I FRÜ HM I T T EL A LT ER LICH E S TUD IEN
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F R Ü H M I T T E L A LT E R L I C H E S T U D I E N Jahrbuch des...
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I FRÜ HM I T T EL A LT ER LICH E S TUD IEN
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III
F R Ü H M I T T E L A LT E R L I C H E S T U D I E N Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster
in Zusammenarbeit mit
Arnold Angenendt, Volker Honemann, Albrecht Jockenhövel, Ruth Schmidt-Wiegand, Nikolaus Staubach und Joachim Wollasch
herausgegeben von
G E R D A LT H O FF, H AGE N KELLER und CH R IS TEL M EIER
41. Band
2007
WA LT ER DE GRU Y T E R · BER LIN · N EW YOR K
IV Redaktion: Dr. Franz Neiske Institut für Frühmittelalterforschung der Universität Münster Salzstraße 41 48143 Münster
ISSN 0071-9706 ISSN ( internet ) 1613-0812 ISBN 978-3-11-019239-1 © Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck: Mercedes-Druck GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Stein + Lehmann GmbH, Berlin
V
Inhaltsverzeichnis Hagen Keller, Nachruf. Karl Hauck (21. Dezember 1916 – 8. Mai 2007) .
IX–XII
Gerd Althoff, Karl Hauck und die interdisziplinäre Mittelalterforschung in Münster. Rede bei der Akademischen Gedenkfeier . . . . . . . . .
1–9
Wilhelm Heizmann, Gold, Macht, Kult: Karl Haucks Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten ( Taf. I–VII, Abb. 1–26 ) . . . . . . . . . . .
11–23
Karl Hauck ( † ), Fünfzig Jahre historische Sachforschung. Das Vordringen in das ethnologische Europa. Abschiedsvorlesung gehalten am 12. Februar 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25–42
Hagen Keller, Das ‚Erbe‘ Ottos des Großen. Das ottonische Reich nach der Erweiterung zum Imperium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43–74
Steffen Patzold, Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik . . . . . . . . . . . . . .
75–103
Oliver Becker, Der Dom von Salerno und die Abteikirche von Montecassino: Anspruch und Wirkung zweier Bauprojekte in Unteritalien im 11. Jahrhundert ( Taf. VIII–XIII, Abb. 27–50 ) . . . . . . . . . . . . . 105–140 Franz Neiske – Carlos Manuel Reglero de la Fuente, Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes. Ein Beitrag zum Totengedenken der Abtei Cluny ( Taf. XIV–XV, Abb. 51–52 ) . . 141–184 Christoph Friedrich Weber, Das Kommunikationsgeschehen der Privilegierung als Ort der Inszenierung Reichsitaliens im Hochmittelalter, oder: Wie die Staufer zu Nachfolgern des Langobardenkönigs Liutprand wurden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185–206 Heinz Meyer, Nutzen und Wirkungsabsicht des Theaters nach Paratexten lateinischer Dramen der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . 207–248 Bernd Roling, Charles Baudelaire und Carl Georg Brunius: Bilder des Mittellateinischen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249–275
VI
Inhaltsverzeichnis
Geltungsansprüche schriftlich fixierter Normen und ‚ungeschriebener Gesetze‘ im Mittelalter Gerd Althoff, Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277–279 Werner Röcke, Das Spiel mit der Transgression. Normübertretung und Sanktionswille im geistlichen Spiel des Mittelalters ( Maria Magdalena und Martha ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281–295 Gerhard Dilcher, Mittelalterliches Recht und Ritual in ihrer wechselseitigen Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297–316 Rob Meens, Kirchliche Buße und Konfliktbewältigung. Thietmar von Merseburg näher betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317–330 Steffen Patzold, Normen im Buch. Überlegungen zu Geltungsansprüchen so genannter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331–350 Dirk Heirbaut, Rituale und Rechtsgwohnheiten im flämischen Lehnrecht des hohen Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351–361 Christiane Witthöft, König Artus auf dem Schandkarren oder: Die Wandelbarkeit von Rechtsgewohnheiten im ‚Prosalancelot‘ . . . . . . . . 363–380 Alois Hahn, Differenzielle Sanktionsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . 381–393 Frank Rexroth, Kodifizieren und Auslegen. Symbolische Grenzziehungen zwischen päpstlich-gesetzgeberischer und gelehrter Praxis im späteren Mittelalter ( 1209/10–1317 ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395–414 Wolfgang Haubrichs, Die Narration der Normen oder die Beschreibung des Ungeschriebenen. Das Beispiel ‚Erec‘ . . . . . . . . . . . . . . . 415–433 Stephan Fuchs-Jolie, Von der Gnade erzählen. Parzival, Gottes hulde und die Gesetze des Grals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435–446 Heinz Krieg, Im Spannungsfeld zwischen christlichen und adligen Normvorstellungen. Zur Beurteilung Friedrich Barbarossas in stauferzeitlicher Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447–466 Zusammenfassungen der Beiträge in englischer Sprache . . . . . . . . . . 467–474 Orts-, Personen- und Sachregister, bearbeitet von Franz Neiske . . . . . . 475–485
VII
Alphabetisches Verzeichnis der Mitarbeiter dieses Bandes Prof. Dr. Gerd Althoff, Historisches Seminar der Universität Münster, Domplatz 20–22, 48143 Münster Oliver Becker M.A., c/o Kunsthistorisches Institut in Florenz ( MPI ), via G. Giusti, 42–44, I-0121 Firenze, Italien Prof. em. Dr. Gerhard Dilcher, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Institut für Rechtsgeschichte, Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt a. Main Prof. Dr. Stephan Fuchs-Jolie, Johannes Gutenberg-Universität, Deutsches Institut, Jakob Welder Weg 18 ( Philosophicum ), 55099 Mainz Prof. Dr. Alois Hahn, Universität Trier, FB IV – Soziologie, Universitätsring 15, 54286 Trier Prof. Dr. Wolfgang Haubrichs, Universität des Saarlandes, PhilFak II/FR 4.1: Germanistik, Postfach 15 11 50, 66041 Saarbrücken Prof. Dr. Dirk Heirbaut, Universiteit Gent, Instituut voor Rechtgeschiedenis, Universiteitstraat 4, B – 9000 Gent Prof. Dr. Wilhelm Heizmann, Institut für Nordische Philologie der Universität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Hagen Keller, Institut für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, Salzstraße 41, 48143 Münster Dr. Heinz Krieg, Albert-Ludwigs-Universität, Historisches Seminar – Abt. Landesgeschichte, Werthmannstr. 8, 79085 Freiburg i. Breisgau Dr. Rob Meens, Universiteit Utrecht, Instituut Geschiedenis, Drift 10, NL – 3512 BS Utrecht Prof. Dr. Heinz Meyer, Seminar für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit der Universität Münster, Salzstraße 53, 48143 Münster Dr. Franz Neiske, Institut für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, Salzstraße 41, 48143 Münster Prof. Dr. Steffen Patzold, Eberhard Karls Universität, Historisches Seminar, Abteilung für Mittelalterliche Geschichte, Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen Prof. Carlos Manuel Reglero de la Fuente, Universidad de Valladolid, Facultad de Filosofía y Letras, Dpto. Historía Medieval, Pza.del Campus s/n, E – 47011 Valladolid
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Alphabetisches Verzeichnis der Mitarbeiter dieses Bandes
Prof. Dr. Frank Rexroth, Georg-August-Universität, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen Prof. Dr. Werner Röcke, Humboldt-Universität, Institut für deutsche Literatur, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Priv.-Doz. Dr. Bernd Roling, Seminar für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit der Universität Münster, Salzstraße 53, 48143 Münster Dr. Christoph Friedrich Weber, Sonderforschungsbereich 496 /A1 an der Universität Münster, Salzstraße 41, 48143 Münster Dr. Christiane Witthöft, Universität Göttingen, Seminar für Deutsche Philologie, Jacob-Grimm-Haus, Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 Göttingen
Nachruf Karl Hauck
IX
Nachruf KARL HAUCK ( 21. Dezember 1916 – 8. Mai 2007 ) Am 8. Mai 2007 ist Karl Hauck, der Begründer und langjährige Herausgeber dieses Jahrbuchs, in seinem Haus in Münster verstorben. Die Beisetzung fand im Kreis der Familie und der Freunde statt, unter Teilnahme vieler Menschen, die dem Verstorbenen über die Wissenschaft sowie durch vielfältige Begegnungen in deren Umfeld verbunden waren. Mit den „Frühmittelalterlichen Studien“ rief Karl Hauck nicht einfach eine neue Mittelalter-Zeitschrift ins Leben. Das Jahrbuch des auf seine Initiative gegründeten Instituts für Frühmittelalterforschung sollte das Forum sein für eine konzeptionell erweiterte, interdisziplinäre und dialogische Mediävistik, wie es sie damals im deutschen Sprachraum so noch nicht gab, ungeachtet der fächerübergreifenden Zusammenarbeit auf dem Felde der Landesgeschichte, auf die Hauck selbst als Modell immer wieder hingewiesen hat. Seine Vorstellungen vom Zusammenwirken aller für das Verständnis der mittelalterlichen Welt und ihrer Hinterlassenschaft relevanten Disziplinen, von der Integration fachspezifischer Fragen in erweiterte Problemstellungen, um dadurch zur Erkenntnis großer, allgemeiner Zusammenhänge zu gelangen, bestimmten auch den Inhalt der Jahrbuch-Bände; die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten im Institut für Frühmittelalterforschung und im Sonderforschungsbereich 7 „Mittelalterforschung ( Bild, Bedeutung, Sachen, Wörter und Personen )“ förderte die Realisierung der Konzeption. Von 1967 bis 1987 prägte Karl Hauck als Herausgeber das Gesicht der Zeitschrift und wirkte danach noch viele Jahre beratend an ihrer Gestaltung mit. Durch sein eigenes Forschungsprojekt gab er zugleich ein überzeugendes Modell für die Unabdingbarkeit interdisziplinärer Forschung, wo es um die Erhellung grundlegender historischer Phänomene ging, und für die Erträge, die sich auf diesem Weg gewinnen ließen. Die „Frühmittelalterlichen Studien“ verdanken ihr Ansehen nicht zuletzt dem fast visionären Impetus und der unermüdlichen, in neue, bislang unerschlossene Bereiche vordringenden Forscherleidenschaft ihres Begründers und seiner Weggefährten in einem stabilen und zugleich flexiblen, nach vielen Richtungen offenen Forschungsverbund. Beides wirkte auch nach außen anregend und zog anerkannte Gelehrte wie junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen mit der Kultur des Mittelalters verbundenen Fächern an. Dies spiegelte sich von Anfang an in den Beiträgen zum Jahrbuch. Der Fachbereich Geschichte/Philosophie und das Institut für Frühmittelalterforschung der Westfälischen Wilhelms – Universität nahmen am 10. November 2007 in einer Akademischen Gedenkfeier öffentlich Abschied von ihrem Mitglied, dem sie viel verdanken. Um die wissenschaftsorganisatorischen Initiativen Karl Haucks in Erinnerung zu halten, würdigte Gerd Althoff die Bedeutung seines Engagements für die
X
Hagen Keller
interdisziplinäre Münstersche Mittelalterforschung; Wilhelm Heizmann zeigte die Methoden bei der Erforschung der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten auf und rief dem Auditorium deren reichen Ertrag sowie den weiten Horizont ins Bewusstsein, in den sie geführt haben. Beide Vorträge werden nachstehend in diesem Band publiziert. Die Herausgeber der „Frühmittelalterlichen Studien“ haben sich entschlossen, darüber hinaus die Vorlesung wieder abzudrucken, mit der sich Karl Hauck nach seiner Emeritierung am 12. Februar 1982 von seiner Tätigkeit als aktiver Hochschullehrer zurückzog, um sich ganz der Forschung zu widmen. Sie wurde an einem heute nicht leicht zugänglichen Ort veröffentlicht. Uns erscheint sie als Dokument, in dem nicht nur der Lebensweg und die bis dahin geleistete Lebensarbeit, sondern vor allem auch die wissenschaftlichen Zielvorstellungen Karl Haucks authentischer dargestellt sind, als es ein Nachruf zu leisten vermöchte. Sie kann zugleich verdeutlichen, was die „Frühmittelalterlichen Studien“ in den Augen ihres Begründers sein sollten und in welches geistige Umfeld ihre Konzeption gehört. Neben den Würdigungen durch Gerd Althoff und Wilhelm Heizmann und neben dem Selbstzeugnis Karl Haucks kann ein Nachruf an dieser Stelle nur noch einige Daten des Lebenswegs wiedergeben und die Ehrungen verzeichnen, die dem Gelehrten in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistung zuteil geworden sind. Diese Kürze darf den Dank, den wir Karl Hauck hier bekunden, und das ehrende Gedenken, in dem wir mit ihm verbunden bleiben, nicht mindern. Karl Hauck wurde am 21. Dezember 1916 in Leipzig geboren. Zwischen dem Wehrdienst nach dem Abitur und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs blieb ihm nur eine kurze Zeit zum Studium an der heimischen Universität. Erst die Folgen einer schweren Verwundung vor Moskau erlaubten es ihm, sein Studium in Straßburg, wo damals seine Leipziger Lehrer Hermann Heimpel und Walter Stach tätig waren, 1942 mit einer Dissertation über „Wipo und die Cambridger Liedersammlung“ abzuschließen. Dort habilitierte er sich schon im folgenden Jahr mit der Schrift „Bemerkungen zum Modus Ottinc“, bevor wiederum der Krieg sein Leben bestimmte. Die Stelle eines Privatdozenten an der Universität Erlangen ermöglichte Karl Hauck 1949 die Rückkehr in die Wissenschaft. 1958 erhielt er die neu eingerichtete Professur für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte an der Erlanger Universität. 1959 nahm Karl Hauck den Ruf auf einen Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Münster als Nachfolger Herbert Grundmanns an. Wie die Bleibeverhandlungen nach einem Ruf an die Universität Freiburg zum Ausgangspunkt wurden, an der Westfälischen Wilhelms-Universität auf der Grundlage einer eigenen Konzeption ein Mittelalterzentrum von ungewöhnlichem Zuschnitt aufzubauen, ist nachstehend in der Gedenkrede von Gerd Althoff und in Karl Haucks eigenem Rückblick nachzulesen. 1982 aufgrund einer Gesetzesänderung früher als geplant emeritiert, leitete der bisherige Lehrstuhlinhaber sein Projekt „Historisch-archäologische Sachforschung und historisch-literarische Überlieferung“ im SFB 7 bis zu dessen Auslaufen Ende 1985 und setzte danach, weiterhin von der DFG gefördert, in dem von ihm geformten Expertenteam die Arbeit an der Erforschung der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten, zum Schluss mit zunehmenden körperlichen Beeinträchtigungen ringend, bis zu seinem Tode fort. Wilhelm Heizmann stellt diese Forschungen in der hier publizierten Würdigung zusammenfassend vor. Karl Haucks mehrbändiger
Nachruf Karl Hauck
XI
ikonografischer Katalog „Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit“, seit 1985 erschienen, darf zu den großen editorischen Leistungen der deutschen Altertums- und Geschichtswissenschaft gerechnet werden. Ertragreiche wissenschaftliche Kolloquien, oft von ihm selbst initiiert oder von seinen Fragen und Ergebnissen inspiriert, erweiterten die bei der Erforschung der Goldbrakteaten gewonnenen Erkenntnisse zu einem neuen Bild vom völkerwanderungszeitlichen Nordeuropa in seinen Verbindungen zur alten mediterranen und zur neu entstehenden abendländischen Kultur. Unter dem Reihentitel „Zur Ikonologie der Goldbrakteaten“ publizierte Karl Hauck seine Ergebnisse in mehr als sechzig Aufsätzen ( vgl. die Zusammenstellung auf der Website des Instituts für Frühmittelalterforschung http://Fruehmittelalter.uni-muenster.de/ Goldbrakteaten ). Obwohl sich Karl Hauck in den letzten Jahrzehnten seines Lebens immer ausschließlicher den Goldbrakteaten widmete und jedes Stück als „religionsgeschichtliche Urkunde“ mit größter Detailgenauigkeit zu erfassen versuchte, die Deutungen mit strenger Methodik oft bis an die Grenze des gerade noch Erahnbaren vorantreibend, reichte sein leidenschaftliches Interesse an dem Gegenstand stets über die goldenen Amulette hinaus. Eingebunden in die noch ermittelbaren geografischen, archäologischen, historischen, ikonografischen und religionswissenschaftlichen Kontexte waren ihm die Bildamulette mit ihrer sakralen Halbschriftlichkeit so etwas wie das Medium, durch das er sich und anderen eine verborgene Welt erschloss. Sie ermöglichten ein „Vordringen in das ethnologische Europa“, als das der Forscher seine eigenen Untersuchungen und die seiner wissenschaftlichen Fahrtgemeinschaft bezeichnet hat, in dessen Religion, Kulte und politischen Strukturen, in die Topographie bis dahin unerkannter Opfer-, Macht- und Reichtumszentren vor allem im heutigen Dänemark, Schweden und Norwegen. Bei seiner Aufnahme in die Bayerische Akademie der Wissenschaften wurde Karl Hauck vorgestellt als „einer der heute so selten gewordenen ideenreichen Einzelforscher, die das Interdisziplinäre in ihrer Person vereinigen“. Dieses hohe Lob stellt ein für die Ehrung wichtiges Kriterium durchaus zutreffend heraus. Aber trotz seiner dominanten Führung in den Forschungen über die Brakteaten und die skandinavische Welt des 4.–7. Jahrhunderts, trotz der oft unerbittlichen Strenge, mit der er sie vorantrieb, und der bisweilen harschen Reaktion, wenn jemand nicht begriff, was sie eröffneten, hätte sich Karl Hauck auf diesem Gebiet wohl nie als „Einzelforscher“ gesehen. Es war ihm stets bewusst, dass sich die „terra incognita“, in die er vorstieß, nur zusammen mit Wissenschaftlern von ganz unterschiedlicher Kompetenz wirklich erkunden ließ, und dass der Dialog der Disziplinen um so intensiver sein musste, je weiter man in die Lebensordnungen der damaligen Menschen eindringen wollte. Wie tief diese Überzeugung in seinem wissenschaftlichen Denken verwurzelt war, zeigen die Arbeiten zur Kulturentwicklung im frühmittelalterlichen Frankenreich und zur Missionsgeschichte in Sachsen, die Studien zur mittellateinischen Literatur und zur hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung oder auch die Beiträge zur Erforschung der deutschen Königspfalzen in ihrer Weise. Der Wille, bisherige Grenzen der Erkenntnis durch ungewohnte Verknüpfungen von Fragestellungen und Methoden aus allen tangierten kulturwissenschaftlichen Fächern zu überschreiten, konnte Karl Hauck in der Tat als Einzelforscher erscheinen lassen, der sozusagen vor den Linien der traditionellen Fachwissenschaft mit einer kleinen Gefolgschaft um neue Zugänge und neue Einsich-
XII
Hagen Keller
ten in vergangene Lebenswirklichkeiten rang. Im Willen, unsere Vergangenheit im Verbund kooperierender Fächer zu erhellen und dabei das interdisziplinäre Geben und Nehmen ganz in das eigene Denken und Forschen zu integrieren, liegt der Kern des Vermächtnisses, das der verstorbene Gelehrte der Mittelalterforschung hinterlässt. Für den Beitrag, den Karl Hauck selbst zur Erforschung der Geschichte Nordeuropas in frühgeschichtlicher Zeit geleistet hat, und für die vielfältigen Anregungen, die von ihm persönlich und von seinen Arbeiten für die archäologisch-historische Forschung in Skandinavien ausgegangen sind, hat der König von Schweden dem Münsteraner Gelehrten 1993 das Ordenszeichen eines Kommandeurs des königlichen Nordstern-Ordens verliehen. Karl Hauck war Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Medieval Academy of America, der Accademia mediterranea delle Scienze in Catania sowie korrespondierendes Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts und gehörte weiteren wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereinigungen an. Zwei Festschriften wurden ihm gewidmet: „Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters“ 1982 und „Iconologia sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas“ 1994. HAGEN KELLER
Karl Hauck und die interdisziplinäre Mittelalterforschung in Münster
1
GERD ALTHOFF
Karl Hauck und die interdisziplinäre Mittelalterforschung in Münster. Rede bei der Akademischen Gedenkfeier Es gibt viele Themen und Aspekte, die sich aufdrängen, wenn man die Erinnerung an Karl Hauck und sein Wirken in Münster wachrufen will. Mir ist die Ehre zuteil geworden, ein Thema darzustellen, durch das das wissenschaftliche Leben vieler Mediävisten, die in Münster sozialisiert wurden, geprägt worden ist und immer noch geprägt wird – mein eigenes eingeschlossen. Denn bis heute wirkmächtig und nachhaltig sind Karl Haucks Initiativen zur Begründung einer interdisziplinären Mittelalterforschung, Initiativen, die in dem kurzen Zeitraum zwischen 1962 und 1968 zur Einrichtung des Instituts für Frühmittelalterforschung, zur Gründung der Zeitschrift „Frühmittelalterliche Studien“ und zur Bewilligung des Sonderforschungsbereichs 7 „Mittelalterforschung“ führten. Die drei erfolgreichen Einrichtungen markieren aber nur die Spitze eines Eisbergs von Bemühungen, mit denen Karl Hauck einer interdisziplinären Mittelalterforschung in Münster Konturen gab. Diese Bemühungen umfassten neben der Schaffung finanzieller und räumlicher Voraussetzungen für vernetzte Forschung ganz wesentlich auch die Schaffung eines lebendigen und fordernden Gesprächsklimas, wie es etwa im so genannten „Mittelalterkreis“ praktiziert wurde, einem Kreis, der Vortragende und Diskutanten zum bewusst interdisziplinären Gespräch zusammenführte. Nicht zufällig hat Karl Hauck in diesem Kreis auch seinen letzten Vortrag gehalten und viele Münsteraner Mediävisten werden mit mir die lebhafte Erinnerung an dieses Ereignis teilen 1. Die beiden ersten Institutionen, – das Institut und die Zeitschrift – gibt es bis heute; und sie sind seit langem Institutionen, die das heute so strapazierte Kriterium der internationalen Sichtbarkeit gewiss voll und ganz erfüllen. Die dritte Einrichtung, der SFB 7, existiert heute nicht mehr, dafür aber gab und gibt es in mehreren Generationen Nachfahren, die sich auf Karl Hauck als <Spitzenahn> berufen können und es gerne tun. Erst vor drei Wochen hat der letzte das Licht der Welt erblickt 2. Die Saat ist somit aufgegangen und hat Früchte getragen. Grund genug also, sich an die Anfänge zu erinnern
1
2
Der Vortrag wurde publiziert unter Karl Hauck, Die runenkundigen Erfinder von den Bildchiffren der Goldbrakteaten ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten LVII ), in: Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, S. 28–56. Hingewiesen sei auf die ungewöhnlich dichte Abfolge von Sonderforschungsbereichen in Münster, die unter maßgeblicher Beteiligung der interdisziplinären Mittelalterforschung zustande kamen. Nach dem von Karl Hauck initiierten SFB 7 Mittelalterforschung waren es der SFB 164 „Städtegeschichte“, der SFB 231 „Pragmatische Schriftlichkeit“ und der SFB 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“. Im Jahre 2007 erhielt Münster den Zuschlag für ein Excellenz-Cluster unter dem Titel „Religion und Politik in Vormoderne und Moderne“, in dem die interdisziplinäre Zusammenarbeit auf breiterer Grundlage fortgeführt wird.
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Gerd Althoff
und dabei dankbar zu konstatieren, dass die Weichen, die damals gestellt worden sind, die Münstersche Mittelalterforschung auf einen guten Weg gebracht haben. Was aber hatte diese Weichenstellung an sich, dass sie für ein halbes Jahrhundert Maßstäbe setzte? Ich nähere mich diesem Thema einmal als geschäftsführender Direktor des erwähnten Instituts für Frühmittelalterforschung, der die Möglichkeit der Akteneinsicht hat und daher auch unpubliziertes Material zur Urteilsbildung verwerten kann. Ich erlaube mir aber auch, in die Darstellung Erinnerungen einzuflechten, die ich selbst als teilnehmender Beobachter des Gründungsgeschehens sammeln konnte, wenn auch nur aus der Perspektive der Hilfskraft und des Doktoranden. Man kann aber auch sagen, aus der Perspektive eines Nutznießers der Aktivitäten zur Begründung eines wissenschaftlichen Schwerpunktes, die in Karl Hauck ihren spiritus rector und unermüdlichen, bisweilen sicher auch unerbittlichen Antreiber hatten. Mir selbst ist unvergesslich, dass er die Besprechung meines ersten Beitrags für die Frühmittelalterlichen Studien mit dem Satz einleitete: Ob ich wisse, dass Plato die Einleitung zu seinem <Staat> dreißig Mal überarbeitet habe. Das hieß, es war noch einiges zu tun! Begonnen sei mit einigen Beobachtungen, die sich der Akteneinsicht verdanken. Aus heutiger Sicht ist man erstaunt und frappiert, mit welch unaufgeregtem Selbstbewusstsein Ideen, Konzepte und Forderungen auf knappstem Raum in sehr direkter Weise höheren Orts – und das meint das Rektorat, aber auch das Wissenschaftsministerium und den Wissenschaftsrat – vorgetragen wurden. Man begegnete sich offensichtlich auf Augenhöhe, und der Forscher, der Ideen und Konzepte hatte, konnte darauf vertrauen, dass er ernst genommen wurde. Es wäre jedoch nicht hinreichend zu folgern, dass in den damaligen Zeiten eben alles viel leichter gewesen sei. Karl Hauck hat vielmehr zu kämpfen verstanden und immer wieder Probleme ohne Umschweife beim Namen genannt. Hinter jedem seiner Sätze aber scheinen aus heutiger Perspektive seine hohe Sachkompetenz und seine Fähigkeit auf, Ideen in konkrete Forschungskonzepte zu gießen. Zitiert sei als ein Beispiel aus einem Schreiben von sieben Kollegen an den Dekan der Philosophischen Fakultät, das aus dem November 1964 und aus der Feder Karl Haucks stammt. Das Schreiben teilt dem Dekan Überlegungen zu einem erheblichen Ausbau des gerade gegründeten Frühmittelalterinstituts zu einem Schwerpunkt mit: „Fasst man ein in sich ausgewogenes Forschungsprogramm ins Auge, wäre die Ergänzung der Fakultät mit folgenden Fachgebieten erwünscht. 1. Frühgeschichte ( abgesondert von der Ur- und Frühgeschichte ); 2. West- und Südosteuropäische Provinzialrömische Archäologie; 3. Mittelalterliche Archäologie; 4. Byzantinische Sachforschung; 5. Numismatik“ 3. Wer Karl Haucks später ausgebildete Forschungsschwerpunkte kennt, kann ermessen, wie zielbewusst und folgerichtig hier ein interdisziplinäres Umfeld benannt wird, das die eigenen Forschungsinteressen sinnvoll ergänzt 4. 3
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Akten des Instituts für Frühmittelalterforschung ( Akte: IFMA Gründung ) Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät vom 5. 11. 1964, unterzeichnet von Karl Hauck und sechs weiteren Antragstellern. Zur Würdigung des wissenschaftlichen Œuvres von Karl Hauck vgl. zuletzt Wilhelm Heizmann, Gold, Macht, Kult: Karl Haucks Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten, in diesem Band. Zwei Festschriften wurden Karl Hauck gewidmet: Norbert Kamp – Joachim Wollasch ( Hgg. ), Tradition
Karl Hauck und die interdisziplinäre Mittelalterforschung in Münster
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Die Forderungen, die hinter dem von Karl Hauck des Öfteren benutzten Begriff „erwünscht“ auch hier geschickt verborgen sind, werden jeweils nur mit ein oder zwei Sätzen begründet. Es wird mit Lücken in der deutschen Universitätslandschaft und mit dem Vorsprung im Ausland argumentiert, eine Argumentation, die bis heute Erfolg versprechende Strategie im Umgang mit Geldgebern und Gutachtern geblieben ist, wenn sie denn wirkliche Lücken und wirkliche Vorsprünge der Anderen diagnostiziert. Karl Hauck beließ es aber nicht bei der Skizzierung des Erwünschten. Vielmehr folgte ein dezidierter Vorschlag zum Procedere: „Herkömmlicherweise wäre es das Einfachste, sich diese Fächer als eine Gruppe neuer Lehrstühle vorzustellen. … Jedoch würde es sich empfehlen, für die Philosophische Fakultät eine andere Lösung ins Auge zu fassen, nämlich die Begründung einer Forschergruppe in der weiteren Fakultät. Man würde am besten diesen Schwerpunkt der Frühmittelalter-Forschung schrittweise ausbauen, insbesondere weil damit vermieden würde, dass die Fakultät durch zu zahlreiche neue Lehrstühle ihre gegenwärtige Struktur wesentlich änderte. Als erster Schritt wäre ein Mittelbau mit Hilfe von beamteten Forschern anzustreben, die dem Frühmittelalter-Institut als Gruppe angehören. Dabei wäre jeweils die Habilitation ins Auge zu fassen und Stellen mit Bezügen bis zu denen eines Regierungsdirektors.“ 5 Ich habe aus diesem Schreiben nicht nur deshalb zitiert, um einen Eindruck davon zu geben, wie großflächig und entschlossen Karl Hauck den Aufbau einer interdisziplinären Mediävistik voranzutreiben versuchte, die seinen Vorstellungen entsprach. Der Brief ist zugleich ein Beleg dafür, dass nicht alle Vorstellungen Realität wurden, obgleich in diesem Fall die gleichfalls renommierten Kollegen Tackenberg ( Vor- und Frühgeschichte ), Hager ( Kunstgeschichte ), Stade ( Alte Geschichte ), Hofmann ( Nordistik ), Wegner ( Klassische Archäologie ) und Foerste ( Germanistik ) mit unterzeichnet hatten. Die Gruppe beamteter Habilitanden mit Gehältern bis zu dem eines Regierungsdirektors ist nämlich nicht entstanden. Dass in diesen Jahren jedoch mit konzeptioneller Kraft und mit Entschlossenheit Strukturen verändert werden konnten, zeigt ein Schreiben, das von höherem Ort den Dekan der Philosophischen Fakultät wie folgt informierte: „Im Auftrage des Kultusministers bitte ich noch anzugeben, ob die in den Schwerpunkten beabsichtigten Forschungen in den nächsten Jahren mit den vorhandenen Personalstellen und den Sachmitteln ausgeführt werden können oder ob Vermehrungen des Personal- oder Sachetats, gegebenenfalls in welchem Umfang, notwendig sind.“ 6 Man hat hier das
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als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Berlin – New York 1982, und: Hagen Keller – Nikolaus Staubach ( Hgg. ), Iconologia sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. Festschrift für Karl Hauck zum 75. Geburtstag ( Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 23 ) Berlin – New York 1994. Zum 70. Geburtstag würdigten Hagen Keller und Josef Fleckenstein die Forschungen Karl Haucks, vgl. Josef Fleckenstein, Von den Wurzeln Alteuropas. Die 144. Veranstaltung des Mittelalterkreises anläßlich des 70. Geburtstages von Karl Hauck, in: Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, S. 1–16; außerdem wurden ihm zum 80. Geburtstag die Beiträge des Bandes 30 der Frühmittelalterlichen Studien gewidmet, vgl. Hagen Keller in: Frühmittelalterliche Studien 30, 1996, S. IX–X. Vgl. auch Hagen Keller, Nachruf. Karl Hauck ( 21. Dezember 1916 – 8. Mai 2007 ), in diesem Band. Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät ( wie Anm. 3 ). Akten des Instituts für Frühmittelalterforschung ( Akte: IFMA Gründung ) Brief des Kurators der Universität an den Dekan der Philosophischen Fakultät vom 24. 6. 1966
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Gerd Althoff
Gefühl, dass die Verhandlungen, über die leider wenig Schriftliches vorliegt, von einem großen gegenseitigen Respekt getragen waren, der in den folgenden Generationen irgendwann abhanden gekommen sein muss. Der Vergleich mit heutigen Verfahren drängt sich vor allem deshalb auf, weil in diesen 60er Jahren der Wissenschaftsrat die Universitäten nachdrücklich zur Schwerpunktbildung ermunterte. Eine Exzellenzinitiative avant la lettre! Damit erhielten die in Münster dank der Initiativen Karl Haucks längst intensiv verfolgten Bemühungen zu interdisziplinären Zusammenschlüssen einen starken Rückenwind. Die Universität meldete dem Wissenschaftsrat denn auch als einen von zwei geisteswissenschaftlichen Schwerpunkten die Frühmittelalterforschung. Der zweite Schwerpunkt nannte sich Sprach- und Grammatiktheorie und sollte Geisteswissenschaftler und Mathematiker zusammenführen. Falls dies realisiert worden sein sollte, hatte es jedenfalls keinen nachhaltigen Effekt. Der Plan zu einer interdisziplinär vernetzten Frühmittelalterforschung in Münster verdankte sich aber nicht diesem Anstoß von außen, sondern war nach Lage der Akten in der Situation entstanden, als es darum ging, in Bleibeverhandlungen die Annahme eines Rufes abzuwenden, den Karl Hauck nach Freiburg auf die Nachfolge Gerd Tellenbachs erhalten hatte. Diese Situation hatte Hauck schon seit 1962 die Möglichkeit geboten, seine Vorstellungen von fächerübergreifender Zusammenarbeit mit Nachdruck voranzutreiben. Zunächst sollte diese Zusammenarbeit in einem „Institut zur Erforschung der Germania sacra antiqua“ angesiedelt werden. Zeitlich sollten sich die Forschungen vom 1. vorchristlichen Jahrhundert bis zum 12. Jahrhundert nach Christus erstrecken. Karl Hauck hat in einer Denkschrift als einen Grund für diese neue Form interdisziplinärer Zusammenarbeit die Herausforderung der alten Universitäten durch viele geplante Neugründungen angegeben. Dieser Herausforderung wollte er wie folgt begegnen: „Daher liegt es nunmehr grundsätzlich nahe, den traditionellen Fächern Forschungsinstitute anzugliedern, die dem doppelten Ziele dienen: die für die Gelehrtenarbeit in Betracht kommenden älteren Studenten durch konkrete Forschungsaufgaben ebenso weiterzubilden wie an dem teamwork der Fachvertreter zu beteiligen.“ 7 Teamwork der Ordinarien unter Beteiligung älterer Studenten als Kern des Konzepts – in den Geisteswissenschaften war das etwas wirklich Neues. Den ursprünglich anvisierten Namen der neuen Einrichtung änderte man dann in „Institut für Frühmittelalterforschung“, da eine „Germania sacra antiqua“ mit dem am Max-Planck-Institut angesiedelten Langzeitprojekt der „Germania sacra“ verwechselt werden konnte 8. Der Kreis der an diesem Teamwork interessierten Fachvertreter war offensichtlich groß. Hatte die Zusammenarbeit zunächst ihren Schwerpunkt in der Vor- und Frühgeschichte, der Spätantike und dem Frühmittelalter und richtete sich die Interdisziplinarität zunächst vorrangig auf die Archäologie, so kam mit dem Germanisten Friedrich
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Die Denkschrift findet sich im Universitätsarchiv Münster ( Bestand 9 Kurator Sachakten ) unverzeichneter Zugang. Institut für Frühmittelalter-Forschung, Bd. 1, 33.33 als zweites Aktenstück. Das Zitat dort S. 1 in der „Vorbemerkung“. S. die Berichte dieser Institution, die seit 1964 im Deutschen Archiv für Erforschung des Mittelalters ( zuerst in Band 20, 1964 ) erscheinen und dort bis heute fortgeführt werden.
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Ohly ab 1966 ein neuer starker Partner ins Boot, dessen Forschungsschwerpunkte allerdings zeitlich erheblich später lagen 9. Mit ihm vor allem hat Karl Hauck das Bündnis realisiert, das ihm vorschwebte. Durch Friedrich Ohly verlagerte sich der Schwerpunkt der Zusammenarbeit von den archäologischen Disziplinen zu den literaturwissenschaftlichen. Dies zeigt sich am deutlichsten in den Ausführungen, mit denen Karl Hauck am 15. Februar 1968 die mündliche Verhandlung bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bad Godesberg einleitete, die der Einrichtung eines Sonderforschungsbereiches diente, der unter dem Namen „Mittelalter- und Renaissanceforschung“ von zehn Münsteraner Gelehrten beantragt worden war. Angesichts der Antrags-Volumina, die heute üblich sind, macht die Kürze des Berichts, den Karl Hauck den Gutachtern vortrug, ein wenig neidisch. Er war nämlich drei und eine viertel Seite lang. Was ihm an Quantität fehlte, machte er durch Qualität allerdings mehr als wett 10. Zusätzlich zu diesem Bericht waren in den Händen der Gutachter lediglich „schriftliche Aufstellungen über die bisherigen Sitzungen des Mittelalterkreises und ihre Themen, ferner die Teilnehmer und Themen der mehrtägigen Colloquia sowie die laufenden Forschungsvorhaben mit Angabe der Gegenstände und der Bearbeiter.“ All dies aber beanspruchte nur einen Bruchteil der Seiten, die heutige Anträge aufweisen. Die Beschränkung seiner Ausführungen auf drei Seiten hat Karl Hauck jedoch nicht gehindert, alles das, was ihm an dem vorgestellten „Verbund“ wichtig schien, zur Sprache zu bringen. Der Text beeindruckt auch heute noch nicht zuletzt deshalb, weil die Ziele des Vorhabens und die Wege, die zur Erreichung dieser Ziele knapp skizziert werden, nichts an Aktualität eingebüßt haben. Ich zitiere einige Passagen, man muss aber die rhetorische Wirkung, die Karl Hauck bei seinem Vortrag erzielt haben wird, zusätzlich in Rechnung stellen. Als Ziel des beantragten Vorhabens ist ebenso knapp wie anspruchsvoll formuliert: „Die Mittelalterwissenschaften streben danach, den Anachronismus der Nationalphilologien ebenso wie das verbindungslose Nebeneinander der Methoden im dialogischen Verbund zu überwinden, um gemeinsam Leistungen zu erbringen, die dennoch durch Forscherpersönlichkeiten geprägt sind. … Das Beispiel europäischer und nordamerikanischer Länder, die Zentren der Mittelalterforschung schon länger bildeten, verspricht Anregungen auch aus unserem Unternehmen der Verbindung historischer, philologischer und die Künste erschließender Methoden, die beitragen kann zur Erhaltung geschichtlich fundierter humaner Werte, die in einer ungeschichtlich orientierten Epoche ebenso wie die Mittelalterstudien gefährdet werden können.“ 11 Das sind große Worte – gelassen und selbstbewusst ausgesprochen. 9
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Einen detaillierten Überblick über die Forschungen Friedrich Ohlys und seiner Münsteraner Schüler geben die Berichte in den Frühmittelalterlichen Studien, die ab Band 2, 1968, regelmäßig über Planungen und erschienene Arbeiten des Projektes „Bedeutungsforschung“ im SFB 7 informieren. Der Bericht findet sich im Universitätsarchiv Münster Bestand 9 ( wie Anm. 7 ) unter der Bezeichnung „Frühmittelalterforschung 1963–68“, er trägt den handschriftlichen Vermerk: „Exemplar für das Dekanat“. In umgearbeiteter Form wurde der Bericht auch verwandt in einem nicht namentlich gezeichneten Artikel in: Frühmittelalterliche Studien 2, 1968, S. 422–432, der überschrieben ist: „Der Münsterer Sonderforschungsbereich Mittelalter- und Renaissanceforschung.“ Zitate in neuer Anordnung vor allem auf S. 424. Der Artikel dürfte mit einiger Sicherheit aus der Feder Karl Haucks stammen. Das Zitat findet sich an beiden in Anm. 10 genannten Belegstellen.
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Karl Hauck erhoffte sich zur Erreichung dieser Ziele sehr viel von der dialogischen Verbindung der Fächer, vom lebendigen Gespräch, wenig dagegen von einem starren institutionellen Rahmen. Das brachte er auch in dem Bericht noch einmal dezidiert zum Ausdruck: „Gearbeitet wird gezielt und elastisch zugleich. Es wurde mit der Praxis begonnen, die sich ihren organisatorischen Körper organisch schafft und übereilt unangemessene, starr institutionelle Rahmen vorerst scheut, um der Anregung und dem Austausch im regelmäßigen Gespräch den Vorzug zu geben und Fassaden zu vermeiden, die nicht vor wirklichem Leben stehen. Dies Leben ist freilich angewiesen auf Stellen für Mitarbeiter und Etats für die Forschungsstätten, wie sie der Antrag genau und mit Bedacht geplant hat.“ 12 Wer die Anstrengungen kennt, die in heutigen Anträgen zur Errichtung von Kohärenzfassaden und Fiktionen der Zusammenarbeit unternommen werden, steht bewundernd vor diesem Mut, auf knappstem Raum das zum Ausdruck zu bringen, was wichtig ist. Kompetenz, Profil und Mut gehörten aber auch schon 1968 dazu, solche Akzente zu setzen. Dies sei nur mit einer Passage des Bewilligungsbescheids verdeutlicht, die angesichts der zitierten Ausführungen in Münster gewiss nicht nur Begeisterung auslöste: „Eine Förderung der Renaissanceforschung kann für das Jahr 1969 nicht gewährt werden, da ihre Einbeziehung den SFB so ausweiten würde, dass eine tatsächliche Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Forschungseinrichtungen im Sinne der Kriterien des Wissenschaftsrates als unmöglich erschiene.“ 13 Die Messlatte der intensiven Zusammenarbeit scheint 1968 eher noch höher gelegen zu haben, als dies heute immer noch der Fall ist. Aber noch ein anderer Akzent, den Karl Hauck in seinem Bericht setzte, den er übrigens ungekürzt 1968 in den Frühmittelalterlichen Studien veröffentlichte, verdient eine Erwähnung, da er fast prophetischen Charakter hatte. Ich meine den oben aufgeführten Hinweis, dass eine „ungeschichtlich“ orientierte Epoche … die „Mittelalterstudien“ gefährden könne. Gesagt wurde dies im Jahre 1968 – und ich wechsele jetzt in die Rolle des Zeitzeugen, denn als wissenschaftliche Hilfskraft war ich Zeuge der Vorgänge, die 1970 durch ein Plakat am historischen Seminar der Universität Münster ausgelöst wurden. Dieses Plakat stellte in großen Lettern die Frage: „Wozu noch Mittelalter?“ Auf dieser Wandzeitung waren die präzisen Summen der Förderung aufgeführt, die der Mittelalter-SFB seit 1969 erhielt. Die Studenten hatten von diesen Summen wohl in einer der Universitätskommissionen erfahren, die über solche Vorgänge beriet. Die Zahlen dienten auf der Wandzeitung dem Nachweis, dass in Münster nach Meinung der Verfasser Unsummen für „irrelevante“ Forschung ausgegeben würden 14. Es
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Auch dieses Zitat findet sich in beiden in Anm. 10 genannten Versionen. Vgl. Universitätsarchiv Münster Bestand 9 ( wie Anm. 7 ) Sonderforschungsbereich 7 Mittelalter-Forschung. Bewilligungsbescheide. Deutsche Forschungsgemeinschaft. Der Präsident. Schreiben vom 3. Juni 1969, S. 2. Niedergeschlagen hat sich dieser Vorstoß auch in wissenschaftlichem Schrifttum, vgl. Bernd Dammann – Richard Stinshoff, Forschungsförderung und Lehrerausbildung. Eine wissenschaftssoziologische Studie zu Selbstverständnis und Funktion der Geisteswissenschaften im Horizont wissenschaftsorganisatorischer Strukturveränderungen des Forschungs- und Ausbildungssystems, ohne Ort,
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war ja die Zeit, in der man mit der Relevanz-Frage leicht alle die in die Defensive brachte, die vor der französischen Revolution arbeiteten. Die Frage aber lebt bis heute in den Köpfen etwa von Ministern weiter, die Geisteswissenschaftler gerne fragen: „Was bringt uns das heute, was Sie tun?“ 1970 war die Münstersche Mediävistik auf diesen Angriff unvorbereitet. Die Lehrstuhlinhaber Karl Hauck und Karl Schmid reagierten aber sofort und riefen Assistenten wie Hilfskräfte zu einer Krisensitzung in die Salzstrasse 41, die heute immer noch unser Institut beherbergt. Einziger Tagesordnungspunkt dieser Sitzung war: Was antworten wir auf die Frage: Wozu noch Mittelalter? Der Kreis diskutierte intensiv eine Reihe von Argumenten, die aber alle als mögliche Antwort verworfen wurden, weil sie einen Nachteil hatten: Mit ihnen konnte man 68er Studenten nicht erreichen, denen auch so etwas wie „geschichtlich fundierte humane Werte“ „irrelevant“ erschienen. Das sahen auch die Professoren unter den Anwesenden ein. Nicht einigen konnte sich die Versammlung dagegen über ein Argument, das einigen Jüngeren durchaus als plausibel erschien, das von den Professoren jedoch geradezu entsetzt abgelehnt wurde. Ein Mitarbeiter hatte nämlich vorgeschlagen, offen zu bekennen: Die Erforschung des Mittelalters mache einfach Spaß. Das jedoch war der älteren Generation nicht zu vermitteln. In ihrer Jugend hatte man mit dem Mittelalter deutsche Identität gestiftet, nicht Spaß bereitet. Ich rufe diese Diskussion deshalb in Erinnerung, weil sie kurz vor der vieldiskutierten Wiederentdeckung des Mittelalters durch die Öffentlichkeit geführt wurde, die sich etwa – aber nicht nur – in den frequentierten Ausstellungen der 70er Jahre manifestierte. Die Öffentlichkeit entdeckte das Mittelalter nicht deshalb, weil diese Zeit für das eigene Leben wieder relevant geworden wäre, sondern weil Menschen, ihre Hervorbringungen und ihre Schicksale auch dann interessant sein können, wenn sie als ganz andersartig erfahren werden als das eigene Leben. Diese Einsicht ist in der Mediävistik inzwischen sowohl national wie international konsensfähig. Es mag als Beweis für die Lebendigkeit des von Karl Hauck initiierten Dialogs stehen, dass über diese Frage in Münster schon sehr früh und kontrovers diskutiert und gerungen wurde. Man wird Verständnis dafür aufbringen, dass die Generation unserer geistigen Väter sich schwer tat mit der Vorstellung, mit ihren Forschungen Spaß zu bereiten. Das ist aber einer der wenigen Punkte, an dem wir heute zumindest mehrheitlich anderer Meinung sind. Damit lege ich das Gewand des Zeitzeugen ab und kehre noch einmal zurück zu den Akten. Die Dynamik des neuen Schwerpunktes und seines Sprechers sei abschließend an zwei Beispielen erläutert, mit denen gezeigt werden soll, wie der neue Sonderforschungsbereich sich in der universitären Öffentlichkeit bemerkbar machte, heute sagt man: positionierte. Die Handschrift Karl Haucks ist auch hier jederzeit identifizierbar. In der Tat wurde das anvisierte lebendige Gespräch nun realisiert. Internationale Kolloquien brachten herausragende Forscher nach Münster und wir Jüngeren hatten das Gefühl, an wahrhaft bedeutsamen Ereignissen teilzunehmen. Überraschender ohne Jahr. Zumindest einer der Autoren, Bernd Dammann, studierte in den fraglichen Jahren 1968–1972 auch Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und war einer der Verfasser der zitierten Wandzeitungen.
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aber dürfte in der Zeit der endenden Ordinarien-Universität sein, dass alle Vortragenden solcher Kolloquien mit gleichen Ehren eingeladen wurden. Von den international renommierten Professoren Nordenfalk, Belting und Bischoff reichte die Palette derjenigen, die der Rector magnificus Werner Knopp zusammen mit dem Sprecher Karl Hauck in persönlichen Schreiben einlud bis zu einem gewissen „sehr geehrten Fräulein Meier“, die als unpromovierte Mitarbeiterin das gleiche Schreiben erhielt, weil sie als Vortragende eben Teil der Gelehrtenrepublik war. Es handelt sich um Christel MeierStaubach, die bis heute wesentlich zur Förderung des interdisziplinären Austausches in Münster beiträgt 15. Spricht die Beteiligung des Rektors an den Einladungen dafür, dass er wusste, was die Universität an ihrem neuen Schwerpunkt hatte, so lassen andere Akten Zweifel aufkommen, ob dem wirklich so war. Seit 1971 gab es nämlich bereits im Rektorat den Versuch, das Institut für Frühmittelalterforschung als zentrale Einrichtung aufzulösen und einem einzigen Fachbereich zuzuweisen, obgleich es als interdisziplinäre Einrichtung Direktoren aus verschiedenen Fachbereichen hatte. Karl Hauck hat Versuche dieser Art in seiner Zeit offensichtlich erfolgreich abgewehrt, was aus einem sehr eigenartigen Aktenstück deutlich wird, das ich abschließend behandeln will. Zuvor aber gestehe ich beschämt, dass wir als seine Nachfolger nicht so erfolgreich waren. Das Institut hat inzwischen seinen zentralen Status verloren und ist – zumindest haushaltstechnisch – dem Fachbereich Geschichte/Philosophie zugeordnet worden, obgleich zu seinen Direktoren auch heute noch Theologen und Literaturwissenschaftler aus anderen Fachbereichen zählen. Von Karl Haucks erfolgreichem Widerstand gegen diese Zuordnung spricht heute noch ein Aktenstück aus dem Jahre 1971, das die Forderung enthält, dieses Institut als zentrale Einrichtung endlich aufzulösen ( 16. 12. ) und einem Fachbereich zuzuordnen. Auf dem fraglichen Schriftstück aber ist bis 1979 eine ganze Reihe von Zetteln getackert, die intensive Verwaltungsvorgänge dokumentieren. Sie enthalten jeweils knappe handschriftliche Notizen wie etwa: „Was ist in der Sache geschehen“; „ruht die Sache noch“; „ja, die Sache ruht noch“; oder, „wir müssen die neue Universitätsverfassung abwarten“ und mehrere andere Hinweise, die alle deutlich machen, dass sich die Verwaltungsspitze im Rektorat trotz jährlicher Wiedervorlage an irgendeinem Widerstand die Zähne ausbiss 16. Selbst die Kommission für Finanz- und Personalangelegenheiten wurde 1976 nervös und gab zu Protokoll: „Die Kommission betont ausdrücklich, dass die Zuweisung an das Institut für Frühmittelalterforschung nicht als Präzedenzfall für künftig noch zu gründende Institutionen anzusehen ist.“ 17 Ich denke, es ist nicht zu sehr spekuliert, wenn man die Ursache der Erfolglosigkeit all dieser Versuche in der Beharrlichkeit Karl Haucks sieht, auch wenn er namentlich in den fraglichen Akten gar nicht erwähnt wird. Sein Institut hat er wie seinen Sonderforschungsbereich oder seine Zeitschrift auch in stürmischen Zeiten zu verteidigen
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Die Einladungen finden sich in Abschriften im Universitätsarchiv Münster Bestand 9 ( wie Anm. 7 ) unter der Bezeichnung „Mittelalterforschung. Tagungen der Arbeitsgemeinschaften“ unpaginiert. Das Schriftstück findet sich gleichfalls im Universitätsarchiv Münster Bestand 9 ( wie Anm. 7 ) unter der Bezeichnung „Institut für Frühmittelalter-Forschung“ Bd. 1 33.33. Ebd. „Auszug aus dem Protokoll der 202. Sitzung der Universitätskommission für Finanz- und Personalangelegenheiten am 5. 1. 1976“.
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gewusst. Und der Erfolg seiner Bemühungen resultierte gleichermaßen aus der ihm eigenen Überzeugungskraft wie aus der Schlüssigkeit seiner Konzeption, verschiedene Wissenschaften zu lebendigem Gespräch und gemeinsamen Tun zusammenzuführen. Hiermit hat er uns Richtungen gewiesen, die sich bis heute als die richtigen erwiesen haben. Dafür sind wir ihm dankbar und gedenken seiner in dieser Dankbarkeit.
Gold, Macht, Kult: Karl Haucks Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten
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Gold, Macht, Kult: Karl Haucks Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten An der Peripherie des römischen Reiches setzt sich in der nördlichen Kontaktzone zum germanischen Barbaricum seit der frühen Kaiserzeit eine kulturelle Entwicklung in Gang, deren ganzes Ausmaß seit einigen Jahren zunehmend ins Zentrum der Forschung rückt. Dies zeigt sich zunächst auf rein materieller Ebene an dem gewaltigen Zustrom an Edelmetall und Schmuck in Form von Tributzahlungen, Ehrengeschenken, Söldnerlohn sowie Beute- bzw. Handelsgut, ein Zustrom, der uns berechtigt, vom des Nordens zu sprechen. Dies manifestiert sich weiter in der schieren Fülle an Importen von Luxusgütern aus allen Teilen des römischen Reiches 1. So sind aus Südskandinavien aus der Zeit vom 1. bis 4. Jahrhundert inzwischen mehr als 1000 römische Bronze-, Silber- und Glasgefäße bekannt 2: Die germanische Elite speiste aus römischem Tafelgeschirr und trank aus kostbarsten römischen Gläsern. Dass diese Luxusgüter nicht allein dem Privatvergnügen dienten, sondern zugleich der Repräsentation von Status und Macht, ist eine naheliegende Schlussfolgerung 3. Der Einfluss der antiken Welt beschränkte sich aber keineswegs auf das profane Leben, und die Rezeption der fremden Vorbilder erschöpfte sich auch nicht in der bloßen Nachahmung. Es wurde vielmehr ein gewaltiger Innovationsschub in Gang gesetzt, der alle Bereiche des kulturellen Lebens einbezog. Für lange Zeit liegt in Südskandinavien das kreative Zentrum der germanischen Welt. So wurde im Bereich des heutigen Dänemark seit dem 2., vielleicht auch schon seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. mit den Runen ein eigenständiges germanisches Schriftsystem entwickelt, das sich mehr dem Impetus des sich Absetzens von mediterranen Schrifttraditionen als dem der Nachahmung verdankt, denn es unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von seinen Vorlagen 4. Obwohl nur spärlich überliefert, werden in den Runenschriften mit Heiti und Kenningar schon bald erste Zeugnisse dichterischer Stilmittel greifbar, die
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Ulla Lund Hansen, Römischer Import im Norden, Warenaustausch zwischen dem Römischen Reich und dem freien Germanien während der Kaiserzeit unter besonderer Berücksichtigung Nordeuropas ( Nordiske Fortidsminder, Serie B, 10 ) København 1987; Lars Jørgensen, Sieg und Triumph. Der Norden im Schatten des Römischen Reiches, in: Jørgensen – Birger Storgaard – Lone Gebauer Thomsen ( Red. ), Sieg und Triumph. Der Norden im Schatten des Römischen Reiches, o. O. 2003, S. 12–18, S. 13 f.; Birger Storgaard, Kosmopolitische Aristokraten, in: ebd., S. 106–125. Storgaard ( wie Anm. 1 ) S. 107, S. 111, Abb. 4 u. 5 ( Grab von Hoby, Lolland, erste Jahrzehnte n. Chr. ), S. 113, Abb. 6 ( Himlingøje, Seeland, 150–320 n. Chr. ); Jørgensen – Storgaard – Gebauer Thomsen ( wie Anm. 1 ) S. 384, 386, 389, 393 ff. Storgaard ( wie Anm. 1 ) S. 107 u. 108. Vgl. Wilhelm Heizmann, Zur Entstehung der Runenschrift, in: Zentrale Probleme bei der Erforschung der älteren Runen. Akten einer internationalen Tagung an der Norwegischen Akademie der Wissenschaften ( Osloer Beiträge zur Germanistik 41 ) Frankfurt a. M. ( im Druck ).
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uns in ausgebildeter Form erst aus der Jahrhunderte später bezeugten Skaldendichtung entgegen treten 5. Ikonographisch manifestiert sich der Einfluss der antiken Welt in der Aneignung mediterraner Bildmotive, die im südskandinavischen Raum zur Herausbildung einer reichen eigenständigen Bildüberlieferung führt. Zu nennen sind hier etwa die kleinen vollplastischen Menschendarstellungen aus Bronze in Nachahmung importierter römischer Statuetten 6 sowie die ikonographisch weit komplexeren Goldhörner von Gallehus 7, die umfangreichen Denkmälergruppen der Goldbrakteaten 8 und Goldfolien 9 sowie die elaborierten Goldhalskragen 10. Das Erstaunliche an diesen intellektuellen und künstlerischen Meisterleistungen ist nicht nur ihre schiere Existenz, sondern nicht weniger die geradezu explosionsartige Ausbreitung über weite Bereiche der germanischen Welt. Gerade dieses Phänomen lässt sich nur vor dem Hintergrund weitgespannter Kommunikationsnetze verstehen, die damals schon die germanische Welt überzogen, von deren Existenz wir jedoch in den schriftlichen Quellen nur ausnahmsweise Mitteilung erhalten. Archäologisch manifestieren sich diese engen Verbindungen jedoch z. B. in den seit dem 1. Jahrhundert weitgehend gleichartigen Grabsitten der Aristokratie 11. Auch zeigt die Verbreitung aristokratischer Rangabzeichen wie der Rosettenfibeln 12 und Schlangenkopfringe 13 des 3. Jahrhunderts, dass sich die Aristokratie aus weit entfernten Gebieten bis in die gotischen Gebiete nördlich des Schwarzen Meeres durch den Gebrauch einer gemeinsamen Symbolik erkennen und identifizieren konnte 14. In diesem Zusam5
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Heinrich Beck, Zur Frage der Beinamen im frühskandinavischen Kontext, in: Dieter Geuenich – Ingo Runde ( Hgg. ), Name und Gesellschaft im Frühmittelalter – Personennamen als Indikatoren für sprachliche, ethnische, soziale und kulturelle Gruppenzugehörigkeit ihrer Träger ( Deutsche Namenforschung auf sprachgeschichtlicher Grundlage 2 ) Hildesheim 2006, S. 120–136, hier S. 129 ff. Jørgensen – Storgaard – Gebauer Thomsen ( wie Anm. 1 ) S. 390. Wilhelm Heizmann, Gallehus § 5. Deutung, in: RGA 10, 1998, S. 340–344, S. 343. Karl Hauck u. a. ( Hgg. ), Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit, 1,1 Einleitung, 1,2–3,2 Ikonographischer Katalog ( Münstersche Mittelalter-Schriften 24,1,1–24,3,2 ) Münster, 1985–1989, hier: Einleitung, S. 11–22; Morten Axboe, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Herstellungsprobleme und Chronologie ( Ergänzungsbände zum RGA [ fortan abgekürzt RGA-E ] 38 ) Berlin – New York 2004; Ders., Brakteatstudier ( Nordiske Fortidsminder Serie B, 25 ) København 2007. Margrethe Watt, Die Goldblechfiguren ( ) aus Sorte Muld, in: Karl Hauck ( Hg. ), Der historische Horizont der Götterbild-Amulette aus der Übergangsepoche von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Bericht über das Colloquium vom 28. 11.–1. 12. 1988 in der Werner-Reimers-Stiftung, Bad Homburg ( Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Kl., 3. Folge, Nr. 200 ) Göttingen 1992, S. 195–227; Dies., Gubber, in: RGA 13, 1999, S. 132–142; Karl Hauck, Die bremische Überlieferung zur Götter-Dreiheit Altuppsalas und die bornholmischen Goldfolien aus Sorte Muld ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten LII ), in: Frühmittelalterliche Studien 27, 1993, S. 409–479; Ders., Altuppsalas Polytheismus exemplarisch erhellt mit Bildzeugnissen des 5.–7. Jahrhunderts ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LIII ), in: Heiko Uecker ( Hg. ), Studien zum Altgermanischen. Festschrift für H. Beck ( RGA-E 11 ) Berlin – New York 1994, S. 197–302, hier S. 197 ff.; Jan Peder Lamm, Figural Gold Foils Found in Sweden: a study based on the discoveries from Helgö, in: Bo Gyllensvärd u. a. ( Hgg. ), Excavations at Helgö XVI. Exotic and Sacral Finds from Helgö, Stockholm 2004, S. 41–142. Jan Peder Lamm, Goldhalskragen, in: RGA 12, 1998, S. 335–343. Storgaard ( wie Anm. 1 ) S. 108. Storgaard ( wie Anm. 1 ) S. 114, Abb. 7. Jørgensen – Storgaard – Gebauer Thomsen ( wie Anm. 1 ) S. 395, 396, 397, 398. Storgaard ( wie Anm. 1 ) S. 114.
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menhang ist insbesondere auf den Tierstil hinzuweisen, den Alexandra Pesch geradezu als ein tituliert, an dem die meisten germanischen Völker Anteil haben 15. Initiatoren und Mediatoren der genannten kulturellen Innovationen waren Spezialisten, deren Existenz an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist. Ihre Leistungen sind nicht als Nebenprodukte von Laien vorstellbar, sondern sie sind das Ergebnis komplexer schöpferischer Prozesse, die eines geschützten Raums und materieller Förderung bedurften. Dieser Raum lässt sich jetzt in den politischen Macht- und religiösen Kultzentren, die sich seit dem 2. Jahrhundert im westlichen Ostseeraum und angrenzenden Gebieten herausbildeten ( Himlingøje, Gudme, Uppåkra, Sorte Muld, Ravlunda, Sievern etc. ) ortsfest machen 16. In diesen, durch weitgespannte Handelskontakte, politische Allianzen und Kultbeziehungen verbundenen Reichtumszentren, in denen übrigens auch zum ersten Mal spezialisierte Handwerker als ein tragendes Element der Gesellschaft hervortreten 17, etabliert sich eine qualifizierte Schicht religiöser Spezialisten 18. Hier ist der reale Hintergrund für jene enormen kulturellen und intellektuellen Leistungen zu suchen, wie sie die Erfindung der Runenschrift, die Herausbildung einer kunstvollen Dichtersprache, die Anfertigung eines kunsthandwerklichen und ikonographischen Meisterwerks wie der Goldhörner und schließlich auch die Konzeption der mythischen Bilderwelt der Goldbrakteaten und der Goldfolien darstellen. Einer der Pioniere dieser neuen Sicht auf das nördliche Barbaricum war unzweifelhaft Karl Hauck. Er hat diese Sicht durch eigene Forschung insbesondere als Historiker und Ikonograph wesentlich bestimmt und vorangetrieben. Nicht weniger bedeutend war jedoch seine Rolle als steter Impulsgeber für die Nachbarwissenschaften, aus denen er entweder unmittelbar Mitglieder seines rekrutierte oder die er auf Symposien zur Mitarbeit und zum Mitdenken an seinen Themen aus re15
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Alexandra Pesch, Netzwerk der Zentralplätze. Elitenkontakte und Zusammenarbeit frühmittelalterlicher Reichtumszentren im Spiegel der Goldbrakteaten, in: Wilhelm Heizmann ( Hg. ), Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Beiträge zur Auswertung und Katalog der Neufunde ( RGA-E 49 ) Berlin – New York ( in Druckvorbereitung ). Vgl. Poul Otto Nielsen u. a. ( Hgg. ), The Archaeology of Gudme and Lundeborg. Papers presented at a conference at Svendborg, October 1991 ( Arkæologiske studier 10 ) København 1994; Ulla Lund Hansen u. a., Himlingøje – Seeland – Europa. Ein Gräberfeld der jüngeren römischen Kaiserzeit auf Seeland, seine Bedeutung und internationalen Beziehungen ( Nordiske Fortidsminder, Serie B, 13 ) København 1995; Dies., Himlingøje, in: RGA 14, 1999, S. 576–579; Uppåkrastudier 1 ff., hier besonders: 1, 1998, Centrala platser, centrala frågor. Samhällsstrukturen under järnålderen; 6, 2002, Central places in the migration and Merovingian periods; Jørgensen ( wie Anm. 1 ) S. 14; Storgaard ( wie Anm. 1 ); Alexandra Pesch, Charismatisches Königtum im Spiegel materieller Quellen: Die völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten, in: Franz-Rainer Erkens ( Hg. ), Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen ( RGA-E 49 ) Berlin – New York 2005, S. 65–86, hier. S. 70; Dies., Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Thema und Variation ( RGA-E 36 ) Berlin – New York 2007, S. 353–359; Dies., Netzwerk ( wie Anm. 15 ); vgl. auch die Anm. 93 mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen zu diesem Thema bei Karl Hauck, Ein Beitrag zur skandinavischen Zentralort-Forschung, in: Heinrich Beck – Karl Hauck, Zur philologischen und historischen Auswertung eines neuen Drei-Götter-Brakteaten aus Sorte Muld, Bornholm, Dänemark ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten LXIII ), in: Frühmittelalterliche Studien 36, 2002, S. 51–84, hier S. 84. Storgaard ( wie Anm. 1 ) S. 109. Vgl. Pesch, Charismatisches Königtum ( wie Anm. 16 ) S. 75 ff.
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ligionswissenschaftlicher, namenkundlicher, philologischer oder archäologischer Sicht einband 19. Das bestimmende Thema von Karl Haucks mittlerer und vor allem seiner letzten Schaffensperiode war unzweifelhaft die komplexe und rätselhafte Bilderwelt der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten, von denen wir bis heute fast 1000 Exemplare mit über 600 Formularen kennen. Mit ihrer Entschlüsselung wird sein Name in aller Zukunft verbunden sein. Von dieser Pionierleistung soll hier die Rede sein, wobei es völlig ausgeschlossen ist, auch nur annähernd einen vollständigen Einblick in das Haucksche Bild-Deutungsuniversum zu vermitteln. Ich werde mich im Folgenden hauptsächlich mit den methodischen Aspekten beschäftigen und diese an einem ausgewählten Beispiel exemplifizieren. Zunächst einige wenige grundlegende Informationen zu den Goldbrakteaten. Es handelt sich dabei um einseitig geprägte, barbarische Nachahmungen römischer Münzen und Medaillons aus Gold, durchweg aus der Zeit zwischen der Mitte des 5. Jahrhunderts und dem zweiten Drittel des 6. Jahrhunderts 20. Die Herstellung erfolgt mittels eines sog. Models, genauer einer Matrize. Alles, was auf der Matrize vertieft ist, erscheint auf dem Brakteaten als Erhöhung. Gleichzeitig musste das beabsichtigte Bild auf der Matrize spiegelbildlich erscheinen 21. Dieses Prägeverfahren eignet sich also grundsätzlich zur Serienproduktion, erfordert aber auch großes konzeptuelles und technisches Geschick, das je nach Können zu Stücken sehr unterschiedlicher Qualität führte. Was die grundsätzliche Funktion der Goldbrakteaten betrifft, so ist die Forschung bis heute weit von einem Konsens entfernt. Dies ist um so erstaunlicher, als
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Beispielhaft schon Haucks Initialwerk zur Brakteatenforschung: Karl Hauck, Goldbrakteaten aus Sievern. Spätantike Amulett-Bilder der und die Sachsen- bei Widukind von Corvey. Mit Beiträgen von Klaus Düwel, Heinrich Tiefenbach und Hayo Vierck ( Münstersche Mittelalter-Schriften 1 ) München 1970. Vgl. weiter den Ikonographischen Katalog ( Hauck u. a., Die Goldbrakteaten [ wie Anm. 8 ] ) sowie den Band über das Colloquium vom 28. 11.–1. 12. 1988 in der WernerReimers-Stiftung, Bad Homburg ( Hauck, Der historische Horizont [ wie Anm. 9 ] ) sowie z. B. Axboe, Goldbrakteaten ( wie Anm. 8 ); Ders.: Brakteatstudier ( wie Anm. 8 ); Pesch, Goldbrakteaten ( wie Anm. 16 ); Klaus Düwel, Buchstabenmagie und Alphabetzauber. Zu den Inschriften der Goldbrakteaten und ihrer Funktion als Amulette, in: Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, S. 70–110; Heinrich Beck, Zur Götter-Anrufung nach altnordischen Quellen ( in Sonderheit der Brakteaten ), in: Michael Stausberg ( Hg. ), Kontinuitäten und Brüche in der Religionsgeschichte. Festschrift für Anders Hultgård zu seinem 65. Geburtstag am 23. 12. 2001 ( RGA-E 31 ) Berlin – New York 2001, S. 57–75; Ders., Evokation in iterativer Form, in: Beck – Hauck, Zur philologischen und historischen Auswertung ( wie Anm. 16 ) S. 51–61; Wilhelm Heizmann, Der angelsächsische Neunkräutersegen und Issendorf-B, in: Hans-Jürgen Häßler – Morten Axboe – Karl Hauck – Wilhelm Heizmann, Ein neues Problemstück der Brakteatenikonographie: Issendorf-B, Landkreis Stade, Niedersachsen ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten LIV ), in: Studien zur Sachsenforschung 10, 1997, S. 101–175, S. 163–173; Ders., Bildchiffren und Runen von Kommunikationsformen und Heilverfahren auf goldenen C-Brakteaten, in: Stausberg, Kontinuitäten ( wie Anm. 19 ) S. 326–351; Ders. – Karl Hauck, Der Neufund des Runen-Brakteaten IK 585 Sankt Ibs Vej-C Roskilde ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten LXII ), in: Wilhelm Heizmann – Astrid van Nahl ( Hgg. ), Runologica – Germanica – Medievalia ( RGA-E 37 ) Berlin – New York 2003, S. 243–264; Gunter Müller, Von der Buchstabenmagie zur Namenmagie in Brakteateninschriften, in: Frühmittelalterliche Studien 11, 1988, S. 111–157. Axboe, Goldbrakteaten ( wie Anm. 8 ) S. 260. Axboe, Goldbrakteaten ( wie Anm. 8 ) S. 1–26; Pesch, Charismatisches Königtum ( wie Anm. 16 ) S. 71.
Gold, Macht, Kult: Karl Haucks Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten
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Karl Hauck bereits 1970 in seinem monumentalen „Gold aus Sievern“ 22 und dann in bis heute 64 Einzelstudien 23 die Grundzüge einer umfassenden ikonographischen Analyse vorgelegt hat und auf dieser Basis die Goldbrakteaten als Götterbildamulette bestimmen konnte. Diese Auffassung wurde ferner durch die Analyse der zahlreichen Runeninschriften auf Goldbrakteaten mehrfach bestätigt 24. Im Gegensatz zu allen anderen Deutungsansätzen, die sich bis heute am besten als impressionistisches Bilderraten beschreiben lassen, hat Karl Hauck in immer neuen und präziseren Anläufen eine ikonographische Methode, die Kontext-Ikonographie 25, entwickelt. Sie nähert sich ihrem Gegenstand sozusagen von zwei Seiten: von den Wurzeln der Brakteatenkunst in spätantiken Bildtraditionen zum einen und vom Niederschlag der in dieser Kunst transportierten Mythen in der hochmittelalterlichen Schriftüberlieferung des Nordens zum anderen, namentlich in der Lieder-Edda und der Edda des Isländers Snorri Sturluson. Die Erkenntnis, dass die Brakteatenbilder auf antike Vorbilder zurückgehen, reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück 26. In erster Linie sind das spätantike Goldmedaillons und Münzen mit den Kaiserbildern der Zeit von Konstantin dem Großen ( 3./4. Jahrhundert ) 27. Diese Vorbilder wurden jedoch nicht einfach kopiert, sondern in Stil und Inhalt nach eigenen Vorstellungen umgestaltet. Diese formale Abhängigkeit von spätantiken Bildtraditionen soll hier mit einigen in der Forschung schon bekannten und einigen bislang noch nicht aufgezeigten Beispielen dokumentiert werden, indem ich den Brakteatenbildern jeweils mögliche römische Vorlagen 28 zur Seite stelle ( Abb. 1–9 ). Zu den unabdingbaren Voraussetzungen für das Eindringen in die Bilderwelt der Goldbrakteaten zählt die Einsicht, dass man sich auch im Norden nach dem Vorbild 22 23
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Hauck, Sievern ( wie Anm. 19 ). Karl Hauck, Zur Ikonologie der Goldbrakteaten I, 1972 – zuletzt LXIV, 2002; für die vollständigen bibliographischen Nachweise der einzelnen Studien vgl. http://Fruehmittelalter.uni-muenster.de/ Goldbrakteaten. Düwel, Buchstabenmagie und Alphabetzauber ( wie Anm. 19 ); Beck, Götter-Anrufung ( wie Anm. 19 ); Ders., Evokation ( wie Anm. 19 ); Wilhelm Heizmann, Bildformel und Formelwort. Zu den laukar-Inschriften auf Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit, in: Runor och runinskrifter. Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien: Konferenser 15, Stockholm 1987, S. 145–153; Ders., Sinnbilder und Heilswörter § 2. Heilswörter, in: RGA 28, 2005 S. 469–473. Grundlegend Karl Hauck, Kontext-Ikonographie. Die methodische Entzifferung der formelhaften goldenen Amulettbilder aus der Völkerwanderungszeit ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten VII ), in: Hans Fromm – Wolfgang Harms – Uwe Ruberg ( Hgg. ), Verbum et signum. Friedrich Ohly zum 60. Geburtstag, München 1975, S. 25–69; Ders., Methoden der Brakteatendeutung ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XI ), in: Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 4, 1974–1976, S. 156–175; Ders., Methodenfragen der Brakteatendeutung. Erprobung eines Interpretationsmusters für die Bildzeugnisse aus einer oralen Kultur ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XXVI ), in: Helmut Roth ( Hg. ), Zum Problem der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte. Akten des 1. Internationalen Kolloquiums in Marburg a. d. Lahn, 15. bis 19. Februar 1983 ( Veröffentlichungen des Vorgeschichtlichen Seminars der Philipps-Universität Marburg a. d. Lahn, Sonderband 4 ) Sigmaringen 1986, S. 273–296. Elisabeth Munksgaard, Brakteaten I. Archäologisches § 1. Nordeuropa, in: RGA 2, 1978, S. 338–361, hier: S. 338. Hauck u. a., Einleitung ( wie Anm. 8 ) S. 75–86. Die Vorlagen sind entnommen: John P. C. Kent – Bernhard Overbeck – Armin U. Stylow, Die römische Münze, München 1973.
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Wilhelm Heizmann
der antiken Medaillons, Münzen und Gemmen zur Herstellung der zeichenhaften Methode bediente 29. D. h. die Brakteatenbilder sind nicht narrativ in dem Sinn, dass hier wie in Bilderzyklen ein Ereignis erzählt wird. Vielmehr zwingt der eng begrenzte Raum zur extremen Verkürzung 30. Dies wird durch chiffrenhafte Bildformeln und die Verwendung von Kernsymbolen erreicht. Hauck hat diesen Begriff aus den Kulturanalysen der ethnologischen Feldforschung entlehnt. Kernsymbole repräsentieren Bedeutung auf zusammenfassende Weise. Um diese Abbreviaturen zu verstehen, müssen die besonders qualitätvollen Prägungen herangezogen werden. Ihre Qualitäten beruhen auf differenzierterem Detail und/oder reichem Darstellungskontext 31 durch die Hinzufügung von Gestalten und Attributen, der sich z. B. auf B-Brakteaten auf bis zu acht Figuren steigern kann. Dieser Detailreichtum ist in Anbetracht des im Durchschnitt auf einen Durchmesser von ca. 20–30 mm begrenzten Bildfelds erstaunlich. Ohne ein beträchtliches Maß an handwerklichem Geschick sowie eine sorgfältige und durchdachte Konzeption wäre er nicht zu realisieren gewesen. Es lassen sich dabei grob vier Gruppen von Details unterscheiden, die in den unterschiedlichsten Kombinationen, Formen und Mischformen ( Mischwesen ) auftreten: 1. anthropomorphe Gestalten als Ganzes oder im Detail, 2. zoomorphe Wesen als Ganzes oder im Detail, 3. Beizeichen und Nebenchiffren, 4. Schrift- bzw. schriftähnliche Zeichen 32. Beispielhaft seien diese Gruppen mit dem Brakteaten IK 340 Raum Sønderby-C/Femø vorgeführt ( Abb. 10 ). Er zeigt 1. ein menschliches Haupt, 2. einen Vierbeiner, der als Pferd anzusprechen ist, 3. eine Swastika und 4. eine Runeninschrift. Durch den beträchtlichen Aufwand der Herstellung werden Stücke mit großem Detailreichtum zu Leitvarianten der Auswertung. Leitvarianten setzen die Kenntnis aller Elemente des reicheren Darstellungskontextes und die Ermittlung der Bilddetails, die als Kernsymbole verwendet wurden, voraus. Sie führen zur Einsicht, in welchem enormen Umfang auf den winzigen runden Schrötlingen die gekürzten Bildformeln vorherrschen. Als weitere Voraussetzung für das Verständnis der Bilder ist die Tendenz zur teilweise extremen Stilisierung zu beachten, die sich z. B. bei der Ausprägung der Hufe des großen Vierbeiners der C-Brakteaten deutlich zeigt. Hier findet man neben naturna-
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Karl Hauck, Das Aufkommen des erfolgreichsten Motivs der völkerwanderungszeitlichen Brakteaten ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XLVIII ), in: Pact 38, 1993 [ Sources and Resources. for Professor Birgit Arrhenius ], S. 403–434, hier S. 404; Ders., Fünens besonderer Anteil an den Bildinhalten der völkerwanderungszeitlichen Brakteaten ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XLIX ), in: Frühmittelalterliche Studien 26, 1992, S. 106–148, hier S. 111 f. Vgl. Karl Hauck: Der Kollierfund vom fünischen Gudme und das Mythenwissen skandinavischer Führungsschichten in der Mitte des Ersten Jahrtausends. Mit zwei runologischen Beiträgen von Wilhelm Heizmann ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten LV ), in: Dieter Geuenich ( Hg. ) Die Alemannen und Franken bis zur <Schlacht bei Zülpich>, 496/97 ( RGA-E 19 ) Berlin – New York 1998, S. 489–544, hier S. 508. Hauck u. a., Einleitung ( wie Anm. 8 ) S. 73; Ders., Fünens Anteil ( wie Anm. 29 ) S. 110 f. Wilhelm Heizmann, Die Fauna der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten. Tiere im Kontext der Regenerationsthematik, in: Annegret Heitmann – Wilhelm Heizmann – Ortun Rehm ( Hgg. ), Tiere in skandinavischer Literatur und Kulturgeschichte. Repräsentationsformen und Zeichenfunktionen ( Nordica 13 ) Freiburg i. Br. – Berlin – Wien 2007, S. 15–40, hier S. 19.
Gold, Macht, Kult: Karl Haucks Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten
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hen Darstellungen stilisierte Formen, die erst in der Serie verständlich werden 33. Gleiches gilt für zahlreiche Darstellungen von Vögeln – hier verdeutlicht durch ein Bilddetail von IK 66 Gummerup-B, das auf den ersten Blick lediglich als eine Art von Schleife zu erkennen ist und erst durch den Vergleich mit IK 165 Skovsborg-B als Vogel identifizierbar wird ( Abb. 11 ) – und Untieren – hier wiederum exemplifiziert mit Details aus den Brakteaten IK 66 und IK 165 ( Abb. 12 ). Soweit die eine Seite. Sie würde für sich allein lediglich zu beschreibbaren, kaum aber zu deutbaren Ergebnissen führen. Hierzu bedarf es unabdingbar der späteren Schriftüberlieferung. Was aber berechtigt uns, in den Schriftzeugnissen des späteren Mittelalters, insbesondere der Isländer, nach Spuren mythischer Konzeptionen der Völkerwanderungszeit Ausschau zu halten? Während die Berechtigung, völkerwanderungszeitliche und hochmittelalterliche Überlieferungen und darüber hinaus sogar die jüngere Volksüberlieferung zu ihrer wechselseitigen Erhellung heranzuziehen und für einander fruchtbar zu machen in der älteren Forschung häufig akzeptiert wurde 34, ist ihr die spätere Forschung mit zunehmender Skepsis begegnet 35. Zu beträchtlich erschien der räumliche und zeitliche Abstand, als dass ein verbindendes Kontinuum an gemeinsamen Ideen und Traditionen in größerem Umfang für möglich gehalten wurde. Konsequent umgesetzt führt dies jedoch zur Beschränkung auf das nordische, vornehmlich isländischen Quellen zu verdankende Material und damit nicht nur zur Abkoppelung der nordgermanischen von der germanischen Überlieferung, sondern zugleich auch zu einem kaum weniger ein-
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Hauck u. a., Einleitung ( wie Anm. 8 ) S. 108 f. Stellvertretend sei hier genannt Otto Höfler, Das germanische Kontinuitätsproblem, in: Historische Zeitschrift 157, 1938, S. 1–26. Mit Höflers Kontinuitätsgedanken hat sich noch während des Dritten Reiches Hermann Aubin kritisch auseinandergesetzt: Hermann Aubin, Zur Frage der historischen Kontinuität im allgemeinen, in: Historische Zeitschrift 168, 1943, S. 229–262, auch in: Ders., Vom Altertum zum Mittelalter. Absterben, Fortleben und Erneuerung, München 1949, S. 1–32, sowie in: Paul Egon Hübinger ( Hg. ), Kulturbruch oder Kulturkontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter ( Wege der Forschung 201 ) Darmstadt 1968, S. 164–202. Den schärfsten Widerspruch hat dann der Aubin-Schüler Klaus von See formuliert: Klaus von See Kontinuitätstheorie und Sakraltheorie in der Germanenforschung: Antwort an Otto Höfler, Frankfurt a. M. 1972; vgl. dazu auch Wolfgang Bausinger – Wolfgang Brückner ( Hgg. ), Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem, Berlin 1969; Jan Hirschbiegel, Die Otto Höflers, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte ( Neumünster ) 117, 1992, S. 181–192, und die Antwort von Karl-Sigismund Kramer in Waltraud Hunke u. a., Reaktionen auf Jan Hirschbiegels Aufsatz über die Otto Höflers ( ZSHG 117 ) mit abschließender Stellungnahme des Verfassers, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte ( Neumünster ) 118, 1993, S. 300–304; Julia Zernack, Kontinuität als Problem der Wissenschaftsgeschichte. Otto Höfler und das Münchner Institut für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde, in: Klaus Böldl – Miriam Kauko ( Hgg. ), Kontinuität in der Kritik. Zum 50jährigen Bestehen des Münchener Nordistikinstituts. Historische und aktuelle Perspektiven der Skandinavistik ( Nordica 8 ) Freiburg i. Br. 2005, S. 47–72. Zum Kontinuitätsproblem allgemein, das sich jedoch nur z. T. mit dem hier angesprochenen Thema berührt, vgl. weiter die Beiträge in den Sammelbänden von Hübinger, Kulturbruch und Hans Trümpy ( Hg. ), Kontinuität – Diskontinuität in den Geisteswissenschaften, Darmstadt 1973 ( dort speziell Christian Meier, Kontinuität – Diskontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter, S. 53–94 ) sowie Alexander Demandt – Hans-Werner Goetz – Helmut Reimitz – Heiko Steuer – Heinrich Beck, Kontinuitätsprobleme, in: RGA 17, 2001, S. 205–237.
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Wilhelm Heizmann
schneidenden Schnitt zwischen der hochmittelalterlichen Epoche der Schriftlichkeit und der frühmittelalterlichen, überwiegend schriftlosen und damit ungleich schwerer zu fassenden Epoche innerhalb des Nordens selbst. Mit dem Rückzug auf das allein durch schriftliche Quellen zu sichernde Terrain rücken jedoch das reiche, von der Archäologie bereitgestellte Material oder die Fortschritte auf dem Gebiet der vergleichenden Religionsgeschichte zunehmend an die Peripherie der Wahrnehmung. Darüber hinaus geraten aber auch die Bemühungen philologischer Disziplinen wie der Ortsnamensforschung, der Sprachgeschichte und sogar der Runologie zunehmend aus dem Gesichtskreis. Diese unglückliche Entwicklung behindert die Einsicht, dass sowohl der Kontinent und der Norden als auch das nordische Altertum und das nordische Mittelalter durch eine Fülle von Kommunikationssträngen eng miteinander verbunden sind. So gibt es etwa Kontinuität im Bereich der Runenschrift, die in älterer Zeit ein alle Germanen verbindendes Medium von erstaunlicher formaler und sprachlicher Konstanz und Einheitlichkeit darstellt 36, dessen formelhafte Sprache, wie eingangs gesagt, noch in der Skaldendichtung des Nordens einen fernen Widerhall findet. Es gibt sie, von der Forschung ja ganz unbezweifelt, im Bereich der Heldensage, an deren Überlieferung alle älteren germanischen Literaturen Anteil haben. Die heroische Weltsicht der sie tragenden Adels- und Kriegerschichten findet außerhalb der Dichtung ihren Niederschlag in den merowingerzeitlichen Bildprogrammen des Dekors von Kammhelmen und Pferdegeschirr aus schwedischen, englischen und kontinentalen Fürstengräbern, denen Karl Hauck ebenfalls seine Aufmerksamkeit geschenkt hat 37. Es hat diese Kontinuität aber auch im Bereich der Religion gegeben. Zentrale Göttergestalten wie Ójinn, Pórr und Frigg wurden nicht nur im Norden verehrt, sondern sind durch die Wochentagsnamen 38 und andere Quellen gleichermaßen bei den Angelsachsen und den Germanenstämmen des Kontinents bezeugt 39.
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In dieser Deutlichkeit zuerst formuliert bei Otto Höfler, Herkunft und Ausbreitung der Runen, in: Die Sprache. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 17, 1971, S. 134–156, erneut in: Helmut Birkhan ( Hg. ), Otto Höfler: Kleine Schriften. Ausgewählte Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Religionsgeschichte, zur Literatur des Mittelalters, zur germanischen Sprachwissenschaft sowie zur Kulturphilosophie und -morphologie. Hamburg 1986, S. 285–307; vgl. Heizmann, Runenschrift ( wie Anm. 4 ). Karl Hauck, Die bildliche Wiedergabe von Götter- und Heldenwaffen im Norden seit der Völkerwanderungszeit ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XVIII ), in: Ruth Schmidt-Wiegand ( Hg. ), Wörter und Sachen im Lichte der Bezeichnungsforschung ( Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 1 ) Berlin – New York 1981, S. 168–269; Ders., Die Veränderung der Missionsgeschichte durch die Entdeckung der Ikonologie der germanischen Bilddenkmäler, erhellt am Beispiel der Propagierung der Kampfhilfen des Mars-Wodan in Altuppsala im 7. Jahrhundert ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XX ), in: Westfalen 58, 1980, S. 227–307; Ders., Dioskuren in Bildzeugnissen des Nordens vom 5. bis zum 7. Jahrhundert. ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XXVIII ), in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 30, 1983, S. 435–464, hier S. 453–461; Ders., Zum zweiten Band der Sutton Hoo-Edition, in: Frühmittelalterliche Studien 16, 1982, S. 319–362. Peter Ernst, Woche und Wochentagsnamen, in: RGA 34, 2007, S. 169–172. Anders Hultgård, Wotan-Odin, in: RGA 35, 2008, S. 759–785; Heinrich Beck, Donar-Porr, in: RGA 6, 1986, S. 1–7; Wilhelm Heizmann, Freyja, in: Ulrich Müller – Werner Wunderlich ( Hgg. ), Mittelalter Mythen 3: Magier, Verführer, Schälke, St. Gallen 2001, S. 273–315, hier S. 302.
Gold, Macht, Kult: Karl Haucks Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten
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DIE IKONOGRAPHIE DER DREI-GÖTTER-BRAKTEATEN
Innerhalb Karl Haucks Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten nimmt die Gruppe der sog. Drei-Götter-Brakteaten eine zentrale Rolle ein, führt sie doch unmittelbar ins Zentrum der Brakteatenreligion 40. Als Leitvariante der vor allem im Bereich der dänischen Inseln verbreiteten Gruppe, nach Alexandra Pesch neuerdings als Formularfamilie B1 bezeichnet 41, soll im Folgenden der Brakteat IK 51, 1 aus dem seeländischen Faxe dienen ( Abb. 13 ). Er zeigt in seinem kleinen Rund von knapp 27 mm Durchmesser drei anthropomorphe Gestalten, die noch deutlich als Echo ihrer antiken Münzvorstufen erkennbar sind: diese zeigen die Ehrung des Gott-Kaisers als zentraler Gestalt ( Abb. 14 ) durch die Götter Mars – hier in der Mars-Ultor Nachfolge mit nach unten gerichteter Lanze, charakteristischer Armhaltung der Lanzenhand und gefälteltem Lederschurz ( Abb. 15 ) – und Victoria auf dem Globus mit Flügel, Palmzweig und Kranz ( Abb. 16 ). Die Kunst der Goldbrakteaten ist jedoch keine rein nachahmende. Sie hat vielmehr ihre antiken Vorbilder uminterpretiert und die übernommenen Formen mit eigenen Glaubensvorstellungen gefüllt und weiterentwickelt. Sie versammelt auf engstem Raum eine Fülle von Figuren und Zeichen und führt sie einem neuen Konzept zu. Den Schlüssel zum Verständnis der Drei-Götter-Brakteaten liefert IK 51, 1 ( Abb. 17a ), denn hier steckt der von der Gestalt in der Victoria-Nachfolge geschulterte bzw. dargebotene Zweig ( Abb. 18a–d ) – ursprünglich, wie gesagt, ein Palmzweig – zugleich abgeknickt im Rumpf der Gestalt in der Kaisernachfolge. Seit kurzem haben wir dafür in IK 595 aus dem bornholmischen Fundort Sorte Muld ein Gegenstück ( Abb. 17b ). Durch diesen abgeknickten Zweig wird ein Ereignis aus der letzten Phase der Götterwelt aufgerufen, von dem uns die spätere literarische Überlieferung des Nordens Mitteilung macht: die Tötung Balders. Snorri berichtet in der Gylfaginning ( Kap. 49 ), dass Frigg nach verhängnisvollen Träumen ihres Sohnes Balder allem was existiert den Eid abnimmt, ihren Sohn nicht zu schädigen. Danach stellt sich Balder mitten auf den Thingplatz und lässt sich gefahrlos als eine Art von lebender Schießscheibe benützen. Dies ruft Loki auf den Plan. Es gelingt ihm in Gestalt einer alten Frau, Frigg das Geheimnis zu entlocken, dass nicht alle Dinge der Erde Eide geleistet haben, Balder zu schonen:
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Karl Hauck, Sievern ( wie Anm. 19 ) S. 182 ff., 249 ff., 309 ff.; Ders., Ein neues Drei-Götter-Amulett von der Insel Fünen ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten V ), in: Friedrich Prinz – Franz-Josef Schmale – Ferdinand Seibt ( Hgg. ), Geschichte in der Gesellschaft. Festschrift für Karl Bosl zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1974, S. 92–159; Ders., Motivanalyse eines Doppelbrakteaten. Die Träger der goldenen Götterbildamulette und die Traditionsinstanz der fünischen Brakteatenproduktion ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XXXII ), in: Frühmittelalterliche Studien 19, 1985, S. 139–194, hier S. 166 ff.; Ders., Frühmittelalterliche Bildüberlieferung und der organisierte Kult ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XLIV ), in: Hauck, Der historische Horizont ( wie Anm. 9 ) S. 433–574, hier S. 475 ff.; Ders., Fünens Anteil ( wie Anm. 29 ) S. 129 ff.; Ders., Kollierfund ( wie Anm. 30 ) S. 515 ff.; Beck – Hauck, Zur philologischen und historischen Auswertung ( wie Anm. 16 ). Pesch, Goldbrakteaten ( wie Anm. 16 ) S. 99–103.
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Wilhelm Heizmann
„Vex vijarteinungr einn fyrir vestan Valhqll. Sá er mistilteinn kallajr. Sá Áótti mér ungr at krefja eijsins.“ Pví næst hvarf konan á brut. En Loki tók mistiltein ok sleit upp ok gekk til Áings 42. „Westlich von Walhall wächst ein Baumspross, der wird Mistelzweig genannt. Er schien mir zu jung, um von ihm den Eid zu fordern.“ Sofort brach die Frau auf. Und Loki ergriff den Mistelzweig, riss ihn ab und ging zum Thing 43. Auf Lokis Aufforderung hin nimmt Hqjr, der blinde Bruder Balders, den Mistelzweig und schießt ihn, von Loki gelenkt, auf Balder. Dieser wird durchbohrt und stirbt. Über die Rolle der Mistel bei Balders Tod berichtet auch die Vqlospá: Ec sá Baldri, blójgom tívor, Ójins barni, ørlqg fólgin; stój um vaxinn, vqllom hæri, miór oc miqc fagr, mistilteinn. Varj af Áeim meiji, er mær sındiz, harmflaug hættlig, Hqjr nam scióta; ( Vsp 31; 321–4 ) Ich sah Balder, dem blutigen Opfer, dem Sohne Odins, das Schicksal bestimmt: es ragte empor hoch über die Gefilde, schlank und sehr schön der Mistelzweig. Es ward aus dem Baum, der schlank erschien, ein gefährliches Harmgeschoß: Höd begann zu schießen. 44 Für die Identifikation der Victoria-Gestalt mit Loki war förderlich, dass dieser nach Ausweis der altnordischen Überlieferung als Frau auftritt. Gleichwohl bleibt diese Gestalt auf den Brakteaten durch den bürstenartigen Haarschnitt, den auch die beiden anderen Figuren tragen, als Mann zu erkennen 45. Die Flügel der Victoria können als Hinweis auf das Fluggewand, das Loki für seine Reisen benützt 46, verstanden werden. Der Palmzweig wird als Mistelzweig umgedeutet, der Kranz der Kaiserhuldigung wird nun zur Huldigung Balders wegen dessen Unverletzbarkeit eingesetzt. Nach dem schon aus der spätantiken Kunst bekannten synoptischen Prinzip 47 werden hier 42 43
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Anthony Faulkes ( Hg. ), Snorri Sturluson: Edda. Prologue and Gylfaginning. Oxford 1982, S. 45. Arnulf Krause, Die Edda des Snorri Sturluson. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert ( UniversalBibliothek Nr. 782 ) Stuttgart 1977, S. 67. Franz Rolf Schröder, Die Germanen ( Religionsgeschichtliches Lesebuch 12 ), Zweite, erweiterte Auflage, Tübingen 1929, S. 50; vgl. auch Arnulf Krause, Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben. Stuttgart 2004, S. 22. Karl Hauck, Ein Beitrag zur skandinavischen Zentralort-Forschung, in: Beck – Hauck, Zur philologischen und historischen Auswertung ( wie Anm.16 ) S. 61–94, hier S. 87. Prymsqvija 5; Skáldskaparmál, Kap. 1 u. 18. Zu dem im Zusammenhang mit den mittelalterlichen Schemabildern eingeführten Begriff <synoptisches Prinzip> vgl. grundlegend Christel Meier: „Neben dem Schematischen und Geometrisch-Abstrakten ist für diesen Bildtyp vor allem das synoptische Prinzip kennzeichnend, das heißt die Vereinigung vieler verschiedener Elemente differenter Gegenstands- und Bedeutungsbereiche in einer Bildkomposition.“ ( Die Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter, in: Wolfgang Harms [ Hg. ], Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988 [ Germanistische Symposien, Berichtsbände 11 ] Stuttgart 1990, S. 35–65, hier S. 38 ); vgl. auch Hauck, Fü-
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zwei zeitlich aufeinanderfolgende Phasen in einem Bild zusammengezogen: die Huldigung Balders durch Loki mit dem Mistelzweig und Balders Tod durch eben diesen Zweig. Dieses Verfahren wird auf anderen Drei-Götter-Brakteaten eingesetzt, um etwa auf IK 66 Gummerup-B mit Lokis der Ottertötung ( Abb. 19 ) 48, weit zurückliegende Ereignisse, oder auf IK 39 Dänemark ( X )-B Zukünftiges, wie seine Bestrafung durch das Gift einer über seinem Haupt angebrachten Giftschlange ( Abb. 20 ) 49, visionär in das Geschehen einzubeziehen. Ich kann hier nicht weiter ins Detail einer formenkundlichen Herleitung gehen, sondern will hier die Aufmerksamkeit auf zwei Elemente lenken, die als Hinweis auf eine dramatische Inszenierung des Mythos im Kult sprechen könnten. Bei dem einen, dem einzigen Raumdetail übrigens auf Goldbrakteaten, handelt es sich um eine Art Bühne, auf der die mittlere Gestalt in der Kaisernachfolge präsentiert wird ( Abb. 21a–e ). Ikonographisch lässt sich diese Konstruktion auf die Kombination von Langzepter und Basis auf imperialen Solidi zurückführen ( Abb. 22 ), die den Kaiser in einem in der antiken Bildüberlieferung auch sonst reich bezeugten Triumphgestus abbilden: der Tritt auf das Haupt des Feindes. Die Brakteatenkunst macht aus der Standlinie eine Art von Plattform in Seitenansicht. Nur zwei Brakteaten ( IK 51, 1 und IK 20 ) zeigen sechs runde Gebilde, die daran zu hängen scheinen. Nach Haucks ebenso einfallsreicher wie spekulativer Deutung könnte es sich hierbei um eine BalkenLage handeln. Das Langzepter wird zu einer pfahlartigen Konstruktion umgedeutet, die vielleicht als Kultpfahl angesprochen werden darf. Die Umdeutung als eine Art von Bühnenkonstruktion wird für uns deshalb zugänglich, weil diese für den Kult des Götterfürsten offenbar so charakteristisch war, dass das Gerüstwort hille mehrfach und ausschließlich zur Bezeichnung von Odins-Heiligtümern benutzt wurde 50. Das zweite Bilddetail, das in diesem Zusammenhang Beachtung verdient, ist der Gegenstand in der erhobenen Hand der Figur in der Kaisernachfolge. Die Darstellung auf IK 51, 1 zeigt einen Gegenstand mit langem Griff und T-artigem Ende, von dessen Querbalkenabschlüssen zwei runde Gebilde symmetrisch herunterhängen ( Abb. 23 ). Der Vergleich mit frühmittelalterlichen Psalterillustrationen 51 ( Abb. 24 ) bewog Karl Hauck, diese Gebilde als tellerartige Becken aus Erz zu identifizieren 52. Diese Kym-
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nens Anteil ( wie Anm. 29 ) S. 118 f.; Wilhelm Heizmann, Fenriswolf, in: Ulrich Müller – Werner Wunderlich ( Hgg. ), Mittelalter Mythen 2: Dämonen, Monster, Fabelwesen, St. Gallen 1999, S. 229–255, hier S. 246. Reginsmál ( Einleitungsprosa ); Skáldskaparmál, Kap. 39; vgl. Hauck, Bildüberlieferung ( wie Anm. 40 ) S. 489. Locasenna ( Schlussprosa ); Gylfaginning, Kap. 50; vgl. Hauck, Drei-Götter-Amulett ( wie Anm. 40 ) S. 138 f.; Ders., Zentralort-Forschung ( wie Anm. 45 ) S. 77. Hauck, Bildüberlieferung ( wie Anm. 40 ) S. 485 ff.; Ders., Fünens Anteil ( wie Anm. 29 ) S. 143 f; Ders. u. a., Der Brakteat des Jahrhunderts. Über den einzigartigen zehnten Brakteaten aus Söderby in der Gemeinde Danmark, Uppland ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten LVIII ), in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 1–93, hier S. 41 ff.; Ders., Zentralort-Forschung ( wie Anm. 45 ) S. 72 ff., 85; vgl. John Kousgård Sørensen, Haupttypen sakraler Ortsnamen Südskandinaviens, in: Hauck, Der historische Horizont ( wie Anm. 9 ) S. 228–240, hier S. 231 f. Hier die Illustration des Stuttgartpsalter ( Der Stuttgarter Bilderpsalter Bibl. fol. 23, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, 1, Stuttgart 1965 ), einer Handschrift aus St. Germain-des-Prés ( um 820–830 ), fol. 84v zu Psalm 71, 20–72. Hauck, Kollierfund ( wie Anm. 30 ) S. 518.
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Wilhelm Heizmann
bala genannten Handgriffklappern begegnen im Süden u. a. im Zusammenhang mit den orgiastischen Kulten der Kybele und des Dionysos. Im Kontext der Drei-GötterBrakteaten wären diese als Rhythmus-Instrument zu verstehen, das erklingt, wenn Balder beim Schießspiel, das der Erprobung seiner Unverletzbarkeit dient, getroffen wurde 53. Zu überlegen wäre jedoch auch, ob dieser Gegenstand nicht auf ein Vexillum zurückzuführen ist, das verschiedene Kaiser in der einen Hand halten, vor allem auch vor dem Hintergrund, dass hier zugleich der Kaiser mit Victoria auf Globus mit Kranz und Palmzweig abgebildet ist ( Abb. 25 ). Zukünftiges Unheil wird auf anderen Stücken dieser Formularfamilie durch eine Untierattacke auf die Ferse Balders versinnbildlicht. Zugleich deutet der Tritt auf das Untier ( in der Nachfolge des oben genannten kaiserlichen Triumphgestus [ vgl. Abb. 22 ] ) an, dass dieser Angriff nicht ungesühnt bleiben wird ( Abb. 26a–c ). Nach Haucks Deutung 54, die ich hier nur referieren und nicht weiter ausführlich diskutieren kann, hätten wir auf den insgesamt sieben Modelbildern der Drei-GötterBrakteaten Zeugnisse eines Opferritus, der in einer ersten Phase mit einer Art von Unschuldskomödie – ein Begriff aus den griechischen Opferriten 55 – beginnt, mit der die Tötungshemmung der Götter-Gemeinschaft überspielt und beschwichtigt wird, um dann in der zweiten Phase mit dem blutigen Vollzug des Opfers zu enden. Je tiefer wir in die Bilderwelt der Goldbrakteaten vordringen und ihre Rätsel zu entschlüsseln vermögen, um so deutlicher tritt zutage, dass hier nicht nur Göttergestalten wie Ójinn, Balder, Tır, Loki und Frigg greifbar werden, sondern darüber hinaus auch die , um einen anschaulichen Terminus von Karl Hauck zu verwenden, zentraler Mythen der weit späteren nordischen Schriftüberlieferung. Während diese hochmittelalterliche Überlieferung jedoch vom pessimistischen Geist einer Endzeiterwartung durchdrungen ist 56, vermittelt die Ikonologie der Goldbrakteaten eine ungleich zuversichtlichere Weltsicht. Durchaus vergleichbar dem Kreuz als Kernsymbol der christlichen Religion 57, das ja nicht allein an den Kreuzestod Christi erinnert, sondern zugleich an seine Auferstehung und damit die grundsätzliche Möglich53 54
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Hauck, Zentralort-Forschung ( wie Anm. 45 ) S. 73. Hauck, Bildüberlieferung ( wie Anm. 40 ) S. 476 ff.; Ders., Fünens Anteil ( wie Anm. 29 ) S. 133 ff.; Ders., Kollierfund ( wie Anm. 30 ) S. 524 ff.; Ders., Zentralort-Forschung ( wie Anm. 45 ) S. 70 f., 81 ff. Walter Burkert, Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen ( Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 32 ) Berlin – New York 1972, S. 352; Ders., Anthropologie des religiösen Opfers. Zur Sakralisierung der Gewalt ( Carl Friedrich Siemens Stiftung, Themen 40 ) München 1983, S. 24. Zu dieser, ursprünglich von Sigurjur Nordal in die Vqlospá-Forschung eingeführten Sicht ( Völuspá. Hrsg. und kommentiert von Sigurjur Nordal. Aus dem Isländischen übersetzt [ … ] von Ommo Wilts [ Texte zur Forschung 33 ] Darmstadt 1980; isl. Original 1923 ), die in der neueren Forschung nicht unwidersprochen geblieben ist und dort gelegentlich sogar als <Wissenschaftslegende> deklariert wurde, vgl. die Diskussion bei Fritz Paul, Bericht und Vision. Überlegungen zur Verschiebung der Erzählperspektive in der Vqlospá, in: Armin Paul Frank – Ulrich Mölk ( Hgg. ), Frühe Formen mehrperspektivischen Erzählens von der Edda bis Flaubert. Ein Problemaufriß, Berlin, S. 1–16, hier zitiert nach Joachim Grage – Heinrich Detering – Wilhelm Heizmann – Lutz Rühling ( Hgg. ), Kleine Schriften zur nordischen Philologie von Fritz Paul ( Wiener Studien zur Skandinavistik 9 ) Wien 2003, S. 31–48, hier S. 34, Anm. 7. Die These einer um die Jahrtausendwende in Europa grassierenden Endzeiterwartung findet eine sachkundige und moderate Stütze in Johannes Fried, Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 45, 1989, S. 381–473. Vgl. Pesch, Charismatisches Königtum ( wie Anm. 16 ) S. 67.
Gold, Macht, Kult: Karl Haucks Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten
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keit der Überwindung des Todes vor Augen stellt, ist auch mit den Brakteatenbildern eine optimistische Botschaft verbunden. Alles in der völkerwanderungszeitlichen Brakteatenkunst läuft letztlich auf ein großes Thema, eine dominierende Botschaft hinaus: Den lebensbedrohenden Elementen des Chaos und des Todes steht die übermächtige Regenerationskraft eines Gottes entgegen 58. Sein Sieg garantiert den Bestand der kosmischen Ordnung und vermittelt Heilsgewissheit in unsicherer Zeit. Die Brakteatenreligion fügt sich damit nahtlos in entsprechende religiöse Strömungen im spätantiken Imperium: Sie ist in ihrem Wesen eine Auferstehungsreligion.
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Heizmann, Fenriswolf ( wie Anm. 47 ) S. 246 f.; Ders., Fauna ( wie Anm. 32 ) S. 39 f.
Fünfzig Jahre historische Sachforschung
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KARL HAUCK
Fünfzig Jahre historische Sachforschung. Das Vordringen in das ethnologische Europa Abschiedsvorlesung gehalten am 12. Februar 1982 * Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens. Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanze prahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt, weil sich niemand gern mit Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag. J. W. Goethe. Noten und Abhandlungen zum west-östlichen Divan. 1819. Dem Gedächtnis meiner beiden Brüder gewidmet, die von der Ostfront 1944 nicht mehr heimkehrten, Albert Hauck ( 1913–1944 ) und Ernst Hauck ( 1919–1944 ). Zugeeignet Erik Hornung in Basel als Dank für wertvolle Anregungen. Einführung, S. 25. – 1. Die zweieinhalb Jahrzehnte von 1928 bis 1954, S. 26. – 2. Die Durchbruchsjahre von 1954 bis 1964, S. 31. – 3. Die Entstehung von neuen Arbeitsbündnissen 1964 bis 1974, S. 33. – 4. Die Erntejahre von 1975 bis 1982, S. 36. – 5. Rückblick und Ausblick, S. 42.
EINFÜHRUNG
Der Augenblick des Abschiedes legt es nahe, über das Woher und Wohin eigener Bemühungen nachzudenken. Wenn dabei meine Arbeiten in erster Linie auf dem Feld der historischen Sachforschung als die wichtigsten angesehen werden, muß die Rede davon sein, wie diese mediaevistische Arbeitsrichtung entstanden ist. War doch vor ihrem Aufkommen die Zuständigkeit des Historikers meiner Zunftrichtung für die verschiedenen Gattungen schriftlicher Überlieferung das Selbstverständliche, und sind doch nunmehr Bestrebungen im Gang, im Bereich der Mediaevistik die historische Sachforschung einer neuen Disziplin wie der Mittelalter-Archäologie anzuvertrauen. Indem ich den Ertrag meines öffentlichen Wirkens in Münster seit dem Wintersemester 1959/60 mit dem Untertitel zusammenfasse: „Das Vordringen in das ethnologische Europa“, wird jedoch erklärt, daß die neue Disziplin keineswegs für diesen Bereich eigentlich zuständig sein kann. Das zu verstehen, wird erschwert durch die zwar * Dieser Beitrag erschien erstmals in: Evolution – Zeit – Geschichte – Philosophie. Universitätsvorträge ( Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 5 ) Münster 1982, S. 65–87. Zu den Gründen für den erneuten Abdruck vgl. den Nachruf auf Karl Hauck in diesem Band. Der Text blieb ( mit alter Rechtschreibung ) unverändert, die Anmerkungen wurden, soweit nötig, aktualisiert. Dem Verlag Aschendorff Münster sei auch an dieser Stelle für die freundlicherweise erteilte Genehmigung zum Wiederabdruck gedankt.
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Karl Hauck
von mir 1970 zuerst verwendete Bereichskennzeichnung, die sich bisher aber nicht eingebürgert hat. Vom ethnologischen Europa spreche ich aus drei Hauptgründen: Zunächst in Anlehnung an die ethnologische Terminologie von den schriftlosen Völkern, mag diese Formel auch ihre Probleme haben; dann in Zurückhaltung gegenüber der Verwendung von Altvölkernamen etwa zur nationalistischen Integration; und schließlich mit dem Blick auf die Rolle der Historie in der Einen Welt als ökumenische Geschichtswissenschaft, um diesen Begriff von Karl Dietrich Erdmann zu verwenden 1. Meine Ausführungen gliedern sich in fünf Abschnitte. In ihnen werden erörtert: 1. Die zweieinhalb Jahrzehnte von 1928 bis 1954, in die ebenso meine Lehrjahre wie die mich prägenden Leistungen meiner geistigen Väter wie auch eine beträchtliche Zahl bestimmender Begegnungen fallen; 2. die Durchbruchsjahre von 1954 bis 1964; 3. die Entstehung von neuen Arbeitsbündnissen 1964 bis 1974; 4. die Erntejahre von 1975 bis 1982. Schließlich folgt: 5. Rückblick und Ausblick. 1. DIE ZWEIEINHALB JAHRZEHNTE VON 1928 BIS 1954
Meine Eltern heirateten als die Kinder zweier Leipziger Universitätsprofessoren 1912 in der Stadt des Thomanerchores und des Reichsgerichts, in der ich von 1916 bis 1939 leben sollte. Von dem Vater meiner Mutter Joseph Partsch 2, der als klassischer Altertumswissenschaftler begann und sich dann als Geograph durchsetzte, habe ich etwa an seinen stets überfüllten Schreibtisch noch lebensvolle Erinnerungen, auch wenn er 1925 starb. Dagegen erlag mein Großvater Albert Hauck, der Kirchenhistoriker und Begründer einer christlich archäologischen Sammlung an der Universität Leipzig, bereits im April 1918 einem Herzleiden, eineinhalb Jahre nach meiner Geburt 3. Da 1920 seine Bibliothek verkauft wurde, blieb in der Großmutterwohnung sein Arbeitszimmer halb leer. Es war infolgedessen für meine beiden Brüder, die beide aus dem II. Weltkrieg nicht mehr heimkehrten, und mich ein herrlicher Spielplatz. Dort ließen 1
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Karl Dietrich Erdmann, Die Ökumene der Historiker. Rede des Präsidenten des Comité International des Sciences Historiques am 10. August 1980 zur Eröffnung des 15. Internationalen Historikerkongresses in Bukarest, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 31, 1980, S. 657–666; vgl. auch Theodor Schieder, Einheit von Forschung und Lehre? Ein Problem der deutschen Universität, in: Mitteilungen der Universität zu Köln. Universitätstage 1981, Sonderheft, S. 3–9, S. 8. Joseph Partsch, Aus fünfzig Jahren. Verlorene Schriften. Mit einer Biographie und vollständiger Bibliographie, hg. von H. Waldbaur, Breslau 1927; Albrecht Penck, Joseph Partsch und sein Lebenswerk, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1928, S. 81–98; Hermann Overbeck, Joseph Partschs Beitrag zur landeskundlichen Forschung. Zum 100. Geburtstag am 4. Juli 1951, in: Berichte zur Landeskunde 12, 1953, S. 34–56. Heinrich Böhmer, Albert Hauck, in: Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte 33, 1919, S. 1–78; Else Hauck, Zum 90. Geburtstag von Albert Hauck, den 9. Dez. 1935. Bibliographie, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 54, 1935, S. 565–575; Friedrich Hauck, Hauck, Albert, Kirchenhistoriker, 1845–1918 ( Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, 7. Reihe: Lebensläufe aus Franken 6 ) 1960, S. 219–228; Hans Dietrich Loock, Offenbarung und Geschichte. Untersuchungen am Werke Albert Haucks ( Theologische Forschung. 33. Veröffentlichung ) Hamburg – Bergstedt 1964; Hermann Heimpel, Art. , in: Neue Deutsche Biographie 8, Berlin 1969, S. 75 f.
Fünfzig Jahre historische Sachforschung
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wir die Zinnsoldatenheere aus der Kinderzeit meines Vaters und seiner Geschwister vom Kriege 1870/71 aufmarschieren. Als ich 1936 Abitur machte, war das von mir gewählte Geschichtsstudium durch einen totalen numerus clausus gesperrt, so daß ich freiwillig meinen Wehrdienst abzuleisten begann, ohne zu ahnen, daß ich so sieben Jahre Soldat sein würde. Den Zugang zur historischen Sachforschung eröffnete mir ein russischer Granatwerfer in Lazarett- und Rekonvaleszenzmonaten in Straßburg, wohin meine Leipziger Lehrer Hermann Heimpel und Walter Stach berufen worden waren. Allerdings war ihre Arbeitsrichtung historisch-philologisch, aber unter ihren Kollegen war der Kunsthistoriker Hubert Schrade und der Frühgeschichtler Joachim Werner. Letzterer war erst 1939 mit seinem Buch über die beiden Zierscheiben des Thorsberger Moorfundes, also einem Werk religionshistorisch interessierter Frühgeschichte, habilitiert worden 4. Durch Werner erfuhr ich schon damals von der Entdekkung der ostanglischen Königsgrablege in Sutton Hoo während der letzten Wochen vor Kriegsausbruch 1939. In den Bann von Hubert Schrade geriet ich durch seine Vorlesung über die Entstehung des Menschenbildes im Mittelalter sowie durch meine Teilnahme an seiner exemplarischen Exkursion nach Mainz, Speyer, Worms und Hirsau. Daß die Bedeutung Schrades als Ikonograph auch mit seiner Mitwirkung an den Vorträgen der Bibliothek Warburg vor 1930 zusammenhing 5, verstand ich erst ganz, als mir der Hamburger Percy Ernst Schramm ( 1894–1970 ) in Göttingen begegnete. Schramm hatte die für Mediaevisten neue Forschungsrichtung eröffnet mit seinem Werk „Die deutschen Kaiser und Könige in Bildern ihrer Zeit. I. Teil bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts“ ( 751–1152 ), mit dem die Reihe: „Die Entwicklung des menschlichen Bildes“ im Leipziger Institut für Kultur und Universalgeschichte anfing 6. Der weitesten Öffentlichkeit war Schramm durch die Führung des Kriegstagebuchs im Wehrmachtführungsstab bekannt geworden in seiner Funktion als „Notar der deutschen Katastrophe“ 7. Mag es 1945 vielen überhaupt nach dem Ende der Geschichte ausgesehen haben, Schramms Hinwendung zur historischen Sachforschung eröffnete einen neuen Zugang zur Verankerung der Staatlichkeit des Mittelalters im Religiösen sowie einen Zuversicht verbreitenden Optimismus bei der Würdigung der Herrschaftszeichen des mittelalterlichen Deutschland. Denn beim Vergleich der erhaltenen Kronen, Throne, Szepter, Herrschermäntel in den einzelnen europäischen Ländern stellte sich heraus: „Am allerbesten ist Deutschland gefahren … Da der Besitz der rechtmäßigen Insignien der beste Ausweis für die Rechtmäßigkeit eines neuen Hauses 4
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Joachim Werner, Die beiden Zierscheiben des Thorsberger Moores ( Römisch-Germanische Forschungen 16 ) Berlin 1941; vgl. auch Georg Kossack – Günter Ulbert ( Hgg. ), Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie. Festschrift für Joachim Werner zum 65. Geburtstag ( Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte. Ergänzungsband 1, I ) München 1974, Schriftenverzeichnis Joachim Werner, S. XIII–XXI. Donat de Chapeaurouge, Verzeichnis der Veröffentlichungen von Hubert Schrade, in: Hans Fegers ( Hg. ), Das Werk des Künstlers. Studien zur Ikonographie und Formengeschichte. Hubert Schrade zum 60. Geburtstag dargebracht, Stuttgart 1960, S. 363–366; vgl. auch Dens., Wandel und Konstanz in der Bedeutung entlehnter Motive, Wiesbaden 1974, S. 8 ff. Annelies Ritter, Veröffentlichungen von Prof. Dr. P. E. Schramm, in: Peter Classen – Peter Scheibert ( Hgg. ), Festschrift Percy Ernst Schramm zu seinem siebzigsten Geburtstag von Schülern und Freunden zugeeignet, Wiesbaden 1964, 2, S. 288–32, S. 293 Nr. 33. Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht ( Wehrmachtsführungsstab ) 4, 1: 1. Januar 1944 – 22. Mai 1945. Eingeleitet und erläutert von Percy Ernst Schramm, Frankfurt am Main 1961, S. VI.
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war, hat gerade dieser Umstand dazu beigetragen, daß in deutschem Besitz sich soviel erhalten hat … mehr als das ganze übrige Europa besitzt.“ 8 Schramms Aufforderung, am 1. Band von seinem Werk „Herrschaftszeichen und Staatssymbolik“ mitzuwirken, entschied meine Hinwendung zur historischen Sachforschung 9. Auf diese Weise wurde ich zugleich zu einem der geistigen Enkel von Aby Warburg ( 1866–1929 ). Hatte doch Schramm nicht bloß drei Bücher Warburg noch zu dessen Lebzeiten gewidmet. Vielmehr bekundete Schramm am Dreikönigstag 1956 am Ende des Vorworts zu seinem 3. Band: „Blicke ich zurück, so steht mir vor Augen, wie sehr die Untersuchungen, die ich in diesen drei Bänden vorlege, im Zusammenhang mit den Forschungen stehen, mit denen ich meine wissenschaftliche Laufbahn begonnen habe, und wie sehr diese wieder von den Anregungen zehrten, die ich in meinen Primaner- und Studentenjahren von ABY WARBURG empfing … Er weilt schon lange nicht mehr unter uns; aber ihm sei jetzt noch einmal gedankt.“ 10 Die geistige Ausstrahlung von Aby Warburg wurde für mich in dreierlei Weise bedeutsam. a ) Zwar hatte Warburg am intensivsten mit der Kunstgeschichte von Florenz gearbeitet, aber durch seinen Besuch bei den Indianern in Neumexiko 1895/1896 lernte er, „die europäische Geschichte mit den Augen eines Anthropologen zu sehen …“ 11. „Es war eine Reise zu den Archetypen.“ Bei ihr ging es gemäß der Usenerschen Richtung der Religionsgeschichtsforschung um den Versuch, die vorchristliche Antike „mit Hilfe noch existenten Heidentums zu begreifen“ 12. b ) Wollte Warburg, wie er selbst 1912 bei seinem vielleicht berühmtesten Vortrag formulierte, „den weltgeschichtlichen Rundblick“. „Die Auflösung eines Bilderrätsels … war selbstverständlich nicht Selbstzweck … Ich wollte mir ein Plaidoyer erlauben zugunsten einer methodischen Grenzerweiterung unserer Kunstwissenschaft … Ich hoffe … gezeigt zu haben, daß eine ikonologische Analyse … die großen 8
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Percy Ernst Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert, I ( Schriften der MGH 13 ) Stuttgart 1954, S. 2. Ebd. S. 145–212: Karl Hauck, Halsring und Ahnenstab als herrscherliche Würdezeichen. Ebd. 3, Stuttgart 1956, S. X; vgl. auch Percy Ernst Schramm, Erwin Panofsky, in: Orden Pour Le Mérite für Wissenschaften und Künste. Reden und Gedenkworte, Achter Band, Heidelberg 1967, S. 211–217; ebd. S. 216 f. erwähnt Schramm die Aushändigung von einigen „Seiten über … Aby Warburg aus einem noch nicht abgeschlossenen Buch“ unter den „Aufzeichnungen über Männer, die uns beiden etwas bedeutet haben“. Vgl. auch Hermann Heimpel, Symbolische Formen und Kriegstagebuch. Percy Ernst Schramm. Der Forscher und Mitmensch, in: Nachrichten Nummer 269, Donnerstag, den 19. November 1970, sowie Hans Rothfels, Percy Ernst Schramm, in: Orden Pour Le Mérite … Zehnter Band, 1970/71, S. 111–119. Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. An Intellectual Biography, London 1970, S. 88–92, danach wird immer zitiert; vgl. jedoch nunmehr auch die deutsche Übersetzung von Matthias Fienbork, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie ( Europäische Bibliothek 12 ) Frankfurt am Main 1981; Fritz Saxl, Warburgs Besuch in Neu-Mexico, in: Dieter Wuttke ( Hg. ), Aby M. Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen ( Saecula Spiritualia 1 ) Baden-Baden 1979, S. 317–322, S. 317. Vgl. auch Stephan Füssel ( Hg. ), Mnemosyne. Beiträge zum 50. Todestag von Aby M. Warburg, Göttingen 1979; Hans Kurig, Aby Warburg. Zur Ausstellung seiner Schriften in der Bibliothek des Johanneums, in: Philobiblon 24, 1980, S. 2–16; Werner Hofmann – Georg Syamken – Martin Warnke, Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt am Main 1980; Georg Syamken, Warburgs Umwege als Hermeneutik More Majorum, in: Jahrbücher der Hamburger Kunstsammlung 25, 1980, S. 15–26, freundlicher Hinweis von Uwe Lobbedey. Saxl ( wie Anm. 11 ) S. 318.
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allgemeinen Entwicklungsvorgänge in ihrem Zusammenhange beleuchtet.“ Ja, Warburg konnte damals in Passagen, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, die „Unverantwortlichkeit …, die durch den mangelnden Willen zu universalgeschichtlicher Verwertung des künstlerischen Materials zu erklären ist“, angreifen 13. c ) Vor dem Kuratorium der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg erklärte demgemäß ihr Schöpfer 1929, sie könne „in dem noch ungeschriebenen Handbuch der Selbsterziehung des Menschengeschlechtes … [ als ] ein Kapitel … den Titel haben: ‚Von der mythisch-fürchtenden zur wissenschaftlich-errechnenden Orientierung des Menschen sich selbst und dem Kosmos gegenüber‘“ 14. Im gleichen Jahr 1953/54, in dem von den „Herrschaftszeichen“ Band 1 erschien, veröffentlichte Hermann Heimpel den Essayband: „Der Mensch in seiner Gegenwart“ 15. Angesichts von Schramms Durchleuchtung der Ikonographie der Reichskrone in Wien sah ich, daß es noch keine Entzifferung der vorchristlichen Helmbilder auf den Kammhelmen des Nordens gab, obwohl sie sich wie die Krone vom konstantinischen Kaiserhelm herleiteten 16. Das war das Problem, mit dem ich für die historische Sachforschung Feuer fing. Sollte es selbst in einer schriftlosen Umwelt aus ihrem Sagenecho noch möglich sein, dem Warburgschen Motto gemäß „das Wort zum Bild“ zu finden? 17 Würden wir als Historiker jemals zu der vorchristlichen Gegenwart vordringen? Sollte nicht dennoch Ähnliches gelingen, wie es jetzt bei dem Programm der Wiener Reichskrone erreicht war, sich den biblischen Leitbildern der deutschen Herrscher zu nähern, an den Helmdarstellungen die bildgewordenen Lebensnormen der vorchristlichen Führungsschicht zu erkennen? Eine solche Aufgabe nicht von vorneherein mit Resignation anzusehen, lehrte mich das damals bereits großartige, vielschichtige Oeuvre von Andreas Alföldi ( 1895–1981 ), dessen Todestag sich heute am 12. Februar 1982 erstmals jährt 18. Für einen Althistoriker war schon länger historische Sachforschung viel selbstverständlicher als für einen Mittelalterhistoriker. Infolgedessen war Alföldi mit zahlreichen Arbeiten zur Symbolik und den Insignien der Kaiserzeit längst vor dem Schrammschen Herrschaftszeichenwerk vor die Öffentlichkeit ge13
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Aby Warburg, Gesammelte Schriften, hg. von der Bibliothek Warburg. Unter Mitarbeit von Fritz Rougemont hg. von Gertrud Bing: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, 2, Leipzig – Berlin 1932, S. 478 f.; vgl. auch William S. Heckscher, Die Genesis der Ikonologie, in: Ekkehard Kaemmerling ( Hg. ), Bildende Kunst als Zeichensystem I: Ikonographie und Ikonologie ( Dumont Taschenbücher 83 ) Köln 1979, S. 112–164, S. 135; Gombrich ( wie Anm. 11 ) S. 192 ff., 312 f. Aby Warburg, Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, in: Wuttke ( wie Anm. 11 ) S. 307. Hermann Heimpel, Der Mensch in seiner Gegenwart. Sieben historische Essays, Göttingen 1954. Schramm ( wie Anm. 8 ) I, S. 104, 137, 243; 2, Stuttgart 1955, S. 382 ff., 389 ff.; 3, 1956, S. 894: bei der Erörterung der nach Polen verschlagenen staufischen Kronen mit ihren Kampf und Jagdszenen heißt es da: „Vergleichbares finden wir nur an den germanischen Helmen …, aber auf deren Reliefplatten sind mythologische Vorgänge dargestellt, die in der Form der Bildanalogie auf den Träger bezogen wurden, während jene Szenen auf den staufischen Kronen Zier und nichts als Zier sind.“ Zur Herleitung der Kammhelme s. jetzt auch Rupert Bruce-Mitford, The Sutton Hoo Ship-Burial 2: Arms, Armour and Regalia, London 1978, S. 220 ff. – Zum Grundsätzlichen Erik Hornung, Die Tragweite der Bilder. Altägyptische Bildaussagen, in: Eranosjahrbuch 48, 1979, S. 183–237, bes. S. 209 ff. Ernst Gombrich, Aby Warburg zum Gedenken, in: Wuttke ( wie Anm. 11 ) S. 465–477, S. 470; vgl. auch Dens. ( wie Anm. 11 ) S. 56 ff., 60 ff. Maria Radnoti-Alföldi, Nekrolog: Andreas Alföldi ( 1895–1981 ), in: Historische Zeitschrift 233, 1981, S. 781–786. Vgl. auch Orden Pour Le Mérite ( wie Anm. 10 ) 11, Heidelberg 1972/73, S. 150.
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treten 19. Zugleich aber interessierte sich Alföldi ein Leben lang produktiv auch für schriftlose Kulturen wie die der Steppenvölker 20. Das veranschaulichen so anregende Untersuchungen wie die zu den hochasiatischen Kulturen 21 mit ihrer Weltbetrachtung, die im Bann der den Menschen überlegenen Tiere steht 22. Die Chancen für mein Vorhaben förderte weiter die Begegnung mit Otto Höfler auf der Passauer Volkskundetagung 1952 wegen seines Leitinteresses am typologischen und völkerkundlichen Vergleich 23. Und nicht zuletzt ist zu erwähnen, daß mich im Nachsommer 1953 der große schwedische Archäologe Sune Lindqvist ( 1887–1976 ) selbst durch das Universitätsmuseum in Uppsala führte. Obwohl es ein lichter Sommertag war, hatte er seine Stablampe bei sich, mit deren Schräglicht er etwa Bildsteine leichter zu lesen vermochte, obschon es jetzt nur darum ging, das eine oder andere Fundstück in den Vitrinen heller zu beleuchten. Dort sah ich das Fundgut der Aristokratengräber von Valsgärde, Kirchspiel Altuppsala, die zwar seit 1929 ausgegraben worden waren, von deren Kammhelmen aber damals erst nur zwei veröffentlicht waren 24. Da warteten also neue Monumente auf eine Auswertung, die für die Rolle von Altuppsala als sakrales Zentrum der Vendelkultur die religionsgeschichtliche Aufmerksamkeit und Vorbildung mitbrachte 25. Die Tatsache, daß ich seit einigen Jahren Privatdozent für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Erlangen war, behinderten solche Pläne nicht. Vielmehr förderte sie der Austausch mit dem dorthin aus Wien neuberufenen Kunsthistoriker Karl Oettinger ( 1906–1979 ), mit dem Gräzisten Reinhold Merkelbach, den Althistorikern Helmut Berve ( 1896–1979 ) und Johannes Straub sowie dem Mittelalterhistoriker Heinz Löwe. In meinen Hauptseminaren begegneten mir damals Edmund Buchner, heute Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts, und Walter Burkert, heute Gräzist und Religionswissenschaftler in Zürich. Auch entstanden auf 19
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Geza Alföldy – L. Weber, Bibliographie von Andreas Alföldi ( Stand 1. Juli 1966 ), in: Bonner Historia-Augusta-Colloquium 1964/65. Antiquitas. Reihe 4: Beiträge zur Historia-Augusta-Forschung 3, Bonn 1966, S. XIII–XXVIII, S. XVI. Ebd. S. XXIV f. Ebd. Nr. 197. Andreas Alföldi, Die Struktur des voretruskischen Römerstaates ( Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften. NF I. Reihe 5 ) Heidelberg 1974, S. 9 ff., 27 ff. Otto Gschwantler, Verzeichnis der Schriften Otto Höflers, in: Festschrift für Otto Höfler zum 65. Geburtstag, 2, Wien 1968, S. 519–523, S. 521 zu 1955: Germanistik und Völkerkunde; vgl. auch Otto Höfler, Vorbemerkung, in: Leopold Hellmuth, Die germanische Blutsbrüderschaft ( Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 7 ) Wien 1975, S. X–XIX; Ders., Über somatische, psychische und kulturelle Homologie. Vererbung und Erneuerung, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philos. Hist. Klasse. Sitzungsberichte, 366, = Homologie. Studien zur germ. Kulturmorphologie Nr. I, Wien 1980, S. 3–55. Sune Lindqvist. Tryckta Skrifter, 1909–1962, hg. von Marten Stenberger, Uppsala 1962; Sune Lindqvist, 80 år, in: Tor 11, 1965/66, S. 5–8; Sune Lindqvist, En hjälm från Valsgärde, in: Uppsala Universitets Arsskrift. Program 3, 1931, S. 1–21; Ders., Vendeltime finds from Valsgärde, in: Acta Archaeologica 3, 1932, S. 21–46, S. 25 ff.; Greta Arwidsson, Die Gräberfunde von Valsgärde, 1: Valsgärde 6 ( Acta Musei Antiquitatum Septentrionalium Regiae Universitatis Upsaliensis 1, ed. Sune Lindqvist ) Uppsala 1942, S. 26 ff. Greta Arwidsson, Die Gräberfunde von Valsgärde, 3: Valsgärde 7 ( Acta Musei Antiquitatum Septentrionalium Regiae Universitatis Upsaliensis, 5, ed. Bertil Almgren ) Uppsala 1977, S. 125: „Die Diskussionen der Philologen und Religionsforscher über diese Probleme und ihre auf Grund eines andersartigen Primäranteils gewonnenen Resultate habe ich bewußt beiseite gelassen, da mir auf diesem großen und oftmals schwer zu überblickenden Forschungsgebiet die genügende Schulung fehlt.“
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dem Felde der historischen Sachforschung die von mir betreuten Arbeiten von Lotte Kurras zum Krakauer Kronenkreuz und von Hugo Steger, dem jetzt Freiburger Philologen, zu David rex et propheta. Heinz Löwe hatte den Mut, meine religionsgeschichtliche Auswertung der Regalia von Sutton Hoo zu drucken, obwohl ihr richtiger Ansatz erst überzeugte, als von den Numismatikern nach 1960 die Münzfunde auf um 625 vordatiert wurden 26. 2. DIE DURCHBRUCHSJAHRE VON 1954 BIS 1964
Im März 1938 hielt Theodor Frings in Amsterdam einen Vortrag mit dem Thema „Europäische Heldendichtung.“ Diese souveräne Skizze, die französische, spanische, deutsche und slavische Überlieferungen vergleichend würdigte, erschien 1939 im Groninger Neophilologus 27. Sie gehörte für mich als Fringshörer in Leipzig zu den Anstößen, mich im fränkisch-deutschen Früh- und Hochmittelalter mit dem spannungsreichen Problem Laienadel und Schriftkultur zu befassen. Wurden doch im mittelalterlichen Deutschland bis ins 12. Jahrhundert in der Regel nur diejenigen Dynasten, die Anwärter auf das Erbe eines Königstitels waren, im Lesen und Schreiben ausgebildet und das bedeutete damals das Vertrautwerden mit der lateinischen Schriftsprache. Am umfassendsten bin ich dieser Problematik nachgegangen, als ich an Stelle meines Lehrers Stach 1953/54 in Stammlers Aufriß der Deutschen Philologie die Mittellateinische Literatur bis an die Wende zum 13. Jahrhundert skizzierte 28. Jedoch leistete ich der Aufforderung, die mittellateinische Literatur nunmehr umfassender im ganzen darzustellen, keine Folge, sondern wandte mich entschieden der historischen Sachforschung zu und damit meinem Problem der Bildprogramme der Kammhelme des Nordens. Das Vorhaben nahm Gestalt im Austausch mit Joachim Werner an, seither in München, der mich mit den Anforderungen der Editionsarchäologie vertraut machte 29. Ich kannte so alsbald die Helmoriginale in London, Stockholm und in Uppsala und besaß von den Helmbildblechen aus Vendel und Valsgärde 8 Abformungen. Allerdings kamen diese Studien deswegen nicht wirklich voran, weil man erst die Veröffentlichung des reichsten Programms aus dem Grab Valsgärde 7 abwarten mußte. Sie erschien 1977, also zwanzig Jahre später 30, und ihr folgte dann 1978 die Publikation des Königshelms von Sutton Hoo 31. Bereits Mitte der 50er Jahre hatte ich zugleich mit einer intensiveren Auswertung der älteren gotländischen Bildsteine erstmals mit Latexabklatschen begonnen. Aber auch dieser Anlauf geriet trotz seiner Förderung durch ein technisches und ikonographisches Kolloquium im neuen Max26
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Karl Hauck, Herrschaftszeichen eines wodanistischen Königtums, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 14, 1954 = Festgabe Anton Ernstberger, S. 9–66. Theodor Frings, Europäische Heldendichtung, in: Neophilologus 24, 1939, S. 1–29. Karl Hauck, Mittellateinische Literatur, in: Wolfgang Stammler ( Hg. ), Deutsche Philologie im Aufriß, Berlin – Bielefeld 1954, Sp. 1841–1904; überarbeitete 2. Aufl., Berlin 1960, Sp. 2555–2624; Nachdruck der Einleitung in: Joachim Bumke ( Hg. ), Literarisches Mäzenatentum. Ausgewählte Forschungen zur Rolle des Gönners und Auftraggebers in der mittelalterlichen Literatur ( Wege der Forschung 598 ) Darmstadt 1982, S. 68–83. Kossack – Ulbert ( wie Anm. 4 ) S. XXII–XXIV. S. oben Anm. 25. S. oben Anm. 16.
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Planck-Institut für Geschichte in Göttingen 1957 ins Stocken 32. Stellte sich doch heraus, daß die wünschenswerte verbesserte Objektivierung und Vervollkommnung der Lesungen nur an den Originalen mit einem Expeditionsteam zu leisten sein würde 33. Da mir nunmehr seit Januar 1958 der in Erlangen neu errichtete Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte anvertraut wurde, erhielt ein anderes Thema der historischen Sachüberlieferung ohnehin die Priorität: die vom Göttinger MaxPlanck-Institut mit Hermann Heimpel als erstem Direktor vorangetriebene und neuorganisierte Pfalzenforschung 34. Als fränkischer Landeshistoriker nahm ich sie mit Vorträgen und Kolloquien, die sich zuerst im Verbund der zusammenwirkenden Fächer des Instituts für Fränkische Landesgeschichte mit Fragen der Pfalzen Würzburg und Forchheim sowie Bamberg und Nürnberg beschäftigten, in Angriff 35. Aus diesen Bemühungen ging später dann meine weiter ausgreifende Studie zum l. Band der Beiträge zur historischen und archäologischen Erforschung der deutschen Königspfalzen hervor mit dem Titel „Tiergärten im Pfalzbereich“ 36. Als die Studie 1963 erschien, war ich schon seit vier Jahren der Nachfolger von Herbert Grundmann in Münster geworden, da ich 1959 den gleichzeitig erhaltenen Ruf für Germanische Altertumskunde in München nicht annahm. Während nun das Max-Planck-Institut für Geschichte seit der Versuchsgrabung 1957 auch die archäologische Erforschung der Pfalz Grone bei Göttingen vorantrieb 37, hatte seit 1963 unter Federführung des Landesdenkmalamtes in Münster die Ausgrabung der Pfalz Paderborn an der Nordseite des dortigen Domes begonnen, die von Wilhelm Winkelmann mit ungewöhnlichen Erfolgen weitergeführt wurde 38. Zusammen mit Manfred Balzer 39 und Ursula 32
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Über den technischen Teil erschien der Bericht: Colloquium des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, in: Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1958, S. 114–117. Es müßten vor allem die reicheren Programme mit Serien von Detailaufnahmen erfaßt werden, wenn man eine Objektivierung anstrebt. Diese leider aufwendige, aber unumgänglich notwendige Arbeit wurde weder ins Auge gefaßt bei Karl Hauck, Germanische Bilddenkmäler des frühen Mittelalters, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31, 1957, S. 349–379, noch bei Erik Nylién – Jan Peder Lamm, Bildsteine auf Gotland, Neumünster 1981. Hermann Heimpel, Vorbemerkung, in: Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, 1 ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 11, 1 ) Göttingen 1963, S. IX f. Vgl. die Beiträge von Karl Bosl, Martin Förtsch – Harald Wunder sowie Karl Hauck, Gerhard Pfeiffer, Fritz Schnelbögl, Walter Alexander Schnitzer, Martin Spälter, Helmut Weigel – Gerd Zimmermann sowie die Erörterung der Vergleichshorizonte von Josef Poulik, Karl Oettinger – Siegfried Beyschlag in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 19, 1959. Deutsche Königspfalzen, 1 ( wie Anm. 34 ) S. 30–74; vgl. auch Karl Hauck, Die Ottonen und Aachen, in: Wolfgang Braunfels – Percy Ernst Schramm ( Hgg. ), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, 4: Das Nachleben, Düsseldorf 1967, S. 39–53. Deutsche Königspfalzen ( wie Anm. 34 ) 2, Göttingen 1965, bes. S. 70–139. Karl Hauck, Laudatio für Wilhelm Winkelmann anläßlich der Verleihung des Kulturpreises der Stadt Paderborn zu Libori 1973, Paderborn 1973, S. 16 ff. ( Bibliographie W. Winkelmann ). Karl Hauck, Die fränkisch-deutsche Monarchie und der Weserraum, in: Kunst und Kultur im Weserraum 800–1600, 1: Beiträge zu Geschichte und Kunst, Corvey 1966, S. 97–121; um einen „Nachtrag 1968“ ergänzter Neudruck in: Walther Lammers ( Hg. ), Die Eingliederung der Sachsen in das Frankenreich ( Wege der Forschung 185 ) Darmstadt 1970, S. 416–450; Ders., Paderborn, das Zentrum von Karls Sachsenmission 777, in: Josef Fleckenstein – Karl Schmid ( Hgg. ), Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht, Freiburg – Basel – Wien 1968, S. 92–140; Manfred Bal-
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Hoppe 40 beteiligte ich mich an der Neuauswertung der einschlägigen historischen Überlieferungen 41. Als mir nach dem Weggang von Gerd Tellenbach nach Rom 1963/64 sein Freiburger Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte sowie die Leitung des Instituts für Oberrheinische Landesgeschichte angeboten wurde, entschied ich mich schließlich entgegen meinen anfänglichen Erwartungen zum Bleiben in Münster. War doch die damalige Fakultät und das Ministerium in Düsseldorf auf meine Vorschläge eingegangen, nach dem Modell der Fächerkooperation in den landesgeschichtlichen Instituten die Frühmittelalterforschung mit einer interdisziplinären Institutsgründung zu fördern 42. 3. DIE ENTSTEHUNG VON NEUEN ARBEITSBÜNDNISSEN 1964 BIS 1974
Dieser Keim zur Mittelalterforschung im Verbund wuchs deswegen wider Erwarten kräftig, weil im gleichen Jahr 1964 die Deutsche Forschungsgemeinschaft wegen des Rückstands der deutschen Forschung im internationalen Vergleich Alarm schlug. Infolgedessen kam es dann 1967 zur Empfehlung des Wissenschaftsrates, Sonderforschungsbereiche zu bilden, um die Forschung an den Universitäten zu beleben 43. Auf welche günstige Konstellation derartige Wünsche in Münster trafen, spiegelt der Bericht von unserem 1. Frühmittelalterkolloquium Ende April 1966 im 1. Band der neuen „Frühmittelalterlichen Studien“ 1967 44 sowie der Druck jener Vorträge in den ersten beiden Bänden jenes Jahrbuchs 45. Es wirkten nunmehr zusammen mit der bereits bestehenden Frühmittelaltergruppe Karl Schmid, der aus Freiburg zu uns kam, und Friedrich Ohly, der aus Kiel nach Münster übersiedelte. Das aber bedeutete, daß in den Verbund, der 1967 als erster geisteswissenschaftlicher Sonderforschungsbereich überhaupt konstituiert wurde, die historische Personenforschung des Freiburger Arbeitskreises 46 und die mittelalterliche Bedeutungsforschung mit der Blickrichtung auf den
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zer, Untersuchungen zur Geschichte des Grundbesitzes in der Paderborner Feldmark ( Münstersche Mittelalter-Schriften 29 ) München 1977; Ders., Paderborn als karolingischer Pfalzort, in: Deutsche Königspfalzen ( wie Anm. 34 ) 3, Göttingen 1979, S. 9–85. Ursula Hoppe, Die Paderborner Domfreiheit. Untersuchungen zu Topographie, Besitzgeschichte und Funktionen ( Münstersche Mittelalter-Schriften 23 ) München 1975. Gunter Müller, Der Name der Stadt Paderborn, in: Festschrift Paderborn 777–1977; Manfred Balzer, Die wirtschaftlichen Grundlagen der Paderborner Königspfalz; Karl Hauck, Der Taufort Paderborn 777 und das Carmen de Conversione Saxonum – die in dieser Anmerkung genannten Beiträge lagen im Manuskript vor für die „Festschrift Paderborn 777–1977“, die aber nicht erschienen ist. Zum unkonventionell weit gefaßten Begriff vgl. Karl Hauck, Das Frühmittelalter-Kolloquium vom 28. – 30. April 1966 in Münster/W., in: Frühmittelalterliche Studien 1, 1967, S. 1 und 2, S. 1. Schieder ( wie Anm. 1 ) S. 6, 8. Hauck ( wie Anm. 42 ) a.a.O. In Frühmittelalterliche Studien 1, 1967, erschienen die Vorträge von Hans Belting, Victor H. Elbern, Karl Hauck, Johannes Karayannopulos, Karl Schmid – Joachim Wollasch; in Frühmittelalterliche Studien 2, 1968, die Vorträge von Hugo Borger, Friedrich Ohly, Rudolf Schützeichel; dagegen nicht, so daß die Ankündigung unverwirklicht blieb, der Vortrag von Wilhelm Winkelmann. Obwohl er auch an dem Kolloquium 1967 mitwirkte, konnte erst der Beitrag zu dem Kolloquium von 1969, Wilhelm Winkelmann, Die Königspfalz und die Bischofspfalz des 11. und 12. Jahrhunderts in Paderborn, in: Frühmittelalterliche Studien 4, 1970, S. 398–415, gedruckt werden. S. dazu die Münstersche Antrittsvorlesung vom 15. 1. 1966 von Karl Schmid, Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 1, 1967, S. 225–249,
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geistigen Sinn einbezogen werden konnten 47. Erst durch diese Erweiterungen wurden die großen Neulandregionen vollständiger abgesteckt, deren vielfältige Erschließung mit Elan und Ausdauer begann, obwohl auch unserer Universität die Verunsicherung als Institution seit den Ereignissen von 1968 nicht erspart blieb. Welche Rolle der historischen Sachforschung in diesem Bündnis zukam, ließ sich zunächst an dem großen Anteil der Paderbornproblematik in der Sicht der verschiedenen Fächer sowie etwa an der Diskussion über das Runen- und Bilderkästchen von Auzon ermessen, das antike, christliche und germanische Traditionen vereinigt 48, später aber vor allem an dem neuen Teilprojekt historisch-philologische Bezeichnungsforschung 49. Zugleich fing ich seit 1967 an, die Ikonologie der unenträtselten Goldbrakteaten vor allem Südskandinaviens im 5. und 6. Jahrhundert zu meinem Forschungsthema zu machen. Das Gold bot die Amulettbilder in der Regel in guter Erhaltung und Lesbarkeit. Auch war es bei einer zahlenmäßig so bedeutenden Denkmälergruppe noch am aussichtsreichsten, zu einer den Befunden angepaßten Methodik zu kommen, statt weiter wie bisher Impressionen zu variieren. Kennen wir doch über 800 solcher goldenen Bildamulette aus den Jahrhunderten Attilas und Justinians, aber nur 250 Runeninschriften vom 2. bis zum 8. Jahrhundert 50. Wie ein solcher Neubeginn nicht die Weiterführung älterer Probleme ausschloß, sei damit veranschaulicht, daß P. E. Schramm in Münster noch am Beginn seines Todesjahres 1970 eine erste Übersicht über die Untersuchungsergebnisse des durch seine Initiativen zugänglich gewordenen Throns Karls des Kahlen vortrug, der in Rom als cathedra Petri verehrt wird 51.
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und die Freiburger Antrittsvorlesung vom 9. 7. 1973: Ders., Programmatisches zur Erforschung der mittelalterlichen Personen und Personengruppen, in: Frühmittelalterliche Studien 8, 1974, S. 116–130, sowie den Bewerbungsvortrag vom 19. 10. 1973 von Joachim Wollasch, Gemeinschaftsbewußtsein und soziale Leistung im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, S. 268–286, und nicht zuletzt Karl Schmid – Joachim Wollasch, Societas et Fraternitas. Begründung eines kommentierten Quellenwerkes zur Erforschung der Personen und Personengruppen des Mittelalters, Berlin – New York 1975; auch in: Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, S. 1–48. Friedrich Ohly, Der Münsterer Sonderforschungsbereich „Mittelalter- und Renaissanceforschung“, in: Frühmittelalterliche Studien 2, 1968, S. 422–424; Ders., Schriften zur Mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977; vgl. auch Hans Fromm – Wolfgang Harms – Uwe Ruberg, Friedrich Ohly, in: Verbum et Signum 1, Beiträge zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, München 1975, S. 9–14, sowie das Schriftenverzeichnis Friedrich Ohly ebd. S. 15 f. S. oben Anm. 38 bis 41 sowie die Beiträge von Karl Hauck in: Frühmittelalterliche Studien 2,1968, S. 415 ff. sowie 10, 1976, S. 362 ff. und von Hilda R. Ellis Davidsson – Alfred Wolf in: Frühmittelalterliche Studien 3, 1969, zum Kästchen. Die im Teilprojekt E des SFB 7 integrierte historisch-philologische Bezeichnungsforschung unter der Leitung von Ruth Schmidt-Wiegand trat zuerst mit den Beiträgen von Thorsten Andersson, Kurt Baldinger, Wolfgang Kleiber, Ruth Schmidt-Wiegand, Clausdieter Schott und Herwig Wolfram in: Frühmittelalterliche Studien 13, 1979, hervor; dann mit dem Band: Ruth Schmidt-Wiegand ( Hg. ), Wörter und Sachen im Lichte der Bezeichnungsforschung ( Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 1 ) Berlin – New York 1981. Alle diese Studien entstanden im Zusammenhang mit dem vom Teilprojekt E vorbereiteten Münsterschen Kolloquium 1977. Karl Hauck, Germanische Bildtradition im christlichen Mittelalter ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XXII ), in: Frühmittelalterliche Studien 15, 1981, S. 1–8, S. 4. Percy Ernst Schramm, Der in St. Peter in: Orden Pour Le Mérite … ( wie Anm. 10 ) Neunter Band 1968/69, S. 155–172; Ders., Kaiser, Könige und Päpste 4, 1, Stuttgart 1970, S. 113–122; vgl. auch Nikolaus Gussone – Nikolaus Staubach, Zu Motivkreis und Sinngehalt der Cathedra Petri, in: Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, S. 334–358.
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In einer diesem Gegenstand angemessenen Weise wurde vor allem die geschriebene zeitgenössische Überlieferung demgemäß im Lauf von zehn Jahren in Nikolaus Staubachs Buch neu durchgearbeitet, dessen 1. Teil als Münsterscher Dissertationsdruck eben vervielfältigt wurde 52. Noch über Schramms Tod hinaus wirkten seine Anregungen in einer weit umfangreicheren Verwirklichung bei dem Kolloquium zu dem Einhardkreuz. Wohl ist jene vermutliche crux gemmata als solche verloren, aber doch blieb ihr Fuß in Triumphbogengestalt wenigstens in kopialer Überlieferung zugänglich. Dieses Julikolloquium von 1971 bot die intensive kunsthistorische Mitwirkung an der Historikerdiskussion eines karolingerzeitlichen Hauptmonuments. Es verdeutlicht beispielhaft, warum Einhard, der Vertraute Karls des Großen, von seiner Gegenwart nicht als Schriftsteller etwa mit dem Akademie-Namen Suetonius gepriesen wurde, sondern mit dem alttestamentlichen Namen des Verfertigers der Stiftshütte und ihres heiligen Inventars als Beseleel, als gottnaher und inspirierter Hofgoldschmied mit der Spezialisierung auf die Produktion von Kultgeräten 53. Von den neuen Arbeitsbündnissen seien nur noch zwei genannt: meine Einbeziehung in die von Herbert Jankuhn angeregte Kommission der Göttinger Akademie für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas von ihren Anfangen 1971 an sowie die Zusammenarbeit mit Naturwissenschaftlern in Wien zur Metall-Untersuchung der Heiligen Lanze 54 und zur Holzbestimmung des heiligen Kreuz-Partikels aus dem Reichshort in der weltlichen Schatzkammer der Hofburg 55. Verwandt mit diesen Verabredungen waren die mit Birgit Arrhenius in Stockholm, in ihrem Labor Reihenanalysen des Brakteatengoldes durchzuführen 56. Auch wurde zu einer entscheidenden Hilfe für die ikonographische Auswertung der goldenen Amulettbilder, daß uns das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte seit 1974 die rund 300 Brakteatengalvanos aus seinem Besitz bis auf weiteres leihweise überließ 57. Die großzügige Leihgabe erleichterte den Entschluß, ein Korpus der Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit als ikonographischen Katalog in Angriff zu nehmen 58. Schwerlich hätte ich dazu den Mut gefunden, wenn sich nicht 52
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Nikolaus Staubach, Das Herrscherbild Karls des Kahlen – Formen und Funktionen monarchischer Repräsentation im früheren Mittelalter, Teil 1, 1981. Karl Hauck ( Hg. ), Das Einhardkreuz. Vorträge und Studien der Münsteraner Diskussion zum arcus Einhardi ( Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse. Dritte Folge 87 ) Göttingen 1974; vgl. auch Karl Hauck, Das Einhardkreuz, in: Frühmittelalterliche Studien 8, 1974, S. 93–115. Karl Hauck, Erzbischof Adalbert von Magdeburg als Geschichtsschreiber. Mit der Mitteilung der mikrochemischen Analyse der Heiligen Lanze in Wien von Hans Malissa, in: Helmut Beumann ( Hg. ), Festschrift für Walter Schlesinger, 2 ( Mitteldeutsche Forschungen 74/II ) Köln – Wien 1974, S. 276–353. Karl Hauck mit Wilhelm Serentschy, Holzuntersuchung der Partikel vom Heiligen Kreuz in der weltlichen Schatzkammer in Wien, in: Das Einhardkreuz ( wie Anm. 53 ) S. 217–220. Birgit Arrhenius, Eine Untersuchungsreihe von schwedischem Brakteatengold, in: Frühmittelalterliche Studien 14, 1980, S. 437–462. Jan Peter Lamm, Peter Petersens galvanoplastische Brakteatenkopien. Mit einem Verzeichnis von Petersens Abformungen in Berlin von Lutz von Padberg, in: Frühmittelalterliche Studien 13, 1979, S. 415–429, S. 422 Anm. 12. Zur Vorlage einer ersten Fassung des Manuskriptes des 1. Katalogbandes s. Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, S. 446 f. Von 1985 bis 1989 erschienen 3 Bände in 7 Teilbänden unter dem Titel, „Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit“, vgl. die Website des Instituts für Frühmittelalterforschung ( http://Fruehmittelalter.uni-muenster.de/Goldbrakteaten )
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das Lebenswerk von Franz Joseph Dölger ( 1879–1940 ) mit dem Forschungsprogramm „Antike und Christentum“ 59 und seiner Weiterführung in dem seit 1950 erscheinenden Reallexikon des Bonner Dölgerinstituts als Wegbereitung auch für das Verständnis von den Vorstufen der Denkmäler der Subspätantike im Norden ausgewirkt hätte 60. Denn in diesem Unternehmen sollten neben „Patrologie und Dogmengeschichte, Kirchengeschichte und Liturgiegeschichte“ „Christliche Archäologie, Kultur- und Religionsgeschichte … zur Geltung gebracht werden“ 61. 4. DIE ERNTEJAHRE VON 1975 BIS 1982 … sehr viel Geduld vorausgesetzt, brauchen wir nur im guten alten Stil getreue philologische Auslegekunst – Hermeneutik More Majorum –, um einen Ausblick ins Weite zu gewinnen. Aby Warburg
Unsere Vorhaben im Bereich der Pfalzenforschung, zu denen auch die Beschäftigung mit den Königsgrabkirchen im Frühmittelalter gehört 62, veränderten und erweiterten sich in jenen Jahren einmal durch Absprachen mit Josef Fleckenstein und dem Max-Planck-Institut für Geschichte, um unsere Paderborn- und Corvey-Studien mit dessen Repertorium der deutschen Königspfalzen abzustimmen. Zum andern gelang es in Vereinbarungen mit dem Landschaftsverband, den Ausgräber der Paderborner Dom- und der Corveyer Klosterkirche Uwe Lobbedey für fünf Jahre vom 1. Januar 1981 an freizustellen, damit er als Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich die Auswertung seiner Ergebnisse in – dem Rang der Denkmäler entsprechenden – Veröffentlichungen vorlegen kann 63. Historisch interessiert uns der Paderquellort als die wichtigste karlszeitliche Taufpfalz ostwärts des Rheins 64. Da es die Missionare bei der Überwindung der älteren Religion schwer hatten und sich als Dämonenbekämpfer zur Rettung verlorener Seelen verstanden, erfährt man aus ihrer Sicht wenig von den alten Göttern und ihren gemeinschaftstiftenden Kulten 65. Es galt daher nunmehr, die vorerst einzige umfassendere Möglichkeit zu nutzen, durch, wie Schramm gesagt haben würde, Dechiffrierung der heidnischen Bildüberlieferung, vor allem aber durch die Erschließung ihrer historischen Umwelt, den bisher der Forschung unzugänglichen Horizont zu erreichen. Das Vordringen der historischen Sachforschung in das ethnologische Europa läßt sich daher am besten erhellen, indem wir darüber Rechenschaft ablegen, wie weit wir heute in der Lage sind, den von seinen Suchwünschen geprägten Katalogwerktitel von Ludwig Lindenschmit dem Älteren ( 1809–1893 ) „Altertümer unserer heidnischen Vorzeit“ ( seit 1858 zwölf Hefte ) überzeugender zu verwirk59
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Theodor Klauser, Franz Josef Dölger. 1879–1940. Sein Leben und sein Forschungsprogramm „Antike und Christentum“ ( Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 7 ) Münster 1980. S. dazu Frühmittelalterliche Studien 14, 1980, S. 623. Franz Joseph Dölger, Antike und Christentum. Kultur- und religionsgeschichtliche Studien 1, Münster 1929, S. VI; Klauser ( wie Anm. 59 ) S. 113. Karl Heinrich Krüger, Königsgrabkirchen der Franken, Angelsachsen und Langobarden bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts. Ein historischer Katalog ( Münstersche Mittelalterschriften 4 ) Münster 1971; s. künftig Josef Schulte, Karolingische Königsgrabkirchen, in Vorbereitung. S. dazu Frühmittelalterliche Studien 14, 1980, S. 624; ebd. 15, 1981, S. 519. Hauck ( wie Anm. 41 ). Knut Schäferdiek, Art. I ‘ 2, in: RGA 4, 1981, S. 503 f.
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lichen 66. Die damit gestellte Frage beantworte ich mit einem Auswahlkatalog zum Stand der Erfassung der Sakralorte der Germania sacra antiqua vor allem im Licht der historischen Sach- als Bildforschung, wie sie in Münster seit 1960 betrieben wird 67. Wir paßten uns dabei den Schwierigkeiten, vorchristliche Heiligtümer mit der Spatenforschung zu ermitteln 68, dadurch an, daß wir begannen, nach identifizierbaren Heiligtumsschätzen und vorchristlichen zu fahnden 69. Wir befaßten uns also im ethnologischen Norden mit der Religionstopographie durch die Identifizierung und Auswertung von Überresten der einstigen Ausstrahlung jener Heiligtümer. Dabei wurden am wichtigsten die überregionalen Sakralorte, die Ziele der großen Opferwallfahrten in kalendarischen Riten gewesen sind. Zuerst sind uns diese Opferwallfahrten in Tacitus Schilderung des Semnonenhains erreichbar, zuletzt in Adams von Bremen Bericht über den Tempel in Altuppsala 70. In der Völkerwanderungszeit waren die goldenen Götterbildanhänger der Brakteaten eine besonders erfolgreiche -Gattung, obwohl sie eine teure Seelenmedizin gewesen sind 71. In der Wikingerzeit nenne ich als Nachfolgeformen die sog. Votivringe 72, zu denen auch überwiegend silberne Götterthron-Amulette gehören können 73. Daß die Ikonographie der Kammhelmbilder gleichfalls aus solchen Sakralorten stammt, beweisen die öländischen Preßblechmodel aus Torslunda 74 ebenso wie die Helmreste aus dem Königsmausoleum des Osthügels von Altuppsala 75 und die in den Aristokratengräbern von Vendel, Kirchspiel Vendel, und Valsgärde, Kirchspiel Altuppsala, gefundenen Helm66
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Karl Schumacher, Art. , in: Allgemeine Deutsche Biographie, 51, 1906, S. 721–728; Gero von Merhart, Das Römisch-Germanische Zentralmuseum ( = RGZM ). Rückblick und Ausblick, in: Festschrift des RGZM, 3, Mainz 1953, S. 194–200, S. 194 ff. S. dazu Karl Hauck, Bildforschung als historische Sachforschung. Zur vorchristlichen Ikonographie der figuralen Helmprogramme aus der Vendelzeit, in: Karl Hauck – Hubert Mordek ( Hgg. ), Geschichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter. Festschrift für Heinz Löwe zum 65. Geburtstag, Köln-Wien 1978, S. 27–70. Herbert Jankuhn ( Hg. ), Vorgeschichtliche Heiligtümer und Opferplätze in Mittel- und Nordeuropa. Bericht über ein Symposium in Reinhausen bei Göttingen vom 14. bis 16. Oktober 1968 ( Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge 74 ) Göttingen 1970, S. 16, 259 ff. Karl Hauck, Überregionale Sakralorte und die vorchristliche Ikonographie der Seegermanen ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XXI ) in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 1. Philologisch-Historische Klasse. Jahrgang 1981 Nr. 8, Göttingen 1981, S. 207–253, mit den Anhängen C, D und E von Lutz von Padberg; daß der neuzeitliche Devotionalien-Begriff nicht genau paßt, verdeutlicht Bernhard Kötting, Art. , in: RAC 3, 1957, Sp. 862–871, Sp. 862 ff. Karl Hauck, Gemeinschaftstiftende Kulte der Seegermanen ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XIX ), mit 4 Anhängen von Lutz von Padberg, in: Frühmittelalterliche Studien 14, 1980, S. 463–617, s. dazu auch das Register des Gesamtbandes S. 651–663, S. 549 ff. Hauck ( wie Anm. 69 ) S. 215 f. Birgit Arrhenius, Vikingatida miniatyrer, in: Tor 7, 1961, S. 139–164; Wilhelm Holmqvist, Swedish Vikings on Helgö and Birka, Värnamo 1979, S. 60 ff. Hans Drescher – Karl Hauck, Götterthrone des heidnischen Nordens, in: Frühmittelalterliche Studien 16, 1982, S. 237–301. Karl Hauck, Tierkämpfe. Die historische Umwelt der heidnischen Beowulfsage ( dieser Beitrag lag wohl im Manuskript vor, ist aber nicht erschienen ). Karl Hauck, Die Veränderung der Missionsgeschichte durch die Entdeckung der Ikonologie der germanischen Bilddenkmäler, erhellt am Beispiel der Propagierung der Kampfhilfen des Mars-Wodan in Altuppsala ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XX ), in: Westfalen 58, 1980, S. 227–307, S. 303–307.
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bildprogramme 76. Bei dem Auswahlkatalog jener älteren Sakralorte, den ich jetzt vortrage, beschränke ich mich auf die Nennung ihrer Schlüsseldenkmäler. Sie sind analysiert in Publikationen der Jahre 1980 bis 1982, von denen ein Teil bereits erschienen ist, ein anderer Teil sich im Druck befindet. Die Katalogauswahl hat so die Gestalt eines Thesenreferates, dessen Einsichten durch spezialisierte Untersuchungen vorbereitet sind. Unsere Übersicht sei begonnen mit dem berühmtesten frühmittelalterlichen Kultort unseres Raumes: 1. fanum Irminsul. Hier interessiert die Annalennachricht von der Erbeutung des Heiligtumsschatzes mit Gold und Silber in solchem Umfang, daß Karl ihn 772 als Lohn an seine Getreuen austeilen konnte, als Zeugnis für die Intensität der älteren Götterverehrung 77. 2. Tempel in der nordhumbrischen villa regia Adgefrin, in einer Grenzzone, die das Kirchenbauprogramm Edwins von Northumbrien nicht miterfaßte. Daher wurde der Tempel entsprechend der Anweisung Papst Gregors des Großen nicht zerstört, sondern in eine Kirche umgeweiht 78. 3. Parallele heidnisch-christliche Altäre im ostanglischen Rendlesham mit König Raedwald als Opferherrn. Die literarische Bezeugung jenes synkretistischen Heiligtums ermöglicht die Auswertung der Regalia von Sutton Hoo unter dem Aspekt der Mittlerrolle des Königs zwischen Göttern und Menschen 79. 4. Sagenberühmter Zentralort Fünens mit Namen Odinsheiligtum – Wodansue – Odense. Seit dem späten 10. Jahrhundert offenbar neu gegründet als Bistumsort 80. Ikonographisch zugänglich in der Wikingerzeit durch das Walhallbild auf dem einen Prachtkummet von Søllested, Amt Odense, sowie mit dem silbernen Thronamulett aus einem Frauengrab des Südfriedhofs von Haithabu 81. Das Heiligtum ist durch seinen Ortsnamentypus und auch ikonographisch bereits in der Völkerwanderungszeit erreichbar. Auf seine Funktion weist einmal die heimische Produktion bronzener Götterstatuetten, seit antike Importe ausblieben, zum andern die Herstellung von goldenen Götterbildanhängern, darunter ein hoher Anteil an Inschriftenbrakteaten. Die Vorbedingung für die Fertigung dieser goldenen Amulettserien war ein bedeutender Heiligtumsschatz 82. 5.–7. Der gleiche Heiligtumstypus ist dreimal in derselben Namensform in Jütland bezeugt und setzt dessen Drittelung bereits ähnlich voraus wie die drei Bistums76
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Karl Hauck, Die bildliche Wiedergabe von Götter- und Heldenwaffen im Norden seit der Völkerwanderungszeit ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XVIII ), in: Wörter und Sachen ( wie Anm. 49 ) S. 168–269, S. 256 ff.; Ders. ( wie Anm. 67 ) S. 33 ff.; Ders. ( wie Anm. 75 ) S. 291 ff.; Ders. ( wie Anm. 74 ) Anhang 1 bis 3. Hauck ( wie Anm. 69 ) S. 210. Brian Hope-Taylor, Yeavering. An Anglo-British centre of early Northumbria, in: Department of the Environment. Archaeological Reports No. 7, London 1977, s. Index S. 389 s. v. Bldg. D2 ( a ) und D2 ( b ). Karl Hauck, Zum zweiten Band der Sutton Hoo-Edition, in: Frühmittelalterliche Studien 16, 1982, S. 319–362. Hauck ( wie Anm. 69 ) S. 214. Drescher – Hauck ( wie Anm. 73 ) S. 286 ff. Karl Hauck, Mainz und Odense. Brakteaten als aus christlichen und heidnischen Sakralorten des Frühmittelalters, in: Münze, Brauch und Aberglaube – zur außermonetären Bedeutung des Geldes. Katalog zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 10. Sept. bis 31. Okt. 1982, S. 81–93; Ders. ( wie Anm. 69 ) S. 208 f., 212 f.
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gründungen des 10. Jahrhunderts Schleswig, Ribe und Aarhus. Auf diese jütländischen Odinsheiligtümer mit dem gleichen Wodansue-Namen läßt sich im 5. und 6. Jahrhundert die Herstellung von goldenen Götterbildanhängern zurückführen 83. 8.–9. Der gleiche Heiligtumstypus ist ebenso durch die Ortsnamen nachweisbar in Seeland und Schonen und wird ebenso ikonographisch in Goldbrakteaten zugänglich 84. Aus der Produktion in Schonen stammt gemäß ihren regionalen Zügen am ehesten der in einem ungarischen Frauengrab entdeckte Goldbrakteat mit dem Thronbild des Götterfürsten 85. 10. Der Götentempel in dem Zentralort Götala, Västergötland, dem unter Verlegung in die Nachbarschaft der älteste schwedische Bistumsort Skara nachfolgt 86. Auf das Heiligtum weist der Schatzfund von Djurgardsäng sowie die Herstellung von goldenen Götterbildanhängern 87. 11. Kulthain des Gottes Thor auf Öland mit Namen Torslunda ( gegenüber von Kalmar ). Ausgegraben sind seit 1968 Häuser der Handwerkersiedlung. Als versprengter Rest des Heiligtumsschatzes läßt sich verstehen der fünfstabige Goldhalsring von Färjestaden, Kirchspiel Torslunda 88. Der Kultort wird ikonographisch erreichbar durch die vier Prägeplatten. Ihre ungleiche Erhaltung erklärt sich aus ihrer Verwendung zur Herstellung von Helmbildprogrammen. Dabei wurden die Model für die Motive der Stirnseite jeweils nur für je ein Bildpaar benötigt, dagegen die Model für die Helmseitenteile mindestens je zehnfach. Sie sind daher ungleich stärker abgenutzt und stammen aus zwei verschiedenen Fertigungsphasen 89. Das mit den Modeln rekonstruierte vierteilige Programm für die Verzierung von Kammhelmen ist das Schlüsselzeugnis für die heidnische Beowulfsage in ihrer gautischen Version, die sich damit bereits im frühen 6. Jahrhundert nachweisen läßt 90. 12. Das Doppelheiligtum von Freyr und Freyja, Frösvi und Frövi, Kirchspiel Edsberg, Naerke. Wahrscheinlicher Rest des Heiligtumssilbers in dem wikingerzeitlichen Silberschatz von Eketorp. Ikonographisch erreichbar durch ein Freyr-Amulett eines bisher unbekannten Typus sowie durch ein Götterthronamulett, zu dem einst eine Sitzfigur gehörte 91.
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Hauck ( wie Anm. 70 ) S. 556 ff., 561, 563, 565, 579 ff. mit Fig. 64 b. Ebd. S. 556 ff., 559 ff., 570 ff., 600 ff., 609. Karl Hauck, Gott als Arzt ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XVI ), in: Christel Meier – Uwe Ruberg ( Hgg. ), Text und Bild, Wiesbaden 1980, S. 19–62, S. 32 ff., 37, 46; Drescher – Hauck ( wie Anm. 73 ) S. 256 ff. Hauck ( wie Anm. 69 ) S. 214 f. mit Fig. 3. Ebd. S. 249 f. Birgit Arrhenius, Die Nordgermanen im Osten Skandinaviens, in: Helmut Roth ( Hg. ), Propyläen Kunstgeschichte. Supplementband 4: Kunst der Völkerwanderungszeit, Frankfurt am Main – Berlin – Wien 1979, S. 254–265, S. 260 Nr. 192; Ulf Erik Hagberg, Fundort und Fundgebiet der Modeln aus Torslunda, in: Frühmittelalterliche Studien 10, 1976, S. 323–349, S. 337; Hauck ( wie Anm. 69 ) S. 230. Rupert Bruce-Mitford, Fresh Observations on the Torslunda Plates, in: Frühmittelalterliche Studien 2, 1968, S. 233–236; Ders., Aspects of Anglo-Saxon Archaeology, London 1974, S. 214–222; Hagberg ( wie Anm. 88 ) S. 330 ff. Hauck ( wie Anm. 74 ). Gunnar Ekelund, Silverskatten från Eketorp, in: Från Bergslag och Bondebygd 11, 1956, S. 143–175 ( mir zugänglich durch die Freundlichkeit von M. Müller-Wille ); Drescher – Hauck ( wie Anm. 73 ) S. 267 ff.
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13. Das nobilissimum templum in Altuppsala mit seiner Dreisitzanlage, einem triclinium, für seine drei Götterstatuen 92. In der Vendelzeit ikonographisch zugänglich mit dem Thorshammervotivring aus dem Grab Valsgärde 6 93 sowie dem Gelübdehorndekor des Tierkampfes mit dem Gott in einer Raubvogelabbreviatur aus dem Grab Valsgärde 7 94. Die merowingerzeitlichen Helmprogramme weisen auf Kultlegenden, die wir bereits aus später Sagatradition kannten, von dem Himmelsspeer in den Händen der Helden, die sich dem Mars-Wodan von Altuppsala weihten und ihm entsprechend opferten 95. Durch die aristokratischen Bootsgräber aus dem Umland von Altuppsala sind uns insgesamt sieben vollständiger deutbare Kammhelm-Programme erhalten. 14. Tempelschatz aus der Havorburg des gotländischen Kirchspiels Hablingbo, der aus dem früheren 2. Jahrhundert stammt 96. Ikonographisch bedeutsam durch ein Kopfgefäß aus gotländischem Ton, von dessen Gottesbild noch der Kolbenhalsring als Fragment auf uns kam. Der Gefäßbefund weist auf ein Ritual des Gott-Trinkens, so wie es in missionarischer Abwertung und daher exorzistisch noch in der ColumbansVita beim Kultbier der Alemannen berichtet wird 97. 15. Führte die Untersuchung der Götterthrone des heidnischen Nordens, die wir vor allem auch durch eine ganze Reihe wikingerzeitlicher Amulettminiaturen kennen, zu einer Neubewertung von isländischen Tempelgründungstraditionen. Zu ihren erweisbar alten Kernen gehört die Vorstellung von dem Ehrensitz, der für den Gott als eigentlichen Herrn des neuen Landes errichtet wird, um ihn zum Verweilen einzuladen 98. Methodische Grundlage der Auswertung bei den goldenen Götterbildanhängern ist eine Brakteatenikonologie, die 1978 im neuen Hoops erschien 99 Basis der Analyse 92 93 94 95 96
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Drescher – Hauck ( wie Anm. 73 ) S. 260 ff. Arwidsson ( wie Anm. 24 ) S. 79, 132. Hauck ( wie Anm. 79 ) S. 328 ff. Hauck ( wie Anm. 75 ) S. 264 ff., 286 ff. Marten Stenberger, Vorgeschichte Schwedens, in: Karl Kersten ( Hg. ), Nordische Vorzeit 4, Neumünster 1977, S. 257, 278 ff. Peter Manneke, Fornbogen vid Havor i Hablingbo, in: Gotländskt Arkiv 43, 1971, S. 104 f.; Karl Hauck, Germania-Texte im Spiegel von Bildzeugnissen des Nordens ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XXIV ), in: Romanitas – Christianitas. Untersuchungen zur Geschichte und Literatur der römischen Kaiserzeit. Johannes Straub zum 70. Geburtstag am 18. Oktober 1982 gewidmet, hg. von Gerhard Wirth unter Mitwirkung von Karl-Heinz Schwarte – Johannes Heinrichs, Berlin – New York 1982, S. 175–216, S. 179 ff. Ders., Die Arztfunktion des seegermanischen Götterkönigs, erhellt mit der Rolle der Vögel auf den goldenen Amulettbildern ( Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XV ), in: Kurt-Ulrich Jäschke – Reinhard Wenskus ( Hgg. ), Festschrift für Helmut Beumann zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1977, S. 98–124, S. 104 f. Zur älteren Auffassung Dag Strömbäck, Folklore och Filologi ( Acta Academicae regiae Gustavi Adolphi 48 ) Uppsala 1970, S. 135–165 ( Att helga land ), freundlicher Hinweis von Hans Schottmann; jetzt anders Drescher – Hauck ( wie Anm. 73 ) S. 296 ff. – Der Auswahlkatalog läßt sich auch im slawischen Bereich fortsetzen. Dazu sei hier nur verwiesen auf Ewald Schuldt, Der altslawische Tempel von Groß Raden ( Museum für Ur- und Frühgeschichte Schwerin ) Ludwigslust 1976; Witold Hensel, Statuette miniature d’un dieu paien a quatre visages a Wolin, in: Slovenski Archeologia 26, 1, 1978, S. 13–17; Joachim Herrmann, Zu den kulturgeschichtlichen Wurzeln und zur historischen Rolle nordwestslawischer Tempel des frühen Mittelalters, in: ebd. S. 19–27; Ders., Die Ausgrabungen im nordwestslawischen Seehandelsplatz Ralswiek auf Rügen 1978–1979, in: Ausgrabungen und Funde 25, 1980, S. 154–161, S. 160 mit Tafel 23. Karl Hauck, Art. , in: RGA 3, 1978, S. 362–401.
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der Helmbildprogramme ist das Studium des Bilddekors von kaiserzeitlichen Waffen des Südens 100. Auch die frühen Programme der gotländischen Bildsteine sind deutbar geworden, seitdem der Stein Sanda IV als das an darstellerischem Kontext reichste Schlüsselmonument in seinen Symbolen entziffert ist 101. Man könnte so meinen, das 1953–54 entfachte geistige Feuer habe in Kürze keinen Brennstoff mehr. Jedoch würde eine solche Ansicht irren. Stellt sich doch bei den frühen Bilderfolgen der Kammhelme die Frage, ob sie nicht bereits Walhall-Gedanken vorwegnehmen, die Gelehrte wie Hans Kuhn erst als im 10. Jahrhundert entstanden ansehen 102. Auch beginnt erst die Ausnützung der neuen Möglichkeit, das Weiterwirken der heidnischen Antike einmal in christlichen Versionen im Süden, zum andern mit der Übernahme ihrer Konzeptionen in dem heidnischen Norden zu vergleichen 103. Wie unentbehrlich es bei der Erforschung der Sakralorte im Norden ist, die spätantike Koine im Blick zu behalten, erhellt die Untersuchung von Wilhelm Pohlkamp, „Tradition und Topographie: Papst Silvester I. ( 314–335 ) und der Drache vom Forum Romanum“, die in der Römischen Quartalschrift 1982 erscheint. Gelingt doch dort der unmittelbare Einblick in die Jahre des Glaubenswechsels in der Roma aeterna infolge der Umdatierung der ältesten Schicht der Silvesterakten ins spätere 4. Jahrhundert. Pohlkamps Nachweis überzeugt: „Die älteste Fassung A ( 1 ) der Actus Silvestri hat die [ noch starke ] Ausstrahlungskraft der antiken römischen Tradition von der cultura draconis der Vestalinnen dadurch gebrochen, daß sie diese Vorstellung zum Bestandteil einer neuen christlichen Tradition gemacht hat.“ 104 In jener ältesten Schicht verdeutlicht „das Nebeneinander von Toleranz und Intoleranz …, daß der Autor der Actus Silvestri [ noch ] unterscheidet zwischen der privaten Ausübung heidnischer Kulte und ihrer offiziellen Duldung und Förderung durch einen christlichen Kaiser“ 105. Es ist hier nicht der Ort, darzutun, wie sehr sich der Vergleich zwischen einerseits der Drachenbindung in der Unterwelt durch Papst Silvester 106 und andererseits der Fesselung des dämonischen Todeswesens durch die Faust mit dreißig Riesenstärken des ostskandinavischen Helden Beowulf als Phänomene einer Epoche lohnt 107. Nur soviel sei gesagt, wir brauchen nicht unbedingt zu heidnischen Indianern zu reisen, um auf Archetypen zu stoßen, die aus dem ethnologischen Europa in die Hochkultur des neuen Abendlandes weiterwirken 108.
