patrizierfamilien, die in der Mitte des 15. Jahrhunderts den Rat stellten. Damit kommt die Aneignung des <Sachsenspiegel>-Rechts durch den Lüneburger Rat auf repräsentativer Ebene zum Abschluss. Die Stoßrichtung dieser letzten Darstellung ist nun aber eine andere: nicht mehr gegenüber dem Stadtherrn muss sich der Rat seiner Machtposition versichern, sondern auch gegenüber der Stadtgemeinde. Wahrscheinlich wurden die Wappen um das Jahr 1448 nachgetragen 86, zu einem Zeitpunkt also, als der so genannte Prälatenkrieg ( 1446 bis 1462 ) gerade die inneren Verhältnisse der Stadt Lüneburg zu erschüttern begann und das Ratsregime angefeindet wurde 87. Diese äußeren Umstände veranlassten die Lüneburger Familien, die im Rat vertreten waren, offenbar zu einem derartigen Akt repräsentativer Selbstvergewisserung. Diese richtete sich nun nicht mehr nur gegen den Stadtherrn, sondern auch gegen die Gemeinde. Die Inszenierung des Rats als Obrigkeit und die Abschließung der Führungsgruppe kommt im Bildprogramm des <Sachsenspiegels> augenfällig zum Ausdruck. IV
Der Umgang des Lüneburger Rats mit den Rechtsbüchern zeigte ein breites Spektrum an Gebrauchsweisen und Funktionen von <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel> im Kontext lokaler Herrschaft auf. Im Zuge einer Neuordnung der Rechte der Stadt Lüneburg spielten <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel> als formale wie inhaltliche Prototypen von Rechtsbüchern eine Rolle, die im städtischen nachgeahmt wurden. Die Bücher waren zunächst auf einer repräsentativen Ebene bedeutsam, als auratische Objekte, die zwar im Gegensatz zu gewissen Stadtbüchern nicht zu Schwörtagen oder anderen rituellen Anlässen mitgeführt wurden 88 und an keiner Stelle in konkreten performativen Akten nachgewiesen werden können. Die auratische Wirkung der Lüneburger Bücher ergibt sich aber einerseits aus ihrer prachtvollen Ausstattung, andererseits aus ihrem autoritativen Inhalt. Vor allem der <Sachsenspiegel> galt als Text, dessen Autorität und Aura vor allem durch Traditionen der Exegese zustande kam. In diese Traditionen schrieb sich auch der Lüneburger Rat ein, indem der Ratsherr Brand von Tzerstede eigens für den Gebrauch in der Lüneburger Rechtspraxis eine Glosse verfasste bzw. zusammentrug. In der bisherigen Forschung wurde die auratische Wirkung von Rechtsbuch-Manuskripten zumeist vernachlässigt. Objekteigenschaften der Bücher ebenso wie ihre möglichen Einbettungen in performative Vollzüge spielten allenfalls eine marginale Rolle. Dabei deutet die Beschaffenheit zahlreicher Manuskripte des <Sachsenspiegels> und des <Schwabenspiegels> auf einen derartigen Gebrauch hin. Anzuführen sind hier neben den Lüneburger Handschriften beispielsweise die <Sachsenspiegel>-Codices, die
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Drescher, Ratshandschriften ( wie Anm. 2 ) S. 139; Reinecke, Geschichte ( wie Anm. 2 ) S. 345. Zum Prälatenkrieg knapp Droste, Schreiben ( wie Anm. 8 ) S. 81. Vgl. zum Beispiel Jeannette Rauschert, Gelöchert und befleckt. Inszenierung und Gebrauch städtischer Rechtstexte und spätmittelalterliche Öffentlichkeit, in: Karl Brunner – Gerhard Jaritz ( Hgg. ), Text als Realie. Internationaler Kongress, Krems an der Donau, 3. bis 6. Oktober 2000, Wien 2003, S. 163–181; Dies., Herrschaft ( wie Anm. 8 ).
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vermutlich im Umkreis des Den Haager Hofes des Wittelsbachers Albrecht von Bayern ( 1336–1404 ), seit 1389 Graf von Holland, Seeland und Hennegau, entstanden sind 89. Die Manuskripte sind prachtvoll ausgestattet und mit Miniaturen und Zierinitialen versehen. Zu Beginn weisen sie Register auf, die keinesfalls einem effektiven Auffinden oder Erschließen der Inhalte dienen können. Formal ähneln diese Register denen anderer Rechtsbuch-Handschriften. Inhaltlich unterscheiden sie sich jedoch dadurch, dass hier statt der sonst üblichen, nahezu standardisierten Stichsätze zu den Inhalten der Artikel zumeist lediglich zwei bis drei Worte angeführt werden, die in manchen Fällen keinesfalls distinktiv waren 90. Hier wurde offenbar lediglich die Form des Registers zitiert, statt tatsächlich ein effektives Erschließungsinstrument zu schaffen. Neben seinen repräsentativen Funktionen war der <Sachsenspiegel> aber auch Grundlage der Rechtsprechung. Nachweislich ab 1410 urteilte das Lüneburger Ratsgericht dort, wo nach Stadtrecht keine Lösung für ein Rechtsproblem gefunden werden konnte, nach dem <Sachsenspiegel>. Dass man eine solche Anwendung des <Sachsenspiegel>-Rechts aber keinesfalls einfach verallgemeinern und für die normale und am weitesten verbreitete Gebrauchsform in norddeutschen Städten halten kann, zeigen schon die Vergleiche mit den wenigen Städten, die auf Lüneburgs Rechtsanfrage von 1410 antworteten. In einigen dieser Städte war offenbar ein <Sachsenspiegel>-Manuskript vorhanden, entweder im Umkreis des Rats oder im Besitz von Rechtsgelehrten. Andere Städte aber urteilten nicht nach <Sachsenspiegel>-Recht, sondern nur nach Stadtrecht, und hatten offenbar auch keinen Zugang zum Rechtswissen des <Sachsenspiegels>. Dennoch sah die Forschung im Einsatz in der Rechtspraxis zumindest unausgesprochen meist die hauptsächliche Funktion des <Sachsenspiegels>. Hierbei wurde häufig zu stark vom Text ausgehend gedacht, die Objekteigenschaften der Manuskripte hingegen ausgeblendet. Möglicherweise würde eine Auswertung unedierter Archivbestände aber weitere Fälle ans Tageslicht bringen, in denen verschiedene Umgangsformen mit dem <Sachsenspiegel> und möglicherweise auch dem <Schwabenspiegel> deutlich würden. Doch zeigen die Antworten auf die Lüneburger Rechtsanfrage eben auch, dass keinesfalls jede Stadt oder jeder Herrschaftsträger im norddeutschen Raum ein <Sachsenspiegel>-Manuskript besaß. In der Entwicklung des herrschaftskulturellen Umgangs des Lüneburger Rats mit den Rechtsbüchern ist vor allem die Tendenz zur Anwendung innovativer Arbeitstechniken im Verlauf des 15. Jahrhunderts herauszustreichen, vor allem die Glossierung des <Sachsenspiegels> durch den Lüneburger Rats- und Richteherrn Brand von Tzerstede und die alphabetische Ordnung der Rechtsmaterie im Abecedarium. Mit der Glossierung explizit für den Rat der Stadt Lüneburg strebte Tzerstede zum einen die bessere Verfügbarmachung von Rechtsinhalten für die Gerichtspraxis an. Zum anderen trug die Anwendung dieser elaborierten Kulturtechnik zur Prestigesteigerung und 89
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Vgl. zum Beispiel Berlin SBPK, Ms. germ. fol. 820, Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 61; letzteres Manuskript online einsehbar unter http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/cb/0061. Vgl. Bernd Michael, Eike von Repgow: Sachsenspiegel ( erste Fassung ), in: Peter Jörg Becker – Eef Overgaauw ( Hgg. ), Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003, S. 300–304. Vgl. zum Beispiel die häufig wiederkehrende Wendung van den selven, Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 61, fol. 4r.
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Ehre des Verfassers und des Rats bei. Hier zeigt sich deutlich, dass man Aspekte der Machtinszenierung und Effizienzsteigerung keinesfalls als getrennte Komplexe betrachten kann, sondern dass sich diese Funktionsweisen stets durchdrangen. Ebenso wie die Glosse versprach das Rechtsabecedar einen effizienteren Zugang zu den Rechtsregeln von <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel>. Dass nunmehr die alphabetische Anordnung des Stoffs bevorzugt wurde, kann auf einen Wandel der Ordnungsvorstellungen im Verlauf des 15. Jahrhunderts verweisen. Im Allgemeinen setzte sich zur frühen Neuzeit hin das alphabetische Ordnungsprinzip immer mehr durch. Bemerkenswert ist aber, dass das Abecedarium <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel> als autoritative Texte und materielle Objekte nicht ablösen konnte. Sowohl die Glossierung als auch die alphabetische Anordnung der Rechtsmaterie dürfen keinesfalls zu einseitig als Mittel der Effizienzsteigerung im Umgang mit dem <Sachsenspiegel>-Recht verstanden werden. Es ging immer auch um ein Zurschaustellen von technischen Fähigkeiten, um ein Einschreiben in bestimmte Traditionszusammenhänge und ein Markieren der Zugehörigkeit zu einer Expertenkultur. Letztlich wurden hier im Rahmen städtischer Herrschaft Kulturtechniken angewandt, die – über die Vermittlung durch das gelehrte Recht – ursprünglich aus dem Bereich von Predigt und Bibelexegese stammten. Mit der Übertragung von Arbeitstechniken der religiösen Sphäre ging auch eine Auratisierung und Aufwertung der neuen Gebrauchszusammenhänge einher. Für den Lüneburger Rat war außerdem der Umstand, dass <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel> als Kaiserrecht galten, von großer Bedeutung. Dies zeigt sich in den Miniaturen der Manuskripte ebenso wie textuellen und paratextuellen Elementen, die auf das Kaiserrecht verweisen. Der Appell an das Kaiserrecht hatte in diesen Zusammenhängen zweierlei Bedeutungen: Zum einen wurde auf Kaisergestalten verwiesen, die ideale Herrscher, Rechtsetzer und Rechtsprecher waren. Zum anderen wurden Analogien zum gelehrten Recht gebildet, womit sowohl der Rang der Rechtsbücher als auch ihrer Benutzer erhöht wurde. Die Untersuchung der medialen Funktionen und materiellen Ausgestaltungen der Lüneburger Rechtsbücher zeigte, dass sich die Bedeutung von <Sachsenspiegel> und <Schwabenspiegel> keinesfalls im Gebrauch vor Gericht erschöpfte und dass es keineswegs allein der autoritative Text der Bücher war, der Wirkung entfaltete und Sinn stiftete. Zahlreiche Elemente, vom prachtvollen Codex als Ganzem bis zu einzelnen Miniaturen, Wappendarstellungen oder textuellen Einzelheiten, bildeten einen medialen Komplex, der die Bedeutungen der Rechtsbücher im Kontext lokaler Herrschaftsausübung konstituierte.
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Die Grammatik des Johannes Kerckmeister ( 1486 ) als Zeugnis des Humanismus in Münster Le bonheur que procure l’étude … ne fait pas regretter les heures passées à interroger un livre scolaire vieux de cinq cents ans. Eugénie Droz 1964 I. Die Grammatik im Ganzen: 1. Entdeckung und Erforschung, S. 329. – 2. Beschreibung des Druckes, S. 331. – 3. Die Lehrstücke der Grammatik, S. 332. – 4. Die Didaktik des , S. 334. – II. Überlieferung und Bearbeitung der einzelnen Lehrstücke: 1. Lehrstücke zur Etymologie, S. 338. – a. Dominus que pars (I), S. 338. – b. Forma comparandi declinandiqe adiectiva nomina atque coniugandi verba irregularia (II), S. 341. – c. Verborum divisiones / Distinctiones verborum (III), S. 341. – 2. Lehrstücke zur Syntax, S. 342. – a. Grundbegriffe, S. 342. – b. Regule puerorum (IV) und congruitates communes (V), S. 345. – c. Regule de figuratis constructionibus grammaticis (VI), S. 346. – d. Regule latinitatum impedimentalium (VII), S. 348. – e. Regulae constructionum / de constructionibus grammaticis (VIII), S. 349. – 3. Das Lehrstück über Prosodie und Metrik, S. 352. – a. Regule orthographie (zu IX, 1), S. 352. – b. Prosodie (zu IX, 2), S. 352. – c. Regule artis metrificandi (IX, 3), S. 354. – 4. Beispiele, S. 356. – III. Druckgeschichte und Rezeption des Fundamentum, S. 360. – IV. Biographisches: 1. Johannes Kerckmeister, S. 369. – 2. Johannes Limburg, S. 374. – V. Das geistige Leben in Münster in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, S. 375. – VI. Humanistisches in Kerckmeisters Grammatik: 1. Recta Latinitas – Poetarum grammatica, S. 386. – 2. Auseinandersetzungen um die richtige Grammatik, S. 389. – 3. Humanistische Hochschätzung von Lehrern und Schülern, S. 390. – VII. Zur literaturgeschichtlichen Bedeutung des : 1. Die Kritik des neuen Rektors Timan Kemner an Kerckmeisters Schule, S. 391. – 2. Das im Rahmen der humanistischen Grammatikdiskussion, S. 393.
I. DIE GRAMMATIK IM GANZEN
1. Entdeckung und Erforschung Beinahe vierhundert Jahre war Johannes Kerckmeister ein Unbekannter, bis Joseph Bernhard Nordhoff 1874 seine 1485 bei Johannes Limburg in Münster gedruckte Komödie entdeckte 1. Damit kam das früheste in Münster überhaupt gedruckte Buch ans Licht, ein Jahr älter als die schon bekannten, ebenfalls bei Limburg verlegten des Rudolf von Langen. Knapp fünfzig Jahre später gab Ernst Crous in einer Untersuchung über die Geschichte des frühen Buchdruckes in Münster den Hinweis auf ein zweites Werk Kerckmeisters, eine 1486 ebenfalls bei Johannes Limburg gedruckte Grammatik. Als Besitzer des Exemplars nannte Crous Louis Polain in Paris. Weiteres konnte er allerdings nicht in Erfahrung bringen; seine Bitte
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Joseph Bernhard Nordhoff, Der erste Münsterische Druck 1485 und das hohe Alter der Humanistenschule, in: Denkwürdigkeiten aus dem Münsterischen Humanismus, Münster 1875, S. 73–94.
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um nähere Auskünfte blieb unbeantwortet 2. In der Folgezeit nahm niemand diese Spur auf, und so konnte man sich ein Bild von dem Werk erst machen, als die in Genf lebende französische Renaissanceforscherin und Verlegerin Eugénie Droz es 1964 und 1965 in zwei ausführlichen Aufsätzen vorstellte 3. „Les de Remigius, Münster en Westphalie 1486“ enthielt eine Skizze des geistesgeschichtlichen Hintergrundes, der Epoche des aufkommenden Humanismus in Münster unter der Ägide Rudolf von Langens, eine ausführliche, von Abbildungen begleitete Inhaltsangabe der Grammatik, Hinweise auf weitere Ausgaben des und eine Untersuchung zu Remigius, der vermeintlichen Quelle des Textes 4. In „La première réforme scolaire à Münster en Westphalie ( 1485 )“ ordnete Droz die Grammatik Kerckmeisters in den Zusammenhang der Umwandlung der Domschule in ein humanistisches Gymnasium ein, wobei sie wiederum die Bedeutung von Langens würdigte; sie behandelte Kerckmeisters und stellte schließlich seine Grammatik in ihrer Gliederung und didaktischen Zielsetzung vor. Die Werke Kerckmeisters deutete sie als Vorbereitung der humanistischen Reform der Domschule und Ausdruck eines münsterischen „préhumanisme“ 5. Der Aufsatz von 1964 wurde mit dem Einverständnis der Verfasserin 1968 in Münster ins Deutsche übersetzt und überarbeitet. Dabei ließ man den letzten Teil zur Remigius-Frage weg, weil er keinen lokalen Bezug hatte, und wohl auch, weil man die Fragwürdigkeit der These ( Remigius von Mettlach als Autor ) erkannte. Wo die Autorin bei der Darstellung des geistig-literarischen Hintergrundes auf einem inzwischen überholten Forschungsstand war, berichtigte man ihre Ausführungen 6. 1968 wurde endlich der Text selbst in einem Facsimile-Druck der Öffentlichkeit zugänglich gemacht 7. Die Ausgabe enthielt allerdings keinen Hinweis auf Besitzer und Aufbewahrungsort des Originals. Meine Nachforschungen haben ergeben, dass Eugénie Droz selbst die Inkunabel besaß. Sie hatte sie mit dem Nachlass des 1933 verstorbenen Louis Polain erworben, 1968 für die Reproduktion zur Verfügung gestellt und sie 1974, drei Jahre vor ihrem Tod, dem Verlag Slatkine verkauft. Seit 2006 ist der Druck, von dem bisher nur dieses eine Exemplar bekannt ist, im Besitz des Pariser Antiquariats Jean-Claude Vrain 8. 2
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Ernst Crous, Der Buchdruck Münsters im 15. Jahrhundert, in: Westfalen 11, 1921 ( erschienen 1922 ), S. 6–14 mit 10 Tafeln; zur Kerckmeister-Grammatik: S. 9 Nr. 3 und S. 11. Zu Eugénie Droz: Henri Meylan, Eugénie Droz ( 1893–1976 ), Nachruf, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 27, 1977, S. 528–534. Eugénie Droz, Les ‚Regule‘ de Remigius, Münster en Westphalie 1486, in: Studi di biografia e di storia in onore di Tammaro de Marinis 2, Verona 1964, S. 265–280. Dem Schluss dieses Aufsatzes ( S. 280 ) ist das Motto der vorliegenden Arbeit entnommen. Eugénie Droz, La première réforme scolaire à Münster en Westphalie ( 1485 ), in: Fritz Schalk ( Hg. ), Ideen und Formen, Festschrift für Hugo Friedrich, Frankfurt am Main 1965, S. 61–78. Eugénie Droz, Die „Regule Remigii“, eine unbekannte münsterische Inkunabel aus dem Jahre 1486, in: Joseph Prinz ( Hg. ), Ex officina literaria. Beiträge zur Geschichte des westfälischen Buchwesens, Münster 1968, S. 1–8. Remigius, Regule, Fac-similé de l’édition de Münster 1486, Genf 1968. Marie-Louis Polain ( 1866–1933 ) war Mitarbeiter Marie Pellechets am Catalogue général des incunables des bibliothèques publiques de France, nach Pellechets Tod 1910 alleiniger Bearbeiter; er erstellte auch den Catalogue des livres imprimés au quinzième siècle des bibliothèques de Belgique, vgl. Anne Rouzet, Art., , in: Lexikon des gesamten Buchwesens 6, 2003, S. 41 f. Nach Polains Tod erwarb Eugénie Droz seinen gesamten Nachlass. Sie wollte als Besitzerin der Kerckmeister-Grammatik nicht in Erscheinung treten. 1968 hieß es: „Der Besitzer unseres Exemplars möchte ungenannt blei-
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1986 fand Kerckmeisters Grammatik Aufnahme in die von Bertram Haller erstellte Bibliographie des frühen Buchdrucks in Münster 9; das wird samt seinen Nachdrucken auch im Manuskript des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke, im International Short Title Catalogue ( ISTC ) in London und in anderen bibliographischen Findmitteln aufgeführt. In den allgemeinen Nachschlagewerken wurde das Werk aber bis 2008 nicht genannt 10. In Arbeiten zur mittelalterlichen und humanistischen Grammatik wird es nicht erwähnt, auch nicht in der lokal- und regionalgeschichtlichen Forschung. Dabei spielt es eine nicht unerhebliche Rolle in der Geschichte der lateinischen Grammatik des 15. Jahrhunderts in Deutschland. Dies zu zeigen und dabei die Untersuchungen Eugénie Droz’ zu ergänzen und zu korrigieren ist die Absicht dieser Arbeit. 2. Beschreibung des Druckes Von der Kerckmeister-Grammatik ist nur das Exemplar der Provenienz Polain – Droz bekannt. Es handelt sich um ein kleines Buch von 120 Blättern in 15 Lagen zu je 8 Blättern im Oktavformat, das der Drucker Johannes Limburg nur in diesem Fall wählte; die anderen bei ihm erschienen Werke haben Quartformat. Die Lagen sind von Hand mit schwarzer Tinte von I–XVI nummeriert; Seitenzahlen und Blattsignaturen fehlen. Ich zähle die Blätter durchgehend und bezeichne Vorder- und Rückseite jeweils mit r und v. Der Satzspiegel hat die Abmessung von 6,5 × 9,8 cm, die Seite zu 24 Zeilen, gedruckt in der von Crous als Type 1 bezeichneten Schrift 11. Zur Seitengestaltung dienen Überschriften, Absätze und Leerzeilen. Durch eingerückte Textzeilen, die durch am Rand stehende Überschriften zusammengefasst sind, werden über- und untergeordnete Aspekte im Druckbild sichtbar. Als Benutzerspuren sind erkennbar: Rubrizierungen ( Initialen, Satzanfänge ), Unterstreichung von Zitaten, Klammern, die inhaltlich Zusammengehöriges verbinden 12. Das Werk hat kein Titelblatt; , der Kopftitel der ersten Seite, bezieht sich nur auf das erste Lehrstück. Die Nachdrucke ab 1492 führen den Titel bzw. 13. Diese Bezeichnung benutzt Kerckmeister selbst an einigen Stellen seines Werkes 14, und so sollte die Grammatik auch zitiert werden. Das Buch wurde in drei Abschnitten gedruckt. Der erste, die Seiten 1r–16v, also zwei Lagen, umfassend, der die enthält ( im Folgenden als Lehrstück I bezeichnet ), wurde am 15. März 1486 vollendet, der zweite mit den Stücken II–VI
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ben.“ ( wie Anm. 6 ) S. 6, Anm. 20. Noch in einem Brief von 1975 teilt sie dem Gesamtkatalog der Wiegendrucke auf Nachfrage mit, sie wisse nicht, wer das Buch besitze. An dieser Stelle danke ich dem Referatsleiter des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke, Herrn Dr. Falk Eisermann, für seine Hilfe und für die Erlaubnis, das handschriftliche Material zu Kerckmeisters Grammatik einzusehen. Im Gesamtkatalog der Wiegendrucke ( künftig GW ) ist das Werk verzeichnet unter GW M37763; im International Short Title Catalogue unter ISTC ir 00140380. Bertram Haller, Der Buchdruck in Münster 1485–1583. Eine Bibliographie, Münster 1986, S. 31–32, Nr. 5. Jetzt: Christel Meier, Art. in: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon 1, 2008, Sp. 1283–1286. Crous, Der Buchdruck Münsters ( wie Anm. 2 ) S. 6 und Tafel 1, Abb. 1. Ich danke Herrn Jean-Claude Vrain, dass ich den Originaldruck in Augenschein nehmen konnte. S. unten Teil III. S. Teil I, Abschnitt 3 und Abschnitt 4.
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( 17r–69v ) am 31. März 1486. Danach wurde die Grammatik von der Presse genommen, um die von Langens zu drucken, die am 29. Juli 1486 fertig wurden. Darauf folgte der dritte Abschnitt der Grammatik, die Seiten 70r–120r mit den Lehrstücken VII–IX, der am 15. August 1486 vollendet wurde. Für die Abschnitte 2 und 3, die jeweils etwa 50 Blätter bzw. 100 Seiten umfassen, benötigte der Drucker etwa 15 Tage, eine Druckleistung von etwa 7 Seiten pro Tag. Setzt man diese Tagesleistung auch für den ersten Abschnitt voraus, hätte dessen Druck um den 10. März 1486 begonnen. Zwischen diesem Datum und dem Druckende der Komödie ( 31. Oktober 1485 ) liegt etwa ein halbes Jahr. Kerckmeister hat selbst beim Druck Korrektur gelesen: Id parvum opus, ingenui adolescentes, vobis Johanne Kerckmestrio dedicatum. Sub eiusdem fidelissima correctione … impressum Johanne Lymburgo imprimente. Ein Meisterwerk der Genauigkeit ist die Grammatik freilich trotz der Bemühungen Kerckmeisters nicht geworden; es finden sich zahlreiche Druckfehler, die in den späteren Ausgaben meist korrigiert wurden. 3. Die Lehrstücke der Grammatik I. Regule Remigii – Dominus que pars? ( 1r–16v ) 15 Die Lehre von den acht Wortarten ( partes orationis ) II. Forma comparandi declinandiqe adiectiva nomina atque coniugandi verba irregularia ( 17r–29v ) Regelmäßige und unregelmäßige Steigerung der Adjektive; Konjugation der unregelmäßigen Verben; Tempusbildung III. Verborum divisiones / Distinctiones verborum ( 30r–33r ) Die drei Hauptgruppen der Verben: verba substantiva, vocativa und adiectiva mit weiteren Unterteilungen der verba adiectiva IV. Regule congruitatum grammaticalium/ Octo regule puerorum ( 33v–34v ) Elementare Regeln der Syntax V. Congruitates communes / Regule latinitatum ( 34v–54v ) Hundert Beispiele für regelmäßige syntaktische Fügungen VI. Regule de figuratis constructionibus grammaticis ( 54v–69v ) Zulässige Abweichungen von den Regeln der Syntax VII. Regule latinitatum impedimentalium / De impedimentis latinitatis ( 70r–85v ) Problematische Fälle und Verstöße gegen die Regeln der Syntax VIII. Regule constructionum / De constructionibus grammaticis ( 86r–98v ) Allgemeines zur constructio; Einteilungen ( divisiones ) der Konstruktionen; Sinnabschnitte und Reihenfolge der Wörter im Satz ( ordo bonus/ordo naturalis ) IX. Regule orthographie et artis metrificandi ( 98v–119v ) 1. Regule orthographie ( 98v–102v ) 2. Prosodie – ohne Titel ( 102v–111r ) 15
Die Zählung der Lehrstücke stammt von mir. Die Titel sind abgekürzt wiedergegeben. Die erste Titelangabe ist der Überschrift bzw. dem Incipit entnommen, die nach dem Schrägstrich dem Explicit.
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Grundlegendes zur Silbenlehre ( quesita sillabarum ); allgemeine und spezielle Regeln zur Quantität der Silben 3. Regule artis metrificandi ( 111r–119v ) Allgemeines zu Metrum und Versfuß; Practica componendi hexametra et pentametra; Anhang: in der Dichtung gebräuchliche Veränderungen der Wortgestalt ( Metaplasmen ) Kerckmeister bezeichnet seine Grammatik im Kolophon zusammenfassend als Regule partium grammatice artis fundamentales, und fast alle Lehrstücke tragen „Regule“ auch im Titel, meist mit dem Zusatz: emendate et correcte. „Regula“ meint die feste, einprägsame Formulierung eines grammatischen Tatbestandes; mit „emendate et correcte“ gibt Kerckmeister zu verstehen, dass er sein Verdienst im wesentlichen in der Herstellung einer von sachlichen und sprachlichen Fehlern freien Fassung bereits vorliegender Regeln sieht, was natürlich eine inhaltliche Bearbeitung nicht ausschließt. Dass er die Korrektheit so oft betont, dient zum einen der Werbung: In der Unterrichtstradition bewährte Texte werden in der besten Form dargeboten. Zum anderen lässt die Formulierung „emendate et correcte“ auch den Stolz auf seine Leistung als Bearbeiter erkennen. Das spricht auch aus der dreimal vorkommenden Betonung seiner Verantwortung als Schulleiter und Korrektor: sub correctione et emendatione Rectoris maiorum scholarum ( 16v ); emendate et correcte sub eiusdem fidelissima correctione … In summo per rectorem scripta ( 69v ); sub eiusdem fidelissima correctione ( 120r ). An zentraler Stelle des Werkes ( 54v ) äußert er sich über seine Tätigkeit sogar in Form eines Widmungsgedichtes, in dem er hervorhebt, dass er den Stoff bewusst ausgewählt und zu einem Kranz von genau hundert Beispielen zusammengefügt habe. Alle von Kerckmeister zusammengestellten und bearbeiteten Lehrstücke sind zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert entstanden 16. Sie sind in dieser Zeit oft bearbeitet worden, und jede dieser Fassungen besitzt eine eigene Prägung. Die in Manuskripten und Drucken überlieferten Traktate sind bisher – trotz des Repertoriums von Bursill-Hall und des großen Artikels im Gesamtkatalog der Wiegendrucke – noch nicht umfassend gesichtet und systematisch verglichen worden 17. Deshalb lässt sich nicht genau sagen, welche Textfassungen Kerckmeister als unmittelbare Vorlage benutzte. Aber wenn er sich auch im Rahmen der überlieferten Lehrstücke und Darstellungsformen bewegt, so setzt er doch bei der Auswahl und Anordnung der Traktate sowie bei den Zitaten und Beispielen starke eigene Akzente. Sein Lehrbuch unterscheidet sich deutlich von den um 1486 sonst noch erschienenen gedruckten Lehrschriften oder Grammatiken 18. Es ist nicht das Werk eines Kompilators, sondern die Arbeit eines eigenständigen Autors 19.
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S. unten Teil II. Geoffrey L. Bursill-Hall, A census of medieval Latin grammatical manuscripts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981; Holger Nickel, Art. , in: Gesamtkatalog der Wiegendrucke 8, 1978, Sp. 657–770. S. unten Teil III. Die Kataloge verfahren hier unterschiedlich. Teils nennen sie nicht Kerckmeister, sondern Remigius als Autor, teils wird Kerckmeister als Verfasser, teils als Bearbeiter bzw. Compilator bezeichnet.
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4. Die Didaktik des Die neun Traktate des umfassen den gesamten Lehrgang der Grammatik, der traditionell aus vier Teilen besteht: Orthographie ( de littera ), Prosodie ( de sillaba ), Lehre vom Einzelwort bzw. von den Wortarten ( de partibus orationis ) und Syntax ( de oratione ). Die beiden letzten Teile heißen in der mittelalterlichen Formulierung etymologia und diasintastica ( auch diasintetica oder diasynthastica ) 20. Die Metrik galt nicht als Teil der Grammatik, aber doch als eng mit ihr verwandt. Die KerckmeisterGrammatik hat folgenden Aufbau: 1. Etymologie ( I, II ) 2. Syntax ( III bis VIII ) 3. Orthographie ( IX, 1 ) 4. Prosodie ( IX, 2 ) 5. Metrik ( IX, 3 ). Abweichend von der antiken Anordnung stehen bei Kerckmeister Orthographie und Prosodie hinter Etymologie und Syntax. Das entspricht der Abfolge im des Alexander von Villedieu, allerdings nicht genau; denn dort kommt die Orthographie gar nicht vor, und die Metrik steht vor der Prosodie 21. Dem Curriculum des mittelalterlichen Unterrichts entsprechend wendet sich der Lehrgang, vom Elementaren zum Komplexen fortschreitend, der Reihe nach an Anfänger, Schüler der Mittelstufe und Fortgeschrittene 22. Die an den Schreib- und Leselehrgang der tabulistae anschließende erste Phase des Grammatikunterrichts führte an Hand des – die Schüler hießen daher Donatistae – in die Deklinationen und Konjugationen ein und stellte zunächst die Nomina, Pronomina und Verben, dann die weiteren Wortarten vor 23. 20
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Charles Thurot, Notices et extraits de divers manuscrits latins pour servir à l’histoire des doctrines grammaticales du moyen âge, Paris 1868, ND Frankfurt am Main 1964, S. 131–135; zur Metrik S. 134. Zur mittelalterlichen Einteilung der Grammatik: Priscianus autem divisit istam grammaticam in quatuor partes, scilicet in orthographiam, ethimologiam, dyasinteticam et prosodiam. Orthographia enim est scientia docens recte scribere … Ethimologia est scientia docens invenire naturam dictionum, dirivationes, declinationes et eorum significata …. Dyasintetica est alia pars loquens de dictionum unione sive coniunctione, que dicitur constructio, id est constructibilium unio …. Prosodia est scientia de accentu … in: Anne Grondeux, Le Graecismus d’Évrard de Béthune à travers ses gloses. Entre grammaire positive et grammaire spéculative du XIIIe au XVe siècle, Turnhout 2000, Prologue 1 (um 1300), S. 487 f. Dietrich Reichling, Das Doctrinale des Alexander de Villa-Dei, kritisch-exegetische Ausgabe ( Monumenta Germaniae Paedagogica 12 ) Berlin 1893. Zum Unterricht im Mittelalter: Johannes Müller, Vor- und frühreformatorische Schulordnungen und Schulverträge, Zschoppau 1885; Klaus Grubmüller, Der Lehrgang des Trivium und die Rolle der Volkssprache im späten Mittelalter, in: Bernd Moeller u. a. ( Hgg. ), Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Göttingen 1983, S. 371–397; Rolf Köhn, Schulbildung und Trivium im lateinischen Hochmittelalter und ihr möglicher praktischer Nutzen, in: Johannes Fried ( Hg. ), Schule und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, Sigmaringen 1986, S. 203–284, bes. S. 227–242. Zur Abfolge Donat – im mittelalterlichen Unterricht: Michael Bernhard, Goswyn Kempgyn de Nussia, Trivita studentium. Eine Einführung in das Universitätsstudium aus dem 15. Jahrhundert, München 1976, Verse 120–146. Louis Holtz, Donat et la tradition de l’enseignement grammatical, Paris 1981, S. 585–602 ( Text des ), S. 613–652 ( ), S. 653–674 ( Stillehre ). Zur mittelalterlichen DonatKommentierung: Geoffrey L. Bursill-Hall, Medieval Donatus commentaries, in: Historiographia Linguistica 8, 1981, S. 69–97. Zum Donattext nach den ältesten gedruckten Ausgaben: Paul Schwenke, Die Donat- und Kalendertype, Nachtrag und Übersicht ( Veröffentlichungen der Gutenberg-Gesellschaft 2 ) Mainz 1903, S. 35–49.
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Kerckmeister bezeichnet die entsprechenden Lehrstücke I und II mit dem auch sonst üblichen Begriff fundamentum als primum scholarium fundamentum bzw. discipulorum fundamentum ( 1r; 16v ). Dominus que pars ( I ) setzt die Grundkenntnisse der Donatistae voraus, erweitert sie und entfaltet sie im systematischen Zusammenhang. Auf diese Analyse greift die Forma declinandi et comparandi ( II ) zurück und behandelt konkret die Formenlehre der beiden wichtigsten Wortarten. Die Beispiele sind geschickt gewählt: Durch die Verbindung „hic doctus/doctior/doctissimus“ wird nicht nur die Steigerung selbst, sondern auch die Deklination der Adjektive und Pronomina geübt. Bei der Konjugation konzentriert Kerckmeister sich auf die schwierigen Fälle der unregelmäßigen Verben. Am Ende der Unterstufe führte man in die Syntax ein und leitete damit auf die Mittelstufe hin. Dieser Übergang geschieht im in den Lehrstücken III und IV. Schon der Abschnitt über das Verb in den octo partes ( I ) enthält die Einteilung der Verben; im Lehrstück III über die Divisio verborum wird sie ausführlich dargestellt. Der Traktat gehört noch zum ersten Teil der Grammatik, der Lehre von den Wortarten, führt aber bereits zur Syntax: Durch die Begriffe „transitiv – intransitiv“ kommt das regimen der Verben, die Möglichkeit, Objekte zu sich zu nehmen, in den Blick. Die folgende Regula puerorum ( IV ) ist eine elementare Darstellung der Lehre vom Satz an Hand der acht wichtigsten syntaktischen Verbindungen. Auf der Mittelstufe wurde vor allem die Syntax behandelt. Grundlage des Unterrichts war das des Alexander von Villedieu. Das stellt diesen Stoff mit großer Ausführlichkeit in den Lehrstücken V–VIII dar, von den normalen syntaktischen Fügungen über die abweichenden und der Begründung bedürftigen Formulierungen bis hin zum Problematischen fortschreitend. Die congruitates communes ( V ) beziehen sich auf die Normalfälle syntaktischer Kongruenz und nehmen zu Anfang die in IV gegebenen Elementarregeln noch einmal auf. Dieser Teil ist mit dem didaktischen Hinweis pro fundamento scholarium versehen ( 54v ). Es handelt sich immer noch um Grundlegendes, aber nicht mehr um ein p r i m u m fundamentum wie in Lehrstück I oder regule p u e r o r u m wie in IV, obwohl Kerckmeister in dem abschließenden Widmungsgedicht auch die Anrede „filioli“ gebraucht, die aber wohl eher ein Ausdruck der Zuneigung und der inneren Verbundenheit ist als eine genaue didaktische Einstufung. In dem Abschnitt de figuratis constructionibus grammaticis ( VI ) werden Konstruktionen untersucht, die zwar formal von den syntaktischen Grundregeln abweichen, jedoch verständlich sind, dem Sprachgebrauch entsprechen und nicht nur ohne Bedenken benutzt werden können, sondern sogar der Eleganz des Ausdruckes dienen. Die didaktische Bestimmung lautet hier ohne Zusatz des Begriffes „fundamentum“ nur „pro scholaribus“ ( 69v ). An die Fortgeschrittenen richtet sich der Abschnitt über die latinitates impedimentales (VII), in dem syntaktische Problemfälle erörtert werden. Die 3. Auflage des von 1493, die in zwei separaten Büchern gedruckt ist, lässt mit diesem Lehrstück den zweiten Band beginnen 24. Der Abschnitt über die constructio (VIII) gibt zusammenfassend einen systematischen Überblick über den Bau des Satzes im Ganzen. Nach Form und Abstraktionsniveau ist dies der anspruchsvollste Teil der Syntax. Abschluss und Krönung des mittelalterlichen Curriculums war die Anleitung zum eigenständigen Schreiben in Prosa, besonders zum Verfassen von Briefen oder Reden, und in Versform. 24
Vgl. Teil III, Nr. 2a/b.
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Diesem Zweck dient Kerckmeisters Lehrstück IX. An Hand des 3. und 4. Buches des behandelt es nach einer Einführung in die Silbenlehre die Metrik und führt zur practica componendi hexametra et penthametra (IX, 3) hin. Dieser Text richtet sich an fortgeschrittene Schüler, die am Ende des Werkes mit adolescentes angeredet werden (120r). Von didaktischen, aber auch von ökonomischen Gesichtspunkten ließ sich Kerckmeister auch der Herstellung der Grammatik leiten. Einige Traktate sind unmittelbar aneinandergefügt, getrennt nur durch eine Zwischenüberschrift; bei anderen fällt der Schluss genau mit dem Ende der Seite zusammen oder der noch verbleibende Raum der Seite wird nicht mehr bedruckt. So ergeben sich geschlossene Einheiten, die inhaltlich zusammenhängen und separat verkauft werden können. Die erste Druckpartie bildet das Stück Dominus que pars (1r–16v). Sie umfasst genau einen Bogen, wurde als erstes hergestellt und stand am 15. März 1486, also passend zum Schulanfang zu Ostern, zur Verfügung 25. Innerhalb des zweiten Druckabschnitts (17r–69v) gibt es drei in sich geschlossene Einheiten. Die erste mit dem Lehrstück II reicht von f. 17r bis 29v. Die letzten Zeilen dieser Seite sind nicht mehr bedruckt. Mit f. 30r beginnt der Traktat III; er endet mit f. 33r; die letzten Zeilen bleiben dort wiederum frei. So waren die Tabellen und Übersichten der Lehrstücke II und III jeweils einzeln zu benutzen und konnten schon vor Fertigstellung des gesamten Druckpartie separat erworben werden. Die Lehrstücke IV–VI zur Syntax sind im Druck unmittelbar miteinander verbunden (33v–69r) und stellen sich dadurch als eine dritte Einheit innerhalb der zweiten Druckpartie dar. Es handelt sich hier um die elementaren Teile der Syntax, die auf der Mittelstufe behandelt werden (54v: pro fundamento scholarium). Aus der dritten Druckpartie (70r–120r) war das Lehrstück VII über die problematischen Fälle der Syntax, die impedimenta, separat verkäuflich (70r–85v). Eine geschlossene Einheit wiederum bilden die letzten beiden Traktate, die Übersicht über die constructio als Zusammenfassung der Syntax (VIII) und die Darstellung von Orthographie, Prosodie und Metrik (IX). Wozu diente nun das im Unterricht, und worin lag sein Nutzen für die Schüler? Die grundlegenden Textbücher, die kanonischen Grammatiken, die im Mittelalter in Schule und Universität verbindlich eingeführt waren, kannten sie ja: Auswendig lernten sie am Anfang des Curriculums die des Donat über die octo partes orationis. Für die Syntax war das 1199 erschienene des Alexander von Villedieu der wichtigste Text. Er wurde ebenfalls vom Lehrer vorgetragen, erläutert und von den Schülern abschnittsweise auswendig gelernt. Diese besaßen sicher auch zu beiden Grammatiken Mitschriften der Erklärungen des Lehrers oder Kopien der Texte. Auch aus der Grammatik Priscians, den , vor allem aus deren letztem Abschnitt, den Büchern 17 und 18 über die Syntax ( dem ), wurden den Schülern die wichtigsten Regeln vermittelt 26. Regelmäßig wurde das grammatische Lernpensum wiederholt und abgefragt; exercitia, repetitiones und resumptiones gehörten zum Schulalltag 27. Außerdem fanden immer wieder Prüfungen
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Der Anstellungsvertrag des Domschulrektors Hermann von Kerssenbrock aus der Mitte des 16. Jahrhunderts ist auf Ostern datiert ( s. unten Anm. 166 ). Prisciani grammatici Caesariensis institutionum grammaticarum libri XVIII, hg. von Martin Hertz ( = Grammatici Latini, hg. von Heinrich Keil, Bd. 2 und 3 ) Leipzig 1855 und 1859. Zu diesen Übungsformen im Universitätsstudium vgl. Walter Rüegg, Geschichte der Universität in Europa, 1: Mittelalter, München 1993, S. 214.
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statt, schulintern zur Kontrolle des Gelernten oder zur Einstufung in eine bestimmte Lerngruppe, an der Universität zur Feststellung der notwendigen Lateinkenntnisse. Dabei ging es um sinngerechtes Lesen, grammatische Analyse, die Beherrschung der Regeln und die Kenntnis der entsprechenden Stellen aus Donat oder dem . Wie eine solche Prüfung ablief, zeigt ein Beispiel aus der 1517 erschienenen Grammatik des Johann Turmair ( Aventinus ) 28. Gegenstand ist die Horaz-Ode I, 4,13 ff. ( Pallida mors aequo pulsat pede pauperum tabernas). Der Lehrer fragt: „Pallida mors“, quae pars? Die Antwort des Schülers: Sunt duo nomina. Er bestimmt dann das Adjektiv näher, bildet die Steigerungsformen, erklärt die Bildungsweise von Komparativ und Superlativ, benennt die Wortart von mors, macht Angaben zu Genus, Deklinationsklasse und Endungen, dekliniert haec pallida mors, und auf ähnliche Weise wird das Verb behandelt, wobei sich die Bildung der Stammformen und umfassende Konjugationsübungen anschließen. Es folgen die interrogationes de ordine, in denen der Schüler aufgefordert wird, die poetische Wortfolge in Form des ordo naturalis wiederzugeben. Daran schließen sich Fragen zur Konstruktion an, unter anderem zum ablativus qualitatis in aequo pede und zu den Objekten der Verben. Dieser modus quaerendi ist auch im die in der Mehrzahl der Lehrstücke gebrauchte Darstellungsform. Die wichtigste Prüfung dieser Art war sicher die anlässlich der Bewerbung um ein geistliches oder weltliches Amt 29. Auch hier war ein Text zu lesen ( legere ) und grammatisch zu erklären, gegebenenfalls auch durch Übersetzung in die Muttersprache zu erläutern ( exponere ). Auch die Fähigkeiten im Singen wurden überprüft. Die Zensuren waren: bene, competenter, debiliter, male. Ergebnislisten solcher Prüfungen sind zum Beispiel aus der päpstlichen Kurie erhalten; da heißt es dann etwa: bene legit, competenter construit, nichil cantat 30. Auf diese Prüfungen, die stets nach dem gleichen, über Jahrhunderte erprobten Muster abliefen, konnten sich die Kandidaten gezielt vorbereiten, und genau dazu dient Kerckmeisters Grammatik. Sie will in keiner Weise den Donat oder den Alexander ersetzten; sie soll vielmehr dabei helfen, das Gelernte zu wiederholen, indem sie den Stoff konzentriert zusammenfasst, die Regeln der Grammatik in einprägsamen Formulierungen bereitstellt und dazu jeweils die Kernstellen der kanonischen Texte ins Gedächtnis ruft, systematisch gegliederte Übersichten gibt, und in Frage und Antwort exakt das Prüfungsgespräch vorwegnimmt. So wird der gesamte Stoff knapp, verständlich und konzentriert unter didaktischen und methodischen Gesichtspunkten aufbereitet. Ein solches Lehrbuch wird in der mittelalterlichen Fachterminologie als bezeichnet, ein Begriff, der zugleich die Vorstellung der Abkürzung,
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Das ausführlich kommentierte Beispiel entnehme ich Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte, München – Zürich 1988, S. 143–147. Die in Frage und Antwort abgefassten Grammatiken zur Textanalyse werden bis heute im Englischen als „parsing-grammar“ bezeichnet, abgeleitet von der Frage nach der pars orationis. Dazu Vivien Law, Memory and the Structure of Grammar, in: Mario De Nonno u. a. ( Hgg. ), Manuscripts and Traditions of Grammatical Texts from Antiquity to the Renaissance, 1, Cassino 2000, S. 9–58, bes. S. 24–32, und Vivien Law, The History of Linguistics in Europe from Plato to 1600, Cambridge 2003. Über solche „Weiheprüfungen“ berichtet Friedrich Wilhelm Oediger, Über die Bildung der Geistlichen im späten Mittelalter, Leiden – Köln 1953, S. 80–97. Oediger ( vgl. Anm. 29 ) S. 95; Andreas Meyer, Arme Kleriker auf Pfründensuche, Köln – Wien 1990, S. 29–38: Das Examen in litteratura, bes. S. 34. Die Komödie <Stylpho> von Jacob Wimpheling zeigt in der vierten Szene eine solche Prüfung in satirischer Überspitzung.
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der auf das Wesentliche konzentrierten Zusammenfassung, wie auch die des Umfassenden und der Gesamtdarstellung enthält 31. Kerckmeister selbst nennt sein Werk parvum opus und manuale ( 120r ), was im Hinblick auf sein kleines Format ganz wörtlich zu nehmen ist; es passt bequem in die Hand des Lernenden. Mit diesem Büchlein zur Wiederholung und Prüfungsvorbereitung, das den gesamten Stoff des GrammatikCurriculums umfasste, war man bestens für ein Examen gerüstet. II. ÜBERLIEFERUNG UND BEARBEITUNG DER EINZELNEN LEHRSTÜCKE
1. Lehrstücke zur Etymologie a ) „Dominus que pars“ ( I ) Das Lehrstück geht zurück auf die Elementargrammatik des Donat. In derselben Reihenfolge und mit denselben Wortbeispielen werden die acht Wortarten ( partes orationis ) behandelt: Nomen ( dominus ), Pronomen ( ego ), Verb ( amo ), Adverb ( hodie ), Partizip ( legens ), Konjunktion ( et ), Präposition ( ad ), Interjektion ( heu ). Der Aufbau der Artikel folgt ebenfalls Donat: Definition der Wortart, Aufzählung der wichtigsten Eigenschaften ( accidentia ), systematische Behandlung eines jeden accidens. Die Form der Darbietung des Stoffes in Frage und Antwort, der modus quaerendi oder modus examinandi, wird beibehalten. Nicht übernommen wird die zweite Hälfte der Donat-Artikel, die aus umfangreichen Ausführungen zu Deklinationen, Konjugationen und Wortschatz besteht. Dadurch reduziert sich der Stoff der Vorlage erheblich. Die Texte unterscheiden sich auch durch ihr Incipit. Donat beginnt: „Partes orationis quot sunt? “, das mittelalterliche Lehrstück mit „Dominus que pars? “ Donat fragt unmittelbar nach der Definition der Wortarten: „Nomen quid est?“, Dominus que pars fragt, welcher Wortart das jeweilige Beispielwort angehört; erst dann folgt die Definition der Wortart. In Inhalt und Terminologie besitzt der Traktat eine ganz eigene Prägung, die von Priscian und der mittelalterlichen Grammatiktradition bestimmt wird. Das soll hier exemplarisch an der Behandlung des Nomen gezeigt werden. Dessen Definition lautet bei Donat: pars orationis cum casu, corpus aut rem proprie communiterve significans. In Dominus que pars heißt es: significat substantiam cum qualitate propria vel communi. Es fehlt hier cum casu; denn die Deklinierbarkeit wird ja unter dem speziellen accidens des casus behandelt. Statt corpus aut rem wird der in der spätantiken Philosophie entwickelte, von Priscian besonders hervorgehobene und für das Mittelalter so bedeutsame Begriff der substantia gewählt 32. Nach der Definition nennt Donat die accidentia; der Traktat dagegen führt 31
Zum Aspekt der konzentrierten Zusammenfassung des Wissens Martin Grabmann, Mittelalterliches Geistesleben, 2, Hildesheim – Zürich – New York 1984 ( zuerst München 1936 ), Kapitel XVII: Hilfsmittel des Thomasstudiums aus alter Zeit. Abbreviationes, Concordantiae, Tabulae; zu den abbreviationes besonders S. 425–452. Zum Aspekt des Umfassenden vgl. die Verse, die Johannes Murmellius der Grammatik <Medulla aurea> des Timan Kemner widmete ( vgl. unten Teil VII, 1 ): Si quis grammatices compendia quaerat et uno Plurima contextu praecepta edicere curet, Utilius nil hac, nil emendatius arte Comperiet, quamvis complura volumina lustret. 32 Zu Priscian 17,14: Petrus Helias, Summa super Priscianum, hg. von Leo Reilly ( Pontifical Institute of Mediaeval Studies, Studies and Texts 113 ) Toronto 1993, 2, S. 859,78–861,7.
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mit der Frage quale nomen die Einteilung in Substantive und Adjektive neu ein. Diese Differenzierung ergibt sich in Anlehnung an Priscian erst im Mittelalter 33. Damit wird eine Ungenauigkeit Donats korrigiert, der die comparatio, die Steigerbarkeit, zu einem Akzidens des Nomen schlechthin macht, ohne deutlich zu sagen, dass dieser Aspekt natürlich nur für Adjektive sinnvoll ist. Der Nachteil: quale stellt sich nun in verwirrender Weise neben den Begriff der qualitas, die ein accidens bezeichnet, das sich auf die Unterscheidung von nomen proprium und nomen appellativum bezieht. Das accidens der comparatio wird gegenüber Donat erweitert: Es wird eine Unterscheidung zwischen steigerbaren und von der Bedeutung her nicht steigerbaren Adjektiven eingeführt, zwischen dem adiectivum, cuius formale significatum potest augeri vel minui in comparando, ut: albus, albior, albissimus und dem adiectivum, cuius formale significatum non potest augeri vel minui, ut: unus ( f. 1v ); „formale significatum“ ist ein Begriff der mittelalterlichen Sprachphilosophie. Es folgen die Grade der Steigerung und die regelmäßigen und unregelmäßigen Steigerungsformen; diese werden nach den vier Änderungskategorien von adiectio, detractio, immutatio und transmutatio weiter untergliedert. Eine Besonderheit in der Untersuchung der comparatio ist die bei Donat nicht vorkommende, auf die Veränderbarkeit des Adjektivs in genus, numerus und casus zielende Frage: „movetur? “. Nach der Methode der fortschreitenden begrifflichen Aufgliederung, der divisio, wird durch die Alternativfrage movetur – non movetur zunächst das Substantiv der letztgenannten Gruppe zugeordnet; dann werden die veränderbaren Nomina, das heißt die Adjektive, durch adiectivum movetur quattuor modis weiter eingeteilt ( 2r ). Dominus que pars gehört zu den ältesten und am weitesten verbreiteten mittelalterlichen Schultexten. Der Traktat ist in zahlreichen Handschriften, vor allem aus Frankreich, England, den Niederlanden und Deutschland, nachgewiesen 34. Das älteste bisher bekannte Manuskript stammt aus dem 12. Jahrhundert. Gedruckt wurde der Text zuerst Anfang der achtziger Jahre des 15. Jahrhunderts, teils als Einzeldruck, teils zusammen mit anderen Lehrstücken 35. Er ist unter verschiedenen Titeln überliefert, teils nach den Anfangsworten, teils mit dem Zusatz Regula als Regula Dominus que pars oder Regula puerorum, teils unter dem Namen des Donat oder des Remigius, zum Beispiel Regula puerorum super Donatum, Regula Remigii, Regula puerorum Remigii; Remigius super Donatum; Dominus que pars und Remigius, dicta puerorum super Donato. Das Stück existiert in verschiedenen Fassungen, die sich nach Umfang, inhaltlichen Schwerpunkten und in den Formulierungen stark unterscheiden. Kerckmeister bietet eine recht ausführliche Fassung, in der er an einigen Stellen auf Donat verweist und mittelalterliche Merkverse anführt, so zum Adverb ( 11r ), zu den Konjunktionen ( 14r ) und zu den Präpositionen ( 15v und 16r ). In einer Reihe von Manuskripten wird das Lehrstück dem Donatkommentator Remigius von Auxerre ( † um 908 )zugeschrieben. Nun hat zwar Remigius einen Donatkommentar verfasst, doch der unterscheidet sich grundsätzlich von unserem 33 34
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Thurot ( wie Anm. 20 ) S. 164–167. Bursill-Hall ( wie Anm. 17 ) Initienverzeichnis s. v. . Manuskripte mit der Zuweisung an Remigius vgl. Index nominum et rerum s. v. . Die früheste Fassung des Manuskripts der Bibliothèque nationale de France, Paris, ms. lat. 7492, ist abgedruckt in: Jan Pinborg, Remigius, Schleswig 1486, A Latin Grammar in Facsimile Edition with a Postscript ( Det Kongelike Danske Videnskabernes Selskab, Historisk-filosofiske Meddelser 50:4 ) Kopenhagen 1982, S. 80–83. GW 11123–12204.