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Jochen Garbsch, Römische Paraderüstungen ( Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 30 ) München 1978. Karl Hauck, Art. ‘ 4–6, in: RGA 5, 1984, S. 484–494. Hauck ( wie Anm. 74 ); Drescher – Hauck ( wie Anm. 73 ) S. 299 f. S. dazu etwa Hauck ( wie Anm. 76 ) S. 243 ff.; Ders. ( wie Anm. 75 ) S. 270 ff., 290. Wilhelm Pohlkamp, Tradition und Topographie: Papst Silvester I. ( 314–335 ) und der Drache vom Forum Romanum, in: Römische Quartalschrift 78, 1983, S. 1–100. Ebd. Ebd. Hauck ( wie Anm. 74 ). Exemplarisches bei Hauck ( wie Anm. 85 ) S. 47.
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Karl Hauck 5. RÜCKBLICK UND AUSBLICK
Als ich nach meiner Berufung nach Münster 1960 meine Antrittsvorlesung gehalten habe, zitierte ich Sätze aus dem Berliner Plan für Deutsche Geschichte vom Sommer 1816, der in die Vorgeschichte der Monumenta Germaniae historica gehört. Seine Position 13 lautet: „Außer der Sammlung von historischen Quellen, die geschrieben vorhanden sind, ist die Thätigkeit der Gesellschaft auf alles gerichtet, was der Nationalgeschichte angehört. Unter die Gegenstände ihrer Untersuchungen gehören: … alle Werke der alten Kunst, Gebäude, Bildwerke und Gemälde; sie verschafft sich Übersichten von allem, was in der Art vorhanden ist, und ist für ihre Erhaltung bedacht. Auch Nachrichten von dem, was ehemals vorhanden und zerstört worden, sammelt sie. Alterthümer jeder Art sind ihr befohlen.“ 109 Gewiß hat die Einsicht ihre volle Berechtigung, daß damals die Beschränkung allein auf die schriftliche historische Überlieferung und arbeitsteilige Konzeptionen solche Pläne überhaupt erst zu verwirklichen erlaubten 110. Jedoch entbindet uns das nicht von der Pflicht, in unserer Gegenwart darüber nachzudenken, in welcher Weise jene Entscheidungen der Reichsfreiherrn von Stein-Zeit zu modifizieren sind. Dieses Nachdenken hat unter zwei Aspekten Dringlichkeit: Einmal mit dem Blick darauf, daß Institutionen wie die Sonderforschungsbereiche Instrumente der Forschungsförderung auf Zeit sind. Vor allem der Bundesfinanzminister möchte sie mit der fritzischen Losung „Kerls, wollt ihr denn ewig leben!“ zur Räson der fünfzehn Jahre Dauer bringen. Tritt doch unter solchen Vorzeichen der Sonderforschungsbereich 7 1983 in seine letzte dreijährige Förderungsperiode ein. Zum anderen aber gilt, daß in Münster erstmals in der Bundesrepublik ein interdisziplinärer Mittelalterverbund entstanden ist, der sich noch am ehesten mit entsprechenden Mittelalterinstituten des Auslands vergleichen läßt. Es ist daher durchaus auch im Interesse der Westfälischen Wilhelms-Universität und des Landes zu prüfen, in welcher Weise sich dieser Verbund, zu dessen Gliedern auch die historische Sachforschung gehört, erhalten läßt. Trotz der durchaus unfreiwilligen Emeritierung mit Hilfe eines Gesetzes, über das mit den Hochschulen keine Vorverständigung stattfand, nehme ich klaglos meine Einstufung als alter Mann an. Aber nachdem unser interdisziplinäres Bündnis über die zu engen Fachbereiche hinaus seine Erfolge vor allem auch der Dynamik der sehr viel jüngeren Mitarbeiter verdankt, kann ich dazu nicht schweigen, wenn deren Lebenschancen reduziert und Erfahrungsgrundstöcke zerschlagen werden. Daher schließe ich mit einem entschiedenen Wort für ihre Zukunft.
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Georg Heinrich Pertz, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein 6, 2, Berlin 1855, S. 101–110, 106. Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae historica, Hannover 1921, unveränderter Nachdruck 1976, S. 14.
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Das <Erbe> Ottos des Großen
HAGEN KELLER
Das <Erbe> Ottos des Großen Das ottonische Reich nach der Erweiterung zum Imperium Karl Hauck zum Gedenken I. : Leitbilder und Zielsetzungen, S. 44. – II. : Sachsen und Elbslaven, S. 50. – III. Die neu gewonnenen Herrschaftsgebiete im Süden, S. 58. – IV. Grundlagen der Königsherrschaft im Regnum Italiae zur Zeit Ottos I., S. 62. V. Probleme der im Großreich beiderseits der Alpen, S. 70.
Geschichtliche Traditionen werden nicht durch einmalige historische Entscheidungen begründet. Sie entwickeln sich vielmehr aus dem Verhalten der nachfolgenden Generationen zu dem, was ihnen die Vorgänger und deren Vorläufer als konkrete Gegebenheiten und als akzeptierte Leitbilder hinterließen und was sie selbst sowie ihre Nachfahren zur Gestaltung dieses <Erbes> beitragen. Trotzdem gibt es zeitlich fixierbare Vorgänge, die sich aus der weiteren Geschichte heraus als erweisen. Sie sind in der Regel vom Wirken, von den einzelner Persönlichkeiten maßgeblich mitbestimmt und in den älteren Epochen oft an die Herrschaft von Personen gebunden, denen man später das Epitheton <der Große> oder auch zuerkannte. Für die deutsche Geschichte stellt die Begründung des mittelalterlichen Imperiums, schon bald als und später als verstanden, eine solche Weichenstellung mit langer Fernwirkung dar. In unserem Geschichtsbewusstsein ist sie fest mit dem Namen Ottos <des Großen> verbunden. Dass seiner Regierung und den damals gefallenen Entscheidungen eine besondere Bedeutung für die Geschichte der <deutschen Kaiserzeit> zukam, darf auch heute noch als konsensfähiges Urteil gelten. Doch hat die Ottonenzeit während der letzten Jahrzehnte eine so tiefgreifende Neubewertung erfahren, dass man fragen muss, ob das, was im 10. Jahrhundert geschah und dabei insbesondere die Geschichte Ottos I. ( 936–973 ), nicht in anderen, nach heutiger Erkenntnis dem Geschehen und der Zeit adäquater erscheinenden Kategorien erfasst und beschrieben werden muss, als dies zwei Jahrhunderte lang in einer Art von historiographischem Nationalepos der Deutschen geschehen ist. Der nachstehende Beitrag blickt aus der Aufgabe, das von der Auflösung des Karolingerreiches bis zum Ausgang der Ottonenzeit für eine neue Darstellung wissenschaftlich zu durchdringen, resümierend auf die Begründung des römischdeutschen Imperiums unter und durch Otto den Großen zurück 1. 1
Hagen Keller – Gerd Althoff, Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen. Krisen und Konsolidierungen. 888–1024 ( Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage ) 3, Stuttgart 2008. Der hier publizierte Beitrag wurde mit Rücksicht auf den Gesamtumfang des Bandes aus dieser Darstellung herausgenommen. Von den einleitenden Sätzen und einer
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Hagen Keller I. : LEITBILDER UND ZIELSETZUNGEN
Die lange Regierung Ottos I. – fast 36 Jahre – erlangte grundlegende Bedeutung für die Gestaltung nicht nur des künftigen Reiches der Deutschen, sondern der politischen Ordnungskonstellationen im nachkarolingischen Abendland insgesamt. Sie ermöglichte in dem von Heinrich I. zusammengeführten ostfränkisch-lothringischen Königreich das Entstehen einer fortwirkenden Tradition. Sie schuf feste Grundlagen für die Machtausübung des neuen sächsischen Königshauses und stellte dessen Herrschaft unter eine gesteigerte sakrale Legitimation. Sie war entscheidend beteiligt an dem Prozess, der zu einer Art <Staatenordnung> auf dem Boden des ehemaligen Karolingerreiches führte. Sie begründete die hegemoniale Stellung des ottonischen Reiches im Kreis der , die mit der Erneuerung des westlichen Kaisertums und seiner Bindung an die Thronfolge im ostfränkisch-lothringischen, bald als <deutsch> bezeichneten Regnum eine institutionelle Absicherung erhielt. Sie leitete eine neue Phase der Mission ein, die das Gebiet des karolingischen Großreiches nach Osten und Norden überschritt und der Entstehung neuer Kirchenprovinzen außerhalb der Reichsgrenzen vorarbeitete. Und sie stellte Weichen dafür, dass bei der <Staatenbildung> im Osten und Norden Europas – bei den Böhmen, Dänen, Polen und Ungarn – der Einfluss des Imperiums ein wirksamer Faktor wurde 2. Im historischen Rückblick lässt sich diese Entwicklung als mehr oder weniger folgerichtiger Handlungsablauf beschreiben, und gerade im Hinblick auf Otto <den Großen> hat es nicht an Versuchen gefehlt, von den Ergebnissen her dem Herrscher weit reichende politische Konzeptionen zuzusprechen, die er langfristig und trotz mancher Rückschläge verfolgte 3. Betrachtet man das Geschehen – eine Kette wechselvoller Er-
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Umstellung abgesehen, blieb der Text fast unverändert. Er berücksichtigt deshalb manch wichtigen Aspekt nicht, der an anderer Stelle des Handbuches erörtert wird; die Literaturauswahl ist von der Zielsetzung des Handbuchs bestimmt. Die hier vorgetragenen Überlegungen korrespondieren direkt mit den Ausführungen im einleitenden Paragraphen ( § 1, S. 18–31, von Hagen Keller ) und im zusammenfassenden Ausblick ( § 21, S. 436–444, von Gerd Althoff ). Für die erwähnten Ereignisse, die politischen und wirtschaftlichen Strukturen sowie den geistigen Horizont sei auf die einschlägigen Passagen im Handbuch verwiesen. Im Hinblick auf die angesprochenen Probleme und auf die zitierte Literatur ist dieser Aufsatz so als Teil einer Gesamtdarstellung der Zeit von 888 bis 1024 zu verstehen. Nach der ursprünglichen Konzeption schloss er die Darstellung der Regierungszeit Ottos I. ab. Für die redaktionelle Umarbeitung zur Publikation an diesem Ort danke ich Franz Strukamp. Gesamtwürdigungen: Gerd Tellenbach, Otto der Große, in: Hermann Heimpel ( Hg. ), Die großen Deutschen. Deutsche Biographie 1, Berlin 1956, S. 35–51; Leo Santifaller, Otto I., das Imperium und Europa, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 20, 1, Wien – Köln – Graz 1962, S. 19–30, S. 25 ff.; Josef Fleckenstein, Otto der Große in seinem Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, S. 253–267; Helmut Beumann, Otto der Große, in: Ders. ( Hg. ), Kaisergestalten des Mittelalters, München 1987, S. 53–112; Gerd Althoff, Otto der Große, in: Neue Deutsche Biographie 19, 1999, S. 656–660; Rudolf Schieffer, Der Platz Ottos des Großen in der Geschichte, in: Bernd Schneidmüller – Stefan Weinfurter ( Hgg. ), Ottonische Neuanfänge. Symposion zur Ausstellung „Otto der Große, Magdeburg und Europa“, Mainz 1999, S. 17–35 ( mit weiterer Literatur ); Johannes Fried, Otto der Große, sein Reich und Europa, in Matthias Puhle ( Hg. ), Otto der Große, Magdeburg und Europa, Mainz 2001, 1: Essays, S. 537–562; Bernd Schneidmüller, Otto I. der Große, in: Ders. – Stefan Weinfurter ( Hgg. ), Die deutschen Herrscher des Mittelalters, München 2003, S. 35–61. Zur Problematik solcher Deutungen schon Helmut Beumann, Widukind von Korvei. Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideengeschichte des 10. Jahrhunderts, Weimar 1950, S. VII ff.; nach-
Das <Erbe> Ottos des Großen
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eignisse, in denen sich regelhafte Herrschaftspraxis und erzwungene Sofortreaktionen ständig mischten – aus der Nähe, so zeigt sich allenthalben, wie beschränkt die Handlungsspielräume eines Herrschers waren, der fast ohne institutionelle Grundlagen für die kontinuierliche Ausübung staatlicher Gewalt ein fortwährend zu pflegendes und zu gestaltendes personales Machtgefüge regierte 4. Ohne langfristige Erwartungssicherheiten war das Handeln so stark an die jeweilige konkrete Situation gebunden, dass sich an eine weitreichenden Entwürfen verpflichtete Politik, die feste Konzepte in Realität umsetzte, wohl schwerlich denken lässt 5. Dennoch darf man nicht verkennen, dass es für herrscherliches Handeln und für die Erwartungen der Führungsschicht an einen König Leitbilder von großer Verbindlichkeit gab. An ihnen wurden die Taten ebenso gemessen wie Zustand und Ansehen von Reich und Königtum. Sie definierten nicht nur, was als gut oder schlecht, fromm oder böse zu gelten hatte, sondern sie hielten auch vor Augen, was als Erfolg, gar als zu bewerten war und was einem Herrscher und seinen Getreuen Ehre, Ruhm und einen brachte 6. Insofern gab es im politischen Handeln durchaus Ziele. Die Leitbilder des Handelns legitimierten sich nicht zuletzt aus einer als normgebend verstandenen historischen Erinnerung. Diese gründete nicht nur in schriftlicher Überlieferung, sondern vor allem in mündlichen Traditionen, wie sie vielerorts lebendig blieben: durch die Stiftungen für das Seelenheil und die oft den Frauen aus Herr-
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drücklich thematisiert von Gerd Althoff, Von Fakten zu Motiven, in: Historische Zeitschrift 260, 1995, S. 107–117; dazu die Erwiderung von Johannes Fried, Über das Schreiben von Geschichtswerken und Rezensionen, ebd., S. 119–130; Ders., Wissenschaft und Phantasie, in: Historische Zeitschrift 263, 1996, S. 291–316. Hagen Keller, Grundlagen ottonischer Königsherrschaft, in: Karl Schmid ( Hg. ), Reich und Kirche vor dem Investiturstreit, Sigmaringen 1985, S. 17–34; Ders., Reichsorganisation, Herrschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen im Regnum Teutonicum, in: Il secolo di ferro. Mito e realtà del secolo X ( Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 38 ) Spoleto 1991, S. 159–203, bes. S. 161 ff.; Gerd Althoff, Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart 22005; Ders., Die Kaiserkrönung Ottos des Großen 962, in: Georg Scheibelreiter ( Hg. ), Höhepunkte des Mittelalters, Darmstadt 2005, S. 70–84, S. 71 ff.; vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 348–372. Die Frage spitzt sich im Hinblick auf Kaisertum und Missionspolitik Ottos I. und Ottos III. besonders zu. Werner Maleczek, Otto I. und Johannes XII. Überlegungen zur Kaiserkrönung von 962, in: Jürgen Petersohn ( Hg. ), Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters ( Vorträge und Forschungen 54 ) Stuttgart 2001, S. 151–203, hier S. 151 ff., sieht das Problem; die Beschränkung auf explizite Quellenaussagen und die Isolierung sowie Relativierung jedes einzelnen Zeugnisses führt nicht zur adäquaten Erfassung. Bernd Schneidmüller, Karolingische Tradition und frühes französisches Königtum. Untersuchungen zur Herrschaftslegitimation der westfränkisch-französischen Monarchie im 10. Jahrhundert, Wiesbaden 1979; Hans Kurt Schulze, Königsherrschaft und Königsmythos, in: Helmut Maurer – Hans Patze ( Hgg. ), Festschrift für Berent Schwineköper, Sigmaringen 1982, S. 177–186; Gerd Althoff, Gloria et nomen perpetuum. Wodurch wurde man im Mittelalter berühmt?, in: Ders. u. a. ( Hgg. ), Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1984, S. 297–313; Karl Ferdinand Werner, Gott, Herrscher und Historiograph. Der Geschichtsschreiber als Interpret des Wirkens Gottes in der Welt und Ratgeber der Könige ( 4. bis 12. Jahrhundert ), in: Ernst-Dieter Hehl u. a. ( Hgg. ), Deus qui mutat tempora. Menschen und Institutionen im Wandel des Mittelalters. Festschrift für Alfons Becker zu seinem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1987, S. 1–31; Bernd Schneidmüller, Wahrnehmungsmuster und Verhaltensformen in den fränkischen Nachfolgereichen, in: Joachim Ehlers ( Hg. ), Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter ( Vorträge und Forschungen 56 ) Stuttgart 2002, S. 263–297.
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scher- und Adelsfamilien anvertraute Pflege der Totenmemoria; durch die Art der Herrschaftsausübung in Form des Reisekönigtums, durch die Beteiligung von kirchlichen Würdenträgern, Adligen, Freien und Trossknechten an Feldzügen und an Akten der Herrschaftsrepräsentation, auch durch materielle Pflichten bestimmter Bevölkerungsgruppen zu für die Regierung des Königs und seiner Funktionäre 7. Aus erinnerten Episoden wurden in einzelnen Milieus kohärente Erzählungen. Sie erhielten ihre Gestalt unter zeitspezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, d. h. die Schilderung war beeinflusst von dem, was Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament, aus Heiligenleben und Heldenepen oder was Lieder, Anekdoten und Sprichwörter an Erzählstrukturen und an Wertungen vorgaben. Davon kann die heutige Geschichtswissenschaft freilich nur noch fassen, was damals – situationsbezogen und oft von konkreten Intentionen geleitet – in Historiographie, Dichtung oder auch in urkundlichen Dokumenten eine literarische Gestaltung fand 8. Für werthaltige Erinnerungsbilder gab es breit gestreute Anknüpfungspunkte: bevorzugte Aufenthaltsorte des Königtums mit ihren Baulichkeiten einschließlich der Ausstattung und der materiellen Infrastruktur; Kirchen, die auf Grund von Stiftungen zur liturgischen commemoratio des Königs sowie seiner Vorgänger, Verwandten und Helfer in besonderem Maße verpflichtet waren und oft kostbare Geschenke von Mitgliedern der Herrscherfamilie vorzeigen konnten 9; ganze Serien von Privilegien, auctorita-
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Gerd Althoff, Gandersheim und Quedlinburg, in: Frühmittelalterliche Studien 25, 1991, S. 123–144; Hagen Keller, Die Ottonen, München 32006, S. 103–115. Gerd Althoff, Geschichtsschreibung in einer oralen Gesellschaft. Das Beispiel des 10. Jahrhunderts, in: Schneidmüller – Weinfurter, Ottonische Neuanfänge ( wie Anm. 2 ) S. 151–169; Joachim Ehlers, Tradition und Integration. Orte, Formen und Vermittlung kollektiven Erinnerns im frühen Mittelalter, in: Michael Borgolte ( Hg. ), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, München 1995, S. 363–386; Hagen Keller, Machabaeorum pugnae. Zum Stellenwert eines biblischen Vorbilds in Widukinds Deutung der ottonischen Königsherrschaft, in: Ders. – Nikolaus Staubach ( Hgg. ), Iconologia sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. Festschrift für Karl Hauck zum 75. Geburtstag, Berlin 1994, S. 417–437; Jacek banaszkiewicz, Ein Ritter flieht, oder wie Kaiser Otto II. sich vom Schlachtfeld bei Cortone rettete, in: Frühmittelalterliche Studien 40, 2006, S. 145–165; Thomas Scharff, Die Kämpfe der Herrscher und der Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit, Darmstadt 2002; Hans-Werner Goetz ( Hg. ), Hochmittelalterliches Geschichtsbewusstsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, Berlin 1998; Jean-Marie Sansterre ( Hg. ), L’autorité du passé dans les sociétés mediévales, Rom – Brüssel 2004; vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 31–40, 380–397. Ehlers ( wie Anm. 8 ); Gerd Althoff, Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen, München 1984; Joachim Wollasch, Kaiser und Könige als Brüder der Mönche, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40, 1984, S. 1–20; Ders., Kelch und Patene als herrscherliche Gaben für das Gedenken, in: Giancarlo Andenna – Hubert Houben ( Hgg. ), Mediterraneo, Mezzogiorno, Europa. Studi in onore di Cosimo Damiano Fonseca, Bari 2004, S. 1143–1160; Michael Borgolte, Die Stiftungsurkunden Heinrichs II. Eine Studie zum Handlungsspielraum des letzten Liudolfingers, in: Karl Rudolf Schnith ( Hg. ), Festschrift für Eduard Hlawitschka, Kallmütz/Opf. 1993, S. 231–250; Wolfgang Wagner, Das Gebetsdenken der Liudolfinger im Spiegel der Königs- und Kaiserurkunden von Heinrich I. bis zu Otto III., in: Archiv für Diplomatik 40, 1994, S. 1–78; Hartmut Beyer, Urkundenübergabe am Altar. Zur liturgischen Dimension des Beurkundungsaktes bei Schenkungen der Ottonen und Salier an Kirchen, in: Frühmittelalterliche Studien 38, 2004, S. 323–346.
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tes mit den signa königlicher Hoheit und Huld 10, die in vielen Kirchen, aber auch in Adelsfamilien als Zeichen ihrer Stellung und als Garantien ihrer Rechte aufbewahrt wurden; Auszeichnungen und Belehnungen von Vorfahren, die den Adelsfamilien als Basis ihrer Macht und Ausweis ihres Ranges erinnernswert waren. Manche Ereignisse wurden im Lied besungen, so dass nicht nur private Erzählungen ein Wissen um sie festhielten 11. Die karolingische Annalistik, gerade die offiziösen Charakters, war, wie die Benutzung zeigt, in Klöstern und Domschulen des 10. Jahrhunderts vielerorts noch zur Hand. Diese breite, aber nicht von einem Zentrum her geformte Erinnerung 12 bestimmte durch die eingelagerten Leitbilder und Paradigmen das Handeln, die Entscheidungen und die Zielsetzungen in konkreten Situationen mit. Wer Herkunft, Inhalt und Wirkung der im Reich Ottos I. ermitteln will, wird zunächst auf die Erinnerung an Karl den Großen als achten müssen und auf all das, was sich in den Vorstellungen des 10. Jahrhunderts mit dem Glanz des karolingischen Imperiums verband. In Ottos Reich waren Karl der Große und die Tradition des Karolingerreichs an vielen Orten gegenwärtig. Gerade in Sachsen konnte <der große Karl> als fast übermächtige Figur erscheinen. Ihm und seinen Helfern verdankten alle Bistümer sowie die ersten Klöster ihre Entstehung, aus seiner Zeit stammte das, was es durch die Bischofssitze als <Städte> gab, überhaupt die ersten großen Steinbauten wie die Kirchen oder wie die Pfalz in Paderborn; auf ihn verwies aber auch die Einrichtung des Grafenamtes und die schriftliche Fixierung des eigenen sächsischen Rechts. Im Gefolge der von ihm erzwungenen, aber Christianisierung waren Reliquien der Heiligen, kostbares liturgisches Gerät und kunstvoll gestaltete Handschriften nach Sachsen gekommen 13. Unter Otto I. setzte vom Herrschaftsbeginn an und sich steigernd seit den späten 940er Jahren ein neuer Zustrom sakraler Objekte und zugleich eine rege Bautätigkeit ein: bisher eher der karolingischen Kultur, näherte sich Sachsen sichtbar einer Gleichrangigkeit mit anderen Landschaften 14. Bald wählte Otto auch Aachen, Frankfurt und Ingelheim als bevorzugte Plätze zur Herrschaftsrepräsentation. Gern wurden vor dieser karolin-
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Zum Verständnis Hagen Keller, Zu den Siegeln der Karolinger und der Ottonen, in: Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, S. 400–441; Ders., Hulderweis durch Privilegien: Symbolische Kommunikation innerhalb und jenseits des Textes, in: Frühmittelalterliche Studien 38, 2004, S. 309–321. Vgl. Gerd Althoff, Verformungen durch mündliche Tradition. Geschichten über Erzbischof Hatto von Mainz, in: Keller – Staubach ( wie Anm. 8 ) S. 438–450; Ders., Geschichtsschreibung ( wie Anm. 8 ); Johannes Fried, „ … vor fünfzig oder mehr Jahren“. Das Gedächtnis der Zeugen in Prozeßurkunden und in familiären Memorialtexten, in: Christel Meier u. a. ( Hgg. ), Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur ( Münstersche Mittelalter-Schriften 79 ) München 2002, S. 23–61, S. 43 ff. Vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 32–37. Breite Übersicht: Christoph Stiegemann – Matthias Wemhoff ( Hgg. ), Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, 3 Bde., Mainz 1999; Hedwig Röckelein, Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter, Stuttgart 2002, bes. S. 19–30. Hans Kurt Schulze, Sachsen als ottonische Königslandschaft, in: Puhle ( wie Anm. 2 ) 1, S. 30–52; Werner Jacobsen Ottonische Baukunst, ebd., S. 251–282 ( mit Karte, S. 252 ); Arne Effenberger, Spätantike, karolingische und byzantinische Kostbarkeiten in den Schatzkammern ottonischer Hausklöster, ebd., S. 149–165, sowie weitere Beiträge in dem Band, darunter Henry Mayr-Harting, Herrschaftsrepräsentation der ottonischen Familie, S. 133–148; vgl. unten Anm. 82.
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gischen Kulisse auswärtige Fürsten und Gesandte empfangen 15. Der ostfränkischlothringische König suchte den Vergleich mit dem vorbildhaften Kaiser. Doch Otto sah sich nicht einfach als Nachfolger Karls des Großen im rechtlichen Sinn. Mit dem Königtum seiner Familie war die Vorherrschaft ( rerum summa ) von den Franken auf die einst von Karl besiegten Sachsen übergegangen. Insofern lag in der Karls des Großen etwas von einem Wettstreit 16. Otto wollte es als Sachse dem Franken als dem des Kaisertums gleichtun und, wo es ging, Karls Taten noch übertreffen. Die Kaiserkrönung und das Agieren als Kaiser standen wohl stets auch unter diesem Aspekt. Dass das ehemalige Langobardenreich seit Karl dem Großen zum fränkischen Imperium gehört hatte, war in den Führungsgruppen allgemein bekannt, und man begegnete der karolingischen und auch der langobardischen Vergangenheit hier sozusagen auf Schritt und Tritt. Doch bedeutsam wurde zugleich eine tiefere Schicht der imperialen Tradition. Die Ottonen und ihre Zeitgenossen haben das erneuerte Kaisertum verstanden als die Karolinger 17. Auch dies kann man als <Schritt über Karl den Großen hinaus> betrachten. Mit der Eroberung Italiens und Roms, mit der Kaiserkrönung, auch mit dem Ausgriff nach Benevent wiederholte Otto Großtaten des ebenso wie mit der Ausbreitung des Glaubens und der Errichtung neuer Bistümer in Gebieten, in denen bis dahin noch verehrt wurden. Kaisermacht und Ausbreitung des Glaubens verbanden sich dabei ganz eng. Aber daraus lässt sich kaum ableiten, dass die Taten einzeln und gar in dieser Form eine langfristig vorbedachte Politik mit dauerhaften Zielen haben. Um sein zu können, was er vor Gott und Christus als Kaiser sein sollte, brauchte Otto Gottes Gnade und Hilfe. Ihrer versuchte er sich, wie in seinen Privilegien immer wieder formuliert wird, durch herrscherliche Zeichen seiner Gottesverehrung und durch fromme Stiftungen zu versichern. Unter den seiner devotio bildete das Erzstift Magdeburg mit den Suffragankirchen das größte, schwerwiegendste <Werk>. Die zentrale Elfenbeintafel aus dem für den Magdeburger Dom gestifteten kostbaren Antependium kann die religiöse Einstellung emblematisch verdeutlichen: Eine kleine Kaiserfigur, mit Bügelkrone in vollem Ornat, bringt, vom Erzengel Michael und vom Märtyrer Mauritius geleitet, dem thronenden Christus das Modell der Kirche dar – das Zeichen seiner Erwartung göttlicher Hilfe und ewigen Heils leuchtete als zentrales 15
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Hagen Keller, Entscheidungssituationen und Lernprozesse in den „Anfängen der deutschen Geschichte“. Die „Italien- und Kaiserpolitik“ Ottos des Großen, in: Frühmittelalterliche Studien 33, 1999, S. 20–48, S. 27 f.; vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 178–185, 230–239. Hagen Keller, Die Ottonen und Karl der Große, in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 112–131; Gerd Althoff, Das ottonische Reich als Regnum Francorum?, in: Ehlers ( wie Anm. 6 ) S. 235–261; Schneidmüller, Wahrnehmungsmuster ( wie Anm. 6 ); Timothy Reuter, Ottonische Neuanfänge und karolingische Tradition, in: Puhle ( wie Anm. 2 ) 1, S. 179–188. Carl Erdmann, Das ottonische Reich als Imperium Romanum, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 6, 1943, S. 412–441; Hagen Keller, Das Kaisertum Ottos des Großen im Verständnis seiner Zeit, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 20, 1964, S. 325–388, S. 328 ff., S. 350 ff., S. 375 ff. Zur „römischen“ Sicht des Imperiums im 10. Jahrhundert vgl. auch Gian Andri Bezzola, Das ottonische Kaisertum in der französischen Geschichtsschreibung des 10. und beginnenden 11. Jahrhunderts, Köln 1956, S. 55–64; Schneidmüller, Tradition ( wie Anm. 6 ) S. 61–64; Hubert Houben, La componente romana nell’istituzione imperiale da Ottone I a Federico II, in: Roma antica nel medioevo. Mito, rappresentazioni, sopravvivenze nella „respublica Christiana“ dei secoli ix–xiii, Mailand 2001, S. 28–47.
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Bildnis am Hauptaltar der von ihm mit größtem Aufwand gestalteten Kathedrale, dem Mittelpunkt des von ihm errichteten Metropolitansprengels 18. Die Ottos und seiner Umgebung war solchen aus der Erinnerung lebenden Leitbildern verpflichtet. Der Übergang von einem mächtigen Königtum hegemonialen Charakters zur kaiserlichen Machtfülle konnte dabei als fließend erscheinen, so dass im Denken mancher Zeitgenossen sogar die Bedeutung der Kaiserkrönung unscharf blieb 19. Erst die Verhandlungen um die römische Krönung sowie die ihr folgenden Auseinandersetzungen um die Stellung des Kaisers gegenüber dem Papsttum, auch der Streit mit Byzanz präzisierten die Vorstellungen von der rechtlichen und der sakralen Bedeutung der vom Papst übergebenen Kaiserkrone. Das viel beschworene Konzept einer Kaiserwürde darf aber nicht abstrakt gedeutet werden 20. Die füllte sich von der Stellung her, die derjenige erreicht hatte und inne zu haben glaubte, der 962 die Kaiserkrone empfing und 967 seinen Sohn zum Mitkaiser krönen ließ. Die Geschichte Ottos I. spiegelt geradezu paradigmatisch die Spielräume und die Grenzen, in denen sich der Herrscher bei der Interaktion mit den Großen des Reiches bewegen konnte. Aus gegebenen Konstellationen heraus eröffneten sich Möglichkeiten der Annäherung an wertebesetzte Leitbilder, konnten aber durch einen Wechsel der Situation rasch wieder eingeschränkt werden. Die Herrscherqualitäten Ottos wurden für zeitgenössische Beobachter nicht zuletzt daran erkennbar, wie er situativ und zugleich beharrlich die sich bietenden Möglichkeiten zur Steigerung seiner Herrscherstellung nutzte und wie er – oft durch glückliche Fügungen – die immer wieder auftretenden Krisen überwand. Aus der nachträglichen Sicht des Historikers ist das Span-
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Vgl. Johannes Laudage, Otto der Große ( 912–973 ). Eine Biographie, Regensburg 2001, S. 223 f. Die häufig abgebildete Tafel z. B. ebd., S. 141; Percy ernst Schramm – Florentine Mütherich, Denkmale der deutschen Könige und Kaiser, München 1981, Nr. 68; Puhle ( wie Anm. 2 ) 2: Katalog, S. 365; ebd., S. 363–380, alle noch erhaltenen Tafeln mit Kommentar; Hermann Fillitz, Die Gruppe der Magdeburger Elfenbeintafeln. Eine Stiftung Kaiser Ottos des Großen für den Magdeburger Dom, Mainz 2001, bes. S. 30 ff. Als Selbstzeugnis gehört daneben der Brief des Kaisers an die sächsischen Großen von 968 ( D OI 366 ), in dem er selbst die Einrichtung des Erzbistums Magdeburg und der fünf Suffraganbistümer damit begründet, dass ‚in der Vermehrung der Gottesverehrung Heil und Bestand unseres Königreiches und Kaisertums liegen‘. In den 55 Privilegien Ottos zugunsten der Magdeburger Moritzkirche wird insbesondere seit der Kaiserkrönung fast regelmäßig hervorgehoben, dass die Stiftung nicht nur in Hoffnung auf himmlische Vergeltung und für das Seelenheil, sondern für den Bestand und die Unversehrtheit des Reiches sowie für das Heil Ottos, seiner Gemahlin und seines Sohnes geschieht, vgl. Friedrich Israël – Walter Möllenberg ( Hgg. ), Urkundenbuch des Erzstifts Magdeburg, Teil 1, Magdeburg 1937, Nr. 29–50; Wagner ( wie Anm. 9 ). Zum gesamten Vorstellungshorizont Henry Mayr-Harting, Ottonische Buchmalerei. Liturgische Kunst im Reich der Kaiser, Bischöfe und Äbte, Stuttgart 1991, bes. S. 75 ff., 125 ff.; Keller, Ottonen ( wie Anm. 7 ) S. 115 ff. Keller, Kaisertum ( wie Anm. 17 ); vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 172 mit Anm. 15. In der gesamten Literatur bleibt unscharf, was der Begriff mit Bezug auf die zeitgenössischen Auffassungen vom Kaisertum der Ottonen bezeichnet. Eine Verantwortung für die ‚gesamte Christenheit‘ wird Otto dem Großen in zeitgenössischen Quellen zugesprochen ( Synode von Augsburg 952, Widukind u. a. ); doch war man sich der begrenzten Reichweite seiner Herrschaft bewusst, und auch der Kaiser teilte die Verantwortung für die Kirchen und die Christenheit mit allen christlichen Königen. Vgl. Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 31 ff., 43 ff., 65 ff.; Ernst-Dieter Hehl, Kaisertum, Rom und Papstbezug im Zeitalter Ottos I., in: Schneidmüller – Weinfurter, Ottonische Neuanfänge ( wie Anm. 2 ) S. 213–235, S. 217 ff.
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nende an der Geschichte des zweiten Herrschers aus dem sächsischen Hause nicht zuletzt, wie hier im Auf und Ab des Königtums und der Beziehungen Ottos zu den Angehörigen der Herrscherfamilie, zu den Mitgliedern des Reichsverbandes, zu den Fürsten der Nachbarreiche und zu den Päpsten Strukturen geschaffen wurden, die sich als dauerhaft erwiesen, obwohl sie in ihrer Zeit immer wieder als labil erschienen und fortwährend nach erneuter Stabilisierung verlangten 21. Hier ist die Frage legitim, welche Möglichkeiten politischer Gestaltung in ottonischer Zeit gegeben und denkbar waren, welche Optionen die Akteure ergriffen und welche Weichen ihre Entscheidungen für die nächste und vielleicht für die fernere Zukunft gestellt haben. Was bleibt in jener Zeit an Spielräumen für , wenn man auf die damaligen Leitvorstellungen, die Organisationsmöglichkeiten, die verfügbaren Kräfte und die zu erwartenden Widerstände blickt? II. : SACHSEN UND ELBSLAWEN
Als völlig anachronistisch erscheint vor dieser Folie, was preußisch-kleindeutsch gesinnte Historiker nach 1850 Otto dem Großen vorrechneten und was nach dem Ersten Weltkrieg und in der Zeit des Nationalsozialismus, teilweise noch in den Jahrzehnten danach, heftig weiterdiskutiert wurde: Statt der wäre die Aufgabe der <deutschen Könige> gewesen. Hier hätten bleibende Gewinne in weiten Räumen erzielt werden können; Heinrich I. habe diesen richtigen Weg eingeschlagen, doch sein Sohn habe mit seiner Italienpolitik die Kräfte des Reiches auf ein falsches, sie verzehrendes Ziel gelenkt 22. Den Herrschern eines multigentilen Reiches wird so vorgehalten, dass sie im 10. Jahrhundert die Bedürfnisse eines starken Nationalstaates nicht erkannten, wie die auf ihn fixierte deutsche Geschichtswissenschaft sich ihn im 19. und 20. Jahrhundert wünschte. Dass darin ein ahistorischer Anachronismus liegt, braucht heute nicht mehr begründet zu werden 23. 21
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Vgl. Hagen Keller, Zum Charakter der „Staatlichkeit“ zwischen karolingischer Reichsreform und hochmittelalterlichem Herrschaftsausbau, in: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, S. 248–264, S. 248 f. Referat der älteren Positionen bei Friedrich Schneider, Die neueren Anschauungen der deutschen Historiker über die Kaiserpolitik des Mittelalters und die mit ihr verbundene Ostpolitik, 61943; vgl. Gerd Althoff – Hagen Keller, Heinrich I. und Otto der Große. Neubeginn auf karolingischem Erbe, Göttingen 32006, S. 8 ff.; Eduard Hlawitschka, Vom Frankenreich zur Formierung der europäischen Staaten- und Völkergemeinschaft 840–1046. Ein Studienbuch zur Zeit der späten Karolinger, der Ottonen und der frühen Salier in der Geschichte Mitteleuropas, Darmstadt 1986, S. 220 ff. Gerd Althoff, Die Beurteilung der mittelalterlichen Ostpolitik als Paradigma für zeitgebundene Geschichtsbewertung, in: Ders. ( Hg. ), Die Deutschen und ihr Mittelalter, Darmstadt 1992, S. 147–164, S. 210–217; Ders., Das Mittelalterbild der Deutschen vor und nach 1945, in: Paul-Joachim Heinig u. a. ( Hgg. ), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, Berlin 2000, S. 731–749; Fried ( wie Anm. 2 ) S. 543–562, besonders S. 544 ff.; Christian Lübke, Zwischen Polen und Reich: Elbslawen und Gentilreligion, in: Michael Borgolte ( Hg. ), Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. Die Berliner Tagung über den „Akt von Gnesen“, Berlin 2002, S. 91–110. Wie der unabhängige Nationalstaat des 19./20. Jahrhunderts als großer Herrscher des 10. Jahrhunderts auch heute noch zum Deutungsmuster des Geschehens werden kann, zeigt Dusan Tøestik, „Eine große Stadt der Slawen namens Prag“, in: Petr Sommer ( Hg. ), Boleslav II. Der tschechische Staat um das Jahr 1000, Prag 2001, S. 93–138, wo die „Ermordung“ des eigenen Bruders Wenzel und die „Beseitigung“ der böhmischen Fürsten als Notwendigkeit zur Schaffung eines einheitlichen „Staates“ ( im vollen Sinn des Begriffs! ) dargestellt werden ( S. 93 ff., 103 f. mit Anm. 44 ).
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Wie Vorurteile und Wunschdenken die Lektüre der Quellen lenkten, lässt sich ablesen an Aussagen der Forschung zur Gründungsgeschichte des Erzbistums Magdeburg 24. Johannes XII. benannte 962 die noch zu gründenden Bistümer im Slawenland, die der neuen Metropole unterstellt werden sollten, nicht namentlich. Das wurde generationenlang als Ermächtigung gedeutet, den Magdeburger Sprengel gewissermaßen unbegrenzt nach Osten auszudehnen: Otto habe „seinem Reich und seiner Kirche einen Missionsauftrag erteilt, der einen Raum betraf, dessen Grenzen sich in der unbestimmten Weite der slawischen Welt zu verlieren schienen“, wurde noch 1962 zur Tausend-Jahr-Feier der Kaiserkrönung gesagt, und dazu habe er „sich einen Papst gewünscht, der … den kaiserlichen Anordnungen ohne Einschränkungen folgte“. Dass Johannes XIII. dann 967 fünf Suffraganbistümer namentlich aufführte, wurde als Einschränkung der viel weiter reichenden Ermächtigung von 962 gedeutet. Das gab den Ansatzpunkt für Konstruktionen über eine rasche Veränderung des Verhältnisses von Kaiser und Papsttum im Hinblick auf die für Mission und Kirchenorganisation in Osteuropa und die Rolle, die beiden Instanzen dabei zukommen sollte 25. Doch ließ sich – angesichts der Widerstände im Episkopat gegen die konkrete Gestaltung der Neugründungen und angesichts der damals kaum überwundenen Kämpfe mit den Slawen östlich der Elbe – 962 mehr festlegen, als es auf der römischen Synode nach der Kaiserkrönung geschah? 967 konnten schon neue Entwicklungen berücksichtigt werden: In Polen und Böhmen wandten sich die Fürstenhäuser dem Christentum zu; der Erzbischof von Mainz hatte seinen Widerstand gegen die MagdeburgPläne aufgegeben; der Kaiser hatte 965/66 nach dem Tod des Markgrafen Gero das Markengebiet neu organisiert, in dem die neuen Bistümer lagen; außerdem hatten Synoden mit heiklen Streitpunkten die Aufmerksamkeit für kirchenrechtliche Normen geschärft 26. So wurden 967/68 die Bischofssitze für fünf Suffragane benannt und genauer umschrieben, welche Rolle dem Kaiser bei der kirchlichen Organisation der Gebiete zukam. Das Dokument schloss nicht explizit aus, dass – bei entsprechendem Missionserfolg und Bedarf – dem Metropolitanverband nach kanonischem Verfahren weitere Bistümer zugewiesen werden konnten 27. 24 25
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Vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 230–239. So noch, unter Berufung auf die nach dem Ersten Weltkrieg von Albert Brackmann und anderen entwickelten Auffassungen, Helmut Beumann, Das Kaisertum Ottos des Großen. Ein Rückblick nach tausend Jahren, in: Historische Zeitschrift 195, 1962, S. 529–573, S. 566 ff. ( Zitate S. 572 ); vgl. Dietrich Claude, Geschichte des Erzbistums Magdeburg bis in das 12. Jahrhundert, 1, Köln 1972, S. 78 ff., S. 83 ff.; kritisch Tellenbach ( wie Anm. 20 ) S. 69 f.; Georg Kretschmar, Der Kaiser tauft, in: Bernd Moeller – Gerhard Ruhbach ( Hgg. ), Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Kirchenhistorische Studien, Tübingen 1973, S. 101–150, S. 111 ff.; Sebastian Scholz, Politik – Selbstverständnis – Selbstdarstellung. Die Päpste in karolingischer und ottonischer Zeit, Stuttgart 2006, S. 268–293. Zu Brackmann Althoff ( wie Anm. 23 ) S. 154 ff. Vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 230–239. Zur inneren Entwicklung in den Missionsgebieten: Henry Mayr-Harting, Was the Identity of the Prague Church in the Tenth Century imposed from without or developed from within?, in: Walter Pohl ( Hg. ), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, Wien 2004, S. 271–278; vgl. auch Egon Wamers, … ok Dani gærji kristna … Der große Jellingstein im Spiegel ottonischer Kunst, in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 132–158. Kretschmar ( wie Anm. 25 ) S. 109 ff., 132 ff. Seit 968 wurde im Gebiet Mieszkos von Polen ein Missionsbischof Unger ( von Posen ) aktiv, den Magdeburg später als seinen Suffragan reklamierte; vgl. Claude, Geschichte ( wie Anm. 25 ) S. 106 ff. Zu Ungers Stellung und Protest bei der Gründung des
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Doch die Errichtung von Bistümern, unverzichtbar für eine dauerhafte Christianisierung, griff in das innere Machtgefüge und die Gesellschaftsordnung der zu missionierenden Völker ein. Mit diesem Problem standen die Ottonen vor einer neuen Herausforderung; denn ein Modell, das sie bei der kirchlichen Organisation dieser Gebiete hätten imitieren können, gab es nicht. Weg von den zeitgenössischen Vorstellungshorizonten führt die Deutung, die Slawenmission sei Teil einer politisch konzipierten, expansiven gewesen. Die Ausbreitung des christlichen Glaubens war im ostfränkischen Reich ein Leitbild von unbestreitbarer Geltung. Viele Bistümer und Klöster hatten Glaubensboten als Patrone oder zu Gründern. In Sachsen erinnerte man dankbar daran, dass Karl der Große durch Eroberung und Kirchenorganisation dem eigenen Volk den Weg zum Heil eröffnet hatte; was sich an bewusster Geschichte mit den kirchlichen Stätten im sächsischen Raum verband, verwies auf karolingische Ursprünge 28. Doch zum Ziel, nun – in Fortsetzung steckengebliebener Ansätze – auch den Slawen und Dänen das Evangelium Christi zu bringen, mussten andere Wege führen. Karl der Große hatte die Sachsen völlig unterworfen und ihr Gebiet bis zur Elbe erobert, bevor er dort Bistümer schuf. Die kirchliche Organisation war ein Teil der fränkischen Herrschaftsordnung, die er dort aufrichtete: personell durch Amtsträger, Beauftragte und an ihn gebundene Große mit auf Sprengel bezogenen Kompetenzen, materiell durch Stützpunkte wie befestigte Siedlungen, Kirchen und Pfalzen, institutionell durch Rechtsetzung, Gerichte, urkundliche Sicherung von Transaktionen usw. Auch wenn in weiten Gebieten rechts des Rheins das Erbe spätantik-frühmittelalterlicher Staatlichkeit schwächer ausgebildet war als in anderen Teilen des Großreiches, gab es Modelle und Mittel, um Sachsen als Raum fränkischer Königsherrschaft zu durchdringen 29. Vergleichbare Ansätze zur Durchsetzung der Herrschaft über die slawischen Völker jenseits von Elbe und Saale oder über die Dänen sind unter den Ottonen nicht erkennbar 30. Auf vielen historischen Karten erscheinen die <Marken an der Slawen-
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Erzbistums Gnesen vgl. die Kontroverse zwischen Joachim Ehlers, Otto II. und das Kloster Memleben, in: Sachsen und Anhalt 18, 1994, S. 51–82, und Johannes Fried, Die Frauen und die politische Macht im 10. Jahrhundert. Grenzen der Erkenntnis oder die Gründung des Klosters Memleben, in: Sachsen und Anhalt 20, 1997, S. 29–48. Vgl. Anm. 13; Joachim Ehlers, Das früh- und hochmittelalterliche Sachsen als historische Landschaft, in: Joachim Dahlhaus – Armin Kohnle ( Hgg. ), Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag, Köln 1995, S. 17–36. Für die sächsisch-ottonische Einstellung zur Christianisierung der Sachsen vgl. Helmut Beumann, Die Hagiographie „bewältigt“ Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen, in: Cristianizzazione ed organizzazione ecclesiastica delle campagne nell’alto medioevo ( Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 23 ) Spoleto 1988, S. 129–163; Keller, Ottonen und Karl ( wie Anm. 16 ). Rudolf Schieffer, Die Zeit des karolingischen Großreichs ( 714–887 ) ( Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Zehnte, völlig neu bearbeitete Auflage ) 2, Stuttgart 2005, S. 58–63; Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 105–115; vgl. die Beiträge in: Stiegemann – Wemhoff ( wie Anm. 13 ). Grundlegend hier Gerd Althoff, Saxony and the Elb Slavs in the Tenth Century, in: Timothy Reuter ( Hg. ), The New Cambridge Medieval History, 3, c. 900 – c. 1024, Cambridge/UK 1999, S. 267–292, S. 278–288; Christian Lübke, Die Elbslaven – Polens Nachbarn im Westen, in: Przemysław Urbanczyk ´ ( Hg. ), The neighbours of Poland in the 10th century, Warschau 2000, S. 61–77; Ders., Die Ausdehnung ottonischer Herrschaft über die slawische Bevölkerung zwischen Elbe/Saale und Oder, in: Puhle ( wie Anm. 2 ) 1, S. 65–74. Überblick auf älterem Forschungsstand: Manfred Hellmann, Elb-
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grenze>, den Herzogtümern vergleichbar, als Amtssprengel auf Reichsboden, die den sächsischen Markgrafen unterstanden, doch dieses Bild verfehlt die historische Realität. Eine direkte, organisierte Herrschaft haben die Ottonen hier nicht errichtet. Die militärischen Vorstöße über die Elbe waren ebenso wie die Verteidigung der sächsischthüringischen Ostgrenze eine sächsische Angelegenheit. Im 10. Jahrhundert ist hier nie ein Reichsheer aufgeboten worden, allenfalls wurden die Anführer des sächsischen Aufgebots von befreundeten Slawenfürsten mit ihren Kriegern unterstützt; und nie ließ man nach einem Feldzug größere Truppenkontingente als ständige Besatzung zurück. In der der Beziehungen zu slawischen Fürsten und Stämmen setzten sich die Markgrafen mehrfach auch über Anweisungen des Königs hinweg 31. Offensichtlich fehlten der politische Wille und die Mittel, im Gebiet der Slawen eine von diesen nicht akzeptierte dominatio durch ständige Präsenz auszuüben. Was die Quellen berichten, verweist nicht auf Versuche einer gewaltsamen Expansion nach Osten, sondern auf einen Kampf um Wahrung eines Status quo unter ungleichen Partnern sowie um die mit diesem verknüpften Ansprüche: Repressalien und Vergeltungszüge von abschreckender Grausamkeit stehen neben Verhandlungen sowie Beziehungen von eher nachbarschaftlichem Charakter 32. Der König wies verurteilte Gegner oder des Verrats Verdächtigte zu befreundeten Slawen ins Exil; aufständische Sachsen flohen, um sich einer Bestrafung von Seiten des Königs zu entziehen, an slawische Fürstenhöfe 33. Das wechselseitige Verhältnis, um das in den Konflikten beide Seiten kämpften, wies freilich ein deutliches Gefälle auf. Seit Karl dem Großen hatten die Frankenkönige von den Slawenfürsten jenseits der Elbe gefordert, dass diese sie für sich und ihre Völker durch Tributzahlungen und durch gelegentliches Erscheinen auf Hoftagen als Oberherren anerkannten; diesen Anspruch hatten sie unter sächsischer Beteiligung auf Feldzügen durchgesetzt. Im Zerfall der karolingischen Königsmacht wuchsen die für die Sicherheit der Grenze verantwortlichen Markgrafen, darunter die Liudolfinger, in Ansprüche des Königtums hinein 34. Nun definierten sie das , die Be-
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und Ostseeslawen, in: Theodor Schieder ( Hg. ), Handbuch der europäischen Geschichte 1, Stuttgart 1976, S. 859–868; für die Ereignisgeschichte in fränkischer und ottonischer Zeit vgl. auch Joachim Herrmann ( Hg. ), Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neisse vom 6. bis 12. Jahrhundert, Berlin 1985, Kapitel VI. Althoff ( wie Anm. 30 ). Ernst Schubert, Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, in: Ders. ( Hg. ), Geschichte Niedersachsens. Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, 2/1, Hildesheim 1997, S. 117–122; für die Zeit um 1000 vgl. Klaus Guth, Kulturkontakte zwischen Deutschen und Slawen nach Thietmar von Merseburg, in: Dieter Berg – Hans-Werner Goetz ( Hgg. ), Historiographia Mediaevalis. Studien zur Geschichtsschreibung und Quellenkunde des Mittelalters. Festschrift für Franz-Josef Schmale zum 65. Geburtstag, Darmstadt 1988, S. 88–102; zur Gewaltsamkeit der Auseinandersetzungen Scharff ( wie Anm. 8 ) S. 249 ff. Zur der sächsischen Aktionen im elbslawischen Gebiet gehörten insbesondere Frauen und Kinder, die als <Sklaven> ein wertvolles darstellten und aus dem ottonischen Reich vor allem in das muslimische Spanien verkauft wurden. Stéphane Lebecq u. a., Art. <Sklave>, in: LMA 7, 1995, Sp. 1977–1987; Frank G. Hirschmann, Verdun im frühen Mittelalter. Eine lothringische Kathedralstadt und ihr Umland im Spiegel der geistlichen Institutionen, 3 Bde., Trier 1995, 1, S. 304 ff. Althoff ( wie Anm. 30 ) S. 281 ff., 285 ff. Die Bedeutung dieser Entwicklung betont Christian Hanewinkel, Die politische Bedeutung der Elbslawen im Hinblick auf die Herrschaftsveränderungen im ostfränkischen Reich und in Sachsen von
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dingungen und die Spielregeln friedlicher, aber nicht gleichberechtigter Nachbarschaft, sicherlich mit der Tendenz, das zumindest im Streitfall zum eigenen Vorteil auszudehnen. Von hier her wohnt den sächsischen Aktionen insgesamt eine deutlich expansive, den slawischen Reaktionen eine defensive Tendenz inne. Doch wie schon in karolingischer Zeit blieb es <politisch> bei einer Kontrolle von außen. Die sächsischen Markgrafen stellten eine anerkannte Oberhoheit ihres Königs sicher und demonstrierten durch unerbittliche <Strafaktionen> und Raubzüge. Doch sie kannten den unbedingten Freiheitswillen der slawischen Nachbarvölker, die lieber sterben wollten, als eine direkte Herrschaft der Sachsen zu dulden 35. Wozu hätten sie das Land in Besitz nehmen sollen, solange sie durch Tribute und Kriegsbeute an seinen Reichtümern Anteil hatten? Außer dem Willen fehlte wohl auch die militärische Überlegenheit, um eine Unterwerfung der Völker sowie eine dauerhafte Präsenz sächsischer Herrschaftsträger zu erzwingen. Das zeigen nicht nur die ständig wieder auflebenden blutigen Konflikte, in denen die sächsischen Heere oft genug den Kürzeren zogen 36. Wie aus dendrochronologischen Untersuchungen hervorgeht, fällt in das späte 9. und das 10. Jahrhundert bei den Slawen eine Phase intensiven und qualitätvollen Burgenbaus, der gewiss auch in Relation zu den Konflikten mit dem sächsischen Nachbarn gesehen werden muss 37. Die slawischen Gentilgruppierungen östlich der Elbe zeigen im 10. Jahrhundert eine Tendenz zur Bildung größerer Verbände unter fürstlichen Führern von erheblicher Macht. Der Strukturwandel, der sich in solchen Phänomenen andeutet, wird derzeit mit der zuspitzenden Formulierung „von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften“ umschrieben 38. Woher hätten die Ottonen und ihre Sachsen die Kräfte nehmen sollen, das Gebiet zwischen Elbe/Saale und Oder zu erobern? Mit welchen Mitteln, nach welchen Vorbildern hätten sie dort ihre Herrschaft organisieren können?
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887 bis 936. Politische Skizzen zu den östlichen Nachbarn im 9. und 10. Jahrhundert, Diss. Münster 2005, Kapitel 3.1. Eindrücklich formuliert von Widukind von Corvey, Rerum gestarum Saxonicarum libri III, II 20, III 53: Paul Hirsch ( Hg. ), Die Sachsengeschichte des Widukind von Korvei ( MGH SRG 60 ) Hannover 1935, S. 84, 132, auch in: Albert Bauer – Reinhold Rau ( Hgg. ), Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, Darmstadt 1971, S. 16–183, S. 106, 160; das Deutungsmuster entspricht Widukinds Darstellung des Verhältnisses von Sachsen und Franken nach der <sächsischen Landnahme> in I 8; vgl. auch Beumann ( wie Anm. 3 ) S. 207, 174. Ereignisüberblick: Christian Lübke, Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder, Teile 1–5, Berlin 1984/1988; Ders., Elbslaven ( wie Anm. 30 ). Joachim Henning, Der slawische Siedlungsraum und die ottonische Expansion östlich der Elbe, in: Ders. ( Hg. ), Europa im 10. Jahrhundert. Archäologie einer Aufbruchszeit, Mainz 2002, S. 131–146; Michal Kara, Anfänge der Bildung des Piastenstaates im Lichte neuer archäologischer Ermittlungen, in: Quaestiones medii aevi novae 5, 2000, S. 57–85; weitere Beispiele in: Alfried Wieczorek – hansMartin Hinz ( Hgg. ), Europas Mitte um 1000, 3 Bde., Stuttgart 2000. So der Untertitel von Christian Lübke, Fremde im östlichen Europa, Köln 2001; vgl. Ders., Die Erweiterung des östlichen Horizonts. Der Eintritt der Slaven in die europäische Geschichte im 10. Jahrhundert, in: Schneidmüller – Weinfurter, Ottonische Neuanfänge ( wie Anm. 2 ) S. 113–126, S. 117 ff.; Jerzy Strzelczik, Bohemia and Poland, in: New Cambridge Medieval History 3 ( wie Anm. 30 ) S. 514–535; Bernhard Friedmann, Untersuchungen zur Geschichte des abodritischen Fürstentums bis zum Ende des 10. Jahrhunderts, Berlin 1986, S. 209 ff., 238 ff.
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Im Aufbau einer kirchlichen Organisation nahm allerdings Ottos Oberhoheit eine sehr konkrete Gestalt an: Er legte 948 die Grenzen der Diözesen Havelberg und Brandenburg bis zur Oder fest; er wies, vom Papst ermächtigt, den Bischofskirchen die Zehnten in den slawischen Gauen zu und benannte diese einzeln; er übertrug dem Bischof von Brandenburg die nördliche Hälfte der Stadt mitsamt der nördlichen Hälfte der Insel, auf der sie lag, dem Bischof von Havelberg ‚die Hälfte von Burg und Stadt‘ mit den zugehörigen Dörfern zugunsten der dort von ihm zu errichtenden Kathedrale, und dabei spricht er von ‚unserem Eigengut‘ beziehungsweise von ‚unserem Gut, in der Mark Geros gelegen, im Slawenland‘ 39. Doch der König nutzte seine Besitzungen hier nicht in gleicher Weise wie seine Königs- und Eigengüter im Reich. Aufgrund seiner Stellung gegenüber den Hevellern besaß er trotzdem Ansprüche, die eine formelle Übertragung, eine Schenkung, notwendig machten, um die Kirchen dauerhaft in ihrem Recht zu sichern. Und selbstverständlich gab Otto den Bischöfen aus Sachsen zu ihrem Schutz ein militärisches Gefolge in das Land der Slawen mit, das an den Sitzen mit dem für die Lebensführung Nötigen ausgestattet wurde. Eine Eroberung oder permanente Besetzung des Gebiets lässt sich daraus ebenso wenig ableiten wie aus dem Privileg, mit dem er 965 zugunsten der dänischen Bistümer auf sein Eigentum in marca vel regno Danorum verzichtete, die Güter von allen Abgaben und Diensten an ihn befreite und seinen Amtsträgern verbot, die Kirchen mit irgendwelchen Forderungen zu behelligen 40. Nur im Gebiet der Sorben erfolgte während der kaiserlichen Herrschaft Ottos I. eine Ausweitung direkter sächsischer Herrschaft nach Osten, über die Elbe-SaaleGrenze hinaus 41. Zwischen Saale und Mulde und bis in die Gegend östlich von Magdeburg, wo es mehrfach zu grenzüberschreitenden beider Seiten gekommen war, hatten die massiven Eingriffe des zuständigen Markgrafen Gero vermutlich eine Herrschaftskonzentration unter slawischer Führung unterbunden und das politische Gefüge destabilisiert. Als 939, zur Zeit der Kämpfe zwischen Otto und seinem Bruder Heinrich um Merseburg, Slawen im Komplott die Ermordung des Markgrafen planten, setzte dieser – nach Widukind – ‚List gegen List‘ und ließ ‚in einer Nacht‘ fast 30 Fürsten im Schlaf ermorden 42. Geros Grausamkeit in den Slawenkämpfen war anscheinend nicht immer im Sinne seines königlichen Herrn. Doch Mitte der 60er Jahre wurde es möglich, jenseits der Saale die Bistümer Meißen und Zeitz einzurichten, die <Mark Geros> nach seinem Tod auf mehrere Markgrafen aufzuteilen und dreien von ihnen Amtssprengel zuzuweisen, die sich wohl mit den Diözesen Merseburg, Meißen und Zeitz deckten 43. Anders lagen die Verhältnisse östlich des von der Saale-Mündung zur Elbe-Mündung reichenden Elbe-Abschnitts in der so genannten Nordmark. Sie gehörte eben-
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DD OI 76, 105; vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 180 f. mit Anm. 33 f., S. 233–237. D OI 294; vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 179, Anm. 31, S. 235 mit Anm. 101. Lübke, Elbslaven ( wie Anm. 30 ) S. 68 f., 74 ff.; vgl. Herrmann ( wie Anm. 30 ) Kapitel VI.4. Althoff, Saxony ( wie Anm. 30 ) S. 282; vgl. Helmut Beumann, Art. , in: LMA 4, 1989, Sp. 1349. Hellmann ( wie Anm. 30 ) S. 865 f.; Lübke, Elbslaven ( wie Anm. 30 ) S. 74 f.; Ders., Zwischen Polen ( wie Anm. 23 ) S. 99 f.; Ders., Regesten ( wie Anm. 36 ) 2, Nr. 129. Zur anschließenden Organisation des Gebietes Gerhard Billig, Die Burgwardorganisation im obersächsisch-meissnischen Raum. Archäologisch-archivalisch vergleichende Untersuchungen, Berlin 1989.
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falls zum Kommandobereich Geros. Bei den Hevellern um die Havel war durch die Feldzüge Heinrichs I. eine Orientierung auf das sächsische Königtum und eine Christianisierung eingeleitet worden, die 948 die Einrichtung von Bischofssitzen in ihrem Hauptort Brandenburg und im grenznahen Havelberg ermöglichte 44. Wohl schon 929 war der hevellische Fürstensohn Tugumir mit nach Sachsen gebracht worden, der 940 nach Beseitigung eines Neffen die Herrschaft über die Brandenburg übernahm; als seine Schwester gilt die Slawin, die Otto den Sohn Wilhelm, den späteren Erzbischof von Mainz, gebar 45. Die Verhältnisse scheinen in diesem Gebiet bis zum großen Slawenaufstand des Jahres 983 stabil geblieben zu sein; allerdings fehlen, sieht man von den Quellen zur Geschichte der beiden Bistümer ab, weitere Nachrichten. In der angrenzenden, sich bis zur Ostsee erstreckenden <Mark der Billunger> jenseits der Unterelbe siedelten – wohl südlich der Peene und um den Müritzsee – die schwer zu lokalisierenden Redarier. Obwohl sie keine unmittelbaren Nachbarn der Sachsen waren und diesen nur im Bündnis mit anderen, Völkern gefährlich wurden, überschritten sie bei Vorstößen sogar die Elbe. Sie vor allem sollte Markgraf Hermann Billung in Schach halten; gegen sie richteten sich mehrere von Heinrich I. und Otto I. persönlich angeführte Feldzüge. Kein Vorstoß brachte einen dauerhaften Erfolg. Am Aufstand von 983 waren dann wiederum die Redarier führend beteiligt 46. Die mächtigste Gruppierung unter allen als <Elbslawen> bezeichneten Völkerschaften stellten während des 10. Jahrhunderts die Abodriten im ostholsteinischenwestmecklenburgischen Raum, die schon seit der Karolingerzeit den Sachsen als die gefährlichsten Feinde galten 47. Durch Anteil am Handel waren sie reich und verfügten nach Ausweis der Befestigungsbauten über eine effiziente Herrschaftsorganisation. Gegen ihre Fürsten Nakon, Stojgnev und Mstivoj zogen Otto und seine Markgrafen mehrfach in blutige Kriege. Im Bündnis mit ihnen führte Wichmann der Jüngere 955/56 slawische Truppen gegen Herrmann Billung, seinen Oheim, und damit letztlich gegen den König; 966/67 kämpfte er zusammen mit Selibur, dem Fürsten der Wagrier, zum Schluss mit den Slawen von Wollin gegen den Markgrafen, den Kaiser und dessen ‚Freund‘ Mieszko von Polen 48. In den dank Widukind relativ gut beleuchteten Ereignissen ist weder ein Wille zur politischen Einverleibung des von Slawen besiedelten Raumes zwischen Elbe und
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Wie Anm. 39; vgl. Gerard Labuda, Zur Gliederung der slawischen Stämme in der Mark Brandenburg, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 42, 1994, S. 103–139. Herbert Ludat, An Elbe und Oder um das Jahr 1000. Skizzen zur Politik des Ottonenreiches und der slavischen Mächte in Mitteleuropa, Köln 1971, S. 12 ff.; Lübke, Erweiterung ( wie Anm. 38 ) S. 121 ff.; Ders., Elbslaven ( wie Anm. 30 ) S. 71 ff. Zum Problem der Gentilreligion Ders. ( wie Anm. 23 ); Ders., Zwischen Triglav und Christus. Die Anfänge der Christianisierung des Havellandes, in: WichmannJahrbuch 34/35, 1994/95, S. 15–35. Lothar Dralle, Art. , in: LMA 7, 1995, Sp. 534 f.; Lübke, Zwischen Polen ( wie Anm. 23 ) S. 73 f. Grundlegend Friedmann ( wie Anm. 38 ) Kapitel 5–6; vgl. Wolfgang H. Fritze, Art. , in: LMA 1, 1980, Sp. 47–49; Lübke, Elbslaven ( wie Anm. 30 ) S. 67 f., 69 ff. Widukind ( wie Anm. 35 ) III 68 f.; Lübke, Regesten ( wie Anm. 36 ) 2, Nr. 100–102, 143–144; vgl. Werner Goez, Graf Wichmann der Jüngere, in: Ders., Lebensbilder aus dem Mittelalter, Darmstadt 21998, S. 41–52; Gerd Althoff, Art. <Wichmann I. II.>, in: LMA 9, 1998, Sp. 60.
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Oder noch eine gezielte Erschließung des Landes erkennbar 49. Wenn man überhaupt von einer ottonischen sprechen möchte, muss man sie anders beschreiben, als es die nationalstaatlich ausgerichtete Geschichtsschreibung mehr als hundert Jahre lang unter Großmacht- und Eroberungsvorstellungen getan hat. Im Verhalten Ottos des Großen scheint, bei aller Härte in der Erzwingung einer Vorherrschaft, mehr von dem Bemühen um Stabilisierung und von der Respektierung anderer Herrschaftsgebiete zu stecken, das in seiner <Westpolitik> zu beobachten ist 50, als von einem Willen zur Expansion. Den sächsischen Markgrafen hingegen fiel es oft schwer, die Grenzen einzuhalten, die eine friedliche Nachbarschaft mit tributär abhängigen Völkern ermöglichten. Doch die slawischen Fürsten und Völker konnten Übergriffe nicht hinnehmen, wenn sie ihren selbständigen Status wahren wollten. Der große Slawenaufstand von 983, der die kirchliche Organisation östlich der Elbe noch einmal vernichtete und östlich der Saale schwer zurückwarf, war nicht zuletzt eine Reaktion auf Überheblichkeit und Willkür der sächsischen Markgrafen während der Abwesenheit Ottos II., in denen die Slawen Angriffe auf die ihnen verbliebene sahen 51. Gegen das Verdikt, vom Glanz der Kaiserkrone geblendet die missachtet zu haben, wurde Otto der Große vielfach mit dem Argument , die habe vor allem auch im Dienste seiner gestanden und eine Herrschaft über das Papsttum habe sich für die Realisierung des Magdeburg-Projekts geradezu als Notwendigkeit erwiesen 52. Diese lange Zeit vorherrschende Meinung verkennt die Motive der damals Handelnden, insbesondere die des Herrschers selbst. Wenn von Zeitgenossen im Zusammenhang mit der Erhöhung zum Kaisertum auf Ottos Siege über die das christliche Volk heimsuchenden Heiden, auf sein Wirken für die Ausbreitung des Glaubens und seine überragende Stellung im Kreis der europäischen Herrscher und tributär abhängiger Völker abgehoben wird, so diente dies wohl vor allem der Legitimation: Der König, der mit militärischer Macht vom Regnum Italiae und von Rom Besitz ergriffen hatte, füllte die Rolle aus, die dem Kaiser als dem von Gott bestimmten Lenker der Christenheit zukam. Der Herrscher aus dem Volk der Sachsen entsprach in seinen Taten dem Leitbild, das mit göttlicher Hilfe Karl der Große, ja Kaiser Konstantin durch ihr Wirken für die Christenheit gesetzt hatten 53. Einer solchen Legitimation bedurfte Otto vielleicht um so mehr, als er von einem Papst gekrönt war, den er nicht einmal zwei Jahre später als seines Amtes unwürdig absetzen ließ, und als ihm der Kaiser im Osten den kaiserlichen Rang bestritt. 49
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Zu den slawischen Siedlungen auf Reichsgebiet vgl. Hans Walther, Die Slawen westlich von Elbe/Saale und Böhmerwald unter fränkischer und deutscher Feudalherrschaft, in: Herrmann ( wie Anm. 30 ) Kapitel IV.8. Vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 166–185. Wolfgang Fritze, Der slawische Aufstand von 983, in: Eckart Henning ( Hg. ), Festschrift der landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg zu ihrem hundertjährigen Bestehen, Berlin 1984, S. 9–55, bes. S. 30 ff.; Christian Lübke, Eine andere Folge der Christianisierung in Europa: Entstehung und Wesen des Lutizenbündnisses, in: Trigon 7, 1997, S. 44–55; Ders. ( wie Anm. 23 ) S. 102 ff. Vgl. Anm. 25; zu den „Positionen“ Schneider ( wie Anm. 22 ). Nachdrücklich wird Otto mit Konstantin verglichen im Gründungsprivileg Johannes’ XIII. für Magdeburg: Papsturkunden 896–1046, hg. von Harald Zimmermann, 1, 896–996, 2. revidierte Aufl., Wien 1988, Nr. 174. Vgl. Keller, Kaisertum ( wie Anm. 17 ) S. 352 ff.; Herwig Wolfram, Constantin als Vorbild für den Herrscher des hochmittelalterlichen Reiches, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 68, 1960, S. 226–234.
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Hagen Keller III. DIE NEU GEWONNENEN HERRSCHAFTSGEBIETE IM SÜDEN
Als sich Otto 951 und wiederum 960/61 eine Chance bot, seinem Herrschaftsgebiet, das bereits aus mehreren Regna bestand, ein weiteres, traditionsreiches Königreich voller Schätze und verlockender Ressourcen hinzuzufügen und gar die verwaiste Kaiserkrone Karls des Großen zu erwerben, hat er in beiden Fällen entschlossen und beim zweiten Mal wohlvorbereitet gehandelt 54. Eine völlig fremde Welt betrat der Herrscher südlich der Alpen nicht, auch wenn er sie wie die meisten aus seinem Gefolge vorher noch nicht selbst gesehen hatte. Familientraditionen und Augenzeugen konnten von ihr erzählen: Ottos eigener Großvater war wohl mit Arnolf von Kärnten in Italien, sein Vater soll einen Romzug geplant haben; Herzog Burkhard von Schwaben und Herzog Arnolf von Bayern hatten 926 und 933 größere Heereskontingente nach Italien geführt 55. Angehörige von sächsischen Adelsfamilien, auch Vorfahren des Königs, hatten in Rom Reliquien für ihre Klostergründungen erworben, Kirchen und ihre Prälaten vom Papst Privilegien erhalten, Erzbischöfe das Pallium empfangen. Nicht nur Geistliche zogen als Pilger oder im Auftrag von Königen, Bischöfen und Synodalversammlungen nach Rom; wie viele andere trat auch Markgraf Gero 949/50 eine solche Reise an und brachte Reliquien für seine Kirchenstiftungen in Sachsen mit 56. Auf den Zug von 961/62 war Otto von seiner Gemahlin, der ehemaligen Königin Italiens, und von höchstrangigen Emigranten begleitet, die jetzt mit ihm in ihre Positionen zurückkehrten. In Italien stellten sich Große und Amtsträger auf seine Seite; sogar Urkundenschreiber und den Erzkanzler der Könige Berengar II. und Adalbert holte der neue Machthaber in seine Kanzlei 57. Mit Italienzug und Kaiserkrönung übernahm Otto I. 962 allerdings kein einheitliches Herrschaftsgebiet. Vielmehr gewann er mehrere Herrschaftsräume, die zwar schon unter den Karolingern miteinander verbunden waren, in denen sich die Stellung des Königs oder Kaisers jedoch auf unterschiedliche legitimatorische und rechtliche Fundamente gründete und die sich nicht verschmelzen ließen. Das Regnum Italiae, , aus dem ehemaligen Königreich der Langobarden und dann karolingischen Teilreich Italien hervorgegangen, glich hinsichtlich seiner Grundstruktur den anderen nachkarolingischen Königreichen: Die Großen <wählten> ihren König; der geweihte König gewann die Anerkennung seiner Regierung vor allem durch Huld und Konsens 58. Indem Otto seine Ge-
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Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 186–191, 207–218. Vgl. Thomas Zotz, Die ottonischen Schwabenherzöge in Oberitalien, in: Helmut Maurer ( Hg. ), Schwaben und Italien im Hochmittelalter ( Vorträge und Forschungen 52 ) Stuttgart 2001, S. 83–108, S. 83 ff. Röckelein ( wie Anm. 13 ) S. 241 ff.; Keller, Kaisertum ( wie Anm. 17 ) S. 378 ff.; Karl Schmid, Die Nachfahren Widukinds, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 20, 1964, S. 1–47; Helmut Beumann, Art. , in: LMA 4, 1989, Sp. 1348. Keller, Entscheidungssituationen ( wie Anm. 15 ) bes. S. 42 ff.; Josef Fleckenstein, Die Hofkapelle der deutschen Könige, 2, Stuttgart 1966, S. 59 ff.; Wolfgang Huschner, Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich ( 9.–11. Jahrhundert ) Hannover 2003, 1, S. 215 ff., 300 ff., 434 ff., 510 ff. Vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 348–372, 436–444. Zu den historischen Grundlagen der politischen Geografie Italiens Paolo Cammarosano, Storia dell’Italia medievale. Dal VI all’XI secolo, Rom – Bari 2001, S. 47–110.
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mahlin Adelheid als legitime Erbin des Reiches betrachtete, das er selbst 952 Berengar und Adalbert anvertraut hatte 59, artikulierte er einen Anspruch, der in den Ereignissen Bestätigung fand: Die Mehrheit der Großen erkannte ihn als König an, während Berengar und Adalbert weitgehend verlassen wurden. Zu diesem Königreich gehörten ganz Norditalien – allerdings unter Ausschluss Venedigs und seines Dukats, eines Küstenstreifens an der Adria nördlich des Po-Deltas 60 – sowie die Toskana, d. h. die Markgrafschaft Tuszien, und das Herzogtum Spoleto, von dem man zeitweilig die der Adria zugewandten Teile als Mark oder Herzogtum Camerino schied 61. Vom übrigen Regnum war Spoleto durch die Landbrücke getrennt, die den von Rom mit dem <Exarchat> von Ravenna durch Umbrien hindurch verband. Beide wurden von den Päpsten als Hoheitsgebiet der römischen Kirche betrachtet. Den Kaisern war eine Mitherrschaft zugestanden, allerdings von unterschiedlichem Umfang diesseits und jenseits des Apennin. In Rom und im päpstlichen Gebiet, dem Patrimonium beati Petri, verfügten die Kaiser nicht über eine eigene Machtorganisation. Sie übten hier eine Art mit dem Papst aus, das ihnen ermöglichen sollte, den Schutz der römischen Kirche wahrzunehmen 62. Dabei waren sie angewiesen auf die Amtsträger des Papstes sowie auf die Loyalität der auf die römische Kirche orientierten Aristokratie, eine nach außen weitgehend abgeschlossene, aber in Faktionen gespaltene , in die auch der langobardische und fränkische Adel Reichsitaliens kaum familiäre Verbindungen besaß 63. Die Basis der kaiserlichen Herrschaft in Rom bildete so entweder das Einvernehmen mit dem Nachfolger Petri und mit stadtrömischen Kräften oder, im Konfliktfall, der Einsatz militärischer Gewalt von außen. Wo sich diese gegen den Papst richtete, ließ er sich nur aus der Verantwortung des Kaisers für die römische Kirche 59
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Vgl. Keller, Entscheidungssituationen ( wie Anm. 15 ) S. 42 ff. Als Überblick für die Zeit der so genannten ( 888–962 ) vgl. Theodor Schieffer, Nord- und Mittelitalien, in: Schieder ( wie Anm. 30 ) S. 649–668; Paolo Cammarosano, Nobilli e re. L’Italia politica dell’alto medioevo, Rom – Bari 1998, S. 218–321. Gherardo Ortalli, Art. , in: LMA 8, 1997, Sp. 1459–1466; Gerhard Rösch, Venedig und das Reich. Handels- und verkehrspolitische Beziehungen in der deutschen Kaiserzeit, Tübingen 1982. Noch immer hilfreich Adolf Hofmeister, Markgrafen und Markgrafschaften im Italischen Königreich in der Zeit von Karl dem Großen bis auf Otto den Großen ( 774–962 ) ( Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 7, 2. Heft ) Innsbruck 1906, S. 215–428, bes. S. 386–411 ( Tuszien ), 411–427 ( Spoleto ); Hagen Keller, La marca di Tuscia fino all’anno mille, in: Atti del 5o Congresso internazionale di studi sull’alto medioevo, Spoleto 1973, S. 117–140; Andrea Puglia, Otto I., Italien und die Toskana, in: Andrea Augenti ( Hg. ), Otto der Große und Europa. Volterra von Otto I. bis zur Stadtrepublik, Siena 2001, S. 11–17; Il ducato di Spoleto, Spoleto 1983; Stefano Gasparri, Art. <Spoleto>, in: LMA 7, 1995, Sp. 2128 f. Zur päpstlichen Herrschaft und Verwaltung Pierre Toubert, „Scrinium“ et „Palatium“. La formation de la bureaucratie romano-pontificale aux VIIIe–IXe siècles, in: Roma nell’alto medioevo ( Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 48 ) Spoleto 2001, S. 57–117; Ders., Les structures du Latium médiéval. Le Latium méridional et la Sabine du IXe siècle à la fin du XIIe siècle, 2 Bde., Paris 1973, 2, S. 938–960, 968–998; vgl. Willi Kölmel, Rom und der Kirchenstaat im 10. und 11. Jahrhundert bis in die Anfänge der Reform, Berlin 1935, S. 18 ff., 25 ff.; Carlrichard Brühl, Die Kaiserpfalz bei St. Peter und die Pfalz Ottos III. auf dem Palatin, Neufassung in: Ders., Aus Mittelalter und Diplomatik. Gesammelte Aufsätze, 1, Hildesheim u. a. 1989, S. 3–31. Harald Zimmermann, Parteiungen und Papstwahlen in Rom zur Zeit Kaiser Ottos des Großen, in: Römische Historische Mitteilungen 8/9, 1966, S. 29–88; Toubert, Structures ( wie Anm. 62 ) 2, bes. S. 963 ff.
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rechtfertigen. Die Notwendigkeit der Legitimation gewaltsamer Aktionen zwang dazu, gegnerische Päpste als ihres Amtes unwürdig und ihre Anhänger als Feinde der Kirche darzustellen, wie dies unter Otto I., Otto II. und Otto III. geschehen ist 64. Schon beim ersten langen Italienaufenthalt hatte der Erneuerer des westlichen Kaisertums für die Absetzung zweier gewählter Päpste gesorgt und den Römern einen ehemaligen Laien, den sie nicht wollten, als Bischof aufgedrängt; mit dem Italienzug von 966 erzwang er die Wiederaufnahme eines ihm genehmen Papstes, der vorher von einer römischen Partei ausgeschaltet worden war. Mehrere Belagerungen, Eroberungen und kaiserlich-päpstliche Strafgerichte musste die Stadt über sich ergehen lassen. Die Karolinger hatten im Verhältnis zum Papsttum und in der Behandlung Roms zurückhaltender agiert 65. Bei der Kaiserkrönung wurden Otto das Privileg über die präsentiert und die pacta zur Bestätigung vorgelegt, mit denen die karolingischen Vorgänger der römischen Kirche ihre Rechte garantiert, aber auch ihre eigene Stellung in Rom definiert hatten 66. Beide Dokumente gewannen jetzt eine erhöhte Bedeutung als – mehrfach umstrittene – der Beziehungen, doch verschafften sie dem Kaiser keine materiellen Mittel für seine Regierung in der Stadt der Apostelfürsten. Die Diskrepanz zwischen dem gesteigerten Herrschaftsanspruch gegenüber dem Papsttum und den fehlenden Herrschaftsgrundlagen in Rom, die sich mit dem Kaisertum Ottos des Großen auftat, versuchte später Otto III. zu überwinden durch neue Formen des Zusammenwirkens zwischen Kaiser und Papst, durch eine Neudefinition der kaiserlichen Stellung in Rom und durch eine institutionelle Präsenz in der Stadt der Päpste 67. Zum Hoheitsgebiet, das der römischen Kirche garantiert wurde, gehörte auch die spätrömische Kaiserresidenz Ravenna mit dem <Exarchat>, benannt nach dem Amt des 64
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Diese der Quellen hat das Bild der Forschung vom Papsttum des 10. Jahrhunderts lange dominiert und verzerrt, vgl. z. B. noch Hartmut Hoffmann, Rezension zu Harald Zimmermann, Papstabsetzungen des Mittelalters, Graz u. a. 1968, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 82, 1971, S. 111 f. ( gegen den Versuch, die Verhaltensweisen im zeitgenössischen Horizont zu „rehabilitieren“; unter Berufung auf Johannes Haller, Das Papsttum, 1, Stuttgart 1934 ): „Im 10. Jahrhundert folgte auf dem Heiligen Stuhl ein monstrum dem anderen …“. Zur Relativierung der papstfeindlichen Quellenperspektiven Heinrich Fichtenau, Vom Ansehen des Papsttums im 10. Jahrhundert, in: Hubert Mordek ( Hg. ), Aus Kirche und Reich. Studien zu Theologie, Politik und Recht im Mittelalter. Festschrift für Friedrich Kempf zum 75. Geburtstag, Sigmaringen 1983, S. 117–124; folgenreiche Korrekturen bei Ernst-Dieter Hehl, Der wohlberatene Papst. Die römische Synode Johannes’ XII. vom Februar 964, in: Klaus Herbers u. a. ( Hgg. ), Ex ipsis rerum documentis. Beiträge zur Mediävistik. Festschrift für Harald Zimmermann zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1991, S. 257–275; zu den Intentionen Liudprands vgl. Philipp Buc, Italian Hussies and German Matrons. Liutprand of Cremona on Dynastic Legitimacy, in: Frühmittelalterliche Studien 29, 1995, S. 207–225. Hagen Keller, Die Kaiserkrönung Ottos des Großen, in: Puhle ( wie Anm. 2 ) 1, S. 461–480, S. 474 ff.; Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands. Bis 1024, Berlin 1994, S. 535 f. Zum Libellus de imperatoria potestate in urbe Roma Brühl ( wie Anm. 62 ) S. 5 ff.; Wattenbach – Levison, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Heft 4, bearb. von Heinz Löwe, Weimar 1963, S. 425 f. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 208–227. Knut Görich, Otto III. Romanus Saxonicus et Italicus. Kaiserliche Rompolitik und sächsische Historiographie, Sigmaringen 1993; Gerd Althoff, Otto III., Darmstadt 1996, bes. S. 100–125, 169–181; Keller ( wie Anm. 7 ) S. 70–86; Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 286–295.
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byzantinischen Kommandanten für Italien während des 6.–8. Jahrhunderts. Nirgends in Italien war die Tradition so sichtbar gegenwärtig wie in den kirchlichen und weltlichen Bauten dieses ehemaligen Residenzbezirks 68. Die Grenze zwischen dem Regnum Italiae und der , die einst den nach der langobardischen Invasion südlich des Po-Deltas verblieben war, verlief zwischen den Stadtgebieten von Modena und Bologna und dann über den Hauptkamm des Apennin bis zu dem Korridor, der, begrenzt von den das Tal des Tiber begleitenden Höhenzügen, das ehemals römisch-byzantinische Territorium am Tyrrhenischen Meer mit den Territorien an der Adria verband. Zu letzteren hatte neben dem Gebiet von Ravenna auch die Pentapolis gehört, eine Zusammenfassung von fünf Städten an der Küste südlich von Rimini bis einschließlich Ancona und fünf weiteren in deren Hinterland; hier unterstanden die Bischöfe, anders als im Exarchat, direkt dem Bischof von Rom 69. Doch obwohl die Verträge der Kaiser mit den Päpsten auch die Gebiete östlich des Apennin der römischen Kirche zusprachen, übten die Inhaber des Regnum Italiae hier eine intensivere Herrschaft aus als im Dukat von Rom und in Rom selbst. Die Hoheit des Papstes war hier insofern anerkannt, als etwa die Urkunden bei der Datierung normalerweise ihn zuerst, vor dem König oder Kaiser, oder gar nur ihn als nannten. Doch die Ottonen verfügten bei Ravenna über eine eigene Residenz; gerade sie haben hier in repräsentativster Form Hof gehalten, oft zusammen mit dem Papst, aber auch ohne ihn und durchaus im Bewusstsein eigenen Rechts. Bei Ravennas alter Hafenstadt Classe ließ Otto I. einen neuen Pfalzbau errichten. Die königliche Gerichtsbarkeit wurde – in Anwesenheit oder in Abwesenheit des Herrschers – in ähnlichen Formen wahrgenommen wie im Regnum selbst; auch sonst sind hier Ansätze einer kaiserlichen erkennbar 70. Die eigene Stellung des Gebiets wurde noch dadurch unterstrichen, dass der Erzbischof von Ravenna über einen Metropolitansprengel, großes Prestige sowie reiche Machtmittel verfügte und sich dem Papst keineswegs in anderer Form unterordnen wollte als die Metropoliten außerhalb des päpstlichen Hoheitsgebietes, wie z. B. der Erzbischof von Mailand als Hauptkonkurrent. Die Diözesen seiner Suffragane in der 68
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Jadran Ferluga, Art. <Exarch, Exarchat>, in: LMA 4, 1989, Sp. 151–155; Antonio Carile ( Hg. ), Storia di Ravenna, 2/1–2 Dall’età bizantina all’età ottoniana, Venedig 1991/1992; Sauro Gelichi, Ravenna, ascesa e declino di una capitale, in: Gisela Ripoll u. a. ( Hgg. ), Sedes regiae ( ann. 400–800 ) Barcelona 2000, S. 109–134; John H. W. G. Liebeschuetz, From Ravenna to Aachen, ebd., S. 9–30; zu den Bauten umfassend Friedrich Wilhelm Deichmann, Ravenna, Hauptstadt des spätantiken Abendlandes, 1, Wiesbaden 1969, 2/1–3, 1974–1989. Peter Schreiner, Art. , in: LMA 6, 1993, Sp. 1873 f.; zum Streit zwischen Otto III. und Papst Silvester II. um die Pentapolis vgl. Görich ( wie Anm. 67 ) S. 229 ff. Mathilde Uhlirz, Die Restitution des Exarchats Ravenna durch die Ottonen, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 50, 1936, S. 1–34 ( zur ottonischen Pfalz S. 31 ff. ); Wilhelm Kölmel, Die kaiserliche Herrschaft im Gebiet von Ravenna ( Exarchat und Pentapolis ) vor dem Investiturstreit ( 10./11. Jahrhundert ), in: Historisches Jahrbuch 88, 1968, S. 257–299; Carlrichard Brühl, Fodrum, Gistum, Servitium regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Köln 1968, S. 462, 465 f., 474 f., 486 f.; Dirk Alvermann, Königsherrschaft und Reichsintegration. Eine Untersuchung zur politischen Struktur von regna und imperium zur Zeit Kaiser Ottos II. ( 967 ) 973–983, Berlin 1998, S. 71 ff; David A. Warner, The Representation of Empire: Otto I at Ravenna, in: Björn Weiler – Simon MacLean ( Hgg. ), Representations of Power in Medieval Germany 800–1500, Turnhout 2006, S. 121–140.
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Emilia lagen ohnehin auf Reichsboden; mit Piacenza grenzte sein Metropolitansprengel unmittelbar an die exemte Diözese Pavia an. Für die Ottonen gehörten die Erzbischöfe von Ravenna zu den herausgehobenen Prälaten ihres Reiches, die an Hoftagen teilnahmen 71. Auf ihre Auswahl übten sie bald unmittelbar Einfluss aus und räumten ihnen einen sichtbaren Platz in ihrer Herrschaftsrepräsentation ein: Zusammen mit dem Erzbischof von Mainz krönte der von Ravenna 983 Otto III. in Aachen zum König. IV. GRUNDLAGEN DER KÖNIGSHERRSCHAFT IM REGNUM ITALIAE ZUR ZEIT OTTOS I.
Wie jedoch regierte ein Kaiser, der ebenso wie seine wichtigsten Berater aus dem <jüngsten> Teil des ehemaligen Frankenreichs kam, in dem Städte, wie er sie in Italien antraf, Märkte, Münzprägung und Geldverkehr noch weitgehend fehlten, die Gebiete im Süden, die bis in ihre Institutionen hinein noch von Traditionen des spätrömischen Imperiums zehrten und voll in die Kulturkontakte und den Handelsaustausch, aber auch in das Spannungsfeld des abendländisch-byzantinisch-islamischen Mittelmeerraumes einbezogen waren? Für die Regierung des Regnum Italiae selbst standen Elemente einer Herrschaftsorganisation zur Verfügung, wie sie die Ottonen nördlich der Alpen nicht besaßen. Doch diese Elemente konnten nicht ersetzen, was hier wie im gesamten Karolingerreich und noch deutlicher in seinen die eigentliche Basis der Königsherrschaft blieb: das Zusammenwirken mit den Großen zur Herstellung von Konsens und wechselseitiger persönlicher Verpflichtung. Die Gestaltung des personalen Netzwerks entschied über Stabilität und Effektivität der 72. Vom Königreich südlich der Alpen ergriff Otto I. in ganz anderen Formen Besitz, als dies Karl der Große nach der Eroberung des Langobardenreichs getan hatte. Damals war die langobardische Führungsschicht größtenteils aus den Ämtern verdrängt, ihre Güter waren vielfach konfisziert worden; nur kirchliche Prälaturen hatten ihr noch eine Rückzugsposition geboten, Schenkungen an Kirchen wenigstens Teile der Besitzungen dem fränkischen Zugriff entzogen. Die wichtigen Machtpositionen und Funktionen hatten der Frankenkönig und seine Nachfolger Männern aus ihrem Adel übertragen, und diesen waren viele Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder nach Italien gefolgt. Deren Nachfahren lebten dort noch zur Zeit der Ottonen 73. Otto der Große setzte Amtsträger nur ab, so weit sie noch immer Berengar und Adalbert anhingen, und er ersetzte sie durch Einheimische, nicht durch Leute aus seinem <deutschen> Gefolge. Er hatte jedoch 961/62 die bisherigen Könige nicht definitiv 71
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Gina Fasoli, Il dominio territoriale degli arcivescovi di Ravenna fra l’VIII e l’XI secolo, in: Carlo Guido Mor – Heinrich Schmidinger ( Hgg. ), I poteri temporali dei vescovi in Italia e Germania nel Medioevo, Bologna 1979, S. 87–140; zur neuen Erschließung der Urkunden des 10. Jahrhunderts vgl. die Rezensionen von Elke Goez, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 58, 2002, S. 257 f. Giovanni Tabacco, Regno, Impero e aristocrazie nell’Italia postcarolingia, in: Il secolo di ferro ( wie Anm. 4 ) S. 243–269. Eduard Hlawitschka, Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien ( 774–962 ) Freiburg i. Br. 1960.
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vertreiben können. Mitglieder ihrer Familie sowie ihre Getreuen hielten teilweise bis 964 schwer zu erobernde Festungen an den oberitalienischen Seen und in den Bergen des Apennin; König Adalbert lieferte 965 in der Nähe des Po Herzog Burkhard von Schwaben eine Schlacht, und noch 968 erschien er den Byzantinern als Verbündeter, der ein starkes Reiterheer gegen den westlichen Träger des Kaisertitels mobilisieren könnte. Einige mächtige Große wie den Markgrafen Hubert von Tuszien setzte Otto ab, gewann aber damit kaum die Loyalität ihres Anhangs 74. So war das Netzwerk aus Getreuen, Freunden und Helfern in Italien noch für Jahre eine , die mit Gegnern und Widerstand rechnen musste. Für sie waren Rückhalt und militärische Unterstützung von Seiten des neuen Herrschers und seines Heeres in dieser Phase wohl unentbehrlich. Zur Legitimation und Durchsetzung seiner Herrschaft bildeten die Ansprüche, Ressourcen und Verbindungen seiner Gemahlin für Otto eine Basis von entscheidender Bedeutung. Seit ihrer Kindheit hatte Adelheid am italienischen Hof gelebt, hatte zusammen mit ihrem Gemahl Lothar von 945 bis 950 das Reich regiert, und auch nach seinem Tod waren ihr treue Anhänger geblieben. Ihre Mitregierung als consors imperii wurde von der ottonischen Kanzlei nachdrücklich herausgestellt. Aufgrund ihrer dos, ihres Witwengutes, verfügte sie über umfangreichen Besitz in allen Teilen des Regnum. Über sie liefen zumeist die Kontakte der Einheimischen zum Kaiser, sie vor allem intervenierte beim Herrscher zugunsten italienischer Empfänger 75. Sie konnte alte Loyalitäten mobilisieren und sicherte ihren Getreuen einflussreiche Positionen. Der Aufstieg der <Markgrafen> von Canossa bildet hierfür das beste Beispiel 76. Doch der König und Kaiser aus dem Norden musste, um Italien regieren zu können, im bestehenden Machtgefüge die Loyalität der Machtträger gewinnen. Dies scheint ihm vor allem beim Episkopat in großem Umfang gelungen zu sein 77. Dass die Bischöfe den Übergang der Herrschaft an Otto und Adelheid weitgehend mitvollzogen, besaß nicht nur in legitimatorischer Hinsicht Bedeutung. Jeder Bischofssitz war eine Stadt, mit der sich in Ottos angestammtem Reich nur wenige vergleichen konnten, und es gab praktisch keine Stadt, die nicht zugleich Bischofssitz war. Alle diese Städte waren befestigt und verfügten in ihrer Bürgerschaft über ein organisiertes Verteidigungssystem. Wo nicht eine die Diözese überschreitende markgräfliche Machtausübung dagegen stand, konzentrierte sich das militärische Potential aus Grafschaft und Diözese zunehmend in der bischöflichen Vasallität. Von den Königen Italiens hatten etliche der Bischöfe bereits weitgehende Rechte erhalten, mit denen sie in der Stadt 74
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Rudolf Köpke – Ernst Dümmler, Kaiser Otto der Große ( 936–973 ) Berlin 1876, S. 335–340; Hlawitschka ( wie Anm. 73 ) S. 201 ff. ( zu Hubert ). Stefan Weinfurter, Kaiserin Adelheid und das ottonische Kaisertum, in: Frühmittelalterliche Studien 33, 1999, S. 1–19, S. 5 ff., 10 ff.; Keller, Entscheidungssituationen ( wie Anm. 15 ) S. 45 ff.; Knut Görich, Mathilde – Edgith – Adelheid. Ottonische Königinnen als Fürsprecherinnen, in: Schneidmüller – Weinfurter, Ottonische Neuanfänge ( wie Anm. 2 ) S. 251–291, S. 267 ff., 280 ff. Vito Fumagalli, Le origini di una grande dinastia feudale: Adalberto-Atto di Canossa, Tübingen 1971; Keller – Ast ( wie Anm. 99 ). Daten über die oberitalienischen Bischöfe und ihre Verbindungen zu den Herrschern bei Roland Pauler, Das Regnum Italiae in ottonischer Zeit. Markgrafen, Grafen und Bischöfe als politische Kräfte, Tübingen 1982; vgl. Gerhard Schwartz, Die Besetzung der Bistümer Reichsitaliens unter den sächsischen und salischen Kaisern mit den Listen der Bischöfe 951–1122, Leipzig – Berlin 1913; Huschner ( wie Anm. 57 ) 1, S. 215 ff.
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und teilweise auch im Umkreis von einigen Meilen in Funktionen des Königtums eintraten und die zu deren Ausübung gehörenden Ressourcen übernahmen. In unterschiedlichem Umfang wuchs einzelnen Bischöfen und Bistümern so die publica functio zu, d. h. das, was man für die damalige Zeit als , als Attribut der königlichen Gewalt, bezeichnen könnte. Dabei handelte es sich insbesondere um einträgliche fiskalische Rechte: Abgaben und Zölle, die mit dem regen Fernhandel, dem städtischen Markt, der Nutzung der schiffbaren Gewässer und der Flusshäfen verbunden waren und ursprünglich dem königlichen Fiskus zustanden 78. Otto I. verlieh einigen Bischöfen noch weitergehende Rechte, vor allem die Gerichtsbarkeit in der Stadt und in einem <Weichbild> von unterschiedlicher Ausdehnung; unter seinen Nachfolgern kam in manchen Fällen noch die hinzu. Diese Maßnahmen sind lange als eine Politik interpretiert worden, mit der der Kaiser auch in Italien, wie schon im <deutschen Reich>, die Bischöfe gezielt zu den Hauptstützen seiner Herrschaft machen wollte; er habe das – das es als <System>, wie die Forschung längst gezeigt hat, nie gab – auch auf das Regnum Italiae übertragen 79. Für das ostfränkische Reich hat sich das Klischee einer planmäßigen Förderung der Reichskirchen zum Aufbau einer verlässlich königstreuen Gegenposition gegen die <Stammesgewalten> und die oft unbotmäßigen weltlichen Großen als unzutreffend erwiesen. Auch für das ottonische Regnum Italiae ist gezeigt worden, dass die Privilegierung der Bischöfe zwar eine Gesamttendenz erkennen lässt, aber nicht als von übergreifenden Zielen bestimmte, „planmäßige Politik“ charakterisiert werden kann 80. In beiden Teilen des Imperiums folgten die Privilegierungen einer Tendenz, die sich seit der späten Karolingerzeit abzeichnete. Auch in Italien hatten die nachkarolingischen Könige ihre gefährdeten Rechte lieber den Bischofskirchen als den übermächtig werdenden Markgrafen überlassen; dieser Trend artikulierte sich hier noch deutlicher als nördlich der Alpen 81. Auch ging Otto in seinen Verleihungen an italienische Bischöfe über das hinaus, was er Bistümern im nordalpinen Königreich zugestand. Insofern dürfte eher das italienische <Modell> auf die Gestaltung der bischöflichen Rechtsstellung im ostfränkisch-lothringischen Reich eingewirkt haben als umgekehrt. Auch erlebten die deutschen Bischöfe die Stellung ihrer Mitbrüder in Italien und sahen die Städte, in denen diese amtierten. Hier fanden sie Vorbilder, die einluden, zuhause ähnliches zu schaffen 82, nicht zuletzt mit Unterstützung ihres Kaisers. Es ist wohl kein 78
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Gerhard Dilcher, Bischof und Stadtverfassung in Oberitalien, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 81, 1964, S. 225–266; Vito Fumagalli, Vescovi e conti nell’Emilia occidentale da Berengario I a Ottone I, in: Studi Medievali 3a s. 14/1, 1973, S. 137–204; Ders., Il potere civile dei vescovi italiani al tempo di Ottone I, in: I poteri temporali ( wie Anm. 71 ) S. 77–86; Hagen Keller, Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien ( 9.–12. Jahrhundert ) Tübingen 1979, S. 150 ff., 330 ff.; Tabacco ( wie Anm. 72 ) S. 257 ff.; Renato Bordone, La città nel X secolo, in: Il secolo di ferro ( wie Anm. 4 ) S. 517–559. Die Forschungsgeschichte skizziert Pauler ( wie Anm. 77 ) S. 164 ff.; den wichtigsten Bezugspunkt für die Forschung bildete Mathilde Uhlirz, Die italienische Kirchenpolitik der Ottonen, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 48, 1934, S. 201–321. Vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 364–372. Keller ( wie Anm. 78 ) S. 330 ff. Die Hochschätzung von Kunstgegenständen und Reliquien, die für zu errichtende oder zu erweiternde Kirchen erworben wurden, zeigt eine Offenheit für die südlich der Alpen angetroffene ; vgl. Hermann Fillitz, Die europäischen Wurzeln der ottonischen Kunst in Sachsen, in: Schneidmüller –
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Zufall, wenn Otto 965 nach der Rückkehr aus dem Süden dem Erzbischof Adaldag, seinem wichtigsten Berater während des gesamten Italienaufenthalts, in Bremen sowie der künftigen erzbischöflichen Kirche in Magdeburg Privilegien zur Errichtung eines Marktes mit Münze verlieh 83. Keinesfalls lässt sich beobachten, dass Otto in Italien den Episkopat zu Lasten der weltlichen Großen gefördert hat und seine Herrschaft vornehmlich auf die Bischöfe stützte. Vielmehr beginnt unter ihm der Aufstieg der neuen Markgrafengeschlechter, die später als Partner und Gegner die Geschicke der in Italien mitgestalteten. Adalbert-Atto, der <Spitzenahn> der Markgrafen von Canossa, bietet ein spektakuläres, aber zugleich typisches Beispiel; neben ihn ließe sich mit anderen Fällen der Mark- und Pfalzgraf Otbert stellen, der vor 961 zu den Emigranten an Ottos Hof gehörte. Beide stammen nicht aus der zugewanderten fränkischen Reichsaristokratie, sondern sind langobardischer Abkunft; beide tauchen in der Überlieferung während der politischen Umbrüche von 945/951 und 961 gewissermaßen aus dem Nichts auf und machen eine steile Karriere. Atto war vor 961 noch bischöflicher Vasall, danach übt er in mehreren Comitaten Grafenrechte aus und hat Angehörige gräflicher Familien zu Vasallen 84. Wie das Beispiel Otberts zeigt, folgte Otto mit der Begünstigung neuer Familien von meist einem Weg, den schon seine Vorgänger eingeschlagen hatten, um Gegengewichte gegen die mit den traditionellen Ämtern ausgestatteten Nachkommen der nordalpinen Zuwanderer zu schaffen. Karrieren dieser Art sind in den Herrschaftswechseln des 10. Jahrhunderts mehrfach nachweisbar. Sie korrespondieren mit Maßnahmen der Könige, die Machtpositionen wieder zu schwächen, die sich die marchiones in der Auflösung des Karolingerreiches aufgebaut hatten. Insbesondere König Hugo brachte einerseits durch wiederholte Neu- und Umbesetzungen den Amtscharakter der alten Markgrafenwürde nachdrücklich zur Geltung, andererseits beschnitt er die Position der Amtsinhaber, indem er die Gerichtsbarkeit, die sie bisher in den Comitaten ihrer Markgrafschaft ausübten, unter direkte königliche Regie nahm 85. Die <Markgrafen neuen Typs>, wie sie seit der ottonischen Zeit hervortreten, verfügten auch in dieser Hinsicht nicht mehr über die umfassenden Amtsbefugnisse in ihrem gesamten Sprengel, die den karolingischen Grafen zugewiesen waren. Die territoriale Zuständigkeit der Grafen wurde nicht nur dadurch beeinträchtigt, dass der König den Bischöfen in ihrer Stadt oder in ihren Immunitäten Befugnisse aus
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Weinfurter, Ottonische Neuanfänge ( wie Anm. 2 ) S. 321–343; Eugenio Duprè Theseider, La grande rapina dei corpi santi dall’Italia al tempo di Ottone I, in: Peter Classen – Peter Scheibert ( Hgg. ), Festschrift Percy Ernst Schramm zum 70. Geburtstag, Wiesbaden 1964, 1, S. 420–432; Huschner ( wie Anm. 57 ) 1, bes. S. 290 ff. ( Bildung, Bücher ), 2, S. 685 ff. ( Reliquien ), 711 ff. ( Spolien ). Zeugnisse für bewusste Übernahmen häufen sich seit der Zeit um 1000. DD OI 301, 307. Wie Anm. 76; ferner Keller, Marca ( wie Anm. 61 ) S. 133 ff.; Formazione e strutture dei ceti dominanti in Italia. Marchesi, conti e visconti nel Regno Italico, Rom 1988 ( insbes. die Beiträge von Giuseppe Sergi, Mario Nobili, François Menant, Roland Pauler, Giancarlo Andenna); vgl. Hlawitschka ( wie Anm. 73 ) S. 94 ff. Keller, Marca ( wie Anm. 61 ); Giuseppe Sergi, La feudalizzazione delle circoscrizioni pubbliche nel Regno Italico, in: Structures féodales et féodalisme dans l’Occident méditerranéen ( Xe–XIIIe siècles ) Paris 1980, S. 251–261; Ders., Anscarici, Arduinici, Aleramici, in: Formazione ( wie Anm. 84 ) S. 11–28; Ders., I confini del potere. Marche e signorie tra due regni medievali, Turin 1995, S. 142–210.
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dem bisherigen Aufgabenfeld der Grafen übertrug. Charakteristisch für das Regnum Italiae sind im 10. Jahrhundert die Privilegien, mit denen die Könige Adligen die Errichtung von Kastellen zur Verteidigung ‚gegen Heiden und böse Christen‘ erlaubten und ihnen dafür ebenfalls die gesamte publica functio überließen: fiskalische Rechte, Zwangsgewalt über die Umwohner zu Burgenbau, Wachdiensten und Verteidigung sowie die Gerichtsbarkeit. Daraus hat sich die für Oberitalien typische Kastellherrschaft entwickelt, die oft mit einer Zusammenführung von Streusiedlungen in geschlossenen, teils in Stein gebauten und umwehrten Dörfern verbunden war. Zu den Begünstigten Grund- und Kastellherren gehörten wiederum vor allem die damals Familien sowie die Kirchen, neben den Bischöfen und Domkapiteln häufig auch Klöster 86. Rechtlich nicht mehr so klar umschrieben wie in der Zeit um 900 war das, was in den alten Markgrafschaften den Inhabern unter den Ottonen verblieb. In der Toskana beruhte die Stellung des Markgrafen Hugo, die im 11. Jahrhundert an die Nachkommen Adalbert-Attos von Canossa überging, stark auf einer vor allem personal begründeten Stellvertreterschaft des Königs. Sie hob ihn über die Vielzahl lokaler Gewalten heraus. Die Veroneser Mark wurde ohnehin seit 952 von den Herzögen von Bayern, ab 976 von den Herzögen von Kärnten 87. Das Herzogtum Spoleto, an der Südgrenze des Regnum gelegen und von diesem durch den Korridor der päpstlichen Patrimonien getrennt, wurde von Otto in die Hand des Fürsten Pandulf Eisenkopf von Capua und Benevent gegeben, eines Lehensfürsten, dessen Zuordnung zum italienischen Königreich umstritten war. Der Kaiser schuf damit hier eine ungewöhnliche Machtkonzentration, die ganz auf der persönlichen Verbindung Pandulfs zum Herrscher beruhte und eigene Probleme der <staatsrechtlichen> Zugehörigkeiten des Gesamtkomplexes aufwarf 88. Die Herrschaftsordnungen im Regnum Italiae nahmen so – längst vor 961 beginnend – eine Entwicklung in Richtung auf die polyzentrische Struktur, die das ottonische Reich nördlich der Alpen in ausgeprägtem Maße besaß 89. Trotz aller Unterschiede im einzelnen entstanden auch hier Verhältnisse, wie sie für die nachkarolingischen Reiche auf dem Boden des ehemaligen fränkischen Imperiums charakteristisch waren; vielleicht interpretierten Otto und seine Helfer manches, was sie vorfanden, zusätzlich noch in dem ihnen geläufigen Sinne. Der Ottonenhof nutzte auch die Mittel konstruktiv, die ihm aus dem ostfränkisch-lothringischen Reich nicht vertraut waren. Während das Regnum Teutonicum über das ganze Mittelalter hinweg ein blieb, gab es im langobardischen, karolingischen und ottonischen Königreich südlich der Alpen ein als 86
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Aldo A. Settia, Castelli e villaggi nell’Italia padana, Neapel 1984, S. 76 ff., 121 ff.; Keller ( wie Anm. 78 ) S. 150 ff., 330 ff. Mario Nobili, Le famiglie marchionali della Tuscia, in: I ceti dirigenti in Toscana nell’età precomunale, Pisa 1981, S. 79–105; Andrea Castagnetti, Il comitato Trentino, la <marca> e il governo vescovile dai re italici agli imperatori sassoni, Verona 1998, S. 117 ff. ( mit Literatur ). Hagen Keller, Das ottonische Kirchenreich und Byzanz, in: Cristianità d’Occidente e cristianità d’Oriente ( Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 51 ) Spoleto 2004, 1, S. 249–288, bes. S. 268 ff.; Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 220–227, 258 ff., 263. Keller, Grundlagen ( wie Anm. 4 ); Tabacco ( wie Anm. 72 ) S. 264 ff.; vgl. die in Anm. 84 f. zitierte Literatur sowie Cammerosano ( wie Anm. 59 ) bes. S. 257–284.
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organisiertes Zentrum: die gut befestigte, auch natürlich geschützte, verkehrsgünstig gelegene Stadt Pavia 90. Sie war nicht nur die bevorzugte Residenz, in der die wichtigen Reichsversammlungen stattfanden und die Könige gekrönt wurden, sondern sie bildete auch institutionell das Zentrum des Königreiches: In Pavia stand das königliche palatium. Ihm waren permanente Funktionen zugewiesen. Sie stammten teilweise noch aus dem Langobardenreich und waren so letztlich einer spätantiken Staatlichkeit verpflichtet; teilweise gingen sie auf die karolingische Reichsorganisation zurück. Die Zentralität Pavias bewirkte, dass dort Bischofskirchen, Klöster und weltliche Amtsträger eine repräsentative Bleibe erwarben, einen , den sie zugleich als wirtschaftlichen Stützpunkt an dem bedeutenden Handelsplatz nutzten 91. Das palatium in Pavia war Sitz einer ( camera regis ), wie es sie damals im Abendland nur hier gab 92: Alle Zölle, die an den Tal-Engen ( clusae ) südlich der Alpenpässe von Susa bis Cividale del Friuli erhoben wurden, gingen hier ein; ebenso wurden Pauschalzahlungen, wie sie die Könige von England für die generelle Befreiung ihrer Landsleute vom Zoll oder die Venezianer für die Handelserlaubnis im Regnum leisteten, hier entrichtet. Luxusgüter Qualität, welche die Venezianer, die Amalfitaner und andere aus Byzanz oder aus Ägypten in den Westen vermittelten, sollten auf dem Festland nur in Pavia angeboten werden 93. Die Goldwäscher an den ergiebigen Nebenflüssen des Po lieferten hier ihren gesamten Ertrag ab und erhielten dafür einen festen Preis; hier befand sich die Münzstätte für die streng kontrollierte des Königreichs, den denarius Papiensis. Dem magister camerae unterstanden auch die für die Versorgung des Hofes vor Ort verantwortlichen Schiffer, Fischer, Gerber und Seifensieder. Zur Zeit der Minderjährigkeit Ottos III., unter der Regentschaft der Kaiserin Theophanu, wurde die zentrale Finanzverwaltung nach lehenrechtlichen Modellen umgestaltet, was einer der bisherigen magistri camerae in erregten Wor-
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Brühl ( wie Anm. 70 ) S. 421 ff., 440 ff., 502 ff.; Ders., Zum Hauptstadtproblem im frühen Mittelalter, in: Hans Martin von Erffa u. a. ( Hgg. ), Festschrift für Harald Keller, Darmstadt 1963, S. 45–70, ND sowie weitere einschlägige Studien in: Ders., Aus Mittelalter ( wie Anm. 52 ) 1. Rossana Bossaglia u. a. ( Hgg. ), Storia di Pavia, 2: L’alto medioevo, Pavia 1987, darin besonders Aldo A. Settia, Pavia carolingia e postcarolingia, S. 69–158; Peter J. Hudson, Pavia: l’evoluzione urbanistica di una capitale altomedievale, ebd., S. 237–315, bes. S. 260–289; vgl. Gigliola Soldi Rondinini, Art. <Pavia>, in: LMA 6, 1993, Sp. 1831–1836. Brühl ( wie Anm. 70 ) S. 424 f.; Hudson ( wie Anm. 90 ) S. 260 ff., 293 ( palatium ), 279 ff., 297–305, 312 f. ( Zellen und Höfe auswärtiger Kirchen ); Aloys Schulte, Pavia und Regensburg. Eine raumgeschichtliche Studie, in: Historisches Jahrbuch 52, 1932, S. 465–476 ( Höfe bayerischer Bistümer und Klöster in der Herzogresidenz als Parallele ). Den Königspalast hatte Hugo – wohl nach den Zerstörungen durch die Ungarn 924 – vor 935 wieder aufbauen lassen; Brühl ( wie Anm. 70 ) S. 424 f.; Hudson ( wie Anm. 90 ) S. 261, 278 f., 293. Die Informationen beruhen fast auf einen Überlieferungszufall, nämlich der Abschrift einer bereits ungewöhnlichen Niederschrift aus dem frühen 11. Jahrhundert in einer Sammelhandschrift des 15./16. Jahrhunderts. Edition mit eingehendem Sachkommentar: Carlrichard Brühl – Cinzio Violante ( Hgg. ), Die „Honorantiae civitatis Papiae“. Transkription, Edition, Kommentar, Köln – Wien 1983; vgl. Carlrichard Brühl, Zentral- und Finanzverwaltung im Franken- und Langobardenreich, in: I problemi dell’occidente nel secolo VIII ( Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 20 ) Spoleto 1973, S. 61–85. Brühl – Violante ( wie Anm. 92 ) S. 19 mit Kommentar S. 36 ff. ( Angeln und Sachsen ), S. 38–47 ( Venedig, Amalfi, Salerno, Gaeta ).
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ten als ihre Zerstörung beklagte und was in der Tat zu ihrer raschen Auflösung führte 94. Wie einst unter Karl dem Großen kam es unter der Herrschaft Ottos I. in Italien zu einer Münzreform, die für den Denar, die einzige reale Münze, ein einheitliches Gewicht von ca. 1,4 Gramm bei stabilem Silbergehalt festlegte und die Prägung strikt auf Pavia, Mailand, Verona und Lucca beschränkte 95. Das Gewicht entsprach in etwa dem des damaligen Kölner Pfennigs, der nördlich der Alpen so etwas wie den Leit- oder Orientierungswert darstellte, und dem der später in Sachsen geprägten Otto-AdelheidPfennige 96. Das bedeutete im Vergleich zum karolingischen Denar eine Abwertung, hielt aber in Italien die Differenzierung in lokale Münzen von unterschiedlichem Wert, die nördlich der Alpen schon weiter fortgeschritten war, noch einmal auf; sie setzte hier erst mit dem 11. Jahrhundert ein. Das Palatium in Pavia war zugleich das Zentrum der königlichen Gerichtsbarkeit. Hier hatte der Pfalzgraf seinen Sitz, von hier wurden Königsboten zur Rechtswahrung in andere Teile des Reiches entsandt, und von hierher bezogen die im Reich tätigen Pfalz- oder Königsrichter ihre Legitimation 97. Mit Ottos Herrschaftsantritt werden neue Eingriffe erkennbar. Sie knüpfen zunächst an Maßnahmen zur Reorganisation der königlichen Gerichtsbarkeit aus der Zeit König Hugos an. Dieser hatte überall in Norditalien und in Tuszien die dem Grafen unterstehenden, unter dessen Aufsicht ausgewählten Schöffen durch Königsrichter ersetzt. Allem Anschein nach durchliefen sie eine Phase der Qualifikation im Palatium von Pavia; im Unterschied zu manchen der früheren Schöffen waren sie alle schreibkundig, besaßen die für Beurkundungen erforderlichen Kenntnisse und fertigten häufig auch selbst Urkunden aus. Mit dieser Reform hatte Hugo den Grafen einen wichtigen Bereich ihrer Kompetenzen entzogen und die Gerichtsbarkeit einer unmittelbareren königlichen Regie unterstellt, wodurch er auch Teile der lokalen Honoratiorenschichten direkt an das Königtum band 98.
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Carlrichard Brühl, Das „Palatium“ von Pavia und die „Honorantiae civitatis Papiae“, in: Atti del 4o Congresso internazionale di studi sull’alto medioevo, Spoleto 1969, S. 189–220. Carlo M. Cipolla, Le avventure della lira, Bologna 1958, S. 16 ff.; Michael Matzke, Vom Ottolinus zum Grossus: Münzprägung in der Toskana vom 10. bis zum 13. Jahrhundert, in: Schweizerische Numismatische Rundschau 72, 1993, S. 135–201; Alessia Rovelli, Il denaro di Pavia nell’Alto Medioevo, in: Bollettino della Società pavese di storia patria N.S. 47, 1995, S. 71–90; Monica Baldassarri, Die Münzprägung von Otto I. bis zur Epoche der Kommunen, in: Augenti ( wie Anm. 61 ) S. 34–38. Auf dem Avers der italienischen Prägungen steht im Zentrum ein den Diplomen nachgebildetes OttoMonogramm, mit umlaufendem IMPERATOR. Bernd Kluge, OTTO REX/OTTO IMP, in: Schneidmüller – Weinfurter, Ottonische Neuanfänge ( wie Anm. 2 ) S. 85–112; Ders., Sachsenpfennige und Otto-Adelheid-Pfennige, in: Puhle ( wie Anm. 2 ) S. 417–426 ( mit Karte der Münzstätten ). Grundlegend jetzt François Bougard, La justice dans le royaume d’Italie de la fin du VIIIe siècle au début du XIe siècle, Rom 1995; im Überblick Ders., La justice dans le royaume d’Italie aux IXe–Xe siècles, in: La giustizia nell’alto medioevo 2, secoli IX–XI ( Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 44 ) Spoleto 1997, S. 133–176. Hagen Keller, Der Gerichtsort in oberitalienischen und toskanischen Städten, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 49, 1969, S. 1–72, hier S. 24 ff.; Bougard, Justice, 1995 ( wie Anm. 97 ) S. 281 ff.; Andrea Puglia, L’amministrazione della giustizia e le istituzioni pubbliche in „Tuscia“ da Ugo di Provenza a Ottone I ( anni 926–967 ), in: Archivio storico italiano 160, 2002, S. 675–733.
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Aus der Zeit zwischen 945 und 960 hat sich keine einzige Gerichtsurkunde erhalten. Kaum hatte Otto das Regnum Italiae unter seine Herrschaft genommen, setzen die Zeugnisse wieder ein. Die Dokumente zeigen aber, wie sehr die schriftliche Fixierung dessen, was im Königsgericht entschieden wurde, der Durchsetzung der ottonischen Herrschaft diente 99. Die Richter nahmen alsbald wieder den Titel iudex sacri palatii aus der Zeit Kaiser Ludwigs II. ( † 875 ) an, der im 10. Jahrhundert ganz durch iudex domini regis oder iudex domini imperatoris verdrängt worden war. Doch diese Pfalzrichter scheinen, sieht man von der starken Paveser Gruppe ab, nicht mehr in der engen Verbindung zum Palatium in Pavia gestanden zu haben wie die iudices domini regis unter König Hugo, sondern erhielten von dort nur noch ihre Legitimation: eine Ernennung durch den Pfalzgrafen, ähnlich wie auch die im Reich tätigen Notare von ihm ihre Lizenz empfingen 100. Vor dem Hintergrund der angesprochenen Entwicklungen erscheint eine solche als konsequent. Die Gerichtsbarkeit wurde immer weniger von einer der qua Amt verpflichteten, sprengelartig organisierten wahrgenommen, wie sie einst die Grafen mit ihren Vizegrafen und Helfern dargestellt hatten. Die Rechte wurden von den Königen den Bischöfen, Markgrafen neuen Typs, adligen Kastell- und Grundherren teilweise oder ganz und mit unterschiedlicher territorialer Kompetenz übergeben. In ihrem Herrschaftsbereich urteilten Richter und Beisitzer im Placitum, schrieben Notare Urkunden – ohne dass ihre letzte Legitimation aus der Aufgabe des Königs oder Kaisers dem Bewusstsein entschwand 101. Für das Gerichtsverfahren führte Otto eine in der Forschung viel beachtete Neuerung ein. Als der Kaiser im Oktober 967 in Verona mit dem über die Alpen gekommenen Otto II. und König Konrad von Burgund zusammentraf, erließ er ein Capitulare im karolingischen Stil. Es verfügte, dass beim Streit um die Echtheit von Urkunden über Besitztransaktionen, um den Vollzug von Investituren, um Diebstahl, Raub oder Unterschlagung jede Partei fordern könne, die <Wahrheit> durch gerichtlichen Zweikampf zu ermitteln 102. Das war kein Einbruch archaischer Denkformen in eine rationalere Rechtskultur. Die Begründung folgt einem schon alten Bedenken: Das übliche Verfahren durch Zeugenbeweis verführe oft zum Meineid, zum skrupellosen irdischen Gewinn gegen Hingabe des Seelenheils. Der rechtskundige Bischof Bur-
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Jon N. Sutherland, Aspects of continuity and change in the Italian placitum, 962–72, in: Journal of Medieval History 2, 1976, S. 89–118 ( mit Tabellen ). Hagen Keller – Stefan Ast, Ostensio cartae. Italienische Gerichtsurkunden des 10. Jahrhunderts zwischen Schriftlichkeit und Performanz, in: Archiv für Diplomatik 53, 2007, S. 99–122. Bougard 1995 ( wie Anm. 97 ) S. 285 ff., 299 ff. Vgl. Giovanni Tabacco, La storia politica e sociale. Dal tramonto dell’Impero alle prime formazioni di Stati regionali, in: Ruggiero Romano – Corrado Vivanti ( Hg. ), Storia d’Italia, 2/1, Turin 1974, S. 113–127; Gerhard Dilcher, Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune, Aalen 1967, S. 94 ff. J. F. Böhmer, Regesta imperii, Die Regesten des Kaiserreiches unter den Herrschern aus dem sächsischen Hause ( 919–1024 ): II, 1: Heinrich I. und Otto I. ( 919–973 ), neubearb. von Emil von Ottenthal, 1893, Nr. 454a–455a; MGH Legum sectio IV. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum inde ab a. DCCCCXI usque ad a. MCXCVII ( 911–1197 ) 1, hg. von Ludwig Weiland, Hannover 1893, S. 27–30, Nr. 13; Bougard 1995 ( wie Anm. 97 ) S. 331–339.
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chard von Worms wird gegen 1025 in seinem ebenfalls so argumentieren 103. Doch konnten auch andere Gründe die Entscheidung durch gerichtlichen Zweikampf nahe legen. Das verlorene Gottesurteil brachte der unterliegenden Partei keinen Gesichtsverlust. 939 ließ Otto in Sachsen eine strittige Frage des Erbrechts von grundsätzlichem Charakter nicht durch den Spruch eines öffentlichen Schiedsgerichts klären, sondern gebot, ‚einem besseren Rat folgend‘, eine Entscheidung durch den Zweikampf von Kämpen beider Parteien herbeizuführen, ‚weil er nicht edle Männer und Älteste des Volkes unehrenhaft behandeln wollte‘ 104. Wer nach dem Eid auf das Evangelium mit gesegneten Waffen – Schild und Knüppel – vor Gott zum Kampf für die <Wahrheit> antrat, der war von seinem Recht überzeugt und suchte keinen unrechten Gewinn, selbst wenn Gott aufzeigen sollte, dass er sich im Irrtum befand. Das galt in beiden Königreichen. V. PROBLEME DER BEIDERSEITS DER ALPEN
Die Frage, auf welchen Grundlagen und mit welchen Mitteln Otto der Große sein erweitertes Reich regierte, besitzt historische Relevanz, weil hier Strukturen des römisch-deutschen Imperiums zumindest für die nächsten hundert Jahre vorgeformt wurden. Die Übernahme der Herrschaft in Italien stellte den Ottonenhof vor ganz grundsätzliche Herausforderungen. Diese betrafen die Königs- und Kaiserherrschaft nördlich und südlich der Alpen gleichermaßen. Bei der Regierung des Regnum Italiae mussten sich Otto und seine Helfer teilweise ungewohnter Formen bedienen; sie konnten aber auch Einrichtungen nutzen, die in ihrem angestammten Reich fehlten. Hier war eine Anpassung königlichen Regierens an andere Gegebenheiten nötig; in der Ausübung der Königsgewalt wurden aber auch Erfahrungen gewonnen, die auf die Herrschaftsausübung im ostfränkisch-lothringischen Reich zurückwirken konnten. Umgekehrt griffen die langen Italienaufenthalte tief in gewohnte Formen des Mitregierens ein: Die Bedeutung der für das Verhältnis zwischen König und Großen musste neu bestimmt werden. Zugleich stellten die Italienzüge ungewohnte Leistungsanforderungen an die dominierenden Adelsfamilien und die Reichskirchen sowie an deren vasallitisches Gefolge 105. 103
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Heinz Holzhauer, Der gerichtliche Zweikampf, in: Karl Hauck u. a. ( Hgg. ), Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag, Berlin – New York 1986, S. 263–283, bes. S. 275 ff.; Wolfgang Schild, Art. , in: HRG 5, 1997, Sp. 1835–1847; Olivier Guillot, Le duel judiciaire, in: La giustizia ( wie Anm. 97 ) S. 715–795. Widukind ( wie Anm. 35 ) II 10. Eine Gesamtcharakteristik der Herausforderungen skizziert Fried, Der Weg ( wie Anm. 65 ) S. 527 ff.; vgl. Keller, Reichsorganisation ( wie Anm. 4 ) S. 161 ff. Zu den militärischen Belastungen allgemein Keller, Ottonen ( wie Anm. 7 ) S. 104 ff. Karl Ferdinand Werner, Heeresorganisation und Kriegführung im deutschen Königreich des 10. und 11. Jahrhunderts, in: Ordinamenti militari in Occidente nell’alto medioevo ( Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 15 ) Spoleto 1968, S. 831 ff., bes. 836 ff., macht wahrscheinlich, dass unter Otto I. Kontingente festgelegt wurden, die lange gültig blieben; belastet wurden vor allem Bistümer, Klöster und weltliche Herrschaftsträger aus Franken und Alemannien, die nicht mit Aufgaben der unmittelbaren Grenzverteidigung und Angriffen auf benachbartes Gebiet betraut waren. Überlegungen zu Heeresstärke ebd., S. 822 ff.; Brühl ( wie Anm. 70 ) S. 524 ff.
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Noch deutlicher als in der Karolingerzeit beruhten Anerkennung und Stärke des Königs im 10. Jahrhundert auf personalen Grundlagen. Königsherrschaft verlangte als Basis den in der Begegnung hergestellten Konsens mit den Großen. Der Hoftag des Königs war das Forum und zugleich das wichtigste Instrument der 106. Im ostfränkischen Reich mussten dafür neue Traditionen geschaffen werden, regelhafte Formen, die Legitimität vermittelten. Denn die Erhebung Heinrichs zum König hatte die Basislandschaft des Königtums in ein Gebiet verlagert, von dem aus die Karolinger ihre Herrschaft fast nie in repräsentativen Akten zur Geltung gebracht hatten 107. Unter Otto I. wuchs die Bedeutung der periodischen Begegnung mit den Großen für die Herrschaftsausübung. Zu den charakteristischen Entwicklungen gehört, dass sich Herrschaftspraxis und Herrschaftsrepräsentation, weltliche und kirchliche Formen des Gemeinschaftsvollzugs, Machtdemonstration und Hulderweis, Rechtsakte und weiterreichende symbolische Kommunikation besonders eng verbanden. Damit korrespondierend trat die Bedeutung der kirchlichen Hochfeste und des liturgischen Kalenders überhaupt für die Regierungstätigkeit noch deutlicher hervor. Das Aufkommen regelmäßiger Festkrönungen zeigt an, wie die Rituale der Herrschaftsausübung immer mehr mit einer symbolischen Vergegenwärtigung der Herrschaftslegitimation verbunden wurden, die eine aktive Teilnahme der Großen verlangte 108. Die Ausweitung des ottonischen Reiches über die Alpen mit der Überhöhung des Königtums im Kaisertum griff in den Prozess der Neustrukturierung ein, bevor sich im ursprünglichen Herrschaftsgebiet feste Formen voll etabliert hatten. Der Gewinn des Regnum Italiae, der Erwerb der Kaiserkrone sowie die Übernahme der Verantwortung für das Papsttum und Rom veränderten den Charakter der Königsherrschaft im ostfränkisch-lothringischen Regnum. Die langen Aufenthalte Ottos und Adelheids in Italien – August 961 bis Januar 965, August 966 bis August 972, wobei auch Otto II. seit Oktober 967 dort am Hof weilte 109 – schufen ein strukturelles Problem: Das Regnum nördlich der Alpen, das die eigentliche Machtbasis auch für die Herrschaft im Süden blieb, wurde über Jahre entweder in völlig ungewohnter Weise aus Italien oder durch Stellvertreter des eigentlichen Herrn geleitet. Da sich ganz wesentlich in ritueller Interaktion zwischen König und Großen vollzog, 106
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Vgl. Keller – Althoff ( wie Anm. 1 ) S. 348–354; Keller, Reichsorganisation ( wie Anm. 4 ); Althoff, Reich ( wie Anm. 16 ); Eckhard Müller-Mertens, Verfassung des Reiches, Reichsstruktur und Herrschaftspraxis unter Otto dem Großen, in: Puhle ( wie Anm. 2 ) S. 189–198; Andreas Kränzle, Der abwesende König. Überlegungen zur ottonischen Königsherrschaft, in: Frühmittelalterliche Studien 31, 1997, S. 120–157. Wie Anm. 14; Gerd Althoff – Ernst Schubert ( Hgg. ), Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen ( Vorträge und Forschungen 46 ) Sigmaringen 1998. Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 68–135; Hagen Keller, Ritual, Symbolik und Visualisierung in der Kultur des ottonischen Reiches, in: Frühmittelalterliche Studien 35, 2001, S. 23–59. Ein Vergleich der Dauer von Italienaufenthalten bei Brühl ( wie Anm. 70 ) S. 453 ff.; Gerd Tellenbach, Kaiser, Rom und Renovatio. Ein Beitrag zu einem großen Thema, in: Norbert Kamp – Joachim Wollasch ( Hgg. ), Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters, Berlin 1982, S. 231–253; Keller, Reichsorganisation ( wie Anm. 4 ) S. 161 ff.; John W. Bernhardt, Concepts and Practice of Empire in Ottonian Germany ( 950–1024 ), in: Weiler – MacLean ( wie Anm. 70 ) S. 141–163.
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Hagen Keller
stellte eine solche über längere Zeit die Herrschaftspraxis vor besondere Herausforderungen. Keiner der Karolinger, der nach Italien gezogen war, aber das ehemalige Langobardenreich weiterhin von seinen nördlichen Machtzentren her regierte, war so lange jenseits der Alpen geblieben. Die Großen hatten die Heereszüge nach Süden mitgemacht und waren als Begleiter ihres Herrschers relativ bald zurückgekehrt. Dabei besaß das Karolingerreich sowohl in den alten Kerngebieten wie auch im eroberten Langobardenreich eine Organisation zur Durchsetzung des Herrscherwillens, die den Ottonen nördlich der Alpen so nicht zur Verfügung stand 110. Ein das Regnum überspannendes, stabiles Netzwerk von Verwandten, Freunden und Getreuen musste jetzt dem Kaiser während seiner Abwesenheit den bestimmenden Einfluss garantieren. Mit Otto blieben Bischöfe wie Adaldag von Hamburg, Lantward von Minden, Otgar von Speyer oder später Dietrich von Metz wohl die ganze Zeit in Italien; die Dauer des Aufenthalts zog sie für Jahre von ihren Wirkungsstätten und Aufgabenbereichen ab. Viele Große, die den Kaiser begleiteten, kehrten schon vor ihm zurück, andere stießen später oder auch ein zweites Mal in Italien zu ihm; Truppenkontingente und Anführer mussten durch frische Kräfte abgelöst werden 111. Ein Italienzug von mehrjähriger Dauer war deshalb kein einmaliges Unternehmen, sondern erforderte über die ganze Zeit hinweg eine eigene, aus dem Süden zu dirigierende Logistik; von den Großen wurden dabei ungewöhnliche Leistungen gefordert. Für Hulderweise, Investituren oder Klagen musste man über die Alpen ziehen; die das Königtum tragenden Sachsen verloren ebenso wie die Franken und Niederlothringer den Vorzug, den König in relativ kurzen Abständen sehen zu können und unmittelbaren Zugang zu ihm zu haben 112. Auch dürften in Italien am Hof vielfach die Vermittler aus dem eigenen familiären Milieu gefehlt haben, auf die man zuhause zählen konnte. Außerdem trafen die Getreuen auf eine Hofhaltung, die sich in der Repräsentation den in Pavia, Ravenna oder auch Rom gegenwärtigen Ritualen anpasste und die ihnen in manchem wohl als fremdartig erschien. Für die Kommunikation ergab sich ein zusätzliches Problem wohl daraus, dass der Herr des Reiches seit der Kaiserkrönung in ungewohntem Ornat und in ungewohnten Formen der Herrschaftsdarstellung auftrat. Zumindest an einem in vielen hundert Exemplaren verbreiteten Hoheitszeichen wird dies sichtbar. Sechzig Jahre lang hatten sich die ostfränkischen Könige im Siegel ihren Getreuen als sieghafte Krieger gezeigt: im Profil mit Schild, Lanze und schmalem Diadem. Seit der Kaiserkrönung präsentierte ein neues Siegel, abweichend von allen älteren Siegelformen, den Herrscher – nach dem Vorbild byzantinischer Münzen und Bullen – frontal, wie man die Bilder Christi und der Heiligen zu sehen gewohnt war, und in den Zeichen der von Gott verliehenen Würde: mit hoher Krone, Stabszepter und Globus. Trotz ikonographisch abweichender Gestaltung wird damit ein Verständnis des Königtums ins Bild
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Vgl. Schieffer ( wie Anm. 29 ) S. 114 ff.; Keller, Charakter ( wie Anm. 21 ); Althoff, Reich ( wie Anm. 16 ). Huschner ( wie Anm. 57 ) 2, S. 613 ff. Eckhard Müller-Mertens, Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen. Mit historiographischen Prolegomena zur Frage Feudalstaat auf deutschem Boden, seit wann deutscher Feudalstaat?, Berlin 1980, S. 200 ff., 224 ff., vgl. 176 ff.
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gesetzt, das sich im Abendland erstmals auf den Siegeln König Hugos und Lothars manifestiert hatte. Italienisches und Byzantinisches scheinen sich hier zu mischen und das eigene Herkommen zu verdrängen 113. Das dürfte nicht nur für das Siegel gelten. Ob bei der Kaiserkrönung von 962 ein Kronentyp verwendet wurde, der dem der Wiener Reichskrone entspricht, ob vielleicht diese selbst in jenen Jahren entstanden ist, wird seit vielen Jahren kontrovers diskutiert, letzteres in jüngster Zeit teilweise vehement bestritten. Für den ungewohnten Typus einer mit vier edelsteingeschmückten Platten ausgestatteten hohen Krone ist das engstverwandte ältere Modell wiederum bei König Hugo nachweisbar 114. Weitere Indizien weisen auf Veränderungen hin, die mit der Kaiserkrönung einen festen Platz in der Herrschaftsrepräsentation erhalten haben könnten, so etwa die Aufnahme von Elementen der hohenpriesterlichen Gewandung in den Herrscherornat, um Otto als rex et sacerdos zu kennzeichnen 115. Es geht bei Herrschaftszeichen nicht einfach um die Übernahme formaler Elemente. Diese setzten eine gesteigerte Sakralität des kaiserlichen Herrschertums ins Bild. Es ist schwer vorstellbar, dass sich solche Neuorientierungen nicht auch im Hofzeremoniell, d. h. in den Ritualen der Kommunikation mit dem Kaiser, niederschlugen. Dass unter diesen Umständen die Lenkung der ostfränkisch-lothringischen Angelegenheiten unter Otto I. trotz der zehn Jahre lang im großen und ganzen funktionierte, dass für die Ressourcen, die nicht in der Hand des Königs lagen, in derartigem Umfang mobilisiert werden konnten, spricht für die Integrationsleistung, die dem Kaiser und seinen Helfern nach den schweren inneren Konflikten gelungen war. Die Durchreisen von Hof, Heer und zum König ziehenden 113
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Hagen Keller, Das neue Bild des Herrschers. Zum Wandel der „Herrschaftsrepräsentation“ unter Otto dem Großen, in: Schneidmüller – Weinfurter ( Hgg. ), Ottonische Neuanfänge ( wie Anm. 2 ) S. 189–211; zum Kontext der Entstehung ebd., S. 194 ff.; zu den Vorbildern Ders., Ottonische Herrschersiegel. Beobachtungen und Fragen zu Gestalt und Aussage und zur Funktion im historischen Kontext, in: Konrad Krimm – Herwig John ( Hgg. ), Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1997, S. 3–51, S. 21 ff. Hermann Fillitz, Bemerkungen zur Datierung und Lokalisierung der Reichskrone, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 56, 1993, S. 313–334; Herwig Wolfram, Konrad II. 990–1039. Kaiser dreier Reiche, München 2000, S. 164–171; beide halten an einer Entstehung in ottonischer Zeit ( wohl um 980 ) fest gegen Versuche, sie in die Zeit Kaiser Konrads II. oder König Konrads III. zu datieren. Zur Kontroverse Joachim Ott, Kronen und Krönungen in frühottonischer Zeit, in: Schneidmüller – Weinfurter, Ottonische Neuanfänge ( wie Anm. 2 ) S. 171–188. Monographien zum „Denkmal“: Mechthild Schulze-Dörrlamm, Die Kaiserkrone Konrads II. ( 1024–1039 ). Eine archäologische Untersuchung zu Alter und Herkunft der Reichskrone, Sigmaringen 1991 ( entstanden unter Konrad II. ); Gunter Wolf, Die Wiener Reichskrone, Wien 1995 ( ottonisch ); Sebastian Scholz, Die Wiener Reichskrone: Eine Krone aus der Zeit Konrads III.?, in: Hubertus Seibert – Jürgen Dendorfer ( Hgg. ), Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der frühen Staufer und das Reich ( 1079–1152 ) Ostfildern 2005, S. 341–362. Percy Ernst Schramm, Die Kaiser aus dem sächsischen Hause im Lichte der Staatssymbolik, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 20, 1 ( wie Anm. 2 ) S. 31–52, bes. S. 34–42; vgl. Keller ( wie Anm. 113 ) S. 189 f., 198 f.; Rudolf Schieffer, Mediator cleri et plebis. Zum geistlichen Einfluss auf Verständnis und Darstellung des ottonischen Königtums, in: Althoff – Schubert ( wie Anm. 107 ) S. 345–361; Stefan Weinfurter, Idee und Funktion des „Sakralkönigtums“ bei den ottonischen und salischen Herrschern, in: Rolf Gundlach u. a. ( Hgg. ), Legitimation und Funktion des Herrschers. Vom ägyptischen Pharao zum neuzeitlichen Diktator, Stuttgart 1992, S. 99–127
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Großen verstärkten die Einbindung der süddeutschen Herzogtümer in die Herrschaftsausübung des sächsischen Königshauses. Jetzt besuchten die Ottonen Bischofsstädte, Klöster, Pfalzen und Königshöfe in Schwaben und Bayern, die am Reiseweg lagen; und für die Großen aus den südlichen Teilen des Reiches war der Kaiser in Pavia, Verona, Ravenna oder Rom nicht unbedingt mühsamer zu erreichen als in Quedlinburg oder Aachen, zumal wenn sie auch andere Anliegen nach Italien und in die Stadt der Apostel, Märtyrer und Päpste führten 116. In den Gebieten südlich der Alpen war eine vorläufig nicht möglich. Sobald der Kaiser in sein angestammtes Reich zurückkehrte, zeigten sich Widerstände, und in Rom geriet die Position seiner Anhängerschaft völlig ins Wanken. Diese Instabilität hielt Otto I. auf beiden Zügen länger als geplant in Italien fest und zwang 966 wohl zur vorzeitigen Rückkehr nach Süden. Der Kaiser aus dem Norden bewies aber in den Jahren von 961 bis 972, dass er als Herrscher, beraten von seiner Gemahlin sowie seinen Helfern, mit den vorgefundenen Strukturen umgehen konnte und die Verhältnisse im Regnum Italiae nicht nur durch den Einsatz militärischer Macht gestaltete. Doch das Bemühen, nach einer längeren Phase politischer Instabilität auch hier wieder eine dauerhaftere Ordnung aufzurichten, verlangte die persönliche Präsenz. Dies sollten nach Otto dem Großen auch sein Sohn und sein Enkel erfahren, wenn sie – jeweils nach Phasen einer mehrjährigen von Franken und Sachsen her – wieder über die Alpen in die südlichen Teile ihres Reiches kamen. Für die Regierung des Imperiums hinterließ Otto der Große bei seinem Tod seinem Sohn und Mitkaiser Otto II. ein schwerwiegendes Strukturproblem, das dieser ungelöst an seinen Thronfolger weitergab.
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Hagen Keller, Reichsstruktur und Herrschaftsauffassung in ottonisch-frühsalischer Zeit, in: Frühmittelalterliche Studien 16, 1982, S. 74–128, hier S. 76 ff.; Ders., Otto der Große urkundet im Bodenseegebiet. Inszenierungen der in einer vom König selten besuchten Landschaft, in: Mediaevalia Augiensia ( wie Anm. 5 ) S. 205–245; Müller-Mertens ( wie Anm. 106 ) S. 189–198; Kränzle ( wie Anm. 106 ) S. 120–157.
Konsens und Konkurrenz
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Konsens und Konkurrenz Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik 1. Einleitung, S. 75. – 2. Hinkmar von Reims und der Konsens der Großen im 9. Jahrhundert, S. 77. – 3. Adalbert von Bremen, Lampert von Hersfeld und die fürstliche Verantwortung für das Reich im 11. Jahrhundert, S. 89. – 4. Philipp von Köln, Arnold von Lübeck und der Sturz Heinrichs des Löwen, S. 97. – 5. Fazit, S. 102.
EINLEITUNG
In den letzten Jahren hat die mediävistische Politik- und Verfassungsgeschichte endgültig jene königszentrierte Sicht überwunden, die die Geschichtswissenschaft aus dem 19. Jahrhundert ererbt hatte. Nach dieser älteren Perspektive waren allein die Könige und Kaiser die Garanten der staatlichen Einheit und der Größe des Reiches, während die Fürsten mit ihrem Eigensinn die Geschichte Deutschlands nachhaltig belastet hätten. Inzwischen gilt dagegen der Anspruch des Adels auf Teilhabe am Reich nicht mehr als eine Hypothek für die Staatswerdung, sondern als ein funktionales Kernelement mittelalterlicher Königsherrschaft. Bernd Schneidmüller hat diese Sicht glücklich auf den Begriff der „konsensualen Herrschaft“ gebracht. In einem großen Überblick über das gesamte Mittelalter hat er „die konsensuale Bindung von Herrschaft als Grundlage alteuropäischer Ordnung“ bestätigt – und zwar nicht nur für Könige, sondern auch für andere weltliche und geistliche Herrschaftsträger 1. Sein wegweisendes Konzept konsensualer Herrschaft 2 möchte ich hier aufgreifen, zugleich aber noch er-
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Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim Heinig – Sigrid Jahns – Hans-Joachim Schmidt – Rainer Christoph Schwinges – Sabine Wefers ( Hgg. ), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw ( Historische Forschungen 67 ) Berlin 2000, S. 53–87, das Zitat S. 65; vgl. außerdem Ders., Zwischen Gott und den Getreuen. Vier Skizzen zu den Fundamenten der mittelalterlichen Monarchie, in: Frühmittelalterliche Studien 36, 2002, S. 193–224, S. 193–209; Ders., Konsens – Territorialisierung – Eigennutz. Vom Umgang mit spätmittelalterlicher Geschichte, in: Frühmittelalterliche Studien 39, 2005, S. 225–246; sowie die Überlegungen bei Dems., Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter. Zusammenfassung II, in: Peter Moraw ( Hg. ), Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter ( Vorträge und Forschungen 48 ) Stuttgart 2002, S. 595–613, S. 609–611. Es ist inzwischen in der Forschung vielfach aufgegriffen worden: Vgl. etwa Ludger Körntgen, In primis Herimanni ducis assensu. Zur Funktion von D H II. 34 im Konflikt zwischen Heinrich II. und Hermann von Schwaben, in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 159–185, besonders S. 181 f. ( vgl. aber zu Körntgens Kernthese die Kritik bei Stefan Weinfurter, Konfliktverhalten und Individualität des Herrschers am Beispiel Kaiser Heinrichs II. [ 1002–1024 ], in: Stefan Esders [ Hg. ], Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung. Gerichtliche und außergerichtliche Strategien im Mittelalter, Köln – Weimar – Wien 2007, S. 291–311, S. 298 f. und S. 311; vgl. auch S. 291 zum „konsensualen Ordnungsprinzip“ );
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weitern und etwas nuancieren. Vor allem zwei Fragen bedürfen noch der Klärung: An wessen Konsens genau war der Herrscher gebunden? Und wandelte sich die konsensuale Herrschaft zwischen dem 8. Jahrhundert und dem Spätmittelalter – und wenn ja, in welcher Weise? Um bei der Analyse in die Tiefe gehen und trotzdem eine langfristige historische Entwicklung andeuten zu können, beschränkt sich der folgende Beitrag auf drei Fallbeispiele: eines aus der Karolingerzeit, die für die Entfaltung konsensualer Herrschaft eine wichtige Phase gewesen sein dürfte 3; eines aus dem ausgehenden 11. Jahrhundert, also aus einer Zeit, in der die politische Ordnung des Reiches zutiefst erschüttert wurde; und eines vom Ende des 12. Jahrhundert, in dem sich bereits die weitere spätmittelalterliche Entwicklung abzeichnet.
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Jutta Schlick, König, Fürsten und Reich ( 1056–1159 ). Herrschaftsverständnis im Wandel ( Mittelalter-Forschungen 7 ) Stuttgart 2001, S. 3; Hagen Keller, Ritual, Symbolik und Visualisierung in der Kultur des ottonischen Reiches, in: Frühmittelalterliche Studien 35, 2001, S. 23–59, S. 31, 36, 57 und öfter; Gerd Althoff, Die Kultur der Zeichen und Symbole, in: Frühmittelalterliche Studien 36, 2002, S. 1–17, S. 4; Ders., Freiwilligkeit und Konsensfassaden. Emotionale Ausdrucksformen in der Politik des Mittelalters, in: Klaus Herding – Bernhard Stumpfhaus ( Hgg. ), Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin u. a. 2004, S. 145–161, hier S. 150 f.; Thomas Zotz, Ludwig der Deutsche und seine Pfalzen. Königliche Herrschaftspraxis in der Formierungsphase des Ostfränkischen Reiches, in: Wilfried Hartmann ( Hg. ), Ludwig der Deutsche und seine Zeit, Darmstadt 2004, S. 27–46, S. 41; Verena Postel, Communiter inito consilio. Herrschaft als Beratung, in: Martin Kaufhold ( Hg. ), Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters. Essays in Honour of Jürgen Miethke ( Studies in Medieval and Reformation Traditions 103 ) Leiden 2004, S. 1–25, S. 2 f. – Für die späte Karolingerzeit vgl. auch Roman Deutinger, Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit ( Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 20 ) Ostfildern 2006, S. 225–272; in der Sache ähnlich zum Hochmittelalter: Monika Suchan, Fürstliche Opposition gegen das Königtum im 11. und 12. Jahrhundert als Gestalterin mittelalterlicher Staatlichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 37, 2003, S. 141–165, zusammenfassend S. 163 f.; zum 12. Jahrhundert vgl. Theo Kölzer, Der Hof Friedrich Barbarossas und die Reichsfürsten, in: Stefan Weinfurter ( Hg. ), Stauferreich im Wandel. Ordnungsvorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barbarossas ( Mittelalter-Forschungen 9 ) Stuttgart 2002, S. 220–236, S. 221 ( entspricht Dems., Der Hof Kaiser Barbarossas und die Reichsfürsten, in: Deutscher Königshof [ wie Anm. 1 ] S. 3–47, S. 5 ). Für die Karolingerzeit ist die Bedeutung des consensus der Großen, der zumal in den Kapitularien seinen Niederschlag gefunden hat, seit langem kontrovers diskutiert worden. Vgl. dazu nun das Resümee bei Burkhard Apsner, Vertrag und Konsens im früheren Mittelalter. Studien zu Gesellschaftsprogrammatik und Staatlichkeit im westfränkischen Reich ( Trierer Historische Forschungen 58 ) Trier 2006, S. 90–95, und dessen Auswertung der Konsensterminologie, ebd. S. 96–128. Allerdings hat Apsner seinerseits das Konzept von Schneidmüller nicht rezipiert. – Selbstverständlich hat der consensus aber schon seit der Antike eine bedeutende Rolle für die politische Ordnung gespielt: Vgl. Klaus Oehler, Der Consensus omnium als Kriterium der Wahrheit in der antiken Philosophie und der Patristik. Eine Studie zur Geschichte des Begriffs der allgemeinen Meinung, in: Antike und Abendland 10, 1961, S. 103–128, S. 111–117.
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2. HINKMAR VON REIMS UND DER KONSENS DER GROSSEN IM 9. JAHRHUNDERT
Aufschluss über die politische Ordnung der Karolingerzeit 4 verheißt der Traktat , den der Erzbischof Hinkmar von Reims 5 im Jahr 882 verfasst hat 6. 4
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Zu den Staatsvorstellungen der Zeit vgl. die Kontroverse zwischen Johannes Fried, Der karolingische Herrschaftsverband im 9. Jh. zwischen „Kirche“ und „Königshaus“, in: Historische Zeitschrift 235, 1982, S. 1–43, und Hans-Werner Goetz, Regnum. Zum politischen Denken der Karolingerzeit, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germ. Abt. 104, 1987, S. 110–189, dem Johannes Fried, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Jürgen Miethke – Klaus Schreiner ( Hgg. ), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, S. 73–104, S. 92–102, replizierte; die Diskussion zusammenfassend Jörg Jarnut, Anmerkungen zum Staat des frühen Mittelalters. Die Kontroverse zwischen Johannes Fried und Hans-Werner Goetz, in: Ders. – Dieter Hägermann – Wolfgang Haubrichs ( Hgg. ), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter ( Ergänzungsbände zum RGA 41 ) Berlin u. a. 2004, S. 504–509. – Fried hat an seiner Position festgehalten und die einschlägigen Passagen seines Beitrags von 1994 in kaum veränderter Form erneut publiziert: Vgl. Ders., Warum es das Reich der Franken nicht gegeben hat, in: Bernhard Jussen ( Hg. ), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, S. 83–89; vgl. außerdem Hans-Werner Goetz, Die Wahrnehmung von ‚Staat‘ und ‚Herrschaft‘ im frühen Mittelalter, in: Stuart Airlie – Walter Pohl – Helmut Reimitz ( Hgg. ), Staat im frühen Mittelalter ( Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11 ) Wien 2006, S. 39–58; Mayke de Jong, Ecclesia and the Early Medieval Polity, ebd., S. 113–132, besonders S. 113–115. Zu seiner Person grundlegend bleiben Heinrich Schrörs, Hinkmar. Erzbischof von Reims. Sein Leben und seine Schriften, Freiburg 1884; und die monumentale Studie von Jean Devisse, Hincmar. Archevêque de Reims 845–882, 3 Bde., Genf 1975–1976. Hinkmar von Reims, De ordine palatii, hg. von Thomas Gross – Rudolf Schieffer ( MGH Fontes iuris Germanici antiqui 3 ) Hannover 1980. – In cap. 3, S. 54, Z. 218–223, bezieht sich Hinkmar ausdrücklich auf einen libellus de ordine palatii Adalhards; nachdem Louis Halphen, Le d’Hincmar, in: Revue Historique 183, 1938, S. 1–9, die Möglichkeit angedeutet hatte, dass Adalhards Schrift vielleicht gar nicht existierte, haben Jakob Schmidt, Hinkmars ‚De ordine palatii‘ und seine Quellen, Diss. phil. Frankfurt 1962, und Carlrichard Brühl, Hinkmariana, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 20, 1964, S. 48–77, die Existenz des Adalhardschen Werkes und Hinkmars Abhängigkeit davon zu erweisen versucht. Ihre Versuche zusammenfassend und kritisierend, hat dann Heinz Löwe, Hinkmar von Reims und der Apocrisiar. Beiträge zur Interpretation von De ordine palatii, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971 ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36/3 ) Göttingen 1972, 3, S. 197–225, überzeugend dafür plädiert, zwar die Existenz der älteren Vorlage anzunehmen, den überlieferten Text aber als Schöpfung Hinkmars ernstzunehmen; zudem hat er erwiesen, dass die Aussagen über den Apokrisiar auf Hinkmar selbst zurückgehen; Josef Fleckenstein, Die Struktur des Hofes Karls des Großen im Spiegel von Hinkmars De ordine palatii, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 83, 1976, S. 5–22, besonders S. 8–19, hat dargelegt, dass die Aussagen des Textes über die Hofämter an Karls Hof größtenteils durch andere Quellen bestätigt werden; er hat aber die Frage offengelassen, ob dies in einer direkten Übernahme aus Adalhards Schrift oder in eigener Sachkenntnis Hinkmars begründet war ( vgl. ebd., S. 7 f. ). – Heute gilt die Existenz der Adalhardschen Schrift als gesichert, der Umfang der Rezeption durch Hinkmar ist aber nach wie vor umstritten: Vgl. Gross – Schieffer, S. 11; Janet L. Nelson, Legislation and Consensus in the Reign of Charles the Bald, in: Dies., Politics and Ritual in Early Medieval Europe ( History Series 42 ) London u. a. 1986, S. 90–116, S. 103 f.; dazu kritisch: Bernhard S. Bachrach, Adalhard of Corbie’s De Ordine palatii: Some Methodological Observations Regarding Chapters 29–36, in: Cithara 41, 2001, S. 3–34, dem Postel ( wie Anm. 2 ) S. 12 mit Anm. 21, gefolgt ist; außerdem D. B. Walters, Comparative Aspects of the Tractates on the Laws of Court, in: Thomas M. CharlesEdwards – Morfydd E. Owen – Paul Russell ( Hgg. ), The Welsh King and his Court, Cardiff 2000, S. 382–399, S. 389.
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Die Schrift liest sich über weite Passagen wie ein Manifest konsensualer Herrschaft – und als solches hat zuletzt auch Verena Postel das Werk gewürdigt 7. Consensus und consilium sind Schlüsselbegriffe, mit denen Hinkmar die Entscheidungsfindung am Hof und im Reich beschreibt 8. Allerdings stellt er dabei ein zweistufiges System von Beratungen vor: Auf einer ersten, jährlichen Versammlung sollte die generalitas universorum maiorum zusammentreten und Beschlüsse fassen 9. Auf einer zweiten, exklusiveren Versammlung sollten dagegen nur die seniores et praecipui consiliarii gemeinsam mit dem König die Entscheidungen des kommenden Jahres vorbereiten 10. Hinkmar deutet an, dass erst die Vertraulichkeit in diesem kleinen Kreis überhaupt einen offenen Meinungsaustausch ermöglichte 11: Alle Beschlüsse sollten zunächst geheim bleiben; sie waren der allgemeinen Versammlung des Folgejahres so vorzulegen, als ob sie noch von niemandem vorerörtert wären. Ein erneuter, gemeinsamer Beschluss durch den großen Kreis sollte dann alle anspornen, die Entscheidungen auch eifrig umzusetzen 12. All das klingt sehr harmonisch. Doch lässt sich an Hinkmars Text auch eine agonale Dimension der politischen Ordnung ablesen – sobald man nach den Zielen fragt, die Hinkmar selbst mit seinem Traktat verfolgte. Hier schilderte nämlich kein <elder statesman> ohne persönliche Ambitionen die politische Welt; hier empfahl sich ein ehedem einflussreicher Erzbischof, der aus dem Zentrum der Macht verdrängt worden war, für die Wiederaufnahme in den Kreis der tonangebenden Ratgeber des Königs. Seit 876, aus dem politischen Abseits heraus, betonte Hinkmar immer stärker die Notwendigkeit konsensualer Entscheidungsfindung – und empfahl den Königen des Westreiches zugleich mit wachsendem Nachdruck, doch möglichst auf den Rat alter, erfahrener Männer zu hören. Auch der Traktat , so wird im Folgenden zu zeigen sein, ordnet sich in diese politische Argumentation eines alten, erfahrenen Mannes ein. Im Jahr 876 war Karl der Kahle als Kaiser aus Italien zurückgekehrt und hatte für den Sommer eine Synode nach Ponthion einberufen 13. Auf der ersten Sitzung dieser Versammlung, am 21. Juni, ließ Karl einen Brief des Papstes Johannes VIII. verle-
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Vgl. Postel ( wie Anm. 2 ) S. 12–16, die allerdings den Wortlaut der einschlägigen Passagen Adalhard von Corbie zuschreibt. Das lehrt schon ein Blick in das Wortregister der Edition von Gross – Schieffer ( wie Anm. 6 ), das consilium 14 Mal, consensus/consentire 9 Mal, consiliarius 8 Mal, tractare 8 Mal verzeichnet. Hinkmar, De ordine palatii ( wie Anm. 6 ) cap. 6, S. 82/84. Ebd. cap. 6, S. 84. Dazu grundlegend Gerd Althoff, Colloquium familiare – colloquium secretum – colloquium publicum. Beratungen im politischen Leben des früheren Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 24, 1990, S. 145–167, zu Hinkmar S. 150 f. und S. 154 f.; vgl. auch Timothy Reuter, Assembly Politics in Western Europe from the Eighth Century to the Twelfth, in: Peter Lineham – Janet L. Nelson ( Hgg. ), The Medieval World, New York 22003, S. 432–450. Hinkmar, De ordine palatii ( wie Anm. 6 ) cap. 6, S. 84/86. Darüber berichtet Hinkmar selbst in den Annales Bertiniani, hg. von Felix Grat – Jeanne Vielliard – Suzanne Clémencet – Léon Levillain, Paris 1964, ad a. 876, S. 201–205; vgl. zu den Ereignissen Wilfried Hartmann, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien ( Konziliengeschichte Reihe A: Darstellungen ) Paderborn u. a. 1989, S. 333–336; Janet L. Nelson, Charles the Bald, London u. a. 1992, S. 243 f.
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sen. Darin hatte der Papst nicht etwa dem altgedienten Hinkmar, sondern dessen Amtsbruder Ansegis von Sens das Vikariat für Gallien und Germanien zugewiesen 14 – dem ehemaligen Abt von Saint-Michel in der Diözese von Beauvais 15, einem Mann also, der erst seit fünf Jahren im Amt und damit Hinkmars metropolitaner Aufsicht entwachsen war. Hinkmar protestierte sofort gegen diese Entscheidung, aber vergeblich 16. Karl ließ dennoch Ansegis vor allen Bischöfen zur Rechten neben dem päpstlichen Legaten Johannes von Toscanella Platz nehmen 17. Die Synode tagte noch bis zum 16. Juli; so fand Hinkmar Zeit, ein langes Schreiben zu formulieren, in dem er begründete, warum es in der fränkischen Kirche kein den Erzbischöfen übergeordnetes Amt geben könne 18. Gleichwohl beschloss die Synode in ihrer letzten Sitzung, Ansegis zum apostolischen Vikar zu erheben 19. Auf Dauer vermochte der Erzbischof von Sens seinen Vorrang zwar nicht durchzusetzen 20, aber die Zurücksetzung Hinkmars war in Ponthion für einen Großteil der hohen Geistlichkeit des Reiches unübersehbar 21. Und damit nicht genug: Ebenfalls noch in Ponthion, am 30. Juni, verlangte Karl von den Bischöfen einen Treueid. ‚Gehorsam und Treue in allen Dingen‘ sollten Hink-
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Johannes VIII., Epistolae passim collectae, hg. von E. Caspar – G. Laehr ( MGH Epp. 7 ) Berlin 1928, Nr. 3, S. 316 ( vom 2. Januar 876 ). Vgl. Egon Boshof, Odo von Beauvais, Hinkmar von Reims und die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen im westfränkischen Reich, in: Dieter Berg – Hans-Werner Goetz ( Hgg. ), Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche, Recht und Staat im Mittelalter. Festschrift für F.-J. Schmale, Bochum 1989, S. 39–59, S. 58. Darüber berichtet Hinkmar in den Annales Bertiniani ( wie Anm. 13 ) ad a. 876, S. 202: … reclamante Remorum archiepiscopo, audientibus omnibus, hoc factum sacris regulis obuiare. Ebd. Der Text ist gedruckt unter dem – erst von Jacques Sirmond geprägten – Titel: De iure metropolitanorum, hg. von Jacques-Paul Migne ( Migne PL 126 ) ND Turnhout 1966, Sp. 189–210; zu Inhalt und zur Abfassung der Schrift während der Synode von Ponthion vgl. Schrörs ( wie Anm. 5 ) S. 365–371. Das geht hervor aus den Capitula ab Odone proposita, hg. von Alfred Boretius – Victor Krause ( MGH Capit. 2 ) Hannover 1897, Nr. 279 G, cap. 7, S. 352, Z. 11–17; zur Datierung des Beschlusses vgl. ebd., S. 351, Z. 6–8. – Hinkmar formuliert in den Annales Bertiniani, ad a. 876, S. 205: Iterum autem mota est interrogatio de primatu Ansegisi, et post multas ab imperatore et legatis apostolici contra episcopos quaerimonias habitas, tantum in nouissima quantum et in prima die synodi exinde Ansigisus obtinuit. Das hieße: Der Kaiser erzwang Ansegis’ Vikariat gegen den Willen zumindest eines Teils der Bischöfe. Vgl. dazu Hartmann ( wie Anm. 13 ) S. 336, gegen Schrörs ( wie Anm. 5 ) S. 371 f., der annahm, Karl habe sich in Ponthion nicht durchgesetzt. Schon wenige Wochen später, am 16. November des Jahres 876, beklagte sich Johannes VIII. in einem Schreiben an Karl den Kahlen darüber, dass Ansegis – der im Auftrag des Kaisers als Gesandter auf dem Weg nach Rom war – mit dem Herzog Lambert von Spoleto Kontakt aufgenommen habe, einem Gegner des Papstes: Johannes VIII., Registrum, hg. von Erich Caspar ( MGH Epp. 7 ) Berlin 1928, Nr. 25, S. 23 f.; dazu Schrörs ( wie Anm. 5 ) S. 372, mit Anm. 66. – Keine Quelle berichtet von Ansegis’ Tätigkeit als päpstlicher Vikar; schon zwei Jahre später aber erhielt der Erzbischof Rostagnus von Arles das Vikariat: Johannes VIII., Registrum, Nr. 120, S. 109 f.; dazu Hartmann ( wie Anm. 13 ) S. 336; Boshof ( wie Anm. 15 ) S. 58. Die Synode war ungewöhnlich gut besucht, auch von Bischöfen aus Aquitanien; anwesend waren neun Erzbischöfe und 41 Bischöfe: Vgl. die Unterschriftenliste, hg. von Alfred Boretius – Victor Krause ( MGH Capit. 2 ) Hannover 1897, Nr. 279 D, S. 349, Z. 5 – S. 350, Z. 6; dazu Hartmann ( wie Anm. 13 ) S. 335 f.
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mar und seine Amtsbrüder dem Kaiser als ihrem senior schwören 22. Das war dem ohnehin beleidigten Erzbischof so zuwider, dass er in einem weiteren Schreiben an Karl den Wortlaut der Eidesformel gnadenlos sezierte 23. Karl sei gar nicht sein senior, ließ Hinkmar wissen, denn der Kaiser sei ja jünger als er 24. Tatsächlich trennte die beiden Männer knapp eine Generation. Sein Lebensalter und seine Erfahrung spielte Hinkmar in demselben Schreiben noch ein zweites Mal aus: Bereits unter Karls Vater habe er, Hinkmar, acht Jahre lang treue Dienste geleistet, unter Karl selbst sogar schon 36 Jahre – und all das ohne irgendeinen Eid 25! Erfolg hatte Hinkmars Protest nicht, seinen Einfluss auf Karl den Kahlen hatte der Reimser Erzbischof verloren. Im Kapitular von Quierzy regelte Karl im Juni 877 die Regentschaft für die Zeit seines Italienzugs 26. Verantwortlich für den Text könnte Gauzlin von Saint-Denis gewesen sein 27; Hinkmar spielte darin nur noch eine Nebenrolle. Die Leitung des Reiches erhielten andere – der Erzbischof von Reims sollte lediglich mithelfen, die königliche Bibliothek zwischen dem Kloster Saint-Denis und dem Marienstift in Compiègne aufzuteilen, falls Karl in Italien stürbe 28. Wie tief das Zerwürfnis zwischen Hinkmar und dem Kaiser war, das scheint in den Jahresberichten zu 876/77 in den sogenannten auf 29. Das Bild Karls, das Hinkmar dort malte, ist düster: Karls Niederlage bei Andernach 876 gegen Ludwig den Jüngeren breitete der Erzbischof gnadenlos in allen ihren katastrophalen Einzelheiten aus 30. Nicht einmal durch Karls Tod am 6. Oktober des darauf folgenden Jahres ließ sich Hinkmar versöhnlich stimmen. Sein bösartiger Bericht über den Giftmord an Karl ist so berühmt wie berüchtigt 31: Karls Leichnam habe derart gestunken, dass man ihn nicht bis nach Saint-Denis habe tragen können, wo der Kaiser hatte begraben werden wollen. Nicht einmal eine von außen und innen mit Pech abgedichtete und mit Fellen eingehüllte Tonne habe ‚den Gestank zu unterdrücken‘ vermocht. Daher habe man die
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Die Eidesformel ist gedruckt bei Alfred Boretius – Victor Krause ( MGH Capit. 2 ) Hannover 1897, Nr. 220, S. 100, Z. 3–12. Der Text ist gedruckt als <Juramentum quod Hincmarus archiepiscopus edere jussus est apud Pontigonem>, hg. von Jacques-Paul Migne ( Migne PL 125 ) ND Turnhout 1969, Sp. 1125–1128; zur Datierung ins Jahr 876 vgl. ebd., Sp. 1128 C, wo Hinkmar angibt, Karl der Kahle habe bisher, in den gesamten 36 Jahren seit dem Tode Ludwigs des Frommen ( † 840 ), noch keinen Treueid von ihm gefordert. – Zu dem Text vgl. im übrigen Schrörs ( wie Anm. 5 ) S. 363 f., der zu Recht darauf hinweist, dass die sarkastische Kritik Hinkmars überzogen war und nur aus seiner Missstimmung über die Bevorzugung des Ansegis von Sens heraus verständlich wird. Juramentum ( wie Anm. 23 ) Sp. 1125 B. Ebd. Sp. 1128 C. Dazu Annales Bertiniani ( wie Anm. 13 ) ad a. 877, S. 212 f.; dazu Nelson ( wie Anm. 13 ) S. 248–251. So Nelson ( wie Anm. 13 ) S. 248. Capitulare Carisiacense, hg. von Alfred Boretius – Victor Krause ( MGH Capit. 2 ) Hannover 1897, Nr. 281, cap. 12, S. 358 f. Annales Bertiniani ( wie Anm. 13 ) ad a. 876–877, S. 200–217. Ebd. ad a. 876, S. 208–210; zu den Ereignissen vgl. Nelson ( wie Anm. 13 ) S. 244–246. – Hinkmars Kritik an Karl hat auch Ursula Penndorf, Das Problem der „Reichseinheitsidee“ nach der Teilung von Verdun ( 843 ). Untersuchungen zu den späten Karolingern ( Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 20 ) München 1974, S. 74–76, betont, ohne aber den Hintergrund für diese Kritik, die Synode von Ponthion, zu bemerken. Vgl. Janet L. Nelson, La mort de Charles le Chauve, in: Médiévales 31, 1996, S. 53–66.
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Leiche in dieser Tonne unterwegs – in Nantua, einer Zelle des Erzbistums Lyon – verscharren müssen 32. Ein guter Tod eines Kaisers sah anders aus 33! Karls Ableben eröffnete Hinkmar die Chance, seinen Einfluss bei Hof zurückzugewinnen. Schon zuvor, zwischen August und Oktober 877 ( also während Karls Italienzug ), hatte sich Hinkmar mindestens zweimal per Brief an dessen Sohn, Ludwig den Stammler, gewandt 34. Und als Ludwig nun im November seinen Anspruch auf den Thron bei den tonangebenden Großen des Westreichs durchzusetzen suchte, wandte er sich um Beistand auch an den greisen Reimser Erzbischof. Hinkmars Rat war wieder gefragt. Was er in dieser Situation an den König schrieb, liest sich wie eine Programmschrift konsensualer Herrschaft: Allgegenwärtig sind Wörter wie consilium, consiliarius, concordia, consensus, tractare, communis necessitas. Geradezu gebetsmühlenartig wiederholte Hinkmar, dass Könige Ratgeber haben und auf sie hören sollten. Vor allem aber solle in gemeinsamer Beratung ein Konsens der primores regni in der wichtigen Frage der Reichsleitung gefunden werden; erst auf dieser Basis könne Ludwig als guter König herrschen 35. Die Formulierungen belegen den hohen Stellenwert, den Beratung und Konsens für die Regierungstätigkeit eines fränkischen Königs im 9. Jahrhundert hatten. Zugleich ist Hinkmars Schreiben aber auch ein individueller, politischer Schachzug. Bei genauerem Hinsehen ist sein Argument nämlich differenzierter: Es gebe gute Ratgeber, betonte Hinkmar, und schlechte Ratgeber; und nur die guten solle ein guter König anhören 36. In der letzten Zeit, unter Karl dem Kahlen, sei das aber nicht mehr geschehen: ‚Vieles Nützliche für dieses Reich ist dadurch zunichte gemacht worden, dass die Ratgeber das Gute und Nützliche, das sie wussten, nicht mehr auszusprechen wagten oder aber keine Möglichkeit hatten, es auszusprechen‘ 37. Dass Hinkmar damit nicht 32
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Annales Bertiniani ( wie Anm. 13 ) ad a. 877, S. 217: Quem aperientes qui cum eo erant, ablatis ineraneis, et infusum uino ac aromatibus quibus poterant et impositum locello, coeperunt ferre uersus monasterium Sancti Dyonisii, ubi sepeliri se postulauerat. Quem pro fetore non ualentes portare, miserunt eum in tonna interius exteriusque picata quam coriis inuoluerunt, quod nihil ad fetorem tollendum profecit. Vnde ad cellam quandam monachorum Lugdunensis episcopii quae Nantoadiis dicitur uix peruenientes, illud corpus cum ipsa tonna terrae mandauerunt. Es genügt, die Schilderung mit dem Bericht des Astronomus über das Sterben Ludwigs des Frommen zu vergleichen ( Vita Hludowici imperatoris, hg. von Ernst Tremp [ MGH SS rer. Germ. 64 ] Hannover 1995, cap. 62, S. 546 – cap. 64, S. 554 ), um zu begreifen, dass den Zeitgenossen Karls Tod, so wie Hinkmar ihn präsentierte, als göttliche Strafe erscheinen musste. Verstorbene Heilige strömten gewöhnlich Wohlgerüche aus ( vgl. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 121 f. ); den toten Karl zeichnete Hinkmar als das Gegenteil eines Heiligen. Dazu die beiden Regesten, die Flodoard, Historia Remensis ecclesiae, hg. von Martina Stratmann ( MGH SS 36 ) Hannover 1998, lib. 3, cap. 19, S. 260, überliefert: Item ad Ludowicum regem, filium huius Karoli, quem unxerat et consecraverat, de coniecto Normannis dando. Item de disponendis regni utilitatibus et ordinatione atque consilio patris imperatoris sequendo. – Zur Datierung vgl. Schrörs ( wie Anm. 5 ) S. 585, Anm. 152; Stratmann ( wie oben ) S. 260, Anm. 1. Das Schreiben ist gedruckt unter dem Titel , hg. von Jacques-Paul Migne ( Migne PL 125 ) ND Turnhout 1969, Sp. 983–990. Ebd. cap. 1, Sp. 985 A: Legimus quia boni reges constituti bonos sibi consiliarios adhibuerunt, et per bonos reges et bonos consiliarios regnorum populi multa bona habuerunt, et per malos reges et malos consiliarios regnorum populi multa mala sustinuerunt. Ebd. cap. 8, Sp. 988 A: Quia … multum deperiit de utilitate in isto regno pro eo quia consiliarii quod sciebant bonum et utile, dicere non audebant, nec ut dicerent locum habebant.
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zuletzt sich selbst meinte, dürfte Ludwig ohne weiteres verstanden haben. Wenn der seit Monaten politisch kaltgestellte Erzbischof nun darauf pochte, dass Ludwig auf den Rat seiner Großen höre, auf Einigkeit unter den primores regni achte, vor allem aber keinen von ihnen ausgrenze – dann war das der Versuch eines Ausgegrenzten, wieder ins Zentrum der Entscheidungsfindung zurückzukehren. Zu dieser politischen Strategie gehörte es auch, dass sich Hinkmar erneut als zwar ‚schon durch Alter, Schwäche und Krankheit geschlagen‘ präsentierte 38, aber bei alledem doch als höchst erfahrenen Mann. Die erste Hälfte des Briefs entfaltet gewissermaßen ein historisches Argument 39: Hinkmar erzählt dem König von den Erhebungen der fränkischen Könige seit 768. Fast alle Hauptfiguren dieser antiquae historiae aber, das wusste Ludwig, hatte der Reimser Erzbischof noch persönlich erlebt – einschließlich des großen Karl. Und spätestens seit der Nachfolge Ludwigs des Frommen 840 war Hinkmar sogar an den Ereignissen, die er schilderte, wesentlich beteiligt gewesen. Genau das war Hinkmars Botschaft für Ludwig den Stammler: Gute Ratgeber, auf die gute Könige hören sollten, hatten Erfahrung. Denn sie waren selbst Teil jener antiquae historiae, deren Lehren ein guter König zu beherzigen hatte. Ebenfalls aus dem Spätherbst 877 datiert ein Visionsbericht aus Hinkmars Fe40 der . Dieser Vision zufolge hatte ein gewisser Bernold, ins Jenseits entrückt, Karl den Kahlen getroffen. Der verstorbene Kaiser erschien ihm übel zugerichtet und von Würmern zerfressen. Er habe dem Visionär Bernold aufgetragen, Hinkmar Folgendes auszurichten: ‚Weil ich seinen guten Ratschlägen und denen meiner anderen Getreuen nicht gehorcht habe, deshalb erleide ich das, was Du siehst, für meine Sünden‘ 41. Auftragsgemäß begibt sich Bernold daraufhin zu Hinkmar, den er unterwegs zu den Gefilden der Heiligen in einer Kirche findet, im Begriff eine Messe zu lesen. Nachdem er seine Botschaft ausgerichtet hat, kehrt er zu Karl zurück – und trifft ihn nun mit gesundem Körper und angetan mit königlichen Gewändern 42. Hinkmars Lehre ist deutlich, und sie dürfte nicht zuletzt an Ludwig den Stammler gerichtet gewesen sein: Meine Ratschläge sind gut, sie sichern das Heil des Königs; wer sie verschmäht, wird spätestens im Himmel seine gerechte Strafe erleiden.