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Text 36. Dominus que pars kann auch nicht von einem spätkarolingischen Autor stammen; der Text hat sich, ebenso wie das ihm verwandte Lehrstück Ianua, erst ab dem 12. Jahrhundert entwickelt 37. Dass man sich bei dem aus Donat hervorgegangenen Text gern auf die Autorität des berühmten Donatkommentators stützte, liegt natürlich nahe, ist aber unzutreffend. Nun bringt Eugénie Droz in ihrem Aufsatz von 1964 einen anderen Remigius ins Spiel, nämlich Remigius von Mettlach, zunächst Mönch, von 994–998 Abt der Abtei Mettlach, einen Schüler des berühmten Gerbert von Aurillac. Als Gewährsmann zitiert sie Johannes Trithemius von Sponheim, der in seinem Werk De ecclesiasticis scriptoribus diesem Remigius unter anderem auch Kommentare zu Donat zuschreibt. Beim Konzil von Mouzon bei Sedan im Juni 995, an dem unter anderen die Bischöfe Suger von Münster und Liudolf von Trier in Begleitung von Äbten verschiedener Klöster, teilgenommen hätten, sei Remigius von Mettlach im Gefolge des Bischofs von Trier gewesen. Dieser habe den Text seinem Amtsbruder aus Münster zukommen lassen, der ihn an eine der dortigen Bibliotheken weitergegeben habe, in der Jahrhunderte später Kerckmeister auf ihn gestoßen sei und ihn als Druckvorlage benutzt habe 38. Diese phantasievolle These geht aber von falschen Voraussetzungen aus; nur weil sie teilweise in die Forschung eingegangen ist, wird sie hier erwähnt. Zum einen ist Trithemius der einzige Zeuge für die Autorschaft des Abtes von Mettlach, dem er die grammatischen Werke des Remigius wohl aus lokalpatriotischen Gründen zuordnete. Zum anderen: Dominus que pars ist ein so verbreiteter Text, dass es keines verschlungenen Weges durch Raum und Zeit bedurfte, um Kerckmeister seine Druckvorlage zu liefern. Remigius von Mettlach kommt auf keinen Fall als Verfasser in Frage 39. Wenn schon nach gut belegter mittelalterlicher Tradition der Name des Remigius mit dem Traktat in Verbindung gebracht wird, sollte von ( P s e u d o - )Remigius von Auxerre ( Altissiodorensis / Autissiodorensis ) gesprochen werden.
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Wilhelm Fox, Remigii Autissodorensis in artem Donati minorem commentum, Leipzig 1902. Zu Remigius von Auxerre: Colette Jeudy, L’oeuvre de Rémi d’Auxerre. État de la question, in: Dominique Iogna-Prat – Colette Jeudy – Guy Lobrichon ( Hgg. ), L’école carolingienne d’Auxerre. De Murethach à Remi, 830–908. Entretiens d’Auxerre 1989, Paris 1991, S. 373–397; Dies., Remigii autissodorensis opera, ebd., S. 457–500. Vgl. Wolfgang O. Schmitt, Die Ianua ( Donatus ) – ein Beitrag zur lateinischen Schulgrammatik des Mittelalters und der Renaissance, in: Beiträge zur Inkunabelkunde, 3. Folge, 4, Berlin 1969, S. 43–80. Zum Verhältnis von und : Robert Black, Humanism and Education in Medieval and Renaissance Italy, Cambridge 2001, S. 42–63. Droz, Les ( wie Anm. 4 ) S. 274–279. Ihm schreibt das „Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts ( VD 16 )“ den Traktat zu ( vgl. Art. , in: ebd., 1, 7, Stuttgart 1986, vor Nr. F 3410; Art. , in. ebd., 1, 17, Stuttgart 1991, Nr. R 1096 ff. ) s. jetzt auch: http://www.vd16.de/. Die These Droz’ von Remigius von Mettlach als Verfasser übernimmt mit einigen Bedenken Andreas Freiträger, Johannes Cincinnius von Lippstadt ( ca. 1485–1555 ). Bibliothek und Geisteswelt eines westfälischen Humanisten, Münster 2000, S. 67. Er nennt aber auch die Ablehnung dieser Identifikation durch Stefan Flesch, Die monastische Schriftkultur der Saargegend ( Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 20 ) Saarbrücken 1991, S. 62–65.
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b ) „Forma comparandi declinandiqe adiectiva nomina atque coniugandi verba irregularia“ ( II ) Substantiv und Verb gelten in der Logik als die wesentlichen Kategorien der Aussage, in der Grammatik als die Grundbestandteile des Satzes. Für diese beiden wichtigsten Wortarten trägt das Lehrstück II nach dem Vorbild Donats nach, was Dominus que pars nicht berücksichtigt: Übersichten zu Deklination und Konjugation, hier bezeichnet mit den Fachbegriffen forma ( griechisch: schema ) und practica. Bei der Deklination übernimmt Kerckmeister Donats Paradigma hic doctus 40. Auch die unregelmäßigen Verben ferre, edere und die verba defectiva, die beim Lernen besondere Schwierigkeiten machen, gehören zu den klassischen Beispielwörtern. Die Übersichten zu den Verben sind, anders als die zu den Adjektiven, nicht als Tabelle, sondern in fortlaufendem Druck gegeben 41. Ausdrücklich wird auf Donat und das verwiesen ( 28v und 29r ): exempla sume et practicam ex Donato … Sed aliorum defectivorum coniugatio suffitienter et plane patet apud Alexandrum in sexto capitulo, scilicet Donatum sequere … c ) „Verborum divisiones“ / „Distinctiones verborum“ ( III ) Die Lehre von der divisio verborum geht im Wesentlichen auf Priscian zurück. Er ergänzte die auch bei Donat überlieferte Definition des Verbs aut agere aut pati aut neutrum significans durch die Berücksichtigung jener Verben, die weder ein Handeln noch ein Leiden ausdrücken, nämlich der verba substantiva ( esse, fieri existere ) und der verba vocativa ( vocari, nominari, nuncupari ). Die nicht zu den verba substantiva und vocativa gehörenden Verben untersuchte er im Hinblick auf ihre Möglichkeit, syntaktische Verbindungen einzugehen. Im 12. Jahrhundert fasste der Priscian-Kommentator Petrus Helias, dessen Werk für die Entwicklung der mittelalterlichen Grammatik nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, diese Ergebnisse zusammen und brachte sie in ein von der Logik und der Philosophie geprägtes Begriffssystem 42. Die Bedeutung des vieldeutigen und problematischen Begriffes verbum substantivum erklärte er zum Beispiel in dem Sinne, dass das Sein ( esse ) als universelle Kategorie allen anderen Verben innewohne ( substare ). Ferner behandelte er die verba vocativa, die Einteilung in persönliche und unpersönliche Verben sowie die Fragen der Transitivität und Intransitivität, die in der sprachphilosophischen Reflexion der Scholastik eine bedeutende Rolle spielen. Das nahm wichtige Elemente der divisio verborum auf; im 13. Jahrhundert erhielt die Einteilung ihre endgültige Form im Graecismus des Eberhard von Béthune, dessen Verse Kerckmeister an den entsprechenden Stellen zitiert ( 30v, 31v, 32r ):
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Vgl. Bursill-Hall ( wie Anm. 17 ): Manuskripte mit dem Paradigma hic doctus: 81.104.10; 81.105.3; 310.68.3. Ganz ähnliche Deklinationstabellen hat eine bei Jacobus de Breda in Deventer erschienene Grammatik ( GW 11023 ). Auch Pinborg, Remigius ( wie Anm. 34 ) hat ein Lehrstück De comparatione mit dem Incipit In masculino genere: nominativo hic felix, das unter anderem auch das Paradigma hic doctus benutzt ( S. 56–61 ). Zur Darstellung der Verben vgl. Bursill-Hall ( wie Anm. 17 ) Index nominum et rerum s. v. und Index initiorum s. v. . Petrus Helias zu Priscian 17,33–36: Summa super Priscianum ( wie Anm. 32 ) S. 920, 61–927, 38; vgl. Thurot ( wie Anm. 20 ) S. 179 f.
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Ars substantiva tria fert tantummodo verba: Sum, simul existo, fio. nil amplius addo. Quinque vocativa ducas tantummodo verba: Nominor, appellor, et nuncupor et vocor, dicor. Ast adiectiva dicas fore cetera cuncta 43. Kerckmeister benutzt zur Darstellung des Stoffes die strenge Systematik der divisio, ein Begriff, der sowohl im Titel wie auch in den einzelnen Unterteilungen vorkommt. Prima divisio: Die drei Hauptgruppen der Verben: verba substantiva, vocativa und adiectiva Secunda divisio: Weitere Unterteilung der verba adiectiva in verba personalia und impersonalia Tertia divisio: Einteilung der verba personalia in verba absoluta / perfecta und verba transitiva Weitere Einteilung der verba transitiva entsprechend ihren Objekten: vehemens transitio ( ein Akkusativobjekt ) vehementissima transitio ( zwei Akkusativobjekte ) debilis transitio ( ein Objekt, das nicht im Akkusativ steht ). Eine ähnliche Einteilung gibt es schon in Dominus que pars im Abschnitt über das Verb unter dem accidens „qualitas“. Die Fassung des Lehrstückes III ist aber strenger in der Systematik und benutzt eine sprachphilosophisch geprägte Fachterminologie, die der modistischen Grammatik nahe steht. Dazu ein Beispiel: Zum verbum substantivum heißt es: est quoddam generale esse specificabile per quoccumque ens …; quia substat omnibus aliis verbis in coniugando ( 30r ). Zum verbum vocativum: significat esse generale vocationis specificabile per propriam nominationen tantum ( 31v ), zum verbum adiectivum: adiectivalem inherentiam actionis vel passionis significat ( 31v ) 44. 2. Lehrstücke zur Syntax a ) Grundbegriffe constructio und regimen Hatte Donat die einzelnen Wortarten beschrieben, so untersuchte Priscian zum ersten Mal die festen Verbindungen, die Wörter einer Wortart mit anderen eingehen können, und ihre Fügungen zur vollständigen Aussage eines Satzes. Diese Zusammen-
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Eberhard von Béthune, Graecismus, hg. von Johannes Wrobel, Hildesheim – Zürich – New York 1987 ( Nachdruck der Ausgabe Breslau 1887 ), cap. 26, V. 111 f. und V. 114–116. In der modistischen Grammatik des Thomas von Erfurt heißt es zum verbum substantivum: significat esse generale specificabile; ideo potest stare specificativum cuiuscumque specificantis ipsum, zum verbum vocativum: sumitur generaliter respectu rei proprie nominationis tantum und zum verbum adiectivum: stat in speciali pro esse actionis vel passionis ( Thomas von Erfurt, Grammatica speculativa. An edition with translation and commentary, hg. von Geoffrey L. Bursill-Hall, London 1972, cap. XXVI, § 49 ). Zu Thomas von Erfurt auch: Reinhold F. Glei, Die Grammatica speculativa des Thomas von Erfurt ( um 1300 ), in: Wolfram Ax ( Hg. ), Von Eleganz und Barbarei. Lateinische Grammatik und Stilistik in Renaissance und Barock ( Wolfenbütteler Forschungen 95 ) Wiesbaden 2001, S. 11–27.
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hänge bezeichnete er in Übersetzung des griechischen syntaxis als constructio 45. Aus seiner Formulierung, ein Wort „verlange“ ( exigit ) diese oder jene Ergänzung, wurde seit dem 12. Jahrhundert die Lehre vom regimen entwickelt 46. In seinem Priscian-Kommentar stellte Petrus Helias die Erkenntnisse des spätantiken Grammatikers systematisch dar, und fünfzig Jahre später nahm sie Alexander von Villedieu in das auf. Dessen Bücher 8 und 9, später als secunda pars bezeichnet, sind der Syntax, der diasynthastica, als der Lehre von regimen und constructio gewidmet 47. Die Verse 1074–1368 behandeln das regimen, zunächst die Verbindungen, die der Nominativ eingehen kann, besonders als Subjekt des Satzes zusammen mit dem Prädikat; es folgen die regimina der casus obliqui in der Reihenfolge Genitiv ( 1135–1207 ), Dativ ( 1208–1223 ), Akkusativ ( 1234–1287 ), Ablativ ( 1288–1355 ) sowie die Partizipialkonstruktionen ( 1356–1368 ). Bei der in den Versen 1369–1549 dargestellten constructio geht es um größere Zusammenhänge des Satzbaus, besonders um die logische Beziehung der Teile untereinander, zum Beispiel um transitive und intransitive Konstruktionen. Ferner wird die Reihenfolge der Wörter im Satz untersucht, der ordo naturalis, und die Abweichung davon. Die Versgrammatiken des 13. Jahrhunderts, der des Eberhard von Béthune und, vor allem in Deutschland verbreitet, der des Ludolfus de Luco, ergänzen die Syntax des 48. Die begriffliche Abgrenzung zwischen regimen und constructio im ist nicht immer klar, und es gibt Grammatiker, die die Lehre vom regimen nicht als besondere Einheit sehen, sondern sie im Rahmen der constructio behandeln, so Thomas von Erfurt, wenn er in einem umfassenden Sinne definiert: c o n s t r u c t i o causatur ex dependentia unius constructibilis ad alterum. Die gesamte Syntax wird für ihn durch die Begriffe constructio, congruitas und perfectio bestimmt 49. congruitas Die congruitas wird schon von Priscian als wesentliches Merkmal syntaktischer Korrektheit bezeichnet. Er definiert den Satz ( oratio ) als comprehensio dictionum aptissime ordinatarum 50. Eine andere Definition lautet: Oratio est ordinatio dictionum congrua sententiam perfectam demonstrans 51. Zu congruus wiederum heißt es: In dictionum ordinatione disceptamus rationem contextus, utrum sit recta an non. Nam si incongrua sit, soloecismum facit, quasi elementis orationis inconcinne coeuntibus; in singulis inconcinnis litterarum et syllabarum dictionibus facit barbarismum 52. Congruitas gibt es also sowohl im Sinne der formalen Korrektheit als auch in der Fähigkeit, einen vollständigen Sinn zu vermitteln. Entsprechend wird zwischen constructio perfecta und imperfecta unterschieden 53. 45
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Zur Syntax Priscians: Marc Baratin, Priscian, in: Wolfram Ax ( Hg. ), Lateinische Lehrer Europas, Wiesbaden 2005, S. 247–272; Marc Baratin, La naissance de la syntaxe à Rome, Paris 1989. Thurot ( wie Anm. 20 ) S. 82–84 und S. 239–244. Zum Doctrinale: Reinhold F. Glei, Alexander de Villa Dei ( ca. 1170–1250 ), Doctrinale, in: Ax, Lateinische Lehrer Europas ( wie Anm. 45 ) S. 291–312. Zu Eberhard von Béthune s. Anm. 43; zum Florista: Hans Jürgen Scheuer, Ludolf de Luco, Flores grammaticae, Text und Übersetzung, in: Klaus Grubmüller ( Hg. ), Schulliteratur im späten Mittelalter, München 2000, S. 303–350. Thomas von Erfurt, Grammatica speculativa ( wie Anm. 44 ) Kapitel 45, § 89 und § 88. Institutiones 17, 3. Institutiones 2, 15. Institutiones 17, 6. Institutiones 17, 12.
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Die Begriffe regimen, constructio und congruitas erscheinen in den Titeln der mittelalterlichen Schultraktate zur Syntax in vielfältigen Formulierungen 54, zum Beispiel: Metra constructionum 55, Regimina quae Sortes currit dicimus 56, Regimina casuum 57, Regulae congruitatum, constructiones, regimina 58. Die aus Priscian, Petrus Helias und dem abgeleiteten Regeln werden auch als Regulae grammaticales bezeichnet. So heißt es zum Beispiel: Regulae grammaticales antiquorum 59, Regulae grammaticales, regimina et constructiones 60. Nach ihrer didaktischen Funktion werden die Regeln als regulae maiores bzw. minores oder als regulae puerorum benannt. Die regulae grammaticales wurden immer wieder bearbeitet und sind in ganz unterschiedlichem Umfang überliefert, mit 8, 12 oder 24 Regeln bis hin zu 30 und mehr. Im 15. Jahrhundert haben die Regeln in Formulierung und Reihenfolge eine relativ feste Gestalt angenommen. Die erste Regel ist immer die von der Übereinstimmung des Adjektivs mit dem Beziehungssubstantiv in Genus, Numerus und Casus. Sie lautet im Schleswiger : Prima regula grammaticalis est ista, quod adiectivum et substantivum volunt convenire in tribus accidentibus grammaticalibus, scilicet in numero, in genere et in casu: exemplum de adiectivo nominali: albus homo … Die Regel wired dort abgeschlossen mit einem Merkvers aus dem ( V. 236–237 ): Mobile cum fixo paribus tribus associato; Casibus et numeris genere hiis bene consociabis 61. Kerckmeister zitiert die Regel im Lehrstück IV ( 33v ) so: Prima regula congruitatum grammaticalium est ista, quod adiectivum et suum substantivum debent convenire in numero, genere et casu, ut: Pater meus, albus equus. Der zugehörige Merkvers lautet: Est adiectivum substantivo sociandum In simili genere, numero casu similique. latinitas Während die italienischen Grammatiken die Syntax traditionell unter dem Gesichtspunkt der Wortarten und ihres „regimen“ betrachten, wobei naturgemäß die Verben im Mittelpunkt stehen, dargestellt in einem detailliert ausgearbeiteten System ihrer unterschiedlichen Valenzen 62, benutzt Kerckmeister in den fünf der Syntax gewidmeten Lehrstücken das „regimen“ nicht als grundlegende Kategorie seiner Untersuchung. 54 55 56 57 58 59 60 61
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Bursill-Hall ( wie Anm. 17 ) Indices unter den Begriffen , , . Remigius, Schleswig ( wie Anm. 34 ) f. 23–24. Bursill-Hall ( wie Anm. 17 ) Index Initiorum s. v. <Sortes currit>. GW 11122. GW 11219 ff. GW 12244 ff. GW 11266 ff. ( wie Anm. 34 ) f. 23. Der Schleswiger hat 24 regulae congruitatum ( 4. Lehrstück, f. 13–23 ). Der zweite Vers des Florista-Zitates endet in der Ausgabe von Scheuer ( wie Anm. 48 ): … genere bene si sociabis. Bekannt sind die des Francesco da Buti aus Pisa ( 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts ) und die darauf fußenden des Humanisten Guarino aus Verona; dazu Black ( wie Anm. 37 ) S. 98–106 und S. 124–129. Diese Darstellungsweise nimmt auch die berühmteste humanistische Grammatik, die des Niccolò Perotti, auf.
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Auch „Constructio“ verwendet er nur im Titel der Traktate VI und VIII. Sein leitender, die Darstellungsstruktur der Syntax bestimmender Gesichtspunkt ist vielmehr die Latinitas, wenn der Begriff ausdrücklich auch nur einmal gebraucht wird. Latinitas, der grammatisch korrekte, den Gesetzen des Lateinischen entsprechende Sprachgebrauch, vor allem die Freiheit von Barbarismen und Soloezismen und die Verständlichkeit der Aussage, ist schon für die antike Grammatik Maßstab und Ziel. Die Latinitas stellen Donat und Servius in den Mittelpunkt ihrer Dichterkommentierung 63. Alle Besonderheiten der poetischen Sprache werden auf Grund dieses Maßstabes aufgezeigt und sorgfältig untersucht. In diesem Sinne unterscheidet die mittelalterliche Grammatik unter Berufung auf Donat drei Ebenen der Sprachrichtigkeit: die dem allgemeinen Gebrauch entsprechende Sprache, Abweichungen, die sich begründen lassen und sogar eine besondere Funktion haben, und Verstöße gegen die Regel, die grundsätzlich nicht erlaubt sind. Entsprechend ist die Rede von grammatica communis, permissiva und prohibitiva 64. Dieser Sichtweise folgt Kerckmeister: Er will die drei Abstufungen der congruitas und der Latinitas bewusst machen und wählt entsprechend die Reihenfolge seiner Lehrstücke, indem er, von der Beschreibung des Normalfalls in den congruitates communes ausgehend, fortschreitet zur Erörterung des Abweichenden, aber Erlaubten in den constructiones figurate bis hin zu den Problemfällen der latinitates impedimentales. Diese Darstellung unter dem Gesichtspunkt der dreifachen Abstufung der Latinitas wird in den mittelalterlichen Grammatiken durchweg durch den allgemeinen Titel Regulae grammaticales eher verdeckt, wenngleich manchmal durch die Differenzierung in regulae minores und regulae maiores angedeutet 65. b ) „Regule puerorum“ ( IV ) und „congruitates communes“ ( V ) Das Lehrstück IV behandelt in Form von Regeln, die dem Wortlaut der traditionellen regulae grammaticales folgen, die Kongruenz von Substantiv und Adjektiv sowie von Subjekt und Prädikat, die Korrespondenz zwischen Relativ-, Demonstrativ- und Fragepronomen und ihren Beziehungsworten, die Verbindung zweier Substantive mit et oder durch den Genitiv und die Verbindung zweier Verben durch den Infinitiv. Die Regeln münden jeweils in Merkverse. Im Gegensatz zur Regelform des Lehrstückes IV wird im Text V der Stoff durch die Erörterung einer syntaktischen Fügung oder eines kurzen, vollständigen Satzes entfaltet. Das Beispiel steht als Lemma am Anfang des Abschnittes, dann folgt wörtlich oder sinngemäß die Frage: Est bonum Latinum? Danach wird das Problem im modus quaerendi mit Begründungen und Gegenargumenten untersucht und durch eine mit ergo eingeleitete Schlussfolgerung gelöst: ergo est bonum latinum. Diese Darstellung entspricht der im mittelalterlichen Universitätsunterricht üblichen Form des sophisma, der Untersuchung eines sprachlichen oder logischen Problems, die an die genau geregelte Vorgehensweise der quaestio oder 63
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Dazu Anne Uhl, Servius als Sprachlehrer. Zur Sprachrichtigkeit in der exegetischen Praxis des spätantiken Grammatikunterrichts ( Hypomnemata 117 ) Göttingen 1996. Donatus igitur grammaticam divisit in tres partes, scilicet in permissivam, preceptivam et prohibitivam. Preceptiva consistit in regulis grammatice observandis, de qua dicitur in sua minori editione; permissiva autem consistit in figuris et vitiis que peccant contra regulas artis grammatice; tamen in ea permittuntur ratione excusationis. Prohibitiva autem consistit in vitiis puris que prohibentur in arte grammatica, et de istis duabus determinat in Barbarismo suo, in: Grondeux, Graecismus ( wie Anm. 20 ) S. 487 f. Dies ist der Fall im ( vgl. Abschnitt III, Anm. 106 ).
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disputatio anknüpft 66. Das erste Beispiel des Lehrstückes V, Pater meus, findet sich auch im Incipit einer Handschrift des 15. Jahrhunderts 67. Das Lehrstück V behandelt in genau 100 Beispielen folgende Themen 68: Beispiele 1–8: Beispiele 9–11: Beispiel 12: Beispiele 13–24: Beispiele 25–44: Beispiele 45–53: Beispiele 54–62: Beispiele 63–98: Beispiele 99–100:
aus den octo regule puerorum ( IV ) übernommen. Verbindungen mit dem Genitiv. zum Adverb. Fügungen mit dem Dativ. Fügungen mit dem Akkusativ. Partizip, Supinum, Gerundium und Gerundivum. Präposition, Interjektion. Fügungen mit dem Ablativ. Sonstiges.
Die Anordnung der Beispiele richtet sich teils nach den Casus, die „regiert“ werden, teils nach den Wortarten. In den meisten Abschnitten wird die grammatische Regel durch Merkverse zusammengefasst. Die Hauptquelle ist der Abschnitt des über das regimen. Intensiv wird der Abschnitt V. 1210–1346 benutzt. Von diesen 136 Versen werden 105 zitiert, also fast der gesamte Text, häufig sogar in der Reihenfolge der Vorlage. Dazu kommen aus dem constructio-Teil die Verse 1394, 1407–1409 und 1462–1464. Insgesamt werden in dem Lehrstück 112 Alexanderverse zitiert, einige davon mehrfach. Weitere Zitate kommen aus dem V. 674–676 ( 39r ), V. 737–739 ( 40r ), V. 697–699 ( 45v ) und V. 791–792 ( 51v ). Etwa 20 Verszitate, von denen 8 schon im Lehrstück IV benutzt wurden, lassen sich in keiner der mir bekannten Versgrammatiken des 13. Jahrhunderts nachweisen 69. c ) „Regule de figuratis constructionibus grammaticis“ ( VI ) In der antiken Rhetorik bedeutet figura eine Abweichung von der normalen Sprache, durch die Dichter und Redner eine besondere Wirkung erzielen wollen. Doch auch in der nicht dichterischen Sprache gibt es solche Abweichungen. Darauf weist schon Donat hin, wenn er in der zwischen poetischen und grammatischen Figuren, zwischen figurae locutionis und figurae constructionis, unterscheidet 70. Auch Priscian definiert grammatische Figuren als formale Abweichungen von den allgemeinen Regeln der congruitas 71. Insofern stellt sich die Frage, ob figurae nicht ein vitium sind, das im korrekten Latein vermieden werden muss. Die Antwort: Eine grammatische Figur ist zwar eine formale Abweichung von der Regel, doch sie ist zulässig, weil sie das Ver66
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Vgl. Irène Rosier, Les sophismes grammaticaux au XIIIe siècle, in: Medioevo 17, 1991, S. 175–230; vgl. Bursill-Hall ( wie Anm. 17 ) Index nominum et rerum s. v. . Bursill-Hall ( wie Anm. 17 ) 81.105.2: Pater meus est, bonum latinum est ( ? ); vgl. auch 81.103.2: Iste liber est mihi – est bonum latinum? Die Zählung der Lemmata stammt von mir. Einige werden bei Reichling, Doctrinale ( wie Anm. 21 ) aus der zum geschriebenen zitiert, z. B. S. 91. Die und Kerckmeister werden auf eine gemeinsame Quelle zurückgreifen. Thurot ( wie Anm. 20 ) S. 233–237. Zu den Figuren im einzelnen S. 254–269 und S. 465 f. Priscian, Institutiones 17,16; 17,155.
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ständnis der Aussage nicht stört. Diese specialis constructio ist deshalb ein vitium excusatum, ja sogar ein Schmuck, eine ornata partium orationis latina constructio ( 55r ). Petrus Helias führt diese Lehre weiter 72; sie findet danach auch Eingang ins und wird ausführlich behandelt im 73. Auch mittelalterliche Schulhandschriften bieten reichhaltiges Material 74. Das Lehrstück, das in einer späteren Ausgabe des überschrieben ist Regule latinitatum secundum Alexandrum et alios doctores grammatice 75, ist wie folgt aufgebaut: 1. Allgemeine Bestimmung des Begriffes figura am Beispiel der Formulierung Urbem Rhomam primum Romulus condidit und Aufzählung der fünf grammatischen Figuren sinthesis, anthitesis, prolempsis, zeuma, sillempsis nach dem Wortlaut des ( V. 159–160 ): Plures structure non sunt nisi quinque figure. Sinthesis, anthitasis ( sic ), prolepsis, zeuma ( sic ), sillepsis. Die sinthesis wird in zwei species unterteilt: appositio und evocatio ( 55v ). 2. Die einzelnen Figuren: Appositio am Beispiel des schon genannten Satzes Urbem Rhomam … Evocatio: Beispiel: Gaudeamus omnes in Domino. Es schließt sich an eine Übersicht über die evocatio implicita. Conceptio: Beispiele: Ego et sorores mee sumus orphane; Pater tuus et ego dolentes querebamus te; Sacer Dionisi, cum tuis sociis orate; Petrus et Paulus, doctor gentium, nos docuere legem; Petrus cum Paulo regnant cum rege superno; Iupiter et Iuno antiquis credebantur dii superi. Prolepsis: Beispiel: Loquimini veritatem unusquisque cum proximo suo. Zeuma ( sic ): Beispiel: Neque sidus radio, neque virgo filio fit corrupta. Anthiptosis: Beispiel: Quam statuo urbem, vestra est. Eine gewisse Unübersichtlichkeit ergibt sich dadurch, dass die fünf Figuren im in anderer Reihenfolge erscheinen und teilweise mit anderen Namen benannt sind ( sinthesis entspricht in Kerckmeisters Ausführungen appositio und evocatio; sillepsis wird dort mit dem lateinischen Begriff conceptio bezeichnet ). Die Diskussion der einzelnen Beispiele ist in diesem Lehrstück wesentlich ausführlicher als im Abschnitt über die congruitates communes. Dort kamen 100 Lemmata auf 40 Seiten; hier sind es 11 Lemmata auf 31 Seiten. Jeder Abschnitt ist also knapp drei Druckseiten lang. Das kommt in den Merkversen dieses Lehrstückes ganz ausführlich zur Sprache. Zu appositio und evocatio werden zitiert die Verse 1083–1087 und 1089–1092; zur conceptio 72
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Petrus Helias, Summa super Priscianum ( wie Anm. 32 ): S. 901,7–903,63 zu Priscian 17,28 de constructione dividentium ); S. 997,92–999,40 zu Priscian 17,140–142 de conceptione personarum ; S. 1002,15–1006,100 zu Priscian 17,155–174 de figura. Doctrinale, Buch 8, V. 1083–1087: appositio; 1093–1124: conceptio; 1125–1130 prolempsis; Buch 12, V. 2452f: prolempsis; 2454f: zeugma; V. 2256–2264: syllempsis; V. 2600: antiptosis. Florista: V. 159–307. Erschließbar über die Register bei Bursill-Hall ( wie Anm. 17 ) z. B. ( S. 132, 39.5 ); ( S. 132, 39.10 ). In den des Francesco da Buti nehmen die figurae constructionis den letzten Teil ein, der den Schülern des Latinum maiorum zugedacht ist: Black ( wie Anm. 37 ) S. 105. Ausgabe Kopenhagen 1493, s. Teil III, Bibliographie Nr. 2.
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1093–1097, 1102–1103 und 1106–1124 ( also fast der gesamte Abschnitt des in der originalen Reihenfolge ); zur prolepsis die Verse 1125–1126, zum zeugma die Verse 1127–1128. d ) „Regule latinitatum impedimentalium“ ( VII ) Der Begriff impedimentum bezeichnet einen Verstoß gegen eine grammatische Regel, eine Verletzung der congruitas, die – im Gegensatz zur figura – zu Verständnisschwierigkeiten führt. Das behandelt das Thema im 9. Buch innerhalb der Lehre von der constructio. Constructio wird geradezu definiert als Freiheit von impedimenta. Kerckmeisters Lehrstück hat 26 Beispiele, die nach dem Schema der beiden vorhergehenden Stücke untersucht werden: Beispiel, Frage „est oratio Latina?“, Diskussion, Erweiterung der Fragestellung, zusätzliche Beispiele. Allerdings endet in Lehrstück VII nicht jeder Abschnitt mit einem durch unde eingeführten Merkvers. Die einzelnen Abschnitte sind wie im Traktat VI stark ausgeweitet. Bei ca. 30 Druckseiten kommt auf jedes Beispiel durchschnittlich eine Seite Text. Die Thematik wird wie folgt entwickelt: 1. Allgemeine Grundsätze: Wesentliche Verstöße gegen die Kongruenz zwischen Substantiv und Adjektiv: Sprachliche Fehler – Verstöße gegen die Logik. Die vier Grade der Latinität ( ausführlicher behandelt dies Lehrstück VIII, 3c ). 2. Beispiele für die Verletzung der regulae congruitatum entsprechend den wichtigsten Kongruenzregeln: Beispiele 1–7: Verstöße gegen die Kongruenz zwischen Substantiv und Adjektiv, eingeschaltet die Übersicht: Septem modis fit quod adiectivum partitivum non convenit cum suo substantivo in genere ( 71r ). Beispiele 8–10: Gestörte Kongruenz zwischen Subjekt und Prädikat. Beispiel 11: Diskrepanz zwischen adiectivum partitivum und dem Genus des Substantivs. Beispiele 12–23: Das Relativum und sein antecedens. Damit ist nicht nur das eigentliche Relativpronomen gemeint, sondern jede sogenannte rückbezügliche Konstruktion ( constructio reciproca und retransitiva, vgl. Lehrstück VIII ). Beispiele 24–26: Demonstrativum und Beziehungssubstantiv. Als Beispiel für Terminologie und Fragestellung dieses Lehrstückes sei der Gedankengang des ersten Abschnitts nachgezeichnet. Dort geht es zunächst um die Frage nach der Störung der Kongruenz zwischen Substantiv und Adjektiv: Diese kann sich in folgenden Fällen ergeben. 1. Das Adjektiv sagt dasselbe aus wie das Substantiv ( simpliciter idem significant ): Beispiel homo rationalis. Das ist kein Verstoß gegen die Grammatikalität, aber gegen die Bedeutung: latina tantum voce, et significatione non latina. 2. Das Adjektiv passt grammatisch nicht zum Substantiv ( diversitas accidentium ) Beispiel: mulier albus. 3. Das Adjektiv passt vom Sinn her nicht ( diversitas significationis ): homo mugibilis; rationalis asinus. Es ergibt sich eine Absurdität.
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4. Es liegt ein logischer Fehler vor, wenn etwa ein Spezialbegriff durch ein auf Universales bezogenes Adjektiv ergänzt wird: quilibet Sortes; omnis Petrus. Die entsprechende Regel lautet: Terminus discretus non potest distribui signo universali. Die Grammatik betrachtet also nicht nur die sprachliche, sondern auch die logische Richtigkeit. Als Merksatz schließt sich mit unde an: Quattuor impediunt coniungi mobile fixo. Item diversum triplex, ut homo rationis, Alba vir, homo hinnibilis, Sortes quilibet … 76 Die zweite Frage gilt den Graden der Latinität: Quottupliciter est aliqua oratio latina? Quadrupliciter: simpliciter aut bene latina: homo albus. figurate latina: urbs Roma ( das erste Beispiel des Lehrstückes VI ) impedimentaliter latina: utraque formose. vix/difficulter latina: triste lupus stabulis. Manche Partien haben keine Merkverse ( 70r/v; Lemmata 3, 4, 8, 9, 26; S. 78v und 79r ); an den anderen Stellen ist die Anlehnung an das sehr stark. Die Verse des Textes werden in dieser Abfolge zitiert: 1487–1492; 1519–1521 1458–1459; 1446–1448; 1437–1438; 1454–1457; 1442–1445; 1451–1453 und 1485–1486; 1465–1466, 1467–1469 und 1470–1471; 1474–1475; 1482–1484; 1460–1461; 1462–1464; 1476–1478; 1449–1450; 1480–1481; 1472–1473; 1176–1177; 1493–1494. Von den 57 Versen der Versgruppe 1437–1494 werden in 21 Zitaten 55 Verse wiedergegeben; die Versgruppe wird also praktisch vollständig zitiert. Dazu kommen aus anderen Zusammenhängen des die Verse 1176–1177 und 1519–1521. Aus dem stammen die Verse 232–234 ( 70r ) und 198 ( 72r ). e ) „Regule constructionum / de constructionibus grammaticis“ ( VIII ) Das Lehrstück geht zurück auf die Darlegungen Priscians zur constructio, besonders auf den Abschnitt über die divisio constructionis. Was hier in einem nicht besonders hervorgehobenen Abschnitt der skizziert ist, wird von Petrus Helias in seinem Prisciankommentar ausführlich kommentiert und im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts systematisch entfaltet und zum wichtigsten Instrument für die Analyse der syntaktischen und logischen Beziehungen zwischen den Teilen des Satzes entwickelt 77. Die grundlegenden Begriffe dieser Lehre sind Transitivität und Intransitivität: Eine Substanz geht aus sich heraus und wirkt auf eine andere ein oder sie bleibt gleichsam in sich selbst geschlossen. Mit den Worten des Petrus Helias: Transitiva vero constructio est, quando fit transitus de una persona in aliam, ut <Socrates legit Virgilium> … . 76 77
Florista, Verse 232–234. Zu Priscian 17, 26: Petrus Helias ( wie Anm. 32 ) S. 897,21–900,90; zu Priscian 17,26–31 divisio constructionum; Thurot ( wie Anm. 20 ) S. 230–233 mit Zitaten aus Petrus Helias und dem Prisciankommentar des Richard Kilwardby ( † 1279 ). Erläuterungen der divisio constructionis bei Jan Pinborg, Die Entwicklung der Sprachtheorie im Mittelalter ( Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 42, Heft 2 ) Münster 1967, S. 51–55; Thomas von Erfurt, Grammatica speculativa ( wie Anm. 44 ) S. 105–115; Glei, Alexander de Villa Dei ( wie Anm. 47 ) S. 306–308.
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Intransitiva constructio est, in qua non fit transitus de una persona in aliam, ut 78. Ein zweites Gegensatzpaar geht davon aus, dass Transitivität und Intransitivität nicht nur bei Handlungen, sondern auch in der Beziehung zwischen Personen bestehen, also nicht nur durch Verben ausgedrückt werden ( transitio bzw. intransitio actuum ), sondern auch durch miteinander in Beziehung stehende Nomina ( transitio/intransitio personarum ). Mit dem Beispiel des Petrus Helias: In der Fügung pater Platonis ist eine Wirkung von einer Person auf die andere ausgedrückt. Bei homo albus geht dagegen die Beziehung nicht über den Rahmen einer einzigen Substanz hinaus. Schließlich wird sowohl bei der Transitivität wie der Intransitivität unterschieden zwischen dem Normalfall ( transitio/intransitio simplex ) und einer Form der Rückbezüglichkeit: Reciproca vero constructio est, in qua ostenditur aliqua res in se ipsum agere, ut: <Socrates diligit se>. Eine andere Form der Rückbezüglichkeit ist die der constructio retransitiva. Hier geht die Handlung von einer Person aus und wirkt auf eine andere, von der wieder eine Rückwirkung auf den Urheber ausgeht. Das Beispiel des Petrus Helias ist: Socrates rogat Platonem, ut misereatur eius 79. Die gesamte Lehre von der constructio und vor allem das System der divisio constructionis stellt Kerckmeister in einem knappen, begrifflich dichten Lehrtext in der strengen Form der divisio dar: Aufbau und Inhalt des Lehrstückes: 1. Allgemeine Definition: Der Unterschied zwischen constructio perfecta und constructio imperfecta nach dem Kriterium des sensus perfectus: vollständige Information, vollkommene Verständlichkeit. 2. Die drei Themenbereiche der Lehre von der constructio ( De quesitivis constructionum ) nach den Kategorien substantia, quantitas, qualitas mit den entsprechenden Leitfragen: que, quanta, qualis. a ) Frage que: Bezug: substantia; Themenbereich: constructio transitiva – intransitiva ( schon im Lehrstück III zur divisio verborum erwähnt, aber jetzt in den größeren Zusammenhang gestellt ). b ) Frage quanta: Bezug: quantitas; Themenbereich: constructio perfecta – imperfecta. c ) Frage qualis: Bezug: qualitas; Themenbereich: Grade der Latinität: latina – figurate latina – impedimentaliter latina vel vix latina vel male latina. 3. Divisio constructionis ( weitere Aufgliederung von Abschnitt 2a ): a ) Einteilung in transitive ( liber Virgilii ) und intransitive ( homo albus ) Konstruktionen. b ) Subdivisio der transitiven Konstruktion in transitiva simplex ( misereor Sortis ) und transitiva retransitiva ( diligo te quod diligas me ). c ) Subdivisio der constructio simplex transitiva: constructio actuum ( colo Deum; diligor a Petro ) und constructio personarum ( cappa Sortis ). d ) Subdivisio der constructio intransitiva in constructio intransitiva simplex ( homo dives – homo est animal – homo est asinus ) und constructio intransitiva reciproca ( ego diligo me ).
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Petrus Helias ( wie Anm. 32 ) S. 898,27–28 zu Priscian 17, 30. Petrus Helias ( wie Anm. 32 ) S. 899,49–900.90 zu Priscian 17,30–31: constructio reciproca und retransitiva.
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4. Teile des Satzes und Wortfolge ( De ordinandis partibus oracionis regule ): a ) Einteilung eines Satzes in Kolon, Komma und Periode. b ) Die entsprechende Zeichensetzung ( de modo punctandi ). c ) ordo bonus / naturalis. d ) Beispiele zur Abweichung vom ordo naturalis. 5. Zusammenfassende tabellarische Übersicht über die divisiones und subdivisiones: Diversarum constructionum exempla. Aus dem werden im Lehrstück VIII folgende Versgruppen zitiert ( genannt in der Reihenfolge ihrer Erwähnung ): 1081–1082; 1370–1374; 1375–1376; 1385–1389; 1390–1391; 1393, 1395–1396; 1394; 1411–1412; 1427–1428; 1429–1432; 1417–1420; 1497–1500; 1417; 1397–1399; 1407–1410; 1179–1180; 1413–1416; 1433. Damit werden aus dem Bereich der Verse 1370–1433 des fast alle Verse benutzt; dazu kommen noch die Versgruppen 1179–1182 und 1497–1500. Als Beispiel für Darstellungsweise und Sprache dieses Traktates soll näher auf allgemeinen Ausführungen zur constructio ( oben Abschnitt 1 ) eingegangen werden. Der Text beginnt mit der Definition: Constructio est partium orationis unio latina congruam perfectamque sententiam significans. Formale Voraussetzung des korrekten Satzes ist also, dass die Teile sich entsprechend den Gesetzen der Syntax des Lateinischen miteinander verbinden ( unio latina ). Die formale Korrektheit aber hängt eng zusammen mit der gedanklichen Richtigkeit und Stimmigkeit der Aussage ( perfectamque sententiam significans ). Sprache und Bedeutung, Dinge und Worte bilden eine Einheit: Non enim bene latina potest esse constructio, si non sensus fuerit eius aptus et congruus. Quare nedum agendum est, ut verba sive partes orationis in accidentibus conveniant, sed etiam, ut debita servatur ( sic! ) consignificationum proportio atque etiam debita verborum rebus ( de quibus loquimur ) accomodatio ( 86r ). Ein Satz, selbst wenn er dem Wortlaut nach lateinisch ist, kann dennoch fehlerhaft sein: Fit igitur, quod oratio ( que voce latina sit ) significatione minus sit latina. Zum Beispiel stimmen in den Verbindungen homo hinnibilis, candidus sillogismus, alba propositio Substantiv und Adjektiv formal überein, inhaltlich sind die Verbindungen unsinnig. In diesem Sinne wird zwischen constructio perfecta und constructio imperfecta unterschieden. „Perfekt“ wird vom Hörer bzw. Leser her definiert. Vollkommen ist jene Konstruktion, que perfectum sensum generat in animo auditoris, in cathegoricis oracionibus, ut „Sortes currit“, et in hypotheticis, ut „Si homo currit, movetur“. Unvollkommen ist eine Konstruktion, que imperfectum sensum generat in animo auditoris, ut „homo albus.“ Es fehlt hier das Prädikat: ( videtur oder currit ); die Aussage ist unvollständig, und damit ist der Fall gegeben: quamdiu animus auditoris suspensus manet, non est sensus perfectus, cum autem ille complete et perfecte terminatur, ut ne ultra suspenditur ( sic! ) perfectus sensus est. Auch ein fehlendes Objekt kann Unvollkommenheit bewirken, so in homo albus legit: Da legere ein transitives Verb ist, erwartet man grundsätzlich eine Ergänzung wie: homo albus legit grammaticam. Es zeigt sich auch an diesen Überlegungen, wie sehr in der mittelalterlichen Grammatik die Darstellung sprachlicher Gesetzmäßigkeiten mit der Analyse der Bedeutung, der philosophischen und logischen Zusammenhänge, verbunden ist, und zwar nicht nur bei jenen Grammatiken, die ausdrücklich aus der Perspektive der <Modi significandi> geschrieben sind, sondern auch in den Schulgrammatiken.
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3. Das Lehrstück über Prosodie und Metrik a ) „Regule orthographie“ ( zu IX, 1 ) Kerckmeister behandelt die Orthographie in Form eines knappen, straff gegliederten Lehrtextes, der nur als Vorbereitung auf die Ausführungen zu Prosodie und Metrik dient. Die Darstellung folgt dem traditionellen Schema de littera – de syllaba – de dictione. Sie übernimmt Priscians Definition der Buchstaben als minima pars vocis compositae und dessen Unterscheidung zwischen figura (Gestalt) und elementum (Lautung) 80. Es folgt (99v–101r) die Einteilung der Buchstaben: Vokale, Konsonanten, Diphthonge. Für die Silbe werden im Anschluss an die Definition folgende accidentia genannt: tenor (die Akzente), tempus (Längen und Kürzen) und numerus (Buchstabenzahl der Silbe). Das Wort wird der Tradition entsprechend bestimmt als minima pars orationis constructe. Es folgen Hinweise auf die mögliche Silbenzahl der Wörter zwischen einer und dreizehn Silben sowie auf den Stellenwert der Silbe als erste, mittlere und letzte im Wort. b ) Prosodie ( zu IX, 2 ) Dieser Abschnitt wird nicht durch eine eigene Überschrift hervorgehoben. Er knüpft an die allgemeinen Bestimmungen der Silbenlehre von IX, 1 an und leitet über zu den Regeln für die Versgestaltung. Die Silben werden deshalb jetzt unter dem besonderen Aspekt der Quantitäten detailliert untersucht. Die Lehre von der Silbe mit ihren accidentia und die Einteilung in syllabae primae, mediae, ultimae geht auf die antike Grammatiktradition zurück 81. Das behandelt die Prosodie ausführlich im 3. Teil ( Buch 10, De quantitate syllabarum, V. 1550–2281 ) und im 11. Buch des 4. Teils ( De accentu, V. 2282–2360 ) 82. Die „wichtigste Neuerung des Mittelalters“ 83, die dort aufgegriffen wird, ist die sogenannte Regel „a ante b“, die dazu dient, die Quantität der mittleren Silben zu bestimmen, ein ausgefeiltes System, das in zahlreichen regulae speciales entfaltet wird. Auch die Unterscheidung von regulae generales und speciales ist eine Leistung der mittelalterlichen Prosodielehre. Bedeutsam waren diese Ausführungen damals nicht nur für die Dichtkunst, sondern vor allem auch für das korrekte Vortragen der biblischen und liturgischen Texte, die ars lectoria. Die Darstellung Kerckmeisters gliedert sich wie folgt: 1. Grundlegendes: Die wichtigsten Aspekte der Silbenlehre ( quesita sillabarum ): q u o t ( numerus et tempus ), q u o t a ( ordo sillabarum: prima, media, altera, ultima, penultima, antepenultima ), q u a n t a ( Quantitäten ). 80
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Für das elementum wird in Kerckmeisters Text verwiesen auf ( Ps.- )Priscian ( Grammatici Latini 3, S. 519–528, hier: S. 519, Z. 1–24 ). Von besonderer Wichtigkeit sind die metrischen Schriften des ( Ps.- ) Probus in: Keil, Grammatici Latini IV ( wie Anm. 26 ) S. 219–262, Servius, und ( Grammatici Latini IV, S. 449–467 ) und ( Ps.- )Priscian ( wie Anm. 80 ). Zu weiteren Einzelheiten s. die folgende Anmerkung. Die Entwicklung der Prosodielehre hat eingehend behandelt Jürgen Leonhardt, Dimensio syllabarum. Studien zur lateinischen Prosodie- und Verslehre bis zur frühen Renaissance ( Hypomnemata 92 ) Göttingen 1985. Ebd., S. 90.
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2. Einzelregeln: a ) Prime sillabe: Wesentliche Eigenschaften (accidentia ): positio ( Positionslänge ), compositio ( Vokalqualität in verbum simplex und compositum ), dipthongus ( sic! ) ( die Längung der Silbe ), exemplum ( Gebrauch bei den Dichtern als Maßstab für die Quantitäten ), regula ( Lehre der Grammatiker ). b ) Medie sillabe: Wesentliche Eigenschaften ( accidentia ): positio, dipthongus, accentus ( nur hierzu nähere Ausführungen ), regula. Besonderes: – Betonung und Quantität der Paenultima und der Antepaenultima. – Regeln und Merkverse zum crementum ( Veränderung der Quantitäten des Grundwortes in seinen flektierten und zusammengesetzten Formen ). c ) Neun regulae speciales zur ersten und mittleren Silbe. d ) Ultimae sillabe: accidentia: positio, dipthongus, regula. Zum Erlernen der Quantitäten der letzen Silben müsse man sich ganz auf die von den alten Grammatikern formulierten regulae stützen. Zu den einzelnen Buchstaben der Wortendungen werden umfangreiche Aussagen gemacht, insgesamt 15 Versregeln. Auch für diesen Abschnitt des Lehrstückes ist das die Hauptquelle. Hingewiesen wird ausdrücklich auf Alexander in capitulo de accentibus ( 104v; gemeint ist das 11. Buch des 4. Teils ) und auf regule Donati et Alexandrum in prima parte ( 105r, zu dem oben mit 2b bezeichneten Abschnitt ). Mehrfach wird die tertia pars Alexandri genannt, und dieser Teil des wird auch besonders intensiv zitiert. So enthält der Abschnitt über die prima syllaba ( 2a ) in 36 Textzeilen fünf Zitate, insgesamt 14 Verse ( 1607–1608; 1599–1602; 1591; 1629–1633; 1605– 1606 ). Zur Lehre vom crementum ( 2b ) werden ohne Kommentar einfach die Verse 1654–1681 des wiedergegeben. Auch die regulae speciales ( 2c ) sind, jeweils eingeleitet durch eine Prosafassung der entsprechende Regel, eine Zusammenstellung von -Zitaten: 1620–1628; 1634–1638; 1645–1653; 1615–1618; 1685–1686; 1619; 1611–1614; 1687–1693; 1695–1699, insgesamt also rund achtzig Verse, die meisten des -Abschnittes V. 1611–1699. Die Regeln für die ultimae syllabae ( 2d ) bestehen ebenfalls praktisch nur aus Alexander-Versen, und zwar genau in der Reihenfolge des Doctrinale-Textes: 2192–2199; 2200– 2217; 2218–2220; 2223–2225; 2226–2229; 2230–2231; 2232–2234; 2235–2240; 2242–2246; 2249–2251; 2252–2262; 2263–2270; 2271–2274; 2275–2281. Insgesamt sind in diesem Abschnitt rund neunzig weitere Verse zitiert. Ausgespart sind bei Kerckmeister die annähernd fünfhundert Verse 1700–2191 des Prosodie-Kapitels des , die die Einzelheiten des „Systems a ante b“ umfassen. Offensichtlich sollen die Prosodie-Regeln auf das Wesentliche reduziert werden, einen Kern, den der Autor in den Versgruppen 1591–1699 und 2192–2281 findet, die er fast vollständig zitiert. Andere mittelalterliche Quellen werden kaum genannt. Einmal wird auf das des Johannes Januensis verwiesen ( 104v ); aus dem des Johannes de Garlandia wird ein Vers zitiert ( 105r ). Der wegen der falschen Quan-
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tität seines ersten Wortes kritisierte Vers Faber in angario conectit babbata gumpho ( 104v ) ist seit dem 14. Jahrhundert belegt 84. Die merkwürdige Zusammenfassung der Quantitätsregeln zu dem prime, medie und ultime sillabe in Merkversen lässt sich auch in Manuskripten des 15. Jahrhunderts nachweisen 85: Mansla delensteve filinsdiuirim bodogosmo cudrumfgunst Gau bedcelmentu qui nost.dumugrunticus adde Aiunc as es os funales dant tibi longas ( 110v/111r ). c ) „Regule artis metrificandi“ ( IX,3 ) Die reiche Tradition der Metrik ist im 3. Buch des nur in aller Kürze zusammengefasst ( V.1561–1583 ). Hier findet sich auch die Konzentration der Untersuchung auf Hexameter und Pentameter. Spätere Metrik-Traktate entfalten diese Lehre in aller Ausführlichkeit 86. Der hat ein eigenes, allerdings nur kurzes Kapitel de pedibus metrorum 87. Gut vergleichbar mit Kerckmeisters Text, aber wesentlich knapper ist der Druck , Deventer, Jacobus de Breda um 1487 88. Im selben Jahr wie das wurde auch die des Konrad Celtis gedruckt 89. Der Metrik-Abschnitt IX, 3 ist wie folgt aufgebaut: 1. Grundlegendes zu Metrum und Versfuß: Definition des Metrum als certa sillabarum dimensio; der Versfuß ( pes ) und seine sechs accidentia: arcis, thesis, tempus, resolutio, figura, metrum. 2. Die Versmaße im Einzelnen: a ) 6 metrischen Grundformen: Daktylus, Spondeus, Trocheus, Anapäst, Iambus und Tribrachus ( = Tribrachys ). b ) Sechs vitia metri. c ) Schema: De pedibus in toto numero: Die aus den 6 Grundformen abgeleitete 28 Versfüße.