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Ebd. cap. 10, Sp. 990 B: Propterea mihi jam et aetate et infirmitate ac debilitate attrito, non necesse est a dominatione vestra imponi, ut sine causa laborem …; gleichwohl wolle er gern – wie die anderen primores regni – zu einem allgemeinen placitum Ludwigs erscheinen. Ebd. cap. 2–5, Sp. 985 f. Hinkmar, Visio Bernoldi, hg. von Maaike van der Lugt, Tradition and Revision. The Textual Tradition of Hincmar of Reims’ ‚Visio Bernoldi‘ with a New Critical Edition, in: Archivum latinitatis Medii Aevi 52, 1994, S. 109–149. – Zur Überlieferungsgeschichte vgl. ebd., S. 119–127, mit dem Nachweis, dass die als Rezension [ A ] gedruckte Fassung dem Hinkmarschen Original am nächsten kommt. – Zur Datierung ebd., S. 126, mit Anm. 35, und Claude Carozzi, Le voyage de l’âme dans l’au-delà d’après la littérature latine ( Ve–XIIIe siècle ) ( Collection de l’École française de Rome 189 ) Rom 1994, S. 346. – Nach Peter Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter ( Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23 ) Stuttgart 1981, S. 60 f., ist Bernolds Vision ein Beispiel für jene Fälle, in denen nicht sicher entscheidbar ist, ob sie auf ein visionäres Erlebnis zurückgehen oder eine darstellen. Vgl. dazu aber auch van der Lugt, S. 112 f. Anm. 10: Demnach hat Hinkmar wahrscheinlich eine <echte> Vision zu seinen eigenen Gunsten instrumentalisiert. Hinkmar, Visio Bernoldi ( wie Anm. 40 ) S. 144, Spalte A: Et dixit mihi: ‚Vade ad Hincmarum episcopum, et dic ei, quia illius et aliorum fidelium meorum bona consilia non obaudiui, ideo ista quae uidis pro culpis meis sustineo. …‘. Ebd. S. 45, Spalte A.
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Hinkmars Strategie ging auf. Am 8. Dezember 877 war er es, der Ludwig in Compiègne krönte, auf Grundlage eines Ordo, den er selbst zu diesem Zweck geschaffen hatte 43. Es ist bezeichnend für Hinkmars Einfluss, dass die Bischöfe hier ( anders als in Ponthion ) keinen Eid schworen, sondern nur eine professio ablegten, deren Text den Vorstellungen des Erzbischofs entsprach 44. Auf der Synode von Troyes im August 878 musste Hinkmar zwar die Rehabilitation seines Neffen, Hinkmar von Laon, miterleben und wohl auch Angriffe auf seine eigene Person hinnehmen 45, aber sein Verhältnis zum König scheint das nicht beeinträchtigt zu haben. Der Vertrag von Fouron, den Ludwig am 1. November mit Ludwig dem Jüngeren schloss, entsprach der politischen Linie des Reimser Erzbischofs; jedenfalls dokumentierte Hinkmar den vollen Wortlaut in seinen Annalen 46. Und aus Flodoards Regesten wissen wir, dass er Ludwig mit Geld und Truppen unterstützte und in Ludwigs Auftrag versuchte, dem rebellischen Hugo, dem Sohn Lothars II., Einhalt zu gebieten 47. Der Jahresbericht der zu 878 ist gegenüber Ludwig entschieden freundlicher formuliert als die Nachrichten über Karl den Kahlen zu 876 und 877. Doch Ludwig starb bereits wenige Monate später, am 10. April 879. Er hinterließ zwei Söhne, den etwa 13-jährigen Karlmann und seinen 15-jährigen Bruder Ludwig III. Die politischen Konflikte im Frühjahr und Sommer 879, die schließlich zum Einfall Ludwigs des Jüngeren ins Westreich führen, durchlitt Hinkmar eher, als dass er sie aktiv mitbestimmte 48. Die Krönung der beiden Brüder im September des Jahres 879 im Kloster Ferrières vollzog Hinkmars Rivale Ansegis von Sens, Hinkmar selbst war nicht einmal anwesend 49. Noch im Herbst überwarf er sich mit den beiden jungen Königen ( und wahrscheinlich auch mit den tonangebenden Großen bei Hof ) über die Frage, wer Bischof von Noyon-Tournai werden solle 50. Hinkmar setzte zwar im Januar
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Aufgrund der Ausgabe Jacques Sirmonds nach einem heute verlorenen Lütticher Manuskript unter dem Titel: , hg. von Alfred Boretius – Victor Krause ( MGH Capit. 2 ) Hannover 1897, Nr. 304, S. 461 f.; zur Autorschaft Hinkmars vgl. Janet L. Nelson, Kingship, Law and Liturgy in the Political Thought of Hincmar of Rheims, in: Dies., Politics and Ritual in Early Medieval Europe ( History Series 42 ) London u. a. 1986, S. 133–171, S. 138 mit Anm. 1; Dies., Early Medieval Rites of Queen-Making and the Shaping of Medieval Queenship, in: Dies., Rulers and Ruling Families in Early Medieval Europe. Alfred, Charles the Bald, and Others ( Variorum Collected Studies Series ) Aldershot u. a. 1999, XV, S. 301–315, S. 301 f., Anm. 2. Darüber berichtet Hinkmar selbst in den Annales Bertiniani ( wie Anm. 13 ) ad a. 877, S. 219–221. Vgl. Hartmann ( wie Anm. 13 ) S. 336–340, sowie Hinkmars Bericht in den Annales Bertiniani ( wie Anm. 13 ) ad a. 878, S. 223–230. Annales Bertiniani ( wie Anm. 13 ) ad a. 878, S. 230–234. Das geht aus Briefen hervor, die Flodoard, Historia ( wie Anm. 34 ) lib. 3, cap. 19, S. 260, Z. 13–15, cap. 23, S. 317, Z. 14–16 und evtl. cap. 26, S. 344, Z. 5–30 ( dessen Datierung jedoch unklar ist ) registriert hat. Zu den Ereignissen vgl. Thilo Offergeld, Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter ( MGH Schriften 50 ) Hannover 2001, S. 350–359. Vgl. seinen knappen Bericht in den Annales Bertiniani ( wie Anm. 13 ) S. 238 f.; dazu Offergeld ( wie Anm. 48 ) S. 359, der allerdings vermutet, dass die Könige nicht bei einer großen Versammlung gekrönt wurden, weil die Zeit drängte. Über die Vorgänge sind wir vor allem aus den Regesten von Briefen Hinkmars unterrichtet, die Flodoard im 10. Jahrhundert in seine Reimser Kirchengeschichte inseriert hat; vgl. zum Ablauf Schrörs ( wie Anm. 5 ) S. 435 f.
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880 seinen Kandidaten durch – aber der Streit dürfte ihn noch weiter ins politische Abseits gedrängt haben. Im März desselben Jahres wurde das westfränkische Reich in Amiens zwischen Karlmann und Ludwig III. geteilt; nichts spricht dafür, dass Hinkmar hierbei eine größere Rolle gespielt hätte 51. Und nach dem Tod Bischof Odos von Beauvais am 28. Januar 881 schließlich begann eine Affäre um die Neubesetzung dieses Bistums, die sich bis zum Frühsommer des folgenden Jahres hinziehen sollte 52. Spätestens seit Mai 881 rang Hinkmar verzweifelt um seinen Einfluss auf diese Bischofserhebung, die ihm von Ludwig III. und dessen Hofkreisen um Abt Gauzlin von Saint-Denis streitig gemacht wurde. Einmal mehr bestätigt ein Blick in Hinkmars Annalen seine Position fernab des Königs: Sogar den gefeierten Sieg Ludwigs III. über die Normannen bei Saucourt im August 881 präsentierte Hinkmar mäkelnd als fränkische Niederlage 53. Von neuem ins politische Abseits gedrängt, betonte Hinkmar wieder einmal sein hohes Alter, die Notwendigkeit guter ( sprich: alter ) Ratgeber und die Pflicht des Königs, Konsens herzustellen. Im Sommer 880 wandte sich Hinkmar mit einem Brief an Karl III.: Karl solle ‚diese Jugendlichen, unsere Könige‘ an Sohnes statt annehmen und ihr Reich ‚nach Vorschlag der Großen dieses Reiches‘ verwalten – vor allem aber für jeden der beiden Könige jemanden de primoribus als Ratgeber und Erzieher bestellen 54. Mit Exempla verdeutlicht Hinkmar, welch verheerende Folgen es habe, wenn die falschen Leute einen König erzogen. Alexander der Große habe sich als Kind von seinem paedagogus Leonides eine aufbrausende Art und einen hinkenden Gang abgeschaut – zwei Fehler, die er später nicht wieder habe bessern können 55. Und Salomons Sohn Roboam habe gar einen großen Teil seines Reiches verloren, weil er ‚unter Hintanstel-
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Vgl. den Bericht in den Annales Bertiniani ( wie Anm. 13 ) S. 241 f.; sowie die grundlegende Analyse der politischen Konstellation bei Karl Ferdinand Werner, Gauzlin von Saint-Denis und die westfränkische Reichsteilung von Amiens ( März 880 ). Ein Beitrag zur Vorgeschichte von Odos Königtum, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 35, 1979, S. 395–462; zusammenfassend Offergeld ( wie Anm. 48 ) S. 360. Vgl. zu den Ereignissen Gerhard Schmitz, Hinkmar von Reims, die Synode von Fismes 881 und der Streit um das Bistum Beauvais, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 35, 1979, S. 463–486, S. 467 f.; außerdem die – zu schematische – Studie von Gerhard Ehrenfort, Hinkmar von Reims und Ludwig III. von Westfranken. Eine kirchenrechtliche Untersuchung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 44, 1925, S. 65–98; sowie Henry G. J. Beck, The Selection of Bishops Suffragan to Hincmar of Rheims, in: The Catholic Historical Review 45, 1959, S. 300–308, S. 303–306. Annales Bertiniani ( wie Anm. 13 ) ad a. 881, S. 244 f.; ganz anders ist bekanntlich die Darstellung im sogenannten Ludwigslied ( dazu Jens Schneider, Les Northmanni en Francie occidentale au IXe siècle: le chant de Louis, in: Annales de Normandie 53, 2003, S. 291–315 ); zu den Ereignissen vgl. Walther Vogel, Die Normannen und das Fränkische Reich bis zur Gründung der Normandie ( 799–911 ) ( Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 14 ) Heidelberg 1906, S. 272 f.; außerdem auch Ekkehard Eickhoff, Maritime Defence of the Carolingian Empire, in: Rudolf Simek – Ulrike Engel ( Hgg. ), Vikings on the Rhine. Recent Research on Early Medieval Relations between the Rhinelands and Scandinavia ( Studia Medievalia Septentrionalia 11 ) Wien 2004, S. 51–64, S. 56 f. Hinkmar, Ad Carolum III imperatorem, hg. von Jacques-Paul Migne ( Migne PL 125 ) ND Turnhout 1969, Sp. 989–994, cap. 1, Sp. 989 D – 990 C: et istos juvenes, reges nostros, propinquos vestros, et pupillos sine patre loco filiorum teneatis, et eis regnum ab antecessoribus illorum successione dimissum per suggestionem primorum regni hujus disponatis, et qui de primoribus cuique illorum convenient ordinetis. Ebd. cap. 2, Sp. 990 D – 991 A.
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lung des Rates der Alten sich auf den Ratschlag junger Leute gestützt hat‘ 56. Hinkmars Argument gipfelt in der Aufforderung an Karl, er solle für ‚diese jugendlichen Könige‘ nun doch ‚reife und kluge und besonnene Erzieher‘ bestellen 57. Einige Monate später, im April 881, sandte Hinkmar im Namen der Synode von Fismes ein Schreiben an Ludwig III. selbst 58. Der Schluss dieses Briefes legt dem König ein zweistufiges Beratungssystem ans Herz. Ludwig möge unter Geistlichen und Laien einige wenige Ratgeber wählen, die er stets um sich habe, um zunächst mit ihnen alle anstehenden Fragen zu erörtern. Das Ergebnis dieser Beratungen im kleinen Kreis möge er dann aber der plenitudo consiliarium suorum vorlegen, erneut communi consilio betrachten und schließlich umsetzen 59. Auch hier wieder betont Hinkmar, dass gute Ratgeber ( wie auch Könige ) alt seien – was allerdings nicht allein das biologische Lebensalter meine, sondern sich auf Lebensführung, Charakter und Würde beziehe 60. Und wie schon gegenüber Karl III. führte Hinkmar nun auch gegenüber Ludwig warnend das Beispiel des Königs Roboam an, der auf den Ratschlag von jungen Leuten gehört und daher einen sehr großen Teil des ererbten Reiches verloren habe 61. Gerhard Schmitz hat gezeigt, dass sich der scharfe Ton des Schreibens nicht als Reaktion auf eine aggressive Haltung Ludwigs III. in der Frage der Besetzung des Bistums Beauvais erklären lässt: Bis zum April 881 hatte sich Ludwig hier vielmehr kooperativ gezeigt 62. Man darf den Schluss der Akten von Fismes daher als einen weiteren Versuch Hinkmars lesen, seinen Einfluss auf den König zurückzugewinnen. Dazu passt, dass Hinkmar auch hier wieder sein eigenes hohes Alter und seine große Erfahrung in sehr geschickter Weise ins Spiel brachte. Sein Konzept der zweistufigen Beratung des Königs leitete er nämlich aus dem historischen Vorbild Karls des Großen ab, der es höchst erfolgreich so gehandhabt habe. Als Quelle für dieses Wissen aber nannte Hinkmar ‚einen‘ der Synodalteilnehmer, der all das noch persönlich von denjenigen gehört habe, die damals am Hof Karls dabei gewesen seien 63. Dass dieser namenlose ‚Eine‘ kein Anderer als Hinkmar selbst war, muss Ludwig III. verstanden haben. Sich selbst sah der König dagegen schlankweg als adhuc in aetate immatura bezeichnet. Unreif, wie er sei, möge er Karls großem Vorbild nacheifern – da er doch so
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Ebd. cap. 2, Sp. 991 A: … quia relicto senum, et juvenum usus consilio, magnam partem regni perdidit. Ebd.: istis juvenibus fidelibus filiis vestris, regibus nostris, maturos ac prudentes atque sobrios bajulos singulis constituite, qui oderint avaritiam, et eos verbo et exemplo justitiam diligere doceant … Die Akten der Synode, die nur in der Hs. Paris, Bibliothèque Nationale de France, ms. lat. 13953, aus den Jahren um 900 überliefert sind, finden sich gedruckt bei Jacques-Paul Migne ( Migne PL 125 ) ND Turnhout 1969, Sp. 1069–1086; dazu Hartmann ( wie Anm. 13 ) S. 340–342; Wojciech Fałkowski, Rex et sacerdos. Debata o władzy królewskiej i biskupiej na synodzie w Fismes w 881 roku, in: Kwartalnik Historiczny 108, 2001, S. 4–23. Synode von Fismes 881 ( wie Anm. 58 ) cap. 8, Sp. 1084 D – 1085 A. Ebd. cap. 8, Sp. 1086 B–C. Ebd. cap. 8, Sp. 1086 C. Schmitz ( wie Anm. 52 ) S. 478 f. Synode von Fismes 881 ( wie Anm. 58 ) cap. 8, Sp. 1084 D – Sp. 1085 A: Sicut quidam nostrum ab illis audivit qui interfuerunt, Carolus Magnus imperator, qui regnum Francorum nobiliter ampliavit … nullo unquam tempore sine tribus de sapientioribus et eminentioribus consiliariis esse patiebatur.
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viele Teilhaber und Neider in seinem ‚Reichsteilchen‘ habe, dass er eher nominell denn aus eigener Kraft regiere 64. Ludwig III. goutierte nicht den Beschluss der Synode von Fismes, dass Klerus und Volk von Beauvais ihr Wahlrecht nach zwei Fehlentscheidungen verwirkt hätten und statt ihrer nun fünf von Hinkmar berufene Bischöfe die Wahl übernehmen sollten 65. Statt dessen beanspruchte der König die Entscheidung über die sedes für sich selbst. Auf Hinkmars Protest antwortete der König stur, er bleibe bei seiner Entscheidung, und setzte drohend hinzu, gegebenenfalls werde er gegen Hinkmar noch anderes unternehmen, wenn sich das als angemessen erweise 66. Hinkmar war ungehalten – und inszenierte wieder einmal sein hohes Alter. In seiner Jugend habe er das Sprichwort gelernt: ‚Ein müder Ochse stampft stärker auf‘ 67. Und als ein solcher müder, alter, aber zäher Ochse stellte er sich nun dem jungen König entgegen: Ihn habe Ludwig nicht zum Erzbischof gemacht – nein, umgekehrt, er, Hinkmar, habe ihn, Ludwig, gemeinsam mit seinen Amtsbrüdern und weiteren Getreuen zum König gewählt 68! Und drohen könne Ludwig ihm schon gar nicht: Er wünsche sich ja selbst, dass Gott ihn von seinem ‚alten‘ und ‚kranken‘ Körper befreie 69. Falls er mit seiner Stimme zugunsten der Erhebung Ludwigs eine Sünde begangen habe, dann hoffe er doch, für diese Sünde vom Herrn nicht belangt zu werden 70! Wenn aber Ludwig seine Haltung nicht ändern wolle, dann werde eben Gott dafür Sorge tragen – und zwar, wann immer es ihm beliebe 71. Warnend führte Hinkmar an dieser Stelle eine kleine Altersstatistik karolingischer Könige an: ‚Der Kaiser Ludwig [ sc. der Fromme ] hat nicht so viele Jahre gelebt wie 64
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Ebd. cap. 8, Sp. 1085 B: quid vobis sit agendum attendite, qui adhuc in aetate immatura estis, et tantos comparticipes atque aemulos in ista particula regni habetis, ut nomine potius quam virtute regnetis. – Hinkmar dürfte an dieser Stelle auf die Nomentheorie anspielen, die etwa in den weitverbreiteten ( hg. von Friedrich Kurze [ MGH SS rer. Germ. 6 ] Hannover 1895, ad a. 749, S. 8 ) im Zusammenhang mit dem Dynastiewechsel von 751 propagiert worden war. – Zum Kontrast zwischen Alter und Jugend im Schluss der Akten von Fismes auch Schmitz ( wie Anm. 52 ) S. 465 f. Dazu Schmitz ( wie Anm. 52 ) S. 472–478, der betont, dass das von Hinkmar in den Akten von Fismes geforderte Verfahren für Beauvais kaum mit dem Kirchenrecht zu vereinbar war. Ludwigs diesbezüglichen Brief hat Hinkmar in Auszügen in seiner Antwort zitiert; vgl. hier Hinkmar, Epistola 20, hg. von Jacques-Paul Migne ( Migne PL 126 ) ND Turnhout 1966, Sp.117–122, cap. 9, Sp. 120 A und das wörtliche Zitat cap. 10, Sp. 120 C. Ebd. Sp. 118 A: … secundum proverbium, quod in antiquorum libris juvenis legeram: ‚Bos lassus fortius figit pedem‘. – Hieronymus hat dieses Sprichwort in einem Brief an Augustinus benutzt; darin hielt er Augustinus vor, er könne es – obgleich schon alt – doch noch mit ihm, dem Jüngeren, aufnehmen ( Epistula 102, hg. von Isidor Hilberg [ Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 54 ] Wien 21996, S. 236, Z. 10 ); möglicherweise hatte Hinkmar diese Stelle vor Augen. – Karl Schenkl, Zu Hieronymus s. Augustinus Epist. LXVIII, § 2, in: Wiener Studien 19, 1897, S. 317, hat vermutet, dass es sich bei dem Sprichwort ursprünglich um einen Senar gehandelt habe, den Hieronymus verkürzt wiedergegeben habe; vgl. so im Übrigen zuvor schon P., Zu den lateinischen Sprichwörtern und sprichwörtlichen Redensarten, in: Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatik 3, 1886, S. 59–69, S. 60 f. Hinkmar ( wie Anm. 66 ) cap. 7, Sp. 119 D: Non vos me elegistis in praelatione Ecclesiae, sed ego cum collegis meis et caeteris Dei ac progenitorum vestrorum fidelibus, vos elegi ad regimen regni, sub conditione debitas leges servandi. Vgl. ebd. cap. 10, Sp. 120 D – Sp. 121 A: Sed utinam aut per vos, aut per quemcumque sibi placuerit, educat me Dominus de isto carcere, videlicet infirmo et senili corpore, ad eum quem sua gratia largiente ex toto corde desidero videndum, non meis meritis, quae nulla nisi mala sunt, sed sua indebita misericordia et gratuita gratia. Vgl. ebd. cap. 10, Sp. 121 A. Ebd. cap. 9, Sp. 120 B: … si vos non facietis, faciet Dominus quando illi placuerit.
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sein Vater Karl; Euer Großvater, Karl [ der Kahle ], hat nicht so lange gelebt wie sein Vater Ludwig; Euer Vater hat nicht so lange gelebt wie sein Vater‘ 72. Und Ludwig möge nur in Compiègne einmal schauen, wo sein Vater liege und sich dann danach erkundigen ( falls er es nicht wisse ), wo denn sein Großvater verstorben und begraben worden sei 73. Bösartiger konnte der 75-jährige Hinkmar, der alle diese Karolinger persönlich mit- und überlebt hatte, den jugendlichen König kaum auf jenen schlechten, unerwarteten Tod und das unwürdige Begräbnis verweisen, die Karl dem Kahlen zuteil geworden waren. ‚Wir wissen nicht‘, drohte Hinkmar, ‚in welcher Stunde für uns das Ende kommt‘ 74! Im Mai oder Juni 882 hatte Hinkmar in Sachen Beauvais obsiegt – ohne aber deshalb großen Einfluss auf die Entscheidungen am Hof zurückzugewinnen. Sie wurden nun von Gauzlin, dem Grafen Theoderich von Vermandois und anderen getroffen. Immerhin: Mit seiner Altersprognose für Ludwig III. sollte Hinkmar Recht behalten. Am 5. August 882 erlag der König den Verletzungen, die er sich zugezogen hatte, als er ein Mädchen in dessen Haus verfolgte, ohne vorher vom Pferd zu steigen 75. Hinkmar erlebte seinen sechsten ( und jüngsten ) Karolingerkönig; Karlmann war noch keine sechzehn Jahre alt. Und wieder tat Hinkmar das, was er seit 877 regelmäßig getan hatte: Er empfahl sich in einem Mahnschreiben als alten, bis auf die Zeit Karls des Großen zurückblickenden und daher erfahrenen Ratgeber, der den Einfluss schlechter Berater auf den jugendlichen König zu unterbinden suchte. Nach dem 9. September 882 verfasst, firmiert diese admonitio des Erzbischofs heute unter dem Titel . ‚Wegen des hohen Alters sowohl meines Lebensalters als auch meiner heiligen Weihe‘, so begann Hinkmar seinen Text, hätten ihn die Nachgeborenen darum gebeten, die kirchliche Ordnung und die Verwaltung des Königshofes so darzulegen, wie er es gesehen und gehört habe. Denn er sei ja schon an der Verwaltung von Reich und Kirche beteiligt gewesen, als das Frankenreich noch kraftvoll und ungeteilt gewesen sei. Nach dem Tod Ludwigs des Frommen sei er dann in zahllosen Reisen, Verhandlungen, Schriften für die Frankenkönige tätig geworden. Seinem eigenen Alter, das Erfahrung in der Politik und der Reichsverwaltung bedeutete, stellte Hinkmar die Jugendlichkeit und Unerfahrenheit des Königs gegenüber, der Belehrung, und zwar richtige, traditionsgerechte, gute Belehrung brauchte 76. Dazu passt, dass Hinkmar wieder einmal das
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Ebd.: Non vixit tot annos Ludovicus imperator quot pater suus Carolus; non vixit tot annos Carolus avus vester quot annos pater suus vixit; non vixit pater vester tot annos quot pater suus. Ebd. cap. 9, Sp. 120 B–C: … et si nescitis, interrogate ubi mortuus fuit et ubi jacet avus vester, et non exaltetur cor vestrum ante eum qui mortuus fuit pro vobis et pro nobis omnibus, et resurrexit a mortuis et jam non moritur: et certi estote quia moriemini nescitis qua die vel qua hora. Ebd. cap. 9, Sp. 120 C: … nescimus qua hora veniet nobis finis. Annales Vedastini, hg. von Bernhard von Simson ( MGH SS rer. Germ. 12 ) Hannover – Leipzig 1909, S. 40–82, ad a. 882, S. 52, Z. 5–12. Hinkmar, De ordine palatii ( wie Anm. 6 ) Prolog, S. 32 f.: Pro aetatis et sacri ordinis antiquitate posteriores tempore, boni et sapientes viri, rogatis exiguitatem meam, ut, qui negotiis ecclesiasticis et palatinis, quando in amplitudine et unitate regni prospere agebantur, interfui … ad institutionem istius iuvenis et moderni regis nostri et ad reerectionem honoris et pacis ecclesiae ac regni ordinem ecclesiasticum et dispositionem domus regiae in sacro palatio, sicut audivi et vidi, demonstrem.
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Exemplum des jungen, von seinem Lehrer verdorbenen Alexander anführte 77; dass er mehrfach ausdrücklich auf das Synodalschreiben von Fismes verwies 78; und dass er am Ende der Schrift noch einmal ausführlich jene Praxis der zweistufigen Beratungen am Hof Karls des Großen darlegte 79, die er schon in dem Synodalschreiben von 881 kurz angedeutet hatte 80. Ob es dem Erzbischof gelungen wäre, noch einmal seinen alten Einfluss bei Hof zurückzugewinnen, muss offen bleiben: Seinen sechsten Karolingerkönig sollte Hinkmar nicht mehr überleben; der Erzbischof starb bereits wenige Wochen später, am 21. Dezember 882, in Épernay 81. Deutlich aber sollte geworden sein, mit welchen Argumenten Hinkmar in den Jahren 877 bis 882 seine politischen Ziele durchzusetzen suchte – in konkreten Einzelfragen wie der Besetzung des Bistums Beauvais, aber auch grundsätzlich mit Blick auf seinen Einfluss bei Hof. In den Texten, die Hinkmar zu diesem Zweck verfasst hat, findet sich ein bemerkenswert konstantes Argumentationsmuster: Hinkmar inszenierte sich selbst als alten, zwar körperlich schwachen, aber erfahrenen Bischof, der das Geschehen seit den Zeiten des großen Karl miterlebt, ja sogar mitgestaltet hatte. Zugleich pochte er darauf, dass ein König besonders den guten – und das hieß: alten – Ratgebern sein Ohr leihe; dass er gleichwohl aber möglichst a l l e Großen in die Beratungen mit einbeziehe und ihre Zustimmung suche. Hinkmars Texte der Jahre 876 bis 882 bestätigen demnach einerseits, dass consensus und consilium Schlüsselbegriffe der politischen Kultur der Karolingerzeit waren. Wenn ihm sein Argument nicht schlagkräftig erschienen wäre, hätte er es kaum so beharrlich mehrere Jahre lang immer wieder vorgetragen. Stellt man Hinkmars Texte in ihren politischen Zusammenhang, dann markieren sie aber indirekt auch eine Grenze des Konsenses: Den Anspruch, als einer der entscheidenden Berater gehört zu werden, konnte jeweils nur ein sich wandelnder Personenkreis geltend machen, dessen Zugehörigkeit politisch ausgehandelt, nicht rechtlich normiert war. Diesen Kreis zu beeinflussen, seine Zusammensetzung nach den eigenen Interessen zu gestalten und zu kontrollieren, das war eine zentrale Frage politischer Macht, für die primores regni ebenso wie für den König. Diese Frage aber wurde nicht konsensual, sondern kompetitiv entschieden. Wer, wie Hinkmar, aus dem hinausgedrängt war, für den lag es nahe auf consilium und consensus zu bestehen – und zugleich darauf zu pochen, dass der König endlich die richtigen Leute anhören möge. Und wer, wie Hinkmar, außerdem ein sehr alter Mann war, dem mochte es klug erscheinen, für junge Könige vor allem eine Gruppe als Berater zu empfehlen: sehr alte Männer.
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Ebd. Prolog, S. 34/36, Z. 25–30. Ebd. cap. 2, S. 42, Z. 92 f.; cap. 3, S. 52 f., Z. 204–210; Epilog, S. 96, Z. 636 f. Ebd. cap. 6, S. 82 f. – Die große Nähe dieser Forderungen zu den übrigen Schriften, die Hinkmar seit 876 abgefasst hatte, spricht dafür, den Einfluss der Adalhardschen Vorlage eher auf den Teil des Traktats beschränkt zu sehen, der die Ämterstruktur bei Hof im engeren Sinne beschreibt. Vgl. oben, nach Anm. 58. Seinen Tod vermelden die Annales Vedastini ( wie Anm. 75 ) ad a. 882, S. 53; vgl. Schrörs ( wie Anm. 5 ) S. 471.
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3. ADALBERT VON BREMEN, LAMPERT VON HERSFELD UND DIE FÜRSTLICHE VERANTWORTUNG FÜR DAS REICH IM 11. JAHRHUNDERT
Was man als ‚kompetitiven Unterbau‘ konsensualer Herrschaft bezeichnen könnte, das lässt sich nicht minder deutlich am Beginn des Hochmittelalters, in der Zeit Heinrichs IV. beobachten 82. Wie hart verschiedene Große in den 1060er Jahren um Zugang zum tonangebenden Kreis bei Hof konkurrierten, sei wiederum exemplarisch an einem gealterten Erzbischof veranschaulicht – am Beispiel des mehr als 60-jährigen Adalbert von Bremen 83. Im April 1062 hatte eine Gruppe um Anno von Köln den Bischof Heinrich von Augsburg als wichtigsten Ratgeber der Kaiserin Agnes entmachtet und den kleinen König Heinrich in ihre Gewalt gebracht 84. In der Folge gewann auch Adalbert Einfluss bei Hof ( laut Lampert von Hersfeld übrigens nicht nur aufgrund seines Adels und seines Erzbischofsamts, sondern auch propter aetatis … prerogativam 85 ). Adalberts weiterer Aufstieg ist an den Königsurkunden ablesbar: Im Juni 1063 wird er zum ersten Mal in einem Diplom Heinrichs IV. mit dem Titel eines patronus des Königs gewürdigt. Im folgenden Jahr erscheint er in vier Urkunden gemeinsam mit Anno von Köln als Intervenient 86. 1065 ist er dann nahezu das gesamte Jahr über in der Umgebung des Königs nachweisbar, und vom August an wird er sogar in sämtlichen Urkunden als alleiniger Intervenient genannt 87. Schon im Januar 1066 88 allerdings war es mit dieser Sonderstellung wieder vorbei: In Tribur zwangen die dort ver82
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Zu seiner Person und seiner Politik vgl. jetzt vor allem Gerd Althoff, Heinrich IV. ( Gestalten des Mittelalters und der Renaissance ) Darmstadt 2006; sowie Stefan Weinfurter, Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006; aus der früheren Literatur: Matthias Becher, Heinrich IV. ( 1056–1106 ). Mit Rudolf ( 1077–1080 ), Hermann ( 1081 ), Konrad ( 1087–1093, † 1101 ), in: Bernd Schneidmüller ( Hg. ), Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. ( 919–1519 ) München 2003, S. 154–180; Ian S. Robinson, Henry IV of Germany, 1056–1106, Cambridge 1999; Monika Suchan, Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV. zwischen Gewalt, Gespräch und Schriftlichkeit ( Monographien zur Geschichte des Mittelalters 42 ) Stuttgart 1997; Egon Boshof, Heinrich IV. Herrscher an einer Zeitenwende ( Persönlichkeit und Geschichte 108/09 ) Göttingen 21990. Zu seiner Person vgl. Edgar N. Johnson, Adalbert of Hamburg, in: Speculum 9, 1934, S. 147–179; Günter Glaeske, Die Erzbischöfe von Hamburg-Bremen als Reichsfürsten ( 937–1258 ), Hildesheim 1962, S. 56–97; Peter Johanek, Die Erzbischöfe von Hamburg-Bremen und ihre Kirche im Reich der Salier, in: Stefan Weinfurter ( Hg. ), Die Salier und das Reich 2: Die Reichskirche der Salierzeit, Sigmaringen 1991, S. 79–112; Wolfgang Huschner, Adalbert, Erzbischof von Hamburg-Bremen ( 1043–1072 ), in: Ders. – Eberhard Holtz ( Hgg. ), Deutsche Fürsten des Mittelalters. Fünfundzwanzig Lebensbilder, Leipzig 1995, S. 120–139, zum Folgenden S. 133–135; Wolfgang Seegrün, Erzbischof Adalbert von Hamburg-Bremen. Persönlichkeit und Geschichte, in: Von der Christianisierung bis zur Vorreformation. Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen 1 ( Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 21 ) Hamburg 2003, S. 131–150. Zu den Ereignissen und ihren Hintergründen zuletzt Althoff ( wie Anm. 82 ) S. 45–52; Tilman Struve, Lampert von Hersfeld, der Königsraub von Kaiserswerth im Jahre 1062 und die Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 88, 2006, S. 251–278, S. 251–260. Lampert von Hersfeld, Annales, hg. von Oswald Holder-Egger ( MGH SS rer. Germ. 38 ) Hannover 1894, S. 1–304, ad a. 1063, S. 88, Z. 16–24. D H IV. 121, 128, 132, 135. D H IV. 162–175. D H IV. 175 ist am 8. Dezember in Corvey ausgestellt ( Schenkung eines Forsts an das Erzbistum Hamburg ); das folgende D H IV. 176 ( zugunsten S. Maria in Mogliano ), ausgestellt am 20. Februar 1066 in Worms, nennt bereits Siegfried von Mainz, den Herzog Berthold und weitere fideles als Intervenienten.
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sammelten Großen den König dazu, Adalbert vom Hof zu vertreiben. Erst ab 1069 gelang es ihm, in den inneren Zirkel der Macht zurückzukehren; seine frühere, überragende Position aber vermochte er bis zu seinem Tod im März 1072 nicht zurückzuerobern 89. Dass die Konkurrenz um Einfluss bei Hof gerade in den 1060er Jahren so klar konturiert erscheint, dürfte nicht zuletzt in Heinrichs Unmündigkeit seinen Grund gehabt haben 90. Jedenfalls führte schon ein Zeitgenosse – der Autor der – die Rechtsunsicherheit darauf zurück, dass der König ‚noch ein Kind‘ gewesen sei, seine Mutter aber ‚als Frau allzu leicht diesen oder jenen zustimmte, die ihr Ratschläge erteilten‘ 91. In dem Zitat schwingt mit, was man von einem König in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts erwartete: Er sollte nicht auf jeden hören, sondern seine Ratgeber klug wählen – mithin in der Lage sein, den Kreis der Großen bei Hof zu kontrollieren. In den Quellen, die von den folgenden Kämpfen des Investiturstreits berichten, wird dann ein neuer Akzent vernehmbar. Immer häufiger ist jetzt von fürstlicher Verantwortung für das Reich die Rede. In vielen Texten wird das Handeln der Großen begründet mit ihrem Streben, das Wohl des Reiches zu sichern und Frieden und Eintracht wiederherzustellen; und nicht minder häufig berichten Quellen von gemeinsamen Entscheidungen der Gegner Heinrichs IV. Neu daran ist der Fokus fürstlicher Fürsorge: das Reich als eine eigene Institution. Bei Hinkmar und seinen Zeitgenossen hatte dagegen in der Regel die Sorge um den König im Zentrum der Argumentation gestanden. Hagen Keller hat diesen Wandel des 11. Jahrhunderts schon 1983 herausgearbeitet 92, und zuletzt haben Jutta Schlick und Monika Suchan auf dieser Basis ein neuartiges Verhältnis von Fürsten, König und Reich im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts diagnostiziert 93. Jutta Schlick hat dabei die zahlreichen Quellenaussagen über gemeinsamen Rat und Konsens als Niederschlag eines neuen Selbstverständnisses der Fürsten gewertet, das sich angesichts der politischen Auseinandersetzungen zunächst in Sachsen Bahn gebrochen habe 94. Bezieht man nun aber den kompetitiven Unterbau konsensualer Herrschaft mit in die Analyse ein, so ergibt sich ein komplexeres Bild. Im Folgenden sei das exemplarisch am Bericht des Hersfelder Mönches Lampert zum Jahr 1073 ver89 90
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Vgl. dazu Glaeske ( wie Anm. 83 ) S. 74 f.; Huschner ( wie Anm. 83 ) S. 136 f. Dazu jetzt die Analyse bei Althoff ( wie Anm. 82 ) S. 41–66; und Matthias Becher, Ein Reich in Unordnung. Die Minderjährigkeit Heinrichs IV. und ihre Folgen bis zum Ende des Sachsenaufstandes 1075, in: Christoph Stiegemann – Matthias Wemhoff ( Hgg. ), Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik, 2 Bde., München 2006, 1, S. 62–69, S. 62 f. Annales Altahenses maiores, hg. von Edmund L. B. von Oefele ( MGH SS rer. Germ. 4 ) Hannover 1891, ad a. 1060, S. 56: Rex enim puer erat, mater vero utpote femina his et illis consiliantibus facile cedebat … Hagen Keller, Schwäbische Herzöge als Thronbewerber: Hermann II. ( 1002 ), Rudolf von Rheinfelden ( 1077 ), Friedrich von Staufen ( 1125 ). Zur Entwicklung von Reichsidee und Fürstenverantwortung, Wahlverständnis und Wahlverfahren im 11. und 12. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 131, 1983, S. 123–162, besonders S. 151. Schlick ( wie Anm. 2 ) S. 11–48. Schlick geht es, ebd. S. 18, um die „von den Sachsen vertretenen Ideen …, die auch die übrigen Fürsten des Reiches allmählich aufnahmen und die damit zur ideellen Grundlage der späteren Fürstengemeinschaft wurden“.
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deutlicht – einer Schlüsselquelle, die auch Schlick sehr zu Recht für ihre Untersuchung immer wieder herangezogen hat. Lampert erklärte in diesem Jahresbericht 95 virtuos, warum die Sachsen gegen König Heinrich IV. aufbegehrten, wie Heinrich auf diese Situation reagierte, und welche Politik die Fürsten des Reiches daraufhin verfolgten. Fast der gesamte Jahresbericht ist komponiert aus Einzelszenen, in denen Lampert politische Beratungen und Verhandlungen zwischen den Parteien schildert. In diesem Rahmen erzählt er immer wieder von gemeinschaftlicher Beratung und einmütigen Beschlüssen der Fürsten und von ihrer Sorge um das Reich und das allgemeine Wohl. Seine Darstellung der drei Parteien – der Sachsen, der Fürsten und des Königs – folgt dabei allerdings einem auffällig simplen Muster. Die Sachsen handeln in Lamperts Erzählung stets gemeinsam, einmütig und wohlberaten. Schon bevor sie gegen Heinrich aufbegehren, halten sie gründlich miteinander Rat 96. So bilden sie sich ‚einen einzigen Willen und eine einzige Meinung‘ 97, und zwar in ihrem ganzen Volk, unabhängig von Stand und Würde des Einzelnen 98. Außerdem – auch das hielt Lampert ausdrücklich fest – handelten alle Sachsen und Thüringer mit Rücksicht auf das allgemeine Beste 99. Ganz ähnlich präsentierte Lampert die Fürsten: Auch sie beraten stets gemeinsam, wenn eine gewichtige Entscheidung ansteht. Bei der allgemeinen Versammlung der Fürsten und der Sachsen in Gerstungen im Oktober 1073 beispielsweise habe man drei Tage lang Rat gehalten und communi sollicitudine die Lage in Sachsen erwogen; dann seien sich alle Versammelten, sowohl die Sachsen als auch die übrigen Fürsten, darüber einig geworden, dass Heinrich IV. abgesetzt werden müsse. Allerdings, so Lampert, habe die Versammlung diesen Beschluss noch nicht öffentlich machen wollen, sondern erst die Zustimmung auch der übrigen, in Gerstungen nicht anwesenden Fürsten, einzuholen beabsichtigt. Und schon hier, so Lampert weiter, hätte man Rudolf von Rheinfelden zum König gewählt, wenn der Herzog nicht darauf beharrt hätte, dass er in einer Versammlung aller Fürsten gewählt werden müsse 100. Eine ähnliche Szene 95
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Lampert, Annales ( wie Anm. 85 ) ad a. 1073, S. 140–172; zu den Ereignissen des Jahres 1073, insbesondere zum Ausbruch des Sachsenkrieges vgl. Althoff ( wie Anm. 82 ) S. 89–106; Becher ( wie Anm. 90 ) S. 65–67; zur Gesamtdeutung des Kriegs jetzt: Ders., Die Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit den Sachsen. Freiheitskampf oder Adelsrevolte?, in: Jörg Jarnut ( Hg. ), Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert. Positionen der Forschung, München 2006, S. 357–378, dem zufolge es sich „beim Sachsenkrieg um die Fortsetzung der üblichen Rangeleien zwischen neuem König und etablierten Fürsten“ ( S. 378 ) gehandelt haben dürfte. Lampert, Annales ( wie Anm. 85 ) ad a. 1073, S. 148, Z. 21–29. Ebd. Z. 26: Una omnium voluntas, eadem erat sententia … Ebd. S. 149, Z. 30–36: His auctoribus orta sedicio ita brevi totum Saxoniae populum quasi rabie quadam infecit, ut omnis dignitas, omnis condicio, omnis aetas, quae modo faciendis stipendiis idonea foret, uno animo, pari voluntate ad arma conclamaret … – Einzig Liemar von Bremen, Eppo von Zeitz und Benno von Osnabrück, so Lampert ebd., S. 150, Z. 24–28, hätten der communis sententia gentis suae nicht zustimmen wollen – und hätten sich daher zum König begeben. Vgl. etwa ebd. S. 150, Z. 12, wonach alle Sachsen vereint ad asserendam libertatem patriae legesque tuendas kämpften; außerdem ebd. S. 158 f., über die Übereinstimmung zwischen den Thüringern und den Sachsen: Nec mora iusiurandum dant nusquam se defuturos negocio, communem sibi esse cum eis rebellandi necessitatem, et ideo commune periculum; communem etiam, si Deus annueret, victoriam futuram, seque usque ad extremum spiritum pro communi utilitate dimicaturos. Ebd. S. 165, Z. 22 – S. 166, Z. 12, das Zitat S. 165, Z. 23. – Meines Erachtens erklärt sich dieser ganze Bericht nur als Versuch Lamperts, die Wahl Rudolfs 1077 in Forchheim als Folge einer langjährigen Ten-
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spielte sich dann noch einmal wenige Wochen später ab, als der Mainzer Erzbischof ‚die Fürsten des ganzen Reiches‘ nach Mainz eingeladen habe, um dort – communi consilio – Rudolf von Rheinfelden zum König zu erheben 101. Gescheitert sei diese Wahl allein daran, dass einige Fürsten aus Angst vor dem aus Worms heranrückenden König Heinrich ausgeblieben seien. Die Übrigen hätten eine so wichtige Entscheidung nicht treffen wollen, solange nicht alle Fürsten daran beteiligt waren 102. In scharfem Kontrast zu dieser Darstellung der Sachsen und der Fürsten steht das Bild, das der Hersfelder Annalist von Heinrich IV. entwarf. Wenn Heinrich überhaupt den Rat von Fürsten einholt, dann geschieht das – Lampert zufolge – in einem Klima von Angst und Günstlingswirtschaft. So jedenfalls erklärt der Mönch die Niederlage seines Klosters im Zehntstreit mit dem Mainzer Erzbischof 103: Viele der Fürsten, die in ihrem Urteil schließlich den Mainzer begünstigten, hätten aus Furcht vor dem König so entschieden 104. Angesichts dessen habe schließlich sogar der Fuldaer Abt, der noch am längsten den Widerstand aufrechterhielt, gezwungenermaßen einem für ihn ungünstigen Kompromiss zugestimmt – non tam consilio quam imperio et metu regis 105. Und die Angst der Ratgeber war nach Lamperts Darstellung nur allzu berechtigt: Eben im Jahr 1073 habe ein gewisser Regenger, ein Vertrauter des Königs, öffentlich behauptet, Heinrich habe ihn gedungen, die Herzöge Rudolf von Rheinfelden und Berthold von Kärnten zu ermorden. Ausgerechnet bei einer Beratung der Fürsten in Würzburg habe er die Mordtat begehen sollen 106! Ebenfalls zum Jahr 1073 behauptete Lampert überdies, der König habe in seinen finsteren Machenschaften gegen Sachsen und Thüringer den Rat der Fürsten überhaupt nicht hören wollen, weil er nämlich deren – nur allzu berechtigten – Widerspruch fürchtete 107. Statt dessen habe er eigenmächtig gehandelt und sich mit niedrig geborenen Schwaben umgeben, die ihm zwar keine Widerworte gaben, dafür aber die Lage falsch einschätzten und daher schlechte Ratschläge erteilten und mit ihrem übermächtigen Einfluss auf den König die Fürsten verstimmten 108. Die Folgen lagen für
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denz zu erklären und zu legitimieren; man wird jedenfalls nur sehr bedingt aus Lamperts Bericht auf tatsächliche Pläne schon des Jahres 1073 zurückschließen dürfen. Ebd. S. 168, Z. 30–35: His accensus archiepiscopus Mogontinus … principes de toto regno Mogontiam evocavit, ut communi consilio Rùdolfum ducem regem constitueret. Ebd. S. 169, Z. 29–35. Vgl. Lamperts Bericht über die Erfurter Synode von 1073, ebd. S. 141–144; zum Thüringer Zehntstreit vgl. John Eldevik, Ecclesiastical Lordship and the Politics of Submitting Tithes in Medieval Germany: the Thuringian Tithe Dispute in Social Context, in: Viator 34, 2003, S. 40–56 ( besonders S. 53 f. zu den Ereignissen von 1073 ), der allerdings die auf Heinrich IV. gemünzte Kritik Lamperts in diesem Bericht nicht berücksichtigt. Lampert, Annales ( wie Anm. 85 ) ad a. 1073, S. 142, demzufolge die Fürsten non ad discutiendam iuxta aecclesiasticas leges causam fuerant evocati, sed ut id quod rex volebat arte dictionis et sententiarum pondere, postremo quaqua possent ratione et consilio optinerent, quamquam plerique eorum id quod rex moliebatur vehementissime improbarent. Sed ne libere quod sentiebant eloquerentur, et regis terrore et privata archiepiscopi amicicia inhibebatur. Ebd. S. 144. Ebd. S. 166, Z. 13 – S. 167, Z. 10. Vgl. ebd. S. 147: Cavebat tamen, ne consilium hoc [ sc. alle Sachsen und Thüringer zu versklaven ] inmature vulgatum et effectu careret et principibus regni iustae murmurationis occasionem preberet. Vgl. ebd. S. 147 f.: Haec enim illi gens [ sc. Suevorum ] erat acceptissima, et eorum plerosque obscuris et pene nullis maioribus ortos amplissimis honoribus extulerat et primos in palacio fecerat, et ad eorum nutum cuncta regni negocia disponebantur. Quae res eum valde exosum invisumque principibus reddiderat; et eorum plerique indignitatem rei non fe-
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Lampert auf der Hand: Das Weihnachtsfest des Jahres 1073 habe Heinrich wenig angemessen feiern müssen; denn nur ‚einige Fürsten‘ ( nonnulli ex principibus ) hätten sich bei ihm eingefunden, auch die aber ohne Pomp, ohne Prachtentfaltung, ohne Gefolge – und überhaupt nur aus Angst, sonst des offenen Abfalls vom König bezichtigt zu werden 109. Der Bericht zu 1073 ist mit diesem Darstellungsmuster 110 keine Ausnahme; es zieht sich vielmehr auch durch die folgenden Jahresberichte der Annalen Lamperts von Hersfeld: ‚Alle‘ Sachsen und ‚alle‘ Fürsten pflegen gemeinschaftlich Rat, legen Wert auf Einmütigkeit und gemeinsame, konsensuale Entscheidungen, sind Gott, dem Wohl des Reiches und dem allgemeinen Besten verpflichtet. Der Herzog Rudolf von Rheinfelden strebt in vorbildlicher Weise danach, nichts allein zu entscheiden, sondern stets erst den Rat aller Fürsten einzuholen. An Heinrichs Hof dagegen haben – wenn überhaupt – nur Knechte noch Einfluss; aber ihre Ratschläge sind schlecht, und sie entstehen in einem Klima der Angst. Lampert war für die Zeit seit den 1060er Jahren zweifellos über viele Geschehnisse nördlich der Alpen hervorragend informiert 111. Es ist gut möglich, dass er sich beim Redigieren seiner Annalen auf Notizen stützen konnte, die er sich unmittelbar nach den Ereignissen gemacht hatte. Die heute überlieferte Textfassung aber hat der Mönch sicher erst nach dem März 1077 geschaffen 112 – also erst nachdem Heinrich IV. nach Canossa gezogen und Rudolf von Rheinfelden bereits zum Gegenkönig erhoben worden war. Die Haltung, die Lampert in diesem Thronstreit einnahm, ist wohlbekannt: Heinrich schien ihm unfähig, Rudolfs Aufstieg ins Königsamt daher gerechtfertigt 113. Der Umgang mit Rat, Konsens und Gemeinwohl war dabei offensichtlich eines der Kriterien, anhand deren Lampert in seinem Werk Heinrichs Untauglichkeit und Rudolfs Befähigung für das Königtum herausarbeitete. Seine Botschaft lautete: Heinrichs Absetzung und die Wahl Rudolfs waren nicht zuletzt deshalb gerecht, weil Heinrich – ganz anders als Rudolf – den Rat der Fürsten missachtet, dadurch die Gemeinschaft zerstört und das allgemeine Beste aus dem Blick verloren hatte.
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rentes, nisi pro responso necessario evocati, in totum palacio abstinebant; vgl. ähnlich S. 148: solos circa se Suevos assidue habebat, ex his sibi auricularios a secretis, ex his tam familiarium quam puplicorum negociorum procuratores instituebat; als eine der Forderungen bei den Verhandlungen im August in Goslar legt Lampert ebd. S. 151 den Sachsen Folgendes in den Mund: ut vilissimos homines, quorum consilio seque remque publicam precipitem dedisset, de palacio eiceret et regni negocia regni principibus, quibus ea competerent, curanda atque administranda permitteret. – Vgl. auch das deutliche politische Fehlurteil der Berater Heinrichs, von dem Lampert S. 152, Z. 24–28 berichtet. Ebd. ad a. 1074, S. 173, Z. 1–13. Vgl. im Übrigen noch die deutliche Kontrastierung des nur an seinen Eigennutz denkenden Heinrich mit den aufs allgemeine Beste bedachten Fürsten ebd. ad a. 1073, S. 161, Z. 3–8: Et profecto vicisset avaricia, privatisque utilitatibus salutem militum posthabuisset, nisi principes regni, crebris legationibus fatigati ab his qui obsidebantur, unanimi consilio eum adorirentur et non tam supplicando quam comminando et terrendo ab sententia deducerent. Zu Lamperts Annalen vgl. die noch immer grundlegende Dissertation von Tilman Struve, Lampert von Hersfeld. Persönlichkeit und Weltbild eines Geschichtsschreibers am Beginn des Investiturstreits, Teil A, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 19, 1969, S. 1–123; Teil B, in: ebd. 20, 1970, S. 32–142. Zur Datierung in die Zeit unmittelbar nach dem 15. März 1077 vgl. Struve ( wie Anm. 111 ) Teil A, S. 55. Zur konservativen politischen Einstellung Lamperts grundlegend Struve ( wie Anm. 111 ) Teil B, S. 34–57; zu seiner Enttäuschung über Heinrich IV. zusammenfassend S. 138.
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Wer dieses politische Argument als unverzerrtes Abbild eines neuartigen Verhältnisses der Fürsten zum Reich interpretiert, der unterschätzt das schriftstellerische Geschick und die Manipulationsfähigkeiten des Hersfelder Mönchs 114. Denn erstens waren Heinrichs Gegner – anders als Lampert behauptete – keineswegs ‚alle‘ Sachsen oder gar ‚die‘ Fürsten schlechthin. Der sächsische Widerstand konzentrierte sich vielmehr in Ostsachsen, im Umkreis des Harzes. Andere Fürsten in Sachsen standen durchaus treu zu Heinrich – es mag genügen, an die Bischöfe Benno von Osnabrück 115, Adalbert von Hamburg-Bremen und dessen Nachfolger Liemar zu erinnern. Und auch unter den principes außerhalb Sachsens fand Heinrich immer wieder Anhänger. Es waren einzelne Gruppen, die gegen Heinrich aufbegehrten ( und kaum zufällig dieselben, die sich auch darüber beklagten, dass der König ihren Rat nicht höre und statt dessen die falschen, ja sogar niedrig geborene Leute als Ratgeber heranziehe ). Hinzu kommt ein zweiter Punkt: Auch die Anhänger Heinrichs IV. führten in dem großen politischen Konflikt den Umgang des Königs mit Rat, Konsens und Gemeinwohl als zentrales Argument an; sie nutzen es in der Tendenz aber gerade umgekehrt. Die beispielsweise präsentierte gerade diejenigen principes, die Lampert als wohlberaten, konsensual und aufs Gemeinwohl bedacht gerühmt hatte, in ganz anderer Weise – nämlich als eigennützige, herrschsüchtige 116 Herren, die sich gegen Heinrich verschworen hatten, kurz: als insidiatores, non consiliatores 117. ‚Während sie über die Sache des Reiches verhandelten‘, so heißt es in der Vita wörtlich, ‚sorgten sie weniger für die Sache des Reiches, als vielmehr für ihre eigene‘ 118. Die Wahl Rudolfs von Rheinfelden 119 erklärte Heinrichs Biograph als Folge der avaricia des Herzogs 120. Heinrichs Verhalten bei Beratungen lobte er dagegen gleich im ersten Kapitel der Vita als vorbildlich: Der König habe bei diesen Gelegenheiten niemals zu viel
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Vgl. dazu Wolfgang Eggert, Lampertus scriptor callidissimus. Über Tendenz und literarische Technik der „Annalen“ des Hersfelder Mönches, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 1, 1977, S. 89–110. Zu seiner Vita vgl. Volker Scior, Identitäten und Perspektiven. Die Vita Bennos von Osnabrück als Ausdruck der Vorstellungen eines Iburger Mönchs, in: Osnabrücker Mitteilungen 108, 2003, S. 33–55. So etwa Vita Heinrici IV. imperatoris, hg. von Wilhelm Eberhard ( MGH SS rer. Germ. 58 ) Hannover 1899, cap. 5, S. 20, Z. 16 f., über Ekbert von Meißen, der sich von cupiditas und ambitus regni habe leiten lassen. Auch für Heinrichs Sohn Konrad war das Motiv seines Handelns laut cap. 7, S. 26, Z. 25 f. das Streben nach Herrschaft: querebat patris sanguinem, quia non nisi sanguine patris regnare potuisset. – Vgl. außerdem cap. 8, S. 28 f., wo gegen die Großen der Vorwurf erhoben wird, sie seien nur auf Raub und Feindschaft gegen Heinrich aus gewesen, weil dessen Landfrieden ihren adligen Lebensstil beeinträchtigt habe. – Zu der Vita insgesamt vgl. Helmut Beumann, Zur Verfasserfrage der Vita Heinrici IV., in: Lutz Fenske ( Hg. ), Institutionen, Kultur und Gesellschaft. Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1984, S. 305–319. Das hielt Heinrich laut der Vita Heinrici IV. ( wie Anm. 116 ) cap. 9, S. 30, Z. 26–28, seinem Sohn vor Augen. Ebd. cap. 2, S. 14, Z. 8–11: Cum regni causam tractabant, non tam regni quam suae causae consulebant; idque praecipuum eis fuit in omnibus quae agerent ante omnia suum quaestum facere. Dazu Keller ( wie Anm. 92 ) S. 145–150. Vita Heinrici IV. ( wie Anm. 116 ) cap. 4, S. 17, Z. 25–30. – Den Vorwurf der avaricia erhoben im Übrigen auch die Annales Altahenses maiores ( wie Anm. 91 ) ad a. 1060, S. 56 gegen die palatio praesidentes zur Zeit der Minderjährigkeit Heinrichs; vgl. auch die ähnlich lautende Kritik ebd., ad a. 1062, S. 59: Rex igitur iam adolescere incipiebat, palatio autem praesidentes sibimet ipsis tantum consulebant, nec regem quisquam, quod bonum iustumque esset, edocebat.
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selbst gesprochen, sondern immer erst die Ratschläge anderer angehört, dann aber stets sicher und richtig entschieden 121. Drittens schließlich spricht vieles dafür, dass das Spektrum fürstlicher Interessen in der Praxis erheblich breiter und differenzierter war, als es Lampert glauben machen wollte. Eine ungewöhnlich differenzierte Schilderung der politischen Interessen eines geistlichen Fürsten der Zeit stammt aus der Feder eines süddeutschen Gelehrten, der fern seiner Heimat am Bremer Domstift lebte. Der – vielleicht in Bamberg ausgebildete – Domscholaster Adam von Bremen berichtete im dritten Buch seiner ausführlich und als Zeitgenosse über seinen Erzbischof Adalbert 122. Dieser Bericht ist deshalb besonders aufschlussreich, weil Adam – anders als Lampert – noch nicht Stellung beziehen musste zu den Konflikten der Zeit nach 1076. Adam schrieb kurz vor der Eskalation 123. Seine Kirchengeschichte ist ein lokaler Text – eine Mahnung an Adalberts Nachfolger Liemar, wie er sein Amt zu führen habe 124: Gestützt auf die christliche Morallehre seiner Zeit, gestaltete Adam den Pontifikat Adalberts dazu als abschreckendes Negativbild eines Bischofs, der sich vom 121 122
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Vita Heinrici IV. ( wie Anm. 116 ) cap. 1, S. 11 f. Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, hg. von Bernhard Schmeidler ( MGH SS rer. Germ. 2 ) Hannover – Leipzig 1917, lib. 3, S. 142–226; zu Adam und seinem Werk vgl. das Resümee der Forschung bei Volker Scior, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck ( Orbis mediaevalis 4 ) Berlin 2002, S. 29–37, zur möglichen, aber nicht beweisbaren Ausbildung in Bamberg ebd. S. 29, Anm. 4. – Zu Adams Vergangenheitswahrnehmung vgl. Hans-Werner Goetz, Constructing the Past. Religious Dimensions and Historical Consciousness in Adam of Bremen’s Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, in: Lars Boje Mortensen ( Hg. ), The Making of Christian Myths in the Periphery of Latin Christendom ( c. 1000–1300 ) Kopenhagen 2006, S. 17–51, der die Bedeutung der Nordmission für Adams Geschichtskonstruktion hervorhebt; sowie Lutz E. von Padberg, Geschichtsschreibung und kulturelles Gedächtnis. Formen der Vergangenheitswahrnehmung in der hochmittelalterlichen Historiographie am Beispiel von Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 105, 1994, S. 156–177, S. 162–166. – Zu seinem Selbstverständnis, seiner Vorstellungswelt und seiner Darstellung Bremens vgl. Gerhard Theuerkauf, Die Hamburgische Kirchengeschichte Adams von Bremen. Über Gesellschaftsformen und Weltbilder im 11. Jahrhundert, in: Dieter Berg – Hans-Werner Goetz ( Hgg. ), Historiographia Mediaevalis. Studien zur Geschichtsschreibung und Quellenkunde des Mittelalters. Festschrift für Franz-Josef Schmale zum 65. Geburtstag, Darmstadt 1988, S. 118–137; sowie Dieter Hägermann, Buten und Binnen im 11. Jahrhundert. Welt und Umwelt bei Bremens erstem Geschichtsschreiber Magister Adam, in: Bremisches Jahrbuch 62, 1984, S. 15–31. – Auf den hohen Stellenwert der Streitigkeiten zwischen den Erzbischöfen und den sächsischen Herzögen für Adams Darstellung macht aufmerksam: Florian Hartmann, Konstruierte Konflikte. Die sächsischen Herzöge in der Kirchengeschichte Adams von Bremen, in: Christina Jostkleigrewe u. a. ( Hgg. ), Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, Köln – Weimar – Wien 2005, S. 109–129. Zur Datierung Scior ( wie Anm. 122 ) S. 30. Gerd Althoff, Causa scribendi und Darstellungsabsicht: Die Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde und andere Beispiele, in: Michael Borgolte – Herrad Spilling ( Hgg. ), Litterae medii aevi. Festschrift für Johanne Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1988, S. 117–133, S. 128–130; ihm folgend Huschner ( wie Anm. 83 ) S. 121; Hans-Werner Goetz, Geschichtsschreibung und Recht. Zur rechtlichen Legitimierung des Bremer Erzbistums in der Chronik Adams von Bremen, in: Silke Urbanski – Christian Lamschus – Jürgen Ellermeyer ( Hgg. ), Recht und Alltag im Hanseraum. Gerhard Theuerkauf zum 60. Geburtstag, Lüneburg 1993, S. 191–205, S. 192, der zudem Adam ein großes Interesse an Rechtsfragen bescheinigt, das sich aus der Krisensituation des Erzbistums nach Adalberts Tod erkläre.
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Laster der cenodoxia hatte übermannen lassen, daher seine Diözese zugrunde gerichtet hatte und einen schlechten Tod gestorben war 125. Aus diesem Grund musste Adam die Interessen und das Handeln dieses einen Fürsten aber erheblich differenzierter schildern, als Lampert es wenige Jahre später für die Fürsten schlechthin unternahm. Adam zufolge beruhte Adalberts Engagement auf Reichsebene zwar durchaus auf einem Verantwortungsbewusstsein für das Reich. Während der Heinrich-Gegner Bruno von Merseburg den Hamburger Erzbischof später zum selbstsüchtigen Ratgeber und Erzschurken schlechthin stilisierte 126, zitierte Adam denselben Mann mit dem Satz, er habe es ‚aus Liebe zum Reich‘ nicht ertragen, seinen König wie einen Gefangenen behandelt zu sehen – und sich deshalb in der Reichspolitik engagiert 127. Zugleich war laut Adam dieses Engagement aber auch notwendig, um die eigene Kirche gegenüber anderen Großen zu verteidigen und auszubauen; dabei sei es Adalberts Ziel gewesen, ähnlich wie der Würzburger Bischof den ducatus über seine Diözese zu erwerben – das hieß für Adam: sämtliche Grafschaften seiner Diözese in die Hand zu bekommen 128. Allerdings verschlang der Reichsdienst 125
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So gegen die ältere Forschung Eva Schlotheuber, Persönlichkeitsdarstellung und mittelalterliche Morallehre. Das Leben Erzbischof Adalberts in der Beschreibung Adams von Bremen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 59, 2003, S. 495–548, zusammenfassend S. 547; aus dieser Sicht schilderte Adam auch nicht den Wandel eines Charakters zum Schlechten, wie es zuletzt noch Sverre Bagge, Decline and fall. Deterioration of character as described by Adam of Bremen and Sturla Pórdarson, in: Jan A. Aertsen ( Hg. ), Individuum und Individualität im Mittelalter, Berlin – New York 1996, S. 530–548, angenommen hat. – Allerdings finden sich bei Adam durchaus Stellen, an denen ausdrücklich von einer Entwicklung der mores des Erzbischofs die Rede ist: Vgl. etwa Adam, Gesta ( wie Anm. 122 ) 3, 36 ( 35 ), S. 179: Et corrupti quidem mores archiepiscopi ab initio tales in processu temporis et circa finem semper deteriores fuerunt. Bruno von Merseburg, Saxonicum bellum, hg. von Hans-Eberhard Lohmann ( MGH Deutsches Mittelalter 2 ) Leipzig 1937, cap. 2–5, S. 14–16. – Franz-Josef Schmale, Zu Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 18, 1962, S. 236–244, S. 243, hat das Werk in die Zeit zwischen dem 26. Dezember 1081 und dem 12. Januar 1093 datiert; vgl. dagegen aber die Argumente für eine Abfassung schon 1082 bei Klaus Sprigade, Über die Datierung von Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 23, 1967, S. 544–548. – Zum Bild Heinrichs IV. bei Bruno: Wolfgang Eggert, Heinricus rex depositus? Über Titulierung und Beurteilung des dritten Saliers in Geschichtswerken des frühen Investiturstreits, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108, 2000, S. 117–134, hier S. 118–122; zu möglichen pragmatischen causae scribendi: Gerd Althoff – Stephanie Coué, Pragmatische Geschichtsschreibung und Krisen. I. Zur Funktion von Brunos Buch vom Sachsenkrieg. II. Der Mord an Karl dem Guten ( 1127 ) und die Werke Galberts von Brügge und Walters von Thérouanne, in: Hagen Keller – Klaus Grubmüller – Nikolaus Staubach ( Hgg. ), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter: Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen ( Akten des Internationalen Kolloquiums 17.–19. Mai 1989 ) ( Münstersche Mittelalter-Schriften 65 ) München 1992, S. 95–129, S. 95–106; skeptisch zu dieser Sicht Wolfgang Eggert, Wie „pragmatisch“ ist Brunos Buch vom Sachsenkrieg?, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 51, 1995, S. 543–553. – Zu Brunos Wahrnehmung von Fremden vgl. künftig Anna Aurast, … nec vestra socordia vel desidia vos et liberos vestros exulum hominum servos fieri permittite. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremden und Anderen in Brunos ‚Sachsenkrieg‘, in: HansWerner Goetz ( Hg. ), Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter ( im Druck ). Vgl. Adam, Gesta ( wie Anm. 122 ) 3, 47, S. 190, Z. 19–24. Vgl. ebd. 3, 46, S. 188 f.; zur Stellung des Würzburger Bischof vgl. Gerhard Lubich, Auf dem Weg zur „güldenen Freiheit“. Herrschaft und Raum in der Francia orientalis von der Karolinger- zur Stauferzeit ( Historische Studien 449 ) Husum 1996, S. 112–125, dem zufolge man dessen ducatus „als Vorform eines Territorialherzogtums“ begreifen kann, die auf „weitreichender Gerichtsbarkeit in einem Raum ohne
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zugleich erhebliche wirtschaftliche Mittel und trieb das Erzbistum an den Rand des Ruins 129. In dieser Situation das rechte Mittelmaß zu wahren und bei alledem weder die pastoralen Aufgaben noch die Mission im Norden zu vernachlässigen – das war eine Gratwanderung. Auf ihr war Adalbert gestürzt, meinte Adam, weil er allzu sehr nach der gloria mundi gestrebt habe 130. Es spricht nichts dagegen, eine ähnlich komplexe Interessenlage auch für andere Große zu vermuten. Dann aber wird man nicht die Fürsten der 1070er Jahre für Akteure halten dürfen, die fast ausschließlich um das Gemeinwohl und den Bestand des Reiches besorgt waren. Vielmehr wird man annehmen müssen, dass in hohem Maße auch die Konkurrenz zu anderen Fürsten und das Streben nach Einfluss im Reich und bei Hof die Politik dieser Männer mitbestimmte. Die hohe Dichte der Quellenaussagen zu Rat, Konsens und Gemeinwohl in den Texten des ausgehenden 11. Jahrhunderts wäre vor diesem Hintergrund vorsichtiger zu deuten. Wie Hinkmars Ausführungen zu Rat und Konsens, so erscheinen auch sie als Teil eines politischen Arguments in der Auseinandersetzung des so genannten . Gerade weil hier nur Parteiungen agierten, lag es für die Autoren nahe, das Handeln ihrer eigenen Partei als gemeinschaftlich beraten, konsensual und verantwortungsbewusst für das Reich als Ganzes zu rechtfertigen – die Gegner aber zu diffamieren als Feinde aller Gemeinschaft und Verächter fürstlichen Rats. Die einschlägigen Aussagen der Quellen spiegeln demnach zwar nicht unmittelbar ein neues Bewusstsein der Fürsten wider. Aber ihre beständige Wiederholung in der politischen Auseinandersetzung dürfte ihren Teil dazu beigetragen haben, dass sich ein solches Bewusstsein in den Jahren um 1100 weiter verfestigen konnte. 4. PHILIPP VON KÖLN, ARNOLD VON LÜBECK UND DER STURZ HEINRICHS DES LÖWEN
Als letztes Fallbeispiel sei der Sturz Heinrichs des Löwen angeführt. Aus der Perspektive der älteren Forschung lag die Erklärung auf der Hand: Die Entmachtung des Herzogs in den Jahren nach 1177 resultierte aus einem Streit zwischen Kaiser und Fürst und war zugleich der Gipfel- und Wendepunkt im Konflikt zwischen den Staufern und den Welfen 131. Dieses einfache Bild ist inzwischen einer
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konkurrierende gräfliche oder herzogliche Gerichtsbarkeit“ beruhte ( S. 124 ). – Zu Adalberts diesbezüglicher Politik vgl. Glaeske ( wie Anm. 83 ) S. 86–92 und S. 95 f.; sowie Huschner ( wie Anm. 83 ) S. 124 und S. 132, der Adams Schilderung für bewusst überzeichnet hält. Vgl. etwa Adam, Gesta ( wie Anm. 122 ) 3, 5, S. 147; 55 ( 54 ), S. 99 f. Zur Ruhmsucht als Leitmotiv der Darstellung Adams ausführlich Schlotheuber ( wie Anm. 125 ) besonders S. 513–520. Eine Analyse der im 19. Jahrhundert ausgebildeten Sichtweise bietet die Dissertation von Stefanie Barbara Berg, Heldenbilder und Gegensätze. Friedrich Barbarossa und Heinrich der Löwe im Urteil des 19. und 20. Jahrhunderts ( Geschichte 7 ) Münster – Hamburg 1994. – Aus der jüngeren Forschung vgl. statt anderer die Zusammenfassung bei Karl Heinemeyer, Kaiser und Reichsfürst. Die Absetzung Heinrichs des Löwen durch Friedrich Barbarossa ( 1180 ), in: Alexander Demandt ( Hg. ), Macht und Recht. Große Prozesse in der Geschichte, München 1990, S. 59–79; Jan-Peter Stöckel, Die Weigerung Heinrichs des Löwen zu Chiavenna ( 1176 ). Ein Beitrag zum Heerfahrtswesen der frühen Stauferzeit, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 42, 1994, S. 869–882; oder Johannes Fried, Der Löwe als Objekt. Was Literaten, Historiker und Politiker aus Heinrich dem Löwen machten, in: Histo-
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differenzierteren Sicht gewichen 132. Auch in diesem Fall, so viel steht mittlerweile fest, war die Konkurrenz zwischen Fürsten ein entscheidender Faktor; und Stefan Weinfurter hat nachgewiesen, dass auch hierbei ein Erzbischof maßgeblichen Anteil hatte. Weinfurter zufolge lassen sich der Verfahrenswechsel im Prozess gegen Heinrich 133 und der Umgang mit dem Löwen nach 1181 weit besser erklären, wenn man die Interessen bedenkt, die der Erzbischof Philipp von Köln im westfälischen Raum verfolgte 134. Schon mancher Zeitgenosse urteilte ähnlich: Der Verfasser der etwa berichtete von einer seltsamen Himmelserscheinung, die er als Verweis auf den Konflikt dreier Mächtiger deutete – nämlich des Kaisers, des Herzogs und des Erzbischofs 135. Und Mitte der 1190er Jahre bezeichnete der Autor der das Geschehen unumwunden als eine dissensio zwischen Philipp von Köln und Heinrich dem Löwen 136. Die fürstliche Konkurrenz zwischen Herzog und Erzbischof hatte im übrigen schon eine lange Vorgeschichte. Bereits mit Philipps Vorgänger, Rainald von Dassel, war Heinrich in den Jahren 1166/67 in Konflikt geraten, weil beide in Westfalen nach einer Verdichtung ihrer Herrschaftsrechte strebten 137. Damals hatte sich Heinrich mit Hilfe des Kaisers durchzusetzen vermocht 138. Unter Philipp wendete sich nun das Blatt. Nach Weinfurter betrieb gerade er es, dass Heinrich in einem lehnrechtlichen Verfahren verurteilt wurde – und zwar deshalb, weil der Kölner Erzbischof auf diese Weise den Handlungsspielraum des Kaisers einzuschränken vermochte: Eine ( Teil )Restituierung des Herzogs, die Friedrich geplant haben dürfte, war durch den Wechsel der Verfahrensweise erheblich erschwert 139. Den zeitnächsten Bericht über Heinrichs Sturz bietet bekanntlich die Narratio der Gelnhäuser Urkunde vom 13. April 1180, mit der Friedrich der Kölner Kirche den westlichen Teil des ducatus Westfalie et Angarie schenkte und ihn zugleich an Philipp als Lehen ausgab 140. Der Text ist aus der Perspektive der Heinrich-Gegner formuliert – und sprachliche Anklänge an eine Urkunde des Kölner Erzbischofs lassen erahnen, wer hier seinen Einfluss geltend zu machen wusste 141. Das ist zu bedenken, wenn man betrachtet, wie sehr in der Narratio die Einmütigkeit, der Rat und die Zustimmung der Gesamtheit der Fürsten und des Hofes hervorgehoben werden. Einmal mehr also war es die politische Konkurrenz zwischen Großen, die dazu führte, dass fürstliche Ansprüche auf Teilhabe am Reich in exemplarisch verdichteter Form ausformuliert wurden. Wie anders man dagegen den Fall im Umkreis der Welfen zu Beginn des 13. Jahr-
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vereins 68, 1997, S. 79–128, zeigt, dass nur zwei von 16 Neugründungen, nämlich Mechtern und Heisterbach, auf Philipps eigene Initiative zurückgingen. – Wolfgang Georgi, Wichmann, Christian, Philipp und Konrad: Die „Friedensmacher“ von Venedig?, in: Stefan Weinfurter ( Hg. ), Stauferreich im Wandel. Ordnungsvorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barbarossas ( Mittelalter-Forschungen 9 ) Stuttgart 2002, S. 41–84, arbeitet differenziert den individuellen Anteil, aber auch die Interessenkonflikte der vier Unterhändler in den Jahren 1176/77 heraus. Annales Palidenses, hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 16 ) Hannover 1859, S. 48–98, cap. 28 ( ad a. 1179 ), S. 95, Z. 13–19; zu dem Werk vgl. Hans-Werner Goetz, „Konstruktion der Vergangenheit“. Geschichtsbewußtsein und „Fiktionalität“ in der hochmittelalterlichen Chronistik, dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses, in: Johannes Laudage ( Hg. ), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, Köln – Weimar – Wien 2003, S. 225–257. Chronica regia Coloniensis, hg. von Georg Waitz ( MGH SS rer. Germ. 18 ) Hannover 1880, cap. 27, ad a. 1178, S. 129: Dissensio inter episcopum Coloniensem et ducem Saxoniae. Groten ( wie Anm. 134 ) S. 102–107; Weinfurter, Erzbischof ( wie Anm. 134 ) S. 471 f. Zur Kooperation Heinrichs und Barbarossas seit dessen Königserhebung vgl. Boshof ( wie Anm. 132 ) S. 38. Weinfurter, Erzbischof ( wie Anm. 134 ) S. 477 f.; vgl. auch Boshof ( wie Anm. 132 ) S. 39. D F I. 795. Darauf hat Heinemeyer ( wie Anm. 131 ) S. 29 Anm. 5, aufmerksam gemacht.
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hunderts beurteilte, zeigt die Darstellung bei Arnold von Lübeck 142, der in seiner zwischen März und August 1210 verfassten Chronik Heinrichs Sturz historiographisch „bewältigte“ 143: Für ihn war der Prozess gegen den Herzog von Sachsen und Bayern kein Musterbeispiel konsensualer Herrschaft, sondern eine Verschwörung gegen den Herzog 144. Daneben zeichnet sich aber auch in diesem Fall wieder Neues ab: Wichtig ist erstens die Unterscheidung zwischen principes und nobiles, die in der Gelnhäuser Urkunde konsequent durchgehalten ist. Sie verweist auf jene lange Entwicklung, in deren Verlauf sich bis ins 15. Jahrhundert hinein allmählich die Reichsfürsten vom übrigen Adel abgrenzten 145. Zweitens macht die Urkunde deutlich, wie stark das Verhältnis zwischen Kaiser und principes jetzt als eine Frage des Rechts begriffen wurde. Dieser Unterschied ist auch für eine politikgeschichtliche Analyse wichtig: Eine Strategie, wie sie Philipp im Prozess gegen Heinrich mit dem Verfahrenswechsel hin zum Lehnrecht verfolgte, hätte weder Hinkmar von Reims noch Adalbert von Bremen in den Sinn kommen können. Nicht minder wichtig sind, drittens, die territorialpolitischen Ziele, aus denen heraus Philipp in Konkurrenz zu Heinrich dem Löwen trat. Sie erscheinen wie eine weitere Zuspitzung dessen, was schon Adalbert für Bremen zu erreichen suchte; für Hinkmars Zeit wäre dergleichen schlechterdings undenkbar.
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Zu seiner Person vgl. Anna-Therese Grabkowsky, Abt Arnold von Lübeck, in: Silke Urbanski – Christian Lamschus – Jürgen Ellermeyer ( Hgg. ), Recht und Alltag im Hanseraum. Gerhard Theuerkauf zum 60. Geburtstag, Lüneburg 1993, S. 207–231, S. 208–219. Gerd Althoff, Die Historiographie bewältigt. Der Sturz Heinrichs des Löwen in der Darstellung Arnolds von Lübeck, in: Bernd Schneidmüller ( Hg. ), Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter ( Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 7 ) Wiesbaden 1995, S. 163–182; skeptisch demgegenüber Helmut G. Walther, Zur Verschriftlichung nordelbischen Selbstbewusstseins um 1200 in der Chronik Abt Arnolds von Lübeck, in: Matthias Thumser ( Hg. ), Schriftkultur und Landesgeschichte. Studien zum südlichen Ostseeraum vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, Köln – Weimar – Wien 1997, S. 1–21, S. 13 mit Anm. 34. – Zur Datierung auch Bernd Ulrich Hucker, Die Chronik Arnolds von Lübeck als „Historia Regum“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 44, 1988, S. 98–119, S. 111–115; sowie Grabkowsky ( wie Anm. 142 ) S. 225 f.; vgl. außerdem zu Arnold und seiner Chronik den Forschungsbericht bei Scior ( wie Anm. 122 ) S. 223–230. Das betont ähnlich auch Leila Werthschulte, Heinrich der Löwe in Geschichte und Sage ( Beiträge zur älteren Literaturgeschichte ) Heidelberg 2007, S. 77. Zur langen Dauer dieser Entwicklung und zu den unscharfen Grenzen bis ins 15. Jahrhundert vgl. Karl-Friedrich Krieger, Fürstliche Standesvorrechte im Spätmittelalter, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 122, 1986, S. 91–116. – Peter Moraw, Fürstentum, Königtum und „Reichsreform“ im deutschen Spätmittelalter, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 122, 1986, S. 117–136, sieht die Annahme eines Reichsfürstenstandes als Konstrukt der Forschung: Tatsächlich habe es auch im Spätmittelalter keine homogene, gemeinsame politische Interessen verfolgende Gruppe der Reichsfürsten gegeben, und auf Reichsebene politikfähig seien allenfalls die Habsburger, Luxemburger und Wittelsbacher gewesen; vgl. thesenhaft zugespitzt auch: Ders., Fürsten am spätmittelalterlichen deutschen Königshof, in: Cordula Nolte – Karl-Heinz Spiess – Ralf Gunnar Werlich ( Hgg. ), Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelalter ( Residenzenforschung 14 ) Stuttgart 2002, S. 17–32, S. 21–23. – Vgl. außerdem noch die knappe Zusammenfassung der Forschung bei Cornell Babendererde, Sterben, Tod, Begräbnis und liturgisches Gedächtnis bei weltlichen Reichsfürsten des Spätmittelalters ( Residenzenforschung 19 ) Ostfildern 2006, S. 12 f. – Aus rechtsgeschichtlicher Perspektive, aber zumindest für das 12./13. Jahrhundert wohl zu schematisch Steffen Schlinker, Fürstenamt und Rezeption. Reichsfürstentand und gelehrte Literatur im späten Mittelalter ( Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 18 ) Köln – Weimar – Wien 1999, S. 20–53.
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Viertens schließlich ließ im Laufe des 12. Jahrhunderts, und besonders in der Spätzeit Barbarossas, die Anziehungskraft des Hofes auf die Fürsten nach 146. Dementsprechend lassen sich jetzt zwei verschiedene fürstliche Strategien beobachten: Während die einen ( gewissermaßen konservativ ) im Reichsdienst und in der Nähe zum Herrscher ihre Vorteile suchten, dafür aber hohe Unkosten auf sich nehmen mussten, konzentrierten sich andere „in relativer Königsferne“ auf den Ausbau ihrer Territorien 147. Das Beispiel Heinrichs und Philipps zeigt, wie sich derlei Strategien phasenweise abwechseln konnten. Heinrich hatte in den 1150er Jahren besonders eng mit Barbarossa kooperiert; 1174 wird er das letzte Mal als Zeuge in einer Urkunde des Kaisers genannt 148. In den folgenden Jahren bis 1178, also unmittelbar vor der Entmachtung des Löwen, ist dagegen Philipp oft, lange und mit hohen Unkosten in Barbarossas Umgebung nachzuweisen. Als dann sein fürstlicher Konkurrent in Westfalen ausgeschaltet war, weilte auch er aber „nur noch ganz sporadisch“ bei Hof – und geriet zwischen 1186 und 1188 sogar mit dem Kaiser in Konflikt 149. Diesen Wechsel sollte später Arnold von Lübeck historiographisch ausmünzen 150. Nachdem er das zweite Buch seiner Chronik Heinrichs Entmachtung gewidmet hatte, berichtete er nämlich im dritten darüber, wie sich der Kaiser und Philipp von Köln schon sehr bald entzweit hätten – beginnend mit der Brüskierung des Erzbischofs auf dem Mainzer Hoftag 151, den Arnold bezeichnenderweise ins Jahr 1182 vorverlegte 152; eskalierend in einem Streit über Duisburger Händler zwischen Philipp und König Heinrich VI. 153; sich zuspitzend mit Philipps Weigerung, zu Heinrichs Hochzeit zu erscheinen 154 – und gipfelnd in einem langen Streitgespräch zwischen Philipp und Friedrich über den Umgang mit vakanten Bistümern und Philipps Haltung zum Papst 155. Das meiste von alledem wird allein von Arnold überliefert, und zumin-
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Kölzer ( wie Anm. 2 ) S. 225–227, der angesichts der dürftigen fürstlichen Präsenz Barbarossas Hof der 1180er Jahre sogar pointiert als „Familien- und Freundestreff“ bezeichnet hat; zum Verhältnis von König und Fürsten im Spätmittelalter vgl. auch thesenhaft zuspitzend Moraw, Fürsten ( wie Anm. 145 ) S. 25–30. Karl-Heinz Spiess, Der Hof Kaiser Barbarossas und die politische Landschaft am Mittelrhein. Methodische Überlegungen zur Untersuchung der Hofpräsenz im Hochmittelalter, in: Deutscher Königshof ( wie Anm. 1 ) S. 49–76, das Zitat auf S. 59. Dazu Joachim Ehlers, Heinrich der Löwe in den Urkunden Friedrich Barbarossas, in: Frühmittelalterliche Studien 36, 2002, S. 355–377, der aber zu Recht betont, dass die Zeugenlisten der Urkunden Barbarossas nicht „leichthin verwertbare Anzeichen für beiderseitig wachsende Distanz zwischen Kaiser und Herzog liefern“ ( S. 377 ). Kölzer ( wie Anm. 2 ) S. 232. Das Folgende greift die Analyse von Althoff ( wie Anm. 143 ) auf. Arnold, Chronica, hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH SS rer. Germ. 14 ) Hannover 1868, lib. 3, cap. 9, S. 88–90; zu Barbarossas Hoftag von 1184 vgl. Peter Csendes, Heinrich VI. ( Gestalten des Mittelalters und der Renaissance ) Darmstadt 1993, S. 46–51. Arnold, Chronica ( wie Anm. 151 ) 3, 9, S. 87. Ebd. 3, 12, S. 97 f. Ebd. 3, 15, S. 101; zur Hochzeit Heinrichs mit Konstanze am 27. Januar 1186 in Mailand vgl. Csendes ( wie Anm. 151 ) S. 58–62; Theo Kölzer, Konstanze von Sizilien und das normannisch-staufische Erbe, in: Kaiser Heinrich VI. Ein mittelalterlicher Herrscher und seine Zeit, hg. von der Gesellschaft für staufische Geschichte ( Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst 17 ) Göppingen 1998, S. 82–102, S. 86 f. Arnold, Chronica ( wie Anm. 151 ) 3, 18, S. 105 f.
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dest das finale Streitgespräch war dem Wortlaut nach sicherlich die höchst eigene Erfindung des Lübecker Abts. Was Arnold damit bezweckte, wird erst dann deutlich, wenn man beachtet, wie sehr er die Entfremdung zwischen Erzbischof und Herrscher in Parallele zum Sturz des Löwen darstellte. In beiden Fällen erzählte er von einem verweigerten Italienzug 156, von einer dreimaligen Vorladung 157, ja sogar von einem tiefen Streit zwischen Kaiser und Fürst, der hier wie dort nach Barbarossas Rückkehr aus der Lombardei eskaliert sein soll – und nun ausgerechnet darin gipfelt, dass Friedrich dem Erzbischof verbietet, auf dem Hoftag in Gelnhausen zu erscheinen 158! Aber mehr noch: Schon auf dem Mainzer Hoftag soll der brüskierte Erzbischof unter anderem auf das hingewiesen haben, was er ‚bei Braunschweig‘ für Barbarossa geleistet habe 159; und im Folgejahr habe Philipp dann gar ‚am meisten bedauert, dass er mit so großer Hingabe dem Reich gedient hatte‘ 160. Zu all dem passt das Gedicht, das Arnold genau zwischen sein zweites und sein drittes Buch inserierte: ‚Was immer es auf Erden gibt, das wandelt sich, indem es vergeht …‘ 161. In der Tat, so ließ sich Heinrichs Sturz leichter verkraften: Auch der Mann, der maßgeblich an der conspiratio gegen Heinrich beteiligt gewesen war, hatte Barbarossas Gunst nur wenige Monate genießen dürfen! 5. FAZIT
Die Antworten auf die beiden Leitfragen dieses Beitrags liegen nunmehr auf der Hand. Sie seien abschließend noch einmal knapp zusammengefasst und auf ihre Konsequenzen für das Konzept konsensualer Herrschaft hin befragt. 1 ) Einen Anspruch, vom Herrscher gehört und in ihrer Auffassung beachtet zu werden, konnten immer nur bestimmte Große erheben, während andere mit ihnen um diese Position konkurrierten. Von der Karolingerzeit bis ins Spätmittelalter hinein war die Zusammensetzung dieses tonangebenden Kreises nicht strikt rechtlich normiert. Den Zugang zu diesem Kreis zu kontrollieren und seine Zusammensetzung zu manipulieren, das war vielmehr eine der Schlüsselfragen der Politik, sowohl der Großen wie auch des Herrschers. Das Konzept konsensualer Herrschaft sollte deshalb erweitert werden um den Faktor der Konkurrenz der Großen um Zugang zu der kleineren, tonangebenden Konsensgemeinschaft. Erst wenn man diesen kompetitiven Unterbau konsensualer Herrschaft mit einbezieht, wird im übrigen erkennbar, wie sehr
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Nun im Zusammenhang mit Philipps Weigerung, zur Hochzeit Heinrichs VI. anzureisen: Vgl. ebd. 3, 15, S. 101. Im Kontext seiner Geschichte über die Duisburger Händler ( ebd. 3, 12, S. 98 ): Cumque hec verba ad regem perlata fuissent, iratus est valde, et indicta curia, eum ad audientiam venire precepit. Qui cum non venisset, aliam ei curiam prefixit, sed cum nec tunc venisset, tertiam ei apud Mogontiam indixit. Ebd. 3, 18, S. 106: His dictis imperator animum archiepiscopi cum apostolico sentire intellexit, cui et dixit: ‚Quandoquidem audio, vos mecum non sentire, nolo ut ad curiam, que in Geilenhusen celebranda est, veniatis, ubi episcoporum erit conventus‘. Cui archiepiscopus respondit: ‚Fiat iuxta placitum vestrum‘. Ebd. 3, 9, S. 90: In Longobardia devotionem meam vidistis, apud Alexandriam nichilominus fidelitatem animi mei sensistis, et que apud Bruneswich fecerim non semel, sed sepius, animadvertistis. Ebd. 3, 12, S. 98: Ex illo autem tempore a familiaritate se imperatoris et filii eius elongabat, plurimum dolens, quod tanta devotione imperio servierat. Ebd. 2, 22, S. 68: Quicquid inest mundo mutatur praetereundo.
Konsens und Konkurrenz
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die Schlagwörter , und ihrerseits im Laufe des Mittelalters politisch instrumentalisiert wurden für persönliche oder doch partikulare Ziele einzelner Großer und bestimmter Konfliktparteien. Gerade weil diesen Schlagwörtern in der politischen Kultur der Zeit ein so hoher Wert zukam, lässt sich von ihrem Gebrauch in den Quellentexten nur mit größter Vorsicht auf die Praxis des Konsenses zurückfolgern: Das Reden über Konsens war selbst eines der Instrumente, mit deren Hilfe die Akteure nach Macht und nach Einfluss auf die Verteilung von Macht strebten. Das Reden über Konsens war ein Mittel der Politik. 2 ) Bei alledem veränderte sich die konsensuale Herrschaft zwischen dem 9. Jahrhundert und dem Spätmittelalter nicht unerheblich. In den drei hier analysierten Fallbeispielen betrifft dieser Wandel zum einen die politischen Ziele, um derentwillen einzelne Große nach Einfluss auf den König strebten ( wie es im Vergleich Hinkmars, Adalberts und Philipps deutlich wurde ). Der Wandel betrifft zweitens aber auch den Fokus gemeinschaftlichen Handelns ( der sich vom König hin zum Reich verlagerte ). Er betrifft drittens die Anziehungskraft, die der König mit seinem Hof auf die Großen auszuüben vermochte ( die für das 9. Jahrhundert wohl erheblich höher anzusetzen ist als für die Spätzeit Barbarossas ). Und er betrifft viertens die zunehmende Verrechtlichung sowohl des fürstlichen Status als auch des Zugangs zum tonangebenden Kreis – und damit zugleich die Argumentationsmuster, mit denen die Großen Zugang einfordern konnten ( vom Alter über die adlige Abkunft bis hin zum Status als Reichsfürst ). Die Geschichte konsensualer Herrschaft im Spannungsfeld adliger Konkurrenz ist auch mit diesen Hinweisen allerdings nur in ersten Ansätzen angedeutet. Diese Geschichte differenziert in ihrer langen Dauer zu erzählen bleibt eine Aufgabe der Forschung.
Der Dom von Salerno und die Abteikirche von Montecassino
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Der Dom von Salerno und die Abteikirche von Montecassino: Anspruch und Wirkung zweier Bauprojekte in Unteritalien im 11. Jahrhundert In der vorliegenden Studie wird das Verhältnis zweier bedeutender Kirchenbauten Unteritaliens zueinander – dem Doms S. Matteo in Salerno sowie der unter Abt Desiderius errichteten Benediktsbasilika von Montecassino – einer Revision unterzogen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, ob die in der Forschung immer wieder hervorgehobene exklusive Vorbildfunktion Montecassinos für S. Matteo zwingend angenommen werden und die anscheinend evidente architektonische Abhängigkeit des Salernitaner Doms von der Abteikirche widerspruchslos akzeptiert werden muss. Dieser Problematik wollen wir uns auf drei Wegen nähern: Erstens sind den bisher wiederholt hervorgehobenen formalen Gemeinsamkeiten beider Bauten auch ihre signifikanten Unterschiede gegenüberzustellen. Zweitens ist zu überprüfen, ob und in welchem Maße für Montecassino eine architektonische Vorbildfunktion überhaupt angenommen werden darf. Drittens wird für den Salernitaner Dom eine alternative Deutung als herzogliche Stiftung vorgeschlagen, die einen Rückgriff auf die von Desiderius für seinen Neubau gewählte Formensprache nicht mehr erforderlich macht. Der Dom von Salerno 1 ist seinen Dimensionen und seiner kirchlichen Bedeutung nach einer der wichtigsten Sakralbauten Unteritaliens ( Abb. 27 und 28 ). Begonnen nach der Einnahme der Stadt durch den Normannenherzog Robert Guiscard 1077/78, gilt die Metropolitankirche in der Architekturgeschichte bisher als Kopie der 1071 geweihten Abteikirche von Montecassino. Für den Entwurf des Salernitaner Domes wird in der Regel der Erzbischof Alfanus I. ( † 1085 ) verantwortlich gemacht. Als Benediktinermönch in Montecassino ausgebildet und enger Freund des Abtes Desiderius, war Alfanus in seiner Funktion als Metropolitan neben zahlreichen anderen hohen kirchlichen Würdenträgern bei der Weihe der neuen Benediktsbasilika anwesend. Das konservative Formenrepertoire des Domes ist durch diese engen Verbindungen zunächst gut zu erklären und es bietet sich über den Verweis auf Montecassino geradezu an, hierin den Ausdruck einer an altchristliche Vorbilder angelehnten programmatischen Kunst kirchlicher Reformbestrebungen zu lesen 2. Letztlich hat die epo-
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Dieser Aufsatz ist aus der Beschäftigung mit dem Thema im Rahmen meiner von Prof. Dr. Christian Freigang betreuten Magisterarbeit unter dem Titel „Der Dom von Salerno, Gestalt und Anspruch einer normannischen Stiftung“, Göttingen 2004, hervorgegangen. Beispielsweise Richard Krautheimer, San Nicola in Bari und die apulische Architektur des 12. Jahrhunderts, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 9, 1934, S. 19; Ernst Kitzinger, The Gregorian Reform and the Visual Arts. A Problem of Method, in: Transactions of the Royal Historical Society 22, 1972, S. 95 f.; Günter Urban, Die Klosterakademie von Montecassino und der Neubau der Abteikirche im 11. Jahrhundert, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 15, 1975, S. 15; Günter Bandmann, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 51978, S. 236; Herbert E. J. Cowdrey,
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nyme Gestalt der Reformbewegung, Papst Gregor VII., selbst die Weihe des Neubaus vollzogen. Obgleich der Dom von Salerno in den Jahrhunderten nach seiner Erbauung zahlreichen Veränderungen unterworfen wurde, die ihm schließlich seine barocke Gestalt gaben, sind durch die Untersuchungen und Restaurierungsarbeiten seit den 1930er Jahren wesentliche Teile des originalen Bestandes konserviert worden. Eine Rekonstruktion des normannischen Ursprungsbaus ist somit weitgehend möglich, wenn auch Fragen der exakten Bauchronologie weiter kontrovers diskutiert werden ( Abb. 27 ). Eckpunkte einer sicheren Datierung sind die inschriftlich nachgewiesene Rekondierung von Reliquien 1081, die eine Fertigstellung zumindest der Hallenkrypta belegen, die Weihe der Kirche 1084 oder 1085 sowie je eine Stifterinschrift an der Westfassade, über dem Hauptportal ( Porta del Paradiso ) und über dem Eingang zum Atrium ( Porta dei Leoni ) 3. Zuletzt dürfte der Campanile angefügt worden sein, der in-
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The Age of Abbot Desiderius. Montecassino, the Papacy, and the Normans in the Eleventh and Early Twelfth Centuries, Oxford 1983, S. 72 f.; Herbert Bloch, Monte Cassino in the Middle Ages, 1, Rom 1986, S. 43; Valentino Pace, Roberto il Guiscardo e la scultura normanna dell’XI secolo in Campania, in: Cosimo Damiano Fonseca ( Hg. ), Roberto il Guiscardo tra Europa, il Mezzogiorno e Oriente, Galatina 1990, S. 325; Lucinia Speciale, Montecassino e la riforma Gregoriana. L’exultet Vat. Barb. lat. 592, Rom 1991, S. XVIII f.; Hélène Toubert, Un art dirigé. Réforme grégorienne et iconographie, Paris 1990, S. 95 ff.; sowie Valentino Pace, La cattedrale di Salerno. Committenza, programma e valenze ideologiche di un monumento di fine XI secolo nell’Italia meridionale, in: Faustino Avagliano ( Hg. ), Desiderio di Montecassino e l’arte della riforma Gregoriana, Montecassino 1997, S. 228 f.; vgl. auch Herbert Bloch, Monte Cassino, Byzantium and the West in the Earlier Middle Ages, in: Dumbarton Oaks Papers 3, 1946, S. 196 und S. 213; Günter Bandmann, Ikonologie der Architektur, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 1, 1951, S. 88 f.; und Werner Jacobsen, Entwicklungslinien des Kirchenbaus im 11. Jahrhundert im Reich und in Italien, in: Christoph Stiegemann – Matthias Wemhoff ( Hgg. ), Canossa 1077. Erschütterung der Welt, Ausstellungskatalog Paderborn, 1, München 2006, S. 293 f. Während der Sachverhalt für die Kunstgeschichte klar ist, sehen Historiker die Rolle Montecassinos und seines Abtes Desiderius innerhalb der Reformbewegung differenzierter; s. den Überblick über die Forschungsliteratur bei Cowdrey, S. XXIII ff. Neben den Verschlusssteinen für die Reliquien, welche in der bis zu diesem Zeitpunkt fertiggestellten Krypta niedergelegt worden sind, wird immer wieder ein weiteres Dokument herangezogen, das sich allerdings nur mittelbar auf den Dombau bezieht. Es handelt sich um einen Brief Gregors VII. an den Salernitaner Erzbischof Alfanus I. von 1080. In diesem Schreiben bringt der Papst seine Glückwünsche über die der Matthäusreliquien in Salerno zum Ausdruck und drängt Alfanus, seine neuen Herren Robert Guiscard und Sichelgaita anzuhalten, diesen Reliquien entsprechende Verehrung zukommen zu lassen: Gregorius VII coep. Salernitan. Alfano: gratulatur de inventione corporis b. Matthaei apost.; praecipit, ut glor. ducem R( obertum ) ( Apuliae ) ipsiusque nobilissimam coniugem ( Sikelgaitam ) moneat, quatinus tam insigni patrono reverentiam et honorem decenter exhibeant. – Divinae pietatis. Dat. Romae 14 kal. oct. Der Text nach Paul Fridolin Kehr ( Hg. ), Italia Pontificia 8, Regnum Normannorum – Campania, Berlin 1935, Nr. 27, S. 325; dort auch der Stellennachweis. Eine längere Fassung des Briefes überliefert Marcus Antonius Colonna, De vita et gestis Matthaei apostoli et evangelistae, Neapel 1580, S. 69 f.; s. ebenfalls das Register Gregors VII., hg. von Erich Caspar ( MGH Epp. sel. 2, 2 ) Berlin 1923, Nr. VIII, 8, S. 526. Der etwa in diese Zeit fallende Baubeginn legt eine Interpretation des Textes als Anweisung zur Stiftung des Kirchenbaus nahe. So ist der Brief Gregors auch verschiedentlich als gelesen worden, die einen terminus post quem für die Grundsteinlegung biete. Dass allerdings diese päpstliche Mahnung plötzlich eine reuige Stiftung Roberts ( er war zwischen 1074 und 1080 mehrfach von Gregor VII. gebannt worden ) veranlasst habe, ist unwahrscheinlich. Schließlich war es bereits im Sommer desselben Jahres zur Verständigung zwischen dem Papst und dem normannischen Herzog nach dem Treffen von Ceprano gekommen, das mit der erneuerten Investitur Roberts durch seinen päpstlichen Lehnsherren ein äußerliches Zeichen setzte. Seinen eidlichen Verpflichtungen kam der Normanne je-
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schriftlich bezeugt in der Amtszeit des Erzbischofs Wilhelm ( 1137–1152 ) aufgeführt wurde. Ende des 12. Jahrhunderts dokumentiert eine Stadtansicht in der Handschrift des des Petrus von Eboli den fertig gestellten Bau ( Abb. 29 ) 4. Der normannische Dom ist demnach eine geostete dreischiffige Säulenarkadenbasilika mit Querschnittfassade und offenem Dachstuhl. An das durch die Stützenfolge in 13 Joche gegliederte Langhaus schließt sich, abgesetzt durch den auf T-förmige Vierungspfeiler gestützten Triumphbogen, ein über die Seitenschiffswände hervortretendes offenes Querhaus an, dem unmittelbar eine Haupt- und zwei Nebenapsiden angefügt sind. Unter diesem Transept liegt eine Hallenkrypta von drei mal acht Jochen, die den Grundriss des Ostbaus bereits anlegt. Sie war über zwei gerade Treppenläufe von den Seitenschiffen her erschlossen 5. Vor die bis auf den Inschriftenfries unter dem Giebeldreieck ungeschmückte Fassade der Oberkirche legt sich ein quadratisches Atrium, dessen auf Säulenarkaden gestützte Flügel an drei Seiten doppelstöckig ausgebildet sind und an dessen Südflanke der mehrgeschossige, oben von einem überkuppelten runden Tambour gekrönte Glockenturm angelehnt ist. Zwei Zugänge, die Porta dei Leoni im Westen und ein kleineres Nebenportal in der Südostecke, führen in diesen Vorhof, von dort wiederum drei Portale in die Seitenschiffe respektive das Mittelschiff der Kirche. Durch die Befunde am aufgehenden Mauerwerk kann die ursprüngliche großzügige Befensterung der Basilika rekonstruiert werden. Demnach sind Fassade sowie Querhausstirnwände jeweils von einer Dreiergruppe hoher Rundbogenfenster durchbrochen und in Oberkirche und Krypta befindet sich jeweils ein Bogenfenster in den Apsisscheiteln ( Abb. 30 ). Kleinere, offenbar mit der Arkadenfolge des Mittelschiffs korrespondierende Rundbogenfenster sind für den Obergaden nachweisbar ( Abb. 31 ), während eine vermutlich ähnliche Gliederung der Seitenschiffswände dem späteren Anbau von Kapellen zum Opfer gefallen ist. Zusätzlich sind in die oberen Zonen der West- und Ostwände des Querhauses Rundfenster eingelassen. Ein weiterer oculus im Giebel der Fassade ist zwar ebenfalls wiederhergestellt worden, von der Befundlage her aber nicht gesichert 6. Die Außenwände des Atriums – lediglich Nord- und Südseite haben originale Substanz – zeigen eine unregelmäßige Folge von isolierten Bi- und Triforien ( Abb. 32 ).
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doch bereits 1081 nicht mehr nach, als er einen ersten Balkanfeldzug führte, anstatt dem durch anrückende kaiserliche Truppen bedrohten Gregor die geforderte Hilfe zu leisten; s. Wilhelm von Apulien, Gesta Roberti Wiscardi IV 122 ff. und 171 ff., hg. von Roger Wilmans ( MGH SS 9 ) Hannover 1851, S. 282 f. Dagegen erscheint bereits ab 1079 in den herzoglichen Diplomen eine standardisierte Arenga, die die Erwartung einer Kompensation von irdischen Stiftungen und Schenkungen durch himmlischen Lohn formuliert. Eine Verbindung zwischen Gregorbrief und Baubeginn ist also nicht zwingend. Die Weihe fällt in Gregors letztes Pontifikatsjahr, das er im Exil in Salerno verbringt. Die Zeremonie kann also nicht vor Juni/Juli 1084 ( Abzug Roberts aus Rom und Rückkehr nach Salerno ) und muss vor dem 25. Mai 1085 ( Todestag Gregors VII. ) stattgefunden haben. Bern, Burgerbibliothek, Codex 120 II, fol. 116r. Colonna ( wie Anm. 3 ) S. 80; Antonio Mazza, Historiarum epitome de rebus salernitanis, Neapel 1681, S. 55. Dieser oculus erscheint bereits auf einem Stich von Louis-Jean Desprez bei Jean Claude Richard de Saint-Non, Voyage pittoresque ou Description des Royaumes de Naples et Sicilie, 3, Paris 1783, Taf. 91, sowie, von dieser Vorlage abhängig, bei Heinrich Wilhelm Schulz, Denkmäler der Kunst des Mittelalters in Unteritalien, hg. von Ferdinand von Quast, Dresden 1860, 2, S. 281, Fig. 113.
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Fig. 1 Montecassino, graphische Rekonstruktion der Abtei um 1100 ( Henry M. Willard – Kenneth J. Conant, A Graphic Reconstruction of the Romanesque Abbey at Monte Cassino, in: Speculum 10, 1935, Taf. 1 ).
Diese so wiedergewonnene ursprüngliche Gestalt des Doms von Salerno hat bereits früh Vergleiche mit der Abteikirche von Montecassino herausgefordert, und seit Émile Bertaux weist die Forschung wiederholt auf die Ähnlichkeiten der von Abt Desiderius errichteten Benediktsbasilika und dem Neubau des Salernitaner Doms hin 7.
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Émile Bertaux, L’art dans l’Italie Méridionale, 2, Paris 1904, S. 318, stellt fest: „Les cathédrales des deux principautés normandes [ … ] ont exactement le plan de la grande église bâtie par l’abbé Desiderius et consacrée en 1071.“ In den 1920er Jahren bezeichnet dann Michele De Angelis, Le origini dell’architettura nell’Italia meridionale ed i musaici della cattedrale di Salerno, in: Archivio Storico della Provincia di Salerno 4, 1924, S. 9, den Salernitaner Dom als „la figlia prediletta di Montecassino,“ und Urban ( wie Anm. 2 ) S. 17, spricht von der Bischofskirche als „einer Art Replik des Desideriusbaus“; vgl. auch Herbert Bloch, The New Fascination with Ancient Rome, in: Robert L. Benson – Giles Constable ( Hgg. ), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, London 1982, S. 615–636, S. 619; und zuletzt Jacobsen ( wie Anm. 2 ) S. 294. Unter der Vielzahl von Arbeiten, die sich mit dem Thema beschäftigen, seien beispielhaft genannt Gino Chierici, Il duomo di Salerno e la chiesa di Montecassino, in: Rassegna Storica Salernitana 1, 1937, S. 95–109; Armando Schiavo, Montecassino e Salerno. Affinità stilistiche tra la chiesa cassinese di Desiderio e quella salernitana di Alfano I, in: Atti del II Convegno nazionale di storia dell’architettura ( Assisi, 1.–4. Oktober 1937 ) Rom 1939, S. 159–176; Hans Thümmler, Die Baukunst des 11. Jahrhunderts in Italien, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 3, 1939, S. 141–226, hier S. 213 f.; Angelo Pantoni, La basilica di Montecassino e quella di Salerno ai tempi di San Gregorio VII, in: Benedettina 10, 1956, S. 23–47; Antonio Braca, Oltre Montecassino. La pianta originaria del duomo di Salerno, in: Rassegna Storica Salernitana, NF 14/1 ( 27 ), 1997, S. 7–31; Mario D’Onofrio, La basilica di Desiderio a Montecassino e la cattedrale di Alfano a Salerno. Nuovi spunti di riflessione, in: Faustino Avagliano ( wie Anm. 2 ) S. 231–246. Der typologische Vergleich beider Bauten lässt sich scheinbar auch durch den Verweis auf die Quellen rechtfertigen. Amatus von Montecassino ( III 52 ) weiß in seiner um 1080 verfassten, nur in einer altfranzösischen Fassung über-
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Angeregt durch den wichtigen Aufsatz Richard Krautheimers über die apulische Architektur des 12. Jahrhunderts 8 sowie die Versuche einer graphischen Rekonstruktion des Desideriusbaus durch Henry M. Willard und Kenneth J. Conant ( Fig. 1 ) 9 intensiviert sich die Diskussion dieser Zusammenhänge. Gleichzeitig stellen sowohl die Restaurierungskampagne in Salerno 10 als auch die archäologische Untersuchung des Klosters von Montecassino, die durch die Kriegszerstörungen erst möglich geworden war, die Debatte auf eine neue Grundlage 11. Während bei S. Matteo originale Bausubstanz in erheblichem Maß erhalten blieb, stellt sich die Ausgangslage für den Desideriusbau völlig anders dar. Die zwischen 1066 und 1071 entstandene Basilika wird bereits im 14. Jahrhundert durch ein Erdbeben beschädigt 12. Nach einer sorgfältigen Bauaufnahme zu Beginn des 16. Jahrhunderts weicht die mittelalterliche Kirche ab der Mitte des 17. Jahrhunderts schrittweise einem barocken Neubau. Dieser wird in den Kämpfen um das Kloster am Ende des Zweiten Weltkriegs völlig zerstört und ab 1947 historistisch wiedererrichtet. Die überkommenen baulichen Reste der romanischen Benediktsbasilika sind folglich ausgesprochen spärlich. Unsere Kenntnis des Desideriusbaus beruht vielmehr auf einer Reihe unterschiedlicher historischer Quellen, darunter vor allem dem für die Bau-
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lieferten Normannengeschichte davon zu berichten, dass die künstlerischen Ambitionen des Desiderius angeblich rasch nachgeahmt worden seien; Storia de’ Normanni di Amato di Montecassino, hg. von Vincenzo de Bartholomaeis ( Fonti 76 ) Rom 1935, S. 176: Et, par exemple de cestui abbé, molt s’efforcerent de appareiller lor choses en la maniere qu’il fasoit; et gardoient à sa maistrise aucuns à faire bel hedifice, et se delittoient de lor habitation adorner. Das Werk wird im Folgenden als Amatus, Buch, Kapitel zitiert. Krautheimer ( wie Anm. 2 ) S. 16 f. Henry M. Willard – Kenneth J. Conant, A Project for the Graphic Reconstruction of the Romanesque Abbey at Monte Cassino, in: Speculum 10, 1935, S. 144–146. Hierzu zuerst der für die Arbeiten verantwortliche Leiter der regionalen Soprintendenza Chierici ( wie Anm. 7 ); dann auch Schiavo ( wie Anm. 7 ) und Ders., Il quadroportico del duomo di Salerno, in: L’Osservatore Romano, Nr. 272, 23. November 1947, S. 3, die für Antonio Braca, Il duomo di Salerno. Architettura e culture artistiche del Medioevo e dell’Età Moderna, Nocera Inferiore 2003, S. 29, die <Entdecker> der Verwandtschaft zwischen Desideriusbau und dem salernitanischen Dom sind; s. allerdings Anm. 7 sowie Krautheimer ( wie Anm. 2 ) S. 16 f., und Willard – Conant ( wie Anm. 9 ) S. 146; auch Richard Krautheimer, The Carolingian Revival of Early Christian Architecture, in: The Art Bulletin 24, 1942, S. 28, Anm. 168. Pantoni ( wie Anm. 7 ); speziell zu den archäologischen Befunden und den daraus zu ziehenden Folgerungen Angelo Pantoni, Le vicende della basilica di Montecassino attraverso la documentazione archeologica, Montecassino 1973. Über das Ausmaß des Schadens gibt eine bei Erasmo Gattola, Historia abbatiae Casinensis, Venedig 1733, S. 546, überlieferte Stelle aus einer anonymen Cassineser Chronik Auskunft, die schildert, quod totum monasterium funditus corruit, non remanens in eo nulla domus erecta, cum fuerit pulchrius monasterium Christianitatis. An derselben Stelle zitiert Gattola eine Bulle Papst Urbans V. ( 1369 ), in der es heißt, dass ipsaquoque ecclesia et totum monasterium iam viginti annis decursis ex terraemotus concussione casu miserabili corruerunt [ … ]. Vermutlich diese Stellen veranlassen Forscher, wie Bloch, Monte Cassino in the Middle Ages ( wie Anm. 2 ) S. 43, oder Toubert ( wie Anm. 2 ) S. 96, zu der Annahme, der Desideriusbau sei bereits 1349 vollständig zerstört worden. Die Auswirkung des Erdbebens auf die Substanz des romanischen Baus wird hier möglicherweise stark überschätzt. Es ist beispielsweise zu überlegen, inwieweit die noch bei Gattola, Taf. 1, gezeigten Portalrahmen, die Bronzetür und das Opus-sectile-Paviment eine derartige Katastrophe überstanden hätten. Warum haben unmittelbar benachbarte Bauten, wie S. Salvatore ( 1695 abgebrochen ) oder S. Maria delle Cinque Torri ( 1944 zerstört ) in S. Germano ( dem heutigen Cassino ) offenbar keinen substantiellen Schaden genommen?
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zeit vorzüglichen Bestand an Textzeugen, der seit jeher Ausgangspunkt für die Rekonstruktion des verlorenen Denkmals bildet 13. Für 1066 verzeichnen die : Hoc anno domnus Desiderius abbas coepit edificare ecclesiam s. Benedicti in hoc monte Casinensi 14. Am 1. Oktober 1071 wird die innerhalb von fünf Jahren errichtete Abteikirche mit großem zeremoniellen Aufwand und unter Anwesenheit höchster kirchlicher und weltlicher Würdenträger durch Papst Alexander II. geweiht. Von diesem Ereignis sind wir durch zeitnahe lokale Quellen ungewöhnlich gut unterrichtet 15. So schildert Leo von Ostia im dritten Buch der von ihm um 1100 im Auftrag des Abtes Oderisius begonnenen ausführlich die Weihe und die folgenden Festlichkeiten 16. Diese Zeremonie, die Herbert Bloch in seiner bekannten Monographie zu Montecassino als „one of the most brilliant events in the history of the eleventh century“ bezeichnet 17, hält Leo für so bedeutsam, dass er ihr eigens eine weitere kleine Schrift unter dem Titel 18 widmet. Seinem Chronikbericht stellt er eine detailreiche Darstellung der Errichtung und eine Beschreibung der dem Klostergründer Benedikt von Nursia geweihten Basilika voran. Er entlehnt dabei Motive der knappen Beschreibung des Baus aus der Geschichte der normannischen Eroberung Unteritaliens des Amatus 19. Von einem weiteren Augenzeugen des Ereignisses, dem bereits erwähnten Salernitaner Erzbischof Alfanus I., sind ekphrastische Verse überliefert, die ein Lob des Desiderius mit dem des Neubaus verbinden 20. Schließlich überliefert das Register des Klosters, das Leos Nachfolger Petrus Diaconus Anfang des 12. Jahrhunderts zusammenstellt, die lateinische Fassung einer Bulle, in der der byzantinische Kaiser Michael VII. Dukas 1076 die neue Abteikirche als celeberrima et famosissima ecclesia apostrophiert und als Bau rühmt, der in Ost und West gleichermaßen
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Der erste Versuch dieser Art bereits bei Gattola ( wie Anm. 12 ). Die vorliegende Untersuchung soll auch deutlich machen, dass eine große Dichte an Quellen den Blick auf ein Monument unter Umständen sogar verstellen kann. Annales Casinenses, hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 19 ) Hannover 1866, S. 306. Eine Weiheurkunde ist dagegen nicht erhalten und auch im Register des Petrus Diaconus nicht überliefert, obgleich ein entspechendes Diplom von Leo in seiner ( Migne PL 173, Sp. 999 f. ) ausdrücklich erwähnt wird. Die geben für das Jahr 1071 Auskunft darüber, dass die ecclesia nova sancti Benedicti dedicata est ab Alexandro papa die Kalendarum Octobrium cum quinque altaribus suis ( wie Anm. 14, S. 307 ). Leo von Ostia, Chronica monasterii Casinensis, hg. von Hartmut Hoffmann ( MGH SS 34 ) Hannover 1980 ( im folgenden als Chron., Buch, Kapitel zitiert ), hier Chron. III 26–33. Die relevanten Passagen auch bei Francesco Aceto – Vinni Lucherini ( Hgg. ), Leone Marsicano, Cronaca di Montecassino ( III 26–33 ) Mailand 2001, mit italienischer Übersetzung. Im Folgenden wird auf den Text der Einfachheit halber immer als Leos Werk referiert. Seine Autorschaft erstreckt sich nur auf die Teile bis einschließlich Chron. III 33, von wo ab die Chronik durch einen gewissen Guido von Montecassino sowie dessen Schüler Petrus Diaconus fortgesetzt wurde. Bloch, Monte Cassino in the Middle Ages ( wie Anm. 2 ) S. 41; ebenso bereits Ders., Monte Cassino, Byzantium ( wie Anm. 2 ) S. 194; vgl. eine ganz ähnliche Einschätzung bei Nicola Acocella, La basilica cassinese di Desiderio in un carme di Alfano da Salerno, in: Napoli Nobilissima, neue Folge, 3, 1963/64, S. 67. S. Anm. 15. Amatus, III 52 und IV 26. Ein kurzer Hinweis auf die Weihe ebd., VIII 4. Alfanus von Salerno, I carmi, hg. von Anselmo Lentini und Faustino Avagliano, Montecassino 1974, S. 171 ff. ( carmen 32 ) sowie S. 217 ff. ( carmen 54 ).
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bewundert und verehrt werde 21. Zwar bietet diese für das 11. Jahrhundert erstaunliche Fülle an Quellen eine Vielzahl wichtiger Informationen zu Gestalt und Ausstattung der neuen Benediktskirche, sie genügt allerdings kaum den Ansprüchen einer modernen wissenschaftlich-objektiven Baubeschreibung. Immer wieder treten neben genaue Angaben, wie etwa den Maßen des Baus, gattungsspezifische topische Verweise, Metaphern und schwer nachvollziehbare Vergleiche, die der literarischen Funktion der jeweiligen Texte verpflichtet sind. Zur Klärung wichtiger architektonischer Details müssen folglich weitere Zeugnisse herangezogen werden. Antonio da Sangallo d. J. und sein Bruder Giambattista fertigen im Rahmen der bereits erwähnten frühneuzeitlichen Bauaufnahme einige Grundrisse an, von denen zwei für die Rekonstruktion des Desideriusbaus von zentraler Bedeutung sind ( Abb. 33, Fig. 2 ) 22. Diese Zeichnungen bilden nicht nur den baulichen Zustand des Klosters und der Abteikirche im frühen 16. Jahrhundert ab, sondern geben eine Disposition wieder, die, so zeigen die beigefügten Maßangaben, den Daten Leos weitgehend entspricht. Dadurch wird nicht nur die Glaubwürdigkeit der entsprechenden chronikalischen Angaben erhöht, sondern auch die Vermutung gestützt, dass die Substanz des Desideriusbaus bis in die frühe Neuzeit hinein wesentlich konserviert gewesen sein dürfte. 1733 unternimmt der Archivar der Abtei Erasmo Gattola in seiner eine auf dem Chroniktext basierende Rekonstruktion der romanischen Klosteranlage. Gattola ist damit ein Vorläufer für die Beschreibung des Desideriusbaus bei Heinrich Wilhelm Schulz 23 und den schematisierten Grundriss, den Julius von Schlosser seiner Arbeit über „Die abendländische Klosteranlage des früheren Mittelalters“ beigibt 24. Daneben enthält Gattolas materialreiches Werk zahlreiche Hinweise auf seinerzeit noch erhaltene oder dem Autor noch persönlich bekannte Reste des mittelalterlichen Baus, der in jener Zeit dem barocken Neubau weichen musste. Noch 1675 scheint die mittelalterliche Fassade gestanden zu haben, deren Portalrahmen – von Gattola 1733 publiziert – sich sogar bis 1944 in situ befanden und deren Fragmente jetzt im Museum der Abtei ausgestellt sind. Den mittelalterlichen Schmuckfußboden kann der Autor noch 1713 graphisch dokumentieren 25. In die Zeit zwischen die Sangallo-Zeichnungen und Gattolas fällt eine Reihe weniger bedeutender Zeugen, wie etwa frühe Reisebeschreibungen, Veduten u. ä., die zwar gelegentlich bei der Klärung von Einzelheiten oder als Bestätigung der übrigen Quellen hilfreich sind, indem sie auf die Existenz von Fresken bzw. des Paviments aus geschnittenen Buntmarmorstücken oder der auf Säulen gestützten Arkaden
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Francesco Trinchera ( Hg. ), Syllabus Graecarum Membranarum, Neapel 1865, Nr. 47, S. 62. Die Zeichnungen befinden sich heute im Gabinetto dei Disegni der Galleria degli Uffizi in Florenz, Inv. Nr. 182r und 1267Ar. Sie sind erstmalig von Gustavo Giovannoni, Rilievi ed opere architettoniche del Cinquecento a Montecassino, in: Casinensia 2, 1929, S. 305–335, publiziert und ebd., S. 308 bzw. S. 321, auf 1531 datiert worden. Ermengildo Scaccia Scarafoni, Note su fabbriche ed opere d’arte medioevale a Montecassino, in: Bullettino d’Arte 30, 1936/37, S. 98, schlägt dagegen eine Entstehung der Blätter zwischen 1507 und 1512 vor. Schulz ( wie Anm. 6 ) S. 117 ff. Julius von Schlosser, Die abendländische Klosteranlage des früheren Mittelalters, Wien 1889, Fig. 3. Gattola ( wie Anm. 12 ) Taf. 6. Große Teile des originalen Paviments wurden bei den Grabungen nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem barocken Fußboden wiederentdeckt; vgl. Pantoni ( wie Anm. 7 ) S. 30 f.; Bloch, Monte Cassino in the Middle Ages ( wie Anm. 2 ) S. 44.
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hinweisen, häufig allerdings nur ganz allgemein die altehrwürdige Erscheinung des Baus bekunden 26. Die eigentliche architekturgeschichtliche Forschung setzt mit dem Pionierwerk von Schulz, mit von Schlosser und Bertaux ein, um einen ersten Höhepunkt in den Jahren um den Zweiten Weltkrieg zu erfahren. Angeregt durch die Restaurierung des Salernitaner Doms einerseits und der archäologischen Erschließung der zerstörten Benediktsbasilika durch Angelo Pantoni andererseits erscheint eine Vielzahl kleinerer Studien, die zunächst das neue Material vorstellen und einordnen. Das wichtigste Ergebnis ist dabei vermutlich die Verifikation der historischen Quellen, wie des Chroniktextes oder der Sangallo-Grundrisse. Schließlich erfährt auf diese Weise auch die graphische Rekonstruktion des Desideriusbaus, die Willard und Conant bereits 1935 vorgelegt hatten, in mancher Hinsicht eine Bestätigung 27. Auf dieser Grundlage ist der Text der Chronik von Montecassino nun eingehender zu betrachten. In seiner für das Hochmittelalter ungewöhnlich genauen Beschreibung 28 führt uns Leo ( Chron. III 26–33 ) durch die eben fertig gestellte Benediktskirche ( Fig. 3 ): Mit großem finanziellen und technischen Aufwand ist zunächst durch Desiderius in Rom erworbenes Spolienmaterial – Säulen, Basen und Kapitelle – an die Baustelle geschafft worden 29. Auf dem sorgfältig vorbereiteten planierten Baugrund in ipso montis vertice ( Chron. III 26 ) wird das dreischiffige Langhaus angelegt. Unvermittelt geht der Chronist von der Schilderung des Kirchenbaus zur Beschreibung des fertig gestellten Gebäudes über: Auf beiden Seiten der 105 cubiti langen Kirche scheiden je zehn Säulen das Mittelschiff von den Seitenschiffen bei einer Gesamtbreite von 43 und 26
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Mit diesen kleineren Zeugnissen hat sich Pantoni wiederholt beschäftigt; vgl. Angelo Pantoni, Una veduta vaticana di Montecassino nei suoi rapporti con le raffigurazioni e descrizioni coeve dell’abbazia, in: Mélanges Eugène Tisserant 5, 1964, S. 171–182; sowie Ders., Una descrizione inedita di Montecassino del tardo cinquecento, in: Asprenas 11, 1964, S. 3–19. Eine Übersicht über die späteren Beschreibungen des Klosters gibt Ders., Descrizioni di Montecassino attraverso i secoli, in: Benedettina 19, 1972, S. 539–586. Willard – Conant ( wie Anm. 9 ) S. 146. Bis heute erscheint diese Rekonstruktion in nahezu jeder Publikation zu Montecassino. Es wäre wissenschaftsgeschichtlich von Interesse, zu untersuchen, wie weit die Entstehung dieses Entwurfs durch die gleichzeitige Wiederhersellung des Salernitaner Doms beeinflusst wurde, da auffällige formale Parallelen unübersehbar sind. Das Ergebnis eines Vergleichs beider Bauten, der in der folgenden Literatur vielfach auf der Grundlage dieser Rekonstruktionszeichnung einerseits und der heutigen Gestalt des Doms andererseits angestellt wird, ist daher nicht überraschend! Für Bloch, Monte Cassino in the Middle Ages ( wie Anm. 2 ) S. 42, Anm. 1, ist der Text Leos „perhaps the most detailed account of a building ever written during the Middle Ages.“ Chron. III 26: Ordinatis igitur, qui hec toto nisu et instantia summa perficerent, ipse interea Romam profectus est et quosque amicissimos alloquens simulque larga manu pecunias oportune dispensans columnas, bases ac lilia nec non et diversorum colorum marmora abundanter coemit illaque omnia ab urbe ad portum, a portu autem Romano per mare usque ad turrem de Gariliano indeque ad Suium navigiis conductis ingenti fiducia detulit. Abinde vero usque in hunc locum plaustrorum vehiculis non sine labore maximo comportavit. Der Ausdruck lilia ist als ‚Kapitelle‘ zu übersetzen, was die Erwähnung von Basen und Schäften sinnvoll ergänzt. Es ist abwegig, unter diesem Begriff jede Art verzierter Bauglieder, etwa auch Architravstücke, zu verstehen, wie bisweilen erwogen, wenn man die Stelle aus 1 Reg 7, 19 heranzieht, in der die Säulen des salomonischen Tempels beschrieben werden, deren Kapitelle lilienartig gebildet sind ( capitella [ … ] quasi opere lilii fabricata ). Dass der biblische Tempelbaubericht der ganzen Beschreibung Leos als Folie hinterlegt ist, wird weiter unten eingehend behandelt. Das Begriffspaar columna – lilia ( bzw. gilia ) wird ebenfalls im verwendet, hg. von Louis Duchesne, 2, Paris 1892, ND Paris 1955, S. 121 und S. 122. Bereits Amatus ( IV 26 ) berichtet: Et la sapience de lo abbé Desidere avoit fait venir colompnes de Rome pour appareiller la eglize.
Der Dom von Salerno und die Abteikirche von Montecassino
Fig. 2 Montecassino, Grundriss der Abtei von Antonio da Sangallo d. J., Galleria degli Uffizi, Inv. Nr. 182 ( Foto des Verfassers ).
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Fig. 3 Montecassino, Grundrissrekonstruktion der Abteikirche des Desiderius ( Giovanni Carbonara, Iussu Desiderii. Montecassino e l’architettura campano-abruzzese nell’undicesimo secolo, Rom 1979, S. 59, Abb. 8 ).
einer Höhe von 28 cubiti. Das Langhaus wird von insgesamt 21 Fenstern belichtet, die sich in der oberen Zone ( in superioribus ) befinden. Ob hier je zehn auf die beiden Obergadenwände – in Korrespondenz zur Jocheinteilung und zur Fenstergliederung der Seitenschiffswände – und eines auf die Fassade fällt, bleibt im Bericht undeutlich 30. Im
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Eine zentrale Fensteröffnung im Giebel der Fassade zeigt beispielsweise die Ansicht der Abtei ( 1603 ), die sich in der Aula del Concistorio im Vatikan befindet; s. Pantoni, Una veduta ( wie Anm. 26 ) Taf. 1. Dagegen rekonstruieren Willard und Conant ( wie Anm. 9 ) S. 145, Anm. 6, mit Verweis auf Siegeldarstellungen der Klosterkirche aus dem frühen 13. Jh. drei Bogenfenster in der Fassade. Ein bei Gattola ( wie Anm. 12 ) S. XVI, abgebildetes Siegel ( Abb. 34 ) zeigt einen links von einem Turm flankierten zweizonigen Bau. Unten öffnen sich drei bis auf den Boden heruntergezogene Bögen ( Vorhalle? ), während oben drei kleinere Rundbogenfenster sichtbar sind, über die ein dreieckiges, von einem Kreuz gekröntes Ziegeldach gesetzt ist. Das Siegelbild zeigt allerdings nicht mit wünschenswerter Klarheit die vermutete Querschnittfassade. Als möglicher Reflex der von Willard und Conant angenommenen Disposition mag die Fassadengestaltung der etwa gleichzeitig durch Desiderius errichteten Michaelskirche in S. Angelo in Formis ( Caserta ) gelten. Sie begegnet uns ebenfalls an dem Kirchenmodell des Stifterfreskos in der Hauptapsis jenes Baus. Mögliche Referenzen sind natürlich auch Architekturdarstellungen der Montecassineser Buchmalerei, z. B. im Codex Vat. Lat. 1202, fol. 2r ( Vatikan, BAV, um 1070 ), wo Desiderius als Stifter von Codices und Bauten vor den Heiligen tritt und in der begleitenden Bild-
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Bereich des Querschiffes zählt Leo sechs ‚lange‘ ( longas ) und vier ‚runde‘ ( rotundas ) Fenster sowie zwei weitere, in ihrer Form nicht bestimmte Öffnungen in der Hauptapsis. Dabei deutet die Wendung in absida mediana bzw. in absida maiori einen dreiapsidialen Abschluss des Baus im Osten an, was die Nennung von Altären in den Nebenapsiden kurz darauf bestätigt 31. Die unvermittelte Auffindung des angeblich ursprünglichen Benediktsgrabes während der Arbeiten am Ostbau führt dazu, den Befund zu konservieren und zu diesem Zweck das Bodenniveau des Presbyteriums höher zu legen. Hierfür werden im Bereich des Triumphbogens acht Stufen eingefügt, die Lang- und Querhaus miteinander verbinden. Vor dem Bau wird ein Atrium mit je vier Säulen im Westen und Osten sowie je acht an den Längsseiten angelegt. Die weiteren Passagen des Textes sind den Sakristei- und Kapellenanbauten, der Ausstattung des Inneren mit Opus-sectile-Paviment, Mosaiken, Schrankenanlagen u. s. w. gewidmet. Soweit der Chroniktext, den die späteren Zeugnisse in Hinblick auf wichtige Details ergänzen, von denen wir von Leo nicht erfahren: Die Bogenstellung des Langhauses, die Säulen des Triumphbogens und der Hauptapsis, die Tiefe des Querhauses oder die Breite der Seitenschiffe. Trotz der Fülle an Quellenmaterial bleibt dennoch eine Reihe von Fragen zur exakten Gestalt des Desideriusbaus unbeantwortet. Mit Bezug auf die SangalloGrundrisse weist beispielsweise Pantoni in einer frühen Studie auf die Tatsache hin, dass ein axialer Bezug zwischen Seitenschiffen und Nebenapsiden völlig fehle 32. Tatsächlich erweist sich die Proportionierung der Nebenapsiden im Vergleich mit anderen Bauten der Region als singulär – sofern die Zeichnung an dieser Stelle zuverlässig ist. Der frühneuzeitliche Grundriss lässt im Übrigen auch unklar, wie das Querhaus vom Langhaus her erschlossen ist. Während im Mittelschiff eine Flucht von acht Stufen auf den Hochaltar zuführt – was mit den Angaben Leos ( Chron. III 26 ) korrespondiert – scheinen in den Seitenschiffen drei Stufen zu genügen ( Fig. 2 ). Problematisch bleibt vor allem die Rekonstruktion des Aufrisses, da der Chroniktext die Höhe der Kirche lediglich allgemein mit 28 cubiti angibt, ohne zwischen Langhaus und Presbyterium zu unterscheiden. Ragt das Dach des Mittelschiffs über die Firsthöhe des Querhauses hinaus, wie etwa bei Alt-St.-Peter in Rom bzw. der Salvatorkirche in S. Germano, oder ist mit einem wesentlich höher aufstrebenden Transept zu rechnen, wie in Salerno oder gar in der Rekonstruktion von Willard und Conant? Die Befensterung der Fassade der Benediktsbasilika ist aus Leos Beschreibung nicht sicher zu rekonstruieren, gibt er doch nur summarisch die Zahl der Fensteröffnungen des Langhauses an. Während beispielsweise mit Verweis auf das Siegelbild auf eine Gruppe dreier schlanker Bogenfenster geschlossen werden könnte, zeigen spätere Darstellungen der Kloster-
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unterschrift bittet ( Abb. 35 ): Cum domibus miros plures pater accipe libros. Zur Hs. s. Bloch, Monte Cassino, Byzantium ( wie Anm. 2 ) S. 204 ff. Die Gestalt des Ostabschlusses konnte allerdings durch den Grabungsbefund nicht geklärt werden; s. Pantoni ( wie Anm. 11 ) Beilage: Grabungsplan ( Fig. 4 ). Angelo Pantoni, Problemi archeologici Cassinesi. La basilica pre-desideriana, in: Rivista di Archeologia Cristiana 16, 1939, S. 272 ff. Der Autor begründete diese Tatsache mit der Vermutung, der Ostbau der romanischen Basilika hätte der Disposition des Vorgängers folgen müssen. Seinerzeit standen Pantoni noch nicht die Ergebnisse der von ihm durchgeführten Grabungen nach dem Krieg zur Verfügung, durch die diese Hypothese widerlegt wurde. Die Beobachtung selbst bleibt dennoch gültig.
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Fig. 4 Montecassino, Abteikirche, Grabungsplan ( Angelo Pantoni, Le vicende della basilica di Montecassino attraverso la documentazione archeologica, Isola del Liri, 1973, Beilage 1 ).
kirche dagegen regelmäßig ein einzelnes Rundfenster bzw. eine Rose in der oberen Fassadenzone 33. Fasst man das bis hierher vorgetragene Material zusammen, verringern sich die Gemeinsamkeiten zwischen dem Desideriusbau und dem Dom von Salerno, die zunächst so frappierend schienen, auf eine Reihe generischer Merkmale. In beiden Fällen handelt es sich um eine dreischiffige flach gedeckte oder mit offenem Dachstuhl versehene Säulenarkadenbasilika, der sich im Osten ein in drei Apsiden endendes kastenförmiges ungegliedertes Querhaus anschließt, das durch seinen Mosaikschmuck als zentraler liturgischer Ort hervorgehoben ist. Auf Bauplastik am Außenbau scheint sowohl in Salerno als auch in Montecassino verzichtet worden zu sein. Der Fassade ist jeweils ein von Säulenarkaden umgebenes Atrium vorgelagert, an das sich seitlich ein 33
Das Siegel ( Abb. 34 ) stellt die Benediktsbasilika als Abbreviatur dar und ist insofern interpretationsbedürftig. Die dort gezeigte Befensterung muss nicht, unseren modernen Sehgewohnheiten folgend, die Disposition der Fassade wiedergeben, sondern kann auch als verkürzte Darstellung der mit Bogenfenstern versehenen Obergadenwand gelesen werden. Die Rose geht möglicherweise auf eine spätere Veränderung – etwa nach dem Erdbeben von 1349 – zurück.
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quadratischer mehrstöckiger Glockenturm anlehnt. Dagegen gewinnen nun die formalen Differenzen beider Bauten an Profil. Besonders auffällig sind die unterschiedlichen Dimensionen. Mit einer Gesamtlänge von knapp 80 m, einer Breite der drei Schiffe des Langhauses von 32 m und einer Höhe des Mittelschiffs von gut 23 m – bei einer Höhe der Arkadenscheitel von 7,50 m und Interkolumnien von etwa 4 m – ist der Salernitaner Dom um gut die Hälfte größer als die Benediktsbasilika. Dies mag angesichts der unterschiedlichen Funktionen beider Bauten nicht sonderlich überraschen. Immerhin sind die Abteikirche und die städtische Hauptkirche für eine wesentlich unterschiedliche liturgische Nutzung konzipiert. In Salerno teilen die über dreizehn Joche laufenden Arkaden das Langhaus im Verhältnis von etwa 1:2 ( die Seitenschiffe differieren in ihrer Breite ) in drei Schiffe. In Montecassino besteht die Stützenfolge aus je zehn Säulen und die Relation von Haupt- zu Seitenschiffen liegt bei 1:3 34. Bemerkenswert ist ferner, dass das Querhaus in Salerno über die Flucht der Seitenschiffswände deutlich hervorragt, was heute durch den späteren Anbau von Seitenkapellen verunklärt wird, während in Montecassino die Querhausstirnwände mit den Außenmauern der Seitenschiffe fluchten 35. Bei der Benediktsbasilika liegt das Fußbodenniveau des Presbyteriums beträchtlich über dem des Langhauses. Eine den Raumeindruck prägende Stufenfolge, wie sie Leo beschreibt, fehlt dagegen in Salerno. Gleichzeitig verzichtet man bei S. Matteo auf die Säulenstellung unter dem Triumphbogen und beiderseits der Hauptapsis, ein für die Abteikirche wichtiges Motiv, das durch die Sangallo-Pläne überliefert ist. Es findet seine Vorbilder in der stadtrömischen Sakralarchitektur der konstantinischen Zeit, auf die sich Desiderius in seiner Formenwahl bezieht, und wird in der normannischen Architektur Siziliens im 12. Jahrhundert zu einer Art Standardmerkmal 36. Dass man in Salerno auf diese markante Säulenstellung verzichtet, ist eine gestalterische Entscheidung und kann nicht etwa einem Mangel an Spolienmaterial geschuldet sein, welches dem Erbauer des Doms reichlich und in höchster Qualität zur Verfügung stand. Stattdessen sind die Salernitaner Apsiden U-förmig ausgewölbt. Die Hauptapsis ist nicht nur durch breite Wandstücke von den Nebenapsiden abgesetzt, sondern auch deutlich breiter, tiefer und höher als diese. Alle drei Apsiden weisen bei S. Matteo nur einzelne Fenster in den Scheiteln auf, die in zwei Registern übereinander angeordnet der Belichtung von Krypta und Ostbau der Oberkirche dienen. Dagegen sind die Apsiden des Desideriusbaus eng aneinandergerückt und verhältnismäßig flach. Die Hauptapsis ist nur geringfügig größer und mit zwei neben34
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Dass es genüge, den Salernitaner Dom zu betreten, um sich eine räumliche Vorstellung vom Desideriusbau zu verschaffen, wie etwa Günter Brucher, Die sakrale Baukunst Italiens im 11. und 12. Jahrhundert, Köln 1987, S. 312 f., vermutet und damit unkritisch die Behauptung Thümmlers ( wie Anm. 7 ) S. 213, übernimmt, ist durch die genannten Maße und Relationen unschwer als Konjektur zu entlarven. Dies zeigt der Grundriss der Gebrüder Sangallo, wohingegen moderne Grundrissrekonstruktionen die Rolle des Transepts offenbar dadurch möchten, dass sie es geringfügig über die Breite des Langhauses hervortreten lassen, wofür der archäologische Befund keinerlei Hinweise gibt; vgl. beispielsweise Giovanni Carbonara, Iussu Desiderii. Montecassino e l’architettura campano-abruzzese nell’undicesimo secolo, Rom 1979, S. 59, Abb. 8 ( Fig. 3 ). Die von zwei eingefalzt stehenden Säulen gerahmte Nische wird in der Forschung zumeist mit Rekurs auf mögliche Vorlagen in der islamischen Architektur ( Mihrab ) erklärt. Gegen diese einseitige Interpretation jetzt Christine Ungruh, Die normannischen Gartenpaläste in Palermo. Aneignung einer mittelmeerischen koiné im 12. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 51, 2007, S. 1–44.
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einander liegenden Fenstern versehen. Da Leo lediglich zwischen Bogenfenstern und oculi unterscheidet und nur deren ungefähre Position mitteilt, eine exakte Rekonstruktion des Aufrisses des Desideriusbaus also hypothetisch bleiben muss, ist auch in dieser Hinsicht ein Vergleich mit Salerno problematisch. Wir finden zwar im Transept von Salerno sechs Rundfenster, während Leo in der Benediktsbasilika vier zählt 37, und können für Montecassino eine Dreiergruppe schlanker Bogenfenster in den Querhausstirnwänden annehmen, wie sie in Salerno existieren; ob diese Parallele aber auch auf die jeweiligen Fassaden übertragen werden darf, muss offen bleiben. Der maßgebliche Unterschied ist schließlich die repräsentative Hallenkrypta des Salernitaner Dom, die sich unter dem Presbyterium ausdehnt, wodurch die nach Osten ausgewölbten Apsiden turmartig in die Höhe gestreckt werden. Diese eigens für die Bergung des Reliquienschatzes geschaffene Unterkirche fehlt in Montecassino, wo das Heiligengrab unmittelbar am Hauptaltar in den Boden gesenkt ist, ohne architektonisch akzentuiert zu sein. Das beim Desideriusbau rechteckig angelegte Atrium ( 76,5 mal 57,5 cubiti ) wird bei S. Matteo annähernd quadratisch konzipiert und erinnert seiner Form und seinen Proportionen nach vielmehr direkt an die frühchristlichen Großbauten Roms, AltSt.-Peter bzw. S. Paolo fuori le mura, als an Montecassino. Überhaupt ist fraglich, ob der Salernitaner Vorhof als vierseitige Arkadenanlage zum ursprünglichen Entwurf gehörte. Eine Analyse des Befundes dieses stark restaurierten Bauteils und die Identifikation von Baunähten, stumpf angesetzten Mauern und überschnittenen Profilen weist eher darauf hin, dass zunächst nur ein Narthex vor die Fassade gesetzt wurde. Diesen ergänzte man anschließend mit der sukzessiven Errichtung der übrigen Flügel zu einer Quadriportikus. Wenn die geringen stilistischen Differenzen der einzelnen Partien untereinander sowie die Errichtung des Campanile das Zeitfenster für diesen Anbau auf wenige Jahrzehnte eingrenzen lassen, muss doch offen bleiben, ob ein Atrium in seiner heutigen Form bereits als Teil des originalen, vom Stifter gebilligten Entwurfs angesehen werden darf 38. Ist in Salerno schon die ursprüngliche Gestalt der Außenwand des westlichen Atriumsflügels nicht mehr rekonstruierbar 39, fehlen doch auf jeden Fall die für Montecassino charakteristische repräsentative Freitreppe, die Eingangsportikus sowie die beiden Kapellentürme an den Ecken des Vorhofes 40. Natürlich dürfen wir im Mittelalter keine formgetreue Nachbildung erwarten, da das Verständnis der Kopie ein von der heutigen Auffassung wesentlich verschiedenes war – hierauf wurde bereits vielfach hingewiesen. Die Imitation mag sich auf nur we37
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Zwei dieser oculi beiderseits des Bogens der Hauptapsis wurden allerdings im Rahmen eines Planwechsels rasch wieder zugesetzt. Beleg dafür sind die die Öffnungen verdeckenden Fragmente des Mosaikschmucks, dessen Ausführung im Allgemeinen in die Zeit unmittelbar nach der Weihe gesetzt wird. Zur Datierung der Mosaiken Ernst Kitzinger, The First Mosaic Decoration of Salerno Cathedral, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 21, 1972, S. 154. Die Erstellung einer relativen Bauchronologie und die Unterscheidung der einzelnen Phasen bei Becker ( wie Anm. 27 ) S. 53 ff. ( Abb. 1 ). Möglicherweise ist auch der Narthex doppelstöckig zu rekonstruieren; vgl. Giorgio Rosi, L’atrio della cattedrale di Salerno, in: Bollettino d’Arte 33, 1948, S. 227 f. und S. 230, Abb. 7. Das Salernitaner Atrium wurde übrigens spätestens ab dem 13. Jahrhundert als Begräbnisstätte verwendet, während in Montecassino dort eine ausgedehnte gewölbte Zisterne angelegt war ( Chron. III 26 ), um die Wasserversorgung des auf dem quellenlosen Berg liegenden Klosters sicherzustellen. In der im 18. Jh. vorgeblendeten klassizistischen Fassade ist nur die Porta dei Leoni normannenzeitlich. Diese Elemente stellen in Montecassino einen formalen Bezug zur römischen Peterskirche her.
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nige, für den zeitgenössischen Betrachter wichtige oder besonders signifikante Merkmale des Vorbildes beschränken, um als Nachahmung gelten zu können. In dieser Hinsicht sind die Heiliggrab-Nachbauten oder die Kopien der Aachener Pfalzkapelle am häufigsten diskutiert worden. Campanien bietet mit S. Sofia in Benevent ein Beispiel. Über diesen Zentralbau des späten 8. Jahrhunderts informieren uns zeitnahe Quellen, dass mit ihm die Konstantinopolitaner Sophienkirche nachgebildet werden sollte 41. Die durch neuere bauarchäologische Untersuchungen heute in ihrem Ursprungszustand befriedigend rekonstruierbare Kirche weist allerdings kaum für den heutigen Betrachter erkennbare Gemeinsamkeiten zu ihrem großen Vorbild auf. Ohne die schriftliche Überlieferung wäre die Architekturgeschichte vermutlich nicht auf eine typologische Verbindung beider Bauten gekommen, die sich letztlich in der zentralen Organisation des überwölbten Raumes, der Existenz eines Umgangs, dreier Apsiden und vielleicht der Verwendung von Spolien erschöpft, zu der in funktionaler Hinsicht noch die Anbindung beider Kirchen an den benachbarten Herrscherpalast tritt. Nichtsdestotrotz macht die Gegenüberstellung von S. Matteo und dem Desideriusbau deutlich, dass eine Interpretation der Salernitaner Kirche als Imitation der Benediktsbasilika zu einfach ist, um dem Verständnis des Doms gerecht zu werden. Leo selbst hätte an geeigneter Stelle die Möglichkeit gehabt, eine formale oder ideologische Verwandtschaft beider Bauten hervorzuheben und dem Entwurf des Abtes jenen des Bischofs zur Seite zu stellen, wie dies die moderne Architekturgeschichte bisher getan hat. Stattdessen versteht sogar Leo bzw. sein Fortsetzer ( Chron. III 45 ) den Salernitaner Dom als fürstliche Stiftung 42. Nach wie vor bleibt zu klären, ob und in welchem Maß dem Desideriusbau überhaupt eine Vorbildfunktion für die campanische Sakralarchitektur zugeschrieben werden muss, d. h. ob die Ausstrahlungskraft der neuen Benediktsbasilika innerhalb der campanischen Kunstlandschaft tatsächlich so groß war, wie immer vorausgesetzt wird. Kehren wir dafür noch einmal zur Chronik von Montecassino und den anderen zeitgenössischen Texten zum Desideriusbau zurück. Die Forschung hat die dort minutiös aufgeführten Details zu Gestalt, Maßen und Schmuck der Benediktskirche zu Recht ausgiebig verwertet. Offenbar ist es aber bis heute versäumt worden, diese schriftlichen Zeugnisse kritisch auf ihren intentionalen Gehalt hin zu befragen. Es 41
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Die einschlägigen Quellenbelege sind Erchempert, Historia Langobardorum, hg. von Georg Waitz ( MGH SS rer. Lang. ) Hannover 1878, S. 236, Leo ( Chron. I 9 ), das Chronicon Vulturnense, hg. von Vincenzo Federici ( Fonti 58 ) Rom 1925, hier S. 353 f., sowie die Translatio Mercurii, hg. von Georg Waitz ( MGH SS rer. Lang. ) Hannover 1878, S. 576 f., wo es ganz unmissverständlich heißt: Arechis igitur princeps illustris, perfecta iam sancte Sophie basilica, quam ad exemplar illius condidit Iustiniane. Diese Parallele kann viel später noch durch Alfanus ( wie Anm. 20 ) carmen 13, Zeilen 971 ff., in seiner Beschreibung der Beneventaner Kirche aktualisiert werden. Er zitiert hier freilich wörtlich aus der wohl im 8. Jh. entstandenen , die er seinem Gesang einfügt ( MGH SS rer. Lang., S. 575 ): Hic dux Arechis pario de marmore templum / construxit, speciem cui tunc sine mole ferebat / Iustiniane, tuus labor omni pulchrior arce [ … ]. Civitate autem potita Robbertus ecclesiam sancti apostoli et evangeliste Mathei inibi construi iussit [ … ]. Hier und an anderen Stellen hätte Leo ohne weiteres einen Vergleich des Doms mit dem seiner Auffassung nach so bedeutenden Desideriusbau einfügen können. Das literarische Muster wäre in den Textstellen zur Verwandtschaft zwischen der justinianischen Hagia Sophia und der Beneventaner Sophienkirche – über die Leo selbst ein Memorandum ( ) verfasst hat – verfügbar gewesen; s. Anm. 41.
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wurde anscheinend übersehen oder als unwichtig erachtet, dass der Neubau der Cassineser Klosterkirche nur in einem Corpus von Texten Erwähnung findet, die in der Benediktinerabtei selbst oder in ihrem engsten Umkreis entstanden sind 43. Die übrigen zeitgenössischen Quellen schweigen auffällig 44. Eine Interpretation dieses Phänomens ist naheliegend: Die genannten Texte, darunter vorzüglich Leos Chronik, dienen in erster Linie der Selbstdarstellung der Abtei. Anspruch der Verfasser ist es, eine Geschichtsdeutung vorzunehmen, die ihre monastische Gemeinschaft in einem politisch höchst instabilen Ambiente vorteilhaft positioniert. Bekannterweise kann gerade Montecassino in dieser Hinsicht auf eine starke Tradition zurückblicken. Die Chronik Leos ist nicht nur Hauptzeuge für die Rekonstruktion eines verlorenen Denkmals, sondern auch – und in erster Linie – ein Instrument klösterlicher Propaganda mit dem Ziel, das Profil der Abtei in einer Phase des Wettbewerbs der neuen normannischen Herren, des erstarkenden Episkopats und der konkurrierenden Klöster im Zuge einer fundamentalen politischen und gesellschaftlichen Neuordnung der Region zu schärfen – ein Wettbewerb, der mit dem Phänomen der Kirchenreform oder der norman43
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Auch das bereits erwähnte Schreiben Michaels VII. Dukas darf ohne weiteres dieser Gruppe zugerechnet werden. Bei diesem Brief, der in seiner lateinischen Fassung durch Petrus Diaconus überliefert wird, ist mit einer inhaltlichen Überarbeitung zu rechnen, insbesondere in den Passagen, in denen auf die Bedeutung der neuen Abteikirche Bezug genommen wird. Peter Schreiner, Diplomatische Geschenke zwischen Byzanz und dem Westen ca. 800–1200. Eine Analyse der Texte mit Quellenanhang, in: Dumbarton Oaks Papers 58, 2004, S. 258, macht darauf aufmerksam, dass bei dieser Quellengattung – ein einziger byzantinischer Auslandsbrief ist überhaupt im Original erhalten – „grundsätzlich das Problem erhöhter Fälschung und Manipulation einzubeziehen“ ist. Spätestens seit der Monographie von Erich Caspar, Petrus Diaconus und die Monte Cassineser Fälschungen, Berlin 1909, genießt gerade Petrus Diaconus in dieser Hinsicht einen gewissen Ruf. Walter Berschin bezeichnete ihn deshalb einmal als „monastischen Geschichtenerzähler“; vgl. Walter Berschin, Salerno um 1100. Die Übersetzungen aus dem Griechischen und ihr byzantinisch-liturgischer Hintergrund, in: Michael Schneider – Walter Berschin ( Hgg. ), Ab oriente et occidente ( Mt 8, 11 ). Kirche aus Ost und West. Gedenkschrift für Wilhelm Nyssen, St. Ottilien 1996, S. 20. Zu den älteren Privilegien byzantinischer Herrscher für Montecassino als Machwerke des Mönches vgl. Bloch, Monte Cassino, Byzantium ( wie Anm. 2 ) S. 167. Den Inhalt des Briefes Michaels VII. hinterfragt Bloch, ebd., S. 195, dagegen nicht. Selbst der Eintrag im ( wie Anm. 29 ) S. 292, zu Desiderius ( Victor III. ) enthält keinen Hinweis auf die Bautätigkeit des Abtes. Soweit ich sehe, wird die Benediktsbasilika nur zweimal erwähnt: Johannes von Lodi überliefert in seiner zwischen 1076 und 1082 abgefassten den Besuch des eng mit dem Kloster verbundenen römischen Klerikers in Montecassino und schildert bei dieser Gelegenheit knapp die neue Abteikirche ( Migne PL 144, Sp. 140 ): Ipsum vero praefatum coenobium Casinense dum aliquando idem domnus Petrus ex more visitasset, cum esset ibi, beatissimi Benedicti basilica fundabatur; quae auro ac lapidibus modo adornata perspicue cernitur. Johannes, der Petrus Damiani auf seinen Reisen mehrfach begleitet hat, mag dabei aus der eigenen Anschauung schöpfen. Dennoch bleibt seine Beschreibung äußerst allgemein. Schwerpunkt seines Berichts ist dagegen die ausführliche Wiedergabe einer von Petrus im Kloster vorgenommenen Teufelsaustreibung. Im Itinerar des isländischen Abtes Nikolaus von MunkaPverá ( † 1159 ) nennt der Jerusalempilger den Bau als erste unter den zehn Kirchen der Abtei ( harum primaria est aedes s. Benedicti ) und fügt lediglich hinzu, dass Frauen dort der Zutritt verwehrt sei. Auf dem Epitaph des Anfang des 16. Jh. in die Abteikirche translozierten Desideriusgrabes, das Jean Mabillon 1685 noch sieht, ist dagegen nur allgemein verzeichnet: Abbas dehinc factus studui pro tempore totum / ut nunc adspicitur hunc renovare locum; s. ( wie Anm. 29 ) S. 292. Dass die neue Benediktsbasilika in den erhaltenen Quellen beinahe vollständig ignoriert wird, wirft wiederum die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Montecassineser Autoren, wie beispielsweise des Amatus auf, wenn derselbe in der bereits zitierten Stelle seiner Normannengeschichte ( III 52 ) von der Wirkung der Abteierneuerung auf das Kunstschaffen der Umgebung informiert.
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nischen Eroberung Unteritaliens nicht differenziert genug beschrieben werden kann. Neben der Fülle der für den Bauforscher so wertvollen Informationen stehen daher Topoi, Metaphern und andere poetische und rhetorische Figuren sowie nicht zuletzt eine Vielzahl von Werturteilen, die mehr oder weniger unbemerkt die wissenschaftliche Verwertung der bauhistorisch relevanten Daten beeinflussten. Eines dieser Werturteile, bei deren Interpretation immer größte Vorsicht geboten sein sollte, ist selbstverständlich die Einschätzung des Neubaus als ein weltweit wahrgenommenes Monument, das Leo nicht überraschend dem salomonischen Tempel angleicht und Alfanus wortgewaltig als Berg Sinai feiert 45. Zur Beantwortung der Frage, welche Wirkung die neue Benediktsbasilika entfaltete bzw. ob sie tatsächlich oder sogar ausschließlich Modellcharakter für Folgebauten hatte, kann eine derartige Rhetorik schwerlich beitragen. Gleich zu Beginn der Chronikpassage ( Chron. III 26 ) stellt Leo die Rolle des Desiderius als Initiator des Neubaus heraus, der nicht ohne göttliche Eingebung ( non sine divino instinctu ) den Plan fasst, die alte Abteikirche zugunsten einer neuen Basilika abzubrechen, die selbstverständlich schöner und größer werden soll 46. Trotzdem muss der Abt einen gewissen Widerstand der Mönche überwinden, um sein Projekt zu realisieren, das angeblich notwendig geworden sei, um einer stark gewachsenen Kongregation einen ausreichend dimensionierten Kultraum zu schaffen. Zur Hervorhebung der von Desiderius in Kauf genommenen Mühen dient auch die darauf folgende ausführliche Schilderung des beschwerlichen Transports von kostbaren Spolien an den Bauplatz 47. Beim Legen der Fundamente, womit im Bereich des Langhauses begonnen
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Alfanus ( wie Anm. 20 ) carmen 32, Zeilen 78 f.; es handelt sich hier um den bei Leo ( Chron. III 28 ) zitierten titulus in der Apsis der Basilika. Diese geläufige Rechtfertigung begegnet uns beispielsweise auch beim Neubau des Tarentiner Doms durch Erzbischof Drogo ( vermutlich 1070 ) nach einer im 12. Jh. abgefassten Chroniknotiz, die u. a. Joannes Junius, De antiquitate varia Tarentinorum fortuna, Neapel 1589, S. 208, überliefert. In der ( wie Anm. 15 ) Sp. 997 f., sagt Leo zusätzlich, dass der Vorgängerbau den Benediktreliquien nicht mehr angemessen gewesen sei. Der Verweis auf den göttlichen Auftrag findet sich beispielsweise bei päpstlichen Bauprojekten im , aber auch bei anderen Baubeschreibungen, wie der Abteikirche Saint-Bénigne, Dijon, die dem Chronisten zufolge mystico sensu geplant wurde; s. Victor Mortet ( Hg. ), Recueil de textes relatifs à l’histoire de l’architecture et à la condition des architectes en France au Moyen Âge, XIe-XIIe siècles, Paris 1911, ND Paris 1995, Nr. 6, S. 27. Die Länge der Beschreibung verdeutlicht, dass nicht nur der Wert antiker marmorner Bauglieder allein, sondern auch ihre aufwändige Beschaffung den besonderen Anspruch des Bauherrn vortragen konnte. Das bekannteste Beispiel ist Abt Sugers Bericht vom Neubau von Saint-Denis ( 20, in der Ausgabe von Andreas Speer – Günter Binding, Darmstadt 2000, S. 211 ). In der ( wie Anm. 15 ) Sp. 998, wiederholt Leo, dass die Spolien magno labore et non parvo pretio aus Rom herangebracht worden seien. Vergleichbar sagt Alfanus ( wie Anm. 20 ) carmen 32, Zeilen 130 ff.: Marmoreo foris est lapide / intus et ecclesiae paries / splendidus hic; tamen haud facile / ducta labore vel arte rudi / omnis ab urbe columna fuit, und ( carmen 54, Zeilen 35 f. ): Tribuit sua marmora Roma / quibus est domus ista decora. Die Verwendung von Spolien dürfte allerdings auch für die alte Benediktskirche – mit Blick auf vergleichbare Bauten, wie der Josuabasilika von S. Vincenzo al Volturno ( Anfang des 9. Jh. ) oder der Salvatorkirche ( Abb. 36 ) sowie S. Maria delle Cinque Torri in S. Germano ( spätes 8. bzw. Anfang des 9. Jh. ) – anzunehmen sein und gehört in der Region gewissermaßen zum Standard. Zur Ausstattung der Abteikirche von S. Vincenzo al Volturno vgl. Chronicon Vulturnense ( wie Anm. 41 ) S. 220 f.; von S. Maria s. Leo, Chron. I 11; von S. Salvatore s. Leo, Chron. I 17, sowie eine frühneuzeitliche Beschreibung, zitiert bei Pantoni, Una descrizione ( wie Anm. 26 ) S. 4 f. Schulz ( wie Anm. 6 ) S. 107, erwähnt, dass die in der
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wird, stößt man im zunächst ausgesparten alten Presbyterium ‚überraschend‘ auf das Grab des Ordensgründers ( subito venerabilem patris Benedicti tumulum repperit ) 48. Dieses Ereignis liefert nicht nur die willkommene Bestätigung, dass das ehrgeizige Bauprojekt des Abtes unter himmlischer Protektion steht, sondern versichert die Abtei noch einmal des Besitzes der wichtigsten Reliquien des Ordens, um den Montecassino bekanntlich mit Saint-Benoît-sur-Loire ( Fleury, Loiret ) seit der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts konkurriert 49. Das folgende Kapitel ( Chron. III 27 ) wird von der vielzitierten
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Marienkirche verbauten kannelierten Schäfte aus Granit bzw. Cipollin bestehen und „wie die bei allen ganz gleich scharfgezackten, corinthischen Capitäle einem antiken Gebäude entlehnt“ sind. Auch die Zufälligkeit von Reliquienfunden ist topisch. Dies belegt die Tatsache, dass in der ersten Bauphase das bereits im Vorgängerbau erhöhte Presbyterium zunächst geschont wird, obgleich, wie Leo vorher berichtet, Desiderius den Mönchen mit dem Bau einer Peterskirche die Kontinuität des Kults garantierte, der Ostbereich der Benediktsbasilika also nicht aus diesem Grunde zunächst unangetastet blieb. Die des Grabes scheint eher den Entschluss zu rechtfertigen, die Disposition eines um acht Stufen erhöhten Chores beizubehalten. Letzteres dürfte ein Zugeständnis an die mönchische Opposition gewesen sein, ohne das Desiderius sein Projekt nicht hätte durchsetzen können. Leo weist ausdrücklich darauf hin, dass die fratres und – dies ist bemerkenswert – als Fachleute anerkannte Laien ( alterioris consilii viris ) in den Entscheidungsprozess integriert werden. Ganz ähnlich äußert sich in seiner Normannengeschichte bereits Amatus ( III 52 ), der li sage home schon vom Beginn der Arbeiten an beteiligt sein lässt, so dass wir hier einen zuverlässigen frühen Beleg für die Hinzuziehung von nichtgeistlichen Experten in der Planungs- und Entwurfsphase eines Sakralbaus haben. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum VI 2, hg. von Ludwig Bethmann und Georg Waitz ( MGH SS rer. Lang. ) Hannover 1878, S. 165, und: Pauli continuatio tertia, hg. von Georg Waitz, ebd., S. 209; die Texttradition einer kann bis in das 8. Jh. zurückverfolgt werden; vgl. Joachim Wollasch, Benedictus abbas Romensis. Das römische Element in der frühen benediktinischen Tradition, in: Norbert Kamp – Joachim Wollasch ( Hgg. ), Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters, Berlin – New York 1982, S. 131; sowie Annalisa Belloni, La a Fleury e gli antichi monasteri dell’Italia settentrionale, in: Italia Medioevale e Umanistica 27, 1984, S. 1–16, hier S. 12 f. Um nachdrücklich darauf zu verweisen, dass sich die Benediktsreliquien in Saint-Benoît-sur-Loire befinden, fügt Hugo von Fleury 1110 der zweiten Fassung seiner , hg. von Georg Waitz ( MGH SS 9 ) Hannover 1851, S. 359, den ausführlichen Translations- und Mirakelbericht des Mönches Adrebald ein, den dieser im 9. Jh. für das Kloster verfasst hatte ( Migne PL 124, Sp. 913 ). Er steht damit ganz in der bemerkenswerten hagiographischen Tradition des Klosters ( Odo, Haimon u. a. ), das sich nicht nur in seinen Urkunden immer wieder als Ort bestimmt, ubi ipse sanctus Benedictus corpore requiescit, sondern auch seine Rechtsansprüche wiederholt mit dem Vorweis der Reliquien und der durch sie bewirkten Wunder durchzusetzen versteht. Hierzu, mit weiterer Literatur und den Stellenangaben, Barbara H. Rosenwein – Thomas Head – Sharon Farmer, Monks and Their Enemies: A Comparative Approach, in: Speculum 66, 1991, S. 778 ff. So kann dann in der von Fleury abhängigen, ab dem Beginn des 10. Jh. in Dokumenten fassbaren Prioratskirche von Perrecy-les-Forges ( Saône-et-Loire ) ein Partikel der Benediktsreliquie rekondiert werden; s. Kristina Krüger, Die romanischen Westbauten in Burgund und Cluny, Untersuchungen zur Funktion einer Bauform, Berlin 2003, S. 72. Schließlich gewinnt der Besitzanspruch auf den Körper des Ordensgründers in Saint-Benoît-sur-Loire auch monumentale Gestalt. Im ab 1067 neu errichteten Umgangschor der Abteikirche erscheinen die Wunder des Heiligen als Kapitellplastik, während das Tympanon des nördlichen Seitenportals die Translation der Reliquien nach Fleury narrativ illustriert. Leo ignoriert den bei Paulus Diaconus ( Hist. Lang. VI 2; wie Anm. 49, S. 165 ) geschilderten Diebstahl ( Franci, [ … ] ossa auferentes, in suam patriam adportarunt ), zitiert dessen ( VI 39 ) allerdings wörtlich, wenn er berichtet, dass der Neugründer von Montecassino, Petronax, die Mönche 717/18 ad sacrum beati Benedicti corpus zurückführt ( Chron. I 4 ); vgl. auch die , hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 3 ) Hannover 1839, S. 479. Dem folgt Petrus Diaconus in seiner Schrift ( Migne PL 173, Sp. 1080 ), indem er angibt, der fränkische Hausmeier Karlmann, der sich 747 nach seinem Ver-
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Stelle über die Anwerbung byzantinischer artefices für die Ausführung von Paviment und Wandschmuck eingeleitet 50. Als seien mit den Werkleuten auch gleich die grie-
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zicht auf die Herrschaft über den östlichen Reichsteil nach Montecassino zurückgezogen hatte, sei iuxta corpus beati Benedicti sepultus est. Die Lage des Heiligengrabes gibt Petrus ( Migne PL 173, Sp. 1064 ) vorher bereits genau an: Sepultus vero est in Casino, in templo ante altarium beati Baptistae Joannis. Als Pandulf IV. von Capua ( † 1049 ) im Zuge der Auseinandersetzung mit der Abtei de Casinensi vero claustro omnes fere monachos exsules fecit, paucos tantum qui vix duodecim possent complere lectiones, ad corpus beati Benedicti dimisit ( ebd., Sp. 1093 ); zu Petrus Diaconus ausführlich Paul Meyvaert, Peter the Deacon and the Tomb of Saint Benedict, in: Revue Bénédictine 65, 1955, 3–70. Bei Amatus ( I 30 ) finden wir die Schilderung eines Traumgesichts, in dem Benedikt dem erkrankten Kaiser Heinrich II. erscheint und ihm Heilung verspricht. Im Mittelpunkt des Dialogs steht, scheinbar etwas zusammenhanglos, die Verortung des Heiligengrabs nach Montecassino. Um ganz sicher zu gehen, fügt Amatus noch hinzu: Et en ceste parole se [ d. h. Benedikt ] moustre que, quant li os d’aucun saint sont translaté de un lieu en autre, toutes voiez lo lieu où a esté premerement pour la char, qui est faite terre, doit estre à l’omme en reverence. Leo verschärft diese Anekdote, indem er die Krankheit des Kaisers als Strafe bzw. Warnung Benedikts dafür auffasst, dass der Herrscher Zweifel am tatsächlichen Platz der Heiligengebeine hatte; in den historischen Zusammenhang gehört ein in Montecassino bewahrtes Diplom Heinrichs II. von 1022, hg. von Harry Bresslau und Hermann Bloch ( MGH DD H. II. ) Hannover 1900–1903, Nr. 474, S. 603, in dem das Kloster als Ort bezeichnet wird, in quo venerabilis patris nostri sanctissimi Benedicti corpus fovetur. Und Amatus beteuert ( III 51 ): [ … ] desouz l’autel où gist saint Benoit avec sa suer [ … ], und der Chronik zufolge kommt sogar Abt Hugo von Cluny ( † 1109 ) – der über die Verhältnisse in Fleury gut informiert gewesen sein dürfte – ad patris Benedicti limina valde devotus ( Leo, Chron. III 51 ). Auch die von Desiderius verfassten , hg. von Gerhard Schwarz und Adolf Hofmeister ( MGH SS 30, 2 ) Leipzig 1934, S. 1111 ff., sind als Teil dieses Diskurses zu verstehen, der seinen bildlichen Ausdruck in dem neuen Altarantependium findet, das der Abt in Konstantinopel anfertigen lässt und dessen Emails fere autem omnes beati Benedicti miraculorum ( Leo, Chron. III 32 ) in Szene setzen. Der bereits in Anm. 44 erwähnte isländische Benediktiner Nikolaus von MunkaPverá zählt dagegen lediglich die Reliquien auf, die in der dortigen Martinskirche rekondiert sind. Während Roger of Howden ( Benedikt von Peterborough ) um 1200 Montecassino im Besitz der Heiligengebeine weiß ( [ … ] nobilis abbatia, in qua requiescit corpus sancti Benedicti [ … ]; Ex gestis Henrici II. et Ricardi I., hg. von Reinhold Pauli [ MGH SS 27 ] Hannover 1885, S. 131 ), besteht für Jakob von Voragine um 1265 kein Zweifel daran, dass der Ordensgründer in Fleury ruht; vgl. Jacobus de Voragine, Legenda aurea, übers. von Richard Benz, Darmstadt 121997, 971 f. Eine kulturgeschichtlich interessante Analogie findet der Grabfund von 1066 nach dem Zweiten Weltkrieg, als im Trümmerschutt der Abteikirche im Zuge des Wiederaufbaus die Gebeine des Ordensgründers unter dem zerstörten Hochaltar entdeckt werden. Hierzu ausführlich Tommaso Leccisotti ( Hg. ), Il sepolcro di S. Benedetto ( Miscellanea Cassinese 27 ) Montecassino 1951. Der Montecassineser Mönch Tommaso Leccisotti sammelt ebd., S. 100 ff., die Quellenbelege, um zu zeigen, dass der Heilige durchgängig an diesem Ort geruht habe. Dass dieser Streit um den Reliquienschatz in Montecassino zur Zeit des Desiderius mit zunehmender Schärfe ausgetragen wird, zeigt einmal mehr das Bedürfnis der Abtei, ihren Rang im Gefüge konkurrierender Mächte mit allen Mitteln zu behaupten. Legatos interea Constantinopolim ad locandos artifices destinat peritos utique in arte musiaria et quadrataria, ex quibus videlicet alii absidam et arcum atque vestibulum maioris basilice musivo comerent, alii vero totius ecclesie pavimentum diversorum lapidum varietate consternerent. In der ( wie Anm. 15 ) Sp. 998, heißt es sogar: [ Desiderius ] ecclesiam mirificis operibus pene temporibus istis incognitis, artificibus ex diversis orbis partibus et ab ipsa quoque regia urbem Constantinopoli maximo aere conductis, docentissime decoravit. Hier rekurriert Leo wiederum auf Alfanus, der bereits in seinem Lob auf Desiderius ( wie Anm. 20, carmen 54, Zeilen 33 f. ) auf diese griechischen Meister eingegangen war: Varias quoque Graecia vestes / dedit artificesque scientes. Amatus berichtet ganz ähnlich ( III 52 ): Et pour ce qu’il non trova in Ytalie homes de cert art, manda en Costentinnoble et en Alixandre pour homes grex et sarrazins; pour aorner lo pavement de la eglize de marmoire entaillié et diverses paintures; laquelle nous clamons ; ovre pierre de diverses colors. Amatus spricht also von Griechen und sogar <Sarazenen>, die aus Konstantinopel bzw. Alexandria herbeigeholt werden, da man vergleichbare Spezialisten in Italien nicht finden könne. Dass tatsächlich muslimische Werkleute in Montecassino beschäftigt waren, ist angesichts der nie scharf getrennten ethnischen und religiösen Grenzen im südlichen Italien des 11. Jh.
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chischen literarischen Traditionen importiert worden, verwendet Leo die üblichen ekphrastischen Topoi, wenn er die figürlichen Darstellungen als lebend beschreibt oder den Buntmarmor mit einer Blumenwiese vergleicht ( cum et in musivo animatas fere autumet se quisque figuras et queque virentia cernere et in marmoribus omnigenum colorum flores pulchra putet diversitate vernare ) 51. Bei Alfanus ( carmen 32, Zeile 154 ) wird diese Ausstattung zum mare vitreum, ein in diesem Zusammenhang ungewöhnlicher Begriff, der der Vision des Johannes ( Apk 4, 6, und 15, 2 ) entnommen und daher in höchstem Maße theologisch aufgeladen ist: Die Abtei wird zum himmlischen Jerusalem 52. Der Wert der Mosaik-
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zwar nicht undenkbar, aber nur über diese kurze Notiz nicht zu beweisen. Dennoch wird diese Textstelle in der Forschung immer wieder gerne herangezogen, um angebliche islamische Einflüsse in der campanischen Architektur zu <erklären>. Ebenso in der ( wie Anm. 15 ) Sp. 998: Pavimentum vero totius ecclesiae tanta tamque mirifica et pene imeffemabili caesorum lapidum diversitate distinxit, ut non lapidibus, sed floribus solum vernare putes. Bloch, Monte Cassino in the Middle Ages ( wie Anm. 2 ) S. 92, bemerkt zu der Chronikstelle: „Leo of Ostia’s enthusiasm becomes unusually spirited, almost lyrical, when he describes the beauty of the pavement laid by the craftsmen from Constantinople.“ Für das Motiv selbst ist der locus classicus die Beschreibung der justinianischen Sophienkirche in Konstantinopel bei Prokopios von Caesarea, Peri ktismaton ( De aedificiis ) I 1. In Bezug auf Steinschmuck spricht auch Paulos Silentiarios, Ekphrasis 618 und Ambon 231 ( in: Prokopios, Werke 5, hg. von Otto Veh, München 1977, S. 338 und S. 370 ), von einer <Wiese> ( ). Mit Flüssen und Blumen vergleicht Kaiser Leo VI. um 900 das Marmorpaviment einer Kirche ( Homilie 34 ). Der sogenannte Theophanes continuatus ( III 43, 10. Jh. ) verwendet die Wiesenmetapher bei der Beschreibung des Opus-sectile-Bodens eines als « bekannten Saals im Grossen Kaiserpalast ebenso wie beim dortigen Chrysotriklinos, für den es heißt: ‚Der kunstverständige Kaiser ( Konstantin Porphyrogennetos ) machte es zu einem blumenreichen und duftenden Rosengarten, indem vielfarbige und zierliche, verschiedenartige Steinchen die Gestalt frisch gewachsener Bäume nachbildeten, die, von gewundenen Verschlingungen umschlossen und durch die Zusammenfügung gebildet, ganz unvergleichlich sind‘ ( Übersetzung nach Jean Paul Richter, Quellen der byzantinischen Kunstgeschichte, Wien 1897, Nr. 837, S. 316, wo die Stelle irrtümlich Liutprand von Cremona zugeschrieben ist ). Im 12. Jh. greift Philagathos von Cerami ( Homilie 27 ) die Metapher in Bezug auf das Paviment der palermitanischen Cappella Palatina ebenso auf, wie auch das altfranzösische Epos in der Darstellung eines fiktiven Palastes; vgl. Margaret Schlauch, The Palace of Hugon de Constantinople, in: Speculum 7, 1932, S. 502. Wilhelm von Oldenburg, Peregrinatio, vergleicht Anfang des 13. Jh. im Rahmen seiner Schilderung eines Beiruter Palastes die verschiedenfarbigen Marmorsorten eines Brunnens mit bunten Blumen ( hg. von Johannes C. M. Laurent, Leipzig 1924, S. 167 ). Die stilistische Pointe liegt bei Wilhelm darin, dass er sich bei der Beschreibung eines Wasserbeckens der Wiesenmetapher bedient, in der vorausgehenden Schilderung des Fußbodens der Halle aber denselben mit dem Meer gleichsetzt; letzteres ist wiederum in der byzantinischen Literatur vorgebildet. In diese Tradition stellt sich Anfang des 12. Jh. schon Balderich von Bourgueil ( s. Anm. 52 ). Die früheste Referenz des Wiesenvergleichs scheint Horaz ( Ep. I 10 ) zu sein, der ihn allerdings im Rahmen der ihrerseits topischen Villen- bzw. Luxuskritik einsetzt. Die Bedeutung des Schmuckfußbodens – und damit auch die Rechtfertigung, ein Paviment ausführlich zu schildern – leitet sich aus dem biblischen Bericht des Tempelbaus nach 2 Chr 3, 6, her, wo es von Salomon heißt: Stravit quoque pavimentum templi pretiosissimo marmore decore multo. Die poetische Überhöhung des Neubaus wird besonders deutlich im carmen 54 ( wie Anm. 20 ), einem Akrostichon auf Desiderius, wo es von den verwendeten kostbaren Materialien heißt ( Zeilen 29 ff. ): Ibi sardius et chrysoprassus / nitet ac speciosa smaragdus / simul emicat his amethistus / radiat pretiosa iacynthus. Dieser Edelsteinkatalog ist ebenfalls eine Anspielung auf das endzeitliche Jerusalem in Apk 21, 19 ( smaragdus ) und 20 ( sardis, chrysoprasus, hyacinthus, amethystus ). In der Beschreibung eines von Bischof Maximian ( 6. Jh. ) in Ravenna gestifteten Kreuzreliquiars werden sicher nicht zufällig bereits dieselben Steine aufgeführt: Crucem [ … ] preciosissimis gemmis et margaritis ornavit, iachintos et amethistos et sardios et smaragdos, [ … ]; Agnellus, Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis ( 1. Hälfte des 9. Jh. ), hg. von Oswald Holder-Egger ( MGH SS rer. Lang. ) Hannover 1878, S. 332. Nicht zuletzt zeigt ein weiterer Text des Amatus, wie ak-
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und Inkrustationsarbeiten wird aber besonders durch Leos Behauptung gesteigert, seit über 500 Jahren seien diese Techniken im Westen nicht mehr geübt worden 53. Diese Zeitangabe weist nicht nur vage in eine entfernte Vergangenheit, sondern wohl nicht zufällig in die letzten Lebensjahre des Ordensgründers, zu dessen Verehrung Desiderius den Bau errichtet. Leo lehnt sich hier, wie bei vielen Wendungen, an die zeitgleich mit dem Neubau verfassten Texte des Alfanus an. Dort ist allerdings von 450 Jahren, die seither vergangen seien ( lustra decem novies redeunt ) 54, die Rede. Kunstgeschichtlich entbehrt diese Aussage in beiden Fällen jeder Grundlage, wie als bekannteste Beispiele schon die Aachener Pfalzkapelle oder die unter Paschalis I. ( 817–824 ) reich mit Spolien, Mosaiken und Opus-sectile-Boden ausgestattete Zenokapelle von S. Prassede in Rom 55 belegen. Wohl für die zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts weisen die allerdings erst über dreihundert Jahre später geschriebenen für die Abteikirche von Saint-Bertin ( Saint-Omer, Pas-de-Calais ) pavimenta multi coloris petrarum iunctura nach 56. Ebenfalls in das 7. Jahrhundert fällt die in den geschilderte Ausschmückung des Chores von Saint-Ger-
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tuell das im gesamten Mittelalter wichtige Thema der Edelsteinikonographie im Montecassino des späten 11. Jh. war. Der bei Petrus Diaconus, De viris illustribus casinensibus monasterii opusculum, hg. von Ludovico Antonio Muratori, Rerum Italicarum Scriptores 6, Mailand 1725, Sp. 36, im Werkkatalog des Mönches aufgeführte und von Anselmo Lentini, Il ritmo e il di Amato, in: Benedictina 12, 1958, S. 23 ff., herausgegebene und dem Autor zugeschriebene Rhythmus verklammert die Beschreibung und Deutung der Steine mit einem Lob auf das himmlische Jerusalem, haec tibi sunt fundamina ( ebd., S. 26 ). Die enge Verschränkung der klösterlichen Textund Bildpropaganda wird besonders augenfällig, wenn man berücksichtigt, dass die oben genannten Verse des Alfanus das Lektionar Vat. lat. 1202 ( s. Anm. 30 ) einleiten, welches die Viten der frühen Ordensheiligen Benedikt, Maurus und Scholastica enthält und mit jenem Dedikationsbild ( Abb. 35 ) versehen ist, auf dem Desiderius auch als Stifter von Kirchenbauten in Erscheinung tritt. Möglicherweise wurde der Codex sogar anlässlich der Weihe des Neubaus gestiftet. Die Wendung mare vitreum nimmt übrigens Balderich von Bourgueil in seiner versifizierten Beschreibung der Gemächer der Adele von Blois wieder auf, wo der Begriff allerdings profaniert und nur noch als Wortspiel verwertet wird; s. Baldricus Burgulianus, Carmina, hg. von Karlheinz Hilbert, Heidelberg 1979, S. 168. Et quoniam artium istarum ingenium a quingentis et ultra iam annis magistra Latinitas intermiserat et studio huius inspirante et cooperante Deo nostro hoc tempore recuperare promeruit ( Chron. III 27 ). Alfanus ( wie Anm. 20 ) carmen 32, Zeile 145. Hier käme man etwa in die Zeit Gregors des Grossen ( † 604 ), jenem ersten und bedeutendsten Biographen Benedikts, dem die Altarstelle in der südlichen Nebenapsis des Desideriusbaus geweiht war ( Leo, Chron. III 27 ) und in dessen literarische Nachfolge sich Desiderius mit seinen absichtsvoll stellt; vgl. die Einleitung zur Textedition von Gerhard Schwartz ( wie Anm. 49 ) S. 1113. Das Bewusstsein für die mythische Frühzeit des Klosters kommt auch in der Wahl der Versinschriften im Atrium zum Ausdruck, die dem Enkomion auf Benedikt des Marcus von Montecassino ( 6. Jh. ) entnommen sind ( Leo, Chron. III 28 ). Zu S. Prassede vgl. ( wie Anm. 29 ) S. 54 f. Das Beispiel der Zenokapelle führt bereits Bertaux ( wie Anm. 7 ) 1, S. 175, in diesem Zusammenhang an. Weitere Belege von anspruchsvollen Mosaikarbeiten im Rom des 9. Jh. im ( wie Anm. 29 ) S. 76 und S. 113. Eine Übersicht der in und um Rom ( Farfa ) erhaltenen Beispiele aus dieser Zeit gibt Charles McClendon, The Revival of opus sectile Pavements in Rome and the Vicinity in the Carolingian Period, in: Papers of the British School at Rome 48, 1980, S. 157–165. Schon Luigi Tosti, Storia della badia di Montecassino 2, Neapel 1842, S. 332 f., äußert grundlegende Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Chronikstelle. Gesta abbatum s. Bertini Sithiensium, hg. von Georg Waitz ( MGH SS 13 ) Hannover 1881, S. 608. Das bei Hiltrud Kier, Der mittelalterliche Schmuckfußboden unter besonderer Berücksichtigung des Rheinlandes, Diss., Düsseldorf 1970, Abb. 354, gezeigte Paviment datiert dagegen in das frühe 12. Jh.