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Hans Walther, Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris latinorum. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters, Göttingen 1959, Nr. 8622. Vgl. Leonhardt ( wie Anm. 82 ) S. 106–109, Handschrift um 1430. Zur Reduktion auf Hexameter und Pentameter Leonhardt ( wie Anm. 82 ) S. 124. Graecismus ( wie Anm. 43 ) cap. IV. Leonhardt ( wie Anm. 82 ) S. 236, B 5; GW 11023, ISTC ir 00140350. Die bei Leonhardt unter B 13 verzeichnete Metrik ist unser Kerckmeister-Text, der aber nicht als solcher identifizieret wird. Weitere frühe Metrik-Drucke sind: Remigius, Regula Dominus quae pars. Fundamentum artis metrificandi ( Deventer, Richardus Pafraet, 1477–79 ), ISTC ir00141350, GW 11167; ( 3,132; 4, 154 und 155; 13, 821 ), drei aus den ( 1,88; 4,113; 16,1 ), ebenfalls drei aus den ( 2, 206; 4,55 und 68 ), zwei aus der ( 1, 550; 3,765 ). Jeweils ein Zitat stammt aus den ( 1,8,108 ), den ( 7,45 ), den ( 3,4,91 ) und den <Epistulae ex Ponto> ( 4,3,1 ). Den dritten Rang nimmt mit 14 Zitaten Terenz ein. Von diesen stammen allein 8 aus der ( V. 3; 27; 47; 54; 237; 240; 685; 716 ). Dem <Eunuchus> sind vier Zitate entnommen, den und dem jeweils eines. Weitere Dichter werden wesentlich weniger zitiert: Horaz kommt mit drei Stellen vor; darunter ist die berühmte Stelle der Si vis me flere dolendum est/ primum ipse tibi ( V. 102 f. ). Auch Juvenal wird dreimal zitiert, Martial und Statius je einmal. Deutlich geringer ist die Zahl der antiken Prosaiker. 9 Stellen beziehen sich auf Cicero, die meisten mit Nennung des Autors. Sie sind aber durchweg frei wiedergegeben. Mit kleinen Abänderungen wird zitiert aus dem <Somnium Scipionis> ( De re publica 6,15 ): Ex illis sempiternis ignibus, que vos sidera nuncupatis. Der Satz Scipio, cui Africano nomen erat, Carthaginem subvertit ist eine Mischung aus 4, 21 und Livius 25, 2,6. Sprachlich verändert ist sapientie studium, que philosophia dicitur ( 1, 1,1 ). Ei cuia interfuit ( 53v ) scheint eine Verbindung aus 3, 16 mit Gellius 2, 28, 15 zu sein. Die Stelle: Qui virtute preditus ( est ), quod divitiarum proprium est, hic suis rebus contentus est ( 80r ) ist eine Mischung aus <Paradoxa Stoicorum> 6, 51 und 177. Von der zum Gebrauch des infinitivus historicus zitierten Stelle Tum Canius stomachari, lacrimari, irasci finden sich nur die ersten drei Wörter in 3, 60. Die Cicero zugeschriebene Formulierung Quanto maior es, tanto te gere summissius ( 46v ) stammt in Wirklichkeit aus Hieronymus, 11, 34 und wurde sprichwörtlich 95. Auch die Stelle aus 3, 19 ist nur sinngemäß wiedergegeben: Tactus est fulmine Romulus ( gemeint: simulacrum Romuli ), qui hanc urbem condidit ( 84r ), mit dem Druckfehler flumine. Drei Stellen werden aus Quintilian zitiert. Eine ( 97r ) wird fälschlich Cicero zugeschrieben: Eloquentiam esse, que poenis eripiat scelestos … ( 2, 16,2 ); außerdem wird noch die benachbarte Stelle 2, 16,7 zitiert: aut non divina M. Tulli eloquentia … Catiline fregit audaciam et supplicationes, qui maximus honor victoribus bello ducibus datur, in toga meruit? ( 79v ). Auf derselben Seite steht das den ( des Ps.-Quintilian ) entnommene ubi vero universas familias fames exstinxit. Drei weitere Zitate stammen aus Sallust, alle aus : Hoc populus letari solet ( 40v, ein verkürztes und adaptiertes Zitat aus 51, 29 ), Multi, qui de castris processerant, alii amicum, pars hospitem aut cognatum reperiebant ( 67r, ein relativ genaues Zitat aus 61, 8 ) und 95
Walther, Lateinische Sprichwörter ( wie Anm. 84 ) Nr. 23595.
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die bekannte Charakteristik des Catilina in 5, 2: Huic ab adulescentia bella intestina … ( 67b ). Aus den Briefen des Plinius stammen zwei Zitate: ep. 2, 8,1: Piscaris an venaris? und ep. 1, 12, 8: Dedisses huic animo par corpus ( 98r ). Jeweils eine Stelle wird zitiert aus Livius ( 25, 2 ) und aus Gellius 1, 22,6 ( fälschlich Cicero zugewiesen ). Von den christlichen Autoren werden nur Augustinus, Boethius und Prosper von Aquitanien je einmal zitiert. Rückschlüsse auf die Erfindungsgabe oder das individuelle Leseverhalten des Grammatikautors sollte man aus diesen Beispielen nur mit Vorsicht ziehen. Die mittelalterliche Grammatik ist auch in diesem Punkte stark von der Tradition bestimmt. Nicht wenige Beispiele Kerckmeisters lassen sich schon im nachweisen, etwa der für den ablativus separativus gebrauchte Städtenamen Vernone ( 11r ) 96. Ein Satz wie Sortes currit i.e. Sortes est currens ( 6v; 32v ) wird das ganze Mittelalter über gebraucht und gilt in der humanistischen Polemik geradezu als Symbol für veraltete Grammatik und barbarisches Latein, ebenso cappa Sortis. Der Satz Aiax venit ad Troiam, idem fortiter pugnavit stammt aus Priscian 97. Mit dem aus dem Exorzismus im Taufritus stammenden Beispiel Sal monstrans dicit: „te misit aquis Helizeus“ ( 85r ) greift Kerckmeister V. 1494 des auf; die Formulierung Femina que clausit portam vitae, reseruit ( 83r ) wird dort in V. 1450 als Beispiel für die relatio simplex benutzt. Der Satz Petrus cum Paulo regant cum rege superno ( 62r ) entspricht V. 112 des . Bestimmte Beispiele problematischer Ausdrücke werden in der Diskussion der „Sophismata“ tradiert, etwa die constructio ad sensum im ovidischen turba ruunt oder im vergilischen urbem, quam statuo, vestra est 98. Ein hohes Maß an Konstanz haben auch die Zitate aus der Literatur, die in reicher Fülle in den antiken Grammatiken vorkommen, besonders bei Priscian, war doch die Aufgabe der antiken Grammatiker zugleich mit dem Sprachunterricht auch die Erklärung der Dichter und Schriftsteller. Viele ihrer Beispiele für den poetischen Sprachgebrauch werden auch im Mittelalter weiter benutzt, ein Bereich der Grammatiktradition, der leider noch kaum aufgearbeitet ist. So lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Zitate ein Grammatiker aus der Tradition übernimmt und welche er eigenständig auswählt, ebenso wenig, ob sie Florilegien entnommen sind oder auf eigene Textkenntnis zurückgehen. Ein stichprobenartiger Vergleich zwischen den von Kerckmeister und den bei Priscian zitierten Stellen aus Vergil und Terenz zeigt, dass bei den Eklogen Vergils die Hälfte der Zitate Kerckmeisters mit denen Priscians übereinstimmt. Bei den anderen Stellen hat er sich entweder auf andere Vorlagen gestützt oder aber die Beispiele selbständig ausgewählt. Die -Zitate sind dagegen fast alle mit denen Priscians identisch, dasselbe gilt für die im benutzten TerenzZitate. Dies verwundert nicht, da Priscian die und die Werke des Terenz sehr umfassend zitiert. Die meisten Ovidzitate Kerckmeisters kommen bei Priscian nicht
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Vernon liegt in Nordfrankreich ( arr. Évreux, dép. Eure, Haute-Normandie ); das Beispiel wird auch im benutzt ( cap. 20, V. 20–26 ), unter anderem: Romam, Rothomagum Vernonem tendit Athenas. Baratin, Priscian ( wie Anm. 45 ) S. 262; auch im V. 113 und 116. S. Irène Rosier ( wie Anm. 56 ) S. 229, Nr. 171 und Nr. 173; dazu auch Anne Grondeux, Turba ruunt … Histoire d’un exemple grammatical, in: Bulletin Du Cange ( Archivum latinitatis medii aevi ) 61, 2003, S. 175–222.
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vor. Sie stammen aus so vielen unterschiedlichen Werken des lateinischen Dichters, dass man sich fragen muss, ob Kerckmeister diese alle selbst gelesen oder auf ein Florileg zurückgegriffen hat. Die freie, das Original meistens variierende Formulierung der Stellen aus den Prosaikern deutet darauf hin, dass hier aus dem Gedächtnis zitiert wird. Auf jeden Fall spiegelt die Häufigkeit der Zitate die Lektürepraxis der Schule. Deutlich ist das bei den Werken Vergils, dessen <Bucolica> zu den wichtigsten Anfangslektüren gehörten; charakteristisch ist dabei das Fehlen von Zitaten aus den Eklogen 4–6, ebenso die Ausblendung der . Dieses wissenschaftlich und philosophisch geprägte Lehrgedicht war wohl eine für Schüler zu anspruchsvolle Lektüre. Die wiederum hatte ihren festen Platz im Lektürekanon; dass das 1. Buch am meisten präsent ist, die Bücher 2, 4 und 6 sporadisch auftauchen und die anderen Bücher, vor allem das ganze letzte Drittel der , ganz fehlen, verwundert nicht: Man begann die Lektüre des Epos mit dem 1. Buch, erklärte dies gründlich und kam oft nicht viel weiter. Dass die Komödien des Terenz, besonders die , einen Lektüreschwerpunkt bildeten, zeigt sich an der Häufigkeit der Zitate. Ebenso steht es mit Ovid und Cicero. So wie viele Zitate an die Lebens- und Unterrichtserfahrung der Schüler anknüpfen, um sie zu belehren und sie dadurch zu erfreuen, dass sie im Grammatikunterricht ihrer Alltagswirklichkeit begegnen, so führen auch die Literaturzitate zu einer immanenten Wiederholung schon behandelter Texte oder bereiten auf deren künftige Lektüre vor. Dieselbe Funktion haben die Zitate aus dem Alten und Neuen Testament und aus der Liturgie. Die Schüler sind ja ständig von diesen Texten umgeben; sie gehören zu ihrer Lebenspraxis und zur Vorbereitung auf ihren künftigen Beruf. Kerckmeister liegt offensichtlich daran, das vielfach Gehörte und auswendig Gelernte in umfassender Weise auch in seiner Grammatik präsent zu machen. Der Nachdruck des von 1493 stellt die Literaturzitate ausdrücklich als Besonderheit heraus: Ex diversis passibus sacre scripture ac poetarum seien die syntaktischen Regeln erarbeitet 99, und in der Tat ist diese Fülle der Zitate charakteristisch für Kerckmeisters Werk. Vor allem die starke Präsenz der antiken Dichter und Schriftsteller ist bemerkenswert; Kerckmeister verwendet sie in einem weitaus größeren Umfang als andere Grammatiken seiner Zeit und gibt ihrer Erklärung breiten Raum 100. Daraus lässt sich eine neue Wertschätzung der antiken Autoren ableiten und die Absicht, sie den biblischen und kirchlichen Texten gleichwertig zur Seite zu stellen. III. DRUCKGESCHICHTE UND REZEPTION DES FUNDAMENTUM
Als Kerckmeisters 1486 erschien, lagen, abgesehen von den Werken der grundlegenden Schulautoren Donat und Alexander von Villedieu, nur wenige grammatische Schriften gedruckt vor. Von den 294 im Gesamtkatalog der Wiegendrucke unter dem Stichwort „Grammatica“ verzeichneten anonymen Texten waren bis 1486 erst 42 erschienen, kaum mehr als 14 % des gesamten Bestandes, davon im nordwestdeutschen und niederländischen Raum nur 11 Drucke: aus Köln vier, je zwei aus 99 100
Vgl. die Bibliographie in Abschnitt III, Nr. 2b. Das zitiert kaum klassische Autoren. Von den mit dem zeitgleichen Grammatiken zitiert der <Schleswiger Remigius> ( wie Anm. 34 ) keine Klassiker; das ( wie Anm. 106 ) hält sich in diesem Punkte sehr zurück.
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Deventer und Zwolle, aus Gouda, Gent und Brügge je einer. Darunter waren folgende Titel, die Lehrstücken des entsprechen: Dominus que pars ( Deventer 1477/79, Köln 1475/80 und 1485/90 und Zwolle 1486/88 ), Regule congruitatum mediocres ( Köln 1478/82 ) und De octo partibus ( 1479/1480 Zwolle ) 101. Dass Kerckmeister diese und weitere Stücke in einem einzigen Buch vereinte, kam also einem dringenden Bedürfnis entgegen. Die erste Grammatik im Raum Münster-Köln-Overijssel war das freilich nicht. In Köln erschien 1475 Antonius Hanerons , das auch in Deventer gedruckt wurde. Der Löwener Professor und Prinzenerzieher am burgundischen Hof hatte es schon früher für den Schulunterricht geschrieben 102. Ende der siebziger Jahre veröffentlichte Antonius Liber, ein Freund und Weggefährten Rudolf von Langens, seine über die acht Wortarten 103; er gab außerdem die des Humanisten Titus Livius von Forli heraus sowie eine Sammlung von Briefen meist humanistischer Autoren, die er selbst zusammengestellt hatte, das 104. Wenig später erschien in Köln die Syntax des Matthäus Herben 105. Während aber alle 101
: Deventer GW 11167; Köln 11162 und 11164; Zwolle 11157; Köln: GW 11241; Zwolle GW 11067. 102 Compendium diasyntheticae sive De multipotencia activi regiminis dictionum, Köln, Johann Koelhoff d. Ä. ( GW 12123 ); Ausgabe der : Jacqueline Ijsewijn-Jacobs, Magistri Anthonii Haneron ( ca. 1400–1490 ) opera grammatica et rhetorica, V, Diasynthetica, in: Humanistica Lovaniensia 25, 1976, S. 1–83; Microfiche: Primary Source Microfilm ( an imprint of Thomson Learning ), Incunabula, The Printing Revolution in Europe 1455–1500. Grammar II, Unit 30 – GR 154. Zu Hanerons Biographie: Jacqueline Ijsewijn-Jacobs, Magistri Anthonii Haneron ( ca. 1400–1490 ) opera grammatica et rhetorica, in: Humanistica Lovaniensia 24, 1975, S. 29–33; Jozef Ijsewijn, Art. , in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 3, 1981, Sp. 431–435; Holger Kruse, Hof, Amt und Gagen. Die täglichen Gagenlisten des burgundischen Hofes ( 1438–1467 ), Bonn 1996, S. 169 f. 103 Aurora Grammatices, Köln, Johann Koelhoff d. Ä., um 1479: ISTC il00195900; Microfiche: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar I, Unit 29 – GR 62; in Auszügen veröffentlicht von Wilhelm Crecelius, Antonius Liber von Soest als Grammatiker, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung, 4, 1878 ( erschienen 1879 ), S. 1–6; Helmut Puff, Grammatica Latina Deutsch. Zum Funktionswandel der Volkssprache im 16. Jahrhundert, in: Daphnis 24, 199 5, S. 55–78, besondes S. 63–67. Zur Biographie: Franz Josef Worstbrock, Art. , in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 5, 1984, Sp. 747–751. 104 a ) Titus Livius de Frulovisiis, De orthographia, Köln, Johann Koelhoff d. Ä. um 1479; GW 10415; Microfiche: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar I, Unit 29 – GR 64; Digitalisat: http://inkunabeln.ub.uni-koeln.de. Guido Arbizzoni, Art., , in: Dizionario biografico degli Italiani 1, 1998, S. 646–650; Remigio Sabbadini, Tito Livio Frulovisio umanista del sec. XV, in: Giornale storico della Letteratura italiana, 103, 1934, S. 55–81; Daivd Rundle, The unoriginality of Tito Livio Frulovisi’s , in: English Historical Review 123, 2008, S. 1109–1131. b ) Antonius Liber, Familiarium epistolarum compendium ex diversis auctoribus collectum, Köln, Koelhoff; ISTC il00195900; Microfiche: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Gammar I, Unit 29 – GR 62. Zu dieser Briefsammlung: Arend Hendrik Van Der Laan, Antonius Liber Susatensis, Familiarium epistolarum compendium, in: Humanistica Lovaniensia 44, 1995, S. 137–167; Ders., Anatomie van een taal, Rodolphus Agricola en Antonius Liber aan de wieg van het humanistische Latijn in de Lage Landen ( 1469–1485 ), Diss. Groningen 1998, Eigendruck; Internet-Ausgabe: http://dissertations.ub.rug.nl/faculties/arts/1998/a.h.van.der.laan/ = http://irs.ub.rug.nl/ppn/165964146, Hooftstuk een, S. 17–73. 105 Mattaeus Herben, Diasynthetica. De constructione substantivorum, adiectivorum, pronominum, verborum et de constructione coniunctionum, prepositionum et interiectionum. Mit Glossen in nieder-
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diese Darstellungen jeweils ein Teilgebiet der Grammatik behandelten, bot das Werk Kerckmeisters in handlicher Form einen vollständigen Lehrgang der Grammatik, zusammengestellt aus den wichtigsten und bekanntesten Texten der mittelalterlichen Unterrichtstradition. Diese im Grunde auf der Hand liegende Konzeption wurde um 1485 auch in anderen Werken verwirklicht. In Basel erschien 1483 ohne Angabe des Verfassers das , im Untertitel auch genannt, das später des Öfteren nachgedruckt wurde 106. Es hat folgenden Inhalt: 1. 2. 3. 4.
Dominus que pars Regule congruitatum minores Regule congruitatum maiores De modo construendi et traducendi cum vulgari omnium casuum, omnium temporum et modorum 5. Duplicia eleganciarum precepta oracionum et dictionum 1486 wurde in Schleswig bei Stephan Arndes eine Grammatik ohne Titel mit den folgenden sechs Lehrstücken veröffentlicht 107: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Remigius: Dominus que pars Regimina que „Sortes currit“ dicimus Ordo constructibilium cum suis regulis Viginti quattuor regule congruitatum Metra constructionum Comparationes quas „in masculino genere“ vocamus
Wie das beginnen beide Grammatiken mit dem Traktat Dominus que pars, dem Stücke zur Syntax folgen. In dem von Arndes herausgegebenen Lehrbuch kann man in der Abfolge der Traktate 2–5 kein besonderes Ordnungsprinzip erkennen; der Teil 6, der mit Kerckmeisters Lehrstück II verwandt ist, gehört zur Etymologie und hätte besser am Anfang seinen Platz gefunden. Das ist systematischer aufgebaut: Auf Dominus que pars folgen die Regeln zur Syntax, nach dem Schwierigkeitsgrad abgestuft; Stück 4 legt den Schwerpunkt auf die Übersetzung ins Deutsche, und Stück 5 ist eine Anleitung zum Verfassen von Prosaschriften unter dem besonderen Aspekt der elegantia des Ausdrucks nach dem Vorbild der <Elegantiae> des Lorenzo Valla und der <Elegantiolae> des Agostino Dati. Im Vergleich mit dem und der Schleswiger Grammatik behandelt Kerckmeister die Syntax differenzierter und ausdrücklich abgestuft nach den Graden der Latinitas; dagegen spielt die deutsche Sprache bei ihm keine Rolle, und sein Lehrgang gipfelt nicht in der Prosa, sondern in der Verskunst.
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deutscher Sprache. Köln ( Ulrich Zell ) 1482/1485, GW 12280. Microfiche dieser Ausgabe: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar II, Unit 30 – GR 157. Weiteres zu Herben vgl. Anm. 123. Das wurde insgesamt neunzehnmal gedruckt: GW 10988–11006. Die Ausgabe Basel, Peter Kollicker 1483/85 ( GW 10979 ) als Microfiche: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar II, Unit 30 – GR 136. Digitale Ausgabe des Druckes Basel, Johann Amerbach um 1489 ( GW 10998 ) unter http://diglib.hab.de. Remigius, Schleswig 1486, s. Pinborg, Remigius ( wie Anm. 34 ); GW 11189; Microfiche: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Printing in the Baltic Area III, Unit 20 – BA 216.
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Das erfüllte in der Auswahl der Texte und in der didaktisch-methodischen Aufbereitung offensichtlich die Bedürfnisse des Publikums; es wurde ein ausgesprochener verlegerischer Erfolg. Nach 1486 erschienen folgende Nachdrucke der Kerckmeister-Grammatik: 1. Fundamentum scholarium, Köln, Heinrich Quentell, 10. Oktober 1492 ISTC ir 00140400; GW M04420 108 2. Fundamentum scholarium, Kopenhagen, Govert van Ghemen, gedruckt in zwei separaten Teilen in curia Petri Alberti a) Fundamentum in grammatica deserviens scholasticis pro levissima informatione scolarium utilissimum atque rarum, 28. Juni 1493 (enthält die Lehrstücke I–V) ISTC ir00140450; GW M04423 109 b ) Regule emendate correcteque Hafnye de figuratis constructionibus grammaticis ex diversis passibus sacre scripture ac poetarum, 9. Juli 1493 ( enthält die Lehrstücke VI–IX ) ISTC ir 00127500; GW M04379 3. Fundamentum scholarium, Hagenau, Heinrich Gran 1494, 4° ISTC 0140500; GW M04421 4. Fundamentum scholarium, Köln, Heinrich Quentell, 16. Januar 1495, 4° ISTC 0140450; GW M04418 5. Fundamentum scholasticorum, Deventer, Richard Paffraet, 13. Juni 1495, 4° ISTC 00140600; GW M04415 6. Fundamentum scholarium, Deventer, Jacobus de Breda 1497, 4° ISTC 00140700; GW M0441510 7. Fundamentum scholasticorum, Leipzig, Konrad Kachelofen 1497, 4° nicht im ISTC; GW M0442210 ( handschriftlicher Zettelkatalog 0837/35: „Leningrad ÖB“ ) 8. Fundamentum scholasticorum, Basel, Michael Furter 1499, 4° ISTC 00141000; GW M04412 9. Fundamentum scholasticorum., Deventer, Richard Paffraet, 6. Juni 1500, 4° ISCT 00141100; GW M04416 10. Fundamentum scholarium, Köln, Heinrich Quentell ( Erben ), 12. März 1502, 4° VD-16 ( Bibliotheksverbund Bayern ), Nr. ZV 6311; Nr. ZV 13076 110 11. Fundamentum scholarium perstringens ordinatissimo contextu omnes fere regulas ad grammaticam breviter assequendam necessarias, Köln, Quentell ( Erben ), 12. März 1505, 4° VD-16 ( BVB ), Nr. ZV 6312; Nr. ZV 13077; Nachweise auch: Südwestdeutscher Bibliotheksverbund Stuttgart 108 109
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Microfiche: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar I, Unit 29 – GR 102. Facsimile: Tre latinske Grammatiker. Donatus. Fundamentum. Regulae. Trykt af Gotfred af Ghemen i Kobenhaven 1493. Med en Efterskrift, Kopenhagen 1979. Nachwort von Jan Pinborg und Erik Dal. In seinem Nachwort zur Grammatikgeschichte betont Pinborg den Zusammenhang mit dem QuentellDruck des von 1492, stellt aber keine Verbindung zu der Kerckmeister-Grammatik von 1486 her. Microfiche zu 2a: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Printing in the Baltic Aera I. Unit 18, BA 68, 1996; zu 2b: Grammar I, Unit 29 – GR 103 und Printing in the Baltic Aera III, Unit 20 – BA 214. Digitalisat: Bayerische Staatsbibliothek München 2007: http://mdz10.bib-bvb.de.
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12. Fundamentum scholarium: Regule Remigii emendate correcteque, Köln, de Werdena, 1505, 8° Stadtbibliothek Trier, OPAC Trier bisher zu 1512; korrigiert im HBZ ( Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen [ Köln ] ) auf 1505 13. Fundamentum scholasticorum, Deventer, Richard Paffraet, 1506, 8° Stadtbibliothek Trier, OPAC Trier 14. Fundamentum scholarium, Paris, pro Radulpho Iasiseau ( sic! = Raoul Lalisseau ), ( 1508 ) COPAC Union Catalogue ( = British Library Integrated Catalogue System, Number 003071837 ) Die Ausgabe ist identisch mit Nr. 4 ( Quentell 1495 ); sie zeigt auch Quentells Accipies-Holzschnitt 111. Aus diesen bibliographischen Daten ergibt sich folgendes Bild von der Rezeption der Kerckmeister-Grammatik: Nachdem in Münster um 1488 Johannes Limburg seine Tätigkeit eingestellt hatte, vergab man die folgenden Druckaufträge nach Deventer oder Köln. Wie das Domkapitel 1489 das Missale Monasteriense von Renchen in Köln drucken ließ 112, so gab Kerckmeister im Oktober 1492 den ersten Nachdruck des Fundamentum bei Heinrich Quentell in Köln in Auftrag, dem bedeutendsten Schulbuchverleger der Stadt, der ihm sicher noch aus seiner Studienzeit ein Begriff war. Quentell tilgte den Namen des Bearbeiters bzw. Verfassers und änderte textinterne Hinweise. Zum Beispiel wurde aus Petrus, canonicus Monasteriensis et Daventriensis ecclesiarum ein canonicus Coloniensis et Nuciensis ( = Neuss ) ecclesiarum, und statt studes Monasterii hieß es nun: studes Colonie, que est cathedralis civitas, aber immer noch: rure, Monasterio, Colonia. 113 In dieser kölnischen Version erreichte das Werk ein weitaus größeres Publikum aus Stadt und Universität mit ihrem weiten Einzugsgebiet und damit einen wesentlich höheren Bekanntheitsgrad. Köln wurde das Tor zur Verbreitung der Grammatik in Deutschland und sogar im Ausland 114. Den Weg nach Dänemark fand das über den Domherrn, Mediziner, Theologen und Juristen Petrus Alberti, Vizekanzler der 1478 durch König Christian gegründeten Universität Kopenhagen. Alberti hatte wie viele Dänen in Köln studiert, und in Kopenhagen orientierte man sich an der Universität Köln, deren Sta-
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Eugénie Droz 1964 ( wie Anm. 4 ) nennt von dieser Ausgabe zwei Exemplare in der Pariser Nationalbibliothek: BNF Paris, rés. P. X. 2444; Paris, Bibl. Mazarine, 12934.aa.46 ( S. 274, Anm. 8 ). Sie erwähnt auch eine frühere für Laliseau hergestellte Ausgabe von 1507 ( S. 274, Anm. 7 ): BNF Paris, rés. X. 1544. Diese Angaben konnte ich bisher nicht überprüfen. Zu dem Pariser Buchbinder und Verleger Laliseau ( † 1521 ): Philippe Renouard, Répertoire des imprimeurs Parisiens, Paris 1965, S. 232–233. ISTC im0075500, gedruckt am 10. Januar 1489. Vgl. 63b. In einem 1499 erschienenen Druck über die Silbenmessung notierte der westfälische Humanist Cincinnius handschriftlich einen Tractatus utilis de generibus pedum. Darin verweist er auf das : Pedes metrorum sunt 28 … ut in Fundamento scholarium clare habetur. Zitiert bei Andreas Freiträger, Johannes Cincinnius ( wie Anm. 39 ) S. 71, Anm. 240. Wahrscheinlich stammt die von Cincinnus zitierte Ausgabe des aus der Zeit, als er die Domschule in Münster besuchte, also bevor er im April 1502 an die Universität Köln ging. Ich sehe darin einen Hinweis darauf, dass in den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts die Kerckmeister-Grammatik an der Domschule benutzt wurde.
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tuten und teilweise auch Professoren man übernahm 115. Durch diese engen Kontakte wird Alberti auf den Quentell-Druck aufmerksam geworden sein; vielleicht war auch der Drucker Govert van Ghemen auf das gestoßen, als er aus den Niederlanden nach Kopenhagen ging, um Schule und Universität mit heimischen Drucken auszustatten 116. Durch den Druck von 1493 wurde Kerckmeisters Werk, dessen didaktischen Wert man deutlich hervorhob durch die Hinweise pro levissima institutione und utilissimum et rarum ( oben Nr. 2a ), zur Grundlage des Lateinunterrichts in Dänemark; seine historische Bedeutung würdigte noch im 18. Jahrhundert der gelehrte Bibliothekar Nyerup 117. Der Text wurde mit kleinen Veränderungen und Korrekturen der Druckfehler aus dem Quentell-Druck übernommen. Wohl aus didaktischen und kommerziellen Gründen wurde das Werk in zwei Teilen gedruckt. Von Köln gelangte die Grammatik nur zwei Jahre nach Quentells Druck 1494 nach Hagenau. Die Beziehungen zwischen der Domstadt und dem Gebiet des Oberrheins waren nicht zuletzt wegen der guten Reisemöglichkeiten, die der Fluss bot, von jeher eng 118. In Köln war das so erfolgreich, dass Quentell es 1495, drei Jahre nach seinem ersten Druck, noch einmal auflegte. Im gleichen Jahr 1495 fand die Grammatik ihren Weg nach Deventer, bei den engen wirtschaftlichen und geistigen Verflechtungen zwischen Köln und dem Overijsselgebiet nur natürlich. Offensichtlich hatte man an der berühmten, von dem Humanisten Alexander Hegius geleiteten Schule, die damals auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes stand, schnell die Vorzüge des Werkes erkannt, und auch der Drucker Richard Paffraet versprach sich wohl ein gutes Geschäft. Die Nachfrage am Ort muss in der Tat groß gewesen sein; denn nur zwei Jahre darauf druckte Paffraets Konkurrent Jacob Os von Breda, der sich kurz zuvor in der Stadt niedergelassen hatte, das Werk noch einmal. Weitere drei Jahre später, 1500, also fünf Jahre nach seinem ersten Druck, legte Paffraet eine Neuauflage des vor. Auch zwischen den Universitäten Köln und Leipzig bestanden gute Verbindungen 119; so wird Konrad Kachelofen, wie Quentell in Köln ein bedeutender 115
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Vgl. Erich Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte, 1, Die alte Universität, Köln 1988, S. 177 und 178. Zu Alberti und seinem Drucker Gotfred van Ghemen: Tre latinske Grammatiker ( wie Anm. 109 ) S. 220–224 und 244–246. Erasmus Nyerup, Librorum, qui ante Reformationem in scholis Daniae praelegebantur, notitiae mantissa ex museo Hielmsterniano, Hafniae 1785, S. 11–21. Sein Urteil lautet: Quamvis in his duobus libellis ( gemeint: den beiden Teilbänden des ) non pauca deprehendantur barbariei istorum temporum vestigia …, negari tamen non potest, quin eximiam et egregiam mereatur Petrus Alberti laudem, qui ex istis magnae molis libris … Doctrinali scilicet, Graecismo, Labyrintho, Florista … optima selegit, correxit, in ordinem redegit ( S. 20 ). Das Lob, das er hier Alberti widmet, gilt natürlich Kerckmeister. Nyerup bezeichnet die drei von Alberti herausgegebenen Grammatiken, den und die zwei Bücher des insgesamt als Encyclopaedia grammatica. So fuhr in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre Antonius Liber mit 1500 Grammatiken, die er in der Oberrheingegend verkaufen wollte, stromaufwärts, hörte aber in Koblenz von kriegerischen Unruhen am Oberrhein und änderte seine Reiseroute in Richtung Norden, wie er in einem Brief mitteilt. Antonius Liber, Brief 6,1–2 in: Van Der Laan, Anatomie van een taal ( wie Anm. 104 ) S. 133. Die kriegerischen Auseinandersetzungen sind wahrscheinlich die Kämpfe Karls des Kühnen im Elsass und in der Schweiz 1477. Trifft dies zu, wäre das ein Hinweis auf das Druckdatum der und der , um die es sich bei den Grammatikbüchern wohl handelt. Götz-Rüdiger Tewes, Die Bursen der Kölner Artistenfakultät bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Köln – Weimar – Wien 1993, S. 513–534.
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Schulbuchverleger, Kerckmeisters Werk kennengelernt und gedruckt haben. Den südlichsten Punkt ihrer Verbreitung erreichte Kerckmeisters Grammatik 1499 durch den Druck bei Michael Furter in Basel, der die 1494 in Hagenau erschienene Ausgabe nachdruckte 120. Um die Zusendung des baten 1499 die beiden Söhne des Baseler Druckers Johannes Amerbach, die in Schlettstadt studierten, ihren Vater in einem Brief 121. Wie der Kontakt der Quentellschen Erben zu dem Pariser Verleger Laliseau zustande kam, der Kerckmeisters Text bis in die Hauptstadt Frankreichs brachte, bedarf noch einer näheren Untersuchung. Die Drucke in Paris und Kopenhagen sind sicherlich Sonderfälle; auch in Leipzig blieb es bei einem einzigen Druck. Etwas mehr Gewicht hat die Präsenz des im Elsass und in Basel. Der Kernraum seiner Verbreitung liegt aber eindeutig im Bereich Westfalen, Niederrhein und Overijssel mit den Druckorten Münster, Köln, Deventer und Zwolle. Die volle Bedeutung des wird erst erkennbar, wenn man es im Zusammenhang mit den anderen Schulgrammatiken sieht, die an den jeweiligen Druckorten erschienen, jenen Werken also, mit denen es in Konkurrenz stand. In Köln wurden zwischen 1486, dem Erscheinungsjahr des , und 1500 sieben Grammatiktitel verlegt, die meisten davon in mehreren Auflagen. Fünfmal wurde Wilhelm Zenders’ gedruckt 122. Viermal wurde die erstmalig schon 1483/85 in Köln erschienene des Matthäus Herben neu aufgelegt 123. Jeweils dreimal erschienen Kerckmeisters , der <Modus Latinitatis> von Udalricus Ebrardi 124 und das Wilhelm Zenders zugeschriebene <Exercitium puerorum 120
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Dabei blieb versehentlich an einer Stelle das ursprüngliche Druckjahr der Hagenauer Ausgabe im Text stehen, was zu der fälschlichen Annahme führte, Furter habe schon 1494 in Basel das gedruckt, so J. J. Baebler, Beiträge zu einer Geschichte der lateinischen Grammatik im Mittelalter, Halle a. S. 1885, S. 203 f. Droz, Les de Remigius ( wie Anm. 4 ) S. 274 mit Verweis auf: Alfred Hartmann, Die Amerbachkorrespondenz, 1, Die Briefe aus der Zeit Johann Amerbachs 1481–1513, Basel 1942, S. 95. Der Brief vom 3. Januar 1499 ist ein Neujahrsglückwunsch an die Eltern. Das neben anderen Büchern als Geschenk pro bono anno erbetene kann nicht die Baseler Ausgabe sein, die ja erst im Laufe des Jahres 1499 erschien. Wahrscheinlich ist der Hagenauer Druck von 1494 gemeint. GW 12078–12082; Microfiche des Quentell-Druckes GW 12078: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Unit 29, Grammar I, GR 127. Insgesamt wurde das bis 1500 vierzehnmal gedruckt. Zum ersten Kölner Druck Herbens s. Anm. 105. Die weiteren Drucke aus Köln: GW 12282–12285. Herben war Schüler Niccolò Perottis und später Rektor der Schule der Stiftskirche St. Servatius in Maastricht. Grundlegend: Jozef Ijsewijn, Lo storico e grammatico Matthaeus Herbenus di Maastricht, allievo del Perotti, in: Studi umanistici Piceni 1, 1981, S. 93–121. Herben schrieb auch eine musiktheoretische Schrift: , die er dem Bischof von Worms, Johann von Dalberg, widmete. Teiledition: Herbeni Traiectensis De natura cantus ac miraculis vocis, hg. von Joseph Smits Van Waesberghe ( Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte Heft 12 ) Köln 1957. In Köln wurde auch Herbens Werk ( um 1487 ) gedruckt, dazu: Margarete Meserve, News from Negroponte, in: Renaissance Quartely 59, 2006, S. 440–480. Von Udalricus Ebrardis <Modus Latinitatis> gibt es bis 1500 insgesamt 25 Drucke, fast alle aus dem Süden Deutschlands. Kölner Drucke: GW 9188, GW 9201 und GW 9205. Microfiche: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar I, Unit 29 – GR 29. Es handelt sich nicht um einen vollständigen Lehrgang der Grammatik, sondern um ein deutsch-lateinisches Gesprächsbüchlein mit Anhängen de orthographia, Regulae de arte dicendi, de accentu, nomina numeralia und verba salutationis. Zu Ebrardi: Franz Josef Worstbrock, Art. <Eberhardi ( Ebrardi ), Ulrich>, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 2, 1980, Sp. 287–288.
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grammaticale> 125. Eine Auflage erlebten die Grammatik des John Anwykyll 126, die <Medulla artis Grammaticae sive aureum compendium> 127 und Bernhard Pergers 128. Für Deventer ergibt sich für denselben Zeitraum folgendes Bild: Viermal wurde Zenders’ aufgelegt, dreimal das Kerckmeisters; jeweils einmal erschienen die Grammatik Anwykylls und das <Exercitium puerorum> 129. In Zwolle wurde das nicht gedruckt. Man brachte hier zweimal das heraus und einmal die des Petrus Popon 130. 125
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Das <Exercitium puerorum> wurde insgesamt bis 1500 fünfzehnmal gedruckt. Kölner Drucke: GW 9503, GW 9505 und GW 9508/9509. Microfiche der Ausgabe Köln 1499 ( GW 9505 ): Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar I, Unit 29 – GR 35. Zu Zenders: Franz Josef Worstbrock, Art. , in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 10, 1999, Sp. 1528–1535; über das <Exercitium> und seine originelle didaktische Konzeption als Selbstlerngrammatik ebd., Sp. 1532–1533. Über die deutschen Glossen in dem Werk: Günter Bellmann, Das „Exercitium puerorum grammaticale“ ( 1485–1506 ). Ein Beitrag zur Geschichte der Drucksprache im Südwesten, in: Walter Hoffmann ( Hg. ), Das Frühneuhochdeutsche als sprachgeschichtliche Epoche: Walter Berschin zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main – Berlin u. a., 1999, S. 9–31. Zur historischen Einordnung: Corneille Henri Kneepkens, Dyophysitism in grammaticis, William Zenders: Alexander de Villa Dei and Lorenzo Valla in One Mind, in: Rudolf Suntrup ( Hg. ), Erziehung, Bildung, Bildungsinstitutionen, Münster 2006, S. 131–160; vgl. auch Anm. 237. John Anwykyll, Compendium totius grammaticae ( partes I–I V ), GW 2265. Das Werk wurde zuerst gedruckt in Oxford um 1483; Microfiche: Incunabula ( wie Anm.102 ) Grammar I, Unit 29 – GR 6. Zu Anwykyll: Lotte Hellinga – Joseph Burney Trapp ( Hgg. ) The Cambridge History of the Book in Britain, 3, Cambridge 1998, S. 458 f.; Nicholas Orme, Medieval schools from Roman Britain to Renaissance England, New Haven – London 2006, S. 119 f., S. 147. Anwykyll ( gestorben 1487 ) orientiert sich nach eigenen Worten an der Grammatik des Servius, den <Elegantiae> des Lorenzo Valla und der Grammatik Perottis, eine deutliche Positionsbestimmung im Sinne des Humanismus. Doch: „Its layout was traditional, incorporating questions and answers, mnemonic verses, and illustrative latins, with quotations from medieval authorities …, citing … classical authors like Cicero, Horace, Terence and Virgil, who are mentioned more frequently than medieval writers.“ ( ebd., S. 119 ). GW 11052; Microfiche: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar I, Unit 29 – GR 73. Die Grammatik behandelt aus dem Bereich der Etymologie quattuor accidentia nominis ad idioma latinum plurimum necessaria sowie die Syntax. Sie versucht, ähnlich wie Kerckmeister, die Lehren des an Hand von Beispielen der antiken Schriftsteller zu erläutern: Medulla artis grammatices noviter secundum seriem Alexandri ex dictis et oratorum et poetarum extrema collecta. Die Erwähnung der poetae et auctores deutet auf das humanistische Interesse des Verfassers hin. Von der zum ersten Mal vor 1481 in Venedig gedruckten des Bernardus Perger weist der ISTC 25 Drucke nach, alle aus dem Süden Deutschlands bis auf den Kölner Druck von 1485/87 ( ISTC ip00279300 ); Microfiche Incunabula ( wie Anm. 102 ): Grammar II, Unit 30 – GR 174. Pergers Grammatik ist der Versuch, die des Nicolaus Perottus für den deutschen Sprachraum zu adaptieren. Zu Perger: Franz Josef Worstbrock, Art. , in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 7, 1989, Sp. 404–408. a ) : GW 12084, GW 12085, GW 12089 und GW 12090. Microfiche von GW 12085 ( Richard Paffraet 1491/97 ): Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar II, Unit 30 – GR 199. b ) Anwykyll: GW 2264. Diese Ausgabe ( Richard Paffraet 1489 ) ist mit einer Widmung des Pietro Carmeliano, des Sekretärs König Heinrichs VII. von England, versehen. c ) <Exercitium puerorum>: GW 9498. a )h: GW 12087 und GW 12088; b ) : ISTC ip00935920. Danach erschien Popons Grammatik in dem Zeitraum von etwa 1489–1496 achtmal, vor allem in Leipzig und Nürnberg. Zu dem Würzburger Domschulmeister Petrus Popon: Georg Schepss, Die Gedichte des Mag. Petrus Popon. Ein Beitrag zur fränkischen Gelehrtengeschichte des 16. Jahrhunderts, in: Archiv des Historischen Vereins von Unterfranken und
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Nur eine geringe Bedeutung hatte Kerckmeister am Oberrhein. Hier traten die -Drucke von 1494 und 1499 aus Hagenau und Basel hinter anderen Grammatiken zurück; am erfolgreichsten waren hier das und die von Bernhard Perger 131. Die zwischen 1486 und 1500 erfolgreichsten Werke im Bereich Westfalen – Niederrhein – Overijssel waren also das des Wilhelm Zenders ( elf Drucke, die Hälfte der insgesamt nachgewiesenen Ausgaben ), Kerckmeisters ( sieben Drucke ), Zenders’ <Exercitium puerorum grammaticale> ( vier Drucke ) und Herbens Diasyntactica ( vier Drucke ). Berücksichtigt man dabei, dass das und die nur den Bereich der Syntax umfassen, stehen als vollständige Schulgrammatiken nur das und das <Exercitium puerorum> miteinander in Konkurrenz. In Münster ist das die einzige am Ort gedruckte Grammatik, in Köln erlebt es ebenso viele Drucke wie das <Exercitium puerorum>, in Deventer hat es mehr Auflagen als das Werk Zenders’. In Zwolle schließlich wird keines der beiden Werke gedruckt; das wäre auch nicht sinnvoll, kann man sie doch aus Deventer leicht beziehen. Das Kerckmeister inhaltlich in vielen Punkten nahestehende spielt in unserem Raum keine Rolle ( 1 Druck in Gouda, 18 Drucke in Süd- und Mitteldeutschland ), ebenso wenig fanden hier die an Perotti angelehnten Grammatiken John Anwykylls und Bernhard Pergers Anklang, und selbst die erfolgreichere Grammatik des Perotti-Schülers Herben stand hinter Kerckmeister und Zenders zurück. Greifbar waren die Grammatiklehrbücher der italienischen Humanisten in unserem Raum schon: In Köln und Deventer wurden die Werke des Titus Livius Fruliviensis, des Johannes Sulpicius Verulanus und des Nicolaus Perottus gedruckt 132, aber das Interesse des Publikums lag bis zum Ende des 15. Jahrhunderts eindeutig auf den Titeln der einheimischen Autoren. Auch nach 1500, als die Angriffen der Humanisten auf die traditionelle Grammatik zunahmen, wurde das weiter gedruckt. Quentells Druckerei gab die Grammatik Kerck-
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Aschaffenburg ( später: Mainfränkisches Jahrbuch ) 27, 1884, S. 277–300; Franz Josef Worstbrock, Art. , in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 7, 1989, Sp. 782–785. Zum vgl. Anm. 106. a ) Zu Titus Livius Fruliviensis und dem Kölner Druck seiner vgl. Anm. 104a. b ) Von dem Werk des Johannes Sulpitius Verulanus erschienen zwei Drucke in Deventer, bei Richard Paffraet 1488/89 ( ISTC is00837000 ) und bei Jacobus de Breda ( nach März 1498: ISTC is00841300 ) sowie in Köln bei Johann Koelhoff d. J. um 1495 ( ISTC is0084000 ); Microfiche des Druckes Basel, Johann Amerbach um 1480: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar I, Unit 29 – GR 114. c ) Perottis Grammatik , zuerst erschienen in Rom 1473, wurden überaus oft in Italien und Frankreich gedruckt. In Köln erschienen die um 1485 bei Johann Guldenschaff ( ISTC ip00321200 ). Microfiche der Ausgabe Louvain 1485: Incunabula ( wie Anm. 102 ) Grammar I, Unit 29 – Gr 85. Zu Perotti: Franz Josef Worstbrock, Niccolò Perottis . Über Konzeption und Methode einer humanistischen Grammatik, in: Ax ( Hg. ) Von Eleganz und Barbarei ( wie Anm. 44 ) S. 59–78; W. Keith Percival, Studies in Renaissance Grammar ( Variorum collected studies series 774 ) Aldershot 2004, darin drei Aufsätze zu Perotti: VIII. „The Place of the Rudimenta grammatices in the History of Latin Grammar“ ( zuerst 1981 ); IX: „Early Editions of Niccolò Perotti’s Rudimenta grammatices“ ( zuerst 1986 ); X: „The Influence of Perotti’s Rudimenta in the Cinquecento“ ( zuerst 1989 ); Ders., Editing Niccolò Perotti’s Rudimenta grammatices, Sassoferrato Paper 1996, Internet: http://people.ku.edu/~percival/Sassoferrato1996.html.
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meisters neben der seines Nachfolgers und scharfen Kritikers Timan Kemner und gleichzeitig mit der humanistischen Grammatik Perottis heraus 133. Kerckmeisters didaktische Leistung wurde noch in der Ausgabe von 1505 ( oben Nr. 11 ) ausdrücklich gewürdigt: perstringens ordinatissimo contextu omnes fere regulas ad grammaticam breviter assequendam necessarias. Dass zwei Kölner Drucker im Jahre 1505 gleichzeitig das veröffentlichten, ist ein deutlicher Beweis für seine Beliebtheit, ebenso die sechs Drucke zwischen 1500 und 1508 insgesamt. Das Ende des ersten Jahrzehnts des 16. Jahrhundert zeigt dann aber einen deutlichen Umbruch: Im nordwestdeutschen Raum erscheint der letzte Druck des 1506 in Deventer, im gleichen Jahr, als auch Zenders’ <Exercitium puerorum> zum letzten Mal, zeitgleich in vier Städten ( Mainz, Köln, Straßburg und Hagenau ), aufgelegt wird 134. IV. BIOGRAPHISCHES
1. Johannes Kerckmeister Johannes Kerckmeister entstammt nach eigenen Worten einer münsterischen Bürgerfamilie: natu civis Monasteriensis 135. Sein Geburtsdatum lässt sich nur aus der Matrikel der Universität Köln erschließen. Dort steht unter dem 8. Mai 1466: Johannes Kyrkmeyster de Monasterio iuravit et solvit 136. Die Eidesleistung lässt erkennen, dass er rechtsfähig, also mindestens vierzehn Jahre alt war, wahrscheinlich älter, sechzehn bis siebzehn Jahre, wenn man das Durchschnittsalter bei Eintritt in die Artistenfakultät der Kölner Universität zu Grunde legt 137. Demnach wurde er um 1450 geboren. Dass er die Gebühr für die Immatrikulation zahlte, zeigt, dass er aus nicht unbemitteltem Hause kam. Der Familienname Kerckmeister erscheint in der urkundlichen Überlieferung Münsters erstmals 1394. Johannes Steinbicker genannt Kerckmeister ( I. ) tritt als Bürge bei einem Rentenverkauf auf und führt ein Siegel mit der Umschrift S’ Iohannis Steinbicker 138. Die Kerckmeister sind also ein Zweig einer der Familien Steinbicker, die im 15. Jahrhundert in Münster nachweisbar sind. 1420 wird Johannes Steinbicker genannt Kerckmeister als Bewohner eines Hauses auf der Ägidiistraße erwähnt 139. Sein Sohn ist wohl Magister Johannes dictus Kericmester ( II. ), der bis um die Mitte des 15. Jahr-
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Zu Kemners Werken s. Abschnitt VII; zur Perotti-Ausgabe von 1501: Grammatica Nicolai Perotti, cum additionibus regularum et metricae artis Guarini Veronensis …, Coloniae, Henricus Quentell, 1501 lucente vigilia Penthecostes, mit einem Vorwort des Paulus Malleolus; Digitalisat des Münchener Digitalisierungszentrums: [ http://diglib.hab.de/inkunabeln/21–3-gram-5/start.htm ]. Bellmann, Das „Exercitium puerorum grammaticale“ ( wie Anm. 125 ) S. 30. Kolophon des . Die Matrikel der Universität Köln, bearbeitet von Hermann Keussen, 1, 1389–1475, Bonn, 21928, M 309,31. Das gelegentlich genannte Immatrikulationsdatum 31. Mai ist falsch. Der Irrtum ist wohl dadurch zu erklären, dass Kerckmeister in der Liste der im Frühjahr 1466 Immatrikulierten unter der laufenden Nummer 31 verzeichnet ist. Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte, 1, ( wie Anm. 115 ) S. 116. Wilhelm Kohl, Urkundenregesten und Einkünfteregister des Aegidii-Klosters, in: Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster NF 3, Münster 1966, Nr. 206. Münsterisches Urkundenbuch, Teil I, 1. Halbband 1176–1444, bearbeitet von Joseph Prinz, Münster 1960, Nr. 466, 1420 Januar 7.
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hunderts in einem Haus in der Pfarrei St. Lamberti wohnte 140. Ob „Magister“ hier ein akademischer Titel ist oder einen Handwerksmeister bezeichnet, ist nicht auszumachen. Johannes (II.) ist identisch mit jenem Johannes Kerckmeister, der unter den 75 cives et incolae der Stadt Münster erscheint, die in der Münsterischen Stiftsfehde am 16. August 1451 von Bischof Walram von Moers interdiziert wurden 141. Sein Sohn ist mit großer Wahrscheinlichkeit der spätere Domschulrektor Johannes Kerckmeister (III.). Als Stammfamilie der Kerckmeister können wohl die Steinbicker angesehen werden, die zwischen 1426 und 1496 in einem Haus auf der Hollenbecker Straße in der Pfarrei Überwasser nachzuweisen sind und bei denen die Vornamen Johannes und Mertin üblich sind. 1426 wird Mertin Steinbicker (I.) als Hausbesitzer genannt 142. Mertins Nachbar Melis urkundet 1394 zusammen mit Johannes Kerckmeister genannt Steinbicker (I.) 143, ein Hinweis auf räumliche und familiäre Verbindungen. Wahrscheinlich ist Mertin ein Bruder des Johannes Steinbicker genannt Kerckmeister (I.). Mertins Söhne Mertin (II.) und Johannes (II.) wurden 1436 bzw.1447 in Köln immatrikuliert 144. Johannes Steinbicker, also wahrscheinlich ein Vetter des Domschulrektors Johannes Kerckmeister, ist im Juli 1450 als Kleriker und rector scholarium ad Sanctum Martinum Zeuge bei der Protestation der Stadt Münster gegen die Bischofsernennung des Walram von Moers durch den Papst 145. Im Jahre 1494 wird Johann Steinbicker (III.), wohnhaft zwischen den Häusern des Johann von Vreden und des Melis, genannt 146. Er ist wohl identisch mit dem 1481 erwähnten Pergamentmacher Johannes Steinbicker 147. Kerckmeisters Kindheit fällt in die Zeit der Münsterischen Stiftsfehde, eines für Stadt und Stift in jeder Hinsicht verheerenden Bürgerkrieges, vor allem auch durch die Einmischung fremder Territorialherren. Die Auseinandersetzung entstand 1450 nach dem Tod des Bischofs Heinrich von Moers durch die Doppelwahl eines Nachfolgers und endete im Herbst 1457, als der vom Papst ernannte neue Bischof Johann von Bayern in Münster einziehen konnte. Um diese Zeit begann der junge Kerckmeister seine Schulausbildung in Münster, das allmählich die inneren Spaltungen der Stiftsfehde überwand und sich aus seiner politischen und wirtschaftlichen Isolierung löste. Als junger Student bezog Kerckmeister Anfang Mai 1466 die kleinste der vier Kölner Bursen, die Bursa Kuckana auf dem Eigelstein 148. Regent dieser Burse war der Theologieprofessor Johannes Aqua de Berka. Ein Jahr später, 1467, bestand Kerckmeister sein Baccalaureatsexamen: ein zügiges Studium, das auf gute Vorbildung schließen lässt; die Regeldauer bis zur determinatio betrug zwei Jahre 149. Sein Mentor und Prüfer war der regierende Professor der Bursa Kuckana, Cornelius de Breda. Die140
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Ebd., Nr. 375, 123. Der Name Kericmester ist Mitte des 15. Jahrhunderts aus dem Einkünfteregister gestrichen worden. Joseph Hansen, Westfalen und Rheinland im 15. Jahrhundert, 2, Die Münsterische Stiftsfehde, Leipzig 1890, Nr. 105, S. 176, Z. 6. Münsterisches Urkundenbuch ( wie Anm. 139 ) Nr. 504, 1423 Dezember 21. Wie Anm. 139. Die Matrikel der Universität Köln ( wie Anm. 136 ) M 191,30 ( 1436c ) und M 235,2 ( 1447c ). Hansen, Stiftsfehde ( wie Anm. 141 ) Nr. 26, S. 39, Z. 16. Stadtarchiv Münster, Regestenkartei Joseph Prinz. Norbert Krumbholtz, Gewerbe der Stadt Münster bis zum Jahre 1661, Leipzig 1898: Das „Rote Buch“ ( 1565 ), Nr. 66, S. 24 f. Tewes, Bursen ( wie Anm. 119 ) S. 259. Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte ( wie Anm. 115 ) S. 112.