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main in Auxerre ( Yonne ) ex musivo et aureo 57. Im letzten Drittel des 8. Jahrhunderts lässt Arichis II. seinen Palast in Salerno mit Mosaiken schmücken 58; Reste eines aufwändigen Paviments aus Buntmarmor und Goldglas wurden vor einigen Jahren bei Grabungen in der dortigen Hofkapelle S. Pietro a Corte entdeckt. Der anonyme Autor des im 10. Jahrhundert verfassten berichtet darüber hinaus von der Verlegung eines Schmuckfußbodens im Dom von Salerno unter Bischof Bernard ( 849–60 ) und hält es für geboten, die hier verwendete Tesseratechnik ausdrücklich von einfacheren Estrichbelägen abzusetzen 59. Aus dem frühen 11. Jahrhundert datieren vermutlich die erhaltenen Reste eines Opus-sectile-Bodens in der Außenkrypta von Saint-Germain 60, während Teile des Stiftmosaiks der Abteikirche von Pomposa ( Ferrara ) durch eine Inschrift auf 1026 datiert werden können 61. Etwa gleichzeitig mit der Fertigstellung des Desideriusbaus entstehen dann das Bodenmosaik im Chor des Doms von Acqui ( inschriftlich datiert auf 1067 ) sowie das Paviment in S. Marco, Venedig ( 3. Viertel des 11. Jahrhunderts ). Nicht zuletzt berichtet Leo selbst ( Chron. II 3 ), dass Mitte des 10. Jahrhunderts im Zuge der Wiederherstellung des Klosters unter Abt Aligern ( 948–985 ) der Fußboden vor dem Benediktsaltar der Abteikirche multimoda lapidum varietate gestaltet wird 62. Die in Chron. II 32 erwähnte Ausschmückung der Hauptapsis der Benediktsbasilika auro diversisque coloribus unter Abt Atenulf ( † 1022 ) könnte ebenfalls auf eine Mosaizierung hinweisen, da das verwendete Verb depingere unterschiedslos für Musive und Fresken benutzt werden konnte. Jedenfalls ist es Desiderius möglich, bereits einige Zeit vor dem Baubeginn der Basilika den neuen Kapitelsaal auch ohne die Hilfe fremder Spezialisten mit einem marmornen Schmuckfußboden auszustatten 63. Allein für das 10. Jahrhundert werden die Nachweise spärlich, wofür allerdings Überlieferungs- und Forschungslücken verantwortlich sein können. Diese knappe und alles andere als vollständige Liste an Beispielen belegt, dass von einem Verschwinden oder Vergessen der entsprechenden handwerklichen oder künstlerischen Kenntnisse und Fertigkeiten keine Rede sein kann, auch wenn Leo noch einmal wiederholt, dass sie hactenus partibus istis incognita waren ( Chron. III 28 ). Die von Leo und Alfanus gleichermaßen beabsichtigte Evokation einer durch Desiderius eingeleiteten neuen künstlerischen Ära entfaltete dennoch eine erstaunliche Wirkung, der sich auch die moderne Bauforschung nicht zu entziehen vermochte. Leos Ekphrasis findet ihren Höhepunkt in der mit großem Aufwand vollzogenen Weihe des Neubaus, die Papst Alexander II., unterstützt von drei Kardinalbischöfen, 57 58
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Migne PL 138, Sp. 242. Chronicon Salernitanum, S. 19 und S. 22, zitiert nach der Ausgabe von Ulla Westerbergh, Stockholm 1956. Etwa für die gleiche Zeit berichtet der Codex Laureshamensis von der Verlegung eines Marmorfußbodens um den Hochaltar der Lorscher Abteikirche ( nach Charles McClendon, The Origins of Medieval Architecture, Building in Europe, A.D. 600–900, New Haven – London 2005, S. 101 ): Abt Richbod pavimentum etiam coram altari vario stratum marmore sublimavit. Dies ist eines der frühesten Zeugnisse für diese Technik nördlich der Alpen. Chronicon Salernitanum ( wie Anm. 58 ) S. 100. McClendon ( wie Anm. 58 ) S. 179. Kier ( wie Anm. 56 ) Abb. 327; vgl. auch eine Stelle aus dem , zitiert bei Otto Lehmann-Brockhaus, Schriftquellen zur Kunstgeschichte des 11. und 12. Jahrhunderts für Deutschland, Lothringen und Italien, Berlin 1938, Nr. 2365, S. 502. Leider gibt die Stelle keinen Hinweis auf Material oder Technik. Leo, Chron. III 10: [ … ] ac pulchro satis variorum marmorum pavimento decorans [ … ].
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vornimmt ( Chron. III 29 ). In Chronik und ist die Liste illustrer Gäste, wenn auch mit kleinen Unstimmigkeiten, gleich doppelt vorgelegt. Bis auf Robert Guiscard sind auch alle wichtigen weltlichen Machthaber der Region versammelt. Leo versäumt es aber nicht, den Normannenherzog ausdrücklich zu <entschuldigen>, der durch die Belagerung Palermos unabkömmlich gewesen sei. Diese Notiz ist natürlich politisch motiviert, da zur Zeit der Abfassung der Chronik um 1100 die Dynastie Roberts mit seinem Sohn Roger Bursa etabliert war und als Machtfaktor in das Kalkül der an einer guten Beziehung zum Herzog interessierten Abtei einbezogen werden musste. Der Umfang der anschließenden Festlichkeiten ist in der Tat beeindruckend und es gibt keinen Grund, an den Angaben des Textes zu zweifeln. Vergleiche zeigen aber, dass derartig hochrangig besetzte Zeremonien in dieser Zeit nicht außergewöhnlich waren. Anfang 1060 wird in Florenz der Neubau von S. Lorenzo durch Papst Nikolaus II., „umgeben von einem glänzenden geistlichen Hofstaat“ presente Florentino populo geweiht 64. Im Dom S. Sabino von Canosa ( Bari ) hat sich eine heute neben dem Eingang zur Sakristei eingelassene Weiheinschrift erhalten, die ein Teilnehmerverzeichnis bietet, das sich mit dem Leos durchaus messen kann 65. Nach dem Text der Weiheurkunde des Doms S. Maria Assunta von Otranto ( Lecce ) sind anlässlich der gleichen Gelegenheit fünf Erzbischöfe, darunter jener von Benevent als päpstlicher Legat, astante cleri et populi moltitudine copiosa anwesend 66. Die beiden letzten Dokumente weisen, ähnlich wie die Chronik, den in Zusammenhang mit der Teilnahme an diesen Weihen gewährten Ablass aus. In jedem dieser Fälle können wir nur vermuten, wie die Forschung den Rang dieser Ereignisse einschätzen würde, hätten sie jeweils ebenso begabte Chronisten gefunden. Leos schriftstellerische Ambitionen lassen sich sehr schön an der Parallelisierung der neuen Abteikirche mit dem salomonischen Tempel demonstrieren. Diese traditionsreiche Analogie entwickelt der Chronist zu einer Art Leitmotiv 67, indem er den To64
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Robert Davidsohn, Geschichte von Florenz 1, Berlin 1896, S. 217. Der Text der Weiheurkunde, der neben fünf Kardinalbischöfen auch die Anwesenheit des Desiderius, in seiner Eigenschaft als Kardinalpriester, und des Erzdiakons Hildebrand, dem späteren Gregor VII., bezeugt, findet sich u. a. bei Pier Nolasco Cianfogni, Memorie istoriche dell’ambrosiana r. basilica di S. Lorenzo di Firenze, Florenz 1804, S. 199 f. Neben Papst Paschalis II. immerhin drei Kardinalbischöfe sowie dreizehn weitere namentlich aufgeführte Erzbischöfe, dazu plures alii archiepiscopi, episcopi et abbates et multorum aliorum clericorum congregatio copiosa. Die zuverlässigste Wiedergabe des Wortlauts bietet meines Erachtens Schulz ( wie Anm. 6 ) S. 55 f. Den Urkundentext gibt Luigi Maggiulli, Ricordi di Otranto, Lecce 1893, S. 372 f. Sehr passend ist Eusebius von Caesarea, der in seiner Kirchengeschichte ( Hist. Eccl. X 4, 3 und 45 ) die Kathedrale von Tyrus mit dem Tempel vergleicht und bei dieser Gelegenheit den Bischof Paulinus als neuen Salomon anspricht, während Flavius Cresconius Corippus, In laudem Iustini Augusti minoris libri IV, hg. von Joseph Partsch ( MGH AA 3, 2 ) Berlin 1879, S. 154, Justin II. dem biblischen König überlegen sein lässt. Diese Variante geht auf die Überlieferung von Justinians Ausruf beim Anblick der neuen Sophienkirche, er habe Salomon übertroffen, zurück ( Michael Glykas, Weltchronik IV 495, 12. Jahrhundert ). Den Überbietungstopos ( Justinian – Kyros ) benutzt auch Prokopios, De aedificiis I, 1 ( wie Anm. 51 ) allerdings nicht bezogen auf die Bauten beider Herrscher. Paulus Diaconus, der sich einige Zeit als Mönch in Montecassino aufhielt, bemüht den Tempelvergleich in seinen Versen für die salernitanische Hofkapelle; s. Ferdinando Ughelli, Italia sacra 7, Venedig 21721, Sp. 359: Regnator tibi summe decus trinominis ille / Hebrae gentis Solymis construxit asilum. Der Verfasser des macht es sich leicht, indem er in der Passage aus 1 Reg 10, 4 den Namen Salomons einfach mit dem
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pos mit außergewöhnlichem Nachdruck immer wieder aufgreift. Bereits in der dem Chroniktext vorangestellten Epistola erhebt Leo die Benediktsbasilika zum biblischen Tempel und Desiderius, dem er sein Werk widmet, zum alter Salomon 68. Wohl deswegen wählt der Autor in seiner Baubeschreibung den cubitus ( Elle ) als Längenmaß 69, zitiert er damit doch unmissverständlich die Vulgataversion der alttestamentlichen Vorlage ( 3 Kg 6, 2 ff., bzw. 2 Chr 3 und 4 ), in der die Errichtung des Jerusalemer Tempels geschildert wird, wobei die stetige Wiederholung der Maßangaben die Authentizität des Gesagten sichern soll. Gleichsam zwischen den Zeilen knüpft Leo damit auch an die Vision Ezechiels ( Ez 40–42 ) an, durch die wiederum eine Brücke zur Johannesapokalypse und damit zum endzeitlichen Jerusalem geschlagen wird – dessen Mauern in Apk 21, 17 ebenfalls in cubiti vermessen werden! Vergleichbare mittelalterliche Quellen bedienen sich dagegen oft des Fußes ( pes ), wenn es darum geht, Länge, Breite und Höhe von Bauten zu nennen. 70 Neben der Frankengeschichte des Gregor von Tours,
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des Fürsten Arichis ersetzt; s. Chronicon Salernitanum ( wie Anm. 58 ), S. 19. Dies zeigt auch, dass dieser Vergleich offenbar zu den Gemeinplätzen der langobardischen literarischen Kultur zählte. In der Edition von Hoffmann ( wie Anm. 16 ), S. 9. Alfanus ( wie Anm. 20 ) carmen 32, Zeilen 180 ff., wiederholt dagegen die topische Überbietung, wenn er den Neubau des Desiderius sowohl dem Werk Salomons, als auch den atria Justinians überlegen rühmt. Ob hier auf die Kultbauten oder die Paläste beider Herrscher angespielt wird, bleibt auch durch die Nennung des des Kyros ambivalent, da dem Begründer des persischen Reiches bekanntlich auch die Initiative zur Wiedererrichtung des Jerusalemer Tempels zugeschrieben wird ( 2 Chr 22 f. bzw. 1 Esr 1, 2–4; vgl. auch Josephus Flavius, Ant. Iud. XI 6 ). Eusebius ( Hist. Eccl. X 4, 3 und 36 ) stellt in seinem Panegyrikus auf Paulinus dem salomonischen Tempel den Neubau unter Kyros zur Seite, wenn er den Bischof wegen seines Kirchenneubaus als neuen Zerubbabel ( « Z ) bezeichnet; vgl. Anm. 67. Will Alfanus hier eine Abfolge von Bauten konstruieren, die den beiden Tempeln des Alten Testaments die Sophienkirche als dritten und die neue Benediktskirche als vierten Tempel anschließt? Analog dazu versucht Leo, Desiderius als vierten constructor des Klosters zu inszenieren, indem er den Abt der Reihe Benedikt ( als Gründer und Stifter des ersten Oratoriums ) – Petronax ( unter dem die Abtei nach der Zerstörung durch die Langobarden wiederhergestellt wird ) – Aligern ( der Montecassino nach der sarazenischen Razzia neu errichtet ) hinzufügt; vgl. Hoffmann ( wie Anm. 16 ) S. 8 f., und ( wie Anm. 15 ) Sp. 997. Leo verwendet in der gesamten Chronik durchgängig die Maßeinheit cubitus, nie aber mit einer derart auffälligen Dichte wie bei der Beschreibung der neuen Benediktsbasilika. Neben der weiteren Bautätigkeit des Desiderius, z. B. bei der bereits vorher in Angriff genommenen Umgestaltung der Abtswohnung ( Chron. III 10 ), der Martinskirche ( Chron. III 34 ) sowie dem Benediktinerkloster in Capua ( Chron. III 55 ) fällt der Begriff im Zusammenhang mit Projekten seines Nachfolgers Oderisius ( Andreaskirche und Fremdenhospiz, Chron. IV 3 ), aber ebenso für das unter Abt Richerius ( † 1055 ) errichtete palatium ( Chron. II 89 ), die von Montecassino abhängige Kirche des Klosters S. Liberatore a Maiella ( Chron. II 52 ) und bei der Beschreibung der Salvatorkirche von S. Germano ( Chron. I 17 ). S. Salvatore war Teil des eigentlichen wirtschaftlichen und Verwaltungszentrums von Montecassino am Fuß des Berges und lange Zeit die größte Kirche des Klosters. Bemerkenswert ist, dass ihre Breite und Höhe ( 43 bzw. 28 cubiti ) exakt den von Leo gegebenen Maßen des Desideriusbaus entsprechen. Lediglich in ihrer Längenerstreckung ist die Salvatorkirche mit nur 82 cubiti etwa um ein Viertel kürzer als die neue Benediktsbasilika. Gregor von Tours, Libri historiarum II 14 ( Tours ) und II 16 ( Clermont ), hg. von Bruno Krusch ( MGH SS rer. Merov. ) Hannover 1937, S. 63 f. Den Fuß ( pes ) als Maßeinheit finden wir dann im <Memoratorium de mercedibus Commacinorum>, dem Gesetz über Bauleute des Langobardenkönigs Liutprand ( 1. Hälfte des 8. Jh. ), hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH LL 4 ) Hannover 1868, S. 177 ff. Weitere Referenzen: Die zu Klosterbauten in Saint-Wandrille, Rouen, im 1. Drittel 9. Jh., hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 2 ) Hannover 1829, S. 270; eine Textvariante der <Epitome vitae Roberti regis> des Mönches Helgaud bei der Beschreibung von SaintAignan, Orléans ( um 1010–29, Mortet, Recueil [ wie Anm. 46 ] Nr. 13, S. 56 ); in der Schilderung des
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die in dieser Hinsicht eine Fundgrube ist, sei vor allem an jene ihrer Ausführlichkeit und ihres Entstehungskontextes wegen mit dem Montecassineser Text sehr gut vergleichbare, wenn auch unprätentiöse Baubeschreibung erinnert, die dem im 11. Jahrhundert entstandenen beigefügt ist 71. Der Verfasser der Schrift, die ein Idealkloster wohl nach dem Vorbild von Cluny entwirft, verwendet durchgängig die Maßeinheit pes. Dass Leo die architektonische Erneuerung Montecassinos unter Desiderius am Vorbild des biblischen Tempelbauberichts konstruiert, hebt er an dieser Stelle seines Textes noch einmal deutlich hervor, indem er unvermittelt die Schilderung des Besuchs der Gattin Kaiser Heinrichs III., Agnes, in Montecassino 1072/73 einschiebt. Leo folgt zwar dem tatsächlichen chronologischen Ablauf, doch wirkt der Bericht des Ereignisses hier zwischen der Schilderung des Kirchenbaus und jener der Errichtung weiterer Klostergebäude zunächst isoliert. Agnes wird für Leo jedoch zur Königin von Saba nach 1 Kg 10, 4 bzw. 2 Chr 9, 3, die von der Begierde getrieben ist, hier den neuen Salomon und den neuen Tempel zu sehen 72. Das historische Faktum wird über seinen deskriptiven Gehalt hinaus zweckbestimmt funktionalisiert. Sollte
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Neubaus der Kathedrale von Canterbury ( 1070–1184, Höhe der Arkadenscheitel in pedes, Mortet, Recueil [ wie Anm. 46 ] Nr. 66, S. 223 ); sowie im ( 1034 ); s. LehmannBrockhaus ( wie Anm. 61 ) Nr. 1834, S. 368 f. Eine Alternative bietet das ( wie Anm. 41 ) S. 221, wo die Abteikirche von S. Vincenzo al Volturno in passus vermessen ist. – Dagegen findet sich der cubitus nur bei der Beschreibung des Neubaus von Saint-Bénigne, Dijon, im etwa 1060 redigierten , vgl. Mortet, Recueil ( wie Anm. 46 ) Nr. 6, S. 26 ff., mit einer dem Text der Chronik von Montecassino vergleichbaren Häufigkeit. In der taucht er dagegen nur ein einziges Mal bei der Beschreibung der vom Eremiten errichteten cella auf; Lehmann-Brockhaus ( wie Anm. 61 ) Nr. 2125, S. 440 f. Der Text nimmt im Übrigen auf eine unter Hieronymus’ Autorschaft laufende Heiligenvita Bezug, in der in einem gleichen Zusammenhang wiederum pedes als Maß dienen ( Vita b. Hilarionis, in: AA SS, Oct. IX, dies 21, S. 44 ). Schließlich wird in der gegen 1040 verfassten der cubitus für eine Höhenangabe verwendet. Hier geht es allerdings um die Schilderung eines Unfalls, der sich bei Bautätigkeiten in der Abtei von Saint-Benoît-sur-Loire zuträgt, vgl. Mortet, Recueil ( wie Anm. 46 ) Nr. 7, S. 35. Im Montecassineser Umfeld begegnet das Maß in der ( um 1127 redigierte Fassung, hg. von Paul Gerhard Schmidt, in: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main 35, Nr. 4, Stuttgart 1997 ), wo der Visionär auf seiner Jenseitswanderung eine eiserne Leiter sieht, deren Länge nicht zufällig mit 365 cubiti angegeben wird ( ebd. S. 173 ). Die Wahl dieses Begriffs ist hier umso bemerkenswerter, als Alberich kurz vorher Bäume schildert, deren Höhe sexaginta brachiorum beträgt ( ebd. S. 171 ). Wilhelm Schlink, Saint-Bénigne in Dijon, Untersuchungen zur Abteikirche Wilhelms von Volpiano ( 962–1031 ) Berlin 1978, S. 178, bemerkt lapidar, dass der cubitus eine „im hohen Mittelalter eher selten verwendete Maßeinheit“ sei. Der Autor führt mit der Baubeschreibung der Kathedrale von Clermont ( um 1000, Maße eines Portals ) und den consuetudines von St. Maximin in Trier zwei weitere vereinzelte Beispiele an. Historiae Farfenses, hg. von Ludwig Conrad Bethmann ( MGH SS 11 ) Hannover 1854, S. 546 f. Chron. III 31: [ … ] velut altera regina Saba Salomonis alterius et alterius templi magno videndi desiderio ducta [ … ]. Diese Stelle ist einer stilistisch subtil komponierten Passage entnommen, die Leos literarischen Ehrgeiz sichtbar werden lässt. Dazu gehört natürlich auch das Wortspiel Desiderius – desiderio. Dem Chronisten gelingt es sogar, durch eine an Matthäus ( Mt 12, 42 ) angelehnte Wortwahl versteckt einen Überbietungstopos anzubringen. Aus dem venit a finibus terrae des Evangelisten wird bei Leo ein ex ultimis huc Germaniae finibus adventavit. Im hier zitierten Evangelium fährt der Text dann fort: et ecce plus quam Salomon hic! An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es hier nicht um einen weiteren Beitrag zu einer Symbolik des Kirchengebäudes geht, sondern darum aufzuzeigen, welcher Strategien sich der Verfasser einer Klosterchronik bedient, um die eigene monastische Gemeinschaft über die Schilderung historischer Sachverhalte zu nobilitieren.
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nicht auch bereits das von Desiderius gewählte Weihedatum, der 1. Oktober, auf den salomonischen Tempel anspielen 73? Die Textanalyse zeigt, dass die Chronik und die übrigen mit ihr in Zusammenhang stehenden literarischen Zeugnisse bisher zu einseitig auf ihren bauhistorischen Gehalt gelesen wurden. Dabei akzeptierte man Wertungen ebenso als Tatsache wie Angaben zur Gestalt der romanischen Abteikirche. Die Werturteile dienen jedoch der Intention des Chronisten, den Bau und seinen Bauherren – und damit die gesamte monastische Gemeinschaft – in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen, indem sie die neue Benediktsbasilika und ihren Schöpfer Desiderius glorifizieren. Wie hartnäckig die klösterliche Propaganda betrieben wurde, demonstriert Petrus Diaconus in seiner Kurzbiographie des Landenulph. Dort erfahren wir nicht nur davon, dass dieser Mönch de renovatione Casinensis coenobii versus mirificos fecit, sondern Desiderius auch anordnete, diese Verse im Kreis der klösterlichen Gemeinschaft zu verbreiten 74. Leos Chronik ist ein weiterer Beitrag zur Selbstverherrlichung der Abtei. Wenn nun aber die monastische Fiktion sorgfältig von den bauhistorisch brauchbaren Fakten getrennt wird, hat dies für die Einschätzung der Bedeutung und der Ausstrahlung der Abteikirche eine erhebliche Konsequenz: Der Desideriusbau ist nicht mehr als exklusives Vorbild der unteritalienischen Sakralarchitektur um 1100 zu werten. Aus dieser Perspektive betrachtet muss der Salernitaner Dom nun nicht mehr zwangsläufig als Nachahmung eines Montecassineser 75 verstanden werden. Stattdessen rückt jetzt eher jene architektonische Tradition der Region ins Blickfeld, mit der die Benediktsbasilika um Bedeutung und Einfluss konkurrieren muss und die bereits für den Desideriusbau selbst ein „Anspruchsniveau“ ( Martin Warnke ) definiert. Dabei geht es jedoch nicht darum, im Fall des Doms von Salerno ein konkretes Modell durch ein anderes zu ersetzen. Vielmehr soll hier die Aufmerksamkeit auf ein architektonisches Milieu gelenkt werden, aus dem heraus ein derart anspruchsvoller Bau entstehen konnte. Hier reicht der Horizont von der Abteikirche Josuas II. ( 792–817 ) in S. Vincenzo al Volturno ( Isernia, Fig. 5 ) über die bereits mehrfach genannte Salvatorkirche von S. Germano ( Abb. 36 ) bis hin zu den Domen von S. Maria Capua Vetere ( Caserta ) oder Benevent. Kaum abzuschätzen ist die Ausstrahlung der wesentlich von frühchristlicher Bausubstanz geprägten Sakralarchitektur Neapels. Bereits der hier nur kurz skizzierte Denkmälerbestand erlaubt es, die wesentlichen Elemente der in Salerno gewählten Formensprache hypothetisch herzuleiten, ohne dafür den Desideriusbau überhaupt in Betracht ziehen zu müssen. Als Säulenarkadenbasilika entspricht S. Matteo beispielsweise der Norm unteritalienischer Sakralarchitektur ( S. Maria Capua Vetere, S. Salvatore in S. Germano ). Der Abschluss des Chors mit drei Apsiden ist in der Region spätestens im frühen 9. Jahrhundert vorgebildet ( S. Vincenzo al Volturno, S. Maria delle Cinque Torri und wohl auch S. Salvatore in S. Ger73
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Es ist davon auszugehen, dass ein derart bedeutendes Ereignis mit Bedacht terminiert wird. Der Heiligenkalender erweist sich für diesen Tag allerdings als ausgesprochen unergiebig und keines der in der Chronik genannten Patrozinien kann mit diesem Datum in Verbindung gebracht werden. Dagegen setzt der Bibeltext die Weihe des salomonischen Tempels in den Monat Ethanim, der etwa in den Zeitraum vom 15. September bis zum 15. Oktober des christlichen Kalenders fällt, dessen Mitte mithin das Weihedatum des Desideriusbaus bezeichnet. Petrus Diaconus, De viris illustribus ( wie Anm. 52 ) Sp. 43. Krautheimer ( wie Anm. 2 ) S. 18.
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Fig. 5 S. Vincenzo al Volturno, Josuabasilika, isometrische Rekonstruktion (Richard Hodges u. a., The Making of a Monastic City. The Architecture of San Vincenzo al Volturno in the Ninth Century, in: Papers of the British School at Rome 65, 1997, S. 239, Abb. 4 ).
mano ) 76. Über ein Atrium verfügten eine ganze Reihe von Bauten ( S. Vincenzo al Volturno, S. Salvatore, S. Benedetto in Salerno, vermutlich der Dom von Benevent, die unter Abt Theobald [ † 1035 ] umgestaltete Abteikirche von Montecassino ), nicht zuletzt vermittelt durch die frühchristlichen Vorbilder Neapels ( z. B. S. Restituta bzw. Stefania ) 77. Für alle der genannten Bauten ist die reiche Verwendung von Spolienmaterial ( vor allem Säulenschäfte ) 78 ebenso kennzeichnend wie für den Salernitaner Dom ( Abb. 37 ). 76
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Dass der dreiapsidiale Ostabschluss im späten 10. Jh. zum gewohnten Bild gehört haben muss, zeigt die Darstellung der mater ecclesiae in einer Beneventaner Exultetrolle ( Vatikan, BAV, Vat. lat. 9820 ). Dort sind einem basilikalen Kirchenbau ganz deutlich Haupt- und Nebenapsis angefügt. Abbildung in: Exultet. Rotoli liturgici del Medioevo meridionale, Ausstellungskatalog Montecassino, Rom 1994, S. 111. Gesta episcoporum Neapolitanorum auctore Iohanne diacono, hg. von Georg Waitz ( MGH SS rer. Lang. ) Hannover 1878, S. 434. S. Anm. 47.
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Zwei wichtige Merkmale, das Querhaus und die Hallenkrypta, können an dieser Stelle nicht mit der gebotenen Ausführlichkeit diskutiert werden, ohne den Rahmen dieser Untersuchung zu sprengen, sodass an dieser Stelle nur einige allgemeine Bemerkungen gemacht seien. Die Annahme, das kastenförmige, ungeteilte Querhaus sei erstmalig im Desideriusbau in der Region realisiert worden 79, ist angesichts des derzeitigen Forschungsstands gewagt. Auch wenn hier ein möglicher Einfluss der neuen Benediktsbasilika auf die Gestalt des Salernitaner Transepts nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden soll, insofern auch der Desideriusbau seinen Teil zum regional verfügbaren Formenvorrat beisteuert, wäre der Denkmälerbestand hinsichtlich eines früheren Auftretens des Querhauses noch einmal zu überprüfen. Die bereits mehrfach in Bezug auf die Gestalt des Desideriusbaus zum Vergleich herangezogene Salvatorkirche von S. Germano weist ein Transept auf, an das sich die Apsiden unmittelbar anschließen ( Abb. 36 ). Obgleich der bei Gattola publizierte Schnitt den Zustand des Baus gegen Ende des 17. Jahrhunderts dokumentiert, ist hier wohl eine ältere Disposition konserviert 80. Bei aller Vorsicht wäre an dieser Stelle zumindest eine frühere Instanz eines durchgehenden Querhauses gegeben. Als Referenz muss auch der Gisulfbau in Erwägung gezogen werden, obwohl dessen Chorbereich über die Grabungsbefunde nicht sicher rekonstruiert werden konnte. Desiderius nahm zwar bei seinem Neubau in Maßen und Ausrichtung keine Rücksicht auf diesen unmittelbaren Vorgänger, könnte aber über die Bewahrung bestimmter Bauformen eine architektonische Kontinuität demonstriert haben. Leo, der, wie bereits erwähnt, ausdrücklich vom Widerstand älterer Mönche gegen den Neubau berichtet, deutet Kompromisse des Abts bei der Gestaltung des Presbyteriums an ( Chron. III 26 ), die vielleicht mehr betrafen, als nur die Beibehaltung des ursprünglichen Bodenniveaus ( hoc itaque modo aditus ipse in eminentia priori permansit ). Beide Beispiele bleiben hypothetisch. Sie zeigen aber, dass auch das Querhaus als wesentliches Merkmal des Desideriusbaus – was die regionale architektonische Tradition anbelangt – nicht voraussetzungslos entstanden sein muss. Die ausgedehnte Krypta schließlich, die sich in Salerno unter dem gesamten Ostbau ausdehnt, dürfte ihre Entstehung der repräsentativen Bergung der wichtigen Reliquien – zuallererst der Apostelgebeine – verdanken. Typologisch hat sie in Unteritalien keine unmittelbaren Vorgänger. Während die Hallenkrypta im Norden bereits ausgebildet ist ( Speyer, Bleurville, Abbadia S. Salvatore am Monte Amiata, Acqui ), wird hier im Süden noch mit unterschiedlichen Formen experimentiert ( Tarent ). Im Anschluss an Salerno kommt es ab dem späten 11. Jahrhundert zu einer explosionsartigen Ausbreitung dieses Typs ( Bari, Otranto, Calvi, Alife, u.a.m. ), wofür in den einzelnen Fällen jeweils unterschiedliche Gründe für die Formenwahl maßgeblich gewesen sein können. Festzuhalten ist, dass das kryptenlose Montecassino für diese Entwicklung, deren Genese noch zu klären ist, sicher nicht verantwortlich gemacht werden kann. 79 80
So Urban ( wie Anm. 2 ) S. 16. Gattola ( wie Anm. 12 ) Taf. 7; s. ebd., S. 71 f. Eine bei Pantoni, Una descrizione ( wie Anm. 26 ) S. 4, zitierte Beschreibung des späten 16. Jh. spricht von S. Salvatore als einer „antiquissima ecclesia“. Das in Gattolas Illustration erkennbare Kreuzgratgewölbe im Bereich der Vierung dürfte nachträglich eingefügt worden sein. Sollten die auf dem Grundriss ausgewiesenen Vorlagen beiderseits der die ursprüngliche Hauptapsis ersetzenden quadratischen Chorkapelle sowie an den Vierungspfeilern Teil dieser Einwölbung sein, wäre ursprünglich ein durchgehendes Querhaus rekonstruierbar.
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Ziehen wir zu dieser Fülle möglicher typologischer Referenzen aus der näheren Umgebung des Salernitaner Doms die bereits oben behandelten signifikanten formalen Unterschiede zwischen Bischofskirche und Benediktsbasilika hinzu, relativiert sich die Rolle des Desideriusbaus als exklusives Modell für den Dom deutlich. S. Matteo muss nicht mehr als architektonische Demonstration der Gregorianischen Reform und als ausschließlicher Entwurf des amtierenden Erzbischofs verstanden werden, der sich absichtsvoll an den in Montecassino vorgebildeten Architekturformen orientiert. Damit weitet sich der Horizont für Deutungsalternativen und der Dom von Salerno kann in historisch-politischer Perspektive neu bewertet werden: Der aufwändige Neubau, der unmittelbar nach der Eroberung der Stadt durch Robert Guiscard initiiert wird, erscheint als repräsentative Herrschaftsarchitektur, mit der der Normanne seinen Machtanspruch wirkungsvoll zur Schau stellt und gleichzeitig legitimiert, indem er die städtische Topographie an zentraler Stelle neu besetzt. Ansatzpunkt für diese Neubewertung des Baus ist die ostentative Verwendung von Inschriften, mit denen sich der Stifter an den Betrachter wendet. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Inschriften über der Porta del Paradiso und unter dem Giebeldreieck der Westfassade 81. Chronologisch an erster Stelle steht aber die Platte über dem Apostelgrab in der Krypta. Die Nennung Robert Guiscards beschränkt sich hier nicht auf eine Datierungsformel, etwa nach Herrscherjahren, sondern betont explizit die Anwesenheit des Herzogs – und des ( falschen ) byzantinischen Thronprätendenten – bei der Rekondierung, die presente Michaele imperatore augusto et duca Robberto durch den Erzbischof vollzogen wird. Hier interessiert weniger die Aufwertung des Normannen durch den genannten und die Frage nach den politischen Ambitionen des Herzogs in Bezug auf Konstantinopel, sondern seine persönliche Bindung an den Titelheiligen seiner Stiftung a statu nascendi. Bereits die <Wiederauffindung> der Gebeine des Patrons durch Alfanus und der angeblich dadurch veranlasste Neubau deuten auf eine geschickte Inszenierung hin, mit der sich der neue Herrscher der legitimierenden Kraft dieser wichtigsten Reliquie der Stadt versichern will 82. Leo ( Chron.
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Die in diesem Zusammenhang immer wieder angeführte Inschrift über der Porta dei Leoni + Dux et Jordan[ us ] dignus princeps Capuanus regnent eternum cum gente colente Salernum ist in die Jahre 1120–1127 zu datieren und damit für die hier geführte Argumentation nicht relevant. Die Zusammenstellung der Gründe für diese Datierung bei Becker ( wie Anm. 1 ) S. 57 ff. Die Forschung hat die Nachricht dieser <Wiederauffindung> bisher merkwürdigerweise nie ernsthaft in Zweifel gezogen. Der Charakter als Inszenierung ist aber, gerade nach der Einnahme Salernos, offensichtlich. Noch 1067 sind die Matthäusreliquien durch eine Bulle Alexanders II. in der alten Kathedrale bezeugt: Sanctae salernitanae ecclesiae quae et est beatae et gloriosae semperque virginis Dei genetricis Mariae ubi etiam apostoli gloriosum Mathei et evangelistae corpus cum beatis martyribus Fortunato, Gaio et Anthes resquiescit; s. Luigi Enrico Pennacchini ( Hg. ), Pergamene Salernitane ( 1008–1784 ) Salerno 1941, Nr. 4, S. 32 ff. Amatus ( VIII 4 ) lässt noch Anfang der 1070er Jahre Pisaner Seeleute aus Dank für die Rettung vor drohender Havarie die Heiligengebeine in der Stadt aufsuchen: Et li [ Pisain ] prioient qu’il lor donast securité de venir au port de Salerne, pour visiter lo cors de saint Mathie, qui estoit à Salerne. [ … ] Et li Pisain, pour ceste securté, vindrent au port du Salerne; et issirent de la nef; et o piez deschauz, allerent à l’eglize Saint Mathie. Et à l’autel, là où estoit lo santissime cors sein, donnerent un paille et firent belle lumiere. Dass die Reliquien ( und warum nur die des Matthäus? ) gewissermaßen im Bauschutt der langobardischen Kirche, über der der neue Dom ( möglicherweise ) errichtet wird, zufällig aufgespürt und geborgen werden, erscheint wenig glaubhaft. Ein vergleichbarer Vorgang ist die inventio der Cataldusreliquien beim Neubau des Domes von Tarent; s. Anm. 46. Zur Diskussion der Lokalisierung der alten Bischofskirche Giuseppe Bergamo, Il duomo di
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III 45 ) berichtet dann auch, dass Robert einen Arm des Evangelisten für sich und seine Nachfolger in Besitz nimmt 83. Der Heilige garantiert ganz materiell den Schutz des Fürsten, wenn Robert die Reliquie auf seinen Feldzügen mitführt 84. Er sichert aber auch den ausschließlichen Anspruch des Normannen und seiner Familie auf die neue Herrschaft. Diese Monopolisierung des Stadtpatrons geht weit über den im Zuge der „benediktinischen Mission“ Unteritaliens ( Richard Krautheimer ) intensivierten Reliquienkult hinaus ( das bekannteste Beispiel ist die Translation des Hl. Nikolaus nach Bari 1087 ). War jene Inschrift unter dem Altar verborgen und nur einem ausgewählten Kreis zugänglich, so wenden sich die beiden anderen Texte an ein Publikum: Der Ort ihrer Präsentation ist ein öffentlicher. An der Fassade und auf dem Architrav des Hauptportals der Basilika nennt sich der Herzog als Stifter des Baus 85. Bereits der erste Text nennt den dux Robert Guiscard, der als fundator in eine privilegierte Beziehung zum Titelheiligen der Kirche tritt ( Abb. 12 ): A duce Robberto donaris Apostole templo / pro meritis ipse donetur regno superno Noch deutlicher formuliert die auf einem Fries aus Marmorplatten über die gesamte Breite der Fassade laufende, in antikisierender Kapitalis gesetzte Inschrift die Bedeutung Roberts als Auftraggeber des Baus ( Abb. 39 ): M[ atthaeo ] a[ postolo ] et evangelistae patrono Urbis Robbertus dux R[ omani ] Imp[ erii ] maxim[ us ] triumphator de aerario peculiari 86 Der in Texten dieser Art zwar oft formelhaft gebrauchte Verweis auf die Eigenmittel ( de aerario peculiari ), die der Stifter aufwendet, dokumentiert hier weniger Ro-
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Salerno, Battipaglia 1972, S. 15; Arcangelo Raffaele Amarotta, La Cappella palatina di Salerno, Salerno 1982, S. 74 ff.; und vor allem Vincenzo De Simone, L’ubicazione dell’antica cattedrale dei vescovi salernitani, in: Rassegna Storica Salernitana 8/1 ( 15 ), 1991, S. 179–184. Letzterer verortet den Vorgängerbau südlich des Domes im Bereich des heutigen Bischofspalastes und vermutet, er sei nach dem Neubau allmählich ungenutzt verfallen, was das der Reliquie völlig rätselhaft machen würde. Civitate autem potita Robbertus ecclesiam sancti apostoli et evangelistae Mattei inibi construi iussit, in qua etiam sacrum eiusdem apostoli corpus summa cum veneratione locavit os integrum brachii eius argentea theca reconditum ad suam filiorumque tutelam reservans; vgl. die im Cod. Cas. 101 ( 11. Jh. ) enthaltene , hg. von Giuseppe Talamo Atenolfi, I testi medioevali degli atti di S. Matteo l’evangelista, Rom 1958, S. 99–119, hier S. 116 ff., wo Fürst und Bischof von Salerno eine Armreliquie des Apostels an Benevent schenken. Bloch, Monte Cassino in the Middle Ages ( wie Anm. 2 ) S. 84. Vgl. Paolo Delogu, La committenza degli Altavilla: produzione monumentale e propaganda politica, in: Mario D’Onofrio ( Hg. ), I Normanni. Popolo d’Europa 1030–1200, Ausstellungskatalog Rom, Venedig 1994, S. 191: „[ … ] a Salerno essa [ d. h. die Inschrift ] spiccava sulla facciata della chiesa, cioè di quello che era all’epoca l’edificio pubblico per eccelenza, il monumento collettivo della cittadinanza e l’espressione della dignità della città.“ An dieser Stelle ist auf den von Jürgen Habermas eingeführten Begriff der „repräsentativen Öffentlichkeit“ zu erinnern, der, obgleich an wesentlich späteren Beispielen entwickelt, hier fruchtbar gemacht werden könnte; vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt 161986, S. 19 f. Ergänzungen nach Armando Schiavo, Note sul duomo di Salerno, in: Rassegna Storica Salernitana 6, 1945, S. 241. Zu den Alternativen dieser meines Erachtens einzig sinnvollen Lesart s. Becker ( wie Anm. 1 ) S. 75 f.
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berts Großzügigkeit als eine der topischen Herrschertugenden, sondern vielmehr sein besonderes Verfügungsrecht über das Heiligtum und damit über die dort verwahrten Reliquien 87. Der Herzog trägt diesen Anspruch durch Anbringungsort und Gestaltung der Inschrift erheblich ambitionierter vor als Desiderius, wenn dieser seine Abteikirche mit Mosaikinschriften schmückt. Sucht der Abt technisch und verbal Anschluss an die konstantinischen Basiliken Roms, so nimmt sich Robert die kaiserzeitliche Monumentalepigraphik zum Vorbild 88. Für das 11. Jahrhundert ist diese monumentale Verwendung von Schrift bemerkenswert, da sie nicht nur voraussetzt, dass der antike Formenschatz als solcher erkannt wird, sondern in ihrem Bemühen um Sichtbarkeit und Fernwirkung auch von einem gewissen Grad an Alphabetisierung der Öffentlichkeit ausgehen muss, soll sie ihre Wirkung voll entfalten. Einen alternativen Weg wählt man beispielsweise etwa gleichzeitig in Pisa, wo am Neubau des Doms ( ab 1063 ), also an gut vergleichbarem Ort, Inschriftentafeln angebracht werden, die nach Schriftart und Textgestalt jedoch eher Urkundencharakter haben. Die Fassadeninschrift des Domes von Salerno ist daher in der Forschung als Wiederbelebung einer antiken epigraphischen Tradition verstanden worden 89, deren letztes Dokument die Inschrift des Konstantinsbogens ( Rom, 315 ) gewesen sei. Der darauf folgende, mehr oder weniger totale Verlust dieser Tradition 90 – der die Fassadeninschrift in Salerno als Neubeginn deutbar macht – wird allerdings seit einiger Zeit durch archäologische Funde in Frage gestellt. Gerade in dem uns interessierenden Raum lassen Beispiele den Weg der Überlieferung in anderem Licht erscheinen und die Inschrift an der Salernitaner Domfassade nicht mehr isoliert dastehen, obgleich dieses Modell erst im 15. Jahrhundert in den Fassadenprojekten Leon Battista Albertis für den Tempio Malatestiano ( Rimini, 1450 ) und für S. Maria Novella ( Florenz, 1472 ) eine wirkliche Nachfolge findet 91. Vielmehr kann 87
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Martin Warnke, Bau und Überbau, Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt a. M. 1984, S. 30; unter den angeführten Quellenbelegen ist für unseren Zusammenhang der von Roger II. ( † 1154 ) in Cefalù pulchram satis et speciosam suis sumptibus gestiftete Dom passend; Lehmann-Brockhaus ( wie Anm. 61 ) Nr. 2165, S. 448. Neben den stadtrömischen Beispielen ist an regional verfügbare Denkmäler wie den Trajansbogen in Benevent zu denken, die sich unmittelbar im normannischen Einflussbereich befanden. Armando Petrucci, Public Lettering. Script, Power and Culture, Chicago – London 1993, S. 3: „The Duomo of Salerno [ … ] is characterized [ … ] by a completely new use of monumental writing for the conveying of a political message that was expressed through innovative aesthetic-formal solutions directly inspired by late-antique models.“ Vgl. Petrucci ( wie Anm. 89 ) S. 2 f.; vgl. John Mitchell, The Display of Script and the Uses of Painting in Longobard Italy, in: Testo e immagine nell’alto medioevo ( Settimana di Studio del CISAM 41 ) ( Spoleto, 15.–21. April 1993 ) Spoleto 1994, S. 896 f. Eine Reihe von späteren mittelalterlichen Beispielen aus dem 12. bzw. frühen 13. Jh. ist formal kaum mit Salerno zu vergleichen. Dazu zählen die vom Clitumnustempel beeinflusste Inschrift am Dom von Foligno sowie die einander ganz ähnlichen Portiken von S. Giovanni in Laterano ( Giovanni Giustino Ciampini, De sacris aedificiis a Constantino Magno constructis, Rom 1693, Taf. 1 ), SS. Giovanni e Paolo und S. Giorgio in Velabro ( Schriftzüge mit unzialem Charakter ) in Rom und die Vorhalle des von der stadtrömischen Kunst abhängigen Domes von Civita Castellana ( Künstlerinschrift! ). Eine Parallele zu Salerno bietet dagegen die in das späte 11. Jh. zu datierende Inschrift an der Apsisaußenwand von S. Giacometto in Venedig ( um 1070 ). Das aus Marmor- und Kalksteinplatten zusammengesetzte, etwa 15 cm hohe Band ist quer über die Ziegelmauer gelegt ( Abb. 40 ). Wie in Salerno bzw. S. Vincenzo al Volturno ist die Letternfolge oben und unten von einem schmalen Profil gerahmt. Der Text richtet sich
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Robert Guiscard auch in der formalen Gestaltung seiner Stifterinschrift unmittelbar an das künstlerische Erbe seiner langobardischen Vorgänger anknüpfen, was an drei Beispielen illustriert werden soll. An erster Stelle steht der sogenannte Clitumnustempel bei Spoleto ( Perugia ). Dieser langobardische Bau, dessen genaue Funktion, etwa als Memorialkapelle, ebenso wenig geklärt ist wie die exakte Entstehungszeit ( 6.–8. Jh. ) 92, bedient sich in Anlage und Schmuck so überzeugend kaiserzeitlich-römischer Formen, dass er noch im 16. Jahrhundert von Experten wie Andrea Palladio für ein antikes Original gehalten werden konnte 93. Auf einem T-förmigen Sockelgeschoss ist ein über seitlich geführte Treppen erschlossener, in eine Vorhalle und eine mit halbrund ausgewölbter Ädikula versehene cella gegliederter oberer Komplex errichtet. Die reich dekorierte Fassade, mit vier Säulen in antis und dem über einem Architrav aufgesetzten, reliefierten Giebeltympanon, zitiert klassische Motive der Tempelarchitektur. Das so für den Betrachter als Heiligtum ausgewiesene Bauwerk trägt in der Frieszone des Epistyls eine über die gesamte Breite laufende, einzeilige Inschrift in sorgfältig ausgeführter Kapitalis ( Abb. 41 ). In bemerkenswerter Weise scheinen sowohl die Text- und Buchstabenform als auch die Position der Inschrift unmittelbar unter dem Giebeldreieck die in Salerno gefundene Lösung vorwegzunehmen. Man muss sich dabei in Erinnerung zu rufen, dass der Clitumnustempel ein fürstlich-langobardischer Bau ist und folglich in jener Tradition steht, in die der Normanne Robert Guiscard sich einzureihen bemüht 94. Das zweite Beispiel rückt mit S. Vincenzo al Volturno geographisch näher an Salerno heran. Die von langobardischen Fürsten großzügig geförderte beneventanische Gründung und neben Montecassino wichtigste Benediktinerabtei Unteritaliens erlebte um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert eine Periode wirtschaftlicher und kultureller
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an die Händler in der Umgebung der Kirche und mahnt redliches Geschäftsgebaren an; vgl. Dante Luigi Gardani, La chiesa di S. Giacomo a Rialto. Storia e arte, Venedig 1966, S. 51 und Taf. 3. Wohl immer noch grundlegend ist der Aufsatz von Friedrich Wilhelm Deichmann, Die Entstehungszeit von Salvatorkirche und Clitumnustempel bei Spoleto, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung, 58, 1943, S. 106–148; vgl. Mitchell ( wie Anm. 90 ) S. 946 ff., besonders S. 949; Carola Jäggi, San Salvatore in Spoleto, Studien zur spätantiken und frühmittelalterlichen Architektur Italiens, Diss., Wiesbaden 1998, S. 106. Für unsere Argumentation sind Zweckbestimmung und Datierung sekundär. Andrea Palladio, I quattro libri dell’architettura IV 25, in der Erstausgabe Venedig 1570, S. 98. Anders dagegen bereits Johann Wolfgang von Goethe, Werke, vollständige Ausgabe letzter Hand 27, Stuttgart – Tübingen 1829, S. 193: „San Crocefisso, eine wunderliche Capelle am Wege, halte ich nicht für den Rest eines Tempels der am Orte stand, sondern man hat Säulen, Pfeiler, Gebälke gefunden und zusammengeflickt, nicht dumm aber toll.“ Unentschieden über „das niedliche Tempelchen über der Quelle des Clitumnus“ urteilt wiederum Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, Basel 1855, S. 52, besonders Anm. 1. Die Übernahme der langobardischen Fürstentümer in Unteritalien durch die Normannen vollzog sich offenbar ohne radikalen gesellschaftlichen Umbruch. Die Eroberer haben zur Sicherung ihrer Macht Kontinuitäten nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert, wie insbesondere die angelsächsische Forschung für den Bereich der Sozial-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte wiederholt herausgearbeitet hat; vgl. z. B. Graham A. Loud, Continuity and Change in Norman Italy, in: Journal of Medieval History 22, 1996, passim; Joanna H. Drell, Kinship and Conquest: Family Strategies in the Principality of Salerno during the Norman Period 1077–1194, Ithaca 2002, S. 47, S. 51 und S. 172; Patricia Skinner, The Tyrrhenian Coastal Cities under the Normans, in: Graham A. Loud – Alex Metcalfe ( Hgg. ), The Society of Norman Italy, Leiden – Boston – Köln 2002, S. 84 f. und S. 95.
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Blüte, bevor mit der sarazenischen Plünderung und einer teilweisen Zerstörung des Klosters ab der Mitte des 9. Jahrhunderts ein unaufhaltsamer Niedergang einsetzte. Zeuge dieser Blüte ist die erst gegen 1100 vollständig abgebrochene, unter Abt Josua II. errichtete anspruchsvolle Basilika, deren Grundriss erst durch die wenige Jahre zurückliegenden Grabungen der British School at Rome gesichert werden konnte ( Fig. 5 ). In einer kleinen Gruppe von Marmorfragmenten mit eingetieften, von Dübellöchern durchbohrten Buchstaben wurden die Reste einer längeren Inschrift erkannt, die zum Widmungstitel an der Westfassade des Baus gehörten. Der genaue Wortlaut und Anbringungsort sind durch die im 12. Jahrhundert verfasste Klosterchronik überliefert 95. Aus Form und Abstand der identifizierbaren, fast 30 cm hohen Lettern ( Abb. 42 ) konnte eine Gesamtlänge des einzeilig angelegten Schriftzuges von etwa 14,50 m erschlossen werden, was knapp der vermuteten Breite des Mittelschiffes entspricht. Dabei ist mit dem Verfahren gearbeitet worden, metallene Buchstaben in vorgeformte Vertiefungen einzubringen, um Lesbarkeit und Fernwirkung der Inschrift zu erhöhen 96. Abgesehen von diesem technischen Unterschied 97 ist eine Disposition rekonstruiert, die jener in Salerno gut vergleichbar ist: Über die gesamte Breite der oberen Fassadenzone wird ein aus Marmorplatten zusammengesetzter Fries gelegt, der eine antikisierende und auf Fernwirkung berechnete Stifterinschrift trägt. Wie beim Salernitaner Dom handelt es sich bei der Josuabasilika um hochambitiöse Monumenta-
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Chronicon Vulturnense ( wie Anm. 41 ) S. 221; vgl. Mitchell ( wie Anm. 90 ) S. 916 f.; sowie Richard Hodges – Sheila Gibson – John Mitchell, The Making of a Monastic City. The Architecture of San Vincenzo al Volturno in the Ninth Century, in: Papers of the British School at Rome 65, 1997, S. 238. Hodges – Gibson – Mitchell ( wie Anm. 95 ) S. 240. Die Wiederaufnahme dieser Standardtechnik der antiken römischen Monumentalepigraphik ist bemerkenswert. Mit der Inschriftentafel vom Corveyer Westwerk und den im Füllschutt der dortigen Außenkrypta geborgenen vergoldeten Bronzebuchstaben sind in karolingischer Zeit auch Vergleichsbeispiele aus dem nordalpinen Raum gegeben. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass in Bezug auf die bauliche Ausstattung der Aachener Pfalz auch auf das langobardische Umfeld Karls verwiesen wurde; vgl. Christoph Stiegemann – Matthias Wemhoff ( Hgg. ), 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit, Ausstellungskatalog Paderborn 1, Mainz 1999, Nr. II. 69, S. 110; für die Inschriften ebd. 2, Nr. VIII. 52 und 53, S. 570 ff.; Mitchell ( wie Anm. 90 ) S. 897, und Ders., Arichis und die Künste, in: Hans-Rudolf Meier u. a. ( Hgg. ), Für irdischen Ruhm und himmlischen Lohn. Stifter und Auftraggeber in der mittelalterlichen Kunst, Berlin 1995, S. 50, weist darauf hin, dass das Einlegen von Metallbuchstaben erst im Paris Ludwigs XIV. ( u. a. am Portal der Sorbonne ) wieder aufgegriffen wird. Sicherlich werden die Lettern der Salernitaner Fassadeninschrift auch durch eine farbige Fassung in ihrer Lesbarkeit gesteigert gewesen sein, wenn auch, da sich keine Dübellöcher feststellen lassen, offenbar keine metallenen Lettern eingelegt waren. Armando Schiavo, Il campanile del duomo di Salerno e l’espansione campana in Sicilia, in: Bollettino del Centro di Studi di Storia dell’Architettura 9, 1955, S. 21, Anm. 1, äußert die Vermutung, die Schrift sei möglicherweise mit Mosaiksteinchen ausgelegt gewesen. Hinweise darauf habe eine Untersuchung der im Rahmen der Fassadenrestaurierung abgenommenen Platten ergeben. In diesem Fall könnte man diese Mosaizierung als technisch und finanziell weniger aufwändigen Ersatz für die Verwendung von Bronzelettern betrachten. Allerdings sind die Buchstaben teilweise in die Platten gerade eingeschnitten, teilweise eingekerbt, was das Einsetzen von tesserae problematisch macht. Denkbar ist meines Erachtens eher, dass die Vertiefungen mit einem vergleichbaren Material ausgefüllt waren, wie wir es von den Mastixinkrustationen kennen, die in Italien im 11. bis 13. Jahrhundert verbreitet sind, und bei denen die tiefrote oder schwarze Farbe der Füllung einen starken Kontrast zum umgebenden Trägermaterial ( Marmor ) bildet. Beispiele für diese Technik aus der Bauzeit des Salernitaner Doms sind etwa die Bischofsthrone in Canosa, Bari und Monte Sant’Angelo ( Foggia ) in Apulien.
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larchitektur, die im Falle von S. Vincenzo al Volturno dem klösterlichen Machtanspruch architektonisch Ausdruck verleihen sollte 98. In die unmittelbare Nachbarschaft zu S. Matteo führt der dritte Kandidat. Die Palastkapelle der langobardischen Fürsten von Salerno, die heutige kleine Kirche S. Pietro a Corte, ist unter dem Begründer des Fürstentums, Arichis II. ( 774–787 ), aufgeführt worden. Eine Renovierung des wegen seiner Größe und Schönheit gefeierten Palastkomplexes ist für das 10. Jahrhundert belegt 99. Der Hofhistoriograph Paulus Diaconus verfasste tituli sowohl für das Atrium der regia als auch für deren Kapelle 100, und bei den Stücken eines Frieses aus grobkörnigem weißem Marmor mit Eintiefungen und Bohrlöchern früherer metallener Lettern handelt es sich vermutlich um Fragmente dieser Inschrift ( Abb. 43 ) 101. Die Gestaltung und Größe der Kapitalis sowie die Rekonstruktion des Textes lassen auf eine etwa vier Meter lange, einzeilige Buchstabenfolge schließen. Der genaue Ort der Inschrift ist allerdings nicht sicher zu bestimmen. Da das Fehlen von Korrosionsspuren auf dem Trägermaterial eine geschützte Anbringung nahe legt und die Lettern mit durchschnittlich 16,5 cm Höhe erheblich kleiner sind als jene von S. Matteo, ist ein Vergleich der Inschriften von Palastkapelle und Dom hinsichtlich ihrer Präsentation kaum zu führen. Auffällig ist aber die Übereinstimmung in der Gestaltung des Schriftbandes. In beiden Fällen nehmen die Buchstaben fast die gesamte Breite des Frieses ein. Sie werden oben und unten von durchgehenden Linien gerahmt, einer Profilleiste an der Bischofskirche und einer einfachen feinen Kehle in S. Pietro. Beide Inschriften sind auf hellem Marmor angebracht, der sich von dem Material der umgebenden Wandfläche, sei es innen oder an der Fassade, deutlich als kostbar absetzt, Sie bedienen sich ganz ähnlicher, gleichmäßig und mit vollem rundem Schwung ausgeführter Buchstabentypen ( capitalis quadrata ), obgleich Roberts Inschrift allgemein einen breiteren Duktus aufweist, bei der Schreibweise des E zwischen gebogener und gerader Form unentschlossen bleibt und für das G die um 1100 übliche unziale Variante wählt. Die Arichisinschrift ist nicht nur wegen ihrer räumlichen Nähe oder ihrer Gestaltung als Modell für den Fries an der Domfassade in Betracht zu ziehen, sondern vor allem, weil es sich bei ihr ebenfalls um ein repräsentatives Dokument fürstlicher Auftraggeberschaft handelt. Um zu zeigen, dass gerade in Salerno mit einer dichteren epigraphische Tradition zu rechnen ist, sei kurz auf eine weitere Instanz einer Stifterinschrift hingewiesen: In unmittelbarer Nähe der unterhalb der Festung Arichis’ gelegenen kleinen, durch neuzeitliche Überbauung bis zur Unkenntlichkeit veränderten Kirche S. Massimo wurden Anfang des letzten Jahrhunderts zwei marmorne Gebälkfragmente entdeckt. Die stilistisch in die severische Zeit zu verortenden Stücke wurden in dem in der zweiten 98
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Vgl. die Rekonstruktionsskizze bei Richard Hodges – John Mitchell, The Basilica of Abbot Joshua at San Vincenzo al Volturno, Monteroduni 1996, S. 36, Abb. 3.5. Die Maße der Kirche mit einer Gesamtlänge von 63,50 m und einer Breite von 28,30 m ( davon entfallen 15,30 m auf das Mittelschiff ) sind mit den Dimensionen des Salernitaner Doms durchaus vergleichbar. Auch der Josuabasilika war ein imposantes, auf Substruktionen gestütztes Atrium vorgelagert. Chronicon Salernitanum ( wie Anm. 58 ) S. 22 und S. 159. Chronicon Salernitanum ( wie Anm. 58 ) S. 38. Vgl. Stiegemann – Wemhoff ( wie Anm. 96 ) 2, Nr. VIII.55, S. 573 f.; für die Möglichkeit, die Fragmente 2004 im Depot des Salernitaner Diözesanmuseums ausgiebig studieren zu dürfen, sei dem Kustos der Sammlung, Herrn Vincenzo Garzillo, an dieser Stelle herzlich gedankt.
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Hälfte des 9. Jahrhunderts errichteten Bau zweitverwendet und mit einer einzeiligen Inschrift versehen ( Abb. 44 und 45 ) 102. Die unbeholfene und teilweise ineinander geschachtelte Kapitalis zieht sich über die flache Frieszone, unter der ein kantiger Astragal und ein nach unten wachsendes zweilagiges Blattkyma ( die Architravstücke sind offensichtlich kopfüber verbaut worden ) verlaufen. Der Rückbezug auf die römische Antike erfolgt hier, wie später über der Porta del Paradiso des Doms, materiell durch den Einsatz einer Spolie als Träger des Textes. Die imperiale Vergangenheit wird demonstrativ mit der eigenen Gegenwart verknüpft, wenn die als fürstliche Eigenkirche gestiftete dreischiffige Kirche von Säulen mit Cippollinschäften und qualitätvollen kompositen Kapitellen des 2./3. Jahrhunderts gegliedert wird. Leider lässt der Fundkontext auch hier nicht zu, den genauen Anbringungsort der antiken Bauglieder zu bestimmen. So wäre eine Position der Inschrift an der Fassade oder einer möglichen Vorhalle ebenso denkbar wie ein Versatz im Innern der Kirche, etwa als Architrav über der Säulenstellung oder einer Schrankenanlage. In jedem Fall dürfte die Inschrift wirkungsvoll platziert worden sein, so dass sie durchaus von den neuen normannischen Herren als Inspiration für eigene Formen herrscherlicher Repräsentation wahrgenommen werden konnte 103. Der sogenannte Clitumnustempel bei Spoleto, die Josuabasilika von S. Vincenzo al Volturno und die Salernitaner Beispiele belegen, dass sowohl die Lösung, eine Inschrift friesartig an der Fassade anzubringen, als auch ihre aus dem Formenapparat der imperialen römischen Epigraphik schöpfende Gestaltung Vorläufer in der Kunst der Fürstentümer der Langobardia minor hatte, wo eine ungebrochene Schrifttradition immer wieder auf antike Vorbilder zurückgreifen konnte. Eine Bestimmung möglicher Vorlagen für die Salernitaner Stifterinschrift muss also nicht – oder nicht nur – auf antike Monumente rekurrieren, sondern sollte die zeitlich und dem Dom näherstehenden Beispiele der langobardischen Architektur berücksichtigen. Die enge stilistische Verwandtschaft der Fassadeninschrift von S. Matteo mit den diskutierten Vergleichsbeispielen spricht dafür, dass Robert Guiscard ganz bewusst langobardische Modelle heranzieht, weil sie hergebrachte und bekannte, oftmals antike Formen aufrufende Sprachformeln des soziokulturellen Diskurses verkörpern, die der Normannenherzog im Sinne der Legitimierung seiner Herrschaft über die einstigen langobardischen Territorien politisch instrumentalisieren kann 104. In den Salernitaner Stifterinschriften liegt der Schlüssel zur Neubewertung des Doms von Salerno als eine aus vielfältigen Quellen gespeiste Herrschaftsarchitektur. Gesichert wird diese aus den Inschriften abgeleitete Deutung wiederum durch die zeit102
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+ Guaiferius princeps instinctu flaminis almi / [ ar ]dua haec struxit moenia pulchra domus. Ergänzung nach Paolo Delogu, Mito di una città meridionale, 91998, S. 145, Anm. 132. Die Stücke sind jeweils etwa und 80 cm lang 40 cm hoch. Eine direkte Beziehung zwischen der normannischen Dynastie und S. Massimo ist in einem Dokument von 1086 fassbar, in welchem Roger Bursa die Schenkung der Kirche an die Benediktinerabtei SS. Trinità im nahen Cava de’ Tirreni bestätigt; s. Bruno Ruggiero, Principi, nobiltà e Chiesa nel Mezzogiorno longobardo. L’esempio di s. Massimo di Salerno, Neapel 1973, S. 87. Zur Tradition von Monumentalinschriften bei den Langobarden vgl. Mitchell ( wie Anm. 90 ) S. 890 f.; zur Bedeutung der Schriftlichkeit im Rechtswesen im langobardischen Italien vgl. Nicholas Everett, Literacy in Lombard Italy, Cambridge 2003, S. 172, sowie kurz Valerie Ramseyer, The Transformation of a Religious Landscape: Medieval Southern Italy ( 800–1150 ) Ithaca – London 2006, S. 18.
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genössischen Quellen, die die Verbindung von Apostel, Bau und fundator immer wieder hervorheben und verbreiten. 105 Es ist darum nicht erstaunlich, dass gerade der epigraphische Apparat als Bestandteil eines offenbar erfolgreichen Konzepts rasch als nachahmenswert rezipiert wird. Der erste Sohn des Herzogs, Bohemund I. ( † 1111 ), lässt seinen aus Marmorplatten errichteten Grabbau in Canosa unter dem Kranzgesims des Tambours mit einer einzeiligen Inschrift versehen 106. Noch deutlicher lehnt sich ein weiteres, bisher unbeachtetes Beispiel an Salerno an: Die Inschrift König Kolomans von Ungarn, die er nach der Einnahme von Zara ( Zadar, Kroatien ) an dem von ihm 1105 errichteten Campanile der Marienkirche anbringen lässt. 107 Der einzeilige Text ist in antikisierender Schrift in Marmorplatten eingegraben, die friesartig unterhalb des ersten Gurtgesimses um den Turm herumgeführt sind ( Abb. 46–50 ). Aber nicht nur formal, sondern auch inhaltlich sind Parallelen zu fassen, wenn der König, unter Nennung der Titelheiligen der Kirche, sich als Stifter des Baus dokumentiert, den er durch eigene Mittel ( proprio sumptu ) realisiert und unmittelbar nach der Eroberung der Stadt ( post victoriam ) errichten lässt. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Koloman die normannische Praxis geläufig war und zur Imitation motivierte, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der ungarische König als Schwiegersohn Rogers I., des jüngeren Bruders Robert Guiscards, sogar die dynastische Verbindung mit den Hautevilles suchte 108. Die hier vorgelegte Gegenüberstellung des von Doms von Salerno und der Abteikirche von Montecassino hatte zum Ziel, ein architekturgeschichtliches Paradigma kritisch zu überprüfen. Das in der Forschung beschworene Verhältnis beider Bauten zueinander als Kopie und Vorbild, das jedoch nicht über die Übereinstimmung generischer Merkmale hinausgeht, scheint von jenen Textpassagen der für die Rekonstruktion des Desideriusbaus konstitutiven zeitgenössischen Quellen bestimmt zu sein, die die neue Benediktsbasilika absichtsvoll zum architektonischen Musterstück stilisieren.
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Vgl. Anm. 42. Wilhelm von Apulien als Verfasser der ( wie Anm. 3, S. 281 ) weiß, dass der Herzog hac, Mathaee, tibi construxit in urbe decoris Aecclesiam miri. Und das bestätigt: In eadem vero civitate [ Salerni ] ipse dux construxit ecclesiam in honorem beati Matthaei apostoli et evangelistae; hg. von Ulrich Schwarz, Amalfi im frühen Mittelalter ( 9.–11. Jh. ) Tübingen 1978, S. 216. Die Passage verwendet unverändert noch Romuald von Salerno in seiner um 1180 entstandenen Weltchronik; hg. von Carlo Alberto Garufi ( Rerum Italicarum Scriptores, nuova edizione 7, 1 ) Città di Castello 1935, S. 189. Diese Inschrift setzt sich auf dem linken Flügel der Bronzetür des Grabbaus ( jetzt im Dom ausgestellt ) fort. Ihren Wortlaut gibt u. a. Schulz ( wie Anm. 6 ) S. 60 f. Im normannischen Unteritalien scheint sich eine regelrechte epigraphische Tradition zu entwickeln. Neben das Bohemundgrab und einer Reihe von Portalinschriften sind besonders die arabischen Inschriftenfriese sizilischer Bauten des 12. Jh. ( Zisa und Cuba in Palermo, Palast in Messina ) zu stellen. Zur Verwendung von Monumentalinschriften im normannischen Sizilien jetzt Ungruh ( wie Anm. 36 ) S. 18 ff. Die Inschrift lautet: Anno incar[ nationis ] d[ omi ]ni n[ ost ]ri Ih[ s ]u Xr[ ist ]i mil[ lesimo ] cv post victoriam et pacis praemia Iaderae introitus a Deo concessa proprio sumptu hanc turri[ m ] s[ an ]c[ t ]ae Mariae Ungariae Dalmatiae Chroatiae construi et erigi iussit rex Collomannus. Der König wiederholt seinen Namen darüber hinaus in der im Turm eingerichteten Kapelle auf den Würfelkapitellen der vier in die Ecken eingestellten die Säulen, die das Rippengewölbe tragen. Vgl. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis Rogerii Calabriae et Siciliae comitis et Roberti Guiscardi ducis fratris eius, hg. von Ernesto Pontieri ( Rerum Italicarum Scriptores, nuova edizione 5,1 ) Bologna 1928, S. 102 f.
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Von einer Rhetorik wie der des kaiserlichen Präzepts 109 bestärkt, entwickelte sich die Montecassineser Abteikirche in der kunstgeschichtlichen Debatte daher zum Modell für die unteritalienische Sakralarchitektur um 1100. Vor dem kirchengeschichtlichen Hintergrund der Gregorianischen Reform galt die Benediktsbasilika als Schulbeispiel für eine Architektur, die mit ihrem Bezug auf das konstantinische frühchristliche Rom die Ziele dieser Strömung verbildlichte. Indem der Dom von Salerno aus dem Schatten des angeblichen Vorbilds heraustritt, wird es möglich, den Bau nun nicht mehr als erzbischöflichen Entwurf zur Umsetzung kirchlicher Reformideen in gebaute Form zu verstehen, sondern als architektonische Legitimation des Machtanspruchs seines fürstlichen Stifters. Ist die Modellfunktion der Desideriusbasilika dekonstruiert, kann auch die Frage der Muster für die in Salerno gewählten architektonischen Formen neu und in weiterem Rahmen gestellt werden. Dabei zeigt sich, dass Montecassino in der Kunstlandschaft Unteritaliens im 11. Jahrhundert keine Monopolstellung beanspruchen darf. Dass bis heute immer wieder mit großem Nachdruck auf den Desideriusbau und seinen Einfluss auf die Architektur Unteritaliens verwiesen wird, ist nicht zuletzt der Begabung Leos zu verdanken, subtil zu überspielen, dass sein Bericht über Bau und Weihe der neuen Benediktskirche eine propagandistische Intention verfolgt – was auch für die übrige Chronik wie für diese Quellengattung im allgemeinen vorausgesetzt werden darf 110. Die klösterliche Geschichtsdeutung hält in ihrer ungeheuren Wirkung bis heute mit ihrem Einfluss auf die moderne Architekturgeschichte an. Von diesem Standpunkt aus muss sie als äußerst erfolgreich betrachtet werden.
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S. Anm. 21. Schreiner ( wie Anm. 43 ) S. 258: „Viten sowie Kirchen- und Klosterchroniken sind [ … ] ein besonders geeignetes Feld für Phantasie und Wunschdenken.“
Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes
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FRANZ NEISKE – CARLOS MANUEL REGLERO DE LA FUENTE
Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes. Ein Beitrag zum Totengedenken der Abtei Cluny Einleitung: Totengedenken in cluniacensischen Klöstern, S. 141. – Handschriftenbeschreibung, S. 144. – Datierung der Anlage, S. 147. – Das Necrolog von Carrión als cluniacensisches Necrolog, S. 148. – Cluny in Spanien, S. 155. – San Zoilo de Carrión de los Condes und Cluny, S. 159. – Vergleich mit cluniacensischen Necrologien, S. 163. – Familiares von Cluny im Necrolog von Carrión, S. 168. – <Spanisches> Eigengut, S. 180. – Das Necrolog von Carrión und das Necrolog der Abtei Cluny, S. 182. – Zusammenfassung, S. 184.
EINLEITUNG: TOTENGEDENKEN IN CLUNIACENSISCHEN KLÖSTERN
Das Reformmönchtum des hohen Mittelalters wurde entscheidend von den Idealen geprägt, die sich bereits im 10. Jahrhundert in der Abtei Cluny entwickelten. Die großen Äbte des Klosters, Odo, Maiolus, Odilo und Hugo, trugen mit ihren guten Kontakten zu Königen und Päpsten dazu bei, dass diese Reformbewegung in weiten Teilen Europas Erfolg hatte. Mit der neuartigen Organisationsform einer congregatio, die Hunderte von einzelnen Abteien und Prioraten umschloss, wurde die Cluniacensis ecclesia das Muster eines globalen Verbandes von monastischen Gemeinschaften, die unter der zentralen Aufsicht des Abtes von Cluny in konsequenter Befolgung der Benediktsregel leben wollten 1. Neben der Forderung nach Exemtion der Klöster und freier Abtswahl durch den Konvent in der Abtei Cluny selbst gehörte die Ausweitung der Gebetszeiten im Tagesablauf zu den wesentlichen Merkmalen dieser Erneuerung im Mönchtum 2. Die ausführlichen Texte der Consuetudines dokumentieren diesen Anspruch und bezeugen die Strenge, mit der die Mönche den Vorgaben folgten 3. Weite Passagen der Texte sind dabei der Sorge um das Seelenheil der verstorbenen Mitbrüder und dem allgemeinen Totengedenken für Laien gewidmet 4. 1
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Joachim Wollasch, Cluny – . Aufstieg und Niedergang der klösterlichen Gemeinschaft, Zürich – Düsseldorf 42007, S. 46. Kassius Hallinger, Das Phänomen der liturgischen Steigerungen Klunys ( 10./11. Jahrhundert ), in: Isaac Vasquez ( Hg. ), Studia historico-ecclesiastica. Festgabe für Luchesius G. Spätling, Rom 1977, S. 183–236. Burkhardt Tutsch, Texttradition und Praxis von consuetudines und statuta in der Cluniacensis ecclesia ( 10.–12. Jahrhundert ), in: Hagen Keller – Franz Neiske ( Hgg. ), Vom Kloster zum Klosterverband. Das Werkzeug der Schriftlichkeit, Akten des Internationalen Kolloquiums des Projekts L 2 im SFB 231 ( 22.–23. Februar 1996 ) ( Münstersche Mittelalter-Schriften 74 ) München 1997, S. 173–205. Franz Neiske, Funktion und Praxis der Schriftlichkeit im klösterlichen Totengedenken, in: Clemens M. Kaspar – Klaus Schreiner ( Hgg. ), Viva vox und ratio scripta. Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters ( Vita regularis 5 ) Münster 1997, S. 97–118, S. 100–102. Aus der reichen Bibliographie zur liturgischen Memoria im Mittelalter seien hier nur wenige
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Franz Neiske – Carlos Manuel Reglero de la Fuente
Die Aussicht auf eine individuelle Memoria für jeden einzelnen Mönch aus allen zum Klosterverband gehörenden Gemeinschaften wurde so zum einigenden spirituellen Band der Cluniacensis ecclesia. Neben den Mönchen wurden auch diejenigen Laien mit Gebeten für das Seelenheil bedacht, die durch große Schenkungen oder milde Gaben zu den Wohltätern gezählt wurden oder zur familia der Klöster gehörten. Zahlreiche Dotationen an Cluny bezeugen den Wunsch von Laien, aber auch etwa von Bischöfen, in das Gebet der Cluniacenser eingeschlossen zu sein. Abt Odilo machte es den Mönchen sogar zur Pflicht, an jedem 2. November generell für die Rettung aller Verstorbenen zu allen Zeiten zu beten, und legte damit den Grundstein für das später in der gesamten Kirche eingeführte Allerseelenfest. Das Totengedenken enthielt aber über die rein religiöse Dimension hinaus einen entscheidenden sozialen Aspekt: Mit Gebet und Messfeier verbunden war immer auch ein Almosen für die Armen. Bereits das Statut Abt Odilos zur allgemeinen Memoria am Tag nach dem Allerheiligenfest bestimmt zuerst die karitativen Leistungen, bevor Gebete, Messen und Psalmen vorgeschrieben werden 5. Die Viten der Äbte von Cluny überliefern Berichte von Visionen, die die Wirkung der Gebete der Mönche von Cluny für das Seelenheil der Verstorbenen in drastischen Bildern ausmalen. Diese Propaganda für die eigene Sache zeigte Wirkung 6. Die Sorge um die individuelle Totenmemoria wurde zu einem der wesentlichen Faktoren des Erfolges der cluniacensischen Bewegung. Mit vollem Recht hat man deshalb von Cluny als dem „Zentrum mittelalterlichen Totengedenkens“ gesprochen 7.
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Titel der letzten Jahre genannt: Otto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 10, 1976, S. 70–95; Karl Schmid – Joachim Wollasch ( Hgg. ), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter ( Münstersche Mittelalter-Schriften 48 ) München 1984; Dieter Geuenich – Otto Gerhard Oexle ( Hg. ), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 111 ) Göttingen 1994; José Mattoso ( Hg. ), O reino dos mortos. Na idade média peninsular, Lissabon 1996; Michel Lauwers, La mémoire des ancêtres, le souci des morts. Morts, rites et société au moyen âge ( diocèse de Liège, XIe–XIIIe siècles ) ( Théologie historique 103 ) Paris 1997; Edelgard E. DuBruck ( Hg. ), Death and Dying in the Middle Ages ( Studies in the humanities 45 ) New York 1999; Caroline Horch, Der Memorialgedanke und das Spektrum seiner Funktionen in der bildenden Kunst des Mittelalters, Königstein im Taunus 2001; Michael Borgolte ( Hg. ), Memoria. Ricordare e dimenticare nella cultura del medioevo. ( Annali dell’Istituto Storico Italo-Germanico in Trento, Contributi 15 ) Bologna 2005. Statuts, chapitres généraux et visites de l’ordre de Cluny, hg. von Gaston Charvin, 9 Bde., Paris 1965–1982, 1, Nr. 1, S. 15 f. Jürgen Bärsch, Allerseelen. Studien zu Liturgie und Brauchtum eines Totengedenktages in der abendländischen Kirche ( Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 90 ) Münster 2004, S. 99–105. Zu den sozial-historischen Aspekten des Totengedenkens vgl. Joachim Wollasch, Gemeinschaftsbewußtsein und soziale Leistung im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, S. 268–286. Franz Neiske, Vision und Totengedenken, in: Frühmittelalterliche Studien 20, 1986, S. 137–185, S. 165 f., S. 179; Ders., Das Verhältnis Clunys zum Papsttum, in: Giles Constable – Gert Melville – Jörg Oberste ( Hgg. ), Die Cluniazenser in ihrem politisch-sozialen Umfeld ( Vita regularis 7 ) Münster 1998, S. 279–320, S. 307 f. Wie sehr das Bewusstsein dieser <Stärke> Clunys in der Abtei selbst präsent war, zeigten bildliche Darstellungen der Errettung der Seelen auf einem verlorenen Rotulus der Verbrüderungen Clunys, vgl. Bullarium sacri ordinis Cluniacensis, Lyon 1680, S. 219 f.: http://fruehmittelalter.uni-muenster.de/cluny/bullariu m/219b.htm Bärsch ( wie Anm. 5 ) S. 79–95.
Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes
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Die Praxis des Totengedenkens in den cluniacensischen Klöstern wird eindrucksvoll dokumentiert in den wenigen erhaltenen Necrologien. Sie bewahren die Namen der Personen, für die Jahr für Jahr an ihrem Todestag in allen Gemeinschaften gebetet wurde. Die synoptische Darstellung dieser Quellen zeigt in der engen Übereinstimmung der Namenlisten, dass die Vorschrift, der Verstorbenen in allen Klöstern in gleicher Weise zu gedenken, weitgehend befolgt wurde 8. Die Necrologien bezeugen so die Gemeinsamkeiten der Totenmemoria im Verband, sie stehen aber auch für die Vielfalt regionaler Ausprägungen. Die Interpretation wird erschwert durch die Tatsache, dass ausgerechnet die necrologische Überlieferung aus der Abtei Cluny selbst verloren ist. Nachdem bereits Auguste Molinier zu Beginn des letzten Jahrhunderts vermutet hatte, man könne aus Necrologien der cluniacensischen Klöster das verlorene Necrolog von Cluny rekonstruieren 9, wurde in den letzten Jahrzehnten die Rolle des Necrologs von Marcigny hervorgehoben 10, dessen Entdeckung für das cluniacensische Totengedenken Joachim Wollasch zu verdanken ist 11. Ohne dass hier ausführlich auf die vielen Ansätze zu einer schlüssigen Interpretation der Necrologüberlieferung eingegangen werden kann 12, bleibt festzustellen, dass wohl nur durch die Entdeckung weiterer cluniacensischer Totenbücher entscheidende Fortschritte erzielt werden können. Ein solcher glücklicher Fund ist hier vorzustellen! Carlos Manuel Reglero de la Fuente ( Universídad de Valladolid ) ist bei seinen Arbeiten zur Geschichte des cluniacensischen Einflusses in Spanien 13 auf das Fragment eines Necrologs gestoßen, das eine ausführliche Interpretation verdient 14. Es entstand im Kloster San Zoilo de Carrión ( Diözese Palencia ), das 1076/77 an Cluny zur Reform übertragen wurde. Die erhaltenen Toteneinträge rücken diese Handschrift in die Nähe der wichtigen großen Necrologien aus cluniacensischen Klöstern.
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Synopse der cluniacensischen Necrologien, unter Mitwirkung von Wolf-Dieter Heim, Joachim Mehne, Franz Neiske und Dietrich Poeck, hg. von Joachim Wollasch, 2 Bde. ( Münstersche Mittelalter-Schriften 39 ) München 1982. Auguste Molinier ( Hg. ), Obituaires de la province de Sens ( Recueil des Historiens de la France publié par l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, Obituaires 1 ) Paris 1902, 1,1, S. 519. Joachim Wollasch, Die Synopse der cluniacensischen Necrologien als Arbeitsinstrument der Forschung, in: Synopse ( wie Anm. 8 ) 1, S. 34–40, S. 39. Joachim Wollasch, Zur frühesten Schicht des cluniacensischen Totengedächtnisses, in: Karl Hauck – Hubert Mordek ( Hgg. ), Geschichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter. Festschrift für Heinz Löwe zum 65. Geburtstag, Köln – Wien 1978, S. 247–280, bes. S. 251. Ders., Ein cluniacensisches Totenbuch aus der Zeit Abt Hugos von Cluny, in: Frühmittelalterliche Studien 1, 1967, S. 406–443; englische Fassung: A Cluniac Necrology from the Time of Abbot Hugh, in: Noreen Hunt ( Hg. ), Cluniac Monasticism in the Central Middle Ages, London 1971, S. 143–190. Vgl. die Literaturübersicht zur Geschichte Clunys im Internet http://fruehmittelalter.uni-muenster.de/ cluny/bcn Carlos Manuel Reglero de la Fuente, El Monasterio de San Isidro de Dueñas en la Edad Media. Un priorato cluniacense hispano ( 911–1478 ). Estudio y colección documental ( Fuentes y estudios de historia leonesa 106 ) León 2005. Ders., Cluny en España, Los prioratos de la provincia y sus redes sociales ( 1073 – ca. 1270 ) ( Fuentes y estudios de historia leonesa 122 ) León 2008. Die Kontakte zwischen dem Institut für Frühmittelalterforschung ( Universität Münster ) und der Universídad de Valladolid gehen zurück auf ein vom DAAD in den Jahren 1996–1998 gefördertes Forschungsprojekt ( Acciones integradas ) zum Einfluss Clunys in Spanien.
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Franz Neiske – Carlos Manuel Reglero de la Fuente HANDSCHRIFTENBESCHREIBUNG
In der Bibliothek des Colegio de San Estanislao de Salamanca wird unter der Signatur: „Fondo de San Zoilo de Carrión, Nr. 4“ ein Dokument aufbewahrt, das bisher in der Forschung nicht beachtet worden ist. Es handelt sich ausweislich des Besitzvermerkes um Blätter eines ehemals sehr umfangreichen Necrologs aus dem Kloster San Zoilo de Carrión. Das Fragment besteht heute aus nur noch 28 Pergamentblättern, die von einer jüngeren Hand fortlaufend nummeriert wurden ( fol. 1r–28v ); die Kalenderdaten weisen jedoch in der jetzigen Bindung eine falsche Reihenfolge auf. Die Ränder der Blätter sind zum Teil beschädigt oder beschnitten. Das Format variiert deswegen; es ist mit ungefähr 31 × 24 cm anzusetzen. Der leichte Einband aus Pergament ist geringfügig größer. Die Bemerkung „Faltan fojas“ auf der ersten Seite oben ( fol. 1r ) verweist auf den fragmentarischen Zustand des Dossiers. Es besteht jetzt noch aus insgesamt 5 Heften mit variabler Blattzahl. Jede Seite enthält die Toteneinträge dreier Tage. Das römische Kalenderdatum ist mit roter Schrift abgesetzt. Das besondere am Necrolog von Carrión ist die getrennte Aufzeichnung von Mönchen der congregatio, d. h. der cluniacensischen Klöster, jeweils auf den Verso-Seiten. Gegenüber auf der nächsten Recto-Seite stehen die Namen der Mönche und Äbte verbrüderter Klöster, der familiares, d. h. der Freunde und Wohltäter, sowie weiterer Laien. In richtiger Reihenfolge angeordnet ergibt sich folgender Befund. Für 54 Tage sind die Recto- und die Verso-Einträge erhalten: 31. 1. – 2. 2. also 3 Tage 9. 2. – 14. 2. also 6 Tage 21. 2. – 10. 3. also 18 Tage 7. 4. – 27. 4. also 21 Tage 21. 7. – 23. 7. also 3 Tage 14. 8. – 16. 8. also 3 Tage Nur Recto- bzw. Verso-Seiten sind erhalten für jeweils 30 Tage: Recto-Seiten 28. 1. – 30. 1. 6. 2. – 8. 2. 18. 2. – 20. 2. 4. 4. – 6. 4. 18. 7. – 20. 7. 27. 7. – 29. 7. 2. 8. – 4. 8. 11. 8. – 13. 8. 23. 8. – 25. 8. 16. 9. – 18. 9.
Verso-Seiten 3. 2. – 5. 2. 15. 2. – 17. 2. 11. 3. – 13. 3. 28. 4. – 30. 4. 24. 7. – 26. 7. 30. 7. – 1. 8. 5. 8. – 7. 8. 17. 8. – 19. 8. 26. 8. – 29. 8. 19. 9. – 21. 9.
Das erste Blatt ist am äußeren Rand beschnitten, allerdings sind davon die Toteneinträge nicht betroffen. Zwischen fol. 20 und fol. 21 sind Reste eines Blattes erhalten, das nicht näher zugeordnet werden kann und nicht gezählt ist. Die Blätter 13, 22 und 23 sind zum Teil abgeschnitten, so dass dort geringe Verluste für die Ta-
Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes
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geseinträge entstanden sind. Summarisch betrachtet sind also die Namen ( recto und/ oder verso ) von insgesamt 84 Tagen erhalten, das entspricht etwa einem Viertel eines ganzen Kalenderjahres. Das gesamte Necrolog muss ursprünglich 122 Blätter umfasst haben. In einer Archivbeschreibung aus dem Jahre 1635 wird das Fragment bereits treffend als ein der Abtei Cluny nahe stehendes Necrolog mit dem Eintrag von Wohltätern beschrieben: „Al Parezer es copia de otro que avia en San Pedro de Cluny, en que por los dias del año estan escritos y notados los hombres insignes y bienhechores de Cluny y de los monasterios de su congregación, notando las memorias que se hazian por ellos en aquella congregación conforme a los beneficios recibidos“ 15. Dazu passen die von einer Hand des 17. Jahrhunderts – wahrscheinlich von Juan de Cisneros, der als Archivar des Klosters die Archivbeschreibung anlegte – eingetragenen Bemerkungen in den Zwischenräumen der Toteneinträge auf der ersten Seite ( fol. 1r ): Es handele sich um ein Kalendario de los bienhechores, in dem auch die Wohltäter der Abtei und des Ordens von Cluny eingeschlossen seien, da Carrión zum Verband von Cluny gehöre. Die Mönche von San Zoilo seien mit einem Kreuz gekennzeichnet 16. Unten auf der Seite wird sogar erläutert, dass die Abkürzung m als monachus zu lesen sei. Trotz dieser richtigen und präzisen Angaben blieb das Dokument lange Zeit unbeachtet und wurde neuerdings erstmals in den Arbeiten von Palacio SánchezIzquierdo über San Zoilo erwähnt, aber nicht angemessen bewertet 17. Auf den ersten Blick fällt die ungeheure Menge der Nameneinträge auf. Auf den Verso-Seiten sind pro Tag zwischen 50 und 70 Namen von anlegender Hand eingetragen, insgesamt rund 4600. Dazu kommen noch etwa 160 Nachträge. Auf den Recto-Seiten verzeichnete die gleiche Hand – in komplexer, weiter unten beschriebener Anordnung – nur etwa zehn bis 15 Namen pro Tag. Einschließlich der Nachträge stehen auf den Recto-Seiten insgesamt fast 1050 Namen. Entsprechend den noch erhaltenen insgesamt rund 5800 Nameneinträgen wären für das Necrolog von Carrión in seiner vollständigen Version mehr als 25 200 Namen zu erwarten. Damit gehört das spanische Necrolog zu den größten erhaltenen Totenbüchern des Mittelalters überhaupt! Es ist größer als das Necrolog des cluniacensischen Klosters Longpont bei Paris, das ca. 18 000 Personennamen überliefert 18 und wird in seinem Umfang nur von
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María Luisa Palacio Sánchez-Izquierdo, Colección diplomática del monasterio de San Zoil de Carrión ( siglos XI al XV ), 2 Bde. ( Diss. Masch. ) Madrid 1988, 2, S. 553 f. Kalendario de los bienhechores desta cassa Por ser esta cassa filiacion de Cluni tenia en este chalendario los bienhechores de la Orden y casa de Cluny y los que lo eran deste monasterio estan notados con + por donde tengo por cierto queste libro fue traslado de otro de Cluni y fue gran descuydo de nuestros passados el auerle dejado perderse. fol. 1r. Vgl. o. Anm. 15. Palacio Sánchez-Izquierdo ( wie Anm. 15 ) 1, S. 647. Nach der Aufhebung von San Zoilo im Jahr 1835 gingen viele Dokumente des Klosters verloren; andere gelangten in das Archivo Histórico Nacional in Madrid. 1851 übernahmen Jesuiten die Gebäude und retteten einige Codices, darunter auch das Necrolog, vgl. Julio A. Pérez Celada, Documentación del monasterio de San Zoilo de Carrión 1 ( 1047–1300 ) ( Fuentes medievales castellano-leonesas 100 ) Palencia 1986; 2, ( 1301–1400 ) ( Fuentes medievales castellano-leonesas 101 ) Palencia 1987, 1, S. 29–31, 34. 1959 brachten die Jesuiten die Handschriften zunächst nach León ( Biblioteca del Colegio del Sagrado Corazón de la Compañía de Jesús ); erst vor wenigen Jahren, zwischen 2000 und 2006, gelangten die Manuskripte in die Bibliothek des Jesuitenkollegs San Estanislao in Salamanca. Synopse ( wie Anm. 8 ) 1, S. 13.
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Franz Neiske – Carlos Manuel Reglero de la Fuente
den Memorialquellen aus Saint-Martin-des-Champs in Paris ( mehr als 33 000 ) übertroffen 19. Wie sich zeigen wird, ist die große Anzahl von Nameneinträgen nur erklärbar mit einer nahezu kompletten Übernahme des cluniacensischen Totengedenkens für die Mönche aller rechtlich zu Cluny gehörenden Klöster. Der Umfang liegt bereits jenseits der von Petrus Venerabilis in einem Statut festgelegten Begrenzung auf 50 Anniversarien pro Tag 20, mit der die Menge der mit jedem Gedenken verbundenen Armenspeisungen ( 365 × 50 = 18 250 ) auf ein – für ein großes Kloster wie Cluny – wirtschaftlich vertretbares Maß reduziert werden sollte, damit nicht ‚die Toten die Lebenden verdrängten‘, wie ebenfalls Petrus Venerabilis in der , einem Text zur wirtschaftlichen Reform des Klosters Cluny, argumentierte 21. Die anlegende Hand trug in klarer Minuskel mit schwarzer Tinte unter sorgfältiger Beachtung der geritzten Linien den größten Teil der Namen ein. Die Einträge der Verso-Seiten zeigen nur bei Würdenträgern Zusätze wie abbas, episcopus usw. Wie auch in anderen cluniacensischen Necrologien üblich, sind einige Bischöfe mit der feierlichen Depositio-Formel ausgezeichnet. Einzelne Namen sind mit einem Kreuz ( + ) versehen; damit wurden wohl die Mönche aus Carrión selbst hervorgehoben, eine Gewohnheit, die in ähnlicher Form auch aus anderen Klöstern bekannt ist 22. Darunter sind nur wenige typisch <spanische> Namen wie etwa die hispanischen Formen Didacus, Fernandus oder Garsias; die Mehrzahl der Namen lässt keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Herkunft ihrer Träger zu. Bei nahezu allen mit einem Kreuz versehenen Namen sind am Rand Bemerkungen zur Art des Totengedenkens eingetragen wie z. B. Officium fiat et iusticia detur. Die Texte sind in einigen Fällen sehr aufwendig gestaltet, teils mit Verzierungen und in roter Schrift. Vom Block der Mönche auf den Verso-Seiten deutlich abgesetzt sind vereinzelt Namen von Frauen eingetragen. Offensichtlich sind das
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Franz Neiske, La mémoire des morts à Montier-en-Der. Les sources et leur fonction dans l’histoire du monastère, in: Patrick Corbet – Jackie Lusse – Georges Viard ( Hgg. ), Les moines du Der. 673–1790. Actes du colloque international d’histoire ( Joinville – Montier-en-Der, 1er–3 oct. 1998 ) Langres 2000, S. 341–358, S. 354. Statuta Petri Venerabilis Abbatis Cluniacensis IX ( 1146/7 ), hg. von Giles Constable, in: Consuetudines Benedictinae Variae ( Saec. XI – Saec. XIV ) ( CCM 6 ) Siegburg 1975, S. 19–106, De anniversariis, Nr. 32 S. 66. Vgl. Giles Constable, The Monastic Policy of Peter the Venerable, in: René Louis, Jean Jolivet und Jean Châtillon ( Hgg. ), Pierre Abélard et Pierre le Vénérable. Les courants philosophiques, littéraires et artistiques en occident au milieu du XIIe siècle ( Abbaye de Cluny, 2 au 9 juillet 1972. Actes et mémoires des colloques internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique 546 ) Paris 1975, S. 119–138, S. 132; ND: Giles Constable, Cluniac Studies, London 1980, Aufsatz III. Arnold Angenendt, Theologie und Liturgie der mittelalterlichen Toten-Memoria, in: Schmid – Wollasch ( Hgg. ), Memoria ( wie Anm. 4 ) S. 79–199, S. 197. Das ist die offizielle Begründung durch Petrus Venerabilis im Rahmen einer Reform der klösterlichen Wirtschaft, Recueil des chartes de l’abbaye de Cluny, hg. von Auguste Bernard – Alexandre Bruel, 6 Bde., Paris 1876–1903, ND Frankfurt/Main 1974, ( zukünftig zitiert: BB ) Nr. 4132, S. 479: Ne vero aliquis miretur, hunc infinitum defunctorum numerum certo, hoc est quinquagenario numero, determinatum, noverit tali hoc factum esse consilio, ne processu temporis crescentes in inmensum defuncti vivos expellerent, dum trecentos ad minus vivos et mille fortassis quandoque defunctos parvi ecclesie redditus procurare non possent. Joachim Mehne, Eine Totenliste aus Saint-Martin-des-Champs, in: Frühmittelalterliche Studien 10, 1976, S. 212–247. Dietrich Poeck, Formgeschichtliche Beobachtungen zur Entstehung einer necrologischen Tradition, in: Schmid – Wollasch ( Hgg. ), Memoria ( wie Anm. 4 ) S. 727–749, S. 741–747.
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Namen von Nonnen aus cluniacensischen Klöstern, denn ihre Namen sind fast immer auch in anderen Necrologien des Verbandes von Cluny zu finden. Die Recto-Seiten zeigen eine differenziertere Anordnung der Einträge. Insgesamt können drei Rubriken unterschieden werden, wenngleich diese nicht zu allen Tagen gefüllt sind ( vgl. Tafel XV, Abb. 52, mit fol. 14r und den Einträgen zum 7–9 April ). In der ersten Zeile sind die Namen von Männern eingetragen – ein m am Ende kennzeichnet sie als Mönche; es handelt sich also um Mönche aus Klöstern, die nicht zum cluniacensischen Verband gehörten, mit denen Cluny aber durch Verbrüderungen verbunden war. Die zweite Rubrik enthält ebenfalls Namen von Männern. Dabei scheint es sich um Kleriker ( z. B. Diakone, Priester und Bischöfe, Päpste usw. ) zu handeln oder um Laien ( z. B. miles, comes, rex, imperator ). In der dritten Zeile finden sich fast ausschließlich Namen von Frauen verschiedener Gruppen: z. B. Nonnen, Äbtissinnen, Gräfinnen, Kaiserinnen. In den beiden letztgenannten Rubriken haben 37 Namen den Zusatz amicus noster oder amica nostra. Diese verdienen besondere Aufmerksamkeit, da zu entscheiden sein wird, welches Kloster die so ausgezeichneten zu seinen Wohltätern und Freunden zählte. Bei den mittelalterlichen Necrologien sind mehrgliedrige Anordnungen der Toteneinträge zwar selten, aber nicht ungewöhnlich. Unter den erhaltenen folgen z. B. diejenigen von Saint-Martial in Limoges 23 sowie ein Necrolog des Kloster Saint-Remi in Reims 24 einem zweiseitigen Schema. Auch eine der Handschriften aus Saint-Bénigne in Dijon kennt die Unterscheidung von Personengruppen in verschiedenen Zeilen 25. Diese sehr ausdifferenzierte Anlage eines Necrologs verweist auf eine sorgfältige Beachtung der individuellen Memorialverpflichtungen. DATIERUNG DER ANLAGE
Zum 19. 9. ist Abt Wilhelm von Cluny ( † 1222 ) von anlegender Hand am Ende der Namen auf der Verso-Seite eingetragen. Zur Anlage gehören ebenfalls einige lokale Einträge aus Carrión wie der camerarius Petrus ( † 28. April 1213 ) und sein gleichnamiger Nachfolger ( † 5. Februar 1215/1219 ) sowie Didacus Lupi de Haro, der am 16. September 1214 starb 26. Als terminus post quem kann wahrscheinlich der mit einem Kreuz versehene Eintrag des ( Priors ) Gaufred von Carrión zum 4. 3. auf der VersoSeite angesehen werden. Gaufred ist noch bis 1247 nachzuweisen 27. Zu den späteren Nachträgen gehört etwa zum 15. August auf der Verso-Seite die Notiz: Iohannes Lupi prior sancte Columbe, bei dem es sich wohl um einen Prior von Cirueña handelt, einem von Nájera abhängigen Priorat; dieser Johannes ist zwischen 1255 und 1265 als Sakristan von Santa María de Nájera nachweisbar und agierte 1255 als Prozessbevollmäch-
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Vgl. Synopse ( wie Anm. 8 ) 1, S. 41. Jean-Loup Lemaitre, Répertoire des documents nécrologiques français ( Recueil des historiens de la France publiée par l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, Obituaires 7 ) 2 Bde., Paris 1980, Nr. 1699. Ebd., Nr. 236; vgl. Barbara Schamper, S. Bénigne de Dijon. Untersuchungen zum Necrolog der Handschrift Bibl. mun. de Dijon, ms. 634 ( Münstersche Mittelalter-Schriften 63 ) München 1989, S. 16. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 660–661, 646. Pérez Celada, Documentación ( wie Anm. 17 ) 1, Nr. 110.
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Franz Neiske – Carlos Manuel Reglero de la Fuente
tigter für das Kloster San Zoilo 28. Die Anlage des Necrologs ist also auf die Zeit zwischen 1222 und 1247 zu datieren. Das Necrolog wurde nach seiner Anlage, wenn auch wohl nicht fortwährend, noch bis ins 15. Jahrhundert benutzt, wie die mit Jahreszahlen versehenen Einträge zeigen 29. DAS NECROLOG VON CARRIÓN ALS CLUNIACENSISCHES NECROLOG
Auf den Verso-Seiten des Necrologs sind die Einträge in zwei Gruppen eingeteilt. In der ersten, größeren werden die Mönche kommemoriert, wie sie in nahezu gleicher Reihenfolge in anderen Totenkalendern cluniacensischer Provenienz zu finden sind. In einer abgesetzten Zeile stehen fast zu jedem Tag einige Frauennamen, zumeist Namen von Nonnen, zu denen es ebenfalls Parallelen in den cluniacensischen Necrologien gibt, dort aber an jeweils unterschiedlichen Positionen 30. Alle Einträge auf den Verso-Seiten weisen eine nahezu vollständige Übereinstimmung mit den Einträgen in cluniacensischen Necrologien auf. Berücksichtigt man nur die Namen, die von der anlegenden Hand eingetragen wurden, so findet man für 80 Prozent der Einträge Parallelen in der <Synopse der cluniacensischen Necrologien>. Eine genauere Analyse der Parallelen ermöglicht sogar Aussagen über die Redaktion des in Spanien geführten Necrologs. Die Parallelisierung der Einträge in der <Synopse> bietet die Möglichkeit, die Namen der Verstorbenen festen Zeitschichten zuzuordnen, d. h., für ihr Todesjahr einen terminus ante quem zu bestimmen. Zählt man nach solchen Vorgaben die Parallelen des Necrologs von Carrión mit der <Synopse> aus dem Zeitraum vor 1093 31, so ergibt sich eine Überstimmung von 99 Prozent. Jeder der bis zum Jahr 1093 Verstorbenen aus dem Necrolog von Carrión findet also Parallelen in anderen cluniacensischen Necrologien; die geringen Abweichungen darf man als Fehler in der Überlieferung ansehen. Berücksichtigt man nur die Zeitschicht bis 1176 32 ergeben sich immerhin noch mehr als 87 Prozent an übereinstimmenden Nameneinträgen. Das geringere Maß an Übereinstimmung ist einerseits darauf zurückzuführen, dass deutlich erkennbar <spanische> Namenformen keine Parallelen finden, also lokale Einträge nicht vom allgemeinen Totengedenken des Verbandes übernommen wurden. Andererseits weisen auch die anderen cluniacensischen Necrologien im 12. Jahrhundert mehr und mehr Sonderüberlieferungen auf: die Einheit der gemeinsamen Memoria konnte in dieser Zeit nicht mehr – wie noch im 11. Jahrhundert – allgemein gewährleistet werden. Am Beispiel der Nameneinträge eines Tages soll hier illustriert werden, wie eng die Übereinstimmungen der Überlieferung aus Carrión mit den bisher bekannten clu28
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Margarita Cantera Montenegro, Santa María la Real de Nájera ( siglos XI–XIV ) 3 Bde., Madrid 1987, 2, Nr. 158, 159. Francisco Javier García Turza, Documentación del monasterio de San Prudencio de Monte Laturce ( siglos X–XV ), Logroño 1992, Nr. 79. Pérez Celada ( wie Anm. 17 ) 1, Nr. 133. Zum 19. September ein Eintrag zum Jahr 1451, zum 7. April zu 1471, zum 4. März zu 1476, zum 12. Februar zu 1487, zum 6. August zu 1493. Franz Neiske, Die synoptische Darstellung der cluniacensischen Necrologien, in: Synopse ( wie Anm. 8 ) 1, S. 23. Anlagezeit des Necrologs von Marcigny, vgl. Synopse ( wie Anm. 8 ) 1, S. 47. Anlagezeit des Necrologs von Saint-Martin-des-Champs, vgl. Synopse ( wie Anm. 8 ) 1, S. 47.
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Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes
niacensischen Necrologien ist. Wir wählen die Einträge zum 21. April ( fol. 17v, s. Tafel XIV, Abb. 51 ) und zeigen in weiteren Spalten die Parallelen mit den Necrologien von Moissac, Marcigny, Saint-Martin-des-Champs und Longpont. Die erste Spalte rechts neben den Namen nennt die entsprechenden Zeilen aus der <Synopse> 33. Die Ziffern in den folgenden Spalten bezeichnen die Eintragsposition im jeweiligen Necrolog. In den Necrologien nachgetragene Namen sind kursiv gesetzt. Von den Zeitschichten, wie sie sich aus den Parallelen der <Synopse> ergeben, sind zwei Fixpunkte markiert ( bis 1093 / bis 1176 ). Der in der Liste mit F1 gekennzeichnete Frauenname ( Restabilie ) – wohl der Name einer Nonne – ist im spanischen Necrolog von den Namen der Mönche abgesetzt. Auch dieser Name findet Parallelen, allerdings in einer früheren Schicht; deshalb ist er hier chronologisch richtig direkt nach 1093 noch einmal eingefügt. Nr.
Carrión
Synopse
Moissac
Marcigny
St.Martin
Longpont
2
Uuileranni abb
7
2
22
1
3
Iohannis
8
3
23
2
4
Ebrardi
10
11
24
3
5
Rostanii
11
5
25
4
6
Stephani
12
12
2
5
7
Bernardi
15
7
3
6
8
Aymonis
17
8
4
7
9
Rotberti
20
10
6
10
Petri
18
9
5
11
Acfredi
21
12
Geraldi abb
24
6
8
7
10 1
8
10
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - bis 1093 - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - F1
Restabilie
27
15
62
13
Dodonis
29
16
9
14
Rotberti
37
18
10
14
15
Gisonis
31
11
15
16
Bernaldi
32
17
12
16
17
Martini
43
20
13
18
Arnaldi
44
14
19
Leodegarii
38
15
20
Bernaldi
46
Anselmi aps
50
1
33
Synopse ( wie Anm. 8 ) 2, S. 222–223a.
11
12
21
16
22
1
11
18
150
Franz Neiske – Carlos Manuel Reglero de la Fuente
Nr.
Carrión
Synopse
Moissac
Marcigny
21
Ursi
51
22
Attonis
53
23
19
20
23
Giraldi
56
24
21
23
24
Uuilelmi
54
20
21
25
Olrici
57
26
24
26
Algisi
58
27
Leuterii
60
25
28
Teuini
61
26
29
Petri
71
35
29
30
Algurii
103
54
48
31
Humberti
66
32
28
32
Gauberti
70
33
Garsie
49
34
Geruasii
82
41
32
35
Petri
93
46
45
36
Sicherii
37
Uuiddo
95
48
42
38
Roberti
99
51
44
39
Esnudonis
100
40
Ianuarii
102
53
50
41
Constantini
104
55
47
42
Benedicti
108
59
52
43
Bernaldi
109
60
51
44
Francii
45
Ricardii
112
65
46
Uuilelmi
118
71
47
Acardi
120
72
58
48
Bernardi +
134
80
63
25
St.Martin
Longpont
17
19
27
28
34 15
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - bis 1176 - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 49
Alberti
139
86
50
Raymundi
143
51
Petri
123
73
52
Uuidonis
146
91
64 68 59
151
Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes
Nr.
Carrión
Synopse
53
Uuilelmi
156
100
54
Hugonis
157
101
55
Nicholay
160
103
56
Uuilelmi
163
105
57
Iohannis
159
102
58
Uuilelmi
168
110
59
Alardi
167
109
60
Rodulfi
169
111
61
Hugonis
172
114
62
Petri
177
119
63
Stephanus
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Iohannes
65
Uuilelmus
F1
Restabilie
27
Moissac
Marcigny
15
St.Martin
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Longpont
69
11
Das Necrolog von San Zoilo de Carrión gehört ausweislich der zahlreichen Parallelen eindeutig in die Reihe der bisher bekannten großen Necrologien aus cluniacensischen Klöstern. Die Überlieferung der cluniacensischen Namen zeigt allerdings auch bestimmte Eigenarten. Das gilt sowohl für die Einträge auf den Recto- wie auf den Verso-Seiten. Diese sollen in zwei separaten Kapiteln weiter unten beschrieben werden. An dieser Stelle sei nur auf einige Besonderheiten des hier wiedergegebenen Beispieltages hingewiesen. Alle Namen stehen im Genitiv, da sie der einleitenden Depositio-Formel für den Erzbischof Anselm folgen. Die zeitliche Schichtung der Namen ergibt sich aus den Übereinstimmungen mit der <Synopse>, in der die Einträge in chronologischer Reihenfolge ediert sind. Bis zum Jahr 1093 finden sich für jeden Memorialvermerk aus Carrión Parallelen zumeist in mehreren anderen cluniacensischen Necrologien. Im Fall des Garsie ( 33 ) gibt es nur im Necrolog von Moissac eine Übereinstimmung – die ( spanische ) Namenform könnte also auf einen Mönch verweisen, der in die Region Südwestfrankreich oder Nordspanien gehört. In der Schicht zwischen 1093 und 1176 haben zwei Namen keine Parallelen in der <Synopse>: ( 36 ) Sicherii und ( 44 ) Franci. Der erste der beiden ist in der gesamten <Synopse> mit weniger als zehn Belegen sehr selten. Ob mit Franci ein Name oder ein Beiname gemeint ist, kann nicht entschieden werden; es handelt sich wahrscheinlich um eine falsche Genitivbildung ( von Franco ) im Gefolge der Anpassung der Tageseinträge an die Depositio-Formel zu Beginn 34. Beide Namen
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Ein einziges solches Beispiel findet sich in der <Synopse> zum 8. Januar, Z. 33.
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könnten zu Mönchen aus spanischen Klöstern gehören, die aus uns nicht bekannten Gründen nicht vom allgemeinen Totengedenken des Verbandes überliefert werden. Auch die nachgetragenen letzen drei Namen ( Nr. 63–65 ), die zu Mönchen aus dem 13. Jahrhundert gehören, haben keine Parallelen in der <Synopse>. Das gilt generell für die etwa 160 nachgetragenen Namen auf den Verso-Seiten. Für diese gibt es nur sehr selten mögliche Parallelen; da es sich aber zumeist um häufige Namen wie Petrus oder Johannes handelt, können das auch zufällige Übereinstimmungen sein; das ist angesichts der großen Anzahl von Namen in der <Synopse> nicht mit Sicherheit auszuschließen. Hinzuweisen ist auf die Hervorhebung des Eintrags Bernardi ( Nr. 48 ) durch ein Kreuz. Am Rand ist dazu vermerkt: Officium fiat et iusticia detur. Es handelt sich hier wohl um einen Mönch aus dem Kloster Carrión. Wie die Parallelen in den anderen Überlieferungen zeigen, wurde seiner auch in anderen cluniacensischen Klöstern gedacht. Das war offensichtlich nicht in allen Fällen gewährleistet. Insgesamt 74 Namen auf den Verso-Seiten sind mit einem Kreuz markiert. Davon gehören 18 zu den Nachträgen; diese finden keine eindeutigen Parallelen in anderen cluniacensischen Necrologien. Dagegen sind die mit einem Kreuz gekennzeichneten Namen der Anlage etwa zur Hälfte auch in den Totenbüchern des Verbandes genannt. Die Leistungen des Kloster San Zoilo de Carrión für die Totenmemoria, wie sie im Necrolog sichtbar werden, fanden also nur zum Teil die in der Cluniacensis ecclesia vorgesehenen Gegengaben, obwohl in den Quellen des Verbandes vom 11. 35 bis zum 15. Jahrhundert 36 immer wieder auf das Nachrichtensystem der Totenrotuli 37 verwiesen wird, mit dem garantiert werden sollte, dass die verstorbenen Mönche des Verbandes in allen Klöstern das vorgesehene Totengedenken fanden. Zwei weitere Einträge zum 21. April verdienen besondere Beachtung. Das Necrolog von Carrión beginnt feierlich: Depositio domni Anselmi archiepiscopi. Damit ist der bekannte Erzbischof Anselm von Canterbury gemeint, der am 21. April 1109 starb. Ihm war ein feierliches Totengedenken in Cluny durch einen Verbrüderungsvertrag zugesichert worden 38; damit gebührte ihm zugleich ein Totengedenken <wie für einen
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38
Neiske, Schriftlichkeit ( wie Anm. 4 ) S. 102 f. Charvin ( wie Anm. 5 ) 5, S. 38 f. Quia pium est pro defunctis memoriam recenseri, diffiniunt diffinitores ut brevetario monasterii Cluniacensis, qui breve seu rotulum ejusdem monasterii per totum Ordinem et loca nostre societatis portabit, pro suo labore dabunt omnes abbates sex albos [ Silbermünzen ], priores vero conventuales quatur, alii priores non conventuales duos albos, et idem de aliis brevetariis Ordinis predicti. Jean Dufour, Recueil des rouleaux des morts ( VIIIe siècle-vers 1536 ), publié sous la direction de Jean Favier, 4 Bde. ( Recueil des historiens de la France, Obituaires 8 ) Paris 2005–2008, 3, Nr. 308, S. 375. Vgl. a. unten Anm. 216. Franz Neiske, Rotuli und andere frühe Quellen zum Totengedenken ( bis ca. 800 ), in: Uwe Ludwig – Thomas Schilp ( Hgg. ), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag ( RGA Ergänzungsbände 62 ) Berlin 2008, S. 203–220. Anselm war seit 1079 Abt in Le Bec-Hellouin ( Normandie ) und wurde als Nachfolger des Lanfranc 1093 zum Erzbischof von Canterbury berufen. Wegen der Auseinandersetzungen mit den Königen im englischen Investiturstreit hielt er sich wiederholt in Cluny auf. 1097, anlässlich des feierlichen Empfangs Anselms in Cluny, schloss der gesamte Konvent eine Verbrüderung mit ihm ab, vgl. Patrice Cousin, Les relations de saint Anselme avec Cluny, in: Spicilegium Beccense 1: Congrès International du IXe centenaire de l’arrivée d’Anselme au Bec, Le Bec – Paris 1959, S. 439–453, S. 440. Armin Kohnle, Abt Hugo von Cluny ( 1049–1109 ) ( Beihefte der Francia 32 ) Sigmaringen 1993, S. 243–245. Zu weiteren Verbrüderungen Anselms vgl. Neiske, Vision ( wie Anm. 6 ) S. 173.
Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes
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Cluniacenser>. In Marcigny wurde Anselm in dem um 1093 entstandenen Necrolog als 22. Name nachgetragen. Das Necrolog von Saint-Martin dagegen nennt Anselms Namen an erster Stelle. Als man in dem Pariser Kloster die uns erhaltene Necrologhandschrift 39 anlegte, konnte man auf eine ältere Vorlage zurückgreifen, in der Anselm, wie in Marcigny, ebenfalls nachgetragen worden sein musste. Jetzt aber setzte man seinen Namen an den Beginn des Tageseintrages, da ihm ein feierliches Gedenken zugesichert worden war. Um Platz für den neuen Eintrag zu schaffen, wurden die Namen der vier ersten Verstorbenen dieses Tages ausradiert und am Ende der Namenreihe, also nach den dort bis zum Jahre 1109 verzeichneten Gedenkeinträgen, wieder eingefügt ( Nr. 22–25 ). Erst die Zusammenschau in der <Synopse> lässt diesen Vorgang deutlich werden 40. Das Necrolog aus Carrión hingegen verzeichnet diese Einträge in richtiger zeitlicher Reihenfolge, nur Erzbischof Anselm ist vorangestellt, wie es sein besonderes Totenofficium verlangte. Die Vorlage für das spanische Totenbuch kann also weder zu der Traditionslinie von Saint-Martin-des-Champs noch zu der aus Longpont gehören, da dort der Name Anselms ganz fehlt 41. Noch eine weitere berühmte Persönlichkeit der mittelalterlichen Geschichte verbirgt sich unter den Nameneinträgen zum 21. April. Unter der Nummer 35 steht der häufige Name Petri. Dazu gibt es Parallelen in den Necrologien von Saint-Martin-desChamps ( 46 ) und Longpont ( 45 ). In Longpont trägt der Name den Zusatz Abaelardus; in der Überlieferung aus Saint-Martin ist daraus durch einen Fehler des Kopisten ein zweiter Name geworden: Petri, Lebardi. Natürlich handelt es sich hier um Petrus Abaelard, der am 21. April des Jahres 1124 im Cluniacenserpriorat Saint-Marcel bei Chalon-sur-Saône – als Mönch von Cluny – starb und von Petrus Venerabilis in einem langen Brief an die Äbtissin Heloïse betrauert wurde 42. Da auch Heloïse in den Necrologien der <Synopse> eingetragen war ( Saint-Martin-des-Champs Eluisa abbatissa zum 16. Mai; Saint-Saulve Heluydis zum 17. Mai ), darf man vermuten, dass ihr Name ebenso in der Handschrift aus San Zoilo auf den leider verlorenen Seiten gestanden hat. Die Nähe zur cluniacensischen Überlieferung, wie sie für das Necrolog durch die Parallelisierung der Einträge sichtbar wird, gilt auch für die liturgische Heiligenverehrung in Carrión. Darüber gibt ein Martyrolog aus dem 13. Jahrhundert Auskunft, das seit 1982 unauffindbar scheint und nur als Auszug der Tage vom 1. Januar bis 19. April
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Bibl. Mazarine, ms. 3347; Lemaitre, Répertoire ( wie Anm. 24 ) Nr. 1308. Zur Ordnung der Einträge am 21. April vgl. Axel Müssigbrod, Zur Necrologüberlieferung aus cluniacensischen Klöstern, in: Revue Bénédictine 98, 1988, S. 62–113, 73 f. Vgl. o. die Parallelen zu den ersten Einträgen. Synopse ( wie Anm. 8 ) 2, S. 222. Der Eintrag des Abtes Hugo ( IV. de Clermont, † 7. 4. 1199 ) steht an erster Stelle des Tagesblockes zum 8. April. Auch hier ist also wie bei anderen bedeutenden Verstorbenen der Eintrag entgegen der zeitlichen Folge an den Beginn der Tageseinträge gestellt worden. Das konnte aber – bei einem Vorgänger des erhaltenen Necrologs – in San Zoilo selbst geschehen sein. Ein Zeichen über dem Namen verweist auf einen erläuternden Text am Rand, der aber leider verloren ist, da ein Teil des Randes abgeschnitten ist ( fol. 13v ). Giles Constable, The Letters of Peter the Venerable, 2 Bde., Cambridge ( Mass. ) 1967, 1, Nr. 115, S. 303–308. Wollasch, Cluny ( wie Anm. 1 ) S. 310–312. Karl Schmid, Bemerkungen zur Personenund Memorialforschung nach dem Zeugnis von Abaelard und Heloise, in: Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters ( wie Anm. 4 ) S. 74–127, S. 111–114.
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Franz Neiske – Carlos Manuel Reglero de la Fuente
zugänglich ist 43. Der Codex, von Palacio Sánchez-Izquierdo als „Libro misceláneo“ bezeichnet, umfasst 112 Blätter und gehörte offensichtlich zu einem Kapitelsbuch mit Regel und Anniversarstiftungen 44. Dieses Martyrolog trägt deutlich Züge der cluniacensischen Heiligenverehrung. Neben der eigenen lokalen Tradition, wie etwa dem Gedenken an die Gründung des Klosters 45: 29. 01. Eodem die fundatio monasterii Sancti Zoili. ( S. 609 ), sind auch zahlreiche typisch cluniacensische Gedenktage aufgenommen worden 46: 01. 01. Apud Siluiniacum transitus sancti ac beatissimi Odilonis abbatis piissimi ac dulcissimi patris monachorum. ( S. 604 ) 15. 01. Ipso die Sancti Mauri abbatis discipuli diui Benedicti patris nostri … ( mit längerer Eloge, S. 606 ) 02. 02. Ipso die dedicatio altaris beatorum apostolorum Petri et Pauli, antique ecclesie Cluniaci ( S. 610 ) 47. 03. 02. Apud Sebastem ciuitatem passio sancti Blasii episcopi … ( mit längerer Eloge, S. 610 ) 01. 03. Ipso die Cluniaco monasterio translatio Sanctae Consorciae. ( S. 618 ) Sowohl in der Liturgie wie auch im Totengedenken hat man also in Carrión die Gewohnheiten Clunys weitgehend befolgt. 43
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José Luis Senra Gabriel y Galán, La portada occidental recientemente descubierta en el monasterio de San Zoilo de Carrión de los Condes, in: Archivo Español de Arte 67, 1994, S. 57–72, S. 61 Anm. 8. Transkription: Palacio Sánchez-Izquierdo ( wie Anm. 15 ) 2, S. 604–628. Ebd. 1, S. 464–473, 479–480. Zum Begriff des Kapitelsbuches vgl. Jean-Loup Lemaitre, Liber Capituli. Le livre du chapitre, des origines au XVIe siècle. L’exemple français, in: Schmid – Wollasch ( Hgg. ), Memoria ( wie Anm. 4 ) S. 625–648. Die Texte aus der Martyrolog-Handschrift werden zitiert nach dem Abdruck von Palacio SánchezIzquierdo ( wie Anm. 15 ) 2, jeweils mit Seitenzahl. Zu den folgenden Parallelen vgl. Regina Hausmann, Das Martyrologium von Marcigny-sur-Loire. Edition einer Quelle zur cluniacensischen Heiligenverehrung am Ende des elften Jahrhunderts ( Hochschulsammlung Philosophie, Geschichte 7 ) Freiburg 1984, S. 255–262. Diese Altarweihe wird in keinem der erhaltenen Martyrologien cluniacensisch geprägter Klöster erwähnt. Vgl. Paris, BNF ms. lat. 17742 ( Saint-Martin-des-Champs de Paris ); Paris, BNF ms lat. 18362 ( Beaumont-sur-Oise ); Paris, BNF ms. nouv. acq. lat. 1540 ( Longpont ); Paris, BNF ms. nouv. acq. lat. 348 ( Marcigny ). Die Kirche Cluny II wurde am 14. Februar 981 geweiht ( Ernst Sackur, Die Cluniacenser in ihrer kirchlichen und allgemeingeschichtlichen Wirksamkeit bis zur Mitte des elften Jahrhunderts, 2 Bde., Halle 1892–1894, ND Darmstadt 1971, 2, S. 372; Hausmann [ wie Anm. 46 ] S. 256 ). Da nur von der ( einer ) ‚alten‘ Kirche der Abtei Cluny gesprochen wird, muss dieser Eintrag aus der Zeit vor dem Bau von Cluny III stammen; die Altarweihe ist deshalb wahrscheinlich auf die Kirche Cluny I zu beziehen, deren Weihe Conant nach der Beschreibung in der Odo-Vita des Johannes ( lib. 2 ) auf 927 datiert ( Kenneth John Conant, Cluny. Les églises et la maison du chef d’ordre, Cambridge [ Mass. ] – Mâcon 1968, S. 50–52; Johannes von Salerno, Vita sanctissimi patris Odonis abbatis Cluniacensis, in: Bibliotheca Cluniacensis, hg. von Martin Marrier und Andreas Quercetanus, Paris 1614, Sp. 13–56, Sp. 32 ). Allerdings wird bereits zu Lebzeiten Abt Bernos ( † 13. 1. 927 ) in einer Urkunde hervorgehoben, dass das Dokument super altare Sancti Petri et Sancti Pauli niedergelegt worden sei ( BB 270; Wollasch, Cluny [ wie Anm. 1 ] S. 28 ). Die Erwähnung dieser Kirchweihe ist also vielleicht als neues Argument für die Existenz der Kirche Cluny I zu werten ( vgl. Neil Stratford, Les bâtiments de l’abbaye de Cluny à l’époque médiévale. État des questions, in: Bulletin monumental 150, 1992, S. 383–411, S. 386, S. 389: „nous ne savons rien des tout premiers édifices“ ).
Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes
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CLUNY IN SPANIEN
Die ersten Kontakte zwischen Cluny und der Iberischen Halbinsel werden in der Mitte des 10. Jahrhunderts in den katalanischen Grafschaften greifbar, die zum karolingischen Imperium gehört hatten und, zumindest theoretisch, Teil des westfränkischen Reiches waren. In einzelnen Urkunden wird der Einfluss Clunys auf die von Äbten wie Warin und Oliba geführten benediktinischen Klöster deutlich. Es handelt sich dabei um Reformen, die sich in einer vergleichbaren religiösen und kulturellen Situation wie in Cluny entwickelten, die aber nicht zu Unterordnung und Zusammenschluss von Klöstern in einem Verband führten und auch nicht direkt von bestimmten Äbten initiiert wurden. Tatsächlich ist die Einrichtung von cluniacensischen Prioraten in Katalonien erst spät in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhundert erfolgt 48 und war beschränkt auf San Pedro de Caserra und seine Dependenzen sowie auf einige von Moissac abhängige Klöster wie etwa Camprodon 49. Wie Anscari Mundó gezeigt hat, waren es andere französische Klöster, die Erfolg in Katalonien hatten, besonders SaintVictor in Marseille 50. Neue fruchtbarere Kontakte eröffneten sich in den Jahren 1025–1035 zum Königreich Navarra. Sancho III. <el Mayor>, König von Navarra ( 1000–1035 ), förderte die Reform des Klosters von San Juan de la Peña mit spanischen Mönchen, die in Cluny, von Abt Paternus angeführt, die Consuetudines der burgundischen Abtei kennen gelernt hatten 51. Von San Juan de la Peña aus wurden andere Klöster reformiert ( Leire, Oña ), wodurch sich die Bewegung über Aragon nach Kastilien ausbreitete und bald auch León erreichte. Die reformierten Klöster waren jedoch weder rechtlich von Cluny abhängig, noch folgten sie der römischen Liturgie, sondern sie bewahrten über Jahrzehnte die mozarabische Liturgie. Von den Kontakten zu Cluny blieb lediglich der Eintrag des Abtes Paternus in den cluniacensischen Necrologien 52. Sancho III. scheint auch eine größere Menge an Gold oder Silber an Cluny geschenkt zu haben 53. Nach dem Tod Sanchos versuchte Abt Odilo – offenbar ohne Er48
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Vgl. zum Folgenden auch die Zusammenfassung von Peter Segl, Die Cluniacenser in Spanien – mit besonderer Berücksichtigung ihrer Aktivitäten im Bistum León von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, in: Die Cluniazenser ( wie Anm. 6 ) S. 537–558; und zuletzt Carlos Manuel Reglero de la Fuente, La renovación cluniacense del benedictinismo: San Isidro de Dueñas ( 1073–1228 ), in: Los grandes monasterios benedictinos hispanos de época romanica ( 1050–1200 ), Aguilar de Campoo 2007, S. 59–85. Axel Müssigbrod, Die Abtei Moissac 1050–1150. Zu einem Zentrum cluniacensischen Mönchtums in Südfrankreich ( Münstersche Mittelalter-Schriften 58 ) München 1988, S. 137. Anscari Mundó, Moissac, Cluny et les mouvements monastiques de l’Est des Pyrénées du Xe au XIIe siècle, in: Moissac et l’Occident au XIe siècle. Actes du colloque international de Moissac 3–5 Mai 1963, Toulouse 1964, S. 229–251; engl Übers.: Monastic Movements in the East Pyrenees, in: Cluniac Monasticism ( wie Anm. 11 ) S. 98–122. Eliana Magnani Soares-Christen, Saint-Victor de Marseille, Cluny et la politique de Grégoire VII au nord-ouest de la Méditerranée, in: Die Cluniazenser ( wie Anm. 6 ) S. 321–347. Peter Segl, Königtum und Klosterreform in Spanien. Untersuchungen über die Cluniacenserklöster in Kastilien-León vom Beginn des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, Kallmünz 1974, S. 36–38; Ders., Cluny in Spanien. Ergebnisse und neue Fragestellungen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 33, 1977, S. 560–569, S. 562–564. Segl, Königtum ( wie Anm. 51 ) S. 36 f. Anm. 187–190. Ebd. S. 42; zum Brief Odilos vgl. ebd. S. 36. Die Vita Odilonis des Iotsald rechnet Sancho zu den großen Wohltätern Clunys, die ein besonderes Totengedenken verdienen: Iotsald von Saint-Claude, Vita des
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folg –, von dessen Söhnen Ramiro I. von Aragon ( 1035–1063 ) und García III. von Navarra ( 1035–1054 ) Schenkungen für Cluny zu akquirieren 54. Erst Abt Hugo gelang es, neue und spektakuläre Donationen von einem anderen Sohn Sanchos III. zu erhalten, von König Ferdinand I. <el Magno> von Léon-Kastilien ( 1035–1065 ). Wahrscheinlich zwischen 1054 und 1063 – das Datum muss leider unbestimmt bleiben – gewährte letzterer dem Kloster Cluny auf Lebenszeit die Zahlung von jährlich 1000 Goldmünzen ( ungefähr 3,75 Kilo ) für die Kleidung der Mönche 55. Charles Bishko vermutete, dass es sich dabei nur um etwa den zehnten Teil der sog. <Parias>, d. h. der Schutzgeldzahlungen muslimischer Taifen 56 an die Könige von Léon handelte 57. Nördlich der Pyrenäen jedoch erhielt diese Schenkung wegen des dortigen Mangels an Gold einen außergewöhnlichen Wert. Aus dieser Zeit gibt es weitere Nachrichten und Indizien einer Präsenz cluniacensischer Mönche am Hof von Ferdinand I., ohne dass irgendein Priorat des Königreichs rechtlich an Cluny übertragen worden wäre 58. Beim Tode Ferdinands I. im Jahr 1065 wurde sein Königreich zwischen seinen drei Söhnen aufgeteilt: Sancho II. erhielt das Königreich von Kastilien, Alfons VI. das von León und García wurde zum König von Galicien gesalbt. Schon bald kam es zum Krieg zwischen den Brüdern, aus dem Sancho II. als Sieger hervorging, der 1072 seinen Bruder Alfons gefangen nahm und das väterliche Königreich wieder vereinigte. Nach cluniacensischer Überlieferung wurde Alfons VI. aus der Haft bei seinem Bruder durch die wundersame Hilfe des heiligen Petrus befreit, dem claviger, der den Himmel öffnen kann 59, – ein Wunder, das durch die Gebete der Mönche von Cluny erreicht worden war 60. Einige Monate später wurde Sancho II. ermordet und Alfons eignete sich das Königreich an. Zum Dank für die Hilfe verdoppelte der König die Zahlungen, die von seinem Vater geleistet worden waren, und versprach diese – zumindest nach
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Abtes Odilo von Cluny, hg. von Johannes Staub ( MGH SS rer. Germ. 68 ) Hannover 1999, lib. I, 6, S. 156. Charles Julian Bishko, Fernando I and the Origins of the Leonese-Castilian Alliance with Cluny, in: Ders., Studies in Medieval Spanish Frontier History, London 1980, II, S. 1–136, S. 4–9. Ebd., S. 23–30. Die Schenkung wird erwähnt in Urkunden seines Sohnes, Alfons VI., vgl. BB 3638: ad vestiarium; BB 3509: causa vestimentorum. José María Lacarra, Aspectos económicos de la sumisión de los reinos de Taifas, in: Homenaje a Jaime Vicens Vives, 2 Bde., Barcelona 1965–1967, 1, S. 255–277, ND: Ders., Colonización, parias, repoblación y otros estudios, Zaragoza 1981, S. 41–76, S. 77–94. Zum Wert der Goldmünzen vgl. Klaus Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, S. 159. Bishko, Fernando I ( wie Anm. 54 ) S. 37–53. Patrick Henriet, La politique monastique de Ferdinand Ier, in: El monacato en los reinos de Léon y Castilla ( siglos VII–XIII ), X Congreso de Estudios Medievales 2005, León 2007, S. 114–123. Chronica Naierensis, III, 15, in: Chronica Hispana. Saecvuli XII, Pars II, Chronica Naierensis, hg. von Juan A. Estévez Sola ( CC Cont. Med. 71 A ) Turnhout 1995, S. 173. Der in der Chronica Naierensis benutzte Begriff claviger beeinflusste die hagiographische Tradition in Cluny, vgl. Epitome vitae sancti Hugonis ab Ezelone atque Gilone, in: Migne PL 159, Sp. 909–918, Sp. 912: Nec mora claviger cœli, Sancio regnum usurpanti … Petri Cluniacensis abbatis de miraculis libri duo, hg. von Denise Bouthillier ( CC Cont. Med. 83 ) Turnhout 1988, lib. 1, 28, S. 91: Non parum autem, immo maxime ueritati huius uisionis attestatur quod a mortuo dictum est, Adefonsum regem a Cluniacensibus monachis sublatum, et a tormentis consimilium reorum ereptum. Nam quod omnibus pene Hispanis, et Gallis populis notum est idem rex Cluniacensis ecclesie magnus amicus, et benefactor extitit.
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cluniacensischem Verständnis – für alle Zeiten. Er bestimmte das Geld für die Ernährung der Mönche. Außerdem übertrug er zahlreiche Klöster an Cluny 61. In den Jahren 1088–1089 schickte Alfons VI. insgesamt 10 000 Goldmünzen nach Cluny, wahrscheinlich zum Ausgleich einiger Rückstände aus früheren Jahren. Abt Hugo von Cluny erlaubten diese Mittel, einen großen Teil der neuen Kirche ( Cluny III ) zu finanzieren 62. Er belohnte die großzügigen Spenden von Ferdinand I. und Alfons VI. mit einer spirituellen Gegengabe: die Könige und ihre Frauen erhielten ein besonderes Jahresgedächtnis in cluniacensischen Klöstern, wie es auch für die Kaiser Heinrich II. und Heinrich III. vorgesehen war. Die dazu geplanten Gebetsleistungen und Armenspeisungen werden in den Consuetudines Clunys präzisiert 63. Der Schutz, den Alfons VI. Cluny gewährte, galt auch für die Übertragungen weiterer Priorate wie San Isidro de Dueñas ( 1073 ), Santiago del Val ( 1077 ), Santa María de Nájera ( 1079 ) und Santa Coloma de Burgos ( 1081 ); im Jahr 1080 übergab Alfons die wichtige Abtei von Sahagún zur Reform an Cluny. Seine Tochter, die Königin Urraca ( 1109–1126 ), unterstellte Pombeiro ( 1109 ), Frómista ( 1118 ) und Villafranca ( vor 1120 ) den Cluniacensern. Alfons VII. ( 1126–1157 ) schenkte San Vicente de Salamanca ( 1143 ), und Ferdinand II. von Léon ( 1157–1188 ) schließlich Santa Ágata de Ciudad Rodrigo ( 1169 ). Diese Schenkungen wurden ergänzt durch Donationen anderer Mitglieder der königlichen Familie, wie etwa des Grafen Heinrich von Burgund, der Gräfin Teresa oder der Infantin Sancha, sowie die einiger Magnaten, besonders in der Zeit des Abtes Pontius von Cluny 64. 61
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Die Erinnerung an Alfons war in Cluny sehr lebendig. Vor allem die Viten Abt Hugos rühmen seine Großzügigkeit: Vita auctore Hildeberto Episcopo Cenomanensi, in: Acta Sanctorum, Aprilis 3, hg. von Jean Baptiste Carnandet, ND Paris – Rom 1866, S. 641–656, S. 644 f. Epitome vitae sancti Hugonis ( wie Anm. 60 ) Sp. 912. Gilo, Vita sancti Hugonis abbatis, hg. von Herbert Edward John Cowdrey: Two Studies in Cluniac History, 1049–1126 in: Studi Gregoriani 11, 1978, S. 43–110, S. 59–60. Zum Versprechen einer Verdoppelung der Zahlungen im Jahr 1077 vgl. BB 3441 und 3509; zur dauernden Zahlung vgl. BB 3638. Kohnle ( wie Anm. 38 ) S. 60 f.; Anne Baud, Cluny, un grand chantier médiéval au coeur de l’Europe, Paris 2003. Die Consuetudines Clunys heben an mehreren Stellen die besonderen Gebetsleistungen für spanische Könige und andere Herrscher hervor. Die ausführlichsten Anweisungen finden sich in der Redaktion Bernhards: Bernardi Ordo Cluniacensis, in: Vetus disciplina monastica, cura et studio Marquardi Herrgott, Paris 1726, S. 134–364; ND, hg. von Pius Engelbert, Siegburg 1999. In lib. 1, 51 ( S. 246 ) wird ein besonderes Anniversar mit gewürzten Fischen beschrieben: Ad eumdem Apocrisarium pertinet in quibusdam Anniversariis plenam refectionem Fratribus exhibere, de piscibus videlicet atque pigmento; in Anniversario scilicet primi Henrici Imperatoris, et alterius Henrici, Domni quoque Fredelani Regis Hispaniae, et Domnae Adelaidis Augustae, Domnae quoque Agnetis Imperatricis, in quorum quoque memoriis, si qua in thesauris ecclesiae de ipsorum donariis habentur ornamenta pro illorum memoria commendanda superponuntur. In der Weihnachtszeit waren keine nächtlichen Offizien für Verstorbene vorgesehen; eine Ausnahme bildete das Gedenken an Ferdinand I., lib. 2, 32 S. 355 f.: Sciendum tamen quia in octavis Dominicae Nativitatis usque post octavum diem, nullum fit in nocte Officium, excepto uno solo, in crastino Festivitatis Innocentium, quod Domnus Hugo Abbas fieri instituit pro Fredelano Hispaniarum Rege, qui multa bona loco Cluniacensi contulit, pro quo etiam sicuti pro Abbatibus nostris fit; praecepit ut singuli Sacerdotes qui ad hoc idonei videntur, Missas ipsa die pro eo cantent. Vgl. auch ebd. lib. 1, 13, S. 158, lib. 1, 41, S. 232, lib. 1, 42, S. 233. Segl, Königtum ( wie Anm. 51 ) S. 47–176. Zum Datum der Übertragung von Villafranca vgl. Mercedes Durany Castrillo, El priorato cluniacense de Santa María de Villafranca ( siglos XII–XIII ), in: Estudios Bercianos 8, 1988, S. 50–51. Über die von Segl genannten Priorate hinaus wurden weitere von Adeligen an Cluny übertragen: San Román de Entrepeñas: José Manuel Ruiz-Asencio – Irene Ruiz-
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Gegen 1200 gehörten zum cluniacensischen Verband ungefähr 32 Priorate und eine Abtei im alten Königreich Alfons’ VI., das zu dieser Zeit schon in die Reiche Kastilien, Léon und Portugal zerfallen war. Die Klöster lagen in 14 verschiedenen Diözesen; 16 Dependenzen müssen als Unterpriorate von Nájera, Carrión oder Dueñas angesehen werden. Neben Nájera und Carrión gab es nur sieben Priorate, in denen zwölf oder mehr Mönche lebten. Die Anzahl der Mönche kann insgesamt auf etwa 135 bis 180 geschätzt werden, wobei die Klöster von Nájera und Carrión als besonders starke Konvente mit circa 24 und 30 Mitgliedern hervorzuheben sind 65. Die cluniacensische Präsenz in Spanien war also insgesamt nicht sehr bedeutend. Zwischen 1173 und 1223 wurden diese Klöster in zwei Provinzen verwaltet: die Provinz Galicien umfasste Galicien, Portugal und El Bierzo ( Diözese Astorga ), die Provinz Spanien betraf Kastilien und schloss La Rioja und Léon mit ein. Nach 1223 wurden die Gebiete zur Provinz vereint. Die Notwendigkeit, die entfernten spanischen Priorate zu administrieren und zu kontrollieren sowie die Abgaben einzuziehen, die diese Cluny schuldeten, führte zur frühen Einrichtung eines mit den spanischen Angelegenheiten beauftragten camerarius 66. Die Statuten Abt Hugos V. sprechen erstmals von solchen Provinzkämmerern ( De camerariis provincialibus ) und beschreiben deren Aufgabenbereiche 67. An der Spitze der Provinz Spanien befand sich ein camerarius, der gleichzeitig Prior von San Zoilo de Carrión war. Der Provinzkämmerer für , über den wir nur wenige Nachrichten haben, war der Prior von Nájera, später der von Villafranca. Die Aufteilung in Provinzen gab es aber schon vor der Verkündigung der Statuten Abt Hugos V. von Cluny ( 1200 ) 68. Bereits Abt Hugo ( I. ) von Cluny hatte im Jahr 1109 die besondere Stellung der Provinzen für die Verwaltung des Klosterverbandes hervorgehoben 69. Wie bereits erwähnt, galt für die spanischen Dependenzen die Aufteilung in zwei Verwaltungsbereiche etwa ab dem Jahr 1173; nach 1223
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Albi – Mauricio Herrero-Jiménez, Colección documental del monasterio de San Román de Entrepeñas [ 940–1608 ], León 2000, S. 14–15, Nr. 12–15; Vadoluengo: Charles Julian Bishko, A hispanocluniac benefactor in the epoch of navarro-aragonese separation: Fortun Garces Cajal and the founding of San Adrian de Vadoluengo ( Sangüesa ), 1133–1145, in: Estudios en homenaje a don Claudio Sánchez-Albornoz. Anexos de Cuadernos de Historia de España, 2, Buenos Aires 1983, S. 275–312; San Boal: Reglero de la Fuente, San Isidro ( wie Anm. 13 ) S. 259–260. Zur Reform von Sahagun im Jahre 1080 vgl. jetzt: Ders., La primera reforma cluniacense de Sahagún, el concilio de Burgos y la crisis de 1080: revisión cronológica y desarrollo, in: Monarquía y sociedad en el reino de León. De Alfonso III a Alfonso VII, 2 Bde. ( Fuentes y estudios de historia leonesa 118 ) León 2007, 2, S. 689–732. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 476–495, 531–534. Ebd., S. 612–618. Charvin ( wie Anm. 5 ) 1, Statut Nr. 5 von 1205, S. 50. Jörg Oberste, Visitation und Ordensorganisation. Formen sozialer Normierung, Kontrolle und Kommunikation bei Cisterziensern, Prämonstratensern und Cluniazensern ( 12. – frühes 14. Jahrhundert ) ( Vita regularis 2 ) Münster 1996, S. 286 f. Charvin ( wie Anm. 5 ) 1, Statut Nr. 5 von 1205, S. 50–52. Zu Hugos Statuten vgl. Oberste, Visitation ( wie Anm. 67 ) S. 284. Oberste, Visitation ( wie Anm. 67 ) S. 324. Es ist nicht klar, ob zu dieser Zeit die Provinzen wirklich schon als Verwaltungseinheiten angesehen wurden; für das Königreich León ist zwischen 1105 und 1112 ein camerarius von Cluny bezeugt, der noch nicht camerarius hispaniae heißt: Pierre David, Le pacte successoral entre Raymond de Galice et Henri de Portugal, in: Bulletin Hispanique 50, 1948, S. 275–290, S. 282–284. Zu den Kämmerern Clunys in Spanien ausführlich Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 606–612.
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wurden diese zusammengefasst 70. Entsprechend nennt eine Papsturkunde aus dem Jahr 1205 noch richtig Hispania et Galicia als Provinzen, in denen die Bischöfe Abt Hugo VI. von Cluny Schutz auf seiner Spanienreise gewähren sollten 71, während in Cluny die ( späteren ) Statuten und Visitationsprotokolle nur von der einen Provinz sprechen 72. Die Kontrolle der spanischen Klöster innerhalb der Cluniacensis ecclesia wurde aber nicht nur durch die Kämmerer der Provinzen gesichert. Immer wieder wurden Prioren und Mönche aus Frankreich auf die Iberische Halbinsel geschickt, so dass man in den klösterlichen Gemeinschaften eine Mischung aus spanischen und Mönchen finden konnte. Die Quellen sprechen von franci und meinen damit alle Völker, die nördlich der Pyrenäen leben 73. Solchen priores franci begegnet man bis zur ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts; zu dieser Zeit begann man, sie durch spanische Mönche zu ersetzen. Dieser Wandel fällt mit der ersten Inspektorenerwähnung in der zusammen, die in die Jahre 1213–1215 zu datieren ist 74. SAN ZOILO DE CARRIÓN DE LOS CONDES UND CLUNY
Am 1. August 1076 schenkte die Gräfin Teresa, Witwe des Grafen Gómez Díaz von Carrión und Saldaña, das Kloster von San Zoilo de Carrión an Cluny. Die Urkunde wurde dem Mönch Robert übergeben, damals Prior von San Isidro de Dueñas, damit er sie Abt Hugo von Cluny aushändige 75. In der Forschung hat man über eine frühere Schenkung unter Abt Odilo von Cluny oder eine cluniacensische Reform des Klosters in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts Vermutungen angestellt, aber alle diese Überlegungen stützen sich auf ein Dokument, das eindeutig als gefälscht angesehen werden muss 76. Nur drei Jahre vor der Schenkung San Zoilos hatte Alfons VI. im Jahre 1073 70
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Charles Julian Bishko, The Cluniac Priories of Galicia and Portugal. Their Acquisition and Administration, 1075-c. 1230, in: Studia Monastica, 7, 1965, S. 305–356, ND in: Ders., Spanish and Portuguese Monastic History, 600–1300 ( Collected Studies Series 188 ) London 1984, XI, S. 341–346. Im Jahr 1223 nennt sich der Prior Johannes totius Hispanie camerarius ( Cantera Montenegro, Santa María la Real [ wie Anm. 28 ] 2, Nr. 145 ). Bullarium ( wie Anm. 6 ) S. 99, 2. Demetrio Mansilla, La documentación pontificia hasta Innocencio III ( 965–1216 ) ( Monumenta Hispaniae Vaticana, sección: Registros 1 ) Rom 1955, Nr. 310, S. 342. Charvin ( wie Anm. 5 ) 1, Statut Nr. 6 von 1205, S. 59; Nr. 11 S. 114, Statut von 1314; S. 257–258 Definition von 1260; S. 286 Definition von 1264; S. 295–296 Definition von 1265 und öfter. Vgl. auch Pierre Anger, Le nombre des moines à Cluny in: Revue bénédictine 36, 1924, S. 267–271. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 496–529, 534–537. … assensu et uoluntate circe Cluniacensis domni Estorgii, Ruiz-Asencio – Ruiz-Albi – Herrero-Jiménez, San Román de Entrepeñas ( wie Anm. 64 ) Nr. 49. Zu den Visitatoren der Provinzen vgl. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 624–628. BB 3492. Dietrich W. Poeck, Cluniacensis Ecclesia. Der cluniacensische Klosterverband ( 10.–12. Jahrhundert ) ( Münstersche Mittelalter-Schriften 71 ) München 1998, S. 502 f. Einige Monate später, am 29. Januar 1077, wurde die Schenkung in modifizierter Form bestätigt, wahrscheinlich als Ergebnis der Verhandlung zwischen den Parteien ( BB 3507 ). Eine Analyse der Schenkung und ihrer Probleme bietet Segl, Königtum ( wie Anm. 51 ) S. 130–138. Eine Präsenz cluniacensischer Mönche schon im Jahr 1047 wurde erstmals von Yepes zu Beginn des 17. Jahrhunderts angenommen (Antonio de Yepes, Crónica general de la Orden de San Benito, edición abreviada por fray Justo Pérez de Urbel, Madrid 1959–1960, 3, S. 49) und weitgehend ohne kritische Begründung akzeptiert. Die Annahme stützt sich auf eine Schenkung der Kirche von Arconada zuguns-
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das Kloster San Isidro de Dueñas an Cluny übertragen, das erste cluniacensische Priorat im Königreich von León 77. Die Aktionen gehören also zur ersten Schenkungsphase von Klöstern im Königreich von León an Cluny in den Jahren 1073–1081, als unter anderen auch Santa María de Nájera und Santa Coloma de Burgos durch Alfons VI. an Cluny gelangten 78. Auf die Bedeutung der Geldzahlungen dieses Königs für die Finanzen der Abtei Cluny ist bereits verwiesen worden 79. Er hatte sich im Jahr 1077 verpflichtet, jährlich die Summe von 2000 Goldmünzen an Cluny zu zahlen und verdoppelte damit die schon zwischen 1050 und 1065 von seinem Vater Ferdinand I. versprochene Zahlung von jährlich 1000 Goldstücken 80. Die Schenkung der Teresa stand vor dem Tod des Grafen Gómez Díaz ( 1057–1058 ) unter dem Patrozinium der Heiligen Dreifaltigkeit und Johannes’ des Täufers 81. In den Jahren 1066–1074 stattete Ferdinand Gómez, einer der Söhne des Grafen Gómez und der Gräfin Teresa, das Kloster mit den Reliquien der Heiligen Zoilus und Felix aus, die er in Córdoba erhalten hatte. Der Autor der Translatio nennt den Ort ecclesia paruissima und betont, dass die Gräfin Teresa später ex politis lapidibus opere mirifice ein Gebäude errichtete, damit die Mönche bequem leben könnten. Außerdem habe sie das Kloster mit reichlichen Mitteln für Ernährung und Kleidung der Mönche versehen und die Kirche mit herrlichen Ornamenten geschmückt 82. Weitere Schenkungen der Gräfin und anderer Mitglieder ihrer Familie in den letzten Jahren des 11. und im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts trugen zu einer sehr reichen Ausstattung des Klosters bei 83. Günstig wirkte sich auch die Lage in einer reichen Agrarregion aus, der sog. <Tierra de Campos>, und die Anbindung an den wichtigen Verkehrsweg für Pilger und Handel, den . Das Kloster San Zoilo lag an der Brücke, die den Fluss Carrión überquerte; die Stadt Carrión de los Condes entwickelte sich zu einem wichtigen Handels- und Machtzentrum im Bistum Palencia. Vor allem durch das Wirken des Priors Stephanus in den Jahren 1112–1131 84 wurde das Priorat von San Zoilo zu einer der bedeutendsten cluniacensischen Depen-
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ten der ecclesie sancti Iohannis Babtiste et sanctorum Zoyli atque Felicis et monachis ordinis cluniacensis ibi Deo seruientibus, aus dem Jahre 1047, vgl. Pérez Celada, Documentación (wie Anm. 17) 1, Nr. 1. Paläographische Überlegungen verweisen das Dokument jedoch an das Ende des 12. Jahrhunderts, vgl. Palacio Sánchez-Izquierdo (wie Anm. 15) 1, S. 418. Dies erklärt die Anachronismen, die der Text enthält: die Referenz Mitte des 11. Jahrhunderts zum ordo cluniacense mit einem Ausdruck, der erst eineinhalb Jahrhunderte später verwendet wurde, oder das Patrozinium des heiligen Zoilus für das Klosters; dessen Reliquien wurden erst zwischen 1066 und 1074 dorthin transferiert, vgl. den Translationsbericht in der Biblioteca Nacional de Madrid, Manuscritos 11556, fol. 141r–142v. Eine andere Unstimmigkeit ist die Nennung des Grafen Gómez als Schenker (Ego prefatus comes Gomez … dono) während sonst von ihm in der Vergangenheitsform gesprochen wird und er als schon verstorben bezeichnet wird (fuit comes nomine Gomez). Vgl. Reglero de la Fuente, San Isidro ( wie Anm. 13 ). Segl, Königtum ( wie Anm. 51 ) S. 50–69. Vgl. o bei Anm. 56 und Anm. 61. Bishko, Fernando I ( wie Anm. 54 ). Segl, Königtum ( wie Anm. 51 ) S. 73–77. Zu den Beziehungen zwischen Ferdinand I. und Cluny vgl. zuletzt: Henriet, La politique monastique ( wie Anm. 58 ). BB 3507. Biblioteca Nacional de Madrid, Manuscritos 11 556, fol. 141r–142v. Pérez Celada, Documentación ( wie Anm. 17 ) 1, Nr. 9, 11, 18, 20, 22, 30. BB 3900; Pérez Celada, Documentación ( wie Anm. 17 ) 1, Nr. 21, 23, 24, 25, 27. Francisco Javier Peña Pérez, Documentación del monasterio de San Juan de Burgos ( 1091–1400 ), Burgos 1983, Nr. 6. Zum Prior Stephan vgl. jetzt: Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 208–214.
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denzen der , vergleichbar etwa Santa María de Nájera – zum Nachteil allerdings des nahe gelegenen Priorats von San Isidro de Dueñas 85. Um 1102 und um 1130 erscheint San Zoilo de Carrión in den Listen von Rotuli, einmal ( 1102 ) sogar zusammen mit den beiden anderen genannten cluniacensischen Prioraten 86. Während des Bürgerkriegs zwischen Urraca und Alfons I. nutzte Stephanus die Lage seines Priorates zwischen den Herrschaftsbereichen beider Könige, um als Vermittler zu wirken 87. Im Januar 1118 übertrug Königin Urraca ihm das Kloster San Martín de Frómista, damit er es in ein von San Zoilo abhängiges Priorat umwandele; vom Prior Stephanus spricht sie in dieser Urkunde als dem fidelissimo amico meo 88. Gegen Ende des gleichen Jahres reiste der Prior von Carrión nach Cluny, das zu dieser Zeit den Tod des Papstes Gelasius im eigenen Kloster und die Wahl des neuen Papstes Calixt II. ebendort erlebte 89. Einige Jahre später, im November 1129, gewährte Urracas Sohn und Nachfolger, König Alfons VII., San Zoilo ein Privileg zum Heil seiner Seele und pro seruitio quod prior domnus Stephanus fecit mihi et mee matri 90. Die engen und guten Beziehungen des Monarchen zum Priorat zeigen sich auch darin, dass Alfons VII. das Kloster wählte, um im Februar 1130 ein Konzil mit den päpstlichen Legaten Hubert, Kardinalpresbyter von San Clemente 91, abzuhalten, auf dem drei spanische Bischöfe und ein Abt abgesetzt 92 und Streitigkeiten um zwei Klöster zugunsten Clunys entschieden wurden 93. In den folgenden Jahren wurden ein Translationsbericht sowie eine Mirakelsammlung über den neuen Patron des Priorates, den heiligen Zoilus, verfasst 94. Im August 1142 besuchte Abt Petrus Venerabilis von Cluny das Priorat in Carrión 95. Im Jahr 1156 wird erstmals ein Prior von San Zoilo genannt, der gleichzeitig camerarius ist 96. Sowohl sein Vorgänger als auch sein Nachfolger in dieser Funktion waren Prioren von
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Zu San Isidro de Dueñas und den Urkunden der frühen Geschichte Clunys in Spanien vgl. Reglero de la Fuente, San Isidro ( wie Anm. 13 ) S. 132–138. Dufour ( wie Anm. 36 ) 1, Nr. 104, S. 275 ( 1102 ); Nr. 127. S. 609 ( 1130 ). Historia Compostellana, lib. 2, 6, hg. von Emma Falque Rey ( CC Cont. Med. 70 ) Turnhout 1988, S. 231–232. Pérez Celada, Documentación ( wie Anm. 17 ) 1, Nr. 21. Außerdem schenkte Urraca ihm im Jahr 1120 Besitzungen in Arconada, ebd., Nr. 23. Historia Compostellana ( wie Anm. 87 ) lib. 2, 8–9, S. 233–237; zum Tod des Gelasius in propria domo vgl. Neiske, Verhältnis ( wie Anm. 6 ) S. 311. Die Historia Compostellana nennt fälschlich B. als Prior von Carrión, obwohl die Quellen von San Zoilo richtig S. überliefern. Pérez Celada, Documentación ( wie Anm. 17 ) 1, Nr. 27. Stefan Weiß, Die Urkunden der päpstlichen Legaten von Leo IX. bis Coelestin III. ( 1049–1198 ), Köln 1995, S. 113–115. Historia Compostellana ( wie Anm. 87 ) lib. 3, 14. S. 441. BB 4005–4007; Segl, Königtum ( wie Anm. 51 ) S. 150, 165. Patrick Henriet, Un hagiographe au travail: Raoul et la réécriture du dossier hagiographique de Zoïle de Carrión ( annees 1130 ). Avec une première édition de deux prologues de Raoul, in: Monique Goullet – Martin Heinzelman ( Hgg. ), La réecriture hagiographique dans l’Occident médiéval. Transformations formelles et idéologiques, Ostfildern 2003, S. 251–283. Charles Julian Bishko, Peter the Venerable’s Journey to Spain in: Giles Constable – James Kritzeck ( Hgg. ), Petrus Venerabilis ( 1156–1956 ). Studies and Texts Commemorating the Eigth Centenary of his Death ( Studia Anselmiana 40 ) Rom 1956, S. 163–175, ND in: Ders., Spanish and Portuguese Monastic History ( wie Anm. 70 ) XII. Pérez Celada, Documentación ( wie Anm. 17 ) 1, Nr. 37.
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Santa María de Nájera. Ab 1169 bezeichneten sich dann die Prioren von San Zoilo als camerarius Hispanie, allerdings waren die Priorate von Galicien und Portugal in der so genannten nicht eingeschlossen. Greifbar wird diese Ämterverbindung in der Person des Humbertus ( 1169–1189 ) 97. Sein Nachfolger Petrus ( 1196–1213 ) verwaltete außer San Zoilo die abhängigen Priorate San Martín de Frómista, San Pelayo de Toro, San Vicente de Salamanca und Santa Ágata de Ciudad Rodrigo 98. Ein Bericht, den der Prior Petrus kurz vor seinem Tode verfasste ( 1213 ), zeigt eine gute wirtschaftliche Situation der Niederlassungen 99. Allerdings war dieser Zustand durch einen Streit mit den Bischöfen über die Einziehung des Zehnten in den Eigenkirchen des Klosters bedroht. In diesem Konflikt suchten die Cluniacenser die Unterstützung der Könige, zu denen sie weiterhin gute Kontakte unterhielten. Im Jahre 1218 besuchte der Abt von Cluny, Gerald von Flandern, die Monarchen Alfons IX. von León und Ferdinand III. von Kastilien und erhielt von beiden Finanzmittel für Belange des Generalkapitels 100. Im folgenden Jahr gehörte der Prior von Carrión und camerarius in Spanien, Iohannes, zu der Gesandtschaft, die König Ferdinand III. nach Deutschland schickte, um seine Verlobte Beatrix ( Isabella von Kastilien, † 1235 ), die Tochter Philipps von Schwaben, nach Kastilien zu holen 101. Der Prior Iohannes spielte in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle. Er vereinte unter seiner Kontrolle die Provinzen und 102 und war gleichzeitig Prior der wichtigsten cluniacensischen Priorate in Spanien, Carrión, Nájera und Villafranca 103. Schließlich erreichte er in Verhandlungen mit den Bischöfen von Calahorra, Braga, Palencia, Burgos und Zamora eine Einigung in der Frage des Zehnt: die Priorate konnten den ihnen di-
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Zu Humbertus vgl. Charles Julian Bishko, El abad Radulfo de Cluny y el prior Humberto de Carrión, camerario de España. Tres cartas inéditas de hacia 1174, in: Anuario de Estudios Medievales 1, 1964, S. 197–215. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 218–220, 612–614. Humbertus ist noch 1189 nachweisbar: José Luis Martín, Orígenes de la Orden Militar de Santiago ( 1170–1195 ), Barcelona 1974, Nr. 252, 253. Zur Provinz Galicien: Ders., Cluniac Priories ( wie Anm. 70 ). Während des Priorats von Humbert wurden die Könige Alfons VIII. von Kastilien ( 1169 ) und Alfons IX. von León ( 1188 ) im Kloster von San Zoilo zum Ritter geschlagen, BB 4230; Chronica latina regum Castellae, hg. von Luis Charlo Brea, in: Chronica hispana saeculi XIII ( CC Cont. Med. 73 ) Turnhout 1997, S. 7–118, cap. 11, S. 44. BB 4469bis. Zu Petrus vgl. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 614–616. BB 4469bis. BB 4513, 4514. Hansmartin Decker-Hauff, Das Staufische Haus, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur, 3: Aufsätze Katalog der Ausstellung [ des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart ], Stuttgart 1977, S. 361 f.; Peter Csendes, Philipp von Schwaben. Ein Staufer im Kampf um die Macht, Darmstadt 2003, S. 203. Luis Charlo Brea entschied sich in der Edition der kastilischen Königschronik an dieser Stelle für die Lesung: commendatarium Carrionensem ( Chronica latina [ wie Anm. 97 ] cap. 40, S. 83 ) an Stelle von comerarium, was Cabanes vorgezogen hatte ( María Deseamparados Cabanes Pecourt, Crónica latina de los reyes de Castilla [ Textos medievales 11 ] Valencia 1964, S. 77 ) und was eher auf camerarium verweist, eine Schreibweise, die auch in einer Schenkungsurkunde für Carrión begegnet: Pérez Celada, Documentación ( wie Anm. 17 ) 1, Nr. 83. Bishko, Cluniac priories ( wie Anm. 70 ) S. 353–355. Crónica latina de los reyes de Castilla ( wie Anm. 101 ) S. 77; Pérez Celada, Documentación ( wie Anm. 17 ) 1, Nr. 83, 86, 87, 90. Cantera Montenegro, Santa María la Real ( wie Anm. 28 ) 2, Nr. 138, 140, 142–146, 148–151. Als Prior von Villafranca: BB 4554. Zum Prior und camerarius Johannes vgl. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 220–223, 618–620.
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rekt zustehenden Anteil behalten, die Einkünfte aus Pfarrkirchen, die zu den Prioraten gehörten, fielen an die Bischöfe 104. Die Amtsführung des Priors Iohannes wurde von den Mönchen von Nájera zwar scharf kritisiert 105, aber es gibt keine vergleichbaren Nachrichten aus Carrión selbst. Mit seiner Amtszeit gingen die Jahre des Wohlstands für das Kloster San Zoilo zu Ende und gleichzeitig die Phase des größten Einflusses der Ecclesia cluniacensis in Spanien. Aus den folgenden Jahrzehnten sind nur wenige Quellen für San Zoilo erhalten. Eine Visitation im Jahr 1245 zeigt, dass es 32 Mönche gab; zugleich wurden einige Führungsprobleme bemängelt. Der Prior und die obedientiarii wurden gezwungen, vor dem Kapitel des Klosters Rechenschaft abzulegen, der elemosinarius sollte zukünftig die Armen besser versorgen. Um dem Verfall der Klosterdisziplin vorzubeugen befahl man, entgegen einem Dispens des früheren Abtes, die strenge Beachtung der Fleischabstinenz 106. Generell waren die Zustände in den spanischen Prioraten nicht ernsthaft zu beanstanden, zumindest nicht in dem Maße, wie später im 14. Jahrhundert. Der Prior von San Zoilo blieb weiterhin bis 1335 camerarius der Provinz – abgesehen von einer kurzen Unterbrechung in den Jahren 1272–1279 107. Dieser kurze Abriss der Geschichte von San Zoilo de Carrión zeigt die Bedeutung des spanischen Priorates für die Ausbreitung der cluniacensischen Reform auf der Iberischen Halbinsel. Die genauere Analyse des Necrologs in den folgenden Abschnitten wird durch weitere Aspekte die herausragende Stellung des Klosters verdeutlichen, das offenbar als Unterzentrum des Verbandes auch der Übermittlung der liturgischen Memoria diente. VERGLEICH MIT CLUNIACENSISCHEN NECROLOGIEN
Wir können davon ausgehen, dass die Abtei Cluny als Zentrale des Verbandes alle rechtlich unterstellten Klöstern sofort nach deren Übertragung mit verschiedenen Handschriften für das monastische Leben ausgestattet hat. Das bedeutet, dass unter anderem sowohl Consuetudines als auch Martyrolog- und Necrologabschriften dem neuen Kloster zur Verfügung gestellt werden mussten, damit in Liturgie und Alltagsleben die Reformideale Clunys befolgt werden konnten. Zur Einübung der Lebensgewohnheiten wurden gleichzeitig einzelne Mönche für die Dauer einiger Wochen oder Monate nach Cluny entsandt 108. Man hat also wohl auch in San Zoilo de Carrión nach der Übertra104
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BB 4539, 4541, 4554, 4555. Pérez Celada, Documentación ( wie Anm. 17 ) 1, Nr. 93. Luciano Serrano, D. Mauricio, obispo de Burgos y fundador de su catedral, Madrid 1922, Nr. IX. Archivo de la Catedral de Zamora, leg. 21, Nr. 1. Vgl. zu diesem Streit jetzt Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 358–396. BB 4596. BB 4861. Die Belege für den camerarius finden sich in der Dokumentation von San Zoilo de Carrión: Pérez Celada, Documentación ( wie Anm. 17 ) und bei Cantera Montenegro, Santa María la Real ( wie Anm. 28 ) in den Bänden 2 und 3. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 604–622. Burkhardt Tutsch, Studien zur Rezeptionsgeschichte der Consuetudines Ulrichs von Cluny ( Vita regularis 6 ) Münster 1998, S. 9–11; Andreas Sohn, Der Abbatiat Ademars von Saint-Martial de Limoges ( 1063–1114 ). Ein Beitrag zur Geschichte des cluniacensischen Klosterverbandes ( Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinertums 37 ) Münster 1989, S. 121–133, mit Verweis auf mögliche Probleme bei der Einführung der neuen Traditionen.
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gung an Cluny eine Necrologabschrift erhalten, die dann entsprechend den innerhalb des Verbandes verbreiteten Nachrichten über verstorbene Mönche 109 fortgeführt werden konnte. Betrachtet man die Übereinstimmungen und Differenzen mit der <Synopse> genauer, so ergeben sich eine Reihe von Auffälligkeiten, die eine eigenständige Prägung der spanischen Überlieferung des cluniacensischen Totengedenkens anzeigen. Obwohl, wie oben gezeigt, bis zum Ende des 11. Jahrhunderts eine fast vollständige Übereinstimmung durch die möglichen Namenparallelen zu konstatieren ist, sind dennoch Eigenarten und Abweichungen bei der Anordnung des Namengutes festzustellen. Auf diese Weise eröffnet sich eine Möglichkeit, die Besonderheiten der Memorialüberlieferung aus Carrión sichtbar zu machen und ihre Nähe oder Distanz zu den anderen Necrologredaktionen zu beschreiben. Da man die Menge der Nameneinträge nicht auf dem Wege einer historischen Verifizierung, d. h. durch Identifizierung aller Personen analysieren kann, müssen hilfsweise andere Methoden herangezogen werden. Bei der kritischen Edition von Sprachtexten können mit Argumenten wie „semantisch kohärent“, d. h., inhaltlich sinnvoll, und „komplettiertes Ganzes“, d. h., ihr Beginn und ihr Ende sind nicht willkürlich, relativ leicht Fehler der Überlieferung entdeckt werden 110. Schwieriger ist es dagegen, die sachlich-inhaltliche einer Necrologüberlieferung zu begründen, oder umgekehrt dem Schreiber des Necrologs Fehler nachzuweisen, denn eine Namenreihe von Verstorbenen enthält nicht wie eine Sprachsentenz eine grammatikalische und inhaltliche Gesetzmäßigkeit. Necrologeinträge würden im klassischen Sinn als Äußerungen gelten, denn sie sind zunächst „inkohärent und inkomplett“ 111. Fehlerhafte Besonderheiten eines Necrologs können also nur mit anderen Kriterien entdeckt werden. Als ein tragfähiges Argument hat sich die Suche nach ungewöhnlichen und unerwarteten – weil unwahrscheinlichen – Doppelungen von Nameneinträgen erwiesen. Wenn also etwa ein bestimmter Name unter Tausenden von Einträgen nur zweimal vorkommt, dann aber am gleichen Tag, so ist höchst wahrscheinlich von einer fehlerhaften Doppelung auszugehen. Gerade für die Totenmemoria aus SaintMartin-des-Champs und Marcigny sind auf diesem Wege zahlreiche fehlerhafte Doppelungen in den Blick getreten, die sich sowohl mit philologischen 112 als auch mit rein statistischen Methoden ermitteln lassen 113. Während für die genannten Necrologien so Hunderte von Doppelungen gefunden werden konnten, bleibt die Tradition aus Carrión erstaunlich fehlerfrei. Keiner der irrtümlichen Doppeleinträge in den Necrologien von Saint-Martin-des-Champs und Marcigny findet sich in der Handschrift aus San Zoilo. Es treten zwar einige wenige doppelt eingetragene Namen auf, die dann folgerichtig auch keine ( zweite ) Parallele in der <Synopse> finden; angesichts der rund 5800 Einträge auf den Verso-Seiten bleibt 109 110
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Vgl. o. bei Anm. 37. Egon Werlich, Typologie der Texte. Entwurf eines textlinguistischen Modells zur Grundlegung einer Textgrammatik, Heidelberg 1975, S. 16. Ebd. S. 16. Franz Neiske, Textkritische Untersuchungen an cluniacensischen Necrologien: Verdoppelung von Nameneinträgen, in: Gerd Althoff – Dieter Geuenich – Otto Gerhard Oexle – Joachim Wollasch ( Hgg. ), Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1988, S. 257–287. Siegfried Zörkendörfer, Verfahren zur Abschätzung von Doppeleinträgen, in: ebd., S. 289–296.
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deren Zahl mit vermutlich( ! ) 14 Fällen erstaunlich klein. Das Necrolog aus Carrión überliefert unter diesem Gesichtspunkt die cluniacensische Memoria präziser als einige der anderen großen cluniacensischen Necrologien. Das wird auch deutlich, wenn man einzelne Tage einer genaueren Analyse unterzieht. Die Einträge zum 17. August erscheinen allein im Necrolog von Marcigny in einer Anordnung, die nicht der chronologischen Folge der Todesdaten entspricht, wie sie vor allem die älteren Überlieferungen aus Saint-Martial und Moissac notieren. Die ersten acht Namen aus Marcigny: ( 1 ) Bertrannus, ( 2 ) Godoenus, ( 3 ) Raimbertus, ( 4 ) Isnardus, ( 5 ) Otulfus, ( 6 ) Raimfredus, ( 7 ) Arnaldus, ( 8 ) Durannus, sind in den anderen Necrologien erst ab Position 10 zu finden und damit einem späteren Zeithorizont zuzuordnen. Da an diesem Tag keine Umstellung der Namen wegen der Hervorhebung eines Würdenträgers nötig war 114, haben wir es hier nicht nur mit einer singulären, sondern wahrscheinlich auch Tradition zu tun. Die Namenreihe aus Carrión zu diesem Tag stimmt dagegen mit den übrigen Necrologien überein. Die aus Cluny an San Zoilo übergebene Vorlage für die liturgische Memoria kann also nicht der Überlieferung aus Marcigny zugeordnet werden 115. Für eine Suche nach Fehlern und Differenzen eignen sich vor allem Tage, bei denen im Verlaufe der Zeit gravierende Veränderungen vorgenommen werden mussten, weil durch Hinzufügen oder Streichen eines Namens Umstellungen der übrigen Einträge erforderlich wurden 116. Das Necrolog aus San Zoilo folgt in diesen Fällen weitgehend dem Muster der übrigen cluniacensischen Necrologien. Zum 28. April musste nach dem Tode des Abtes Wido von Montierneuf im Jahr 1091 für dessen DepositioEintrag Platz geschaffen werden. Dazu wurden drei Namen, die nach Ausweis der älteren Necrologien bisher an der Spitze gestanden hatten, ausradiert und als fünfter, sechster und siebter Eintrag hinter den bis 1091 schon vorhandenen Namen neu eingetragen 117. Diese chronologisch Reihenfolge findet sich auch im Necrolog aus Carrión. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist der 29. April, der Todestag Abt Hugos von Cluny ( † 29. April 1109 ). Hugo war ursprünglich zu seinem Todestag in den Necrologien eingetragen, wurde aber dann nach seiner Kanonisation am 6. Januar 1120 118 wohl in jedem cluniacensischen Kloster aus dem Necrolog getilgt und in das Martyrolog transferiert. Solche Streichungen aus dem Necrolog im Gefolge von Heiligsprechungen lassen sich auch in anderen Fällen nachweisen 119. Zum Todestag Hugos zeigen die Namenreihen in der <Synopse> deshalb ein verwirrendes Durcheinander von Doppelungen und Änderungen der alten Reihenfolge 120. In der Handschrift aus
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Neiske, Synoptische Darstellung ( wie Anm. 30 ) S. 23. Poeck, Formgeschichtliche Betrachtungen ( wie Anm. 22 ) S. 735. Vgl. die o. bei Anm. 41 beschriebenen Fälle. Müssigbrod, Necrologüberlieferung ( wie Anm. 39 ) S. 71. Kohnle ( wie Anm. 38 ) S. 251 mit weiterer Literatur. Franz Neiske, La tradition nécrologique d’Adélaïde, in: Patrick Corbet – Monique Goullet – Dominique Iogna-Prat ( Hgg. ), Adélaïde de Bourgogne. Genèse et représentation d’une sainteté impériale ( Actes du colloque international du Centre d’Études Médiévales – UMR 5594, Auxerre 10 et 11 décembre 1999 ) Dijon 2002, S. 81–93, S. 86 f. Dietrich Poeck, Ein Tag in der Synopse der cluniacensischen Necrologien, in: Frühmittelalterliche Studien 16, 1982, S. 193–207, S. 203 f., mit Auszug aus der <Synopse> und Facsimilia der Handschriften zum 29. April ( Tafel VIII ).
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Carrión hingegen haben die notwendigen Umstellungen nur wenige Spuren hinterlassen. Hier wurde Bischof Theoger von Metz, der im gleichen Jahr 1120 als Mönch in der Abtei Cluny gestorben war 121, an die ursprünglich von Abt Hugo belegte Stelle gesetzt, die Reihenfolge der anderen Namen aber blieb weitgehend erhalten. Auch in diesem Fall zeigt sich, dass die Redaktion der Nameneinträge in San Zoilo nicht mit den anderen Necrologien übereinstimmt, was für eine eigene Texttradition spricht. Es kann nicht entschieden werden, ob diese in Spanien selbst erfolgte oder aus einer anderen, uns bisher nicht bekannten Überlieferung stammt. Neben der Reihenfolge kann auch die Form der Einträge selbst differieren. Abgesehen von den hier nicht zu diskutierenden namenphilologischen Varianten 122 fallen die unterschiedlichen Zusätze zu den Namen sofort auf. Trotz des Wunsches nach einer – im Idealfall – einheitlichen Memorialüberlieferung gibt es bei den Amtstiteln der Verstorbenen immer wieder Unterschiede. So ist etwa der Bischof Adraldus von Chartres – ehemals Prior von Payerne und Abt von Breme, eingetragen zum 10. Februar – in den Necrologien von Saint-Martial als abbas bezeichnet. Das Necrolog von Marcigny verweist darauf, dass Adraldus Bischof und Abt gewesen sei; in Saint-Martin-desChamps wurde er als Bischof vermerkt, und die jüngste Überlieferung dieser Reihe, das Necrolog von Longpont, nennt auch seinen Amtsort: Depositio domni Adraldi episcopi Carnotensis. Die Handschrift aus Carrión verzeichnet ihn als episcopus. Da Adraldus bereits 1075 starb 123, wird sein Eintrag schon in der von Cluny an San Zoilo übermittelten Vorlage in dieser Form gestanden haben. Rainald, ein Neffe Abt Hugos von Cluny, war zunächst Abt von Vézelay gewesen, bevor er Erzbischof von Lyon wurde 124. Auch seine Einträge, zum 7. August, differieren: In den Necrologien von Marcigny und Saint-Martin steht archiepiscopus, in Longpont fehlt jeglicher Titel und in Carrión ist er als abbas vermerkt. Ähnlich unterschiedlich ist Bischof Goderannus von Saintes, ehemals Abt von Maillezais ( † 1071 ) 125, zum 6. August eingetragen. In allen cluniacensischen Necrologien, einschließlich dem aus San Zoilo, hat er einen Depositio-Eintrag als Bischof, nur in Marcigny wird er als Abt und Bischof geführt. Interessanter ist aber der ihm folgende Name eines Guitbertus. Dieser ist, wie man am ältesten Necrolog aus Saint-Martial sehen kann, wenig später als Goderannus gestorben. Alle Necrologien der <Synopse> verzeichnen ihn in der richtigen chronologischen Schicht, nur die Tradition aus Saint-Martin-des-Champs hat seinen Namen unmittelbar hinter den Bischof an die zweite Position der Tageseinträge gesetzt, wohl als man Goderannus mit einem Depositio-Eintrag ehren wollte. Dadurch aber figuriert Guitbertus jetzt vor den Namen von fünf schon vor ihm verstorbenen 121
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Vita Theogerii abbatis S. Georgii et episcopi Mettensis, hg. von Philipp Jaffé ( MGH SS 12 ) Hannover 1856, S. 449–479, S. 479. Wolf-Dieter Heim, Lemmatisierung und Registrierung der Personennamen, in: Synopse ( wie Anm. 8 ) 1, S. 28–33. Joachim Mehne, Cluniacenserbischöfe, in: Frühmittelalterliche Studien 11, 1977, S. 241–287, S. 255 f. Mehne, Cluniacenserbischöfe ( wie Anm. 123 ) S. 265. Er verfasste in seiner Amtszeit als Abt von Vézelay eine Vita Hugonis, Vies de S. Hugues de Cluny par l’abbé Renaud de Vézelay, hg. von Robert B. C. Huygens, in: Vizeliacensia II. Textes relatifs à l’histoire de l’abbaye de Vézelay ( CC CM 42, Suppl. ) Turnhout 1980, S. 35–67; er starb 1129 und wurde in Cluny begraben. La Chronique de Saint-Maixent ( 751–1140 ), hg. von Jean Verdon ( Les classiques de l’histoire de France au Moyen Age 33 ) Paris 1979, S. 140. Mehne, Cluniacenserbischöfe ( wie Anm. 123 ) S. 256 f.
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Mönchen. Diese Umstellung muss entstanden sein, als man den Bischof von Saintes, dessen besondere Regelstrenge in seiner Zeit als Mönch in Cluny sogar in einer der Hugo-Viten hervorgehoben wird 126, an die Spitze der Namen des 6. August setzte. Dieser ansonsten singulären Form folgt auch das Necrolog von San Zoilo. Hier ist also die Nähe zum Necrolog aus Saint-Martin größer. Da gemäß dem Ideal eines in allen Klöstern zu beachtenden Totengedenkens die Namen der Mönche zumindest bis etwa zur Mitte des 12. Jahrhunderts zumeist in mehreren Necrologien parallel überliefert sind, fällt eine Besonderheit der Handschrift aus Marcigny auf. Dort finden sich vermehrt singulär tradierte Namen. Für die im Fragment von Carrión erhaltenen Tage können in der <Synopse> rund 500 singuläre Namen aus Marcigny nachgewiesen werden. Für diese fehlen aber nicht nur in der <Synopse> die Übereinstimmungen. Auch in Carrión lassen sich fast keine Parallelen zu diesen Einträgen auf den Verso-Seiten nachweisen, wo man sie als Einträge von <Mönchen> erwarten müsste. Nur in 14 Fällen ( von 500 ) gibt es eine Parallele – diese betreffen aber bis auf eine Ausnahme Namen, die im Necrolog von Marcigny nachgetragen sind. Auch hier zeigt sich, dass die spanische Redaktion weit entfernt ist von der Überlieferung aus Marcigny. Eigenständigkeit dokumentiert das Necrolog aus San Zoilo aber auch noch in einem weiteren Punkt. Auf den Verso-Seiten sind – darauf ist schon mehrfach verwiesen 127 worden – in deutlichem Abstand von den Namen der Mönche zu einzelnen Tagen Frauennamen eingetragen, die zwar Parallelen in anderen Necrologien finden, dort aber nicht in gleicher Weise von der Gruppe der Mönche getrennt sind. Sehr wahrscheinlich handelt es sich hier um Nonnen aus cluniacensischen Frauenklöstern. Ob mit diesen Frauen aber immer Nonnen gemeint sind, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, da sich etwa für die Abtei Moissac nachweisen lässt, dass Frauen auch durch Konversion oder Schenkungen an das Kloster ein Totengedenken wie die Mönche erhalten konnten 128. Das könnte auch für einige Einträge im Necrolog von Carrión zutreffen, denn zum 27. Februar steht die Infantin ( ? ) Sancha ( Sancia ) dort am Ende der Rubrik der Nonnen, hervorgehoben durch ein Kreuz, das mit der Randbemerkung Officium fiat et iusticia detur ein besonderes Gedenken der Gemeinschaft fordert. In gleicher Weise wurde zum 5. August einer Frau namens Sol gedacht. Unter den Frauennamen sind nur diese beiden mit einem Kreuz gekennzeichnet und damit den Mönchen aus San Zoilo im Gedenken gleichgestellt. Für beide gibt es keine Parallelen in den übrigen Necrologien der <Synopse>. Da es aber in Spanien keine cluniacensischen Frauenklöster gab, waren auch sie offenbar keine Nonnen oder sie waren Nonnen etwa in Marcigny ( der Katalog der dort eingetretenen Damen nennt eine Sancia und eine Solicie, die bisher allerdings anders identifiziert werden 129 ) und wurden nur
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Vita auctore Hildeberto ( wie Anm. 61 ) S. 653C. Vgl o. bei Anm. 30. Axel Müssigbrod, Frauenkonversionen in Moissac, in: Historisches Jahrbuch 104, 1984, S. 113–129, stellt, S. 114 Anm. 6, Namen solcher Frauen zusammen, zu denen sich auch in Carrión Parallelen finden lassen. Else Maria Wischermann, Marcigny-sur-Loire. Gründungs- und Frühgeschichte des ersten Cluniacenserinnenpriorates ( 1055–1150 ) ( Münstersche Mittelalter-Schriften 42 ) München 1986, S. 413, Kommentar S 1; S. 414, Kommentar S. 5. Vgl. ebd., S. 512 zu einem möglichen Frauenkloster in Leyre.
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wegen ihrer speziellen Verdienste um Carrión in San Zoilo besonders kommemoriert. Das könnte bei Sancha der Fall sein 130. Deutlicher noch treten die formalen Unterschiede zu den Necrologien der <Synopse> hervor, wenn man die Recto-Seiten untersucht. Dort wurden zahlreiche Namen mit dem Zusatz amicus noster / amica nostra versehen. Im nächsten Kapitel soll gezeigt werden, dass die Toteneinträge auf diesen Seiten in bisher unbekannter Vielfalt eine Memoria für die Freunde und Wohltäter des Klosters Cluny begründen sollten. Die bereits früher im Rückgriff auf die Consuetudines als ideale Ordnung für die cluniacensischen Necrologien vorgeschlagene Gruppierung: professi, sanctimoniales, familiares / amici 131 scheint bisher allein in dem neu entdeckten Fragment aus Carrión verwirklicht worden zu sein. Dieses Ergebnis lässt vermuten, dass dieses Necrolog eine größere Nähe zum verlorenen Necrolog der Abtei Cluny haben könnte, als alle anderen bisher bekannten. FAMILIARES VON CLUNY IM NECROLOG VON CARRIÓN
Auf den bisher nur kurz beschriebenen Recto-Seiten eröffnet das Necrologfragment von Carrión de los Condes entscheidend neue Einsichten in das Totengedenken der Abtei Cluny und des cluniacensischen Klosterverbandes. Wie bereits angedeutet, sind die Einträge auf diesen Seiten in drei Kategorien unterteilt, die generell den familiares, also den Verbrüderten sowie den Wohltätern, Freunden und Verwandten zugerechnet werden können. Diese Zuordnung wird durch entsprechende Ergänzungen zu den Namen erleichtert. Da man im Priorat San Zoilo – wie in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt – auf den Verso-Seiten nahezu vollständig die uns bisher bekannten Mönche aus cluniacensischen Necrologien kommemorierte, stellt sich für die RectoSeiten die Frage, ob man auch hier vorrangig die familiares des cluniacensischen Klosterverbandes eingetragen hat, oder ob der Kreis der lokalen spanischen Wohltäter und Freunde Vorrang hatte. Die Namen der ersten Rubrik beziehen sich auf Mönche aus Klöstern, die nicht Mitglied der Cluniacensis ecclesia waren, mit denen man aber eine Verbrüderung abgeschlossen hatte. Zum 2. August ist Abt Helgodus ( † 1104 ) von Marmoutier ( dép. Indre-et-Loire ) verzeichnet, der gleichzeitig nur im Necrolog von Saint-Martin-des130
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Die Identifizierung ist nicht sicher. Es könnte sich um die Infantin Sancha, Tochter des Grafen Raimund von Burgund und der Königin Urraca, handeln, vgl. García Calles, Doña Sancha, hermana del Emperador. Estudio histórico-documental, León – Barcelona, 1972. Sancha starb am 1. März ( Necrolog der Kathedrale von León ) oder am 28. Februar 1159 ( Epitaph in der Kirche San Isidoro von León ) vgl. Julio Pérez Llamazares, Historia de la Real Colegiata de San Isidoro de León, León 1927, ND León 1982, S. 386–387. Ana Suárez González, „Del pergamino a la piedra“ – „De la piedra al pergamino“ ( Entre diplomas, obituarios y epitafios medievales de San Isidoro de León ), in: Anuario de Estudios Medievales, 33, 2003, S. 365–415, S. 391–394. Sancha hatte die Klöster San Miguel vor den Toren von Zamora und Távara an Marcigny übertragen, vgl. Luis-Miguel Villar García, Documentación medieval de la catedral de Segovia ( 1115–1300 ), Salamanca 1990, Nr. 60. Jean Richard, Le cartulaire de Marcigny-sur-Loire ( 1045–1144 ). Essai de reconstitution d’un manuscrit disparu, Dijon 1957, Nr. 304 und Nr. 305. Wischermann, Marcigny-sur-Loire ( wie Anm. 129 ) S. 205 f. Zu den Beziehungen der Infantin Sancha zu Cluny vgl. Segl, Königtum ( wie Anm. 51 ) S. 174–176; Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 167–168, 662–664. Poeck, Formgeschichtliche Betrachtungen ( wie Anm. 22 ) S. 733.
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Champs erscheint. In einer Urkunde zur Beilegung eines Streites mit den Mönchen von Saint-Martin, die auf Vermittlung durch Papst Urban II. zustande kam, nennt die Arenga pacis et unitatis vincula illibata, die es zu bewahren gelte 132. Es liegt nahe, hier auch an eine Verbrüderung zu denken. Hinter dem zum 27. April verzeichneten Manasses abbas verbirgt sich der Abt des flandrischen Klosters Bergues-St-Winnoc ( dép. Nord ), der zum gleichen Tag auch in Saint-Bénigne in Dijon kommemoriert wurde, und dessen Tod nach 1083 anzusetzen ist 133. Neben den Äbten sind aber auch zahlreiche einfache Mönche in dieser Rubrik überliefert, zu der insgesamt fast 600 Namen gehören. Aus methodischen Gründen seien hier nur wenige der Parallelen zu Mönchen mit sehr seltenen Namen aus anderen Necrologien genannt. Ein Auitor zum 17. April findet seine Parallele in einem Avitus, der singulär im Necrolog von Marcigny zum gleichen Tag überliefert wird. Das gleiche gilt für einen Gazo, der in Carrión und in Marcigny zum 25. Februar eingetragen ist. Ein Ballo zum 3. August ist auch singulär in Saint-Martin überliefert. Ein Esinio zum 9. März findet seine Parallele in dem singulären Eintrag des Necrologs von Saint-Martial in Limoges. Das gilt auch für einen Simphorianus, der in Carrión und in Saint-Martial zum 10. März verzeichnet wurde. Ein Salo dagegen kann mit einem gleichnamigen miles identifiziert werden, der unter den familiares in den Necrologien von Longpont und Saint-Martin steht. In einigen anderen Fällen kann die Singularität eines Namens als Argument dafür herangezogen werden, dass sich unter Einträgen, die in den Necrologien der <Synopse> als Professen cluniacensischer Klöster aufgeführt sind, in Wahrheit Mönche anderer – verbrüderter – Gemeinschaften verbergen können. Das gilt etwa für die schon genannten Esinio ( 9. März ), Simphorianus ( 10. März ), Ballo ( 3. August ) und auch für Frodinus ( 16. August ), die jeweils nur einmal in der <Synopse> erscheinen und in Carrión zum gleichen Datum unter den verbrüderten Mönchen der Recto-Seiten vermerkt sind. Hier zeigt sich, dass das Necrolog von Carrión die familiares der Abtei Cluny deutlicher unterscheidet, als die bisher bekannten, in der <Synopse> edierten Necrologien. Das gilt vor allem für die zahlreichen – im Zusammenhang der <Synopse> – singulären Einträge in Marcigny, die folglich nicht mehr ausnahmslos als cluniacensische Mönche 134, sondern eher als verbrüderte Mönche oder Laien bzw. als Wohltäter Clunys anzusehen sind. In dieser ersten Rubrik auf den Recto-Seiten des Fragments aus San Zoilo verweist ein m am rechten Rand darauf, dass hier Mönche eingetragen seien. Gleichwohl sind dort Bischöfe und sogar einige milites und comites zu finden. Bischöfe konnten natürlich Mönche gewesen sein, wie etwa Erzbischof Halinard von Lyon, der ehemalige Abt von Saint-Bénigne. Zu seinem Todestag, dem 29. Juli, ist er mit Depositio-Vermerk ( Aynardi archiepiscopi ) im Necrolog von Carrión unter den verbrüderten Mönchen ver132
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Liber testamentorum Sancti Martini de Campis. Reproduction annotée du manuscrit de la Bibliothèque Nationale, hg. von Émile Louis Coüard u. a. ( Publications de la Conférence des Sociétés Historiques du département de Seine-et-Oise ) Paris 1905, Nr. 29, S. 38 f. Schamper ( wie Anm. 25 ) S. 196, A 47. Joachim Wollasch, Die Wahl des Papstes Nikolaus II., in: Josef Fleckenstein – Karl Schmid ( Hgg. ), Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, Freiburg – Basel – Wien 1968, S. 205–220, S. 215.
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zeichnet 135. Er war nicht Mönch eines cluniacensischen Klosters und ist auch im Necrolog von Saint-Martin-des-Champs unter den Mönchen ohne Parallelen zu anderen Totenbüchern der <Synopse> nur deshalb überliefert, weil er irrtümlich nach dem gleichen Fehlermuster wie etwa Papst Gregor VII. aus der Rubrik der Familiares in die der Mönche eingetragen wurde 136. Das gilt ebenso für Bischof Ursus von Beauvais ( † 1089 ), der zum 19. April verzeichnet ist und wie Halinard nur im Necrolog von Saint-Martin auftritt. Der Bischof Wolbodo von Lüttich ( † 21. April 1021 ) fehlt dagegen vollständig in den bisher bekannten cluniacensischen Necrologien. Wolbodo, Kaplan Kaiser Heinrichs II., war einer der großen Förderer der lothringischen Reformbewegungen. Er setzte sich dafür ein, dass das Jakobuskloster in Lüttich durch Mönche aus Verdun erneuert wurde und gründete selbst das Kloster Saint-Laurent in Lüttich 137. In seinem Bistum wurde Wolbodo als Heiliger verehrt. Im Necrolog von Carrión verbirgt sich sein Gedenken hinter dem Eintrag Wlpotonis episcopi zum 21. April, seinem Todestag. Er muss als Förderer des Reformmönchtums eine spezielle Memoria unter den familiares des Klosters Cluny erhalten haben und auf diese Weise in das spanische Necrolog gelangt sein. Er steht in der Reihe der Mönche – allerdings ist nicht bekannt, ob er als Kleriker oder als Mitglied einer monastischen Gemeinschaft starb. Ebenso fehlt in den bisher bekannten cluniacensischen Necrologien ein weiterer der frühen Freunde Clunys, Erzbischof Teotolo von Tours ( † 28. April 945 ) 138. Sein Eintrag zum 24. April im Necrolog von Carrión ist besonders feierlich: Et deposicio domni Teuthelanis archiepiscopi. Er war zusammen mit Odo von Cluny Kanoniker in Saint-Martin in Tours und unterstützte das neu gegründete Kloster offensichtlich mit Handschriften aus dem reichen Skriptorium der Bischofskirche von Tours. Für ihn war Abt Odo von Cluny in seiner Zeit in Tours offenbar als Urkundenschreiber tätig. Ob er allerdings vor der Übernahme des Bischofsamtes in Tours auch Mönch in Cluny geworden ist, dürfte angesichts der Überlieferung aus Carrión unter den Mönchen befreundeter Klöster zweifelhaft sein 139.
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Schamper ( wie Anm. 25 ) S. 189 f., A 14. Franz Neiske, Réforme clunisienne et réforme de l’Eglise au temps de l’abbé Hugues de Cluny, in: La reforma gregoriana y su proyección en la cristiandad Occidental. Siglos XI–XII ( XXXII Semana de Estudios Medievales Estella 18–22 julio 2005 ) Pamplona 2006, S. 335–359, S. 341. Sackur, Cluniacenser ( wie Anm. 47 ) 2, S. 174 f. Hubert Dauphin, Le bienheureux Richard, abbé de Saint-Vanne de Verdun, mort en 1046, Löwen – Paris 1946, S. 201 f. Fernand Vercauteren, Notes sur les origines de Saint-Laurent de Liège, In: Rita Lejeune ( Hrsg. ), Saint-Laurent de Liège. Église, abbaye et hôpital militaire. Mille ans d’histoire, Liège 1968, S. 15–24, S. 19. Stefan Weinfurter – Odilo Engels ( Hgg. ), Series episcoporum ecclesiae catholicae occidentalis ab initio usque ad annum MCXCVIII, V, Germania, 1, Archiepiscopatus Coloniensis, 1982, S. 69 f. Michèle Courtois, Remarques sur les chartes originales des évêques, antérieures à 1121 et conservées dans les bibliothèques et archives de France. Étude d’un cas particulier: Téotolon, archevêque de Tours, in: Michel Parisse ( Hg. ), A Propos des actes d’évêques. Hommage à Lucie Fossier. ( Collection ) Nancy 1991, S. 45–77, S. 57. Zu Teotolos Freundschaft mit Abt Odo von Cluny vgl. Joachim Wollasch, Königtum, Adel und Klöster im Berry während des 10. Jahrhunderts, in: Gerd Tellenbach ( Hg. ), Neue Forschungen über Cluny und die Cluniacenser, Freiburg 1959, S. 17–165, S. 130 Anm. 43, S. 138 Anm. 84, S. 156. Mehne, Cluniacenserbischöfe ( wie Anm. 123 ) S. 254. Hartmut Atsma – Jean Vezin, Cluny et Tours au Xe siècle. Aspects diplomatiques, paléographiques et hagiographiques, in: Die Cluniazenser ( wie Anm. 6 ) S. 121–132, S. 123.
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Im Falle des Bucardus comes zum 26. Februar ist der Eintrag in der Rubrik der verbrüderten Mönche berechtigt, denn es handelt sich hier um den Grafen Burchard von Vendôme ( † 1005 ), der kurz vor seinem Tode in dem auf seine Bitte von Maiolus von Cluny reformierten Kloster Saint-Maur-des-Fossés ( dép. Val-de-Marne ) Mönch geworden war 140. Ob das auch für den Grafen Nuño Pérez de Lara ( † 1177 ) gilt, der zum 3. August als Nuno comes vermerkt ist und am Rand den Zusatz officium fiat et iusticia detur trägt, ist unwahrscheinlich, da er bei der Belagerung von Cuenca starb. Er gehört zu den einflussreichsten Persönlichkeiten in den ersten Jahren der Regierungszeit König Alfons’ VIII. Er war Inhaber der Tenencia von Carrión ( 1165, 1176 ), von Dueñas ( 1162, 1173 ), von San Román ( 1171, 1172 ) und von Nájera ( 1176 ) und stand damit in direktem Kontakt mit den cluniacensischen Prioraten im Königreich Kastilien. Durch seine Heirat mit Teresa Fernández, der Tochter des Grafen Fernando Pérez de Traba und Teresa von Portugal, zweier Wohltäter Clunys, gehörte er gleichzeitig zu den Freunden der burgundischen Abtei auf der Iberischen Halbinsel 141. Er müsste, entsprechend dem Eintrag im Necrolog von Carrión, Mönch eines verbrüderten Klosters gewesen sein, doch gehört er wohl eher in die Rubrik der befreundeten Laien, der Wohltäter cluniacensischer Klöster, der wir uns jetzt zuwenden wollen. Die zweite Rubrik auf den Recto-Seiten des Necrologfragments enthält Laien und Kleriker, die als Wohltäter des Klosters angesehen werden können. Insgesamt 300 Personen sind dieser Gruppe zuzuordnen. Darunter allein rund 40 milites, mehr als 20 Grafen und Vicegrafen, 6 Könige oder Kaiser, 13 Bischöfe und Erzbischöfe, aber auch 2 Äbte und 4 Päpste und weitere Kleriker. Rund 20 Personen in dieser Kategorie werden zusätzlich als amici nostri bezeichnet. Bei den beiden Äbten muss offen bleiben, ob sie irrtümlich in die Rubrik der Wohltäter eingetragen wurden, denn sie würden – entsprechend ihrer Identifizierung und Bedeutung für Cluny – eigentlich in der gerade vorgestellten Reihe der verbrüderten Mönche zu erwarten sein. Dazu gehört der zum 18. Juli eingetragene Abt Isenbardus abbas, der im Necrolog von Saint-Martin ohne näheren Hinweis zum 18. Juli unter den familiares begegnet, aber im Necrolog von Saint-Germain 142 zum gleichen Tag mit dem Hinweis abbas sancti Germani leicht identifiziert werden kann als Abt von Saint-Germain-des-Prés ( † 1103 ) 143. Der zweite dieser Äbte ist Adelbertus von Saint-Mihiel ( † 1076 ), der zum 15. April eingetragen ist 144, aber in der <Synopse> keine eindeutige Parallele aufweist. Auch Bischöfe, die in den Necrologien der <Synopse> unter den Familiares figurieren, finden sich im Necrolog von San Zoilo in dieser Rubrik. So etwa Bischof Landricus von Mâcon ( † 24. August 1096 ) 145, der im Necrolog von Marcigny unter den
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Schamper ( wie Anm. 25 ) S. 233, C 7. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 659–660. Lemaitre, Répertoire ( wie Anm. 24 ) Nr. 1291. Gallia christiana in provincias ecclesiasticas distributa, 7, Paris 1744, Sp. 438. Schamper ( wie Anm. 25 ) S. 214, A 137. Maria Hillebrandt, Berzé-la-Ville. La création d’une dépendance clunisienne, in: Le gouvernement d’Hugues de Semur à Cluny. Actes du Colloque scientifique international ( Cluny, septembre 1988 ) Ville de Cluny 1990, S. 199–229, S. 207.
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Wohltätern steht, ebenso wie Erzbischof Hugo von Besançon ( † 27. Juli 1066 ), der Abt Hugo von Cluny geweiht hatte 146. Zum 27. Juli ist Bischof Turpio ( † 944 ) von Limoges verzeichnet, der in den Necrologien von Saint-Martial unter den familiares zu finden ist, aber in den anderen Necrologien der <Synopse> fehlt. Er stammte aus der Familie der Vizegrafen von Aubusson. Sein enger Kontakt mit Cluny lässt sich daran ablesen, dass er von Abt Odo als sodalis amicus bezeichnet wurde. Er war es, der den Abt von Cluny zur Abfassung der Vita Geralds von Aurillac ermunterte 147. Bischof Fulbert von Chartres ( † 1028 ) dagegen, der zum 10. April eingetragen wurde, führt zum 11. April die Liste der Mönche im Necrolog von Marcigny an, hat aber keine Parallelen in anderen Überlieferungen der <Synopse>. Fulberts Bewunderung für die Äbte von Cluny spricht aus seinen Briefen; er nannte Abt Odilo archangelus monachorum 148. Seine Aufnahme in das Totengedenken Clunys unter der Rubrik der Freunde ist nicht erstaunlich und kann als weiterer Beweis dafür gelten, dass die mehrfach geäußerte Vermutung, Fulbert habe eine Mönchsprofess abgelegt, falsch ist 149. Bischof Renco von Clermont ( † 1052 ), eingetragen zum 16. September in der gleichen Rubrik, kann identifiziert werden mit Hilfe des Necrologs von Saint-Robert de Cornillon 150, das zum Verband von La Chaise-Dieu gehörte. Renco zählte zu den wichtigsten Akteuren auf dem Friedenskonzil von Bourges im Jahre 1031 151 und kann damit zu den Unterstützern Odilos von Cluny im Bemühen um die Verbreitung des Gottesfriedens angesehen werden 152. Auch die Einträge von Königen und Kaisern auf den Recto-Seiten weisen Besonderheiten auf. Hier sollen nur diejenigen vorgestellt werden, die bisher im cluniacensischen Totengedenken nicht bezeugt waren. Zum 28. Januar ist Karl der Große ( † 814 ) eingetragen 153, zum 2. März die Kaiserin Kunigunde ( † 3. März 1023 ), die Gemahlin Heinrichs II., die trotz ihrer Kanonisation im Jahre 1200 im Necrolog verblieb 154. Das gilt in gleicher Weise für König Stephan ( István ) I., den Heiligen ( † 1038 ) von Ungarn, dessen Gedenken zum 15. August vermerkt ist. ( Et depositio domni Stephani regis ungrorum ). Stephan wird in der Vita Odilonis des Iotsald wie der bereits erwähnte Sancho III. zu den vorbildlichen und gerechten Königen gerechnet 155, und Rudolf Glaber
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Mehne, Cluniacenserbischöfe ( wie Anm. 123 ) S. 284. Wollasch, Königtum ( wie Anm. 139 ) S. 129. Iotsald von Saint-Claude, Vita ( wie Anm. 53 ) S. 166 Anm. 89. Franz Neiske, Charismatischer Abt oder charismatische Gemeinschaft? Die frühen Äbte Clunys, in: Giancarlo Andenna – Mirko Breitenstein – Gert Melville ( Hgg. ), Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter ( Vita regularis. Abhandlungen 26 ) Münster 2005, S. 55–72, S. 68 f. Die entsprechende Literatur ist bei Schamper ( wie Anm. 25 ) S. 176, E 12, zusammengefasst. Lemaitre, Répertoire ( wie Anm. 24 ) Nr. 2426. Reinhold Kaiser, Art.: Bourges, Friedenskonzilien v., in: LMA 2, 1983, Sp. 515. Wollasch, Cluny ( wie Anm. 1 ) S. 106 f. Karl wird im Zusammenhang mit dem Kloster Moissac in einer Sonderüberlieferung der Vita Odilonis des Iotsald genannt: Iotsald von Saint-Claude, Vita ( wie Anm. 53 ) S. 276. Heinrich II. war eine Verbrüderung mit dem Konvent von Cluny eingegangen, vgl. Joachim Wollasch, Kaiser Heinrich II. in Cluny, in: Frühmittelalterliche Studien 3, 1969, S. 327–342, S. 334. Kunigunde wird auch im Necrolog von Saint-Bénigne kommemoriert, Schamper ( wie Anm. 25 ) S. 225, I 3. Iotsald von Saint-Claude, Vita ( wie Anm. 53 ) S. 156.
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gab ihm dem Ehrentitel rex christianissimus 156. Stephan stand im Briefwechsel mit Abt Odilo und hatte Cluny reich beschenkt 157. Viele seiner geistlichen Berater waren vom Geiste Clunys geprägt 158. Der Einfluss Clunys auf die Ausbildung eines christlichen ungarischen Reiches 159 wird heute allerdings nicht mehr als entscheidend angesehen 160, denn monastische Reformen ließ Stephan in Ungarn durch die Abtei Montecassino durchführen 161. In einem Brief Abt Odilos an König Stephan wird eine Schenkung von Reliquien des Papstes Marcellus erwähnt und der Abt von Cluny verspricht dem König von Ungarn, man werde instantissima et continua prece für seine Seelenheil beten 162. Als weiterer ungarischer König ist Geza I. ( Geycha, † 25. April 1077 ) mit dem Eintrag Hyenonis regis ungrorum zum 21. April unter den Wohltätern zu finden. Er war über Adelheid und Berta von Turin dem Reformkreis um Fruttuaria verbunden. Sein Königtum wurde durch Papst Gregor VII. bestätigt 163. Ob er darüber hinaus in besonderer Beziehung zu Cluny stand, ist nicht bekannt. Zum 8. April folgt auf die Depositio-Einträge von Papst Benedikt VIII. und Bischof Fulbert von Chartres die Doppelmemoria Ludouici et Hugonis regum. Auch diese Könige haben keine Parallelen in anderen cluniacensischen Necrologien. Es handelt sich offensichtlich um den Karolingerkönig Ludwig ( II. ), <den Stammler> ( † 10. April 879 ) 164, und um Hugo von Arles und Vienne, König von Italien, der ebenfalls an einem 10. April im Jahre 948 starb. Hugo war der Schwiegervater der Kaiserin Adelheid und ist wohl deshalb auch im Necrolog von Merseburg verzeichnet 165. Er gehörte allerdings auch, wie Ingelberga, die Gemahlin des Gründers von Cluny, Herzog Wil-
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Rudolf Glaber, Historiarum libri quinque, III, 2, Rodolfo il Glabro, Cronache dell’anno mille ( Storie ) hg. von Guglielmo Cavallo und Giovanni Orlandi, Mailand 1989, S. 112. Odilo Ringholz, St. Odilo, der große Marienverehrer, Einsiedeln 1922, S. 35. Thomas von Bogyay, Stephanus rex. Versuch einer Biographie, Wien – München 1975, 48 f. György Györffy, König Stephan der Heilige, Budapest 1988, 54–98. Bálint Hóman, König Stephan I., der Heilige. Die Gründung des ungarischen Staates, Breslau 1941, S. 139 f. William Toth, The Christianization of the Magyars, in: Church History 11, 1942, S. 33–54, S. 53 f. György Székely, Ungarns Stellung zwischen Kaiser, Papst und Byzanz zur Zeit der Kluniazenserreform, in: Spiritualità cluniacense ( Convegni del centro di studi sulla spiritualità medievale 2 ) Todi 1960, S. 312–325, S. 314. Lajos J. Csóka, Clunyi szellemü volt-e a magyar egyház a XI. században?, in: Regnum. Egyháztörténeti Évkönyv 5, 1942/1943, S. 141–176, S. 148–150. Herbert Edward John Cowdrey, The Age of Abbot Desiderius. Montecassino, the Papacy, and the Normans in the Eleventh and Early Twelfth Centuries, Oxford 1983, S. 10. Ilona Király, Szent Márton magyar király legendája. A magyar bencések árpádkori francia kapcsolatai. A Berta-monda magyar vonatkozásai ( Bibliothèque de l’Institut français à l’Université de Budapest 8 ) Budapest 1929, S. 8. Székely ( wie Anm. 159 ) S. 320; Gregorii VII Registrum, Das Register Gregors VII., hg. von Erich Caspar ( MGH Epistolae selectae 2 ) Berlin 1920/1923, Briefe an Geza: 1, 58; 2, 63 und 70. Karl Ferdinand Werner, Die Nachkommen Karls des Großen bis um das Jahr 1000, in: Wolfgang Braunfels u. a. ( Hgg. ), Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben 4, Düsseldorf 1967, S. 403–484, S. 437–440. Johannes Fried, Boso von Vienne oder Ludwig der Stammler? Der Kaiserkandidat Johanns VIII., in: Deutsches Archiv 32, 1976, S. 193–208. Gerd Althoff, Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen ( Bestandteil des Quellenwerkes Societas et Fraternitas ) ( Münstersche Mittelalter-Schriften 47 ) München 1984, S. 364.
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helm von Aquitanien, zur Familie der Bosoniden 166. Schon 934 hatte er die Höfe Ambérieux und Savigneux im Gebiet von Lyon an Cluny übertragen 167. Die Einträge aus der Karolingerzeit verdienen besondere Beachtung, denn für Ludwig <den Stammler> kann ebenso wie für den bereits zuvor erwähnten Eintrag Karls des Großen kein Bezug zu Cluny hergestellt werden. Zu den verbrüderten Mönchen auf den Recto-Seiten gehört sogar ein Bischof der Karolingerzeit. Es handelt sich um den ehemaligen Abt von Saint-Germain Ebroin, der als Ebroinus episcopus zum 17. April eingetragen ist. Damit ist Bischof Ebroin von Poitiers gemeint, der um 851/852 gestorben ist 168. Es stellt sich damit die Frage, ob nicht im neu gegründeten Kloster Cluny zu Beginn ältere Memorialtraditionen von einer uns unbekannten Gemeinschaft aus dem karolingischen Westfrankenreich übernommen wurden, um ein erstes necrologisches Gedenken zu begründen. Denkbar wäre eine Verbindung über Saint-Martin in Tours, wo Abt Odo von Cluny seine erste Profess ablegte. Von dort brachte er nach Auskunft der Vita des Johannes 100 Handschriften mit nach Baume. Ein Schatz, der später wohl nach Cluny gelangte 169. Auch der oben genannte Eintrag des Erzbischofs Teotolo von Tours könnte ein Hinweis auf eine Anknüpfung an eine Tradition aus Tours sein. Zum 20. Juli ist König Robert II. <der Fromme> ( † 1031 ) in der Rubrik der Wohltäter verzeichnet. Robert förderte das Reformmönchtum in vielerlei Hinsichten. Er übergab die Königsabtei Saint-Germain-des-Prés zur Reform an Abt Wilhelm von Dijon und gehörte zu den Unterzeichnern der Gründungsurkunde von Fruttuaria 170. Für Cluny bestätigte er die Übertragung von Saint-Côme-et-Damien bei Chalon-sur-Saône und stellte auf Bitten Papst Johannes XIX. einen speziellen Schutzbrief aus, in dem der Burgenbau im Gebiet der Abtei Cluny untersagt wurde 171. Seine Memoria in Cluny wurde ausdrücklich in einer Urkunde Bischof Hugos von Chalon gefordert, mit der dem Kloster der Besitz des Priorates Paray-le-Monial erneut zugesichert wurde 172. Bei den hier vorgestellten Herrschern handelt es sich um Personen, deren Gedenken in Cluny sinnvoll zu begründen wäre, die aber wider Erwarten in keinem der bisher bekannten cluniacensischen Necrologien genannt werden. Das Necrolog von Carrión
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Barbara H. Rosenwein, To Be the Neighbour of Saint Peter. The Social Meaning of Cluny’s Property, 909–1049, Ithaca – London 1989, S. 182, Genealogie 8. BB Nr. 417. Barbara H. Rosenwein, Les bienfaiteurs de Cluny en Provence ( v. 940 – v. 1050 ), in: Saint Mayeul et son temps. Millénaire de la mort de Saint-Mayeul, 4e abbé de Cluny, 994–1994, Actes du Congrès International, Valensole 12–14 Mai 1994, Digne-les-Bains 1997, S. 121–136, S. 127. Otto Gerhard Oexle, Bischof Ebroin von Poitiers und seine Verwandten, in: Frühmittelalterliche Studien 3, 1969, S. 138–210, S. 191; Ders., Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemeinschaften im westfränkischen Bereich ( Bestandteil des Quellenwerkes Societas et Fraternitas ) ( Münstersche Mittelalter-Schriften 31 ) München 1978, S. 20 f., 108. Else Maria Wischermann, Grundlagen einer cluniacensischen Bibliotheksgeschichte ( Münstersche Mittelalter-Schriften 62 ) München 1988, S. 34 f. Neithard Bulst, Untersuchungen zu den Klosterreformen Wilhelms von Dijon ( 962–1031 ) ( Pariser historische Studien 11 ) Bonn 1973, S. 71, 235. BB 2711; 2785; 2800. William Mendel Newman, Catalogue des Actes de Robert II, roi de France, Paris 1937, Nr. 17. Papsturkunden 896–1046, hg. von Harald Zimmermann ( Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Denkschriften [ Veröffentlichungen der Historischen Kommission 3–5 ] ) 3 Bde., 2: 996–1046, Wien 1985, Nr. 572. Vgl. dazu Anm. 177.
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enthält also mehr als die in der <Synopse> dargestellten Überlieferungen das Totengedenken für die familiares der Abtei Cluny selbst. Das gerade beschriebene Phänomen setzt sich bei anderen Magnaten fort. Zum 31. Januar ist Herzog Wilhelm ( V. ) von Aquitanien ( † 1030 ) eingetragen, ein Vetter König Roberts des Frommen und guter Freund Bischof Fulberts von Chartres. An Cluny übertrug er Besitz in Niort ( dép. Deux-Sèvres ) zur Einrichtung einer Memoria im Hauptkloster und in den abhängigen Dependenzen und bestimmte ausdrücklich deren immerwährende Beachtung: ut memoria mei in memorato loco et in omnibus appenditiis ejus perpetualiter teneatur 173. Wilhelm verbrachte die letzten Jahre seines Lebens als Mönch im Kloster Saint-Maixent ( dép. Deux-Sèvres ) 174. Folgerichtig steht er im Necrolog von San Zoilo nicht unter den befreundeten Laien, sondern in der Rubrik der verbrüderten Mönche auf der Recto-Seite. Als letztes Beispiel für die im Fragment von Carrión genauer als in anderen cluniacensischen Necrologien überlieferten Wohltäter Clunys sei auf den Grafen Lambert von Chalon-sur-Saône ( † 978 ) verwiesen. Sein Name erscheint zum 23. Februar im Necrolog von Marcigny an erster Stelle unter den Mönchen des Verbandes, allerdings ohne einen weiteren erklärenden Zusatz 175. Das hat zu der Vermutung geführt, er könne am Ende seines Lebens Mönch in einem cluniacensischen Kloster geworden sein 176. Zum 22. Februar ist er im Necrolog von Carrión in der Rubrik der befreundeten Laien eingetragen mit dem ausführlichen Depositio-Eintrag: Lamberti comitis amici nostri. Ihm wurde durch seinen Sohn, den Grafen und Bischof Hugo von Chalon 177, in zwei Urkunden für Cluny ein besonderes Totengedenken gestiftet. In einer Besitzbestätigung für das Priorat Paray-le-Monial wird eine Memoria für die gesamte Familie Lamberts und für König Robert den Frommen ausbedungen, außerdem für alle Christgläubigen 178. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, wie zurückhaltend die isoliert in Marcigny überlieferten Einträge zu beurteilen sind 179. Die Liste der Einträge nach diesem Muster lässt sich mit zahlreichen Beispielen erweitern. Einem Liutfredus, allein in Marcigny zum 12. Februar entspricht ein Laufredus ( ? ) unter den verbrüderten Mönchen in San Zoilo, einem Aribertus in Marcigny zum 9. März ein Arbertus im San Zoilo, einem Alimarus ein Aluarus zum 20. April. Einer Hymineldis, isoliert in Marcigny zum 19. April eingetragen, steht in Carrión eine gleichnamige Frau in der dritten Rubrik der familiares gegenüber. Das gilt auch für eine Emma
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BB 2737; weitere frühere Schenkungen Wilhelms an Cluny: BB 2716, 2709. Benoît Cursente, Art.: Wilhelm V. d. Gr., in: LMA 9, 1998, Sp. 137 f. Chronique de Saint-Maixent ( wie Anm. 125 ) S. 114. Franz Neiske, Les débuts du prieuré clunisien de Paray-le-Monial, in: Paray-le-Monial, 28–29–30 Mai 1992. Actes du Colloque ( Association du IXème centenaire de la basilique ) Paray-le Monial 1994, S. 134–144, S. 143. Constance B. Bouchard, Sword, miter and cloister. Nobility and the Church in Burgundy, 980–1198, Ithaca – London 1987, S. 106, 307–309. Franz Neiske, Cluniacensisches Totengedenken in Souvigny. Fragmentarische und spätmittelalterliche Überlieferung im Vergleich mit der Synopse der cluniacensischen Necrologien, in: Frühmittelalterliche Studien 19, 1985, S. 432–465, S. 452. Bouchard ( wie Anm. 175 ) S. 106–110. BB 2484: Facit autem hanc donationem … pro anima patris sui Lanberti ac matris sue Adeleydis, ac gloriosi Rodberti regis atque Aeynrici ducis … pro cunctis preteritorum scilicet ac futurorum seu presencium orthodoxis hec donacio fiat. Neiske, La tradition nécrologique ( wie Anm. 119 ) S. 92.
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zum 21. April. Die hier postulierte Einschätzung der singulären Einträge in Marcigny sei nur an zwei weiteren Beispielen erläutert, die das geschilderte Muster bestätigen. Zum 6. April steht im Necrolog von Marcigny – ohne Parallelen in der <Synopse> – ein Torincus; zum gleichen Tag findet man im Fragment aus San Zoilo einen Torincus comes unter den Mönchen aus verbrüderten Klöstern. Ein zweites Beispiel bietet der Bischof Hilbodus ( von Mâcon [ ? ] † um 850 ); singulär in Marcigny zum 21. Juli, entspricht diesem Eintrag ein Hildebodus episcopus zum 22. Juli in der Rubrik der Wohltäter in der Handschrift aus Carrión. Bischof Leotulf von Augsburg ( † 16. Juli 976 ) und Bischof Hildebold von Chalon ( † 5. Februar 949 ), beide nur im Gedenken aus Marcigny überliefert 180, fehlen auch im Necrolog von San Zoilo – auf den entsprechenden Verso-Seiten – bei den Mönchen. Die Recto-Seiten dieser Tage sind leider nicht erhalten. Wir dürfen aber angesichts der bisher vorgestellten Beispiele mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie dort unter den Freunden und Wohltätern gestanden haben. Auch dieser Hildebold, der Maiolus zum Abt geweiht hat 181, kann also – wie die anderen singulär in Marcigny überlieferten Personen – nur als Freund Clunys, aber nicht als Mönch von Cluny in Anspruch genommen werden 182. Joachim Mehne hat bereits 1977 die Beobachtung gemacht, dass Bischöfe und Erzbischöfe, die Cluny als Konsekratoren besonders nahe standen, immer nur im Necrolog von Marcigny eingeschrieben wurden 183. Das Necrolog aus Carrión bestätigt nun die dort nicht weiter verfolgte Vermutung, dass es sich in diesen Fällen bei den Einträgen in der Rubrik der Mönche nicht um Professen Clunys handelt 184. Bei der Redaktion des Totenbuches von Marcigny sind – gegenüber den anderen cluniacensischen Necrologien – gravierende Umstellungen der Namen vorgenommen worden. In diesem Zusammenhang sind offensichtlich auch nahezu alle Äbte und Bischöfe, die in der Abtei Cluny als familiares kommemoriert wurden, in die Rubrik der Mönche gelangt. Nach der Entdeckung des Necrologs von Carrión ist es deshalb wohl künftig nicht mehr möglich, die nur im Necrolog von Marcigny als Mönche von Cluny eingetragenen Personen generell als cluniacensische Professen anzusehen 185. Die Untersuchung der Wohltäter und Freunde verspricht weitere Einsichten in das Gebetsgedenken der Abtei Cluny selbst. Hier sei nur auf wenige Beispiele verwiesen. Zum 8. Februar ist im Necrolog von Carrión mit Archimbaldus miles ein Mitglied
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Mehne, Cluniacenserbischöfe ( wie Anm. 123 ) S. 283. Neiske, La tradition nécrologique ( wie Anm. 119 ) S. 91 f. Ulrich Winzer, Cluny und Mâcon im 10. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, S. 154–202, S. 169. Joachim Wollasch, Cluny und das Grabkloster der Kaiserin Adelheid in Selz: Eine Spurensuche, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 116, 2005, S. 19–31, S. 25. Mehne, Cluniacenserbischöfe ( wie Anm. 123 ) S. 283 f. Vgl. dazu auch Neiske, Souvigny ( wie Anm. 176 ) S. 449. Joachim Wollasch, Il monachesimo in età ottoniana, in: Ettore Cau – Aldo A. Settia ( Hgg. ), San Maiolo e le influenze cluniacensi nell’Italia del Nord. Atti del Convegno Internazionale nel Millenario di San Maiolo ( 994–1994 ) Pavia – Novara, 23–24 settembre 1994 ( Biblioteca della Società Pavese di Storia Patria, NS 7 ) Como 1998, S. 169–184, S. 182. Wollasch, Cluny ( wie Anm. 1 ) S. 79, 117. Wollasch, Grabkloster ( wie Anm. 182 ) S. 22.
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der Gründerfamilie des Priorates Souvigny genannt 186, dessen Name in den Necrologien der <Synopse> fehlt. Auch die Markgräfin Beatrix von Tuszien ( † 1076 ) war bisher aus cluniacensischen Totenbüchern nicht bekannt. In Carrión wird sie zum 18. April, ihrem Todestag, mit der Erläuterung aufgeführt: Beatrix marchisa amica nostra. Die Forschung ist der Meinung: Die „These, dass bereits Beatrix die Klöster ihres Herrschaftsbereichs in engere Verbindung mit Cluny gebracht habe, … entbehrt jeder Grundlage“ 187. Erst die Tochter Beatrix’, die durch ihre Rolle in Canossa bekannte Markgräfin Mathilde, habe Klöster an Cluny übereignet 188. Angesichts des Eintrags der Markgräfin als amica Clunys bedarf es neuer Überlegungen zu den möglichen Verbindungen zwischen Beatrix und Cluny. Sie war nämlich durch ihre Ehe mit Gottfried dem Bärtigen von Oberlothringen die Schwägerin Papst Stephans IX. geworden 189 und unterstützte die Wahl von dessen Nachfolger, Papst Nikolaus II. 190 Vielleicht hat doch die ältere italienische Forschung Recht, die bereits in Beatrix eine Parteigängerin der cluniacensischen Reform in Italien sah 191. Der Eintrag der Markgräfin Beatrix steht auf den Recto-Seiten des Necrologs von Carrión in einer – für jeden Tag vorgesehenen – dritten Rubrik der familiares, die ausschließlich Namen von Frauen enthält, insgesamt rund 150, darunter Nonnen, Äbtissinnen und Königinnen. Entsprechend der gesamten Konzeption der Überlieferung aus Carrión ist davon auszugehen, dass auch diese Einträge, da sie auf den Recto-Seiten stehen, keine Nonnen eines cluniacensischen Frauenklosters enthalten können. Um diese Vermutung zu beweisen, wurden alle für das Kloster Marcigny von Else Maria Wischermann in einem Katalog 192 beschriebenen Nonnen dieses Priorates mit den Namen der verbrüderten Frauen aus dem Necrolog von San Zoilo verglichen, soweit für erstere ein Todesdatum zu ermitteln war. Das Ergebnis bestätigte die Hypothese: Zwischen diesen beiden Listen von Frauennamen gibt es keine Übereinstimmungen. Es muss sich also immer um Frauen handeln, die in Cluny als familiares kommemoriert wurden 193 oder in besonderer Beziehung zu San Zoilo standen. Es genügt, im Folgenden zwei Frauen aus dieser Reihe vorzustellen. Ihr Eintragsmuster bestätigt die bei den anderen Wohltätern ermittelten Ergebnisse.
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Jean-Loup Lemaitre, Un nouveau témoin du nécrologe de Cluny. Mabillon et le nécrologe de Souvigny, in: Frühmittelalterliche Studien 17, 1983, S. 445–458, S. 450; Neiske, Souvigny ( wie Anm. 176 ) S. 448. Elke Goez, Beatrix von Canossa und Tuszien. Eine Untersuchung zur Geschichte des 11. Jahrhunderts ( Vorträge und Forschungen. Sonderband 41 ) Sigmaringen 1995, S. 121 f. Anm. 60, mit Hinweis auf die einschlägige italienische Literatur. Kohnle ( wie Anm. 38 ) S. 163. Goez, Beatrix ( wie Anm. 187 ) S. 153 f. Wollasch, Wahl ( wie Anm. 134 ) S. 207. Ovidio Capitani, Canossa: una lezione da meditare, in: Studi Matildici. Atti e memorie del 3. Convegno di Studi Matildici – Reggio Emilia, Modena 1978, S. 3–23, S. 16. Goez, Beatrix ( wie Anm. 187 ) S. 33 Anm. 206. Wischermann, Marcigny-sur-Loire ( wie Anm. 129 ) S. 305–427. Die entsprechenden Parallelen sind in der <Synopse> als familiares zu finden. Dazu sollen hier nur einige Beispiele genannt werden: Maria zum 28. Januar, 2. Februar, 1. März; Amelia zum 2. Februar und 26. August; Ingeleldis zum 23. Februar; Agnes zum 9. April; Hunberga zum 8. April.
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Urraca, die 1126 gestorbene Tochter König Alfons’ VI., ist zum 8. März mit dem feierlichen Vermerk Et depositio domne Vrrache yspaniarum imperatricis nostre societatis deuotissime hervorgehoben. Wie oben gezeigt 194, war sie maßgeblich an der Stärkung cluniacensischer Positionen in Spanien beteiligt. Ihr Eintrag fehlt in den anderen cluniacensischen Necrologien. Zum 7. Februar bietet das Necrolog von Carrión den Eintrag einer weiteren Königin mit dem Text: Tarasia comitissa et regina, amica nostra. Hier handelt es sich um Teresa Fernández de Traba, die uneheliche Tochter der schon oben genannten Wohltäter Clunys, Teresa von Portugal und Graf Fernando Pérez de Traba. Ihre erste Ehe mit dem ebenfalls schon genannten Grafen Nuño Pérez de Lara endete mit dessen Tod im Jahre 1177 195; sie heiratete dann 1178 den König Fernando II. von León, was den Königinnentitel erklärt 196. Sie starb 1180 und wurde in San Isidoro in León begraben. Todestag und -jahr sind durch ein Epitaph aus San Isidoro gesichert 197. Bisher sind die Gedenkeinträge der Päpste im Necrolog von Carrión noch nicht berücksichtigt worden. Auch sie bieten neue Einblicke in die Memorialgewohnheiten der Abtei Cluny. Alle Hinweise auf Päpste finden sich nur auf den Recto-Seiten. Soweit die Päpste nicht zugleich Mönche von Cluny waren, ist das nicht erstaunlich. Leider sind die Blätter mit den Einträgen zum 29. Juli ( Urban II. † 1099 ) und zum 25. Januar ( Anaklet II. † 1138 ) nicht überliefert, so dass keinen Aussagen zur Eintragsform eines Cluniacensermönches, der Papst geworden war, getroffen werden können. Ebenso fehlt die Seite zum 22. Januar, dem Tag, zu dem Papst Paschalis II. ( † 1118 ), der vielleicht auch Cluniacenser war 198 und im Necrolog von Saint-Martin-des-Champs eingetragen ist. Zum 26. Januar, dem Todestag Papst Stephans IX. ( † 1058 ), der zumindest in das besondere Gebet der Cluniacenser eingeschlossen war 199 und singulär ohne Parallelen im Necrolog von Marcigny eingetragen ist, findet sich auf der Verso-Seite unter den Mönchen kein passender Vermerk zu einem Stephan, und auf der RectoSeite unter den familiares gibt es in der fraglichen Rubrik nur einen Stephanus ohne Titel – ob sich hinter diesem Namen der Eintrag des Papstes als Freund Clunys verbirgt, kann hier angesichts der Häufigkeit diese Namens nicht entschieden werden. Ebenso hypothetisch muss bleiben, ob zum 29. Januar der in Cluny gestorbene Papst Gelasius II. ( † 1119 ) auf der Recto-Seite unter dem Namen Bertelasii zu suchen ist, einer im Mittelalter ansonsten äußerst seltenen Namenform. Der Eintrag eines Papstes Romanus zum 4. August bezieht sich wohl nicht auf den einzigen Papst dieses Namens aus dem 9. Jahrhundert ( † November 897 ). Denn zum gleichen Tag nennt das Necrolog von Saint-Martin-des-Champs in singulärer Überlieferung einen Romanus und Dodo ohne Titel; ein Dodo folgt auch in Carrión auf 194 195 196
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Vgl. o. bei Anm. 63 und 88. Wischermann, Marcigny-sur-Loire ( wie Anm. 129 ) S. 270, S. 417 f. Vgl. o. nach Anm. 140. Simon Barton, The Aristocracy in the twelfth-century León and Castille, Cambridge 1997, S. 241 und 269. Julio González González, El reino de Castilla en el época de Alfonso VIII, Madrid 1960, 3 Bde., 1, S. 285–286. Manuel Risco, Iglesia de León y monasterios antiguos y modernos de la misma ciudad, Madrid 1792, ND León 1978, S. 152. Pérez Llamazares ( wie Anm. 130 ) S. 388. Suárez González ( wie Anm. 130 ) S. 365–415, S. 395, 402. Neiske, Verhältnis ( wie Anm. 6 ) S. 298. Wollasch, Wahl ( wie Anm. 134 ) S. 211 f.
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den Eintrag Romanus papa. Die Namen stehen außerdem in der Rubrik der verbrüderten Mönche auf der Recto-Seite und der Papstname trägt nicht, wie sonst üblich, den Depositio-Vermerk. Es muss sich also wohl wie in anderen, oben erläuterten Fällen um Namen von Mönchen aus nicht-cluniacensischen Klöstern handeln, und der Zusatz papa wurde in Carrión fälschlich hinzugefügt. In allen anderen Fällen wird das Gedenken an Päpste im Necrolog von Carrión mit der Depositio-Formel eingeleitet, und die Namen stehen in der zweiten Gruppe der Einträge auf den Recto-Seiten, also unter den amici nostri oder familiares. Einige der erhaltenen Einträge von Päpsten stimmen mit der <Synopse> überein – dort sind sie jeweils ebenso unter den familiares zu finden. Das gilt für Viktor II. zum 28. Juli ( † 1057 ) und Alexander II. zum 20. April ( † 1073 ). Völlig neu sind dagegen die Memorien für Benedikt VIII. zum 8. April ( † 1024 ) und Viktor III. zum 16. September ( † 1087 ). Beide sind bisher nicht aus anderen cluniacensischen Necrologien bekannt. Aber Papst Benedikt VIII. steht im Mittelpunkt von Erzählungen, die in den Viten Abt Odilos überliefert sind. Demnach habe der Papst die Cluniacenser in einer Vision um Gebetshilfe ersucht, damit er Heilung für seine Seele im Jenseits finde. Sogar über den Erfolg dieser Gebete berichten die Viten 200. Vielleicht ist der Eintrag im Necrolog unter den familiares der Abtei Cluny der konkrete Beweis für die Gebete des Konventes, die bisher nur einer einseitig hagiographischen Tradition zugeordnet werden konnten. Viktor III., der Vorgänger Urbans II. auf dem Papstthron und zuvor Abt ( Desiderius ) von Montecassino 201, war Cluny und Abt Hugo durch eine Verbrüderung verbunden, über deren Abschluss die Chronik von Montecassino berichtet 202. Folgerichtig steht er als einziger der Päpste nicht in der Rubrik der Wohltäter und Freunde, sondern gehört zu den verbrüderten Mönchen. Besondere Bedeutung für Cluny erlangte Viktor außerdem durch seine eindeutige – zugleich aber eigennützige – Stellungnahme gegen den Erzbischof von Lyon, Hugo von Die, der Abt Hugo von Cluny dessen Eintreten für den gebannten Kaiser Heinrich IV. vorwarf und sich seit längerem im Konflikt mit der Abtei Cluny befand 203. Die wichtigste neue Erkenntnis für die Forschung ist jedoch aus dem Eintrag Papst Leos IX. zum 19. April ( † 1054 ) zu ziehen. Sein Name war bisher vergeblich in cluniacensischen Necrologien ( und Martyrologien ) gesucht worden, obwohl er als guter Freund und Förderer Cluny anzusehen ist 204. Der Eintrag im Necrolog von San Zoilo de Carrión unter den familiares beweist erneut die große Nähe dieser Memorialüberlieferung zu dem in der Abtei Cluny selbst praktizierten Gedenken.
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Neiske, Verhältnis ( wie Anm. 6 ) S. 307. Cowdrey, Abbot Desiderius ( wie Anm. 161 ) zum Verhältnis zu Cluny vgl. S. 34, 167. … et societatem Cluniacensium fratrum nostre congregationi adiungens, memoriam illorum apud nos nostreque congregationis apud illos in morte et in vita iidem viri venerabiles in perpetuum habendam sanserunt. Die Chronik von Montecassino ( Chronica monasterii Casinensis ) hg. von Hartmut Hoffmann ( MGH SS 34 ) Hannover 1980, III, cap. 51, S. 433 f. Monika Gude, Die fideles sancti Petri im Streit um die Nachfolge Papst Gregors VII., in: Frühmittelalterliche Studien 27, 1993, S. 290–316, S. 301. Franz Neiske, La memoria de Léon IX dans les nécrologes et les martyrologes, in: Georges Bischoff – Benoît-Michel Tock ( Hgg. ), Léon IX et son temps. Actes du colloque international organisé par l’Institut d’Histoire Médiévale de l’Université Marc-Bloch, Strasbourg-Eguisheim, 20–22 juin 2002 ( ARTEM 8 ) Turnhout 2006, S. 633–645, S. 638 f.
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Franz Neiske – Carlos Manuel Reglero de la Fuente <SPANISCHES> EIGENGUT
Zum 19. August sind auf der Recto-Seite ( fol. 21r ) – bis hinein in die Rubrik, die sonst den Frauen vorbehalten ist, – außergewöhnlich viele Namen von Männern verzeichnet. Es handelt sich um insgesamt 19 Einträge. Sie werden angeführt von Tellio ( Nariz ) amicus noster und Gunterius episcopus. Zum ersteren wird mit einem Kreuz auf einen Randeintrag verwiesen, in dem ein Officium mit der Speisung von 12 Armen zum Anniversar vorgeschrieben wird als Dank für die Übertragung der Kirche in Cisneros 205. Diese Kirche befand sich spätestens zu Beginn des 13. Jahrhundert im Besitz von San Zoilo. Es handelt sich also um einen der bedeutenderen Wohltäter des Klosters, der aber leider sonst nicht nachzuweisen ist. Leichter ist die Identifizierung des Bischofs. Es handelt sich um Gutierre von Segovia, der am 19. Juli in der Schlacht von Alarcos gefallen ist 206. Die bekannte Schlacht von Alarcos am 19. Juli 1195, in der das christliche Heer unter Alfons VIII. von Kastilien vernichtend geschlagen wurde und die Reconquista vorübergehend ausgesetzt werden musste, scheint mit ihren hohen Verlusten an Menschenleben im Necrolog ihren speziellen Niederschlag gefunden zu haben. Die ungewöhnliche hohe Zahl der Einträge an einer sonst nicht üblichen Stelle stärkt diese Vermutung. Es ist nicht möglich, alle 19 Personen zu identifizieren, aber immerhin ist erstaunlich, dass in einem Bericht der der kastilischen Könige als erste Gefallene der Schlacht drei Namen genannt werden 207, die in fast gleicher Reihenfolge direkt nach dem Bischof Gunterius in der Totenliste von Carrión genannt werden: Ordonius, Rodericus, Petrus ( fol. 21r ). Mehr als 70 Namen auf den Verso-Seiten sind mit einem Kreuz markiert und damit wohl als Mönche von San Zoilo gekennzeichnet, zumal dazu in einem Randvermerk fast immer ein außergewöhnliches Totengedenken mit Armenspeisung gefordert wird. Zum Teil können das sehr ausführliche Texte sein, wie etwa für den camerarius Petrus, der zwischen 1196–1213 im Amt war 208. Zu seinem Namen ist am 28. April notiert: Officium fiat sollempne et iusticia detur. Fuit enim iste domnus Petrus huius domus camerarius. Construxit namque in ea plurima edificia et multa bona hinc monasterio adquisiui. Et qui tenuerit domum de la Ponteçiella et ortum qui est cum ea, plenariam faciat conuentui et XII pauperibus refectionem. Häufig wird aber auch nur mit der Bemerkung: Officium fiat et iusticia detur auf die Pflicht des Konvents zu einer besonderen Memoria verwiesen. Noch im 15. Jahrhundert gelangten zahlreiche datierte Einträge in das Necrolog. Es handelt sich auf den Verso-Seiten vor allem um Mönche aus Carrión und um Prio205
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Officium fiat. Et qui tenuerit ecclesiam de Cisneros faciat conventui et XII pauperibus refectionem. Ipse domnus Tellio dedit nobis illam ecclesiam ad suum aniversarium faciendum in hac die. ( fol. 21r ). Zu Tello Nariz vgl. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 667–668. Zur Schlacht vgl. Ricardo Izquierdo Benito – Francisco Ruiz Gómez ( Hgg. ), Alarcos, 1195: Actas del Congreso Internacional Commemorativo del VIII Centenario de la Batalla de Alarcos ( Estudios 37 ) Cuenca 1996; zum Tod der Bischöfe von Segovia und Ávila vgl. Chronicon Conimbricense, 333–334, hg. von Enrique Flórez, España Sagrada 23, Madrid 1767, S. 301–303 und 330–336. Zur Indentifizierung des Bischofs Gutierre vgl. Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 654–655. In prima Christianorum acie magni viri ceciderunt: Ordonius Garsias de Roda et fratres sui, Petrus Rodericus de Guzman et Rodericus Sancii, gener eius, et alii quam plures. Chronica latina ( wie Anm. 97 ) cap. 13, S. 46. Die Identifizierung dieser Personen diskutiert Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 656–657. Ebd., S. 614–615, 660–661.
Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes
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ren benachbarter cluniacensischer Dependenzen, denen auf diese Weise ein Gedenken zugesichert werden sollte. Familiennamen und Amtstitel erleichtern die Identifizierung dieser Personen, ausführlichere Texte erläutern ihre Verdienste für das Kloster und heben Besonderheiten hervor. So wird etwa zum Jahr 1493 vom Tod des Priors Rodericus von San Lorenzo Villalpando berichtet, der an der Pest gestorben war und in Carrión begraben wurde ( fol. 24v zum 6. August ). Am Rande des Eintrags zum 12. Februar ( fol. 4v ) wird mit Verweis auf das Jahr 1487 in einer ausführlichen Eloge ein sacrista maior istius monasterii namens Zoylus de Nogal als großzügiger Wohltäter von San Zoilo gerühmt, der in Rom gestorben war und dort in der Kirche S. Maria de Uirtutibus apud Capitolium begraben wurde, in San Zoilo aber wegen reicher Donationen ein Anniversar erhielt. Hier ist bereits eine Art von Gattungswechsel zu beobachten: das Necrolog wandelt sich zum Memorienbuch, in dem auch die Schenkungen der Wohltäter erwähnt werden, vermehrt um Notizen aus ihrer Vita. Wiederholt wurde bereits darauf hingewiesen, dass im Spätmittelalter die Necrologien immer wieder mit historischen Nachrichten gefüllt werden 209. Das entspricht in gewisser Weise dem Charakter der Totenmemoria als zentraler Erinnerungskultur einer Gemeinschaft 210. Ein ähnliches Phänomen lässt sich auch in dem Fragment aus Carrión beobachten. Hier durchbricht eine Notiz zur Pestepidemie im Jahr 1348 das gewohnte Prinzip der kalendarischen Zuordnung von Verstorbenen. Geradezu im Ton eines Historiographen berichtet ein um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert tätiger Schreiber ( fol. 11v, zwischen den Einträgen zum 6. und 7. März ), dass zehn Mönche in den Monaten August und September des Jahres 1348 teils schon als infans gestorben seien 211. Zum 12. März ist die Notiz über den Besuch der cluniacensischen Visitatoren im Jahr 1459 eingetragen 212. Der ungewöhnliche Eintrag hatte einen ernsten Hintergrund. Der Abt von Cluny, Jean ( III. ) de Bourbon ( 1456–1480 ), hatte schon zu Beginn seiner Amtszeit damit begonnen, die offensichtlichen Missstände innerhalb des Ordens zu bekämpfen. Dazu gehörte die außerordentliche Ernennung von drei so ge-
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Vgl. das im 15. Jahrhundert entstandene Anniversarbuch des Cluniacenserpriorats Souvigny oder das Necrolog des Klosters Montier-en-Der aus dem 16. Jahrhundert, Neiske, Montier-en-Der ( wie Anm. 19 ) S. 356. Otto Gerhard Oexle, Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters, in: Joachim Heinzle ( Hg. ), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt/M. – Leipzig 1994, S. 297–323. Era de mill y CCC y ochenta y seys años se finaron en el monesterio de San Zoil de Carion X monjes en el mes de aguosto y de setienbre. Primeramente Pero de Fromesta; a XX y tres de aguosto fino Alfonso Perez de Carrion; a XX y vn dias de aguosto fino Die Gilo de Valladolid y era infante; a XXX dias de aguosto se fino Pero Remon. y Pedruelo, et Pero Remon era de misa y Pedruelo era infante; e a XXI dias de setienbre, dia de San Mate se finaron Fulano y Fulano buscalo atras que beras mejor letra y deletrealo vien que tal. Zur Pest in Kastilien vgl. Ángel Vaca Lorenzo, La Peste Negra en Castilla. Aportación al estudio de algunas de sus consecuencias económicas y sociales, in: Studia Historica. Historia Medieval 2, 1984, S. 89–107; Ders., La Peste Negra en Castilla ( Nuevos testimonios ), in: Studia Historica. Historia Medieval 8, 1990, S. 159–171. Hac die, anno domini Mo CCCCmo quinquagessimo nono, venerunt Reverendi patres domini S. Guido Ameligneti, decretorum doctor, prior prioratus Sancti Lupiani, et Anthonius de Arlenco, licenciatus et decanus, et Iohanes de Thologniaco, bachalarius in decretorum et elemosinarius [ monasterio ] cluniacensis, missi a Domino cluniacensis, visitatores in Hyspaniam. ( fol. 9v ).
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Franz Neiske – Carlos Manuel Reglero de la Fuente
nannten Generalvikaren als spezielle Visitatoren für Spanien und Westfrankreich am 9. Oktober 1458. Ausgwählt wurden erfahrene Juristen, von denen zwei zum Generalkapitel im April des Jahres 1459 als auditores causarum herangezogen wurden 213. Das Mandat, mit dem diese Visitatoren bestimmt wurden, ist in der Bibliothèque Nationale de France erhalten. Die Grußadresse an die drei Ernannten stimmt nahezu wörtlich mit dem Eintrag im Necrolog von Carrión überein. Offensichtlich hat man im Kloster San Zoilo diesen Passus aus dem Mandat abgeschrieben, da dieses als Beglaubigung für eine gesonderte Visitation vorgelegt werden musste 214. Darüber berichteten die Visitatoren dem Generalkapitel des folgenden Jahres ( 1460 ) sehr ausführlich. Sie beschrieben den zeremoniellen, sehr feierlichen Empfang im Kloster San Zoilo und erwähnen eigens die Vorlage ihrer Beglaubigung: litteras reverendi patris domini nostri Cluniacensis eis traditas reverenter receptis. Der Konvent von Carrión wurde von den Visitatoren im Übrigen gelobt und als vorbildlich bezeichnet 215, während in zahlreichen anderen cluniacensischen Prioraten Spaniens katastrophale Zustände festgestellt werden mussten. Der Eintrag im Necrolog kann also auch als stolze Erfolgsmeldung angesehen werden. DAS NECROLOG VON CARRIÓN UND DAS NECROLOG DER ABTEI CLUNY
Das Priorat San Zoilo in Carrión de los Condes fungierte, wie oben gezeigt, als zentrale Institution für die Verwaltung cluniacensischer Dependenzen auf der Iberischen Halbinsel. Das zeigt sich am deutlichsten daran, dass der Prior dieses Hauses lange Zeit als camerarius hispaniae auftrat. Die Rolle Carrións als Unterzentrum ging aber über die Regelung wirtschaftlicher Belange und die Vertretung des Abtes von Cluny beziehungsweise des Generalkapitels weit hinaus. Wie in einem Statut aus dem beginnenden 14. Jahrhundert beschrieben wird, war es Aufgabe der Provinzkämmerer, die Todesnachrichten zu sammeln und an den Klaustralprior oder den Cantor von Cluny weiter zu leiten. Jeder Prior einer Dependenz sollte demnach spätestens innerhalb eines Monates die Namen der Verstorbenen an den jeweiligen Provinzialkämmerer übermitteln, der dann seinerseits diese Nachrichten so oft wie möglich, zumindest aber beim Generalkapitel, an die Mutterabtei weiter geben sollte. Dieses Statut erhält ein besonderes Gewicht dadurch, dass es eingeleitet wird mit dem berühmten Zitat aus dem 2. Makkabäer-Buch ( 12, 43–45 ), es sei heilsam, für die Verstorbenen zu beten 216 –
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Charvin ( wie Anm. 5 ) 5, S. 334. Johannes de Bourbonio, … abbas … Cluniacensis ecclesie, venerabilibus et carissimis fratribus nostris domnis Guidoni Amelineti, decretorum doctori, prior prioratus nostri sancti Lupicini, Anthonio de Arlenco, in decretis licenciato, decano et Johanni de Tholoigniaci, baccallario in decretis, helemosinario monasterii nostri Cluniacensis, salutem in Domino. Bibliothèque Nationale de France ms. nouv. acq. lat. 2279 Nr. 19; Abdruck in Pierre Caillet, La décadence de l’Ordre de Cluny au XVe siècle et la tentative de réforme de l’abbé Jean de Bourbon ( 1456–1485 ), in: Bibliothèque de l’École des chartes 89, 1928, S. 183–234, S. 228 f. Charvin ( wie Anm. 5 ) 5, S. 340. Charvin ( wie Anm. 5 ) 1, Statut Nr. 11 von 1314, S. 108: Pro salute fratrum decedentium: Quia „sancta et salubris est cogitatio pro defunctis exorare ut a peccatis solvantur“ et ut ipsi defuncti „optimam habeant repositam gratiam“, eamque intervenientibus spiritualibus suffragiis valeant adipisci, statuentes precipimus districtius nomina monachorum fratrum nostrorum, in nostro Cluniacensi Ordine decedentium, per priores vel subpriores, seu voces eorum gerentes, camerariis provinciarum Ordinis in scriptis mitti, infra mensem. Quibus camerariis precipimus, eorum conscientias in hujus-
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ein Zitat, das in cluniacensischen Texten ansonsten wider Erwarten selten zu finden ist 217. Wir können davon ausgehen, dass das Necrolog aus Carrión mehr als andere cluniacensische Totenbücher die lokale spanische Memorialüberlieferung zuverlässig bewahrt hat, da San Zoilo als Zwischenstation für die Weitergabe der Todesnachrichten der Provinz fungierte. Weitere Untersuchungen zu den Dependenzen Clunys in Spanien werden diesen Eindruck bestätigen. Noch wichtiger für die Forschung ist jedoch eine zweite Besonderheit des neu gefundenen Necrologfragments. Anders als die bisher bekannten cluniacensischen Necrologien, die der Cluniacensis ecclesia 218, bewahrt das Necrologfragment von Carrión auch die eigene Memoria der Abtei Cluny ausführlicher als alle anderen Handschriften. Dadurch ist es möglich, differenzierter als bisher die Mönche aus cluniacensischen Prioraten von den Mönchen verbrüderter Klöster zu unterscheiden. Außerdem tritt die Gruppe der Wohltäter und Freunde deutlicher hervor. Ihre Namenlisten eröffnen neue, bisher unbekannte Einsichten in das Netzwerk, das die Abtei für die Laien in der Welt geknüpft hatte, deren wohlwollende Unterstützung zur Größe Clunys beitrug. Sorgfältiger und zuverlässiger als bisher bekannt bewahrte man ihre Memoria und garantierte damit dauerhaft ein Gebetsgedenken, wie man es in zahlreichen Schenkungsurkunden und Memorialstiftungen zugesichert hatte. Auf der Suche nach dem verlorenen Necrolog der Abtei Cluny, dessen Rekonstruktion mit Hilfe der noch erhaltenen Necrologien aus cluniacensischen Klöstern schon Auguste Molinier vorgeschlagen hatte 219, ist die Forschung durch die neu entdeckte Handschrift aus San Zoilo in Carrión de los Condes einen wichtigen Schritt voran gekommen. Umso mehr muss man bedauern, dass dieses wertvolle Zeugnis mittelalterlichen Totengedenkens nur als Fragment erhalten ist. Man darf mit Recht vermuten, dass die unzerstörte Handschrift des spanischen Priorates im beginnenden 13. Jahrhundert ein nahezu vollkommenes Spiegelbild des Necrologs der Abtei Cluny selbst gewesen ist. Diese erste Publikation zum Fragment muss ihrerseits auch fragmentarisch bleiben. Viele Probleme konnten nur kurz berührt werden, viele Fragen müssen offen bleiben. Ist die Vorlage des Necrologs schon im 11. Jahrhundert aus Cluny nach Carrión gelangt und dort weitergeführt worden, oder hat man vielleicht erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ( erneut? ) ein in Cluny ausgemustertes Necrolog an das Priorat San Zoilo gegeben? Wie funktionierte der Austausch der Todesnachrichten von Spanien nach Cluny? Warum sind nur relativ wenige Mönche, die als spanische Cluniacenser zu erkennen sind, in das gemeinsame Totengedenken übernommen worden? Aus welchem Kloster stammen die Nonnen auf den Verso-Seiten, für die sich keine Parallelen in den Necrologien der <Synopse> finden lassen? Wie groß ist der Anteil von familiares lokaler Tradition auf den Recto-Seiten? Weitere Untersuchungen
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modi onerantes, ut quantocius commode poterunt, ipsorum defunctorum nomina priori claustrali vel cantori Cluniacensi in scriptis apud Cluniacum mittant … BB 3385, BB 4893; Petri Venerabilis Contra Petrobrusianos Hereticos, hg. von James Fearns ( CC Cont. Med. 10 ) Turnhout 1968, cap. 233, S. 139. Wollasch, Schicht ( wie Anm. 10 ) S. 271 f. Vgl. o. Anm. 9. Joachim Wollasch, Überlieferung und Edition der cluniacensischen Necrologien, in: Synopse ( wie Anm. 8 ) 1, S. 11–18, S. 11.
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könnten mit Hilfe zusätzlicher Identifizierungen dazu Erkenntnisse liefern. Mehr als in diesem Beitrag müsste auch die lokale Tradition einzelner spanischer Priorate herangezogen werden 220. Es scheint ein Wesensmerkmal der kritischen Necrologforschung zu sein, dass sie sich – schon gar bei einem Fragment – mehr durch immerwährenden Fortschritt als durch fertige Lösungen auszeichnet. ZUSAMMENFASSUNG
Im Necrologfragment aus dem cluniacensischen Priorat San Zoilo in Carrión de los Condes ( Diözese Palencia ) sind etwa ein Viertel der Gedenkeinträge des gesamten Jahres ( 84 Tage ) erhalten. Die vollständige Handschrift muss mehr als 25 200 Namen enthalten haben und gehört damit zu den umfangreichsten Necrologien des Mittelalters, die wir kennen. Die Anlage aus dem beginnenden 13. Jahrhundert zeigt eine sehr differenzierte Form cluniacensischen Totengedenkens, eine Ordnung, die weitgehend den Vorschriften der consuetudines entspricht, die aber nur in sehr wenigen Klöstern konsequent beachtet wurde. Die Mönche der Cluniacensis ecclesia wurden jeweils auf den Verso-Seiten notiert, die Namen der Mönche aus verbrüderten Klöstern sowie die Freunde und Wohltäter stehen gegenüber auf den Recto-Seiten. Die Namen der cluniacensischen Mönche auf den Verso-Seiten stimmen zu mehr als 80 Prozent mit den in der <Synopse> der cluniacensischen Necrologien edierten Einträgen überein. Bestimmte Charakteristika des Necrologs von San Zoilo zeigen, dass hier gleichwohl eine eigene vorliegt. Sie enthält z. B. weniger fehlerhafte Doppelungen als die anderen Totenbücher. Die Einträge auf den Recto-Seiten beziehen sich nur zum geringen Teil auf familiares des Kloster San Zoilo. Der überwiegende Anteil der Namen gehört zu Verbrüderten und Wohltätern der Abtei Cluny selbst. Darunter lassen sich viele Freunde Clunys nachweisen, deren Gedenken man bisher in der cluniacensischen Memorialüberlieferung vermisst hatte. Außerdem sind jetzt deutlich Personen als Wohltäter und Freunde Clunys zu erkennen, die bisher irrtümlich als Professmönche von Cluny angesehen wurden; diese Namen waren allein im Necrolog von Marcigny ohne Parallelen in den anderen Necrologien der <Synopse> eingetragen. Doch wird so in der Handschrift aus Marcigny nur ein Teil der Freunde und Wohltäter Clunys überliefert. Das Necrolog von Marcigny kann deshalb künftig nicht mehr als die Tradition gelten, die dem verlorenen Necrolog von Cluny am nächsten stünde. Stattdessen muss jetzt das Necrolog von San Zoilo als getreues Abbild des cluniacensischen Gebetsgedenkens betrachtet werden. Neben der Memoria der Abtei und des Verbandes von Cluny bietet das Fragment aus Carrión die eigene lokale Tradition und überliefert mehr Namen spanischer Cluniacensermönche als die bisher bekannten Necrologien. Das Priorat San Zoilo kann demnach auch für das Totengedenken als Unterzentrum mit Leitungs- und Verwaltungsaufgaben für die cluniacensische Provinz angesehen werden. Die spätere, weit über das 13. Jahrhundert hinausgehende Benutzung des Necrologs beschränkt sich allerdings weitgehend auf den lokalen Bereich und schließt auch historiographische Elemente mit ein.
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Reglero de la Fuente, Cluny en España ( wie Anm. 13 ) S. 475–591, bes. S. 563–591.
Das Kommunikationsgeschehen der Privilegierung
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CHRISTOPH FRIEDRICH WEBER
Das Kommunikationsgeschehen der Privilegierung als Ort der Inszenierung Reichsitaliens im Hochmittelalter, oder: Wie die Staufer zu Nachfolgern des Langobardenkönigs Liutprand wurden Wie sehr die Herrschaft über das Regnum Italicum zur Entstehung des Gebildes beitrug, das später als Heiliges Römisches Reich bezeichnet wurde, braucht nicht eigens hervorgehoben zu werden 1. Um sich den Zusammenhang plastisch vor Augen zu führen, genügt bereits ein Blick in den Magdeburger Dom, den auch heute noch die Spolien schmücken, die Otto der Große für den Bau seiner Gründung aus Italien herbeischaffen ließ 2. Blickt man jedoch von diesen „ottonischen Neuanfängen“, von der Verbindung zweier Königreiche mit der Kaiserwürde, auf die weitere Entwicklung der südlich der Alpen, so entdeckt man in der Perspektive des 19. Jahrhun-
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Eine umfassende Untersuchung der Auswirkungen der „Italienerfahrung“ für das Reich nördlich der Alpen im Hochmittelalter scheint zu fehlen. S. daher – neben der im Folgenden angeführten Literatur und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Timothy Reuter, The Medieval German Sonderweg? The Empire and its Rulers in the High Middle Ages, in: Anne J. Duggan ( Hg. ), Kings and Kingship in Medieval Europe ( King’s College London, Medieval Studies 10 ) London 1993, S. 179–211; Hagen Keller, Die Kaiserkrönung Ottos des Großen. Voraussetzungen, Ereignisse, Folgen, in: Matthias Puhle ( Hg. ), Otto der Große, Magdeburg und Europa, 1: Essays, Mainz 2001, S. 461–480; Ders., Das neue Bild des Herrschers. Zum Wandel der „Herrschaftspräsentation“ unter Otto dem Großen, in: Bernd Schneidmüller – Stefan Weinfurter ( Hgg. ), Ottonische Neuanfänge. Symposion zur Ausstellung „Otto der Große, Magdeburg und Europa“, Mainz 2001, S. 189–211; Bruno Klein, Die ehemalige Abteikirche von Königslutter. Die Grablege eines sächsischen Kaisers am Beginn der Stauferzeit, in: Jochen Luckhardt – Franz Niehoff ( Hgg. ), Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995, 2: Essays, München 1995, S. 105–119; Wolfgang Stürner, Deutschland und Italien in der Herrschaftskonzeption Kaiser Friedrichs II., in: Deutschland und Italien zur Stauferzeit ( Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst 22 ) Göppingen 2002, S. 10–40; Hubert Houben, Die Staufer im Mittelmeerraum, in: ebd., S. 41–70; Ferdinand Opll, YTALICA EXPEDITIO. Die Italienzüge und die Bedeutung Oberitaliens für das Reich zur Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas ( 1152–1190 ), in: ebd., S. 93–135; ergänzend Marie-Luise Favreau-Lilie, Die Heerfolgepflicht im Regnum Italiae. Theorie und Praxis vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 54, 1998, S. 55–96; Hagen Keller, Das <Erbe> Ottos des Großen. Das ottonische Reich nach der Erweiterung zum Imperium, in diesem Band. Der Text des in Münster gehaltenen Vortrags kommt hier in leicht erweiterter Fassung zum Abdruck. Herrn Professor Hagen Keller und Herrn Professor Knut Görich danke ich herzlich für die während der Ausarbeitung des Beitrags gegebenen Anregungen und Hinweise. Vgl. Cord Meckseper, Magdeburg und die Antike – Zur Spolienverwendung im Magdeburger Dom, in: Puhle ( Hg. ), Otto der Große 1 ( wie Anm. 1 ) S. 367–380.
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Christoph Friedrich Weber
derts keine blühenden Landschaften, sondern einen Prozess der Versteppung 3. Diese, uns allen vertraute <Meistererzählung> besagt, dass während der Abwesenheit der als Reiseherrscher agierenden und in Konflikt zum Papsttum geratenden Könige die prosperierenden Stadtkommunen zu autonomen Trägern von Staatlichkeit wurden 4. Der Versuch der Staufer, eine Königsherrschaft neuer Qualität in Oberitalien durchzusetzen, inspiriert etwa durch die Aneignung des römischen Rechtes oder die Effizienz des Beamtenstaates ihres sizilischen Königreichs, war dagegen zum Scheitern verurteilt 5. Als bauliches Leitsymbol dieser Entwicklung kann die Königspfalz zu Pavia, der alten des Langobardenreiches, dienen, verbinden sich mit ihrem Ende doch gleichermaßen die in dieser Perspektive als gegenläufig aufgefassten Entwicklungen, nämlich königliche Präsenz und früheste kommunale Freiheitsbestrebungen. Am
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Der Begriff nach Bernd Schneidmüller, Am Ende der Anfänge. Schlußgedanken über ottonische Erfolge in Geschichte und Wissenschaft, in: Ders. – Weinfurter ( Hgg. ), Ottonische Neuanfänge ( wie Anm. 1 ) S. 345–374. Zum Begriff der <Meistererzählung> s. Frank Rexroth, Meistererzählungen und die Praxis der Geschichtsschreibung. Eine Skizze zur Einführung, in: Ders. ( Hg. ), Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen ( Historische Zeitschrift. Beihefte NF 46 ) München 2007, S. 1–22; mit Bezug auf das Hochmittelalter und die Staufer Hagen Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer, 1024 bis 1250 ( Propyläen Geschichte Deutschlands 2 ) Frankfurt am Main – Berlin 1986, S. 13–53; Timothy Reuter, Nur im Westen was Neues? Das Werden prämoderner Staatsformen im europäischen Hochmittelalter, in: Joachim Ehlers ( Hg. ), Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter ( Vorträge und Forschungen 56 ) Stuttgart 2002, S. 327–351; Knut Görich, Die Staufer. Herrscher und Reich, München 2006, S. 9–18. Diese Sichtweise dominiert bis in die Gegenwart in Überblicken und der Handbuch-Literatur. S. beispielsweise Thomas Frenz, Italien im Mittelalter ( 950–1454 ), in: Wolfgang Altgeld ( Hg. ), Kleine italienische Geschichte, Stuttgart 2002, S. 15–121, hier S. 17: „Die relative Schwäche der ( deutschen ) Königsherrschaft ließ es zu, daß, in Kombination mit einer fortschrittlichen Wirtschaftsentwicklung, in Nord- und Teilen Mittelitaliens im 11.–13. Jahrhundert selbstverwaltete und de facto unabhängige, aber auch politisch auf ihren eigenen Gesichtskreis beschränkte Kommunen entstanden. Diese konnten im 12. und 13. Jahrhundert in einem taktischen Bündnis mit dem Papsttum den staufischen Restaurationsbemühungen widerstehen, wodurch die polyzentrische Struktur des Landes erhalten blieb.“ Mit Bezug auf den Wechsel von An- und Abwesenheit im deutschen Reichsteil als „nur auf den ersten Blick widersprüchliche oder gar dysfunktionale Herrschaftspraxis“, dies jedoch der der sesshaft werdenden Administration unterordnend Caspar Ehlers, Um 1012. Wie sich ambulante zu residenter Herrschaft entwickelt hat, in: Bernhard Jussen ( Hg. ), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, S. 106–124, S. 115: „Einige Faktoren lassen sich zusammentragen, die das Festhalten der deutschen Könige am Reisekönigtum gefördert haben: Die Herrscher mußten auf Entwicklungen in ihrem Reich, das zivilisatorisch hinter Frankreich und England zurückblieb, reagieren, da sie aus eigener Kraft die Zustände nicht verändern konnten; dies vor allem, weil der Adel hier eine wesentlich stärkere Position in der weltlichen wie der kirchlichen Hierarchie innehatte als anderswo. Ein erheblicher Faktor war auch der Anspruch auf das romorientierte Kaisertum, der zumindest zu zahlreichen und oft langen Italienzügen zwang. Auch im fortschreitenden Mittelalter, als sich die Nachbarreiche längst zu zentralisieren begannen, änderten die deutschen Könige nichts an der hergebrachten Praxis.“ Dass weder dieser noch die anderen Beiträge des Sammelbandes sich damit befassen, wie die römischen Kaiser im kommunal geprägten Reichsitalien herrschten, deutet auf das gegenwärtige Desinteresse der deutschsprachigen Mediävistik an einem ihrer einstigen Hauptforschungsfelder hin.
Das Kommunikationsgeschehen der Privilegierung
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Krönungstag Heinrichs II., am 14. Mai 1004, war von ihr ausgehend die aufständische Stadt verbrannt und verheert worden 6. Als zwanzig Jahre später die Nachricht vom Tode des Königs an den Ticino gelangte, zerstörten die Pavesen das palatium so gründlich, dass es bis heute nicht baulich nachzuweisen ist 7. Nicht allein der Wunsch nach Vergeltung trieb sie an, sondern wohl auch schon der gemeinschaftliche Wille, künftig keine Herrscherresidenz mehr in ihren Mauern zu dulden. Dass der darüber berichtende Mailänder Arnulf vom Königreich Italien und seinen deutschen Königen schrieb – Otto der Große war, ihm zufolge, primus ex Teutonibus imperator dictus Italicus und der Brand Pavias habe ganz Italien, omnis [ … ] Italia, erschrecken lassen 8 –, bot sich im Zeitalter des Risorgimento ebenso für eine Deutung als Vorwegnahme nationalstaatlicher Entwicklungen der eigenen Zeit an, wie die nach der Schlacht bei Legnano von den siegreichen Mailändern brieflich verbreitete Versicherung, die Beute ‚gehöre gemeinsam dem Herrn Papst und den Italienern‘ 9. Auf eine extrem verkürzende Formel gebracht, besagt die <Meistererzählung> also, dass es der in die Hände fremder Invasoren gelangten königlichen Zentralgewalt im Verlauf des Hochmittelalters trotz hohen Reformaufwands nicht gelang, stabile Herrschaftsstrukturen auszubilden. Träger einer solchen Modernisierung wurden dagegen das universale Papsttum und die einheimischen Kommunen, die dafür mit dem Preis der politischen Zersplitterung Italiens bezahlten.
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Theodor Graff, Die Regesten des Kaiserreiches unter Heinrich II. 1002–1024 ( J. F. Böhmer, Regesta Imperii II, 4 ) Wien – Köln – Graz 1971, Nr. 1562g. Heinrich Appelt – Norbert von Bischoff, Die Regesten des Kaiserreiches unter Konrad II. 1024–1039 ( J. F. Böhmer, Regesta Imperii III, 1,1 ) Graz 1951, Nr. i; Hans Conrad Peyer, Friedrich Barbarossa, Monza und Aachen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 8, 1951, S. 438–460, S. 449 f.; Gigliola Soldi Rondinini, Art. <Pavia>, in: LMA 6, 1993, Sp. 1831–1836, hier Sp. 1832 f. Zur Paveser Königspfalz und dem Nachwirken dieses Herrschaftsortes vgl. Carlrichard Brühl, Das „Palatium“ von Pavia und die „Honorantiae civitatis Papie“, in: Pavia, capitale del Regno. Atti del 4o Congresso internazionale di studi sull’alto medioevo, Pavia, Scaldasole, Monza, Bobbio, 10–14 settembre 1967 ( Centro italiano di studi sull’alto medioevo ) Spoleto 1969, S. 189–220, wieder abgedruckt in Ders., Aus Mittelalter und Diplomatik. Gesammelte Aufsätze, 1: Studien zur Verfassungsgeschichte und Stadttopographie, Hildesheim – München – Zürich 1989, S. 138–169; Ders. – Cinzio Violante, Die „Honorantie civitatis Papie“. Transkription, Edition, Kommentar, Köln – Wien 1983; Keller ( wie Anm. 4 ) S. 93 ff.; Ders., Das neue Bild ( wie Anm. 1 ) S. 197 f. Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium, hg. von Claudia Zey ( MGH SS rer. Germ. 67 ) Hannover 1994, I 7, S. 126, und I 16, S. 138 f. Vgl. Claudia Zey, Arnulf von Mailand ( um 1000 – nach 1077 ), Liber gestorum recentium, in: Volker Reinhardt ( Hg. ), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997, S. 33–36. Gli atti del Comune di Milano fino all’anno MCCXVI, hg. von Cesare Manaresi, Milano 1919, Nr. 102, S. 143 f.: [ spolia ] que quidem nostra non reputamus, sed ea domini pape et Ytalicorum communia esse desideramus. Vgl. zum Kontext der neuzeitlichen Rezeption, in dem der berühmte Beleg hier interessiert, Girolamo Arnaldi, Italien und seine Invasoren. Vom Ende des Römischen Reiches bis heute, Berlin 2005, S. 82 f. Jörg W. Busch, Die Lombarden und die Langobarden. Alteingesessene und Eroberer im Geschichtsbild einer Region, in: Frühmittelalterliche Studien 29, 1995, S. 289–311, hier S. 304 f., diskutiert differenziert die verschiedenen Selbst- und Fremdbezeichnungen der Mitglieder des Lombardenbundes. Mit der Praxis des Beutemachens wie auch mit den davon ausgehenden Sinnstiftungen beschäftigt sich das Habilitationsprojekt von Michael Jucker, „Beute, Schätze, Plunder: Kriegs- und Gewaltökonomie im vormodernern Europa ( ca. 800–1550 )“.
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Wie diese Auffassung zu revidieren ist, haben zuletzt Girolamo Arnaldi auf italienischer sowie Hagen Keller und Knut Görich auf deutscher Seite gezeigt 10. Sie hat jedoch erheblich dazu beigetragen, dass sich die ältere Forschung so schwer mit dem mittelalterlichen Reichsitalien tat, das sich, um es mit Patrick Geary zu sagen, der „Fortschrittsgeschichte des Staates“ auf beiden Seiten der Alpen als Projektionsfläche entzog 11. Hinzu kamen arbeitsorganisatorische und methodische Probleme: der Quellenreichtum Italiens, der Sammlungstätigkeit und Detailstudien forderte, sowie die an moderner Staatlichkeit oder dem Ideal des unverfälschten Textes orientierten Beschreibungskategorien der älteren Forschung. So wurden die monumentalen, zwischen 1868 und 1874 erschienenen Julius Fickers geradezu gattungsbegründend für die Art und Weise, in der sich die deutsche Mediävistik dem Thema zuwandte 12. Handlungsräume der Königsherrschaft wurden anhand des Itinerars, der Verfassungsverhältnisse und der materiellen Herrschaftsgrundlagen rekonstruiert 13. Dem Leser dieser Forschungen drängt sich der Eindruck auf, dass sich dieses Reichsitalien des 12. und frühen 13. Jahrhunderts, obwohl es ungeheure Mengen an Quellenmaterial produzierte, in einem kaum greifbaren Schwebezustand zwischen und befand, zwischen veraltenden Rechtspositionen und letztlich nicht zum Zuge kommenden Herrschaftsintensivierungen. Angesichts dieser Problemstellung rücken aus heutiger Sicht andere Bereiche der politischen Kultur des Mittelalters als historische Orte Reichsitaliens in den Vorder10
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Arnaldi ( wie Anm. 9 ); Hagen Keller, Der Blick von Italien auf das „römische“ Imperium und seine „deutschen“ Kaiser, in: Bernd Schneidmüller – Stefan Weinfurter ( Hgg. ), Heilig – Römisch – Deutsch. Das Reich im mittelalterlichen Europa, Dresden 2006, S. 286–307; Görich ( wie Anm. 4 ); Ders., Die Reichslegaten Kaiser Friedrichs II., in: Claudia Zey – Claudia Märtl ( Hgg. ), Aus der Frühzeit europäischer Diplomatie. Zum geistlichen und weltlichen Gesandtschaftswesen vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, Zürich 2008, S. 119–149 ( im Druck ). Patrick J. Geary, „Multiple Middle Ages“ – konkurrierende Meistererzählungen und der Wettstreit um die Deutung der Vergangenheit, in: Meistererzählungen ( wie Anm. 4 ) S. 107–120, hier S. 111 f. Julius Ficker, Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens, 4 Bde., Innsbruck 1868–74, ND Aalen 1961. Stellvertretend für zahlreiche Einzelstudien, „Forschungen und Materialsammlungen“ sei genannt: Hermann Kalbfuss, Urkunden und Regesten zur Reichsgeschichte Oberitaliens, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 15, 1913, S. 53–118 und 223–283. S. schließlich die monographischen Darstellungen von Carlrichard Brühl, Fodrum, Gistum, Servitium regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, 2 Bde. ( Kölner Historische Abhandlungen 14/I–II ) Köln – Graz 1968; Alfred Haverkamp, Herrschaftsformen der Frühstaufer in Reichsitalien, 2 Teile ( Monographien zur Geschichte des Mittelalters 1/I–II ) Stuttgart 1970/1971. Vgl. Keller ( wie Anm. 4 ) S. 356–371; Ders., Otto der Große urkundet im Bodenseegebiet. Inszenierungen der in einer vom König selten besuchten Landschaft, in: Jürgen Petersohn ( Hg. ), Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters ( Vorträge und Forschungen 54 ) Stuttgart 2001, S. 205–245; Christoph Dartmann, Zwischen kaiserlicher Legitimation und kommunaler Autokephalie – Beobachtungen zur Friedrichs II. in Reichsitalien, in: Knut Görich – Theo Broekmann – Jan Keupp ( Hgg. ), Herrschaftsräume, Herrschaftspraxis und Kommunikation zur Zeit Kaiser Friedrichs II. ( Münchner Beiträge zur Geschichtswissenschaft 2 ) München 2008, S. 257–279 ( im Druck ).
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grund. Vor allem das Kommunikationsgeschehen zwischen den Herrschern und den Reichsangehörigen erhält so ein eigenes Gewicht gegenüber den Inhalten, die in seinem Kontext verhandelt oder zur Geltung gebracht wurden. Dieser Blick auf die Kommunikation zeichnet neuere Fragestellungen der historischen Forschung aus 14. Ihnen folgend frage ich danach, welche Bedeutung der Bezug auf die Reichstradition in herausgehobenen Kommunikationsakten der Stauferzeit besaß. Ich könnte auch sagen, dass es mir um den argumentativen Umgang mit der Geschichte im politischen Handeln geht, um Traditions- und Rollenvorgaben, Erinnerungsorte und Medien, auf deren ehrgebietendes, verpflichtendes Alter man sich unter dem Druck aktueller Interessen besann. Trägt das in einer Welt der entstehenden urbanen und höfischen Verwaltungszentren praktizierte Reisekönigtum der Staufer gemäß der genannten Fortschrittsgeschichte die Anmutung des Archaischen, so kann diese Sichtweise vielleicht zu einer Neubewertung des Phänomens führen 15. Die Mobilität und Flexibilität der Kommunikationspartner, die sich beispielsweise auf den Romzügen trafen, schloss die im selben Zeitraum von ihnen, oftmals mit gegenläufigen Intentionen betriebenen Herrschaftsintensivierungen ja nicht aus. Vielmehr scheint, so ist zu vermuten, die hergebrachten Herrschaftspraktiken folgende Konstituierung Reichsitaliens in Akten symbolischer Kommunikation oftmals eine Begegnung, ja sogar einen politischen Konsens möglich gemacht zu haben. Innerhalb der Spielräume, die die Traditions-, Rollen- und Verfahrensvorgaben den Akteuren boten, wurden Ordnungen weiterentwickelt und einzelne Übereinkünfte öffentlich inszeniert 16. Indem ich von einem
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Vgl. ohne Anspruch auf Vollständigkeit Thomas Zotz, Präsenz und Repräsentation. Beobachtungen zur königlichen Herrschaftspraxis im hohen und späten Mittelalter, in: Alf Lüdtke ( Hg. ), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien ( Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 91 ) Göttingen 1991, S. 168–194; Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; Ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003; Ders., Zum Inszenierungscharakter öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, in: Johannes Laudage ( Hg. ), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung ( Europäische Geschichtsdarstellungen 1 ) Köln – Weimar – Wien 2003, S. 79–93; Keller, Otto ( wie Anm. 13 ) S. 208 f.; Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert ( Symbolische Kommunikation in der Vormoderne ) Darmstadt 2001; Ders. ( wie Anm. 10 ); Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31/4, 2004, S. 489–527; Dies. – Gerd Althoff, Rituale der Macht in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Axel Michaels ( Hg. ), Die neue Kraft der Rituale ( Studium generale der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg ) Heidelberg 2007, S. 141–177; Romy Günthart – Michael Jucker ( Hgg. ), Kommunikation im Spätmittelalter. Spielarten – Wahrnehmungen – Deutungen, Zürich 2005; Christoph Dartmann, Schrift und politische Kommunikation in der italienischen Stadtkommune, in: Giuseppe Albertoni – Hannes Obermair ( Hgg. ), Schrift Stadt Region / scrittura città territorio ( Geschichte und Region / Storia e regione 15/1 ) Innsbruck – Wien – Bolzano 2006, S. 62–74.; demnächst Barbara Stollberg-Rilinger u. a. ( Hgg. ), Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800. Essay- und Katalogband zur Ausstellung vom 21. 09. 2008 bis 04. 01. 2009 im Kulturhistorischen Museum Magdeburg, Darmstadt 2008. Vgl. allgemein Valentin Groebner, Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, München 2008, besonders S. 153–159. Wegweisend für die Neubewertung der am Reisekönigtum ausgerichteten symbolischen Kommunikation zwischen den Herrschern und ihren Getreuen ist Keller, Otto ( wie Anm. 13 ). Vgl. Ehlers ( wie Anm. 5 ) S. 115 f. und 118; Christoph Friedrich Weber, Kommunikation zwischen Friedrich II. und
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mittelalterlichen Reich als einer politischen Größe spreche, die sich derart komplex konstituierte, greife ich auf den weiten Begriff des Politischen in der Neuen Kulturgeschichte zurück, der solche Formen und Funktionen handlungsleitender Sinnstiftung erfasst 17. Da die Ausgangsfrage nach der Konstituierung des Regnum Italicum in der politischen Kultur des Hochmittelalters Raum für ein ganzes Forschungsfeld bietet, fokussiere ich das Phänomen für die folgende Untersuchung in zweifacher Hinsicht. Es geht mir um die Inszenierung Reichsitaliens im Kommunikationsgeschehen der Privilegierung. Letzteres ist keinesfalls nur auf die Ausstellung von Urkunden durch die Kanzlei als einer Art zu reduzieren. Vor allem die Forschungen Hagen Kellers haben deutlich gemacht, dass die Privilegierung als ein rituell geprägtes Kommunikationsgeschehen zu verstehen ist, das weit über den eigentlichen Akt der feierlichen Urkundenvergabe durch den Herrscher hinausreichte 18. Es umfasste vorausgehende Verhandlungen, erfolgte im Zusammenhang mit weiteren, statusverändernden Ritualen, wie Investituren, und setzte geradezu plurimedial Textinhalte, Gesten, Bilder und Objekte zueinander in Beziehung. Im früheren Mittelalter, und über dieses hinaus, ist die Privilegierung eines der elementaren Rituale, in denen sich Staatlichkeit konstituierte 19. Untersucht man nun das Ritual sowie die Einzelelemente der Privilegierung, so ist auf eine Wechselwirkung zu achten, auf die die moderne Mediävistik auch im Fall
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den italienischen Kommunen, in: Görich – Broekmann – Keupp ( Hgg. ) ( wie Anm. 13 ) S. 281–316 ( im Druck ). Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: Dies. ( Hg. ), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? ( Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 35 ) Berlin 2005, S. 9–24. Keller ( wie Anm. 4 ) S. 363; Ders., Zu den Siegeln der Karolinger und der Ottonen. Urkunden als in der Kommunikation des Königs mit seinen Getreuen, in: Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, S. 400–441; Ders., Hulderweis durch Privilegien: symbolische Kommunikation innerhalb und jenseits des Textes, in: Frühmittelalterliche Studien 38, 2004, S. 309–321; Ders., Die Herrscherurkunden: Botschaften des Privilegierungsaktes – Botschaften des Privilegientextes, in: Comunicare e significare nell’alto medioevo, 15–20 aprile 2004 ( Settimane di studio della Fondazione Centro italiano di studi sull’alto medioevo 52 ) Spoleto 2005, S. 231–283; Ders. – Christoph Dartmann, Inszenierungen von Ordnung und Konsens. Privileg und Statutenbuch in der symbolischen Kommunikation mittelalterlicher Rechtsgemeinschaften, in: Gerd Althoff – Christiane Witthöft ( Hgg. ), Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster ( Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 3 ) Münster 2004, S. 201–223; Hagen Keller – Stefan Ast, Ostensio cartae. Italienische Gerichtsurkunden des 10. Jahrhunderts zwischen Schriftlichkeit und Performanz, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 53, 2007, S. 99–121. Hagen Keller, Reichsorganisation, Herrschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen im Regnum Teutonicum, in: Il secolo di ferro: Mito e realtà del secolo X, 19–25 aprile 1990 ( Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 38 ) Spoleto 1991, S. 159–203, hier S. 170; Ders., Die Investitur. Ein Beitrag zum Problem der <Staatssymbolik> im Hochmittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 27, 1993, S. 51–86. Vgl. auch Christoph Dartmann, Urkunden in der symbolischen Kommunikation des Investiturstreits. Zur situativen Kontextualisierung hochmittelalterlicher Wertediskurse, in: Barbara Stollberg-Rilinger – Thomas Weller ( Hgg. ), Wertekonflikte – Deutungskonflikte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 19. – 20. Mai 2005 ( Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 16 ) Münster 2007, S. 51–68.
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anderer Rituale aufmerksam gemacht hat. Der Wandel der Lebens- und Herrschaftsordnungen wirkte sich ebenso auf das formalisierte Handeln der Protagonisten aus, wie dieses mitsamt seinen medialen Möglichkeiten über die Kommunikationspraxis auf die Ordnungsvorstellungen zurückwirkte. Das Gelingen eines Rituals oder die Gestaltung eines Mediums lassen so, wie die Forschungen Gerd Althoffs und Hagen Kellers gezeigt haben, Rückschlüsse darauf zu, welche Akzeptanz der jeweilige Stand dieser Wechselbeziehung fand 20. Wie unter diesen Bedingungen ein in der Nachfolge des Langobardenreiches stehendes Königtum nach den Interessen des Kaisers und seiner Getreuen erfunden und inszeniert wurde, werde ich am Beispiel von Monza und Casale Sant’ Evasio näher betrachten. Und damit bin ich bei der Frage angelangt, wie die Staufer zu den Nachfolgern des Langobardenkönigs Liutprand wurden. In eindrucksvoller Weise demonstrierte Friedrich Barbarossa auf seinem zweiten Italienzug seine Herrschaft als Kaiser und König. Nachdem er die Mailänder im September 1158 zur Unterwerfung gezwungen hatte, ging er in Monza unter der Krone 21. Auf dem zum Martinstag einberufenen Reichstag auf den Ronkalischen Feldern nahm er, bekräftigt durch die Gesten der Vasallität und Eidesleistungen, von den versammelten Herrschaftsträgern alle Hoheitsrechte des Reiches wieder an sich. Anschließend ließ er sie grundsätzlich neu definieren, schriftlich fixieren und als Gesetze verkünden 22. In den folgenden Wochen und Monaten sollten seine Gesandten und Bevollmächtigten bis in den Süden der Halbinsel unterwegs sein, um in der Umsetzung des zu Roncaglia Beschlossenen, Eidesleistungen einzufordern, Steuern zu erheben oder Stadtregimenter zu übernehmen 23. Der Kaiser selbst feierte das Weihnachtsfest zu Alba mit einer erneuten Festkrönung, um dann mit seinem Gefolge das Winterquartier im Gebiet des Markgrafen von Montferrat zu beziehen 24. Hier, auf der Burg Occi-
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Gerd Althoff, Christliche Ethik und adliges Rangbewußtsein. Auswirkungen eines Wertekonflikts auf symbolische Handlungen, in: Stollberg-Rilinger – Weller ( Hgg. ), Wertekonflikte ( wie Anm. 19 ) S. 37–49; Keller, Zu den Siegeln ( wie Anm. 18 ). Ferdinand Opll, Die Regesten des Kaiserreiches unter Friedrich I. 1152 ( 1122 )–1190. 2. Lieferung 1158–1168 ( J. F. Böhmer, Regesta Imperii IV, 2, 2 ) Wien – Köln 1991, Nr. 581, 583 und 587. Die Urkunden Friedrichs I. 1158–1167, bearb. von Heinrich Appelt unter Mitwirkung von Rainer Maria Herkenrath und Walter Koch ( MGH DD 10, 2 ) Hannover 1979, Nr. 237–242, S. 27–36; Regesta Imperii IV, 2, 2 ( wie Anm. 21 ) Nr. 605–607, 611 und 617–621. Vgl. Keller ( wie Anm. 4 ) S. 402–405; Petra Schulte, Friedrich Barbarossa, die italienischen Kommunen und das politische Konzept der Treue, in: Frühmittelalterliche Studien 38, 2004, S. 153–172; Gerhard Dilcher – Diego Quaglioni ( Hgg. ), Gli inizi del diritto pubblico. L’età di Federico Barbarossa: legislazione e scienza del diritto / Die Anfänge des öffentlichen Rechts. Gesetzgebung im Zeitalter Friedrich Barbarossas und das Gelehrte Recht ( Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Contributi 19 ) Bologna – Berlin 2007. Regesta Imperii IV, 2, 2 ( wie Anm. 21 ) Nr. 624–625 und 641. Civis Mediolanensis anonymi Narratio de Longobardie obpressione et subiectione, in: Italische Quellen über die Taten Kaiser Friedrichs I. in Italien und der Brief über den Kreuzzug Kaiser Friedrichs I., übers. von Franz-Josef Schmale ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters: Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17a ) Darmstadt 1986, S. 240–295, hier S. 260 f.: Imperator vero dato exercitui comeato secessit Bolzanum cum familia sua et ibi stetit octo dies et postea ascendit Modoetiam et ibi moratus est plus octo diebus. [ … ] Postea stetit in partibus Montisferrati et Ciriate et hiemavit ibi. Et cum esset aput Occimianum, precepit, ut
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miano, setzten sich sozusagen im Alltag die Haupt- und Staatsaktionen des Vorjahres fort. Am 26. Januar 1159 stellte Friedrich den Monzesen ein Freiheitsprivileg aus, das die Rolle Monzas anlässlich der beiden Großereignisse, Festkrönung und Reichstag, mit einer angeblich alten Rechtstradition begründete: Sie sei caput Lombardie et sedes regni, ‚in der auch unsere Vorgänger nach dem Recht des Reiches gekrönt zu werden pflegten‘ 25. Friedrichs Onkel Konrad war zwar 1128 als Gegenkönig zu Lothar III. in der Michaelskirche Monzas zum König Italiens gekrönt worden, doch stand dies eben nicht in einer solchen Tradition 26. Die Krönungskirche des Reiches war die Michaelskirche zu Pavia, in der niemand anderes als Barbarossa selbst nach seinem Sieg über Tortona am 24. April 1155 gekrönt worden war 27. Offenbar erfanden der Staufer und seine Umgebung drei Jahre später eine auf Monza bezogene, in die Langobardenzeit zurückreichende Tradition, die aktuellen Zielen ihrer politischen Agenda diente 28. Die Feststellung des Status Monzas als Reichslehen und seine feierliche Übertragung an den Herrscher auf dem Reichstag zu Roncaglia besaß die Funktion eines Beispiels ( exemplum ), an dem eine juristisch argumentierende und zugleich in ehrwürdiger Tradition stehende Königsherrschaft vor den Augen der Reichsöffentlichkeit inszeniert wurde. Ließ sich das zu Roncaglia promulgierte Recht des Kaisers, palacia et pretoria nach seinem Willen in jeder Stadt errichten zu lassen, in der Praxis nur eingeschränkt und in Mailand schon gar nicht umsetzen, so wurde nun mit Monza ein Pfalzort in unmittelbarer Nähe der Lombardenmetropole aufgewertet 29. Die Zeitgeschichtsschreibung beziehungsweise -dichtung im Umfeld des Hofes kehrte die Entwicklung dann gera-
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castellum Crème destrueretur, recepturus propterea quindecim milia marchas argenti a Cremonensibus. Vgl. Regesta Imperii IV, 2, 2 ( wie Anm. 21 ) Nr. 630 und 637. Die Urkunden Friedrichs I. 1158–1167 ( wie Anm. 22 ) Nr. 253, S. 52–54, hier S. 53: Quia vero honorem imperii nobis a deo comissum non minuere, sed augere, non exterminare, sed integrum conservare debemus, auribus et oculis universorum Christi et imperii fidelium innotescere dignum duximus, quod in curia Roncalie, cum restitutionem regalium nostrorum de singulis civitatibus et cunctis principibus Lombardie de iure recepissemus, inter cetera etiam Modociam spitialem sedem nostram, que caput Lombardie et sedes regni illius esse dignoscitur, in qua etiam nostri antecessores de iure regni coronari consueverant, [ … ] ex legali sententia iudicum Lombardie cum omni integritate recuperavimus. Die Urkunde ist ein Musterbeispiel für die von Keller, Hulderweis ( wie Anm. 18 ) S. 314, beobachtete exemplarische Erfüllung, die die programmatischen Formeln der Arenga in den konkreten Verfügungen des Herrschers finden. Zum Zusammenhang zwischen einem rituellen Akt der Ordnungsstiftung und der in zeitlichem Abstand davon erfolgenden Privilegierung s. Peyer ( wie Anm. 7 ) S. 440; Keller, Hulderweis ( wie Anm. 18 ) S. 319 f.; Ders., The Privilege in the Public Interaction of the Ruling Elite: Forms of Symbolic Communication Beyond the Text, in: Marco Mostert – Paul Barnwell ( Hgg. ), Medieval Legal Process: Physical, Spoken and Written Performance in the Middle Ages ( Utrecht Studies in Medieval Literacy 19 ) Turnhout ( im Druck ) nach Anm. 45. Jan Paul Niederkorn, Konrad III. als Gegenkönig in Italien, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 49, 1993, S. 589–600. Peyer ( wie Anm. 7 ) S. 442 ff. und S. 450 mit dem Hinweis, dass die Rolle des Mailänder Erzbischofs als Konsekrator ein Festhalten an Pavia als Krönungsort in kommunaler Zeit so gut wie unmöglich machte. Im Sinne von: Eric Hobsbawm – Terence Ranger ( Hgg. ), The Invention of Tradition ( Past and Present Publications ) Cambridge 1983. Zur Geschichte Monzas als langobardischem Königsgut und Krönungsort siehe Peyer ( wie Anm. 7 ) S. 441 ff. Vgl. Die Urkunden Friedrichs I. 1158–1167 ( wie Anm. 22 ) Nr. 239, S. 30 f.; Regesta Imperii IV, 2, 2 ( wie Anm. 21 ) Nr. 618. Zur Förderung Monzas s. Haverkamp ( wie Anm. 13 ) S. 182–188.
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dezu um, indem sie propagierte, dass sich Friedrich schon 1154/55 zu Monza am rechten Ort krönen lassen wollte und nur aufgrund des Widerstands Mailands nach Pavia ausgewichen sei 30. Ein kurzer Blick auf die weitere Entwicklung dieser Linie zeigt den Willen des Staufers zum Ausbau dieser 1158 gestifteten Tradition in pragmatischer wie in symbolischer Weise: Die Mailänder hatten nach der Zerstörung ihrer Stadt Baumaterial für die große Pfalz, die ad honorem domini imperatoris in Monza errichtet wurde, herbeizuschaffen 31. Residierten der Kaiser und seine Verwalter dort zeitweise, so findet sich ebenfalls ein Kanoniker aus Aachen, was Hans Conrad Peyer darauf gebracht hat, Parallelen zwischen diesen beiden Zentren staufischer Königsmacht zu entdecken 32. Auch das Aachener Marienstift wurde am 8. Januar 1166 im Kontext der Heiligsprechung Karls des Großen feierlich mit einer Goldbulle privilegiert, die sich an den auf dem zweiten Italienzug vergebenen Urkunden orientierte 33. Sie inserierte eine Stiftungsurkunde Karls des Großen, die die Kanoniker Friedrich auf seine Weisung hin präsentiert hatten. Stand die Privilegierung der Monzesen im Kontext einer zielgerichteten Politik, die organisatorische Bedürfnisse und Geschichtsbilder aufeinander abstimmte, so dürfte die Initiative für die Vergabe der nächsten Urkunde des Staufers von den Empfängern ausgegangen sein 34. Es waren die Kanoniker des Kollegiatstiftes von Sant’ Evasio, die offensichtlich die Anwesenheit des Kaisers auf der nahen Burg benutzten, um vor ihm zu erscheinen und um ein Privileg zu bitten. Ihr Stift lag im Norden des Winterquartiers am Verkehrsknotenpunkt der Region, einer Furt des Po, über die die Straße von Pavia nach Vercelli führte. Dies förderte die Entstehung einer Siedlung, die im Hochmittelalter Casale Sant’ Evasio hieß, heute jedoch bezeichnenderweise als Ca-
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So der wahrscheinlich aus Bergamo stammende, in den 1160er Jahren tätige Dichter, der die Taten Friedrichs in der Lombardei verherrlichte; Carmen de gestis Frederici I. imperatoris in Lombardia, hg. von Irene Schmale-Ott ( MGH SS rer. Germ. 62 ) Hannover 1965, V. 208–290, S. 8–11. Vgl. Peyer ( wie Anm. 7 ) S. 444. Ob Friedrich tatsächlich eine Krönung in Monza beabsichtigt hatte, die dann im Dezember 1154 am Widerstand der Mailänder scheiterte, wie das im Zusammenhang mit anderen Quellen nahelegt, ist eine seit langem in der Forschung diskutierte Frage. Vgl. Görich, Ehre ( wie Anm. 14 ) S. 217–221. Acerbus Morena nach: Ottos Morena und seiner Fortsetzer Buch über die Taten Kaiser Friedrichs, in: Italische Quellen ( wie Anm. 24 ) S. 34–239, hier S. 192 f.: Sequenti vero proxima estate, que fuit in millesimo centesimo sexagesimo tercio ab incarnatione Domini anno, incepit Rodulfus Teutonicus, quem imperator monete sue preposuerat, que fiebat in burgo Noxeta, maximam quandam turrim in predicto burgo de Noxeta ad honorem domini imperatoris ad gubernandos intus denarios imperatoris. Et apud Mogoeciam inceptum est maximum palacium ad eiusdem honorem. Vgl. Zotz ( wie Anm. 14 ) S. 183 f.; Görich, Ehre ( wie Anm. 14 ) S. 365 f. Peyer ( wie Anm. 7 ). Die Urkunden Friedrichs I. 1158–1167 ( wie Anm. 22 ) Nr. 502, S. 430–434. Vgl. Ferdinand Opll, Stadt und Reich im 12. Jahrhundert ( 1125–1190 ) ( Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta imperii 6 ) Wien – Köln – Graz 1986, S. 25–30. Ferdinand Opll, Amator ecclesiarum. Studien zur religiösen Haltung Friedrich Barbarossas, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 88, 1980, S. 70–93, hier S. 86 f., deutet die unmittelbar vorangegangene Begegnung des Kaisers mit den Mönchen von S. Solutore zu Turin in gleicher Weise.
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sale Monferrato auf der Landkarte zu finden ist, weil die Markgrafen sie später unter ihre Kontrolle brachten und zum Hauptort ihres Herrschaftskomplexes machten 35. Die in der Urkunde vom 1. Februar 1159 mitgeteilten Informationen können als Musterbeispiel dafür dienen, dass die Vergabe eines solchen Schriftdenkmals kein Verwaltungsakt, sondern ein Ritual war, durch das Königsherrschaft inszeniert wurde. Angeführt von ihrem Propst Gregor hatten sich die Kanoniker bittend dem Herrscher genähert. Gregor hatte ihm Mannschaft geleistet und den Lehns- und Treueid geschworen. Anschließend hatte Friedrich den Propst mit den Regalien investiert und ihm die Urkunde gegeben, die dem Stift den kaiserlichen Schutz, seine Besitzungen, Rechte und Lehen salva imperiali iusticia garantierte 36. Soweit scheint alles <normgemäß> zu sein; ein weiteres Beispiel für die Umsetzung der Regalienpolitik Barbarossas. Stutzig macht jedoch dann der Passus, der von der Schilderung der Belehnung zur Aufführung des Stiftsbesitzes überleitet. Denn ihm zufolge verpflichtete sich der Kaiser zum Schutz ‚jenes Geschenkes, das König Liutprand der Kirche des heiligen Evasius, wie in seiner Vita zu lesen ist, übertragen und rechtens gegeben habe‘ 37. Offenbar hatten sich die Kanoniker nicht mit Vorurkunden auf den Weg zum Herrscher gemacht, sondern mit der Vita ihres Heiligen, des eigentlichen Besitzers der Kirchengüter. Und dieser Text wurde dann vor der Ausstellung der Urkunde geprüft und höchstwahrscheinlich in der Ritualsequenz der Belehnung und Urkundenvergabe laut verlesen. Was bekamen der Kaiser und seine familiares da zu hören? Die erhielt ihre überlieferungsbestimmende Redaktion im frühen 10. Jahrhundert 38. Geschrieben in einer Krisenzeit, in der die Plünderung Pavias durch die Ungarn noch nicht lange zurücklag und in der sich die Anwärter auf die Königswürde im Regnum Italicum gegenseitig bekriegten, entwirft sie das Gegenbild eines idealen Königs 39. Verkörpert wird es von dem Langobardenkönig Liutprand, einem rex christianissimus und nobilissimus, auf dessen Intervention hin Evasius in Rom zum Bischof von Asti geweiht wird. Er ist es auch, der dann den in Kriegswirren zunächst unentdeckten Leib des zum Märtyrer gewordenen Bischofs findet. 35
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Dieter von der Nahmer, Art. , in: LMA 2, 1983, Sp. 1541–1542; Opll ( wie Anm. 33 ) S. 227. Die Urkunden Friedrichs I. 1158–1167 ( wie Anm. 22 ) Nr. 255, S. 55 f. Vgl. Haverkamp ( wie Anm. 13 ) S. 437 f.; Keller, Investitur ( wie Anm. 19 ). Die Urkunden Friedrichs I. 1158–1167 ( wie Anm. 22 ) Nr. 255, S. 56: donum illud, quod rex Liprandus êcclesiê sancti Evasii in vita sua legitur contulisse et iuste dedisse. Angelo Coppo, Il culto a S. Evasio di Casale vescovo e martire nelle testimonianze più antiche, in: Rivista di storia della chiesa in Italia 19, 1965, S. 297–377, mit Edition der <Passio> S. 344–350. Brühl, Das „Palatium“ von Pavia ( wie Anm. 7 ) S. 195 f. [ 144 f. ]. Die Entstehungssituation der <Passio> verdeutlicht gerade mit Blick auf die hier diskutierten Fragen ein Geschehen im Jahre 929, das als Beispiel für die Strukturprobleme des Regnum Italicum in dieser Zeit dienen kann. Es ereignete sich an den königlichen Herrschaftsorten Pavias, die König Hugo von Italien nach den Zerstörungen des Ungarneinfalls von 924 wiederherstellen ließ. Die durch eine Entscheidung des Königs bedrängten Mönche des Klosters Bobbio brachten, wie die <Miracula sancti Columbani> berichten, die Reliquien des heiligen Columban zum nächsten Hoftag in die , wo sie wunderwirkend den Ausschlag dazu gaben, dass Hugo im nicht immer konfliktfrei hergestellten Konsens mit den Grossen nun seine Gunst der Abtei zuwenden konnte. Seinen Abschluss fand dies in einer feierlichen Privilegierung, die die so mühsam hergestellte Entscheidung als im Einklang mit einer langen Reihe von Privilegien präsentierte, die allesamt auf königlichen Befehl hin verlesen wurden, darunter die Urkunden von acht Langobardenkönigen. Vgl. Keller – Dartmann ( wie Anm. 18 ) S. 203–206; Keller ( wie Anm. 10 ) S. 294 ff.
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Evasius war ihm vor einer Schlacht im Traum erschienen und hatte ihm den Sieg über seine Feinde verkündet. Zum Dank ließ der König über dem Grab des Heiligen eine prachtvolle Kirche erbauen und einer Gemeinschaft von Kanonikern übergeben. Er beschenkte sie mit zahlreichen Gütern, darunter sein nahegelegenes palatium mitsamt dessen Hoheitsrechten, sowie mit seinen siegreichen Waffen 40. Verglichen mit dieser Gründungsgeschichte präsentiert sich das Evasius-Stift, das 974 erstmals urkundlich erwähnt wird und dessen Kirche 1107 durch Papst Paschalis II. geweiht wurde, als relativ junge Institution 41. Der Anschein, dass die Kanoniker schlichtweg keine Herrscherurkunden besaßen, die sie als Vorurkunden vorzeigen konnten, wird durch das Verhalten Barbarossas bestätigt. Dieser hatte nämlich schon einmal, am 3. Januar 1155, in Casale Station gemacht, ohne dabei das Stift zu bedenken. Hatte er doch bereits 1152 dem Bischof von Vercelli dessen Rechte an Casale Sant’ Evasio bestätigt 42. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wieso sich Ferdinand Opll, der beste Kenner von Friedrichs Itinerar, über den Sinneswandel des Staufers im Winter 1159 wunderte. Da brüskierte der Kaiser seinen Verbündeten, indem er gegen dessen bessere Rechte das kleine Casale privilegierte. Und damit nicht genug, ordnete er, der sich doch sonst seine Huld teuer bezahlen ließ, wie die oberitalienischen Geschichtsschreiber der Zeit klagen, die Erweiterung der Stiftskirche von Sant’ Evasio auf eigene Kosten an 43. 40
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Ob die Anführung Liutprands ( 712–744 ) auf einer historischen Stiftung des Königs für Sant’ Evasio beruhte, bleibt nach Carlrichard Brühl, Studien zu den langobardischen Königsurkunden ( Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 33 ) Tübingen 1970, S. 123, offen. Die Idealbilder, die der das ganze italienische Mittelalter hindurch gelesene Paulus Diaconus sowie andere Quellen von Liutprand zeichnen, empfahlen ihn jedoch als Stifterfigur. Brühl, ebd., S. 210 ff. mit Tafel VII, verweist etwa auf die Darstellung Liutprands im . In dieses im letzten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts entstandene Kopialbuch hatte Gregor von Catino, der Archivar Farfas, die Urkundenbestände des Klosters übertragen. Eine Reihe von Abschriften schmückte er dabei an der Stelle des Siegels mit Federzeichnungen in Form von Medaillons, die einige Aussteller, darunter Liutprand, in Brustbild und Umschrift in der Anmutung kaiserlicher Siegelbilder seiner eigenen Zeit zeigen. Zu dieser Handschrift und den ihre Entstehung und Ausgestaltung bestimmenden Erinnerungsstrategien in der Klosterlandschaft Mittelitaliens s. Markus Späth, Verflechtung von Erinnerung. Bildproduktion und Geschichtsschreibung im Kloster San Clemente a Casauria während des 12. Jahrhunderts ( Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 8 ) Berlin 2007, ad indicem ( „Farfa“ ). Vgl. Italia Pontificia 6, 2, hg. von Paul Fridolin Kehr, Berlin 1914, ND 1961, S. 40 ff. Zum Aufenthalt s. Ferdinand Opll – Hubert Mayr, Die Regesten des Kaiserreiches unter Friedrich I. 1152 ( 1122 )–1190. 1. Lieferung 1152 ( 1122 )–1158 ( J. F. Böhmer, Regesta Imperii IV, 2, 1 ) Wien – Köln – Graz 1980, Nr. 268. Vgl. von der Nahmer ( wie Anm. 35 ); Opll ( wie Anm. 33 ) S. 227 und 454 f.; Regesta Imperii IV, 2, 2 ( wie Anm. 21 ) Nr. 662. Opll ( wie Anm. 33 ) S. 227 f., unterscheidet zwischen den politischen Implikationen in der Förderung des Stiftes beziehungsweise der frühen Kommune. Vgl. Keller ( wie Anm. 4 ) S. 370 f. und 434 ff.; Görich, Ehre ( wie Anm. 14 ) S. 331–363. S. auch Kalbfuss ( wie Anm. 13 ) Nr. 8, S. 67 ff.: In einem 1165 entschiedenen Rechtsstreit zwischen dem Bischof von Como und dem Abt von S. Abbondio erklärte sich der unterlegene Bischof nur unter der Bedingung zur Herausgabe der Siegelurkunde bereit, die sein Vorgänger in dieser Sache von Friedrich I. nach dessen Kaiserkrönung erhalten hatte, wenn das Kloster der Comasker Kirche die dabei entstandenen magnas expensas erstatte. Daher wies der Richter den Abt an, dem Bischof zehn Pfund imperiales zu zahlen pro restauracione de expensis in curia imperatoris domini Frederici factis, quando fuit aquisitum priuilegium, et episcopus redat ei ipsum priuilegium, et ita absoluit et condempnauit sua sentencia, et sic finita est causa.
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Eine Erklärung dieses abweichenden Verhaltens liefert die Heiligenvita, die die Empfänger sozusagen anstelle einer Vorurkunde einsetzten. Mit dem Geschichtsbild vom guten König Liutprand scheinen sie einen Nerv getroffen zu haben. Friedrich, der gerade selbst über seine Feinde triumphiert hatte und sich intensiv damit beschäftigte, seiner Herrschaft in Italien eine neue Grundlage zu geben, die zugleich im Einklang mit langobardischen Traditionen stand, ergriff bereitwillig das ihm präsentierte Identifikationsangebot 44. Das Beispiel ist somit auch ein Beleg für die Eigendynamik, die das Kommunikationsgeschehen der Privilegierung entwickeln konnte. Um eine Urkunde vom anwesenden Herrscher zu erbitten, setzten die Kanoniker den für ihre Gemeinschaft konstitutiven Text ein. Gelang es, diesen als Erklärung der symbolischen Gesten des Lehnswesens im inszenierten Handlungsrahmen der Privilegierung geltend zu machen, so bekam er für alle Akteure verpflichtenden Charakter. Denn vor den Herrscher zu treten, war schon allein ein Hulderweis, der in vielen Fällen Vorverhandlungen voraussetzte. Daher besaß bereits die öffentlich geäußerte Bitte verpflichtenden Charakter 45. Die Berufung auf die auctoritas der Vorgänger und Vorfahren, ob imaginiert oder nicht, war dabei ein weiteres wichtiges Argument der Petenten 46. Sie brachten die Vorurkunden oder ähnliche Zeugnisse in die Begegnung mit dem Herrscher ein, der diesen in symbolischen Gesten Verehrung zu erweisen hatte. Mit ihren Rollenzuweisungen fungierten die Vorurkunden geradezu als für symbolische Kommunikation 47. Die hier diskutierte <Passio>, die in sekundärem Textgebrauch ein gleichwertiges Traditionsargument lieferte, gehört zur Gruppe der Zeugnisse, die von ihrer kommunikativen Funktionalität her unmittelbar an die Privilegien anschließen. Des Weiteren wird die Vermutung, dass sich der Kaiser durch die in einem Handlungsrahmen symbolischer Kommunikation sowie zur rechten Zeit vorgebrachten Geschichtszeugnisse zur Förderung des Stiftes bewegen ließ, obwohl dies seinen früheren Entscheidungen widersprach, durch Beispiele aus der vorangegangenen Herrschaftspraxis Barbarossas gestützt. So ließ der im öffentlichen Privilegierungsakt vorgebrachte Protest des Bischofs von Cambrai die auf die Belehnung folgende Privilegierung des Grafen von Flandern auf dem Trierer Weihnachtshoftag von 1152 scheitern und zwang den überraschten König, nach einer Beratung mit den anwesenden Fürsten seine Haltung zu ändern und nun dem Bischof eine Urkunde auszustellen 48. In der verfahrenen Situation von Sutri im Juni 1155 waren es die in den Erinnerungen der als Augenzeugen befragten älteren Fürsten sowie in den durch den Papst während der Be-
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Zur politischen Zeichenhaftigkeit der Schenkungen Barbarossas an Kirchen des Regnum Italicum s. Opll ( wie Anm. 34 ) besonders S. 78 f. Vgl. Gerd Althoff, Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschaftsordnung, in: Frühmittelalterliche Studien 25, 1991, S. 259–282, wieder abgedruckt in: Ders., Spielregeln ( wie Anm. 14 ) S. 199–228; Görich, Ehre ( wie Anm. 14 ) S. 36–48; Keller, Hulderweis ( wie Anm. 18 ) S. 317. S. demnächst Claudia Garnier, Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich ( Symbolische Kommunikation in der Vormoderne ) Darmstadt ( im Druck ). Keller, Hulderweis ( wie Anm. 18 ) S. 316. Vgl. Keller, Zu den Siegeln ( wie Anm. 18 ) besonders S. 428–436; Ders., Otto ( wie Anm. 13 ); Ders., Hulderweis ( wie Anm. 18 ) S. 314. Reuter ( wie Anm. 1 ) S. 182 ff.; Keller, Herrscherurkunden ( wie Anm. 18 ) S. 244; Ders., Privileg ( wie Anm. 25 ) nach Anm. 45.
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ratungen vorgelegten vetera monumenta gefundenen Präzedenzfälle, die den Staufer zum Einlenken bewogen 49. Die Begegnung von Occimiano im Februar 1159 markiert mit Blick auf die Ansprüche des Bischofs von Vercelli einen vergleichbaren Kurswechsel und schuf – aus der Sicht der Akteure: erneuerte – zugleich eine Bindung mit wechselseitigen Verpflichtungen. In Zukunft würden die Brüder für den Staufer beten, wie sie es bereits für Liutprand taten, dieser wiederum erneuerte dessen Stiftung, indem er sie urkundlich bestätigte und die Kirche baulich erweitern ließ 50. Vergleicht man Friedrichs Förderung von Casale Sant’ Evasio mit der Monzas, so erweisen sich beide als Resultat eines politischen Wandels. Auf seinem ersten Italienzug fügte sich Friedrich in die Traditionsvorgaben des Regnum Italicum ein, die ihm seine Verbündeten, die Pavesen oder der Bischof von Vercelli, vermittelten. Er ließ sich wie fast alle Könige vor ihm in Pavia krönen und anerkannte alte bischöfliche Herrschaftsansprüche. Friedrichs zweiter Italienzug stand dagegen im Zeichen einer grundsätzlichen Neuordnung der Königsherrschaft im Regnum Italicum, von der ausgehend die legitimierenden Traditionen neu bestimmt wurden; sprich: Monza wurde nun der neue Krönungsort und Casale Sant’ Evasio erfreute sich als Anbieter einer nahezu perfekt zur aktuellen Situation passenden Identifikationsgeschichte der königlichen Gunst. Die Privilegierungsakte wiederum dienten als Bühne, auf der die in den Schriftdenkmälern festgehaltenen Bestimmungen dessen, was im Einklang mit der Ordnung des Reiches sei, zu Gehör gebracht und gezeigt wurden. Im Verständnis der Akteure standen sie nicht isoliert dar, sondern bildeten regelrechte Ketten, die sich auf Zentralereignisse wie den Reichstag von Roncaglia zurückbezogen. Unsere beiden Beispiele zeigen aber auch die der Privilegierung als Kommunikationsakt: Tre49
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Gerd Althoff, Gewohnheit und Ermessen. Rahmenbedingungen politischen Handelns im hohen Mittelalter, in: Paul Leidinger – Dieter Metzler ( Hgg. ), Geschichte und Geschichtsbewußtsein. Festschrift Karl-Ernst Jeismann zum 65. Geburtstag gewidmet von Kollegen und Freunden der Universität Münster, Münster 1990, S. 155–170, S. 161 ff.; Ders., Inszenierung verpflichtet. Zum Verständnis ritueller Akte bei Papst-Kaiser-Begegnungen im 12. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 35, 2001, S. 61–84; Ders., Macht ( wie Anm. 14 ) S. 140 f.; Görich, Ehre ( wie Anm. 14 ) S. 26, 95, 104 f. und 180; Achim Thomas Hack, Das Empfangszeremoniell bei mittelalterlichen Papst-Kaiser-Treffen ( Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 18 ) Köln – Weimar – Wien 1999, S. 516–525, deutet die offenbar im Gepäck Hadrians IV. mitgeführten Schriftdenkmäler als Auszüge der Konstantinischen Schenkungsurkunde in einer kanonistischen Sammlung. Dazu Roman Deutinger, Sutri 1155. Mißverständnisse um ein Mißverständnis, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 60, 2004, S. 97–133, S. 121 f. Der Zusammenhang zwischen dem Gebetsgedenken und dem auf Kosten des Kaisers errichteten Kreuzgang – ‚eine der vielen Wohltaten, die er dieser Kirche erwies‘ – geht aus dem hervor. Weitere Einträge für Friedrichs Vater, die Kaiserin Beatrix und deren Eltern dürften aufgrund der über die Privilegierung hergestellten Beziehung des Stiftes zu dem Staufer motiviert gewesen sein; Henry Simonsfeld, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Friedrich I., 1: 1152 bis 1158 ( Jahrbücher der Deutschen Geschichte ) 1908, ND Berlin 1967, S. 664: III. Non. Iun. a. d. 1190 Fredericus felic. mem. quondam Rom. imp. peregre profectus pro defendenda Dominicae Nativitatis terra migravit ad Dominum; qui inter multa beneficia, que huic ecclesie contulit, claustrum suis expensis fieri fecit. Michael Borgolte, Der König als Stifter. Streiflichter auf die Geschichte des Willens, in: Ders. ( Hg. ), Stiftungen und Stiftungswirklichkeiten. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Redaktion: Wolfgang Eric Wagner ( Stiftungsgeschichten 1 ) Berlin 2000, S. 39–58, S. 55, stellt das Beispiel in den Kontext des durch Nekrologien verbürgten Gebetsgedenkens für Friedrich I. „in alten Kirchen und Klöstern“, ohne auf die in der <Passio> behauptete Stiftung Liutprands einzugehen, deren Weiterführung die wechselseitigen Verpflichtungen begründete.
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ten Barbarossa, beziehungsweise sein Kanzler Rainald von Dassel, als treibende Kraft bei der Aufwertung Monzas hervor, so ging im Falle von Casale Sant’ Evasio die Initiative wohl von den Empfängern aus 51. Mit dieser Bilanz könnten wir unseren mittelalterlichen Schauplatz eigentlich verlassen. Doch hätte ich dann nicht nur die halbe Geschichte erzählt? Durch Stiftungen, die im Privilegierungsakt inszeniert wurden, förderte der Herrscher Pfalz- und Stiftsorte, wie er es nördlich der Alpen mit Aachen oder Gelnhausen tat 52. Alles schön und gut, doch auch auf Dauer? War dieses Reichsitalien nicht in jeder Hinsicht mit dem machtvollen Auftreten der Kommunen, des Lombardenbundes, infrage gestellt worden? Monza war zum Zeitpunkt des Friedens von Venedig bereits wieder in der Hand Mailands und sollte es auch bleiben 53. Ihre prachtvolle Kaiserurkunde mussten die Monzesen am 5. Dezember 1197 gezwungenermaßen im Mailänder Kommunalpalast abliefern 54. Veränderten die Kommunen nicht auch grundlegend den Diskurs um das, was langobardisch beziehungsweise reichsitalienisch war? Ihr Statutarrecht ließ seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert das Rechtsbekenntnis des Einzelnen, nach langobardischem Recht zu leben, zunehmend in den Hintergrund treten 55. Gravierend wirkten, wie Jörg W. Busch gezeigt hat, die neuen, geradezu konträren Geschichtsbilder, die die im Lombardenbund zusammengeschlossenen Kommunen unter dem Eindruck des Konfliktes mit dem Kaiser propagierten 56. Im des Johannes Codagnellus, der, verfasst im Jahre 1222, den Höhepunkt dieser Entwicklung markiert, sind es die zu einem Bund freier Städte zusammengeschlossenen Lombarden, die in grauer Vorzeit die Invasion der Langobarden unter ihrem König zurückschlagen 57. bezeichnete demnach eine politische, kommunal geprägte Identität im Sinne von . wurde dagegen, ungeachtet der auch im Mittelalter bekannten Genese des einen Namens aus dem anderen, zu einer Fremdzuschreibung. Die Langobarden waren nun die fremden Invasoren, die Männer des Königs.
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Ferdinand Opll, Friedrich Barbarossa ( Gestalten des Mittelalters und der Renaissance ) Darmstadt 31998, S. 53 und 304 f. Vgl. Peyer ( wie Anm. 7 ) besonders S. 451; Keller ( wie Anm. 4 ) S. 367; Borgolte ( wie Anm. 50 ). Peyer ( wie Anm. 7 ) S. 445 f., mit den Hinweisen darauf, dass der König noch 1185 mit den Mailändern über den Status Monzas als Krönungsort verhandelte, jedoch im Folgejahr „offensichtlich aus politischpropagandistischen Gründen“ seinen Sohn Heinrich in Mailand krönen ließ. Peyer ( wie Anm. 7 ) mit Edition des darüber ausgestellten Notariatsinstruments, S. 455–458. Busch ( wie Anm. 9 ). Busch ( wie Anm. 9 ); Ders., Mailand und Rom. Das antike Rom in lombardischen Geschichtsvorstellungen, in: Frühmittelalterliche Studien 36, 2002, S. 379–396; zuletzt Ders., Von der Rückprojektion zur Tatsachenermittlung. Die Wiederentdeckung der Vergangenheit in den oberitalienischen Kommunen des 13. und frühen 14. Jahrhunderts, in: Rudolf Suntrup – Jan R. Veenstra ( Hgg. ), Building the Past / Konstruktion der eigenen Vergangenheit ( Medieval to Early Modern Culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 7 ) Frankfurt am Main 2006, S. 33–51. Busch ( wie Anm. 9 ) S. 289 ff., mit Bezug auf Oswald Holder-Egger, Über die historischen Werke des Johannes Codagnellus von Piacenza, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 16, 1891, S. 251–346 und 473–509, hier S. 479. Vgl. Keller ( wie Anm. 10 ) S. 300 ff.
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Wie wirkten diese Veränderungen, die vom gewaltsamen Konfliktaustrag bis hin zu gelehrten Sinnstiftungen die ganze Weite des politischen Feldes im Hochmittelalter zeigen, auf die noch junge Tradition Casale Sant’ Evasios ein? Die Einwohner der sich um das Stift am Flussübergang entwickelnden Stadt schlossen sich kurze Zeit nach der Privilegierung zu einer Kommune zusammen, deren Überleben äußerst fragwürdig schien. Heinrich VI. entschied sich nämlich zunächst dafür, die Ansprüche Vercellis zu unterstützen, so dass seine Bevollmächtigten einen jahrelangen, letztlich unentschiedenen Prozess gegen die Casalesen führten 58. Schließlich waren es Mailand und seine Verbündeten, die im Sommer 1215 das kleine Casale buchstäblich auslöschten. Die Mailänder brachten eine Allianz zusammen, die neben den vor allem engagierten Vercellesen und Alessandrinern auch die aufständischen Stiftsvasallen umfasste, und belagerten das mit Mauer und Graben bewehrte Casale 59. Als sich die Belagerer am 5. August 1215 zum Sturmangriff rüsteten, gaben die Eingeschlossenen auf. Wie wir von Johannes Codagnellus erfahren, erfolgte die Kapitulation in den zeittypischen Formen symbolischer Kommunikation. Die Belagerten öffneten ihre Tore, zogen hinaus und übergaben dem Mailänder Podestà die Schlüssel ihrer Stadt 60. Diese deditio leitete wiederum über zur Aufhebung des Gemeinwesens, wie wir es aus den Konflikten Barbarossas mit den lombardischen Städten kennen 61. Der Ort wurde geschleift, die Stiftskirche zerstört, ihr Altargerät und die Bücher als Beute ebenso auf die Siegerstädte verteilt wie die in Gefangenschaft geführten Einwohner 62. Was den Mailändern, Alessandrinern und Vercellesen jedoch nicht in die 58
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Zur Privilegierung der Kommune von Casale 1186 durch den Kaiser s. Haverkamp ( wie Anm. 13 ) S. 150 f.; Opll ( wie Anm. 33 ) S. 228 ff. Der Prozess widerum verband sich mit denen, die Casale nach 1215 vor Papst und Kaiser gegen seine Gegner führte. Ein Überblick hierzu findet sich bei Werner Wohlfahrt, Kaiser Heinrich VI. und die oberitalienischen Städte ( Lombardei und Piemont ) ( Quellen und Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums und des Mittelalters D 10 ) Heidelberg 1939, S. 72–74; Eduard Winkelmann, Kaiser Friedrich II., 1: 1218–1228 ( Jahrbücher der Deutschen Geschichte ) Leipzig 1889, ND Darmstadt 1963, S. 85; Kalbfuss ( wie Anm. 13 ) S. 231; Haverkamp ( wie Anm. 13 ) S. 645 f. Zur strategischen Bedeutung Casales und den Kämpfen um die junge Kommune siehe jetzt ausführlich Raimund Hermes, Totius Libertatis Patrona. Die Kommune Mailand in Reich und Region während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ( Europäische Hochschulschriften III 858 ) Frankfurt am Main u. a. 1999, ad indicem ( „Casale S. Evasio“ ). Vgl. Le carte dello Archivio Capitolare di Casale Monferrato fino al 1313, 1, hg. von Ferdinando Gabotto und Umberto Fisso ( Biblioteca della Società Storica Subalpina 40 ) Pinerolo 1907, Nr. 100, S. 156 f. Iohannes Codagnellus, Annales Placentini, hg. von Oswald Holder-Egger ( MGH SS rer. Germ. 23 ) Hannover – Leipzig 1901, S. 49 f., besonders S. 50: Timentes itaque qui locum defendebant, ne capitali sententie subirent, si per vim eos caperent, apertis portis exeuntes, in manibus claves portantes, potestati Mediolani pro prexoneriis cum omnibus rebus, que in ipso castro aderant, se reddiderunt, exceptis forensibus, qui in ipso loco aderant, qui ex pacto et Concordia cum omnibus rebus eorum exierunt; quem locum Mediolanenses et Vercellenses diruerunt et destruxerunt. Illos quoque de ipso loco Mediolanum et Vercellas duxerunt et in carcere posuerunt. Zum Kontext s. Görich, Ehre ( wie Anm. 14 ) S. 295 ff. und 533 f. Zum Ritual der deditio s. den Forschungsüberblick bei Schulte ( wie Anm. 22 ) S. 160 f.; Althoff, Inszenierungscharakter ( wie Anm. 14 ) S. 90 f.; Ders., Macht ( wie Anm. 14 ) S. 152–155. Vgl. Christoph Friedrich Weber, Eine eigene Sprache der Politik: Heraldische Symbolik in italienischen Stadtkommunen des Mittelalters, in: Zeitschrift für Historische Forschung 33/4, 2006, S. 523–564, hier S. 536 ff. Neben der chronikalischen Überlieferung aus Piacenza erfahren wir darüber aus päpstlichen Schreiben; Le carte dello Archivio Capitolare di Casale Monferrato 1 ( wie Anm. 59 ) Nr. 96–100, S. 153–157. Es handelt sich um Anweisungen Honorius III. zugunsten Casales, meist gerichtet an Bischof Fulbert von
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Hände gefallen war, war die Urkunde von 1159. Dass sie als Rechtsdokument wie als Medium eine Schlüsselfunktion für den Erhalt der Identität von Stift und Stadt Casale besaß, zeigte sich in dem Moment, als wieder ein König ins Land kam. Im Spätsommer des Jahres 1220 überschritt Friedrich II. die Alpen und zog nach Rom, um sich zum Kaiser krönen zu lassen. Der Staufer vermied bewusst den Einzug in die Städte, um nicht ein erneutes Aufbrechen der Parteikonflikte zu provozieren, sondern lagerte in seinem Feldlager vor den Stadttoren 63. Vermittelt durch die vorausgeschickten Legaten, mitreisende Große oder die emsig um Friedenswahrung bemühten Podestà der Städte, durch deren Gebiet der Zug ging, suchten Gesandtschaften aus dem ganzen Reich den künftigen Kaiser auf, der in einem fort Vasallen investierte, Notare kreierte, Ritterschläge erteilte und Urkunden vergab 64. Friedrichs Romzug war ein Großkomplex ritueller Akte, durch die Reichsitalien inszeniert wurde. Und hier, im Lager vor Faenza, gelang es den bedrängten Casalesen, die Bestätigung ihrer Ansprüche zu erlangen 65. Vermittelt hatte dies das kaisertreue Pavia, das in den vorangegangenen Jahren das Überleben Casales garantiert hatte. Als Akteure finden wir in der Funktion des Propstes einen Paveser Domherrn sowie Torello da Strada, einen Ritter und , der bei dieser Gelegenheit als Seneschall und Kämmerer des Königs amtierte 66. Die Bestätigung gestaltete sich als Handlungsfolge, in deren Zentrum der Um-
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Pavia und Domprobst Otto von Pavia, die offenbar mit der Sache betraut waren. Überliefert sind sie in zeitgenössischen Abschriften, die im Casaleser Archiv zu einem Bestand zusammengeführt worden sind. Daran beteiligt war, nach Nr. 100, S. 156, der Notar Arnaldus, der auch bei der Privilegierung von Stift und Kommune durch Friedrich II. präsent war und das Geschehen samt den Urkundeninhalten in einem Notariatsinstrument festhielt; vgl. ebd., Nr. 101, S. 157–160. Zur Beute, den Gefangenen und der Zerstörung des Ortes im Jahre 1215 s. beispielsweise ebd., Nr. 96, S. 153: ciues vercellenses qui burgum casalis vercellensis ecclesie specialem ac eiusdem loci ecclesiam destruxerunt libros et cetera ornamenta ecclesiastica exinde asportantes ac quosdam ex ipsius loci hominibus presum( m )unt detinere captiuos nec illos aut alios in loco permittunt habitare. Winkelmann ( wie Anm. 58 ) S. 96; Hagen Keller, Federico II e le città: esperienze e modelli fino all’incoronazione imperiale, in: Pierre Toubert – Agostino Paravicini Bagliani ( Hgg. ), Federico II e le città italiane, Palermo 1994, S. 17–33, S. 22. Julius Ficker, Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich II, Heinrich ( VII ), Conrad IV, Heinrich Raspe, Wilhelm und Richard. 1198–1272 ( J. F. Böhmer, Regesta Imperii V, 1 ) Innsbruck 1881, Nr. 1160, 1162, 1172b, 1178, 1179, 1184, 1189–1191 ( Privilegierung Casales ), 1192, 1196, 1204a, 1206 ( Privilegierung des Bischofs von Vercelli ), 1210, 1214, 1216, 1217 und 1222. Vgl. Görich, Reichslegaten ( wie Anm. 10 ). Die Ernennung von Notaren beziehungsweise iudices durch Investitur, die der Kaiser im Idealfall selbst vornahm, wurde als Teil der Regalien verstanden. Obwohl einige oberitalienische Kommunen im ausgehenden 12. Jahrhundert bereits eigenmächtig – durch den Podestà in der Volksversammlung – Notare ernannten, war dies die auch in der späten Stauferzeit hindurch gültige Norm, von der her sowohl die symbolische Bedeutung des öffentlichen Investituraktes, als auch das einzelnen Kommunen als Privileg verliehene Ernennungsrecht zu verstehen sind. Pavia erhielt dieses Recht bereits 1191, Genua 1220 im hier untersuchten Kontext. Vgl. Kalbfuss ( wie Anm. 13 ) Nr. 60, S. 249 f.; Petra Schulte, Scripturae publicae creditur. Das Vertrauen in Notariatsurkunden im kommunalen Italien des 12. und 13. Jahrhunderts ( Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 101 ) Tübingen 2003, S. 33–44. In diesem Zusammenhang steht auch der Titel des iudex beziehungsweise notarius sacri palatii. Unter den Ottonen wiederaufgegriffen, erinnerte er noch in staufischer Zeit an die der längst verschwundenen Königspfalz zu Pavia; vgl. die Literatur in Anm. 7. Diese Angaben und das Folgende nach: Le carte dello Archivio Capitolare di Casale Monferrato 1 ( wie Anm. 59 ) Nr. 101, S. 157–160. Im Folgejahr übernahm Torello das Podestariat in Parma. Dort hinterließ sein Regiment, das die Kommune auf ein neues Niveau ihrer Entwicklung hob, solch einen nachhaltigen Eindruck, dass die Parme-
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gang mit mehreren Schriftdenkmälern stand. Diese wurden, wahrscheinlich durch die Intervenienten, öffentlich dem König gereicht, der sie in die Hand nahm und las – jn suis manibus habuit et legit 67. Wer jedoch nun erwartet, die <Passio> des heiligen Evasius erneut zum Einsatz kommen zu sehen, wird enttäuscht werden. Was da am 11. Oktober 1220 verlesen wurde, war eine angebliche Originalurkunde Liutprands für den heiligen Evasius in Form einer Bleitafel, in der der König den Heiligen mit verpflichtender Wirkung für beider Nachfolger mit Stadt und Territorium von Casale beschenkte. Natürlich handelt es sich hier um eine Fälschung, die nichts mit echten langobardischen Königsurkunden zu tun hat 68. Da das Formular dem entnommen worden ist, dürfte die Bleiurkunde nicht lange vor der und möglicherweise eigens für die Präsentation vor dem Herrscher angefertigt worden sein 69. Offenbar wollte man für das ebenfalls eingesetzte Privileg Barbarossas eine – wie wir wissen – nicht vorhandene Vorurkunde vorzeigen 70. Das ungewöhnliche Material und die Form sind jedoch wertvolle Hinweise auf die Bedeutung, die den Urkunden nicht allein als Textträgern, sondern als Medien während des Privilegierungsaktes zukam. Der Fälscher dürfte sich seine Anregungen von den mit ins Grab gelegten Tafeln oder den in Italien häufigen Urkundeninschriften geholt haben, deren Verortung in Kirchen ihnen eine sakrale Sinndimension verlieh, die auch in diesem Fall gut zum Urkundeninhalt passte 71. Der Vergleich mit einer zeitgleich in Bologna ent-
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sen nicht nur den unter ihm begonnenen Kommunalpalast nach ihm benannten, sondern auch das Wappenbild eines Jungbullen ( taurellus ) zur Erinnerung an ihn in ihren Siegeln und Marken führten. Vgl. Olivier Guyotjeannin, Podestats d’Émilie centrale: Parme, Reggio et Modene ( fin XIIe – milieu XIVe siècle ), in: Jean-Claude Maire Vigueur ( Hg. ), I podestà dell’Italia comunale. Parte I: reclutamento e circolazione degli ufficiali forestieri ( fine XII sec.-metà XIV sec. ), 2 Bde. ( Istituto storico italiano per il Medio Evo: Nuovi Studi Storici 51 / Collection de l’École française de Rome 268 ) Roma 2000, 1, S. 349–403, hier S. 357. Wohlfarth ( wie Anm. 58 ) S. 62, betont bereits die herausgehobene Rolle, die rechtskundige Angehörige der kommunalen Führungsschichten aus Pavia, Mailand, Piacenza oder Cremona unter Heinrich VI. in der spielten. Im Handlungsfeld dieses Netzwerks von Hofrichtern, Königsboten und Vermittlern begegnen dann Podestà wie Torello da Strada oder sein Mailänder Zeitgenosse Guilielmus de Pusterla. Zu beiden s. demnächst Christoph Friedrich Weber, Heraldische Symbolik in italienischen Stadtkommunen des Mittelalters ( Symbolische Kommunikation in der Vormoderne ) Darmstadt ( im Druck ). Le carte dello Archivio Capitolare di Casale Monferrato 1 ( wie Anm. 59 ) Nr. 101, S. 158. Brühl ( wie Anm. 40 ) S. 121–126. Brühl ( wie Anm. 40 ) S. 123 ff. Ob der Raub der dem Stift gehörenden Bücher von 1215 auch zum ( zeitweiligen ) Verlust der <Passio> führte, die so für den Privilegierungsakt nicht zur Verfügung stand, muss Spekulation bleiben. Brühl ( wie Anm. 40 ) S. 122–125, nimmt an, dass der Text der Bleiurkunde von dem der <Passio> inspiriert ist. Sicherlich diente auch das Privileg von 1159 als Vorbild. So wurde Kaiser Lothar III. bei seiner Beisetzung in Königslutter am 31. Dezember 1137 eine Bleitafel mit ins Grab gelegt, deren Inschrift auch seinen Italienzug verherrlichte. Der Zeitgenosse Otto von Freising – oder ein späterer Glossator – verwies in seinem Bericht darüber auf die Funktion der Tafel als Trägerin von Geschichtsüberlieferung; Otto von Freising, Chronica sive Historia de duabus civitatibus, hg. von Adolf Hofmeister ( MGH SS rer. Germ. 45 ) Hannover – Leipzig 21912, VII, 20, S. 339 f.: et ipse [ … ] in Saxoniam ad monasterium Luter, quod ipse construxerat, deportatus honorifice sepelitur, actusque eius, ut nulla possent aboleri oblivione, in plumbeis laminis descripti iuxta eum reconduntur. Vgl. Wilhelm Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter, Leipzig 31896, ND Graz 1958, S. 48–51; Brühl ( wie Anm. 40 ) S. 121 f.; Jochen Luckhardt, Grabbeigaben Kaiser Lothars III. von Süpplingenburg: Reichsapfel und Schrifttafel, in: Ders. – Franz Niehoff ( Hgg. ), Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995, 1: Katalog, München 1995,
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standenen Bleiurkunde Karls des Großen zeigt, dass der Beschreibstoff im Hochmittelalter offenbar „als Garant hohen Alters galt“ 72. Stellvertretend für das zerstörte Stift wurde hier eine Urkundentafel präsentiert, die die Anmutung eines verehrungswürdigen, gleichsam sakralen Zeugnisses der Begegnung zwischen einem König und einem Heiligen besaß. Nachdem Friedrich die Tafel gelesen hatte, bestätigte er sie kraft königlicher Autorität und erweiterte die Stiftungen und Belehnungen seiner königlichen und kaiserlichen Vorgänger um die Erhebung Casales in die Reichsunmittelbarkeit. Daraufhin wurde ihm die Pergamenturkunde von 1159 gereicht, die er las, bestätigte und als Investitursymbol gebrauchte: ‚Anschließend investierte er den Magister Ascherius, den Erzpriester von Pavia und Kanoniker der genannten Kirche des heiligen Evasius für ebendiese Kirche durch das genannte Privileg seines Großvaters, das er in seinen Händen gehalten hatte, mit all den genannten Stiftungen, Rechten und Bestätigungen‘ 73. Damit war das Kommunikationsgeschehen keinesfalls abgeschlossen. Am folgenden Tag, dem 12. Oktober, empfing der König erneut die Pavesen, um in ihrer Gegenwart sein Privileg besiegeln zu lassen 74. Anschließend investierte er den Willelmus Falceta als Repräsentanten der Kommune Casale mit allen Rechten, die sein Großvater und sein Vater der Kommune verliehen hatten, insbesondere dem des freien Konsulates. Bezeugte Willelmus Falceta an erster Stelle der Zeugenreihe des Stiftsprivilegs die Investitur des Propstes, so übernahm dieser zusammen mit Torello da Strada die gleiche Funktion in der Urkunde für die Kommune. Überdeutlich wurde in dem Geschehen sichtbar, dass Friedrich II. die ihm angetragene Rolle als Schirmer der Stiftungen seiner Vorgänger und Vorfahren akzeptierte und nachvollzog. Liutprands in der Bleiurkunde formulierte Vorgabe, der sancte Ecclesie defensor zu sein, lief zwar der historischen Gestalt des 8. Jahrhunderts zuwider, passte dafür aber geradezu ideal auf die Haltung, die der Staufer während seines Romzuges
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S. 150 f. Dass auch andere Geschichtswerke darauf Bezug nehmen, kann als Hinweis auf die Reichweite der während Lothars Beisetzung veröffentlichten Schrifttafel, wenn nicht sogar für ihre gezielte Verbreitung durch Ab- oder Nachschriften gewertet werden; Johannes Laudage, Symbole der Politik – Politik der Symbole. Lothar III. als Herrscherpersönlichkeit, in: Luckhardt – Niehoff ( Hgg. ), Heinrich der Löwe 2 ( wie Anm. 1 ) S. 91–104, besonders Anm. 13. Brühl ( wie Anm. 40 ) S. 121 f., mit Diskussion von Alfred Hessel, Zu den Bleitafeln von Bologna, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 28, 1902, S. 514–516. Zu dem etwa ein Jahrzehnt später in Bologna entstandenen vgl. Christoph Friedrich Weber, Ces grands privilèges: The Symbolic Use of Written Documents in the Foundation and Institutionalization Processes of Medieval Universities, in: History of Universities 19/1, 2004, S. 12–62, hier S. 23–29. An der Fassade von SS. Apostoli zu Florenz befindet sich eine Inschrift des 16. Jahrhunderts, die angibt, dass Karl der Große auf der Rückkehr von Rom am 6. April 805 seinen Einzug in Florenz gehalten und zu Pfingsten besagte Kirche gegründet habe, wovon eine Bleitafel – mit Roland und Olivier in der Zeugenreihe – berichte. Vgl. Anna Imelde Galletti, Les langages de la culture urbaine ( XIIe-XVe siècle ), in: Isabelle Heullant-Donat ( Hg. ), Cultures italiennes ( XIIe-XVe siècle ), Paris 2000, S. 17–51, S. 49. Le carte dello Archivio Capitolare di Casale Monferrato 1 ( wie Anm. 59 ) S. 159: Preterea magistrum Ascherium archipresbiterum papiensem canonicum prenominate ecclesie sancti Euasii nomine eiusdem ecclesie per predictum priuilegium Aui sui quod in suis manibus tenebat Jnuestiuit de predictis omnibus. donis. et concessionibus. et confirmationibus. Dies stellt ein weiteres Beispiel für „die Einbindung von Intervenienten in die performativen Akte des Hulderweises“ dar. Vgl. Keller, Privileg ( wie Anm. 25 ) bei Anm. 57.
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zeigen wollte und die er hier im Einzelfall demonstrieren konnte 75. Die Frage nach der Anschlussfähigkeit der Kommunen zu diesen Traditionsvorgaben lässt sich mit dem Beispiel positiv beantworten. In das feierliche, sich über zwei Tage erstreckende Geschehen, das von den Vorgaben von 1159 ausging, wurde die neu hinzukommende Privilegierung der Kommune Casale harmonisch eingefügt, was sich in der Verschränkung des Symbolhandelns der Repräsentanten von Stift und Stadt zeigte. Durch die Inszenierung wurde die Kommune so in das Geschichtsbild vom Herrscher als Nachfolger des guten Königs Liutprand integriert. Dieses in der Privilegierung aufgeführte Idealbild bot sogar einen Hintergrund für interkommunale Politik, wie sie charakteristisch für das frühe 13. Jahrhundert ist. Sorgte das mächtigere Pavia in seinem Interesse für den Erhalt Casales, so teilte es mit seinem Schützling das Bewusstsein, als Stadt Reichsitaliens mit langobardischer Tradition anti-mailändische Politik zu betreiben 76. So ist denn auch – neben der durch den Papst der Paveser Kirche übertragenen Wahrnehmung der Interessen des zerstörten Stiftes – das Auftreten ranghoher Pavesen als Intervenienten zu verstehen. Die Reaktion des Bischofs von Vercelli ließ nicht lange auf sich warten. Sie ist ein beredtes Zeugnis dafür, welch öffentliche Wirksamkeit die durch den künftigen Kaiser während des Romzugs vollzogenen Symbolakte besaßen, sowie für den Zusammenhang zwischen den auf diesem Feld erzielten Ergebnissen und den neuen Verfahren der Prozessführung. Am Cäcilientag des Jahres 1220 war Friedrich II. durch Papst Honorius III. in der Peterskirche zum Kaiser gekrönt worden 77. Anschließend lagerte der Staufer mehrere Tage auf dem Monte Mario vor der Stadt, wo ihn, wie gesagt, die zur Krönung nach Rom gezogenen Herrschaftsträger des Reiches aufsuchten und nun in kaiserlichem Namen ausgestellte Urkunden erhielten. Unter ihnen befand sich auch Bischof Hugo von Vercelli, der bereits am Tag nach der Krönung, am 23. November, ein solches Diplom erhielt. Der Akzent dieser Handlung dürfte auf der als Hulderweis zu verstehenden Privilegierung in diesem Kontext gelegen haben, denn das Schriftstück selbst schrieb den Stand des Prozesses zwischen der Vercelleser Kirche und der Kommune von Casale Sant’ Evasio aus dem Jahre 1196 fest 78. Friedrich widerrief somit eine spätere, für Vercelli ungünstigere Übereinkunft, die Hugos Vorgänger Albert mit den Casalesen getroffen hatte, ohne sich jedoch im Konflikt zwischen den beiden Parteien endgültig festzulegen 79. Stift und Kommune von Casale Sant’ Evasio sowie 75
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Vgl. Wolfgang Stürner, Friedrich II. Teil 1: Die Königsherrschaft in Sizilien und Deutschland 1194–1220 ( Gestalten des Mittelalters und der Renaissance ) Darmstadt 1992, verbesserte Sonderausgabe 2003, S. 246 ff. Vgl. Busch ( wie Anm. 9 ) S. 298, mit Bezug auf den aus Pavia stammenden, im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts schreibenden Franziskaner Thomas, der in seinem Geschichtswerk im Kontext der Schilderung von Zeitereignissen den Status seiner Heimatstadt als caput regni Langobardorum hervorhebt. In Pavia befand sich außerdem die Grablege König Liutprands. Stürner ( wie Anm. 75 ) S. 250 f. Kalbfuss ( wie Anm. 13 ) Nr. 48, S. 231 f. Dies entsprach nicht nur der Haltung seines Vaters in dieser Sache, sondern auch seinem Verhalten gegenüber den meisten Konfliktparteien, die ihn aufsuchten. In Kenntnis der Urkunde von 1220 für den Bischof von Vercelli verliert die Privilegierung der Casalesen einen Monat zuvor ihren Ausnahmecharakter, den Winkelmann ( wie Anm. 58 ) S. 100, noch eigens zu begründen suchte. Auch in dieser Angelegenheit vermied der Staufer, ebd., „sorgfältig alles, was wie eine grundsätzliche Entscheidung der schwebenden Streitigkeiten oder wie Parteinahme aussehen konnte.“ Zum Strukturproblem königlicher
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Bischof und Kommune von Vercelli scheinen, wie Hermann Kalbfuss aufgrund der bald darauf in Vercelli bezüglich Casale zusammengestellten Akten feststellt, selbst zu einem Einsetzungszeremoniell der Amtsträger der Kommune von Casale gefunden zu haben, das die Ansprüche beider Seiten zufrieden stellte 80. Schließlich machte Friedrich II. Jahrzehnte später, im Sommer 1248, für die Dauer seines im Piemont geführten Feldzuges Casale Sant’ Evasio zu seinem Aufenthaltsort 81. Dafür sprachen strategische Gründe, doch wahrscheinlich auch die unter seinem Großvater begründete, von ihm selbst so eindrucksvoll erneuerte Bindung des Stiftes an den Kaiser. Denn im August 1248 bestätigte Friedrich II. noch einmal, nun am Ort selbst, die Privilegien der Kanoniker, die ihm in demütiger Bitte die Zeugnisse seiner Vorgänger präsentierten 82. Ich fasse zusammen. In der polyzentrischen, durch das Aufkommen der Kommunen veränderten Welt Reichsitaliens, blieb die Herrschaftspraxis der Staufer durch das Reisekönigtum geprägt. Zwar gab es Tendenzen zur Herrschaftsintensivierung durch Institutionalisierung, die sich konkret am Ausbau von Reichsburgen oder an fiskalischen Maßnahmen festmachen lassen, doch unterlagen diese der Herrschaftsdurchsetzung der lokalen Gewalten. Die besondere Struktur Reichsitaliens – dessen Herrscher zugleich römisch-deutscher König und Kaiser war und in dessen Ordnung sich die aufstrebenden Kommunen als lokale Großmächte eigentlich nicht fügten – bedingte jedoch bereits zuvor signifikante Eigenheiten der politischen Kultur 83. Die Inszenierung des Reichs in der Interaktion zwischen Herrscher und Reichsangehörigen berücksichtigte Traditionsorte, wie die Heerlagerstätte Roncaglia, konzentrierte sich aber nicht dauerhaft auf eine Residenz, wie dies zur gleichen Zeit in anderen Reichen geschah. Dafür kam dem Kommunikationsgeschehen als Ort der Konstituierung Reichsitaliens eine erhöhte Bedeutung zu. Zu den herausgehobenen, zueinander in Relation stehenden Kommunikationsakten gehörten die Privilegierungen, in denen rituelles Handeln mit der Ausstellung von Urkunden verknüpft wurde. Dass sich der auf diese Weise vielerorts inszenierte Herrschaftsdiskurs auf der Höhe der Zeit befand, zeigt ein vergleichender Blick auf andere regna: Nahezu zur gleichen Zeit verbrieften auch die Könige von Frankreich, England oder Kastilien ihren Krönungsorten den Status eines caput [ … ] et sedes regni 84. Eine seit der Ottonenzeit zu beobachtende Tendenz zur feierlichen Ausgestaltung der Urkunden findet sich schließlich auch unter-
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Herrschaftspraxis, durch die erbetene Urkundenvergabe in Konflikte mit zum Teil beträchtlicher Vorgeschichte eingreifen zu müssen, woraus des öfteren sich widersprechende Anweisungen ergaben, s. Reuter ( wie Anm. 1 ) besonders S. 189; Knut Görich, Mißtrauen aus Erfahrung: Mailand und Friedrich II., in: Frühmittelalterliche Studien 39, 2005, S. 411–429; Keller, Privileg ( wie Anm. 25 ). Kalbfuss ( wie Anm. 13 ) S. 231. Regesta Imperii V, 1 ( wie Anm. 64 ) Nr. 3716a–3724a. Acta Imperii selecta. Urkunden deutscher Könige und Kaiser 928–1398, mit einem Anhang von Reichssachen, hg. von Johann Friedrich Böhmer. Aus dem Nachlaß hg. von Julius Ficker, Innsbruck 1870, ND Aalen 1967, Nr. 313, S. 276 f.; vgl. Nr. 312, S. 275 f., das vor dem Feldzug ausgestellte Privileg für die Kommune Casale. Vgl. Keller, Hulderweis ( wie Anm. 18 ) S. 316 f. Vgl. Hagen Keller, Die Stadtkommunen als politische Organismen in den Herrschaftsordnungen des 11.–13. Jahrhunderts, in: Giancarlo Andenna ( Hg. ), Pensiero e sperimentazioni istituzionali nella <Societas Christiana> ( 1046–1250 ). Atti della sedicesima Settimana internazionale di studio Mendola, 26–31 agosto 2004, Milano 2007, S. 673–703. Peyer ( wie Anm. 7 ) S. 450 f.; Keller ( wie Anm. 4 ) S. 367 ff.; Reuter ( wie Anm. 4 ).
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halb der Ebene des Königtums im Regnum Italicum. Sie lässt sich, wie gegenwärtige diplomatische Forschungen nahelegen, nicht nur auf einen gewollten Gegensatz zur städtisch-kommunal geprägten Notariatskultur reduzieren, sondern besitzt sowohl außerhalb Reichsitaliens als auch in anderen Kommunikationsformen und Sinnzusammenhängen ihre Parallelen in einer Zeremonialisierung, die der hochmittelalterliche Wandel gleichermaßen steigerte und den Zeitgenossen ordnungs- beziehungsweise reformbedürftig erscheinen ließ 85. Der Handlungsrahmen der feierlichen Privilegierung war zugleich ein Ort, an dem die Geschichte Reichsitaliens präsent wurde. Wie sehr die kommunikativen Gegebenheiten der Inszenierung das Zustandekommen dieser Geschichten bestimmten, geben unsere Beispiele klar zu erkennen. So begegnet das für Monza gefundene Privilegierungsschema geradezu modellhaft bei späteren Symbolakten mit geschichtlicher Tiefendimension. Der Staufer Friedrich präsentierte sich auf diese Weise in Monza als Nachfolger der Langobardenkönige und in Aachen als Nachfolger Karls des Großen 86. Doch damit nicht genug, auf gleichem Wege wurde auch an die Ottonen angeknüpft. Von der Hand des Schreibers Wortwin, der die Aachener Urkunde schrieb, ist auch die Urkunde vom 6. August 1167, die der Kaiser auf dem Monte Mario vor Rom der Bartholomäuskirche auf der Tiberinsel gab 87. Im Kreis der Reichsfürsten war dazu die Geschichte der Stiftung durch die Ottonen verlesen und in die sowohl mit Gold als auch mit Wachs besiegelte Urkunde inseriert worden. Die wörtlich wiedergegebene Erzählung stammte allerdings nicht aus einer Vorurkunde, sondern aus dem sechsten Buch der Chronik Ottos von Freising! Wie im Fall von Casale Sant’ Evasio erhielt ein nach heutigen Maßstäben Text in sekundärer Verwendung Belegfunktion. Dies wiederum ging über den bloßen Ersatz einer an dieser Stelle eigentlich zu erwartenden Vorurkunde hinaus. Die volle Bedeutung derartiger Verweise oder Inserierungen in den Herrscherurkunden erschließt sich vielmehr erst aus dem kommunikativen Kontext, der die Schriftdenkmäler miteinander verknüpfte. So wird auch im Fall Casales die aus der Sicht heutiger Diplomatik seltsame Bleiurkunde aus ihrer kommunikativen Bestimmung heraus verständlich. Für Friedrich II. war sie verpflichtende Tradition zum Anfassen. Solche Identifikationsangebote dienten jedoch nicht allein der Begründung von Stiftungen oder der Bestätigung von Rechtstiteln. Sie waren erfolgreiche Mittel einer 85
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Vgl. Keller, Investitur ( wie Anm. 19 ); Ders., Hulderweis ( wie Anm. 18 ) S. 318 f.; Ders., Das frühe 13. Jahrhundert. Spannungen, Umbrüche und Neuorientierungen im Lebensumfeld Elisabeths von Thüringen, in: Dieter Blume u. a. ( Hgg. ), Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige. Aufsätze, Petersberg 2007, S. 15–26. Anhand der Diplomatik der Bischofsurkunden Reinhard Härtel, Geistliches und weltliches Personal im Urkundenwesen Reichsitaliens und Süddeutschlands, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 57, 2001, S. 95–110. Zur Karlstradition s. mit Hinweisen auf weitere Literatur Thomas Zotz, Königtum und Reich zwischen Vergangenheit und Gegenwart in der Reflexion von Herrscherurkunden des deutschen Hochmittelalters, in: Hans-Werner Goetz ( Hg. ), Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, Berlin 1998, S. 237–255; Keller ( wie Anm. 10 ) S. 293; Weber ( wie Anm. 16 ) bei Anm. 68. Die Urkunden Friedrichs I. 1158–1167 ( wie Anm. 22 ) Nr. 534, S. 479–481. S. den Kommentar der Herausgeber zu der durch aktuelle politische Ziele motivierten réécriture des Chroniktextes sowie zur späteren Rezeption der Urkunde als Geschichtswerk durch die Chronik von San Bartolomeo all’Isola. Vgl. Zotz ( wie Anm. 86 ).