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ser war auch sein Betreuer und Examinator beim Magisterexamen, das er am 9. 4. 1470 bestand 150. Seine Vertrautheit mit Köln und dem dortigen Universitätsleben zeigt Kerckmeister in seiner Komödie . Er identifiziert sich mit den übermütigen und spitzzüngigen Studenten, die in der Auseinandersetzung mit dem alten Schulmeister Codrus, dem Repräsentanten des traditionellen Unterrichts, leidenschaftlich die Ideen des Humanismus vertreten, so wie er sie wohl selbst in Köln kennengelernt hat. Dass nämlich die Universität Köln der neuen Bewegung keineswegs so feindlich gegenüberstand wie es später etwa Konrad Celtis behauptete, der etwa zehn Jahre nach Kerckmeister ebenfalls die Bursa Kuckana besuchte 151, und wie es auch die <Epistulae obscurorum virorum> mit beißender Ironie zum Ausdruck brachten, haben die neueren Forschungen zur Kölner Universitätsgeschichte gezeigt 152. Etwa zu der Zeit, als Kerckmeister in Köln studierte, kam der Humanist Antonius Liber, ein Freund Rudolfs von Langen, in die Stadt, um hier im Auftrag seines Vorgesetzten, des Rektors der Pfarrschule von Groningen, Humanistenbriefe als Unterrichtslektüre zu sammeln. In sein zwischen 1475 und 1479 gedrucktes <Epistolarum familiarium compendium> konnte Liber in der Tat zahlreiche Texte italienischer Humanisten aufnehmen, die er in Köln vorfand 153. Ein Blick auf die kölnischen Drucke der Zeit zwischen 1460 und 1485 zeigt, dass neben der philosophischen und theologischen Literatur auch Werke vertreten sind, die von Humanisten gern gelesen wurden. Vergil, Cicero, Terenz und Ovid wurden früh in Köln gedruckt, dazu programmatische Schriften des italienischen Humanismus: Leonardo Brunis , Enea Silvio Piccolominis und Lorenzo Vallas <Elegantiae> 154. Für die Zeit zwischen 1470 und 1485 haben wir keine Nachricht über Kerckmeister. Vielleicht hat er im Anschluss an seine Magisterpromotion Lehrveranstaltungen in der Artistenfakultät abgehalten, das in den Statuten vorgeschriebene Biennium. Denkbar ist auch, dass er an eine andere Universität wechselte oder eine Lehrerstelle annahm. Auf jeden Fall muss er in dieser Zeit Priester geworden sein; denn sonst hätte er nicht das Rektorenamt der Domschule übernehmen können; seine Vorgänger und 150
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Tewes, Bursen ( wie Anm. 119 ) zu Kerckmeister S. 716; zu Johannes Aqua de Bercka und Cornelius de Breda s. Register. Celtis wurde am 14. 10. 1478 immatrikuliert; seine Ode 3, 21 stammt von 1513; vgl. Tewes, Bursen ( wie Anm. 119 ) S. 682; Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte ( wie Anm. 115 ) S. 226. Tewes, Bursen ( wie Anm. 119 ) S. 665–805; Meuthen, Kölner Universiätsgeschichte ( wie Anm. 115 ) S. 203–262. Zum Humanismus in Köln auch: Hermann Keussen, Die alte Universität Köln, Köln 1934, S. 183–197; Justus Hashagen, Hauptrichtungen des rheinischen Humanismus, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 106, 1922, S. 1–56. Zu Antonius Libers humanistischen Werken vgl. Anm. 103 und 104. Ernst Voulliéme, Der Buchdruck Kölns bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, Düsseldorf 1978 ( ND der Ausgabe Bonn 1903 ): Cicero c. 1469 ( Nr. 325 ); c. 1472 ( Nr. 326 ); c. 1474 ( Nr. 327 ); c. 1470 ( Nr. 329 ); c. 1470 ( Nr. 330 ); c. 1478 ( Nr. 332 ); c. 1465 ( Nr. 334 ); c. 1474 ( Nr. 335 ); <Paradoxa> c. 1467 ( Nr. 336 ); c. 1473 ( Nr. 337 ); Ovid c. 1474 ( Nr. 876 ); Terenz c. 1475 ( Nr. 1125 ); Vergil <Bucolica> c. 1470 ( Nr. 1204 ); <Moretum> c. 1472 ( Nr. 1208 ); Bruni c. 1470 ( Nr. 290 ); Augustinus Datus c. 1470 ( Nr. 361 ); c. 1470 ( Nr. 362 ); c. 1470 ( Nr. 363; der Ausgabe sind Guarinos beigegeben ); c. 1480 ( Nr. 364 ); Valla c. 1482 ( Nr. 1199 ); c. 1487 ( Nr. 1200 ).
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Nachfolger waren alle Priester 155. Die Weihe kann er frühestens mit 25 Jahren, also um 1475 empfangen haben. Zwar wird Kerckmeister erst 1485 als Rektor erwähnt, doch muss er dieses Amt schon früher übernommen haben. Wenn er sich als studio et ingenio praeclarus homo bezeichnet 156, als Mann von Bildung, besonderen geistigen Fähigkeiten und hohem Ansehen, kann dies kein unbegründetes Eigenlob sein; dadurch hätte er sich ja nur lächerlich gemacht. Um aber eine entsprechende Wertschätzung und Anerkennung zu erwerben, bedarf es sicherlich einer gewissen Zeit. Kerckmeisters Amt war jedenfalls bedeutend. Als Domschulrektor leitete er nicht nur die wichtigste Schule des Bistums, sondern er prüfte auch zusammen mit dem Dom-Succentor die Kandidaten für die Priesterweihe 157. Seine besondere gesellschaftliche Stellung geht auch daraus hervor, dass er Mitglied des Domkalands war. Dieser vornehmsten Bruderschaft in Stadt und Stift gehörten damals fast ausschließlich Domherren und Mitglieder des Domklerus an. Auch wurden erhebliche finanzielle Mittel vorausgesetzt. Bei der Aufnahme war eine Eintrittszahlung fällig; nach dem Tod eines Mitgliedes erhielt die Bruderschaft aus seiner Hinterlassenschaft ein nicht unbeträchtliches Kapital 158. Alles deutet darauf hin, dass Kerckmeister in der Zeit zwischen 1475 und etwa 1480 in sein Amt berufen wurde. Der damals für die Einstellung des Rektors zuständige Scholaster war Otto Korff, der von 1458 bis 1484 amtierte 159. Der Scholaster handelte im Einvernehmen mit dem Domkapitel, dem auch der Propst des Stiftes Alter Dom angehörte. Dieser hatte an der Stellenbesetzung ein besonderes Interesse, weil das organisatorisch wie räumlich eng mit dem Kapitel verflochtene Stift keine eigene Schule unterhielt, sondern seine jungen Kanoniker in die Domschule schickte. Seit 1462 war Rudolf von Langen Propst des Stiftes Alter Dom, und die Berufung Kerckmeisters muss mit seinem ausdrücklichen Einverständnis erfolgt sein 160. In der modernen Edition des Kalandsbuches, die auf eine Anfang des 18. Jahrhunderts angefertigte Abschrift zurückgeht, erscheint der Domschulrektor unter der 155
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Der letzte vor Kerckmeister bekannte Domschulrektor ist der Domvikar Hermann Schwienhorst, genannt Grove: Wilhelm Kohl, Das Domstift St. Paulus zu Münster, 3 ( Germania Sacra NF 17,3 ) Berlin – New York 1989, S. 97. Da Schwienhorst 1451 noch jung war ( immatrikuliert 1443 in Erfurt ), kann er durchaus bis zu Kerckmeisters Amtsantritt das Rektorenamt ausgeübt haben. Kerckmeisters Nachfolger Timan Kemner war Priester, ab etwa 1521 Pfarrer an St. Lamberti ( vgl. Anm. 162 ). Auch dessen Nachfolger Johannes von Elen war Geistlicher ( vgl Anm. 215 ). Der einzige weltliche Rektor der schola Paulina war Hermann von Kerssenbrock ( 1550–1574 ). Zur Domschule allgemein: Wilhelm Kohl, Das Domstift St. Paulus zu Münster, 1 ( Germania Sacra NF 17,1 ) Berlin – New York 1987, S. 488–499. Der Rektor wurde „mit Vorliebe aus dem sich schnell entfaltenden Gremium der Domvikare ausgewählt“ ( S. 492 ). Ferner Wilhelm Kohl, Das Bistum Münster. Die Diözese, 2 ( Germania Sacra NF 37,2 ) Berlin – New York 2002, S. 135–137; S. 145–147. Kolophon des . Rudolf Schulze, Das Gymnasium Paulinum zu Münster 797–1947, Münster 1948, S. 33. Theodor Helmert, Der Große Kaland am Dom zu Münster im 14. bis 16. Jahrhundert, Diss. Münster 1979; Josef Alfers, Der Große Kaland am Dom zu Münster, Münster 2002; Kohl, Die Diözese, 2 ( wie Anm. 155 ) S. 126 f. Wilhelm Kohl, Das Domstift St. Paulus zu Münster, 2 ( Germania Sacra NF 17,2 ) Berlin – New York 1982, S. 121–122. Zur engen Verbindung zwischen Domstift und Stift : Klaus Scholz, Das Stift Alter Dom St. Pauli ( Germania Sacra NF 33 ) Berlin – New York 1995, S. 127–130; zum Amt des Scholasters S. 127 f. Rudolf von Langen als Propst: S. 239–240.
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Nummer 73 161. Bis um 1600 richtete sich die Reihenfolge der Einträge prinzipiell nach dem Todesjahr (später nach dem des Eintritts). Bei Kerckmeister fehlt aber ein Datum. Dieses lässt sich auch nicht aus den Angaben über die unmittelbar vor und nach ihm Eingetragenen gewinnen; denn der uns vorliegende Text des Bruderschaftsbuches enthält längst nicht alle Mitglieder, außerdem halten die Einträge auch nicht immer eine exakte Reihenfolge ein. So lässt sich für Kerckmeister nur ein Sterbedatum in den neunziger Jahren erschließen. Ein Terminus ante quem ergibt sich aus dem Amtsantritt des nächsten uns bekannten Rektors Timan Kemner. Dieser wurde, wie er in einem aus dem Jahre 1521 stammenden Brief schreibt, 1500 von dem Scholaster Wennemar von der Horst in sein Amt berufen 162. In dieser Angabe liegt aber ein Widerspruch; denn von der Horst amtierte von 1494 bis 1498; der 1500 tätige Scholaster war Johann Valcke ( Amtszeit 1498–1510 ) 163. Nun hat Kemner 1521 schon den fünften Scholaster in seiner Dienstzeit erlebt, und er blickt beinahe ein Vierteljahrhundert zurück. Da liegt ein Irrtum oder ein großzügiger Umgang mit Namen und Daten nahe; im allgemeinen aber erinnert man sich sehr wohl an den Namen dessen, dem man die Berufung in ein bedeutendes Amt verdankt. Die Nennung des Wennemar von der Horst trifft wahrscheinlich zu; auf 1500 wird Kemner datieren, weil dies eine eingängige und symbolträchtige Jahresangabe war: Die Einführung des Humanismus an der Domschule, die man mit seinem Namen verband 164, passt als Neuanfang gut zum Beginn eines neuen Jahrhunderts und einer neuen Jahrtausendhälfte. Der Schulleiterwechsel am Ende der Amtsperiode des Wennemar von der Horst stimmt überein mit den Angaben Hermann Hamelmanns in seiner von 1580, der die Suche nach einem neuen Rektor in die Zeit zwischen dem Tod des Bischofs Heinrich von Schwarzburg und dem Amtsantritt Konrads von Rietberg einerseits und dem Tod des Alexander Hegius in Deventer andererseits verlegt, der Kemner als Nachfolger vorgeschlagen haben soll. Heinrich von Schwarzburg starb am 24. 12. 1496; die Wahl Konrads von Rietberg wurde am 28. April 1497 vom Papst bestätigt; Hegius starb am 27. 12. 1498 165. Berücksichtigt man, dass die Anstellungsverträge einige Zeit vor 161 162
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Helmert, Der Große Kaland ( wie Anm. 158 ) S. 245. In dem Brief an den Erzbischof von Riga, den Kemner seinem 1521 bei Peter Quentell in Köln gedruckten Compendium naturalis philosophie als Widmung voranstellt, heißt es: Anno millesimo quingentesimo, antistes amplissime, Monasterii Westphaliae apud divi Pauli claram illam iuventam ut bonis artibus atque moribus instruerem, a clarissimo viro Do. Wennemaro Horsteo, Metropolis Scholastico dignissimo, sum acceptus. Vgl. Aloys Bömer, Der münsterische Domschulrektor Timann Kemner. Ein Lebensbild aus der Humanistenzeit, in: Zeitschrift für vaterländische Altertumskunde ( jetzt: Westfälische Zeitschrift ) 53, 1895, S. 182–244; das Zitat S. 231. Zu Kemner: Franz Josef Worstbrock, Art. , in: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon 1, 2008, Sp. 1265–1282. Wennemar von der Horst wird zuletzt als Scholaster erwähnt am 14. Januar 1498; Johannes Valcke erstmalig 1498 ( ohne genaues Datum ) genannt: Kohl, Das Domstift St. Paulus, 2 ( wie Anm. 159 ) S. 184–185. Vgl. Teil VII. Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke, hg. von Heinrich Detmer, 1, Schriften zur niedersächsisch-westfälischen Gelehrtengeschichte, Heft 1–4, Münster 1902/1908, S. 110–112. Die Glaubwürdigkeit Hamelmanns in den Details ist oft zu Recht bezweifelt worden, doch klingen die oben gemachten Angaben plausibel. Die Datierung 1497/1498 steht im Widerspruch zu dem allgemein angenommenen Datum 1500, vgl. Dietrich Reichling, Die Reform der Domschule zu Münster im Jahre 1500, Berlin 1900 (= Texte und Forschungen zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in den Ländern deutscher Zunge 2). Für die frühere Datierung spricht sich aus Freiträger, Cincinnius (wie Anm. 114) S. 63 f.
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Beginn des neuen Schuljahres ( in Münster zu Ostern ) abgeschlossen wurden 166, kann Kemner durchaus 1497 berufen worden sein und 1498 sein Amt angetreten haben. Kerckmeister müsste dann spätestens 1497 gestorben sein. 2. Johannes Limburg Als 1485 Iohannes Limburgus, Aquensis ortu, arte impressoria conspicuus in Münster seine Druckerei eröffnete 167, geschah dies sicher nicht ohne Absprache mit denen, für die er wenig später arbeite, dem Domkapitel, Rudolf von Langen und Kerckmeister, der auch als Korrektor in Limburgs Offizin tätig war 168. Vielleicht besteht eine Verbindung zu dem einflussreichen Kanoniker des Martini-Stiftes Petrus Gymnich aus Aachen 169. Wo der aus Aachen stammende Limburg sein Handwerk gelernt hat, ist unbekannt, doch wäre Köln der naheliegende Ort. Einen Hinweis könnte auch die Herkunft seiner Drucktypen geben, die denen des Bartholomaeus Gothan in Lübeck und Magdeburg nahe stehen 170. Für die Stadt war die Offizin ein großer Gewinn; ein Epigramm Rudolf von Langens, das Limburgs Kunst mit der des Apelles, Polyklet und Lysippos vergleicht, zeigt, wie sehr man Limburgs Tätigkeit schätzte 171. Kerckmeisters Einkommen wurde durch seine beiden bei Limburg gedruckten Werke nicht unwesentlich aufgestockt; denn dass ein Schulleiter seine eigenen Lehrbücher für den Unterricht schrieb, zu deren Kauf die Eltern verpflichtet waren, war gängige Praxis. Für Limburg aber waren die Verhältnisse in Münster wohl doch nicht einträglich genug: Insgesamt lassen sich ihm nur sieben Werke zuweisen, und seine Druckerei bestand nur kurze Zeit; der letzter Druck stammt aus der Zeit von Ende 1488/Anfang 1489 172. Danach verschwindet er aus dem Blickfeld. Auf finanzielle Probleme deutet die Tatsache hin, dass Limburg für seine Drucke einfaches Papier wählte und sich für
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So war es bei dem Domschulrektor Hermann von Kerssenbrock: Sein Dienstvertrag wurde am 25. Oktober 1549 abgeschlossen, sein Amt sollte er up negstkommenden Paeschen, also Ostern 1550, antreten: Hermanni a Kerssenbroch Anabaptistici furoris Monasterium inclitam Westphaliae metropolim evertentis historica narratio, hg. von Heinrich Detmer, Münster 1899/1900, Einleitung, S. 15*. Kolophon des . Teil I, Abschnitt 2. Zu Petrus Gymnich s. Anm. 216. Zu den damals in Münster lebenden Familien Limberg ( Limborg ) oder van Aken lässt sich keine Verbindung nachweisen. Vielleicht lohnt es sich, den Einträgen im Registrum Poenitentiariae Germanicum, Band VI, Tübingen 2005, Nr. 3924 und 3961 nachzugehen, die einem Johannes Limburg gelten: Joh. Limborch scol ( aris ) col ( oniensis ) dioec( esis ) de defectu natalium: preb( yter ) / sol( uta ) de disp( ensatione ) i( n ) prima forma 1472. Der Student aus dem Erzbistum Köln bittet um Dispens wegen seiner unehelichen Geburt ( Sohn eines Priesters und einer unverheirateten Frau ), die ein Hindernis für die Priesterweihe darstellt. Ernst Crous, Der Buchdruck Münsters ( wie Anm. 2 ) S. 7 f.; Ders., Münster i. W. und der Wiegendruck, in: Wiegendrucke und Handschriften. Festgabe Konrad Haebler zum 60. Geburtstage, dargebracht von Isak Collijn u. a., Leipzig 1919, S. 107–121, hier S. 121. Am Ende der des Rudolf von Langen und der <Statuta Provincialia>, Haller, Der Buchdruck in Münster ( wie Anm. 9 ) Nr. 3 und 7: Tinxerat hec formis, sculptores arte Johannes Limburgus superans; nec, Polyclete, negas. Hoc sibi Pellei iuvenis tribuisset Apelles Pictor, et ex auro qui dedit ora ducis. Haller, Der Buchdruck in Münster ( wie Anm. 9 ) Nr. 1; Crous, Der Buchdruck Münsters ( wie Anm. 9 ) S. 13.
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einen Band unterschiedliche Papiersorten zusammensuchen musste; offensichtlich konnte er sich keine größeren Vorräte leisten 173. Geringe Auflagen und knappes Kapital, auch fehlendes Bürgerrecht, stellten damals die Existenz vieler Drucker in Frage 174. V. DAS GEISTIGE LEBEN IN MÜNSTER IN DER 2. HÄLFTE DES 15. JAHRHUNDERTS
Kerckmeisters Bild gewinnt deutlichere Konturen, wenn man ihn auf dem Hintergrund des geistigen Lebens in Münster betrachtet, das in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts durch die Bewegung der Devotio moderna und den aufkommenden Humanismus eine Blütezeit erlebte. Als Kerckmeister heranwuchs, war eine der interessantesten Persönlichkeiten der Domherr H e i n r i c h v o n K e p p e l ( ca. 1400– 1476 ). Fast fünfundzwanzig Jahre war er Offizial des Bischofs Heinrich von Moers, celeberrimus decretorum doctor, ein Titel, den er in Bologna erworben hatte. Als persönlicher Vertreter des Bischofs nahm er von 1432–1436 am Konzil von Basel teil, wo er unter anderem in leitender Stellung am Konzilsgerichtshof tätig war. In Münster amtierte er zeitweilig auch als Domscholaster und war in der Stiftsfehde Führer der Minderheit des Domkapitels, die den von der Stadt Münster favorisierten Bischofskandidaten unterstützte. Als Freund der Devotio Moderna und specialis fautor des Fraterhauses auf dem Honekamp vermachte er den Brüdern vom Gemeinsamen Leben 1476 seine große Bibliothek. Er war selbst ein fruchtbarer Autor, Verfasser von asketischen und erbaulichen Schriften und von zwei Abhandlungen zu Fragen von Unterricht und Bildung 175. Sein 1451 in Münster geschriebener zeigt am Beispiel von Nomen und Verb einen Weg, Lernanfänger mit Hilfe der Muttersprache in die Lehre von den octo partes einzuführen. Die grammatischen Termini, die Erklärung der Formen und die immer beigefügten Beispielwörter und -sätze formuliert er durchgehend lateinisch und niederdeutsch. So will er die Schüler celeriter faciliterque ad fundamentalem aliquam cognitionem et intelligentiam des Lateinischen führen. Gerade die Grundlagen müssten sorgfältig erarbeitet werden: Cum autem a rudioribus grammaticae initiis … tibi declinandum fore putaveris, cavebis summopere, ne adeo te vanus maturet appetitus, ut stomacho tuo ante tempus ablactato non conferat cibus ille … . Immoretur itaque vehementerque inhereat grammatice competentibus annorum curriculis cupida illius pueritia adolescentiaque tua. Das Bemühen um das rechte Verständnis des Lateinischen solle ein 173 174
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Crous, Der Buchdruck Münsters ( wie Anm. 2 ) S. 12. Vgl. Ferdinand Geldner, Bildungsstand und ursprünglicher Beruf der deutschen Buchdrucker im 15. Jahrhundert, in: Hellmut Lehmann-Haupt ( Hg. ), Homage to a bookman. Essays on manuscripts, books and printing written for Hans P. Kraus on his 60th birthday, Berlin 1967, S. 117–131, bes. S. 117 und S. 120. Zu Keppels Laufbahn: Kohl, Das Domstift St. Paulus, 2 ( wie Anm. 159 ) S. 181 f.; Ders., Das Bistum Münster. Die Diözese, 4 ( Germania Sacra NF 37,4 ) Berlin – New York 2004, S. 104 f. Zu Keppels Leben und Werk: Ulrich Töns, Tractatulus dans modum teutonisandi casus atque tempora ( 1451 ), in: Günter Lassalle, 1200 Jahre Paulinum in Münster, Münster 1997, S. 646–658; Ulrich Töns, Tractatulus „De bucolicis Vergilii“, ebd., S. 658–669; Ders., Zwei Handschriften finden ihren Autor. Zum Geistesleben im spätmittelalterlichen Münster, in: Kirchliches Buch- und Bibliothekswesen. Jahrbuch 3, 2002 ( Erscheinunggsjahr 2003 ), S. 109–131: Ders., Leben und Werk des münsterischen Domherrn Heinrich von Keppel ( ca. 1400–1476 ), in: Niederdeutsches Wort 44, 2004, S. 45–76.
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Leben lang andauern: Du schalt alletyd dyne grammattikenboker by dy beholden, unde sunderliken einen guden gecorrigerden Donatum, einen guden correctum Alexandrum unde einen guden correctum vocabularium. Keppel begründet seine didaktisch-methodischen Bemühungen mit den mangelhaften Lateinkenntnissen vor allem der Deutschen: maxime nostre germanice nationis; in his presertim partibus … . Men vint vele baccularios, magistros, licentiatos unde doctores in allen faculteten, de in eren sermocioneren unde dicteren mennich adverbia, mennige conjunctie, mennige prepositie bruken, de sy nicht to rechte vorstaen. In dieser Kritik und in der Forderung nach einer Reform des Lateinunterrichts spürt man schon den Einfluss des Humanismus. Dass Keppel die neue Bewegung aber keineswegs unkritisch sieht, zeigt sein kleiner Text von 1463. Er bezeichnet die vergilischen Eklogen geradezu als Werk des Teufels. Da sie Liebeslieder von verführerischem Reiz seien, lenkten sie die Leser zu sehr von Gott ab; lieber solle man das Hohelied Salomons studieren, das die Liebe Gottes zu seinem Volk besinge. Die Hirtengedichte Vergils seien nichts anderes als eine Nachahmung und Pervertierung des biblischen Textes, das canticum canticorum diaboli. Umso schlimmer, dass die Lehrer manchmal den Schülern diese Werke sogar durch Vorsingen nahe zu bringen versuchten. Damit ergreift Keppel Partei in dem „Streit um die Dichter“, der durch die humanistische Forderung ausgelöst wurde, die antiken poetae et oratores in den Mittelpunkt der Bildung und des Sprachunterrichts zu stellen, und weist auf die Grenzen der Dichterlektüre hin. Indem er aber vor allem die idyllischen und erotischen Züge der Eklogen hervorhebt und von der traditionellen Auslegung im allegorischen Sinne absieht, mit der sich doch das Anstößige leicht hätte weginterpretieren lassen, zeigt er unbewusst schon eine neue Empfänglichkeit für das, was er kritisiert. Eine weitere bedeutende Persönlichkeit im Bistum Münster war der Domdechant H e r m a n n v o n L a n g e n ( ca. 1415–1484 ), der sein vorgeschriebenes transalpines Studienjahr in Pavia verbracht hatte und dort mit dem Humanismus in Berührung gekommen war 176. Seinem Neffen Rudolf von Langen war er Vorbild und Förderer, und dieser dankte ihm in seinen Schriften und rühmte ihn wegen seiner Verdienste in der Politik als patrie decus 177. In der Stiftsfehde stand Hermann von Langen als Domdechant auf Seiten des vom Papst ernannten Walram von Moers. Auch nach 1457 war er ein einflussreicher Ratgeber der neuen Bischöfe Johann von Bayern und Heinrich von Schwarzburg. Hermann von Langen, den man sogar als den eigentlichen Begründer des münsterischen Humanismus bezeichnet hat, besaß eine bedeutende Bibliothek, die er später verschiedenen Häusern der Devotio Moderna vermachte 178; 176
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Zur Biographie: Kohl, Das Domstift St. Paulus, 2 ( wie Anm. 159 ) S. 119–120; zum Studium in Pavia: Agostino Sottili, Zone di reclutamento dell’Universtà di Pavia nel Quattrocento, in: Annali di Storia Pavese 28, 2000, S. 31–56; hier S. 31, Anm. 2: „forse il vero iniziatore della riforma umanistica a Münster ed ispiratore di Hegius“. Vorrede vom 23. März 1476 zu seinem Werk , Deventer ( Richard Paffraet ) ( vor 1483 ); , Facsimile-Druck der Ausgabe von 1486 mit Übersetzung, Münster 1991, f. 29r, V.5: patrie decus und f. 29v. Erhaltene Manuskripte Hermann von Langens: Rainerus Pisanus, Pantheologia, geschrieben 1472, Geschenk für das Kreuzherrenkloster Osterberg ( jetzt UB Groningen ), vgl. Karl Hengst ( Hg. ) Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung
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er fungierte auch als Protector des Franziskanerordens. Wie bei Keppel verbinden sich auch bei ihm Bildungsstreben und Frömmigkeit. Wichtig für den geistigen Austausch mit dem italienischen Humanismus waren die engen Verbindungen zwischen Münster und der päpstlichen Kurie in Rom. Davon geben die Bände des Repertorium Germanicum, die in lokal- und regionalgeschichtlicher Hinsicht noch intensiver auszuwerten sind, zahlreiche Beispiele. Nur zwei Männer aus diesem Umfeld seien hier genannt, die aus münsterischer Bürgersfamilie stammenden Brüder H e r m a n n und J o h a n n e s H o r n s e n . Johannes war päpstlicher Sekretär, Bibliothekar und Schreiber; einige von seiner Hand stammenden Manuskripte sind erhalten geblieben. Auch als Procurator für seine Landsleute war er tätig. 1471 kehrte er wieder nach Münster zurück. Auf seinen Tod schrieb Rudolf Agricola ein Trauergedicht 179. Herrmann war doctor decretorum, Kämmerer und Familiar des Kardinals Giacomo Tebaldi, des Erzbischofs von Neapel. Auch Hermann kam wieder in die Vaterstadt zurück 180. In Münster verbrachten die Brüder ihre Altersjahre, mit Pfründen wohl dotiert. Auch der seit 1457 amtierende Bischof J o h a n n v o n Bayern, ein Wittelsbacher aus der Linie Pfalz-Simmern, war ein gebildeter und frommer Mann. In seiner von Pius II. ausgestellten Ernennungsurkunde wird die litterarum scientia des damals Neun-
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bis zur Aufhebung, 3 Teile, Münster 1992/2003, 2, Art. , S. 174, 3.4.2; Terenz, geschrieben in Pavia 1440, München, clm 10718: Agostino Sottili, Università e cultura. Studi sui rapporti italotedeschi nell’età dell’Umanesimo, Goldbach 1993, S. 357; Stundenbuch, Staatsarchiv Münster ( Altertumsverein ); Eusebii Historia ecclesiastica … et partes S. Thome de Aquino, geschrieben 1468, vgl. Kohl, Das Domstift St. Paulus, 1( wie Anm. 155 ) S. 112; Westfälisches Klosterbuch 1, Art. , S. 65: „Im Jahre 1484 schenkte Hermann von Langen ca. 70 Bücher, die 1647 wohl fast alle vernichtet wurden“. Kohl, Das Domstift St. Paulus, 3 ( wie Anm. 155 ) S. 113 f.: familiaris des päpstlichen Kämmerers und verschiedener Kardinäle, magister in artibus, 1459 familiaris pape et librarius, qui scribendo pape ad presens servit et servivit; Procurator an der Kurie; verschiedene Benefizien, zum Beispiel Kanonikate am Alten Dom und an St. Martini Münster; Scholz, Das Stift Alter Dom ( wie Anm. 160 ) S. 391 f. Johannes Hornsen geht 1471 in die Heimat zurück ( Repertorium Germanicum 9, Tübingen 2000, Nr. 3251, S. 490 f., hier: S. 491, Sp. b, 4. Mai 1471: ad patriam suam cum 2 fam[ iliaribus ] sive soc[ iis ] intendens ), auch Johannes Monasteriensis genannt. Von ihm geschriebenen Manuskripte: Zwei Vergilhandschriften: Francesco Della Corte ( Hg. ), Enciclopedia Virgiliana 3, Rom 1987, Art. <Medioevo>, S. 434 Nr. 108: Bucolica, Georgica, Aeneis; S. 435, Nr. 201: Aeneis. Handschriften im Vatikan: José Ruysschaert, Miniaturistes romains sous Pie II, in: Enea Silvio Piccolomini. Papa Pio II. Atti del Convegno per il Quinto centenario della morte e altri scritti raccolti da Domenico Maffei, Siena 1968, S. 245–282 mit Tafeln. Dort S. 253, Anm. 44: Herodot; ferner Tafeln 1 und 9; Alfred A. Strnad, Studia piccolominea, ebd., S. 295–390: S. 316: Cicero; S. 317: Historien des Diodorus Siculus; S. 322: Enea Silvio Piccolomini, Historia Boemica; S. 328 Laktanz. Die Gedichte Agricolas: Pieter Schoonbeeg, Agricola alter Maro, in: Fokke Akkerman – Arie Johan Vanderjagt, Rodolphus Agricola Phrisius, 1444–1485. Proceedings of the international conference at the University of Groningen, 28–30 October 1985 ( Brill’s studies in intellectual history 6 ) Leiden 1988, S. 189–199, S. 190. Es heißt dort unter anderem: Noverat urbs animi vim, vix iam noverat orbis; Consilium fuit hic pontificisque fides. Pastor at hic posuit commisso pro grege vitam. Tu quoque pro tanto, plebs, duce funde preces. Kohl, Das Domstift St. Paulus, 3 ( wie Anm. 155 ) S. 108–109; Wilhelm Kohl, Das Kollegiatstift St. Mauritz vor Münster ( Germania Sacra NF 47 ), Berlin – New York 2006, S. 354; dort auch seine Kanonikate an St. Mauritz und St. Ludgeri Münster.
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undzwanzigjährigen hervorgehoben 181. Johann hatte in Pavia studiert und dort Albrecht von Eyb kennengelernt, der dem Freund 1459 die Druckausgabe seiner Margarita poetica widmete, jener bekannten umfangreichen Sammlung humanistischer Texte. Seine kirchlichen Aufgaben nahm der Bischof sehr ernst. Sorgfältig bereitete er sich auf seine Weihe vor und zelebrierte selbst regelmäßig die Messe, was die Zeitgenossen mit Erstaunen wahrnahmen. Er war ein Förderer der Devotio Moderna, des Franziskanerordens und der Augustiner-Eremiten 182. Seit Anfang der sechziger Jahre trat R u d o l f v o n L a n g e n in das Licht der Öffentlichkeit 183. Schon im Frühjahr 1465, als er sich in politischer Mission am Hof des Herzogs von Kleve aufhielt und an den Gesprächen des dortigen Humanistenkreises teilnahm, wurde er als orator gerühmt und dem Herzog als Historiker empfohlen 184. Als Vertreter des Domkapitels reiste er 1466 mit einer münsterisch-klevischen Delegation nach Rom, um die Bischofsernennung Heinrichs von Schwarzburg in die Wege zu leiten. Anfang 1469 hielt er sich im Kloster Adwerth bei Groningen auf, im friesischen Teil der Diözese Münster, wo sich Humanisten aus den „Niederen Landen“ zu Gesprächen zu treffen pflegten, Kontakte, die auch später nie abrissen und zu einem kontinuierlichen Austausch von Ideen zwischen Groningen, Deventer, Zwolle, Emmerich, Wesel, Köln und Münster führten. Aus dieser Zeit stammen fünf Briefe an Antonius Liber und Lubbert Zedeler, in denen Langen begeistert für das neue Bildungsideal eintritt, Texte, die zu den umfangreichsten gehören, die uns aus der frühen Zeit des Humanismus in Deutschland überliefert sind 185, und die neben den Briefen Enea Silvio Piccolominis und der programmatischen Humanismus-Rede Peter Luders in Heidelberg aus dem Jahre 1458 durchaus ihren Platz behaupten. In seinem Brief an Lubbert Zedeler nennt Langen als höchstes Bildungs- und Lebensziel ein durch das Studium der antiken Literatur geformtes tugendhaftes Leben, das zum persönlichen Glück führt und zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dient: litterarum studia et virtutum precepta complecti; patriam illustrare et vitam beatam consequi. Den Weg dazu soll die Ethik weisen; besonders empfiehlt er die Lektüre der libri de virtutibus des Aristoteles und Ciceros, den er als magnum … bene vivendi magistrum … tam altum et pene divinum in bene vivendi preceptis bezeichnet. Er vereine die bildende Kraft der Gedanken mit einer klaren, eleganten und schönen Sprache: Quam copiose et eleganter et vere de omni virtute precepit, in quibus nescias, an maior dicendi elegantia an de virtute divinor sit preceptio. Zustimmend zitiert er Ciceros Definition der vollkommenen Philosophie: que de optimis maximisque rebus cum ornatu et gravitate dicere possit. Nur wer einen Sinn für Sprache 181 182
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Hansen, Stiftsfehde ( wie Anm. 141 ) S. 562. Wilhelm Kohl, Das Bistum Münster. Die Diözese, 3 ( Germania Sacra NF 37,3 ) Berlin – New York 2003, S. 491–501. Kohl, Das Domstift St. Paulus, 2 ( wie Anm. 159 ) S. 569 f.; Scholz, Das Stift Alter Dom ( wie Anm. 160 ) S. 239–240; Franz Josef Worstbrock, Art. , in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 5, 1984, Sp. 590–598. , in: Schriften des Arnold Heymeric, hg. von Friedrich Wilhelm Oediger, Bonn 1939, S. 59. Rodolphi Langii Monasteriensis epistolae familiares, in: Van Der Laan, Anatomie van een taal ( wie Anm. 104 ) S. 75–119. Die Seiten 75–79 kommen in der Internet-Ausgabe doppelt vor; auch die Seitenangaben des Inhaltsverzeichnisses stimmen mit der Paginierung nicht überein. In gedruckter Form liegen Langens Briefe vor in der Ausgabe von Wilhelm Crecelius, Epistulae Rudolfi Langii sex, Gymnasium zu Elberfeld, Bericht über die Schuljahre 1874/5 und 1875/6, Elberfeld 1876.
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und Stil habe, könne die Schönheit und die wahre Bedeutung der antiken Texte erkennen. Unter anderem am Beispiel der Kirchenväter zeigt er, was jenen entgehe, die nur Sinn für die Inhalte, nicht aber für die sprachliche Gestaltung hätten: Iacet clausus ante eos magnus Hieronimus nec sillogismis eorum cedit. Ab Aurelii Augustini civitate, quam Dei et dyaboli construit, arcentur … Cyprianum, Lactantium ceterasque innumeras fidei et religionis columpnas attingere non possunt significandi modis 186. Ähnlich heißt es in einem Brief an Antonius Liber 187: Nesciunt insani, nesciunt, quantas doctrina vires habeat. … Quot divi Hieronimi sentencias, quibus ut stellis Christiana splendet religio, dum ineruditi tractare volunt, incognitas valere sinunt? Quid? Firmianus Lactantius omnium Christianorum proculdubio eloquentissimus, numquid eis patet? Ille sane, qui sapit ambrosiam dicendo, Ambrosius, quam illis incognitus, quam non intellectus. Vor allem wendet sich Langen gegen die Vorherrschaft der Dialektik und der scholastischen Philosophie. Zwar habe er sich selbst damit beschäftigt (Sunt sane res non indigne, in quas et ego nonnumquam diligentiam contuli), doch warnt er: nimium dyalecticis illis inhereas aut exquisite nimis vestre philosophie operam impendeas. Er nennt die Dialektik vanas disputatiunculas, quibus superabunde et plus quam satis est in scolis perstrepunt garriuntque, und er tadelt die ineptiae der an den modi significandi ausgerichteten Grammatik 188. Er verurteilt die „barbarische Sprache“ des Mittelalters und kritisiert deshalb auch die alte, in Deutschland noch gebräuchliche ( qua adhuc Alemania nostra utitur ) Aristoteles-Übersetzung: o quam sententiarum involucris plena, quam barbara, quam inlatina. Dagegen stellt er die neue humanistische Version des Leonardo Bruni, die er als fidelis, elegans, plana lobt. Derselbe Gegensatz zeigt sich, wenn er einen Lehrer alter Schule als nescio quid barbarum frendens bezeichnet und zu Männern wie ihm einen scharfen Trennungsstrich zieht: Sed eos cum suis ineptiis rabulas relinquemus, nos interea dulcissimis Musis studebimus earum dulci contubernio perfruemus 189. Langens Einsatz für die neue Bildung wurde von Rudolf Agricola begeistert aufgenommen. Ein Jahr nach den Adwerth-Briefen schrieb er 1470 seinem Freund und Studiengefährten nach Münster: tue ad me doctrine summeque eruditionis laudes perferuntur; veterem illam et vere ingenuam eruditionem excitare in hac presertim barbarie asserereque audes. Man solle sich ganz von der Vorherrschaft der alten Bildung befreien: vindicemusque et ab ignominia, que nos barbaros indoctosque et elingues fecit. Dann werde man in Deutschland sogar das Mutterland des Humanismus selbst übertreffen. Er sieht vor sich tam doctam atque litteratam Germaniam nostram, ut non Latinius vel ipsum sit Latium. Wenn auch die Mehrheit noch am Alten hänge, der Kampf müsse gewagt werden: Quamvis magnam indoctorum manum aude contemnere … Nihil te multitudo moverit. … Provocandi sunt hostes isti litterarum et in faciem coarguendi 190. Um dieses Programm zu verwirklichen, sammelte Langen seit den siebziger Jahren zahlreiche geistig aufgeschlossene Männer der Stadt um sich. In seinen 1486 186
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Van Der Laan, Langii epistolae ( wie Anm. 185 ) Brief 6, 8; 13–15; zu Langens Brief an Zedeler: Ulrich Töns, Humanistisches Bildungsideal, in: Lassalle ( Hg. ), 1200 Jahre Paulinum ( wie Anm. 175 ) S. 378–386. Langii epistolae ( wie Anm. 185 ) Brief 5, 5–7. Ebd., Brief 6, 10–11. Ebd., Brief 3,11 ( nescio quid ) und Brief 5,14 ( sed eos ). Rudolph Agricola, Letters, edited and translated, with notes by Adrie van der Laan and Fokke Akkerman, Tempe ( AZ ) 2002, Brief 3, S. 68–70.
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erschienen Gedichten erwähnt er einige von ihnen 191. Weiteres über die Dichter und Intellektuellen der Stadt überliefern die Gedichte von Langens Neffen Hermann Buschius, die dieser nach seiner Rückkehr aus Rom bis zum Jahre 1494 schrieb und später bei Paffraet in Deventer drucken ließ 192. Ein Lobgedicht auf Rudolf von Langen enthält Namen und Kurzcharakteristiken von neun weiteren Dichtern; einigen seiner Freunde widmet Buschius Einzelgedichte. An dieses Werk knüpft der Dichterkatalog des Johannes Murmellius an, der kurz nach 1500 Lehrer an der Domschule wurde 193. Seine 1507 veröffentlichten <Elegie morales> enthalten einen weiteren Dichterkatalog sowie verschiedene Einzelgedichte auf seine humanistischen Freunde in Münster 194. Diese Zeugnisse stellte schon im 16. Jahrhundert Hermann Hamelmann zusammen, um daraus ein Bild des münsterischen Humanismus zu entwerfen 195. An dieser Stelle sollen nur jene Persönlichkeiten erwähnt werden, deren Wirken in Kerckmeisters Lebenszeit fällt. Die Charakteristik dieser Männer ist natürlich geprägt durch die Topoi des humanistischen Dichterlobes und rhetorische Überhöhung; es zeigt sich aber dort, wo man die Aussagen an Hand anderer Quellen überprüfen kann, dass Leben und geistiger Zuschnitt der dargestellten Persönlichkeiten durchaus individuell erfasst werden 196. Zu den Freunden Langens aus der älteren Generation gehörte K o n r a d P o l m a n n ; mit einem seiner Söhne hatte Langen in Erfurt studiert 197. Mit der Anrede: venerande et inclyte civitatis Monasteriensis prothonotarius seu secretarius ( von 1440 bis etwa 1473 ) widmet Langen ihm ein Gedicht, das Polmann als vir doctus et prestantissimus be-
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Vgl. Anm. 177. Hermanni Buschii Monasteriensis Carmina ( GW 5797 ). Das Werk ist noch nicht ediert; benutzt wird hier das Exemplar der ULB Münster, Inc. 617. Die teilweise fehlende Foliierung ergänze ich ( Zählung in Klammern ). Die jüngsten Ereignisse, die in den Gedichten erwähnt werden, beziehen sich nach meinen Erkenntnissen auf das Jahr 1494. Zu Leben und Werk des Buschius: Wilhelm Kühlmann, Art. <Buschius, Hermann>, in: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon 1, 2008, S. 304–336. Der Dichterkatalog der „Münsterode“ in: Hermann Büscher, Das Lobgedicht des Johannes Murmellius auf die Stadt Münster und ihren Gelehrtenkreis. In der ursprünglichen Fassung erstmalig übersetzt und erläutert, in: Westfälische Zeitschrift 111, 1961, S. 51–74. Aloys Bömer, Des Münsterischen Humanisten Johannes Murmellius Elegiarum moralium libri quattuor, in einem Neudruck herausgegeben, Münster 1893, Elegie III, 1. Zu Leben und Werk des Murmellius: Dietrich Reichling, Johannes Murmellius. Sein Leben und seine Werke, Freiburg i. Breisgau 1880; Wilhelm Kühlmann, Art. <Murmellius, Johannes> in: Walter Killy ( Hg. ), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Gütersloh – München 1990, S. 301 f.; Tewes, Bursen ( wie Anm. 119 ) S. 699 f. Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke ( wie Anm. 165 ). Die Meinung, die Äußerungen des Murmellius über Münster als eine „Hochburg der Intellektuellen“ seien als Ausdruck „humanistischer Ruhmredigkeit“ nicht allzu ernst zu nehmen, und die Bemühungen Langens und seines Kreises sollten von der münsterischen Lokalforschung nicht länger überschätzt werden, kann ich nicht teilen (Volker Honemann, Lateinisch-deutsches Konversationstraining im Jahre 1513. Die Pappa puerorum des Joh. Murmellius, in: Rudolf Suntrup u. a. [ Hgg. ], Erziehung, Bildung, Bildungsinstitutionen, Frankfurt am Main – Berlin usw. 2006, S. 55–129, hier S. 56 ). Hermannus Polman de Monasterio: Immatrikulation 1457, Bakkalaureat Frühjahr 1459; Rudolf von Langen: Immatrikulation 1456, Bakkalaureat Frühjahr (in quadragesima ) 1458, vgl. Rainer Schwinges – Klaus Wriedt, Die Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt 1392–1521, Jena – Stuttgart 1995, 127,1 ( Langen ) und 129,5 ( Polman ).
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zeichnet und seine singularis humanitas betont 198. Sicherlich zählte zu Langens Bekannten auch J o h a n n e s Ve g h e ( 1430/1435–1504 ), seit 1475 Rektor des Fraterhauses, ein frommer und gelehrter Mann, der sich nicht nur durch seine niederdeutschen Predigten, sondern wohl auch durch lateinische Gedichte auszeichnete 199. Im Fraterhaus lebte bis 1480 einer der Freunde Rudolf von Langens aus dem Kreis von Adwerth, F r i e d r i c h M o r m a n . Agricola schätzte ihn als Humanisten und guten Lehrer, dem er seinen jungen Stiefbruder zur Erziehung anvertraute 200. Gedichte Mormans haben sich erhalten, darunter ein Langen gewidmetes aus dem Jahre 1477 201. Als der Fraterherr 1482 starb, schrieb Langen eine bewegte Totenklage: Er rühmte Mormans magna virtus, das sacrum ingenium des iuvenis doctus, pries ihn als surgentem ad ardua virtutis vatem und lobte seine dichterischen Fähigkeiten, seine ciceronianische Beredsamkeit und seinen religiösen Eifer. Das Gedicht endet mit dem Gedanken einer Dichterkrönung im Himmel 202. Auch Langens Reisebegleiter bei der diplomatischen Mission nach Rom 1466, Rudolf von R i j s w i j k , hielt sich seit Ende der sechziger Jahre bis 1485 in Münster auf, wo er als Kanzler des Bischofs Heinrich von Schwarzburg tätig war; danach diente er in derselben Funktion dem Herzog von Kleve 203. Er war Doktor beider Rechte, Professor an der Universität Köln von 1462–1491, wurde 1475 von Kaiser Friedrich III. zum Hofpfalzgrafen ernannt und war Inhaber zahlreicher Pfründen 204. Langens Haus auf dem Horsteberg hinter dem Alten Dom, das er seit 1480 bewohnte 205, war mit seiner großen Bibliothek und seinem Garten ein gastlicher Ort, an 198
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Langen, Carmina ( wie Anm. 177 ) f. 9r. Zu Konrad Polmann: Günter Aders, Das verschollene Bürgerbuch der Stadt Münster ( 1350–1531 ), in: Westfälische Zeitschrift 110, 1960, S. 29–96, Nr. 360 ( Amtsantritt 1440, März 23 ); Nr. 432 ( Erwähnung des Nachfolgers Johannes Kakesbeck 1474, Januar 21 ). Buschius über Veghe: Dichterkatalog ( wie Anm.192 ) Distichon 42, f. ( eV )v: Nec te preteream, Vegi; tua vivida virtus Assit, et admoto pollice ducta chelis. Veghe ist auch das Buschius-Gedicht gewidmet, Carmina ( wie Anm. 192 ) f. ( eIX )v; Murmellius über Veghe: „Münsterode“ ( wie Anm. 193 ) Strophe 21. Zu Leben und Werk: Dietrich Schmidtke, Art. , in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 10, 1999, Sp. 190–199; Norbert Nagel, Der münsterische Fraterherr Johannes Veghe d. J., in: Rudolf Suntrup – Jan R. Veenstraa ( Hgg. ), Stadt, Kanzlei und Kultur der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main u. a. 2004, S. 133–187. Agricola, Letters ( wie Anm. 190 ) Brief 21 an Hegius, S. 126, Z 4–10. Edition der Gedichte: Pieter Schoonbeeg, Friderici Mauri carmina, edition with commentary, in: Fokke Akkerman u. a. ( Hgg. ), Wessel Gansfort and Northern Humanism, Leiden – New York – Köln 1993, S. 329–386. Zu Morman: Franz Josef Worstbrock, Art. <Morman( n )>, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 6, 1987, Sp. 700–702. Rodolphi Langii Carmina ( wie Anm. 177 ) f. 22r. 1466: Eintragung ( gemeinsam mit Rudolf von Langen ) im , abgedruckt bei Detmer, Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke ( wie Anm. 165 ) S. 579,4; als Kanzler des Bischofs von Münster zum Beispiel: Hansen, Stiftsfehde ( wie Anm. 141 ) 1470 Oktober 4, S. 556; Kohl, Die Diözese ( wie Anm. 175 ) 4, S. 178; Kanzler in Kleve und Propst der dortigen Stiftskirche: Kurt Schottmüller, Die Organisation der Centralverwaltung in Kleve-Mark vor der brandenburgischen Besitzergreifung im Jahre 1609, Leipzig 1897, S. 43. Professur: Meuthen, Kölner Universitätsgeschichte ( wie Anm. 115 ) S. 134; Ernennung zum Hofpfalzgrafen: Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Landesarchiv Kleve-Mark, Urkunde 1532, 1475 März 7. Rodolphi Langii Carmina ( wie Anm. 177 ) f. 9r: ex meis edibus novis, 8. Juli 1480.
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dem sich viele, Gleichaltrige wie Jüngere, zu freundschaftlichem Gespräch, geistigem Austausch und Studium trafen. Langens Neffe H e r m a n n B u s c h i u s erinnerte sich während seines Studienaufenthaltes in Italien mit Sehnsucht an diesen Musenort 206. Auch J o h a n n e s M u r m e l l i u s , seit 1501 Lehrer an der Domschule, konnte Langens Gastfreundschaft und wissenschaftliche Förderung nicht genug rühmen 207. „Praesidium doctis, pauperibusque salus“ heißt es auch in dem Epigramm auf seinem Epitaph, das im Domkreuzgang erhalten ist. Ebenfalls zu Langens Kreis gehörte der 1446 geborenen Bürgersohn L u b b e r t Z e d e l e r , an den er einen der oben genannten programmatischen Humanismusbriefe von 1469 richtete und dessen Schul- und Universitätslaufbahn er aufmerksam verfolgte. Als Zedeler, später Professor des Bürgerlichen Rechts und Rektor der Universitär Rostock, 1485 starb, widmete Langen ihm einen Nachruf und pries seine Vorzüge: ingenium, mores, virtus, erudita lingua und dichterische Kunst 208. Als Freund bezeichnete Langen den Kleriker J o h a n n e s L i s t i g h e , ebenfalls aus einer angesehenen Familie der Stadt. Listighe reiste mehrmals in amtlichem Auftrag nach Rom, und Langen gab dem jungen Mann, der sein Mitkanoniker am Stift Alter Dom war, insgesamt drei Gedichte mit auf den Weg. Später wurde Listighe Vikar in St. Lamberti in Münster und Dechant in Dülmen 209. Bisher nicht zu identifizieren ist der von Langen hoch gerühmte J o h a n n e s v o n Te l g t e , sein compatriota. Dem früh Verstorbenen widmete er 1486 zwei Trauergedichte. Johannes, so heißt es dort, habe ihn im Dichterwettstreit mit Leichtigkeit übertroffen und so den Lorbeer verdient, nach dem sie beide gestrebt hätten. Johannes erhalte nun im Himmel den Dichterkranz 210. Ein weiterer Freund und Schützling Langens war der 1453 in Münster geborene B e r n h a r d Te g e d e r . Mit Kerckmeister etwa eines Alters, schrieb er sich im November 1471 an der Universität Köln ein und bezog ebenfalls die Bursa Kuckana. Er determinierte im Dezember 1472, wurde im Mai 1475 Magister und nach Ableistung seines Bienniums 1477 in die Fakultät rezipiert. Im Dezember 1483 erhielt das Amt des Stiftsscholasters an St. Mauritz. Langen rühmte ihn 1486 in zwei Gedichten als doctum et valentissimum iuvenem magistrum. Buschius charakterisierte den candidus Tegederus als einen fernab von der Menge in ländlicher Einsamkeit lebenden, doch von allen bewunderten Dichter und Gelehrten:
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: Buschius, Carmina, ( wie Anm. 192 ) f. ( b IV ) r/v, abgedruckt bei Detmer, Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke ( wie Anm. 165 ) S. 79 ff., hier: S. 83. Jedes der vier Bücher der <Elegiae morales> leitet er mit einem Langen gewidmetem Gedicht ein. In dem Langen-Lob der Münster-Ode ( wie Anm. 193 ) Strophe 27 heißt es: Unus est doctorum hominumque patronus, Unus et vero referens Apollo. Rodolphi Langii Carmina ( wie Anm. 177 ) f.17v–18r; f. 24r/v; auch Morman schrieb an Zedeler in den siebziger Jahren ein Gedicht: Carmina ( wie Anm. 201 ) VI, S. 336; zur Biographie Zedelers: Adolph Hofmeister, Die Matrikel der Universität Rostock, 1, Rostock 1889, S. 136; 142; 150; Schoonbeeg ( wie Anm. 201 ) Kommentar zu carmen VI, S. 359–361; Töns, Humanistisches Bildungsideal ( wie Anm. 136 ) S. 379–381. Rodolphi Langii Carmina ( wie Anm. 177 ) f. 7v–8v; 8v; 16r–17v; 23v. Zur Biographie: Scholz, Das Stift Alter Dom ( wie Anm. 160 ) S. 399; Tätigkeit an der Rota: Nikolaus Hilling, Römische Rotaprozesse aus den sächsischen Bistümern von 1464–1513, 2. Die Diözese Münster, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 95, 1915, S. 201–265, hier: S. 203; S. 212; S. 214 f. Rodolphi Langii Carmina ( wie Anm. 177 ) f. 20v–21r.
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Ipse suburbanis studiis te rure dicasti; teque iuvant Clarii flava theatra Dei. Compositus Latii vel cantas carmen Homeri Immensumque versas vel Ciceronis opus. Seinen Söhnen soll Tegeder eine splendida bibliotheca hinterlassen haben 211. Tegeder hatte eine besondere Beziehung zu den münsterischen Fraterherren 212. Aus alter Bürgerfamilie stammt J o h a n n e s G r o v e ( ca. 1455–1502 ), ebenfalls ein Alters- und Studiengenosse Kerckmeisters. Er wurde im Mai 1471 in Köln immatrikuliert, wohnte gleichfalls in der Kuckana, determinierte im Juni 1472 und inzipierte im April 1474. Er war ludi magister der Stiftsschule von St. Mauritz. Sein Freund Buschius rühmte ihn um 1494 als Dichter und Philosophen: Tu requietus amas libros: et murmura vulgi Contemnens vatum plectra lyramque colis … Er habe Rudolf von Langen bei seiner Arbeit unterstützt ( tibi dum curae cessant Langique labores ) und auch mit Rudolf Agricola in Verbindung gestanden. Murmellius nennt ihn bonarum artium professor clarissimus und Liebhaber Vergils: Andinas solitus tractare Camenas 213. Einflussreich war der seit 1485 als secretarius episcopi und Kanzler des Bischofs amtierende Magister J o h a n n e s v o n E l e n , später als trium episcoporum cancellarius bezeichnet, Stiftsherr an St. Ludgeri und St. Martini. Er hatte in Köln die Rechte studiert ( nach Murmellius legum et iustitiarum decus ) und war ein Förderer der Gelehrten: doctus, Maecenas omnium doctorum. Buschius rühmt ihn auch als Dichter: Cuius amant doctos numina nostra sonos.