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gegenwartsbezogenen Politik. Deuten doch gerade die „invented traditions“, Fälschungen und Zuschreibungen, denen wir hier begegnen, auf Bedürfnisse der Gegenwart hin, an die die relevanten Traditionen prospektiv anzupassen waren 88. Die Entstehung und Weiterentwicklung der Geschichtsbilder Reichsitaliens erfolgte in Auseinandersetzung mit ihrer jeweils aktuellen Inszenierung. Das Beispiel Casale Sant’ Evasios, an dem wir dies über Jahrzehnte hinweg verfolgen können, zeigt dies ebenso, wie es vor allem auf den großen, bisher kaum beachteten Beitrag verweist, den die für das Zustandekommen Reichsitaliens leisteten 89. Nicht allein die Geschichtsschreibung, sondern auch das Kommunikationsgeschehen des Herrschaftsverbandes produzierte Geschichtsbilder 90. Eine Berücksichtigung seiner vielfältigen, auf Intertextualität und Intermedialität beruhenden Dimensionen kann zu einem besseren Verständnis dieses mittelalterlichen Geschichts- und Politikdiskurses und vielleicht sogar zu einer Öffnung der klassischen historischen Hilfswissenschaften für die Wahrnehmung solcher Phänomene beitragen 91. Schließlich fällt auf, wie sich der Diskurs mit der Etablierung der freien Kommunen auf der politischen Bühne Italiens veränderte. Entwickelte er sich im Umfeld Mailands weiter, indem er mit Bezug auf die neue Realität der Kommune in Aneignungen und Feindbilder aufgespalten wurde, so stellten sich auf der anderen Seite Kommunen wie Casale und Pavia nicht nur in die Reichstradition, sie entwickelten sie im selben Wandlungsprozess gemäß ihrer Interessen weiter. Und so waren es dann doch Lombarden, die dafür sorgten, dass die Staufer zu Nachfolgern des Langobardenkönigs Liutprand wurden.
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S. oben Anm. 28; Carlrichard Brühl, Der ehrbare Fälscher. Zu den Fälschungen des Klosters S. Pietro in Ciel d’Oro zu Pavia, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 35, 1979, S. 209–218, wieder abgedruckt in Ders., Aus Mittelalter und Diplomatik. Gesammelte Aufsätze, 2: Studien zur Diplomatik, Hildesheim – München – Zürich 1989, S. 767–776; Keller, Investitur ( wie Anm. 19 ) S. 83 f. Vgl. Dartmann ( wie Anm. 13 ). Vgl. Bernd Schneidmüller, Die Gegenwart der Vorgänger: Geschichtsbewußtsein in den westfränkisch-französischen Herrscherurkunden des Hochmittelalters, in: Goetz ( Hg. ), Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein ( wie Anm. 86 ) S. 217–235; Zotz ( wie Anm. 86 ); mit weiterer Literatur Christoph Friedrich Weber, Exempla im Schilde führen. Zur Funktionalität „redender Wappen“ in der kommunalen Geschichtsschreibung des Trecento, in: Wolfgang Achnitz ( Hg. ), Wappen als Zeichen. Mittelalterliche Heraldik aus kommunikations- und zeichentheoretischer Perspektive ( Das Mittelalter 11/2 ) Berlin 2006, S. 147–166, S. 150. Vgl. Keller, Hulderweis ( wie Anm. 18 ) besonders S. 315 f.; Späth ( wie Anm. 40 ).
Nutzen und Wirkungsabsicht des Theaters nach Paratexten lateinischer Dramen
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Nutzen und Wirkungsabsicht des Theaters nach Paratexten lateinischer Dramen der frühen Neuzeit I. Nutzen des Theaters und der Dramenliteratur in der Tradition der , S. 207. – II. Beispiele für die Diskussion von Nutzen und Zielsetzung des Theaters bei ausgewählten Autoren, S. 214. – 1. Georg Macropedius ( Joris van Lanckvelt, 1487–1558 ), S. 214. – 2. Rudolf Gwalther ( 1519–1586 ), Vorrede zum , S. 216. – 3. Nicodemus Frischlin ( 1547–1590 ), Verschiedene Vorreden, S. 218. – 4. Die zur Ausgabe 1666 der von Jakob Bidermann ( 1578–1639 ), S. 221. – III. Perspektiven und Kontexte der Diskussion über die erzieherische Wirkung des Theaters, S. 223. – 1. Poetologische Modelle und mediale Konzepte, S. 223. – a. Poetik in der Tradition von Horaz und Aristoteles – b. Das Muster des Terenz – c. Bildlichkeit und sinnliche Wahrnehmung – d. Das Drama als Predigt – e. Transfer in die Volkssprache – 2. finis und scopus: Ideale und Werte der Moraldidaxe, S. 235. – a. Die Einheit von sprachlich-literarischer und moralischer Bildung – b. Politische Erziehung – c. Christliche Abgrenzung von der profanen Welt – d. Konfessionelles Engagement – IV. utilis ad morum confirmationem: formelhafter Legitimationsbeweis und tatsächliche Zweckbindung des Dramas, S. 243.
I. NUTZEN DES THEATERS UND DER DRAMENLITERATUR IN DER TRADITION DER
Im Prolog des fasst der Jesuitenautor Jakob Gretser seine Erläuterungen zur Wirkungsabsicht und zum Nutzen seiner Dramen mit der rhetorischen Frage zusammen: quid … utilius est comoedia ad morum confirmationem? 1 Vergleichbare Aussagen finden sich in zahllosen Dokumenten zum Theater der frühen Neuzeit, und zwar sowohl in szenischen Prologen, Chorszenen und Epilogen als auch in Paratexten der gedruckten Dramen, in den Absichtserklärungen von Autoren und Trägern des Theaters ebenso wie in kommentierenden Äußerungen von Herausgebern und Rezipienten. Bei aller Verschiedenheit der Autoren und Trägergruppen, der Gattungs- und Aufführungsbereiche, der Verbreitungsregionen und Zeiträume ist die Überzeugung von der didaktischen Leistung des Schauspiels ein einheitsbildender Gesichtspunkt für die Funktionen, die dem Theater von der Reformationszeit bis über 1700 hinaus zugewiesen werden. Schon die ältere Forschung hatte die pädagogischmoralische Zweckbindung des Theaters wahrgenommen und als charakteristisches Etikett verwertet; dabei konnten sich Irritationen des Verständnisses und Unsicherheiten in der Bewertung einstellen, wo zwischen künstlerischer Autonomie und didakti-
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Jakob Gretser, Lazarus Resuscitatus, Codex Dillingen XV, 223, 8v, zitiert nach: Sonja Fielitz, Jakob Gretser, Timon. Comoedia imitata ( 1584 ). Erstausgabe von Gretsers Timon-Drama mit Übersetzung und einer Erörterung von dessen Stellung zu Shakespeares Timon of Athens ( Münchener Universitäts-Schriften. Philosophische Fakultät. Texte und Untersuchungen zur Englischen Philologie 18 ) München 1994, S. 92.
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scher Funktion im Sinne eines Gegensatzes unterschieden 2 und so durch Reprojektion späterer ästhetischer Vorstellungen eine unangemessene Perspektive eingenommen wurde. Heute ist die vor allem in der Rhetorik vermittelte Verbindung des Literarischen mit dem Didaktischen und Ethischen eine anerkannte Prämisse der Forschung, und es gibt kaum eine Untersuchung zum Selbstverständnis des Theaters der frühen Neuzeit, in der die Moraldidaxe nicht als eigener und legitimer Leistungsbereich des Schauspiels erwähnt wird 3. Im Kommentar zu Leon Battista Albertis , mit dem der Autor die allegorisch-symbolische Bedeutung seiner Prosakomödie erläutert, wird die didaktische Absicht und intendierte moralische Nutzanwendung des Werkes mit dem Satz beschrieben: Haec fabula pertinet ad mores: docet enim studiosum atque industrium hominem, non minus quam divitem et fortunatum posse gloriam adipisci. 4 Mit der formelhaften Zuweisung des Stückes zu einem ( pertinet ad mores: docet enim … ) knüpft Alberti hier an Argumentations- und Darstellungsweisen der mittelalterlichen 5 an. Diese in der Regel kurzgefassten Einführungen zu Autoren bzw. literarischen Werken halten sich an festgelegte Serien von Kategorien, zu denen auch die Fragen nach der Wirkungsabsicht ( intentio ) der Autoren und dem Nutzen ( utilitas, finalis causa ) der literarischen Werke sowie nach der Zuordnung zu einer philosophischen Disziplin ( pars philosophiae ) gehören. In diesen Zusammenhang gehört auch die zitierte Aussage Albertis zu seiner .
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Vgl. das Kapitel „Der pädagogische Zweck als Ärgernis der Literaturwissenschaft“ bei Konradin Zeller, Pädagogik und Drama. Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises, Tübingen 1980, S. 2–13. Aus diesem Grunde ist die Heranziehung von Forschungsliteratur in diesem Beitrag notgedrungen ganz unvollständig und beschränkt sich auf exemplarische Fallbeispiele. Leon Battista Alberti, Philodoxeos fabula. Edizione critica a cura di Lucia Cesarini Martinelli, in: Rinascimento 17, 1977, S. 111–234, S. 144 f. Literatur dazu: Edwin A. Quain, The Medieval Accessus ad Auctores, in: Traditio 3, 1945, S. 215–264; Richard William Hunt, The Introductions to the Artes in the Twelfth Century, in: Studia Mediaevalia in honorem Raymundi Josephi Martin, Brügge 1948, S. 85–112; Robert B. C. Huygens ( Hg. ), Accessus ad Auctores. Bernard d’Utrecht, Conrad d’Hirsau. Édition critique entièrement revue et augmentée, Leiden 1970; Günter Glauche, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlung des Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt ( Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 5 ) München 1970, bes. S. 107–127; Ders., Art. , in: LMA 1, 1980, Sp. 71 f.; Paul Klopsch, Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980, bes. S. 48–64; Hennig Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, bes. S. 3–13, Register Stichwort: ; Nikolaus M. Häring, Commentary and Hermeneutics, in: Robert L. Benton – Giles Constable ( Hgg. ), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, Oxford 1982, S. 173–200, bes. S. 185–190; Alastair J. Minnis, Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages, London 1984, bes. S. 9–39; Ders. – Alexander Brian Scott ( with the assistance of David Wallace ), Medieval Literary Theory and Criticism ( c. 1100 – c. 1375 ). The Commentary-Tradition, Oxford 1988 ( Sammlung von Quellentexten in englischer Übersetzung mit einführenden Erläuterungen ); Douglas Kelly, Art. , in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, 1992, Sp. 27–36; Theresa Gross-Diaz, The Psalms Commentary of Gilbert of Poitiers. From to the Lecture Room ( Brill’s Studies in Intellectual History 68 ) Leiden – New York – Köln 1996, bes. S. 66–96: „The academic and the Psalms as literature“; Heinz Meyer, Intentio auctoris, utilitas libri. Wirkungsabsicht und Nutzen literarischer Werke nach Accessus-Prologen des 11. bis 13. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 31, 1997, S. 390–413.
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In den Accessus-Sammlungen des hohen Mittelalters 6 werden die wichtigsten Autoren der lateinischen Komödie und Tragödie, Terenz und Seneca, zwar zu Detailfragen herangezogen, ihre Werke werden aber nicht Gegenstand einer Kommentierung nach dem Accessus-Schema. Erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts kommentiert der englische Dominikaner Nicholas Trevet 7 die gesamte Serie der Tragödien Senecas und zeigt dabei seine Vertrautheit mit der Accessus-Tradition. Nachdem er im argumentum zum den Inhalt der Tragödie vorgestellt hat, erläutert Trevet vier Accessus-Kategorien ( auctor, materia, modus scribendi, utilitas ), indem er diese, wie es seit dem 12. Jahrhundert häufig geschieht, mit den vier causae der Aristotelesrezeption bezeichnet: Ex dictis autem patent quatuor causae huius tragedie, quia causa efficiens fuit Seneca, causa materialis est furia Herculis in qua interfecit filios et uxorem; causa formalis consistit in modo scribendi, qui est dragmaticon, ut dictum est, et ordine partium, qui patebit in expositione; causa finalis est delectatio populi audientis; vel in quantum hic narrantur quedam laude digna, quedam vituperario, potest aliquo modo liber hic supponi ethice, et tunc finis eius est correctio morum per exempla hic posita. 8 Der <Endzweck> der Tragödie wird in der Tradition der Formel prodesse et delectare formuliert; der Aspekt des moralischen Nutzens führt dabei zu einer weiteren Accesus-Kategorie, der Zuordnung zu einer philosophischen Disziplin, hier wie in der Regel zur Ethik. Der kurze, formelhafte und traditionelle Accessus erlaubt es, dass Trevet bei der Kommentierung der weiteren Tragödien Senecas auf die Erläuterung der einzelnen Kategorien verzichtet; so beschließt er das argumentum zum mit einem Verweis auf das beim schon Gesagte: Et sic patet materia huius tragedie. De aliis vero causis dicendum est sicut in prima tragedia dictum est. 9 In seiner Einleitung zum gesamten Corpus der Tragödien Senecas vertritt Trevet die Überzeugung, dass dessen Werke eine erzieherische Wirkungsabsicht und einen moralischen Nutzen verfolgen, und erläutert das Zusammenwirken von prodesse und delectare mit dem Bild von der bitteren Medizin, die der kluge Arzt gesüßt verabreicht: Cuius ( sc. Senecae ) doctam maturitatem in arduo virtutum culmine obversantem ad scribendum tragedias reor inclinatam, ut more prudentium medicorum, qui amara antidota melleo involuta dulcore, gustu inoffenso ad humorum purgamentum et sanitatis fomentum transmittunt, ethica documenta fabularum oblectamentis immersa cum iocunditate mentibus infirmis ingereret, per que, eruderatis vitiis, uberem virtutum segetem iniectis seminibus procrearet. 10
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Die beiden wichtigsten Dokumente sind die süddeutsche Sammlung des 12. Jahrhunderts der und der des Konrad von Hirsau, zusammen ediert von Robert B. C. Huygens, Leiden 1970; vgl. Meyer ( wie Anm. 5 ) S. 392. Zum Kommentarwerk des Nicholas Trevet vgl. Beryl Smalley, English Friars and Antiquity in the Early Fourteenth Century, Oxford 1960, bes. S. 58–65; Minnis ( wie Anm. 5 ) Index, S. 357, Stichwort: ; zu den Seneca-Kommentaren auch Simonetta Marchitelli, Nicholas Trevet und die Renaissance der Seneca-Tragödien, in: Museum Helveticum 56, 1999, S. 36–63 u. 87–104; Rebekka Junge, Nicholas Trevet und die Octavia Praetexta. Editio princeps des mittelalterlichen Kommentars und Untersuchungen zum pseudosenecanischen Drama ( Geschichte und Kultur des Altertums. NF, Reihe 1, 14 ) Paderborn u. a. 1999, bes. S. 125–165. L. Annaei Senecae et Nicolai Treveti expositio, hg. von Vincentius Ussani Jr., Rom 1959, 2, S. 4 f. Il Commento di Nicola Trevet al Tieste di Seneca, hg. von Ezio Franceschini ( Orbis Romanus XI ) Mailand 1938, S. 9. Ebd. S. 3; vgl. Junge ( wie Anm. 7 ) S. 132 f.
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Die Poetik und Literaturgeschichte der frühen Neuzeit knüpfen inhaltlich und formal in vielfacher Weise an die Fragen und Kategorien einer Literaturbehandlung an, die über die Jahrhunderte hin Bestandteil des Schulunterrichts war. Wenn Erasmus von Rotterdam in 11 die Methodik der Kommentierung eines Autors erläutern will, dann meint er mit auctores die großen Schriftsteller der Antike – als beispielhaften Namen nennt er Terenz – und empfiehlt eine Kategorienreihe 12, die ganz offensichtlich aus der Accessus-Tradition zusammengestellt ist, ohne dass dieser Begriff fällt. Dass Dramenautoren und -kommentatoren der frühen Neuzeit mit den Inhalten der Fragestellung und mit der formalen Präsentation der Antworten in dieser Tradition stehen, kann hier im einzelnen nicht verfolgt werden, die anhaltende Bedeutung der als Instrument des Literaturverständnisses für Produzenten und Rezipienten sei aber an zwei Beispielen aus dem 17. Jahrhundert – einem aus dem katholischen und einem aus dem protestantischen Bereich – veranschaulicht. In einem Falle handelt es sich um Überlegungen eines Autors des geistlichen Jesuitentheaters, die sich in der Praelocutio zur des Johannes Paullinus finden, einem allegorischen Drama in der Tradition der Moralitäten, für das 34 Aufführungen aus der Zeit von 1643 bis 1754 bezeugt und 19 Periochen erhalten sind 13. Dieses „erste Oratorium der Jesuitenbühne“ 14, das den Aufstieg der personifizierten anima mortalium von der Sünderin zur liebenden und geliebten Braut Christi vorführt, gewinnt seinen Text 15 durch eine Montage von Bibelstellen, die von ausführlichen Regieanweisungen begleitet wird. In einer 1669 in München erschienenen Leseausgabe werden die Texte durch exegetische Kommentare des Autors ergänzt 16. Die Vorrede benennt verschiedene Kategorien bzw. Fragen der Accessus-Tradition durch hervorhebenden Abdruck am Seitenrand: – Causa scribendi: Unter dieser Kategorie erläutert der Autor die Motivation und den Zweck der kommentierten gedruckten Leseausgabe. Er verweist auf bisherige Aufführungen des Stückes, die sich den Zuschauern vielleicht unzureichend einge11
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De ratione studii, hg. von Jean-Claude Margolin, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, 1, 2, Amsterdam 1971, S. 136–139. Die einzelnen nur kurz angedeuteten Punkte beinhalten hier: 1. auctor; 2. Wirkung ( voluptas et utilitas ); 3. Gattung ( carminis genus, comoedia ); 4. sprachliche Besonderheit ( insignis elegantia ); 5. Bedeutung im Zusammenhang einer philosophischen Disziplin ( ad philosophiam; Auslegung ad mores ). Einführung in den Inhalt und die Gattungseigenart bei Barbara Bauer, Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den Jesuiten, in: Heinrich F. Plett ( Hg. ), RenaissancePoetik. Renaissance Poetics, Berlin – New York 1994, S. 197–238, S. 226–229; ausführliche Dokumentation und Interpretation jetzt durch Barbara Münch-Kienast, von Johannes Paullin. Das Jesuitendrama und die des Ignatius von Loyola, Aachen 2000, zu Aufführungsdaten und Periochen S. A1–A13 ( nach S. 378 ); vgl. auch Jean-Marie Valentin, Le théatre des Jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire chronologique des pièces représentées et des documents conservés ( 1555–1773 ), 2 Teile, Stuttgart 1983/1984, Teil 2, S. 1092 f. ( Kurzbiographie von Johannes Paullinus und Registerhinweise zu den Aufführungen ); Elida Maria Szarota, Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet. Eine Periochen-Edition, 4 Bde., München 1979–1987, Texte I, II, 11–13, Bd. 1, 1, S. 645–676, mit Abdruck von drei Periochen. Szarota ( wie Anm. 13 ) 1, 2, Kommentarteil, S. 1637. Der auch in verschiedenen Periochen gedruckte Spieltext ist jetzt ediert bei Münch-Kienast ( wie Anm. 13 ) S. A32–A91. Ebd. S. A4–A6 ( Verzeichnis der Drucke ), S. 147–200 ( zur Kommentierung durch den Autor ).
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prägt haben. Er will das Vergessen des Gehörten und Gesehenen verhindern, indem er die Unterstützung durch eine begleitende Lektüre anbietet. – Quaenam illa Philothea: Unter dieser Leitfrage behandelt der einleitende Kommentar die Accessus-Kategorien des titulus ( Werktitel: Philotheam autem appello animam Deo charam … non nescius pro Dei amante accipi … ), der materia ( Stoff bzw. Inhalt: die Gott liebende und von ihm geliebte Seele ) sowie der intentio des Autors ( hier consilium: Der Zuschauer soll im Bühnengeschehen um die Figur der Philothea tamquam in speculo seine eigene Beziehung zu Gott erkennen ). – Drama Triplici viae spiritualis vitae opportunum: Diese Aussage soll auf die Accessus-Frage nach der utilitas bzw. causa finalis antworten, die Paullinus in der Erfahrung eines dreistufigen Aufstiegs sieht: von der Erhebung aus der Sünde mit Hilfe der Barmherzigkeit Gottes über eine Phase des Fortschritts bis zum Erreichen der Vollkommenheit. – Distributio scriptionis: Hier wird in Analogie zu den Accessus-Kategorien für den Aufbau und die gezählten Teile eines literarischen Werkes ( ordo, numerus ) die Gliederung des Spieles in fünf Akte ( partes ) erläutert, die ihrerseits wiederum einen spirituellen Aufstieg darstellen: 1. Die Seele zwischen Tugend und Sünde. – 2. Die Phase der Reue und Buße. – 3. Die Suche der Seele nach Gott. – 4. Die Seele als Braut Gottes. – 5. Die Andeutung des Versinkens in Gott und der ewigen Glückseligkeit. – Scribendi modus: Hier finden sich Bemerkungen zur Stilhöhe sowie zu der in der Leseausgabe auch für Texterweiterungen beibehaltenen Form des Dialogs. Der zweite Beispielfall für die anhaltende Beurteilung literarischer Werke anhand von Kategorien der Accessus-Tradition führt in den protestantischen Bereich zu einem kritischen, wenn nicht dem Theater gegenüber zunächst skeptischen Rezipienten. Wie Markus Paul in seiner Untersuchung über das Nürnberger Theater im 17. Jahrhundert 17 jüngst gezeigt hat, nimmt der Altdorfer Professor für Theologie und Moralphilosophie Johann Conrad Dürr ( 1625–1677 ) in die zweite Auflage seines ( 1675 ) 18 einen Abschnitt neu auf, der sich mit der Frage beschäftigt, ob sich der christliche Bürger als Schauspieler oder Zuschauer am Theater beteiligen dürfe. Dürr zitiert zunächst die bekannten Einwände der Kirchenväter und erläutert sein eigenes positives Votum anhand der Gesichtspunkte Darsteller ( persona ), Stoff ( materia ), formale Gestaltung ( forma ) und Zweck ( finis ) des Schauspiels. Die Ausführungen Dürrs orientieren sich nach den gewählten Kategorien und den inhaltlichen Argumentationen an den vier Accessus-Punkten persona/auctor, materia, forma tractandi und utilitas/finis: – Die persona-Kategorie des sogenannten rhetorischen Accessus-Schemas 19 wird traditionell in den meisten Fällen im Hinblick auf den auctor erörtert; hier wechselt die Perspektive – dem Medium des Theaters und seinen Bedingungen in der frühen Neu-
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Markus Paul, Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2002, bes. S. 123–129. Johann Conrad Dürr, Compendium Theologiae Moralis, in quo Virtutes et Officia Hominis Christiani, [ … ] explicantur. Editio altera multis accessionibus auctior et emendatior, Altdorffi 1675. Die erste Auflage wurde 1662 gedruckt; vgl. Paul ( wie Anm. 17 ) S. 122 und 125. Nach der englischsprachigen Forschung ( vgl. Anm. 5 ) das Schema A, nach Klopsch ( wie Anm. 5 ) der Typus III; vgl. Meyer ( wie Anm. 5 ) S. 394.
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zeit angemessen – zum Schauspieler, von dem Dürr darstellerische Qualitäten, vor allem aber eine das Theater legitimierende didaktische Leistung verlangt: … illustrandae Dei gloriae, depingendis variis hominum moribus & negociorum eventibus, exprimendis vivis coloribus virtutum pulchritudini & vitiorum turpitudini, incitandisque spectatoribus ad illarum studium, ad horum fugam serviant … 20 – Bei der Diskussion der materia ( auch als argumentum im Sinne von Inhalt bezeichnet ) wehrt Dürr alle Stoffe ab, die durch impietas und obscoenitas das fromme Ohr verletzen könnten, erlaubt aber sonst ein breites Spektrum der möglichen Stoffe, zu denen weltliche wie religiöse Dinge und auch Themen des Alltagslebens ( e communi vita civili petita ) gehören dürfen 21. – Das Theater hat ein Recht auf eine eigene Art der formalen Darstellung ( forma ). Wie der Redner ( orator ) mit rhetorischen Figuren ( troporum et figurarum luminibus ) arbeitet und der Dichter ( poeta ) mit fiktiven Geschichten ( fabularum et fictionum pigmentis ), so vermittelt der Schauspieler nützliche Lehren durch erfundene Personen, Orte und Zeiten ( … utilium rerum notitiam scite excogitato personarum, locorum, temporum habitu convestitam in theatrum producit ). Das Theater ist dabei demselben didaktischen Ziel verpflichtet wie Redekunst und Poesie: … utiliaque vitae monita dulcibus verborum condimentis amabiliora reddere. 22 – Der Zweck bzw. das Ziel ( finis ) des Theaters besteht im Lob Gottes und des göttlichen Wirkens ( in Dei laudem ejusque spectandam oculis pariter animisque admirabilem in rebus humanis dispositionem, potentiam, justitiam, misericordiam ), in der Verbesserung der Klugkeit und des moralischen Verhaltens des Menschen ( ad inserendam augendamve hominibus prudentiam, morumve probitatem, vitiorum fugam ) sowie seiner Orientierung am ewigen Leben ( ad excitandam spem praemiorum, … ad ingenerandum denique metum poenarum ) 23. Nur selten sind die Schemata und Argumentationsweisen der im Umfeld des Theaters der frühen Neuzeit so deutlich präsent wie in den vorgeführten Fällen, die durch eine Reihenbildung hervorgehobener Kategorien auffallen. Die in den Paratexten der Dramen häufiger anzutreffende Anknüpfungsweise an die Acessus-Tradition besteht darin, dass nach der Wirkung und dem Nutzen ( intentio, utilitas, finis ) gefragt wird und die Antworten immer wieder auf die Anleitung zur Tugend und die Warnung vor dem Laster hinweisen. In seiner von 1486 begründet Konrad Celtis sein Lob des Theaters und der Dramenliteratur mit diesem Argument, dass nämlich die Dichter von Komödien und Tragödien das Publikum für die Tugend begeistern und die Jugend vom Laster fernhalten ( spectancium animos ad virtutes inflammabant et pubescentem iam indolem a viciis deterrebant ) 24. Fast 150 Jahre 20 21 22 23 24
Dürr ( wie Anm. 18 ) S. 246. Ebd. Ebd. S. 247. Ebd. S. 247 f. Zitiert nach Cora Dietl, Die Dramen Jacob Lochers und die frühe Humanistenbühne im süddeutschen Raum ( Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 37 [ 271 ] ) Berlin – New York 2005, S. 37. Dieselbe Einschätzung trägt Celtis in fast wörtlicher Wiederholung auch in seiner Ingolstädter Antrittsvorlesung von 1492 vor, vgl. auch Hans-Gert Roloff, Thomas Naogeorg und das Problem von Humanismus und Reformation, in: L’Humanisme Allemand ( 1480–1540 ). XVIIIe Colloque Internationale de Tours ( Humanistische Bibliothek 1, 38 ) München – Paris 1979, S. 455–475, S. 470.
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später beschreibt der anonyme Autor eines Kölner Jesuitendramas 25 in der Vorrede den angestrebten moralischen scopus des Theaters mit ganz ähnlichen Formulierungen: … in exhibendis theatralibus is praefixus Societati Jesu scopus ut pulchretudinem virtutis et vitiorum turpitudinem repraesentando, spectatores ad amorem illius et detestationem hujus permoveant et inflamment. In solchen dichotomischen Erwähnungen der Tugend und des Lasters zeigt sich der Zusammenhang mit den Argumentationen der mittelalterlichen , welche den antiken Autor in seiner Doppelrolle als morum instructor und malorum exstirpator, als instructor virtutum und corrector vitiorum vorstellten und damit auch zunächst fragwürdige literarische Gattungen mit zum Teil anstößigen Stoffen legitimierten 26. Die Überlieferung der dient so als Speicher von Argumentationsfiguren und Formulierungen bei der Diskussion über die Wirkungsabsichten, über den Nutzen und die Legitimität der Literatur. Da die Kommentare der Spiel- und Paratexte des frühneuzeitlichen Dramas zu den erzieherischen Wirkungen des Theaters in der skizzierten Schultradition stehen, verwundert es nicht, wenn sie sich häufig mit geradezu formelhafter Kürze äußern. In der schulmäßig-schematischen Ausdrucksweise liegt die Gefahr, dass vorhandene Ansätze einer differenzierten Argumentation unsichtbar bleiben. Die folgenden Hinweise und Überlegungen wollen daher den Reichtum und die Reichweite der Diskussion veranschaulichen, und zwar in drei Schritten: – Zunächst werden Aussagen aus Spiel- und Paratexten zur belehrenden Wirkung und zum moralischen Nutzwert des Theaters in ausführlicher Zitierung vorgestellt. Dabei wird auf eine repräsentative Auswahl der Beispiele geachtet: Es kommen also Autoren der verschiedenen Konfessionen zu Wort, und es ist das Jesuitendrama ebenso vertreten wie das humanistische Schuldrama oder das Bibeldrama des 16. Jahrhunderts ( Abschnitt II ). – Um ein differenzierteres Bild von der Diskussion zu gewinnen, werden dann die wichtigsten Perspektiven und Kontexte unterschieden und an Beispielen erläutert, in denen die moraldidaktische Zielsetzung erörtert wird. Erst so zeigen Aussagen, die – aus dem Zusammenhang genommen und nebeneinandergestellt – einheitlich, einförmig und formelhaft wirken, ihre eigene argumentative Akzentuierung und können zum Teil eines Gesamtbildes werden, das den durchaus vorhandenen Reichtum der Diskussion angemessen spiegelt ( Abschnitt III ). – Abschließend werden Indizien vorgeführt für die nachhaltige Überzeugung von der tatsächlichen Wirksamkeit moralisch-pädagogischer Ziele, die uns heute wie eine Überforderung der Leistungsfähigkeit von Dramentexten und Theateraufführungen erscheinen mögen. Damit soll wenigstens noch angedeutet werden, mit welcher Entschiedenheit das Schauspiel der didaktischen Literatur zugeordnet wurde, – mit der Konsequenz, dass sich die Grenzen zwischen Dramen- und Ratgeberliteratur geradezu verwischen konnten ( Abschnitt IV ).
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Colonia Agrippina, Catechumena, Christiana, Romano-Catholica, Constans in Fide Orthodoxa, ac Religione maiorum, handschriftlicher Text im Historischen Archiv der Stadt Köln, 1057, zitiert nach Jean-Marie Valentin, Das Jesuitendrama im Dienste der religiösen und moralischen Erziehung, in: Ders., Theatrum Catholicum. Les jésuites et la scène en Allemagne aux XVIe et au XVIIe siècles. Die Jesuiten und die Bühne im Deutschland des 16.–17. Jahrhunderts, Nancy 1990, S. 77–91, S. 90. Vgl. Meyer ( wie Anm. 5 ) bes. S. 400 f. u. 410.
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Heinz Meyer II. BEISPIELE FÜR DIE DISKUSSION VON NUTZEN UND ZIELSETZUNG DES THEATERS BEI AUSGEWÄHLTEN AUTOREN
1. Georg Macropedius ( Joris van Lanckvelt, 1487–1558 ) Mit dem niederländischen Schulrektor Georg Macropedius, der den Brüdern vom gemeinsamen Leben angehörte, soll zunächst ein Autor des 16. Jahrhunderts zu Wort kommen, der katholischer Konfession war, sich mit den Tendenzen seiner Werke aber eher konfessionsneutral verhielt. In seinen Komödien und Bibeldramen wird die Wirkungsabsicht des Autors in verschiedenen direkten und indirekten Äußerungen in Prologtexten und Chorliedern 27 ausgesprochen, vor allem aber in einem regelmäßig die Spiele beschließenden Epilog, in dem eine Gruppe von Schauspielern als Schlusschor ( grex histrionum ) eine zwar kurze, aber fast immer sehr detailbezogene Zusammenfassung der Lehre und Erziehungsabsicht des jeweiligen Stückes vorträgt. Insofern bieten die Werke des Macropedius besonders signifikante Beispiele für Erörterungen von Nutzen und Wirkungsabsicht des Theaters innerhalb der Textsorte der szenischen, auf der Bühne vorgetragenen Pro- und Epiloge. Im Epilog der Komödie von 1535 wird zunächst die Befürchtung ausgesprochen, der Zuschauer könne keine Lehre und keinen Nutzen aus dem Stück gezogen haben; so wird die moraldidaktische Zielsetzung besonders betont. In der zweiten Hälfte des Epilogs wird das Publikum dann direkt angesprochen mit der Warnung vor den im Stück dargestellten Lastern von Rausch und Trunksucht, Betrug und Diebstahl: Grex histrionum Spectastis omnes, quam egimus comoediam; Verum veremur, omnibus haud conduxerit. Qui non alacrior excolendis moribus Probis bonisque litteris evaserit, profecto is absque fruge spectator fuit. Cavete proin, ne crapula aut temulentia Gravemini! Haud enim ullus est prudentiae, Vbi regnat ebrietas, locus. Cavete dein, Ne fraudibus vacetis aut furto! Ipsa enim Laqueo iugulum adigunt. Valete, plaudite! Finis Alutae. 28 In der Komödie von 1536 erinnert der Epilog an den Nutzen des Spieles durch den Hinweis auf dessen Bedeutung für den angesprochenen Zuschauer ( tua res ). Die <Moral> des Stückes wird dann im einzelnen für die Eltern ( Discat pater …, discat mater … ) und – wieder mit direkter Anrede im Imperativ – für das Schülerpublikum vorgetragen:
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Dazu Volker Janning, Der Chor im neulateinischen Drama. Formen und Funktionen ( Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des SFB 496, 8 ) Münster 2005, S. 354–358, und Register, S. 423, Stichwort: <Macropedius>. Macropedius, Aluta, hg. von Jan Bloemendal und Jan W. Steenbeek, Voorthuizen 21997, S. 108.
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SCAENA Vltima. EPILOGUS PER GREGEM Spectator asta paulum adhuc spectaculo, Vt audias quid in tuam rem effabimur. Discat pater per hanc modo actam fabulam, Vt liberos suos rebelles corrigat. Discatque mater ne per indulgentiam, Se inhonestet, et corrumpat ipsum filium. Vos quoque scholastici greges, intendite Vestris et auscultate praeceptoribus, Ne post rebellionem, et alia pluria Flagitia, tandem crucibus adnectamini. Vestrum proinde quisquis oblectatus est, Musis faueto, gregique nostro plaudito. 29 In Form und Inhalt, vor allem in der Ermahnung einerseits an die Eltern, andererseits an die Kinder in der Schülerrolle, folgt dieser Epilog ganz dem Schluss der von 1535 30. In der schwankhaft-derben Komödie von 1538 werden die Laster trunksüchtiger und ehebrecherischer Ehefrauen dargestellt; entsprechend ergeht im Epilog eine Ermahnung an den Ehemann, eine sittsame Frau zu lieben, eine lasterhafte jedoch mit Strenge zu lenken: Epilogus gregis Spectator, asta adhuc parumper, ni piget, Quo exaudias nostri gregis sententiam. Si uxor tibi est morigera, honesta, sobria, Ama eam, atque parce infirmiori vasculo. At si proterva, si impudica, si bibax, Rege, moribusque tuis probis attempera. Nam in aedibus muliere mala nil liberis Profecto familiaeve perniciosius. Vale! Valete singuli! Iam plaudite! 31 In dem Bibeldrama <Josephus> von 1544 geht es – bei aller psychologischen Wahrnehmung der Leidenschaft von Potiphars Weib – in der moralischen Bilanz, die der Epilog für den Zuschauer zieht, doch wieder um die Antithese von Tugend und Laster, hier von castitas und impudicitia. Aufgabe des Spieles ist es demnach, die Zuschauer, die keuschen Sitten verpflichtet sind ( qui castis fauetis moribus ), dadurch zu unterstützen, dass die Tugend der Keuschheit mit den Mitteln des Theaters positiv dargestellt wird 29 30
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Ders., Petriscus, Köln 1540, Epilogus. Ders., Rebelles, in: Georg Macropedius, Two Comedies. Rebelles. Bassarus, hg. von Yehudi Lindemann ( Bibliotheca Humanistica et Reformatorica 36 ) Nieuwkoop 1983, S. 104, V. 1–13. Ders., Andrisca, hg. von Frank Leys, in: Humanistica Lovaniensia. Journal of Neo-Latin Studies 31, 1982, S. 76–119, S. 119.
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( … qui castitatem comics probauimus ), während die impudicitia durch die Schilderung der negativen Folgen ( dolor, periculum, exitium ultimum ) getadelt wird 32. Den ( 1537 ), der als frühes Stück aus der Reihe der zahlreichen frühneuzeitlichen Dramen vom verlorenen Sohn bekannt ist, setzt Macropedius mit dem Hinweis auf das biblische Gleichnis von den fabulae nach Art seiner schwankhaften Komödien ab. Die Parabel soll den Zuschauer nicht zum Lachen bringen und seinem Vergnügen dienen, sondern Reue und Umkehr bewirken: Grex sive Epilogus Exhibita vobis fabula est, non fabula, Sed Christiana euangelicaque parabola. Quae non in hoc sit acta spectatoribus, Ut excitet risum et voluptatem adferat, Sed poenitentiae monendo formulam A luxu et improbo facinore retrahat. Quare orat hic grex noster, ut re mystica Pro corrigendis moribus fruamini. Post furta scorta, libidinem atque inertiam. ( Pater benignum se offeret ) resipiscite. Iam, si placuimus atque commodavimus, Favete nobis candidi, et plausum date. 33 Wir finden in den Epilogen der Dramen des Macropedius, für die diese Beispiele genügen mögen, alle Merkmale der werkimmanenten Diskussion über die moralischen Zielsetzungen für das Drama: die Benennung der Tugenden und Laster, meist in antithetischen Formen, den Hinweis auf die Aufgabe der sittlichen Erziehung ( mores excolere, mores corrigere ), das Vokabular für die Quintessenz ( sententia ) und den Nutzen ( frux, frui ) literarischerer Werke sowie für das Lernen aus ihnen ( discere ) und schließlich in der Anrede des Publikums und dem häufigen Gebrauch des Imperativs auch die sprachlichen Formen des Erteilens von Anweisungen, Ratschlägen und Ermahnungen. 2. Rudolf Gwalther ( 1519–1586 ), Vorrede zum Rudolf Gwalther, Humanist und reformierter Theologe, der von 1575–1584 am Großmünster der Zürcher Kirche vorstand, wird hier als typischer Vertreter des protestantischen Bibeldramas befragt. Gwalther ist Autor eines Dramas mit den Hauptfiguren David, Nabal und Abigael, das die Ereignisse von 1. Sam. 25 auf die Bühne bringt. Der Dramentext erschien 1549 unter dem Titel und mit der Gattungsbezeichnung comoedia sacra im Druck 34, während das Spiel erst sehr viel später, zur Ein-
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Ders., Josephus, in: Omnes Georgii Macropedii fabulae comicae, denuo recognitae, & iusto ordine ( prout editae sunt ) in duas partes divisae, Utrecht 1552/53, 1, fol. Q6r. Ders., Asotus, hg. von H. P. M. Puttiger ( Bibliotheca Humanistica et Reformatorica 42 ) Nieuwkoop 1988, S. 228. Nabal. Rodolphi Gvaltheri Tigurini comoedia sacra, Zürich 1549; weitere Ausgabe Straßburg 1562; Neuedition mit Übersetzung s. Anm. 35.
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weihung der Zürcher Grossmünsterschule 1570, aufgeführt wurde. Der Druck enthält eine lange Vorrede, die an den polnischen Humanisten Florianus Susliga Rolicz adressiert ist und in der Gwalther sein Selbstverständnis und seine Wirkungsabsichten als Geistlicher und als Dramenautor erläutert. Er beginnt mit dem Vorwurf, er habe sich in schwieriger Situation der Kirche mit dem Dichten von Komödien ( in Comoedijs scribendis ) beschäftigt, – als gebe es nichts Besseres zu tun. Er räumt ein, dass es Dinge von höherem Nutzen und größerer Dringlichkeit ( quae hodie maiori cum fructu, et necessario quidem, tractari possunt et debent ) geben möge, beharrt aber darauf, keineswegs etwas für seinen geistlichen Beruf und die Situation der Zeit Unpassendes getan zu haben, wenn er sich mit Dichtung beschäftigte 35. Der Punkt, auf den seine Argumentation in der ganzen Vorrede abzielt, ist damit angesprochen: es geht um den Nutzen der Dramendichtung unter dem besonderen Aspekt der Berufspflichten des Theologen und Pfarrers 36. Wenn es deren Aufgabe ist, die Menschen – gleich welchen Standes – zu erziehen und hinsichtlich ihrer Pflichten zu unterweisen, so dürfen sie sich nicht auf den Raum der Kirche beschränken, sondern sollen auch in anderen Bereichen der Öffentlichkeit tätig werden: Nec sufficere puto ut in loco religioni et divinis cultibus sacro illud fiat, nisi eadem doctrina et foro, et curiae, et compitis, et theatris etiam inferatur: ut ibi quoque vel inviti sapere discant homines, unde peccatorum et scelerum occasiones desumi consueverunt. 37 Gwalther greift dann metaphorische Topoi der Wirkungspoetik auf: Die Menschen nehmen eine Lehre ungern an, die unverhüllt ( doctrina … nuda simplexque ) vorgetragen wird, und sie schrecken vor bitterer Medizin zurück, die nicht mit Honig gesüsst ist. Nach diesen Überlegungen zur Wirkungsabsicht des Dramenautors, die hier eher als Wirkungspflicht akzentuiert wird, und nach der humanistisch-feinsinnigen Erinnerung an das Prinzip der Alten, sich den empfindsamen Ohren ( delicatulis auribus ) des Publikums nur mit poetischer Anmut ( carminum lepore et venustate ) zu nähern, wendet sich Gwalther dem biblischen Stoff ( argumentum ) zu, der besonders geeignet sei, in den Wirren der Zeit die Menschen jeglichen Standes zu unterweisen ( hisce tam calamitosis temporibus omnes fere omnium ordinum homines instituere ). David ist in der theologischen Tradition hauptsächlich Typus Christi, kann aber auch – und das interessiert unter dem Aspekt der Moraldidaxe weit mehr – als Vorbild eines jeden Menschen verstanden werden; insbesondere als Flüchtling vor Saul kann er zeigen, wie sich in Not und Bedrängnis befindliche Menschen verhalten sollen ( Docet hos Davidis exemplum, quales sese gerant tot undique septi hostibus ). Nabals Tod soll einerseits alle Tyrannen und Unterdrücker der Kirche schrecken, sein Schicksal ist aber auch ein Beispiel für das breite Publikum der Familienväter, denen vor Augen geführt wird, dass zum Wohl der Familie nicht nur Reichtum gehört, sondern vor allem eine von Religion, Humanität und weiteren Tugenden geprägte Geisteshaltung ( animus religionis studio et humanitatis aliarumque virtutum officiis instructus ); fer35
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Rudolf Gwalthers . Ein Zürcher Drama aus dem 16. Jahrhundert, hg. und übers. von Sandro Giovanoli ( Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 83 ) Bonn 1979, S. 10. Vgl. Wolfram Washof, Drama als Gottesdienst. Homiletisch-katechetische Funktionen und liturgische Elemente des protestantischen Bibeldramas der Reformationszeit, in: Christel Meier – Heinz Meyer – Claudia Spanily ( Hgg. ), Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation ( Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 4 ) Münster 2004, S. 159–170, S. 159–162. Gwalther, Nabal ( wie Anm. 35 ) S. 10.
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ner warnt die Figur des Nabal vor dem Laster der Trunksucht. Der Priester Abiathar aus Davids Begleitung ist ein Vorbild für alle Diener der Kirche, an Abigaels Beispiel können sich alle Frauen orientieren. Mehr und mehr wendet sich so die Selbstdeutung des Autors dem Publikum des Spieles und seiner ständischen Ordnung zu: Habebunt denique … quod ad sui institutionem transferant, servuli, rustici, milites, convivae, cives, peregrini, senes, iuvenes, omnes denique, cuiuscumque sint loci, aetatis, sexus aut ordinis. Gwalther schließt mit dem Argument, dass er gerade als Theaterdichter seine Pflichten als Erzieher im Auftrag der Kirche erfüllt habe: Num ergo praeter officium videri possum fecisse, quod ista hoc tempore tractanda sumpserim? quando omnes pene hominum ordines docendo in viam redigi, et in officio retineri maxime necessarium est: qua in re quantum Comicarum actionum aculei valeant, nemo vere sapientium ignorare potest. 38 Die Funktion der biblischen Figuren und Aktionen als Exempel, mit denen das Publikum belehrt und gelenkt wird, lässt Gwalther im Spiel selbst durch einen szenischen Prolog erläutern 39; dieser Prolog wird von einem senex vorgetragen, der – gewiss nicht zufällig – im geistlichen Gewand ( sacro habitu ) auftritt und so an das erinnert, was als Quintessenz der Vorrede zur Druckausgabe festgehalten werden kann: Der Theologe und Pfarrer nimmt als erzieherisch wirkender Theaterautor seine Berufspflichten wahr. 3. Nicodemus Frischlin ( 1547–1590 ), Verschiedene Vorreden Nicodemus Frischlin, der das humanistische Theater mit Stoffen aus dem Bildungsbereich repräsentiert, aber auch protestantische Bibeldramen verfasst hat, nimmt in verschiedenen Vorreden von Druckausgaben seiner Werke zu Nutzen und Zielsetzung des Theaters und der Dramenliteratur Stellung. Für ihn steht das humanistische Interesse an der lateinischen Sprache, Poesie und Redekunst im Vordergrund seiner Äußerungen sowohl zu den antiken als auch zu den eigenen Dramen. Im thematisiert er mit den Mitteln der Komik die Gefährdung und Gesundung der Latinität und kommentiert dies in verschiedenen Vorreden und Widmungsbeigaben der beiden Drucke von 1580 und der Ausgabe von 1585 40. In der Widmungsvorrede zur von 1585 beschreibt er, wie er sich den Umgang mit den literarischen Vorlagen des Altertums vorstellt: auf die Erklärung der antiken Quelle mit Erläuterungen z. B. dazu, was wörtlich und was bildlich gemeint ist und ob Alltagssprache oder poetische Diktion vorliegt, folgt eine Paraphrase, bevor schließlich der behandelte Stoff bzw. Textabschnitt – im Falle der das 4. Buch der – in ein Schauspiel umgesetzt wird, an dessen Aufführung die Schüler beteiligt werden können 41. Den Endzweck ( finis, scopus ) dieser gestuften Behandlung der lateinischen Autoren benennt Frischlin am deutlichsten im Versprolog der von 1589:
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Ebd. S. 14. Dazu unten bei Anm. 169. Nicodemus Frischlin, Priscianus vapulans, hg. von Christoph Jungck und Lothar Mundt, in: Ders., Sämtliche Werke, 3, Dramen III, 1, Stuttgart – Bad Canstatt 2003, S. 304–319. Nicodemus Frischlin, Venus, in: Ders., Hildegardis Magna. Dido. Venus. Helvetiogermani, hg., übers. und kommentiert von Nicola Kaminski, 1, Bern – Berlin u. a. 1995, S. 306.
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… vt Iuuentus in scholis se exerceat; Et memoriam augeat; seque istis initijs Ad res maiores praeparet; & facundiam Inprimis Romanae hauriat eloquentiae. 42 Das humanistische Ideal der Vernüpfung von sprachlich-literarischer und moralischer Bildung ist Frischlins großes Anliegen; entsprechend bestimmt er in der Vorrede zu seiner Dido-Tragödie von 1581 die angestrebte Wirkung auf das Publikum seiner Werke: Nam meos ego auditores & amo & diligo: vt qui non modò illorum linguas eleganti oratione, ex Caesaris & Virgilij libris, sed etiam vitam & mores eorundem, propositis exemplis virtutum ex ijsdem, informare studeo. 43 In dieser Vorrede beschreibt Frischlin auch seine Erwartungen von den positiven Wirkungen des Umgangs der Schüler mit Vergil und mit seinem eigenen Spieltext. Die Fähigkeiten der Jugendlichen als Redner und Schauspieler sollen demnach schon in jungen Jahren eine Gefühlshaltung vermitteln, aus der sich positive Impulse für das spätere öffentliche Auftreten und die soziale Kompetenz entwickeln können: Volo enim iuuentutem exercere in mea schola Poetica, vt primò ediscant Virgilij phrasin, & genus illud dicendi grandiloquum, ac numeris vinctum. Deinde volo illos haec eadem, quae edidicerunt, in scena recitare: vt non solùm memoria illorum crebro vsu acuatur: sed etiam decori gestus et apta pronunciatio condoceatur. Volo denique animum accendi & excitari in tenera aetate, vt aliquando viri facti, promptiùs & cordatiùs coram alijs, praesertim in coetibus & conventibus publicis, loquantur. 44 Mehrfach äußert sich Frischlin, wie unten noch weiter zu erläutern, zur mangelnden Eignung der Komödien des Terenz zur sittlichen Erziehung der Jugend. Im Widmungsbrief zum <Julius redivivus> befürchtet er, die Jugend lerne aus den Komödien des Terenz artes meretriciae, und will den Terentius profanus durch die eigenen Comoediae novae et sacrae ersetzen 45. In der Vorrede zur , wo Terenz erneut wegen der Darstellung von amores meretricii getadelt wird, entwirft Frischlin mit der Ehelehre der ein Konzept der sittlichen Erziehung durch das Theater als christliche Alternative, mit der die Sprachkunst der antiken Komödie neu gefüllt werden könnte 46. In der Vorrede zur Gesamtausgabe seiner Dramen von 1589 schließlich wiederholt Frischlin seine Stellungnahme zu Terenz aus dem <Julius redivivus>, fügt aber hinzu, dass er ihn als Schulautor nicht verdrängen wolle, sondern nur eine Ergänzung durch die eigenen Werke mit christlich-biblischen Stoffen anstrebe: … non quidem ut illum e scholis exterminem, sed ut mea cum illo coniungam. 47 42 43 44 45 46
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Ebd. S. 380. Nicodemus Frischlin, Dido ( wie Anm. 41 ) 1, S. 248. Ebd. S. 246. Nicodemus Frischlin, Iulius redivivus, hg. und übers. von Jungck – Mundt ( wie Anm. 40 ) S. 630. Ders., Rebecca, hg. von Adalbert Elschenbroich, bearbeitet von Lothar Mundt, in: Ders., Sämtliche Werke, 1, Dramen I, 1, Berlin – Bern u. a. 1992, S. 275. Ders., Widmungen und Vorrede zur Ausgabe letzter Hand, Straßburg 1589, in: Ders., Sämtliche Werke, 1 ( wie Anm. 46 ) S. 283; vgl. dazu Fidel Rädle, Einige Bemerkungen zu Frischlins Dramatik, in: Stella P. Revard – Fidel Rädle – Mario A. Di Cesare ( Hgg. ), Acta Conventus Neo-Latini Guelpherbytani. Proceedings of the Sixth international Congress of Neo-Latin Studies, Wolfenbüttel 1985 ( Medieval and Renaissance Texts and Studies 53 ) Binghamton, New York 1988, S. 289–298, S. 292.
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Die moralisch-erzieherische Intention seiner eigenen Werke betont Frischlin in der Widmungsvorrede der von 1579 in formelhafter Kürze mit Hinweisen auf die Ehre Gottes, das Lob tugendhafter Männer und das Anprangern von Lastern: Ego certè ( testor Deum ) alium finem in meis Poematis hactenus nullum habui propositum: quàm Dei gloriam versibus illustrare: bonorum virorum laudes decantare: mores malos in Comoedia sic taxare: vt nemo esset, qui in illis se perstrictum esse iurè poßit dicere. 48 Nach der Vorrede zur will er, wie bereits zitiert, die moralische Lebensführung ( vita et mores ) des Publikums durch die Präsentation von Exempeln der Tugend ( propositis exemplis virtutum ) fördern 49. Für seine Bibeldramen und <Susanna> benennt Frischlin die angestrebte erzieherische Wirkung konkreter. Die erhält dabei – vor allem im Epilog der deutschen Version von 1589 – die Funktion eines Ratgebers für die Eheberatung: Und höret von mir kürtzlich an / Was dises Spil euch nutzen kann. Wir haben euch jetzt fürgestellt/ Ein par ledig Menschn außerwehlt: Deßgleichen ein from par Eheleut; Euch allen zum Exempel heut/ Welchen ihr billich folgen solt/ Wann ihr glücklich heuraten wolt. 50 Am ausführlichsten entfaltet Frischlin die moralische Nutzanwendung eines eigenen Stückes in der <Susanna>. Der Versprolog, mit dem das Stück in der lateinischen 51 und in der deutschen 52 Ausgabe mit 65 bzw. 170 Versen beginnt, diskutiert die Frage, ob man in erzieherischer Absicht verwerfliches menschliches Verhalten auf die Bühne bringen darf oder ob nicht die Gefahr besteht, dass die Darstellung von Lastern das Publikum zur Nachahmung verführt. Frischlin reagiert auf die Frage nach der Wirksamkeit von exempla seinerseits mit einem exemplum: Von den alten Spartanern ist überliefert, dass sie Knechte betrunken machten, um so durch die Vorführung der Folgen von Trunksucht ihre Kinder von diesem Laster abzuhalten: Nam veteres Spartanos in more habuisse, ait: Ut in conspectum liberorum servulos Statuerunt ebrios: ut turpitudine Morum conspecta, ab isto vitio liberi Terrerentur … 53 48 49 50
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Ders., Hildegardis Magna ( wie Anm. 41 ) S. 18. Ders., Dido ( wie Anm. 41 ) S. 248. Ders., Rebecca. Deutsche Übersetzung von Jakob Frischlin, hg. von Adalbert Elschenbroich, bearbeitet von Lothar Mundt, in: Ders., Sämtliche Werke, 1, Dramen I, 2 ( wie Anm. 46 ) S. 266 f. Ders., Susanna, hg. von Adalbert Elschenbroich, bearbeitet von Lothar Mundt, in: Ders., Sämtliche Werke, 1, Dramen I, 1 ( wie Anm. 46 ) S. 145 f. Ders. Susanna. Deutsche Übersetzung von Jakob Frischlin, hg. von Adalbert Elschenbroich, bearbeitet von Lothar Mundt, in: Ders., Sämtliche Werke, 1, Dramen I, 2 ( wie Anm. 46 ) S. 297–302. Ders., Susanna ( wie Anm. 51 ) S. 146.
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In der deutschen Übersetzung des Dramas von Jakob Frischlin wird diese Diskussion der erzieherischen Wirkung des Theaters nicht nur aufgenommen, sondern, wie noch zu zeigen sein wird 54, in einem Prosaepilog fortgesetzt und mit der Fragestellung erweitert, ob und wie sich aus dem aufgeführten Bibeldrama ein System der Tugenden und Laster sowie der sozialen Werte ablesen lässt. 4. Die zur Ausgabe 1666 der von Jakob Bidermann 55 Für die Auffassung der Jesuiten vom Nutzen und der Zielsetzung des Theaters können die Werke Jakob Bidermanns ( 1578–1639 ) herangezogen werden, – freilich nicht mit Paratexten, in denen der Autor selbst seine poetologischen Vorstellungen entwickelt, sondern mit einer Apologie aus der Feder eines späteren Ordensbruders. In dieser berühmten Vorrede bestimmen und stilisieren die Normen der Rhetorik, Pädagogik und Poetik der Jesuiten und die damit verbundenen religiösen und didaktischen Intentionen das Bild, das der Verfasser der von Bidermanns Werken und deren Aufführungen vorstellt 56. Die Deutlichkeit der intendierten Konzeption von der Wirkung des Theaters wird durch die apologetischen und idealisierenden Tendenzen dieser Einführung jedoch nicht getrübt, sondern eher verschärft. Über die Wirkung der dramatischen Dichtung Jakob Bidermanns ( 1578–1639 ) auf die Zuschauer wird in der aus zwei Perspektiven diskutiert: einerseits von den Inhalten der Dramen her, und zwar hinsichtlich des Verhältnisses von historischer Wahrheit und Fiktion sowie hinsichtlich der Mischung von komischen Elementen mit ernster Thematik, andererseits im Ausgang von beobachteten und beschriebenen Wirkungen bestimmter Aufführungen der Dramen Bidermanns. Für den Wahrheitsbegriff betont der Verfasser der Vorrede, dass eine Abweichung von der historischen Realität dem Dichter erlaubt sei, wenn sie der Beeinflussung des Zuschauers diene: … quis exigat adeò religiosè fidem sacrosanctam Veritatis historicae à Poetis, cui Nationi nunquam non concessa fuit, non quidem potestas mentiendi, sed concinnandae tamen fabulae ad sublimes affectus in Spectatorum animis excitandos; cujus rei praecipuus semper artifex Bidermannus noster est habitus. 57 Mit den komisch-unterhaltsamen Elementen der Dramen gewinnt der Dichter das Interesse der Zuschauer und bewirkt deren moralische Besserung über heilsame Affekte ( … Poetam ex ipsis jocis et risibus iter sibi ad salubres lacrymas fecisse ). Die Mischung von Scherz und Ernst wird hier in der Tradition einer Wirkungspoetik wahrgenommen, die sich auf Horaz 58 berufen kann: … ut natus hanc in rem videri posset versus
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Vgl. unten bei Anm. 125. Jakob Bidermann, Ludi theatrales sacri sive opera comica posthuma, München 1666, hg. von Rolf Tarot ( Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 6 ) Tübingen 1967; Fidel Rädle, Die Praemonitio ad Lectorem zu Jakob Bidermanns Ludi theatrales ( 1666 ) deutsch, in: James Hardin – Jörg Jungmayr ( Hgg. ), „Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig“. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff von Freunden, Schülern und Kollegen, 2 Bde., Bern – Berlin u. a. 1992, 2, S. 1131–1171. Dazu Günter Hess, Spectator – Lector – Actor. Zum Publikum von Jakob Bidermanns Cenodoxus. Mit Materialien zum literarischen und sozialgeschichtlichen Kontext der Handschriften von Ursula Hess, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1, 1976, S. 30–106. Praemonitio, hg. Rädle ( wie Anm. 55 ) S. 1140. Horaz, Ars poetica 343.
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ille, quo dicitur omne punctum tulisse, qui miscuerit utile dulci. 59 Für Dichter aus dem geistlichen Stand bzw. für Dichtungen mit religiöser Thematik gilt dabei für das Verhältnis von prodesse und delectare, dass die Elemente der Belehrung denen der Unterhaltung übergeordnet sein müssen: Meminerat noster ( sc. Bidermannus ), se esse è numero Religiosorum Poetarum, quos deceat eò studium omne convertere, non tam ut delectent, quam ut prosint, animósque Spectantium ad virtutem ac DEI timorem adducant illecebrâ dulci piorum spectaculorum. 60 Die Wirkungsabsicht Bidermanns und den Nutzen seiner Dramen erläutert der Verfasser der Vorrede als erzielten Erfolg, d. h., er beschreibt die tatsächlich oder vorgeblich erreichte Wirkung auf die Besucher bestimmter Aufführungen 61. Mit diesen Berichten will er verständlich machen, dass die moralische Läuterung, die der Zuschauer der Dramen Bidermanns erfährt, größer sein kann als diejenige, die sich durch das Anhören von Predigten erzielen lässt: … ut spectatorum plerique ab his Comoedijs, quàm à Concionibus aliorum emendatiores redierint domum. 62 Dies wird bezeugt durch die Münchener Aufführung des <Johannes Calybita> von 1638 63, in der nicht nur die einfachen Leute, sondern auch hochstehende und gebildete Leute aus dem Adel und vom Kurfürstlichen Hof in Tränen ausgebrochen sind und im letzten Akt das Theater gar mit lautem Schluchzen erfüllt haben. Die ausführliche Beschreibung dieser Erschütterung schließt mit dem Befund, dass die Aufführung beim gesamten Publikum einen Bekehrungsprozess ausgelöst habe, sowie mit der zusätzlichen Bemerkung, dies sei auch die eigentliche Aufgabe der Theaterveranstalter des Ordens: Posthaec solutis ludis proclive est cogitare, neminem è tot Spectatoribus fuisse, quin contemptum insignem rerum humanarum, et amorem coelestium bonorum secum domum deportaverit, fructu in longum tempus duraturo, quem unicè spectare solent ac debent ij, quos ex nostris hominibus hae curae Theatrales exercent … 64. Noch ausführlicher und eindringlicher versucht der Bericht über die Münchener Aufführung des von 1609 65 die Erschütterung der Zuschauer und Schauspieler zu schildern: Das Stück versetzte die Zuschauer in einen Zustand affektbetonter Frömmigkeit ( … in Audientium animis motus verae pietatis concitasse ), seine Wirkung war so gewaltig, wie die von hundert Predigten kaum hätte sein können ( quod centenae Conciones vix potuissent ). Von den vornehmeren Besuchern der Vorstellung, darunter auch Mitgliedern des Herzoglichen Hofes, sollen sich 14 Männer nach dem Ende des Stückes den Ignatianischen Exerzitien unterzogen haben, um danach ihren Lebenswandel auf wundersame Weise zu verbessern ( … non multò post finitum ludum, ad nos in Ascesin Ignatianam secessere, mirabili in plerisque morum mutatione secutâ ). Der Schauspieler, so wird weiter berichtet, dem die Hauptrolle des Cenodoxus übertragen war, ist nach der Aufführung und nach dem Absolvieren von Exerzitien in den Jesuitenorden eingetreten, um dort ein heiligmäßiges Leben zu führen 66. Der Theaterbesuch bildet in diesen Berichten gleichsam die Eingangsphase eines Erziehungs- und Läuterungsprozesses: Die Er59 60 61
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Praemonitio, hg. Rädle ( wie Anm. 55 ) S. 1146. Ebd. S. 1142 f. Zum Spannungsverhältnis von literarischer Topik und Realitätsgehalt der Berichte über die Wirkungen der Aufführungen s. Hess ( wie Anm. 56 ) bes. S. 44, und Rädle ( wie Anm. 55 ) S. 1131 f. Praemonitio, hg. Rädle ( wie Anm. 55 ) S. 1146. Valentin ( wie Anm. 13 ) Teil 1, S. 145, Nr. 1221. Praemonitio, hg. Rädle ( wie Anm. 55 ) S. 1148. Valentin ( wie Anm. 13 ) Teil 1, S. 71, Nr. 626. Ebd. S. 1150–52.
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schütterung durch das Bühnengeschehen, die mit der Wirkung einer Predigt verglichen wird, führt zu einer Überprüfung der eigenen Lebenseinstellungen. Es folgt mit dem Absolvieren der Ignatianischen Exerzitien eine Phase der Vertiefung, die auf eine grundsätzliche und dauerhafte Änderung der Lebensführung, eventuell sogar auf einen Ordenseintritt, vorbereitet. Ein nach jesuitischen Idealvorstellungen strukturiertes Konzept der Bekehrung und Spiritualisierung wird so auf die Berichte über die Wirkungen der Aufführungen projiziert. Wenn die leitenden Vorstellungen von der Wirkung des Theaters sich dabei an den Medien des religiösen Lebens ( Predigt, Exerzitien ) orientieren, so liegt darin mehr als nur eine metaphorische Analogie, denn das Theater wurde ja bei den Meditationsübungen der Jesuiten tatsächlich wie die Predigt als Medium der religiösen Erbauung eingesetzt. III. PERSPEKTIVEN UND KONTEXTE DER DISKUSSION ÜBER DIE ERZIEHERISCHE WIRKUNG DES THEATERS
1. Poetologische Modelle und mediale Konzepte a. Poetik in der Tradition von Horaz und Aristoteles Die Diskussion über Nutzen und Zielsetzung des Theaters steht im Zusammenhang der Rezeption der Poetik des Horaz, von deren Grundsatz aut prodesse volunt aut delectare poetae 67 die gesamte Wirkungspoetik der frühen Neuzeit geprägt ist; das prodesse ist dabei im Sinne moraldidaktischer Intentionen verstanden, wie es die bei Horaz bald folgende Variante delectando pariterque monendo 68 nahelegt. Antike Schriftsteller haben nach der Überzeugung der Humanisten ihre Werke mit der Absicht verfasst, der sittlichen Belehrung und Erziehung des Menschen zu dienen, und in dieser Intention soll der zeitgenössische Autor ihnen folgen. Vor allem die Schauspiele der Antike sollen der Jugend neben einer delectation vermitteln, wie jhnen jhr leben anzustellen 69. Entsprechend verlangt Jacob Masen in der <Palaestra Eloquentiae Ligatae> vom Dramendichter seiner Zeit kurz und bündig: Poetae Dramatico hoc inprimis propositum esse debet, ut cum delectatione erudiat. 70 Wenn man die Dramen eines Autors loben will, tut man dies – wie die zur posthumen Bidermann-Ausgabe von 1666 – mit der wiederum Horaz verpflichteten Aussage, es sei dem Dichter gelungen, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden: … ut natus hanc in rem videri posset versus ille, quo dicitur omne punctum tulisse, qui miscuerit utile dulci. 71 Die beiden Wirkungen, von denen Horaz spricht, gelten nicht als gleichrangig, sondern die unter den Etiketten prodesse und utile geführte moralische Wirkung benennt das Ziel, während die delectatio eher als Mittel gesehen wird, den Zuschauer zu er67 68 69
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Horaz, Ars poetica 333. Ebd. 344. Cleophas Distelmayer, Vorrede zur deutschen Übersetzung 1582 des <Euripus> von Lewin Brecht, zitiert nach Fidel Rädle, Aus der Frühzeit des Jesuitentheaters. Zur Begleitung einer Edition lateinischer Ordensdramen, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 7, 1978, S. 403–462, S. 444. Jacob Masen, Palaestra Eloquentiae Ligatae II, 1, 1, Köln 1664, S. 54; zitiert nach Harald Burger, Jakob Masens . Zur lateinischen Barockkomödie in Deutschland, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, NF 8, 1967, S. 32–56, S. 36. Praemonitio, hg. Rädle ( wie Anm. 55 ) S. 1146, nach Horaz, Ars poetica 343.
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reichen sowie nachhaltig durch mediale Elemente ( Bilder, Sinneserlebnisse, integumenta ) zu fesseln und zu beeindrucken. 72 Wichtiger als die Horazrezeption ist für die Frage nach der Wirkungsabsicht und dem Nutzen des Theaters die Lehre von den Wirkungen der Tragödie nach Aristoteles, wenn sie auch für das Theaterverständnis der Frühen Neuzeit nicht von so großer Bedeutung war, wie es die spätere Dramenpoetik der Moderne – insbesondere wegen der von Lessing angeregten und auf ihn bezogenen Erörterungen – erwarten lässt. Die bisherige, keineswegs abgeschlossene Forschung 73 zur Rezeption der Tragödientheorie des Aristoteles geht davon aus, dass die Wirkungen der Tragödie ( misericordia, terror und purgatio ) im 16. und 17. Jahrhundert von einem Interpretationswillen betrachtet wurden, der durch das pädagogisch-ethische Verständnis des Dramas weithin festgelegt war und eine moralische Umdeutung der Katharsis verlangte. Aus dieser Perspektive bewirkt die Tragödie nicht eine Katharsis im Sinne der Befreiung bzw. Erleichterung durch die Erregung der Affekte von Phobos ( Schaudern, Schrecken ) und Eleos ( Jammer, Rührung ) 74, sondern eine Reinigung von Leidenschaften und Lastern, deren Bösartigkeit und Schädlichkeit auf der Bühne zur Abschreckung dargestellt worden ist. Nach Philipp Melanchthon, der in seiner <Epistola de legendis Tragoediis et Comoediis> von 1545 die Lektüre der antiken Dramen mit deren Nutzen für die sittliche Erziehung ( utiles ad mores regendos ) legitimiert und sich dabei auf die Affektenlehre des Aristoteles bezieht, werden die Affekte des Publikums erst durch die Anschauung großen Unglücks so aktiviert, dass eine erzieherische Wirkung eintreten kann: qui ( sc. Graeci ) initio Tragoedias populo proposuerunt, nequaquam ut vulgo existimatur, tantum oblectationis causa, sed multo magis, ut rudes ac feros animos consideratione atrocium exemplorum et casuum flecterent ad moderationem … Non enim movetur populus levium aut mediocrum miseriarum cogitatione, sed terribilis species obiicienda est oculis, ut de causis humanarum calamitatum cogitent, et singuli se ad illas imagines conferant. 75 In der <Epistola nuncupatoria> zu seiner Tragödie von 1599 versucht Samuel Junius, diese Argumentation unter Verwendung von Formulierungen aus der <Epistola> Melanchthons noch eindrucksvoller und pointierter vorzutragen: Quis enim est? qui insignium et tragicorum casuum imagines, non in theatro solum oculis perspicacibus, verum etiam animo attento contuens, non cohorrescat toto corpore? Quis? qui atrocia scelera atrocibus puniri poenis coram conspicatus, non ad virtutem et modestiam ac froenendas cupiditates sese suscitet? Quis? qui de multis oficiis commonefactus, quasi calcaribus quibusdam adhibitis, ad vitam recte et laudabiliter instituendam non exstimuletur? [ … ] Quocirca nequaquam vulgari illa opinione ducamur: oblectationis tantum, et plebeiae cuiusdam recreationis gratia in theatrum actiones sive Tragoediarum sive Comoediarum produci: sed multo magis, ut vivis veluti coloribus virtutum cultores et vitiorum
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Dazu unten bei Anm. 101–110. Vor allem David E. George, Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare, München 1972, S. 42–132. Manfred Fuhrmann ( Hg. ), Aristoteles, Poetik. Griechisch/deutsch, Stuttgart 1982, Nachwort S. 161–166; dort auch die Kritik an der seit Lessing üblichen Übersetzung von Phobos und Eleos mit Furcht und Mitleid. Philipp Melanchthon, Epistola de legendis Tragoediis et Comoediis, in: Opera omnia, hg. Carl Gottlieb Bretschneider und Heinrich Ernst Bindseil, 5 ( Corpus Reformatorum 5 ) Halle 1838, Sp. 567; vgl. George ( wie Anm. 73 ) S. 49–54.
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asseclae, et eorundem praemia ac poenae illustrentur: et ante oculos cuiusvis sortis hominibus proponantur. 76 Die Rezeption der Tragödiendefinition des Aristoteles in der frühen Neuzeit ist nirgendwo sonst so entschieden von der moraldidaktischen Zweckbindung des Theaters bestimmt wie in der Jesuitenpoetik, der daher die folgenden Aussagen entnommen sind: Der späte Theoretiker, Autor und Sammler des Jesuitentheaters Franciscus Lang ( 1654–1725 ) vermittelt in seiner ( Dissertatio de Actione Scenica ) ein überaus authentisches Bild der jesuitischen Dramenpoetik, weil er einerseits schon wie ein Literarhistoriker auf die 150jährige Theatertradition seines Ordens zurückblickt und dabei auch die Theorie seiner Vorgänger reflektiert und zum Teil zitiert, andererseits aber zukunftsorientiert um die Belebung und Bestandssicherung des Jesuitentheaters bemüht ist und dabei den moralisch-didaktischen Intentionen der Jesuiten verpflichtet bleibt. Die Lehre von den Wirkungen der Tragödie nach Aristoteles und seinen Rezipienten fasst Lang so zusammen: Si Aristotelem igitur, et antiquiores ejus asseclas sequamur, Tragoedia postulat inter caetera, ut per affectus misericordiae et terroris efficiatur similium perturbationum, quae malae in humanis mentibus oriuntur, purgatio, ut nimirum oculis subjiciendo gravissimas calamitates, in quas illustres viri errore lapsi potius, quam culpa sua incidere, misericordia et metus in nobis naturaliter excitetur; doceamur et ipse ferre praesentia, quae leviora sunt gravibus eorum malis, quorum miserescimus; horreamus et metuamus mala, quae vel immeritis, vel multo magis male meritis contingere possunt. 77 Den jesuitischen Theoretikern der Tragödie 78 ist bei allen Unterschieden in Einzelfragen gemeinsam, dass sie die sittliche Besserung des Menschen als Ziel des Trauerspiels verstehen, indem sie die Katharsis des Aristoteles moralisch umdeuten. Die moralische Wirkung auf den Zuschauer kann einerseits dadurch erfolgen, dass der Zuschauer durch Mitleid und Schrecken emotional beteiligt wird und durch tugendhafte Charaktere angesteckt, durch lasterhafte Charaktere und ihr Schicksal dagegen abgeschreckt wird. Eine Vervollkommnung des Zuschauers auf dem Weg über die Affektsteuerung kann aber auch darin gesehen werden, dass Affekte wie Furcht und Mitleid auf ein richtiges Maß gebracht und ein der sittlichen Qualität förderliches seelisches Gleichgewicht erzeugt wird. Nach Jakobus Pontanus ( 1542–1626 ), dem bedeutendsten Tragödientheoretiker der Jesuiten, der in der Aristotelesrezeption der Poetik 79 des Giovanni Antonio Viperano ( 1535–1610 ) folgt, geht es um die Befreiung von jenen Leidenschaften, aus denen der unglückliche Ausgang resultiert: Tragoedia est poesis virorum illustrium per agentes personas exprimens calamitates, ut misericordia et terrore animos ab iis 76
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Samuel Junius, Lucretia. Tragoedia nova, Straßburg 1599, fol. A2r–A3r; zitiert nach Janning ( wie Anm. 27 ) S. 138, Anm. 43. Franz Lang, Abhandlung über die Schauspielkunst. Dissertatio de Actione Scenica, München 1727, ND und Übers. hg. von Alexander Rudin, Bern – München 1975, p. 92. – Die einbändige Ausgabe hat eine doppelte Seitennumerierung; die Seitenangaben für den Nachdruck des lateinischen Textes werden hier mit , für die Übersetzung, den Kommentar und das Nachwort dagegen mit <S.> zitiert. Dazu Alfred Happ, Die Dramentheorie der Jesuiten. Ein Beitrag zur Geschichte der neueren Poetik, Diss. München 1922; Joseph Bielmann, Die Dramentheorie und Dramendichtung des Jakobus Pontanus S.J. ( 1542–1626 ), in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 3, 1928, S. 45–85; Hans-Jürgen Schings, Consolatio tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels, in: Deutsche Dramentheorien, hg. von Reinhold Grimm, 1, Frankfurt/M. 1971, S. 1–44; George ( wie Anm. 73 ) S. 75–84 ( Jacobus Pontanus ), S. 119–132 ( Jacob Masen ). Johannes Antonius Viperano, De poetica libri III, Antwerpen 1579.
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perturbationibus liberet, a quibus huismodi facinora tragica proficiscuntur. 80 Mit dem Zusatz a quibus huismodi facinora tragica proficiscuntur zu den aristotelischen Definitionen erfolgt bei Viperano und Pontanus eine Umdeutung der Katharsis zur moralischen Abschreckung 81. Der Zuschauer soll sich vor den Verwirrungen, Leidenschaften und Lastern hüten, als deren Folge der tragische Ausgang verstanden wird. Innerhalb der jesuitischen Aristotelesrezeption bestimmt die Wirkungsabsicht der correctio morum nicht nur die Deutung der Affekte, sondern auch weitere poetologische Regeln, vor allem die des ausschließlich zugelassenen traurigen Ausgangs der Tragödie. So wehrt Franciscus Lang eine aus Aristoteles abgeleitete normative Regelpoetik ab, weil sie die Breite der vom bisherigen Jesuitendrama genutzten didaktisch wertvollen Bühnenstoffe einengen, wenn nicht gar zerstören würde. Lang wirft die Frage auf, wie ernsthafte Schicksale hochgestellter Personen mit glücklichem Verlauf, die dem Publikum als exempla dienen können, in Gattungsdefinitionen von Tragödie und Komödie unterzubringen sind, welche die Poetik des Aristoteles in zu feste Regeln pressen wollen: Quid si enim Choragus personam quidem illustrem inducat, cujus tamen actiones tristem exitum, et miserabiles casus non involvant, sed fere continuo felicitatis cursu procedant ad finem? 82 Dafür werden verschiedene Beispiele angeführt, darunter die Legendenstoffe vom Hl. Josaphat 83 und vom Hl. Johannes Calybita 84. Bei beiden Heiligen fehlt die Bedingung des exitus tristis, und doch waren sie beliebte des Jesuitentheaters, u. a. auch Titelfiguren von Dramen Jakob Bidermanns, dessen Abweichungen von alten poetologischen Regeln Lang verteidigt 85, wobei er auf die bereits zitierte Apologie in der zu der postumen Ausgabe von dessen von 1666 86 zurückgreifen kann. Innerhalb dieser Argumentationszusammenhänge ist die Regulierung der Affekte doch eher nur eine Begleiterscheinung der nach Langs Auffassung auch von Aristoteles zum Endzweck ( finis ) erhobenen moralischen Wirkung, die vor allem durch das auf der Bühne gezeigte gute Beispiel erreicht wird: … saepius illustrium personarum actiones stabili felicitatis cursu deducit Choragus, et perturbatos tamen affectus, malosque hominum mores optimo exemplo coram exhibito corrigit ( quod Aristoteles pro fine posuit ). 87 Leitfaden der Diskussion und im Zweifelsfall übergeordnetes Kriterium der Bewertung ist die in der correctio morum bestehende Wirkungsabsicht. b. Das Muster des Terenz Die Werke der jüngeren antiken Komödie, namentlich des Terenz, waren als Schullektüre verbreitet, gehörten so zu den dominanten Faktoren für die Erwartungen
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Jacobi Pontani S. J. Poeticarum Institutionum libri III, Ingolstadt 1600, S. 108, zitiert nach Bielmann ( wie Anm. 78 ) S. 50. Vgl. George ( wie Anm. 73 ) S. 82 Lang ( wie Anm. 77 ) p. 81. Ebd. p. 84. – Josaphat ist in der Legendenüberlieferung ein indischer Prinz des 4. Jahrhunderts, der von Barlaam bekehrt und freiwillig vom Fürsten zum heiligen Einsiedler wird. Lang ( wie Anm. 77 ) p. 84. – Johannes Calybita verläßt seine Eltern und seine Braut, um in der Einsamkeit ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen; nach einiger Zeit in die Heimat zurückgekehrt, lebt er auch dort unerkannt als Bettler in einer Hütte in der Nähe seines Elternhauses. Ebd. p. 85–87. Vgl. Anm. 55. Lang ( wie Anm. 77 ) p. 83.
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an die Aufgaben des Theaters und gerieten daher selbstverständlich auch in die Diskussion über dessen Nutzen und erzieherische Wirksamkeit. Sie standen unbestritten überall im Rufe einer vorzüglichen Latinität und rhetorisch-literarischen Perfektion, waren aber durch inhaltliche Elemente, besonders durch als anstößig empfundene Motive der Erotik, einer ambivalenten Bewertung ausgesetzt. Martin Luther hat 1533 anlässlich der umstrittenen Inszenierung einer Terenzkomödie durch einen schlesischen Schulmeister die pädagogische Funktion der römischen Komödie nicht nur in der Übung der lateinischen Sprache gesehen ( erstlich daß sie sich üben in der lateinischen Sprache ), sondern mehr noch deren Nutzen und Wert für die moralisch-soziale Erziehung betont: … zum andern, daß in Comödien … die Leute unterrichtet und ein Iglicher seines Amts und Standes erinnert und vermahnet werde, was einem Knecht, Herrn, jungen Gesellen und Alten gebühre, wol anstehe, und was er thun soll. 88 Philipp Melanchthon betont in seiner <Epistola de legendis Tragoediis et Comoediis> 89, dass die an die antiken Tragödien zu stellenden Fragen nach dem Nutzen für die sprachlich-literarische und die moralische Bildung ( quam sint utiles ad mores regendos et ad eloquentiam ) 90 auch an die Komödien zu richten sind, und beurteilt die Lektüre von Plautus und Terenz unter beiden Gesichtspunkten, dem literarischen und dem moralischen, positiv, da der Leser sich sowohl hinsichtlich der lateinischen Sprache als auch hinsichtlich des moralischen Verhaltens der Menschen belehren lassen kann: … has [ sc. Plauti et Terentii fabulas ] saepius legamus, cum ut sermonem Latinum inde hauriamus, tum vero ut morum et voluntatum dissimilitudines in personis consideremus. Auch aus der Darstellung eines schändlichen Verhaltens lässt sich ein Gewinn ziehen: Horum imagines in Plauto et Terentio propositas, diligenter intueatur iuventus, ut agnoscere, odisse, et fugere morosos, rixatores, sycophantas, ardeliones, arrogantes assentatores, quorum plenae sunt omnes civitates discat … Ita erit dulcior lectio Comoediarum, cum vitam hominum contemplabimur, et quorum pingantur mores, animadvertemus. 91 Die didaktische Leistung, die von den antiken Komödien erwartet werden kann, sieht Melanchthon also in der Verbesserung der Menschenkenntnis und im Zugewinn der Urteilsfähigkeit hinsichtlich der Probleme des menschlichen Lebens. Ganz anders argumentierte etwa ein Jahrzehnt vorher die Vorrede zum des Christian Ischyrius 92, einer 1536 in Köln gedruckten lateinischen Bearbeitung der niederländischen <Jedermann-Moralität> 93 aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. Die 88
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D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Tischreden, 1, Weimar 1912, Nr. 867, S. 431; zu dieser positiven Bewertung der klassischen lateinischen Komödie im Unterschied zur späteren kritischeren Sicht der Jesuiten vgl. Fidel Rädle, Das Jesuitentheater in der Pflicht der Gegenreformation, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 8, 1979, S. 167–199, bes. S. 179; zur zitierten Stelle vgl. auch Thomas I. Bacon, Martin Luther and the Drama ( Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 25 ) Amsterdam 1976, S. 58 f. Zum Nutzen des Theaters nach den Terenz-Vorreden Melanchthons s. Bernd Roling, Exemplarische Erkenntnis: Erziehung durch Literatur im Werk Philipp Melanchthons, in: Theater des Mittelalters ( wie Anm. 36 ) S. 289–365, bes. S. 346–353. Melanchthon ( wie Anm. 75 ) Sp. 569. Ebd. Sp. 571 f. Christian Ischyrius, Homulus, hg. von Alphonse Roersch, Gent 1903; vgl. Jean-Marie Valentin, Die Moralität im 16. Jahrhundert, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 9, 1980, S. 769–788. Peter van Diest ( 1454–1507 ), Den Spieghel der Salicheit van Elckerlijc, enstanden vor 1495, erste nachweisbare Aufführung Antwerpen 1496.
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gesamte Vorrede besteht aus der Abgrenzung des eigenen Werkes von den Komödien des Plautus und Terenz, deren literarische Qualität zwar eingeräumt wird, die aber wegen ihres Inhaltes abgelehnt werden. Habes candide lector, comoediam non minus lepidam quam piam, quae tametsi Terentij venustatem aut Plauti non redoleat eloquentiam, tamen Christiani hominis vitam, mundique huius luxus fugacitatem, tanquam ex quodam perpendiculo depingit et aestimat. In ea siquidem non turpes amorum illecebras, non vitae infamem luxum, non denique amandi conciliationes, vt in Terentij Plautinisque comoedijs deprehendes. Bei allen Vorzügen der Latinität und Redekunst lauert in den antiken Dichtungen unter lieblichen Kräutern eine giftige Schlange: latet sub decoris herbis frigidus & noxius anguis, nempe amoris aestus. Der Endzweck ( scopus, finis ) der antiken Komödien liegt nach Christian Ischyrius im Liebesvollzug ( ad conficiendas nuptias ), solchen nuptiae carnales setzt sein eigenes Spiel nuptiae spiritales et aeternae entgegen, nämlich die Vereinigung der Seele mit dem Bräutigam Christus, auf die der Inhalt des , der als ars bene moriendi zu verstehen ist, den Zuschauer oder Leser vorbereitet 94. Differenzierter sind die Urteile über die Komödien des Terenz in den Vorreden, mit denen Nicodemus Frischlin ( 1547–1590 ) das Selbstverständnis seiner eigenen Werke erläutert. Im Widmungsbrief zur Editio princeps seines <Julius redivivus> von 1584 an den Magistrat der Stadt Straßburg stellt sich Frischlin einem Terentius profanus entgegen, dessen Werke mit der Begründung verworfen werden, die Jugend lerne aus ihnen artes meretriciae. Als Autor von Comoediae novae et sacrae habe er mit dem Entwurf einer noch nicht ganz fertiggestellten Josephs-Trilogie den <Eunuchus>, die und den gleichsam im biblisch-christlichen Bereich neu geschaffen und darüberhinaus mit einem ebenfalls noch unvollendeten Bibeldrama zum Buch Ruth die ersetzt. 95 Seine versteht Frischlin, wie die Vorrede von 1585 zeigt, unter dem Aspekt der Moraldidaxe als christliche Ehelehre, die er von der Darstellung der Liebesbeziehung in den Komödien des Plautus und Terenz abgrenzt. Was die diesbezüglichen Inhalte seiner Komödien betrifft, wird Terenz hier getadelt, auch wenn er in der negativen Beurteilung von Plautus noch übertroffen wird: Quare nullam meretur excusationem Terentius: quod honestiores facit meretrices et scortatores, quam Plautus: et quod colore matrimonii amores pingit meretricios. Longe honestiores sunt nuptiae, quas Spiritus sanctus in sua Ecclesia copulat. [ … ] Quod cum ita sit, neminem ego fore arbitror, qui mihi vertat vitio: quod ego in meis comoediis, Hebraeoreum exemplo, spoliavi Terentium et Plautum sua phrasi: eamque in meliorem et sanctiorem usum converti. Nam sicut Hebraei Aegyptios auro spoliarent: idque in terram Cananaeam secum abstulerunt: ut aurea vasa ex illo conflarent, in usum divini cultus: ita nos Christiani Ethnicis sua dona, quae Deus olim illis concesserat: et quibus illi nequiter abusi fuerunt: rursum auferre, atque in pium usum conferre debemus. 96 Die Sprache und literarische Form, die Frischlin anerkennt und von der antiken Komödie übernimmt, wird mit dem Gold verglichen, das die Israeliten nach Exod 11, 2 aus Ägypten mitnehmen, um daraus ihre Kultgefäße herzustellen, – ein Bild für die Nutzung der heidnischen Kultur durch das Christentum 97. Was die Inhalte ( Liebesbeziehungen, Eheverständnis ) und die mora94 95 96 97
Ischyrius, Homulus ( wie Anm. 92 ) S. 1 f. Nicodemus Frischlin, Iulius redivivus ( wie Anm. 45 ) S. 630. Ders., Rebecca ( wie Anm. 46 ) S. 275. Vgl. Rädle ( wie Anm. 47 ) S. 292.
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lische Wirkung der Komödien angeht, so bleibt es auch in dieser Vorrede bei der Ablehnung des Terenz. In der späteren Vorrede zur Gesamtausgabe seiner Dramen von 1589 zitiert Frischlin seine Ausführungen aus der Editio princeps des <Julius redivivus> weithin wörtlich, insbesondere die Erläuterungen zu den drei Josephs-Dramen und zur historia Ruth, die er wiederum als Comoediae novae et sacrae Komödien des Terenz gegenüberstellt. Er mildert aber im Eingang der Vorrede den früheren Text ab, indem er den Vorwurf der Jugendverführung durch artes meretriciae nicht wiederholt und – wichtiger noch – ausdrücklich betont, er wolle den Terentius profanus nicht aus der Schule verdrängen, sondern nur durch die eigenen Werke mit christlich-biblischen Stoffen ergänzen ( … non quidem ut illum e scholis exterminem, sed ut mea cum illo coniungam ) 98. Die Debatte über die Eignung der Komödien des Plautus und Terenz für die christliche Bühne und als Lektüre der Jugend sowie über die Bewertung ihrer Inhalte unter dem Aspekt moraldidaktischer Zweckbindungen kann hier nicht weiter verfolgt werden. Frischlins zuletzt positivere Stellungnahme ist keineswegs das letzte Wort, wie zum Beispiel zur Jahrhundertwende die Programmatik bezeugt, mit der der niederländische Dramenautor Cornelius Schonaeus sein umfangreiches Werk präsentiert. Er will die Werke des Terenz nicht nur durch eigene ergänzen, sondern will den „jugendgefährdenden Klassiker“ 99 durch ein christlich ausgerichtetes Komödiencorpus ersetzen. Zu diesem Zweck lässt er seine gegen Ende des Jahrhunderts, meist mit dem Untertitel oder , verfassten 17 Dramen kurz nach 1600 unter dem Titel in drei Bänden drucken 100. Einer ähnlichen Tendenz folgen auch die Jesuiten, auf deren Bühne die Komödie des Terenz in unverwandelter Form keinen rechten Platz mehr findet. c. Bildlichkeit und sinnliche Wahrnehmung Autoren und Rezipienten des frühneuzeitlichen Dramas, das wegen der Art der Zuwendung zum Publikum in der Forschung auch als „Vorläufer der modernen Massenmedien“ 101 vorgestellt wurde, begründen die didaktische Potenz des Theaters mit der sinnlichen Wahrnehmung, durch die der Zuschauer das Geschehen als auf der Bühne sichtbar vollzogenes Leben erfährt. Die der Bühne ( vivae imagines, viva exempla, viva simulacra, vivi colores ) werden zu einem Schlagwort, das die größere erzieherische Wirkung ausdrücken soll, mit der die Zuschauer von Theateraufführungen im Vergleich zu Hörern und Lesern religiöser oder dichterischer Texte eines literarischen Werkes zu beeinflussen sind. Mit den Aufführungen ihrer Komödien und Tragödien, so sagt Konrad Celtis in seiner von 1486, wollen die Dramenautoren die Zuschauer für die Tugend begeistern und von den Lastern abschrecken und so erreichen, dass besonders die jungen Leute ihre sozialen Pflichten aus lebendigen Vorbildern erlernen ( vivis exemplis accipere ) 102. Celtis wieder98 99 100
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Frischlin, Widmungen und Vorrede zur Ausgabe letzter Hand ( wie Anm. 47 ) S. 283. Rädle ( wie Anm. 47 ) S. 293. Cornelius Schonaeus, Terentius Christianus, Köln, 1, 1604; Bd. 2, 1602; Bd. 3 ( unter dem Titel ), 1603. Elida Maria Szarota, Das Jesuitendrama als Vorläufer der modernen Massenmedien, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 4, 1975, S. 129–143. Vgl. Dietl ( wie Anm. 24 ) S. 37; s. auch unten bei Anm. 135.
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holt diese Aussage nahezu wörtlich in seiner Ingolstädter Antrittsvorlesung von 1492 und bezeichnet hier die der Bühne als viva simulacra 103. In der <Epistula Nuncupatoria> zu seiner Lucretia-Tragödie von 1599 nimmt Samuel Junius verschiedene Künste unter dem Aspekt ihrer erzieherischen Wirkung in den Blick und hält das Theaterspiel für besonders wertvoll, weil es den Zweck verfolgt, ut vivis veluti coloribus virtutum cultores et vitiorum asseclae, et eorundem praemia ac poenae illustrentur et ante oculos cuiusvis sortis hominibus proponantur. Als Begründung fügt er hinzu: Nam quemadmodum in caeteris artibus plurimum valet illa, quae in oculis incurrit demonstratio. 104 Unter den Dramenautoren der Jesuiten gebraucht Nicolaus Avancini in der Vorrede seiner die Argumentation mit dem lebendigen Bild, um die stärkere Wirksamkeit des auf der Bühne sichtbaren Geschehens gegenüber der abstrakten Vorstellung, die sich bei der Lektüre einstellt, zu verdeutlichen: … quae in scena aguntur, viva sunt et animata; quae leguntur, mera ossa et cadavera. 105 1717, in der Spätphase des Jesuitentheaters, erläutert der Münchner Rhetorikprofessor Franciscus Lang sein Konzept des Meditationstheaters und begründet dabei den Vorzug der Betrachtung einer Bühnenaufführung gegenüber der stillen Meditation: … quia, quae tacitá mente considerari à solitarijs poterant, ea vivis rerum, & personarum imaginibus, per sermonem, actionem & cantum spectantium sensibus proponebantur, efficaciùs inde ad animos itura cum motu. 106 Die Beschäftigung eines Theologen mit dem Verfassen von Dramen verteidigt Thomas Naogeorg in der Vorrede zu seiner Judas-Tragödie mit dem Argument, dass die optimale religiöse und moralische Wirksamkeit von einem Medium zu erwarten ist, das wie das Theater den Weg zum Publikum über die Augen sucht: Si Theologiae officium est docere pietatem verumque Dei cultum, et vitam Deo placentem bonaque opera tradere, atque e regione reprehendere impietatem, falsosque cultus vitamque pravam, haec omnia nostris insunt Tragoediis, et efficacius quodammodo docentur. Nam: Segnius irritant animos demissa per aurem. Quam quae sunt oculis subiecta fidelibus, ut Flaccus ait. 107 Für das Jesuitentheater bezeugen, wie Barbara Bauer gezeigt hat, Spieltexte, Periochen und Aufführungsnachrichten, „dass seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Bilder, Embleme, Umzüge, Tanz und Musik zur Verstärkung der im Text vermittelten moralpädagogischen Botschaft eingesetzt wurden“. Die Theaterpraxis ist von einer „Poetik der Synästhesie“ bestimmt, die sich zunächst nur werkimmanent, später aber auch als „explizite Theorie“ der Jesuitenpoetik erfassen lässt 108: Martin Delrio ver-
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Vgl. Roloff ( wie Anm. 24 ) S. 470. Samuel Junius, Lucretia ( wie Anm. 76 ) Epistula Nuncupatoria, fol. A2r–A3r. Poesis Dramatica Nicolai Avancini e Societate Jesu, Pars I, Köln 1675, Vorrede ; vgl. Fidel Rädle, Lateinisches Theater für das Volk. Zum Problem des frühen Jesuitendramas, in: Wolfgang Raible ( Hg. ), Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema <Mündlichkeit und Schriftlichkeit> ( ScriptOralia 6 ) Tübingen 1988, S. 133–148, S. 139. Franciscus Lang, Theatrum solitudinis asceticae, München 1717, Vorrede , zitiert nach Bauer ( wie Anm. 13 ) S. 230. Thomas Naogeorg, Iudas Iscariotes, in: Ders., Sämtliche Werke IV, 1: Dramen V und VI, hg. von HansGert Roloff ( Ausgaben deutscher Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts 122 ) Berlin – New York 1987, S. 272, Z. 13–21, mit Zitat von Horaz, Ars poetica 180 f. Bauer ( wie Anm. 13 ) S. 200 f.
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gleicht in den zu seiner Edition der Tragödien Senecas von 1593 die Epiker, die zu den Ohren sprechen, mit den Tragödiendichtern, die sich an die Augen der Zuschauer wenden und auf diesem Wege größeren Einfluss auf das Gemüt des Menschen haben: Tragici per oculos etiam quasi vi, in animos spectantium viam aperiunt. minimum movere solent, quae per aures tantùm intrant, plurimum quae sunt oculis subiecta fidelibus. 109 Im 17. Jahrhundert prägt diese Überzeugung bei Jacob Masen in Deutschland und Claude-François Menestrier in Frankreich auch die Theorie des emblematischen Sinnbilds und befördert so die Aufnahme von allegorisch-emblematischen Sonderszenen und Zwischenspielen in die Aktionen des Jesuitentheaters. Menestrier hat die Moraldidaxe im Blick, wenn er betont, „Bilder seien zur moralischen Unterweisung besser geeignet als Worte, weil sie eine besonders enge Beziehung zur Einbildungskraft hätten und sich leichter dem Gedächtnis einprägten als Worte“ 110. d. Das Drama als Predigt Der Vergleich von Drama und Predigt 111 sowie deren Gemeinsamkeit hinsichtlich der Funktion gehören zu den Argumenten, mit denen Martin Luther seine positive Einstellung zum Theater begründet. Am deutlichsten ist das in der ausgesprochen, das als biblische Dichtung mit der Möglichkeit der Aufführung vorgestellt wird: Und mag sein, das sie solch Geticht gespielet haben, wie man bey uns die Passio spielet, und ander heiligen geschicht, Damit sie jr volck und die Jugent lereten, als inn einem gemeinen bilde odder spiel, Gott vertrawen, from sein, und alle hülff und trost von Gott hoffen, inn allen nöten widder alle Feinde etc. Darumb ists ein fein, gut, heilig, nützlich Buch, uns Christen wol zu lesen, Denn die wort so die personen hie reden, sol man verstehen, als rede sie ein geistlicher heiliger Poet odder Prophet, aus dem Heiligen geist, der solche personen furstellet in seinem spiel, und durch sie uns predigt. 112 Thomas Naogeorg, lateinischer Dramatiker im Dienste reformatorischer Interessen, verstand seine Schauspiele als speziell für die Jugend geeigneten Predigtersatz. Wer auf die Erziehung der Menschen setzt und eine bessere Welt erhofft, so gibt er 1540 anlässlich seines <Mercator> in der Widmungsvorrede an Herzog Heinrich von Sachsen zu bedenken, muss sich an die Jugend wenden; diese aber lässt sich durch die unterhaltende Präsentationsform des Theaters leichter lenken als durch die strengere Unterweisung der Predigt: Nescio enim quo pacto puerilis aetas à contionibus et severis institutis abhorrere videtur, faciliusque ludicris rebus quàm seriosis ducitur … At plurimum certe refert, à teneris recte institui, sanisque informari opinionibus, quocunque id tandem fieri possit modo. Quippe si 109
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Martinus Antonius Delrius SJ, Syntagma tragoediae latinae, in tres partes distinctum, Antwerpen 1593, Pars I, S. 6; vgl. Bauer ( wie Anm. 13 ) S. 207. Ebd. S. 221, mit Bezug auf Claude-François Menestrier, L’art des emblèmes, Paris 1684, ND hg. von Karl Möseneder, Mittenwald 1981, S. 211. Grundlegend ( insbesondere für das Jesuitentheater, aber auch für das protestantische Bibeldrama und das der Reformatoren ) ist der Beitrag von Fidel Rädle, Theater als Predigt. Formen religiöser Unterweisung in lateinischen Dramen der Reformation und Gegenreformation, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16, 1997, S. 41–60. Zum Verhältnis von Predigt und Drama in der Jesuitenliteratur und in der deutschen Barockliteratur s. Urs Herzog, Geistliche Wohlredenheit. Die katholische Barockpredigt, München 1991, bes. S. 58–80 ( Kapitel „Predigt – Drama, Schauspiel“ ). Zur predigthaften Funktion der Moralitäten s. Werner Helmich, Die Allegorie im französischen Theater des 15. und 16. Jahrhunderts, 1, Das religiöse Theater ( Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 156 ) Tübingen 1976, Kapitel „Die didaktische Intention“, S. 239–258. Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe ( wie Anm. 88 ) 12, S. 6; vgl. Rädle ( wie Anm. 111 ) S. 51.
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qua mundi melioris spes est, eam iuventus probè instituta deinceps exhibeat necessum est. 113 Die Nähe von Drama und Predigt hinsichtlich der Funktion und Wirkung erleichtert es den Pfarrern und Theologen, den häufigsten Verfassern von Bibeldramen, sich mit ihrer Rolle als Theaterdichter zu identifizieren: In der Vorrede zu seinem <Judas Iscariotes> setzt sich Naogeorg 1552 mit dem Vorwurf auseinander, das Verfassen von Tragödien sei seines geistlichen Amtes unwürdig: Cur autem dedeceat professionem meam? Si Theologiae officium est docere pietatem verumque Dei cultum, et vitam Deo placentem bonaque opera tradere, atque e regione reprehendere impietatem, falsosque cultus vitamque pravam, haec omnia quoque nostris insunt Tragoediis, et efficacius quodammodo docentur. 114 Vielleicht hat Naogeorg die Vorrede des reformierten Zürcher Theologen Rudolf Gwalther zu dessen Bibeldrama von 1549 gekannt, die – wie oben bereits gesagt wurde 115 – ganz von der Argumentation mit den Berufspflichten des Geistlichen und den Aufgaben eines Erziehers im Auftrag der Kirche geprägt ist. Vor allem dem Jesuitendrama hat die Forschung aufgrund seiner Inhalte und Darstellungsweisen einen „didaktisch-demonstrativen“ Habitus zugeordnet, der eine Funktionszuweisung zur Predigt, die zum Teil schon von den Jesuiten selbst vorgenommen wurde, immer wieder nahelegte: „Die rhetorische Aufmachung und das fluide Humanistenlatein können schließlich nicht über die Hauptzwecke der Autoren hinwegtäuschen. Es handelte sich nämlich der Intention nach um dramatische Predigten, die den traditionellen Predigten aus eben jenen Wirksamkeitsgründen vorgezogen wurden, die sich bei den protestantischen und katholischen, d. h. in diesem Falle nichtjesuitischen, Dramatikern der dreißiger–vierziger Jahre des 16. Jahrhunderts durchgesetzt hatten.“ 116 Über das Jesuitendrama sagt 1610 der Tiroler Arzt Hippolyt Guarinoni – bezeichnenderweise bei der Beschreibung von Ergötzligkeiten des Gemühts, die durch die Augen und Ohren zugleich aufgenommen werden: … so ist wol zu dieser zeit in der gantzen weiten und breiten welt Kein Ergötzligkeit uber diese / in welcher mancher Gottloser / verkehrter / verführter Mensch allein durch ein solches Schawspiel / darin man entweder die belohnung / so Gott den frommen / oder die erschröcklich straff / so der Teufel den Gottlosen geben wirdt / meistens für die augen stellt / ehist bewegt / und in ein bessers und Gottseligers leben zutretten entzündt wirdt / welcher sonsten durch sein gantzes leben / durch kein Predig noch andere mittel hette mögen erweicht werden. 117 Die Wirkung der Schauspiele Jakob Bidermanns wird von dem Verfasser der zur posthumen Ausgabe der von 1666 in diesem Sinne als religiöse Katharsis und moralische Besserung beschrieben: die erreichte moralische Läuterung ist bei dem meisten Zuschauern von Bidermanns Schauspielen größer als üblicherweise bei den Hörern von Predigten ( ut spectatorum plerique ab his Comoedijs, quam a Concionibus aliorum emendiatores redierint domum ) 118. 113
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Thomas Naogeorg, Mercator, in: Ders., Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, 2, Dramen II, Berlin – New York 1982, S. 8; vgl. Rädle ( wie Anm. 111 ) S. 52. Thomas Naogeorg, Judas Iscariotes ( wie Anm. 107 ) S. 272. Bei Anm. 38 u. 39. Valentin, Jesuitendrama ( wie Anm. 25 ) S. 79. Hippolyt Guarinoni, Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts, Ingolstadt 1610, S. 215, zitiert nach Rädle ( wie Anm. 88 ) S. 198; vgl. auch Peter-Paul Lenhard, Religiöse Weltanschauung und Didaktik im Jesuitendrama. Interpretationen zu den Schauspielen Jakob Bidermanns, Frankfurt/M. – Bern 1976, S. 447. Vgl. oben bei Anm. 62.
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e. Transfer in die Volkssprache Auch wenn hier hauptsächlich die Diskurse der Träger und Autoren des lateinischen Theaters verfolgt werden sollen, ist noch ein Blick auf die Formulierung und Diskussion der didaktischen Ziele in volksprachigen Dramen und ihren Paratexten zu werfen. Aus der Sicht der zunächst in lateinischer Sprache verfassten Spieltexte hat die volkssprachige Übersetzung und Kommentierung die Aufgabe, eine Brücke zum des Lateinischen unkundigen Zuschauer zu bauen. In dieser Funktion begegnet sie uns nicht nur im 17. und 18. Jahrhundert in den Periochen des Jesuitentheaters, sondern vorher und gleichzeitig auch im Bereich des protestantischen Bibeldramas. Die Jeremiastragödie des Thomas Naogeorg von 1551, ein Lehrstück über die Folgen der Missachtung von Lehre und Predigt, wurde im Juli 1603 in lateinischer Sprache in Straßburg aufgeführt und für diese Aufführung durch „Teutsche Argumenta … Sampt Einer Vorred und Beschluss / daraus der Inhalt vnd die Lehren derselbigen Tragoedj abzunemmen“ 119 ergänzt. Nachdem bereits der Versprolog und die ebenfalls in Versen vorgetragenen Inhaltsangaben für die fünf Akte das intendierte Verständnis dem Publikum erläutert haben, wendet sich am Ende des Spiels der Epilog noch einmal an die Zuschauer mit der Bitte: Demnach durch Gottes Hilff und Gnad/ Diß Action ihr Endschafft hat Erreicht/ wir billich zeigen an/ Was wir dabey zu mercken han/ An Trost/ Warnung/ an Straff und Lehr/ An Erbarkeit/ an Tugend mehr/ Bitten in Underthänigkeit/ Uns noch zu hörn ein kleine Zeit. 120 Die vorausgegangenen und noch folgenden Belehrungen haben hier angesichts der Konfrontation der Zuschauer mit der Aufführung in lateinischer Sprache eine besondere Legitimation und Notwendigkeit. Eine andere Situation liegt vor, wenn der gesamte Spieltext bereits in deutscher Übersetzung dargeboten wird und dennoch zusätzlich mit kommentierenden Paratexten ausgestattet wird. Dies geschieht in der von Johann Mercurius Morsheymer besorgten deutschen Fassung von Naogeorgs Judas-Tragödie 121. Im Druck dieser Übersetzung von 1556 wird jeder Szene ein Argumentum vorangestellt, das dem Leser den theologischen Hintergrund 122 und die intendierte Belehrung des Publikums ausführlich erläutert. So wird zum Beispiel die
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Thomas Naogeorg, Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, 4, 2: Dramen V und VI ( Ausgaben deutscher Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts 123 ) Berlin – New York 1987, S. 837–850. Ebd. S. 848, V. 269–276. Thomas Naogeorg, Judas Ischariothes, übersetzt von Johann Mercurius Morsheymer, hg. von HansGert Roloff, in: Naogeorg, Sämtliche Werke, 4,2 ( wie Anm. 119 ) S. 642–836. Dazu Wolfram Washof, Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit ( Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, 14 ) Münster 2007, S. 453–459.
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Szene II,2, in der Judas den Zugang zum Hof des Hohenpriesters Caiphas sucht, als Exemplum ( bildnuß, fürbild ) des Hoflebens gedeutet und auf die Verfehlungen weltlicher und geistlicher Obrigkeiten der zeitgenössischen Christenheit bezogen 123. Nikodemus Frischlin äußert sich zur moralischen Nutzanwendung des Theaters am ausführlichsten in seinem Bibeldrama <Susanna>, wo im szenischen Prolog die Frage erörtert wird, ob auf der Bühne in erzieherischer Absicht lasterhaftes menschliches Verhalten gezeigt werden dürfe. Wie oben bereits erwähnt 124, wird diese Diskussion in der deutschen Version der <Susanna> von Jakob Frischlin in einer erweiterten Form aufgenommen und fortgeführt. Denn hier tritt zu dem Dramentext ein langer Prosaepilog, der ausschließlich aus der Darlegung erzieherischer Absichten besteht und von der traditionellen Grundsatzerklärung zur Zweckbindung des Theaters eingeleitet wird: Dieweil aber vor alters alle fürneme Tragoedien und Comoedien aus denen ursachen geschrieben und agieret worden sein / das dadurch den zusehern und zuhörern für die Augen / als im Spiegel die Tugent und Laster / den Tugenden zuvolgen / die Laster aber zu meiden / gestellet worden. Also ist auch diese Comoedia demselben löblichen gebrauch zuvolge / derhalben verfertiget und agieret worden / das man dadurch den jetzigen lauff und gebrauch der Welt gleich als in einem Spiegel möchte abmhalen … 125 In der folgenden Detailanalyse werden dann alle Tugenden und Laster gleichsam in ein System gebracht, indem die Verhaltensweisen, die man in der <Susanna> dargestellt findet, vom Guten zum Bösen fortschreitend aufgezählt und anhand der Spielfiguren und Aktionen erläutert werden. So kommen nicht nur Keuschheit und Unkeuschheit zur Sprache, sondern auch alle möglichen anderen Bereiche der Moral und der sozialen Werte, wie das Verhalten von Ehe- und Jungfrauen, der Umgang von Eltern und Kindern, Pflichten des Berufes und Standes, um nur die wichtigsten Dinge zu nennen. Die hier und in vergleichbaren Fällen feststellbare Expansion von Erklärungen zur Moraldidaxe darf jedoch nicht zu der vereinfachenden These verleiten, dass die volkssprachigen Bearbeitungen hauptsächlich die Sache der Moral vertreten, nachdem die lateinischen Vorlagen mehr der sprachlichen und literarischen Bildung gedient haben. Dass die Verhältnisse komplizierter sind, zeigt der gesamte Bereich des Jesuitentheaters, dessen Träger in Theorie und Praxis den größten Wert auf die Moralvermittlung legen, aber dennoch an der lateinischen Sprache festhalten. Wie genau man auch bei den hier herangezogenen lateinischen und deutschen Versionen der Dramen Frischlins hinsehen muss, hat Lothar Mundt mustergültig anhand der Übersetzungen der nachgewiesen: Jacob Frischlin bewegt sich im Widmungsbrief zu seiner deutschen von 1589 ganz im Rahmen der zeitgenössischen Didaktik des Literatur- und Lateinunterrichts und funktionalisiert seine 123
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Judas Ischariothes ( wie Anm. 121 ) S. 696 f.: Auß dieser Scena lernen wir / das nit allein in geringen Personen / die kein sonderlich ansehens haben vor den leüten / als hie Judas fürgestelt wirt / sonder auch in hohen Emptern und ständen sich am aller meinsten solch mißhandlung und unrùw in eins jeden berùff zutregt / wie in einem Spiel fürgestelt ein bildnuß ist / und das es nit allein mit thùn / das man nit thùn solt / sonder auch mit underlassen / das man nach Götlichem befelch thùn solt wider die gewissen und willen Gottes gefochten und gehandelt wirt / Ist also diese Scena in Summa ein fürbild des hoff leben / Cantzeley / Rechte und Gericht / und Regiment grosser Herrn / und sonderlich grosser Prelaten / die mit weltlicher Oberkeit / und allen denen die ihnen zugethan sein / allezeit wider Christum und sein Kirchen fechten / Zù disem Gotlosen hauffen finden sich auch die falsche Christen / welcher Exempel hie Judas ist. Bei Anm. 54. Nikodemus Frischlin, Susanna, Deutsche Übersetzung von Jakob Frischlin ( wie Anm. 52 ) S. 502.
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Übersetzung für „das Exponieren des lateinischen Textes“ 126, während Johannes Orsaeus, Schulrektor in Stadthagen, und Christian Schön, Schulmeister in Jessen bei Wittenberg, mit ihren -Fassungen von 1599 und 1603 „das Interesse an der moralischen und religiösen Belehrung des “ verfolgen 127. Dennoch ist es aber die deutsche Fassung aus der Feder des Lateinpädagogen, für die im Untertitel des Druckes mit der Tauglichkeit für die moralische Erbauung breiter Volksschichten geworben wird: Allen frommen Christen / Insonderheit aber Gottseligen und Tugendtliebenden Matronen und Jungfrawen / zu sonderlichem Gefallen: Zucht / Ehrbarkeit und Tugendt darauß zu lehrnen / in liebliche Teutsche Reimen transferiert und versetzet. 128 2. finis/scopus: Ideale und Werte der Moraldidaxe a. Die Einheit von sprachlich-literarischer und moralischer Bildung Im szenischen Prolog der definiert der Prologus, worin der Autor Nikodemus Frischlin den Hauptzweck ( finis, scopus ) des Schultheaters sieht: … vt Iuventus in scholis se exerceat; Et memoriam augeat; seque istis initijis Ad res maiores praeparat; & facundiam Imprimis Romanae hauriat eloquentiae. 129 Die Beherrschung der lateinischen Sprache und der von der römischen Literatur überlieferten Redekunst ist neben der confirmatio morum das am häufigsten benannte didaktische Ziel, und zwar sowohl für die passive Rezeption durch Leser und Zuschauer wie auch für die aktive Beteiligung als Schauspieler. Philipp Melanchthon sagt in der <Epistola de legendis Tragoediis et Comoediis> über den Nutzen, den die Schüler aus der Lektüre der antiken Tragödien ziehen können: Quare Tragoediarum lectionem valde utilem adolescentibus esse non dubium est, cum ad commonefaciendos animos de multis vitae officiis et de frenandis immoderatis cupiditatibus, tum vero ad eloquentiam. 130 Nikodemus Frischlin sieht in der Vorrede zu seiner Dido-Tragödie von 1581 seinen für das Publikum in der doppelten, d. h. sprachlich-literarischen und moralischen Unterweisung: Nam meos auditores & amo & diligo: vt qui non modò illorum linguas eleganti oratione, ex Caesaris & Virgilij libris, sed etiam vitam et mores eorundem, propositis exemplis virtutum ex ijsdem, informare studeo. 131 Die beiden Zielsetzungen, die in den meisten Zeugnissen nur aneinandergereiht werden ( wie hier bei Melanchthon und Frischlin durch den Gebrauch von cum – tum 126
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Lothar Mundt, Fürs Gymnasium und für tugendliebende Matronen und Jungfrauen. Zu fünf zeitgenössischen Übersetzungen von Nicodemus Frischlins Rebecca, in: Bodo Guthmüller ( Hg. ), Latein und Nationalsprachen in der Renaissance ( Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 17 ) Wiesbaden 1998, S. 259–285, S. 265. Ebd. S. 283. Nikodemus Frischlin, Rebecca. Deutsche Übersetzung von Jakob Frischlin ( wie Anm. 50 ) S. 3; vgl. Mundt ( wie Anm. 126 ) S. 271. Nicodemus Frischlin, Helvetiogermani ( wie Anm. 41 ) S. 380. Melanchthon ( wie Anm. 75 ) Sp. 568; zu Melanchthons Konzeption der Erziehung durch Literatur s. Roling ( wie Anm. 89 ). Nicodemus Frischlin, Dido ( wie Anm. 41 ) S. 248.
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bzw. non modo – sed etiam ), sind als Einheit vorzustellen, die den Kern des humanistischen Verständnisses von der utilitas sprachlich-literarischer Bildung ausmacht und die Auffassung von der Funktion des Theaters im 16. und 17. Jahrhundert entscheidend bestimmt. Es ist kennzeichnend für die Bewertung der Latinität und des sprachlichrhetorischen Unterrichts, dass die Pädagogik des Humanismus „sprachliche Souveränität und den Sinn für die symbolische Kraft der rednerischen und poetischen Eleganz immer mit den Themen der moralischen Verhaltensreflexion verknüpfte“ 132. Die im Abendland seit der Antike verbreitete, vor allem durch die Cicero-Rezeption zum Allgemeingut gewordene Auffassung, moralische Qualität könne sich nur auf der Basis geistiger Bildung entwickeln, erhielt im katholischen Raum nicht nur durch die Diskurse der Humanisten, sondern auch durch die „geistige und moralische Verelendung des Klerus“, „eine Hauptursache für den Niedergang der alten Kirche“, eine Aktualität, die sich auf die Pädagogik der Jesuiten auswirkt: „Der humanistische Krieg gegen die Ignoranz dient dem Wohle der Religion – dies war die unbeirrbare Überzeugung auch der Jesuiten. Viele ihrer Dramen … propagieren das Studium als die Voraussetzung – um nicht zu sagen: als Garantie – für ein christlich verantwortetes Leben.“ 133 Fidel Rädle hat dies jüngst in seinem Beitrag „Gegenreformatorischer Humanismus: die Schul- und Theaterkultur der Jesuiten“ an Schauspielen des Ordens dargestellt, welche die humanistische Idee der Einheit von sprachlich-literarischer und moralischer Bildung thematisieren und propagieren 134. b. Politische Erziehung In seiner von 1486 sagt Konrad Celtis in einer durchaus traditionellen Argumentation, das Theater begeistere sein Publikum für die Tugend und halte insbesondere die Jugend vom Laster fern. Die Pointe, die dem plakativen und toposartigen Lob des Theaters hier eigen ist, liegt in der Verbindung, die Celtis zur rhetorischen Kultur und zur Staatslenkung der Römer herstellt: Summa profecto res illa erat et pene divina in administranda eorum republica ut sapientie summam eloquenciam qua urbs et orbis regebatur coniungere studuerint: hinc publica illa comediarum tragediarumque spectacula: Quibus sublimi persuasione remotisque invencionibus poetae spectancium animos ad virtutes inflammabant et pubescentem iam indolem a viciis deterrebant: ut quid patrie: quid amicis: parentibus: hospitalibusque deberent: vivis exemplis acciperent. 135 Dieselbe Überzeugung, nach der das 132
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Wilhelm Kühlmann, Pädagogische Konzeptionen, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe, hg. von Notker Hammerstein unter Mitwirkung von August Buck, München 1996, S. 153–196, S. 156. Fidel Rädle, Das Jesuitentheater in Dillingen, in: Rolf Kiessling ( Hg. ), Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule in Schwaben. Festschrift zum 450jährigen Gründungsjubiläum, Dillingen 1999, S. 505–532, S. 507 f. Fidel Rädle, Gegenreformatorischer Humanismus. Die Schul- und Theaterkultur der Jesuiten, in: Notker Hammerstein – Gerrit Walther ( Hgg. ), Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen 2000, S. 128–147; zur Bewertung der Rhetorik bei den Jesuiten s. auch Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, bes. S. 321–366 ( Kapitel „Rhetorik an den Jesuitengymnasien“ ); Barbara Bauer, Jesuitische ars rhetorica im Zeitalter der Glaubenskämpfe ( Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 18 ) Frankfurt/M. – Bern u. a. 1986. Zitiert nach Dietl ( wie Anm. 24 ) S. 37.
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Theater die virtutes der Jugend stärkt und ihr politisches Engagement und ihre Verantwortung fördert, trägt er in fast wörtlicher Wiederholung auch in seiner Ingolstädter Antrittsvorlesung von 1492 vor 136. Wie Cora Dietl jüngst anhand seiner Behandlung der Tragödien Senecas dargestellt hat 137, sieht Celtis die politische Dimension des moralischen Nutzens der antiken Dramenliteratur darin, dass sie wie Fürstenspiegel gelesen werden können. Celtis erläutert dies in einem Brief an Fürst Magnus von Anhalt, dem er den Leipziger Druck von 1487 einer begonnenen, aber nicht vollendeten Ausgabe von zehn Seneca zugeschriebenen Tragödien widmete. Celtis vergleicht hier die zehn Tragödien mit den Zehn Geboten und sieht in ihnen gleichsam einen Dekalog der Fürstenlehre. So können die Schicksale der Protagonisten dieser Tragödien den Fürsten zur Hochherzigkeit und zum Ertragen von Mühen anregen ( ad animi magnitudinem omniumque laborum suorum tollerantiam animare ), von Gottlosigkeit fernhalten ( ab impietate revocare ) und die Folgen ungerechter Kriege ( malorum bellorum exitum ) vermeiden lassen. Itaque, inclite princeps, summam operis habes, quod decem tragoedias instar decalogi complectitur. Magnum ex historiis generosus animus fructum colligere potest, ad quem Seneca inter ceteros philosophos et poetas semper ardentius nos hortatus est, maxime principes in tragoediis. 138 Die Frage nach dem moralischen Nutzen des Theaters führt im Bereich der politischen Ethik 139 über die Tragödie der Antike zum Fürstenspiegel, über die antike Komödie hingegen zum Ständespiegel: Anlässlich einer umstrittenen Terenzaufführung plädiert Martin Luther 1533 für das Schultheater mit dem Argument, daß in Comödien … abgemalet und fürgestellet werden solche Personen, dadurch die Leute unterrichtet und ein Iglicher seines Amts und Standes erinnert und vermahnet werde, was einem Knecht, Herrn, jungen Gesellen und Alten gebühre, wol anstehe, und was er thun soll; ja, es wird darinnen furgehalten und für die Augen gestellt aller Dignitäten Grad, Aemter und Gebühre, wie sich ein Iglicher in seinem Stande halten soll im äußerlichen Wandel, wie in einem Spiegel. 140 Das bisweilen auffällige Interesse, mit dem sich das protestantische Bibeldrama den aus der Bibel zu gewinnenden Exempla für die Pflichten der Stände und Regimente in Kirche und Staat sowie für die Ordnung des Hausstandes und die Rolle von Eheleuten, Eltern, Kindern und Angehörigen des Gesindes widmet 141, wird erst im Zusammenhang mit dieser Argumentation Luthers ganz verständlich. 142 136
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Zur Nähe beider Schriften vgl. Jörg Robert, Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich ( Frühe Neuzeit 76 ) Tübingen 2003, S. 76. Dietl ( wie Anm. 24 ) S. 35–39. Der Briefwechsel des Konrad Celtis, hg. von Hans Rupprich ( Veröffentlichungen der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe 3 ) München 1934, S. 10–13; zitiert nach Dietl ( wie Anm. 24 ) S. 36. Dazu Christel Meier, Die Inszenierung humanistischer Werte im Drama der Frühen Neuzeit, in: Theater des Mittelalters ( wie Anm. 36 ) S. 249–264, bes. S. 262 f. Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe ( wie Anm. 88 ) Tischreden, 1, Nr. 867, S. 430–432. Ein signifikantes Beispiel dafür ist die lateinische Nabalkomödie Rudolf Gwalthers, die nach der Wirkungsabsicht des Autors besonders zur moralischen Unterweisung der Stände beitragen soll ( s. oben bei Anm. 38 und unten bei Anm. 169 u. 170 ); zum auffälligen Interesse Gwalthers an der Darstellung der Gesindepflichten vgl. auch Washof ( wie Anm. 122 ) S. 442–447. Vgl. bei Washof ( wie Anm. 122 ) die Hinweise zur ständischen Ordnung nach der reformatorischen Theologie ( S. 104–113 ), von denen die „Untersuchungen zu den ethischen Exempeln“ ( S. 231–463 ) des protestantischen Bibeldramas ausgehen.
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Den Jesuiten bieten die Festspiele zu Gründungen und Einweihungen von Schulen, Universitäten und Kirchen die willkommene Gelegenheit, die im Prolog oder Epilog übliche instructio morum auf die öffentlichen Pflichten und die politische Verantwortung des anwesenden Publikums zu fokussieren. Im berühmtesten dieser Spiele, dem 143 von 1597, der anlässlich der Einweihung der Michaelskirche der Münchener Jesuiten verfasst und aufgeführt wurde, wendet sich zum Schluss die Hauptfigur selbst, der Hl. Michael, an das Publikum mit der Ermahnung, den rechten Glauben in der wahren Konfession mit guten Werken zu verbinden und so aus dem aufgeführten Kampf zwischen den guten und bösen Mächten die richtigen Konsequenzen zu ziehen: … spondeo Fore me patronum perpetuum Bauariae inclytae, Quae fortiter resistit haeresi ducum Cura atque diligentia, quae caelites Pio ueneratur obsequio, quae pectore Toto exequitur Ecclesiae sacra monita.[ … ] Perge igitur, o Bauaria, pergite, principes, Pergite medij, summi, infimi ueram fidem Verumque cultum numinis coniungere Castis operibus … 144 Der von gegenreformatorischen Tendenzen beherrschte Appell des Epilogs gilt nicht nur dem Fürstenhaus, sondern auch den verschiedenen Ständen, beschwört nicht nur die Fürsorge und Achtsamkeit der Herzöge, sondern auch die Verantwortung der anwesenden Bürger und formuliert so die <Moral> des Spieles im Sinne eines Fürsten- und Ständespiegels. Gut zwei Jahrzehnte später diskutiert der Jesuit Adam Contzen, Beichtvater und Berater des bayerischen Kurfürsten Maximilian I., in seinen von 1620 die Bedeutung des Bildungswesens für den Staat und behandelt in diesem Zusammenhang ausführlich den Nutzen des Theaters als Instrument der Erziehung im Sinne der jesuitischen , deren Regeln für die Aufführung von Schauspielen und Erwartungen an deren Wirkung so zum Bestandteil einer programmatischen Staatslehre werden 145. Im protestantischen Bibeldrama ist es die Figur Salomons, durch die das Theater die Funktion eines Fürstenspiegels übernehmen kann, wie es Sixt Birck, Rektor des Augsburger St.-Anna-Gymnasiums, im Prolog seiner <Sapientia Solomonis> von 1547 erläutert: Wer für den Dienst in Staat und Kirche berufen und bestimmt ist, wird in den dafür erforderlichen Tugenden und Pflichten unterwiesen, indem ihm auf der Bühne
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Triumphus Divi Michaelis. Triumph des Heiligen Michael. Einleitung, Text und Übersetzung, Kommentar, hg. von Barbara Bauer und Jürgen Leonhardt ( Jesuitica 2 ) Regensburg 2000. Ebd. 2732–2748, S. 294. Vgl. Dieter Breuer, Karl der Große im Jesuitendrama der Barockzeit, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 104/105, 2002/2003, S. 479–501, hier S. 479–481 ausführliche Zitate aus Contzens Staatslehre und weitere Literaturhinweise.
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die biblischen Exempel vor Augen gestellt werden, d. h. in der <Sapientia Solomonis> die Herrschertugenden Salomons nach dem dritten Buch der Könige: Ut si Deus volet, vel ad munus suae Ecclesiae, vel ad rem fortè publicam Ipsum vocare, sit is instructus, ut queat Pro dignitate hoc officio perfungier. Hoc rectius non ex aliis perdiscitur, Quàm vel sacris, vel non prophanis, credito, Libris. In his est exemplorum copia, Cuiusmodi vobis acturi nunc sumus, Ex tertio Regum, Sapientiae piae Solomonis id, quod vos nunc hic spectabitis. 146 Bei solchen Erwartungen an die erzieherische Leistung des Salomonspiels ist es nur konsequent, wenn das Publikum in diesem Prolog ausdrücklich auf die literarische Gattung des Fürstenspiegels ( SCripsere multi multa passim principis / Regis’ve de iusti bonique munere ) 147 hingewiesen wird. Eine vergleichbare Darstellung von Fürstentugenden anhand des biblischen Stoffes zeigen auch die Salomonspiele der Jesuiten, von denen die wichtigsten als Festspiele zu Gründungs- und Einweihungsfeiern und als panegyrische Varianten des Fürstenspiegels konzipiert sind 148. c. Christliche Abgrenzung von der profanen Welt Trotz des überkonfessionell verbreiteten und auch den vorchristlichen Traditionen positiv zugewandten Interesses am Theater und an der Neubegründung des lateinischen Dramas gibt es Unterschiede in der Diskussion und Bewertung von Wesen und Nutzen der Gattung, die tief in alten und neuen weltanschaulichen Voraussetzungen wurzeln. Sie artikulieren sich nicht in Textsorten des poetologischen Diskurses wie den oder den Aristoteleskommentierungen, können aber für bestimmte Tendenzen der Funktionsbestimmung des Dramas von noch größerem Einfluss sein. Hauptsächlich handelt es sich dabei einerseits um die Unterscheidung einer spezifisch christlichen Weltsicht von einer profanen und heidnischen, zu der auch die Dokumente der antiken Kultur gehören können, und andererseits um die weltanschaulichen Positionen des konfessionellen Zeitalters, d. h. um das polemische und missionarische Engagement der Reformation und Gegenreformation. Fidel Rädle
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Sixt Birck, Sapientia Solomonis, Basel 1547, in: Sixt Birck, Sämtliche Dramen, hg. von Manfred Brauneck, 3, Lateinische Dramen, bearbeitet von Manfred Wacht ( Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 95 ) Berlin – New York 1980, S. 91–152, S. 99 f., V. 25–34 Ebd. S. 99, V. 1 f.; vgl. Washof ( wie Anm. 122 ) S. 279 f. Nachweise solcher Spiele und Erläuterungen zu ihrer Funktion bei Heinz Meyer, Sapiens Salomon redivivus. Exempelfiguren und symbolische Aktionen des Salomonspiels der Osnabrücker Jesuiten zur Universitätsgründung 1630/32, in: Christel Meier – Bart Ramakers – Hartmut Beyer ( Hgg. ), Akteure und Aktionen. Figuren und Handlungstypen im Drama der Frühen Neuzeit ( Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496 ) Münster ( im Druck ).
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hat in mehreren Arbeiten auf solche Voraussetzungen hingewiesen 149, so dass es hier genügen mag, mit wenigen Beispielen an einige wichtige Punkte zu erinnern. Die christliche Abkehr vom Irdischen und Weltlichen ist ein Motiv, das traditionellen Formen der Theaterfeindlichkeit ebenso innewohnt wie jenen bereits diskutierten Stellungnahmen zur Rezeption und Imitation der antiken Werke, die das Anstößige des Inhalts der römischen Komödie abwehren und durch Dramen mit biblisch-christlicher Thematik und Orientierung ersetzen wollten. Nicht nur im späteren Jesuitentheater, sondern vorher schon beim größeren Teil der humanistischen und protestantischen Autoren, vor allem wenn sie auf biblische Stoffe zurückgriffen, setzte sich die Tendenz durch, die tradierten Formen „mit entschieden neuem Geist zu füllen“: „ … an die Stelle der unbrauchbaren und ungültigen Inhalte der antiken Komödie konnten nur explizit moralische und religiöse Normen treten. Der Humanismus musste getauft werden.“ 150 Das besondere Licht, das unter der Perspektive der christlichen Weltabkehr und vanitas-Argumentation auf den moralischen Nutzwert des Theaters fällt, wird auch an den Stellungnahmen zu jesuitischen Aufführungen des <Euripus> sichtbar. Das Spiel des Franziskaners Levin Brecht, das im Stofflichen mit den an das Gleichnis vom verlorenen Sohn anknüpfenden Moralitäten verwandt ist und das wichtigste Stück der frühen Jesuitenbühne bildet, wurde als Aufforderung zur Abkehr von der vanitas der irdischen Welt sowie zur Hinwendung zu Reue und Buße interpretiert. Über eine Wiener Aufführung von 1555 berichtet Erardus Avantianus dem Ordensvater Ignatius von Loyola, dass damit nicht nur die Lateinkenntnis der beteiligten Schüler demonstriert, sondern auch die Herzen der Zuschauer von der Eitelkeit der Welt weggerufen werden sollten ( tum ut studiorum suorum aliquod ederent specimen, tum ut a saeculi vanitate spectatorum animos avocarent ). Mit seinen Warnungen vor der Hölle habe das Spiel das Publikum so sehr beeindruckt, dass viele Zuschauer sich vorgenommen hätten, von jetzt an ein besseres Leben zu führen ( ut hinc propositum melioris vitae nonnulli conceperint ). In der Widmungsvorrede zu seinem dramatischen Dialog von 1560 berichtet Georg Agricola Hammonius aus Ingolstadt von einer Euripus-Aufführung und sagt, es sei kaum ein anderes Mittel vorstellbar, das den Zuschauer schneller zur Buße und Abkehr von den Sünden bewegen könne ( … vix quicquam spectatores potest ad poenitentiam et resipiscentiam a peccatis adducere celerius ) 151. Solche <Erfolgsmeldungen> sind ganz im Sinne des vom Autor im Prolog formulierten Selbstverständnisses, insofern dort die spezifische christliche Zielsetzung im Formalen von den Regeln der profan-antiken Poetik, im Inhaltlichen von der Vanitas des Irdischen abgesetzt wird: „Wenn einer den Eindruck gewinnt, dass [ in diesem Stück ] das <decorum> und die klassischen Gesetze der Tragödie zu wenig beachtet sind, so soll er sich daran nicht stören und folgendes bedenken: Die christliche Wahrheit ist nicht in einem solchen Maße den profanen Gesetzen der Heiden unterworfen, und die Religion darf nicht so sehr von strengen Regeln eingeengt werden, dass sie peinlich genau
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Vgl. die in den Anm. 69, 88, 111 und 154 zitierten Arbeiten von Fidel Rädle. Rädle ( wie Anm. 88 ) S. 179. Itinerarium Beatissimae Virginis Mariae … Authore ingenuo adolescente, Georgio Agricola Hammonio, Ingolstadt 1560, S. 2; zitiert nach Rädle ( wie Anm. 69 ) S. 430.
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den pedantischen Lehrsätzen und [ eitlen ] Worten der Heiden gehorchen müsste. Vielmehr muss es das höchste Ziel und die vornehmste Aufgabe der christlichen Schriftsteller sein, Werke herauszubringen, die Christi würdig und den Nächsten heilsam sind, und sie sollten sich dabei nicht kümmern um die trügerische Gunst der Menschen oder um eitlen Ruhm, der schneller vergeht als Tau, Wind und Wellen.“ 152 d. Konfessionelles Engagement Die zeitgenössischen Kommentierungen zum <Euripus> zeigen deutlich, dass die weltanschaulichen Koordinaten, an denen sich auch das Literaturverständnis orientiert, von den Oppositionen <weltlich–geistlich>, , <profan–christlich> etc. geprägt sind. Gleichzeitig sind sie von zeithistorisch aktuelleren Bewertungen abhängig und ein Beispiel für die Wirksamkeit konfessionsgebundener Überzeugungen. Denn Hauptfigur ist der Mensch, der sich in vermeintlicher Heilssicherheit der Umkehr, Reue und Buße entzieht und auf gute Werke meint verzichten zu dürfen. In diesem Sinne ist Euripus eine antireformatorisch konzipierte Exempelfigur in der Auseinandersetzung mit Luthers Lehre von der Rechtfertigung 153. So stehen die Stellungnahmen zur moraldidaktischen Funktion des Theaters im Falle des <Euripus> immer auch im Kontext eines kontroverstheologisch relevanten Themas und sind Ausdruck einer konfessionspolemischen Tendenz. Die Konfessionspolemik 154 im Drama des 16. Jahrhunderts wird bei den protestantischen Autoren bekanntlich am deutlichsten und massivsten durch Thomas Naogeorg vorgetragen 155. Dessen erstes Drama, die von 1538 ist ein Antipapststück, in dem der Papst eine von Habsucht, Ruhmsucht und anderen Lastern bestimmte Welt erschafft und regiert, mit dem Teufel im Bunde steht und als Antichrist entlarvt wird. Mit seinen didaktischen Intentionen wendet sich das Spiel, wie Naogeorg im Vorwort begründet, an die Jugend: … ut animi à pueris imbuantur acri odio tyrannidis cuiusmodi. 156 Nach einer Widmungsvorrede an Herzog Heinrich von Sachsen, die seinem zweiten Drama <Mercator> von 1540, einem satirischen Tendenzstück gegen die Werkgerechtigkeit, beigegeben ist, aber auf den <Pammachius> noch zurückblickt, will Naogeorg der Jugend in erzieherischer Absicht die Lehre des Evangeliums sowie ein tugendhaftes und gottesfürchtiges Leben nahebringen. Das Theater 152
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Zitiert nach Rädle, ebd. S. 421. Die Aussage und zum Teil auch der Wortlaut folgen einer Vorrede des Niederländers Guilelmus Gnapheus zu seinem , einem Schuldrama, das die biblische Parabel vom verlorenen Sohn darstellt ( vgl. Rädle, ebd. S. 423 ). Dazu Jean-Marie Valentin, Aux origines du théâtre néo-latin de la réforme catholique: l’Euripus ( 1549 ) de Livinus Brechtus, in: Humanistica Lovaniensia 21, 1972, S. 81–188; vgl. auch Rädle ( wie Anm. 69 ) bes. S. 411–414. Einführendes dazu bei Fidel Rädle, Frischlin und die Konfessionspolemik im lateinischen Drama des 16. Jahrhunderts, in: Sabine Holtz – Dieter Mertens ( Hgg. ), Nicodemus Frischlin ( 1547–1590 ). Poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters. Tübinger Vorträge ( Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur, N.F. 1 ) Stuttgart – Bad Cannstatt 1999, S. 495–524. Hans-Gert Roloff ( wie Anm. 24 ) S. 455–475; Ders., Heilsgeschichte, Weltgeschichte und aktuelle Polemik. Thomas Naogeorgs Tragoedia Nova Pammachius, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 9, 1980, S. 743–767. Thomas Naogeorg, Tragoedia nova Pammachius, in: Ders., Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, 1, Dramen I, Berlin – New York 1975, S. 16.
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dient ihm, wie Hans-Gert Roloff gezeigt hat, „ganz offensichtlich als moralische Anstalt und gleichzeitig als willkommenes Mittel zur Propaganda seiner Glaubenswahrheit. Er steht mit dieser Ansicht nicht allein und geht im Hinblick auf das theologische Element des Theaters nur dem Ordenstheater voraus.“ 157 Bei der Erläuterung seiner Wirkungsabsichten verbindet Naogeorg seine Aussagen nun aber so eng mit der reformatorischen Antithese von Papsttum und Evangelium, dass die Aufrüstung der Jugend für den Konfessionskampf zum Kern der pädagogischen Zielsetzung des Theaters wird: Scopus hic certe noster fuit et in priore et in hac Tragoedia, ut iuventus Papatus doctrinam et tyrannidem quoquo modo animadverteret, rectisque et firmissimis secundum Scripturas adductis cognitionibus, de peccatorum remissione, et Evangelii summa, de terroribus mortis pro male acta vita, de certitudine vitae aeternae, quam nemo sanctus non quaerit, imbueretur, et id per lusum quidem … Isthoc figmentum, Princeps Illustrissime, quia ad vitae probitatem et dei metum, atque ad synceram Evangelii doctrinam capessendam hortatus, existimavi neque iniucundum neque inutile iuventuti fore … Ego neque ingenii ostentatione, quod mediocre est, neque cuiusquam odio aut traductione, nisi fortasse Evangelii hostium, Tragoedias adversus Papatum scribere orsus sum, sed quum viderem eruditissimis et scriptis et contionibus in negocio Evangelico adultis bene ac satis consultum esse, puerilem tamen aetatem illis ipsis non delectari, non inutile fore ratus sum, Papatum a contionibus in theatrum produci. 158 Auch auf der Seite der Gegenreformation lassen sich im Zusammenhang der Äußerungen zum Nutzen des Theaters und zur Wirkungsabsicht der Autoren bisweilen deutliche konfessionspolemische Tendenzen feststellen. Der Jesuit Jacobus Pontanus bezieht zum Beispiel gegen Ende des 16. Jahrhunderts den Stoff seiner Tragödie über den alttestamentlichen Gesetzeslehrer Eleazar, dem nach 2. Makk 6, 18–31 wegen seiner Treue zur Religion der Väter von dem Tyrannen Antiochus das Martyrium auferlegt wird, auf die Konflikte der Gegenwart und beschreibt die pädagogische Leistung des Stückes daher im Blick auf den mutigen Einsatz der Jugend für die katholische Religion und ihren Ritus: Tragoedia, praeterquam quod rarum et admirabile Catholicae iuventuti exemplum ad imitandum proponit, quantisque animis pro avita religione, sanctissimisque caeremonibus propugnandum sit docet, etiam saeculi nostri Antiochos depingit. 159 Vor allem bei Naogeorg, aber auch in mancher Stellungnahme der Jesuiten, wird die Konfessionspolemik, mit der sich die moralische Zielsetzung verbindet, gleichsam mit unüberhörbarer Lautstärke ausgesprochen. Vergleichbare Tendenzen können auch leiser und indirekter und dennoch nicht weniger nachdrücklich artikuliert werden, wie in einer Fuldaer von 1575 160. Elisabeth von Thüringen ist hier eine Exempelfigur, deren auf der Bühne dargestelltes Vorbild die moralische 157 158
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Roloff ( wie Anm. 24 ) S. 468. Thomas Naogeorg, Mercator ( wie Anm. 113 ) S. 8–10, 12; vgl. zu dieser Vorrede Rädle ( wie Anm. 111 ) S. 52 f. Jacobus Pontanus, Poeticarum Institutionum libri III, Ingolstadt 1600, S. 309, zitiert nach Fidel Rädle, Das Alte Testament im Drama der Jesuiten, in: Franz Link ( Hg. ), Paradeigmata. Literarische Typologie des Alten Testaments. Erster Teil: Von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert ( Schriften zur Literaturwissenschaft 5/1 ) Berlin 1989, S. 239–252, S. 248. Fidel Rädle, Eine Comoedia Elisabeth ( 1575 ) im Jesuitenkolleg zu Fulda, in: Udo Arnold – Heinz Liebing ( Hgg. ), Elisabeth, der Deutsche Orden und ihre Kirche. Festschrift zur 700jährigen Wiederkehr der Weihe der Elisabethkirche Marburg 1983 ( Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 18 ) Marburg 1983, S. 78–145.
Nutzen und Wirkungsabsicht des Theaters nach Paratexten lateinischer Dramen
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Erziehung des Zuschauers fördern sollte. Im Prolog wird dem Zuschauer ein Stück angekündigt, das als Unterweisung oder Richtschnur für das Leben betrachtet werden kann: … quae vocarier potest instructio / Vel norma vitae concione spectabitis. 161 Das ist eine Bestimmung der moralisch-erzieherischen Wirkung, die in nahezu alle Theatertexte der frühen Neuzeit transplantiert werden könnte und die sich auch jeder protestantische Autor von Bibeldramen zu eigen machen würde, aber sie erhält hier im Kontext eines jesuitischen Spieles über die guten Werke einer Heiligen eine ganz spezifische konfessionsgebundene Akzentuierung 162. IV. UTILIS AD MORUM CONFIRMATIONEM: FORMELHAFTER LEGITIMATIONSBEWEIS UND TATSÄCHLICHE ZWECKBINDUNG DES DRAMAS
An vielen Kommentaren der Spiel- und Paratexte des frühneuzeitlichen Dramas zu den erzieherischen Wirkungen des Theaters fällt auf, dass sie sich mit geradezu formelhafter Kürze ausdrücken. Das wird an der Selbstverständlichkeit der Überzeugung liegen, mit der sich zeitgenössische Autoren und Rezipienten über den moralischen Nutzen des Theaters verständigen konnten, so dass das Hantieren mit Formeln und das Zitieren von vertrauten Etiketten ausreichte. Ein Grund dafür wird aber auch darin zu suchen sein, dass Fragen nach dem Nutzen und den Wirkungsabsichten ( intentio, utilitas, finis ) der Literatur im lateinischen Abendland seit der Spätantike Gegenstand des Schulunterrichts gewesen waren und daher, wie eingangs gezeigt, in vorgeprägten Formen gestellt und beantwortet wurden. Solche Behandlung der Literatur in der Schule hatte immer auch die Funktion, den Umgang mit der Literatur und ihren ( vor allem aus der heidnischen Antike ) überlieferten großen Werken zu rechtfertigen, und das hauptsächliche Argument dabei war bekanntlich die erzieherische Wirksamkeit. Diese Situation bestand für die Gattung des Dramas und die Institution der Bühne unverändert in der frühen Neuzeit, wo eine zunehmend reiche Theaterkultur sich noch in einem zum Teil theaterfeindlichen Milieu 163 durchzusetzen hatte. So könnte man annehmen, das häufige Argumentieren mit dem moralischen Nutzen sei nicht zuerst ein ernsthaftes Anliegen, sondern resultiere eher aus einer anhaltenden oder neu begründeten Notwendigkeit der Rechtfertigung eines Mediums, das in der christlichen Kultur seit der Kritik der Kirchenväter 164 im Verdacht stand, nichtige und anstößige Dinge zu vermitteln. Andererseits gibt es Indizien für die nachhaltige Überzeugung von der tatsächlichen Wirksamkeit der moralisch-pädagogischen Ziele, die uns heute bisweilen wie eine Überforderung der Leistungsfähigkeit von Dramentexten und Theaterauf-
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Ebd. S. 106. Dazu Rädle, ebd. S. 89: „Die verherrlichende Darstellung eines Heiligenlebens auf der Bühne war zweifellos bewußte Demonstration eines katholischen Programms.“ Vgl. Ernst Hövel, Der Kampf der Geistlichkeit gegen das Theater in Deutschland im 17. Jahrhundert, Diss. Münster 1912; Monika Diebel, Grundlagen und Erscheinungsformen der Theaterfeindlichkeit deutscher protestantischer Geistlicher im 17. und 18. Jahrhundert, Diss. masch. Wien 1968; Paul ( wie Anm. 17 ) S. 119–123. Dazu Werner Weismann, Kirche und Schauspiele. Die Schauspiele im Urteil der lateinischen Kirchenväter unter besonderer Berücksichtigung von Augustin ( Cassiciacum 27 ) Würzburg 1972; Heiko Jürgens, Pompa Diaboli. Die Bekanntschaft der lateinischen Kirchenväter mit dem antiken Theaterwesen, Diss. Tübingen 1972.
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führungen erscheinen. Solche Dokumente finden wir nicht nur in den Kommentierungen durch Autoren und Rezipienten, sondern auch in der werkimmanenten Wirkungspoetik, die sich an den Verwandlungen der Stoffe ablesen lässt, und in Befunden der Verbreitung sowie medialen Rezeption. Wenige Beispiele dafür müssen hier genügen: Häufig wird in den Dramentexten nicht nur kurz und pauschal auf das Faktum oder das Ideal einer moralischen Wirkung des Theaters hingewiesen, sondern diese Wirkung wird in allen Einzelheiten erläutert und am Bühnengeschehen sowie am Charakter und Verhalten der beteiligten Figuren verdeutlicht. Die Autoren, Veranstalter und Herausgeber der Spiele sind nicht nur von der erzieherischen Wirkung ihrer Stücke überzeugt, sondern sie wissen genau zu sagen, welche Aktion und welche Spielfigur den Zuschauer über die Bewertung bestimmter Verhaltensweisen belehren soll. Dokumente für solche Aussagen sind die Paratexte der Autoren und die kommentierenden Partien der Dramen, d. h. Chöre sowie szenische Pro- und Epiloge. Der Humanist und Autor von Schul- und Bibeldramen Hieronymus Ziegler 165 beschreibt 1559 in der Vorrede zu seinem den Nutzen der Komödien von Plautus und Terenz, die den Zuschauer über die Bedeutung von Tugend und Laster im menschlichen Leben belehren ( … quid virtus, quid vicium in homine possit contemplamur ). Es bleibt nun nicht bei dem pauschalen Hinweis, dass die Komödie die Tugend lobt und das Laster tadelt und so zur Erziehung des Menschen beiträgt, sondern die moraldidaktische Quintessenz einzelner antiker Komödien wird im Detail vorgeführt: Porro si quis uoluerit probare, quod nimia animaduersio parentum in filios, non admodum utilis esset, haberet exemplum in Ctesiphone apud Terentium sub Adelphis: qui cum ob metum patris Demeae palam suo more uiuere non posset, clam innumerabilia uitia perpetrat. In Mitione habebit lenitatis exemplum, qui suo adoptiuò filio Aeschino ultro, quae faciebat, ( honesta tamen ) permittebat, arbitrans non necesse esse omnia pro suo iure agere. Item non licere parentibus in praesentia liberorum peccare, Chremetis exemplo in Heautontimorumeno, discet, cui filius Clitipho ebrietatem obijcit. Quid seruorum possit calliditas, uidetur in Syro, & Dauo, quidum filijs obsequi student, pro ludibrio senes habent & circumducunt. Mores impudicae mulieris, & procacis, nusquam melius depinguntur, quam in Eunucho Terentiana. Si imaginem auariciae graphice depictam quis uidere cupit, is Plauti Aululariam legat. 166 Wie Ziegler mit den antiken Komödien, so verfährt Rudolf Gwalther 167 mit seinem eigenen David-Nabal-Drama von 1549 168: Er lässt zu Beginn seines Stückes einen senex im geistlichen Gewand ( sacro habitu ) auftreten und einen Prolog sprechen, der das Bibeldrama von den anstößigen Stoffen und lasterhaften Figuren der antiken Komödie abgrenzt. Wie Ziegler die Figuren der antiken Komödie, so befragt Gwalthers senex die biblische Erzählung von David, Nabal und Abigail im Detail nach ihrer Bedeutung für das moralische und soziale Leben der Zuschauer:
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Zu Zieglers Leben und Werk s. Wolfgang F. Michael, Das deutsche Drama der Reformationszeit, Bern 1984, S. 218–223. Ziegler, Abel iustus, A2r–A3v; dazu Washof ( wie Anm. 122 ) S. 50. Zu Leben und Werk s. Michael ( wie Anm. 165 ) S. 231 f. und S. 386; Washof ( wie Anm. 122 ) S. 55–60. Edition s. Anm. 35; vgl. auch Sandro Giovanoli, Form und Funktion des Schuldramas im 16. Jahrhundert. Eine Untersuchung zu Rudolf Gwalthers ( 1549 ) ( Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 101 ) Bonn 1980.
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Sic Nabal hic dives potensque plurimum, Docebit omnes divites, Quam vana sit possessio pecuniae, Prudentiam ni adiunxeris. Idem ebrietatis quae sient incommoda, Suo probabit exitu. Illius at coniux Abigael foeminas Omnes suo exemplo instruit, Docetque sedulo ( dociles licet hactenus Invenerit paucissimas. ) At qui sua res administrant publicas Cura, fide et prudentia, Hos David hic, Rex omnium pijssimus, Docet quid agere debeant. Huic proximus qui stat, sacerdos Abiathar, Exemplar est antistitum: Quorum sacra est verbi docere oracula Multosque Christo adducere. Hic militaris rusticaeque cernitur Vitae typus clarissimus. 169 Die biblischen Personen sind Exempelfiguren, deren Vorbild- und Abschreckungsfunktion für den Rezipienten im einzelnen erläutert wird. Dabei werden Kategorien einer ständischen Sozialordnung in das Spiegelbild projiziert, das dem Zuschauer auf der Bühne vorgeführt wird. Ausführlicher noch erläutert Gwalther die Lehren, die Personen verschiedenen Standes seinem Stück entnehmen sollen, in der Vorrede zur Druckausgabe von 1549 170. Für solche Nutzanwendungen, die dem Zuschauer oder Leser im Detail das Vorbildhafte der Figuren und Ereignisse erläutern, sind den Dramen bisweilen eigene Paratexte beigegeben, deren lenkende Funktion durch Überschrift oder Einleitung deutlich benannt sein kann: In der Jephte-Tragödie zum Beispiel, die der englische Dramenautor John Christopherson um 1544 verfasst und mit einer Vorrede aus 71 Versen in Senaren einleitet 171, ist das Prologgedicht mit Exempla quae ad vitae usum ex tragoedia Jephte peti possunt betitelt. Es geht dabei zunächst um die Tugenden des Jephte, um die bellica virtus ebenso wie um die Milde, das Ertragen von Ungerechtigkeiten und das Gottvertrauen. Aber auch aus dem unglücklichen Schicksal der Hauptpersonen soll der Zuschauer seine Lehre ziehen, indem er sich vor voreiligen Gelübden hütet. Die Tochter wird mit ihrem Gehorsam und vorbildlichen Verhalten gegenüber den Eltern als Beispielfigur für die Beachtung des vierten Gebotes vorgestellt.
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Gwalther, Nabal ( wie Anm. 35 ) S. 22–24. Dazu oben bei Anm. 35–38. John Christopherson, Iephte. William Goldingham, Herodes, Prepared with an Introduction by Christopher Upton ( Renaissance Latin Drama in England II, 7 ) Hildesheim – Zürich – New York 1988, S. 130r–131r.
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Besonders signifikant für die Nachhaltigkeit der moraldidaktischen Zielsetzung ist die Ausformung bzw. Umgestaltung etablierter Stoffe – vor allem dann, wenn sie zu auffälligen und ungewöhnlichen Deutungen der Dramenfiguren und szenischen Situationen führt. In einer späten Innsbrucker Jesuitenbearbeitung von 1728 172 wird Homers Bericht von der Heimkehr des Odysseus in der letzten Szene nach anderen Versionen des trojanischen Sagenkreises erweitert und erhält eine Nachgeschichte, in der die Hauptfigur unwissentlich von der Hand des Telegonos, des Sohnes aus der Verbindung mit Kirke, getötet wird. Der aus einer Situation des schicksalhaften Verkennens resultierende Tod von der Hand des unehelichen Sohnes wird nun als verdiente Strafe für den Ehebruch verstanden. Diese Deutung hat Elida Maria Szarota, sonst eine Liebhaberin des Jesuitentheaters, zu einem Tadel für die jesuitischen Autoren veranlasst, die „diese große Symbolfigur der Antike in Kategorien der katholischen Kirche, nach dem Maßstab des bürgerlichen Ehecodex“ bewerten und dabei in diesem Einzelfall ihre sonst stets spürbare „hervorragende humanistische Bildung“ vermissen lassen 173. Bei einem Urteil über die Umgestaltung des Stoffes muss man freilich bedenken, dass die Autoren bzw. Veranstalter sich in der Perioche deutlich und ausführlich zu den Prinzipien der Gattungsfunktion und zur Wahl dieser materia äußern: Das argumentum benennt die des Stückes, die sich hinsichtlich der Hauptfiguren auf das sechste Gebot der ehelichen Treue und bei der Nebenfigur des Telemachos auf das vierte Gebot der Kindesliebe zu den Eltern beziehen: Lehrnen nun hierin die Ehegenossene in Penelope, obwohlen einer heydnischen Königin / wie heilig und standhafft sie jenes Band halten solten / mit dem sie in Gott verpflichtet seynd. Lehrnen die Kinder in Telemacho, was sie auß Lieb ihrer Elteren übertragen sollen. Lehrnen endlich insgesambt von Ulysse alle / wie scharff der lang zuwartende Himmel die Lasterhaffte auch aus diser Welt herzunehmen pflege. 174 Der Titel des Stückes sieht in der Erzählung von Odysseus und Penelope ausschließlich die exemplum-Funktion für das sechste Gebot: ULYSSES ET PENELOPE, HAEC SERVATAE FIDEI CONJUGALIS, ILLE OB EANDEM VIOLATAM DIVINAE JUSTITIAE ILLUSTRE EXEMPLUM. Das ist: Ulysses / und Penelope / Dise Ein herrliches Beyspihl der standhafft gehaltenen Ehelichen Treu; Jener Der Göttlichen Gerechtigkeit Wegen seiner Boßheit / und gebrochenen Ehelichen Treu 175. Das Odysseus-Spiel ist von vornherein konzipiert als Exempelfall zu einem Katechismus-Stück über das sechste Gebot. Was uns an der Modifikation des antiken Stoffes ungewöhnlich, wenn nicht befremdlich erscheint, liegt in der Konsequenz der Funktionszuweisung für die literarische Gattung. Beispiele wie das gerade vorgeführte werfen die Frage auf, ob hier das humanistische Ideal von der Einheit literarischer Bildung und moralischer Erziehung an seine Grenzen kommt. Jedenfalls gelingt es nicht immer, das Eigenrecht großer literarischer Traditionen mit den jeweils aktuellen Erziehungszielen und Moralvorstellungen auf einen Nenner zu bringen. Im Bereich des deutschen Dramas der frühen Neuzeit ist der in dieser Hinsicht Umgang des Hans Sachs mit den großen Stoffen der Weltliteratur das auffälligste Beispiel dafür, dass die deutlich ausformulierte Moral und 172
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Perioche bei Szarota ( wie Anm. 13 ) Text III, VIII, 25, Bd. 3, 2, S. 1681–88; vgl. auch Valentin ( wie Anm. 13 ) Teil 1, S. 609, Nr. 4642. Szarota ( wie Anm. 13 ) Kommentar zu Text III, VIII, 25, Bd. 3, 2, S. 2285. Ebd. Text III, VIII, 25, Bd. 3, 2, S. 1683. Ebd. S. 1681.
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die in der Dramenhandlung präsentierten literarischen Stoffe sich eigentümlich fremd bleiben. 176 Wenn etwa das Schicksal von Tristan und Isolde in Sachsens Tristan-Drama von 1553 nicht anders kommentiert wird als mit der auch in anderen Spielen fast gleichlautend formulierten Warnung vor außerehelicher Liebe, dann hat das selbst einen im Werturteil vorsichtigen Literarhistoriker wie Max Wehrli zu der Feststellung veranlasst, dass „die alles einebnende Moralisation doch recht barbarisch“ sei 177. Die erzieherische Funktion rückt das Drama in manchen Fällen – je nach Thematik und Gebrauch – in die Nähe von theaterfernen Gattungen der didaktischen Literatur. Der Medienwechsel und die Veränderung der Rezipientenrolle vom Zuschauer zum Leser heben die moraldidaktische Zweckbindung dabei keineswegs auf, sondern verstärken sie eher noch. Der des Christian Ischyrius 178, eine lateinische Bearbeitung des <Jedermann>-Stoffes, wird zum Beispiel vom Autor selbst in der Prosavorrede der Druckausgabe von 1536 als vorgestellt. Ein Bibeldrama des Matthäus Creutz von 1552 mit dem <Susanna>-Stoff 179 wird schon im Untertitel der Druckausgabe als Ratgeber für Eheleute angepriesen: „Darynnen angezeigt wird wie mancherley list der Theufel braucht das er Ehleuten leydt zufüge. Allen liebhaberen des Ehestands nutzlich zu lesenn“. Der Druck enthält als Anhang einen nicht mehr zum Dramentext gehörigen Lehrdialog über den Ehestand zwischen Tobias, der biblischen Exempelfigur für den Ehemann und Hausvater, und einem Rat suchenden Bräutigam: Eyn schoen gesprech zwischen dem alten und fromen Tobia / vnd eym jungenn Eheman / ehelichen leutenn nutzlich zu lesenn. 180 Im Übergang zum gedruckten Buch und in Verbindung mit der Beilage wird so aus dem Spieltext ein Ratgeberbuch. Die hier im Anhang des Drucks untergebrachte Tobiasgeschichte ist selbst mehrfach als Dramenstoff bearbeitet worden 181, autorisiert durch Luthers Vorrede zum Buch , wo die biblische Erzählung als feine liebliche gottselige Comedien empfohlen und als Exempel für das Leben im Ehestand gedeutet wird: Also zeigt das Buch Tobias an / wie es einem fromen Bawr oder Bürger auch vbel gehet / vnd viel leidens im Ehestand sey / Aber Gott jmer gnediglich helffe / vnd zuletzt das ende mit freuden beschliesse. / Auff das die Eheleute sollen lernen gedult haben / vnd allerley leiden / auff künfftig hoffnung gerne tragen / in rechter furcht gottes und festem glauben. 182 In ihrer Studie über die „Ehelehre in Tobias-Dramen des 16. Jahrhunderts“ hat Erika Kartschoke gezeigt, dass die Tobias-Erzählung auch Gegenstand von Ehepredigten war und dass ein Teil der Tobiasdramen speziell für Hochzeiten verfasst oder anlässlich von Hochzeiten aufgeführt wurde 183. Die Ratgeberfunktion dieser und
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Zu diesem Problem ausführlich Dorothea Klein, Bildung und Belehrung. Untersuchungen zum Dramenwerk des Hans Sachs ( Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 197 ) Stuttgart 1988, bes. S. 174–176. Max Wehrli, Geschichte der deutsche Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 21984, S. 1069. Christian Ischyrius, Homulus ( wie Anm. 92 ) S. 2: bene moriendi ars felicissima. Matthäus Creutz, Ein kurtzweilige und lustige Comedi / uß der Historien Susanne, Köln 1552; vgl. Washof ( wie Anm. 122 ) S. 397 f. Beginn und Titel des Dialogs ebd. fol. F. Vr. Washof ( wie Anm. 122 ) S. 388–391. D. Martin Luther, Die gantz Heilige Schrift Deudsch. Wittenberg 1545, hg. von Hans Volz, MünchenDarmstadt 1972, S. 1731, zitiert nach Kartschoke ( wie Anm. 183 ) S. 79. Erika Kartschoke, Eine feine liebliche gottselige Comedie. Ehelehre in Tobias-Dramen des 16. Jahrhunderts, in: Maria E. Müller ( Hg. ), Eheglück und Liebesjoch. Bilder von Liebe, Ehe und Familie in
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vergleichbarer Dramen lässt sich auch an Daten der Druckgeschichte ablesen: So hat Bernhard Jahn mit seiner Untersuchung zum Verhältnis von Buchdruck und Theateraufführung in Magdeburg bis zum Jahre 1631 nachgewiesen, dass die Häufigkeit der Drucke im Zusammenhang zu sehen ist mit der Polyfunktionalität der Dramen, die als Lesetexte Aufgaben erfüllen, die üblicherweise von anderen Textsorten der didaktischen Literatur wahrgenommen werden. Die große Zahl der Dramendrucke im Verhältnis zu einer relativ geringen Anzahl von Aufführungen zeigt, dass die Dramentexte wie Ratgeberbücher angeboten und gelesen werden, also – je nach Inhalt – wie Fürstenspiegel, Ehezuchtbüchlein oder Ars-moriendi-Traktate 184. Für ein Drama wie z. B. Gabriel Rollenhagens 185, das sich selbst im Titel als Spiel vom heiligen Ehestand ausweist, dürfte eine Nachfrage im Sinne dieser Funktion bestanden haben. Wie hoch die Erwartungen des Autors an die moralisch-didaktischen Leistungen des Dramas waren, zeigt sich daran, dass er selbst für die Komödien des Terenz eine Lektüre empfiehlt, die Rat und Lebenshilfe in den mühevollen Verhältnissen des Alltags sucht: Kleine sorg ist bey kleinen kinden / Groß sorgen sich bey den großen finden. Vnd ist vnd bleibt müh und arbeit / Biß Gott hilfft zu seiner Zeit. Diß wollen vns die Heyden lehren / In den Comoedien bewehren. Das sonderlich in Ehesachen / Wier viel vergeblich anschleg machen. Vnd doch kein Rath sein fortgang hat / Wo Gott nicht selbst fördert die that. 186
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der Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts ( Ergebnisse der Frauen-Forschung 14 ) Weinheim – Basel 1988, S. 79–101, bes. S. 80 und S. 94, Anm. 4 u. 5. Bernhard Jahn, Druck und Drama. Zur Rolle des Buchdrucks bei der Aufführung und Rezeption frühneuzeitlicher Dramen am Beispiel der Magdeburger Drucke bis 1631, in: Gunter Schandera – Michael Schilling ( Hgg. ), Prolegomena zur Kultur- und Literaturgeschichte des Magdeburger Raumes, Magdeburg 1999, S. 129–150, bes. S. 147 f. Georg Rollenhagen, Tobias, Eine schöne, tröstliche Comoedia oder Spiel vom heiligen Ehestand, Magdeburg 1576, hg. von Johannes Bolte ( Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 285–287 ) Halle an der Saale 1930; dazu Dietmar Peil, Die Schaubühne als Anstalt. Anmerkungen zu Georg Rollenhagens Tobias, in: Gunter Schandera – Michael Schilling ( Hgg. ), Prolegomena zur Kultur- und Literaturgeschichte des Magdeburger Raumes, Magdeburg 1999, S. 107–127. Georg Rollenhagen, Terentius, Wie des Terentij sechs Lateinische Comoedien angeordent / vnd in der Magdeburgischen Schulen im Früling des M.D.XCII. Jahrs zugleich sein gespielet worden, Magdeburg 1592, fol. A2v, zitiert nach Peil ( wie Anm. 185 ) S. 110.
Charles Baudelaire und Carl Georg Brunius
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Charles Baudelaire und Carl Georg Brunius: Bilder des Mittellateinischen im 19. Jahrhundert I. Einleitung, S. 249. – II. Mittellatein als Teil einer antiklassischen Poetologie: Joris Karl Huysmans und Charles Baudelaire, S. 250. – III. Das Mittelalter als klassische Epoche: Carl Georg Brunius und die lateinische Mittelalterromantik in Skandinavien, S. 256. – 1. Vorbedingungen: Skandinavische Nationalromantik und Lateinkultur im 19. Jahrhundert, S. 257. – a ) Latein als Leitdisziplin, S. 259. – b ) Latein als Übersetzersprache, S. 260. – 2. Carl Georg Brunius’ , S. 264. – 3. Ein lateinischer Dichterkreis in Lund, S. 271. – IV. Lateinische Dichtung der Gegenwart in Finnland, S. 273.
I. EINLEITUNG
Wer sich mit dem beschäftigen will, könnte eine Geschichte der langsamen Etablierung der Mittellateinischen Philologie als einer eigenen universitären Disziplin im 19. Jahrhundert erwarten 1. Die zeitlos aktuelle aufreibende Suche Ludwig Traubes nach einem Ordinariat oder die unglückliche Liebesgeschichte eines Paul von Winterfeld wären hier vielleicht zu erzählen, doch sind beide Gründerväter der Mittellateinischen Philologie in Deutschland eher dem frühen 20. Jahrhundert zuzurechnen 2. Ein anderer Gegenstand, der bislang kaum Beachtung gefunden hat, ist die lateinische Sprache selbst: Nach welchen ästhetischen Kriterien ist das Latein des Mittelalters im 19. Jahrhundert beurteilt worden und auf welche Weise konnte die mittellateinische Literatur, sei es nun realiter, sei es als poetische Konstruktion zu einer Muse der lateinischen Dichtung des 19. Jahrhunderts werden? Unter dieser Voraussetzung erweitert sich die Fragestellung: Welche Gestalt überhaupt konnte die lateinische Dichtung im 19. Jahrhundert annehmen? Und welche Rolle spielte das Mittelalter und spielte die der lateinischen Sprache in der Genese dieser Dichtung? Anstatt einer ausgreifenden Studie sollen hier zwei Episoden einer solchen Poetologie des Mittellateinischen und damit eigentlich der lateinischen Dichtung im 19. Jahrhundert überhaupt präsentiert werden, die erste aus Frankreich, die zweite aus Schweden, die zusammengenommen vielleicht eine erste mehr erzählende denn erschließende Antwort auf die Frage nach der Stellung des lateinischen Mittelalters als 1
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Bei den folgenden Überlegungen handelt es sich um meine am 28. Januar 2008 in Münster zur Erlangung der venia legendi im Fach gehaltene Antrittsvorlesung. Vor allem im zweiten Teil ist der Beitrag für die schriftliche Fassung um zusätzliches Material erweitert worden. Für Anregungen und Korrekturen danke ich Vera Johanterwage, Maria-Magdalena Peltola-Nastase und Ricarda Peters. Zu Paul von Winterfelds Schicksal der lesenswerte Bericht von Wolfgang Maaz, Paul von Winterfeld. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte, in: Paul von Winterfeld: Von Horaz bis Hrothsvith von Gandersheim. Gesammelte Schriften, hg. von Wolfgang Maaz – Fritz Wagner, Hildesheim – Zürich 1996, S. IX–XXX.
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einer Inspirationsquelle der lateinischen Dichtung im 19. Jahrhundert geben können. Während im ersten Beispiel, wie wir sehen werden, die Andersartigkeit und emotionale Unmittelbarkeit der mittelalterlichen Latinität zu einem bewusst gewählten Bezugspunkt poetischer Inspiration, ja zur Basis einer Abgrenzung wird, verhält es sich im zweiten Fall genau umgekehrt. Eine Differenz zwischen dem eigenen poetischen Anliegen und der epochenübergreifenden Tradition der lateinischen Literatur als Ganzer wird nicht wahrgenommen, denn das eigene Unternehmen begreift sich als Teil dieser ungebrochenen Tradition und als Ergebnis einer Jahrhunderte übergreifenden Lateinkultur, in der sich die Frage nach einer Erneuerung durch Abgrenzung gar nicht stellen konnte. II. MITTELLATEIN ALS TEIL EINER ANTIKLASSISCHEN POETOLOGIE: JORIS KARL HUYSMANS UND CHARLES BAUDELAIRE
Der belgische Schriftsteller Joris Karl Huysmans ( 1848–1907 ) lässt den Helden seines 1884 erschienenen Romans , , den Prototypen des feinsinnigen dekadenten Ästheten und das Sinnbild einer ganzen Epoche, einen Haushalt führen, der keine Extravaganz und sublimierte Leidenschaft ausspart. Im dritten Kapitel beschreibt Huysmans die Bibliothek, die sich der Herzog Jean Florissac Des Esseintes in seinem großzügigen, doch immer abgedunkelten Stadtpalais hatte einrichten lassen 3. Sie ist voller lateinischer Folianten, doch überträgt sich der ausgefallene geschmackliche Kanon des Herzogs auch auf die Auswahl seiner Lektüre. Es kommt, was die klassische Latinität betrifft, zu einer Umwertung aller Werte. Vergil, dessen, wie er sagt, „gewaschene und zurechtgestutzte Hirten sich gegenseitig Töpfe voller kalter und sentenziöser Verse über den Kopf gießen“, kann den Helden ebenso wenig aus seiner Lethargie reißen 4, wie die „Verseschmiede des Catull“, die, so Huysmans, „Elefantenanmut des Horaz“ und die glattpolierten Elegiker 5. Unter den antiken Autoren erscheinen ihm allenfalls Lucan oder der bildersatte und lebenspralle Petronius erträglich 6. Wie eine Orchidee blüht das Interesse des Herzogs auf, als er auf die ersten christlichen Autoren zu sprechen kommt, auf Tertullian, dessen „kalte und doppelsinnige Sprache“ gerade vor der Pracht der syrischen Kaiser seiner Zeit an Reiz gewinnt, auf Claudian, der, so Huysmans, mit den „brennenden Fackeln“ seiner Verse „in die 3
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Joris-Karl Huysmans, À rebours, in: Œuvres complètes, 18 Bde., Paris 1928/1934, ND Genf 1972, 7, c. 3, S. 41–61. Deutsch Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, übersetzt von Hans Jacob, Zürich 1981, c. 3, S. 89–110. Joris-Karl Huysmans, À rebours ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 42: „Entre autre le doux Virgile, celui que les pions surnomment le cygne de Mantoue, sans doute parce qu’il n’est pas né dans cette ville, lui apparaissait, ainsi que l’un des plus terribles cuistres, l’un des plus sinistres raseurs que l’antiquité ait jamais produit; ses bergers lavés et pomponnés, se déchargeant, à tour de rôle, sur la tête de pleins pots de vers sentencieux et glacés, son Orphée qu’il compare à un rossignol en larmes, son Aristée qui pleurniche à propos d’abeilles, son Énée, ce personage indécis et fluent qui se promène, pareil à une ombre chinoise, avec des gestes en bois, derrière le transparent mal assujetti et mal huilé du poème, l’exaspéraient.“ Deutsch, Gegen den Strich ( wie Anm. 3 ) S. 90. Huysmans, À rebours ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 43–45. Deutsch Gegen den Strich ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 91–93. Huysmans, À rebours ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 45–48. Deutsch Gegen den Strich ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 93–96.
Charles Baudelaire und Carl Georg Brunius
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Dunkelheit dringt, die ihn einhüllt“, und auf Prudentius 7. Das Latein des Frühmittelalters erscheint Des Esseintes schon „wie aus dem Kadaver der lateinischen Sprache geschnitten und gewürzt mit dem Aroma der Kirche“ 8. Einem Autor wie Venantius Fortunatus oder Aldhelm von Malmesbury bringt er noch eine gewisse Leidenschaft entgegen, doch müssen sie gegenüber der überladenen zwischen Barbarismus und Verfeinerung oszillierenden Schönheit der spätantiken christlichen Poesie weit zurückstehen 9. Der mittelalterlichen Literatur, dem „Wortkram der Philosophen“, wie es heißt, kann der Herzog endgültig nichts mehr abgewinnen 10. Schon Marc Fumaroli hat festgestellt, dass Huysmans nur zwei Quellen heranzieht, um seinen literarischen Kanon auszubreiten, die des französischen Philologen und Literaturkritikers Désiré Nisard ( 1806–1888 ), dessen Maximen in Bezug auf den Vorrang der augusteischen Literatur Huysmans Punkt für Punkt ad absurdum führt und in ihr Gegenteil wendet 11, und das Standardwerk zur Latinität der Spätantike, die Adolf Eberts ( 1820–1890 ). Bereits ein Blick in Eberts Inhaltsverzeichnis zeigt, dass Huysmans die Autoren des Leipziger Romanisten fast der Reihe nach aufzählt, ja stellenweise sogar dessen Formulierungen übernimmt 12. Die folgenden Jahre und eine Reihe von denkbar unerfreulichen Ereignissen, die in Verbindung mit Huysmans okkulten Interessen und einigen bekannten Schwarzpriestern seiner Umgebung stehen, lassen den belgischen Romancier den Weg zurück in den Schoß der Kirche finden 13. Auch der Ästhetizismus Huysmans, der sich in der Gestalt Des Esseintes Bahn gebrochen hatte und ihn die Artifizialität und verbale 7
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Huysmans, À rebours ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 49–46. Deutsch Gegen den Strich ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 97–104. Huysmans, A rebours ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 58: „Le VIe siècle était cependant encore représenté par Fortunat, l’évêque de Poitiers, dont les hymnes et le Vexilla regis, taillés dans la vielle charogne de la langue latine, épicée par les aromates de l’Église, le hantaient à certains jours.“ Deutsch, Gegen den Strich ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 106. Huysmans, À rebours ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 58–61. Deutsch, Gegen den Strich ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 106–109. Huysmans, À rebours ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 61: „Et, en effet, la curiosité, la naïveté compliquée du langage chrétien avaient, elles aussi, sombré. Le fatras des philosophes et des scoliastes, la logomachie du moyen âge allaient régner en maîtres.“ Deutsch, Gegen den Strich ( wie Anm. 3 ) c. 3, S. 109. Zu Désiré Nisard, der zu den einflussreichsten Literaturkritikern des 19. Jahrhunderts zählte und einer ganzen Generation von französischen Autoren der Spätromantik als Feindbild diente, z. B. Jost Schneider, Désiré Nisards Kritik am dichterischen Manierismus, Freiburg 1966, dort ausführlich zu Nisards Kritik an Lukan, die auch den Ausführungen Huysmans die Negativfolie bereithielt, S. 137–182. Zur weiteren Auseinandersetzung um Nisard z. B. Jean Malavie, Un bourgeois de LouisPhilippe a l’epreuve de l’esprit democratique. Désiré Nisard dans la crise de 1848, Lille 1972, S. 214–234. Joris-Karl Huysmans, À rebours, Texte présenté, établi et annoté par Marc Fumaroli, Paris 1977, S. 408–420, dort alle Zitate. Ebenfalls hierzu z. B. Elizabeth M. Donato, Beyond the Paradox of the Nostalgic Modernist. Temporality in the Works of J.-K. Huysmans, New York – Washington 2004, S. 121–125. Für Huysmans grundlegend waren Désiré Nisard, Études de mœrs et de critique sur les poètes latins de la décadence, Paris 1834, und Adolph Ebert, Geschichte der christlich-lateinischen Literatur von ihren Anfängen bis zum Zeitalter Karls des Grossen, 2 Bde., Leipzig 1874. Zur Biographie Huysmans als ganzer z. B. Alain Vircondelet, J.-K. Huysmans, Paris 1990. Die okkulte Phase des belgischen Schriftstellers, die der Abfassung von voranging, bespricht z. B. jetzt noch einmal Edyta Kociubiñska, Le dialogue avec le naturalisme dans l’Œuvre de Joris-Karl Huysmans, Lublin 2006, S. 151–156.