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Ebd., f 23r/v; Buschius, Carmina ( wie Anm. 192 ) Dichterkatalog Disticha 39–40, f. ( e VI )r; Ders., <Magistro Bernardo Tegedero scholastico Mauriciano edes suas et suburbium laudat> ( e VIII )r/v; Murmellius, Münsterode ( wie Anm. 193 ) Strophen 30–31; Murmellius, Elegien ( wie Anm. 194 ) III, 1, V. 30 f. Johannes Butzbach in seinem Auctarium über Tegeder: Carl Krafft – Wilhelm Crecelius, Beiträge zur Geschichte des Humanismus am Niederrhein und in Westfalen, Erstes Heft, Elberfeld 1870, Nr. 49, S. 63. Zur Biographie: Tewes, Bursen ( wie Anm. 119 ) S. 715 f. Kohl, Das Kollegiatstift St. Mauritz ( wie Anm. 180 ) S. 356–358. Die Bemerkung zur Bibliothek stammt von Petrus Aquensis: Detmer, Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke ( wie Anm. 165 ) S. 358, Anm. 3. Heinrich August Erhard, Gedächtnisbuch des Frater-Hauses zu Münster, in: Zeitschrift für vaterländische Altertumskunde 6, 1843, S. 89–126, hier S. 118 f. Mitarbeiter Langens: Buschius, Carmina ( wie Anm. 192 ) Dichterkatalog Distichon 44, f. ( eV )v; Buschius f. ( e IX )v – f X r; Murmellius, Münsterode ( wie Anm. 193 ) Strophe 46; Murmellius Elegien ( wie Anm. 194 ) III, 6: ; zur Biographie: Kohl, Das Domstift St. Paulus ( wie Anm. 155 ) 3, S. 145 f.; Tewes, Bursen ( wie Anm. 119 ) S. 717; Verbindung zu Agricola: Henricus Eduardus Josephus Maria van der Velden, Rodolphus Agricola ( Roelof Huusman ). Een Nederlandsch Humanist der vijftiende eeuw, Leiden 1911, S. 46.
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Von Elen war ein besonderer Freund der Devotio moderna 214. Sein Sohn Johannes wurde Nachfolger Timan Kemners als Rektor an der Domschule 215. Kanoniker in St. Martini war auch P e t r u s G y m n i c h aus Aachen. Er hatte die Schule des Alexander Hegius in Deventer besucht und schrieb sich im April 1485 an der Universität Heidelberg ein. Er rühmte sich, dort noch Rudolf Agricola gehört zu haben. Zu einem zweiten Studium, dem der Rechtswissenschaft, ging er als dominus Petrus Aquensis 1498 nach Köln. Buschius widmete ihm ein Wintergedicht mit dem Thema des . Murmellius bezeichnete ihn als Liebhaber der Wissenschaft und der Philosophie, zugleich rühmte man ihn als frommen Priester und bedeutenden Mathematiker 216. Stiftsherr mit humanistischen Neigungen war auch J o h a n n M o d e r s o n , wohl ein wenig älter als Kerckmeisters. Moderson hielt sich 1466 in Rom auf, um sich als armer Kleriker um eine Pfründe zu bemühen; nach besten Resultaten in der Prüfung erhielt er die Anwartschaft auf ein durch das Kapitel ( wahrscheinlich das Domkapitel ) in Münster zu vergebendes Benefizium; er soll Kanonikus an St. Ludgeri gewesen sein. Murmellius rühmt in seiner Münsterode die bukolische Dichtung des Moderson und preist ihn als Dichter, für den Apoll den Lorbeer bereithält 217. Jünger als Kerckmeister war der gelehrte H e i n r i c h M o r l a g e , Kanoniker an St. Martini, der eine so umfangreiche Büchersammlung besaß, dass die Sakristei der Kirche sie kaum fassen konnte. Morlage wird 1499 zuerst urkundlich erwähnt, war
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Buschius, Carmina ( wie Anm. 192 ) Dichterkatalog Distichon 43, f. ( eV )v; <Magistro Joanni Elio Cancellario silvam suam commendat>, f. ( e VII )r; ein späteres Lob des Buschius im Panegyricus auf Bischof Erich von Sachsen-Lauenburg, abgedruckt bei Detmer, Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke ( wie Anm. 165 ) S. 153, Anm. 3; Murmellius, Münsterode ( wie Anm. 193 ) Strophen 35–36; Elegien III,1, V. 81/82: doctus Mecenas omnium doctorum. Weitere Gedichte auf ihn schrieben Jacobus Montanus in seinen : Detmer, Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke ( wie Anm. 165 ) S. 282 f., und Antonius Tunnicius ( 1513 ), abgedruckt bei Detmer, ebd., S. 506. Zur Biographie: Kohl, Die Diözese, 4 ( wie Anm. 175 ) S. 189; Erhard ( wie Anm. 212 ) S. 119: summi amici nostri. Als Nachfolger Timan Kemners Rektor seit 1521/23 bis 1549: Kohl, Die Diözese ( wie Anm. 175 ) 2, S. 147; Ders., Das Domstift St. Paulus, 1 ( wie Anm. 155 ) S. 494 und S. 498. Evert von Elen, der andere Sohn des Kanzlers, folgte seinem Vater im Amt nach. Everts Testament bei Wilhelm Eberhard Schwarz, Das Testament des Kanzlers Everhard v. Elen, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 77, 1919, S. 136–141. Buschius, Carmina ( wie Anm. 192 ) Dichterkatalog Distichon 45, f. ( eV )v; , f. e IXr/v; Murmellius Münsterode ( wie Anm. 193 ) Strophen 37–38; Elegien III,1, V. 87 f.; IV,13 und IV, 14; Butzbach Auctarium, hg. von Kraft-Crecelius ( wie Anm. 211 ) Nr. 39, S. 53, Nr. 39: homo multarum scientiarum peritus, Platonice discipline et maxime librorum Augustini et Hieronymi studiosissimus, perspicacis admodum ingenii et uberrima preditus facundia. Zur Biographie: Paul L. Butzer und Rainer Wald, Auf den Spuren dreier um 1510 in Münster/Westfalen wirkender rheinischer Mathematiker, mit einer Übersetzung und Kommentierung aus Gymnichs Vorrede zu Kemners „Compendium“ von Hans Adam, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein 189, 1986, S. 65–96, hier S. 77–96. In der Vorrede zu Kemners von 1513 bezeichnet Gymnich Alexander Hegius als seinen und Kemners gemeinsamen Lehrer und sagt, er habe, als er in Heidelberg studierte, Agricola dort erlebt. Murmellius, Münsterode ( wie Anm. 193 ) Strophe 45; Elegien III,1, V. 85 f.; IV,12. Zur Biographie: Repertorium Germanicum V, Paul II. 1464–1471, Tübingen 2000, Nr. 3446, 1466: pauper clericus, pres( ens ) in cur( ia ), „bene per omnia, sit primus“; Anwartschaft auf eine durch das Kapitel in Münster zu vergebende Pfründe. Zum Kanonikat in St. Ludgeri: Detmer, Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke ( wie Anm. 165 ) S. 112.
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aber wohl seit Anfang der neunziger Jahre in Münster 218. Um diese Zeit muss auch D e g e n h a r d W i t t e de Coesfeldia in die Stadt gekommen sein. Buschius widmete ihm, der für einige Jahre ludi magister an der Stiftschule von St. Ludgeri war, ein Gedicht, in dem er den offenbar sehr ernsthaften Mann auffordert, es doch nicht für unter seiner Würde zu halten, bukolisch zu dichten. Witte, wohl Ende der sechziger Jahre geboren, studierte in Köln, wo er in der Bursa Laurentiana wohnte, und determinierte 1485. Er war Magister artium und wurde später noch Doktor des Kirchenrechts. Seit 1504 stand er als Kanzler im Dienst der Erzbischöfe von Köln 219. Unbekannt sind bisher geblieben die beiden von Buschius gerühmten Dichter C h r i s t i a n von Reval und L a m b e r t u s a gelida aqua ( Kaltwasser? ) 220. Viele dieser Männer waren Stiftskanoniker, einige hatten leitende Aufgaben in der Diözese, nicht wenige stammten aus Honoratiorenfamilien der Stadt. Sie pflegten ihre humanistischen Neigungen in einem otium cum dignitate; viele waren durch persönliche Freundschaft und geistigen Austausch miteinander und mit Rudolf von Langen und seinem Neffen Hermann Buschius verbunden. Johannes Kerckmeister wird von keinem der Zeitgenossen erwähnt, vielleicht weil er vielen der oben Genannten gesellschaftlich nicht ebenbürtig war. In der Hierarchie stand er deutlich unter den Kanonikern; er besaß ein zwar bedeutendes Amt, aber er verdiente seinen Lebensunterhalt damit. Er stammte aus dem Stadtbürgertum, aber nicht aus der Honoratiorenschicht. Ein erklärter Anhänger des Humanismus war er wohl, doch konnte oder wollte er seine Interessen nicht uneingeschränkt verwirklichen; im Schulalltag verband er, wie später gezeigt werden soll, die neuen Ideen pragmatisch mit den überlieferten und erprobten Unterrichtsmethoden. Trotz dieser Einschränkungen war Kerckmeister jedoch fest in das Netz der Geistlichen und Intellektuellen der Stadt eingebunden. Auf Grund seines Amtes und seiner Bildung nahm man ihn wahr; seine Selbstbezeichnung studio et ingenio praeclarus war sicher kein leeres Wort. Mit einer Reihe der münsterischen Humanisten, Bürgersöhne wie er, war er aufgewachsen; sie wurden später zum Teil seine Studiengenossen oder Bursengefährten. Andere gebildete und gelehrte Persönlichkeiten konnte er bei den verschiedensten Anlässen treffen; denn die Stadt war überschaubar groß, und innerhalb der Bildungselite kannte man sich. Als Rektor hatte er Kinder bedeutender Familien aus Stadt und Land unter seiner Obhut; in der Kalandsbruderschaft und auf den Synoden begegnete er den einflussreichsten Männern des Dom- und Stiftsklerus. Mit dem Fraterhaus stand die Domschule in einer besonderen Beziehung durch das 1469 auf dem Honekamp neu errichtete Schülerhospiz 221. Zwischen Rudolf von Langen, der zentralen Gestalt des münsterischen Humanismus, 218
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Buschius, Carmina ( wie Anm. 192 ) Dichterkatalog Distichon 49, f. ( eVI )r; Murmellius, Münsterode ( wie Anm. 193 ) Strophe 42–43; Elegien III,1, V. 89 f. ( Bibliothek ); II, 10. Heinrich Morlage war Bursar der Kapitels von St. Martini. Von seiner Hand stammt ein Einkünfteregister aus dem Rechnungsjahr 1499/1500 ( Codex traditionum Westfalicarum 5, hg. von Franz Darpe, Münster 1900, S. 105–118 ). Dort wird auch Peter Gymnich als Kanoniker aufgeführt. Tewes, Bursen ( wie Anm. 119 ) S. 717; Buschius, Carmina ( wie Anm. 192 ) Distichon 47, f. ( eVI )r; <Magistro Degenhardo Witten ludi magistro de cornice que reciso capite adhuc volavit> ( eIX )v. Christian von Reval: Buschius, Carmina ( wie Anm. 192 ) Distichon 49, f. e ( VI )r und : f. eVIr. Zu Lambertus a gelida aqua Distichon 41, f. eVv. Das Hospitium für Schüler beim Fraterhaus wurde 1469 errichtet: Westfälisches Klosterbuch ( wie Anm. 178 ) 2, S. 82, Abschnitt 2.4.2.
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und Kerckmeister gab es viele Berührungspunkte. Sicher kannte der Domschulrektor die programmatischen Humanismusbriefe Langens, entweder aus Abschriften wie sie im Kreis von Gleichgesinnten umliefen oder durch den Kölner Druck des Antonius Liber. Ohne Langen hätte Kerckmeister sein Amt nicht erhalten. Langen wird ihn, wie manche andere Bürgersöhne auch, schon länger gekannt und bei seinen engen Verbindungen zur Universität Köln auch den Studiengang des jungen Mannes verfolgt haben. Die beiden lebten zudem in engster Nachbarschaft: Das Haus Langens auf dem Horsteberg war nur wenige Schritte von der nördlich der Marienkapelle liegenden Domschule entfernt. Langen nahm das Schulleben aufmerksam wahr, wie sein Gedicht über den Frühlingsausflug der Domschüler zeigt 222. Kerckmeister begegnete Langen auch bei der Korrektur und während des Druckes der Langenschen Carmina 223. Bei vielen Gelegenheiten trafen sich Propst und Rektor im Dom, schon deshalb, weil die Domschüler ständige liturgische Aufgaben versahen. Es ist kaum vorstellbar, dass Langen Kerckmeisters Komödie und seine Grammatik nicht gekannt und mit ihm darüber gesprochen hätte. VI. Humanistisches in Kerckmeisters Grammatik Wie stark Kerckmeister vom Humanismus beeinflusst ist, zeigt seine Komödie . Stellte man alle im Verlaufe der Handlung gemachten Aussagen im Zusammenhang dar, ergäbe sich ein umfassendes Programm der neuen Bildung, das den Humanismusbriefen des Adwerther Freundeskreises ebenbürtig ist und sich auch nicht von dem unterscheidet, was zwei Jahrzehnte später die Vorreiter der im humanistischen Sinne veränderten Domschule verkündeten 224. Dass diese Ideen freilich das nicht wesentlich prägen können, liegt auf der Hand, handelt es sich doch hier um eine Grammatik, die in Form und Inhalt ganz bewusst auf die mittelalterliche Lehrtradition zurückgreift. Dennoch lassen sich humanistische Tendenzen durchaus erkennen. 1. Recta Latinitas – Poetarum grammatica Gegen die als Barbarei empfundene Sprache des Mittelalters stellen die Humanisten das Ideal der recta Latinitas, einer Latinität, die abgeleitet ist aus dem Sprachgebrauch der antiken Schriftsteller und Grammatiker. In diesem Sinne bezieht Kerckmeister im deutlich Position gegen die barbaries der Repräsentanten des alten Bildungssystems, des doctum grammaticorum vulgus ( Codrus Szene 13, Z. 435 ). Durch den Mund seiner Studenten fordert er, die Dichtung in den Mittelpunkt der Bildung und auch des Grammatikunterrichts zu stellen, die poetica, que et vere grammatices origo et mater est Quintiliano, Donato, Servio, Pristiano non falsis testibus ( 13,179–181 ). So soll eine poetarum grammatica ( 5, 294 ) entstehen. Unde Latinam dictionem ortam credis, si non ab oratoria 222
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Über Langens Beziehungen zur Universität Köln Tewes, Bursen ( wie Anm. 119 ) S. 715–727; zu Langens Haus s. Anm. 205; das Gedicht über den Frühlingsausflug der Domschüler: Carmina ( wie Anm. 177 ) f. 28v–29r. Über Kerckmeisters Tätigkeit als Korrektor s. Teil I, Abschnitt 2. Die Komödie wird zitiert nach der Ausgabe von Lothar Mundt, Johannes Kerckmeister, Codrus. Ein neulateinisches Drama aus dem Jahre 1485, Berlin 1969. Eine neue Ausgabe und eine ausführliche Interpretation des wird die demnächst erscheinende Dissertation von Elmar Rickert bieten. Ich danke dem Verfassser dafür, dass ich in sein Material Einblick nehmen durfte.
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poeticaque vim et naturam sumpserit? ( 13, 181–184 ). Als der alte Schulmeister dieses Konzept verunglimpft, indem er das Wort poetria in pocaria ( ‚Schweinestall‘, ‚Sauerei‘ ) verwandelt und die Dichtung als poetriam … , que non est aliud quam una tota pocaria ( 13, 158–160 ) bezeichnet, begeht er in den Augen der Studenten ein unerhörtes facinus in nostram poeticam nostratiumque Latinum ( 13, 376 ). Der Gegenangriff lautet: Magistri tui non grammaticam docuere, in qua nihil ferme magis quam tota fere barbaries ( 13, 206 ). Im macht Kerckmeister die Latinitas in ihren unterschiedlichen Abstufungen von bene latine, figurate latine bis zu impedimentaliter latine zur Leitidee der Syntax und damit zum Herzstück seiner Grammatik. Die Darstellung der Regeln verbindet er dabei mit einer ausführlichen Erörterung von Beispielen aus der Literatur, solchen aus der Heiligen Schrift, aber in großem Umfang auch aus den antiken poetae et oratores. So greift er die Forderungen nach einer poetarum grammatica wenigstens teilweise auf. Natürlich wählt auch die mittelalterliche Grammatik Schriftstellerzitate, um daran die Regeln der Sprache zu erläutern oder die Sprachrichtigkeit zu diskutieren. Doch stärker als seine Vorgänger setzt Kerckmeister Akzente, die den Forderungen der Humanisten entsprechen. Wenn es im gegen den alten Schulmeister gerichtet heißt: clarissime adulescentium tante multitudini recte latinitatis disciplinam num iure prohibebis? ( 13, 354–357 ), so trifft dieser Vorwurf das jedenfalls nicht. Biblische und klassische Formulierungen werden in gleicher Weise am Maßstab der Latinitas gemessen. So heißt es zum Beispiel bei der Erörterung des Evangelienzitates: „Sermonem quem audistis non est meus“: contra latinitatem adiectivi et sui substantivi und zu „urbem quam statuo vestra est“: ubi poeta sua auctoritate usus est potius quam recta latinitate. … Propter auctoritatem sacre scripture et poetarum … „quam urbem statuo“: quod oratio tunc non solum latina sit, sed etiam ornata magis est in usu oratorum ( 77v ). Gerechtfertigt werden die Vergilstellen „triste lupus stabulis“ auctoritate Virgilii ( 72r ) und „Italiam venit“ ( ohne die Präposition „in“ ): Latinitas de auctoritate poetica ( 44v ). Die unterschiedlichen Sprachund Stilebenen werden genau bestimmt. So etwa: apud poetas et hystoricos licet, rarissime apud oratores aut numquam. ( 47v ). Auf stilistische und ästhetische Aspekte wie elegantia und ornatus wird mehrfach hingewiesen, etwa zur Figur der Antiptosis: hic ornate et figurate. Ex auctoritate poetica casus pro casu ponitur … . ornata constructio … maxime ab oratoribus usurpata; eorum auctoritate plurimum elegantie habet. Ut est in preceptis elegantiarum apud poetas et auctores ( 69r ). Der Ausdruck „quo libro hic melior est“ wird kommentiert: revera impedimentaliter – permissive. Et non solum hec constructio permissive latina est, verum etiam et ornata est. Quando enim substantivum sequens convenit cum demonstrativo immediate precedenti licet ipsum disconvenire, et ornate quidem cum sequenti, ut: „meo servo iste est fidelior“. Et hee sunt constructiones que frequentissime usu veniunt ( 84v/85r ). Zu der constructio ad sensum „turba sunt maledicti“ heißt es: difficulter latine: contingit interdum construi apud poetas … quod non licet in soluta oratione, sed in prosa tantum ( 73r/v ). Auch die Grenzen des Lateins der Vulgata werden aufgezeigt. Wenn Kerckmeister auch die Ausdrucksweise der Heiligen Schrift grundsätzlich durch die Autorität des Wortes Gottes und die Inspiration durch den Heiligen Geist rechtfertigt, verbietet er bei zu starken Verstößen gegen die Sprachrichtigkeit doch die Nachahmung. So heißt es zu dem Psalmvers „Testimonia tua, domine, mea lex est“: est impedimentaliter quidem ( 76v ), und zu „In atriis tuis Hierusalem, Hierusalem que edificatur ut civitas“: permissive latine auctoritate sacre scripture … Ea enim est sacre scripture maiestas, ut grammatice legibus non sit subiecta … per spiritum sanctum manifestata – per sanctos patres nobis administrata, qui spiritu sancto pleni
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non ad grammaticas leges respexerunt, sed revelatam veritatem simpliciter expresserunt. Nos igitur huiusmodi constructionibus uti non debemus, sed eas propter auctoritatem sacre scripture permittere ( 81r/v ). Zu „aquam vinum factum“: est vix latina … , hoc genere orationis uti non debemus ( 75r ). Diese Kritik hat Kerckmeister zwar im Wesentlichen aus der mittelalterlichen Tradition übernommen; er zitiert Beispiele, die schon das behandelt ( V. 1482–1484 und 1446–1448 ), doch liegen solche Äußerungen ganz auf der Linie der humanistischen Sprachkritik und wirken in diesem Sinne, weil sie in größerer Zahl vorkommen. Kerckmeister hat zwar gegen typisch mittelalterliche Formulierungen wie legitur Vergilium; legitur grammaticam ( 41v ) keine Einwände; er folgt ja auch selbst dem Sprachgebrauch der Zeit, zum Beispiel in der Verwendung von quod-Sätzen statt des a.c.i. An anderen Stellen aber übt er, ganz im Sinne der Humanisten, scharfe Kritik, so an der Wendung „scribentem habendum est pennam“: Nullum gerundium apud latinos regit accusativum pro supposito, licet fiat more grecorum, ut significat Alexander … . Apud solidos Latinos auctores non ita. ( 41v ). Hier steht die Autorität der klassischen Schriftsteller und Grammatiker über dem . An einer anderen Stelle heißt es: Non enim latine dicimus „possum me sedere“ ( 95r ). Durch den Gebrauch des Plurals in dicimus stellt sich Kerckmeister ganz selbstverständlich in die Reihe der Humanisten, die die Reinheit der lateinischen Sprache wiederherstellen wollen. Entscheidend ist für ihn, wie ein Problem apud priscos auctores behandelt wird ( 45r ). An einigen Stellen bezieht er sich ausdrücklich auf italienische Humanisten. So zitiert er Leonardo Bruni: Per eclipsim, id est defectum prepositionis, … auctoritate poetica, sic in comico Leonardi Aretini: „Corripio matres gnatas ne numina ducant“, id est „ad numina“ 225. In der Tradition der <Elegantiolae> Datis wird die Briefeingangsformel quas ad me dedisti litteras, hec mihi iucundissime fuerunt ( 7v ) für ihre Eleganz gerühmt, ebenso werden mehrere Schlussformeln von Briefen zusammengestellt und Datumsangaben nach antiker Art behandelt ( 44r ) 226. Formulierungen wie utinam studuissem bonis artibus ( 7v ) oder ex studendo fructum bonarum artium refero ( 43r ) verwenden mit bonae artes einen typisch humanistischen Ausdruck. Zum Gebrauch des Supinum auf -u ( venatu regreditur; iucundum auditu ) beruft er sich neben den antiken Grammatikern auf Lorenzo Valla: Testes apud priscos auctores sunt Pristianus et Quintilianus, apud vero nostre etatis Valla testis est, cum dicit: „Libet castigare vulgus imperitum grammatice professorum, qui universum sane orbem stulto errore pervertunt sic semper loquentes: <eo lectum>, , ‘pergo auditum’, . Qui error unde profectus et quo ex fonte imperitie emanaverit, nescio. Summoque opere allucinationem publicam admiror, cui tamdiu a nemine adversum est“. Capitulo XXIX primi ( 42v ) 227.
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Die Komödie deren Prolog die Stelle entnommen ist, wurde Leonardo Bruni zugeschrieben, stammt aber von Leonardo della Serrata. Näheres dazu demnächst bei Rickert ( wie Anm. 224 ). Augustini Dati … super Tullianis eleganciis … libellus, London 1479 ( ND Cambridge 1905 ), f. c4v–c5r. In der Ausgabe von Arnoldus Pannartz, Rom 1475 wird das Supinum in Kapitel 31 des 1. Buches behandelt, in der Ausgabe: Laurentius Valla, Opera omnia, hg. von Eugenio Garin, 2 Bde., Turin 1962 ( ND der Ausgabe Basel 1540 ) im Kapitel 29 des 1. Buches. Kerckmeister hat wahrscheinlich die bei Johann Koelhoff d.Ä. am 19. Mai 1482 gedruckte Ausgabe benutzt ( Voulliéme Nr. 1199; ISTC iv00059000 ).
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2. Auseinandersetzungen um die richtige Grammatik An der Frage, wie eine auf der antiken Literatur und dem klassischen Latein beruhende Grammatik aussehen solle, entzünden sich seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts mehr und mehr die Gemüter. Die Grammatik der Modi significandi und bald auch das des Alexander von Villedieu, der Eckstein der mittelalterlichen Grammatik, geraten in den Mittelpunkt der Kritik. Im allerdings greifen die Studenten den „Alexander“ noch nicht unmittelbar an, wenn auch eine gewisse Distanzierung erkennbar wird. Als Codrus das Lehrbuch als multum subtilis, magna et utilis ( 13,46 ) bezeichnet, entgegnen die Studenten: recensitu non minima … ut ferme neque melior, si non prolixior quam convenit ( 13,47 ) und tamquam mare magnum est, quod terminis contineri nequit ( 13,131 ). Diese Bedenken richten sich allerdings nicht auf Grundsätzliches, sondern auf ein Problem der Didaktik: auf den Umfang des Lehrbuches, die Verwendung weiterer erklärender Spezialschriften, die viele Zeit, die man mit dem Erlernen von Regeln verbringt. Dagegen steht das Bemühen der Humanisten, das Elementare möglichst gründlich zu vermitteln, dann aber ohne Umschweife und theoretisches Regelwerk die Praxis aus der Lektüre der vorbildlichen Autoren kennenzulernen. In diesem Sinne ist Codrus ein abschreckendes Gegenbild. Er rühmt sich, viginti unum annos grammaticam magistri Alexandri ex Villa Dei unterrichtet zu haben, schleppt einen ganzen Sack voller grammatischer Einzeltraktate nach Köln: composita verborum, verba deponentalia et synonyma, plura etiam compendia grammatice ( 5, 137 ), und spricht doch ein miserables Latein. Genau daran nehmen die Studenten Anstoß. Bartolus fragt den Schulmeister ironisch: Vidisti uspiam vel legisti composita Maronis, deponentalia facile principis illius comedorum Therentii Marcique Ciceronis synonyma, Quintiliani, Prisciani, Servii, Donati Latine lingue preceptorum volumina, ut nunc diudices, quid Latine, quid vix, vel non Latine dictum sit? ( 5, 280–287 ). Werke mit den Titeln composita Maronis oder deponentalia Terentii und synonyma Ciceronis gibt es nicht, wohl die zuvor genannten composita verborum, deponentialia und andere 228. Der Sinn der kritischen Frage ist: Hast du dich jemals mit Vergil, Terenz und Cicero direkt beschäftigt, um unmittelbar aus diesen Quellen und nicht aus abstrakten Lehrschriften die copia verborum zu schöpfen, und bist du wirklich auf die antiken Grammatiker zurückgegangen und nicht nur auf die aus Donat und Priscian abgeleiteten Regeln? Als Ziel des Studiums der antiken Grammatiker wird die differenzierte Kenntnis der Latinitas in ihren Abstufungen quid Latine, quid vix, vel non Latine dictum sit genannt. Genau diese Fragestellung steht auch im im Mittelpunkt, entfaltet auf einer breiten Grundlage antiker Textstellen. Und schließlich: Den Vorwurf der humanistischen Studenten, der traditionelle Grammatikunterricht verliere sich in Kleinigkeiten, überfrachte die Schüler mit Wissen und halte sie zu lange von der Lektüre ab, verdient das in seiner knappen, auf das Wesentliche konzentrierten Art jedenfalls nicht; es entspricht durchaus der Forderung nach einer relativ kurzen Einführung in die Grammatik 229. 228
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Unter den Schriften des Johannes de Garlandia sind Titel wie <Synonyma>, , und , vgl. Franz Josef Worstbrock, Art. <Johannes de Garlandia>, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 4, 1983, Sp. 612–623. Die Ablehnung des als umständlich und nutzlos angesehenen Grammatikunterrichts nach dem Lehrwerk Alexanders, vor allem auch die Kritik am Auswendiglernen zahlloser Regeln, findet sich exempla-
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Grundsätzliche Kritik an der mittelalterlichen Grammatik kommt allerdings im , das ja traditionelle Lehrtexte wiedergibt und sich wesentlich auf das stützt, naturgemäß nicht zum Ausdruck. Einmal aber werden die Vertreter der alten Grammatik doch direkt angegriffen, als Kerckmeister sich ausführlich mit den Termini „a parte post“ und „a parte ante“ auseinandersetzt. Zu „Magister legit rhetorica Tullii“ heißt es: Nominativus est suppositum, verbum medium quod regens dicitur, et accusativus appositum, quem grammaticorum vulgus regi in gymnasiis declamat et nominativum regi . Qui loquendi modus apud nullos tamen solidos auctores inventus est, et quo pacto latinus sit, non capio … Male latine vel . Ante enim et post prepositiones nullam habent constructionem apud latinos aliquos et probatos auctores cum ablativo <parte> vel prepositione . ( 87r/v ). In der Tradition der bewährten Grammatiker der Antike, der probati auctores sieht Kerckmeister sich ganz selbstverständlich auch selbst, im Gegensatz zum grammaticorum vulgus, ein Ausdruck, der die oben schon zitierten Begriffe der humanistischen Polemik doctum grammaticorum vulgus ( Codrus 13,435 ) und vulgus imperitum grammatice professorum ( Valla, zitiert im , f. 42v ) aufgreift. Es ist aber bemerkenswert, dass sich selbst diese Kritik auch auf die Autorität des beruft: Alexander kenne den Ausdruck auch nicht. 3. Humanistische Hochschätzung von Lehrern und Schülern Schon im Prolog des kommt eine neue Sicht von der Bedeutung des Lehrers, der Verantwortung der Eltern für die Bildung der Kinder und eine hohe Wertschätzung der Schüler zum Ausdruck, gekleidet in die Form einer Warnung vor den Lehrern alter Schule. Corripio patres, ne sub gymnasia Codri Ducant filiolos, iussa tenere suos, Ne teneros animos committant forte magistris Ignavis, qui se singula nosse putant, Moribus ingenua ne fedis clara iuventa Frendeat et turpi disperiat senio, Ne modo barbariem vitae ac sermonis agrestis Hauriat et suescat fracta latina loqui. Die Unbildung von Lehrern wie Codrus zeigt sich ihrem zweifachen Barbarentum, der barbaries vitae, in ihren ungeschliffenen Lebens- und Umgangsformen, den mores fedi, denen ihre barbarische Sprache, sermo agrestis und fracta latina, entspricht. Diese Menschen sind stolz auf ein Wissen, das aus vielen Einzelheiten besteht (se singula nosse putant), und verfehlen doch das Ganze, nämlich die Einheit von Sprache und Bildung. Die rechten Lehrer zu suchen, die nicht ignavi sind und nicht durch ihr turpe senium abstoßen,
risch in der Vorrede des Johannes Sulpicius Verulanus zu seinem Werk von 1475, das Johannes Murmellius 1517 in seinem <Scoparius in barbariei propugnatores> an erster und programmatischer Stelle abdruckt ( Aloys Bömer, Ausgewählte Werke des Münsterischen Humanisten Johannes Murmellius, Heft 5, Neudruck Münster 1895, S. 4–7 ). Einen Abdruck der genannten Vorrede bietet auch W. Keith Percival, Renaissance Grammar, Rebellion or Evolution?, in: Ders., Studies in Renaissance Grammar ( wie Anm. 132 c ) IV, S. 73–90.
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ist eine bedeutende Aufgabe für die Väter. Sie tragen die Verantwortung für ihre filioli mit ihren guten Anlagen, aber einem empfindlich-zarten, noch formbaren Geist, (teneros animos), der tief in sich aufnimmt und sich aneignet (hauriat, suescat), was man ihnen sagt. Bildung erscheint hier als ein intensives Zusammenwirken von charaktervollen Lehrern, die die lateinische Sprache beherrschen, und begabten, bildungwilligen Schülern. Im klingen, ins Positive gewendet, ähnliche Töne an in dem Gedicht, das die hundert Beispiele der congruitates communes abschließt ( 55v ). Kerckmeister wendet sich hier direkt an seine Schüler: Filioli id vobis sertum capitote latinum, Centeno textum flore quod exhibui. Semper eo verno caput ipsi occingite vestrum Fervor uti vobis crescat in omne decus. Die Regeln der Grammatik werden hier mit einem Kranz aus hundert Blüten, dem Lorbeerkranz des poeta laureatus ähnlich, verglichen. Einen solchen Lohn überreicht der Lehrer seinen Schülern und wünscht ihnen, dass der Kranz auch in Zukunft grün bleibt und ihren Eifer beflügelt, ihr hohes Ziel ( omne decus ) zu erreichen: die vollkommene Beherrschung der lateinischen Sprache wie auch die damit verbundene gesellschaftliche Anerkennung. Filioli ist nicht nur objektiv die Bezeichnung des jungen Alters, sondern auch Ausdruck der Zuneigung. Auch die Anrede der Schüler im Kolophon ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: Id parvum opus, Ingenui adolescentes, vobis Johanne Kerckmestrio dedicatum ( 120r ). Eine Widmung ( dedicatio ) richtet man eigentlich an einen höher Gestellten; hier zeigt das Wort die Achtung des Lehrers vor den Schülern, die sich auch in der Anrede ingenui adolescentes ausdrückt; Respekt soll vielleicht auch die Großschreibung des Adjektivs mitten im Satz zeigen. Ingenuus, das auch im Prolog des verwandt wird, ist ein humanistisches Schlüsselwort, das die Zugehörigkeit zu einer geistigen Elite bezeichnet. Deutlich zeigen sich in diesem Gedicht das neue Selbstbewusstsein der Gebildeten und die Hochschätzung der klassischen Bildung. VII. ZUR LITERATURGESCHICHTLICHEN BEDEUTUNG DES FUNDAMENTUM
1. Die Kritik des neuen Rektors Timan Kemner an Kerckmeisters Schule Als Timan Kemner 1521 auf den Zustand der Domschule bei seinem Amtsantritt zurückblickt 230, bezeichnet er die Lehrer als iuvenum instructores infantes, ieiunos atque inscios. Er nennt sie also nicht mit ihren offiziellen Titeln magistri oder scholarium rectores, sondern mit dem distanzierten instructores. Infantes gebraucht er sicher in den beiden Bedeutungen: „kindlich-unreif“ und „unfähig zu reden“. Den Schülern dagegen billigt er das achtungsvolle iuvenes zu, charakterisiert sie freilich auch – bei solchen Lehrern nur zu verständlich – als unstet und undiszipliniert: vagi, indisciplinati. So sei die Schule schlecht besucht und das Bildungsniveau völlig unzureichend gewesen: 230
Brief an den Bischof von Riga in der Vorrede zu seinem ; in Auszügen bei Bömer, Kemner ( wie Anm. 162 ) S. 231 f.
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auditores … pauci, nullas artes, nullam eruditionem aut eloquentiam exhauserunt. Ein Schulleiter wird nicht genannt; vielleicht mag Kemner einen solchen Ehrentitel niemandem zubilligen, vielleicht war der Posten auch nach Kerckmeisters Tod vakant. Die Missstände in der Bildung führt der Kritiker jedenfalls auf die Lehrkräfte und die von ihnen für den Unterricht benutzten, auf das bezogenen Grammatiken zurück: quibus nihil bene olebat, nisi quod Alexandrino cude percussum fuerit et barbariem oluerit, quibus nihil ineptius, stultius deteriusque dici queat. Aus solchen Lehrbüchern hätten die Schüler trotz eines gewaltigen Zeitaufwandes nur bruchstückhafte Sprachkenntnisse erworben. Schon 1513 urteilte Peter Gymnich aus Aachen, Stiftsherr von St. Martini, ähnlich 231, als er Kemner rühmte: te vel prope solum vel primum vidi ex omnibus, qui haec gymnasia minora gubernant, qui … bonas litteras in hac nostra inferiori Germania e tenebris revocaris in publicum, et in lucem gymnasii tui constitueris. Als Leistung Kemners hebt er die Einführung der klassischen Autoren hervor: qui bonos auctores revocare ante oculos tuorum interque manus collocare tentaveris, qui bellum prope indixeris istis barbaris auctoribus. Als weiteres Verdienst nennt er die Abschaffung des : Habemus enim … expulsis et reiectis barbaris illis auctoribus grammaticam, iam opera et studio plurimorum auctorum ab inscitia vindicatam, favore omnium a barbaris ereptam, studio bonorum adolescentum prope restitutam. Die alte steht gegen die neue ( „unsere“ ) Grammatik: … si quis ex illis veteribus barbaram illam grammaticam suam velit cum hac nostra conferre. In diesem Sinne hatte bereits 1505 der junge Domschullehrer Johannes Murmellius in seinem Unterrichtshandbuch für Lehrer und Schüler als Grundlehrbücher ( rudimenta ) der Grammatik ausschließlich Werke italienischer Autoren empfohlen: Perotti, Sulpizio Verulano, G77uarino Veronense, Pylades Buccardi aus Brescia, Vespino und Antonio Mancinelli aus Velletri 232. Kemner handelte schnell: Bald nach seiner Amtsübernahme veröffentlichte er in rascher Folge Lehrbücher, die den gesamten Bereich der Grammatik abdeckten und die er als einen radikalen Neuanfang im Sinne eines konsequenten humanistischen Programms verstand 233. Es sind dies die folgenden Werke: 1. , ein vierbändiger Kommentar zum . Der erste Teil umfasst die Etymologie, der zweite die Syntax; beide erschienen 1500 bei Quentell in Köln; der dritte Teil zur Metrik und Prosodie sowie der vierte, die Akzentlehre, die grammatischen Figuren und als Anhang die colores rhetorici umfassend, folgten 1501, mit einer überarbeiteten Ausgabe der ersten beiden Teile. Der gesamte Lehrgang umfasst rund 210 Blätter = 420 Seiten in 4°, eng bedruckt.
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Vorrede zu Kemners , Köln 1513, abgedruckt bei Detmer, Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke ( wie Anm. 165 ) S. 567–571, hier S. 567 f.; der Text ist auch gedruckt bei Paul L. Butzer und Rainer Wald ( wie Anm. 216 ). Murmellius, <Enchiridion>, Abschnitt XXII: , Neudruck von Aloys Bömer, Des Münsterischen Humanisten Johannes Murmellius Opusculum de discipulorum officiis, quod Enchiridion scholasticorum inscribitur, in: Ders., Ausgewählte Werke ( wie Anm. 229 ) Heft 2, Münster 1892, S. 57–59, hier S. 57 f. Die bibliographischen Angaben zu den Grammatiklehrbüchern bei Bömer, Kemner ( wie Anm. 162 ) S. 186–210 und bei Worstbrock, Art. ( wie Anm. 162 ) Sp. 1268–1274.
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2. , 31 Blätter 4°, gedruckt 1502 in Deventer bei Jacob de Breda, eine Elementargrammatik, geschrieben auf Wunsch des Domherrn Johannes Dobbe für dessen zwei Neffen. 3. , ein Spezialwerk über die sogenannten syncategoremata, 22 Blätter in 4°, gedruckt 1503 bei Quentells Erben in Köln. 2. Das im Rahmen der humanistischen Grammatikdiskussion In den Berichten Gymnichs und Kemners fällt der Name Kerckmeisters nicht. Der Autor scheint nicht mehr erwähnenswert, der Vertreter einer überholten Bildungskonzeption. Das hatte Folgen: Schon Hermann Hamelmann, der bedeutende Historiker der westfälisch-niedersächsischen Bildungsgeschichte im sechzehnten Jahrhundert, der möglichst viele Gelehrte dieses Raumes, auch die aus dem Mittelalter, nennen wollte, und der ja auch mit den Verhältnissen in Münster vertraut war, kannte Kerckmeister nicht mehr. Damit war sein Vergessen besiegelt. Diese Entwicklung steht im Zusammenhang mit dem „Kampf gegen das Doctrinale“ und das mittelalterliche Latein, der seit dem Ende des 15. Jahrhunderts immer mehr an Intensität zunahm und in den <Epistulae obscurorum virorum> einen Höhepunkt fand. Dass allerdings die humanistische Geschichtsdeutung, die einen scharfen Gegensatz zwischen finsterer Barbarei und strahlendem Neubeginn behauptete, die Wirklichkeit verzerrt, hat die Forschung der vergangenen Jahrzehnte gezeigt 234. Auch im Bereich der Grammatik gab es Übergänge zwischen den Positionen, Gleichzeitigkeit des scheinbar Unvereinbaren und viele individuelle Möglichkeiten, Elemente der alten und neuen Sprach- und Bildungskonzeption miteinander zu verbinden 235. Selbst bei der Grammatik Niccolò Perottis, die für die Humanisten ab 1470 Maßstäbe setzte, ist intensiv über Kontinuität und Diskontinuität diskutiert worden 236. Wenn Kerckmeister seine Grammatik auf dem aufbaute und es ausgiebig zitierte, folgte er einer allgemeinen Tendenz seiner Zeit. Bis etwa 1520 war das immer noch die am häufigsten gedruckte Grammatik, so wie auch der
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Zum Beispiel Terence Heath, Logical Grammar, Grammatical Logic, and Humanism in Three German Universities, in: Studies in the Renaissance 18, 1971, S. 9–64; Kristian Jensen, The humanist reform of Latin and Latin teaching, in: Jill Kraye ( Hg. ), The Cambridge Companion to Renaissance Humanism, Cambridge 1996, S. 63–81; Kristian Jensen, Elementary Latin Grammar Printed in the Fifteenth Century: Patterns of Continuity and Change, in: Ax ( Hg. ), Von Eleganz und Barbarei ( wie Anm. 44 ) S. 103–123. „The body of printed grammars does not present us with a picture of rectilinear change. Works representing many different approaches to language were availiable at the same time. Newly written grammars coexisted with works from the late antique period and with late medieval grammars“, ebd., S. 105. Den Zusammenhang mit den mittelalterlichen Vorgängern betonte stärker W. Keith Percival in seinen zahlreichen Arbeiten zu Perotti und zur humanistischen Grammatik, jetzt gesammelt in: Studies in Renaissance Grammar ( wie Anm. 132 c ); auf die Neuerungen wies entschieden hin Franz Josef Worstbrock, Niccolò Perottis , in: Ax ( Hg. ), Von Eleganz und Barbarei ( wie Anm. 44 ), S. 59–78. Den weiten historischen Zusammenhang, in dem Perottis Grammatik zu sehen ist, stellt dar Robert Black ( wie Anm. 37 ) Abschnitt „The secondary curriculum“, S. 64–172.
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Traktat Dominus que pars bis dahin seine Bedeutung nicht verloren hatte 237. An der berühmten Schule in Deventer wurde unter dem Rektor Hegius und seinem Nachfolger Johannes Synthen das Lehrbuch des Alexander keineswegs abgeschafft; man versuchte vielmehr, es durch Kommentare für den Unterricht brauchbarer zu machen. Hegius griff zwar in seiner 1486 gedruckten Sprachphilosophie und Terminologie der modistischen Grammatik scharf an, aber er richtete sich nicht ausdrücklich gegen das 238. Auch der für wissenschaftliche Zwecke und den Unterricht an der Universität konzipierte Alexanderkommentar des Gerhard von Zütphen in Köln fand breites Echo und war keinesfalls ein Kuriosum und das Werk eines Reaktionärs, als das es die Verfasser der <Epistolae obscurorum virorum> darstellen 239, und der geschmähte Ortwin Gratius war ein angesehener Gelehrter, der sich selbst durchaus als Humanist verstand 240. Kerckmeister bot in seiner Grammatik das Bewährte, die Mittel der sprachlichen Analyse, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hatten und deren Beherrschung von allen Schülern erwartet wurde. Die Einwände gegen den traditionellen Grammatikunterricht: die lange Zeit, die man dem Erlernen von Regeln widmete, der große Umfang des , die oft schwer verständliche Sprache seiner Verse, die erst spät einsetzende Lektüre der Schriftsteller, konnten das als Lehrbuch nicht treffen. Mit ihm hatte Kerckmeister ja gerade ein Compendium geschaffen, ein zugleich umfassendes und konzentriertes Werk, in dem das grammatische Wissen didaktisch gut aufbereitet zur Verfügung stand. Aus dem hatte er die wichtigsten Verse ausgewählt und sie in einen Zusammenhang gestellt, in dem erklärende Texte, zusammenfassende Regeln und Merkverse sich ergänzten und gegenseitig erläuterten. Das führte zu einer differenzierten Kenntnis der Latinitas in ihren unterschiedlichen Abstufungen. Die Forderungen der Humanisten hatte Kerckmeister sich zu eigen gemacht und im selbst propagiert, doch waren für ihn bei einer Schulgrammatik eher Verlässlichkeit und Beständigkeit wichtig, nicht die Propagierung eines neuen Bildungsideals, das sich in einer Komödie wie dem besser entfalten ließ. Eine humanistische Färbung gab er dem immerhin. Auf der Grundlage dieses Lehrbuches konnte man sich durchaus, wie es die 237
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Zu den Drucken des im 16. Jahrhundert vgl. Index Aureliensis, Teil 1, Bd. A 1, Baden-Baden 1962, Art. , S. 348–362. Zu zum Beispiel: Zwolle 1504; Leiden um 1509; Deventer 1510 und 1514: Nijhoff-Kronenberg, Nederlandsche Bibliographie, Nr. 727, 728, 2795–2800. Zur des Hegius und der angeblich von Hegius und Synthen verfassten Neubearbeitung des : Jan Cornelis Bedaux, Hegius Poeta, Deventer s. a. ( 1999 ), S. 43–47. Zu Synthen: Franz Josef Worstbrock, Art. <Synthen, Johannes> in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 9, 1995, Sp. 559–561. Neubearbeitungen mit humanistischem Akzent gab es auch für : Nijhoff-Kronenberg Nr. 4279 ( Zwolle 1520 ) und die ; ebd., Nr. 3794 ( Deventer 1512 ). Ludger Kaczmarek, „Magister Sotphi“. Gerhard von Zutphens Glosa notabilis ( 1487–88 ) und die Geschichte der Grammatik im 15. Jahrhundert, in: Klaus D. Dutz – Kjell Ake Forsgren ( Hgg. ), History and Rationality. The Skövde Papers in the Historiography of Linguistics ( Acta Universitatis Skodvensis, Series Linguistica 1 ) Münster 1995, S. 76–92. Zu Gratius: Tewes, Bursen ( wie Anm. 119 ) Register s. v. ; Gerlinde Huber-Rebenich, Art. in: Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon 1, 2008, Sp. 929–956.
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Humanisten verlangten, zügig der Lektüre der antiken Autoren zuwenden. Die Wirkungsgeschichte der Grammatik zeigt, wie erfolgreich Kerckmeisters Konzeption war. Mit seinem Werk vergleichbar an Bedeutung, Inhalt und Tendenz sind nur das und die Werke Zenders’ 241. Andererseits zeigen auch die Grammatiken des sich als Neuerer verstehenden Timan Kemner ein Mit- und Nebeneinander der unterschiedlichen Tendenzen. Er orientiert zwei seiner Lehrbücher, die <Medulla aurea> und das , ausdrücklich am . Die <Medulla> gibt den Text des Alexander abschnittsweise wieder, von einem Kommentar begleitet, und verbindet damit auch optisch das Neue mit dem Überlieferten. Das stellt sich schon im Titel als eine Zusammenfassung des Alten vor: in quo ordine etiam facillime quicquid est apud Remigium, Donatum atque Alexandrum comperies, ein Satz, der ebenso gut in der Überschrift des vorkommen könnte. Kemner folgt aber insgesamt doch, und darin liegt der entscheidende Unterschied zu seinem Vorgänger, der humanistischen Grammatik des Niccolò Perotti. So verzichtet er zum Beispiel auf deduzierende, den Stoff in Form der divisio zergliedernde Übersichten. Auch eine Diskussion von Sophismata gibt es nicht; die Form des modus quaerendi spielt keine besondere Rolle mehr. Auch eine systematische Erörterung der unterschiedlichen Stufen der Latinitas findet nicht statt; die Zahl der grammatischen Regeln wird deutlich verkürzt. Die Sachverhalte werden benannt, aber nicht mehr ausführlich begründet und bis hin zu den Sonderfällen und Ausnahmen diskutiert. Sprachrichtigkeit wird nicht mehr im einzelnen hinterfragt und sprachlogisch und philosophisch begründet: Die Sprache wird unter pragmatischen Gesichtspunkten beschrieben, in den Phänomenen und Strukturen, die für die Beherrschung der Sprache und für die Kenntnis des Wortgebrauchs der antiken Autoren wichtig sind. Vor allem bei der Syntax beschränkt sich Kemner auf Grundlegendes. Vorgestellt werden nur die wichtigsten Muster des Satzbaus, vor allem die Kongruenz und die Rektion der Verben; alles Weitere soll sich offensichtlich durch die Lektüre der klassischen Texte selbst einprägen. Weit ausführlicher als im ist dagegen die Lehre von den Wortarten ausgearbeitet. Es geht Kemner darum, die Vielfalt der Formen in allen Einzelheiten und zugleich übersichtlich darzustellen, etwa durch ausführliche Deklinationstabellen; außerdem will er den Wortschatz in seinem ganzen semantischen Reichtum und in seinen stilistischen Nuancierungen darbieten und die Schüler zu einer möglichst umfangreichen copia verborum führen. Das wird besonders in seiner Abhandlung über die undeklinierbaren Wörter deutlich, die den Stoff mit großem Detailreichtum und feinster Differenzierung zu einem regelrechten Nachschlagewerk entfaltet. Umfassend werden auch die Verben dargestellt, ihre Rektionsmöglichkeiten, aber auch ihre Semantik und Idiomatik. Im Bereich der Wortarten wie der Syntax werden stilistische und ästhetische Aspekte wie elegantia, ornatus und pulchritudo 241
Zur Besonderheit der Grammatiken des Wilhelm Zenders, in denen sich die mittelalterliche Tradition mit humanistischen Einflüssen verbindet: Kneepkens, Dyophysitism ( wie Anm. 125 ); Ders., Scholasticism versus Humanism: A Conflict of Interests? Late Fifteenth-Century Reflections of Grammar in Northwestern Europe, in: Lodi Nauta ( Hg. ), Language and Cultural Change. Aspects of the Study and Use of Language in the Later Middle Ages and the Renaissance ( Groningen studies in cultural change 24 ) Leuven u. a. 2006, S. 23–57. Die in diesen Aufsätzen gewonnenen Erkenntnisse zu Zenders lassen sich ohne Schwierigkeiten auf die Grammatik Kerckmeisters übertragen; die Arbeiten beider Autoren sind, ohne dass sich gegenseitige Abhängigkeiten erkennen ließen, auf das engste miteinander verwandt.
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kontinuierlich zur Sprache gebracht; was bei Kerckmeister schon gelegentlich anklang, wird bei Kemner zu einer durchgängigen Betrachtungsweise. Zitate aus den klassischen Autoren und aus antiken Grammatikern, auch solchen, die in den bisherigen Lehrtexten nicht oder kaum genannt wurden, prägen die Darstellung. Stellen aus der Heiligen Schrift werden in der Regel nicht angeführt. Durchgehend, von den Widmungsgedichten und Vorreden bis zu Äußerungen im Text, wird die humanistische Sicht von Sprache und Bildung, von Würde und Aufgabe der Gebildeten, thematisiert. Kenntnis der recta Latinitas erscheint als Bestandteil eines umfassenden Menschenbildes. Viele Zeitgenossen haben allerdings diese Veränderungen nicht so deutlich wahrgenommen. Der Verleger Quentell druckte Kerckmeisters Werk gleichzeitig mit der Grammatik Perottis, die 1501 zum ersten Mal in Köln erschien 242, und den Grammatiken Kemners; er wollte dem konservativen Publikum etwas bieten, das die Notwendigkeit eines Wechsels nicht einsehen konnte, aber auch den Modernisierern. In beiden Lagern fand sich offensichtlich eine breite, also auch wirtschaftlichen Gewinn versprechende Kundschaft. Kemner war, so wie es schon sein Freund Petrus Aquensis empfand, ohne Zweifel moderner als Kerckmeister, ein Mann, der die humanistischen Ideen von Sprache und Grammatik entschieden und voller Sendungsbewusstsein umsetzte. Dennoch hielt sich Kerckmeisters Werk noch bis 1508 und fand zu dieser Zeit sogar Eingang in Frankreich 243. Der scharfe Gegensatz zwischen der Domschule unter Kerckmeisters Leitung und der Schule nach 1500, den Kemner und seine Freunde feststellten, ist in Wirklichkeit eine gleitende Entwicklung. Rudolf von Langen hätte, als Kerckmeister für die Stelle des Domschulrektors genannt wurde, sicher beim Domscholaster Einspruch erhoben, wäre der Kandidat nicht humanistisch geprägt gewesen. Dass Kerckmeister dies tatsächlich war, zeigt das Bildungsprogramm, das er im propagiert, und auch sein widersprach dem keineswegs. Die humanistische Reform der münsterischen Domschule beginnt schon in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts; sie scheiterte nicht, sondern sie wurde mit den erweiterten Erkenntnissen und Erfahrungen und auch mit dem gesteigerten Selbstbewusstsein einer jüngeren Generation weitergeführt. Aber auch über den neuen Domschulrektor Kemner und seine Werke ging die Entwicklung hinweg. Seine Lehrbücher wurden recht schnell durch die Schulgrammatiken von Autoren wie Erasmus von Rotterdam, Despauterius und Melanchthon abgelöst. Welches Lehrbuch Kemners Nachfolger Johannes von Elen ab etwa 1525 benutzte, ist nicht bekannt. In dem nach den Wiedertäuferunruhen verfassten Unterrichtsplan der Domschule von 1551 werden die Kurzfassung des Despauterius und die grammatischen Werke des Erasmus genannt 244. 242 243 244
S. Anm. 133. Zu den Kerckmeister und Kemner-Drucken nach 1500 s. oben Teil III. Abdruck des Lehrplanes von 1551 bei Detmer ( Hg. ), Kerssenbroch, Historia anabaptistarum ( wie Anm. 166 ) Einleitung, S. 32*–37*. Genannt werden dort für die Septaner: Donat, für die Septaner und Sextaner: und ; für die Quintaner: <Syntaxis Erasmi Roterodami> und ; für die Quartaner: <Syntaxis Erasmi>, und . Zu dem Compendium aus Despauterius vgl. Detmer, Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke ( wie Anm. 165 ) S. 522–523: <Syntaxis Ioannis Despauterii a Sebas-
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An ihre Stelle wiederum traten ab 1583, als die Jesuiten die Domschule übernahmen, die von ihrem Ordensbruder Manuel Alvarez ( 1526–1582/83 ) verfassten Sprachlehrbücher 245.