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Pracht der spätantiken Dichter schätzen ließ, wandelt sich und weicht nun einer neuen Sichtweise der lateinischen Literatur der nachkarolingischen Epoche. Huysmans bleibt dem paganen klassischen Latein weiter in herzlicher Opposition verbunden, doch stellt er ihm ein neues Ideal entgegen, die Askese, Transzendenz und Bedeutungsvielfalt der Latinität des Mittelalters. Aus der Kunstfigur des Herzogs wird in den späteren Romanen, die nach der Konversion Huysmans geschrieben werden, der Gottsucher Durtal. Einen Großteil der neuen Euphorie für das Christentum verdankt dieser Held in Huysmans im Jahre 1895 erschienenen Bekenntnisroman <En route> dem Chorgesang des Mittelalters. Gerade in der Selbstrücknahme des Künstlers, dem Verzicht auf alle äußeren Ornamente zugunsten einer, so Huysmans „demütigen Erhabenheit und einfachen Hochheit“ liegt die Attraktivität der gregorianischen Hymnik, des <Salve regina> oder . Ihre Texte sind „anspruchslos und schlicht wie die Evangelien selbst“ und dem heiligen Gesange angemessen 14. Die gleiche Vereinigung von sprachlicher Askese und mystischer Entgrenzung kennzeichnet für Durtal die Prosa der Heiligenviten eines Jacobus de Voragine oder der mystischen Aufzeichnungen einer Angelica di Foligno, deren, wie es heißt „von Mönchen geflochtene Leidensblumen“ auch in der Volkssprache noch ihre Wirkung entfalten können 15. Wie sein Alter Ego, der sich im Romanvorgänger noch an den Gräueltaten des mittelalterlichen Schlächters und Pädophilen Gilles des Rais abarbeiten musste 16, schreibt auch Huysmans im Anschluss die Biographie einer Heiligen, das Leben der Heiligen Lydwina von Schiedam 17. Drei Jahre nach <En route> erscheint , ein Roman über die Kathedrale von Chartres und ein einziges Eulogium auf die frühe Gotik als der vollkommenen Manifestation einer auf Gott hin ausgerichteten Weltordnung. Jene Autoren, denen Des Esseintes noch ihre scholastische Trockenheit zum Vorwurf gemacht hatte, werden Durtal nun zu Gewährsmännern des Symbolreichtums, der sich hinter den steinernen Mauern einer Kathedrale verbirgt. Auch im Latein eines Rhabanus Maurus, eines Hugo von Sankt-Viktor oder eines Durandus von Mende liegt nun das Bedeutungsgeflecht eingeschlossen, das die ganze Schöpfung auszeichnet. Ihre vermeintliche Trockenheit mutiert zu einem, so Huysmans, „hermetischen Lakonismus“, der seine Dichte nur nach und nach dem gläubigen Herzen offenbart 18. Ein Autor wie Walafrid Strabo, der dem Herzog Des Esseintes allenfalls noch wegen seines vermeintlich bizarren Gartengedichtes am Herzen lag, wird nun zu einem idealen Benediktiner, des-
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Joris-Karl Huysmans, En route, in: Le roman de Durtal, Paris 1999, c. 1, S. 312. Deutsch als JorisKarl Huysmans, Vom Freidenkertum zum Katholizismus, übersetzt von Albert Sleumer, Hildesheim 1925, c. 1, S. 25 f. Huysmans, En route ( wie Anm. 14 ) c. 2, S. 329: „Comment arriver à exprimer aujourd’hui le suc dolent et le blanc parfum des très anciennes traductions de la Légende dorée de Voragine? Comment lier en une candide gerbe ces fleurs plaintives que les moines cultivèrent dans les pourpris des cloîtres, alors que l’hagiographie était la sœur de l’art barbare et charmant des enlumineures et des verriers, de l’ardente et de la chaste peinture des Primitifs?“ Ebenso: En route ( wie Anm. 14 ) c. 2, S. 340. Deutsch, Vom Freidenkertum zum Katholizismus ( wie Anm. 14 ) c. 2, S. 44 f., S. 56 f. Joris-Karl Huysmans, Là-Bas, in: Le roman du Durtal ( wie Anm. 12 ) c. 2, S. 37–40, c. 4, S. 59–70, c. 6, S. 93–97, c. 8, S. 119–127, c. 11, S. 166–173. Joris-Karl Huysmans, Sainte Lydwine de Schiedam, Œuvres complètes, 15/1–2. Joris-Karl Huysmans, La Cathédrale, in: Le roman du Durtal ( wie Anm. 12 ) c. 5, S. 741 f., S. 748.
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sen Garten sich in ein Symbol der Kontemplation verwandelt 19. Huysmans stellt seine neuen Kenntnisse der mittelalterlichen Fachschriftsteller, des Rupert von Deutz, des Honorius oder des Vinzenz von Beauvais, die er nun nicht mehr aus der Sekundärliteratur erschließen musste, in den Folgejahren in einer Reihe von kunstgeschichtlichen Essays unter Beweis. Sie alle verklären sich nun zu Zeugen einer mystischen Gotik 20. Einen Anhänger findet Huysmans in seiner Idealisierung der mittelalterlichen Latinität, der Sprache der Hymnen und Sequenzen, die er dem klassischen Latein als spirituelle Opposition gegenüberstellt, in Remy de Gourmont ( 1858–1915 ), einem der großen Romanciers des späten 19. Jahrhunderts. Gourmont macht sich in seiner ausgreifenden essayistisch angelegten Literaturgeschichte, , die Werturteile des späteren Huysmans zu Eigen, ja er beruft sich in seiner Einleitung ausdrücklich auf ihn 21. Für Gourmont, der fast einen literaturgeschichtlichen Apparat zu den Werken des belgischen Katholiken schreibt, hat der Begriff der Dekadenz in der karolingischen Epoche endgültig seine Berechtigung verloren 22. Es ist, wie Gourmont betont, zuvorderst die lateinische Dichtung des Mittelalters, die gereinigte Sprache der Vulgata, in der die Poesie mit neuer Vitalität erfüllt wird. Wer würde den schmerzgetränkten und zugleich goldenen Zeilen des <Stabat mater> seine Anerkennung verweigern? Wer würde nicht sehen, dass sich hier ein neues Gefühl seine eigenen Regeln schafft 23? Während das Latein eines Horaz, so Gourmont, die Sprache eines fußkranken und übelgesinnten Egoisten bleibt, eines „podagre egoïste et sournois“, leuchtet die Latinität der Mönche aus dem Idealismus, der ihnen selbst zu Eigen war 24. Weder Huysmans noch Gourmont haben selbst auf Latein gedichtet. Anders jedoch ein Autor, der für beide Schriftsteller eine Vorbildfunktion besaß, Charles Baudelaire ( 1821–1867 ), der vielleicht bedeutendste französische Dichter des 19. Jahrhunderts. Dass der Verfasser der , der , Latein perfekt beherrschte, konnte er schon als Schüler unter Beweis stellen. Jules Mouquet hat die antikisierenden lateinischen Gedichte Baudelaires, darunter ein Poem über einen Vulkanausbruch in Italien, für die er am College in Lyon prämiert wurde, vor mehr als einem halben Jahrhundert herausgegeben 25. Nicht die antike Latinität, so wichtig sie
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Ebd., c. 10, S. 859, S. 861. Joris-Karl Huysmans, Trois Églises et trois primitifs, Paris 1908. Remy de Gourmont, Le Latin mystique. Le poètes de l’antiphonaire et la symbolique au moyen âge, Paris 1922, S. 5: „Mystiques, barbares, ou décadents, il les bien jués, cet ermite ( auquel ne convient que peu le De Laude Eremi de saint Eucher ), – et cela serait une surprise pour qui ne connaîtrait pas l’absolue conscience littéraire de M. Huysmans, qu’en dix-huit pages sur ces ténébreux auteurs, l’epluchage le plus minutieux ne puisse trouver une épithète ou une glose, qui ne soit d’une merveilleuse précision. Ébert lui été un bon guide.“ Die Rolle, die Huysmans in der Genese von gespielt hat, diskutiert Marc Fumaroli, Rhétorique de la décadence: l’À rebours de Joris-Karl Huysmans, S. 715–744, in: Ders., Exercises de lecture. De Rabelais à Paul Valery, Paris 2006, S. 742–746. Gourmont, Le Latin mystique ( wie Anm. 21 ) S. 6–9. Ebd., S. 4 f.: „Ce latin, méprisamment connu sous le nom de latin d’eglise, est, nous semble-t-il, un peu plus attirant que celui d’Horace, et l’âme de ses ascètes plus riche d’idèalité que celle du vieux podagre égoïste et sournois.“ Charles Baudelaire, Vers latins: avec trois poèmes en fac-similé. Introduction et notes par Jules Mouquet, Paris 1933. Die Gedichte tragen den Titel , mit französischer Übersetzung S. 58–61, , S. 64–73, dazu ein Prosatext, , S. 76–81. Zu
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auch sonst für die Ästhetik Baudelaires gewesen sein mag, hat jedoch in den ihren Widerhall gefunden, sondern die lateinische Dichtung des Mittelalters. Bereits ein oberflächlicher Blick auf die offenbart die Sympathie, die Baudelaire mittelalterlichen Sujets und Gedichtformen entgegenbringt. Patrick Labarthe hat noch vor kurzem auf die besondere Rolle hingewiesen, die mittelalterliche Bestiarien für Baudelaire in der Ausgestaltung der Allegorien in den gespielt haben 26. Andere Romanisten haben auf den Einfluss der scholastischen Moraltheologie aufmerksam gemacht, auf Leitideen wie die Erbsünde, die Prädestination und Verdammnis, oder auf das Laster der akedia, der Melancholie, die im Werk Baudelaires zu tragenden Motiven werden 27. Mit der Gattung des Totentanzes spielt Baudelaire in Gedichten wie dem 28 oder , dem <Skelett als Ackermann> 29. Das von Goya inspirierte Gedicht 30, , ruft trotz seines dunklen Untertons in seiner Reihung der Attribute die Marienpreisungen des Mittelalters ins Gedächtnis 31. Völlig im Stil eines kirchlichen Hymnus gehalten ist die , der , deren gebetsartige Invokationen „tu contiens“, „tu répands“, „tes baisers“ ebenso an den Sprachgebrauch der mittelalterlichen Sequenzen erinnern 32, wie die berüchtigten , die <Satanslitaneien>, und ihr beharrlich wiederholtes „O Satan, prends pitié de ma longue misère“ 33. Als 72. Abschnitt der finden wir einen Hymnus, der auf Latein geschrieben wurde, die , die Baudelaire, wie er voraus schickt, einer gelehrten und frommen Modistin widmet, einer „modiste érudite et dévote“. In elf Terzinen verherrlicht der Dichter Francisca, deren Gnade ihn von seinen Sünden befreit, die ihn wie ein Stern, eine stella salutaris, durch die Stürme des Lebens führt, und ihm am Ende Brot und Wein, den vinum divinum, darbietet 34. Baudelaire wählt als
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den Jahren Baudelaires am College in Lyon und ihrem Einfluss auf die Genese der z. B. Alain Niderst, La formation des Fleurs du mal, Paris 2007, S. 34–49. Patrick Labarthe, Baudelaire et la tradition de l’allegorie, Genf 1999, S. 463–560, bes. S. 463–469. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Literatur zu Baudelaire ist hier nicht beabsichtigt und auch nicht möglich. Zur akedia und ihrer Verbindung zum <Ennui> im Werk Baudelaires z. B. André Hirt, Baudelaire: L’exposition de la poésie, Paris 1998, S. 149–165. Zur Rolle der Erbsünde in den Gedichten Baudelaires z. B. Arnolds Grava, L’aspect metaphysique du mal dans l’œuvre litteraire de Charles Baudelaire et d’Edgar Allan Poe, Lincoln 1956, S. 83–105. Charles Baudelaire, Fleurs du mal. Commentaire: Essai d’une critique intégral par Robert-Benoit Chérix, Genf 1949, ND Genf 1993, CXX, S. 354 f. Baudelaire, Fleurs du mal, CXVI, S. 343 f. Ebd., LXIX, S. 216 f. Als ausführliche Interpretation dieses Gedichtes z. B. Peter Broome, Baudelaire’s poetic patterns, Atlanta 1999, S. 257–296. Baudelaire, Fleurs du mal (wie Anm. 28) XXV, S. 108. V. 5–8: Tu contiens dans ton œil le couchant et l’aurore; / Tu répands des parfums comme un soir orageux; / Tes baisers sont un philtre et ta bouche une amphore / qui font le héros lâche et l’enfant courageux. Zu diesem Gedicht z. B. Éléonore M. Zimmermann, Poétiques de Baudelaire dans Les Fleurs du mal. Rythme, parfum, lueur, Paris 1998, S. 92–96. Ebd., CLI, S. 442–444. Ebd., LXXII, S. 225 f.: Novis te cantabo chordis, / O novelletum quod ludis / In solitudine cordis. // Esto sertis implicitata, / O femina delicata, / Pe quam solvuntur peccata! // Sicut beneficium Lethe, / Hauriam oscula de te, / Quae imbuta es magnete. // Quum vitiorum tempestas / Turbabat omnes semitas, / Apparuisti, Deitas, // Velut stella salutaris / In naufragiis amaris, / Suspendam cor tuis aris! // Piscina plena virtutis, / Fons aeternae iuventutis, / Labris
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Versmaß einen achtsilbigen Trochäus, wie er auch in der christlichen Hymnik, wie dem berühmten , üblich war: Velut stella salutaris / in naufragiis amaris / Suspendam cor tuis aris: „Gleich dem Stern der Rettung in bitterer Seenot: An deinem Altar will ich mein Herz aufhängen“ 35. Dass Baudelaire hier die etablierte Sprache der Mariologie und des Canticum in seine Verse einfließen lässt, liegt auf der Hand und ist von Jan Öberg schon vor zwei Jahrzehnten hervorgehoben worden 36. In den Jahren 1843 bis 1854 hatte Edélestand Du Méril ( 1801–1878 ), ein Verwandter des Baudelaire-Apologeten Jean Barbey d’Aurevilly, drei Anthologien mittellateinischer Lyrik herausgegeben, die dem Dichter ausreichend Anschauungsmaterial zur Verfügung stellten 37. Ein monumentaler Band Marienhymnen war darüber hinaus noch 1853 von Franz-Josef Mone ( 1796–1878 ) in Druck gegeben worden 38. Ist es Baudelaires Absicht gewesen, die mariologischen Termini, die er Francisca beilegt, bewusst in einen säkularen Kontext zu stellen, um wie in den <Satanischen Litaneien> einen zu schreiben 39? Tatsächlich war schon die lateinische Liebesdichtung des Mittelalters, wie Peter Dronke gezeigt hat, so aus dem Sprachfundus der Marienhymnik bereichert worden 40, dass Baudelaires Gedicht noch eindeutiger in der Tradition des Mittelalters steht, als es auf den ersten Blick scheint. Klarer noch werden diese Bezüge, wenn man sich in Erinnerung ruft, wie sehr die romanischen Dichter des Mittelalters, sei es nun Peire Vidal oder Guido Cavalcanti, ihre donna, jene zwischen sinnlicher Geliebter und sublimierter intelligenza schillernden Angebeteten, mit den Attributen der Heiligen Jungfrau belegt haben 41. Auch Baudelaire verherrlicht seine Franziska, die vielleicht nicht zufällig den
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vocem redde mutis! // Quod erat spurcum, cremasti; / quod rudius, exaequasti; / quod debile, confirmasti. // In fame mea taberna, / In nocte mea lucerna, / Recte me semper guberna. // Adde nunc vires viribus, / Dulce balneum suavibus / Unguentatum odoribus! // Meos circa lumbos mica, / O castitatis lorica, / Aqua tincta seraphica; // Patera gemmis corusca, / Panis salus, mollis esca, / Divinum vinum, Francisca. Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, übersetzt von Friedhelm Kemp, München 2000, S. 131. Jan Öberg, Baudelaire als mittellateinischer Dichter, in: Ulrich Justus Stache – Wolfgang Maaz – Fritz Wagner ( Hgg. ), Kontinuität und Wandel. Lateinische Poesie von Naevius bis Baudelaire. Franco Munari zum 65. Geburtstag, Hildesheim 1986, S. 691–698. Poésies populaires latines antérieures au douzième siècle, hg. von Edélestand Du Méril, Paris 1843; Poésies populaires au Moyen Âge, hg. von Edélestand Du Méril, Paris 1847; Poèsies inédites du Moyen Âge, hg. von Edélestand Du Méril, Paris 1854. Mögliche Beispiele lateinischer Liebesdichtung finden sich in den Poésies populaires, S. 222–237, oder den Poésies inédites, S. 294, ein markanter provenzalischer Marienhymnus außerdem ebd., S. 334–337. Franz-Josef Mone, Lateinische Hymnen des Mittelalters, aus den Handschriften herausgegeben und erklärt, 3 Bde., Freiburg 1853–1855, dort 2, S. 1–450. Zu Baudelaires möglicher <Mystique antireligieuse>, die sich gerade im <Satanshymnus> zu manifestieren scheint, Paul Bénichou, Le Satan de Baudelaire, in: André Guyaux – Bertrand Marchal ( Hgg. ), Les Fleurs du mal. Colloque de la Sorbonne, Paris 2003, S. 9–23, und jetzt z. B. Alain Vaillant, Baudelaire, poète comique, Rennes 2007, S. 88–99. Peter Dronke, Medieval Latin and the Rise of European Love-Lyric, 2 Bde., Oxford 1965, 1, S. 181–192. Guido Cavalcanti, Rime, hg. von Letterio Cassata, Anzio 1993, 35, V. 37–46 ( S. 167 ): Tu, voce sbigottita e deboletta / ch’esci piangendo de lo cor dolente, / coll’ anima e con questa ballatetta / va’ ragionando della strutta mente. / Voi troverete una donna piacente, / di sì dolce intelletto / che vi sarà diletto / starle davanti ognora. / Anim’, e tu l’adora / sempre, nel su’ valore. Ein klassisches Beispiel einer Identifikation der donna mit einer überpersönlichen, gleichsam mariologischen intelligenza ist das gleichnamige anonyme italienische Gedicht , in: Poesia del Duecento e del Trecento, hg. von Carlo Muscetta – Paolo Rivalta, Turin
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Namen der Francesca di Rimini trägt, wie ein Troubadour oder Dichter des Dolce stil nuovo als eine solche donna, die allein ihm Erlösung gewähren kann. In einer langen Anmerkung zu seinem Gedicht rechtfertigt Baudelaire in seiner Ausgabe des Jahres 1857 die Verwendung der mittellateinischen Sprache. Sie, als, wie er sagt, „letzter Seufzer eines kraftvollen Lebens, schon verwandelt und für das geistige Leben vorbereitet“, ist besonders geeignet für den Ausdruck der Leidenschaft und damit im eigentlichen Sinne modern. Ihre Mystik, so Baudelaire, ist der „andere Pol eines Magneten“, von dem „Catull und seiner Bande, brutalen und vollkommen oberflächlichen Poeten“, „Catulle et sa bande, poètes brutaux et parfaitement épidermiques“, nur die Sinnlichkeit bekannt war. Auch wenn in den Worten des mittellateinischen Dichters die „Unbeholfenheit der nordischen Barbaren“ liegt, spricht aus ihnen, wie Baudelaire betont, die „Anmut der Kindheit“ 42. So werden für Baudelaire wie für Huysmans und Gourmont das mittelalterliche Latein, sein weniger gebundener Sprachgebrauch und sein rhythmisches Versmaß zu Zeugen der Unschuld, zu Garanten des ehrlichen Gefühls und der mystischen Unmittelbarkeit, damit aber zu einem Ideal, dem die polierte, doch sterile Latinität der klassischen Antike gegenübersteht. Die neuentdeckte anti-klassische Sprache erreicht, vielleicht auch in ihrem Exotismus, woran die vermeintlich vollkommene Latinität gescheitert war, sie war im Leben angekommen. Ob eine vergleichbare Opposition, wie sie von diesen Autoren konstruiert wird, ihr Eigenrecht hat, soll hier nicht beantwortet werden. Ohne Zweifel jedoch diente sie allen drei Poeten dazu, durch eine Parteinahme gegen die überkommenen Ideale der Klassik, ihre eigene Modernität zu legitimieren. III. DAS MITTELALTER ALS KLASSISCHE EPOCHE: CARL GEORG BRUNIUS UND DIE LATEINISCHE MITTELALTERROMANTIK IN SKANDINAVIEN
Eine völlig andere und vielleicht um vieles prosaischere Sichtweise auf die Latinität des Mittelalters und die lateinische Sprache offenbart sich, wenn wir den zweiten
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1956, S. 327–342. Zum Bild des in der Liebe zur donna dahingeopferten Herzens, Baudelaires cor suspensum, z. B. Suzanne Thiolier-Méjean, La poétique des Troubadours. Trois études sur le sirventes, Paris 1994, S. 93–101, oder Sylvia Huot, Troubadour lyric and Old French narrative, in: Simon Gaunt – Sarah Kay ( Hgg. ), The Troubadours, Cambridge 1999, S. 263–278, hier S. 274–277. Eine ausgreifende Synopse und Diskussion der Konzeption der domna des amour courtois liefert Rüdiger Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern – München 1985, S. 452–505. Abgedruckt in Baudelaire, Fleurs du mal ( wie Anm. 28 ) S. 221 f.: „Ne semble-t-il pas au lecteur, comme à moi, que la langue de la dernière décadence latine – suprême soupir d’une personne robuste déjà transformée et préparée pour la vie spirituelle – est singulièrement propre à exprimer la passion telle que l’a comprise et sentie le monde poétique moderne? La mysticité est l’autre pôle de cet aimant dont Catulle et sa bande, poètes brutaux et purement épidermiques, n’ont connu que le pôle sensualité. Dans cette merveilleuse langue, le solécisme et la barbarisme me paraissent rendre les négligences forcées d’une passion qui s’oublie et se moque des règles. Les mots, pris dans une acception nouvelle, révèlent la maladresse charmante du barbare du Nord, agenouillé devant la beauté romaine. Le calembour lui-même, quand il traverse ces pédantesques bégaiments, ne joue-t-il pas la grâce sauvage et baroque de l’enfance?“ Zur Genese der Erstausgabe des Jahres 1857, die Baudelaire später redigierte, Jean Mourot, Baudelaire. Les fleurs du mal, Nancy 1989, S. 115–123.
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Fall betrachten, der hier ausgreifender vorgestellt werden soll. In einer seltsamen Ungleichzeitigkeit zur Epoche der französischen Spätromantik lässt sich hier zeigen, wie die Antipoden von Antike und Mittelalter zu einer Versöhnung gelangen konnten oder wie sie nie als Widerspruch empfunden wurden. Im Jahre 1822 erscheint das ausgreifende lateinische Gedicht des Carl Georg Brunius, , 43. In sieben Büchern und fast 3000 Hexametern schildert Brunius ( 1792–1869 ), ein Griechisch-Professor aus dem schwedischen Lund, die Heldentaten des nordischen Pantheon, seine Entstehung und seinen Untergang im abschließenden Weltenbrand 44. Die Grundlage seines Werkes bildet die Edda, deren Prosafassung aus der Feder Snorris Brun ebenso kannte wie die sogenannte Ältere Liederedda. Bruns stattliches Epos, das umfangreichste lateinische Gedicht, das seit dem 13. Jahrhundert in ganz Skandinavien entstanden war, soll hier als Ausgangspunkt gewählt werden, um eine Lateinkultur des 19. Jahrhunderts und zugleich eine an die lateinische Sprache gebundene Mittelalterbegeisterung vorzustellen, die im Unterschied zu Baudelaire und Huysmans heute weitgehend vergessen ist. 1. Vorbedingungen: Skandinavische Nationalromantik und Lateinkultur im 19. Jahrhundert Dass sich ein Dichter in Schweden in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der Edda als Gegenstand bemächtigt, muss zunächst nicht weiter erklärt werden; im Gegenteil, seine Entscheidung erscheint vor dem Hintergrund seiner Epoche fast natürlich. Die skandinavische Erneuerungsbewegung und die sich anschließende Romantik hatten das Interesse an der autochthonen altnordischen Überlieferung gewaltig steigen lassen, ja sie war zu einer der wichtigsten poetischen Inspirationen geworden 45. Schon Johann Gottfried Herder ( 1744–1803 ) hatte in seiner Programmschrift Ende des 18. Jahrhunderts die Skaldenpoesie als Quelle einer unmittelbaren Welt- und Naturerfahrung proklamiert, ein „Zaubergarten“, der darauf wartete von Dichtern genutzt zu werden 46. Auch wenn Herder die, wie er selbst sagte, „rohe Wildheit“ der nordischen Gesänge ablehnte, konnten ihre Zeugnisse, wie er glaubte, als Quellen einer Urpoesie nicht hoch genug geschätzt werden. Herders eigene Übertragung des ersten Edda-Gesanges, der , die er zu einem Teil seiner machte, ist von dieser Begeisterung getragen worden 47. Friedrich David Gräter ( 1768–1830 ), einer der Mitbegründer der modernen Nordis43
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Carl Georg Brunius, De diis arctois libri sex, Stockholm 1822. Zitiert wird im folgenden nach der zweiten Auflage, Carl Georg Brunius, De diis arctois libri sex secundum Eddas concinnati, in: Poemata partim ante, partim nunc primum edita, Lund 1857, dort S. 1–95. Zu Leben und Werk des Carl Georg Brunius ist grundlegend Bo Grandien, Drömmen om medeltiden. Carl Georg Brunius som byggmästare och idéförmedlare, Lund 1974, dort zu seiner lateinischen Dichtung kurz S. 44–46. Ebenfalls kurz zu Bruns Gedicht außerdem Emin Tengström, Latinet i Sverige. En kulturhistorisk översikt, Stockholm 1973, S. 96. Zur Rolle der Edda in der Dichtung und Dichtungstheorie der deutschen und skandinavischen Romantik Klaus Böldl, Der Mythos der Edda. Nordische Mythologie zwischen europäischer Aufklärung und nationaler Romantik, Tübingen 2000, S. 122–185. Johann Gottfried Herder, Iduna oder der Apfel der Verjüngung, in: Sämmtliche Werke, 33 Bde., hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1877–1899, 18, S. 483–502. Johann Gottfried Herder, Voluspa, in: Volkslieder, in: Werke, 10 Bde., hg. von Ulrich Gaier, 3, Frankfurt 1990, S. 9–430, hier S. 350–359.
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tik, liefert im Revolutionsjahr 1789 in seinen weitere deutsche Übersetzungen der Skaldendichtung 48. Die Gesänge der Edda, fordert Gräter in seiner Schrift , mussten wie die Metamorphosen Ovids zu einem Epos vereinigt werden, um, so Gräter, die Nordische Weisheit in ihrer Geschlossenheit zutage treten zu lassen 49. In Schweden sind es zu Beginn des 19. Jahrhunderts Männer wie Erik Gustav Geijer ( 1783–1847 ), die als Vordenker der schwedischen Nationalromantik, wie Jöran Mjöberg und Klaus Böldl gezeigt haben, ähnliche Ideen vertreten 50. Geijer, später übrigens ein überzeugter Liberaler, ermutigt in seiner schwedischen die Dichter seiner Zeit, sich den Reichtum der altnordischen Überlieferung anzueignen 51. Dänemarks Nationaldichter Adam Oehlenschläger ( 1779–1850 ) macht sich schon 1807 in seinen , vergleichbare Forderungen zu Eigen 52; 1818 lässt er ihnen unter dem Titel , die , einen Gedichtband folgen, der das ganze Material der Edda in einem Zyklus neu in Verse fasst 53. In diesem Milieu der nationalen Erneuerung und einer allgemeinen Begeisterung für Zeugnisse der altnordischen Literatur macht sich Carl Georg Brunius daran, sein Großgedicht über die Götter des Nordens in die Tat umzusetzen. Warum aber schreibt er jenes Epos, das Gräter und sein eigener Landsmann Geijer eingefordert hatten, nicht auf Schwedisch, sondern in leichtfüßigen, doch dem Publikum auf den ersten Blick weniger zugänglichen lateinischen Hexametern? Spätestens seit den Übertragungen von Rasmus Christian Rask und Arvid Afzelius aus dem Jahre 1818 lagen die Ältere und Jüngere Edda in modernen schwedischen Fassungen vor; jeder Schwede konnte sie ohne Schwierigkeiten einsehen 54. Um die Motive Bruns zu erklären und die Frage nach dem besonderen Wert des Lateinischen als einer Dichtersprache im Schweden des 19. Jahrhunderts, damit aber auch nach dem poetischen Selbstverständnis Bruns zu beantworten, müssen wir weiter als nur bis zur schwedischen Nationalromantik vordringen. Wir müssen uns die Ausgangsbedingungen Bruns vor Augen füh48 49
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Friedrich David Gräter, Nordische Blumen, Leipzig 1789. Zu Friedrich David Gräters Überlegungen, welches poetische Potential die nordische Mythologie besitzen könnte, Böldl, Der Mythos ( wie Anm. 45 ) S. 145–151. Allgemein zu Erik Gustav Geijers Auseinandersetzung mit altnordischer Literatur die Übersicht bei Bengt Henningson, Geijer som historiker, Uppsala 1961, S. 207–260. Zu Erik Gustav Geijers einflussreicher Abhandlung Jöran Mjöberg, Drömmen om Sagatiden, 2 Bde., Stockholm 1967, 1, S. 116–120, Adolph Burnett Benson, The Old Norse Element in Swedish Romanticism, New York 1914, ND New York 2002, S. 120–123, und Böldl, Der Mythos ( wie Anm. 45 ) S. 161–163. Adam Oehlenschläger, Nordiske Digte ( 1807 ), in: Poetiske Skrifter, 5 Bde., hg. von Helge TopsøeJensen, Kopenhagen 1928, 3, darunter , S. 29–136, und , S. 137–223. Adam Oehlenschläger, Nordens Guder. En episk Digt, in: Poetiske Skrifter, 32 Bde., hg. von Frederik Ludvig Liebenberg, Kopenhagen 1857–1862, 29, S. 5–304, darunter z. B. , S. 103–115, , S. 126–130, <Skirnirs Samtale med Freier>, S. 204–212, oder , S. 286–294. Sæmund des Vises Edda: sånger af Nordens äldesta Skalder efter Handskrifter från Skandinaviska FornSpråket öfversatte af Arvid August Afzelius, Stockholm 1818; Snorra-Edda Ásamt Skáldu Og Parmej Fylgjandi Ritgjörjum: Eptir Gömlum Skinnbókum. Útgefin af Rasmus Kristian Rask, Stockholm 1818.
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ren. Zu diesem Zweck sollten zwei elementare, doch heute weitgehend in Vergessenheit geratene Charakteristika der skandinavischen Gelehrtenkultur des 18. und 19. Jahrhunderts in Erinnerung gerufen werden, die nicht allein die Wissenschaft des schwedischen Imperiums geprägt haben, doch in ihr besonders markant hervortreten: 1. Die Position der lateinischen Philologie als einer universitären Leitdisziplin im Norden des 18. und frühen 19. Jahrhundert. 2. Die Rolle der lateinischen Sprache als einer Übersetzungssprache an den europäischen Universitäten allgemein. a ) Latein als Leitdisziplin Zunächst zur Lateinischen Philologie als Leitdisziplin. Dem melanchthonschen Bildungssystem, das die aktive und passive Beherrschung der lateinischen Sprache in den Mittelpunkt seiner Ausbildung gestellt hatte, war durch die lutheranische Staatskirche im schwedischen Imperium ein noch größerer Erfolg beschieden als in den Regionen Mitteldeutschlands. Schwedische Diplomaten waren in Europa dafür bekannt, sich auf Kongressen in fließendem Latein verständigen zu können 55. Die Universitäten des schwedischen Großreiches, allen voran die schon im Jahre 1477 gegründete Akademie von Uppsala, der später die Universitäten von Turku, Lund, Greifswald, Dorpat und Pernau folgen sollten, pflegten eine lateinische Disputationskultur, die vielleicht die einzige Möglichkeit war, die polyglotte Studentenschaft auf eine einheitliche Sprache zu verpflichten. Tausende von Disputationen wurden in der Folgezeit bis in das 19. Jahrhundert in lateinischer Sprache entgegengenommen und gedruckt und mit lateinischen Widmungsgedichten versehen; Fest- und Totenreden erfolgten auf Latein 56. Kaum zufällig wurde der einst von Johann Skytte begründete Lehrstuhl für lateinische Rhetorik in Uppsala bis zum 19. Jahrhundert das wichtigste Ordinariat, das die Universität zu vergeben hatte 57. Es waren im Regelfall Altphilologen, die in Schweden weit über die heutigen Grenzen ihres Faches hinaus die Auseinandersetzung mit den autochthonen Überlieferungen Skandinaviens beherrscht hatten, die sich um die Erschließung der Quellen bemühten und ihre Herausgabe und Interpretation vorbereiteten. Als Olof Rudbeck ( 1630–1702 ), die vielleicht wichtigste Figur des schwedischen Barocks, seine Summe der gotizistischen nationalschwedischen Geschichtsbetrach55
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Ein schönes Beispiel, nämlich Axel Oxenstierna, gibt Peter Burke, Küchenlatein. Sprache und Umgangssprache in der frühen Neuzeit, Berlin 1989, S. 44. Allgemein zum Lateinischen als Verkehrssprache im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit Thomas Haye, Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters, Berlin – New York 2005, dort das Fazit S. 150–152, und Burke, Küchenlatein, passim. Zu den Geschichten der frühneuzeitlichen und barocken Universitäten des schwedischen Imperiums die Standardwerke von Claes Annerstedt, Uppsala Universitets Historia. Andra Delen. 1655–1718, 2 Bde., Uppsala 1908/1909; Ders., Uppsala Universitets Historia. Tredje Delen. 1719–1792, 2 Bde., Uppsala 1913/1914; Karl Gabriel Theodolf Rein, Filosofins studium vid Åbo universitet, Helsinki 1908; Herman Råberg, Teologins historia vid Åbo universitet, 2 Bde., Helsinki 1893–1901; Georg von Rauch, Die Universität Dorpat und das Eindringen der Frühaufklärung in Livland 1690–1710, Essen 1943; Helmut Piirimäe, Ülikoolilinn Pärnu, Tartu 1999; Matti Klinge, Eine nordische Universität. Die Universität Helsinki 1640–1990, Helsinki 1992, S. 13–197; Sten Lindroth, A History of Uppsala University 1477–1977, Uppsala 1976, S. 15–146. Zur Geschichte dieses Ordinariates Barbro Lewin, Johan Skytte och de skytteanska professorerna, Uppsala 1985.
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tung schrieb, die , die in vier monumentalen Bänden den Beweis führte, dass Atlantis und das primordiale Schweden deckungsgleich waren, hatte er gerade für die klassischen Philologen ein Paradigma geschaffen, das für Jahrzehnte die Möglichkeit bot, antike Mythologeme und nordische Geschichte einander aufzurechnen 58. Götterwelten und Erzählgut, seien es die Taten des Herakles, die Amazonen, die Pygmäen oder die Argonautensage, hatten, wie die Rudbeckianer glaubten, ihren Archetyp in der altnordischen Überlieferung. Eine ganze Generation von schwedischen Gelehrten übernahm diese Ausgangsposition 59. Den Altphilologen, den Hohepriestern der allvereinigenden patriotischen Exegese, war auf diese Weise eine Schlüsselstellung im Bildungssystem zugefallen. Als das imaginäre Konstrukt Rudbecks in seinem Universalitätsanspruch zusammenbrach, waren es wiederum zuvorderst Vertreter der Klassischen Disziplinen, die wie Johann Ihre oder Jakob Neikter durch ihre Neudatierung der Runensteine und der Zeugnisse der Skaldenpoesie in Schweden die selbstgenerierte Urgeschichte in Frage stellten und einen Neuanfang ermöglichten 60. In Turku begannen in den Jahrzehnten vor Brun Henrik Gabriel Porthan ( 1739–1804 ) und seine Doktoranden, Eric Lencquist und Christfried Ganander in Anlehnung an Herder die finnische Volksdichtung zu sammeln, kritisch zu sichten, und in ihrer Metrik und ihren sprachlichen Möglichkeiten zu würdigen 61. Auch Porthan, der Vordenker der finnischen Literatur, hatte in Turku, wie nicht weiter verwundert, den Lehrstuhl für lateinische Sprache inne. Noch der Sammler und Vollender des Kalevala, des finnischen Nationalepos, Elias Lönnroth, schrieb seine erste Arbeit über den Helden seines Gedichtes, den Schamanen Väinamöinen, im Jahre 1821 auf Latein 62. b ) Latein als Übersetzersprache Der besonderen Rolle des Lateinischen in Skandinavien lässt sich ein zweites Phänomen an die Seite stellen, der Vorrang, den das Lateinische als Übersetzungssprache vor allem der Literaturen der außereuropäischen und vorklassischen Kulturkreise noch in den ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts innehatte. Die Reichweite des Lateinischen beschränkt sich hier nicht auf das Gebiet des schwedischen Imperiums.
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Olof Rudbeck, der Ältere, Atland eller Manheim. Atlantica sive Manheim, 4 Bde., Uppsala 1679–1702. Zur Rudbecks und ihrer enormen Wirkung in Skandinavien z. B. Gunnar Eriksson, The Atlantic Vision. Olaus Rudbeck and Baroque Science, Canton 1994, S. 13–86, und noch einmal ausführlich Ders., Olaus Rudbeck 1630–1702. Liv, lärdom, dröm i barockens Sverige, Stockholm 2002, S. 279–496, und schon Johan Nordström, De yverbornes ö. Sextonhundratalsstudier, Stockholm 1934, S. 136–154. Zu Rudbecks Allegorese und ihrer Wertung der altnordischen Dichtung vor allem Mats Malm, Minvervas äpple. Om diktsyn, tolkning och bildspråk inom nordisk göticism, Stockholm 1996, S. 73–106. Hierzu vor allem die drei Arbeiten bei Krister Östlund, Johan Ihre on the Origins and History of the Runes. Three Latin Dissertations from the mid 18th Century, edited with translation and commentary, Uppsala 2000. Zur Gestalt Henrik Gabriel Porthans z. B. M. G. Schybergson, Henrik Gabriel Porthan. Lefnadsteckning, 2 Bde., Helsinki 1908, oder Matti Klinge, Mikä mies Porthan oli?, Helsinki 1989. Zur Erschließung der finnischen Volksdichtung durch Porthan und seine Doktoranden AnnaMari Sarajas, Studiet av folkdiktningen i Finland intill slutet av 1700-talet, Stockholm 1982 ( zuerst als: Suomen kansanrunouden tuntemus 1500–1700-lukujen kirjallisuudessa, Helsinki 1956 ), S. 178–219. Reinhold von Becker – Elias Lönnrot ( resp. ), De Väinämöine priscorum Fennorum numine, Turku 1827.
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Als im Gefolge William Jones’ und Henry Thomas Colebrokes die ersten Texte der Sanskritliteratur in den Westen gelangten, waren es in Mitteleuropa zuvorderst Altphilologen, die sich ihrer annahmen 63. Das in Jahrhunderten gestählte Methodengerüst der Klassischen Philologie stellte die Grundlage zur Verfügung, mit deren Hilfe auch die neuen Literaturen erschlossen wurden. Es verwundert so nicht weiter, dass auch die Mehrzahl der ersten Übersetzungen, die von diesen Texten als Verständnishilfe angefertigt wurden, lateinische Fassungen waren, die sich um ein sprachlich angemessenes Niveau bemühten und der Syntax der Originale so nah wie möglich kommen sollten. Im Jahre 1801 war die lateinische Version der erschienen, die Abraham Hyazinth Anquetil-Duperron ( 1731–1805 ) aus dem Persischen des Mogulprinzen Darah Shukoh angefertigt hatte 64, das 65. Noch Schopenhauer lernte die Upanishaden in dieser Fassung kennen. Wenige Jahre später hatte die romantische Sehnsucht nach der Urweisheit und der ersten Dichtung, die schon Herder umgetrieben hatte, Friedrich Schlegel dazu geführt, seine Forschungen auf das Feld Indiens auszudehnen 66. Sein Bruder August Wilhelm Schlegel ( 1767–1847 ) stellte dieser Sehnsucht das notwendige philologische Rüstzeug an die Seite 67. Die von ihm im Jahre 1823 besorgte Ausgabe der versah Schlegel mit einer makellosen lateinischen Übersetzung 68, ebenso die Teilausgabe des 69, die sich wenig später anschloss. Nicht zuletzt durch diese Vorbilder blieb das Lateinische bis weit in die sechziger Jahre eine legitime Vermittlungssprache der Indologie, die einer Vielzahl von klassischen Werken der Sanskritliteratur auf diese Weise ihre Verbreitung sicherte. Auch zahlreiche Standardtexte der buddhistischen Pali-Literatur erschienen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Latein 70. Als der Königsberger Orientalist Petrus von Bohlen ( 1786–1841 ) in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts das vielleicht berühmteste Liebesgedicht der altindischen Literatur 71, das des Bilhana, herausgab, übersetzte er die Verse, deren komplexes Versmaß er niemals hätte wiedergeben können, bewusst in eine rhythmische Prosa, die den Gleichklang des Indischen imitieren sollte. Aus dem ersten Vers des Gedichtes: Ady’ a¯ pi t¯am kanakacampakad¯amagaurim / phull’¯aravindavadan¯am tanuromar¯ajim / supt’otthit¯am madanavihvalas’alas’¯angim / vidy¯am pram¯adagalit¯am iva cintay¯ami. „Immer noch erinnere ich mich an sie, golden wie ein Kranz von ChampakaBlumen, ihr blühendes lotusgleiches Gesicht, ihre schlanke Gestalt, ihre Glieder, von der Leidenschaft erschöpft, schwach von all den Umarmungen, wie sie aus dem Schlaf erwacht, wie ein in der Sorglosigkeit verlorenes Wissen“, wird in der lateinischen Fassung: Vel hodie virginem illam, / veluti aurei Champaki fibram flavam, / expansae Nymphaeae ore ridentem, / tenerrimis capillis ornatam, / somno surrectam, / membris amore concussis languidam, / cogito quam scientiam incuria amissam 72. Hatte das Lateinische in den philologischen Fächern wie der Indologie eine ganz eigene Gültigkeit und Schönheit als Vermittlungssprache bewahrt, so beansprucht es diese Rolle auch in der Erschließung der altnordischen Literatur. Ihre Übersetzungssprache in Skandinavien war Latein. Als der Zirkel um Ole Worm in Dänemark zum Ende des 17. Jahrhunderts anfing, die Skaldenliteratur aufzuarbeiten, und mit der Herausgabe und Übersetzung isländischer Texte begann 73, entstanden auch die ersten
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August Wilhelm von Schlegel, Ramayana id est carmen epicum de Ramae rebus gestis poetae antiquissimi poetae Valmicis opus, 2 Bde., Bonn 1829–1846. Als Beispiel eine Übersetzung des Raskeschülers Viggo Fausböll, Dhammapadam, latine vertit, excerptis ex commentario Palico illustravit Viggo Fausböll, Kopenhagen 1865. So wird aus <Appamádavaggo>, § 21 ( S. 5 ): Appamádo amatapadam, pamádo maccuno padam; / appamattá na míyanti, ye pamattá yathámata lateinisch: Vigiliantia immortalitatis via, socordia mortis via; / vigiles non moriuntur, qui socordes, quasi mortui. Zur Gestalt Bohlens Windisch, Geschichte ( wie Anm. 63 ) S. 86–89. Zu den weiteren lateinischen Übersetzungen von Bohlens gehört K¯alid¯asa: Petrus von Bohlen, Ritusanh¯ara id est Tempestatum cyclus, Carmen sanskritum, K¯alid¯aso adscriptum, edidit, latina interpretatione, germanica versione metrica atque annotationibus criticis instruxit, Leipzig 1840. Als Beispiel aus dem , III, Str. 28 ( Sanskrittext, S. 26 ): Lateinisch, Tempestas Sarad, S. 60: Autumni tempestas haec jocantis instar virginis expansi / nelumbii facie, floridae caeruleae loti oculis, florente novo / saccharo, candido vestimento vestita, nymphaeae pulchro / risu, optimum vobis animorum gaudium commonstret. Deutsch, S. 96: ‚Sie hat wie eine Geliebte mit Blüthen sich bestreut, / Mit Blumenmund und Augen, geschmückt mit weißem Kleid; / Sie naht mit Lotuslächeln, um Freuden zu verleihen: / Drum kehre des Herbstes Wonne in Eure Herzen ein.‘ Auch lateinische Gedichtübertragungen aus dem Arabischen fehlen unter den Opera Bohlens nicht, dazu z. B. Petrus von Bohlen, Commentatio de Motenabbio poeta Arabum celeberrimo eiusque carminibus, Bonn 1824, dort drei Gedichte mit lateinischer Version S. 115–128. Petrus von Bohlen, Bhartrihari Sententiae et carmen quod Chauri nomine circumfertur eroticum editit, latine vertit et commentariis instruxit, Berlin 1833, in Sanskrit S. 1, lateinisch S. 77. Eine knappe Übersicht über die zahlreichen lateinische Übersetzungen, die seit dem späten 17. Jahrhundert zur Saga-Literatur entstanden waren, gibt Sigurjur Pétursson, Iceland, in: Minna Skafte Jensen
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Übertragungen der Edda, die in der großen lateinischen Ausgabe Peder Hans Resens ( 1625–1688 ) gebündelt wurden 74. Resens nordische Götter mutieren zu Beginn noch zu Dionysos oder Juppiter, aus den Riesen werden in der lateinischen Fassung der die Titanen 75. Noch Herder greift, wie Uwe Ebel gezeigt hat, in Teilen auf die Edda-Ausgabe Resens zurück 76. Auch als Johann Göransson in Schweden im Jahre 1750 die Edda zum Druck bringt, stellt er ihr mit gleicher Berechtigung eine, wenn auch sehr subjektive lateinische Übertragung zur Seite 77. Die große bis weit in das zwanzigste Jahrhundert verbindliche kommentierte Ausgabe der Edda, die von den Isländern und Dänen verantwortet wurde, war Ende des 18. Jahrhunderts in Angriff genommen worden. Während die Bearbeitung der Liederedda etwa zeitgleich mit dem Gedicht Bruns ihren Abschluss findet 78, erscheint der zweite Band der kommentierten Ausgabe Snorris, die der Isländer Sveinbjörn Egilsson ( 1791–1852 ) übernommen hatte, der vielleicht wichtigste Übersetzer Islands 79, erst 1852, der letzte gar weitere dreißig Jahre später 80. Alle Bände waren mit einer lateinischen Prosaübersetzung versehen, die im Unterschied zu den ersten Fassungen des 17. Jahrhunderts das altnordische Pantheon nicht weiter latinisierte, sondern in seiner ursprünglichen Form beließ. Überschaut man dieses Panorama, die Existenz einer ausdifferenzierten und subtilen lateinischen Übersetzersprache und zugleich ihre Sonderrolle im skandinavischen Bildungsbetrieb, so erscheint die Entscheidung Bruns, die Edda in ein lateinisches Epos zu fassen, nicht mehr als Schnurre eines jungen Gelehrten, sondern wie eine folgerichtige Konsequenz. Die Allianz zwischen lateinischer Literatur und Gelehrtensprache und Skaldenpoesie, ja die lateinische Arbeit an der alten Dichtung und am Mythos überhaupt hatte eine jahrhundertelange Tradition, in die sich Brunius ohne Schwierigkeiten fügte. Die Wahl der lateinischen Sprache war daher für Brun keine Entscheidung für ein klassisches Latein und gegen eine Tradition, die er als unklassisch
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( Hg. ), A History of Nordic Neo-Latin Literature, Odense 1995, S. 96–128, hier S. 109–115, S. 123 f., S. 125–127. Peder Hans Resen, Edda Islandorum an. chr. MCCXV islandice conscripta per Snorronem Sturlae, Kopenhagen 1665; Ders., Philosophia antiquissia norvego-danica dicta Voluspa quae est pars Edae Saemundi, Kopenhagen 1665; Ders., Ethica Odini pars Eddae Saemundi vocata Haavamaal, Kopenhagen 1665, gemeinsam als ND Edda Islandorum. Völuspá. Hávamál, hg. von Anthony Faulkes, Reykjavík 1977. Ausführlich zu Resens Edda-Ausgabe und ihrer Verbreitung in Europa Uwe Ebel, Studien zur Rezeption der <Edda> in der Neuzeit, in: Ders., Gesammelte Schriften zur skandinavischen Literatur, 3: Zur Renaissance des vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Metelen 2001, S. 19–78, S. 20–36. Ebd., S. 57–68. Johann Göransson, De Yfverborna Atlingars, eller, Sviogötars ok Nordmänners Edda, h. e. Atavia, seu fons gentilis illorum et theologiae et philosophiae; iam demum versione Svionica donata, accedente Latina, una cum praefamine de Eddae antiquitate, ut et de antiquissimis et genuinis Skythis, Getis, Gotis, Atlanteis, Hyperboreris, Cimbris, Gallis eorumque satore Gomero, Uppsala 1746. Zu Johann Göranssons Übersetzung, die von den Arbeiten des Johannes Bureus und Olof Rudbecks beinflusst war, Ebel, Studien zur Rezeption ( wie Anm. 75 ) S. 28 f., Ingmar Stenroth, Myten om goterna. Från antiken till romantiken, Stockholm 2002, S. 162–164, und die Arbeit von Thomas Karlsson, Adulrunan och den götiska kabbalan, Sundbyberg 2005, S. 119 f. Edda Saemundar hinns fróda – Edda rhythmica seu antiquior, vulgo Saemundina dicta, 3 Bde., Kopenhagen 1787–1828. Zu Egilsson kurz Pétursson, Iceland ( wie Anm. 73 ) S. 126 f. Edda Snorra Sturlusonar – Edda Snorronis Sturlaei, 3 Bde., Kopenhagen 1848–1887.
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empfunden hätte, sie war auch kein Versuch, wie im Fall Baudelaires, Huysmans oder Gourmonts, mittelalterliches und klassisches Latein gegeneinander auszuspielen. Ebenso wenig war es Bruns Absicht, den nordischen Mythos zu antikisieren. Im Gegenteil, beide Welten ließen sich gar nicht voneinander trennen; Mittelalter, nordische Überlieferung und Latinität konnten ohne Brüche ineinander aufgehen. Brun hatte die Sprache seines Epos gewählt, die ihm als die einzig angemessene erscheinen musste. 2. Carl Georg Brunius’ In der äußeren Form seines Gedichtes erspart Brun seinen Lesern alle Versuche, seiner Vorlage ein quasi-klassisches Erscheinungsbild zu verleihen, weder Schildbeschreibungen, Heerschauen, Digressionen noch andere Attribute der antiken Epik werden dem Erzählstrom eingefügt. Brun bemüht sich um größtmögliche Textnähe und Authentizität, nur auf eine Anrufung der Musen am Anfang will er nicht verzichten 81. Die Götter treten unter ihrem eigenen Namen auf; vermeintliche Latinisierungen wie die Apostrophierung des allfajr Odin als dem moderator Olympi verdanken sich eher metrischen Notwendigkeiten. Lateinische Patronymica wie die Umschreibung Lokis als Laufeia proles oder Farbautiades sind in Wirklichkeit bereits durch den Sprachgebrauch des altnordischen Originals vorgegeben. Brun verteilt die lose Folge der Gesänge der Liederedda ebenso wie die ProsaEdda Snorris gleichmäßig und in chronologischer Ordnung auf die sechs Bücher seines Gedichtes und vereinigt sie auf diese Weise zu einem einheitlichen Epos. Buch I beginnt mit der Schöpfungsgeschichte, der Genese der Götter und Riesen, die Brun mit Hilfe Snorris ausbreitet. Im ersten Teil der Prosa-Edda, der sogenannten , konnte Brun den entsprechenden Götterkatalog finden, die Genese der Götter erzählt er zusätzlich unter Nutzung der , während er die Rahmenhandlung der Prosa-Edda ausspart. Die Kapitel Fünf bis Neun der zeigen Brun in loser Ordnung, wie aus dem Reif des primordialen Chaos und den vitales guttae der Urriese Hymerus hervorgeht, die Grundlage der weiteren Schöpfung 82. Als semina vivifica bilden seine Körperteile die weiteren Riesen 83. Der Riese Bure wird von einer Kuh aus dem Eis geleckt, mit ihm beginnt die Genealogie der Asen 84. Wie ein Antitypos zum ovidianischen Schöpfungsszenario entsteht die Erde aus den Knochen des ermordeten Hymer, die Gewässer aus seinem Blut und der Himmel aus dem Fett 85. Die Riesenkinder Nott und Dagr werden gemeinsam mit den Pferden, Skinfaxe
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Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 3: Numina maiorum formidatosque gigantas / Pernicesque canam nanos. Ne spernite, Musae, / Carminibus celebrare deos Latialibus illos, / Quamvis Romanas obscuravere loquelas. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 3 f., als Basis , Str. 3, in: Edda. Die Lieder des Codex regius, hg. von Gustav Neckel, 2 Bde., Heidelberg 1914, 1, S. 1, und Edda Snorra Sturlusonar, hg. von Finnur Jónsson, Kopenhagen 1931, Gylfaginning, § 5, S. 12 f. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 4, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 5, S. 13. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 4, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 6, S. 13 f. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 4 f., als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, §§ 7–8, S. 14 f., und , in: Edda. Die Lieder des Codex regius ( wie Anm. 82 ) Str. 40–41, S. 63.
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und Rimfaxe, auf denen sie reiten, zu Tag und Nacht 86, vier Zwerge bilden die Himmelsrichtungen 87. Auch die Nomenklatur der Asen leitet Brunius in Reihenfolge aus der ab, auch wenn er ihre Charakterisierung erheblich kürzt 88. Länger verweilt er bei der Darstellung der Weltenesche Yggdrasil und ihren Bewohnern 89. An die ausführliche Beschreibung der Nornen, in der der Untergang der Asen vorweggenommen wird, und die Prophezeiungen Mymirs, für die Odin mit einem Auge bezahlt 90, schließt sich die Schilderung der Götterburg Asgards, deren Attribute aus dem Eddalied und Snorri gewonnen werden 91. Im zweiten Buch setzt die eigentliche Handlung ein, das Erzählgut der Edda. Bis zur Mitte des Gedichtes trägt Loki, der Gott des Feuers, die Dynamik des Geschehens und verbindet auf diese Weise die bei Snorri nur lose gereihten Einzelepisoden miteinander. Brun beschreibt mit Snorri zunächst den weiteren Bau Asgards, den ein Riese bewerkstelligt. Nur durch das Eingreifen Lokis endet das Unternehmen für die Götter nicht in einem Desaster. Der Feuergott hatte sich in eine Stute verwandelt und das gewaltige Pferd des Riesen, Svadilfari, abgelenkt, das ihm seine Arbeit ermöglicht hatte. Zur unfreiwilligen Frucht dieses Erfolges wird Odins Pferd Sleipnir 92. Eine weitere fraus des Feuergottes, gewonnen aus dem <Skáldskaparmál> Snorris, kann Brun anschließen, den Raub der Äpfel der Iduna, der Attribute der göttlichen Unsterblichkeit. Auch diese Episode findet für die Götter noch ein gutes Ende, auch wenn der Gott Njordr genötigt ist, eine Ehe mit einer Riesin einzugehen. Skadi, die Tochter des Riesen Thjazi, hatte den Gott des Windes als Wiedergutmachung für die Ermordung ihres Vaters und die Zurückerstattung der Äpfel als Gatten gewählt, weil sie ihn für Balder gehalten hatte 93. Die unter denkbar ungünstigen Vorbedingungen begonnene Partnerschaft scheitert und der Junggeselle Brunius kann sich eine Glosse nicht verkneifen 94. Während Njordr das Meer als Wohnort bevorzugte, hatte sich Skadi, wie es in der heißt, das Gebirge als Heimat gewählt, doch alle Versuche, eine Einigung zu finden, schlagen fehl 95. Den größten Teil des zweiten Buches nimmt die 86
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Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 5, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 10, S. 17, und ( wie Anm. 82 ) Str. 5–6, S. 2. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 5 f., als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 8, S. 14 f. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 6–10, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, §§ 20–35, S. 27–39. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 10, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, §§ 15–16, S. 22–25, und ( wie Anm. 82 ) Str. 19–20, S. 5. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 12 f., als Grundlage ( wie Anm. 82 ) Str. 28–29, S. 7. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber I, S. 13 f., als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, §§ 38–41, S. 42–45, und ( wie Anm. 82 ) Str. 22–26, S. 59 f. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber II, S. 17–20, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 42, S. 45–47. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber II, S. 20–24, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Skáldskaparmál, §§ 2–3, S. 78–81. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber II, S. 24: Cum primum, moneo, genialia iura, puellae, / Ignarae petitis cupide trepidaeque futuri; / Vos neque divitiae, neque regna superba virorum / Disparibus facient animis studiisque beatas; / Ast iidem mores et vota simillima votis / Candor et integritas et amor contentus amore. / Exemplum vel me tantum referente timete. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber II, S. 24 f., als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 23, S. 30 f. So lässt Brunius Skadi sagen, S. 25: Ego litora, dixit, / Nuda odi; quoniam ( mea collige
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berühmte Heimholung des Hammers ein, die vom der Edda besungen wird. Gemeinsam mit Loki bemüht sich Thor, seinen Hammer Mjölnir vom Riesen Thrymir zurückzugewinnen, und ist genötigt, als Freya verkleidet, eine Komödie aufzuführen, die mit der Erschlagung des Riesen ihr Ende findet 96. Im Zentrum des dritten Buches und damit an der zentralen Achse des ganzen Gedichtes steht die Tötung Balders. Vom trickreichen, wenn auch zwielichtigen Helfer der Götter wandelt sich Loki nun zur diabolischen Figur. Mit Snorri berichtet Brun zunächst von den Kreaturen, die vom Feuergott gezeugt werden, dem Fenriswolf und der Midgardschlange, und den Versuchen der Götter, den Wolf zu fesseln. Odin, im Wissen um die Gefahr, die den Göttern von der Schlange droht, wirft Iormungandr ins Meer, wo sie ins Unermessliche wächst. Zweimal zerbricht die Fessel des Höllenwolfs, schließlich gelingt es, ihn mit den tenacia vincla, der magischen Fessel Gleipnir unschädlich zu machen 97. Dann setzt der Höhe- und Wendepunkt im Leben der Götter und zugleich im Epos Bruns ein, der in einer Kombination der Liederedda, den sogenannten und Snorris Prosafassung geschildert wird. Allen Teilen der Schöpfung hatte Frigg den Eid abgerungen, Balder unversehrt zu lassen: Vos, audite, simul montana cacumina terrae, / Silvosae valles, saxosaque litora, vasta / Aequora, fontani latices, pigraeque paludes, / Vosque metalla, graves morbi, funesta venena, / Immanesque ferae, volucres, torvique dracones; / O prohibite minas, magnas compescite vires, / Ne natum violate pium, decus aetheris alti, / Florentisque decus telluris amabile, Baldrum. „Hört, ihr bergigen Zinnen der Erde, / ihr waldigen Täler, ihr felsigen Gestade, / ihr endlosen Meere, ihr quellenden Gewässer und starrenden Sümpfe, / und ihr Metalle, drückenden Krankheiten und tödlichen Gifte, / ihr wilden Tiere, ihr Vögel und finsteren Drachen, / droht nicht mehr, zähmt eure gewaltigen Kräfte, / verletzt ihn nicht, den frommen Spross, den Glanz unseres Äthers, / die liebliche Zierde der blühenden Erde, Balder“ 98. Odin war von der Seherin Wölva, zu der er sich verkleidet begeben hatte, über die Gefahren, die dem Gott der Fruchtbarkeit drohten, gewarnt worden 99. Dennoch tötet der blinde
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dicta ) soporem / Hic fluctus turbant rapidi volucresque marinae. / Me suppressa iuvant frondosis murmura silvis / Errantes rivi tenebrosaque lustra ferarum. Im Original bei Snorri heißt es, § 23, S. 30: Sofa ek ne mattac / sæfar bepivm a / fvgls iarmi firir; / sa mic bekr, / er af vipi kemr, / morgvn mar. In Peder Hans Resens lateinischer Übertragung des Magnús Ólafsson, Edda Islandorum ( wie Anm. 74 ) § 21, fol. H4r, lesen wir: Dormire ego non quivi / Maritimo in toro. / Avium propter querelas / Ille me excitat / Qui de silva venit / Diluculo quovis mergus. In der Edda Snorronis Sturlaei aus dem Jahre 1848 ( wie Anm. 80 ) 1, Ludificatio Gylviana, c. 23, S. 95: Dormire non potui / in littoribus maritimis / avium propter convicia. / Somnum mihi excutit / e pelago revertens / larus quovis mane. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber II, S. 28–32, als Grundlage , in: Edda. Die Lieder des Codex regius ( wie Anm. 82 ) S. 107–111. Vorab, De diis arctois, Liber II, S. 25–28, stellt Brunius eine weitere Episode aus dem <Skáldskaparmál> ( wie Anm. 82 ) nämlich § 18, S. 105–107. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber III, S. 33–36, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 34, S. 34–38. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber III, S. 36–38, Zitat S. 37, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 49, S. 63 f. Im Original heißt es einfach, § 49, S. 63: Ok Frig toc svardaga til pess, at eira skyldv Baldri elldr ok vatn, iarn ok allz konar malmr, steinar, iorpin, vijirnir, sottirnar, dyrin, fvglarnir, eítrit, ormandir. In Peder Hans Resens lateinischer Übertragung Magnús Ólafssons, Edda Islandorum ( wie Anm. 74 ) § 43, fol. Q2r, heißt es: Frygga itaque ab igne, aqua, ferro, omni metallo, lapidibus, terra, arboribus, animalibus, avibus, orbis, veneno et vermibus iuramenta recepit, ut Baldro parcerent. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber III, S. 38–40, als Grundlage , in: Edda. Die Lieder des Codex regius ( wie Anm. 82 ) S. 273–275.
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Gott Hödr den Geliebten Balder mit einem Geschoss aus einem Mistelzweig, das Loki angefertigt hatte. Die Waffe, die Brun einmal einfach spicula und einmal frutex venenata nennt, lässt den Gott des Frühlings zu Boden stürzen. Blut quillt hervor, Hoedus verzweifelt an seiner Tat, doch der Asylort Asgard verhindert die sofortige Rache des Todes 100. Alle anschließenden Rettungsversuche der Asen, die Brun ebenfalls mit Snorri beschreibt, greifen ins Leere, obgleich Odins Sohn Hermodus auf dem Hengst Sleipnir in die Unterwelt reitet, um die Totengöttin Hel um Erbarmen zu bitten 101. Zwar weint, wie gefordert, die ganze Natur um den Ermordeten, doch die Farbautiades proles, Loki, weigert sich in Gestalt einer Riesin, in die Trauer mit einzustimmen und versagt ihm so die Rückkehr 102. Buch Vier schlägt wieder einen heiteren Ton an, wohl wissend, dass den Göttern doch der Untergang drohen wird. Seinen Inhalt bestimmen die Brautschau des Gottes Freyr, als deren Vorlage Brun das <Skirnirlied> der älteren Edda wählt, und die von Snorri berichteten Wettkämpfe, die Thor mit dem Geschlecht der Riesen austragen musste. Freyr verliebt sich in die Tochter des Riesen Skirnir; nach anfänglichen Schwierigkeiten, der Zurückweisung der von Freyr dargebotenen goldenen Äpfel und massiven Drohungen von Seiten Freyrs, die von Brun genießerisch ausgemalt werden, willigt Gerdr, die proles pulcherrima des Riesen, schließlich ein 103. Den Hauptteil bilden die vier Kapitel der , die allein den Riesenkämpfen des Donnergottes gewidmet sind. Thor gewinnt in den Kindern Thalfi und Röskva zwei Gefährten, die ihn gemeinsam mit Loki begleiten 104. Als sie auf ihrer Reise in einer Höhle nächtigen, entpuppt sich der Unterschlupf als Handschuh des Riesen Skrymir. Thors Versuch, den Riesen in der Nacht zu erschlagen, scheint dem Ungeheuer wie das Herabfallen eines Blattes und einer Eichel und dem Picken eines Vogels 105. In der Riesenfestung Utgard gelingt es den Gefährten weder, schneller zu laufen als die Riesen, noch mehr als sie zu trinken. Auch ihre Katze vermögen sie nicht zu heben und ihre grandaeva Elli niederzuringen 106. Bei Morgenlicht entpuppt sich der Wettläufer als ignis edax, die
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Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber III, S. 41 f., als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 49, S. 64 f., und ( wie Anm. 82 ) Str. 31–33, S. 8. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber III, S. 43–47, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 49, S. 65–67. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber III, S. 47, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 49, S. 67 f. Brunius, S. 47, lässt Loki als Riesin Thökk antworten: Has lacrimas siccis oculis haec damna videbo. / Nil mihi Balder erat; quod habes, inferna, retenta, / Hela, precor, semperque tuis adstringe catenis. Im Original heißt es in Versen: Pavck mvn grata / Pvrvm tárvm / Baldrs bálfar / kyks ne dajs / natka ec kalldsonar / haldi Hel pvi er hefir. Bei Peder Hans Resen liest man, Edda Islandorum ( wie Anm. 74 ) c. 45, fol. Q4v: Taka flebit / Siccis Lachrymis / Balderi funera. / Obtineat igitur Morta / Id quod semel accepit. In der Edda Snorronis Sturlaei aus dem Jahre 1848 ( wie Anm. 80 ) 1, Ludificatio Gylviana, c. 49, S. 181: Thakka flebit / siccis lacrimis / bustum Balderi; / nec vivo nec mortuo fruita sum / senis filio; / retineat Hela, quod habet! Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber IV, S. 49–55, als Grundlage <Skírnismál>, in: Edda. Die Lieder des Codex regius ( wie Anm. 82 ) S. 67–74, und Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 37, S. 40 f. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber IV, S. 55–58, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 44, S. 48–50. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber IV, S. 58–62, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 45, S. 50–53. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber IV, S. 62–66, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 46, S. 53–58.
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Katze als Midgardschlange, die Großmutter als vetustas und das zu leerende Horn als der Ozean 107. In Buch Fünf nimmt Brun als Rahmenhandlung den zweiten Teil der ProsaEdda, die sogenannte , um weitere Episoden aus der Edda Snorris anzuschließen. Am Hof des Meergottes Ägir erzählen die Götter von vergangenen Heldentaten 108. Verhandelt werden der Kampf zwischen Thor und dem Riesen Hrugnir, die Entstehung des Hammers und des Skaldenmetes und ein weiteres Lied der Älteren Edda, die . Auch die ersten drei Episoden entnimmt Brun dem <Skáldskaparmál>. Die Rugnerus-Erzählung lässt Brun nur kurz anklingen: Odin wird vom Riesen beleidigt; Hrugnirs Pferd Gyllfaxe sei schneller als Sleipnir. In Asgard schmäht der Riese die Götter aufs Übelste; schließlich wird er von Thor mit dem Hammer erschlagen 109. Ähnlich gekürzt erscheint im Anschluss die nächste Episode, die dem Ägir vorgetragen wird. Loki hatte der Gattin des Thor, Sif, das goldene Haar abgeschnitten und war genötigt, Ersatz zu beschaffen. Die Zwerge, die Söhne des Ivaldi, schmieden ihm das Schiff Skidbladnir, den Speer Odins und neue Haare. Loki wettet um seinen Kopf, dass die Zwerge etwas Vergleichbares nicht wiederholen könnten, und erhält von ihnen den Hammer Thors, den Ring Draupnir und einen goldenen Eber. Wieder gelingt es Loki nur mit einer List, sein Leben zu retten 110. Andere Kapitel des <Skáldskaparmál> liefern Brunius die weitere Vorlage, die er ebenfalls beträchtlich kürzt: Aus den Überresten des aus Speichel geschaffenen Menschen Kwasir, den die Zwerge töten, wird das Skaldenmet geformt. Odin raubt es seinen Wächtern in Gestalt eines Adlers und spuckt es in die Schüsseln der Asen. Die Götter hatten auf diese Weise die Quelle der Inspiration gewonnen; sie konnten nun die Gabe verleihen, Melodien, Worte und Sinn fließen zu lassen 111. Die , die den Abschluss des Gastmahls bildet, beschreibt den Weg des großen Braukessels nach Asgard. Thor macht sich auf den Weg zum Riesen Hymir, mit dem er aufs Meer hinausfährt. Mit einem Ochsenkopf ködert Thor die Midgardschlange, doch bevor er sie an Bord ziehen kann, kappt Hymir aus Angst die Angelschnur. Wieder an Land, zerschlägt der Donnergott den Becher Hymirs auf dessen Schädel und raubt ihm den Kessel 112. Das sechste Buch lässt schließlich die Katastrophe folgen, die bereits zu Beginn des Gedichtes in Aussicht gestellt worden war, die Ragnarök. Erneut stellt Brun ein 107
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Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber IV, S. 66 f., als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 47, S. 58–61. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber V, S. 68 f., als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Skáldskaparmál, § 1, S. 78. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber V, S. 69–71, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Skáldskaparmál, § 17, S. 100–103. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber V, S. 71–75, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Skáldskaparmál, § 35, S. 122–125. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber V, S. 75–77, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Skáldskaparmál, §§ 5–7, S. 82–86. Brunius, S. 76 f.: Quoties calefacta bibendo / Enthea vis animi volitantes concipit ignes, / Et quaecumque rotant vasti vertigine mundi; / Divinis toties numeris, ceu limpidus amnis, / Verba fluunt, secumque trahunt dulcedine sensus. / Tum concordantes impellit pollice nervos, / Flexanimumque melos resonabilis excipit ether. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber V, S. 77–82, als Grundlage , in: Edda. Die Lieder des Codex regius ( wie Anm. 82 ) S. 85–92, und Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 48, S. 61–63.
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Lied der Älteren Edda, die <Streitreden des Loki>, an den Anfang, um dann mit Snorri die Bestrafung des Feuergottes zu schildern. Loki wagt es, wie die berichten, die Wohnung der Götter aufzusuchen und lässt sich auch durch Einschüchterungsversuche nicht abhalten. Der Reihe nach überzieht er das Pantheon der Asen mit Schmähungen, die von Brun detailgetreu in Verse gefasst werden. Als die Göttinnen der Unzucht und Vielmännerei bezichtigt werden, bereitet Thor dem Vorgang ein Ende 113. Ein eigenes Kapitel der stellt für Brun dann die Vorlage für die weiteren Passagen zur Verfügung: Die Götter beschließen die endgültige Züchtigung ihres Widersachers. Loki kann sich der Verfolgung zwar zunächst noch durch die Verwandlung in einen Fisch entziehen, dann gelingt es Thor jedoch, ihn am Schwanzende zu ergreifen. Mit den Gedärmen seines getöteten Sohnes gefesselt, wird Loki fortan von einer Schlange mit Gift betröpfelt 114. Den Untergang haben die Nornen vorausgeahnt; sie geben Brun nun die Möglichkeit, das Finale einzuleiten. In einer Vermengung der Prosa-Edda und der beschreibt Brun die letzten Kämpfe des ganzen Asengeschlechtes, die im blutreichen Ende des Götterhimmels ihren Abschluss finden. Ein gewaltiger Winter bricht an, Loki steuert, wie die berichtet, das Schiff der Riesen Naglfar, getrieben von den Wellen der Midgardschlange, und der Feuerriese Sutr nähert sich mit seinem Flammenschwert. Odin fällt gegen den Fenriswolf, Thor findet sein Ende im Kampf gegen Iormungandr, die er zwar emporhebt, deren herabfließendes Gift ihn jedoch tötet. Loki und der Lichtgott Hemdall nehmen sich wechselseitig das Leben, schließlich schleudert Sutr Feuer auf die Erde, die zur Gänze verbrannt wird 115. Mit dem Ende des Feuers taucht ein neues grünes Land auf, das von Brun ausführlicher als in seiner Vorlage wie ein locus amoenus geschildert wird 116. Die letzten Abschnitte der zeigen Brun die Halle, in der sich die iustissima turba zum ewigen Gelage einfindet und ihr Gegenstück, in der die Ungerech-
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Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber VI, S. 83–89, als Grundlage , in: Edda. Die Lieder des Codex regius ( wie Anm. 82 ) S. 93–106. Wie textnah Brunius bleibt, zeigt z. B. die letzte Warnung, die Thor dem Feuergott zukommen läss, S. 89: O furibunde, sacro procul aufuge coetu; / Sin autem obstiteris, caput a cervice revellam, / Aut totum abiiciam in tractus orientis, opacae / Aut te detrudam tortu sub viscera terrae. Im Original liest man, Str. 57: Pegi pú, rog vættr! pér skal minn prújhammar, / Miollnir, mál fyrnema: / herja klett drep ek pér hálsi af, / ok verjr pá píno fiorvi um farit! Und Strophe 59: Pegi pú, rog vættr! per skal minn prújhammarr, / Miollnir, mál fyrnema: / upp ek pér verp ok á austrvega, / síjan pik manngi sér! Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber VI, S. 89 f., als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 50, S. 68–70. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber VI, S. 90–94, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 51, S. 70–74, und ( wie Anm. 82 ) Str. 43–58, S. 10–14. Wie textnah Brunius arbeitet, zeigen z. B. die Einleitungspassagen der Ragnarök, S. 91: Quin etiam populi sanctas evertere leges / Incipient. Fratres rapidarum more ferarum / Invadent fratres. Caesis genitoribus, ipsas / ( Horrendum dictu ) matres, mala pignora, nati / Passim incestabunt. Tandem fatalia, tandem, / Pro dolor! advenient scelerato saecula mundo. Paraphrasiert wird Völuspá, Str. 45, S. 10 f.: Brœjr muno beriaz ok at bonom verjaz, / muno systrungar sifiom spilla; / hart er í heimi, hórdómr mikill, / skeggold, skámold, skildir ro klofnir, / vindold, vargold, ájr verold steypiz; / mun engi majr ojrom pyrna. In Peder Hans Resens Ausgabe übersetzt Stefan Olafsson, Philosophia antiquissima dicta Voluspa ( wie Anm. 74 ) Str. 43, fol. B3r: Fratres pugnabunt et mutuo cadent, / Consobrini cognationem conspurcabunt, / Durum est in mundo, adulteria magna / Barbara aetas, ensea aetas, scuta finduntur / Ventosa aetas, ferina aetas, antequam mundus corruat / nec erit ullus qui alteri parcet. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber VI, S. 94, als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 53, S. 75 f.
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ten in Schlangengift getaucht ihr Dasein fristen 117. Der regio Gothica sollen, wie Brun als Sphragis hinzufügt, diese Verse geweiht sein, wie tituli, die von den alten Kämpfen der Heroen in den Felsen geschlagen werden. Wenn sie würdig besungen worden sind, so möge auch er, schließt Brunius etwas pathetisch, unter der Asche der Ahnen begraben werden, in jenen heiligen Wäldern, in denen auch die Seelen der Vorfahren umhergehen und die auch den Königen eine Heimat gegeben haben 118. Durchläuft man das klug komponierte Epos Bruns, erstaunt umso mehr, dass es den Latinisten bislang fast zur Gänze unbekannt geblieben ist. Immerhin ist Bruns Großgedicht im Jahre 1857 ein zweites Mal gedruckt worden. Brun bleibt bis zu seinem Tod Professor in Lund, doch nehmen seine Interessen in der Folgezeit eine andere Richtung. Zu seinem Arbeitsfeld wird die Architektur; auch hier fühlt sich Brun dem Mittelalter weiterhin verpflichtet. Der anstehende Umbau der Kathedrale in Lund gibt ihm die Gelegenheit, als Hauptverantwortlicher eine Renovierung der Kirche in neugotischem Stil durchzusetzen 119. In einer begleitenden Arbeit entwirft Brun ein Programm einer umfassenden gotischen Erneuerung der schwedischen Architektur, das ihn im Anschluss zum Vordenker der schwedischen Variante der Neugotik werden lässt 120, eine Bewegung, deren traumhaftes Echo wir in Huysmans verfolgen konnten. Das Wissen der mittelalterlichen Bauhütten, ihre Kenntnis der Repräsentationskraft einer Kathedrale als einer in Stein geschlagenen theologischen Summe, sollte erneut, wie Brun betont, zum Ausgangspunkt des Kirchbaus und der Architektur als ganzer werden. Antike Tradition und mittelalterliche Gelehrsamkeit fielen hier für ihn zusammen: Auch Vitruv war an den Bauhütten des Mittelalters gelesen worden, ja mehr noch, die Gotik konnte, so Brun, als die eigentlich klassische Bauweise des nordischen Raumes gelten 121. Die folgenden Jahre sehen von seiner Seite eine weitläufige Bestandsaufnahme des mittelalterlichen Baugutes in Schweden 122, Generalüberholungen der Kathedralen in Malmö oder Linköping und eine rege Bautätigkeit vor allem im Süden des Landes. Den oft gut begründeten ästhetischen Widerstand konnte Brun dabei fast diktatorisch beiseite schieben 123. Aus dem Dichter und Professor war ein Nationalkonservator geworden.
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Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber VI, S. 94 f., als Grundlage Edda Snorra Sturlusonar ( wie Anm. 82 ) Gylfaginning, § 52, S. 74 f. Brunius ( wie Anm. 43 ) Liber VI, S. 95: Iamque tibi, regio Gothicae dulcissima terrae, / Vichia, quercetis abiens in nubila coeli, / Haud segnis pepigi quae vovi carmina, surgunt / Qua veterum tumuli, celeberrima saxa vetustis / Heroum qua stant titulis, fera proelia quaque / Litoreis incisa petris, imitamina rerum. / Si te digna cano, me tandem contege functum / antiquos inter cineres, ubi noctibus atris / Arma reposta micant, animaeque virentibus errant / Ingentes lucis regumque capacibus antris. Zur Bruns Erneuerung der Kathedrale in Lund Grandien, Drömmen ( wie Anm. 44 ) S. 81–105. Carl Georg Brunius, Nordens äldsta metopolitankyrka eller Historisk och arkitektonisk beskrifning öfver Lunds domkyrka, Lund 1836. Zum Mittelalterbild Bruns, das seiner Gotikkonzeption zugrundeliegt, Grandien, Drömmen ( wie Anm. 44 ) S. 253–266. Wichtigste Frucht dieser konservatorischen Reisen ist Carl Georg Brunius, Antiquarisk och arkitektonisk resa genom Halland, Bohuslän, Dalsland, Wermland och Westergöthland, år 1838, Lund 1838, dort z. B. zur ästhetischen Überlegenheit des Mittelalters S. 268, S. 272, zur theologischen und kosmologischen Symbolik als dem Leitprinzip der Gotik, S. 237–240. Eine Charakterskizze Bruns gibt abschließend Grandien, Drömmen ( wie Anm. 44 ) S. 501–512.
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3. Ein lateinischer Dichterkreis in Lund In Lund bleibt Bruns Versuch, Mittelalterromantik, lateinische Literatursprache und antikes Erbe miteinander zu vereinigen, ein Unternehmen, das sich im Anschluss in seinen ehrgeizigen Bauvorhaben spiegelt, keine Einzelerscheinung, er schart einen Kreis von neulateinischen Dichtern um sich, die zeigen, wie lebendig die lateinische Sprache in Schweden noch gehandhabt werden konnte 124. Schwedens großer romantischer Dichter, Esaias Tegnér ( 1782–1846 ), Bruns Vorgänger als Griechischprofessor an der Universität Lund 125, hatte mehrere seiner Kollegen zu lateinischen Übertragungen seiner Werke angeregt, zuvorderst Johann Tranér ( 1770–1835 ), Professor wie Brun, der die Tegnérs in lateinische Hexameter übersetzt und unter dem Titel veröffentlicht 126. Ausgreifender ist die lateinische Fassung der Johann Gustav Eks ( 1808–1862 ), die wiederum wie im Fall Bruns einen altnordischen Stoff verarbeitet hatte, die Liebes- und Heldengeschichte des Paares Frithjof und Ingeborg, die im achten Jahrhundert angesiedelt und von Tegnér neu adaptiert worden war 127. Ek, ebenfalls Professor für griechische Sprache in Lund, nahm sich über einen Zeitraum von 21 Jahren gemeinsam mit seinen Respondenten dieser Dichtung an. Der Leser erkennt sofort, dass der metrischen Breite des schwedischen Werkes, das zu den europaweit erfolgreichsten Dichtungen der schwedischen Romantik überhaupt gehörte 128, auch im Lateinischen eine entsprechende Vielfalt an Versmaßen entsprechen sollte. Im lateinischen Vorwort der ersten 1828 entstandenen Textlieferung beruft sich Ek zunächst auf andere lateinische Übertragungen zeitgenössischer Autoren, die einer ähnlichen Inspiration gefolgt waren, vor allem auf Heinrich Arnold Winckler ( 1796–1848 ) 129, der sechs Jahre zuvor Goethes in eine lateinische Fassung gebracht hatte 130. Ek bietet seinem Publikum im Anschluss den 20. Gesang der Saga, den , des ersten Gatten der Ingeborg, als <Mors regis Ringii> in 15 sapphischen Strophen 131. Es folgt eine hexametrische Übertragung des ersten Ge124 125
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Zum Kreis der lateinischen Dichter in Lund kurz Tengström, Latinet ( wie Anm. 44 ) S. 96 f. Zu Tegnérs Tätigkeit an der Universität und seiner dortigen Bekanntschaft mit Carl Georg Brunius Bror Olsson, Tegnér som akademiker, in: Lunds Universitets Årsskrift 42, 1946, S. 319–351. Johann Tranér, Iuventus eucharistica: Poema Tegnerianum latino carmen refictum, Lund 1835. Das Original findet sich z. B. in Esaias Tegnér, Samlade Skrifter, 2 Bde., Stockholm 1923, 1, S. 51–64. Ein lateinisches Epitaphium auf Johann Tranér schreibt z. B. Andreas Hedner, Metra latina, Linköping 1841, S. 8. Welchen Status Esaias Tegnér in diesem Dichterzirkel hatte, zeigt das auf seine Ehe mit Anna Myrman geschriebene Epithalamium seines Zeitgenossen Carl Andreas Tiliander, Poemata, hg. von Petrus Tiliander, Lund 1808, S. 45–51. Zur Tegnérs unter vielen z. B. Algot Werin, Tegnér 1787–1825, Lund – Stockholm 1974, S. 249–306; und Fredrik Böök, Esaias Tegnér, 2 Bde., Stockholm 1946, 1, S. 287–409. Zu den deutschen Übersetzungen der z. B. Detlef Brennecke, Tegnér in Deutschland. Eine Studie zu den Übersetzungen Amalie von Helvigs und Gottlieb Mohnikes, Heidelberg 1975, S. 49–76. Heinrich Arnold Wilhelm Winckler, Metrische griechische Übersetzung des ersten Gesanges von Goethes mit beigefügtem Original und lateinischer Übersetzung, Gießen 1823. Johann Gustav Ek – Petrus Dahlstedt ( resp. ), Otiola metrica, Lund 1829, § III, S. 6. Ebd., § 3, S. 6–8. Als Beispiel die schwedischen Abschiedsworten des Frithjof, Esias Tegnér, FrithjofsSaga, in: Samlade Skrifter ( wie Anm. 126 ) 1, S. 95–238, Gesang 20, Str. 3, S. 214: Böljorna bada / vingade
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sanges, der die erste Begegnung des Paares zum Thema hatte 132. Fünf Jahre später erscheint der nächste Teil des Textes. Ein weiteres Mal stellt Johann Ek seinem lateinischen Gedicht eine theoretische Rechtfertigung voran. Nun ist es ausdrücklich die der Latinität, auf die sich Ek in seinem Selbstverständnis als lateinischer Poet beruft. Latein als Dichtersprache hat, wie Ek betont, Autoren wie Ambrosius, Boethius, und Venantius Fortunatus, dann Hroswith und Walafrid Strabo, Hildebert von Lavardin, Walter Map, Bernhard von Morley und Saxo Grammaticus und schließlich Marco Vida und Jacopo Sannazaro hervorgebracht, bis zu den lateinischen Übertragungen Klopstocks. Die lateinische Sprache hat als ganze ihre Berechtigung; an diese Tradition anzuknüpfen, begreift Ek als seine Aufgabe 133. Eine längere, wiederum hexametrische Übertragung des dritten Gesanges der , der die Übergabe des Erbes an den jungen Helden schildert, schließt sich an 134, die noch im gleichen Jahr gemeinsam mit einem neuen Respondenten vervollständigt wird 135. 1848 lässt Ek den vierten Teil seiner Übertragungen folgen. Er enthält das zweite Gedicht der Saga, in elegischen Distichen und den sechsten Gesang 136, ein in Asklepiadeen 137. Abermals in Asklepiadeen erscheint zwei
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ästen, / sjöhästen längtar från stranden igen. / Ut vill han vada, / bort måste gästen, / bort från sitt land och sin älskade van. Im Lateinischen, S. 7: Voce dicebat tremula: Valete! / Fluctus alatum tumidus caballum / Iam lavat: Pronum mare transnatandi / Flagrat amore. Ebd., § 4, S. 9–16. Als Beispiel ein poetischer Vergleich der Schönheit Ingeborgs: Schwedisch, Tegnér, Frithjofs-Saga ( wie Anm. 131 ) S. 97: Den andra växte som en ros / när vintern nyss har flytt sin kos, / men våren som den rosen gömmer / i knoppen ligger än och drömmer. Lateinisch Ek – Dahlstedt, S. 9: Formam, cum bruma recessit / Induit illa rosae, sed adhuc in germine dormit / Ver, quod condit eam. Johann Gustav Ek – C. P. J. Stenholm ( resp. ), Otiola metrica, Pars II, Lund 1834 ( durchgängige Seitenzählung ), S. 22–28. Ebd., § 3, S. 28–32. Als Beispiel ein Eulogium auf das Reich Frithjofs, schwedisch, Tegnér, FrithjofsSaga ( wie Anm. 131 ) S. 111: Björkskog krönte de kullarnas topp, men på sluttande sidor, / frodades gyllene korn och manshög vaggade rågen. / Sjöar, många i tal, sin spegel höllo för bergen, / höllo för skogarna opp, i vars djup höghornade älgar / hade sin kungliga gång och drucko ab hundrade bäckar. / Men i dalarna vida omkring där bette i grönskan / hjordar med glänsande hull och med juver som längta till stävan. / Mellan dem spriddes än hit och än dit en oräknelig skara / av vitulliga får, som du ser viktatiga strömoln / flockvis spridda på himmelens valv när det blåser om våren. Lateinisch Ek – Stenholm, S. 30: Betula gramineos apices circumdedit; infra / aequavit secale viri modum et hordea flava / luxuriare; lacus speculum prae montibus altum / Innumerae et silvis tenuere, ubi cornua celsi / Prodibunt cervi centenaque stagna bibebant. / Vaccae sed late nemorum pavere vireta / Corporibus solidis distentaeque ubera lacte / Spargiter inter eas huc illuc magna bidentum / Copia velleribus niveis: sic nubila cana / Cernere erat vernis coelo dispersa procellis. Johann Gustav Ek – A. J. Rydén ( resp. ), Otiola metrica, Pars III, Lund 1834 ( durchgängige Seitenzählung ), S. 33–48. Johann Gustav Ek – C. J. Nordquist ( resp. ), Otiola metrica, Pars IV, Lund 1848 ( durchgängige Seitenzählung ), S. 49–58. Als Beispiel ein Rat an den Thronfolger, schwedisch Tegnér, Frithjofs-Saga ( wie Anm. 131 ) S. 106: Var icke hård, kung Helge, men endast fast, / det svärd som biter skarpast är böjiligast. / Milt sinne pryder kungen, som blommor skölden, / och vårdag bringar mera än vinterkölden. Lateinisch Ek – Nordquist, S. 51: Quanto flexibilior, tanto est simul acrior ensis, / sic tu non durus, sed modo firmus eris. / Ut clipeum flores, ornat clementia regem: / Pluraque ver generat, quam glacialis hiems. Ebd., S. 59 f. Auch hier ein Beispiel Tegnér, Frithjofs-Saga ( wie Anm. 131 ) S. 128: Frithiof kvad: „tag dig till vara, / Björn, ty nu är kung i fara. / Frälsas kann han med en bonde, / den är gjord at offras opp.“ Lateinisch Ek – Nordquist, Str. 4, S. 59: Tu ( sic noster ait ) cave! / Regi propositum est grande periculum. / Servari nisi rustico / Quod non ille potest, rusticus occidat.
Charles Baudelaire und Carl Georg Brunius
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Jahre später die letzte Textlieferung, eine lateinische Version von Gedicht Sieben 138. Ergebnis der langen Arbeit war eine mit erheblicher stilistischer Varianz und Formulierungswillen ausgestaltete Neufassung Tegnérs, die den altnordischen Stoff des schwedischen Dichters in jene legitime Übersetzungssprache zurück übertrug, die seit Jahrhunderten als die dem Genre angemessene empfunden wurde, Latein. Die mittelalterliche Ausrichtung dieser Dichterkreise unterstreicht schließlich noch einmal eine Gestalt wie Carl Emil August Söderström ( 1818–1892 ) 139. Zu Söderströms mehr als 700 Seiten umfassenden Werken zählen zahlreiche rhythmische Verse, darunter vor allem eine vollständige lateinische Version des , die trotz ihrer altlutheranischen Ausrichtung in einem mittelalterlichen Hymnenstil gehalten ist 140. Söderström verdankt sich darüber hinaus eine hexametrische Übertragung der Johann Runebergs, auch er einer der bekanntesten Dichter Schwedens und Finnlands. Runeberg, ein Schüler Tegnérs, hatte in Gestalt dieses etwa 1000 Verse umfassenden Gedichtes, das in drei Gesängen die Liebe eines jungen Paares auf dem finnischen Land in Szene setzt, einen der populärsten Klassiker der skandinavischen Literatur geschaffen und eine Verherrlichung des einfachen Lebens, die sich durch Söderströms Latein in eine pastorale Idylle verwandelt 141. IV. LATEINISCHE DICHTUNG DER GEGENWART IN FINNLAND
Wie weit die heute kaum mehr bekannte Achse von lateinischer Übersetzungssprache, mittelalterlichen Stoffen und lateinischer Dichtung historisch reichen kann, zeigt der Fall, mit dem diese Ausführungen beendet werden sollen, Tuomo Pekkanen, einer der wenigen zeitgenössischen lateinischen Dichter und vielleicht nicht zufällig ein Finne. Pekkanen ist im Jahre 1934 geboren worden, war viele Jahre Professor für Latein in Jyväskyla und ist den meisten Freunden der lateinischen Sprache vor allem als Redaktor der regelmäßigen lateinischen Nachrichten des staatlichen finnischen Senders YLE bekannt geworden 142. Als Dichter beerbt Pekkanen die lateinischen Dichterkreise Skandinaviens aus dem 19. Jahrhundert, die hier am Beispiel Bruns vorgestellt worden sind. Die Grenzen zwischen einer klassischen Latinität und ihren mittelalterlichen Erscheinungsformen lässt Pekkanen bewusst verschwinden. In seiner Stoffauswahl steht er in der Tradition der neulateinischen Übersetzer des 19. Jahrhun138
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Johann Gustav Ek – Poematis Tegneriani quod inscribitur Frithiofs Saga, Carmen septimum latinis Asclepiadeis, Lund 1850, Pars I, Aemilian Hermann Mellin ( resp. ), S. 3–8, Pars II, Carl Gustav Ahlander ( resp. ), S. 11–16, Pars III, Carl Gustav Billquist ( resp. ), S. 19–23. Auch hier ein Beispiel, schwedisch Tegnér, Frithjofs-Saga ( wie Anm. 131 ) S. 131: Så länge ännu solen tömmer / sin purpurglans på blomstren varm, / lik rosenfärgat skir som gömmer / en blomstervärld, min Ingeborgs barm: / så länge irrar jag på stranden / av längtan, evig längtan tärd, / och ritar suckande i sanden / det kära namnet med mitt svärd. Lateinisch Ek – Mellin, S. 4: Dum tu, sol, tepidum per violaria, / Nascens, mane novo fundis adhuc iubar, / ( Ceu pectus roseum virginibus solet / Ventus condere textilis ) / En! desiderio vix satiabili / ictus per tacitum litus inambulo; / Inscribens sabulum dulcia cuspide / Fingo nomina virginis. Zu Leben und Werk Söderströms kurz Johan Bergman, Svecia Latina. Valda prov på svensk medeltids-latins och nylatinsk litteratur, Stockholm 1918, S. 150. Carl Emil August Söderström, Valda dikter. Hufvudsakligen latinska, 3 Bde., Nyköping 1895, 2–3, S. 1–495. Ebd., 1, S. 126–185. Tuomo Pekkanen, Nuntii Latini – Latinankieliset uutiset, 5 Bde., Helsinki 1992–1998.
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Bernd Roling
derts, zugleich charakterisiert ihn eine Vorliebe für die rhythmischen Dichtungen des Mittelalters, deren Versmaße er in seinen Gedichten und Übersetzungen adaptiert. Vor einem guten Jahr hat Tuomo Pekkanen gleichsam die Summe seines Dichterlebens gezogen, in den , die in einem Sammelband seine Gedichte der letzten dreißig Jahre zusammenfassen 143. Hier finden sich nicht allein lateinische Versübertragungen finnischer Klassiker oder griechischer Chorlyrik, sondern auch kaum zufällig lateinische Variationen der altindischen Literatur, Baudelaires, Goethes oder Louis Aragons 144. Den titelgebenden Großteil des Bandes machen die aus, die auf den vielstündigen Zugfahrten zwischen Helsinki und Jyväskylä entstanden sind 145. Als direkte Vorbilder dieser rhythmischen Verse nennt Pekkanen Hugo Primas und den Archipoeta, die beiden Kronzeugen der mittelalterlichen Vagantendichtung 146. Zum hundertjährigen Jahrestag der Veröffentlichung des Kalevala hatte Pekkanen alle fünfzig Gesänge des finnischen Nationalepos ins Lateinische übertragen. Erste Formulierungen und ein lateinisches Grundvokabular des dramatischen Personals konnte Pekkanen zu diesem Zweck den alten lateinischen Arbeiten Porthans, Lencquists und Lönnroths entnehmen, auf die er sich bewusst bezieht 147. Pekkanen gelingt es jedoch nicht nur, die Alliterationen und Parallelismen der finnischen Stabreime in der lateinischen Sprache einzufangen, das von ihm gewählte Versmaß kommt dem finnischen Original, einem achtsilbigen Trochäus, denkbar nahe. Dass sein Ergebnis damit wiederum den mittelalterlichen Vagantenstrophen mehr als nur ähnelt, betont Pekkanen selbst 148. Die berühmten Anfangsverse des Kalevala: Mieleni minun tekevi, / aivoni ajattelevi / lähteäni laulamahan, / saa’ani sanelemahan, ‚Mich verlangt in meinem Sinne, mich bewegen die Gedanken, / An das Singen mich zu machen, mich zum Sprechen anzuschicken‘, lauten im Lateinischen: Animus meus agitat / cogitatque cerebellum, / ut incipiam cantare, / velim verba dicitare 149. Eine vergleichbare Vorgehensweise 143
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Tuomo Pekkanen, Carmina viatoris, Leuven 2005. Zu Pekkanen auch Dirk Sacré, Latijn uit Finland, in: Kleio 17, 1987/88, S. 6–10. Pekkanen, Carmina viatoris ( wie Anm. 143 ) die lateinischen Variationen Sapphos oder Anakreons S. 121–128, Übersetzungen derselben S. 191–194, eine Übertragung von , S. 185, eine lateinische Fassung der Baudelaires S. 186 f., eine lateinische Version des est jamais acquis à l’homme’ Louis Aragons S. 189 f., die Übertragungen des , S. 195–214, zwei Gedichte von Alexis Kivi und Johan Runeberg S. 220–222. Ebd., S. 5–66. Ebd., Praefatio, S. 1 f. Tuomo Pekkanen, Kalevala latina, Helsinki 1996, Praefatio, S. 14. Ebd., Praefatio, S. 11–13. Die vollständige Passage lautet Kalevala ( Uuden Kalevalan kahdeskymmenesneljäs painos ), Helsinki 1964, Runo I, V. 1–10: Mieleni minun tekevi, / Aivoni ajattelevi / Lähteäni laulamahan, / Saa’ani sanelemahan, / Sukuvirttä laulamahan; / Sanat suussani sulavat, / Puhe’et putoelevat, / Kielelleni kerkiävät, / Hampahilleni hajoovat. Lateinisch Pekkanen, Kalevala latina ( wie Anm. 147 ) Cantio I, V. 1–10: Animus meus agitat / cogitatque cerebellum, / ut incipiam cantare, / velim verba dicitare, / versus veteres proferre, / bona carmina cantare. / Liquefiunt iam loquelae, / voces excidunt ex ore, / dum in linguam illabuntur / et per dentes disperguntur. Deutsch Kalevala. Das Finnische Epos des Elias Lönnrot. Kommentiert von Hans Fromm, 2 Bde., München 1967, ND Wiesbaden 2005, 1, Erster Gesang, V. 1–10: ‚Mich verlangt in meinem Sinne, mich bewegen die Gedanken, / An das Singen mich zu machen, mich zum Sprechen anzuschicken, / Stammesweise anzustimmen, Sippengesang nun anzuheben. / Worte schmelzen mir im Munde, es entstürzen mir die Mären, / Eilen zu auf meine Zunge, teilen sich an meinen Zähnen.‘
Charles Baudelaire und Carl Georg Brunius
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kennzeichnet Pekkanens zweite große Übersetzung, die lateinische Version des finnischen Nationaldichters Eino Leino, dessen sogenannte , die , Pekkanen im Jahre 2003, hundert Jahre nach ihrem Erscheinen, als neu herausgibt 150. Auch die Verse dieses großen finnischen Romantikers, Symbolisten und Zeitgenossen Huysmans, der sich bewusst in seiner Sprache, seiner Metrik und seinen Bildern an das Kalevala lehnt 151, verwandeln sich in der lateinischen Fassung Pekkanens in rhythmische Poesie. In ihrer Askese erinnern sie an die mittelalterlichen Vorgaben und an die lateinische Dichtung der Romantiker des 19. Jahrhunderts. Gerade auf diese Weise werden sie dem Geist des finnischen Originals besonders gerecht. Aus dem finnischen Kimmo vuorta viertävätä / hiihtää yössa yksinänsä, / taivaan tähtöset palavat, / palavampi Kimmon tuska, dem ersten Vers der , einer bedeutungsschweren Ballade Leinos, wird im lateinischen Kimmo per proclivem montem, / solus nocte nartis currit, / ardent sidera caelorum, / magis ardet acer dolor: ‚Kimmos Schneeschuh knirschten einsam / Durch die Nacht am Berge droben, / Sterne brannten hoch am Himmel, / Heißer brannte Kimmos Herzweh.‘ 152
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Eino Leino, Helkavirsiä I–II – Carmina sacra, in latinum vertit Tuomo Pekkanen, Helsinki 2003. Einen schönen Einblick in das Leben und Werk Eino Leinos gibt der Band von Anne Helttunen – Annamari Saure, Elämä on suuri runo. Eino Leino, runoilija ja vaikuttaja, Helsinki 2002, dort zu den Gedichten S. 48–77. Zum Kalevala als stilistischem und poetischem Leitbild der Dichtung Eino Leinos z. B. Sakari Vapaasalo, Studier i Eino Leinos Kalevalaromantik, Uppsala 1961, dort detailliert zu den S. 91–155, und jetzt Elina Gansovna Rachimova, Ot „kalevalцskih“ izustn«h run k neoromantiљesko“ mifopoЊtike Ѓ“no “no, Moskau 2001, S. 74–189, dort zu den S. 125–152. Der ganze Abschnitt lautet Lateinisch, Leino, Carmina sacra ( wie Anm. 150 ) Ultio, V. 1–6, S. 56: Kimmo per proclivem montem / solus nocte nartis currit, / ardent sidera caelorum, / magis ardet acer dolor, / cum per silvas pervagatur, / sibi cantitans nocturnus. Finnisch ebd., Helkävirsiä, Kimmon kosto, V. 1–6, S. 57: Kimmo vuorta viertävätä / hiihtää yössä yksinänsä, / taivaan tähtöset palavat, / palavampi Kimmon tuska, / kun hän korpia samoopi, / yksin yössä lauleleepi. Deutsch, Eino Leino, Finnische Balladen ( Helkalieder ), übersetzt von Hans-Erwin von Hausen – Greta Otalampi, Helsinki 1943, Kimmos Rache, V. 1–6, S. 24: Kimmos Schneeschuh knirschten einsam / Durch die Nacht am Berge droben. / Sterne brannten hoch am Himmel. / Heißer brannte Kimmos Herzweh, / Wenn er durch die Wildnis schweifend / Einsam singend in die Nacht fuhr. н
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Geltungsansprüche schriftlich fixierter Normen
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Geltungsansprüche schriftlich fixierter Normen und im Mittelalter Interdisziplinäres Kolloquium des Teilprojekts A2 im Sonderforschungsbereich 496 Münster, 26. – 28. September 2007
GERD ALTHOFF
EINLEITUNG
Das Thema, das in den folgenden Beiträgen behandelt wird, interessiert viele Disziplinen und hat in vielen Disziplinen intensive Behandlungen erfahren. Philosophie, Theologie, Soziologie und Jurisprudenz sind die Fächer, deren Diskurse den Forschungsstand auf diesem Feld bestimmen. Auf diese Ausgangslage hinzuweisen, scheint nachdrücklich geboten, auch wenn sie hier keinesfalls ausführlich behandelt werden kann 1. Wenn man sich, wie in den folgenden Beiträgen praktiziert, auf die Rahmenbedingungen und Konzepte von Normativität im Mittelalter konzentriert, ist es zudem vordringlich, sich bewusst zu machen, dass diese Konzepte von speziellen Bedingungen geprägt sind, die in dieser Epoche herrschten. Das bedeutet keine Abkapselung von den Diskursen philosophischer, theologischer, soziologischer oder juristischer Provenienz, die die Frage von Normativität in der Moderne und Gegenwart behandeln, sondern schärft durch den Vergleich den Blick für eine eventuelle Eigenart mittelalterlicher Normativität, die aus den andersartigen Voraussetzungen resultiert, die in dieser Zeit sowohl für die Begründung von Normen als auch für ihren Geltungsanspruch zu beobachten sind. Einige Hinweise auf Gemeinsamkeiten wie Unterschiede mittelalterlichen und modernen Normverständnisses scheinen daher einleitend geboten, um dieses Problemfeld zu markieren. Normen seien hier mit Niklas Luhmann als Erwartungen definiert, die auch dann stabil bleiben, wenn sie enttäuscht werden. Diese „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartung“ scheint eine charakteristischere Eigenart von Normen zu sein als der Aspekt der Sanktionierung von Übertretungen, den Heinrich Popitz bei seiner Definition des Normenbegriffs in den Vordergrund stellte 2. Normen bleiben auch dann Normen, wenn auf ihre Übertretung keine Sanktionierung folgt. Man kann sich allerdings fragen, wie lange dies der Fall ist. So verstandene Normen stehen wohl in allen Epochen in einem engen Zusammenhang mit Wertvorstellungen. Eine „normerzeugende Vernunft“ ( Siep ) generiert 1
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Es mag ausreichen, auf die einschlägigen Fachdiskussionen hinzuweisen, die etwa dokumentiert sind bei Hasso Hofmann – Wolfgang H. Schrader, Art. , in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 6, 1984, Sp. 906–920. Es ist interessant, dass weder das Handwörterbuch für deutsche Rechtsgeschichte noch das Lexikon des Mittelalters einen Artikel enthalten. Vgl. dazu Niklas Luhmann, Rechtssoziologie ( Rororo-Studium, 1: Rechtswissenschaften ) 2 Bde., Hamburg 1972, 1, S. 40 ff., sowie Heinrich Popitz, Soziale Normen ( Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1794 ) Frankfurt a. M. 2006, S. 61 ff.
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Gerd Althoff
nämlich aus den Wertvorstellungen, die in Gesellschaften existieren, Normen, an denen sich das Handeln der Menschen ausrichten soll 3. Da in mittelalterlichen wie modernen Gesellschaften jedoch jeweils Wertvorstellungen sehr unterschiedlicher Provenienz und widersprüchlichen Inhalts ausgebildet werden, muss der Geltungsanspruch der aus ihnen generierten Normen in einem Konkurrenzkampf erst durchgesetzt werden. Gerade auf diesem Felde beobachtet man für die Zeiten des Mittelalters aber deutlich andere Rahmenbedingungen als sie in Moderne und Gegenwart gegeben sind. Der Unterschied besteht vor allem in einer unterschiedlich ausgeprägten Differenzierung und – damit einhergehend – Hierarchie der verschiedenen Normen und Normensysteme. Ist die Moderne durch ausdifferenzierte Bereiche gekennzeichnet – es seien etwa Recht, Politik, Religion genannt –, deren Normensysteme zudem in eine definierte hierarchische Ordnung gebracht sind, ist dies für das Mittelalter nicht – zumindest nicht in dem Maße – der Fall. Wir fassen in diesen Befunden vor allem eine zentrale Leistung moderner Staatlichkeit, durch die nicht zuletzt die konkurrierenden unterschiedlichen Normen in ihren Geltungsbereichen und -ansprüchen definiert und in ein Über- und Unterordnungsverhältnis gebracht worden sind. Der Staat beansprucht den Primat der Verbandsbildung und das impliziert den Vorrang der von ihm gesetzten Normen. In der Zeit des Mittelalters beobachten wir dagegen die Existenz einer Vielzahl von Normen, die wir als soziale, politische, rechtliche oder religiöse charakterisieren würden, ohne dass im Konfliktfall eine Hierarchie dieser Normen deutlicher erkennbar würde. Auch stellen wir fest, dass eine Klassifizierung dieser Normen als rechtlich, politisch, sozial oder religiös häufig Schwierigkeiten bereitet, weil ihre Begründung nicht eindeutig einem dieser Bereiche zugeordnet werden kann. Selbst die naheliegende Vorstellung, dass schriftlich fixierten Normen ein höherer Geltungsanspruch innewohne als Sitte, Brauch oder Gewohnheit, lässt sich für das Mittelalter genauso falsifizieren wie verifizieren. Wir müssen uns daher wohl eingestehen, dass wir nicht wirklich wissen, wie im Mittelalter aus der existierenden Normenvielfalt im Einzelfall diejenigen gefunden wurden, die individuelles oder kollektives Handeln bestimmten. Da dieser Findungsprozess zudem in aller Regel in einer Sphäre der Vertraulichkeit vonstatten ging, werden wir über ihn auch nur sehr selten und selektiv informiert. Das lenkt den Blick auf die Verfahren, mit denen man im Mittelalter Normen generierte und in der sozialen Praxis anerkannte. In den folgenden Beiträgen wird daher zu Recht neben den Beratungen, in denen sich unterschiedliche Gruppen des Mittelalters darüber verständigten, an welchen Normen sie ihr Verhalten im konkreten Fall ausrichten wollten, auch besonderes Augenmerk auf in der Öffentlichkeit durchgeführte symbolische Handlungen und Handlungsketten gelegt, mit denen gleichfalls Normen anerkannt und die Verpflichtung zur Befolgung dieser Normen begründet wurde. Der Geltungsanspruch, der damit zum Ausdruck kam und mit solchen Handlungen akzeptiert wurde, ist früher mit Wertungen wie gering geschätzt worden. Inzwischen ist jedoch wohl ein deutlicher Wandel zu konstatieren. So steht hier denn auch eine zentrale theoretische Annahme des SFB 496 auf dem Prüfstand, dass nämlich Normen im Mittelalter und in der gesamten Vormoderne da3
Ludwig Siep, Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturkritik ( Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1664 ) Frankfurt a. M. 2004, S. 174 ff.
Geltungsansprüche schriftlich fixierter Normen
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durch als existent und bindend anerkannt wurden, dass man sie in öffentlichen präsentierte. Dies geschah in einer Form symbolischer Verdichtung und durch pars pro toto-Handlungen, deren Entschlüsselung eine genaue Kenntnis der Codes voraussetzt, auf die sich diese Gesellschaft verständigt hatte 4. Spuren dieser Codes finden sich aber in normativen, narrativen und nicht zuletzt in fiktionalen Texten der Zeit, wodurch die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit, wie sie in den folgenden Beiträgen Historikerinnen und Historiker, Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, Rechtshistoriker und Soziologen versuchen, genügend begründet ist. Die folgenden Beiträge suchen aus der Sicht unterschiedlicher Fächer Antworten auf die Fragen, die sich aus der Vielfalt von Normen unterschiedlichster Herkunft – religiöse Normen des Christentums, Normen einer christlich fundierten Zentralgewalt, Normen einer Adels- und Kriegergesellschaft, Normen der Verwandtschafts- und Freundschaftsbindung, um nur einige wichtige zu nennen – ergaben. Wie wurden solche Normen entwickelt und tradiert? Wer entschied über ihre Anwendung im Einzelfall? Mit welchen Problemen der Normenkonkurrenz musste die Gesellschaft des Mittelalters fertig werden und wie wurde sie damit fertig? Und welche Bedeutung schließlich kam den Akten symbolischer Kommunikation in diesem Kontext zu? Mit diesen und weiteren Fragen versuchen die Beiträge das komplexe Forschungsfeld zu erschließen und erste Antworten zu geben, wohl wissend, dass es ein Anfang ist, der viele Fragen offen lässt und sicher auch neue Fragen aufwirft. 5
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Vgl. dazu Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31, 2004, S. 489–527. Eine Fortsetzung fand diese Tagung in verschiedener Hinsicht in der vom 10. bis zum 12. 7. 2008 vom Projekt A2 durchgeführten Tagung <Spielregeln, Gewohnheiten, Konventionen im Mittelalter>. Der Tagungsband wird demnächst von Claudia Garnier und Hermann Kamp herausgegeben.
Das Spiel mit der Transgression
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WERNER RÖCKE
Das Spiel mit der Transgression. Normübertretung und Sanktionswille im geistlichen Spiel des Mittelalters ( Maria Magdalena und Martha ) 1. Tanz und Selbstverliebtheit. Maria Magdalenas Sprünge und Wandlungen, S. 286. – 2. Die Beschwörung der Norm. Marthas Immobilität und vita activa, S. 293.
Normen sind von der Normübertretung nicht zu trennen. Sie sind in dem Sinne antithetisch, dass sie die Möglichkeit des Verstoßes gegen sie immer schon voraussetzen und für diesen Fall eine , ein <Winkelmaß> ( lateinisch: norma ) 1, als einen Maßstab bereitstellen, um das Maß an Verfehlung beurteilen zu können. Normen also zielen auf künftiges Handeln. Sie schreiben nicht nur einen Kanon von Regeln, Geboten oder Gesetzen fest, sondern nehmen auch deren Übertretung vorweg, der dann mit Sanktionen belegt werden kann. Die <Sanktionierung> einer Norm bedeutet, dass man sich im Falle ihrer Übertretung bestimmter Konsequenzen sicher sein kann: sei es, dass die Übertretung – wie im Falle eines Gesetzesverstoßes – mit Strafsanktionen belegt wird; sei es, dass – wie im Falle der Verletzung des common sense einer Gesellschaft – bestimmte Rügebräuche oder Strafrituale in Szene gesetzt werden 2; sei es, dass – wie im Falle moralischer oder religiöser Vergehen – die Übeltäter moralisch geächtet oder gar aus der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen werden. In allen diesen Fällen folgen die Sanktionen aus der Norm und sind durch sie legitimiert. Unklar ist nur, wie belastbar diese Legitimation von Sanktionen aus der Norm ist; inwieweit die Normen überhaupt Verbindlichkeit beanspruchen können und worauf diese fußt. Im Exposé zur Tagung werden die Geltungsansprüche von Normen im Mittelalter auf ihre schriftliche Fixierung oder ihre Nicht-Schriftlichkeit, also ungeschriebene Gesetze oder Gewohnheiten konzentriert. Denkbar wäre vielleicht aber auch, dass neben der schriftlichen oder nicht-schriftlichen Fixierung von Normen deren Geltungsanspruch noch durch eine dritte Möglichkeit unterstrichen, ja abgesichert werden kann: durch ihre – im Wortsinn – spielerische Erprobung, ihre theatrale Inszenierung im geistlichen und weltlichen Spiel des Mittelalters. Für die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von schriftlichen und nichtschriftlichen Fixierungen von Normen sind
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Im Anschluss an Friedrich Kambartel, Art. , in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 2, 1995, S. 1031 f. Ausführlicher dazu Werner Röcke, Text und Ritual. Spielformen des Performativen in der Fastnachtkultur des späten Mittelalters, in: Hans-Werner Goetz ( Hg. ), Das Mittelalter 5, 2000, H. 1: Mediävistik als Kulturwissenschaft?, S. 83–100, vor allem S. 89 ff.; Natalie Zemon-Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt/Main 1987, S. 106 ff.
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Werner Röcke
diese Spiele insofern besonders interessant, da sie Schriftlichkeit und Nichtschriftlichkeit gleichermaßen voraussetzen. Theatrale Inszenierungen gehen von einem Text, einem Regiebuch, einer – wie es im mittelalterlichen Theater heißt – Dirigierrolle aus, finden aber ihre tatsächliche Realisierung erst im Spiel auf der Bühne. Erst im Spiel der Schauspieler, in ihrer Mimik, Gestik und Sprechweise, in der Dramaturgie der Inszenierung und ihrer Abhängigkeit von Raum und Zeit, wird das Spiel tatsächlich realisiert, wird es praktisch vollzogen. Es ist diese performative Dimension des Theaters, dieser praktische Vollzug des Texts, der das Theater für die Frage nach dem Geltungsanspruch schriftlicher oder nicht schriftlich fixierter Normen als besonders wichtig erscheinen lässt 3. Denn das Theater ist Text und Performanz, Schrift und Inszenierung zugleich. Es zeigt Figuren, die sich nach bestimmten Regeln, Konventionen, Normen verhalten; ihnen folgen, sich aber auch an ihnen stoßen, sie verletzen oder überwinden. Normen sind, sagte ich einleitend, von der Normübertretung nicht zu trennen. Das Theater bietet eine Möglichkeit, diese Normübertretung nicht nur zu erzählen oder anderweitig zu imaginieren, sondern sie praktisch zu realisieren. Natürlich ist die Übertretung von Normen keine conditio sine qua non von Spiel und Theater. Gerade im geistlichen und weltlichen Spiel des Mittelalters aber stehen Probleme von Norm und Normübertretung im Mittelpunkt, sei es, dass – wie im geistlichen Spiel – das Verhältnis von Sünde und Gnade, Heilsgeschichte und Teufelsgeschichte in Szene gesetzt wird; sei es, dass – wie z. B. im Fastnachtspiel – die Verkehrung der normativen Ordnung von Stadt, Familie und Ehe spielerisch erprobt, dann aber auch zum Schluss – wie vor allem bei Hans Sachs – in die Beschwörung von Harmonie und Gemeinsinn aufgehoben wird 4. Gemeinsam ist diesen Spielformen – bei allen Unterschieden im Einzelnen –, dass sie Affirmation und Übertretung der Normen im Handeln der Schauspieler auf der Bühne tatsächlich in Szene setzen und auf diese Weise auch das Publikum in das Bühnengeschehen einbeziehen. Nicht zuletzt aufgrund der im Vergleich mit der neuzeitlichen Guckkastenbühne mangelnden Distanz zwischen Bühne und Publikum im Theater des Mittelalters sind die Zuschauer sehr viel stärker in die Inszenierung des Bühnengeschehens, in die Realisierung des Heilsgeschehens oder in die Entscheidung zwischen Gesetz und Sünde, Norm und Normübertretung eingebunden, als das heute der Fall ist. Wir sehen diese praktische Dimension des mittelalterlichen Theaters besonders drastisch, wenn z. B. die Inszenierung eines geistlichen Spiels mit seiner üblichen Denunziation der Juden als Mörder Gottes und anderen Formen antijüdischer Agitation in Pogrome gegen die Judengemeinden mittelalterlicher Städte umschlagen 5. Wir sehen sie aber auch, wenn die Behauptung und die 3
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Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte, Auf dem Weg zu einer performativen Kultur. in: Paragrana 7, 1998, H. 1 ( Kulturen des Performativen ) Berlin 1998, S. 13–29; Dies. – Jens Roselt, Attraktion des Augenblicks – Aufführung, Performance, performativ und Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe, in: Paragrana 10, 2001, H. 1 ( Theorien des Performativen ) Berlin 2001, S. 237–253. Ausführlicher dazu Werner Röcke, Literarische Gegenwelten. Fastnachtspiele und karnevaleske Festkultur, in: Ders. – Marina Münkler ( Hgg. ), Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ( Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1 ) München 2004, S. 420–445. Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, 1, Stuttgart – Weimar 1993, S. 358 f.; Edith Wenzel, „Do worden die Judden alle geschant.“ Rolle und Funktion der Ju-
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Übertretung von Normen, Gesetzestreue und Gesetzesverstoß im Handeln bestimmter Figuren auf der Bühne in Szene gesetzt werden und dem Publikum die Möglichkeit der Teilnahme und der Entscheidung eröffnen. Im geistlichen Spiel des Mittelalters finden wir nur wenige Figuren, welche die Opposition von Norm und Normübertretung so entschieden verkörpern wie die beiden Schwestern Maria Magdalena und Martha aus Magdala am See Genezareth. Zwar kennen wir – im Passionsspiel – exemplarisch Böse wie Judas Ischarioth, den Verräter des Gottessohnes, der an der Gnade Gottes verzweifelt und dementsprechend auch in einer Verdammnis ohne Gnade endet 6 oder – im Osterspiel – den Salbenkrämer und seine Diener, die sich ihrer komischen Lust an der Gewalt, an Betrug und sexuellem Begehren von Teufeln nur knapp unterscheiden, verschiedentlich sogar Teufel sind. Wir kennen aber nur wenige Figuren, die – wie Maria Magdalena – nicht von vornherein böse sind, sondern erst aufgrund ihrer eigenen Entscheidung böse werden, die Transgression vom Guten zum Bösen vollziehen, die Lust am Bösen in vollen Zügen auskosten, dann aber auch ihre Versündigung bereuen, sich Gottes Gnade unterwerfen und den Weg intensivster Buße gehen. Maria Magdalena also ist eine höchst variable und dynamische Figur. Sie ist nicht entweder gut oder böse, sondern findet ihre Identität in den Transgressionen vom Guten zum Bösen und vom Bösen zum Guten. Dabei ist es gerade die Schärfe und Verdammungswürdigkeit ihrer Verfehlungen, die dann die Unfassbarkeit der Gnade, die sie gleichwohl erfährt, besonders deutlich hervorhebt. Maria kennt und erfährt das Böse und das Gute. Dabei unterscheidet sie sich von ihrer Schwester Martha insofern, als diese zwar das Böse auch kennt, sich zu ihm aber nur theoretisch, nicht praktisch verhält. Martha kennt die Normen göttlicher Gebote und weiblicher Ethik. Sie handelt nach ihnen, richtet ihr Leben nach ihnen aus und klagt sie dementsprechend auch gegenüber ihrer Schwester ein. Martha lehrt und erinnert an die Regeln christlicher Alltagsnormierung; sie kennt sie, zitiert sie und hat sich in ihnen eingerichtet, kennt aber nicht – und schon gar nicht praktizierend – ihr Gegenteil. Martha ist sich der Normen und Regeln ihres Denkens und Handelns ganz gewiss. Sie stellt keine Fragen, sondern klagt – vor allem gegenüber ihrer Schwester – deren praktische Befolgung ein. Trotz – oder vielleicht sogar wegen – ihrer Unterschiede sind Maria Magdalena und Martha aufeinander bezogen. Sie realisieren zwei unterschiedliche Lebensentwürfe weiblichen Handelns und weiblicher Ethik, die im religiösen Theater des Mittelalters – und dies im Wortsinne – durchgespielt und dem Publikum als mögliche Optionen dargeboten werden. Dabei ist aber zu bedenken, dass dieser Gegensatz nicht absolut ist, sondern zumindest Maria Magdalena Norm und Normübertretung realisiert: Zwar vollzieht sie voller Lust und Radikalität den Bruch mit allen Normen weiblicher Moral, unterwirft sich dann aber auch und mit derselben Radikalität dem Pro-
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den in spätmittelalterlichen Spielen ( Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 14 ) München 1992, passim. Zu Analogien zwischen Maria Magdalena und Judas Ischarioth vgl. Werner Röcke, Maria Magdalena und Judas Ischarioth. Das Alsfelder Passionsspiel und die Erlauer Spiele als Experimentierfelder des Bösen und soziokultureller Standards im Spätmittelalter, in: Ingrid Kasten – Erika Fischer-Lichte ( Hgg. ), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel ( Trends in Medieval Philology 11 ) Berlin – New York 2007, S. 80–96.
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zess ihrer Reue, ihrer Abkehr von der Sünde und der Hoffnung auf Gottes Gnade. Meine heuristische These dazu lautet: Übertretungen der Norm sind das Salz der geistlichen Spiele des Mittelalters. Sie begründen ihre Faszination und ihre enorme, nicht zuletzt auch soziale Wirkung. Zugleich aber dient die Radikalität des Normbruchs ausschließlich der dadurch nur umso nachdrücklicher bestätigten Restitution der Norm. Im Falle von Maria Magdalenas Verfehlungen ist Martha der Maßstab dieser Verfehlungen. Sie bietet die norma ( lat. ), das <Winkelmaß>, an dem Marias Sünden gemessen und verurteilt werden können, das ihr aber auch die Möglichkeit eröffnet, die zweite Transgression, nun vom Bösen zum Guten, zu vollziehen. Geistliche Spiele also folgen einer Logik der „Motivation von hinten“ 7. Zwar zeigen sie das Böse, die Sünder, das Wirken der Teufel, doch zeigen sie auch, wie diese – auf ganz unterschiedliche Weise – je neu in die Herrschaft Gottes reintegriert werden. Insofern sind die Übertretungen oder Transgressionen der Norm im geistlichen Spiel von vornherein normativ legitimiert: Sie werden vollzogen, dienen aber ausschließlich dazu, die Überwindung des Bösen und den Sieg der Gnade in Szene zu setzen. Diese affirmative Deutung von Transgressionen im religiösen Theater des Mittelalters bietet eine interessante Analogie zur Transgression im sozialen oder politischen Kontext. Alois Hahn hat den wechselseitigen Begründungszusammenhang von Übertretung und Affirmation sozialer oder rechtlicher Normen dahingehend zugespitzt, dass zumindest für soziale Systeme die Transgression ihrer für ihren Bestand konstitutiven Normen nicht nur unvermeidlich, sondern sogar notwendig sei. Da Normen die Tendenz hätten, in Vergessenheit zu geraten oder sich „abzuschleifen“, würde mit ihrer Verletzung die Norm gleichsam wieder in Erinnerung gerufen: die Empörung über die Verletzung der Norm führe nicht nur zu deren Restitution, sondern auch zu ihrer Revitalisierung 8. Oder anders gesagt: Die Überschreitung der Grenze von der Bewahrung der Norm zum Verstoß gegen sie, vom Gesetzesgehorsam zum Ungehorsam, d. h. gerade die Infragestellung der Norm selbst, erweist sich als besonders effektive Möglichkeit zu ihrer Stabilisierung. In der sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatte um Form und Funktion von Transgressionen ist diese Normen stabilisierende Funktion von Transgressionen bislang vor allem betont worden 9. Der Vergleich von Maria Magdalena und Martha im geistlichen Spiel des Mittelalters ist dafür insofern besonders aufschlussreich, da Norm und Normtransgression hier zwar zunächst einmal auf zwei verschiedene Figuren verteilt sind, im Verlauf der Spiele aber im Fall Maria Magdalenas miteinander verbunden werden. Das Faszinosum Maria Magdalenas in der Theologie-, Literatur- und Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit er-
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Clemens Lugowskis berühmte Formel, die er zwar auf das mittelalterliche Erzählen bezieht, die aber auch für andere literarische Formen aufschlussreich ist: Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, Berlin 1932, ND Frankfurt/Main 1976, S. 21 ff. Alois Hahn, Transgression und Innovation, in: Werner Helmich – Helmut Meter – Astrid Poier-Bernhard ( Hgg. ), Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich SchulzBuschhaus, München 2002, S. 452–465, hier: S. 454. So z. B. Andreas Kablitz, Inkarnation. Überlegungen zur Konstitution eines Kulturmusters, in: Gerhard Neumann – Rainer Warning ( Hgg. ), Transgressionen. Literatur als Ethnographie, Freiburg 2003, S. 39–40.
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klärt sich – so meine Ausgangsthese – wohl vor allem daraus, dass sie das Gute und das Böse kennt; die Versuchungen des Bösen, denen sie sich nur zu bereitwillig öffnet, und die heißen Tränen ihrer Reue; die Lust an ihrem Körper und dessen asketische Zähmung. In der bildenden Kunst ist dieses Nebeneinander, verschiedentlich auch Ineinander von Lust und Reue, Weltleben und Askese, Normtransgression und Normativität durchaus gesehen worden; insbesondere in den Bildinszenierungen der büßenden Maria Magdalena im 16./17. Jahrhundert ist diese Verschränkung von Reue und Sünde, Überwindung und Lust am Bösen immer wieder mit Händen zu greifen 10. Es wäre zweifellos ein lohnendes Unternehmen, die asketische und höchst lustvolle Bildinszenierung der Maria Magdalena in bildender Kunst und Theater hinsichtlich ihrer je unterschiedlichen Formsprache in der Gestaltung von Reue und Sünde zu vergleichen. Dazu fehlt mir hier die Zeit. Auch ohne diesen Vergleich aber können wir jetzt schon feststellen, dass Maria Magdalena aus Widersprüchen lebt, aus dem Willen zum Bösen und der Freude am Verbotenen, aber auch aus der Verzweiflung an sich und ihren Sünden, aus ihrer Reue und Bußbereitschaft. Maria transgrediert nicht nur die Grenzen zwischen Gut und Böse, sondern verflüssigt sie auch und zeigt Handlungsmöglichkeiten, in denen Gutes und Böses miteinander verbunden wird. Insofern ist für Maria Magdalena gerade die Bewegung zwischen diesen beiden Polen kennzeichnend, ihre Ruhelosigkeit und Offenheit für neue Optionen, aber auch zunehmend eine Distanz zu sich selbst; ein Nachdenken und eine Unruhe über sich selbst, die ihre zweite Transgression zu Reue und Buße eröffnet. Darstellungsmodus jener körperlichen Unruhe ist der Tanz Maria Magdalenas, der in den meisten geistlichen Spielen als wichtigstes Indiz ihrer Versündigung vorgeführt wird, vor allem ihr Tanz mit dem Teufel 11.
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Vgl. den Überblicksartikel von Marga Anstett-Janssen, Art. <Maria Magdalena>, in: Lexikon der christlichen Ikonographie 7, 1990, Sp. 516–541 ( mit ausführlicher Bibliographie ); sowie den interessanten Deutungsansatz von Klaus Krüger, Innerer Blick und ästhetisches Geheimnis. Caravaggios <Magdalena>, in: Joseph Imorde – Fritz Neumeyer – Tristan Weddigen ( Hgg. ), Barocke Inszenierung, Emsdetten – Zürich 1999, S. 33–49. Vgl. dazu auch Justus Müller-Hofstede, „O felix Poenitentia“ – Die Büßerin Maria Magdalena als Motiv der Gegenreformation bei Peter Paul Rubens, in: Franz Wegner ( Hg. ), Imagination und Imago. Festschrift Kurt Rössacher, Salzburg 1983, S. 203–227. Exemplarisch verweise ich hier nur auf das Alsfelder Passionsspiel, in welchem Maria von Lucifer selbst zum Tanz aufgefordert wird, sie dem zustimmt und mit ihm dann auch den Tanz vor den anderen Teufeln eröffnet: „Ja, viel lieben knecht, er kommet mer wol gerecht. du fugest mer freyden gunugk, du bist woil myn gefug. du hilffest danczen vnd singen, ich wel myt der springen manchen frolichenn sprungk.“ ( VV. 1782–1788 ). Darauf folgt die Regieanweisung: Et sic vigellator incipit vigellare et corisant Luciper cum Maria Magdalena et alij demones. Ich zitiere das Alsfelder und das Frankfurter Passionsspiel nach der Ausgabe Johannes Janotas ( Die hessische Passionsspielgruppe. Editionen im Paralleldruck, hg. von Johannes Janota, 2, Alsfelder Passionsspiel, Frankfurter Dirigierrolle mit den Paralleltexten, Tübingen 2002, S. 359–361 ).
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Ihre Schwester Martha hingegen ruht – und dies im Wortsinn – in sich selbst und in der Gewissheit ihrer moralischen Überzeugungen 12. Martha bleibt sich immer gleich. Sie kennt keine Irritation, keinen Wandel, sondern lebt – bis in ihr Aussehen hinein – das Gesetz christlicher Verkündigung und weiblicher Ethik. Die Voraussetzung dieser Gewissheit liegt – so meine zweite These – in dem Umstand, dass ihr Normensystem schriftlich fundiert ist. Martha zitiert Schrift, sie legt aus und kommentiert. Daraus gewinnt sie ihre Sicherheit, das macht sie Maria Magdalena prima vista auch überlegen. Gleichwohl hat diese, wie Christus selbst anlässlich seines Besuchs im Hause Marias und Marthas und als letztere sich bei ihm darüber beschwert, dass ihre Schwester ihr nicht bei der Bedienung und Hausarbeit helfe, feststellt, „das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden“ ( Lk 10, 42 ). Ich werde im Folgenden zunächst diskutieren, worin dieser Vorzug Maria Magdalenas – zumindest in der Logik der geistlichen Spiele des Mittelalters – begründet sein könnte und was das für unsere Ausgangsfrage nach dem Geltungsanspruch schriftlich oder nicht schriftlich fixierter Normen für Konsequenzen hat. Im Anschluss daran werde ich – in einem sehr viel kürzeren Teil – die Normativität und Normengewissheit Marthas thematisieren, die – im Unterschied zu Marias Sprunghaftigkeit und Wandlungsfähigkeit – sich darauf beschränkt, die Verbindlichkeit ihrer Regeln und Normen einzuklagen. Textgrundlage sind drei Passionsspiele des Spätmittelalters, die in ihrer Gestaltung von Maria Magdalena und Martha sehr ähnlich sind und die ich deshalb – aus Zeit- und Platzgründen – promiscue verwende: – den Erlauer aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts 13; – das Frankfurter Passionsspiel ( Erstaufführung wahrscheinlich 1501, dann bis 1517 mehrfach erweitert ) 14; – das Alsfelder Passionsspiel ( Erstaufführung wahrscheinlich 1501, dann bis 1517 mehrfach erweitert ) 15. 1. TANZ UND SELBSTVERLIEBTHEIT. MARIA MAGDALENAS SPRÜNGE UND WANDLUNGEN
Maria Magdalena ist in Literatur und Kunst vor allem als Büßerin inszeniert worden. Sie vergießt Tränen der Reue, findet zu Demut und Buße, verzichtet auf alle Weltfreuden, kennt nur Bitternis und Selbstkasteiung. Seit Odos von Cluny Sermo ). Die Erlauer Passionsspiele, in: Texte und Melodien der Erlauer Spiele, hg. von Wolfgang Suppan, aufgrund einer Textübertragung von Johannes Janota, 2, Tübingen 2002. Dabei konzentriere ich mich auf den . Zu Janotas Ausgabe des Frankfurter Passionsspiels ( wie Anm. 11 ) habe ich Fronings ältere Ausgabe vergleichend herangezogen ( Rainer Fronig [ Hg. ], Das Drama des Mittelalters, 2. Teil: Passionsspiele, Stuttgart o. J. [ = Deutsche Nationalliteratur 14,2 ] ). Zu Janotas Ausgabe des Alsfelder Passionsspiels ( wie Anm. 11 ) habe ich Fronings ältere Ausgabe ( wie Anm. 14 ) vergleichend herangezogen.
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veneratione Mariae Magdalenae> 16 – wie dann überhaupt unter dem maßgeblichen Einfluss der Cluniazenser 17 – ist dieses Bild der Maria Magdalena als Vorbild des reuigen Menschen vorbereitet worden und prägt ihre weitere Deutung und Popularisierung. Letztere erfolgte insbesondere mit Hilfe des italienischen und französischen Legendenkreises, der in den Filiationen von Jacobus’ de Voragine das Maria-Magdalenen-Bild des ganzen Spätmittelalters maßgeblich bestimmte 18. Die Folge war schon seit dem 13. Jahrhundert die Gründung von Maria-Magdalenen-Orden für büßende und bekehrte Frauen, so z. B. die <Magdalenerinnen>, die <Weißfrauen> oder einfach die , die u. a 19. Sie alle berufen sich auf Maria Magdalena und damit – wie Jacobus de Voragine in der schreibt – auf das ‚bittere Meer‘ ( lateinisch mare und amarus/bitter ), da sie in ihrer Reue so viele bittere Tränen vergossen habe 20. Allerdings muss diese schier grenzenlose Reue, die ein ganzes Meer zu füllen vermag, ihren Grund haben. In der wird einleitend zwar knapp erwähnt, dass Maria aus Magdala am See Genezareth ihre Schönheit ‚angesehen‘ und sich ‚gänzlich den leiblichen Wollüsten‘ hingegeben habe, so dass sie ihren Namen verloren habe und nur noch ‚die Sünderin‘ genannt worden sei 21; ansonsten aber wird dieses Weltleben nicht weiter ausgeführt. Das allerdings geschieht bevorzugt im geistlichen Spiel. Nahezu alle Passionsspiele kennen Maria-Magdalena-Szenen und stellen dabei zunächst ihre erotische Lust, ihre Selbstverliebtheit, ihr Tändeln und Tanzen mit dem Teufel, ihre Wut auf die Bußmahnungen der Schwester Martha in den Mittelpunkt, dann aber ebenso nachdrücklich ihre Reue, insbesondere ihre Reuetränen, mit denen sie Jesu Füße wäscht, die Salbung seiner Füße mit einer teuren Salbe, so dass Judas aus Verbitterung darüber zum Verrat Jesu stimuliert wird, schließlich ihre Nähe zu Jesus, auch zu Jesus am Kreuz und ihr Weg zu seinem Grab. In den Maria-Magdalena-Szenen der Passionsspiele sind Heilsgeschichte und Weltleben, Sünde und Vergebung aufs engste miteinander verbunden. Diese Verbindung erfolgt vor allem durch Maria Magdalena selbst, die sich beide Bereiche eröffnet, die Grenzen zwischen ihnen überwindet und beide Bereiche in einer Intensität und Radikalität erlebt, wie es bis dato so noch nicht beschrieben worden war. Gleichwohl geht diese Widersprüchlichkeit der Maria-Magdalena-Figur der Passionsspiele schon auf die Evangelien des Neuen Testaments zurück, nur sind hier ihre verschiedenen Seiten und 16
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Odo von Cluny, In veneratione Sanctae Mariae Magdalenae, in: Bibliotheca hagiographica Latina antique et mediae aetatis, 2, Brüssel 1901, und Novum supplementum, Brüssel 1986, Nr. 5439–5441c ( Migne PL 133, Sp. 713 ff. ). Diese traditionelle Autorzuweisung ist umstritten. So hat schon 1992 Dominique Iogna-Prat, La Madeleine du Sermo in veneratione Santae Mariae Magdalenae attribué à Odon de Cluny, in: Melangés de L’Ecolé française de Rome. Moyen Age 104/1, 1992, S. 37–70, darauf hingewiesen, dass der <Sermo> nicht von Odo de Cluny stamme, sondern wohl schon im 9. Jahrhundert in Auxerre entstanden sei. Vgl. Anstett-Janssen, Art. <Maria Magdalena> ( wie Anm. 10 ). Die des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übers. von Richard Benz, Heidelberg 91979, S. 470–482. Zu Überlieferung und Verbreitung der im Spätmittelalter vgl. Konrad Kunze, Art. <Jacobus a Voragine>, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 4, 1983, Sp. 448–466. Vgl. Anstett-Janssen, Art. <Maria Magdalena> ( wie Anm. 10 ). Legenda aurea ( wie Anm. 18 ) S. 471. Ebd., S. 472.
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Lebensbereiche noch auf verschiedene Figuren verteilt. Die Evangelien kennen zum einen eine Maria aus Magdala, die von sieben Dämonen besessen, von Jesus geheilt wird und seitdem zu seinem Gefolge gehört, bei Kreuzigung, Tod und Grablegung anwesend ist ( Lk 8, 2; Joh 19, 25; Mt 27, 61 ), das leere Grab entdeckt und dem auferstandenen Christus begegnet. Daneben findet sich eine namenlose Sünderin, die im Hause Simons des Pharisäers Jesu Füße mit Reuetränen netzt ( Lk 7, 36–50 ), bzw. die Salbung von Jesu Haupt durch ‚eine Frau‘ im Hause Simons des Aussätzigen ( Mt 26, 6–13 ) und der Protest der Jünger gegen diese Verschwendung. Schließlich Maria von Bethanien, die Schwester der Martha und des von Jesus auferweckten Lazarus, die im Vergleich mit ihrer fleißigen Schwester, „das gute Teil erwählt habe“ ( Lk 10, 42 ) 22. Diese offensichtlich verschiedenen Figuren der Maria Magdalena wurden bereits in der patristischen Exegese zu einer Figur verschmolzen, wobei einerseits die Selbstverliebtheit sowie die Leibes- und Liebeslust der Maria aus Magdala, andererseits ihre Reue und die Nachfolge Jesu wohl die markantesten Handlungssequenzen ausmachen, die später in den Passionsspielen berücksichtigt worden sind. Auf die seit Augustin überlieferte und im Mittelalter verschiedentlich übernommene Begründung für Maria Magdalenas Entscheidung zu Sünde und Weltleben, dass ihr Bräutigam Johannes sie unmittelbar vor ihrer Hochzeit zu Kana verlassen habe und Jesus gefolgt sei, woraufhin sie sich aus Zorn und Enttäuschung dem Bösen überantwortet habe 23, gehe ich hier nicht weiter ein, da sie in den Passionsspielen keine Rolle spielt. Hier steht ihr sündiges Weltleben selbst im Mittelpunkt. Im relativ späten Alsfelder Passionsspiel sowie in dem Erlauer Spiel <Maria Magdalena in gaudio> wird am präzisesten beschrieben, wie Maria Magdalena die Normen einer Ethik weiblicher Askese und der Exklusion körperlichen Begehrens transgrediert und dabei eine extensive Körperlust und den Anspruch, selbst über ihren Körper zu verfügen, behauptet, dann aber auch von diesem Weltleben zu Reue, Buße und Gnade übergeht. Das Alsfelder Spiel ist als „Bußpredigt“ und „heilspädagogisches“ Exemplum mit ausschließlich didaktischer Intention gedeutet worden 24, doch wird ihm das nur ansatzweise gerecht. Gerade im Alsfelder Passionsspiel tritt Maria Magdalena besonders fordernd und selbstherrlich auf. Und da sie sich in ihrer zügellosen Lust auf Körperfreuden und sexuelles Begehren schließlich auch mit dem Teufel einlässt, mit ihm spielt und tanzt, lässt der Anonymus des Alsfelder Spiels auch keinen Zweifel daran, dass sie der Sünde verfällt und – wie ihre Schwester Martha ihr immer wieder vorhält – ihr Seelenheil zu verspielen droht. Dennoch liegt die Pointe der Maria-Magdalena-Szenen gerade nicht in bloßer Paränese, und d. h. in der Verabsolutierung der Mahnungen Marthas, sondern in dem bewussten Verstoß Marias gegen deren Normen. Es ist das Neben- und Gegeneinander von moralischer Ermahnung und ihrer Verhöhnung, von
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S. oben bei Anm. 12. Ausführlicher dazu Conny van den Wildenberg-de Kroon, Das Weltleben und die Bekehrung der Maria Magdalena im deutschen religiösen Drama und in der bildenden Kunst des Mittelalters ( Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 39 ) Amsterdam 1979, S. 25–27. Hans-Jürgen Linke, Art. , in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2, 1978, Sp. 267.
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Norm und Normübertretung, das die Maria-Magdalena-Sequenz des Alsfelder und Erlauer Spiels ausmacht und das Maria Magdalena als einzige realisiert. Dabei scheint mir besonders bemerkenswert, auf welche Weise dieses Gegeneinander von Norm und Normübertretung im Spiel realisiert wird. Ich wies schon darauf hin, dass Maria sich voller Unruhe und Bewegung darstelle, Martha hingegen in sich selbst ruhe, und dass sich Marias Ruhelosigkeit vor allem in ihrem Gesang und Tanz ausdrücke. Dabei handelt es sich um einen besonderen Tanz: den vmme genden tantz oder Ringtanz und einen Springtanz, der die Beine der Tänzerin entblößt und bei den Mittänzern oder Beobachtern böse Begierden weckt 25. Es gehört zu den Stereotypen der Maria-Magdalena-Spiele, dass Maria Magdalena nicht nur tanzen will und das auch gegen alle moralischen Instanzen durchsetzt, sondern dass sie mit dem Teufel, im Alsfelder Passionsspiel sogar mit Luzifer höchstpersönlich, tanzt 26. Sie schmückt und bewundert sich selbst im Spiegel und ist dementsprechend offensichtlich völlig blind dafür, mit wem sie da tanzt. Sie will nur tanzen und singen, sich drehen und springen, ist verliebt in sich selbst und ihre Bewegungen. Der Teufel aber, davon ist die kirchliche Tanzpolemik, ja Tanzphobie des Mittelalters überzeugt, ist ohnehin das Zentrum eines jeden Ringtanzes: chorea enim circulus est cujus centrum est diabolus, schreibt Jacques de Vitry 27 und hat damit die theologisch herrschende Meinung auf den Punkt gebracht, die im Mittelalter in einer Fülle von Lehrschriften, Predigten, Traktaten je neu variiert und bestätigt worden ist. Eine besonders populäre Tanzpolemik des späten Mittelalters ( <Was schaden tantzen bringt> ) liest sich wie ein zeitgenössischer Kommentar zu Maria Magdalenas Tanz mit Teufel oder Liebhaber, das ist nicht klar zu unterscheiden: Der vmme gende tantz ist ein ring oder circkel, des mittel der tufel ist: wann er stifft solich tentz vff daz sich die vnkuschen menschen an sehen, an griffen vnd miteinander reden, vnd dardurch entzundt werdent durch vnkuscheit, vnd böse fleischliche begirde gewynnen [ … ]. vnd lust dar jnne haben, damit sie tötlich sünden vnd jn vil stricke des tufels vallen 28. Die Hauptgefahr des Tanzes also liegt in der Bewegung und Kommunikation der Geschlechter: in der Berührung der ausgestreckten Arme, im gemeinsamen Singen, Lachen und Sprechen, in gemeinsamen Sprüngen, wobei sie nicht bedenken, dass jeder 25
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Im Anschluss an eine anonym überlieferte deutsche Predigt aus dem frühen 15. Jahrhundert (<Was schaden tantzen bringt> ) mit einer scharfen, aber auch sehr differenzierten Polemik gegen Gesang und Tanz, insbesondere den vmme genden tantz, der vor allem zur Unkeuschheit verführe. Vgl. dazu , in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 8, 1992, Sp. 593 f. Ich zitiere den Text nach Franz M. Böhme, Geschichte des Tanzes in Deutschland, Leipzig 1886, S. 94 ff. ( nach der Wiener Handschrift 3009, fol. 73a–85b ). Bei Böhme finden sich auch noch zahlreiche andere Texte zur kirchlichen Verurteilung des Tanzes im Spätmittelalter. Vgl. dazu auch die außerordentlich materialreiche Studie von Ann Harding, An Investigation into the Use and Meaning of Medieval German Dancing Terms, Göppingen 1973, S. 70–82. Vgl. dazu Anm. 11. Jacques de Vitry, Sermones vulgares, zitiert nach Harding, Dancing Terms ( wie Anm. 25 ) S. 71. ( The Exempla of Illustrative Stories from the Sermones Vulgares of Jacques de Vitry, hg. von Thomas Frederick Crane, London 1890, ND Nendeln 1967 ). <Was schaden tantzen bringt>, in: Böhme ( wie Anm. 25 ) S. 94.
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Sprung werde gezelt von dem tufel und als manchen sprung sie tund, als manig staffeln springen sie in die helle 29. Maria Magdalena findet in diesen Tänzen und Sprüngen sich selbst. Sie vollzieht die Transgression vom Guten zum Bösen in Tanzsprüngen mit dem Teufel, schert sich nicht um die Mahnungen ihrer Schwester Martha, sondern möchte nur sich selbst leben. Insofern sehe ich den Sinn ihrer Provokation keineswegs nur in ihrer Sehnsucht nach Weltgenuss ( mundi delectatio ) oder vitaler Lebensfreude 30. Denn Maria geht es keineswegs nur um sexuelles Begehren und körperliche Lust, sondern um eine Form narzisstischer Selbstverliebtheit, die sich – wie ich formulieren möchte – als Selbstermächtigung präsentiert. Diese Selbstermächtigung aber vollzieht sie tanzend und springend. Der exzessive Tanz ist ihr Lebenselixier, in ihm besteht ihre Übertretung der Norm, die ihr moralische Instanzen – seien es nun ihre Mutter oder ihre Schwester – vorhalten und über die sie sich hinwegsetzt, sie überspringt, transgrediert. Denn Maria Magdalena ist nicht nur – im Gegensatz zu ihrer asketischen Schwester – auf ihren Körper fixiert, sie verherrlicht ihn auch und – was ich besonders wichtig finde – beansprucht darüber hinaus, selbst über ihn verfügen zu können. Dieser Anspruch auf selbst bestimmte Gewalt über den eigenen Körper, der sich gegen die Rechte und normative Gewalt ihrer frawe 31 behauptet, scheint mir der eigentliche Skandal von Marias Auftritt. Sie äußert diesen Anspruch in Form eines Liedes, zu dem sie allein tanzt, nachdem sie vorher mit den Teufeln getanzt hat: Ich breytte mynen mantel yn die awe du begunde mich zu fragen myne frawe, wo ich szo lange were gewest. was wolde sie des? sal ich mynes iungen libes nicht gewaldigk synn? ( ‚Ich breitete meinen Mantel auf der Aue aus: / Daraufhin fragte mich meine Herrin / wo ich so lange geblieben sei. / Was geht sie das an? / Soll ich über meinen jungen / Körper nicht selbst verfügen können?‘) 32 Im Erlauer Spiel folgen die Teufel der Tanzenden und bestätigen eben diesen Anspruch auf Selbstverfügung über den eigenen Leib ( Jo du, jo du, jo du liebes fräielein / du solt deines leibes wol gewaltig sein ) 33. Sie selbst ergreift die Initiative im Spiel der Geschlechter: Sie eröffnet das Ballspiel mit den jungen man all 34, das – hierin dem Tanz vergleichbar – eine erste Form körperlichen Kontakts ermöglicht. Dass Tanz- und Ballspiele auch sprachlich miteinander verbunden werden und den Anfang des Spiels der Ge-
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Ebd., S. 98. So Linke ( wie Anm. 24 ) S. 265. Alsfelder Passionsspiel ( wie Anm. 11 ) V. 1797. Alsfelder Passionsspiel ( wie Anm. 11 ) VV. 1796–1801. Erlauer ( wie Anm. 13 ) VV. 336–337. ( Mariae iactat diabolis pilam dicens: ) set hin, ier jungen man all / und laufft mit uns nach dem pall ‚( Maria wirft den Teufeln einen Ball zu und sagt ): „Schaut her, ihr jungen Männer, und jagt mit uns dem Ball nach“‘; Erlauer ( wie Anm. 13 ) VV. 366–367.
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schlechter indizieren, ist uns bis heute vertraut 35. Maria Magdalena realisiert das in einer Offenheit und Zielstrebigkeit, die den Protest ihrer Schwester Martha hervorruft: Sie empört sich über Marias Leichtfertigkeit, die Gottes Zorn nachgerade herausfordere. Sie klagt und droht, ruft damit aber lediglich Marias Gegendrohungen hervor: Martha, die alde thoren 36 solle endlich zur Kenntnis nehmen, dass sie, Maria, ein fryes leben 37 für sich beanspruche. Die Schwester sei doch nur eine scheinheilige Heuchlerin ( peltenerßen 38 ), eine Kirchenfurzerin ( kirchenfisterin 39 ), und wenn sie mit ihren Mahnungen nicht aufhöre, müsse sie eben verprügelt werden 40. Dabei markiert die Eskalation von Drohung und Gewalt sehr deutlich, dass hier zwei Entwürfe weiblichen Selbstverständnisses hart gegeneinander gestellt werden. Martha beschränkt sich auf ihre häuslichen Tätigkeiten, macht Hauswirtschaft und den Nutzen des Hauses zum einzigen Maßstab ihres Handelns 41 und begrenzt deshalb ihren Bewegungskreis auf das Haus. Maria hingegen will das Haus verlassen, auf die awen gehen 42 und sich dort myt den jungelynn zucken ( ‚mit den jungen Männern tanzen‘ 43 ), und will auf diese Weise ihrer individuellen Freiheit frönen: ich wel hon eyn fryes leben 44. Allerdings ist es im Folgenden gerade diese Verliebtheit in ihren eigenen Körper, ihre individuelle Freiheit und in sich selbst, die sie aufgrund der Appelle ihrer Schwester Martha, aber auch der Verkündigung Jesu in Frage stellt und noch einmal eine ganz neue Dimension ihrer selbst gewinnt. Ging sie bislang – tanzend und springend – den Weg der Sünde, so geht sie nun in sich. Maria tritt in Distanz zu sich selbst und ihrem Tun, reflektiert und bereut es. Sie agiert nicht mehr triebgebunden und bewusstlos, taub deshalb auch gegen alle Ermahnungen der Schwester, sondern bedenkt die Konsequenzen ihrer Sünden, die Gefahren für ihr Seelenheil und hofft auf die Gnade Gottes. Maria entdeckt die <Sorge um sich>; sie vollzieht eine conversio ad se und wird sich selbst zum Erkenntnisgegenstand 45. Michel Foucault hat diese Form der Reflexion seiner selbst, „um sich umzubilden, zu verbessern, zu läutern, sein Heil zu schaffen“ 46, an 35
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Vgl. Siegfried Mendner, Das Ballspiel im Leben der Völker, Münster 1956, S. 58. Mendner verweist auf rituelle Ballspiele in verschiedenen Kulturen Europas, Mittelamerikas u. a. sowie auf ihren Zusammenhang mit Tanzspielen ( oder der italienischen , einem ursprünglichen Tanzlied ). Alsfelder Passionsspiel ( wie Anm. 11 ) V. 1865. Ebd., V. 1869. Ebd., V. 1931. Ebd., V. 1934. … ich wel er schyer eyn boden / schigke, der sie sere sail slan, / wel sie mich nit mit freydden lan / und losßen mich yn disser wyße faren ( ‚Am liebsten würde ich ihr einen Boten schicken, der sie verprügeln soll, weil sie mich nicht in Frieden so willfahren lassen will‘ ), ebd., VV. 1915–1918. Ebd., VV. 1927 f. Ebd., V. 1826. Ebd., V. 1929. Ebd., V. 1869. Im Anschluss an Michel Foucault, Die Sorge um sich ( Sexualität und Wahrheit 3 ), übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/Main 1989, S. 89 u. ö. ( Kap. 2. Die Kultur seiner selbst ). Zur theoretischen und historischen Bestimmung von Konversion vgl. Thomas Luckmann, Kanon und Konversion, in: Jan Assmann ( Hg. ), Kanon und Zensur ( Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II ) München 1987, S. 38–46; sowie Jan N. Brenner – Wout J. van Beckum – Arie L. Molendijk ( Hgg. ), Cultures of Conversions ( Groningen studies in cultural change 18 ) Leuven u. a. 2006. Foucault ( wie Anm. 45 ) S. 59.
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der spätantiken Philosophie und Alltagsethik beobachtet. Ich bringe sie auch für Maria Magdalenas zweite Transgression vom Bösen zum Guten, vom Tanz mit dem Teufel zu einem neuen Begriff ihrer selbst in Anschlag. Vielleicht ist es statthaft, hierin schon einen Modus der Ausbildung des Gewissens zu sehen. Auffällig aber ist, dass dieser Prozess der Verinnerlichung und Selbstreflexion in einer deutlich asketischen Abkehr Marias von ihrem eigenen Körper erfolgt. Denn Askese meint vor allem – ähnlich der militärischen oder sportlichen Übung des Körpers – die Kunst und Technik kontrollierter Lebensführung. Sie bezeichnet den Bruch mit dem bisherigen Leben – wie Ernst Troeltsch schon 1916/17 in einem wichtigen Askese-Aufsatz formuliert hat 47 –, mit dem „natürlichen Trieb- und Bedürfnisleben zugunsten eines heiligen gottgeweihten Lebens“. Das heißt: war Maria Magdalenas Körper in der Zeit ihrer Sündenverfallenheit der Fluchtpunkt ihrer Selbstermächtigung, wird er nun gerade von den Attributen ihrer Sündenverfallenheit gereinigt: In einem Akt öffentlicher Selbstentblößung und Selbstreinigung demonstriert Maria Magdalena auch äußerlich, dass sie zu einer anderen geworden ist. Dabei erfolgt diese Selbstreinigung dadurch, dass Maria ihre sündigen Glieder, die Schönheitsattribute ihrer Kleider und ihre Sünden einzeln anspricht und verurteilt und auf diese Weise erst ihre Reinigung ermöglicht: woil hen, ir vorfluchten kleyder, ir hot mich gar vorwont vnd gesencket yn der helle grunt. vorfluchet muß der spiegel synn, da ich en besach die schone mynn! owe du vnreynnes hare: du host mer gemachet die sunde gar! woil hen, er vorfluchten lock: ich wel nicht mene gehen als eyn tock. 48 ( ‚Fort mit euch, Ihr verfluchten Kleider,/ ihr habt mich verleitet/ und in den Abgrund der Hölle gestürzt!/ Verflucht soll der Spiegel sein,/ in dem ich meine Schönheit betrachtete!/ Weh dir, du unreines Haar:/ Du hast mich zur Sünde bereit gemacht!/ Fort mit euch, ihr verfluchten Locken,/ ich will mich nicht mehr wie ein Puppe aufputzen.‘ ) 49 Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Maria diese Verwerfung ihrer Sündenglieder und Teufelsattribute mit entsprechenden Gesten verbunden hat, sie also ihre Kleider tatsächlich zerrissen, ihre Locken sich ausgerissen und sich auf diese Weise faktisch von ihnen getrennt hat. Sie ist eine andere geworden und stellt dies auch praktisch handelnd unter Beweis.
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Ernst Troeltsch, Askese, in: Hans Baron ( Hg. ), Ernst Troeltsch, Gesammelte Schriften 4, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925, S. 96–118 ( Erstveröffentlichung 1916/17 ). Ich zitiere nach Ernst Troeltsch, Askese, in: Karl Suso Frank ( Hg. ), Askese und Mönchtum in der alten Kirche ( Wege der Forschung 409 ) Darmstadt 1975, S. 69–90, hier S. 69. Alsfelder Passionsspiel ( wie Anm. 11 ) VV. 2013–2021. Ebd.
Das Spiel mit der Transgression
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Es ist der besondere Vorzug des Theaters, dass es diesen Prozess der Selbstreinigung Marias nicht nur erzählt, sondern tatsächlich in Szene setzt und damit dem Publikum zur praktischen Nachfolge empfiehlt. Denn gerade weil Maria – anders als Martha – nicht eo ipso gut ist, sondern die Sünde kennt und will; nicht perfekt ist, sondern gerade in ihrer Sündenverfallenheit sehr menschlich, ist sie für das Theaterpublikum sehr attraktiv, das ihre Normübertretung, dann aber auch deren Heilung und Reinigung, nachvollziehen kann. Die Faszination, die gerade Maria Magdalena in Literatur und Kunst hervorgerufen hat, findet darin wohl ihren Grund. Das heißt aber nicht, dass Martha ohne jedes heilsgeschichtliche Interesse gewesen wäre; es war nur anders begründet. 2. DIE BESCHWÖRUNG DER NORM. MARTHAS IMMOBILITÄT UND VITA ACTIVA
Marthas Lebensraum ist das Haus. Während Maria Magdalena auf die awe hinausstrebt, um dort ihren Mantel auszubreiten, zu springen und zu tanzen 50, ist Martha ans Haus und an die praktischen Verrichtungen des Hauses gebunden und wird deshalb in bildlichen Darstellungen auch gern mit Attributen von Hausfrau und Küche, von Schürze, Schlüssel, Kochlöffel dargestellt 51. Martha sieht sich der Sorge für die Bewohner und Gäste des Hauses verpflichtet, nicht der <Sorge für sich selbst> 52. Denn Sorge um sich selbst setzt – wie wir in Marias Reue und Gewissensangst sahen – Irritationen hinsichtlich der eigenen Taten, vor allem aber auch der Ziele und Zwecke des künftigen Handelns voraus. Sorge um sich selbst setzt dann ein, wenn man sich der Bewertung des eigenen Tuns nicht mehr sicher ist; wenn man die Gewissheit über die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns verloren hat. Martha besitzt diese Sicherheit und Gewissheit – ganz im Unterschied zu ihrer Schwester Maria Magdalena – in hohem Maße. Sie sieht sich als Repräsentantin von Gesetz und Evangelium, die sie zu verkünden und in praktische Alltagsethik umzusetzen hat, nicht aber relativeren oder gar – wie Maria Magdalena – in Frage stellen darf. Marthas typische Redeformen sind denn auch Appell und Wiederholung. Sie appelliert an die Einsicht Marias, Gesetz und Evangelium zu bewahren, sie fordert und beschwört immer wieder neu und mit ermüdender Gleichförmigkeit deren Geltung. Martha geht kein Risiko abweichenden Denkens oder Handelns ein. Sie lässt sich nicht irritieren und kann deshalb auch ihre Appelle nur je neu wiederholen oder zu Verboten steigern. Beide aber: Appelle wie Verbote, erwachsen aus der Gewissheit, dass die Normen christlicher Verkündigung und weiblicher Ethik unverrückbar sind, eine Frau sich also – um bei Maria und Martha zu bleiben – Tanz und Spiel, Liebeständelei und sexuellem Begehren nicht hingeben darf. Dieser unverrückbaren Geltung der Normen entspricht Marthas eigene Immobilität in Denken und Habitus. Während Maria Magdalena sich über die Normen weiblicher Ethik hinwegsetzt und sich neue Spielräume
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Im Anschluss an das Alsfelder Passionsspiel ( wie Anm. 11 ) VV. 1796–1801 ( s. Anm. 32 ). Lexikon der christlichen Ikonographie 7, 1990, Sp. 565–568. Zum Verhältnis von Maria Magdalena und Martha in Theologie, Kunst und Literatur des Mittelalters vgl. grundsätzlich Giles Constable, The Interpretation of Mary and Martha, in: Ders., Three Studies in Medieval Religious and Social Thought, Cambridge 1995, S. 1–141. Zur epiméleia heautou ( … ) oder cura sui vgl. Foucault ( wie Anm. 45 ) S. 62.
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individuellen Handelns zwischen Gut und Böse, Norm und Normübertretung ertanzt, und sich darüber immer wieder verändert, bleibt Martha ohne jede Veränderung und immer gleich gut. Damit allerdings fehlt ihr jede Form von Distanz zu sich selbst; jede Form der Reflexion ihres Tuns oder gar der Reue über vergangene Taten. Martha gelangt nicht zu einer conversio ad se, weil es derer gar nicht bedarf. Denn wer immer schon gut ist, muss sich auch nicht verändern. Er/sie sieht sich nicht als bedürftig an; er/sie kennt nicht die <Sorge um sich>, sondern lediglich die Sorge um die Bewahrung von Norm und Gesetz in Haus und Gesellschaft. Martha steht für den Zusammenhang von Sitte und Recht. Ich habe einleitend darauf hingewiesen, dass Normen juristisch als Gesetz oder sozial als oder Verhaltensgebote codiert sein können. Martha verkörpert und verkündet soziale Normen, die das Verhältnis und die Handlungsmöglichkeiten der Geschlechter eindeutig definieren und auf diese Weise das Zusammenleben der Menschen berechenbar machen sollen. Marthas Rhetorik des Appells und der Wiederholung gewinnt daraus ihren Sinn: in dem Maße nämlich, wie sie die Kommunikation der Geschlechter sowie die Ordnung innerhalb und außerhalb des Hauses berechenbar machen will, sind auch ihr Habitus und ihre Redeweise gerade nicht auf Innovation und Originalität aus, sondern auf Eindeutigkeit und Berechenbarkeit angelegt. Soziale Normen also schaffen Sinnstrukturen, die – ich zitiere die <Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie> – „den im Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften auftretenden, zu tatsächlicher Übung ausgebildeten Regelmäßigkeiten des Handelns zugrunde liegen“ 53. Die Berechenbarkeit dieser Handlungs- und Kommunikationsformen durch Handlungsregeln ist Ausgangspunkt und Grundlage von Marthas Auftritten in den Passionsspielen des Spätmittelalters. Sie zitiert die Regeln und verweist auf die negativen oder aber auch positiven Sanktionen, „mit denen die Gesellschaft auf normenkonformes bzw. -abweichendes Handeln ihrer Mitglieder reagiert“ 54. Dabei wird in den Spielen nicht eigens thematisiert, ob es sich um schriftlich fixierte oder mündlich tradierte Normen handelt. Sicher ist nur, dass sie für Martha unabdingbar gelten und einen wichtigen Teil der Sinnstruktur von Haus und Gesellschaft ausmachen. Marthas Sorge um die Normativität von Haus und Gesellschaft ist Teil ihrer vita activa, als deren Repräsentantin sie in Patristik und Mittelalter gesehen wurde 55. Bereits seit Clemens von Alexandria werden Martha und Maria Magdalena – im Anschluss an die Lukas-Erzählung von der Bewirtung Jesu im Haus der Schwestern, der Geschäftigkeit Marthas und ihrer Klage über ihre Schwester Maria, die nur zu Jesu Füßen sitze und seinen Worten lausche – als allegorische Figuren der vita activa und der vita contemplativa verstanden. Die Privilegierung der einen oder der anderen Lebensform, die bekanntlich bereits in dem Jesuswort Lk 10, 42 ( „Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden“ ) beginnt und im ganzen Mittelalter sehr kontrovers diskutiert wird, ist hier nicht mein Thema. Für die Frage nach Rolle und Funktion Marias und Marthas im Hinblick auf Affirmation oder Übertretung der Normen weiblicher Ethik ist hier nur von Interesse, dass Martha – gerade in ihrer 53
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Herbert R. Ganslandt, Art. , in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 2, 1995, S. 1032. Ebd., S. 1032. Zum Folgenden Victor Saxer, Art. <Martha>, in: LMA 6, 1993, Sp. 336.
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Figuration als Hausfrau – ihre vita activa darauf ausrichtet, die normativen Grundlagen von Haus und Gesellschaft zu sichern, wohingegen Maria Magdalena sie in Frage stellt, gerade durch ihre Normübertretung aber, durch ihre Beweglichkeit und Irritationskraft die Restitution der Norm ermöglicht. Dabei ist die Frage nach Schriftlichkeit oder Mündlichkeit dieser Normen nicht eindeutig zu beantworten, sie wäre wohl auch – ich hoffe, dass ich das zeigen konnte – zu erweitern. Denn während Martha in den hier ausgewählten Passionsspielen die Tradition und gesicherte Geltung von Sitte und Recht einklagt, sich dabei implizit und explizit auf schriftlich fixierte Regeln, auf immer wieder literarisch und theologisch erörterte Überzeugungen wie das memento mori oder Regelsysteme wie den Dekalog bezieht und sich dabei eines erkennbaren Habitus von Lehre und Paränese, also schriftgestützter Redeformen bedient, geht Maria über die einfache Opposition von Schriftlichkeit und Mündlichkeit hinaus. Zwar wird Maria in der bildenden Kunst des Spätmittelalters und der Renaissance nicht nur mit dem Salbengefäß – in Erinnerung an das Salben von Jesu Füßen im Hause des Pharisäers ( Lk 7, 36–50 ) –, sondern häufig auch mit einem Buch in der Hand dargestellt 56. In den Passionsspielen hingegen stehen das <Spiel mit der Transgression>, die Lust am Tanz mit dem Teufel, die Wut auf die Mahnungen der Schwester im Mittelpunkt. Maria vollzieht den Normbruch praktisch handelnd, schafft gerade damit aber auch die Restitution der Norm. Dementsprechend sehe ich die Performanz der Norm, in diesem Fall die spielerische Inszenierung von Übertretung und erneuter Sicherung der Norm, neben Schriftlichkeit und Mündlichkeit als eine dritte Möglichkeit an, die Geltung von Normen zu sichern. In der Literatur des Mittelalters hat vor allem diese dritte Möglichkeit Interesse geweckt; die Faszination, die gerade Maria Magdalena auf ihren Wegen zwischen Sünde und Reue, Lust an sich selbst und Unterwerfung unter Gottes Gnade, Gut und Böse geweckt hat, ist wohl nur so zu erklären. Vielleicht ist es ja ein Privileg von Literatur, gerade die Widersprüche und Ungereimtheiten, die Brüche und Veränderungen im menschlichen Handeln sowie die damit einhergehenden Irritationen darzustellen. Deren soziale Codierungen allerdings sind, wie der transgressionstheoretische Ansatz Alois Hahns zeigte 57, für das Verständnis auch des mittelalterlichen Theaters unverzichtbar. Aber dass Literatur und Geschichte, Kunst und soziale Strukturen nicht voneinander zu trennen sind, muss nun gerade in Münster nicht eigens betont werden.
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Zu den Attributen Maria Magdalenas vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie 7, 1990, Sp. 521–524. Hahn, Transgression ( wie Anm. 8 ) S. 452–465.
Mittelalterliches Recht und Ritual in ihrer wechselseitigen Beziehung
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GERHARD DILCHER
Mittelalterliches Recht und Ritual in ihrer wechselseitigen Beziehung 1. Ein Problemfeld zwischen Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte, S. 297. – 2. Begriffe und Forschungsstand, S. 299. – 3. Zur Rolle von Ritualen im mittelalterlichen Prozess, S. 301. – 4. Wirksamkeit von Rechtshandlungen und Ritual, S. 303. – 5 Das Beispiel des langobardischen gairethinx, S. 306. – 6. Unterwerfungsrituale und Recht, S. 308. – 7. Recht und Ritual als Formen, Verfahren und Funktion, S. 311.
1. EIN PROBLEMFELD ZWISCHEN GESCHICHTSWISSENSCHAFT UND RECHTSGESCHICHTE
Allgemeine Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte sind, um ein Wort von Jakob Grimm abzuwandeln, „aus einem Bette aufgestanden“, nämlich dem der Historisierung der Welt im geistesgeschichtlichen Kontext von Humanismus, Aufklärung und Romantik. Gerade darum bedürfen wir als Kinder der Moderne des historischen Rückblicks, um uns unseres Standortes im stetigen historischen Wandel zu vergewissern. Diesen Rückblick haben die genannten Wissenschaften Seite an Seite im immer erneuten Dialog unternommen, auch wenn sie von Anbeginn in verschiedenen Fakultäten, der philosophischen nämlich und der juristischen, beheimatet worden sind. Ein wichtiger Wendepunkt innerhalb dieses Dialogs war der Einspruch von Otto Brunner gegen den Rechtsbegriff der klassischen Rechtsgeschichte, den er in seinem Werk „Land und Herrschaft“ erhoben hat 1. Dieser Rechtsbegriff sei zu sehr dem positiven Recht des gerade errichteten nationalen Rechtsstaates entnommen und zum Verständnis mittelalterlichen Rechts ungeeignet. Dessen Grundlagen – wie der moderne Souveränitätsbegriff und der Monopolanspruch des Staates auf legitime Gewaltausübung und damit der moderne Staatsbegriff – seien unbekannt in einer Welt, in der ein legitimes Mittel des Konfliktaustrages die gewaltsame Fehde war. Um den Verlauf der Front dieser Diskussion, der zu häufig entlang den Fächergrenzen gezeichnet wird, etwas aufzulockern, sei daran erinnert, dass der Historiker Georg von Below der erbittertste Verfechter des juristischen Staatsbegriffs für das Mittelalter war 2, während der Jurist Otto Gierke eine genossenschaftlich aufgebaute Gesellschaft zeichnete 3, die erst
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Otto Brunner, Land und Herrschaft, Darmstadt 31981. Zu Georg von Below Otto Gerhard Oexle, Ein politischer Historiker. Georg von Below, in: Notker Hammerstein ( Hg. ), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 283–312; Hans Cymorek, Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1998. Gerhard Dilcher, Genossenschaftstheorie und Sozialrecht: Ein „Juristensozialismus“ Otto von Gierkes?, in: Quaderni Fiorentini per la Storia del Pensiero Giuridico Moderno 3/4, 1974/1975, S. 319–365; Otto Gerhard Oexle, Otto von Gierkes „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“, in: Hammerstein ( wie Anm. 2 ) S. 193–218.
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Gerhard Dilcher
langsam zur Staatlichkeit gelangt. Überdies hatte der Rechtshistoriker Franz Beyerle schon 1914 die Parallelität von Fehdegang und Rechtsgang für das frühe Recht in Anspruch genommen 4. Ich greife so weit zurück, weil die These Otto Brunners, die jenseits aller kritischen Diskussion seines Werkes Bestand hat 5, die produktive Herausforderung von Seiten der Geschichtswissenschaft darstellte, von der aus mehrere Generationen von Rechtshistorikern ein gänzlich neues Bild des mittelalterlichen Rechts entwickelt haben 6. Sie haben Brunners Einspruch aufgenommen und nicht abgewehrt, was leider von vielen Historikern heute nicht wahrgenommen wird. Dabei verstehen die Rechtshistoriker sich heute methodisch als Historiker, das heißt sie gehen nicht in normativer Absicht vor, wie noch weitgehend im 19. Jahrhundert, sondern empirisch forschend, nicht mit der Frage was rechtens sein soll, sondern mit der Frage was Recht in seiner historischen Entfaltung gewesen ist 7. Dabei haben sie als Juristen ein auch rechtstheoretisches Erkenntnisinteresse daran, im Feld des Historischen die ganze Breite des Phänomens Recht auszumessen – wobei sie zunehmend Parallelen im Feld der Rechtsethnologie bemerken 8. Gerade beim Thema von Recht und Ritual im Mittelalter ist dabei Dialog und Brückenschlag zwischen der mediävistischen Ritualforschung und der mediävistischen Rechtshistorik noch nicht gelungen, vielmehr eher Fehde zu vermelden 9. Weil ich beide Positionen für die produktive Weiterarbeit für unentbehrlich halte, möchte ich mich – unter Verzicht auf das ursprünglich angekündigte Thema – diesem Punkt zuwenden, obwohl es fast unmöglich ist, alle Fäden der Diskussion zu entwirren. Jedoch möchte ich auf zwei gute Zusammenfassungen des Diskussionsstandes zum mittelalterlichen Rechtsbegriff hinweisen, die hilfreich sind. Es handelt sich einmal um den Bericht von Jürgen Weitzel in dem von Willoweit herausgegebenen Band des , in: HRG 3, 1984, Sp. 518–526; Dieter Simon, Art. , in: Axel Görlitz ( Hg. ), Handlexikon zur Rechtswissenschaft, München 1972, S. 314–318. Reiner Schulze, Das Recht fremder Kulturen – Vom Nutzen der Rechtsethnologie für die Rechtsgeschichte, in: Historisches Jahrbuch 110, 1990, S. 446–469; Gerhard Dilcher, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, in: Ders. u. a., Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter ( Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 6 ) Berlin 1992, S. 21–66; Jörg Riegel, Ethnologie und Rechtsgeschichte. Möglichkeiten des interdisziplinären Kontaktes mit der Rechtsethnologie, in: Karl Kroeschell – Albrecht Cordes ( Hgg. ), Funktion und Form. Quellen und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Berlin 1996, S. 229–250. Vgl. die Kontroverse zwischen Jürgen Weitzel und Gerd Althoff, in: Albrecht Cordes – Bernd Kannowski ( Hg. ), Rechtsbegriffe im Mittelalter, Frankfurt am Main 2002, mit Bezugnahme auf die Rezension von Jürgen Weitzel in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 117, 2000, S. 689–702.
Mittelalterliches Recht und Ritual in ihrer wechselseitigen Beziehung
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schen Kollegs> aus dem Jahre 2000 und um den Einführungsaufsatz von Bernd Kannowski zu einem Tagungsband „Rechtsbegriffe im Mittelalter“ von 2002 10. Eine Gemeinsamkeit der wissenschaftlichen Bemühungen der Rechtsgeschichte um den mittelalterlichen Rechtsbegriff und der Erforschung von Ritualen als Spielregeln der Politik, so wie sie Gerd Althoff und seine Schule vorangetrieben haben, liegt darin, dass beide vom Medium einer überwiegend oralen Kultur ausgehen. Die fraglichen Regeln sind also in ihrer Stabilität und ihren Wandlungen abhängig von den Bedingungen einer memorialen Tradition. Dies ist ein Medium, welches unserem auf Schriftlichkeit fixierten Bewusstsein immer wieder Schwierigkeiten bereitet: Wir haben weder die Vorstellungen noch die Begriffe, um dies angemessen zu erfassen. Außerdem bekommen wir die fraglichen Phänomene in der Regel erst in den Blick, wenn schriftliche Quellen darüber berichten, sie also bereits in ein anderes Medium gewechselt sind. An dieser Stelle stellt sich eine weitere Schwierigkeit ein. Durch das ganze Mittelalter hindurch stehen eine gelehrte Schriftkultur und eine orale Volkskultur nebeneinander, beobachten und beeinflussen sich gegenseitig 11. Wenn wir die eine erforschen, dürfen wir die andere nie ganz aus den Augen verlieren – ein Gebot, das allzu oft nicht beachtet wird. Von ganz besonderer Bedeutung ist dabei der Umstand, dass die Kirche Verwalterin der Schriftkultur ist. Bei ihr sind die religiösen Texte, Ritus, Rituale und Liturgie wie auch das kirchliche Recht weitgehend schriftlich festgelegt. Der weltliche Rechtsbereich folgt den kirchlichen Entwicklungen nur unvollkommen nach, etwa in den karolingischen Leges und Kapitularien oder den europäischen Wellen herrscherlicher Gesetzgebung seit der Stauferzeit. 2. BEGRIFFE UND FORSCHUNGSSTAND
Das kulturelle Medium und die politischen Impulse sind also für Rituale und Recht durchaus parallel gelagert. Um sie zu beobachten, müssen wir sie zu unterscheiden wissen. Darum hier zunächst der Versuch einer begrifflichen Abgrenzung. Als Ritual möchte ich eine durch Tradition festgelegte Handlungsabfolge ansehen, deren Vollzug für die Beteiligten einen den bloßen Handlungserfolg überschießenden Sinngehalt hat. Auf diesem Sinngehalt beruht dann die soziale Bedeutung und Wirkung der Handlung. Innerhalb oder begleitend zu dieser Handlungsabfolge können mit ähnlicher Wirkung Gegenstände als Symbole Verwendung finden. Für den mittelalterlichen Rechtsbegriff sieht es mit einer Festlegung dieser Art schwieriger aus, und zwar gerade dadurch, dass die heutigen Rechtshistoriker den mittelalterlichen Rechtsbegriff, vor allem den der oralen Kultur, von dem modernen ablösen wollen, der von schriftlich fixierten Normenkatalogen ausgeht. Diesem Zweck dient der Begriff Rechtsgewohnheit, Rechtsgewohnheiten 12. Es bedarf dazu einiger 10
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Jürgen Weitzel, Der Grund des Rechts in Gewohnheit und Herkommen, in: Dietmar Willoweit ( Hg. ), Die Begründung des Rechts als historisches Problem, München 2000, S. 137–152; Bernd Kannowski, Rechtsbegriffe im Mittelalter. Stand der Diskussion, in: Cordes – Kannowski ( wie. Anm. 9 ) S. 1–28. Aaron J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1982; Ders., Mittelalterliche Volkskultur, München 1987; Dilcher ( wie Anm. 8 ). So zuerst Kroeschell ( wie Anm. 5 ) S. 212, 214, 225, 249; das Konzept wird ausgeführt, in: Dilcher ( wie. Anm. 8 ).