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tiano Duisburgensi in absolutissimam methodum redacta>, Köln, Johannes Gymnich 1533. Auch die Melanchthons von 1533 ( Eucharius Cervicornus ) und Melanchthons Syntax ( Johannes Gymnich ) Köln 1529 wurden noch unter Kerssenbrock verwandt, vgl. Josef Frey, Die am Paulinischen Gymnasium seit dem Ausgange des Mittelalters gebrauchten Lehrbücher der lateinischen Sprache, in: Festschrift zur Feier der Einweihung des neuen Gymnasialgebäudes vom 27. April 1898, Münster 1898, S. 131–135; hier S. 132 f. ( zuerst Lissabon 1572 ): Frey ( wie Anm. 244 ) S. 134. Noch der Unterrichtsplan ( <Syllabus Auctorum> ) des Gymnasium Paulinum von 1725/26 nennt für die „Infima grammatices“: Emmanuelis Alvari Grammatica Latina; eiusdem Rudimenta et Syntaxeos Compendium, für die „Media grammatices“: Emmanuelis Alvari Syntaxis et Grammatica; für die „Suprema Grammatices“: Emmanuelis Alvari Syntaxis et Prosodia Latina; für die Klasse „in Humanitate“: Prosodia Emmanuelis et Rhetorica Cyriani Soarii. Eine Reproduktion des „Syllabus Auctorum“ in: Günter Lassalle ( Hg. ), 1200 Jahre Paulinum in Münster ( wie Anm. 175 ) S. 38.
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Von der Geliebten zur himmlischen Schutz- und Siegesfrau. Zur semantischen Umbesetzung einer biblischen Frau in der Hohenliedauslegung des Mittelalters und der frühen Neuzeit 1 Jüdische und christliche Auslegungstraditionen, S. 400. – Hochmittelalterliche Hoheliedexegesen im Lichte marianischer Hermeneutik, S. 400. – Metaphern des Hohenliedes, deren marianische Deutung von Maria das Bild einer im Himmel thronenden Schutzfrau vermitteln, S. 401. – Hochmittelalterliche Exegesen, S. 403. – Rezeptionen des Hohenliedes in Byzanz, S. 406. – Die schützende und kämpfende Maria in der Ikonographie, Traktat- und Predigtliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Der Turm Davids, S. 408. – Maria als Schild, S. 414. – Maria als geordnetes Kriegsheer, S. 416. – Abschließende Erwägungen, S. 423.
Das Hohelied zählt zu den Glanzstücken althebräischer Poesie. Es berichtet nicht von Erfahrungen Gottes; es beschreibt Liebende, die im Austausch ihrer Gefühle und in der Begegnung ihrer Körper erfülltes Menschsein suchen. „Liebe wird drinnen gesungen“, meinte Herder, als er auf das zu sprechen kam, „wie Liebe gesungen werden muß, einfältig, süß, zart, natürlich“. „Wir“, schrieb Goethe in seinem <Westöstlichen Divan>, „verweilen dann einen Augenblick bei dem Hohen Lied als dem Zartesten und Unnachahmlichsten, was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, anmutiger Liebe zugekommen“. Hauptthema dieser Liebesdichtung bleibe, so Goethe weiter, „glühende Neigung jugendlicher Herzen, die sich suchen, finden, abstoßen, anziehen, unter mancherlei höchst einfachen Zuständen“. Herder und Goethe lasen das Hohelied nicht als Heilige Schrift, sondern als Liebeslied, in dem zwei Liebende sich von ihren Sehnsüchten und Träumen hinreißen und beglücken lassen. Die Einsicht, dass im Hohenlied nicht göttliches Handeln, sondern Liebe zwischen den Geschlechtern eine poetische Sprache gefunden hat, gehört heute zum wissenschaftlichen Gemeingut alttestamentlicher Hoheliedexegese. Thema des Hohenliedes ist für diese „die gegenseitige Anziehung der Geschlechter, ihre Sehnsucht nacheinander und die ersehnte Vereinigung“ 2. Gegenstand der folgenden Überlegungen ist der Bedeutungs- und Funktionswandel von Metaphern des Hohenliedes, die in bildhafter Form Beziehungen zwischen zwei Liebenden zum Ausdruck brachten. Rekonstruiert werden soll die religiöse Überhöhung und politische Umdeutung erotisch gefärbter Sprachbilder, die im Verlauf einer epochenübergreifenden Aus1
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Der Drucklegung dieses Aufsatzes voraus ging ein mündlicher Vortrag zu demselben Thema auf dem Abschiedskolloquium zu Ehren von Kollegen Rüdiger Schnell, Basel, am 24. / 25. April 2008. Auch die ausgearbeitete und nunmehr gedruckte Fassung meines Kolloquiumsbeitrages bleibe dem nunmehrigen Emeritus freundschaftlich zugeeignet. Ulrich Köpf, Art. , in: TRE 15, 1986, S. 508–513 ( III. Auslegungsgeschichte im Christentum ), hier: S. 501.
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legungsgeschichte den Charakter theologischer, mariologischer und politischer Deutungsmuster angenommen haben. JÜDISCHE UND CHRISTLICHE AUSLEGUNGSTRADITIONEN
Jüdische und christliche Schriftausleger suchten in der Sprache der Liebenden die Sprache Gottes, Jesu und Mariä. Und sie fanden sie auch. Mit Hilfe von Allegoresen gelang es ihnen, die bilderreiche Sprache der Liebenden in theologische Aussagen umzudeuten. Jüdische Exegeten waren der Auffassung, den eigentlichen Sinn der Liebeslieder dadurch freizulegen, dass sie die Liebesgeschichte von zwei Liebenden in eine „Liebesgeschichte Jahwes mit seinem Volk“ umschrieben 3. Die Liebe Gottes zu seinem Volk hielten sie für das eigentliche Thema der Liedsammlung. Deren Botschaft lautete: „Israel ist die Gemeinde, die einem schönen Mädchen gleicht. Jahwe ist der unendlich Liebende, der sich immer neu um die Geliebte müht“ 4. Als Ausdrucksformen von Erfahrungen, die Israel mit seinem Gott gemacht hatte, fanden die Liebes- und Hochzeitslieder Eingang in den Kanon der vom Judentum für heilig erachteten Schriften. Die christliche Kirche folgte dem Beispiel Israels. Auch sie hat das in ihren Kanon Heiliger Schriften aufgenommen. Die maßgeblichen Fluchtpunkte der von christlichen Theologen unternommenen exegetischen Anstrengungen bildeten die Kirche und die Seele des einzelnen Christen (ecclesia vel anima ). Die Kirche galt als Braut Gottes und Gesprächspartnerin Jesu. Gesprächspartnerin konnte aber auch der einzelne Christenmensch sein, der fähig und willens war, auf mystische Weise mit Gott oder Christus zu kommunizieren. Kirchenlehrer, die in der Spätantike den Sinn des zu entschlüsseln suchten, deuteten denn auch das Liebesverlangen der beiden Liebenden als „Streben nach der unerreichbaren Gottesschau“ 5. Theologen von heute sind der Auffassung, dass im Kanon der Heiligen Schriften, denen in Frömmigkeit und Theologie des Judentums und der christlichen Kirchen grundlegende Bedeutung zukommt, das Hohelied einen legitimen Platz beanspruchen kann. Dies deshalb, weil es darüber belehren will, dass „volles Menschentum in der gegenseitigen Liebe zweier Menschen vor Gott, die sich als Partner begegnen, Erfüllung findet“ 6. HOCHMITTELALTERLICHE HOHELIEDEXEGESEN IM LICHTE MARIANISCHER HERMENEUTIK
Ein epochaler Wandel in der Auslegungsgeschichte des Hohenliedes zeichnete sich im 12. Jahrhundert ab, als Theologen der christlichen Kirche auf den Gedanken kamen, das Hohelied mariologisch auszulegen. Autoren wie Rupert von Deutz († 1129), Honorius Augustodunensis (um 1150), Philipp von Harvengt († 1183) und Wilhelm von Newburgh († um 1198) suchten und fanden in ihren Exegesen des Hohenliedes Parallelen zwischen der Jungfräulichkeit Marias und der Makellosigkeit der Kirche. Beson3 4 5 6
Karl Suso Frank, Art. , in: RAC 16, 1994, S. 65. Ebd. Ebd., S. 76. Köpf, Art. ( wie Anm. 1 ) S. 501.
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dere Aufmerksamkeit schenkten sie Marias Wirken in der Urkirche nach der Himmelfahrt Jesu. Im Lichte ihrer Hoheliedexegesen erfüllte Maria die Rolle einer „mütterlichen Führerin der Apostel“. Als solche erklärte sie ihnen die Geheimnisse des Glaubens, half ihnen bei der Abfassung der Heiligen Schriften und war besorgt um die Ausbreitung der wahren Lehre und die Gründung neuer Kirchengemeinden. Als himmlisch erhöhte Frau wirkte sie „als Helferin und unbesiegliche Schützerin der Christenheit“ 7. METAPHERN DES HOHENLIEDES, DEREN MARIANISCHE DEUTUNG VON MARIA DAS BILD EINER IM HIMMEL THRONENDEN SCHUTZFRAU VERMITTELN
Die Evangelisten schildern Maria als Mutter Jesu, die einen Heilsauftrag Gottes erfüllte, indem sie dem göttlichen Erlöser eine menschliche Natur gab. Von Schutz und Hilfe, die Maria ihren Verehrern erweist, ist in den Evangelien nicht die Rede. Dies schloss jedoch nicht aus, sich Maria als himmlische Schutzfrau vorzustellen, die ihren Verehrern in ihren seelischen und körperlichen Nöten zu Hilfe kommt. Seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert betete die morgen- und abendländische Christenheit: „Unter den Schutz deiner vielfältigen Barmherzigkeit fliehen wir, Gottesgebärerin; unsere Bitten verachte nicht in Nöten, sondern aus Gefahren rette uns, du glorreiche und gesegnete Jungfrau“ 8. Die Gebetsbitten, mit denen christliche Fromme Maria bedrängten, konnten sich nicht auf biblische Belege stützen, die ihrer Marienfrömmigkeit theologische Legitimität hätten verschaffen können. Die schützende Maria war – in der Begrifflichkeit Martin Luthers ausgedrückt – nicht schriftgemäß. Der Reformator rechnete die Darstellungen der Schutzmantelmadonna zu den „abgöttischen Bildern“ die aus den Kirchen entfernt werden sollten. In den späten dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts predigte er: „Im Bapstum haben die mahler die Jungfrau Maria gemahlet, das sie unter ihrem mantel keiser, könige, fursten und herrn versamle, sie auch schutze und gegen ihrem lieben Sohn vorbitthe, das ehr seinen Zorn und straffen gegen ihnen fallen lasse. Darumb hatt sie jederman angruffen und sie hoher geehret dan Christum. Ist also die Jungfrau Maria zum greuel oder zum abgottischen bilde und Ergernis ( jedoch ohne ihre schuld ) gemacht“ 9.
Als von Gott erwählte Frau, die ihren Verehrern in weltlichen Nöten und Belangen Schutz und Hilfe gewährt, war sie in der Heiligen Schrift nicht auszumachen. Der Apostel Paulus spricht in seinem Brief an die Epheser vom Schild des Glaubens, der dazu befähigt, „alle feurigen Geschosse des Bösen auszulöschen“ ( Eph. 6,16 ); er weiß nichts von einem Schild Marias, der marienfrommen Christen Schutz gewährt. König David rühmte die Macht Jahwes, der „ein Schild ist für alle, die sich bei ihm bergen“ ( 2 Sam. 22,31 ). Der Psalter verkündete: „Unsere Seele harrt auf Jahwe. Er ist uns Hilfe und Schild“ ( Ps. 33,20 ). Der Schutz des allmächtigen Gottes machte für bibelkundige Christen den Glauben an Marias schützende Kraft entbehrlich.
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Helmut Riedlinger, Die Makellosigkeit der Kirche in den lateinischen Hoheliedkommentaren des Mittelalters, Münster 1958, S. 206. Theodor Maas-Ewerd, Art. <Sub tuum praesidium>, in: Remigius Bäumer – Leo Scheffczyk ( Hgg. ), Marienlexikon 6, 1994, S. 327 f. Martin Luther, Matth. 18–24 in Predigten ausgelegt 1537–1540. Das achtzehnte Kapitel, in: D. Martin Luthers Werke, Weimar 1912, 47, S. 257.
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Hochmittelalterliche und frühneuzeitliche Bibelausleger, die ihrer Auslegung des Hohenliedes ein mariologisches Vorverständnis zugrundelegten, stützten sich auf die Metaphorik des Hohenliedes, um den Schutz, den marienfromme Christen von ihrer Schutzherrin erflehten und erwarteten, biblisch zu begründen. Sprachbilder, die das Marienbild nachhaltig veränderten, waren der mit tausend Schilden behängte Turm Davids ( Hld. 4,4 ), der elfenbeinerne Turm ( Hld. 7,5 ), die Mauer ( Hld. 8,10 ) sowie eine um ein Banner gescharte militärische Abteilung ( Hld. 6.3; 9 ) 10. Aus der militärischen Abteilung machte die lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus „eine geordnete Schlachtreihe“ ( castrorum acies ordinata ); frühneuzeitliche Übersetzer ins Deutsche erblickten in der militärischen Abteilung ein „geordnetes Kriegsheer“. Martin Luther meinte, die Geliebte sei „schrecklich wie die Heerscharen“ ( Hld. 6,10 ). Wie wollten die alttestamentlichen Liederdichter, deren Dichtungen von der jüdischen Synagoge und der christlichen Kirche in den Rang Heiliger Schriften erhoben wurden, die Vergleiche der Geliebten mit profanen Referenzobjekten aus dem Architektur- und Militärwesen verstanden wissen? Den Hals der Geliebten vergleichen die Liederdichter mit dem Turm Davids, der „in Schichten von Steinen erbaut“ ist und an dem „tausend Schilde hängen“, „lauter Waffen von Helden“. Ein langer Hals entsprach dem zeitgenössischen Schönheitsideal. Der Turm symbolisierte die als schön empfundene Langhalsigkeit. Das regelmäßig geschichtete Mauerwerk erwies sich als mit einem Kollier aus Gold oder Fayence vergleichbar, das aus bis zu zehn Reihen bestehen konnte. Am unteren Rand des Halskragens hingen oft tropfenförmige, dreieckige oder runde Bommeln, denen die am Turm aufgehängten Schilde entsprachen. Schilde nach einer erfolgreich geschlagenen Schlacht als Schmuck an Mauern und Türmen aufzuhängen, war ein Ritual der Kriegführung. „Vielleicht wird gerade David hier genannt, weil er ein kriegerischer König war, der Jerusalem eroberte; außerdem trugen seine Elitetruppen den Titel “ (vgl. 2 Sam 23,8) 11. Einen weiteren Anknüpfungspunkt für das Maria zugeschriebene Schutzmotiv bildete die Mauer ( murus ), als die sich die junge, heiratsfähige Frau fühlte. Die Unterstellung ihrer Brüder, dass sie keine wohlgeformten Brüste habe und wegen ihrer Flachbrüstigkeit ihre anstehende Verheiratung nicht leicht vonstatten gehe, wies sie mit dem Satz zurück: „Ich bin eine Mauer und habe Brüste wie Türme“. Die Mauer wollte sie als Symbol ihrer Keuschheit verstanden wissen, ihre turmartigen Brüste als Zeichen ihrer Heiratsfähigkeit. Ein auslegungsgeschichtlich folgenreiches Referenzobjekt, dessen sich einer der Liederdichter bediente, um die Geliebte als ehrfurchtgebietende, nachgerade als schauererregende Frau zu charakterisieren, bildete das geordnete Kriegsheer ( Hld. 6,3; 9 ). In den Metaphern Turm, Mauer, Schild und geordnetes Kriegsheer fanden mittelalterliche und frühneuzeitliche Exegeten des Hohenliedes Auslegungsmöglichkeiten, die ihrem Interesse an einer bibeltheologischen Grundlegung der von Maria ausgeübten Schlachtenhilfe entgegenkamen. Die metaphorischen Epitheta der Geliebten – den 10
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In der Kapitel- und Verszählung folge ich der Bibliorum sacrorum iuxta vulgatam clementinam nova editio, curavit Aloisius Gramatica, Typis polyglottis vaticanis 1959, S. 598. Das Hohelied. Ausgelegt von Yair Zakovitch ( Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament 30 ) Freiburg – Basel – Wien 2004, S. 187.
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Davidsturm mit seinen Schilden, die Mauer und das geordnete Kriegsheer – haben sie so umgedeutet, dass eine Sammlung weltlicher Liebeslieder den Charakter einer Heiligen Schrift annahm, in der sich Maria als schützende und kämpfende himmlische Frau zu erkennen gab. Sie schilderten Maria nicht nur als übelabwehrende Schutzfrau, die ihren Schutzmantel in rein defensiver Manier über von Kriegen heimgesuchte Städte breitet. Allegorisierende Umcodierungen machten aus Maria, wie gegenreformatorische Prediger zu sagen pflegten, eine siegverheißende und siegbringende „Kriegsheldin“ und „Kriegsgöttin“ (bellona). Die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Maria wurde deshalb als bewaffnete und mit einem Panzer bewehrte Frau dargestellt sowie als himmlisch erhöhte Schutzfrau, die Blitze, Kugeln und Steine auf die Feinde der Christenheit schleudert. Marianisch gedeutete Metaphern des Hohenliedes verwandelten Maria in eine Frau, die schützt und hilft, wenn sich Christenmenschen selber nicht mehr zu helfen wissen, die Unheil abwendet, wenn Städte und Länder von Pestseuchen und Naturkatstrophen heimgesucht werden, die in militärische Konflikte eingreift, um ihren Verehrern zum Sieg auf dem Schlachtfeld zu verhelfen. HOCHMITTELALTERLICHE EXEGESEN
Rupert von Deutz war der erste Exeget, der seiner Auslegung des Hohenliedes die Deutung der Braut auf Maria konsequent zugrunde legte. Seine wollte er als Danklied für die Menschwerdung Gottes im Schoß der Jungfrau Maria verstanden wissen. Das Hohelied, so seine Überzeugung, handle „von der Liebe, durch die Gottes Sohn in Maria Mensch geworden sei“ 12. Den Davidsturm des Hohenliedes deutete er als Chiffre für Tugenden Marias, einer Tochter Davids. Der Turm Davids repräsentierte nach Ansicht des Benediktiners aus Deutz Marias Demut ( humilitas ), ihre Stärke ( fortitudo ) und ihre Weisheit ( sapientia ). In den Brüsten der Braut, die ihr Geliebter mit einem Turm vergleicht ( Hld 8, 10 ), sieht er ein Symbol für Marias Jungfräulichkeit ( virginitas ) und Fruchtbarkeit ( fecunditas ) 13. Weil die Braut des Hohenlieds als schön ( pulchra ) und furchtgebietend ( terribilis ) gerühmt wird, sei davon auszugehen, dass Maria sowohl ‚süß‘ ( suavis ) als auch ‚furchtgebietend‘ (terribilis ) war – süß wie Jerusalem, furchtgebietend wie ein geordnetes Kriegsheer 14. Als sich Rupert von Deutz über den Symbolwert des elfenbeinernen Turms Gedanken machte, fragte er sich, unter welchen Gesichtspunkten die marianisch gedeutete Architektur des elfenbeinernen Turms stark (fortis ) und liebenswert ( amabilis ) sei. Seine Antwort ist eindeutig: Stark und liebenswert ist sie dann, wenn es um den Schutz und die Wahrung göttlicher Belange geht 15. Der Benediktinermönch Honorius Augustodunensis, der in der Mitte des 12. Jahrhunderts einen Hoheliedkommentar verfasste, verglich Maria mit einer Burg
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Friedrich Ohly, Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200, Wiesbaden 158, S. 125. Rupertus Tuitiensis, Commentaria in Canticum Canticorum, hg. von Hrabanus Haacke ( CC Cont. Med. 26 ) Turnhout 1974, S. 75 f. Ebd., S. 134. Ebd., S. 148.
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( castellum ), in die Jesus eintrat ( Luk. 10, 38 ), als er in Marias Schoß eine menschliche Natur annahm. Den hohen Turm in dieser Burg deutete er als Symbol von Marias Demut. Die äußere Mauer, die in Burganlagen Bürgern im Innern der Burg Schutz ( tutela ) gewährt, bezog er auf Marias Enthaltsamkeit ( castitas ) 16. Guibert von Nogent ( 1055– um 1125 ) bezeichnete in einer Marienpredigt unter Berufung auf Luk. 10, 38 Maria als Burg, die mit einem Turm der Demut (turris humilitatis ) und einer Mauer der Jungfräulichkeit ( murus virginitatis ) befestigt war 17. Der Pariser Magister Alanus ab Insulis ( um 1125/30–1203 ) deutete den Turm Davids als Metapher für die Demut Mariens ( humilitas Mariae ). In den Vorwerken dieses Turmes ( propugnacula huius turris ) fand er Marias Tugenden abgebildet: ihren Gehorsam, ihre Geduld und ihre Enthaltsamkeit, welche ihre Demut festigten 18. Den Vers „Ich bin eine Mauer und meine Brüste sind ein Festungsturm“ ( Hld. 8, 10 ) nahm der Verfasser des <St. Trudberter Hohenliedes> zum Anlass, Maria als eine „Mauer der freiwilligen Demut und freiwilligen Armut“ zu schildern, die mit heiligen Tugenden bewehrt war 19. Maria, betonte Richard von St. Laurentius, ein Autor des 13. Jahrhunderts, der einen Traktat verfasst hatte, sei mit einer Mauer vergleichbar wegen der Stärke und Hartnäckigkeit, mit der sie am Vorsatz ihrer Jungfräulichkeit festgehalten habe 20. Der Franziskanertheologe Bonaventura ( 1217–1274 ) rühmte Maria als „unbesiegbare Kämpferin“ ( pugnatrix invicta ) 21. In Hymnen und Gebeten wurde Maria mit der Bitte angerufen, sie „möge uns sein ein Turm der Stärke“ ( turris nobis sit fortitudinis ), an dem tausend Schilde hängen, welche Glaubenden „Kraft des Glaubens“ ( robur fidei ) geben 22. Volkssprachliche Prediger und Mariendichter, die in ihren Predigten und Dichtungen Sprachbilder des Hohenlieds benutzten, machten sich die allegorischen Deutungen der lateinisch schreibenden Kommentatoren des Hohenliedes zu eigen. „Mit der mure“ so heißt es in einer altdeutschen, mystisch geprägten Predigt, „ist gemerchet der chuske lip miner frowen Sancte Marien, der vil wol bewart unt besetzet was mit dem himelisken wahtaeren [ Wächter ], den heiligen engeln; mit dem tuorn ist gemerchet ir heiligiu sele, diu wol behangen was mit dem schilte der sterche …“ 23.
Die häufig anzutreffende Deutung des Davidsturmes als Turm der Demut ( turn der deumuotin ) ist in der lateinischen Traktatliteratur ein häufig wiederkehrender Topos 24.
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Anselm Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Mit Berücksichtigung der patristischen Literatur, Linz 1893, S. 289. Ebd., S. 289. Ebd., S. 291. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik 2, Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, S. 46 f. Salzer, Sinnbilder ( wie Anm. 15 ) S. 290. Ebd., S. 546. Ebd., S. 286. Ebd., S. 286. Bonaventura schrieb in seiner Auslegung des Lukasevangeliums: Humilitas Mariae erat sicut turris David. Zitiert nach Salzer, Sinnbilder ( wie Anm. 15 ) S. 291.
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Dominant bei der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen einem Turm und Maria war das Motiv des Schutzes. Wie der Turm einer profanen Befestigungsanlage als Ort der Zuflucht Schutz vor dem Feind biete, gewähre Maria den Menschen, die sich hilfesuchend an sie wenden, Schutz vor inneren Anfechtungen und äußeren Gefahren. Ein Sinnbild des Schutzes, der Festigkeit und der Stärke war der Turm auch im Psalter. Deshalb konnte der Psalmist in seiner Not zu Jahwe beten: „Du bist meine Zuflucht / ein fester Turm gegen die Feinde“ ( 61,4 ). In der marianischen Symbolik des Hohenliedes ist der Turm sowohl eine Metapher für Marias sittliche Vollkommenheit als auch für den Schutz, den sie ihren hilfesuchenden Verehrern gewährt. Der Prämonstratenser Philipp von Harvengt ( um 1100–1183 ) betont in seinen nachdrücklich die Schutzfunktion des Turmes, indem er turris, das lateinische Äquivalent von Turm, von schützen ( tueri ) ableitet. Der Turm, versichert er, sei ein Bild Marias, die zu unser aller Schutz mit vielfacher Stärke ausgerüstet sei ( ad nostram omnium defensionem multiplici fortitudine praeparatur ) 25. Der Augustinerchorherr Wilhelm von Newburgh ( Yorkshire ) verfasste keine „lyrisch beschwingte Hoheliederklärung“, sondern eine „in ruhiger Sachlichkeit dahinfließende Erklärung“, in der er immer wieder die Verbindung von Marias Mutterschaft mit ihrer Jungfräulichkeit zur Sprache brachte 26. Die Selbstbeschreibung der Geliebten, die sich im Hohenlied als Mauer versteht und ihre Brüste mit Türmen vergleicht ( Hld. 8, 10 ), las er als Selbstaussage Marias folgendermaßen: „Ich bin eine unüberwindliche Mauer. Meine Brüste sind nicht nur Brüste, sondern auch ein Turm, das heißt: Sie besitzen nicht nur die Kraft zu ernähren, sondern auch die Kraft zu schützen“ (non tantum nutriendi, sed etiam protegendi vim habent [ ubera ] ) 27.
Unter Bezugnahme auf die turmartigen Brüste der biblischen Braut entwirft der Exeget von Maria das Bild einer unbesiegbaren Schutzfrau der Christenheit. Indem er dies tut, gibt er der von Schutzerwartungen nachhaltig geprägten Marienfrömmigkeit ein biblisches Fundament. Als sich Richard von St. Laurentius ( 13. Jh. ) Gedanken darüber machte, weshalb Maria mit einer Mauer vergleichbar sei, versicherte er: Wie eine Mauer den inneren Kernbereich einer Stadt beschütze, damit die Besitzungen der Bürgern nicht zerstört werden, so schütze Maria als eine unüberwindbare Mauer ( murus inexpugnabilis ) die inneren Güter der Kirche – ihre guten Werke, ihre Gnaden und Tugenden –, damit diese nicht von bösen Geistern und von amoralischen Lastern geplündert werden. Maria schütze auch die Glaubenden gegen die Verführungskünste des Teufels. Sie bewahre Christen davor, vom Teufel ihrer geistlichen Waffen und sittlichen Tugenden beraubt zu werden 28. Maria sei der Turm, den Gott in der Mitte seines Weinberges ( Is. 5,2 ) ad tuitionem et defensionem Ecclesiae catholicae errichtet habe, damit die Weinbeeren, gemeint sind die kirchentreuen Glaubenden ( fideles ), nicht vernichtet werden 29. 25 26 27 28
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Philipp von Harvengt, Commentaria in Cantica canticorum, in: Migne PL 203, Sp. 375. Riedlinger, Makellosigkeit der Kirche ( wie Anm. 6 ) S. 220. Ebd., S. 222 Anm. 7. Richard von St. Laurentius, De laudibus Beatae Mariae Virginis, XI, c. 7, in: Auguste Borgnet ( Hg. ), B. Alberti Magni Opera omnia, Paris 1898, 36, S. 577. Ebd., S. 574.
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Christen, die in ihren Nöten und Gebrechen bei diesem Turm Zuflucht suchen, können damit rechnen, von Maria beschützt und gegen teuflische Mächte verteidigt zu werden 30. Generell ist festzuhalten: In der mariologischen Symbolik mittelalterlicher Theologen werden die Bilder vom Turm, der Burg und der Mauer „entweder zur Menschwerdung Christi in Maria in Beziehung gesetzt und dann die einzelnen Teile der Burg auf die Tugenden Mariens gedeutet, die sie gleich der Mauer und dem Turme vor den Gefahren schützten, oder darin ein Bild des Schutzes gesehen, den Maria den Menschen gewährt“ 31. REZEPTIONEN DES HOHENLIEDES IN BYZANZ
Theologen der abendländischen Christenheit bezogen den von Maria ausgehenden Schutz vornehmlich auf die Abwehr sündhafter Anfechtungen und teuflischer Versuchungen. Von lebensweltlichen Interessen nachhaltiger geprägt war die Marienfrömmigkeit griechisch-orthodoxer Christen. Ihren Glauben, dass Maria ihnen auch dann helfe, wenn es gelte, Wege durch einen von äußeren Nöten und Gefahren verdüsterten Alltag zu finden, stützten sie auf Sprachbilder des Hohenliedes. Diese deuteten sie als Chiffren für konkrete Schlachtenhilfen Marias. Als im Jahre 626 Konstantinopel von den Awaren belagert wurde, organisierte in der Abwesenheit von Kaiser Heraklius der Patriarch Sergius die Verteidigung der Stadt. Mit Hilfe Marias, der er die Stadt weihte, konnte er nach zehn Tagen die Awaren vertreiben. „Deshalb“, berichtet Georg von Pisidien ( † nach 630 ), der als Augenzeuge die Belagerung Konstantinopels erlebte, „singen wir der siegreichen Gottesmutter ein Danklied“ 32. In Erinnerung an die damalige Befreiung Konstantinopels von den Awaren wurde später der achte August als Feiertag betrachtet. Die in der Blachernen-Kirche von Konstantinopel gefeierte Liturgie lautete: „Gedächtnis der Befreiung von den Barbaren, als man die heilige Gottes-Mutter darum bat und die Angreifer ins Meer zurückgeworfen wurden“ 33. Als 718 die Awaren Byzanz belagerten, predigte der damalige Patriarch Germanos ( 715–730 ): „Du bist unsere Kraft, unsere Mauer und unsere Festung“. Um Maria zu bewegen, sich als schützende Mauer zu bewähren, trug der Patriarch, gefolgt von Klerikern und Laienchristen Konstantinopels, die Ikone der Maria Hodegetria zusammen mit einer Kreuzreliquie auf die Verteidigungsmauern der Stadt. Maria half. Sie schlug die Belagerer in die Flucht. Auch in den Jahrhunderten danach konnte sich Konstantinopel, das Zentrum des byzantinischen Reiches, auf ihre „siegbringende Gottesmutter“, ihre „Theotokos Nikopoia“, verlassen 34. Im frühmittelalterlichen Akathistos-Hymnus der orthodoxen Kirche, einem theologisch tiefgründigen, poetisch bilder- und farbenreichen Hymnus zu Ehren der Gottesmutter, wird Maria besungen und verehrt als „unerschütterlicher Turm der Kirche“
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Ebd., S. 576. Salzer, Sinnbilder ( wie Anm. 15 ) S. 287. Gilles Gérard Meersseman, Der Hymnos Akathistos im Abendland, Spicilegium Friburgense 2, Freiburg Schweiz, S. 37. Ebd., S. 38. Marienlexikon 3 ( wie Anm. 7 ) S. 626.
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sowie als „unbezwingbarer Schutzwall des Königtums“, desgleichen als „unbezwingbarer Schutzwall der Jungfrauen und aller, die sich zu Dir flüchten“ 35. Bemerkenswert bleibt, dass in Bilderzyklen der byzantinischen Wandmalerei des 14. Jahrhunderts, welche die marianischen Ehrentitel des Akathistos-Hymnus verbildlichen, die Mauer als architektonisches Hintergrundmotiv auftaucht, das „sicher auf die Metapher der Maria als <Schutzwall der Jungfrauen>“ zurückgeht 36. Im zweiten Proömium zum Akathistos-Hymnus ist es die durch Maria von Feinden befreite Reichshauptstadt Konstantinopel, welche die Gottesmutter Maria folgendermaßen anredet: „[ Dir ], der Heerführerin, der Beschützerin [ gelten ] die Siegeslieder, [ die ] ich als deine aus den Nöten befreite Stadt Dir, o Gottesgebärerin, zum Dank [ wie ] eine Inschrift widme. Weil Du aber unüberwindliche Kraft hast, so befreie mich aus allen Bedrängnissen, damit ich Dir zurufe: Gegrüßet Du, unversehrte Mutter“ 37.
Der in Byzanz herrschende Glaube an Marias konkrete Schlachtenhilfen erreichte im 13. Jahrhundert auch westliche Kirchen. Symptomatisch hierfür ist Marias Hilfe in einem militärischen Konflikt zwischen dem Bischof und der Bürgerschaft von Straßburg. Als es zwischen beiden Konfliktpartnern 1262 zur Schlacht kam, ergriff Maria Partei für die städtische Bürgerschaft und ebnete ihr den Weg zu größerer Freiheit. Jakob Twinger von Königshofen ( † 1420 ) berichtet darüber. Eindringlich hebt er hervor: Hätte „got und sine liebe muter, die do patrona ist und frowe des münsters und der stette“, den Bürgern von Straßburg nicht geholfen, der Bischof hätte sie um ihr Recht und ihre Freiheit gebracht 38. Thomas Murner ( † 1537 ) beschreibt hundert Jahre später denselben kriegerischen Vorgang so: „So groß war in der Tat die Zahl der feindlichen Krieger, dass sie mit menschlicher Hilfe nicht besiegt werden konnten. Als sie nun auf das härteste aneinander gerieten, sah man die mitleidige Gottesmutter in ungeheurer Größe mit weit ausgestreckten Armen dastehen, um ihre Stadt und ihr Volk zu schützen, und da die Straßburger wegen der gewaltigen Größe der Jungfrau nicht gesehen werden konnten, so warfen sie die Feinde unter dem Schutz dieser Mauer in blutigster Niederlage zu Boden und erlangten durch den Arm der glorreichen Jungfrau ihre Freiheit wieder“ 39.
Möglich geworden ist solcher Glaube an Marias Schlachtenhilfen durch ein Marienbild, das, vergleichbar mit dem von Byzanz, sich lebenspraktischen Auslegungen des Hohenliedes verdankte. Für die Kirche des Ostens und des Westens bewährte sich das Hohelied als religiöser Nährboden, der, wenngleich zeitverschoben, den Glauben an Marias schützende und helfende Macht hervorbrachte.
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Alexandra Pätzold, Der Akathistos-Hymnos. Die Bilderzyklen in der byzantinischen Wandmalerei des 14. Jahrhunderts, Stuttgart 1989, S. 135; 133. Ebd., S. 52. Meersseman, Hymnos Akathistos ( wie Anm.31 ) S. 37. Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 9. Die Chroniken der oberrheinischen Städte, Straßburg 2: Jacob Twinger von Königshofen, Leipzig 1871, S. 663. Zitiert nach Gabriela Signori, Patriotische Heilige? Begriffe, Probleme und Traditionen, in: Dieter Bauer – Klaus Herbers – Gabriela Signori ( Hgg. ), Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne, Stuttgart 2007, S. 30.
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DIE SCHÜTZENDE UND KÄMPFENDE MARIA IN DER IKONOGRAPHIE, TRAKTAT- UND PREDIGTLITERATUR DES SPÄTEN MITTELALTERS UND DER FRÜHEN NEUZEIT
Der Turm Davids Es waren nicht nur gedruckte Texte, die den Turm Davids als marianisches Symbol populär machten. In Blockbüchern aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die den Text des enthalten, finden sich Bildsequenzen, die Motive und Metaphern des Hohenliedes illustrieren 40. Verbildlicht wurde auch der mit Schilden behängte Turm Davids. Die Miniatur des Davidsturmes, die sich in einem Blockbuch der Münchener Staatsbibliothek befindet, zeigt die gekrönte Maria, vor einem mit Schilden bewehrten und mit kleinen Türmen umringten Turm sitzend ( Abb. 60 ). Den Bezug zum Hohenlied vermitteln Schriftbänder mit zwei Zitaten aus dem Hohenlied. Das eine lautet: Collum tuum sicut turris [ David ] quae edificata est cum propugnaculis mille clypei pendent ex ea omnis armatura fortium ( Hld. 4,4 ) ( Wie der Turm Davids ist dein Hals, mit Zinnen versehen; / tausend Schilde hängen daran, lauter Waffen von Helden ). Das andere lautet: Ego murus, et ubera mea sicut turris ex quo facta sum coram eo. ( Hld. 8, 10 ) ( Ich bin eine Mauer, und meine Brüste gleichen Türmen, weswegen ich in seinen Augen Gefallen fand ). Das Bild vergegenwärtigt eine Maria, die gegen sündhafte Versuchungen und weltliche Gefahren Schutz gewährt. Zu der überwältigenden Fülle der über 325 Decken- und Empore-Emblemen, mit welchen die Loreto-Wallfahrtskirche von Hergiswald im schweizerischen Kanton Luzern ausgemalt und auf diese Weise nachgerade in ein Kompendium römisch-katholischer Marienlehre verwandelt wurde, gehört auch der marianische Turm, neben dem Blitze einschlagen ( Abb. 61 ). Als Umschrift trägt der Turm folgende Marienrede: „NON FERIOR HUC FUGE“ ( Ich werde nicht getroffen, fliehe nach hier ). Das Bild will ein Versprechen Mariens zum Ausdruck bringen. Dieses lautet: Der Blitz kann dem wehrhaften Turm, einem Sinnbild für Marias Schutz und Schirm, keinen Schaden zufügen. Wer in Zeiten der Gefahr in den Turm flüchtet, den erreicht kein Unheil 41. Im Kongregationssaal der 1577 von den Jesuiten in Ingolstadt gegründeten marianischen Studentenkongregation befindet sich ein Deckenfresko von Cosmas Damian Asam ( 1686–1739 ), das die marianische Turmmetaphorik des Hohenliedes aufnimmt und verbildlicht. Links neben dem Tempel Salomos, vor dem Maria betet, ragt der gelblich getönte elfenbeinerne Turm ( turris eburnea ) in die Höhe. Auf der gegenüberliegenden Seite ist der Turm Davids ( turris Davidica ) mit vielen Schildern, Schießscharten und Fahnen dargestellt 42. Als Mariensymbole begegnen der Turm Davids und der elfenbeinerne Turm auch in Bild- und Inschriftenkartuschen bayerischer Barockkirchen. In der 1752 errichteten Pfarrkirche von Hohenpolding (Landkreis Erding) befindet sich sowohl ein Emblem vom (Abb. 62) als auch vom (Abb. 64). Da40
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Vgl. dazu Max Engammare, Das Blockbuch – die erste Serie von Abbildungen des Hohenliedes, in: Blockbücher des Mittelalters. Bilderfolgen als Lektüre, hg. von Gutenberg-Gesellschaft und Gutenberg-Museum, Mainz 1991, S. 319–327. Dieter Bitterli, Der Bilderhimmel von Hergiswald. Der barocke Emblemzyklus der Wallfahrtskirche Unserer Lieben Frau in Hergiswald bei Luzern, seine Quellen, sein mariologisches Programm und seine Bedeutung, Luzern 21999, S. 243. Marco Benini, Fresko in Bewegung. Maria de Victoria Ingolstadt, Ingolstadt 2002, S. 20, 23.
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vids Turm ist mit Schilden behangen. Darüber ist ein Marienmonogramm angebracht. Die Unterschrift lautet: „Aller Treuen diener schaar / Hilffe, schick vnd bewahr“ 43. Aus dem elfenbeinernen Turm schauen drei Elefanten mit langen Rüsseln. Über diesen ist ein Marienmonogramm angebracht. Mit dem Elfenbein, aus dem die Zähne der Elefanten bestehen, wird Maria verglichen als Sinnbild der Stärke und des Schutzes. Die weiße Farbe des Elfenbeins verweist auf Marias Reinheit. Die Unterschrift zu diesem Emblem lautet: „Mein stärcke, kunst, vnd schutz ist allen Menschen Nutz“. Der Turm Davids in der Wallfahrtskirche von Kirchwald (Gemeinde und Pfarrei Nußdorf am Inn) besitzt das Aussehen eines gewaltigen Festungsturmes. Er ist mit zwei Kanonen bewehrt und von Lanzen starrend. Er trägt die Unterschrift: „davidischer Thurn / mit waffen versechen / Laß unß o Maria / all darunter bestehen“ 44. Die Embleme des mariologisch gedeuteten Turm Davids, mit denen Kirchenbesucher jahraus jahrein konfrontiert werden, sind bildhafte Ausdrucksformen eines beharrlichen Hoffens auf den Schutz Marias. Einen Wendepunkt in der Rezeptions- und Auslegungsgeschichte des Hohenliedes bildete der um 1439 von dem sog. Albrechtsmeister angefertigte Altar, den König Albrecht II. für die Wiener Karmelitenkirche „Zu den neun Chören der Engel“ gestiftet hatte. Dargestellt wird auf einem Bild dieses Altars eine Maria, die, in ritterlicher Rüstung gekleidet, vor dem Turm Davids steht ( Abb. 59 ). Die vier Engel zu seiten Marias tragen gleichfalls einen Harnisch; in ihren Händen halten sie Lanzen. Schwert, Armbrust und Teile einer Rüstung, mit denen der Turm behängt ist, erinnern an die Waffen der Starken, von denen im Text des Hohenliedes die Rede ist ( Hld. 4,4 ). Auf einem über Maria gewölbten Schriftband wird ausdrücklich auf die Vergleichbarkeit zwischen Maria und einem Turm hingewiesen. Zu lesen ist da: „wie der Turm Davids mit Waffen befestigt“ ( ut turris david armis fulta ). Betrachter der Darstellung mochten sich an Bilder und Motive aus der Bibel erinnert fühlen, insbesondere an den Turm Davids und an das furchtgebietende Kriegsheer aus dem Hohenlied, desgleichen an die starke Frau aus den Sprüchen Salomos sowie an die Ermahnung des Apostels Paulus, zum Kampf gegen die Mächte der Finsternis die Waffen des Glaubens anzulegen ( Eph. 6,11–17 ). Die Maria des Albrechtsaltares gibt sich als Frau zu erkennen, die nicht nur gegen unsichtbare dämonische Mächte schützt, sondern auch als „unbesiegbare Kämpferin“ 45 siegbringend in innerweltliche militärische Konflikte eingreift. Die Mariendarstellung des Albrechtsaltars, die Maria als waffenbewehrte Frau abbildet, begründete in der spätmittelalterlichen Marienikonographie keinen Bildtypus mit einer weitreichenden Breitenwirkung. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass in frühneuzeitlichen Erbauungsschriften eine mit Helm, Schild und Schwert bewaffnete Maria begegnet, welche die ruchlosen Feinde der Kirche bekämpft und Gewalt mit siegreicher Gegengewalt überwindet ( Abb. 63 ) 46. 43
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Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland, begründet von Hermann Bauer und Bernhard Rupprecht, fortgeführt von Frank Büttner, Bd. 7, Freistaat Bayern, Regierungsbezirk Oberbayern. Landkreis Erding, München 2001, VII, S. 163; 162 Nr. 27 ( Abb. 62 ) und 28 ( Abb. 64 ). Ebd., Bd. 12, Freistaat Bayern, Regierungsbezirk Oberbayern, Stadt und Landkreis Rosenheim. – Teil 2. Jakobsberg bis Windhag München 2006, S. 320a, 322a. Salzer, Sinnbilder ( wie Anm. 15 ) S. 546, Anm. 7. So in der von dem Kapuziner Isaac von Ochsenfurth verfassten und 1700 in Augsburg gedruckten Schrift mit dem Titel <Elogia Mariana ex Lytaniis Lauretanis deprompta>, Elogium vigesimum septimum: Turris Davidica, zwischen S. 254 und 255.
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Zu glauben, dass Marias Stärke mit der unüberwindlichen Wehrhaftigkeit eines Turmes vergleichbar sei, stärkte Christen der frühen Neuzeit in ihrem Vertrauen auf Marias Schutz und Schirm. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts pflegten sie in der Lauretanischen Litanei Maria als „starken Turm Davids“ anzurufen 47. In einem 1654 im Landsberger Gymnasium aufgeführten Jesuitendrama betete Don Juan d‘Austria, der in der Schlacht von Lepanto im Jahre 1571 die Flotte der Verbündeten befehligte, zu „Maria, dem wolbewaffneten Thurn Davids“. Bei der himmlischen Frau fand er Gehör. In diesem „heilige[n] Krieg“ übergab sie ihm siegbringende „Woehr und Waffen“ 48. Der im Hohenlied erwähnte Turm Davids zählte zu den marianischen Ehrentiteln der Lauretanischen Litanei, die der Jesuitentheologe Petrus Canisius in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Deutschland bekannt gemacht hatte. Wo immer die zu Ehren Marias in Loreto gepflegte Lauretanische Litanei gebetet, in Predigten und Traktaten erläutert und erklärt wurde, stellte sich die Frage, was Maria und der Turm Davids miteinander vergleichbar mache. Als Jakobus Stengel, Abt des Benediktinerklosters Auhausen, in seiner 1637 gedruckten <Erklerung Der Lauretanischen Letaney> darüber Rechenschaft geben wollte, weshalb Maria einem „Thurn Davids, daran tausent Schilt hangen / vnd allerley Waffen der Starcken“ ( Hld. 4,4 ) gleich zu achten sei, antwortete er: Maria beschütze nicht allein Kirchen, sie erlege auch alle ihre Feinde. Dies bringe Maria zustande, weil sie „das allgemeine Zeughauß“ sei, „darinnen alle Waffen so wol zum beschirmen / als zum bestreitten fuer alle Staend der Menschen tauglichen begriffen seyn“. Wie David in Jerusalem „ein hoche vnnd sehr veste Burg oder Thurn gebawen in der Statt Jerusalem selber wider alle Einfaell der Feinden: Also hat Gott in seiner Kirchen MARIAM als ein Thurn gebawen auff der hoechsten Staffel der Gnaden vnd deß Gewalts / auff daß sie von Maenigklich gesehen vnd angeruffen werden koente / als ein veste Fuermaur wider die geistliche Boßheiten / wider die Ketzer / vnnd Verfolger der Kirchen: also daß die Porten der Hoellen Sie niemahlen vbergwaeltigen koenden“.
Allen, die in ihren Nöten Maria anrufen, gewährt sie Hilfe. „Deßwegen sollen wir in all vnserer Versuchung / vnd Noth / wider alle Feind vnser Zuflucht [ zu Maria ] nemmen / dann tausent Schilt hangen daran / vnd allerley Waffen der Starcken. O MARIA du staerkester Thurn beschuetze mich / der von den Feinden bestritten wirdt / hilffe dem vndertruckten / stercke den Schwachen“ 49.
Abraham a Santa Clara deutete in einer 1680 gehaltenen Predigt, in der er die marianischen Sinnbilder der Lauretanischen Litanei erklärte, den „Thurn Davids“ als „Sichere Zuflucht der Christen“, als „Schildt deren / so in dich hoffen“, als „Bollwerck der Christglaubigen“, als „Unueberwindliche Pastey vnsers Glaubens“ 50. Das dazugehörige Emblem bedachte er mit folgenden Versen: 47
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Gerhard Hölzle, <Maria die Sieges-Frau>. Die literarische Marienverehrung in Bayern im Zuge der Lepanto-Schlacht, in: Verein für Augsburger Bistumsgeschichte, Jahrbuch 36, Augsburg 2002, S. 538 Anm. 38. Ebd., S. 545. Karl Stengel, Erklerung Der Lauretanischen Letaney, München 1637, S. 123 f. Theophilus Mariophilus [ Abraham a Santa Clara ], Stern / So auß Jacob auffgangen MARIA, Deren Heilige Lauretanische Litaney mit so viel Sinn-Bildern / als Titulen Mit so viel Lob-Sprüchen / als Buchstaben in jedem Titul seyn / Vermehret / vnd gezieret worden, Wien 1680, S. 81.
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Die Thuern / vnd Schloesser hoch Auff Bergen sicher stehen / Wann eine Feindes-Macht Auff sie sucht loß zu gehen; Laß d‘Hoell / vnd alle Feind Der Welt / wider dich spitzen Die Waffen / vnd die Pfeil / MARJA wird dich bschuetzen 51. Den „Helffenbeinernen Thurn“ charakterisiert er als „Rist-Zeug deß Heerlagers / so da herrlich leuchtet in der Hoehe / am Firmament deß Himmels“. Um die Macht des Gebets zu veranschaulichen, die kriegführenden Christen zum Sieg verhilft, beteuerte Abraham a Santa Clara in seiner 1683 gedruckten Schrift „Auff / Auff ihr Christen! Das ist / Ein bewegliche Anfrischung der Christlichen Waffen wider den Türckischen Bluet-Egel“: Das Gebet der Türken zu ihrem Gott sei „krafftloß / vnd safftloß / vnd machtloß“. Das Gebet der Christen hingegen besitze „Macht vnd Staercke“. Es wirke wie ein „Thurn David[ s ] / an dem tausend Schild hangen ( Hld. 4,4 ), wider den Tuercken“, und gleiche dem „Bantzer deß Judae Machabaei ( I Macc. 3,3 ), mit deme wir vns vor disen barbarischen Hunden schuetzen“ 52. Im Lichte solcher Deutungsangebote sollte die Wiener Bevölkerung das Kriegsgeschehen wahrnehmen. Fortunat Troyer, ein Regularkanoniker aus Neustift in Tirol, veröffentlichte in seinen 1680 in Innsbruck erschienenen <XLV Discvrsvs Oder Fuenff vnd viertzig Sinn-Reden vnd Tittel / Vber Vnser Lieben Frawen Letaney zu Loreto> eine eigene Predigt über Maria als Turm Davids. In dieser beschwor er nicht nur Marias Stärke, sondern auch ihre heilsgeschichtliche Sendung. Maria sei der „allerhoechste vnd staerckiste Thurn / die vnveberwindliche Voestung vnd Brustwoehr wider alle Anlauff oder Belaegerung der boesen Geister; dann dieser Thurn Maria beschuetzet vns von allen Gefahren“. Voraus gesehen habe diesen „voesten Thurn / Brust – vnnd Schutz – Woehr deß Menschlichen Geschlechts“ König David, als er zu Maria rief: „Maria / du bist meine Hoffnung / O Jungfraw / vnd Zuversicht / ein starcker Thurn / vor meinen Feinden. Ich will wohnen in deinen heiligen Huetten ewiglich / vnd beschuetzet werden / vnter der Decke deiner Fluegel“ ( Ps. 61, 4 f. ) 53.
Drei Dinge seien typisch für einen Turm: seine Höhe, seine Stärke und seine Sicherheit. Die Höhe des Turmes sei ein Sinnbild für Marias „hochsinnige Betrachtungen“, die bis zur „Hoehe der vnbegreiflichen Gottheit“ gelangten. Weil Maria während ihrer ganzen Lebenszeit „in der Vertieffung bey Gott gewesen“ sei, stelle sich die Frage, was denn stärker oder fester sein könne „als diser von Gott erbawte Thurn Davids“. Ein „voester vnvnueberwindlicher Thurn“ sei Maria auch deshalb, weil in die51 52
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Ebd., S. 80. Abraham a Santa Clara, Auff / Auff ihr Cristen! Das ist / Ein bewegliche Anfrischung der Christlichen Waffen wider den Tuerkischen Bluet-Egel; Sambt beygefuegten Zusatz viler herrlichen Victorien vnd Sieg wider solchen Ottomanischen Erb-Feind; Wie auch andere Sittlicher Lehr- vnd Lob-Verfassung der Martialischen Tapfferkeit, Salzburg 1683, S. 303, 305 f. Fortunat Troyer, XLV Discursus. Oder Fuenffvndvierczig Sinn-Reden vnd Tittel / Vber Vnser Lieben Frawen Letaney zu Loreto, Wien 1680, S. 235 f.
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sem Turm Gott selber Wohnung genommen habe. Man möge diesen Turm belagern und bestürmen, mit Granaten und Bomben bewerfen, er bleibe „voest / vnbewegt vnd vnueberwindlich. Maria ist versehen mit Pallisaden vnd Approchen [ Laufgräben mit einer Brustwehr ] / etc. der Goettlichen Genaden“ 54. Der Kapuziner Isaac von Ochsenfurth, der im ausgehende 17. Jahrhundert die Lauretanische Litanei kommentierte, wählte aus dieser drei Ehrentitel aus, um Marias Schlachtenhilfe zu beschreiben und abzubilden: den Turm Davids ( turris Davidica ), den elfenbeinernen Turm ( turris eburnea ) und die Hilfe der Christen (auxilium Christianorum ). Zu dem marianischen Ehrentitel Turm Davids bemerkte er: Maria sei mit einem Turm vergleichbar wegen seiner Stärke ( propter firmitatem ). Stärke bewiesen habe Maria, als sie nach Art eines guten Soldaten ( more boni militis ), der seine Lanze in das Haupt seines Gegners stößt, die teuflische Schlange vernichtet habe. Was Maria überdies mit einem Turm vergleichbar mache, sei dessen Schutzfunktion. Türme seien starke Bauwerke, die in Kriegszeiten der Bevölkerung von Dörfern, Städten und Herrschaftssitzen Schutz gewähren. Dies treffe auch auf Maria zu, die mit der ihr eigenen Macht des Schutzes ( protegendi vis ) ihren Schützlingen beistehen würde 55. Die turris eburnea rühmte der Verfasser als starkes Vor- und Bollwerk – sowohl in politisch-militärischen als auch in ethisch-religiösen Belangen 56. Das Elfenbein des Turmes verweise auf das Elfenbein des Elefanten, dessen Bild einem Kommentar des Textes gleichkomme ( Abb. 65 ). Der Elefant trägt einen turmartigen Aufbau, in dem Maria und ihr Kind Platz genommen haben. Das Jesuskind stößt einen Kreuzstab in den Rachen des Drachens. In der mariologischen Literatur mittelalterlicher Kirchenschriftsteller galt der Elefant „als ein Symbol der Starkmuth, des Gehorsams, der Sanftmuth, der Klugheit, der Milde/ der Feindschaft Mariens gegen die Schlange, des sicheren Schutzes, den sie einem Thurme gleich den Menschen gewährt, ihrer Nächstenliebe und insbesondere ihrer Keuschheit“ 57. Als wirksame Hilfe der Christen ( auxilium Christianorum ) habe sich Maria in der Schlacht von Lepanto ( 1571 ) bewährt 58. Mit Hilfe der Gottesmutter ( Deiparae auxilio ) hätten die katholischen Verbündeten den Sieg über die türkische Flotte errungen. Zum Sieg beigetragen hätten insbesondere die römischen Rosenkranzbeter, deren Bitten Maria erhört habe. Diese Überzeugung habe Papst Pius V. bewogen, den marianischen Ehrentitel „Hilfe der Christen“ ( auxilium Christianorum ) in die Lauretanische Litanei aufzunehmen. In einer seiner 1693 veröffentlichten Lobpredigten über Marias Ehrentitel in der Lauretanischen Litanei befasste sich Georg Pistorius, Fürstlicher Rat in Pfalz Neuburg, Dekan und Pfarrer in Lauingen an der Donau, mit der Realgeschichte von Davids Turm, mit dessen marianischer Symbolik und mit Marias tugendhafter Lebensführung, an der sich Christen ein Beispiel nehmen sollen. Zwischen Maria und dem 54 55
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Ebd., S. 236 f. Isaac von Ochsenfurth, Elogia Mariana ( wie Anm. 45 ) Elogium vigesimum septimum, Turris Davidica S. 254–262. Ebd., Elogium vigesimum octavum, Turris eburnea, S. 263–272. Bild des Elefanten vor S. 263. Salzer, Sinnbilder ( wie Anm. 15 ) S. 293. Isaac von Ochsenfurth, Elogia Mariana ( wie Anm. 45 ) Elogium decimum octavum, Auxilium Christianorum. Das dazu gehörende Bild ( zwischen S. 350 und 351 ) zeigt die Schlacht von Lepanto. Engel schießen unter der Obhut Marias Pfeile auf türkische Schiffe. Christliche Schiffe sind mit einem Kreuz und und dem Namen Marias ( MRA ) gekennzeichnet.
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Turm Davids erblickte er folgende Gemeinsamkeiten: Der historische Turm Davids sei als ein „Meisterstueck aller Kuensten“ zu betrachten. Wie der Turm Davids sei auch Maria ein „kuenstliches Werck“ – ein solches allerdings, das Gott selber geschaffen habe. Von Maria sollten deshalb alle Menschen lernen, sich „an Jhr zu spiegeln / vnd an Jhr ein Exempel aller Tugenden zu nemmen“ 59. Dessen eingedenk habe die heilige Hedwig ( 1178/1180–1243 ), die schlesische Herzogin, stets bei sich „ein guldenes Maria-Bild in der Hand getragen / damit / so offt sie solches anschawete / angereitzt wuerde / Mariae der Mutter Gottes ein Dienst zu erzeigen / und in Tugenden ihrem Exempel nachzufolgen“. Wie diese Übung Gott angenehm und ihr selber nützlich war, sei durch ein herrliches Wunderwerk bestätigt worden. Das Marienbild, das sie zu Lebzeiten immer bei sich getragen hatte, sei mit ihr begraben worden. Als nach über fünfundzwanzig Jahren ihre Gebeine erhoben wurden, habe man ihren Körper verwest vorgefunden; ihre drei Finger hingegen, mit dem sie das Bild der Gottesmutter festgehalten hatte, seien gänzlich heil und unversehrt geblieben 60. Mit Hilfe einer allegorischen Auslegung des Buchstabens J, des vierten Buchstabens in Marias Namen, gab der Prediger seinem Marienbild kämpferische Züge. Er deutete den Buchstaben J als Jaculum inimicorum, als einen „Pfeill wider sichtbare und unsichtbare Feind“. Dessen Wirksamkeit illustrierte er durch eine Heldentat des heiligen Mercurius. Der in der Ostkirche als Soldatenheiliger verehrte Mercurius soll nämlich auf Geheiß der Gottesmutter Maria den römischen Kaiser Julian, der die Christen von Caesarea habe verfolgen und töten wollen, mit einer Lanze getötet haben 61. König David habe den sehr „hohen und starcken Thurn“ erbauen und mit „Bollwerck / Pasteyen / Wehr und Waffen / auch Munition / und Proviant wol versehen lassen“ 62. Er finde Erwähnung in den „hohen Liedern Salomos“. Mit Brustwehren, an denen Tausend Schilde hingen und allerlei Waffen von Starken, sei er errichtet gewesen. Schilde, Waffen, Panzer, Harnische, Pfeile und Bogen habe man aufgehängt „zum Zeichen des Sigs wider den Feind“, aber auch in der Absicht, den Feinden Furcht einzujagen 63. Mit diesem Turm werde in der katholischen Christenheit die allerseligste Jungfrau Maria verglichen. Diesen Turm habe Gott der ganzen Welt als nachahmungswürdiges Beispiel „aller Zucht / Ehrbarkeit und Tugenden“ gegeben. Aufs Beste versehen sei dieser Turm mit Bollwerk und Waffen der Starken. Dies, marianisch gedeutet, besage: Maria sei aufs Beste versehen „mit Tugenden und grossen Gnaden“. Umgeben sei Maria „mit dem Graben der tieffesten Demut: mit dem Wall der Jungfraeulichen Keusch-
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Georg Pistorius, Himmlische Wunderwerck MARIA oder zwantzig Catholische Lobpredigten / ueber den Ehren-Titul der Lauretanischen Litaney / Wunderbarliche Mutter / Bitt fuer uns, München 1693, S. 114. Ebd. Ebd., S. 114 f. Vgl. dazu Klaus Schreiner, Maria. Leben, Legenden Symbole, München 2003, S. 100. Gemeint war mit dem Namen Davidsturm einer der Wehrtürme, die König David ( 997–965 v. Chr. ) in Jerusalem hatte erbauen lassen. „Seine Lage ist allerdings nicht mehr bestimmbar. Der seit der Kreuzfahrerzeit als ‚Davidsturm‘ bezeichnete Wehrturm war kein Teil der Festungsbauten Davids, sondern ist identisch mit dem Phasaelturm, der zum Palast des Königs Herodes des Großen ( 47–4 v. Chr. ) gehörte“ ( Das Hohelied. Lied der Lieder von Schelomo. Aus dem Hebräischen übersetzt, nachgedichtet und herausgegeben von Stefan Schreiner, Frankfurt am Main und Leipzig 2007, S. 46 ). Pistorius, Wunderwerck ( wie Anm. 58 ) S. 332 f.
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heit: mit der Maur der Maessigkeit: mit Brustwehren der Gerechtigkeit und Staercke“. Wohl versehen sei Maria auch „mit dem Schilt deß Glaubens: mit den Heerspitzen der Hoffnung: mit dem Geschuetz und Pfeilen der Liebe: mit dem Zeughauß der Barmhertzigkeit; ja mit Wehrn und Waffen aller Gnaden“ 64. Das Gebet gebe zu erkennen, dass alle Geängstigten und Betrübten gut daran tun, bei Maria Zuflucht und Hilfe zu suchen. Maria sei nicht zuletzt „der voeste Thurn“, der uns befähige, unseren Feinden Widerstand zu leisten und sie zu vertreiben. Unseren sichtbaren und unsichtbaren Feinden sei sie als eine „wolgeordnete Heerspitze erschroecklich“. Sei Maria auch mit einem Aussichtsturm vergleichbar, könne mit ihrer Hilfe erkannt werden, ob von einem Feind Gefahr drohe oder nicht. Wie an dem Turm Davids tausend Schilde hingen, so habe auch die Gottesmutter tausenderlei Mittel, durch welche sie uns zu Hilfe kommt und vor tausenderlei Gefahren beschützt 65. Maria als Schild Besondere Aufmerksamkeit fanden in den Hoheliedexegesen der frühen Neuzeit die an dem Turm angebrachten Schilde. Deren schützende Kraft ließ sich unmittelbar auf Maria übertragen. Dies tat in erbaulicher und ermutigender Absicht der Verfasser eines 1698 gedruckten emblematischen Marienbuches, das unter dem Titel Kunde gibt vom Wunderwirken eines im ungarischen Pötsch verehrten und 1697 nach Wien transferierten weinenden Marienbildes 66. Der anonyme Autor dieses Marienbuches fand in einem „starcken und undurchdringlichen Schild“ ein angemessenes Symbol für den von Maria ausgeübten Schutz und Schirm. Maria, so sein Argument, habe den „so eyferig / als gerechten Christlichen Waffen / wider den Erb-Feind des allein seeligmachenden Glaubens“ zum Sieg verholfen. Da der marienfromme Theologe von der Sieg- und Waffenhilfe Marias zutiefst überzeugt war, brach er in den Jubelruf aus: „O ein gewaltiger und herrlicher Schild in allen unseren Streiten ist uns Maria“. Der Verfasser der suchte seine Leser davon zu überzeugen, dass der schützende Beistand, den Israel in seiner Geschichte von Gott erfahren habe, nunmehr den Christen durch Maria zuteilwerde. Einen biblischen Beleg für die schützende Macht Marias fand der Autor im Hohenlied. Aus den tausend Schilden und den Waffen von Helden, die am Turm hängen ( Hld. 4,4 ), machte der Verfasser der Symbole für Marias schützende Macht. Durch die tausend Schilde, die bei Maria „hervorhangen“, so führte er aus, sei gewährleistet, dass Marias „getreue Kinder bey ihrer so vorsichtigen Mutter Schutz und Schirm genug finden / allen innerlichen und aeusserlichen Feinden“ zu widerstehen. Um seinen Aussagen Glaubwürdigkeit zu verschaffen, zitiert der Autor historische Beispiele: Arthur, der sagenumwobene englische König, habe alle seine Feinde in
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Ebd., S. 333. Ebd., S. 333 f. Vgl. dazu und zum Folgenden Klaus Schreiner, Maria-Schild und Schutz der Christenheit. Marienverehrung in politischen Kontexten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Leo Andergassen ( Hg. ), Am Anfang war das Auge. Kunsthistorische Tagung anläßlich des 100jährigen Bestehens des Diözesanmuseums Hofburg Brixen, Brixen 2004, S. 15–18.
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die Flucht geschlagen, indem er ihnen seinen Schild entgegenhielt, „auf welchem die Bildung Mariae entworffen war“. Englische Chronisten des hohen Mittelalters schildern Arthur als einen Kriegshelden, der seine Kampfkraft Maria verdankte. In Schlachten habe er einen Schild benutzt, den ein Bild der heiligen Gottesgebärerin Maria ( imago sancte Marie Dei genitricis) zierte 67. Kaiser Karl V., „jener Oesterreichische Hercules“, der, wie der Verfasser hervorhebt, seine siegreiche Kraft und seine militärischen Triumphe der Gottesmutter verdankte, habe in seinen Brustharnisch das Bild Marias eingravieren lassen. Geschichtliche Tatsachen sollten die Richtigkeit theologischer Wahrheiten verbürgen, in konkreten Erfahrungen sollten fromme Überzeugungen einen nachprüfbaren Rückhalt finden. Petrus Paul Rosenberger, Augustinerchorherr im Freien Reichsstift Wettenhausen, entwarf für das Fest Mariae Geburt eine Predigt mit dem Leitgedanken „Ein wider alle Anfaell der Feinden bewaehrter Schild ist der Nahm Mariae“ 68. Maria selber, beteuert der Prediger, habe der heiligen Birgitta von Schweden ( 1303–1373 ) geoffenbart, dass „ein bewaehrter Schild ihr Nahme seye“. Erläutert habe Maria die helfende und heilstiftende Kraft ihres Namens mit folgenden Worten: „Durch die alleinige Anruffung meines heylwerthesten Nahmens werden die Teufel also erschreckt / daß sie die Flucht ergreiffen / und die jenige Seel / so sie schon gehabt haben in ihren Klauen / lassen sie frey ledig“ 69. Um darzutun, dass Christen in der Person Marias gegen ihre Feinde einen „vest-bewaehrten Schild“ haben, zitiert Rosenberger immer wieder folgende Verse: Jn dem Meer / auf Erd / Jn doppelter Gefahr / Hab ich zum Schild begehrt / Mariam gantz und gar. Könige, Fürsten und Potentaten, betont der Prediger, besitzen in Maria ein „woleingerichtetes Zeughaus“. Durch Maria werden „geschwächt die Anfaell der Streitenden und erlangen wir das Sigs-Faehnlein durch niemand anderm / als durch dich / O Maria! du / ja du hast unueberwindliche Kraefften / und mag dein Staercke durch keinen Gewalt ueberwunden werden“ 70. Zu Recht versichere Richard von St. Laurentius: „Maria, diser wider alle Anlaeuff der Feinden vest-bewehrte Schild / Maria / O Maria ist ganz maechtig / uns zu beschützen“ 71. Selbst wenn „gantze Heer-Spitz der Feinden sich wider mich setzen sollten / …, mein Hertz wird sich nit foerchten / dann ich weiß / daß ich denjenigen Schild habe / welcher aller Feinden Anlaeuff aushaltet“. Den Brüdern und Schwestern der Rosenkranz-Bruderschaft, der er seine Predigt zudachte, empfiehlt er:
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Vgl. dazu ebd., S. 17. Peter Paul Rosenberger, Zodiacus Rosario-Marianus, Das ist: Marianische Lob-Reden. Auf 12. Monaths-Sonntäg für jede Bruderschafften de B[ eata ]. V[ Virgine ]. auf ein Jahr eingerichtet …, Augsburg und Dillingen 1698, S. 263–282. Ebd., S. 269. Ebd., S. 271 f. Ebd., S. 274.
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„O Marianisches Voelcklein / wer ist dir gleich / indem du selig wirst in deiner Mueter / in Maria? Der Schild deiner Huelff und das Schwert deiner Ehr / mit welchem du alle deine Feinde zuschanden machest / wer ists anderer / dann Maria? hast du disen Schild? O so hast du die jenige Waffen / welche kein Feind bewaeltigen kan / du aber wirst ihnen ihre Koepff zerknirschen“.
Wer es mit Maria, dem „vestbewaehrten Schild“ halte und ihren „so maechtigen Nahm“ anrufe, werde die „Wehr und Waffen seyner Feinden aufheben / dise zu schanden machen“ 72. Maria als geordnetes Kriegsheer Was machte Maria mit einem Kriegsheer oder, wenn man sich an den Wortlaut des hebräischen Textes hält, mit einer um ein Banner gescharten militärischen Abteilung vergleichbar? Mittelalterliche Kaiser und Könige des Abendlandes erbaten sich, wenn sie in die Schlacht zogen, den Segen Marias 73. Dass Maria für sie kämpft, erwarteten sie nicht. Erst die ecclesia militans der katholischen Gegenreformation bot religiös-politische Rahmenbedingungen und stellte hermeneutische Prämissen bereit, um aus der furchterregenden Geliebten des Hohenliedes eine kriegerische und waffenfähige Maria zu machen. Als sich Herzog Maximilian von Bayern im Herbst 1620 mit einem Heer kampferprobter Soldaten auf den Weg nach Böhmen machte, um dort die böhmischen Stände und den von ihnen zum Gegenkönig erhobenen Friedrich von der Pfalz zu unterwerfen, ließ er sich eine Fahne voraustragen, die wegen „dieser Expedition und Kriegsverrichtung“ eigens angefertigt worden war 74. Diese zeigte auf der einen Seite ein Bild Marias mit ihrem Sohn auf dem Arm; auf der anderen Seite standen die Namen Jesus und Maria. Über dem Bild Marias war eine Inschrift angebracht. Sie lautete: „Terribilis, ut castrorum acies ordinata / Erschröcklich / wie ein wohlgeordnetes Kriegsheer“. Auf der anderen Seite, welche die die Namen Jesus und Maria trug, war zu lesen: Da mihi virtutem contra hostes tuos ( gib mir Kraft gegen deine Feinde ) – ein Satz, der im zeitgenössischen kirchlichen Sprachgebrauch als Anrufung Marias benutzt wurde, um Maria zu bewegen, den Kämpfern gegen ihre ketzerischen Widersacher Kraft zu geben. Durch das Marienbild und die beigefügten Texte sollte sich das katholische Kriegsheer ermahnen lassen, dass „der Mars und der Gott ihres Krieges“, dem sie ihr Vertrauen schenken sollen, Jesus sei, ihre Kriegsgöttin aber – der Autor spricht von „bellona“ – Maria. Bei der Fahnenweihe, die ein unbeschuhter, charismatisch begabter Karmeliter namens Dominicus a Jesu Maria am 2. August 1620 im oberösterreichischen Wels vorgenommen hatte, soll diesem von Gott die „Gewissheit der zukuenftigen Victori“
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Ebd., S. 278. Vgl. Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München – Wien 1994, S. 374 f.; 378–379. Vgl. dazu und zum Folgenden Klaus Schreiner, MARIA VICTRIX. Siegbringende Hilfen marianischer Zeichen in der Schlacht auf dem Weißen Berg ( 1620 ), in: Johannes Altenberend – Reinhard Vogelsang ( Hgg. ), Kloster – Stadt – Region. Festschrift für Heinrich Rüthing. Mit einem Geleitwort von Reinhart Koselleck, Bielefeld 2002, S. 94–105 ( „Die Marienfahne Herzog Maximilians als Medium religiös-politischer Kommunikation“ ), hier: S. 98.
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geoffenbart worden sein 75. Die Prophetie ging in Erfüllung. Die Heilige Liga der Katholiken siegte – dank der Intervention Marias, die sich wie ein „wohlgeordnetes Kriegsheer“ in die Schlacht auf dem Weißen Berg eingemischt hatte. Ein Gnadenbild Marias, das als Medium siegbringender Gnadenströme den Sieg der Katholiken auf dem Weißen Berg vermittelt hatte, wurde 1622 nach Rom in die dortige Karmeliterkirche St. Paul übertragen. Ein Deckenfresko im Chor der dortigen Kirche zeigt den Sieg der katholischen Truppen auf dem Weißen Berg. Inmitten der Heerführer erscheint hoch zu Ross Pater Dominicus, angetan mit einem weißen Ordensgewand, ein Kruzifix in Händen und das Marienbild um den Hals gehängt. Die Inschrift unter dem Fresko lautete: Terribilis ut castrorum acies ordinata ( Furchtgebietend wie ein geordnetes Kriegsheer ) 76. Der Jesuit Christophorus Camerer, Wallfahrtspfarrer in Altötting, ermutigte seine nach Altötting gepilgerten Zuhörer zu grenzenlosem Vertrauen in die schützenden Hilfen der Gottesmutter von Altötting. Er war davon überzeugt, dass die Schutzpatronin der bayerischen Region ihre Getreuen nicht im Stich läßt. Auf die Frage, wo denn die starke Frau, die in kriegerischen Zeiten Schutz und Hilfe gewähre, zu suchen und zu finden sei, gab er folgende Antwort: „Da / da zu AltenOetingen ist dises starck Weib zu finden; dann / secht ihrs nit dort auff dem Altar oben stehn vor ewren Augen? Da / da steht diese starcke Jungkfraw / unser allergnädigiste Landfürstin und Beschützerin deß ganzen Bayrlands. Dise / dise ist daß allerstärckiste Kunst- und Meisterstuck der Göttlichen Allmacht / Liebe und Weißheit Gottes. Dise ist die starcke Jungkfraw / welche tausendmal stärcker ist als alle Krieg und Kriegsheer der Welt“.
In Bayerns Geschichte habe sich die Jungfrau Maria aus Altötting als eine „wunderbarliche Schiltwacht“ und als „starcke Landheldin“ bewährt, als Frau, die den Feinden Bayerns Furcht und Schrecken einjagte und „wie ein wol angeordnetes Kriegsheer“ entgegengetrat. Mit diesen Sätzen suchte er all jene zu erbauen, die sich im Sommer 1649 auf dem Kapellenplatz von Altötting versammelt hatten, um sich an der Prozession mit dem „wunderthätigen Bildt der glorwürdigsten Jungkfrawen Mariae“ zu beteiligen 77. Unter der Überschrift „MARJA Obsigerin der Feinde“ verfasste der Münchener Jesuit Benignus Kybler in seinem 1678 erschienenen <Wunder-Spiegl> ein eigenes, weit ausholendes Kapitel über siegreiche Schlachtenhilfen Marias 78. Aus den zahlreichen Beispielen, die der Autor auflistet, um den Nachweis für die Historizität von Marias militärischen Interventionen zu erbringen, sei zu lernen, dass sich im Fortgang der Geschichte Maria immer wieder als „Kriegsheldin“ bewährt habe 79. Auf Grund dieser Erfahrungen könne zu Recht gesagt werden: Als „Maria De Victoria, Von dem Sig“ sei Maria die „vnueberwindliche Sighaffte Goettliche Arch“. Eindrücklich beteuert der Jesuitentheologe Kybler: „Du [ Maria ] bist Erschroecklich
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Ebd. Ebd., S. 130. Maria A. König, Weihegaben an U. L. Frau von Altötting, München 1940, 2, S. 453; 457. Benignus Kybler, Wunder-Spiegl oder Goettliche Wunderwerck auß dem Alt – und Neuen Testament zu einem beyhülfflichen Vorrath allerhand Predigen so wol für Sonntäg als andere Fest …, München 1678, S. 641–689. Ebd., S. 641.
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wie ein wolgeordnetes Kriegs-Heer: Erschroecklich den Tuercken und Saracenern: erschroecklich endlichen allen Schismaticis vnd Ketzeren / allen Excommunicierten vnd Rebellen“. Dem fügte er hinzu: „Der Beweißtumb liget vor Augen von 125 der herrlichst durch Mariam erhaltenen Sig vnd Victorien. Maria ist aller Rechtglaubigen Catholischen Schutz-Frau / ein Huelff der Christen“. In allen Reichen und Ländern sei Maria die „vnuerwindlichiste Voestung“; an Maria hätten „alle Koenige die staerckiste Waffen“ 80. Als „starckes Salomonisches Weib“ habe sich Maria gegen die „Hoellische Macht“, gegen „Unglaubige / Tuercken vnd Haiden“ siegreich behaupten können, weil Gott ihre Lenden und ihren Arm mit Stärke ausgestattet habe. Deshalb sei es ihr gelungen, wie ein wohlgeordnetes Kriegsheer den Fürst der Unterwelt und die Feinde der Kirche zu besiegen 81. Die „Macht Mariae“, welche die Schranken der menschlichen Natur weit übersteigt, habe ihren Ursprung in Marias unbefleckter Empfängnis. Denn, so beteuert der Verfasser, bereits „im Mutterleib hast du angefangen die Waffen zu ergreiffen vnd zu fuehren: gleich in dem ersten Augenblick deiner allerheiligsten vnbefleckten Enpfaengnuß hast du dem stoltzen Lucifer einen solchen Streich versetzet / daß er selbigen noch empfindet / dich foerchtet vnd lauffet / wo er nur von dir was hoeret oder sihet: schon da hast du verdienet mit dem schoenen Ehren-Titel genennet zu werden: Maria de Victoria, Maria von dem Sige“ 82.
Durch „Huelff vnd getreuen Beystand Mariae de Victoria“ seien die katholischen Herrscher gegen „Barbarische Feind“ stets Sieger geblieben 83. Als sieghafte Hilfe habe insbesondere das Bild Marias gewirkt. Als „Geferdtin“ hätten die katholischen Könige und Kaiser des Abendlandes und von Byzanz die in ihren Bildern gegenwärtige Maria mit in den Krieg geführt. „Also name [ Kaiser ] Heraclius [ 575–641 ] mit sich / neben der Wunderthaetigen Bildnuß des Hailands / auch die Bildnuß Mariae seiner Muetter / vnd schlagte die Persianer. Also Carolus der Fuenffte / fuehrte vnder seinem Brust-Harnisch / die Bildnuß Mariae; … warmit er seine Feind, deren nicht wenig waren / gluecklichen ueberwunden hat … Garsias, Koenig in Navarren / hatte ein guldenes vnser lieben Frauen Bild / welches er in allen Heers-Zuegen mit sich getragen … Die Carnotensische Burger [ Bürger von Chartres ] brauchten an statt jhrer Kriegs-Fahnen das Hembd der Sighafften Jungfrauen / so Carolus Calvus von Constantinopel gebracht; steckten selbiges auff die Maeuren: wardurch Rollo, Koenig in Daennemarck / sambt seinem gantzen Kriegsheer erblindete / hat abziehen vnd weichen muessen“ 84.
Als vierunddreißigstes Fallbeispiel, das Maria als siegreiche Jungfrau vergegenwärtigt, bringt Kybler die Belagerung Konstantinopels durch Mohammed im Jahre 672. Um der Heeresmacht der Sarazenen nicht zu erliegen, hätten Kaiser Konstantin und die ganze Bürgerschaft Maria, ihre „Statt-Patronin vnd Schutz-Frauen“, angerufen. Maria, die sich den Hilferufen ihrer Schutzbefohlenen nicht verschloss, habe „dermassen fuer selbige gefochten / daß die Saracener thails erlegt / thails gequetschet / haeßlichen zu Grunde gangen vnd zu Schanden worden seynd“. Der mit Marias Hilfe erlangte Sieg veranlasste den Autor zu dem Ausruf: „O Jungfrau Maria! Du bist die 80 81 82 83 84
Ebd., S. 683. Ebd., S. 640 f. Ebd., S. 641. Ebd., S. 656. Ebd., S. 642.
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Arch des Goettlichen Bunds. Terribilis, ut Castrorum acies ordinata. Erschroecklich bist du / wie ein wolgeordnetes Kriegs-Heer: Terribilis, Erschroecklich allen Tuercken / Saracenern / Mauren vnd Tartaren“ 85. Als sich Bayerns Herzog Maximilian im Jahre 1620 entschloss, im aufbegehrenden Oberösterreich wieder Ruhe und Ordnung herzustellen, habe er zuvor Unsere Liebe Frau von Altötting und Tuntenhausen heimgesucht, um die Gottesmutter durch Gebete und Geschenke für den bevorstehenden Feldzug günstig zu stimmen. Aufgesucht habe er überdies die Maria von Bogenberg, „umb daselbsten / als einem Ort / wo Maria sehr gnaedig sich erzeiget“, für einen „gluecklichen Zug / Gnad vnd Segen zu erwerben“. Als Schützling Marias sei er dann gegen den Feind vorgerückt. „In seinem vornembsten Leib Faehnlein“, berichtet der Autor, „fuehrte er das Bildnus Mariae / mit disen Worten: Terribilis, ut Castrorum acies ordinata, sie ist erschroecklich / wie ein wolgeordnetes Heers-Spitz: Auf der andern Seyten warde gelesen: Da mihi virtutem contra hostes tuos, gibe mir Krafft vnd Staercke / zu ueberwinden deine Feind“. Unter dem Schutz und mit der Hilfe Marias sei es Maximilian gelungen, Oberösterreich zu befrieden und zur Annahme des Interims zu bewegen 86. Im Herbst des Jahres 1683, als die Türken Wien belagerten, sagte der Jesuit Balthasar Knellinger in einer im Augsburger Dom gehaltenen Predigt: „Sonderbar aber bitten wir dich / O barmhertzigester Got / du woellest nicht verhaengen / dass die betrangte Stat Wien gezwungen werde / sich vnder das Tuerkische Joch zu beugen“, um dann fortzufahren: Wenn wir das Ave Maria beten, sollen wir die Gottesmutter daran erinnern, welch großes Verlangen wir tragen, „das H[ eilige ] Land / welches sie so lange Jahre bewohnet / mit jhren Heiligen Fußstapfen bezeichnet / mit jhren Tugenden bestrahlet / mit jhren Verdiensten bereiche[ r ]t / vnd mit jhrem seeligsten Tod geheilget hat / denen Schweinen / so es mit jhren Unflaetereyen besudlet / widerum abzunemmen“.
Sie möge deshalb unsere „maechtige Schutz-Frau seyn / vnd so wol jhren / als vnseren Feinden / wie ein wol-geordnetes Kriegs-Heer entgegen gehen / sie erschreken / vnd auß dem Feld jagen“ 87. Nach dem siegreichen Entsatz der Stadt Wien im September 1683 predigte er: Maria hat uns „alle Angst von dem Hertzen gestrichen“ und uns, wie wir nicht zweifeln können, „mit jhrer vilvermoegenden Fuerbitt bey Gott dises grosse Glueck erworben. Sie hat jhren Jungfraeulichen Schutz-Mantel ueber die Stat Wien außgebreitet“. Ihren Sohn hat sie beschworen mit der Bitte: „Du weist es wol liebster Sohn / daß auff mich geredt hat der von vns beyden so zart geliebte Juenger Ioannes, da er seiner heimlichen Offenbarung diese Wort einverleibt: Mulier amicta sole, et luna sub pedibus ejus. Ein Weib vmgeben mit der Sonne / vnd der Mond vnder jhren Fuessen. So lege dann den Tuerkischen Mond vnder meine Fueß / vnd verschaffe / daß ich denjenigen Feinden / welche dein heiliges Creutz-zeichen von allen Kirchen / vnd Thuernen abzuwerffen / vnd den Mond darfuer hinauff zustecken trachten/ entgegen kommen moege Terribilis, ut castrorum acies ordinata, erschrecklich / wie ein wolgeordnetes Kriegs-Heer“, 85 86 87
Ebd., S. 657. Ebd., S. 677. Balthasar Knellinger, Predigen zu Zeit deß Tuerken-Kriegs von Anno 1683. Jn welchen das Christen-Volk zur Buß / vnd Andacht / Dann auch zu Lob – und Dank – Sprechung auffgemahnet worden, Theil I, München 1687, S. 24 f.
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auf dass sie gezwungen werden, „in Forcht / und Schrecken auß den Christlichen Landen zu weichen / vnd alles widerum / was sie bißhero mit jhrer Gewaltthaetigkeit beaengstiget / frey zu lassen“ 88. In einer Predigt nach der Niederlage der Türken bei Barkan und nach der Eroberung der Stadt Gran beteuerte er: Der gebenedeiten Gottesmutter Maria sei von ihrem frommen Diener und heiligen König Stephanus das ganze Ungarnland nicht nur anbefohlen, sondern auch geschenkt und zinsbar gemacht worden. Die gläubigen Ungarn würden sie deshalb heute noch als ihre gebietende Frau, ihre bezeichnen und sich ehrerbietig verneigen, wenn sie ihren Namen aussprechen. Deshalb ihre inständige Bitte: „So lasse dir dann / O maechtige Heer-Fuehrerin dein Eigenthum befohlen seyn. Behaubte die Cron / vnd den Scepter / so man dir zu Fuessen gelegt. Jage hinauß die Laesterer deiner Leibs-Frucht / die Verachter deines Nahmens / die Verfolger deiner Dienerschaft. Seye vns Christen ein starker / vnd mit allem Kriegszeug vmhaengter Thurn / den Tuerken hingegen erschreklich / wie ein wolgeordnetes Kriegsheer“ 89.
Nach der Eroberung von Ofen predigte er: „Mariae dann gehoeret das Ungarische Creutz zu / Jhro ist dises Creutz-Reich geschenket / vnd zu Fuessen geleget worden. Stephanus, so der erste Christliche / vnd zugleich auch heilige Koenig in Ungarn gewesen / hat der gebenedeytesten Mutter dises sein Reich durch ein Geluebt uebermachet / vnd sie auff ein sonderbare Weiß zur Oberherrscherin desselben erwoehlet“.
Maria werde deshalb nicht zulassen, dass sich der Türke des ungarischen Reiches bemächtigt. Sie sei deshalb wieder in ihren Harnisch geschlüpft, um ihren Feinden „Terribilis, ut castrorum acies ordinata. Erschrecklich / wie ein wol geordnetes KriegsHeer“ entgegenzutreten. Wir alle rufen ihr einstimmig zu: „Reche / O Maria die Schmachen / so dir die Tuerken in deinem Eigentuhm / will sagen in Verwuestung deines Reichs haben angethan. Reute auß das Volk / welches schon von langen Jahren her mit rasender Wuht dahin getrachtet / daß es dich deiner Habschaft entsetzen / vnd die Ungarische ReichsCron / so dir von andaechtiger Hand ist auffgesetzet worden / mit moerderischer Hand widerum von dem Haubt reissen moechte“ 90.
Weil der Sieg, den das christliche Heer unter Führung des berühmten Kriegsfürsten Prinz Ludwig von Baden über die Türken zwischen Peterwardein und Salankamen ( 1691 ) errang, sich in der Oktav von Mariä Himmelfahrt ereignete, glaubte der Prediger sagen zu sollen: Am Fest von Mariä Himmelfahrt „lautete der andaechtige Kirchen-Ruf also: Pulchra es, et decora, filia Jerusalem: Terribilis, ut castrorum acies ordinata: Du bist schoen / O Tochter Jerusalem: Erschrecklich wie ein wolgeordnetes Kriegs-Heer / uns Christen nemlich verleihest du dein wunder-schoenes / und Lieb-reitzendes Angesicht; den Tuerken aber bist du erschrecklich / wie ein unueberwindliches Kriegs-Heer; darum sie dann auch ein so grosse Niderlag erlitten“.
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Ebd., S. 76 f. Ebd., S. 90 f. Ebd., Zweyter Theil in sich haltend die zwey andere Jahr dises Tuerken-Kriegs / Nemlich das fuenff vnd sechs vnd achtzigiste, S. 158 f.
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Dem fügte er hinzu: „Dermalen aber ist die Niderlag der Tuerken groß gewesen / vnd darum wirdest du jetzt benamset Terribilis, ut castrorum acies ordinata: Erschrecklich / wie ein wolgeordnetes Kriegs-Heer“ 91. Am Rosenkranzfest, an dem Brüder und Schwestern der Rosenkranzbruderschaft Maria durch ihre Gebete mit einem Ehr- und Freudenkranz bekrönen, hielt der bereits erwähnte Augustinerchorherr Rosenberger ein Predigt über Maria als eine „Obsigerin ihrer sichtbar- und unsichtbaren Feinden“ 92. Er rühmt Maria nicht nur als „Zerknirscherin / und starcke Obsigerin der alten Schlangen“, sondern auch und insbesondere als diejenige „Sigfrauen so auch die sichtbare[ n ] Feind ihres heylwaertigen Nahmens / die Feind unserer Catholischen Kirchen ueberwindt und zu schanden richtet“. Heldenmütig gefochten habe Maria gegen die ketzerischen Albigenser, die ihre „Ehr und Wuerde“ antasten und vernichten wollten. Maria allein habe in der ganzen Welt die Ketzer vernichtet. Als „Feldmarschallin“ und „starcke Ueberwinderin ihrer Feinden“ habe sie die Flotte des türkischen Kaisers Selymus vernichtet 93. Eine weitere Predigt verfasste der Augustinerchorherr aus Wettenhausen unter dem Motto: „Das starcke Weib / Maria von dem Sig / gleich einem wolgeordneten Kriegs-Heer“ 94. Gott so glaubte er sagen zu können, habe Maria auserkoren, „daß alle seine Feind durch Sie [ Maria ] alleinig sollten zu Schanden werden“. Dem fügte er hinzu: „Marianische Hertzen? was Wunders? wann Maria das starcke Weib / das Weib von dem Sig / Terribilis, ut castrorum acies ordinata: Erschrecklich / wie ein wolgeordnetes Kriegsheer; wer der Feinden will sich setzen wider Mariam? ist Sie erschrecklich? ja so muessen sich schon ducken und schmucken / wer? die Teufel mit ihrem Anhang; die Tuercken und Heyden / die Juden und Ketzer; die gottlose[ n ] und verruchte[ n ] Cristen“ 95.
Der Prediger will zeigen, „daß Maria dises starcke Weib / warhafftig erschrecklich / wie ein wolgeordnetes Kriegsheer“ sei. Erschrecklich, so führt er aus, sei Maria deshalb, weil sie „nach Gott die Allermaechtigste / die Allergewaltigste“ ist 96. Maria, bekennt er, „ist und muß genennet werden Castrorum acies bene ordinata, ein wolgeordnetes Kriegsheer“ 97. Keine Macht sei ihrer Gewalt gewachsen. Maria, einem wohlgeordneten Kriegsheer vergleichbar, könne von ihren Feinden angefallen, aber durch keine Macht und Gewalt überwältigt werden. Alle Feinde müssten sich vor Maria „ducken“ 98. Im Kampf gegen den „Tuerckischen Bluthund“ hätten die christlichen Helden tapfer gestritten; „noch Heldenmuethiger stritte das starcke Weib Maria mit ihrem auserlesenen Kriegsheer / denen Bruedern und Schwestern in der Andacht des H[ eiligen ] Rosenkrantzes“. Auf Maria, die „maechtige Kriegs-Oberstin“, einem ver-
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Ders., Predigen zu Zeit deß Tuerken-Kriegs / Anno 1683 angefangen / vnd annoch waehret. Vierter Theil Jn sich haltend / was sich von Anno neun und achtzig an / und forthin in folgenden Jahren ereignet, München 1692, S. 97 f. Rosenberger, Zodiacus ( wie Anm.67 ) S. 348–363. Ebd., S. 349 f. Ebd., S. 448–468. Ebd., S. 450 f. Ebd., S. 451 f. Ebd., S. 456. Ebd., S. 460.
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traut habe der großmaechtige Kaiser Leopold, als im September 1697 der „tuerckische Bluthund“ Ungarn angegriffen habe, um das Land seiner Tyrannei zu unterwerfen 99. Als der Pauliner Mathias Fuhrmann am 7. Juni 1734 in der bei Graz gelegenen Wallfahrtskirche Maria Trost Wiener und österreichischen Wallfahrern predigte, wollte er diesen Maria „als eine Himmlische Groß-Heldin, staets bestaendig gewesene Schutz-Frau, unueberwindliche Kriegs-Goettin, und Glorreichiste Heers-Fuehrerin des Allerdurchlauchtigsten Hauses von Oesterreich“ nahebringen 100. Was David, der Psalmist, über die starke Hand Gottes sage ( Ps. 76, 15–16 ), mit der er Israel, sein auserwähltes Volk, geschützt habe, könne auch „auf die hohe Gewalt Mariae unserer Siegs-Fuerstin in Vertheitigung des Christen-Volcks wider all ihre Feinde“ bezogen werden. Deshalb werde Maria „Helfferin der Christen“ ( Auxilium Christianorum ) genannt. „Denen Feinden derer ihr zugethanen, ist sie terribilis ut castrorum acies ordinata, schroecklich wie ein wohl-geordnetes Heerlager“. Unter dem Banner dieser „Himmlischen Groß-Heldin“ habe die Kirche gegen Ungläubige, Ketzer und andere Feinde Christi gesiegt. Kaiser, Könige und Fürsten hätten durch „Huelffe und Beystand Mariae, wider Tuercken, Saracenen und Heyden“ Siege errungen 101. Der Augustinereremit Raymund Zitter ( 1711–1766 ) rühmte in zwei Predigten am „siegreichen Fest des Heiligen Rosencrantz“ den Rosenkranz als schutzgebende und siegbringende Waffe gegen die Feinde der Christenheit. Um die militärische Macht des Rosenkranzes empirisch zu erhärten, erinnerte der Prediger an den mit Marias Hilfe errungenen Sieg über die türkische Flotte in der Seeschlacht von Lepanto ( 1571 ). Aufs Haupt geschlagen geworden seien damals die grimmigen Türken von dem österreichischen Kriegshelden Juan d‘Austria am ersten Sonntag des Oktobers, an welchem die römische Rosenkranzbruderschaft gemeinhin ihren Umgang und ihre Andacht zu verrichten pflegt. Johannes d‘Austria, der österreichische Josua, habe, solange Papst Pius, der neue Moses, den Rosenkranz zum Himmel hochgehalten habe, „mit solchem Heldenmuth gefochten, daß er mit seinem weit geringeren Heer dem Feind auf das Haupt schlug“. Maria, die sich Schrecken gebietend wie ein wohlgeordnetes Heerlager für den Sieg ihrer Verehrer einsetzte, sei während der Schlacht in der Luft gesehen worden 102. Der Kapuziner Prokop von Templin ( 1608–1680 ), von 1642 bis 1666 Prediger in der Passauer Wallfahrtskirche Maria-Hilf, Liederdichter und Schriftsteller, machte sich Gedanken darüber, welche Ursachen den Heiligen Geist veranlasst hatten, „die gebendeyte Jungfraw mit einer in bester bataglia stehenden Armee zu vergleichen“ 103. Lasse doch der Geist Gottes durch den Mund des Verfassers des Hohen Liedes sagen: „Sie [ Maria ] ist so erschroecklich wie ein wohlgeordnetes Kriegsheer“ ( Terribilis est ut castrorum acies ordinata ). Der Autor versichert: „Auff dieser Welt ist nichts erschroecklichers 99 100
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Ebd., S. 461, 465. Mathias Fuhrmann, Himmlische Groß-Heldin, vnd maechtige Heers-Fuehrerin / Allerdurchlaeuchtigsten Hauses von Oesterreich / MARIA. Die allerseeligste Himmels und Erden Koenigin / jn einer wenigen Lob- und Ehren-Rede zu Maria-Trost, Wien 1734, S. 6. Ebd., S. 9. Klaus Schreiner, Schutzherrin und Schirmfrau Maria. Marienverehrung als Quelle politischer Identitätsbildung in Städten und Ländern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Patriotische Heilige ( wie Anm. 38 ) S. 283 f. Vgl. dazu und zum Folgenden Schreiner, Maria-Schild und Schutz ( wie Anm. 65 ) S. 52 f.
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anzusehen als ein wolgeruestete Armee / die in voelliger Schlacht-Ordnung dastehet / resolviert vnnd bereit alle Augenblick auff den Feind loß zu gehen“. Dies lässt den Kapuziner fragen: „Was ist denn aber erschroeckliches an vnser Lieben Frawen / deßwegen sie einem solchen Wesen sollte gleich vnnd aehnlich seyn?“. In der ganzen Bibel sei doch nirgendwo die Rede davon, dass sie einem Menschen „ein zorniges Angesicht“ gezeigt oder jemandem ein „scharffes Wort“ gegeben, geschweige denn mit jemandem gerauft und gezankt habe. „Viel hundertmahl“ könne man in den biblischen Schriften nachlesen, dass sie „holdselig von Geberden / freundlich von Worten / sanfftmuethig / zuechtig / erbar / schamhafftig / still / eingezogen in allem ihrem Thun und Lassen gewesen sey“. Der Engel Gabriel habe sie als gütige und süße Jungfrau begrüßt; als sie ihren Sohn gebar, hätten Engel den Menschen guten Willens Frieden verkündet. Weshalb lasse sich Maria, der Inbegriff von Liebe, Schönheit, Holdseligkeit, Friede, Sanftmut, Demut und Barmherzigkeit, mit einer Schlachtreihe vergleichen? Prokop von Templin antwortet darauf so: „Gegen ihren Liebhabern und Andaechtigen / gegen niemend ist sie erschroecklich als gegen ihren vnd vnsern Feinden / gegen den hoellischen Geistern / die vns suchen zu verderben / gegen die brauchet sie / wans von noethen thut / ihre gantze Armee / die sie vnter sich hat vnd commandiert / die alle Augenblick / ja ohn vnterlaß in bataglia in Ordnung und in Bereitschafft stehet zu ihrem vnd der ihrigen Dienst“.
Nur gegen ihre Widersacher und gegen die Feinde der Kirche und der Christen zeige Maria ihre „Erschroecklichkeit“. Michael, der „Dux et Princeps Militiae coelestis“, sei der Anführer von Marias Armee, eines aus Geistern und Engeln bestehenden Heeres. ABSCHLIEßENDE ERWÄGUNGEN
Das Selbstverständnis einer um den rechten Glauben kämpfenden Konfessionskirche prägte die Sprache der Theologen und Prediger. Sich Maria als kämpfende Frau vorzustellen, die über sichtbare und unsichtbare teuflische Mächte triumphiert, sollte Christen bestärken, sündhaften Anfechtungen zu widerstehen. In der Vorstellungswelt der abendländischen Christenheit war die Gottesmutter Maria auch diejenige, die – dank ihrer einflussreichen Fürsprache bei Gott – über den Ausgang militärischer Konflikte entscheidet. In der politischen Religiosität des Mittelalters und der frühen Neuzeit erfüllte die Auslegung des Hohen Liedes zeitgebundene Legitimations-Bedürfnisse. Bildhafte, schriftliche und mündliche Hoheliedexegese verschaffte Marias Schlachtenhilfen einen biblisch begründeten Rückhalt, der Marias Rolle als siegbringende Großheldin rechtfertigen sollte. Christlichen Bibelauslegern ist dies dadurch gelungen, dass sie „Turm“, „Schild“, „Mauer“ und „Kriegsheer“ in mariologische Metaphern verwandelten, die Maria das Profil einer wirkmächtigen Schutzfrau und Kriegsheldin überstülpten. Marias Machtfülle gab Gewissheit, dass sie ihre Getreuen schützt und für sie kämpft. Aktuelle Interessen bestimmten die biblische Hermeneutik. In einer Zeit, in welcher der Glaube an die helfende und schützende Macht Marias Christenmenschen helfen sollte, Nöte und Gebrechen ihres Alltages zu bewältigen, war dies auch schwerlich anders denkbar.
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Zusammenfassungen der Beiträge in englischer Sprache Michail A. Bojcov, Der Heilige Kranz und der Heilige Pferdezaum des Kaisers Konstantin und des Bischofs Ambrosius ( Tafel I–VII, Abb. 1–25 ), S. 1–69. The story of the Helena’s discovery of the True Cross was culmination of the funeral oration De obitu Theodosii of Ambrose of Milan. The Helena episode of Ambrose seems to be closely related not to the genuine <Jerusalem tradition> of Gelasius and Rufinus but to the Judas Cyriacus legend. The texts of this alternative tradition all referred to Zechariah ( 14, 20 ) and went back to a local ( Syrian? Antioch? ) cult of two relics: Constantine’s helmet and bridle reinterpreted as receptacles for the Nails of the Holy Cross. De obitu Theodosii was neither a theological nor a didactic composition; its main aim was utterly pragmatic: persuade the army to support Honorius as the Theodosius’ heir, whereas the relics of Nails were instrumentalized by Ambrose for the same purpose. Thus Ambrose invented a new type of sacred object and political argument, the holy crown. Both the wreath and the bridle of Ambrose disappeared soon after 394, but a new independent cult of the Holy Bridle was initiated in the sixth century, this time in Constantinople. A Byzantine reliquary for this relic appeared in Milan after 1204. None of the diverse mentioned by medieval authors descended from the diadem Ambrose talked about, also the crown of Monza has nothing in common with it. The idea of how the first holy crown might have looked like can possibly suggest the Rothschild cameo alone. Ueli Zahnd, Novus David – N« . Zur Frage nach byzantinischen Vorläufern eines abendländischen Topos, S. 71–87. Throughout the Middle Ages, western rulers used the comparison with the biblical King David in a widespread and fairly elaborate manner for the representation and justification of their position. Motivated by the promising remarks of several specialists in byzantine history, modern scholars tend to see this tradition – especially regarding Charlemagne – preceded ( if not inspired ) by a presumed David-mimesis by some late-antique/early-byzantine emperors. The present article however re-evaluates the sources, alleged by modern scholars to substantiate such an early byzantine davidisation, showing that there is, in pre-ninth-century Byzantium, no clear evidence for a David-mimesis even by such emperors as Theodosius I, Justinian or Heraclius. It is only after the resurgence of the western empire under Charlemagne – and maybe even in response to it – that byzantine emperors rely ( though still in a less explicit and elaborate way than occidental rulers ) on the biblical ante-type as a part of their imperial representation. Michael Grünbart, Der Kaiser weint. Anmerkungen zur imperialen Inszenierung von Emotionen in Byzanz, S. 89–108. The act of weeping is not recorded in Byzantine imperial ceremonial literature, but according to historiographical sources the emperor was able to employ his tears at various occasions. Byzantine sources dating to different times reflect upon these requirements. Like Western rulers the Byzantine sovereign wept ( and was expected to
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weep ) as a result of grief, repentance, compassion, emotion and pretence. Imperial tears were not connected to real feelings in most cases, but they were part of the emperor’s image and performance in public. Therefore they demanded an audience for reactions and responses. The argument between Leo VI and Nicholas Mystikos in 906/907 on matrimonial matters allows the reconstruction of rules of imperial and patriarchal power. The emperor acted in imperial manner, but his tears did not solve the tensions between him and Nicholas. Bernard S. Bachrach – David S. Bachrach, Continuity of written administration in the Late Carolingian East c. 887–911. The Royal Fisc, S. 109–146. Traditionally, the government of Francia orientalis has been seen by scholars as less dependent on the written word than the governments of Francia occidentalis and Francia media. This study challenges this view, arguing that the late Carolingian rulers of the eastern kingdom relied very heavily on documents to manage the royal fisc. The study begins with an overview of the use of written documents in the Carolingian empire under Charlemagne and Louis the Pious. The focus then turns to an examination of the numerous ways in which written texts played a crucial role in the management of the royal fisc, and in the maintenance of royal control over properties that had been granted out as benefices to royal fideles. Wojtek Jezierski, Paranoia sangallensis. A Micro-Study in the Etiquette of Monastic Persecution, S. 147–168. Can we use contemporary sociological models of exclusion of paranoiacs to account for the miscarried visitation of a monastic reformer in the tenth century? This article, by offering a thick description of an incident from Ekkehard IV’s , explores early medieval mechanisms of social control and the collective <manufacturing> of scapegoats and deviants in the monastic milieu. Wojciech Fałkowski, Double Meaning in Ritual Communication, S. 169–187. The paper is about ambiguity of rituals used in untypical situations or implemented badly, without sufficient knowledge of their meanings and roles they played in social events or in ceremonies. Author examines several examples of misunderstanding connected with the well-known gesture of clasping or kissing somebody’s legs. Some examples are taken from the Chronicle of Gall Anonim, especially of the queen who attempted to gain clemency for condemned persons and fell to her husband’s feet. Another example is from the Chronicle of Adhemar of Chabannes when the bishop Wojciech kissed the legs of emperor Otto III to thank for his decision to undertake the mission to convert the Slavs. The meaning of this gesture is dissimilar to the ceremony of submission of the Normans to the king Charles the Simple. The scene of triumph was transformed in the pages of the chronicle of Dudo of Saint-Quentin into a grotesque sneer. Raoul Glaber reports how Herbert of Vermandois publicly reprimanded his son that he did not want to bow and show his humility. Other examples showed the Polish prince who did not know how to use the ritual of exchange of kisses, which brought to him infamy, against his intentions and the basic sense of the ritual. The con-
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tent of the communication sometimes considerably diverged from the fundamental meaning of the ceremony. Annelies Amberger, Insignienverlust – Insignienbesitz. Krone und Ring als Funeralinsignien im Grab Kaiser Heinrichs IV. und Herodesbilder in Lambach ( Taf. VIII–X, Abb. 26–40 ), S. 189–228. In the sarcophagus of the emperor Heinrich IV ( died 1106 ) at Speyer a lily-crown and a ring with the inscription of the name of a bishop Adalbero were found. The regalia bear a particular meaning against the background of the 1105 enforced abdication of the emperor, which is specified by Herod scenes in Lambach. They show the attempted suicide of Herod the Great plus the dethronement and the loss of the regalia of Herod Agrippa I after Josephus Flavius and the Acts of the Apostles. According to the Christian exegesis Herod’s suicide attempt was successful. Bernold von St. Blasien reports on a failed suicide attempt of Heinrich IV, which he wanted to commit, after depositing his regalia, which are prominent in the suicide scene. Also for the Agrippa scene a parallel to the Salian emperor can be determined. The owner of the abbey Lambach was bishop Adalbero from Würzburg. As the rival of Heinrich IV in the Adalbero also was deposed and had to give the episcopal ring back to the emperor. The formula of the coronation ordo made crown and ring signs of the emperor’s reign of justice and his union with the church. The emperor got both within his grave, because of his right to investiture and the virtues which are symbolized in them. So he could show his faith in God against the gregorians’ recriminations and he could request the eternal crown of life. The funeral regalia of Heinrich IV symbolize, comparable to the coronation regalia, the legality of his reign and virtue conception. Claudia Garnier, Die Legitimierung von Gewalt durch die hoch- und spätmittelalterliche Friedensbewegung, S. 229–251. The essay analyzes the value of violence in medieval society and pursues the goal of deriving statements on the specific structures of pre-modern rule. If we understand conflict and violence on the one hand and peace on the other as complementary situations, we may assume that the specific features and problems of violence will become obvious wherever someone tried to avoid them: by the medieval peace movement. The analysis of the Peace and Truce of God of the early Middle Ages and the King’s Peace of the high and late Middle Ages shows that it was possible to secure medieval society by the help of normed ways of waging conflict as long as the balance between controlled violentia and blind, uncontrolled violence could be maintained. This was successful particularly because the ways of the legitimate use of violence in the form of the feud were restricted to the bearers of the political order, the nobility, and thus were a matter within one group. That is why the regulations of the Peace and Truce of God and of King’s Peace allowed the use of physical force under certain conditions. However, due to the rise of new social classes, since the late Middle Ages the armed encounters overcame class limits. Towards opponents of a lower social status, the groupstabilizing functions of the use of violence by the nobility lost effect. Precisely at the moment when the processes of social change affected the order of society, the attitude towards violence was re-adjusted. Hence the use of violence turned into endangering
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law and order, and the medieval use of violence had lost its stabilizing potential. For this reason, the peace movement was not able to further legitimate the use of physical violence in the form of the feud. Antonie Wlosok, Rollen Vergils im Mittelalter ( Tafel XI–XX ), Abb. 41–58, S. 253–269 Antonie Wlosok’s essay offers an overview of the role played by Vergil in Medieval culture. In the first section of the essay, the author outlines the main trends in the development of Virgil’s iconography by pointing to the presence of a double image of him as author and poet on one side, and as prophet, philosopher, astrologer, magician, and dramatic character on the other, and by listing the cultural factors that lead to the development of such iconographic trends. In the second section of the essay, the author focuses particularly upon Vergil’s image as prophet, wise man, and astrologer by discussing ten selected examples, such as the representation of Virgil included in a representation of the Tree of Jesse preserved in a Wolfenbüttel manuscript, a portrait of him and of the Sybilla Erithraea, sculpted on the portal of the Laon cathedral or of the poet together with the astrologer Abu-Mashr within an altarpiece, once belonging to the Cistercian monastery of Wormeln, Westphalia. Petra Korte, Christlicher Hades und vergilisches Fegefeuer – die antike Unterwelt in der mittelalterlichen Rezeption, S. 271–306. Mediated mainly by the sixth book of the Aeneid, the mythological underworld of Hades and especially the descent there formed a hub of the medieval reception of ancient mythology. In critical exegesis the katábasis became the allegory of human life, with the topography, the inhabitants and the penitents in Tartarus representing human traits and vices and the epic hero trying to make his way through this landscape and back to the upper world. The commentators of late antiquity, Servius and Macrobius, passed this interpretation on to the Middle Ages. The Vergilian tradition influenced Christian images of hell and purgatory and challenged the skills of medieval poets, while the continuous literary exegesis helped to shape the theory of integumentum as the specific medieval treatment of myth as a form of expression appropriate to theologically problematic subjects. Since scholarly research in the fortleben of the mythological underworld in the Middle Ages almost exclusively concentrated on the alliance of Vergil and Dante, the present study focuses on the medieval commentary tradition and the adoption of its conclusions by twelfth-century epicists Bernardus Silvestris, Walter of Châtillon and Alan of Lille. Kerstin Seidel, Vorzeigen und nachschlagen. Zur Medialität und Materialität mittelalterlicher Rechtsbücher, S. 307–328. In the year 1401 the council of Lüneburg reorganized the city’s law system by establishing a fixed order of privileges and rights and acquiring several law books, among others the Sachsenspiegel and the Schwabenspiegel. The article examines ways of using and editing law books as material objects and media of legal rules. For Lüneburg’s council the simple fact of owning the law books was more important than applying the rules of
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Sachsenspiegel and Schwabenspiegel in court. The law books which were construed and presented as were media of demonstrating the city’s power. In the first half of the 15th century the council of Lüneburg began to use the law books in legal practice. New law books acquired by the council were edited with innovative techniques that have been adopted from Roman and canon law and from the religious sphere. These techniques aimed at increasing both the efficiency in the city’s administration and the status of the council as a user of these techniques. Ulrich Töns, . Die Grammatik des Johannes Kerckmeister ( 1486 ) als Zeugnis des Humanismus in Münster, S. 329–397. Johannes Kerckmeister, rector scholarium of the cathedral-school in Münster ( Westphalia ), is especially known for his school-comedy , printed in 1485, whereas his Latin grammar, published in Münster in 1486, has found little attention until now. The present study analyses the different parts of Kerckmeister’s and examines their function in the curriculum of grammar-teaching. The was a very successful book, often reprinted up to the first decade of the sixteenth century and one of the leading school-grammars in Westphalia and the region between Cologne, Deventer and Zwolle. It was equally known in other parts of Germany and even in Denmark and France. Close examination of local historical sources allows to give detailed biographical information on Kerckmeister and his printer Johannes Limburg and to locate the author within the context of the humanist movement in the Low Countries and especially in the city of Münster. Finally the article describes Kerckmeister’s influence on the transformation of Münster’s cathedralschool into a humanist grammar school ( Gymnasium ) and defines his role in the development of grammar-teaching at the end of the fifteenth and the beginning of the sixteenth century as an example of the transition from medieval to humanist grammar. Klaus Schreiner, Von der Geliebten zur himmlischen Schutz- und Siegesfrau. Zur semantischen Umbesetzung einer biblischen Frau in der Hohenliedauslegung des Mittelalters und der frühen Neuzeit ( Tafel XX–XXII, Abb. 59–65 ), S. 399–423. The essay is concerned with the interpretation of the Song of Songs in the Middle Ages and early modern period. The original subject of the Song of Songs was love between bride and bridegroom. The collection of the Hebrew love and wedding songs was integrated by the Judaic synagogue and Christian church into the canon of their holy writings. An epoch-making change in the interpretation of the Song of Songs was produced by Christian theologians in the twelfth century. They interpreted the statements about the bride of the Song of Songs as metaphors of Virgin Mary. The metaphors tower of David, wall und well-ordered army gave Mary the profile of a fighting and protecting woman, who as a goddess of war ( bellona ) interfered with the conflicts of her devoted clients, to help them to victory. To believe, that Mary’s power is comparable with the defensive power of a tower, of a wall and of a well-ordered army enforced Christians of the Middle Ages and early modern period in their confidence in Mary’s victorious protection.
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Orts-, Personen- und Sachregister
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Orts-, Personen- und Sachregister bearbeitet von Franz Neiske Abkürzungen: arab. atl. Bez. Bf. byz. dép. Diöz. dt. Ebf. frk. Fs. Gem.
= arabisch = alttestmentlich = Bezirk = Bischof = byzantinisch = département = Diözese = deutsch = Erzbischof = fränkisch = Fürst = Gemahl, Gemahlin
Gf. Hg. Kg. Kgn. Kr. Ks. M. niederl. Pp. Prov. Reg. röm.
= Graf = Herzog = König = Königin = Kreis = Kaiser = Mönch = niederländisch = Papst = Provinz = Region = römisch
Die Handschriften sind unter der Position < Handschriften> zusammengefaßt.
Aachen, Marienstift 120 Anm. 57, 133–137 Abecedarium 319–322, 327 f. Abraham a Santa Clara 410 f. Abshalom, Sohn Davids 71, 85 Adalbero, Ebf. v. Reims 174 Adalbero, Ebf. v. Trier 195 Adalbert, Bf. v. Bremen-Hamburg 202, 219 Adalbert Vojtech, Bf. v. Prag 173 f., 186 f. Adelbero, Bf. v. Würzburg 200–203, 209, 213, 217 f., 227 Adelheid, Gem. Ks. Ottos I. 147, 165 f. Ademar v. Chabannes, Geschichtsschreiber 59, 173 Aeneas 274, 277, 279, 285, 289, 300 Alan v. Lille 404 – Anticlaudianus 287, 295, 301–304 Albrecht II., Hg. v. Österreich 409 Albumasar, arab. Astrologe 254, 263, 265 f. Alexander 295 f., 298 f. Alexios I. Komnenos, byz. Ks. 64, 96 Allegorese 280, 284–286, 305 f. Altmann, Bf. v. Passau 202, 209, 217 Ambrosius, Bf. v. Mailand 1–10, 14–20, 22, 24–26, 28–42, 44–48, 53–57, 60–62, 67–69, 76–79, 84 f. – De obitu Theodosii 1, 3–8, 10, 15, 20, 31 f., 40 f., 45, 48, 54, 57, 67–69, 77
Ammianus Marcellinus, röm. Geschichtsschreiber 43 Anchises, Vater d. Aeneas 283, 285, 300 Andronikos I. Komnenos, byz. Ks. 92 Anm. 19, 93, 95, 97 Anm. 43, 105–108 Anna Komnene, byz. Prinzessin, Geschichtsschreiberin 96, 98 f., 105 Antiochia 16 Anm. 75, 24, 67 Apophthegmata Patrum 91 Arcadius, Flavius, Sohn Ks. Theodosius’ I. 1 Anm. 3, 2 Anm. 4, 9, 42, 52, 55–57, 59 f. Arianer 6 Anm. 19, 40 f., 54 Aribo, Ebf. v. Mainz 148 Anm. 3, 195 Aristoteles 254, 266–268 Armillae s. Armspange Armspange 189, 198–200, 211, 213, 227 Arn, Bf. v. Würzburg 136 f. Arnulf v. Kärnten, ostfrk. Kg., Ks. 109, 129 f., 131 Anm. 114, 132–138, 139 Anm. 144, 140 f., 143–146 Artus, sagenhafter König 414 f. Astrologie 253 f., 265–267 Athanasius d. Gr., Kirchenlehrer 76 Augustinus, Aurelius, Bf. v. Hippo 56, 257, 260–262, 264
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Orts-, Personen- und Sachregister
Barberini-Diptychon 28 Basileios I., byz. Ks. 74, 86, 102, 108 Basileios II., byz. Ks. 94 Anm. 27, 106 Beda Venerabilis 264 Benediktsregel 148, 151 Anm. 16, 152 Anm. 19, 156, 158, 162 f. – Bestrafung 152, 155 Anm. 32, 159 f., 162, 164 – Disziplin 163 Anm. 66, 165 – Fleischgenuss 148, 157, 161 f. – Regelverstoß 149–151, 154, 157, 159–161, 166, 168 – Weingenuss 148, 157, 160–162 beneficium 113, 117 Anm. 37, 118, 119 Anm. 48, 124–126, 127 Anm. 94, 129, 134 f., 137 f., 139 Anm. 146, 140–146 Bernhard v. Clairvaux 264 Bernhardus Silvestris 287 f., 296, 301 Bernold v. Konstanz 212–214 Birgitta v. Schweden 415 Bischofsring 194, 195 Anm. 22, 196 Anm. 30, 197 f., 201–203, 204 Anm. 78, 206 Anm. 91, 228 s. a. Ring Boleslaw I. Chrobry, Kg. v. Polen 172 f., 183 f., 186 f. Boleslaw II. Smialy ( der Kühne ), Kg. v. Polen 183–186 Bonaventura, Franziskanertheologe, Kirchenlehrer 404 Brand v. Tzerstede, Lüneburger Ratsherr 322, 324, 326 f. Bremen-Hamburg s. Adalbert Brun I., Ebf. v. Köln, Bruder Ks. Ottos I. 147 Bruni, Leonardo, Humanist 371, 379, 388 Brustkreuz 189 Anm. 2, 190, 228 Anm. 188 Brutalität 246–251 Bundeslade 82 Byzanz 71–81, 83 f., 86 f., 89–92, 96, 103–105, 107 f., 120, 406, 407 Anm. 34, 418 s. a. Konstantinopel Caesaropapismus 75 Anm. 25 Canossa 202, 207, 212 f., 219 Capitula de causis diversis 128 Anm. 102, 129 Anm. 109, 142 Anm. 158 Capitulare de iustitiis faciendis 119 Anm. 48, 125 Anm. 86, 127 Anm. 97 Capitulare de villis 114–117, 119 f., 130 Anm. 112, 134 Anm. 126, 135, 138, 146 s. a. Kapitularien Carpentras ( dép. Vaucluse ) 65–67 Casus St. Galli 186 Anm. 92 s. a. Ekkehard IV. Chalcedon, Konzil 78 Charroux ( dép. Vienne ), Kloster, Gottesfriede 233 Chartres, Schule v. 287–289, 296 Chlodwig I., Frankenkg. 197
Chlothar I., merow. Kg. 85 Choniates, Niketas, byz. Schriftsteller 89 Anm. 2, 92 Anm. 19, 93–95, 97, 105, 106 Anm. 89, 107 Christogramm 27 f., 30, 48 Anm. 183, 49–52, 55 f., 68 f. Cicero, Marcus Tullius 358–360, 367 Anm. 126, 371, 377 Anm. 179, 378, 381, 383, 389 – Somnium Scipionis 282, 287 Claudianus, Claudius, oström. Dichter 286, 296, 298–300, 302, 304 Clemens III., Gegenpp. 207, 217 Cluny 151 s. a. Hugo Constantius II., röm. Ks. 12, 28 Anm. 112, 32, 48 f., 51, 53 Corbie ( dép. Somme ), Kloster 193 Corvey ( Kr. Höxter ), Kloster 131, 141, 144 Dagulf-Psalter 72 Dante Alighieri 255 f., 272 f., 280, 305 f. Dati, Agostino, Humanist 362, 388 David, atl. Prophet, Kg. 71–87, 254, 258, 260, 401–404, 408–414, 422 – David-Mimesis 71 Anm. 3, 72–74, 76 f., 79 f., 82 f., 86 – Silberplatten 81 f. s. a. Turm Davids deditio 107, 160 f. Deventer ( Prov. Overijssel, Niederlande ) 341 Anm. 40, 354, 361, 363–369, 373, 376 Anm. 177, 378, 380, 384, 393, 394 Anm. 237 Devotio Moderna 375 f., 378, 384 Diadem 10, 16, 19, 28, 31, 36–38, 41–48, 49 Anm. 184, 50–53, 55–57, 58 Anm. 210, 59–61, 68 f. s. a. Krone Dictatus papae 207 Diptychon s. Barberini-Diptychon, Probus-Diptychon Donatus, lat. Grammatiker 334 Anm. 22, 335–339, 340 Anm. 37, 341 f., 345 f., 353, 355, 360, 363 Anm. 109, 365 Anm. 117, 367, 376, 386, 389, 395, 396 Anm. 244 Donatus burgensium, Lüneburger Stadtbuch 313, 314 Anm. 28, 315 f., 326 Dorestad ( Diöz. Utrecht ) 137 Dudo v. St. Quentin 171 Anm. 16, 181, 182 Anm. 73, 183 Anm. 78, 186 Ekkehard I., Abt v. Aura, Chronik 191, 214 f., 220, 222, 224 Ekkehard II. <Palatinus>, Mönch v. St. Gallen 147, 148 Anm. 3, 153 Ekkehard IV., Mönch v. St. Gallen, Casus St. Galli 147 f., 151 Anm. 16, 152, 153 Anm. 20, 154, 155 Anm. 29, 156 Anm. 35, 157 Anm. 39, 158
Orts-, Personen- und Sachregister Anm. 45, 160, 161 Anm. 58, 162 Anm. 65, 163 Anm. 67, 164 Anm. 74, 165 f., 167 Anm. 89 Emma, westfrk. Kgn. 177 f., 187 Emotionen 89, 91, 93, 105 f., 108 – Reue 90, 93, 97–99, 103 Anm. 83 – Tränen 89–99, 101, 104–106, 108 – Trauer 90–93, 96 – Weinen 89, 91, 95 Enkidu, Gefährte d. Gilgamesch 276 f. Ereschkigal, sumerische Unterweltsgöttin 275 Ermoldus Nigellus, frk. Dichter 57 Eusebius, Bf. v. Caesarea 11–13, 54 Fegefeuer 271, 273, 280, 297–300 Fehde 235, 238–248, 251 s. a. Tübinger Fehde Flavius Josephus s. Josephus Friede, Friedensbewegung 229, 231–239, 242–244, 249, 251 s. a. Gottesfriede, Landfriede Friedrich I. Barbarossa, dt. Kg., Ks. 235–237, 324 Friedrich II., dt. Kg., Ks. 237, 325 Fulgentius, Mythograph 256 f., 263, 267, 269, 284 f., 288, 295 Fundamentum scholarium, lat. Grammatik 330 f., 334–337, 347, 354, 356, 359–369, 386 f., 389–391, 393–396 Funeralinsignien 189 f., 226 Anm. 183, 227 Anm. 187 Fußfall 90 f., 172–177, 179, 182, 183 Anm. 78, 185, 186 Anm. 92, 187 s. a. Proskynese Galileo Galilei 306 Gallus Anonymus, Geschichtsschreiber 172, 183 f. Gelasius v. Caesarea, Kirchenhistoriker 13, 14 Anm. 60, 15, 16 Anm. 75, 17, 20–22, 30, 68 f. Gelasius v. Kyzikos, Kirchenhistoriker 14 Gericht 230, 236–238, 242–244, 249, 251 Gero, Ebf. v. Köln 165 Gewalt 229–251 – Legitimierung 229 f., 232, 234, 235 Anm. 24, 237 Anm. 32, 238, 242 f., 244 Anm. 55, 251 Gilgamesch 276–278 Gladbach ( Reg.-Bez. Düsseldorf ), St. Vitus, Kloster 164 f. Glossen, Glossierung 313, 316, 318 f., 322–324, 326–328 Goldene Bulle 239 Goliath 79, 82 Goten 3, 52 Gottesfriede 229, 232, 234 Anm. 19 s. a. Charroux, Friede Grabbeigaben 190, 192 f., 195, 204, 213, 227, 228 Anm. 188 Grabkirche, Jerusalem 11 f., 15, 20, 24 Anm. 96, 68
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Grammatik, lat. 329–338, 341–346, 348 f., 351–353, 356, 359–369, 379, 386–396 – – Adjektive 332, 335, 337, 339, 341, 344 f., 348 f., 351, 391 – – Deklination 334 f., 337 f., 341, 395 – – Etymologie 334, 338, 356, 362, 367 Anm. 127, 392 f. – – Konjugation 332, 334 f., 337 f., 341 – – Metrik 329, 332–334, 336, 344, 352, 354 f., 362, 364 Anm. 114, 369 Anm. 133, 392 – – Nomina 332, 334, 337, 339, 341, 344, 350, 366 Anm. 124 – – Orthographie 332, 334, 336, 352, 361, 365 Anm. 118, 366 Anm. 124, 368 Anm. 132 – – Pronomina 334 f. – – Prosodie 332, 334, 336, 352 f., 392 – – Silben 333, 336, 352 f., 355, 364 Anm. 114 – – Syntax 332, 334–336, 342–345, 351, 356, 361 f., 367 Anm. 127, 368, 387, 392, 395, 396 Anm. 244, 397 Anm. 245 – – Tempusbildung 332, 341 Anm. 41, 352, 354, 362, 365 Anm. 117, 375 Anm. 175 – – Verben 332, 334–338, 341 f., 344 f., 350 f., 353, 361 Anm. 105, 366 Anm. 124, 375–377, 387, 389 f., 395, 396 Anm. 244 – – Vocativa 332, 341 f. – – Wortarten 332, 334 f., 338, 341 f., 344, 346, 361, 395 Gregor, Bf. v. Tours 23, 62, 69, 85, 197 Gregor I. d. Gr., Pp. 264 Gregor v. Nyssa, Kirchenlehrer 50 Anm. 187 Gregor VII., Pp. 205–209, 215 Guibert v. Nogent 404 Hades 272, 274, 277–281, 285 Anm. 58, 286, 301 Handabschlagen 246–250 s. a. Schwurhand Handschriften, Athen, Nationalbibliothek Griechenlands, cod. Athen. 211 103 Anm. 80 – Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 167 325 Anm. 81 – Innsbruck, Universitätsbibliothek, Hs. 922 312 Anm. 21 – Köln, Dombibliothek, ms. 141 196 Anm. 34, 224 Anm. 177 – Krakau, Bibliothek des Domkapitels, cod. 208 221 Anm. 159 – Lüneburg, Ratsbücherei, ms. jurid. 1 319 Anm. 52 – – ms. jurid. 2 310 Anm. 9, 311 Anm. 15 – – ms. jurid. 3 310 Anm. 9, 311 Anm. 15 – – ms. jurid. 14 319 Anm. 52, 321 Anm. 64 – – ms. jurid. 16 319 Anm. 52 – Lüneburg, Stadtarchiv, AB 1 313 Anm. 26, 314 Anm. 28
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Orts-, Personen- und Sachregister
– – AB 2 313 Anm. 26, 314 Anm. 28 – – AB 3 307 Anm. 2, 310, 313 Anm. 26, 315 Anm. 35 – – AB 6 314 Anm. 27 – – AB 23 316 Anm. 39 – – AB 61 319 Anm. 51 – – AB 95 318 Anm. 44 – Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. S.P. 10, 27 253 Anm. 2 – Modena, Biblioteca Estense Universitaria, Ms. Lat. 842 65 Anm. 241 – München, Bayerische Staatsbibl., Clm 10718 377 Anm. 178 – Nürnberg, Stadtbibliothek, Ms. Solger 15.2E 266 Anm. 41 – Paris, Bibl. Nationale de France, cod. gr. 139 103 Anm. 83 – – ms. lat. 757 65 Anm. 240 – – ms. lat. 1018 261 Anm. 26 – – ms. lat. 7492 339 Anm. 34 – Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. Guelf. 568 Helmst. 257 Anm. 9 Heinrich I., dt. Kg. 129, 141 Heinrich I., Kg. v. England 144 Heinrich II., dt. Kg., Ks. 204 Anm. 76 Heinrich III., dt. Kg., Ks. 191, 200 Anm. 60, 201, 204, 208, 225 Anm. 180, 226 Heinrich IV., dt. Kg., Ks. 189–192, 195, 198, 200–203, 205–208, 210, 212 f., 215, 217–222, 226–228 Heinrich V., dt. Kg., Ks. 191, 192 Anm. 9, 205, 217 Anm. 138, 219–222 Helena, Mutter Ks. Konstantins d. Gr. 1, 5–23, 25, 27, 30, 35, 37, 39–42, 44, 46–48, 51–53, 55–61, 67–69 Helm 16 f., 19, 21, 23 f., 26 Anm. 105, 27, 35 f., 37 Anm. 144, 38, 42, 50–52, 64, 68 f. Helmold v. Bosau, Geschichtsschreiber 216, 224 Herakleios, byz. Ks. 74, 80–83, 85, 87 Heraklonas III., byz. Ks. 83 Heribert, Gf. v. Vermandois 176 f. Herkules 274, 286 Anm. 60 Hermann, Bf. v. Metz 208 f., 217 Herodes, Herodesdarstellungen 201, 209, 210 Anm. 108, 211–213, 214 Anm. 124, 215–219, 221 f., 227 Herrieden ( Diöz. Eichstätt ), Kloster 138 f. Heuchelei 147, 160, 162 Hieronymus, Sophronius Eusebius 17 Anm. 77, 29, 68, 72 Himmelsreise 291 f., 294, 302 Hinkmar, Ebf. v. Reims 42, 193, 198 Hölle 273, 279–281, 286, 298–301, 303–306 Hohelied 399–401, 402 Anm. 10, 403, 405, 407, 413 Anm. 61, 414, 423
Holzreliquie s. Kreuz Homer 255, 269, 273 f., 277–279, 284 Honorius, weström. Ks. 1 f., 7–9, 16, 31, 34, 40, 42, 44, 46–48, 49 Anm. 184, 52 f., 56 f., 60 f., 69 Honorius Augustodunensis 400, 403 Hormisda, Pp. 78 Hugo, Abt v. Cluny 201 Hugo Capet, Kg. v. Frankreich 174 f., 187 Humanismus 329–396 Humbert v. Silva Candida 205 Ikone 94, 96, 102 Ingeborgpsalter 260 Insignien 189 f., 192, 196 Anm. 31, 199 Anm. 47, 203–205, 207 f., 211, 213, 216, 217 Anm. 139, 218–222, 226–228 – Insignienbesitz 189, 217 Anm. 139, 218 – Insignienverlust 189, 219 f., 222, 227 Investitur 193, 196 f., 200, 202 Anm. 65, 203, 204 Anm. 76, 205 Anm. 84, 208, 216, 218, 227 f. Ioannes III. Dukas Batatzes, byz. Ks. 99 Ioannes Komnenos, byz. Ks. 94 Ioannes Tzimiskes, byz. Ks. 98 Isaakios Komnenos, byz. Ks. 98 Jenseitsvision, christlich 279–281, 282 Anm. 44, 305, 306 Anm. 145 Jerusalem 5, 11–13, 15–21, 23–25, 51, 62, 64, 67 f., 80, 82 f. s. a. Grabkirche, Kyrill Johannes XVI. Philagathos, Gegenpp. 98 Josephus Flavius, Geschichtsschreiber 210 f., 213 f., 216, 220 Anm. 156 Julian Apostata, röm. Ks. 24, 41 Anm. 155, 43 Justin I., byz. Ks. 78 Justinian I., oström. Ks. 79 f., 83 Kärnten 133, 144 Kaiserkrönung 189 f., 192 f., 195 f., 199, 205, 208, 212, 221, 224, 226, 228 Kaiserrecht 311–313, 317, 319, 324 f., 328 Kapitularien 111, 114–117, 119 f., 125 Anm. 83, 127 Anm. 94, 128 Anm. 102, 129 Anm. 110, 130, 134 f., 138, 146 s. a. Capitulare Karl ( I. ) d. Gr., Ks. 59, 61, 64, 72–74, 83, 86, 109–111, 114 f., 117–129, 134–137, 141 f., 145 f., 225 Anm. 180, 311–313, 317, 324 f. Karl ( II. ) d. Kahle, westfrk. Kg., Ks. 109, 111, 132 Anm. 121, 133 Anm. 122, 135, 179, 193 Karl ( III. ) d. Einfältige, westfrk. Kg. 177, 180–182, 183 Anm. 76, 185 Anm. 90 Karl III. ( der Dicke ), frk. Kg., Ks. 113, 138, 139 Anm. 147, 142 Anm. 157 Karl IV., Ks. 325
Orts-, Personen- und Sachregister Karl, Hg. v. Niederlothringen 174–176, 178, 187 Karl Martell, frk. Hausmeier 119 Anm. 48, 125 Anm. 83 Karolinger 109–118, 120, 123–125, 127, 129–132, 134–136, 139, 141–144, 146, 174–176, 180–183, 185, 187 Katharinenkloster ( Sinai ) 79 Kerckmeister, Johannes, Domschulrektor, Grammatiklehrer 329–342, 344 f., 347 f., 350, 352–354, 356 f., 359–375, 380, 382–388, 390–396 – Codrus, Komödie 329 f., 332, 369 Anm. 135, 371, 372 Anm. 156, 374 Anm. 167, 386 f., 389–391, 394, 396 – Fundamentum scholarium s. Grammatik Kiev ( Reich ) 183 f. Kniefall 158, 160 s. a. Unterwerfung Köln 360 f., 363–366, 368–371, 374, 378, 381–386, 389, 392–394, 396 s. a. Brun I., Gero, Pilgrim Königsgut 109, 111 Anm. 9, 113–122, 124 f., 129 f., 132–134, 135 Anm. 130, 136–146 Konflikt 231–246, 249–251 Konrad II., dt. Kg., Ks. 192 Anm. 9, 212, 221, 226 Konstantin I. d. Gr., röm. Ks. 1, 5 f., 10, 12, 16 f., 19–30, 33–36, 39 f., 42–45, 48–51, 55, 57–66, 68 f., 73–76, 78, 80–86, 206, 257, 260, 312 f., 418 – Konstantinsäule 22 Anm. 91, 23 Anm. 93 Konstantin VII. Porphyrogennetos, byz. Ks. 58 f., 91 Konstantinopel 406 f., 418 – Hagia Sophia 58 f., 100–102, 108 s. a. Byzanz Kranz, hl., Kaiserkranz, Königskranz 1, 23, 28, 31, 36 f., 42 Anm. 158, 43–50, 52 f., 55–61, 69 Kreuz, Drei Nägel-Konzept 36, 45, 64 – Kreuzauffindung 5, 7 f., 11, 13, 18–20, 22 f., 25–27, 29, 67–69 – Vier Nägel-Konzept 23 Anm. 93, 35 Kreuz, ‚echtes‘ Kreuz 5, 8, 10–13, 16 Anm. 75, 21, 22 Anm. 91, 27–29, 35–37, 39, 41, 46, 50–52, 55 f., 59 f., 61 Anm. 222, 63, 64 Anm. 237, 65, 67, 80, 82 Kreuz, Kreuzesholz, Holzreliquie 10, 15 Anm. 69, 16, 20–24, 31 Anm. 118, 35, 36 Anm. 142, 37, 39, 46 f., 50, 56 f., 59, 63, 67 f. Krönung, Kaiserkrönung 75 f., 86 Krönungsordo 189, 192 f., 196, 199, 208 Krone 189 f., 192 f., 204, 208, 211, 213–217, 219–221, 222 Anm. 159, 224, 225 Anm. 177, 226–228 – 61, 69 s. a. Diadem Kuss, rituell 173 f., 176–179, 182, 183 Anm. 78, 184 f., 186 Anm. 92, 187
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Kyriakos v. Jerusalem, Kyriakoslegende 18–22, 26, 35, 69 Kyrill, Bf. v. Jerusalem 11 f., 51 Lambach ( Oberösterreich ), Kloster 194 Anm. 18, 200–203, 209, 212 f., 215, 216 Anm. 135, 217 Anm. 138, 218, 219 Anm. 144, 220–222, 227 f. Lampert, Mönch v. Hersfeld, Annales 213, 215 Landfriede 234 f., 238, 244, 251 – Ewiger 244, 251 – Mainzer 238 – Schwäbischer 235 Laon, Kathedrale 253, 260 f. Lasterkatalog 297, 302 f. Lauretanische Litanei 409 Anm. 45, 410, 412, 413 Anm. 58 s. a. Loreto Leon VI., byz. Ks. 99–104, 108 Lepanto, Schlacht v. 410 Anm. 46, 412, 422 Leviathan 296, 298–300 Libri Carolini 86 Lilie 192, 222, 226, 228 Liutbert, Ebf. v. Mainz 138 f. Loreto ( Prov. Marken ), Wallfahrtsort 408, 410 f. s. a. Lauretanische Litanei Lorsch ( Kr. Bergstraße, Hessen ), Kloster 125, 130 Anm. 113, 131 Lothar I., frk. Kg., Ks. 111, 135, 136 Anm. 133, 145, 174, 178 f., 186 f. Lotharingien 148, 152 Anm. 19, 154, 174 f., 178, 181, 187 Ludwig I. d. Fromme, Ks. 57 f., 109 f., 114, 124 f., 129, 137, 145 f., 178–180 Ludwig II. d. Deutsche, ostfrk. Kg. 111 f., 130, 133–135, 145 Ludwig IV. d. Kind, ostfrk. Kg. 109, 114, 129 f., 137, 141 f., 144–146 Lüneburg ( Niedersachsen ) 307, 309–311, 313–320, 322–328 Lüttich 190 f., 220, 223 Macrobius, Ambrosius Theodosius, lat. Philologe 281–284, 287, 291 f. Magdeburg ( Sachsen-Anhalt ) 313, 318 Mailand 1, 5, 9, 20, 24 f., 32, 34, 54, 56, 66 f., 69 – Apostoleion 33 – San Lorenzo 32 f. Mainz s. Aribo, Liutbert, Siegfried Mantel 190, 199, 211 Mantua ( Reg. Lombardia ) 254 f. Manuel I. Komnenos, byz. Ks. 95 Anm. 30, 97 Marc Aurel, röm. Ks. 28 Maria, himmlische Schutzherrin 399, 401–412, 414, 417–419, 422 f.
436
Orts-, Personen- und Sachregister
– Kriegsheer 402 f., 409, 415–418, 420–423 – Mutter Jesu 401, 405–407, 412, 413 Anm. 58, 414 f., 416 Anm. 72, 417–420, 423 – Schlachtenhelferin 402, 406 f., 412, 417, 423 – Schutzschild 401–404, 408–411, 413–416, 422 Anm. 102, 423 Martianus Capella 287 f., 291, 294 Anm. 107 Maximilian I., Hg. v. Bayern 416, 419 Maximilian I., Ks. 244 Meier ( Grundherrschaft ) 118–125, 128, 134–136, 139, 141, 145 Merseburg, Bibel 253, 267 Mettlach s. Remigius Metz s. Hermann Michael Psellos s. Psellos, Michael missaticum 119, 127 f. missi dominici 116, 119, 122 Anm. 69, 126–129, 135, 142 Mohammed 418 Moses 73, 75, 84, 95, 422 Münster ( Westfalen ) 329–331, 340, 361, 364, 366, 368–370, 374–385, 393, 396 – Domschule 330, 364 Anm. 114, 371–373, 380, 382, 384–386, 391, 396 f. – Stiftsfehde 370, 375 f. Nagel 10, 15–23, 24 Anm. 96, 25–30, 34–36, 37 Anm. 145, 38, 41, 44–47, 51, 54–56, 60, 61 Anm. 222, 62–69 – Sacro Morso 65 f. Narbonne ( dép. Aude ), Konzil ( 1054 ) 233 Nekyia s. Totenopfer Nergal, sumerischer Vegetationsgott 275 Nikephoros Phokas, byz. Ks. 98 Niketas Choniates s. Choniates, Niketas Nikolaos Mystikos, Patriarch v. Konstantinopel 99 f., 102–104, 108 Nilus v. Rossano, Gründer v. Grottaferrata 98 Nithard, frk. Geschichtsschreiber 179 Nizäa, Konzil 86 Norm, Normativität 151, 159, 163, 167 Normannen 180–183, 185–187 Notker, Abt v. St. Gallen 154, 162 Notker Balbulus ( d. Stammler ), St. Galler Gelehrter 166 Nürnberg ( Bayern ) 246, 248 f. Oblation 150, 152, 167 Anm. 88 Odysseus 271, 274, 278 f. Orpheus 273 f., 286 Anm. 60, 289 Otto I. d. Gr., dt. Kg., Ks. 147, 148 Anm. 3, 152–154, 155 Anm. 32, 156, 164 Anm. 74 Otto II., dt. Kg., Ks. 147, 153, 158, 165 f. Otto III., dt. Kg., Ks. 98, 173 f. Ovidius Naso, Publius 256, 267, 358–360, 371
Passau s. Altmann Passionsreliquie 6, 11, 15, 23–25, 27–30, 37, 40, 47, 51, 53, 56, 58–61, 64 Anm. 237, 66, 69 s. a. Kreuz, Nagel Perotti, Niccolò, Humanist 344 Anm. 62, 366 Anm. 123, 367 Anm. 126, 368 f., 392 f., 395 f. Perser 80–82 Petrarca, Francesco 253, 256 Petrus Helias, lat. Grammatiker 338 Anm. 32, 341, 343 f., 347, 349, 350 Anm. 78 Pferdezaum 1, 10, 17, 19, 21, 23–25, 26 Anm. 106, 29–31, 35, 37, 46, 55, 61 f., 66, 68 Philipp II. August, Kg. v. Frankreich 144, 295 Philipp v. Harvengt, Prämonstratenser 400, 405 Phylakterion 28, 30, 34, 38, 51, 63, 67 Pilgrim, Ebf. v. Köln 195 Pippin III. ( d. Jüngere ), frk. Kg. 86, 119 Anm. 48, 136 Anm. 136, 137 Pius V., Pp. 412, 422 Platon, griech. Philosoph 254–256, 267 f., 281, 282 Anm. 44, 284, 287, 289–292, 294 f., 301, 305 Pluto, Herrscher d. Unterwelt 275, 280, 291, 294 f., 303 Polyptychon 118 Anm. 43, 119 Prag s. Adalbert Vojtech Priscianus, lat. Grammatiker 334 Anm. 20, 336, 338 f., 341 f., 343 Anm. 45, 344, 346, 347 Anm. 72, 349 f., 352, 359, 389 Probus-Diptychon 47 f. Prokop v. Caesarea, Kirchenhistoriker 22 Prokop v. Templin, Kapuziner 422 f. Proserpina 273, 275, 294 Anm. 107 Proskynese 91 Anm. 15, 102 Anm. 80, 103 Anm. 83, 107 f. s. a. Fußfall Psalter, Psalmen 71, 73, 76 Anm. 30, 77, 79, 84 Psellos, Michael, byz. Geschichtsschreiber 98, 104 Psychomachie 304 Radbod, Ebf. v. Trier 142 Rainald v. Châtillon, Fs. v. Antiochia 107 Ravenna ( Reg. Emilia-Romagna ), San Vitale 79 Rechtsbuch 307–311, 313 f., 316, 319 f., 322 f., 325–328 Rechtsregel 312, 314 f., 318–320, 322, 328 Regelverstoß s. Benediktsregel Reichenau ( Kr. Konstanz ), Kloster 280 Reichsapfel 220 Reims s. Adalbero, Hinkmar Remigius, Abt v. Mettlach, Schüler Gerberts v. Aurillac 330, 333 Anm. 19, 339 Anm. 34, 340, 354 Anm. 88 Remigius v. Auxerre, Regulae 330–332, 339 f., 344, 362, 364, 394 Anm. 238 Reue s. Emotionen
Orts-, Personen- und Sachregister Richer, M. v. St. Gallen 154 f., 161 f. Richer v. Reims, Geschichtsschreiber 174 Ring 189 f., 192–206, 216, 220, 225, 227 f. s. a. Bischofsring Rodulfus Glaber, Chronist 176 f. Rollo, Hg. d. Normandie 180–182, 183 Anm. 76, 187 Romanos I. Lakapenos, byz. Ks. 94, 103 Romanos III. Argyros, byz. Ks. 94 Rudolf, Kg. v. Westfranken 177 Rudolf v. Langen, Humanist 329 f., 361, 371 f., 374, 376–381, 383–385, 396 Rufinus v. Aquileia, Kirchenhistoriker 14 f., 20 f., 29 f., 35, 62 Ruomo, M. v. St. Gallen 160–164 Rupert v. Deutz 400, 403 St. Gallen, Kloster 147 f., 150–154, 156–160, 162, 164–168, 240 s. a. Notker, Richer, Ruomo St. Maximin s. Sandrat Sacharjas, atl. Prophet 9, 16 Anm. 74, 17–20, 24, 29, 62, 68 Sachsenspiegel 307 f., 310–314, 316, 318–320, 322–328 Saint-Claire-sur-Epte, Vetrag v. 180, 185 f. Salbung, Kaisersalbung 76, 86 Salier 189, 204, 208, 221, 227 Salomon, Kg. v. Israel 71, 83 f., 86, 253 f., 258, 263 f., 408 f., 413, 418 Sandrat, M. v. St. Maximin / Trier 147–150, 151 Anm. 16, 152–168 satisfactio 233, 234 Anm. 18, 241 Schadentrachten 239–241, 244, 247 Schild 401–404, 408–411, 413–416, 422 Anm. 102, 423 Schwabenspiegel 240, 307, 310 f., 313 f., 316, 319, 322, 326–328 Schwurhand 248 Selbsthilfe 235, 237 f., 243, 251 Selbstmord 189, 210, 212–214, 216, 218, 221 Seneca, Lucius Annaeus 266 f. Servius, lat. Grammatiker 281–284, 306 Severus Endelechius, röm. Autor 27 Sibylle, Seherin 253 f., 256–258, 260–265, 268, 279 Siegel, Siegelring 195, 197, 199 Anm. 49, 203, 221 Anm. 157, 222 Siegfried, Ebf. v. Mainz 202, 225 Anm. 177 Silvester I., Pp. 58 Sokrates Scholastikos, Kirchenhistoriker 14, 22 f., 35 Sozomenos, Kirchenhistoriker 14, 17 f., 19 Anm. 86, 20, 69 Speyer 189, 191, 223
437
Stab 193, 197 Anm. 34, 202 Anm. 65, 203–206 Stablo ( Prov. Lüttich ), Kloster 140 Stadtbuch s. Lüneburg Stephan II., Pp. 86 Stilicho, röm. Reichsfeldherr 2, 9, 34, 41 f., 48 Strafe 91, 99, 208 f., 212, 214 f., 233 f., 237, 241, 247 f., 280 f., 283, 286, 299 Sündenbock 152, 160 Sulpicius Severus, altkirchl. Schriftsteller 6 Anm. 19, 14 f., 39 Tartarus 279, 281 f., 283 Anm. 51, 286, 298, 303 s. a. Unterwelt Teiresias, Seher 278 Terentius Afer, Publius, röm. Dichter 358–360, 371, 376 Anm. 178, 389 Tetragamiestreit 100 Theodoret v. Kyrrhos, Kirchenhistoriker 14 Anm. 61, 17, 20, 35, 63, 69 Theodosius I., d. Gr., röm. Ks. 1–6, 8 f., 16 f., 25, 31, 33 f., 40–42, 44, 46, 48 f., 52, 54, 57, 60 f., 67, 76–78 Theodosius II., röm. Ks. 1, 42 Theophanu, Gem. Ks. Ottos II. 147 Theophilos, byz. Ks. 86 Thietmar, Bf. v. Merseburg, Geschichtsschreiber 132 Anm. 121 Totenopfer 274, 277 f. Tränen s. Emotionen Trauer s. Emotionen Trense ( heilige ) 26 f., 30, 62–66, 68 s. a. Zaumzeug Trier s. Adalbero, Radbod Trifolium 45–47, 49, 69 Tübinger Fehde 240 f. Türken 405, 411, 412 Anm. 57, 418–422 Tunika 190, 211, 213, 228 Anm. 188 Turm Davids 402–406, 408–414, 423 s. a. David Universitäten 336 f., 345, 364 f., 369, 371, 381 f., 384, 386, 394 Unterwelt, Abstieg 273 f., 278, 284, 285 Anm. 58, 286, 288 Anm. 73, 289, 291 f., 294–296, 300, 305 f. s. a. Hades Unterwerfung 235, 240 f., 249 s. a. Kniefall Urban II., Pp. 212 Utrecht, Bistum 137 Vasall 124, 126–128, 134, 138, 142, 145 vassi dominici 118, 119 Anm. 48, 124–126, 127 Anm. 94, 128 f. Vergilius Maro, Publius 253–263, 265–269, 272–274,
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Orts-, Personen- und Sachregister
277–282, 284–286, 288 f., 296, 298, 303–305, 357, 359 f., 371, 375 Anm. 175, 376, 377 Anm. 179, 383, 387–389 – Aeneis 255 f., 268 Anm. 46, 272–274, 278, 280 f., 284 f., 287–289, 291, 296 f., 300, 305 Vermittler ( mediator ) 241 villa 113, 118–124, 126, 128, 134–140, 141 Anm. 155, 142–146 Vision, Visio Pauli 279 – Visio Wettini 280 s. a. Jenseitsvision Waffengang 233, 238, 241–243, 245 Walter v. Châtillon 287, 295–301, 303 Weinen s. Emotionen Weißenburg (dép. Bas-Rhin), Kloster 130 Anm. 112, 139 Werner Rolevinck, Kartäuser, Geschichtsschreiber 245 Wien 409, 411, 414, 419, 422
Wilhelm v. Newburgh, Augustinerchorherr 400, 405 Wormeln ( Kr. Höxter ), Zisterzienserinnenkloster 263 Worms, Dom, Grablege 189 Anm. 2 Wormser Konkordat 202 f., 204 Anm. 80, 205 Würzburg s. Adelbero, Arn Wurzel Jesse 254, 257 f., 260 Zamora ( Kastilien-León ), Kathedrale, Chorgestühl 258 Zaum s. Trense Zaumzeug 10, 17, 19, 21, 23–25, 26 Anm. 102, 27–31, 34 f., 37, 40, 46, 51, 55, 61–68 Zeremoniell, byzantinisch 81, 84, 86 – höfisch 71 f., 75, 77, 84 Zweinaturenlehre 79 Zwentibold, Kg. v. Lotharingien 109, 129 f., 137, 140, 144–146 Zwolle (Prov. Overijssel, Niederlande) 361, 366–368, 378, 394 Anm. 237
Tafeln
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Orts-, Personen- und Sachregister
Tafel I
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4 Abb. 1
Silbermedaillon Konstantin des Großen aus Ticinum. 315 ( Fragment ). München Staatliche Münzsammlung. Abb. 2 Mark Aurels Reiterstandbild auf dem Kapitol. um 173. Kopie. Rom ( Fragment ). Abb. 3 Diptychon Barberini. 6. Jh. ( Fragment ). Paris, Louvre. Abb. 4 Trense mit Scheibenknebel. Um 400. München. Städel Museum.
Tafel II
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8 Abb. 5 Die wichtigsten Kirchen Mailands um 400. Abb. 6 Passionsdarstellung. Elfenbeinplatte. um 420–430. London. British Museum. Abb. 7 Passionsdarstellung. Holzschnitzerei. 431–433. Rom. Santa-Sabina. Abb. 8 Auffindung der Kreuze. Miniatur aus dem Sacramentaire de Gellone. ( Fragment ). 750–790. Paris, BNF ms. lat. 12048, fol. 76v.
Tafel III
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b
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11 Abb. 9
Beispiele der Diademendarstellungen auf den Münzen: a. Konstantin, b. Theodosius, c. Honorius. Abb: 10 Kaiser Honorius. Probus-Diptychon. 406. Aosta. Domschatz. Abb: 11 Kaiser Honorius. Probus-Diptychon. 406. Aosta. Domschatz ( Ausschnittvergrößerung ).
c
Tafel IV
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14 Abb. 13 Abb. 14
Abb. 12 Rothschild-Kamee. 4. Jh. Paris. Privatsammlung. Rothschild-Kamee. 4. Jh. Paris. Privatsammlung ( Auschnittvergrößerung ). Rothschild-Kamee. 4. Jh. Paris. Privatsammlung ( Auschnittvergrößerung ).
Tafel V
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18 Abb. 15
Abb. 18
Nasenschutz eines Helmes mit Christogramm. 1. Hälfte des 4. Jh. Budapest. Ungarisches Nationalmuseum. Abb. 16 Solidus des Constantius II. 353. Paris. Cabinet des Médailles. Abb. 17 Statuette einer Kaiserin. 4. Jh. Paris. Cabinet des Médailles. Gewicht in Gestalt einer Kaiserin. 4.–5. Jh. London. Victoria and Albert Museum.
Tafel VI
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22 Abb. 19 Solidus der Licinia Eudoxia. 439–455. London. British Museum. Abb. 20 Solidus des Anastasius I. 491–518. Berlin. Münzkabinet. Abb. 21 Solidus des Tiberios II. Konstantinos. 579. Abb. 22 Die Krone von Monza. 8.–9. Jh. Monza. Domschatz.
23
Abb. 23 Le Saint Mors. Carpentras. Domschatz. Abb. 24 Das Reliquiar für den <Echten Nagel> in Mailand. Miniatur aus Libro d’ore. ( Fragment ). Modena, Universitätsbibliothek, Ms. Lat. 842. Fol. 234r. Abb. 25 oder <Sacro Morso>. Mailand. Domschatz.
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Tafel VII
Tafel VIII
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Abb. 26–27 Funeralkrone aus dem Grab Kaiser Heinrichs IV. © Hist. Museum der Pfalz Speyer ( 2008 ) Foto: Peter Haag-Kirchner. Abb. 28–31 Bischofsring aus dem Grab Kaiser Heinrichs IV. © Hist. Museum der Pfalz Speyer ( 2008 ) Foto: Peter Haag-Kirchner.
Tafel IX
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35 Abb. 32
Benediktinerstift Lambach. Wandmalerei. Suizidversuch Herodis. Foto nach Demus ( wie Anm. 108 ) Farbabb. XCV. Abb. 33–34 Benediktinerstift Lambach. Wandmalerei. Sturz des Herodes Agrippa I. Foto nach Demus ( wie Anm. 108 ) Farbabb. XCIV. Abb. 35 Ekkehard von Aura, Chronik, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, ms. lat. 20 295, fol. 99r: Insignienübergabe Foto nach Ausstellungskatalog Reich der Salier ( wie Anm. 9 ) Farbtf. S. 423.
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Kaisersiegel Heinrichs IV. Foto nach Schramm – Mütherich ( wie Anm. 145 ) S. 419 Abb. 169. Abb. 40 Pfennig Heinrichs IV. mit Kaisertitel. Profilbildnis mit Lilie auf Krone und Szepter. Foto nach Schramm – Mütherich ( wie Anm. 145 ) S. 422 Abb. 22.
Abb. 39
Pfennig Heinrichs IV. mit Kaisertitel. Bärtiges Brustbild mit Giebelkrone. Foto nach Schramm – Mütherich ( wie Anm. 145 ) S. 422 Abb. 20. Abb. 37 Pfennig Heinrichs IV. mit Kaisertitel. Bärtiges Brustbild mit Bügelkrone. Foto nach Schramm – Mütherich ( wie Anm. 145 ) S. 422 Abb. 19.
Abb. 36
Evangeliar Heinrichs V. Krakau, Bibliothek des Domkapitels, fol. 2v: Heinrich IV. zwischen seinen Söhnen Heinrich V. und Konrad. Foto nach Ausstellungskatalog Reich der Salier ( wie Anm. 9 ) Farbtf. S. 307.
Abb. 38
Tafel X
Abb. 41 Vergil als Stadtpatron von Mantua; ehemals Palazzo della Ragione, 13. Jh. ( Foto: W. Liebenwein ).
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Vergil als Stadtpatron von Mantua; Palazzo del Podestà, 13. Jh. ( Foto: Enciclopedia Virgiliana 3, 1987, Tavola XXII ).
Abb. 42
Abb. 43
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Vergil im Chorgestühl der Kathedrale von Zamora, Anfang 16. Jh.
Tafel XI
Tafel XII
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46 Abb. 44
Marienportal der Kathedrale zu Laon, um 1200 ( Foto: Lizenz Kathedrale Laon ). Abb. 45 Vergil, ebd., Detail links. Abb. 46 Erythräische Sibylle, ebd., Detail rechts.
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Abb. 47
Maria als Thron Salomos: Vergil und Sibylle ( Ausschnitt von Abb. 55 ).
48 Abb. 48
Albumasar und Sibylle ( Ausschnitt von Abb. 55 ).
Tafel XIII
Tafel XIV
49 Abb. 49
Merseburger Bibel, Genesis-Initiale; Merseburg, Dombibliothek, Bibl. 1 Hs., fol. 9r ( Foto: Doering, s. Anm. 45 ).
Tafel XV
50 Abb. 50
Vergil in der Wurzel Jesse; Psalter: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 568, fol. 6v, 13. Jh. ( Foto: Enciclopedia Virgiliana 3, 1987, Tavola XXXI ).
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Abb. 51–52 Sibylla Erythraea in der Wurzel Jesse des Ingeborg-Psalters; Chantilly, Musée Condé, Ms. 9, fol. 14 v ( Foto: F. Deuchler, Der Ingeborgpsalter, Berlin 1967, Abb. 18 ).
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Tafel XVI
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Abb. 53
Die Sibylle im mittelhochdeutschen Bibelepos ; Nürnberg, Stadtbibliothek, Ms. Solger 15.2°, fol. 111v, 1465 ( Foto: ebd. ).
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Tafel XVII
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Abb. 55
Maria als Thron Salomos; Berlin, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 1844; Westfälisch, 14. Jh. ( Foto: Jörg P. Anders ).
Tafel XVIII
Tafel XIX
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57 Abb. 56–57 Genesis-Initiale der Merseburger Bibel ( Ausschnitte von Abb. 49 ) a: Platon und Aristoteles; b: Vergil und Ovid ( Foto: Döring, s. Anm. 45 ).
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Abb. 58 Vergil unter den Astrologen im ; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Ser. nov. 2652, fol. 2r, 14. Jh. ( Foto: Facs.-Ausgabe Graz 1972 ).
59 Abb. 59 Maria im Harnisch vor dem mit Waffen und Teilen einer Rüstung behängten Turm Davids. ( ( Tafelbild aus dem Albrechtsaltar ( um 1439 ), der sich heute im Museum des Stifts Klosterneuburg befindet. Das Altarwerk enthält eine Summe mittelalterlicher Marienlehre, deren Themen am Leitfaden der Anrufungen der Lauretanischen Litanei verbildlicht werden. – Foto: Michael Himml, Wien.
Tafel XX
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Abb. 60 Der mit Türmen und Mauern bewehrte Turm Davids symbolisiert die schützende Macht Marias. Mit Schilden ausgestattet hat der Hozschneider – abweichend vom Text des Hohenliedes – das dem Turm Davids vorgelagerte Bollwerk. Holztafeldruck ( um 1465 ), Bayerische Staatsbibliothek München Xyl 32, f. 15v. – Foto: Bayerische Staatsbibliothek München.
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Abb. 61 Marianisches Deckenemblem in der Loreto – Wallfahrtskirche von Hergiswald ( 1654 ). Blitzeabwehrender Turm als Sinnbild für Marias Schutz und Schirm. – Foto: Bayerische Staatsbibliothek, München.
Tafel XXI
Tafel XXII
62 Abb. 62 Davids als Symbol für die helfende und schützende Maria in einer Bildkartusche der 1752 errichteten Pfarrkirche von Hohenpolding ( Landkreis Erding ). Foto: Bayerische Staatsbibliothek München.
Abb. 63 Turm Davids, von dem aus eine mit Helm, Schild und Schwert bewaffnete Maria die Feinde der Kirche bekämpft. Miniatur aus einer 1700 in Augsburg gedruckten marianischen Erbauungsschrift des Kapuziners Isaac von Ochsenfurt. Der Titel dieser Schrift lautet: „Elogia Mariana ex Litaniis Lauretanis deprompta“. Foto: Bayerische Staatsbibliothek, München. 63
64 Abb. 64 Elfenbeinerner Turm als Symbol für die schützende Macht Marias in einer Bildkartusche der Pfarrkirche von Hohenpolding. Foto: Bayerische Staatsbibliothek München.
Abb. 65 Der Elefant trägt als turmartigen Aufbau den im Hohenlied erwähnten elfenbeinernen Turm, in dem sich Maria und ihr Kind kampfbereit aufgestellt haben, um über die Mächte der Finsternis zu triumphieren. Miniatur aus den „Elogia Mariana“ des Isaac von Ochsenfurt. 65 Foto: Bayerische Staatsbibliothek München.