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Worte, weil er in letzter Zeit Quelle von Missverständnissen geworden ist, etwa derart, es seien nun Rechtsgewohnheiten und nichtrechtliche Gewohnheiten zu unterscheiden. Es handelt sich jedoch um einen Kunstbegriff, der die fraglichen Phänomene der oralen mittelalterlichen Rechtskultur vor allem vor den mit dem Begriff Gewohnheitsrecht verbundenen Assoziationen abschirmen soll, welcher eine Rechtsquelle bezeichnet, die eine vorhandene schriftliche Rechtsordnung voraussetzt und ergänzt, also ein Komplementär zu dem modernen Normenbegriff darstellt. Im früh- und hochmittelalterlichen Recht der nichtgelehrten Volkstradition ist aber gerade das Gegenteil der Fall: die Gewohnheit, in den Quellen meist einfach consuetudo, stellte die umfassende Quelle des Rechts dar und steuerte weitgehend sogar die Anwendung schriftlich aufgezeichneten Rechts, das gleichsam in die orale Tradition eingebettet erscheint. Sie hat also eine primäre Funktion, wie es eindrücklich Gratian um 1140 in einer Umkehrung antiker Rechtsquellenlehre darlegt 13: Ihm ist nicht wie Isidor ius, sondern consuetudo das generale nomen. Dieses Verhältnis will also die wissenschaftliche Verwendung des Wortes gegenwärtig halten. Sie will aber keineswegs Rechtsgewohnheiten von anderen Gewohnheiten im voraus sortieren; dies tun auch die mittelalterlichen Quellen mit der Verwendung von consuetudo, usus, mos nicht, übrigens auch nicht das heutige französische oder das englische <custom> oder das italienische in den entsprechenden rechthistorischen Verwendungen: Sie bezeichnen ohne Zusätze die rechtlich relevante Gewohnheit. Es gibt also keine von vornherein bestehende Abgrenzung der Rechtsgewohnheiten von anderen Gewohnheiten. Jede Gewohnheit steht zur rechtlichen Verwendung bereit und wird durch diese und erst dann konkret zur . Gerade dieser Vorgang der Feststellung von Gewohnheit und ihre Verwendung als Recht ist wiederum nur aus dem mittelalterlichen dinggenossenschaftlichen Gericht 14 – also nicht von den gelehrten Gerichten her – zu begreifen. Diese Offenheit des Rechts, gerade auch zu religiösen Normen, hat schon Anfang der Sechzigerjahre der Rechthistoriker Hermann Krause maßgebend entwickelt 15. In moderner Soziologensprache handelt es sich um eine noch nicht vollzogene volle Ausdifferenzierung des Systems aus dem Verbund mit anderen normativen Systemen, wie Brauch, Sitte, Moral, Religion – auch wenn mit dem Gericht dem Recht ein eigenes Forum zur Verfügung steht. Damit wären wir wieder zu der Frage des mittelalterlichen Rechtsbegriffs zurückgeführt. Wie in den zwei genannten Zusammenfassungen der inzwischen sehr komplexen und dadurch unübersichtlichen Diskussion dargelegt, gibt es hier in der neuesten Diskussion im wesentlichen drei unterschiedliche, sich gegebenenfalls aber auch ergän13
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Gratian, Decretum, Distinctio prima, Tit. De iure naturae et constitutiones; vgl. dazu Dilcher ( wie Anm. 8 ) S. 56; Ders., Die Zwangsgewalt und der Rechtsbegriff, in: Cordes – Kannowski ( wie Anm. 9 ) bes. S. 140 ff. Grundlegend Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschem Mittelalter, 2 Bde., Köln – Wien 1985, sowie in zahlreichen weiteren Aufsätzen; zusammenfassend Ders., Die Bedeutung der Dinggenossenschaft für die Herrschaftsordnung, in: Gerhard Dilcher – Eva-Marie Distler ( Hg. ), Leges – Gentes – Regna, Berlin 2006, S. 351–366. Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 75, 1958, S. 206–251; Ders., Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher, in: in: ebd. 82, 1965, S. 1–98.
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zende Ansätze. 1. Kroeschell und Köbler versuchen eine Klärung durch eine intensive Analyse der Wortverwendung der entsprechenden lateinischen und volkssprachlichen Begrifflichkeiten 16. 2. Weitzel geht vom Gericht in seiner mittelalterlichen dinggenossenschaftlichen Form aus und sieht in den gerichtlich angewandten Regeln einen unbezweifelbaren Grundbestand von Recht 17. 3. Ich selber versuche einen ethnologischsoziologischen Ansatz, indem ich von dem Bedürfnis jeder Form von Vergesellschaftung nach Stabilisierung im Spannungsfeld zwischen Ordnung und Konflikt ausgehe und Recht als den normativen Bereich mit der größten Durchsetzungsstärke ansehe 18. 3. ZUR ROLLE VON RITUALEN IM MITTELALTERLICHEN PROZESS
Ich möchte nun von diesem Ansatz ausgehend das Verhältnis von Recht und Ritual in der oralen Kultur des Frühmittelalters näher zu bestimmen versuchen. Der soziologische Ansatz bedeutet, dass die den beiden Begriffsfeldern zugeordneten Phänomene nicht unmittelbar gegeneinander gesetzt, sondern von einer zweiten Ebene aus auf ihre sozialen Funktionen hin beobachtet werden sollen. Beide Bereiche haben dabei normative Grundlagen, wie es ja auch Althoffs Bezeichnung „Spielregeln der Politik“ für die Rituale der Adelsgesellschaft ausdrückt 19. Ein Unterschied zwischen Ritual und Recht könnte darin liegen, auf welche Weise und mit welchem Durchsetzungspotential für die Gesellschaft dadurch die Stabilisierung von Erwartung und „Erwartungserwartung“ ( Niklas Luhmann ) geleistet wird, ohne die keine Form von Vergesellschaftung möglich ist. Versuchen wir zunächst einmal, die rituellen Konfliktbeilegungen der hochmittelalterlichen Adelsgesellschaft zurückzustellen und uns außerhalb dieses Bereiches die Berührungspunkte von Ritual und Recht anzusehen. Zweckmäßigerweise beginnen wir hier im Bereich des gerichtlichen Verfahrens, weil, wie wir sahen, dieses zunächst als das engste und wichtigste Forum für anerkannt ist 20. Konstituierung des Gerichts als geschieht in strengen Formen, denen man wohl zum Teil rituellen Charakter zubilligen könnte. Das Ding wird, mit wohl ursprünglich heidnischen Weihebändern und damit magisch, und damit als Raum besonderen, mit Wirkung ausgestatteten Handelns bezeichnet. Die erste Dingfrage lautet, ob es zur rechten Zeit, am rechten Ort und in rechter Weise stattfinde: Sicher im Sinne unserer Definition ein Ritual. Das Verfahren wird sodann gesteuert durch die Erhebung einer Klage: „wo kein Kläger da kein Richter“. Es wird bestimmt durch den Klagevorwurf; auf ihn beziehen sich wohl die in lateinische normative Texte eingefügten volkssprachlich-germanischen Rechtsworte. Nunmehr hat das Gericht das Verfahren voranzutreiben, indem der Richter die Rechtsfrage an die Gerichtsgemeinde oder die Schöffen stellt, 16 17 18 19
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Gerhard Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter, Köln 1971. Weitzel ( wie Anm. 14 ). Dilcher ( wie Anm. 8 ); zuletzt Dilcher ( wie Anm. 13 ). Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, sowie in weiteren Arbeiten. Zum Folgenden nach wie vor grundlegend Julius Wilhelm von Planck, Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter: Nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen, 2 Bde., 1 ( ND der Ausg. Braunschweig 1879 ) Hildesheim u. a. 1973; Jürgen Weitzel, Art. , in: LMA 4, 1989, Sp. 1333–1335.
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einen Urteilsvorschlag erbittet und formell verkündet. Zur Zeit der Leges und auch später ist dieses Urteil in der Regel : iuret aut componat, der Beklagte soll sich frei schwören oder die für den jeweiligen Rechtsbruch für Recht erkannte Summe zahlen. Das Freischwören im Prozessverfahren der germanischen Völker geschah bekanntlich durch den Beklagten selbst und eine Zahl von Eidhelfern, die sich nach der Schwere des Vergehens richtete. Dieser Reinigungseid musste gelingen, indem die Partei mit den Eidhelfern ohne Zögern, mit den richtigen Worten und Gebärden, den Eid schwor. Wie wir aus manchen, auch normativen Quellen ersehen können, lag hierin angesichts des Druckes der anwesenden Öffentlichkeit durchaus ein Filter für ein richtiges Ergebnis. Ich möchte den Eid in seiner gerichtlichen Form und mit den religiösen Begleitungen, etwa Darreichung der Reliquien oder der Bibel zum Schwur, durchaus als Ritual ansehen, das hier also als Entscheidungsmittel in den Prozess eingebaut wird. Gerade dieser als feierlicher Ablauf vollzogene Akt war es, der die Bedeutung für diesseitiges und jenseitiges Heil deutlich machte und manchen von der Ableistung eines falschen Eides abgehalten haben mag. Hinzu kommt außerdem, dass der Akt vor der Öffentlichkeit der Dingversammlung stattfand, in der Nachbarn und Verwandte oft wussten, was wirklich geschehen war. Wer als Partei oder als Eidhelfer falsch schwor, musste damit nicht nur vor Gott, sondern auch vor den Menschen weiterhin leben. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Quellen bezeugen, dass das Aufbringen von Eidhelfern fehlschlagen konnte. Auch für unsere aufgeklärt-säkulare, funktionale Analyse verstärkt der rituelle und öffentliche Charakter des Verfahrens deshalb die Richtigkeitsgarantie der Entscheidung. Gerade durch die Einbeziehung des Rituals bleibt der gerichtliche Prozess auf das Ergebnis hin offen, das Ritual aber kann nur gelingen oder fehlschlagen. Wegen der auch dem Mittelalter trotzdem deutlichen Gefahr, auf diesem Wege zu falschen und ungerechten Entscheidungen zu kommen, griff man zu weiteren formellen Mitteln des Prozessentscheids, die man nur unzureichend häufig als Beweismittel kennzeichnet: den verschiedenen Mitteln des Gottesurteils oder Ordals. Eines davon, und wahrscheinlich das ursprünglichste ist der gerichtliche Zweikampf, ein in den formellen Rahmen des Gerichtsverfahrens eingespannter, verkürzter und entschärfter Austrag der Fehde. Auch dies stellt sich durch die Form der Ausrichtung und die religiöse Begleitung als rituelle Veranstaltung dar. Welche Kräfte man hier seit alters am Werke glaubte, zeigt sich im Verbot, dem Kämpfer Zaubermittel beizugeben. Der rituelle Charakter dieser Formen der Prozessentscheidung zeigt sich auch darin, dass diese von Seiten der Kirche sozusagen wurden, indem ( nach einer langen Vorgeschichte ) auf dem IV. Laterankonzil von 1215 die Mitwirkung der Kleriker dabei untersagt wurde 21. Deren religiöse Unterstützung der Handlungen war aber unentbehrlich, weil nur so das Einwirken Gottes und damit die des Ausgangs garantiert werden konnten. Der in unserer Definition des Rituals angesprochene
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Kanon 18 des IV. Laterankonzils von 1215, dann aufgenommen in den × 3, 10, 50, 9. Vgl. dazu jetzt Matthias Schmoeckel, Humanität und Staatsraison: die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozess- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln u. a. 2000; sowie Ders., Ein sonderbares Wunderwerk Gottes: Bemerkungen zum langsamen Rückgang der Ordale nach 1215, in: Ius Commune 26, 1999, S. 123–164; Johannes Fried, Wille, Freiwilligkeit und Geständnis um 1300, in: Historisches Jahrbuch 105, 1985, S. 378–425.
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<Sinnüberschuss> der entsprechenden Handlungen, auf dem die dadurch bewirkte Entscheidung über Recht und Unrecht der Klage beruhte, wird den Gottesurteilen und insbesondere dem gerichtlichen Zweikampf dadurch entzogen. Ohne kirchlich-liturgisches Ritual waren das Eingreifen Gottes und damit die Richtigkeit der Entscheidung nicht garantiert. An die Stelle der so genannten „irrationalen“Beweismittel 22, die aber eigentlich rituelle Mittel der Streitentscheidung und Kraft ihrer gesellschaftlichen Anerkennung gar nicht so irrational sind, können nunmehr in einem sehr gestreckten historischen Prozess Mittel des Tatsachenbeweises wie Tatzeugen, Geschäftszeugen, Urkunden, Geständnis und damit auch das Mittel der Folter treten 23. Wir haben damit Rituale kennen gelernt, die in den gerichtlichen Prozess eingefügt und für längere Zeit angesichts der Struktur von Gericht und Prozess für eine Streitentscheidung unentbehrlich sind. Sie spielen neben ungeschriebenen oder verschriftlichten normativen Vorstellungen, die etwa den für den Klagevorwurf maßgebenden Rechtsbruch betreffen, wie den Regeln über den Ablauf des Verfahrens eine wichtige Rolle. Rechtlich-gerichtliche Entscheidung war also in dieser Phase ohne die Einbeziehung ritueller Handlungen nicht möglich, sofern durch Klage und Bestreiten durch den Beklagten zwei widerstreitende Rechtsbehauptungen vor Gericht standen. Erst ein langer, in vielen Schritten vollzogener Weg der Rechtsgeschichte ermöglichte eine Auflösung dieser Blockadesituation und eine Entlastung der Rituale in ihrer Funktion als Entscheidungsmittel: die Heranziehung von Tat- und Geschäftszeugen anstelle von Eidhelfern, die Verbreitung des Urkundenbeweises, die Wahrheitsermittlung durch das Gericht im Inquisitionsprozess, also auch ein gefestigtes Verfahrens-, Beweis- und materielles Recht, wie es sich vor allem mit Hilfe des auf schriftliche Normen gestützten gelehrten Rechts entwickelt hat 24. Erst dadurch wird der Richter von einem mit Banngewalt ausgestatteten Leiter des dinggenossenschaftlichen Verfahrens zum selbsturteilenden Richter im Auftrag der staatlichen Rechtsgewalt über Untertanen oder Bürger. Die Rituale und Symbole der modernen Gerichtsbarkeit drücken nun gerade dies aus: Gerichtssaal und Sitzordnung der Prozessbeteiligten, Einzug der Richter, Kopfbedeckung und Robe, Ablauf des Verfahrens 25. 4. WIRKSAMKEIT VON RECHTSHANDLUNGEN UND RITUAL
Wir haben zu Anfang versucht, die Rolle des Rechts im Spannungsfeld von Ordnung und Konflikte zu definieren. Der gerichtliche Prozess greift im Falle des Konfliktes ein. Eine gesellschaftliche Ordnung, hier verstanden als normative Regeln der Verhaltensstabilisierung, zeigt sich heute wie einstmals nicht nur im Konfliktfall, sondern auch im normalen Lebensvollzug. Das gilt nicht nur für die Regeln von Religion, Sitte und Moral, sondern bezieht sich auch auf Recht, dessen Regeln im Konfliktfall
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Karin Nehlsen-von Stryk, Die Krise des „irrationalen“Beweises im Hoch- und Spätmittelalter und ihre gesellschaftlichen Implikationen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 117, 2000, S. 1–38. Schmoeckel ( wie Anm. 21 ). Dazu zuletzt Susanne Lepsius, Von Zweifeln zur Überzeugung. Der Zeugenbeweis im gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato, Frankfurt am Main 2003. Dazu Reiner Schulze ( Hg. ), Rechtssymbolik und Wertevermittlung, Berlin 2004.
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auf besondere Formen der Durchsetzung rechnen können 26. Wir wollen also als weiteren Schritt unserer Beobachtungen darauf schauen, inwieweit Recht auch außerhalb des Prozesses mit rituellen Handlungen verbunden ist. Leider stellt uns die rechtshistorische Wissenschaft keine gut greifbare Übersicht zu diesem Thema zur Verfügung. Die letzte und vielleicht einzige findet sich in Jacob Grimms Rechtsaltertümern, und zwar als Einleitung unter dem Titel „Formen“ 27. Wohl in Anknüpfung daran und in Weiterführung dessen hat der Rechtshistoriker Wilhelm Ebel in einer Studie „Recht und Form“ markant und seither viel zitiert die „Form als die älteste Norm“ bezeichnet 28 – eine schlaglichtartige Beleuchtung, auf die wir zurückkommen müssen. Ansonsten gibt es Studien zu einzelnen Rechtssymbolen 29 wie Stab, Lanze oder Handschuh, weniger zu ganzen Ritualen. Im übrigen wurde der ganze Bereich in die Fachgebiete Rechtsaltertümer und rechtliche Volkskunde abgegeben, wo er eher eine Randexistenz führt. Doch findet sich im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte immerhin ein Stichwort , während sich das Lexikon des Mittelalters mit als kirchlichem Buchtyp und begnügt 30 – hier zeigt sich deutlich die große Erweiterung des Bildes durch den Blick auf die „Spielregeln der Politik“ im Sinne Althoffs gerade für die Mediävistik. Gehen wir noch einmal von Jacob Grimm und seinen Rechtsaltertümern aus. Am Ende seines Abschnitts über Symbole versucht er eine Generalisierung. Es gäbe nämlich drei Hauptarten 31, solche, die Übertragung von Grund und Boden, solche, die persönliche Verhältnisse ( Freiheit, Ehe, Kindschaft ) und solche, die Eid, Gelübde oder Bündnis betreffen. In meiner Studie über das langobardische gairethinx konnte ich feststellen, dass eben dieses Ritual für genau diese drei Bereiche angewandt wurde 32. Auch darauf komme ich zurück. Zunächst aber versuchen wir eine kurze Übersicht anhand der Grimmschen Einteilung 33. Schon der originäre Landerwerb wird oft durch rituelle Handlungen begründet, in seinem Umfang aber auch begrenzt: durch Umschreiten, Umreiten oder Umpflügen – wobei sich Berichte darüber sowohl in Rechtsurkunden wie in eher legendären Erzählungen finden. Auch Herrschaftsrituale wie der Lanzenwurf können hierfür eintreten, wobei offenbar kein wesentlicher Unterschied zwischen Königsherrschaft und bäuerlichem Landeigen gesehen wird. Bekannt ist die Verwendung von Erde, meistens eines Stückes ausgestochenen Rasens, bei der Grundstücksübertragung. Da wir uns die Verwendung des Symbols stets in einer öffentlichen Rechtshandlung vorzustellen haben, sind wir berechtigt, auch hier von Ritualen zu sprechen. Dem fränkischen Recht zugeordnet, aber weit darüber hinaus verbreitet ist die Übertragung 26 27
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Dazu im Anschluss an Max Weber zu den Formen der Zwangsgewalt, Dilcher ( wie Anm. 13 ). Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, Göttingen 21854 und öfter, Einleitung, S. 1–225, vor allem Cap. IV, Symbole, S. 109–207. Wilhelm Ebel, Recht und Form, Tübingen 1975. Adalbert Erler, Art. , in: HRG 4, 1990, Sp. 381–384, mit reicher Lit. Hans-Jürgen Becker, Art. , in: HRG 4, 1990, Sp. 337–339; dagegen in: LMA 7, 1995, Sp. 879, lediglich Art. und . Grimm ( wie Anm. 27 ) S. 200 f. Gerhard Dilcher, „per gairethinx secundum ritus gentis nostrae confirmantes“ – Zu Recht und Ritual im Langobardenrecht, in: Dilcher – Distler ( wie Anm. 14 ) S. 419–458. Grimm ( wie Anm. 27 ) S. 200.
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mit Erdscholle und Zweig oder Halm, der zuweilen der Ritus anderer Volksrechte gegenübergestellt wird, etwa der sächsische mit gekrümmtem Finger, digito curvato 34. Bei Jacob Grimm lässt sich auch nachlesen, wie Erde, Zweig und Halm auch in anderen Zusammenhängen, einzeln oder miteinander, für Rechtshandlungen verwandt werden. Ich erwähne hier nur den berühmten Titel De chrenecruda der 35, nach welchem der ‚insolvente Wergeldschuldner‘ durch eine komplizierte Abfolge von Ritualen, darunter rituelles Werfen von Erde seines Hauses über die Schulter, sich löst und die Schuld auf die überträgt, die es angeht, also die erbberechtigten Sippengenossen. Dabei zeigt sich, wie sehr die gewillkürte, das heißt, die nicht im Erbgang vollzogene Grundstücksübertragung sich mit dem Personenrecht berührt. Das erweist sich etwa auch in einer ebenfalls berühmten Vorschrift des salischen Gesetzes 36, die überdies durch eine der Marculfschen Formeln gestützt wird: hier wird in einer vom Thunginus oder Centenarius angesagten Gerichtsversammlungen ( mallum ) das Gut mit einem zugeworfenen Stab oder Halm ( festuca ) übertragen, wonach in dem Gutshaus eine Bewirtung von drei Zeugen stattzufinden hat und das Ganze dann noch einmal vor dem König oder dem Gericht kundgemacht werden muss 37. Die Stelle zeigt aufs schönste, wie sehr das, was wir eine rechtsgeschäftliche Übertragung nennen, als ungewöhnlich empfunden wird und vielfacher Absicherung bedarf. Dabei werden Symbole, rituelle Handlungsabläufe, das Gericht als Rechtsort, die dadurch bewirkte Öffentlichkeit und die weitere Kundbarmachung durch herangezogene Zeugen miteinander verbunden. Der Zweck ist deutlich: ein Rechtsakt soll über allen Zweifel verbindlich gemacht werden, er soll für die Zukunft in dem betreffenden Rechtskreis beweisbar sein und mögliche Einsprüche sollen jetzt erhoben und für die Zukunft ausgeschlossen werden – wie das heute etwa das Aufgebot bei der Eheschließung bezweckt. Ein Teil dieser Zwecke wird im Mittelalter zunehmend durch die aus der römischen Rechtskultur hinübergerettete schriftliche Urkunde erfüllt. Typisch aber ist, dass Beurkundung, Rechtssymbolik und Rituale über Jahrhunderte nebeneinander hergehen und koexistieren 38. So kommt es, dass Symbole und Rechtshandlungen, wie sie für die fränkische Zeit bezeugt sind, sich durch das ganze Mittelalter und bis hin in die Neuzeit erhalten. Wir sprechen also von Phänomenen der . Ich will mir nunmehr ersparen, zum dritten Bereich Grimms Eid, Gelübde, Bündnis weitere Belege zu liefern 39. Hinzuweisen ist aber darauf, wie sehr die Konzeption personaler Herrschaft des Mittelalters durch Symbole und Rituale nicht nur bekräftigt, sondern jeweils neu errichtet wird. Wie sehr die Wahl und Erhebung des
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Mit Halm, festuca: Grimm ( wie Anm. 26 ) S. 121; digito curvato: ders, S. 141, beides in einem Rechtsakt mit Franken und Sachsen, S. 128. Lex Salica, Tit. 58, in der , Tit. 100. Es handelt sich um die vieldiskutierte Affatomie, Lex Salica Tit. 46, Tit. 81. Zuletzt dazu Adrian Schmidt-Recla, Mancipatio familiae und Affatomie, in: Dilcher – Distler ( wie Anm. 14 ) S. 461–486. Grimm ( wie Anm. 27 ) S. 121 f. In der Additio tertia zu den ( MGH LL 4, hg. von Friedrich Bluhme – Alfred Boretius, Hannover 1868, S. 595 ) wird als unter 2. Traditio venditionis dem Schreiber die Beurkundung der Übertragungsrituale der Grundstücke je nach Stammesrecht aufgegeben. Grimm ( wie Anm. 27 ), S. 140 ff.; dazu auch Paolo Prodi, Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents, Berlin 1997.
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Königs und Kaisers eine Abfolge weltlicher und kirchlicher Rituale und Symbolhandlungen darstellt, braucht nur kurz erwähnt zu werden. Das gesamte Lehnrecht, innerhalb der oralen Rechtskultur und der ihr zugeordneten Reichsversammlungen, Hoftage und Lehnskurien entwickelt und immer nur am Rande von der Schriftkultur begleitet, besteht aus der öffentlichen Darstellung der entsprechenden Rechtshandlungen, die damit Verbindlichkeit erlangen. Dabei ist es möglich, in einer historischen Fortentwicklung und Ausdifferenzierung die zu unterscheidenden Rechtsbeziehungen der persönlichen Gefolgschaft und Treue, der Beleihung mit Land wie auch der Übertragung des gerichtlichen Bannes darzustellen und überdies nach dem Investiturstreit den Unterschied geistlicher und weltlicher Lehensfürsten deutlich zu machen. Knien, Handgang, Umarmung und Kuss, Treuversprechen und Eid, Überreichung von Stab, Lanze und Fahne oder Zepter sind nur Teile eines umfassenden Handlungsablaufs, den wir leider meistens nicht geschildert bekommen 40. All dies geschieht in der Öffentlichkeit rechtsförmlicher Versammlung. Beim Gelnhäuser Prozess gegen Heinrich den Löwen von 1180 haben wir den Fall, dass gerichtliche Aberkennung der Lehen, bekanntlich in einem doppelten land- und lehnrechtlichen Prozess, Neuorganisation der Fürstenlehen und deren lehnrechtliche Ausgabe an die neuen Inhaber in einer Urkunde geschildert werden 41. Eine Urkunde als Teil der schon am römischen Recht geschulten Schriftkultur hält vor allem die rechtlichen Voraussetzungen und Wirkungen fest; dass dabei im Rahmen einer großen und festlichen, von förmlichen Abläufen bestimmten Versammlung die entsprechenden symbolischen und rituellen Handlungen die Rechtsakte und jene für das Bewusstsein des beteiligten Hochadels und der anwesenden Ritter die maßgeblichen waren, wird uns in der Urkunde allenfalls andeutungsweise berichtet. Um so wichtiger ist es, dass wir sie aus unserer Kenntnis anderer Forschungen ergänzen. Dass hierbei die Ritualforschung nunmehr einen wichtigen Platz einnehmen wird, stellt einen wichtigen Gewinn der Mediävistik, auch der rechtshistorischen, dar. 5. DAS BEISPIEL DES LANGOBARDISCHEN GAIRETHINX
Ich möchte hier noch die Ergebnisse einer eigenen Studie zu einem außergewöhnlich reich dokumentierten Ritual, dem langobardischen gairethinx, einbringen 42. Gairethinx ist, wie schon der Name selbst sagt, ein Speerritual in dingförmlicher Versammlung. Es taucht an prominentester Stelle auf bei der Verabschiedung der ersten großen langobardischen Rechtsaufzeichnung, dem Edikt König Rotharis vom Jahre 643. Dieses wird in einer großen Heeresversammlung in der Hauptstadt Pavia befestigt und bekräftigt gemäß dem ritus des langobardischen Volkes, secundum ritus gentis nostrae, damit es bis in die Zukunft um so fester und unverletzlicher geachtet werde. Aber auch innerhalb der Gesetzgebung taucht gairethinx weiterhin an zahlreichen Stellen bei zwei Themenkomplexen auf: bei einer Form der Güterverfügung, die man in etwa als Schenkung auf den Todesfall bezeichnen kann, weswegen gairethinx auch mit donatio 40
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Reiche Darstellungen der lehnrechtlichen Symbole und Handlungen finden sich dagegen in den entsprechenden Teilen der Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, Landrecht wie Lehnrecht. Kroeschell ( wie Anm. 5 ) Nr. 42, S. 167 f. Dilcher ( wie Anm. 32 ).
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gleichgesetzt wird. Doch wird überdies noch eine alliterierende langobardische Wortformel ( lid in laib ), die der Verfügende im Thing zu sprechen hat, erwähnt. Der andere Fall des gairethinx betrifft die Freilassung, deren höchste Stufe den Erwerb der langobardischen ‚Volksfreiheit‘ ( fulcfree ) bedeutet. Hier wird an einer zentralen Stelle ein außerordentlich kompliziertes Ritual mit Führen an ein Wegkreuz und der Verwendung von Wortformeln und dreimaliger Übergabe des Freizulassenden per gairethinx entwickelt. Der ganze rituelle Vorgang kann aber auch verkürzt bloß mit der Rechtswirkung liberum aut liberam thingare bezeichnet werden. Wir haben also im speziellen Fall des gairethinx genau jene drei Anwendungsfälle, die den Beobachtungen von Jacob Grimm entsprechen: Übertragung von Grund und Boden, Veränderung des persönlichen Status und Gelübde oder Bündnis, als das wir die Bekräftigung der aufgezeichneten Rechtstradition und Gesetzgebung durch die langobardische Volksversammlung durchaus benennen können. Indem hier die Beobachtungen aus drei Anwendungsbereichen zusammengefügt werden, macht das Ritual des gairethinx seinen Charakter deutlicher. Es entspricht nicht einem bestimmten Rechtsinstitut, auch wenn dies die definitionsartige Identifizierung mit der Schenkung/donatio an einigen Stellen suggerieren könnte. Vielmehr bewirkt der Ritus gairethinx die Rechtskraft und Rechtswirksamkeit unterschiedlicher Rechtsakte von statusverändernder Bedeutung: Vergabe des Erbgutes außerhalb der Geblütsfolge, Erhebung eines Sklaven zur Volksfreiheit, schließlich die Erhebung der bisher oralen langobardischen Rechtstradition zu einem schriftlich festgelegten Edikt, einschließlich der eingefügten königlichen Rechtsänderungen. Die Einbeziehung einer bildlichen Darstellung der Helmplatte des Königs Agilulf in die Argumentation ergab schließlich 43, dass wohl auch dessen Erhebung zum Königtum ( in regnum levatus est ) in der langobardischen Volksversammlung mit dem ritus des gairethinx vorgenommen wurde, nachdem er vorher durch Heirat mit der Königswitwe Theodelinda schon königliche Würde empfangen hatte ( regiam dignitatem suscepit ). Die Helmplatte zeigt im Zentrum den König in ritueller Haar- und Barttracht in richterlicher Herrscherfunktion thronend und zeremonielle Huldigungen entgegennehmend, während das genannte Ritual durch zwei bewaffnete Krieger mit demonstrativ gehaltenen Speeren dargestellt sein würde. Was ergibt sich daraus für das Verhältnis von Recht und Ritual? Normative Vorstellungen der langobardischen Rechtsgewohnheit zur Bedeutung von Schenkung, Freilassung und Rechtsakten der Volksversammlung liegen den geschilderten Tatbeständen der Anwendung des gairethinx zugrunde. Diese normativen Vorstellungen gewinnen ihre konkrete Rechtswirkung aber erst durch das Ritual. Dieses hat offenbar zumindest zwei Funktionen: Festlegung, welcher Rechtsakt gemeint ist, was sich in weiteren begleitenden Ritualen ausdrückt und sich im Schrifttext in den lateinischen Entsprechungen donatio oder manumissio zeigt, und die Offenkundigmachung der Statusänderung der Güter bzw. des Sklaven vor den Rechtsgenossen, die dies dann auch später bezeugen können. In beiden Funktionen ist das Ritual in die dinggenossenschaftliche Versammlung – deshalb gairethinx – eingebunden, allerdings nicht im Rahmen eines streitigen Prozesses. In dieser Beziehung entspricht es, wenn auch in gänz43
Gerhard Dilcher, Exkurs: Die Agilulf-Platte als Zeugnis des langobardischen Gairethinx, in: Dilcher – Distler ( wie Anm. 29 ) S. 449–458.
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lich anderem Kontext, dem, was wir heute freiwillige Gerichtsbarkeit nennen. Eine Folge dieser engen Verbindung zur dingförmlichen Versammlung ist es auch, wenn der Ritus des gairethinx immer mehr in Abgang kommt mit der Veränderung der Gerichtsverfassung im langobardischen Italien hin zu einem vom Richter dominierten Verfahren: bei der Freilassung setzt sich immer mehr der kirchliche ritus der Altarumschreitung oder die Ausstellung einer Urkunde, bei der donatio-Schenkung der langobardische Ritus des launegild als einer symbolischen Gegengabe zur Befestigung des Rechtsaktes anstelle des gairethinx durch 44. Aber noch die langobardischen Rechtsaufzeichnungen des 11. Jahrhunderts halten an symbolischen und rituellen Rechtshandlungen der Stammesrechte, und zwar nach den verschiedenen Stammestraditionen unterschieden, fest 45. Die durch die Quellen ermöglichte breitere Analyse des Gairethinx ergab also, dass dieses Speerritual die verschiedensten Rechtsakte begleiten und wie die Quellen sagen, bekräftigen und befestigen kann. Es ist, wie schon der Name sagt, an das Thing als Versammlung bewaffneter Männer gebunden. Während die Bekräftigung der Königswahl und der Gesetzgebung in der alljährlichen Volksversammlung geschieht, muss man sich Freilassung und Güterverfügung per gairethinx wohl in örtlichen Versammlungen vorstellen. Folgerichtig kommt das Gairethinx mit dem Abklingen der langobardischen Versammlungskultur innerhalb der romanischen Umwelt ebenfalls früher als andere Rituale in Abgang. Doch kommen die fraglichen Rechtshandlungen, ganz anders als ihre römischrechtlichen Entsprechungen, erst mit dem begleitenden Vollzug des Rituals zu sich selbst: Ein abstrakt gedachtes normatives Rechtsinstitut, etwa der Schenkung oder der Freilassung wie römisch donatio oder manumissio, genügt für das Rechtsdenken im Medium der Oralität nicht, und auch in der gemischt oralliteralen Rechtskultur des Hochmittelalters verzichtet man nicht auf die begleitenden Rituale. 6. UNTERWERFUNGSRITUALE UND RECHT
Welches sind nun die Unterschiede dieser Rituale zu den von Althoff beobachteten „Spielregeln der Politik“, also jenen vielfältigen und vorher verabredeten Ritualen der Unterwerfung, der deditio, mit denen der König und der Hochadel des Reiches, dann auch im Verhältnis zu den zur Selbstregierung aufgestiegenen Stadtkommunen, ihre Konflikte begleichen konnten, ohne die förmliche Strenge des Rechts ( rigor iuris ) in Anspruch zu nehmen? Wie wiederum Gerd Althoff deutlich gemacht hat, geschieht die Vorbereitung und Absprache des Handlungsablaufs zunächst im vertrauten Kreis oder durch Mediatoren, die das Vertrauen beider Seiten besitzen. Die Inszenierung eines Unterwerfungsrituals und die Gewährung von Huld oder auch begrenzter Strafe aber geschieht in voller Öffentlichkeit, bei der Prozession zum Gottesdienst oder auf einem Hoftag. Die anwesende Öffentlichkeit ist aber dieselbe, die auch gegenwärtig ist, wenn der Hoftag sich in gerichtlicher Funktion versammelt. Er kann beurteilen und bezeugen, in welcher Form hier satisfactio geleistet worden ist. Wir können auch 44 45
Vgl. Dilcher ( wie Anm. 32 ). Eine Zusammenstellung der verschiedenen Rechtsrituale für den langobardischen Urkundenschreiber findet sich in: ( wie Anm. 38 ) S. 595.
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diese Vorgänge in der Dialektik von Ordnung und Konflikt verstehen, die wir aus der Rechtsethnologie und der oralen Rechtsgewohnheit kennen 46. Durch Nichtanerkennung der Herrschermacht des Königs, der Rechte und Privilegien eines der Großen oder einer Stadt ist die Ordnung zerbrochen und ein Konflikt entstanden. Göttliches und menschliches Recht verlangen nach Wiederherstellung der Ordnung. Aber wie soll dies geschehen, wenn gerade auf dieser höchsten Ebene ein Gerichtsentscheid schwer zu bewerkstelligen ist, gehört der Betroffene in der Regel doch selbst dem fraglichen Rechtskreis an und sind die Urteiler doch in jedem Fall seine Standesgenossen ( pares, pairs ), die sich damit für einen zukünftigen Fall selbst das Urteil sprechen müssten? Für den König selbst ist es darum vielleicht oft nicht ratsam, ein Rechtsverfahren gegen einen fürstlichen Rebellen anzustrengen: Die vielfältigen Verhandlungen Barbarossas zur Vorbereitung der Verurteilung Heinrichs des Löwen vor dem Reichstag von Gelnhausen 1180 geben davon Zeugnis, und die englischen Barone versichern sich nach ihrer Rebellion 1215 in der Magna Charta des Schutzes durch ein Pairs-Gericht. Die Alternative in einer Rechtswelt, in der Selbsthilfe, Eigenmacht oder Selbstgewalt nicht illegitim neben dem Rechtsverfahren stehen, bestünde darin, eine Entscheidung durch Weiterführen von Krieg oder Fehde herbeizuführen. Auch hierbei geht es aber für das Denken der Zeit um die Rechtsfrage, die ähnlich auch im gerichtlichen Zweikampf oder Ordal dem Urteil Gottes anheim gegeben wird 47. Der Ausgang ist für alle Beteiligten besser abzuwägen und zu berechnen, wenn auf dem Wege der Verhandlung ein Ausgleich gesucht und dieser dann als rechtsverbindliche Wiederherstellung der Ordnung als Ritual vor der zuständigen Öffentlichkeit inszeniert wird. Den königsgleichen Dynasten fiel es wohl auch leichter, sich in einem Unterwerfungsritual, das durch christlich-kirchliches Denken und Tugendlehren geadelt war, wieder in die Herrschaftsordnung einzufügen, als sich dem Rechtsspruch anderer zu unterwerfen. Eine staatliche Souveränität als oberste Rechtsmacht war eben noch nicht vorhanden. Ursprünglich entschied jeder Freie souverän über den Ausnahmezustand der Fehde, was erst langsam in den Jahrhunderten des Hochmittelalters durch Stärkung der Gerichtsbarkeit, Landfriede und Stadtfriede für die Mehrzahl der Bevölkerung zurückgedrängt wurde. Der fürstliche Hochadel aber wehrte sich, weitgehend erfolgreich, gegen einen Verlust seiner souveränen Rechtsmacht bis in die Neuzeit und Moderne. Nicht aber und auf keinen Fall wollte man die Ordnung von Herrschaft und Recht, die einem selber ja Ehre, Rang und Recht garantierte, zerstören. Der Begriff des honor fasst dies zusammen. Zu dieser Ordnung aber gehörten Königtum und der König, solange er nicht als offenbarer Tyrann als Person sich selbst von ihr trennte. Die Kämpfe Kaiser Friedrich Barbarossas um die Durchsetzung seiner Auffassung vom honor imperii zeigen das Spannungsfeld von Ethos der Adelsgesellschaft und überpersönlichem Herrscheramt 48. Ich sehe deshalb die rituellen Spielregeln der Politik, denen Althoff selbst gesetzesgleiche normative Wirkung zuschreibt, vor dem Hintergrund der Rechtsvorstel46
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Dilcher ( wie Anm. 8 ) mit Bezug auf Simon Roberts, Ordnung und Konflikt. Eine Einführung in die Rechtsethnologie, Stuttgart 1981 ( Engl.: Order and Dispute. An Introduction to Legal Anthropology, New York 1979 ). Kurt-Georg Cramm, Judicium belli. Zum Rechtscharakter des Krieges im deutschen Mittelalter, Münster – Köln 1955. Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001.
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lungen der Zeit. Sie stellten eine Alternative dar zum Rechtsverfahren, um einen grundlegenden Konflikt auszuräumen und die Ordnung wiederherzustellen. Jedoch das Verfahren ist ein anderes, und die Mittel ritueller Herstellung von Ordnung sind andere als die des gerichtlichen Verfahrens. Das Ziel von satisfactio und compositio und die in Bezug genommenen normativen Wertvorstellungen, in deren Zentrum der Begriff des honor steht, sind jedoch die gleichen. Ich möchte hier noch auf ein exemplarisches Zusammentreffen der beiden verschiedenen Vorstellungswelten hinweisen, auf das Theo Broekmann in seinem Buch über „Rigor iustitiae“ verwiesen hat. Wegen dessen ausführlicher Analyse 49 kann ich mich hier darauf beschränken, die für unseren Zusammenhang wichtigsten Elemente hervorzuheben. König Heinrich VII. versuchte im Juli 1235 erst in Wimpfen und dann in Worms eine Beilegung des tiefgreifenden Zerwürfnisses, discordia, im Verhältnis zu seinem Vater, Kaiser Friedrich II., zu erlangen, nämlich dessen venia, indem er sich dessen gratia übergab. Als Vorleistung gleichsam vollzog der Sohn die Rituale voller Entäußerung und Demütigung. Er hoffte auf eine forma satisfactionis et compositionis, die ihm seinen honor als König beließ. Gerade dies aber scheint der Kaiser von Anfang an ihm zu verweigern entschlossen, wobei für ihn sowohl die Gesamtsituation wie auch die Rückfälligkeit des Sohnes nach der früheren Versöhnung von Cividale 1232 maßgeblich gewesen zu sein scheint. Zunächst verbannt Friedrich den erwählten Bischof von Worms, der zu dem Kreis der Aufrührer gehört hatte, aber nun mit anderen den Kaiser in vollem Ornat vor dem Dom erwartet, aus seinem Gesichtskreis, worauf dieser der Pontifikalien entkleidet wird. Als Heinrich dann, wie die Eberbacher Chronik berichtet, quasi reus lese maiestatis sich vor dem Kaiser zu Boden warf, ließ dieser ihn überaus lange in dieser Position, bis er ihm auf Fürsprache der Fürsten sich zu erheben erlaubte, dieser darüber verwirrt aufstand und sodann dem Kaiser die königlichen Insignien übergab und sich dessen Gnade unterwarf. Auf diese aber hatte er vergeblich gerechnet und dafür die Vorleistung ritueller Unterwerfung geleistet. Heinrichs Weg führte bekanntlich nicht zurück zur Königswürde, sondern in die jahrelange Gefangenschaft. Mir scheint in dem ganzen Vorgang ein ständiges Ineinanderspielen von rechtlichen und ritualen Gesichtpunkten als handlungsleitende Normen vorzuliegen. Beide, Vater und Sohn, wollten natürlich keinen Fürstenspruch, der über die zwischen ihnen problematischen Fragen von Eid und Treue, Herrscherrechte und Verrat geurteilt hätte. Durch die Bereitschaft des Sohnes, sich der kaiserlichen Gnade zu überantworten, wird Friedrich zum Herren des Verfahrens, zumal er kraft Amtes und als Vater die höhere Autorität besitzt – was beides auch Rechtspositionen darstellt. Dies hatte er schon in seinem Verhalten gegenüber dem Wormser Elekten ausgespielt – die Huldverweigerung und die Verbannung aus dem Umkreis gehört zu den ältesten Herrscherrechten ( ex sermonem regis ponere ). Heinrich hatte versäumt, sich durch ranghohe Mediatoren dessen zu versichern, dass die rituelle Unterwerfung zur Versöhnung führen würde, obwohl seine Lage durch den Wiederholungsfall sowohl nach den Normen der
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Theo Broekmann, . Herrschaft, Recht und Terror im normannisch-staufischen Süden ( 1050–1250 ), Darmstadt 2005, dort S. 272–368 zu den hier erwähnten Ereignissen und Zusammenhängen.
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Rituale – wie auch nach Recht – prekärer geworden war. Dennoch hatte der Chronist 50 offenbar das Gefühl, die Verweigerung der Gnade noch eigens begründen zu müssen und führt dabei das crimen lesae maiestatis ein. Sicher nicht ohne guten Grund, denn das Majestätsrecht ist sozusagen der Grundpfeiler eines öffentlich-obrigkeitlichen Strafrechts im Mittelalter 51. Es spielt in der Rezeption antiker, römischer Herrscherrechte durch Friedrich II. eine hervorragende Rolle 52. Mit der Berufung auf das Majestätsverbrechen war der Fall jedenfalls ganz von der Schiene des rituellen, letztlich auf konsensuale Lösung und relative Gleichrangigkeit gegründeten Verfahrens abgekoppelt und in den Rechtsbereich scharfer Normen ( rigor iuris ) und hoheitlichen Rechts gerückt. Der Kaiser dürfte nun die Strafe, vor allem nach der Unterwerfung unter seine Gnade, aus eigener Machtvollkommenheit aussprechen. Statt des Verlustes von Leben, Amt und Vermögen erschien die entehrende Gefangenschaft Heinrichs noch als Milderung – dennoch sah die Chronik der Erfurter Dominikaner diese harte Entscheidung zu einem versöhnlicheren Ende abzuwandeln sich genötigt 53. 7. RECHT UND RITUAL ALS FORMEN, VERFAHREN UND FUNKTION
Ich versuche, die Ergebnisse der einzelnen Überlegungen zusammenzuführen. Um das Verhältnis von Recht und Ritual zutreffend anzugehen, müssen wir vor allem die Ebenen bestimmen, auf denen sich beide jeweils bewegen und gegebenenfalls treffen. Zunächst geht es in einer archaischen Rechtskultur, aus der die germanischen Stämme und Völker vor ihrer Verbindung mit der mediterranen Hochkultur kommen und die sich noch über Jahrhunderte im Untergrund der Volkskultur hält, in unserem Zusammenhang vor allem um zwei Dinge: Um die Klärung der Bedeutung von Rechtshandlungen, ohne dass dafür ein begriffliches Denksystem zur Verfügung stünde, und um deren Verbindlichmachen, ohne dass die Zwangsgewalt eines Staates dafür zur Verfügung stünde. Für beide Funktionen werden Rituale verwendet, wobei ihre Identität durch traditionelle Formen festgelegt ist und ihr Vollzug vor einer Öffentlichkeit von Rechtsgenossen Verbindlichkeit bewirkt. An dieser Stelle könnte eine Diskussion über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den Ritualen der Streitbeilegung innerhalb der „Spielregeln der Politik“ansetzen. Das Element der Öffentlichkeit ist wohl in beiden Fällen gemeinsam; bezüglich der verwendeten Formen besteht vielleicht für die Rituale der Unterwerfung eine größere Freiheit. Doch auch ihr Sinn muss durch kulturelle Konventionen ( Niederwerfen, Kleidung, Barfüßigkeit ) oder durch ihren offenkundigen Sinn ( Schwert oder Schlinge am Hals ) festgelegt und deutlich sein. 50 51
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Broekmann ( wie Anm. 49 ) S. 345 oben. Dazu jetzt das umfangreiche Projekt Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas mit zahlreichen Bänden herausgegeben von Klaus Lüderssen – Klaus Schreiner – Rolf Sprandel, Dietmar Willoweit, beginnend mit Dietmar Willoweit, Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, Köln u. a. 1999. Christoph Ulrich Schminck, Crimen laesae maiestatis. Das politische Strafrecht Siziliens nach den Assisen von Ariano ( 1140 ) und den Konstitutionen von Melfi ( 1231 ), Aalen 1970. Allgemein dazu Mario Sbriccoli, Crimen lesae maiestatis. Il problema del reato politico alle soglie della scienza penalistica moderna ( Per la storia del pensiero giuridico moderno 2 ) Milano 1974. Broekmann ( wie Anm. 49 ) S. 336 f.
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Vor allem jedoch ist in dieser Zeit einer überwiegend oralen Kultur eine Art des Verfahrens, noch kaum ein durchgehendes Geflecht – oder gar ein System – von inhaltlichen Regeln 54. Als Verfahren ist es an ein streng formales Vorgehen, beginnend mit der Formierung der Beteiligten zu einem Gericht und der Erhebung einer bestimmten Klage, gebunden. Diese Formalien haben rituellen Charakter, und das Verfehlen der rituellen Formen führt dazu, dass die Klage verloren wird oder das Verfahren ungültig ist. Der formell-rituelle Charakter des archaischen Verfahrens spiegelt sich in der Bezeichnung vare ( = Prozessgefahr ). Diese wird zuerst in den Stadtrechten seit dem 12. Jahrhundert abgeschafft und dadurch dem Weg zu einem flexibleren, auf Ermittlung der materiellen Wahrheit gerichteten gerichtlichen Prozess Raum geschaffen 55. Neben dem Rechtsverfahren stehen aber andere Verfahren der Konfliktbewältigung, allen voran der unmittelbare Austrag des Konflikts durch bewaffnete Gewalt in Fehde oder Krieg 56. Eine stärker rechtlich ritualisierte Form stellt das Handhaftverfahren dar, in dem unter Aufgebot der Nachbarschaft und Herstellung von Öffentlichkeit der Täter unmittelbar gestellt wird und damit als überführt gilt. Ein anschließendes summarisches, also vereinfachtes Rechtsverfahren notifiziert dies gleichsam und man kann nun unmittelbar zur Vollstreckung übergehen 57. Eine weitere Form der Beilegung, die vielleicht auch am Beginn des Rechtsverfahrens stand, bietet das Schiedsverfahren, der Spruch eines von den Parteien gewählten, mit Autorität ausgestatteten und darum akzeptierten Entscheiders 58. Ein ebenfalls von obrigkeitlicher Gewalt abgekoppeltes Verfahren ist das durch Vermittler, mediatores 59. Sie haben eine Absprache vertragsähnlicher Art zwischen den Streitparteien vorzubereiten, deren Umsetzung dann wieder Aufgabe der Parteien ist. Hier ist darauf aufmerksam zu machen, dass ja auch der älteste Prozess mit einer vertragsähnlichen Einlassung der Parteien beginnt und mit einer Einigung über den Urteilsvollzug endet 60, also durch eine Art Verfahrensvereinbarung von dem gewaltsamen zum schiedlichen Austrag befördert wird. Schon ein erster Blick zeigt, dass auch unter den gänzlich veränderten Verhältnissen ausgebildeter staatlicher Rechtsordnungen der Moderne ähnliche Verfahrensarten nebeneinander bestehen, durch die die Unflexibilität formeller Gerichtverfahren vermieden werden kann. Sie finden sich vor allem im zwischenstaatlichen Bereich, wo ja 54
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Gerhard Dilcher, Bildung, Konstanz und Wandel von Normen und Verfahren im Bereich mittelalterlicher Rechtsgewohnheit, in: Doris Ruhe – Karl-Heinz Spieß ( Hg. ), Prozesse der Normbildung und Normveränderung im mittelalterlichen Europa, Stuttgart 2000, S. 187–201, mit Hinweisen auf die entsprechende neuere rechthistorische Literatur. Gerhard Dilcher, Zur Stellung und Rolle der mittelalterlichen deutschen Stadtrechte in einer europäischen Rechtsgeschichte, in: Ders., Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln u. a. 1996, S. 239–274. Beyerle ( wie Anm. 4 ); Otto Brunner ( wie Anm. 1 ). Dieter Wermüller, Art. , in: HRG 1, 1979, Sp. 1965–1973. Wolfgang Sellert, Art. <Schiedsgericht>, in: HRG 4, 1990, Sp. 1386–1393. Vgl. dazu jetzt Hermann Kamp, Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter, Darmstadt 2001, sowie die dort zitierten rechtshistorischen Arbeiten, vor allem Karl Siegfried Bader, Arbiter, arbitrator seu amicabilis compositor. Zur Verbreitung einer kanonistischen Formel in Gebieten nördlich der Alpen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 46, 1960, S. 239–276. Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 2, neubearbeitet von Claudius Freiherr von Schwerin, Berlin 1928, S. 486.
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bis heute eine die staatliche Souveränität übergreifende Gerichtsbarkeit und entsprechende Rechtsregeln nur in Ansätzen bestehen, weiterhin im Bereich großer Wirtschaftsunternehmen, die vor allem die Schiedsgerichtsbarkeit gegenüber staatlicher Gerichtsbarkeit bevorzugen, schließlich im Bereich familienrechtlicher Konflikte, wo die Bedeutung der Akzeptanz seitens der Betroffenen so groß ist, dass heute zunehmend Verhandlung, Vergleich und Mediation im Vordergrund auch für die staatliche Gerichtsbarkeit stehen. Natürlich bleiben aber in allen diesen Fällen die rechtlichen Regeln, die für einen Konflikte dieser Art als gerechte Entscheidung entwickelt worden sind, bei der Beilegung als Hintergrund oder auch als Alternative im Blick. Ohne dadurch die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem oralen mittelalterlichen Recht und dem modernen schriftlich-bürokratisch-professionellen Rechtssystem zu verwischen, sollen doch diese funktionalen und strukturellen Ähnlichkeiten nicht außerhalb des Blickes bleiben. Die genannten Phänomene zeigen sich vor allem dort, wo Recht an die Grenzen seiner staatlichen Durchsetzbarkeit gerät, vielleicht auch dort, wo der Gerechtigkeitsgehalt einer formell richtig gefundenen Entscheidung fraglich erscheint. Summum ius summa iniuria – diese Rechtsparömie ist ja eine Warntafel, die die Rechtslehre selbst über die Zeiten hin aufgestellt hat. Dadurch, dass das mittelalterliche Recht vor allem gegenüber dem religiösen Wertesystem nicht ausdifferenziert und abgeschottet war, sondern vielmehr für eine stete Kommunikation offen, konnte das Mittelalter einfacher zu einem Ausgleich gelangen. Stellen wir noch einmal die Frage nach der Funktion: Recht also als Mittel der Konfliktentscheidung und Konfliktschlichtung. Indem die mittelalterliche Ordnung nicht die unbezweifelte Monopolisierung der Zwangsgewalt eines obrigkeitlich handelnden Staates einsetzen konnte, musste auch für das Rechtsverfahren die Funktion eines Ausgleichs, die Vermeidung weiterer gewaltsamer Auseinandersetzungen, im Vordergrund stehen. Dieser Aspekt gewinnt umso mehr an Bedeutung, je höher wir in der sozialen Rangordnung steigen: sowohl der Ehrbegriff wie die dafür einsetzbaren Machtmittel widersprechen der Unterwerfung unter ein Gericht. Anders ist die Lage allerdings, wo nicht-fehdefähige Gruppen und Personen zur Disposition stehen, etwa Sklaven und Unfreie oder Leute: hier findet sich entsprechend schon früh hartes obrigkeitliches Strafrecht anstelle des Akkusations- und Bußverfahrens. Allgemein aber ist das Ziel eines Rechtsverfahrens die compositio, also Ausgleich, Buße. Das Wort findet sich – und dieser offensichtliche Tatbestand ist in der wissenschaftlichen Diskussion zu wenig beachtet worden – ebenso typisch im Bereich des Ausgleichs durch Schied, Mediation und Rituale wie in den normativen Rechtstexten. Hier kann Komposition das Wergeld oder die Bußtaxe für eine Rechtsverletzung bedeuten, steht dabei neben anderen ähnlichen Begriffen wie satisfactio. Compositio oder satisfactio ist aber auch das Ziel der rituellen Spielregeln der Politik, wie Gerd Althoff nachdrücklich verdeutlicht hat. Gerade das alte Rechtsverfahren vor der Entstehung des öffentlichen Strafanspruchs, nämlich der auf Bußausgleich gerichtete Akkusationsprozess entspricht also in seinem Ziel und Mittel denen der rituellen Beilegung. Das sei nun Anlass zu fragen, welcher nach der Wortbedeutung von componere in diesen verschiedenen Verfahrensformen gefunden werden sollte. Bei Vermögensschädigungen, Körperverletzungen, aber auch Tötungen ging es sicher – zumindest auch – um materiellen Schadensausgleich. Aber die enorme Höhe vieler Bußen zeigte, wie auch die Anteile mit überschießendem pönalem Charakter oder zu-
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Gerhard Dilcher
gunsten der öffentlichen Gewalt, dass dieser Gesichtspunkt materiellen Ausgleichs nicht allein maßgeblich sein kann, nicht einmal der zentrale ist. Dagegen ist durch viele Quellen, und vor allem durch die durch die Ethnologie vermittelte Kenntnis der Grundstrukturen der Mentalität tribaler segmentärer Gesellschaften deutlich, wie sehr die Wiederherstellung der Ehre, also der öffentlichen Achtung in einer durch Rangstufen geordneten Gesellschaft ( „rank society“, Reinhard Wenskus ) die maßgebende Triebfeder einer compositio oder satisfactio darstellte. Diese bedeutete also Wiederherstellung gestörter gesellschaftlicher Ordnung nicht nur materieller Art. Gerade diese Wiederherstellung wird aber durch die Rituale der deditio in ihren zahlreichen Variationen in ganz spezifischer Weise bewirkt. Ihr Ziel ist ( Wieder- )Anerkennung des Vorranges des Herrschers in der politischen Ordnung durch den Verursacher von Akten von Widerstand und Rebellion, die sich ihrerseits auf Gedanken des Widerstandsrechts stützten. Sogar die Rezeption des römischrechtlichen crimen lesae maiestatis, das eigentlich dieser Ranggesellschaft fremd ist, vielmehr aus der spätantiken obrigkeitlich-absolutistischen Ordnung stammt, kann symbolisch in den Unterwerfungsritus eingebaut werden; so etwa bei der Unterwerfung der Mailänder vor Barbarossa, indem sie das Schwert als Zeichen der verwirkten Strafe an ihrem Halse tragen. Einen weiteren Gesichtspunkt möchte ich an dieser Stelle noch einbringen. Das Versöhnungsritual der deditio stellt eine offensichtliche, öffentliche Demütigung dar, darin besteht gerade ihre Funktion. Heinrich der Löwe wich einer solchen Unterwerfung aus und nahm die Verurteilung in Abwesenheit hin, wie ja oft das Nichterscheinen als Ausweg angesehen wurde, mit der man die Sache noch konnte. Trotz Verurteilung wegen Säumnis ging die Rechnung wegen des Fehlens einer staatlichen Zwangsgewalt oft auf. Wie konnten aber die frühmittelalterlichen Eliten, die aus den germanischen Kriegergesellschaften hervorgegangen waren, eine solche öffentliche Demütigung mit ihrem Selbstverständnis vereinbaren – war dieses doch von einem eher schroffen Ehrbegriff beherrscht? In den Auseinandersetzungen der Völkerwanderungen oder in der Welt der isländischen Sagas sind die fraglichen Verhaltensweisen der Unterwerfung und ihre befriedende Wirkung schwer vorstellbar. Wohl nur durch christliches und kirchliches Denken, welches die Demütigung der deditio ethisch aufgewertet hatte, konnte diese zu einer Wiederherstellung der Ordnung unter den Beteiligten eingesetzt werden. Die rituelle Demütigung eines Barbarossa vor dem Papst im Frieden von Venedig, die rituelle Demütigung von Fürsten vor dem König und Kaiser bedeuteten in einem christlichen Weltbild keinen 61, denn wer sich erniedrigt, wird vor Gott erhöht 62. Einsicht und Buße führen zur Versöhnung mit Gott und können 61
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Dies ist der Unterschied der christlichen <Schuldgesellschaft> gegenüber den ostasiatischen <Schamgesellschaften>. Differenzierend zu dem grundlegenden Ansatz von Ruth Benedict, The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese culture, Boston 1946 u. ö. ( dt.: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Frankfurt am Main 2006 ); vgl. auch Takeo Doi, Amae. Freiheit in Geborgenheit. Zur Struktur japanischer Psyche, Frankfurt am Main 1982, bes. S. 58 ff: Sünde und Scham. Die Schamgesellschaft fordert gegebenenfalls die Selbsttötung im Ritual des seppuku bzw. harakiri. Eine kulturvergleichende Arbeit über Wertvorstellungen und Rituale hätte hier eine große Aufgabe. Dazu Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität, Darmstadt 22000, S. 411 ff. Wichtig ist besonders der Christushymnus im Philipperbrief 2, bes. 5, 5–11.
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insofern vor den Menschen nicht ehrmindernd sein. Dass daneben im Aushandeln des Demutsrituals von dem Betroffenen auf größtmögliche Wahrung der Ehre geachtet wurde 63, und auch die Umgebung des Hofes in einem zu langen Verharrenlassen in der Demutsstellung eine Störung der Ordnung sah, hat die historische Ritualforschung mehrfach beobachtet. All dies bestätigt die kulturelle Mehrschichtigkeit des Vorgangs: Demut und Stolz und Ehre konnten nicht in jeder, wohl aber in der christlichen Adelsgesellschaft miteinander verbunden sein. Offensichtlich nahm man die rituellen Figuren der deditio zumindest überwiegend aus dem christlichen Formenschatz, vor allem der Liturgie. Der stärkste Ausdruck der Demut und Überantwortung, die Proskynese, das volle körperliche Niederwerfen, gehörte im Westen, anders als in Byzanz, nicht zum Herrscherkult, stellte aber eine kirchlich-liturgische Form, etwa bei der Priesterweihe bis heute, dar 64. Ein solches Vorbild westlicher Versöhnungsrituale konnte die Würde dessen, der sich so demütigt, wahren und dessen Rückkehr in die gesellschaftliche und politische Ordnung ermöglichen. Ich möchte also die Wiederherstellung von Recht im Gerichtsverfahren, in unmittelbarer Selbsthilfe im Handhaftverfahren oder Fehde, mit Hilfe Dritter in Schied oder Mediation wie auch die rituelle öffentliche Wiederherstellung der Ordnung als parallele Verfahrensweisen, mit verschiedenen Mitteln, jedoch demselben Ziel sehen. Das bestätigte uns eine funktional-soziologische, eine begriffsgeschichtliche wie auch die rechtstheologische Sicht. Im Hintergrund steht ein Ordnungsbild der Gesellschaft, der politischen Zuständigkeiten und Hierarchien, das sich nicht auf den Staat als säkularen , sondern auf Gott und seine Schöpfungsordnung hinter allem irdischen Geschehen bezieht. Von daher empfangen die verschiedenen Verfahren zur Wiederherstellung gestörter Ordnung ihren Sinn und deren Ergebnisse ihre Legitimation. Dieses ideelle Gefüge von Recht und Gerechtigkeit aber steht hinter dieser Ordnung, denn „Gott ist selber Recht“, wie der Sachsenspiegel sagt 65. Zur Wahrung des Rechts ist das Amt des Herrschers in der Welt nach dem Sündenfall legitim und notwendig, wie es etwa Friedrich II. im Prooemium der auf Grund einer lange Tradition reklamierte. In allen den genannten Verfahrensweisen, vom Rechtsverfahren bis zu den Spielregeln der Politik, stehen dem Mittelalter konsentierte normative Formen zur Verfügung, um für die Öffentlichkeit der Beteiligten – die, die es angeht, omnes quos tangit – aber auch für die universitas der Gesellschaft des mittelalterlichen Reiches insgesamt das Ergebnis verbindlich zu machen. Schriftlich fixierte Rechtsnormen drängen sich als gut greifbare Quellen für den Historiker in den Vordergrund. Die dahinter stehenden Rechtsgewohnheiten und Rechtsüberzeugungen waren aber für das Mittelalter, vor allem so weit noch nicht Juristen und mit ihnen das gelehrte Schriftrecht herrschten, wichtiger. Öffentlicher Ausdruck normativer Überzeugungen war nicht nur der dinggenossenschaftlich gefundene und richterlich verkündete Rechtsspruch, sondern das
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Etwa wurde häufig versucht, die Barfüßigkeit bei dem Demutsritual zu vermeiden. Vgl. dazu etwa Görich ( wie Anm. 48 ) S. 230. Günter Weiß, Art. , in: LMA 7, 1995, Sp. 265 f. Dazu auch Angenendt ( wie Anm. 62 ). Sachsenspiegel, Prologus; dazu Alexander Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, Paderborn u. a. 1984.
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vor demselben Kreis von Rechtsgenossen vollzogene Ritual, das als vollzogene Handlung seinen normativen Inhalt und dessen verbindliche Wirkung so anschaulich für alle darstellte und in die memoria eingehen ließ. Rituale als Formen gehören also, entsprechend dem Wort Wilhelm Ebels, zu den ältesten Normen, innerhalb wie außerhalb des gerichtlichen Verfahrens.
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Kirchliche Buße und Konfliktbewältigung Thietmar von Merseburg näher betrachtet Thietmars Sünden, S. 322. – Fürsten und Sünde, S. 323. – Buße und Sterbende, S. 326. – Buße und Gemeinschaft, S. 327. – Schluss, S. 329.
Peter Brown hat in seinen Studien zum mehrmals betont, dass eine solche Person eine wichtige Rolle spielte in der spätantiken Gesellschaft. Ein fungierte nicht nur als Vermittler zwischen der lokalen Ebene einerseits und der führende politische Elite andererseits, er erteilte auch vielen Menschen Rat und versuchte, Konflikte innerhalb der lokalen Gemeinschaft zu lösen 1. Die religiöse Autorität des Heiligen, die asketische Autorität, wie Claudia Rapp sie in ihrem Buch über heilige Bischöfe in der Spätantike bezeichnet hat, war dem Heiligen dabei sehr behilflich 2. Seine Rolle als Vermittler zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen, war von außerordentlichem Belang bei der Vermittlung in lokalen Konflikten. Die große Bedeutung eines Bezugs zum Überirdischen in der Lösung von lokalen Konflikten zeigt sich auch in Browns Untersuchung des Gottesurteils 3. Wenn man diese Urteile nicht länger als irrationale Rechtsformen betrachtet, sondern als soziale Instrumente, mit denen Gemeinschaften Konflikte lösen oder doch wenigstens in Schranken halten konnten, dann bietet der Bezug zum Überirdischen in vielen Fällen einen Ausweg aus einer schwierigen Situation. Es bietet den Beteiligten nicht nur mehr Spielraum als sonst, sondern ermöglicht auch eine Lösung mit weniger Gesichtsverlust, da man nicht dem Gegner direkt nachgibt, sondern sich vor Gott verbeugt. In der Forschung zur Konfliktbewältigung im Mittelalter wird meines Erachtens die religiöse Dimension, der Bezug auf das Überirdische, nicht genügend betrachtet, und ich werde hier versuchen, diese Dimension etwas mehr hervorzuheben 4. Eines 1
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Peter Brown, The rise and function of the holy man in Late Antiquity, in: Journal of Roman Studies 61, 1971, S. 80–101. Claudia Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity. The Nature of Christian Leadership in an Age of Transition, Berkeley 2005. Peter Brown, Society and the supernatural: a medieval change, in: Daedalus 104, 1975, S. 133–151. Die Literatur über Konflikt und Konfliktlösung ist sehr umfangreich. Ich nenne hier nur Fredric L. Cheyette, Suum cuique tribuere, in: French Historical Studies 6, 1970, S. 287–299; John Bossy ( Hg. ), Disputes and Settlements. Law and Human Relations in the West, Cambridge 1983; für das frühe und hohe Mittelalter: Wendy Davies – Paul Fouracre ( Hgg. ), The Settlement of Disputes in Early Medieval Europe, Cambridge 1986; Timothy Reuter, Unruhestiftung, Fehde, Rebellion, Widerstand: Gewalt und Frieden in der Politik der Salierzeit, in: Stephan Weinfurter ( Hg. ), Die Salier und das Reich, 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, Sigmaringen 1991, S. 297–325; Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990, Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, und Ders., Die Macht der Rituale. Symbolik
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der Mittel, mit dem man Gewalttaten vorbeugen konnte, war das Asylrecht der Kirchen 5. Durch Flucht an einen heiligen Ort, zumeist eine Kirche, konnte man die direkte Anwendung von Gewalt oft verhindern. In solch einer Situation, konnte der Flüchtling die Kirche nicht verlassen, und oft ließ der Bedroher die Kirche überwachen, damit der Flüchtling nicht entweichen konnte. Natürlich war der Flüchtling nicht immer sicher in einer Kirche. Man konnte ihn mit Gewalt herausschleppen oder sogar in der Kirche töten 6. Thietmar von Merseburg erzählt zum Beispiel, wie ein aufständisches Mitglied der ottonischen Familie namens Thankmar, vom königlichen Heer bedrängt, sein Zuflucht in der Peterskirche in der Eresburg suchte, wo er aber am Altar, also am heiligsten Ort, von einer Lanze getötet wurde. Interessanterweise erklärt Thietmar hier, dass die Kirche an dem Ort gebaut worden war, wo früher die Irminsul verehrt worden sei, also an einer heidnischen Kultstätte. Möglicherweise versprach die Heiligkeit dieses Ortes in christlichem wie in vorchristlichem Verständnis eine bessere Garantie für die Sicherheit Thankmars 7. Leider vergebens, wie die Geschichte zeigt. In der Liturgie gibt es Zeremonien, mit denen man eine Kirche oder einen Altar nach einem solchen Blutvergießen wieder reinigen konnte, und auch der Umstand, dass das Asylrecht immer wieder eingeschärft werden musste, weist darauf hin, dass dieses Recht nicht unumstritten war 8. Trotzdem bezeugen viele Texte, dass jemand in einer
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und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. Zwei Kongresse in Spoleto haben sich kürzlich dem Thema gewidmet: La Giustizia nell’Alto Medieovo ( secoli V–VIII ) ( Settimane di Studio 42 ) Spoleto 1995, und: La Giustizia nell’Alto Medioevo ( secoli IX–XI ) ( Settimane di Studio 44 ) Spoleto 1997; vgl. jetzt auch Paul R. Hyams, Rancor and Reconciliation in Medieval England, Ithaca – London 2003. Als bibliographische Einführung: Stephen D. White, From Peace to Power: The Study of Disputes in Medieval France, in: Esther Cohen – Mayke de Jong ( Hgg. ), Medieval Transformations. Texts, Power, and Gifts in Context, Leiden – Boston – Köln 2001, S. 203–218. Zum Asylrecht, vgl. Pierre Timbal Duclaux de Martin, Le droit d’asile, Paris 1939; Harald Siems, Zur Entwicklung des Kirchenasyls zwischen Spätantike und Mittelalter, in: Malte Diesselhorst – Okko Behrends ( Hgg. ), Libertas. Grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart. Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstages von Franz Wieacker, Ebelsbach 1991, S. 139–186; Anne Ducloux, Ad ecclesiam confugere. Naissance du droit d’asile dans les églises ( IVe – milieu du Ve s. ) ( De l’archéologie à l’histoire ) Paris 1994; Daniela Fruscione, Das Asyl bei den germanischen Stämmen im frühen Mittelalter ( Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Fallstudien 6 ) Köln – Weimar – Wien 2003. Zum Beispiel in Tours, vgl. Gregor von Tours, Historiae VII, 22 und 29, hg. von Bruno Krusch – Wilhelm Levison ( MGH SS rer. Merov. 1, 1 ) Hannover 1951, S. 340–343 und S. 346–349; vgl. die Analyse dieses Falles in: Rob Meens, The Sanctity of the Basilica of St. Martin. Gregory of Tours and the Practice of Sanctuary in the Merovingian period, in: Richard Corradini – Rob Meens – Christina Pössel – Philip Shaw ( Hgg. ), Texts and Identities in the early Middle Ages ( Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 12 ) Wien 2006, S. 277–287. Thietmar von Merseburg, Chronicon, II, 2. Benutzt wird hier die Ausgabe von Werner Trillmich ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 9 ) Darmstadt 1985, S. 36. Diese Edition beruht auf der von Robert Holtzmann, Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung ( MGH SS rer. Germ. N.S. 9 ) Berlin 21935. Zur Handschrift der Chronik, die unter Thietmars Aufsicht zustande gekommen ist ( Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Msc. Dresden R 147 ), vgl. http://www.mgh-bibliothek.de/digilib/thietmar.html. Vgl. zum Beispiel: Liber sacramentorum Gellonensis, hg. von Antoine Dumas ( CC 159 A ) Turnhout 1981, S. 351–352: Reconciliatio altaris ubi humicidium perpetratur; Pontificale Romano-Germanicum, 1, S. 182–185: Reconciliatio violate aecclesiae; vgl. Roger E. Reynolds, Rites of separation and reconciliation in the early Middle Ages, in: Segni e Riti nella Chiesa Altomedievale Occidentale 1 ( Settimane di Studio 33 ) Spoleto 1987, S. 405–433, bes. S. 430–432.
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Kirche Sicherheit suchte, was wohl zeigt, dass man in einer Kirche wenigstens ein bestimmtes Maß an Sicherheit erwarten konnte. Falls jemand aber vor der Ausübung von Gewalt an so einem heiligen Ort zurückschreckte, musste es zu Verhandlungen kommen, und da liegt es nahe, dass der an diesem Ort zuständige Geistliche, Abt, Priester oder Bischof, in diesem Konflikt eine Vermittlerrolle spielte 9. Heiligkeit des Ortes sowie die sakrale Autorität eines Geistlichen, sind gewiss Elemente, die zu einer erfolgreichen Vermittlung beitragen. Im Folgenden hoffe ich darzulegen, dass so ein Geistlicher in diesem Kontext auch die Beichte des Flüchtlings hören konnte, und dass die von ihm auferlegte kirchliche Buße Bestandteil der satisfactio sein konnte, die man von einem unterlegenen Gegner erwartete 10. Historiker haben schon des Öfteren auf die Übereinstimmungen in den Formen der kirchlichen Buße und des weltlichen Rituals der Unterwerfung, der deditio, hingewiesen 11. Diese Übereinstimmungen gehen manchmal soweit, dass man sich darüber streitet, ob wir es in einigen Fällen mit einem kirchlichen Bußverfahren zu tun haben oder mit dem weltlichen Ritual der deditio 12. Dabei hat man sich zumeist an dem Ritual der öffentlichen Kirchenbuße orientiert, die mit dem öffentlichen Bußakt von Ludwig dem Frommen im Jahre 821 und 833 zuerst in Erscheinung tritt. Ob die sogenannte Privatbuße in diesem Prozess eine Rolle gespielt hat, hat man dabei – wahrscheinlich wegen des tendenziösen Begriffs <privat> – nicht hinterfragt. In letzter Zeit ist aber der Unterschied zwischen Privatbuße und öffentlicher Buße immer mehr in Frage gestellt worden 13. Meines Erachtens handelt es sich hier um einen Unterschied, den es vor dem 9. Jahrhundert eigentlich nicht gab. Erst die karolingischen Bischöfe, die sich in den Konzilien in 813 mit der Buße beschäftigten, haben diesen Unterschied eingeführt. Vorher gab es eigentlich nur <Buße>. Dass diese
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Außer den Beispielen von Gregor von Tours und Alcuin, sei auf die Briefe Einhards verwiesen, wo der Autor für die in seine Kirchen geflüchteten Personen eintritt. Dass das um 800 der Fall war, habe ich versucht darzustellen in: Rob Meens, Sanctuary, penance and dispute settlement under Charlemagne. The conflict between Alcuin and Theodulf of Orléans over a sinful cleric, in: Speculum 82, 2007, S. 277–300. Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca – London 1992; Gerd Althoff, Spielregeln ( wie Anm. 11 ). Reuter ( wie Anm. 4 ) S. 323: „Heinrichs eigene Unterwerfung zu Canossa war eben nicht so sehr eine umfunktionierte öffentliche Buße, wie sie schon in der Karolingerzeit und wieder von Heinrich III. praktiziert worden war, als eine deditio; Heinrich stand vor Canossa als unterlegener Rebell.“ Vgl. die Reaktion von Werner Goez, Canossa als deditio?, in: Matthias Thumser ( Hg. ), Studien zur Geschichte des Mittelalters. Jürgen Petersohn zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2000, S. 92–99, und Althoff, Macht der Rituale ( wie Anm. 4 ) S. 117–118. Vgl. Mayke de Jong, What was public about public penance? Paenitentia publica and justice in the Carolingian World, in: La Giustizia nell’Alto Medioevo ( secoli IX–XI ) ( wie Anm. 4 ) S. 863–902; Dies., Transformations of penance, in: Frans Theuws – Janet L. Nelson ( Hgg. ), Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages, Leiden – Boston – Köln 2000, S. 185–224; Rob Meens, The frequency and nature of confession in the early Middle Ages, in: Peter Biller – Alastair J. Minnis ( Hgg. ), Handling Sin. Confession in the Middle Ages ( York Studies in Medieval Theology 2 ) Woodbridge 1998, S. 35–61; Sarah Hamilton, The Practice of Penance, 900–1050, Woodbridge 2001; Richard Price, Informal penance in early medieval Christendom, in: Kate Cooper – Jeremy Gregory ( Hgg. ), Retribution, Repentance, and Reconciliation. Papers read at the 2002 Summer Meeting and the 2003 Winter meeting of the Ecclesiastical History Society ( Studies in Church History 40 ) Woodbridge 2004, S. 29–39.
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Buße privat war, wird nirgends gesagt. Betrachtet man die Bußbücher, die immer mit der Privatbuße in Verbindung gebracht worden sind, genauer, dann fällt auf, dass in den ältesten Texten nur Laien angesprochen werden, wenn es sich um große, die Gesellschaft bedrohende Vergehen handelt, wie Mord, Gewalt oder Ehebruch 14. Falls die Buße rein privat wäre, müsste man erklären, wie so eine Straftat dabei bestraft worden ist. Wurde dazu zum Beispiel das weltliche Recht einbezogen? Wenn man sich aber die kirchliche Buße als Teil einer Wiedergutmachung vorstellt, wird der Vorgang leichter verständlich. Ein solcher Zusammenhang zwischen kirchlicher Buße und weltlicher Wiedergutmachung, wenn man das so auseinander reißen darf, stimmt auch mit anderen Charakteristika der Bußbücher überein. Schon früh können wir ja enge Beziehungen zwischen Bußbüchern einerseits und kirchlichem Recht andererseits feststellen. Bußbücher sind als Anhang von Kirchenrechtssammlungen bezeugt, ihre Bestimmungen wurden in solchen Sammlungen rezipiert, und bei der von Burchard von Worms angefertigten Kirchenrechtssammlung können wir sogar feststellen, dass diese Sammlung eigentlich als Bußbuch angelegt worden ist 15. In Regino von Prüms <Sendhandbuch> können wir auch feststellen, dass Bußbuchsatzungen und Kirchenrecht reibungslos zusammengehen können 16. Solche engen Beziehungen zwischen den Bußbüchern und Kirchenrechtssammlungen weisen darauf hin, dass beide Quellengattungen von den Zeitgenossen vielleicht weniger getrennt benutzt worden sind, als wir Historiker das normalerweise tun. Dieser Zusammenhang zwischen kirchlichem Recht und Buße weist auch auf eine vielleicht weniger strenge Trennung von öffentlicher und Privatbuße. Die Überlegungen, die folgen werden, sind geleitet von der Frage, wie man die frühmittelalterlichen Bußbücher verstehen soll. In welchem Verhältnis standen diese Texte mit ihren Auflistungen von Verfehlungen und den dazu passenden Bußleistungen zur Praxis von Beichte und Buße? Neben den Beschreibungen der Tatbestände findet man in solchen Texten oft auch liturgische Anweisungen, die uns Aufschluss
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Vgl. zum Beispiel das Bußbuch Kolumbans, c. B 13, 14, 16 und 21, Ludwig Bieler ( Hg. ), The Irish Penitentials, with an appendix by D. A. Binchy ( Scriptores Latini Hiberniae 5 ) Dublin 1963, S. 102–104, wo für die Rekonziliation immer eine Kompensation für die geschädigte Partei verlangt wird. Über die engen Beziehungen zwischen Bußbüchern und Kirchenrechtssammlungen vgl. Rob Meens, Die Bußbücher und das Recht im 9. und 10. Jahrhundert. Kontinuität und Wandel, in: Wilfried Hartmann ( Hg. ), Recht und Gericht in Kirche und Welt um 900 ( Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 69 ) München 2007, S. 217–233; Zum Dekret Burchards von Worms und seine Orientierung auf die Buße, vgl. Ludger Körntgen, Fortschreibung mittelalterlicher Bußpraxis. Burchards und seine Quellen, in: Wilfried Hartmann ( Hg. ), Bischof Burchard von Worms, 1000–1025, Mainz 2000, S. 199–226, Ders., Canon law and the practice of penance: Burchard of Worms’s penitential, in: Early Medieval Europe 14, 2006, 103–117; Greta Austin, Jurisprudence in the service of pastoral care: The Decretum of Burchard of Worms, in: Speculum 79, 2004, S. 929–959. Reinhold Haggenmüller, Zur Rezeption der Beda und Egbert zugeschriebenen Bußbücher, in: Hubert Mordek ( Hg. ), Aus Archiven und Bibliotheken. Festschrift für Raymund Kottje zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 149–159. Zu Regino vgl. jetzt: Das Sendhandbuch des Regino von Prüm, hg. und übers. von Wilfried Hartmann ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 42 ) Darmstadt 2004; Wilfried Hartmann, Zur Aktualität von Reginos Sendhandbuch, in: Wolfgang P. Müller – Mary E. Sommar ( Hgg. ), Medieval Church Law and the Origins of the Western Legal Tradition. A Tribute to Kenneth Pennington, Washington 2006, S. 33–49.
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über die Bußpraxis geben können 17. Das Verhältnis zwischen Beichte und kirchlicher Buße im größeren Rahmen der sozialen Verhältnissen im Frühmittelalter ist eine Frage, die immer noch nicht gelöst ist. Historiker haben sich oft gefragt, wie oft die Leute im Mittelalter gebeichtet haben, dabei aber immer vorausgesetzt, dass wir unter beichten dasselbe verstehen sollten, wie vor etwa 50 Jahren, das heißt, einen recht privaten Vorgang zwischen einem Priester und dem Gläubigem 18. Die Verwendung des Begriffes hat bestimmt zu einer solchen Betrachtungsweise beigetragen. Ich bin aber immer mehr der Meinung, dass Buße im frühen Mittelalter nicht entweder privat oder öffentlich war, sondern dass es ein breites Spektrum zwischen diesen beiden Polen gab, die Buße also zumeist auf einer Position zwischen öffentlich und privat anzusetzen ist 19. Meine bisherigen Forschungen haben sich vorrangig auf die Texte konzentriert, also auf die Bußbücher selbst, sowie auch auf die handschriftliche Überlieferung. Wenn man Handschriften antrifft, die ein Bußbuch aufnehmen neben einem Sakramentar, einigen Predigten und Texten aus der Taufliturgie, darf man annehmen, dass das Bußbuch im Kontext der Seelsorge benutzt worden ist. Findet man ein Bußbuch in einer Handschrift mit Sammlungen des kirchlichen und des weltlichen Rechts, darf man wohl annehmen, dass das Bußbuch eher in einem Rechtskontext benutzt wurde. Im 10. und 11. Jahrhundert kann man feststellen, dass es mehr Handschriften aus der letzteren Kategorie gibt. Es hat also den Anschein, dass in dieser Zeit Beichte und Buße mehr in einem rechtlichen Kontext benutzt worden sind als in der Zeit davor 20. Lässt sich ein solcher Befund nun auch von anderen Quellen bestätigen? Um einen Eindruck zu gewinnen von der Praxis von Beichte und Buße im 10. und 11. Jahrhundert, sind nur ganz selten Geschichtswerke herangezogen worden. Hier soll nun versucht werden, das Geschichtswerk von Thietmar von Merseburg auf solche Fragen hin zu untersuchen. Thietmar scheint für diese Fragestellung besonders aufschlussreich, da er in seinem Text von einem besonderen Schuldbewusstsein geprägt ist 21. Thietmars autobiographische Bemerkungen in seinem zeigen ein bemerkenswertes Schuldbewusstsein. Obwohl der Demutstopos von einem Autor als Sünder
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Vgl. hierzu Josef Andreas Jungmann, Die lateinischen Bußriten in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Innsbruck 1932, und Hamilton ( wie Anm. 13 ). Zur Diskussion über die Beichte, vgl. Franz Kerff, Libri paenitentiales und kirchliche Strafgerichtsbarkeit bis zum Decretum Gratiani. Ein Diskussionsvorschlag, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 75, 1989, S. 23–57; Alexander Murray, Confession before 1215, in: Transactions of the Royal Historical Society, 6th series, 3, 1993, S. 51–81; Raymund Kottje, Buße oder Strafe? Zur Iustitia in den Libri Paenitentiales, in: La giustizia nell’Alto medioevo ( secoli V–VIII ) ( wie Anm. 4 ) S. 443–474; David S. Bachrach, Confession in the Regnum Francorum ( 742–900 ), in: Journal of Ecclesiastical History 54, 2003, S. 3–22. Meens ( wie Anm. 13 ). Rob Meens, Penitentials and the practice of penance in the tenth and eleventh centuries, in: Early Medieval Europe 14, 2006, S. 7–21. Vgl. Hans-Werner Goetz, Die Chronik Thietmars von Merseburg als Ego-Dokument. Ein Bischof mit gespaltenem Selbstverständnis, in: Rosamond McKitterick, Irene van Renswoude, Matthew Gillis ( Hgg. ), Ego Trouble. Authors and their identities in the early Middle Ages, Wien 2008 ( im Druck ), ich danke den Autor dafür, dass er so freundlich war, mir den Text seines Vortrags schon vor der Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen.
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vielleicht auch mitschwingt, scheint Thietmar aus realer Gewissensnot zu schreiben, die ihn zu einem echten und persönlichen Sündenbekenntnis drängt 22. THIETMARS SÜNDEN
Betrachten wir zuerst die Sündigkeit Thietmars und die Art und Weise, wie er damit umgegangen ist. Schon im Vorwort des ersten Buches beschreibt er sich als jemanden, der viele Vergehen auf seinem Gewissen hat ( qui crimina multa peregi ) 23. Die Sündhaftigkeit zwingt ihn zur Selbsterkenntnis, wie er im vierten Buch gesteht: er durchschaue sich selbst, aber noch nicht so, dass es ausreichen würde ( minus quam debeo ) 24. Das letzte Kapitel dieses Buches enthält das berühmte Selbstporträt Thietmars, in dem er sich als kleines Männlein schildert mit der schlecht geheilten gebrochenen Nase. Der angeführte äußere Makel ist aber weniger wichtig als der innere. Thietmar zählt seine Laster auf: Er ist ‚sehr jähzornig und unlenksam zum Guten, habsüchtig, spottlustig‘, er schont niemanden, ist ‚ein Schlemmer und Heuchler‘, ein ‚Geizhals und Verleumder‘. Es sind Begriffe, die allesamt so aus einem Bußbuch stammen könnten; nur die dort so vielfältigen Formen der sexuellen Sünden fehlen in dieser Auflistung. Interessant ist auch, wie Thietmar seine Sündhaftigkeit bekämpfen will. Er erzählt dem Leser, dass er sich ständig Vorwürfe mache, dass er aber wegen mangelnder Kräfte nicht imstande sei, seine Schuld zu lösen wie es sich gezieme: sicut debui reatum non solvo. Trillmich hat diesen Satz Thietmars so übersetzt: ‚Ständig mache ich mir Vorwürfe, leiste aber keine ausreichende Buße‘. Thietmar scheint hier in der Tat auf die Beichte anzuspielen und auf seine Unzulänglichkeit bei der Vollendung der Buße 25. Im achten Buch aber bezichtigt er sich selbst eines crimen, das er immer verborgen gehalten hat, wie einen köstlichen, geheimen Schatz 26. Handelt es sich hier um eine Sünde, die er nicht gebeichtet hat? Rätselhaft ist auch die Geschichte Thietmars über eine Vision, in der er von einer großen Menge Feinde dazu gedrängt wurde, ein Getränk zu sich zu nehmen, das aus vielerlei Kräutern gemischt war. Das Getränk war in Thietmars Augen Ursache vieler schlechter Gedanken, die ihn sogar während des Gottesdienstes quälten. Was das für Gedanken waren, erzählt er dem Leser nicht 27. Auch an anderer Stelle spielt Thietmar darauf an, wie er mit seinen Gedanken nicht beim Gebet war, ohne zu verraten, woran er gerade dachte 28. Thietmar beschuldigt sich selbst außerdem der Simonie, da er sich durch eine Landschenkung das Amt des Probstes im Familienstift Walbeck besorgt hatte. Hierfür, so betont er, hat er niemals versucht, rechtmäßige Buße ( dignos paenitentiae fructus ) zu leisten 29. Sofort darauf erklärt Thietmar sich schuldig der Grabschändung, da er ein Grab für die Frau seines Bruders genau an der Stelle graben ließ, wo sein Vorgänger als 22
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Georg Misch, Geschichte der Autobiographie II,1: Das Mittelalter, die Frühzeit, Frankfurt a. M. 1955, S. 511. Thietmar, Chronicon ( wie Anm. 7 ) S. 4, Prolog zum ersten Buch. Thietmar, IV, 61 ( wie Anm. 7 ) S. 176. Thietmar IV, 75 ( wie Anm. 7 ) S. 190–192. Thietmar VIII, 11 ( wie Anm. 7 ) S. 452. Thietmar VIII, 15–15 ( wie Anm. 7 ) S. 456–458. Thietmar VI, 72 ( wie Anm. 7 ) S. 320; vgl. auch I, 20, ebd. S. 22. Thietmar VI, 45 ( wie Anm. 7 ) S. 292
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Probst, Willigis begraben war. Er entfernte die Gebeine seines Vorgängers und entnahm dem Grab außerdem einen silbernen Kelch. Thietmar empfand eine spätere Krankheit als Strafe für diese Freveltat und wurde dabei von einer nächtlichen Vision geplagt, in der der Verstorbene ihn anklagte. Thietmar erzählt, dass er diese Grabschändung beichtete, als er als unterwegs war, um von Tagino von Magdeburg zum Priester geweiht zu werden. Er gesteht aber, dass er die Bußleistung, die er dabei versprach, später nicht erfüllt habe 30. Wir können also feststellen, dass ein Bischof wie Thietmar das Bekennen seiner Sünden für sehr wichtig hielt, dies manchmal tat und manchmal nicht, und dass er nicht immer die auferlegte Buße erfüllte. Wenn wir auch nicht sicher sind, ob Thietmar als Autor seine Sündhaftigkeit nicht übertrieb, so scheint ihm ein solches Bild für sein Publikum nicht unakzeptabel zu sein. Das Thietmars ist somit eine Geschichte des Reiches, des Bistums Merseburgs und des Bischofs Thietmar. Es sollte seine Nachfolger nicht nur belehren, wie das Bistum am besten zu lenken sei, es ist zugleich ein Aufruf, für das Seelenheil des sündigen Autors zu beten. Thietmar spielt darauf an, dass er bestimmte Sünden nicht gebeichtet und für andere die Buße nicht erbracht habe. Das Gebet seines Nachfolgers wäre ihm also von Nutzen. FÜRSTEN UND SÜNDE
In den autobiographischen Notizen Thietmars ist die Betonung der Sündhaftigkeit des Autors auffällig. Die Bußfertigkeit lässt des öfteren zu wünschen übrig. Anders ist es bei den Fürsten. Beim Abschluss des zweiten Buches, das die Gestalt Ottos des Großen behandelt, fleht Thietmar seinen Leser an, für den verstorbenen Kaiser, den er hier als sündigen Knecht Gottes bezeichnet, zu beten, denn in so einem Amt sei es nicht möglich, sündenfrei zu leben. Ein guter König aber tut Buße für seine Sünde. Heinrich I. erniedrigte sich jedes Mal, wenn er sich stolz vor Gott oder seinem Herrn aufgelehnt hatte. Ob es sich hier wirklich um eine kirchliche Buße handelt, ist meines Erachtens nicht sicher, obwohl die Erwähnung einer Reise nach Rom, bei der der König zu Fuß ging, so eine Buße nahe legt; auf die Frage, warum er solches tue, antwortete er nämlich, dass er dies wegen seiner Schuld tue 31. Otto I. bekennt in Thietmars Geschichte vor der entscheidenden Schlacht auf dem Lechfeld, seine Sünden, damit er mit Gottes Gnade die Ungarn besiegen kann; damit rückt Thietmar diesen Sieg in einen religiösen Bereich 32. Von Otto II. erwähnt Thietmar, wie der König auf Lateinisch gegenüber dem Papst, den Bischöfen und Priestern seine Sünden bekannte und von ihnen die Absolution erhielt, bevor er 983 in Rom seinen Geist aufgab 33. Dass für Heinrich II. christliche Tugenden von besonderem Wert waren, betont Thietmar, wenn er erklärt, dass alles Missgeschick, das er im Reich zu beklagen hatte, Folge seiner Sünde sei. Vielleicht ist es kein Zufall, wenn Thietmar dann gleich die Enthaltsamkeit des Königs während der Fastenzeit erwähnt und dann die feierliche Begehung des 30 31 32
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Thietmar, VI, 45–46 ( wie Anm. 7 ) S. 292–294. Thietmar I, 15 ( wie Anm. 7 ) S. 20. Thietmar II, 10 ( wie Anm. 7 ) S. 44; Vgl. Sverre Bagge, Kings, politics, and the right order of the world in German historiography, c. 950–1150, Leiden 2002, S. 99. Thietmar III, 25 ( wie Anm. 7 ) S. 112.
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Osterfestes zu Quedlinburg, denn die Fastenzeit ist ja traditionell eine Zeit der Buße. Erst nachher traut der König sich, wieder ins Feld zu ziehen 34. Auf dem Konzil von Frankfurt in 1007 warf König Heinrich II. sich zu Beginn des Konzils vor den versammelten Bischöfen zu Boden, so wie er es auch während der Verhandlungen bei schwierigen Punkten immer wieder tat. Dieser in letzter Zeit regelmäßig diskutierte Vorgang ist zwar keine königliche Beichte, aber der demütige Akt ist morphologisch mit der Buße verwandt und symbolisiert in gewisser Weise das Verhältnis zwischen König und Kirche 35. Während Bruno von Querfurt betont, dass Otto III. auf dem Totenbett seine Sünde bekannte und damit Vergebung erlangt hatte, so findet sich bei Thietmar kein Bericht von einer solchen Beichte 36. Auch in zwei italienischen Viten wird auf eine Buße Ottos III. angespielt, hier jedoch in einem anderen Zusammenhang 37. Ob Thietmar im vierten Buch eine besondere Reue des Königs meint, wenn er in einer vieldiskutierten Passage anmerkt, dass Otto über seine Vergehen im Geheimen seufzte und sie durch Gebet und Tränen abzuwaschen versuchte, ist unklar. Vielleicht spiegelt dies mehr die Auffassung Thietmars über die Frömmigkeit des Kaisers wider als eine gewisse Kritik an dessen Verhalten 38. Dass Thietmar die Herrscherbuße aber für äußerst wichtig hielt, ist ebenfalls klar. Gleichermaßen interessant ist die Art und Weise, in der Thietmar die Geschichte der Bestattung Ottos in das Bußritual der Fastenzeit einbettet. Hier scheint die Bestattung als öffentliches Bußverfahren gestaltet worden zu sein. Thietmar beschreibt, wie Ottos Leichnam in der Karwoche wie in einem großen liturgischen Drama in die wichtigsten Kölner Kirchen getragen wurde, um am Gründon34 35
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Thietmar V, 31 ( wie Anm. 7 ) S. 224–226. Vgl. Gerd Althoff, Macht der Rituale ( wie Anm. 4 ) S. 123–124. Zu Heinrichs Bemühungen um die Stiftung eines neuen Bistums in Bamberg, vgl. Ludger Körntgen, Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonisch-frühsalischen Zeit, Berlin 2001, S. 421–434. Bruno von Querfurt, Vita quinque fratrum Poloniae, c. 7, hg. von Reinhardus Kade ( MGH SS 15, 2 ) Hannover 1888, S. 723; vgl. Gerd Althoff, Otto III., Darmstadt 1996, S. 184–186 und Nikolaus Gussone, Kaiser Otto III. und sein Grab in Aachen, in: Max Kerner ( Hg. ), Der Aachener Dom als Ort geschichtlicher Erinnerung. Werkbuch der Studierenden des Historischen Instituts der RWTH Aachen, Köln 2004, S. 387–411, bes. 389–391. Vgl. auch die Vita Bernwardi, c. 37, wo Ottos Buße auf dem Sterbebett beschrieben wird ( Lebensbeschreibungen einiger Bischöfe des 10.–12. Jahrhunderts, hg. von Hatto Kallfelz [ Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 22 ] Darmstadt 1973, S. 335 ). Vgl. zur Vita Bernwardi: Knut Görich – Hans-Henning Kortüm, Otto III., Thangmar und die Vita Bernwardi, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 98, 1990, S. 1–57, sowie Martina Giese, Textfassungen der Lebensbeschreibung Bischof Bernwards von Hildesheim ( MGH Studien und Texte 40 ) Hannover 2006; zur Diskussion des Beispiels für Otto III. in den Bischofsviten, vgl. Stephanie Haarländer, Vitae episcoporum. Eine Quellengattung zwischen Hagiographie und Historiographie, untersucht an Lebensbeschreibungen von Bischöfen des Regnum Teutonicum im Zeitalter der Ottonen und Salier ( Monographien zur Geschichte des Mittelalters 47 ) Stuttgart 2000, S. 320–325. Zu Ottos Buße, vgl. Hamilton ( wie Anm. 13 ) S. 175–177; Dies., Otto III’s penance: a case study of unity and diversity in the eleventh century Church, in: Robert N. Swanson ( Hg. ), Unity and Diversity in the Church. Papers read at the 1994 Summer Meeting and the 1995 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society ( Studies in Church History 32 ) Oxford 1996, S. 83–94. Thietmar IV, 48 ( wie Anm. 7 ) S. 164; vgl. zur Analyse Stephan Waldhoff, Der Kaiser in der Krise? Zum Verständnis von Thietmar IV, 48, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 54, 1998, S. 23–54.
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nerstag in der Bischofskirche anzulangen. Dort wurden gerade die öffentlichen Büßer von ihrer Schuldenlast befreit, als Erzbischof Heribert von Köln der Seele des verstorbenen Kaisers die Absolution erteilte 39. Die Absolution für einen Verstorbenen war nicht ungewöhnlich, aber die rituelle Gestaltung dieser Absolution in der Karwoche durch eine Art von römischer Liturgie der Stationskirchen war bestimmt etwas außergewöhnliches 40. Auch die Bestattung Ottos am Ostersonntag war außergewöhnlich. Die feierliche Bestattung des Kaisers in der Aachener Marienkirche gerade an diesem Tag war natürlich mit dem Gedanken der Auferstehung verbunden, möglicherweise aber auch mit Auffassungen über die feierliche Teilnahme an der Kommunion nach bestandener Buße 41. Die vielleicht interessanteste Stelle in Thietmars Werk, in der er den Zusammenhang zwischen Fürst und Buße thematisiert, findet sich in Buch VI, wo er die Politik des Gegners Heinrichs II., Bolesław Chrobry, kritisiert. Thietmar beschreibt zuerst, wie Bolesław versucht, die Macht Heinrichs II. zu untergraben und schreibt dann ironisch: ‚So achtete er Gott‘. Dann schildert er, wie Bolesław als schlechter christlicher Fürst mit seinen Sünden umging. Thietmar schreibt: ‚Wenn er selbst merkt, dass er viel gesündigt hat, oder wenn es ihm irgendwelche treugemeinte Vorwürfe zu Bewusstsein bringen, lässt er sich die Kanones vorlegen um festzustellen welche Sühne er leisten muss; nach diesen Vorschriften ( secundum haec scripta ) sucht er dann für das begangene Vergehen zu büßen. Aber seine Gewohnheit, unheilbringend zu sündigen, ist viel stärker als seine Kraft, in heilsamer Buße zu verharren‘ 42. Thietmar scheint hier insbesondere zwei Sachen zu kritisieren. Erstens, dass Bolesław die Buße auf Weise benutzt. Für ihn ist, laut Thietmar, nicht die Intention wichtig, sondern die fast mathematisch kalkulierbare Buße, die dann fast automatisch die Missetat aufhebt. Thietmars Kritik ist in dieser Hinsicht vergleichbar mit der Kritik moderner Historikern wie Arnold Angenendt oder Hubertus Lutterbach an der frühmittelalterlichen Buße im allgemeinen: Tathaftung war wichtiger als Intentionshaftung, obwohl das eigentlich nicht zur ethischen Gesinnung des Christentums passt 43. Interessanterweise scheint mir Thietmar in dieser Passage eine solche Auffassung von Beichte und Buße bei Bolesław gerade zu rügen. Der zweite Punkt, den Thietmar kritisiert, ist, dass Bolesław die Buße nicht vollbringt. Wenn man an Thietmars eigene Anstrengungen denkt, die Buße zu leisten, ist dieser Punkt vielleicht weniger ernst zu nehmen, aber auch hier ist Bolesław deutlich kein guter Christ und deshalb auch kein guter König. Thietmar bezeichnet das Buch mit den vorgeschriebenen Bußen, das Bolesław anscheinend benutzte, als . Ich habe das nicht übersetzt, Trillmich aber schreibt hier . 39 40
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Thietmar IV, 53 ( wie Anm. 7 ) S. 168. Vgl. Nikolaus Gussone, Religion in a crisis of interregnum: the role of religion in bridging the gap between Otto III and Henry II, in: Aziz Al-Azmeh – János Bak ( Hgg. ), Monotheistic Kingship. The Medieval Variants, Budapest 2004, S. 119–135, bes. S. 127–131. Zu einem anderen Beispiel, einem Toten die Absolution zu gewähren, vgl. Thietmar VI, 63 ( wie Anm. 7 ) S. 312. Eine Verbindung mit der Auferstehung legt Gussone, Kaiser Otto III. ( wie Anm. 36 ) S. 399, nahe. Thietmar VI, 92 ( wie Anm. 7 ) S. 340. Vgl. z. B. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997; Hubertus Lutterbach, Die mittelalterlichen Bußbücher – Trägermedien von Einfachreligiosität?, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 114, 2003, S. 227–244; zu Thietmars Interesse an Intention vgl. auch IV, 57 ( wie Anm. 7 ) S. 172–174.
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Das ist richtig übersetzt, wenn man bedenkt, dass Bußbücher und ihre Satzungen auch zum Kirchenrecht gehörten, wie ich ja schon angedeutet habe 44. Die enge Beziehung zwischen Vergehen und Buße, wie sie Thietmar in dieser Passage andeutet, verweist meines Erachtens darauf, dass Thietmar hier eher ein Bußbuch im Auge hatte, als eine Kirchenrechtssammlung stricto sensu. Natürlich muss man bedenken, dass Thietmar hier nicht unbedingt eine Realität beschreibt, sondern eher versucht, den gegnerischen Fürsten als schlechten Christen zu charakterisieren. Wenn man aber an einen bestimmten Text denken will, muss man vielleicht an einen Kodex denken wie er heute im Stift Heiligenkreuz bei Wien aufbewahrt wird. Dieser Kodex ( Ms. 217 ), der sich am Ende des 10. Jahrhunderts wahrscheinlich in Prag befand, enthält zum Beispiel zwei Sammlungen des Kirchenrechts, die Bußbücher von Halitgar, Hrabanus Maurus und das Beda-Egbert Doppel-Paenitentiale, das Konzil von Worms, sowie die Kapitulariensammlung des Ansegisus 45. Das könnten vielleicht die Kanones sein, von denen Thietmar hier spricht. BUßE UND STERBENDE
Fürsten und Buße ist ein wichtiges Thema in Thietmars Werk, Sterben und Beichten ist ein anderes wichtiges Thema. Der gute Tod kommt nicht überstürzt, sondern angekündigt und ein Sterbender beichtet seine Sünde vor dem Tod und erlangt die Absolution. Wir haben dieses Thema schon gesehen bei Otto II., der in Rom vor dem Papst, Bischöfen und Priestern auf Lateinisch beichtete, bevor er starb. Dem Hofkaplan Dodo ( Liudolf, Bischof von Osnabrück ) wurde der Tod in einer Vision angekündigt, worauf er ‚nach Ablegung der Beichte und Empfang der Absolution von den Anwesenden‘ starb 46. Thietmar deutet hier an, dass Dodo von den Anwesenden die Absolution erhielt, also von mehreren Leuten. Bevor Bischof Günther von Regensburg starb, warf er sich zuerst zu Boden, bekannte seine Sünde unter Tränen und kaum hatte er dies getan so ‚gab er den Geist auf‘ 47. Auch hier ist das Beichten vor dem Tod eher ein öffentliches Ritual als eine private Sache. In die gleiche Richtung weist das Hinscheiden des bairischen Herzogs Heinrich III. Seine Frau Judith war bei der letzten Beichte ihres Mannes anwesend, hörte von seinen Sünden und versuchte mit Almosen und Tränen seine Seele zu retten. Auch hier ist also von einer geheimen Beichte keine Rede 48. Thietmar erwähnt weiter, wie sein Vorgänger Wigbert vor seinem Tod oft in Tränen seine Sünde beichtete und von zwei Bischöfen die Absolution erhielt 49. Erzbischof Tagino von Magdeburg beichtete in Gegenwart von zwei Geistlichen, bevor er verschied 50. Sein Nachfolger Walthard wurde von nicht weniger als fünf Bischöfen vor
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Vgl. Anm. 15. Heiligenkreuz, Stiftsbibliothek, Hs. 217, beste Beschreibung in Hubert Mordek, Bibliotheca Capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse ( MGH Hilfsmittel 15 ) München 1995, S. 158–172. Thietmar II, 16 ( wie Anm. 7 ) S. 50–52. Thietmar II, 26 ( wie Anm. 7 ) S. 62. Thietmar II, 40 ( wie Anm. 7 ) S. 78. Thietmar VI, 37 ( wie Anm. 7 ) S. 284. Thietmar VI, 61 ( wie Anm. 7 ) S. 308.
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seinem Tod losgesprochen 51. Thietmar machte es sich selbst zum Vorwurf, dass er nicht die Gelegenheit wahrnahm, Propst Reding von Magdeburg vor dessen Sterben die Beichte abzunehmen, obwohl dieser ihn dringend darum gebeten hatte 52. Als das Kloster auf dem Johannisberg bei Magdeburg brannte, starb einer der Brüder. Dieser Bruder, namens Hemiko, hatte versucht, die Messgewänder aus dem Feuer zu retten, konnte dabei aber dem Feuer nicht mehr entrinnen. Thietmar weiß aber zu erzählen, dass dieser Bruder mitten im Feuer seine Sünde gebeichtet habe 53. Wenn kein Priester anwesend war, um die Beichte zu hören, war es wichtig, Laien seine Sünden zu offenbaren. So erzählt Thietmar von der vorbildlichen Weise, auf die Herzog Ernst von Schwaben, als er auf einer Jagd versehentlich von einem seiner Ritter mit einem Pfeil verwundet wurde – ‚weil kein Priester in der Nähe war‘ – allen Anwesenden seine Sünden bekannte. Thietmar spricht die Hoffnung aus, dass dieser Ernst das ewige Heil erlangen werde, da er sich nicht schämte, in Anwesenheit Vieler seine Sünden bekannt zu machen, statt sie gegenüber dem allmächtigen Gott zu verhüllen. Ein Sterbender solle, so schließt Thietmar diese wie ein Exemplum wirkende Passage, beim Sterben nicht zögern, seine Sünden zu bekennen, wer immer auch bei unserem Ende der Beichtvater sein möge 54. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch das Benehmen von Bischof Bernharius von Verden, der, als er sein Lebensende ahnte, seine Schuldner freundlich einlud, sie an ihre Verfehlungen gegen Gott und die Kirche erinnerte, und denjenigen, die sich schuldig bekannten, barmherzig verzieh 55. Hier scheint also der Bischof an seinem Lebensende nicht selbst seine Sünde gebeichtet zu haben, sondern stattdessen Anderen die Beichte abgenommen zu haben, um so – mit seinen Schuldnern ausgesühnt – sterben zu können. Während Thietmar in all diesen Fällen die Bedeutung des Beichtens vor dem Tode betont, beschreibt er zugleich eine Vielfalt von Modalitäten für so eine Beichte. BUßE UND GEMEINSCHAFT
Die Beichte scheint also nicht immer individuell gewesen zu sein. Als ein Priester namens Rotmanus an Karfreitag plötzlich starb, kann Thietmar melden, dass er am Tag davor communiter, also in Gemeinschaft, gebeichtet hatte 56. Der Tag, an dem dieses geschah, legt nahe, dass es sich hier um ein Beispiel der öffentlichen Buße handelt. Am Gründonnerstag wurden ja die öffentlichen Büßer wieder feierlich in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen, wie es zum Beispiel ausführlich im Pontificale RomanoGermanicum beschrieben ist 57. Dass Solches auch zu Thietmars Zeit geschah, wird klar aus seiner Erwähnung der Ereignisse von Köln, als dort die Leiche Ottos III. an51 52 53 54 55 56 57
Thietmar VI, 71 ( wie Anm. 7 ) S. 318. Thietmar VII, 34–35 ( wie Anm. 7 ) S. 390–392. Thietmar VII, 58 ( wie Anm. 7 ) S. 418. Thietmar VII, 14 ( wie Anm. 7 ) S. 368. Thietmar VII, 31 ( wie Anm. 7 ) S. 386. Thietmar VII, 35 ( wie Anm. 7 ) S. 390. Pontificale Romano-Germanicum, hg. von Cyrille Vogel – Reinhard Elze, Le Pontifical RomanoGermanique du dixième siècle, 3 Bde. ( Studi e Testi 226, 227, 269 ) Vatikanstadt 1963–1972; vgl. Hamilton ( wie Anm. 13 ) S. 118–121, mit einer luciden Untersuchung der verschiedenen Versionen in den einzelnen Handschriften.
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kam. Als die Leiche am Gründonnerstag zur Peterskirche in Köln gebracht wurde, empfingen dort gerade, nach kirchlichem Brauch, wie Thietmar schreibt, die penitentes die Absolution 58. An anderer Stelle bezeichnet Thietmar den Südteil der Kirche in Köln als den Teil, wo am Gründonnerstag die Büßer ( penitentes ) wieder eingelassen werden 59. Betrachten wir nun einige Fällen der deditio, der formalen Unterwerfung, die von Gerd Althoff so beispielhaft untersucht worden ist 60. Als sich Liudolf in Regensburg seinem Vater unterwarf, warf er sich seinem Vater zu Füßen, poenitentia ductus, wie Thietmar sagt 61. Man kann dies einfach als reuig verstehen, aber mir scheint diese Formulierung eher darauf hinzuweisen, dass eine Form der kirchlichen Buße hier eine Rolle spielte. Als sich 1002 Hermann von Schwaben in Bruchsal Heinrich II. unterwarf, schreibt Thietmar, das sei compunctione geschehen, und verwendet damit also wieder einen Begriff, der bei der Buße wichtig ist 62. Die Rolle der kirchlichen Buße wird aber am deutlichsten im Konflikt zwischen Graf Heinrich von Schweinfurt und Heinrich II. Der erstere unterwarf sich dem König more et habitu penitentis, also in Haltung und Kleidung eines Büßers, und bekannte unter Tränen seine Schuld in allem. Er wurde vom König in die Burg Giebichenstein geführt, wo er neben anderen guten Werken, so erzählt uns Thietmar, an einem Tag unter 150 Kniebeugen den ganzen Psalter sang 63. Der Graf tat also Bußwerke, wie wir sie aus Bußbüchern und ihren Kommutationslisten ja gut kennen 64; dass Bischöfe in solchen Fällen als Vermittler auftreten konnten, wird regelmäßig bei Thietmar erwähnt. Auch in diesem Spezialfall vermittelte ein Geistlicher bei dem Fürsten. Bischof Gottschalk von Freising predigte am Fest Mariä Geburt 1004 vor dem König über die Sündenvergebung und rief damit den Grafen Heinrich beim König in Erinnerung, ‚den Grafen, der im Moment wahrhaftig Buße tut‘, wie Thietmar es dem Bischof im Munde legt 65. Die deditio scheint also nicht nur von den Formen der kirchlichen Buße beeinflusst worden zu sein, sie ist oft vielmehr sehr eng damit verbunden. Der kirchliche Bußakt scheint im Fall von Heinrich von Schweinfurt zugleich Teil der weltlichen Wiedergutmachung zu sein. Anderseits informiert uns Thietmar, wie Erzbischof Gero im Jahr 1017 den Markgrafen Gero, der nudibus pedibus vor ihn trat, auf Befehl des Kaisers nach einer Exkommunikation wieder in die Kirche aufnahm 66. Auch hier sind also kirchliche und weltliche Versöhnung eng miteinander verbunden. Thietmar erzählt noch eine wertvolle Geschichte, in der der enge Zusammenhang zwischen weltlichem und kirchlichem Konflikt ganz klar hervortritt. Beim Besuch im Kloster Gernrode sah Bischof Arnulf von Halberstadt beim Verlassen der Kirche 58 59 60
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Thietmar IV, 53 ( wie Anm. 7 ) S. 168. Thietmar VI, 86 ( wie Anm. 7 ) S. 334. Vgl. Gerd Althoff, Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: Ders., Spielregeln ( wie Anm. 11 ) S. 99–125. Thietmar II, 8 ( wie Anm. 7 ) S. 42, Trillmich übersetzt ‚reuig‘. Thietmar, V, 22 ( wie Anm. 7 ) S. 216. Thietmar VI, 2 ( wie Anm. 7 ) S. 244. Vgl. z. B. Cyrille Vogel, Les ( Typologie des sources du moyen âge occidental 27 ) Turnhout 1978, S. 43–54. Thietmar VI, 13 ( wie Anm. 7 ) S. 258. Thietmar VII, 50 ( wie Anm. 7 ) S. 408.
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einen Kleriker mit einem Falken. Nun war Klerikern die Falkenjagd schon seit langem untersagt und der Bischof nahm den Kleriker beim Arm, um ihn über seinen Fehler zu belehren 67. Einige Ritter, die den Kleriker als ihren Senior betrachteten, liefen daraufhin zusammen, und ihr Führer namens Hugal sprach den Bischof an und fragte ihn, warum er seinem Senior Unehre antun wolle ( inhonorare ). Der Bischof fühlte sich anscheinend zu Recht bedroht und bot an, auf einem complacitum die Sache untersuchen zu lassen. Hugal forderte aber unmittelbare Genugtuung, und als Arnulf diese nicht leisten wollte, ging er zornig fort, um später den Bischof in dessen Wohnung anzugreifen. Arnulf verbarg sich aber und entkam so der Wut dieser Ritter. Der Bischof konnte sich hier also in erster Instanz nicht durchsetzen, als es darauf ankam, einer kanonische Regel Geltung zu verschaffen. Nicht aber in zweiter Instanz, als der König dem Bischof zu Hilfe kam. Der Markgraf Gero wurde für das Benehmen seiner Vasallen verantwortlich gemacht und musste vor dem Bischof erscheinen – in einem Treffen, bei dem Thietmar selbst anwesend war. Der Markgraf konnte sich mittels eines Eides frei schwören, seinen Vasallen aber wurde vom Bischof nach Art der Büßer ( more poenitentium ) eine bestimmte Fastenbuße auferlegt 68. Auch hier wird klar, wie kirchliche Buße und weltliche Konfliktbewältigung eng miteinander verbunden sind. Die auferlegte Buße ( Fasten ) erinnert natürlich stark an die Bußbücher mit ihren meist aus Fastenzeiten bestehenden Bußfristen. Im 73. Kapitel des vierten Buches klagt Thietmar über die weltliche Gewalt, die oft im Gegensatz zu der Lex divina stehe. Bewaffnete Konflikte, so führt er weiter aus, sollten immer mit canonica auctoritate beendet werden 69. In letzter Instanz scheint für ihn also die kirchliche Autorität entscheidend zu sein, obwohl er einsieht, dass sie in seiner Welt oft Unterstützung vom König braucht, um sich durchzusetzen. Dass in Thietmars Sicht, in der die kirchliche Autorität sowie das Seelenheil der von ihm aufgeführten Personen so wichtig sind, die kirchliche Buße ein zentrales Element der Konfliktlösung ist, muss deshalb nicht verwundern. Ob Thietmars Sicht der Dinge von Anderen geteilt wurde, ist nicht so sicher. Seine sehr eigenständigen autobiographischen Notizen zeigen, dass Sünde und Seelenheil für ihn von höchster Bedeutung waren. Trotzdem haben wir Historiker Thietmars Beschreibungen der politischen Wirren als <Spielregel> der Politik immer ernst genommen. Deshalb fragt es sich, ob wir nicht auch die bedeutende Rolle, die er der kirchlichen Buße zumisst, ernst nehmen sollten. SCHLUSS
Betrachten wir, was Thietmar über Beichte und Buße erzählt, dann können wir feststellen, dass Thietmar ein ausgeprägtes Sündenbewusstsein kannte. Die Frage der Intention war für Thietmar schon wichtig, und er kritisierte die sklavische Nachfolge der Bußbuchvorschriften eine Bolesławs. Die kirchliche Buße war für ihn von höchster 67
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Zum klerikalen Jagdverbot, vgl. Hubertus Lutterbach, Die für Kleriker bestimmten Verbote des Waffentragens, des Jagens sowie der Vogel- und Hundehaltung ( a. 500–900 ), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 109, 1998, S. 149–166. Thietmar VI, 96–98 ( wie Anm. 7 ) S. 344–346. Thietmar IV, 73 ( wie Anm. 7 ) S. 190.
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Wichtigkeit sowohl für das individuelle Seelenheil, was besonders in der Sterbeliturgie zum Ausdruck kam, als für das Wohl des Reiches. Die Formen, die die Buße annehmen konnte, waren vielfältig, wie die Beschreibungen der Rolle der Beichte beim Sterben darlegen. Immerhin ist festzustellen, dass Beichte und Buße fast immer einen öffentlichen Aspekt hatten. Beichte und Buße waren mit einem Ritual verbunden, das ein wichtiges kommunikatives Element kannte. Dieses kommunikative Element zeigt sich ganz deutlich in der Liturgie der öffentlichen Buße, aber auch in den Fällen, wo Buße eingesetzt wurde, um die Unterwerfung eines politischen Gegners mitzugestalten. Die kirchliche Buße bei Thietmar lässt sich also nicht mit dem einfachen Schema Privatbuße – öffentliche Buße fassen. Sie ist viel reichhaltiger und ist deshalb auch in vielen unterschiedlichen Fällen anzusetzen. So ein Befund passt auch besser zum Inhalt der Bußbüchern, sowie zum handschriftlichen Kontext, in dem sich solche Texte zumeist befinden.
Normen im Buch
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Normen im Buch Überlegungen zu Geltungsansprüchen so genannter 1. Einleitung, S. 331. – 2. Das Karls des Großen von 802, S. 334. – 3. Das Bemühen um gleichförmige, schriftliche Verbreitung von capitula, S. 345. – 4. Folgerungen für die Geltungsansprüche der so genannten , S. 348.
EINLEITUNG
Die Zeit Karls des Großen und die ersten Jahre der Regierung Ludwigs des Frommen gelten als eine besondere Phase in der frühmittelalterlichen Geschichte des Frankenreichs 1 – und das zu Recht: Für die Frage nach der Leistungsfähigkeit politischer Systeme des Mittelalters kann diese Zeit als Maßstab dienen. Hier scheint das Maximum an schriftbasierter Normierung erreicht, zu dem das Königtum in einem Großreich des Früh- und Hochmittelalters fähig war. Das Instrument, das Karl und Ludwig zu diesem Zweck einsetzten, waren die so genannten 2; und schon durch die schiere Zahl solcher Texte hebt sich die Regierungsweise der beiden Karolinger von der ihrer Nachfolger ab. Zwar hat Karl der Kahle nach 843 die Kapi-
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Zu Unterschieden zwischen dieser Phase und der Ottonenzeit vgl. Gerd Althoff, Das ottonische Reich als regnum Francorum?, in: Joachim Ehlers ( Hg. ), Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter ( Vorträge und Forschungen 56 ) Stuttgart 2002, S. 235–261; Hagen Keller, Zum Charakter der <Staatlichkeit> zwischen karolingischer Reichsreform und hochmittelalterlichem Herrschaftsaufbau, in: Ders., Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht, Darmstadt 2002, S. 11–21. Es erübrigt sich jeder Versuch, die Literatur zu diesen Texten vollständig aufzuführen. Statt dessen sei auf die Zusammenfassung des älteren Forschungsstands verwiesen bei François Louis Ganshof, Was waren die Kapitularien?, Darmstadt 1961; für die neuere Literatur vgl. Arnold Bühler, Capitularia Relecta. Studien zur Entstehung und Überlieferung der Kapitularien Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, in: Archiv für Diplomatik 32, 1986, S. 305–501; Thomas Martin Buck, Admonitio und Praedicatio. Zur religiös-pastoralen Dimension von Kapitularien und kapitulariennahen Texten ( 507–814 ) ( Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte 9 ) Frankfurt am Main u. a. 1997; sowie vor allem die grundlegenden Beiträge von Hubert Mordek, Studien zur fränkischen Herrschergesetzgebung. Aufsätze über Kapitularien und Kapitulariensammlungen, ausgewählt zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 2000. – Wichtig zuletzt Christina Pössel, Authors and recipients of Carolingian capitularies 779–829, in: Dies. – Richard Corradini – Rob Meens – Philip Shaw ( Hgg. ), Texts and Identities in the Early Middle Ages ( Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften 344 / Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 12 ) Wien 2006, S. 253–274, die zu Recht betont, dass die Herstellung von Kapitularien nicht einfach mit Gesetzgebung gleichgesetzt werden dürfe.
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tularientradition, die 829 zunächst abgebrochen war 3, noch einmal wiederbelebt; und im Westreich sind neue Texte dieser Art in einiger Regelmäßigkeit noch bis in die 880er Jahre hinein verfasst worden. Im Osten aber verzichtete schon Ludwig <der Deutsche> darauf, eigene Kapitularien zu schaffen, und keiner seiner Nachfolger hat dieses Herrschaftsinstrument noch einmal eingesetzt 4. Was sind ? Hubert Mordek, einer ihrer besten Kenner, hat sie definiert als „von den fränkischen Herrschern ausgehende, meist in Kapitel gegliederte <Erlasse>, , Verlautbarungen von gesetzgeberischem, administrativem, religiös-belehrendem Charakter“ 5. In der MGH-Edition von Alfred Boretius und Victor Krause treten uns Kapitularien in der Tat als solche von den Karolingern ausgehende Normtexte von merkwürdig uneinheitlichem Charakter entgegen 6. Hier finden sich die einzelnen Stücke jeweils einem Herrscher zugeschrieben, datiert und chronologisch geordnet, mit einem Kunsttitel versehen und durchnummeriert. Säuberlich von ihnen geschieden werden die dargeboten – also alle jene Stücke, die zwar verwandt scheinen, aber im strengen Sinne doch nicht zu den von Königen herrührenden Kapitularien gehören. Sie stehen in den Additamenta der Edition. Mordeks Definition des Kapitularienbegriffs findet sich wörtlich oder sinngemäß in aktuellen Lehrbüchern 7, und das mit gutem Grund: Sie erweist sich für die meisten Fragen als weiterführend. Will man jedoch anhand dieser Texte den Geltungsanspruch schriftlich fixierter Normen in der Karolingerzeit untersuchen 8, dann ist zu3
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Vgl. das treffende Fazit von Gerhard Schmitz, Zur Kapitulariengesetzgebung Ludwigs des Frommen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 42, 1986, S. 471–516, S. 516: „Nicht das Jahr 814, sondern 829 bildet aus der Perspektive der Kapitularien eine entscheidende Zäsur“. Ganshof ( wie Anm. 2 ) S. 154 f. Hubert Mordek, Karolingische Kapitularien, in: Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters. Vier Vorträge, gehalten auf dem 35. Deutschen Historikertag 1984 in Berlin ( Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 4 ) Sigmaringen 1986, S. 25–50, S. 25; nahezu wortgleich: Ders., Fränkische Kapitularien und Kapitulariensammlungen, in: Ders., Studien ( wie Anm. 2 ) S. 1–53, hier S. 1 f.; vgl. auch Ganshof ( wie Anm. 2 ) S. 13: „Als Kapitularien bezeichnet man Erlasse der Staatsgewalt, deren Text gemeinhin in Artikel ( capitula ) eingeteilt war, und deren sich mehrere karolingische Herrscher bedient haben, um Maßnahmen der Gesetzgebung oder der Verwaltung bekanntzumachen. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man sich damit begnügen zu sagen, daß Kapitularien in Artikel unterteilte Satzungen waren, die von den Karolingerherrschern ausgingen.“ – Zuletzt hat auch Pössel ( wie Anm. 2 ) S. 267, als kleinsten gemeinsamen Nenner von Kapitularien gerade das „royal sponsorship of a text, specifically of its publication and dissemination“ hervorgehoben: „a capitulary was a text which … had been sent out into the regions from the royal court ( … either with counts and bishops or missi ), and with royal authority attached to it in some way“. Alfred Boretius ( Hg. ), MGH Capit. 1, Hannover 1883; Alfred Boretius – Victor Krause ( Hgg. ), MGH Capit. 2, Hannover 1897. Vgl. statt anderer nur Hans-Werner Goetz, Proseminar Geschichte: Mittelalter, 3., überarbeitete Auflage, Stuttgart 2006, S. 163 f. Die Frage ist in ihren Facetten schon seit dem 19. Jahrhundert diskutiert worden: Vgl. die Kontroverse zwischen Georg Beseler, Über die Gesetzeskraft der Capitularien, in: Festgaben für Gustav Homeyer zum XXVIII. Juli MDCCCLXXI, Berlin 1871, S. 3–25, und Alfred Boretius, Lex und Capitulare, in: Ders., Beitraege zur Capitularienkritik, Leipzig 1874, S. 3–67. – In der Forschung des 20. Jahrhunderts hat dann vor allem die Frage nach dem Geltungsgrund der Kapitularien im Mittelpunkt gestanden. Ganshof ( wie Anm. 2 ) S. 35 f., hatte dazu ( ähnlich wie Auguste Dumas, La parole et l’écriture dans les capitulaires carolingiens, in: Mélanges d’histoire du moyen âge dédiés à la mémoire de Louis Halp-
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nächst an zweierlei zu erinnern: Erstens ist der so definierte Kapitularienbegriff ein Ordnungsbegriff heutiger Mediävisten, nicht eine Kategorie der Franken des 8. und 9. Jahrhunderts 9. Das deutsche Wort „Kapitular“ ist zwar angelehnt an das lateinische Wort capitulare, das seit 779 manchmal auch schon von Zeitgenossen benutzt wurde, um Texte zu bezeichnen, die Boretius und Krause in ihrer Edition abgedruckt haben. Aber in den Quellen der Zeit bedeutet das Wort capitulare in aller Regel nicht viel mehr als „Kapitelliste“ 10. Umgekehrt benannten Kopisten des 9. Jahrhunderts diejenigen Texte, die schon Proseminaristen unter dem Fachbegriff „Kapitular“ zu fassen lernen, häufig genug ganz unspezifisch – nämlich als „Kapitel“ ( capitula ). Und im übrigen gingen zumindest die Menschen, die im 9. Jahrhundert des Schreibens kundig waren, mit beiden Wörtern erheblich großzügiger um als heutige Mediävisten: Als capitula oder capitulare konnten die Zeitgenossen nicht nur Kapitularien bezeichnen, sondern so ziemlich jeden Text, der irgendwie in Einzelpunkte aufgegliedert und in Listenform dargeboten wurde.
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hen, Paris 1951, S. 209–216 ) die These geäußert: „Der geschriebene Text diente hier ausschließlich der Bekanntmachung. Sein Ziel war es, die Durchführung und Anwendung der getroffenen Maßnahme zu erleichtern. Wichtig war nur eines: der mündliche Akt, durch den der König oder Kaiser die von ihm getroffene Entscheidung kundtat … “; dem hat Reinhard Schneider, Zur rechtlichen Bedeutung der Kapitularientexte, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 23, 1967, S. 273–294, sowie Ders., Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Bereich der Kapitularien, in: Peter Classen ( Hg. ), Recht und Schrift im Mittelalter ( Vorträge und Forschungen 23 ) Sigmaringen 1977, S. 257–279, widersprochen, dem auch Dieter Hägermann, Zur Entstehung der Kapitularien, in: Waldemar Schlögl – Peter Herde ( Hgg. ), Grundwissenschaften und Geschichte. Festschrift für Peter Acht ( Münchener Historische Studien 15 ) Kallmünz 1976, S. 12–27, S. 12, zugestimmt hat. – Dagegen hat sich wiederum Arnold Bühler, Wort und Schrift im karolingischen Recht, in: Archiv für Kulturgeschichte 72, 1990, S. 275–296, gewandt: „Nicht auf den geschriebenen Text kommt es an, sondern auf das gesprochene Wort“. – Dass die Alternative zu modern gesetzt ist und daher in die Irre führt, haben zu Recht Rosamond McKitterick, Zur Herstellung von Kapitularien: Die Arbeit des leges-Skriptoriums, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 101, 1993, S. 3–16, S. 4, und Hubert Mordek, Kapitularien und Schriftlichkeit, in: Rudolf Schieffer ( Hg. ), Schriftkultur und Reichsverwaltung unter den Karolingern. Referate des Kolloquiums der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften am 17./18. Februar 1994 in Bonn ( Abhandlungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften 97 ) Opladen 1996, S. 34–66, S. 37, betont. – Eine konzise Zusammenfassung der älteren Debatte über den Geltungsgrund von Kapitularien aus rechtshistorischer Sicht bietet im Übrigen Phillip Campbell, Die Kapitularien. Entstehung und Bedeutung, in: Karl Kroeschell – Albrecht Cordes ( Hgg. ), Funktion und Form. Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte ( Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 18 ) Berlin 1996, S. 23–38, S. 30–33. Vgl. zum Folgenden Simon Stein, Lex und Capitula. Eine kritische Studie, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 41, 1926, S. 289–301, besonders S. 299; Ganshof ( wie Anm. 2 ) S. 13–18; Bühler ( wie Anm. 2 ) S. 321–339; Mordek, Fränkische Kapitularien ( wie Anm. 5 ) S. 2 f., alle mit einschlägigen Belegen; zuletzt außerdem Rudolf Pokorny, Capitula episcoporum. Vierter Teil ( MGH Capitula Episcoporum 4 ) Hannover 2005, S. 16 f. Dem entspricht es übrigens, dass sich ein Zeitgenosse wie Ansegis für seine Sammlung wenig um eine scharfe Definition der Gattung scherte, sondern auch Canones, Lemmata-Listen und einen ‚Tractandenkatalog‘ mit aufnahm: Dazu Gerhard Schmitz, … pro utile firmiter tenenda sunt lege. Bemerkungen zur Brauchbarkeit und zum Gebrauch der Kapitulariensammlung des Ansegis, in: Dieter R. Bauer – Rudolf Hiestand – Brigitte Kasten – Sönke Lorenz ( Hgg. ), Mönchtum – Kirche – Herrschaft 750–1000, Sigmaringen 1998, S. 213–229, S. 218 f.
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Ebenso schwer wiegt das zweite Problem: Kapitularien gelten zwar als „von den fränkischen Herrschern ausgehende“ Texte; anders als im Falle von Urkunden haben sich aber in der Kanzlei ausgefertigte von Kapitularien nicht erhalten 11. Wir kennen nur kopiale Überlieferungen, und zwar ganz überwiegend im Zusammenhang von Sammlungen, die auch andere Normen tradieren 12. Strenggenommen darf man in den als bezeichneten Texten also zunächst einmal nur Listen von Einzelpunkten sehen, die in unterschiedlichen Phasen der Beratungen karolingischer Könige mit ihren Großen entstanden sind, in ihrer heute bekannten Form jedoch nicht vom Hof, sondern von den <Empfängern> dokumentiert und tradiert wurden. Nun ist es bei einer Überlieferung einer einzelnen Kapitelliste in mehreren Handschriften zwar möglich und legitim, aus diesen Kopien einen ( verlorenen ) Archetyp zu rekonstruieren, dieses dann zu datieren und ihm eine Nummer und einen Kunsttitel zu geben. Allerdings verdeckt dieses nachträgliche Abgrenzen, Ordnen und Kategorisieren, wie die Zeitgenossen selbst mit den Kapitellisten umgegangen sind 13. Für die Frage nach dem Geltungsanspruch dieser Normtexte sind gerade die Formen des Sammelns und Dokumentierens selbst aufschlussreich: Sie lassen Rückschlüsse zu auf den praktischen Gebrauch und damit auch auf die Erwartungen, welche die Zeitgenossen an die capitula knüpften 14. Das möchte ich im Folgenden zunächst an einem einzelnen, aber vielzitierten Beispiel veranschaulichen. Anschließend sind daraus Thesen zum Geltungsanspruch der so genannten Kapitularien im Frankenreich des 8. und 9. Jahrhunderts abzuleiten. DAS KARLS DES GROSSEN VON 802
Der Pariser Latinus 4613 ( Paris, Bibliothèque Nationale de France [ BNF ], ms. lat. 4613 ) ist eine Handschrift aus dem Italien vielleicht schon des späten 9. 15, wahrscheinlicher aber des 10. Jahrhunderts 16. In diesem Buch – und nur hier – findet sich
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Mordek, Karolingische Kapitularien ( wie Anm. 5 ) S. 32. Dazu der Überblick bei Mordek, Fränkische Kapitularien ( wie Anm. 5 ) S. 34–47. Zur Wichtigkeit dieser Frage vgl. grundsätzlich auch Rudolf Pokorny, Eine Brief-Instruktion aus dem Hofkreis Karls des Großen an einen geistlichen Missus, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 52, 1996, S. 57–83, der S. 78 einfordert „ein Durchleuchten der einzelnen Texte unter der Fragestellung, wer eigentlich in ihnen zu wem spricht, wer eine königliche Rechtssatzung im heute noch faßbaren Text als vermittelnde Instanz formal bereits überformt haben könnte …“. Vgl. Rosamond McKitterick, Some Carolingian Law-Books and Their Function, in: Brian Tierney – Peter Linehan ( Hgg. ), Authority and Power. Studies on Medieval Law and Government Presented to Walter Ullmann on His Seventieth Birthday, Cambridge u. a. 1980, S. 13–27, S. 13 f. So Valeska Koal, Studien zur Nachwirkung der Kapitularien in den Kanonessammlungen des Frühmittelalters ( Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte 13 ) Frankfurt am Main u. a. 2001, S. 124. Dazu und zur Handschrift insgesamt: Hubert Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse ( MGH Hilfsmittel 15 ) München 1995, S. 469–476; Bühler ( wie Anm. 2 ) S. 375 f. – Zur Datierung zuletzt Hubert Mordek, „Quod si se non emendent, excommunicentur“: Rund um ein neues Exzerpt des Capitulare generale Kaiser Karls des Großen ( 802 ), in: Kathleen G. Cushing – Richard F. Gyug ( Hgg. ), Ritual, Text and Law. Studies in Medieval Canon Law and Liturgy Presented to Roger E. Reynolds, Aldershot 2004, S. 171–183, S. 172, Anm. 4.
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eine Liste von 33 Kapiteln, die für die Geschichte Karls des Großen von einiger Bedeutung ist. Die Liste gilt als ein programmatischer Text jener Reformpolitik, die Karl nach seiner Kaiserkrönung in Angriff nahm 17. Wichtig ist der Text schon deshalb, weil er nicht nur erneut einen allgemeinen Treueid einfordert, sondern ihn auch en détail in seinem Gehalt und seiner rechtlichen Reichweite beschreibt 18. Wichtig ist der Text aber auch, weil er in seinen weiteren Kapiteln grundsätzliche Bestimmungen zur Lebensführung der Geistlichkeit und der Laien formuliert. Schon Georg Heinrich Pertz – wie in seiner Folge dann auch Alfred Boretius – hat die Kapitelliste des Pariser Latinus 4613 mit jener Reforminitiative Karls des Großen von 802 in Zusammenhang gebracht, über die ausführlich die berichten 19. Auf dieser Basis haben Pertz und Boretius den Text in das Frühjahr 802 datiert. Schon Étienne Baluze hatte das Stück außerdem neu in 40 Abschnitte untergliedert. Das Ergebnis hat er als gedruckt 20, Pertz hat den Text als publiziert, Boretius gab ihm später den Titel 21. Unmittelbar im Anschluss an diese Kapitelliste, jedoch abgesetzt durch eine größere Initiale und nicht mit einer eigenen Kapitelzahl versehen, folgt in der Pariser Handschrift der Wortlaut einer Ansprache, mit der sich jemand an seine fratres dilectissimi wendet 22: pro salute uestra hunc missus, so beginnt der Text in ungelenkem Latein, ut ammoneamus uos quomodo secundum deum iuste et bene uiuatis 23. Die Ansprache ist in dem Pa17
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So ausdrücklich François Louis Ganshof, Charlemagne’s programme of imperial government, in: The Carolingians and the Frankish Monarchy. Studies in Carolingian History, Aberdeen 1971, S. 55–85, S. 56; aus der jüngeren Literatur vgl. Wilfried Hartmann, Karl der Große und das Recht, in: Paul Leo Butzer – Max Kerner – Walter Oberschelp ( Hgg. ), Karl der Grosse und sein Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa, 1: Wissen und Weltbild, Turnhout 1997, S. 173–192, S. 178; Dieter Hägermann, Karl der Große. Herrscher des Abendlandes. Biographie, München 2000, S. 453; Thomas Martin Buck: „Capitularia imperatoria“. Zur Kaisergesetzgebung Karls des Großen von 802, in: Historisches Jahrbuch 122, 2002, S. 3–26, S. 8 und öfter; Mordek ( wie Anm. 2 ) S. 43; Mordek, Fränkische Kapitularien ( wie Anm. 5 ) S. 16; Ders., Exzerpt ( wie Anm. 16 ) S. 171; Pössel ( wie Anm. 2 ) S. 265. Dazu Matthias Becher, Eid und Herrschaft. Untersuchungen zum Herrscherethos Karls des Großen ( Vorträge und Forschungen, Sonderband 39 ) Sigmaringen 1993, S. 201–212. Annales Laureshamenses, hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 1 ) Hannover 1826, ad a. 802, S. 39; vgl. außerdem Annales sancti Amandi, hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH SS 1 ) Hannover 1826, ad a. 802, S. 14. – Die Annales regni Francorum, hg. von Friedrich Kurze ( MGH SS rer. Germ. 6 ) Hannover 1895, ad a. 802, S. 117, erwähnen lediglich, dass Karl in Aachen das Osterfest gefeiert habe, erzählen von der übrigen politischen Initiative des Jahres 802 aber nichts. – Zur Frage einer Reorganisation der Königsboten im Jahr 802 vgl. Jürgen Hannig, Pauperiores vassi de infra palatio? Zur Entstehung der karolingischen Königsbotenorganisation, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 91, 1983, S. 309–374. Capitularia regum Francorum 1, hg. von Étienne Baluze, Paris 1677, S. 362–375; dass Baluze den Text ebenfalls nur auf der Grundlage des Pariser Latinus 4613 gedruckt hat, zeigt seine Angabe: Nunc primum edita ex veteri codice Longobardico MS. bibliothecae Thuanae ( ebd. S. 362 ). Capitulare Aquisgranense, hg. von Georg Heinrich Pertz ( MGH LL 1 ) Hannover 1835, S. 90–96; Capitulare missorum generale, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 33, S. 91–99. Zu diesem Text und seiner Editionsgeschichte sehr ausführlich Buck ( wie Anm. 2 ) S. 157–238 und S. 376–394, der die in die Jahre 801/2 datiert und einen gewissen Anteil Karls am Zustandekommen nicht ausschließt. Paris, BNF, ms. lat. 4613, fol. 91v ( = Boretius [ wie Anm. 6 ] Nr. 121, S. 239 ).
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risinus wegen Blattverlusts nicht vollständig überliefert. Baluze hat diese als Teil der vorangehenden Kapitelliste verstanden und daher in seiner Edition der Kapitularien diesen predigtartigen Text als Schlusskapitel des Kapitulars von 802 mit abgedruckt 24. Ein Leser des Pariser Codex könnte dabei auf die Idee kommen, in der spräche noch immer ( wie im Kapitel unmittelbar zuvor ) der Kaiser selbst. Tatsächlich hat Georg Heinrich Pertz den Text so interpretiert: Obgleich er einen zweiten Textzeugen für die predigtartige Ermahnung entdeckt und die Ansprache daher, anders als Baluze, als einen eigenständigen Text ediert hatte, betrachtete er ihn dennoch als eine , die Karl selbst am Ende der Aachener Versammlung im Frühjahr 802 gehalten habe 25. Erst Boretius hat den Text als Mahnrede eines Missus gedeutet und das Stück daher in die Additamenta seiner Edition verbannt 26. Die Forschung ist Pertz und Boretius bis heute nicht nur in der Datierung der Kapitelliste gefolgt, sondern auch in der Einschätzung, dass es sich hier ( mit Ausnahme der ) um ein Kapitular handele. Kritik ist lediglich an Boretius’ Einordnung des Stückes geübt worden: Der Text sei mitnichten ein Kapitular für die Missi 27; vielmehr müsse er als angesprochen werden – als großes Kaiserkapitular von neuer Rechtsqualität, das von seinem programmatischen Anspruch her am ehesten mit Karls von 789 vergleichbar sei 28. Die Einzelbestimmungen dieses Kapitulars seien dann mittels eines den Königsboten zur weiteren Bekanntmachung und Durchsetzung im Reich zugeleitet worden. Dieses Kapitular für die Königsboten, so die Meinung der Forschung, sei ebenfalls überliefert: Es handele sich hierbei um diejenige Kapitelliste, die Boretius als Nr. 34 seiner Edition unter dem Kunsttitel gedruckt hat 29. Der Überlieferungsbefund ist weniger eindeutig, als es die Einmütigkeit der Forschung vermuten lassen könnte. Zwar sind schon im Codex unicus die betreffenden Kapitel, die Boretius als Karls Kapitular Nr. 33 ediert hat, jeweils mit einer Nummer
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Baluze ( wie Anm. 20 ) cap. 41, S. 375, unter der Kapitelüberschrift Admonitio de symbolo fidei; dazu auch Buck ( wie Anm. 2 ) S. 190–196. Pertz ( wie Anm. 21 ) S. 101–103 ( unter dem Titel ); vgl. dazu auch Buck ( wie Anm. 2 ) S. 196 f. Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 121, S. 238–240 ( unter dem Titel <Missi cuiusdam admonitio> ). So schon Gerhard Seeliger, Die Kapitularien der Karolinger, München 1893, S. 69. Vgl. in diesem Sinne zuletzt Mordek, Exzerpt ( wie Anm. 16 ) S. 171 mit Anm. 3. – Etwas anders aber wieder Pössel ( wie Anm. 2 ) S. 65: „The capitulary was clearly not meant to be of relevance only to the missi, but they were its intended recipients …“. Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 34, S. 99–102; dazu mit besserer Edition Wilhelm A. Eckhardt, Die Capitularia missorum specialia von 802, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 12, 1956, S. 498–516. – Zum Zusammenhang mit Nr. 33 vgl. Mordek, Kapitularien und Schriftlichkeit ( wie Anm. 5 ) S. 40. – Zu den Ereignissen der Jahre 802/3 ausführlich Ganshof ( wie Anm. 17 ); Ders., Karl der Große in seiner Aachener Pfalz während der Jahre 802 und 803, in: Schriftenreihe des Rheinischen Heimatbundes 8, 1961, S. 3–8; zu Karls Rechtsreformen jener Jahre außerdem Gerhard Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium iuris. Rechtsaufzeichnung und Rechtsbewußtsein in Norddeutschland vom 8. bis zum 16. Jahrhundert ( Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 6 ) Köln – Graz 1968, S. 54–67.
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Tabelle 1: Übersicht über den Inhalt des Codex Paris, BNF, ms. lat. 4613 ( basierend auf Hubert Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse [ MGH Hilfsmittel 15 ] München 1995, S. 470–476 )
foll.
Kapitellisten im Parisinus
1r–62v
Langobardische Rechtstexte
62v–70r
Kapitelliste I ( c. 1–70 )
Entsprechungen in der Edition von Boretius/Krause, Kapitular Nr.
20 94 95 96 ( nur hier überliefert ) 25 98 ( aber ohne Invocatio und Inscriptio )
70r–73r
Kapitelliste II ( c. 1–33 )
39 40 ( nur cap. 1–7, 9–22, 24, 28, 29 )
73r–83r
Kapitelliste III ( c. 1–50 )
22 ( c. 9, 11, 26, 27 fehlen ) 23 ( nur cap. 1–7, 9–31, 35–37 )
83r-v
[ ohne eigene Zählung anschließend ]
105 ( nur cap. 4–5, nur hier überliefert )
83v–91v
Kapitelliste IV ( c. 1–33 )
33 ( nur hier überliefert )
91v
[ ohne eigene Zählung ]
121 ( Textanfang der )
Verlust einer Lage 92r–94v
Ende der Kapitelliste V ( c. [ 1 ] 83–107 )
141 ( wegen Textverlusts nur noch das letzte cap. 29 ) 191 ( nur cap. 1–3 ) 192 ( nur cap. 2, 4, 5, 7 ) 158 ( nur cap. 12 und 15 ) 165 ( ohne cap. 14 )
94v–97r
Kapitelliste VI ( c. 1–16 )
201 ( c. 1–8, 11–14 ) außerdem vier nur hier in dieser Form überlieferte Kapitel
97r–98v
Kapitelliste VII ( c. 1–10 )
215 ( ohne cap. 6 )
dann fragmentarischer Abbruch der Hs., nach Kapitelzahl XI
214 ( c. 1–3 ) 219 ( Inscriptio und cap. 3–4 )
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versehen und durchgezählt; schon hier also werden sie als eine zusammenhängende Liste behandelt. Sie ist jedoch lediglich ein Abschnitt einer größeren, planvoll angelegten Rechtssammlung. Diese Sammlung wird eröffnet durch eine Reihe langobardischer Rechtstexte 30. Darauf folgen sieben Listen von capitula, die zu einem guten Teil italienischen Kapitularien entnommen sind. Der jüngste datierbare Text stammt von 856 31. Der Codex überliefert also eine oberitalienische Rechtssammlung aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Das Original der Sammlung ist die Pariser Handschrift wahrscheinlich nicht; es dürfte sich um die Kopie einer früheren Kompilation handeln, vielleicht sogar vermittelt über weitere, verlorene Zwischenglieder. Dafür spricht nicht allein die späte Entstehungszeit des Codex, sondern auch die auffällige Spannung zwischen der qualitätvollen Zusammenstellung der Texte einerseits und deren sprachlicher Gestalt andererseits: Seit Alfred Boretius gehört es zum guten Ton, das korrupte Latein der Sammlung zu beklagen 32. Wie der Tabelle 1 zu entnehmen ist, hat nun derjenige, der die Sammlung konzipiert hat, für alle übrigen sechs Listen nicht nur jeweils eine, sondern mehrere ihm vorliegende Kapitellisten zueinandergefügt und das Ergebnis dann geschlossen mit einer neuen Kapitelzählung versehen. So findet sich etwa zu Beginn des Kapitularienteils ( fol. 62v–70r ) eine Liste von 70 Kapiteln, für die der Kompilator vier Listen kombiniert hat, die in anderen Handschriften auch getrennt voneinander überliefert werden; hinzu kommen acht Kapitel, die nur hier tradiert sind 33. Und mehr noch: Im Zuge seiner Arbeit hat der Kompilator in der Regel seine Vorlagen nicht vollständig übernommen. Soweit es durch Parallelüberlieferungen überprüfbar ist, hat er einzelne Kapitel gekürzt oder sogar ganz entfallen lassen, bisweilen auch – umgekehrt – nur einige wenige Kapitel aus einer ihm vorliegenden Kapitelliste in seine Sammlung integriert 34. Dieser Befund ist wichtig: Denn angesichts dessen wird man auch die vierte, von 1–33 durchnummerierte Kapitelliste des Kompilators noch einmal genauer ansehen müssen – eben jene Liste, die Pertz und Boretius als ein in sich geschlossenes Kapitular begriffen haben. Bei näherem Hinsehen erweist sich das „programmatische Kaiserkapitular“ von 802 freilich als ein wenig kohärenter Text, und zwar sowohl von seiner sprachlichen Gestaltung wie auch von seinem Inhalt her 35. Folgende Abschnitte lassen sich voneinander unterscheiden:
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31 32
33 34 35
Zum Folgenden vgl. im einzelnen die Aufstellung bei Mordek, Bibliotheca ( wie Anm. 16 ) S. 470–476; zur Kapitulariensammlung der Handschrift auch knapp Ders., Fränkische Kapitularien ( wie Anm. 5 ) S. 42. Boretius – Krause ( wie Anm. 6 ) Nr. 215, S. 90 f.; vgl. Mordek, Bibliotheca ( wie Anm. 16 ) S. 475. Alfred Boretius, Die Capitularien im Langobardenreich: Eine rechtsgeschichtliche Abhandlung, Halle 1864, S. 45; vgl. die plakativen Beispiele bei Mordek, Exzerpt ( wie Anm. 16 ) S. 172–174. – Eine romanistische, sprachwissenschaftliche Analyse der im Parisinus überlieferten Texte fehlt; man wird sich daher vorerst hüten müssen, allein aus der Sprachgestalt so weitreichende historische Schlüsse zu ziehen wie Mordek, ebd., S. 174, der hinter der Sprache sogar „einen lautlosen Angriff auf die fränkische Gesetzgebung und damit auf die fränkische Herrschaft in Italien“ vermutete. Vgl. dazu im einzelnen Mordek, Bibliotheca ( wie Anm. 16 ) S. 471 f. Vgl. die Beispiele ebd., S. 473. Vgl. in diesem Sinne auch Hägermann ( wie Anm. 17 ) S. 453.
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1 ) Einen zusammengehörigen Block bilden die ersten neun Kapitel 36. Sie berichten in der dritten Person Singular über alle diejenigen Bestimmungen zum allgemeinen Treueid, die der domnus imperator getroffen habe 37. Das neunte Kapitel beendet diesen ersten, sprachlich wie inhaltlich zusammenhängenden Abschnitt mit dem Satz: hec enim omnia supradicta imperiali sacramento observari debetur 38. 2 ) Darauf folgt – vom Inhalt her – ein zweiter Block: Die Kapitel 10–19 sind der Geistlichkeit gewidmet; es geht um Bischöfe, Äbte, Mönche, Nonnen, Landpfarrer, Kanoniker usw. Sprachlich allerdings ist dieser Block nicht in sich konsistent, die Sprecherperspektive wechselt mehrfach. Die Kapitel 10–13 sind so neutral formuliert, dass sich der Sprecher nicht eindeutig ermitteln lässt. Im Kapitel 14 spricht dagegen unzweifelhaft der Kaiser selbst in der ersten Person Plural 39 – anders als in den ersten neun Kapiteln, die über Maßnahmen des domnus imperator berichten. Doch schon in Kapitel 15 wechselt die Sprecherperspektive ein weiteres Mal: Mit Blick auf die Erhebung von Bischöfen und Äbten wird hier festgestellt, dass der domnus imperator in dieser Frage eine ältere Bestimmung bekräftigt habe. Diese ältere Norm wird dann – eingeleitet durch die Worte eo tamen tinore – im Wortlaut zitiert 40. Die Kapitel 16–17 sind wieder so unspezifisch gestaltet, dass sie ebenso gut Canones einer Synode wie Kapitel eines Herrscherkapitulars darstellen könnten. Kapitel 18 und 19 sind deutlich in der ersten Person Plural aus Karls Sicht formuliert, sprechen also etwa von nostra gratia und nostra presentia 41. 3 ) Von ihrem Inhalt her wenden sich die Kapitel 21–33 der Liste überwiegend an die comites und an andere Laien. Auch dieser dritte inhaltliche Block zerfällt jedoch sprachlich wieder in verschiedene Abschnitte: Die ersten drei capitula sind neutral formuliert oder in der ersten Person Plural gefasst. Die Kapitel 23–26 berichten dagegen wieder in der dritten Person Singular darüber, was der domnus imperator angeordnet habe; zudem folgen sie einem bestimmten sprachlichen Muster ( De legationibus … – De pauperibus … – De his … – Et his … ) 42. In den letzten Kapiteln schließlich spricht wieder durchweg Karl selbst in der ersten Person Plural, und auch hier finden sich in einigen Kapiteln Parallelen in den Formulierungen: usque ad iudicium nostrum heißt es
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Hier – wie im Folgenden – beziehen sich die Kapitelzahlen auf die Zählung im Codex unicus. Paris, BNF, ms. lat. 4613, fol. 83v–85r ( = Boretius [ wie Anm. 6 ] Nr. 33, cap. 1–9, S. 91–93 ). Paris, BNF, ms. lat. 4613, fol. 85r ( = Boretius [ wie Anm. 6 ] Nr. 33, cap. 9, S. 93, Z. 25 ). Paris, BNF, ms. lat. 4613, fol. 86r: … ut nos per eorum bona uoluntatem magis praemium uite êterne quam supplicium mereamur. / … bannum nostrum … / tunc ad nostra presentiam simul cum episcopo suo ueniant. ( = Boretius [ wie Anm. 6 ] Nr. 33, cap. 14–15, S. 94 ). Paris, BNF, ms. lat. 4613, fol. 86r–v: De ordinatione elegenda ut domnus imperator iam olim ad francorum banno concessit, ut episcopi, abbatibus ita etiam nunc et firmavit eo tamen tinore: „ut neque episcopus, neque abbas in monasterio viliores meliori plus diligit et eum sibi propter consanguinitatem suam uel aliqua adolationem melioribus suis preferre studeat, et talem nobis duce ordinandum, cum meliorem eo habet occultato et oppressu, quod nequaquam fieri volumus, quia inrisior et delusio nostra hoc fieri uidetur; set talis in monasteriis nutriantur ad ornandum in quo et nobis et merces et profectus adcrescat commendatoribus suis“. Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 33, cap. 16, S. 94, Z. 16–23, hat nicht kenntlich gemacht, dass es sich an dieser Stelle um das wörtliche Zitat einer älteren, sonst nicht überlieferten Bestimmung handeln muss. Paris, BNF, ms. lat. 4613, fol. 87v–88v ( = Boretius [ wie Anm. 6 ] Nr. 33, cap. 19–24, S. 95 f. ). Paris, BNF, ms. lat. 4613, fol. 88v–89r ( = Boretius [ wie Anm. 6 ] Nr. 33, cap. 28–31, S. 96 f. ).
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etwa in cap. 27, 28 und 31 43, in cap. 32 dann dum in nostra presentia perducatur 44. Inhaltlich bilden die Kapitel 30 und 32 im Übrigen Dubletten zu früheren Kapiteln der Liste, die ebenfalls schon von Inzest und Mord gehandelt haben 45. Der Befund spricht insgesamt nicht dafür, dass wir hier einen in sich geschlossenen, ausgefeilten Text vor uns haben – Karls erstes großes, programmatisches Kaiserkapitular. Mit einem pauschalen Verweis auf die formale Regellosigkeit von Kapitularien wird man die inhaltlichen und sprachlichen Brüche schwerlich wegdiskutieren können 46: Jedenfalls lehrt ein Blick auf die von 789 47, auf das so genannte von 801 48, auf die von 806 49,
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Paris, BNF, ms. lat. 4613, fol. 90r und fol. 90v ( hier: usque ad nostrum iudicium ) ( = Boretius [ wie Anm. 6 ] Nr. 33, cap. 32, S. 97; cap. 33, S. 97 und cap. 36, S. 98 ). Paris, BNF, ms. lat. 4613, fol. 90v. Vgl. cap. 27, Paris, BNF, ms. lat. 4613, fol. 89r–90r ( zu homicidia ) und cap. 28, ebd., fol. 90r ( zum Inzest ). Schon Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 33, S. 91, hat auf die Beschlüsse der Frankfurter Synode von 794 verwiesen, in denen sich eine ähnliche sprachliche Mélange findet. Allerdings ist die Überlieferungsgeschichte dieses Textes nicht minder problematisch: Die gesamte Überlieferung geht zurück auf den Codex Paris, BNF, ms. lat. 10758 ( p. 25–35 ), eine wahrscheinlich von dem Erzbischof Hinkmar von Reims in Auftrag gegebene Sammlung ( vgl. dazu Hubert Mordek, Aachen, Frankfurt, Reims. Beobachtungen zu Genese und Tradition des „Capitulare Francofurtense“ [ 794 ], in: Ders., Studien [ wie Anm. 2 ] S. 205–228, S. 216 f. ). Aus welcher ( oder welchen? ) Vorlage( n ) der Reimser Kompilator in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts die disparaten capitula geschöpft und welchen Anteil er selbst an der überlieferten Textgestalt hat, ist ganz unklar; ebenso wenig ist zu ermitteln, ob es sich bei dieser Kapitelliste exakt um denselben Text handelte, der auch den Konzilsvätern von Reisbach und Freising vorgelegen hatte und den sie beschrieben als illud, quod in magno concilio cum capitulis collectis in loco nuncupato Francorum vado quae [ sc. Karl ] per omnes provincias observare decrevit ( hg. von Albert Werminghoff, Zu den bairischen Synoden am Ausgang des achten Jahrhunderts, in: Festschrift Heinrich Brunner zum siebzigsten Geburtstag, Weimar 1910, S. 39–55, S. 43 ). Man wird also auch hier zumindest Vorsicht obwalten lassen und fragen müssen, inwieweit erst die Überlieferung aus einem Konglomerat verschiedener Texte, die im Zusammenhang mit der Frankfurter Synode von 794 entstanden waren, ein in sich geschlossenes gemacht hat. – Mordek, Fränkische Kapitularien ( wie Anm. 5 ) S. 30, sah – zu Recht – generell im Wechsel der Sprecherperspektive einen Reflex des Entstehungsprozesses von Kapitularien, ohne deshalb aber kritisch zu hinterfragen, ob der jeweils überlieferte Text überhaupt vom „Hof“ als Einheit konzipiert und zur Verbreitung bestimmt war – oder erst ein späterer Sammler die betreffenden Kapitel zusammengestellt haben könnte. Admonitio generalis, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 22, S. 53–62; zur möglichen Autorschaft Alkuins vgl. Carl-Friedrich Scheibe, Alcuin und die Admonitio generalis, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 14, 1958, S. 221–229; gegen den abwegigen Fälschungsverdacht, den Élisabeth Magnou-Nortier, L’„Admonitio generalis“. Étude critique, in: Josep Perarnau ( Hg. ), Jornades internacionals d’Estudi sobre el Bisbe Feliu d’Urgell ( La Seu d’Urgell, 28–30 de setembre de 1999 ), Barcelona 2000, S. 195–242, geäußert hat, vgl. die Richtigstellung bei Gerhard Schmitz, Echte Quellen – falsche Quellen. Müssen zentrale Quellen aus der Zeit Ludwigs des Frommen neu bewertet werden?, in: Franz-Reiner Erkens – Hartmut Wolff ( Hgg. ), Von sacerdotium und regnum. Geistliche und weltliche Gewalt im frühen und hohen Mittelalter. Festschrift für Egon Boshof zum 65. Geburtstag, Köln u. a. 2002, S. 275–300, S. 277–284. Capitulare italicum, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 98, S. 204–206; dazu Buck ( wie Anm. 2 ) S. 220–226. Divisio regnorum, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 45, S. 126–130; dazu zuletzt die Beiträge von Johannes Fried, Matthias M. Tischler und Sören Kaschke in dem Band von Brigitte Kasten ( Hg. ), Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter ( Norm und Struktur 29 ) Köln – Weimar – Wien 2008, S. 146–192, S. 193–258 und S. 259–289.
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aber auch auf die von 817 50 oder auf Ludwigs von 823/25 51, dass ein programmatischer Text weit anders hätte aussehen können. So ist es wahrscheinlicher, dass der Kompilator der Sammlung hier mehr oder minder wörtlich eine Reihe verschiedener Vorlagen ( darunter übrigens auch die predigtartige ) zusammengestellt und dann unter einer einheitlichen Kapitelzählung durchnummeriert hat – geradeso wie er es auch für die übrigen sechs Kapitellisten getan hat, die der Pariser Latinus 4613 enthält. Stellt man zudem den Wechsel der Sprecherperspektive in Rechnung, so müssen die Vorlagen, die der Sammler verwendete, mindestens aus zwei verschiedenen Stufen des Beratungs- und Verbreitungsprozesses hervorgegangen sein: Zu unterscheiden sind nämlich diejenigen Kapitel, in denen Karl selbst in der ersten Person Plural spricht – und diejenigen Passagen, in denen ein Dritter den Willen des Kaisers einem weiteren Personenkreis mitteilt. Seit Boretius ist mehrfach behauptet worden, der Text erweise sich dadurch als Einheit, dass Anfang und Schluss miteinander korrespondieren 52. Tatsächlich sind der Anfangs- und der Schlussteil aber lediglich redundant; was am Beginn – geradezu in historiographischer Form – als Bericht über das Geschehen nachzulesen ist, wird im Schlussteil noch einmal aus der Perspektive des Kaisers selbst eingefordert. Ein weiteres Argument für die Zusammengehörigkeit der 33 Kapitel im Pariser Latinus 4613 sind die inhaltlichen Parallelen, die zwischen diesen capitula und zwei weiteren Listen bestehen: erstens den von 802 ( Nr. 34 ) 53 und zweitens dem ( Nr. 35 ) 54. Das Verhältnis der drei Listen zueinander ist jedoch komplex. Boretius hat alle drei in das Jahr 802 datieren wollen. Zumindest Nr. 35 könnte aber auch aus der Zeit zwischen Dezember 805 und März 806 stammen: Diese Liste kombiniert ausgewählte Kapitel der von 789 mit Kapiteln aus einer Vorlage, die auch für Nr. 34 benutzt worden ist; sie gibt dabei aber jeweils nicht exakt den Wortlaut wieder, sondern fasst eher knapp den gemeinten Sinn zusammen. Tradiert wird auch diese Liste Nr. 35 nur in einer einzigen Handschrift 55; hier findet sie sich im Zusammenhang einer Sammlung von Kapiteln, die im Auftrag des Bischofs Ghaerbald von Lüttich wohl 806 zusam-
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Ordinatio imperii, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 136, S. 270–273; dazu Sören Kaschke, Die karolingischen Reichsteilungen bis 831. Herrschaftspraxis und Normvorstellungen in zeitgenössischer Sicht ( Schriften zur Mediävistik 7 ) Hamburg 2006, S. 324–353 ( mit der älteren Literatur ); zuletzt noch Dieter Hägermann, „Divisio imperii“ von 817 und „divisio regni“ von 831, in: Herrscher- und Fürstentestamente ( wie Anm. 49 ) S. 291–299, der die Ordnung dezidiert für einen politischen Fehlgriff hielt. Admonitio ad omnes regni ordines, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 150, S. 303–307; dazu Olivier Guillot, Une ordinatio méconnue. Le Capitulaire de 823–825, in: Peter Godman – Roger Collins ( Hgg. ), Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious ( 814–840 ), Oxford 1990, S. 455–486. Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 33, S. 91; Buck ( wie Anm. 17 ) S. 18; vgl. auch Pössel ( wie Anm. 2 ) S. 265. Capitularia missorum specialia, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 34, S. 99–102. Capitulare missorum item speciale, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 35, S. 102–104. Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Lat. fol. 626, aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts; zum Inhalt vgl. Mordek, Bibliotheca ( wie Anm. 16 ) S. 34–43.
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mengestellt wurde 56. Ein weiterer Textzeuge, den Jacques Sirmond ausgeschrieben hat, ist durch den Druck bei Baluze dokumentiert 57. Die Kapitelliste Nr. 34 wird zwar ebenfalls nicht in dem Pariser Latinus 4613 überliefert, stattdessen aber in vier anderen, wenngleich recht späten Handschriften 58. Mit ihnen hat sich Wilhelm Eckhardt auseinandergesetzt und überzeugend nachgewiesen, dass der von Boretius zu einem Kapitular zusammengefügte Text seinerseits sehr viel uneinheitlicher überliefert ist, als es die MGH-Edition erahnen lässt: Tatsächlich sind wiederum mindestens drei verschiedene Fassungen dieser Kapitelliste deutlich zu unterscheiden 59. Festgehalten hat allerdings auch Eckhardt an der Auffassung, dass es sich bei diesen Fassungen um verschiedene Ausfertigungen desjenigen handele, das den Königsboten ausgehändigt worden sei, um die Bestimmungen des ( Nr. 33 ) vom Frühjahr 802 umzusetzen 60. Auch wenn die Überlieferungszusammenhänge diese Annahme stützen – ganz und gar zwingend ist sie nicht. Die Liste könnte ebenso gut auf ein internes Konzept für die Beratung zurückgehen, von dem mehrere ( und zum Teil voneinander abweichende ) Abschriften auf uns gekommen sind 61. Zur Debatte hätten dann unter anderem folgende Fragen gestanden: In welche 56
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Dazu Wilhelm A. Eckhardt, Die Kapitulariensammlung Bischof Ghaerbalds von Lüttich ( Germanenrechte N.F. Deutschrechtliches Archiv 5 ) Göttingen – Berlin – Frankfurt 1955, S. 25–33 ( mit der im Text angegebenen Datierung ). – Zu Eckhardts Rekonstruktion der Ghaerbaldschen Sammlung vgl. nun auch die Korrektur bei Pokorny ( wie Anm. 9 ) S. 93–96, demzufolge das sogenannte erste Ghaerbalds nicht als Werk dieses Lütticher Bischofs zu sichern ist. Die Einwände, die Carine van Rhijn, Shepherds of the Lord. Priests and episcopal statutes in the Carolingian period ( Cultural encounters in late antiquity and the Middle Ages 6 ) Turnhout 2007, S. 219–228, dagegen erhoben hat, beruhen teilweise auf einem Missverständnis. Eckhardt ( wie Anm. 56 ) S. 32 f.; die beiden Textzeugen bieten übrigens die Kapitel in sehr unterschiedlicher Reihenfolge. Dies sind: 1 ) Leiden, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, Voss. Lat. Q. 119, fol. 134v–135r ( Ausfertigung vielleicht für ein aquitanischen Missaticum? – Eckhardt [ wie Anm. 56 ], S. 31, hielt die Fassung noch für „das Reinkonzept der königlichen Kanzlei für die Capitularia missorum specialia von 802“ ); 2 ) Paris, BNF, ms. lat. 4995, fol. 28v–29v ( nennt Abt Fardulf von Saint-Denis und Graf Stephan von Paris, sowie Erzbischof Magenard von Rouen und einen Madelgaud als Missi ); 3 ) Paris, BNF, ms. lat. 9654, fol. 10v–11r und 4 ) Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Pal. Lat. 582, fol. 13v–14r ( beide nennen Magnus von Sens und einen Grafen Godefrid als Missi ). – In Ghaerbalds Kapitulariensammlung ( Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Lat. fol. 626, fol. 27ra ) finden sich lediglich cap. 14 und 15 ( hg. von Boretius, Nr. 34, S. 101, Z. 8–10 ), hier zudem miteinander zu einem Kapitel vereinigt und dadurch in ihrem Sinn verändert; vielleicht ist dies Zitat aus einer Fassung für die Äbte Fulrad von SaintQuentin und Rado von Saint-Vaast geschöpft; vgl. grundlegend zur Überlieferung und Deutung der Texte Eckhardt ( wie Anm. 29 ). – Wilhelm Levison, Das Formularbuch von Saint-Denis, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 41, 1917, S. 283–304, S. 299–301, hat zudem aus Flodoards Reimser Kirchengeschichte eine Version für Wulfar erschlossen, der damals noch vocatus episcopus von Reims war. Eckhardt ( wie Anm. 29 ), mit einer Synopse der Texte, S. 500–504. Eckhardt ( wie Anm. 29 ) S. 508 f., nahm sogar an, dass diese „Ausfertigungen“ in der Kanzlei hergestellt worden seien. Sein einziges Argument hierfür ist allerdings die Nennung von zuständigen missi und von deren missatica. Dazu passt jedoch nicht recht, dass der Pariser Latinus 4995 gleich zwei Missatssprengel beschreibt. – Von „Ausfertigungen“ für Königsboten spricht auch Mordek, Bibliotheca ( wie Anm. 16 ) S. 552 f. Zur Herstellung von capitula-Listen und zu ihrer Bedeutung in der Vorbereitung von politischen Beratungen vgl. die Beschreibung von Hinkmar von Reims, De ordine palatii, hg. von Thomas Gross – Ru-
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Regionen sollte man welche Personen als missi entsenden? Und was sollten sie dort jeweils erfragen und regeln? Besser zu einer solchen Agenda als zu einer in der Kanzlei ausgestellten für einen Königsboten passt es jedenfalls, dass sich in einer der Handschriften gleich zwei verschiedene Missatssprengel beschrieben finden 62. Außerdem ließen sich auf diese Weise all diejenigen Kapitel erklären, die keine Regelungen treffen, sondern lediglich – wie heutige Tagesordnungen – die zu diskutierenden Punkte festhalten 63. Und schließlich passen zu einer solchen Deutung auch die wenig sorgsame sprachliche Ausgestaltung und die sehr uneinheitliche Überlieferung der Kapitel. Alles in allem: kein ausgefeilter Text, sondern eher eine Arbeitsgrundlage für die Beratung, eine Niederschrift von Zwischenergebnissen, vielleicht Kopien verschiedener Teilnehmer von einer solchen gemeinsamen Arbeitsgrundlage. Auf den engen Zusammenhang zwischen diesem Text und der Nr. 33 hatte schon Boretius hingewiesen 64, daher hat sich Eckhardt damit nicht mehr im Einzelnen beschäftigt. Viele Kapitel von Nr. 34 sind sehr lapidar formuliert oder bestehen sogar nur aus kargen Lemmata; gleichwohl sind inhaltliche Parallelen zu einer Reihe von Kapiteln aus Nr. 33 unübersehbar. Die Kapitel, für die sich wörtliche Übereinstimmungen finden, beschränken sich allerdings im Wesentlichen auf nur einen der Textblöcke aus der Liste des Pariser Latinus 4613: Es sind die Kapitel 23–26. Dabei sind die Bestimmungen, die in Nr. 34 jeweils in der ersten Person Plural formuliert werden, in Nr. 33 in der dritten Person Singular gefasst; und in dieser Form finden sie sich dann auch wieder in Nr. 35, hier jedoch sprachlich gestrafft. Ganz eindeutig ist der Befund allerdings auch in diesem Falle nicht: Denn eine wörtliche Parallele findet sich auch noch zum cap. 29, das einem anderen Abschnitt der Liste Nr. 33 entstammt. Und im Übrigen gibt es auch zwischen Nr. 34 und Nr. 35 Übereinstimmungen, die in Nr. 33 gar keine Parallele haben. Dieser Befund weist zwar darauf hin, dass etliche ( wahrscheinlich sogar alle ) Kapitel unserer Liste des Pariser Latinus 4613 in einem gemeinsamen historischen Kontext entstanden, also aus den verschiedenen Stufen von Karls Reforminitiative von 802 hervorgegangen sind. Dass es sich hierbei aber um einen in sich geschlossenen, gar programmatischen Normtext, um ein kaiserliches handele, ist nicht zu belegen – und mit Blick auf die Textgestalt eher unwahrscheinlich.
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dolf Schieffer ( MGH Fontes iuris Germanici antiqui 3 ) Hannover 1980, cap. 7, S. 90/92: Proceres vero praedicti sive in hoc sive in illo praefato placito, qui et primi senatores regni, ne quasi sine causa convocari viderentur, mox auctoritate regia per denominata et ordinata capitula, quae vel ab ipso per inspirationem Dei inventa vel undique sibi nuntiata post eorum abscessum praecipue fuerant eis ad conferendum vel ad considerandum patefacta sunt. – Im Übrigen haben sich einige Texte erhalten, deren Formulierungen ausdrücklich auf den Charakter von Tagesordnungen hinweisen: Vgl. dazu Hubert Mordek, Unbekannte Texte zur karolingischen Gesetzgebung. Ludwig der Fromme, Einhard und die Capitula adhuc conferenda, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 42, 1986, S. 446–470; Ders., Kapitularien und Schriftlichkeit ( wie Anm. 8 ) S. 38 f. Paris, BNF, ms. lat. 4995 ( vgl. Anm. 58 ). Vgl. cap. 6, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 34, S. 100: De legibus mundanis; cap. 7, S. 100: De periuria; cap. 8, S. 100: De homicidia; cap. 9, S. 100: De adulteria et inlicitis causis perpetratis, tam per episcopia et monasteria virorum et puellarum quamque et inter seculares homines; cap. 14, S. 101: De legationibus ad nos venientibus et de missis a nobis directis; cap. 15, S. 101: De his quos volumus ut pacem habeant et defensionem per regna Christo propitio nostra; cap. 16, S. 101: De illis hominibus qui nostram iustitiam adnuntiantes occisi sunt. Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 34, S. 99.
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Ansonsten ist das vermeintliche Kaiserkapitular von 802 kaum rezipiert worden. Im Italien des frühen 11. Jahrhundert wurden fünf Kapitel dieser Liste des Pariser Latinus 4613 in die aufgenommen; als Vorlage diente dabei aber eine Handschrift, deren Textfassung ihrerseits sehr eng mit derjenigen des Parisinus verwandt war 65. Schon deshalb kann diese – ohnehin sehr beschränkte – Rezeption keinen Beweis dafür liefern, dass die insgesamt 33 Kapitel einem einzigen Kapitular Karls des Großen entnommen waren. Und diese Beweislast vermag auch nicht die zweite, erst seit kurzem bekannte Übernahme eines einzelnen capitulum von 802 zu tragen: Hubert Mordek hat in der Handschrift: Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. lat. 7790, fol. 85ra, eine Kopie des Kapitels 14 entdeckt. Auch diese Abschrift steht der Textfassung des Parisinus nahe, wenngleich der Kopist den Schlussteil seines Exzerpts gewissermaßen hat 66. Kurzum: Nichts belegt, dass ausgerechnet jene inhaltlich und sprachlich inkohärente Kapitelliste, die Boretius als Karls des Großen gedruckt hat, im Unterschied zu allen übrigen Kapitellisten des Pariser Latinus 4613 wirklich nur aus einem einzigen, noch dazu programmatischen Kapitular geschöpft gewesen wäre. Wahrscheinlicher ist eine andere Deutung: Die Kapitellisten, die Boretius als Kapitularien Nr. 33, 34 und 35 gedruckt hat, überliefern verschiedene all jener Punkte, die 802 beraten wurden – und zwar wohl vermittelt über weitere, mündliche, vielleicht auch schriftliche Zwischenstufen, die verloren sind 67. Unklar bleibt dabei vieles: Welchen Anteil hatte der Kaiser an den heute bekannten Kapiteln? Welchen Einfluss darf man weiteren Beratungsteilnehmern zuschreiben? Für welche Formulierungen zeichneten dagegen erst andere Multiplikatoren verantwortlich – also ein Empfänger der Texte oder gar spätere Kompilatoren? Statt eines einfachen Bildes eines allgemeinen, vom Kaiser ausgehenden und zweier weiterer , mit denen Karl seine Königsboten mit der Verbreitung und Durchsetzung seines programmatischen Kapitulars betraute, bleibt ein erheblich diffuserer Befund: Überliefert sind Formulierungen, die zwar allesamt aus dem Reformprozess von 802 hervorgegangen sein, jedoch im einzelnen verschiedene Beratungsphasen dokumentieren dürften – von , über Auf65 66 67
Koal ( wie Anm. 15 ) S. 131 f. und S. 135; Mordek, Exzerpt ( wie Anm. 16 ) S. 176–179. Vgl. Mordek, Exzerpt ( wie Anm. 16 ) S. 179–182. Wenn man eine direkte Abhängigkeit der Nr. 34 von einem in sich geschlossenen sowie wiederum eine direkte Abhängigkeit der Nr. 35 von Nr. 34 annimmt, dann ist man zu jenem merkwürdigen Szenario gezwungen, mit dem Eckhardt ( wie Anm. 56 ) S. 28 f., gerechnet hat: Der Redaktor von Nr. 35 hätte demnach beide früheren „Kapitularien“, außerdem aber noch weitere Texte vor sich liegen gehabt ( von Nr. 34 übrigens ausgerechnet diejenige Fassung, die Eckhardt selbst bald darauf [ wie Anm. 29 ] S. 504, als „Ausfertigung für ein aquitanisches missaticum“ interpretiert hat ). Der Redaktor hätte dann einzelne Kapitel aus Nr. 34 als Grundlage genommen, sie allerdings jeweils stark sprachlich umgeformt und außerdem immer mal wieder – aber nur für einzelne Wörter und kurze Wortverbindungen! – unsere Nr. 33 und bisweilen noch andere schriftliche Vorlagen herangezogen. Warum aber hätte jemand es auf sich nehmen sollen, ein solch mühseliges und reichlich akademisches Patchwork aus Einzelformulierungen mehrerer schriftlich vorliegender Urtexte herzustellen? Noch dazu für einen Gebrauchstext, der inhaltlich nichts Neues bot? Ich halte es für erheblich wahrscheinlicher, dass die Kapitel, die Boretius zu den Kapitularien Nr. 33, 34 und 35 verarbeitet hat, tatsächlich allesamt Überreste jener Beratungen sind, die 802 in Aachen geführt und von Anbeginn an in mehreren Fassungen dokumentiert worden waren.
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zeichnungen der beratenden Großen bis hin zu Gedächtnisstützen für Missi. Schrift war in allen diesen Phasen offensichtlich ein hochgeschätztes Instrument der Dokumentation: Anders ist nicht zu erklären, dass wir selbst noch in unserer splitterhaften Überlieferung die Spuren der Konzeption, Beratung und Vermittlung der Reforminitiative von 802 greifen können. Weiteren Einblick gewährt uns ein Brief, mit dem sich im Frühsommer 802 – noch vor seiner Weihe zum Erzbischof von Reims, die für den 19. Juni angesetzt war – der vocatus episcopus Wulfar an den Abt Fardulf von Saint-Denis wandte 68. Wulfar war, wie auch Fardulf, vom Kaiser mit einer legatio beauftragt worden. Als Königsbote sollte er dazu beitragen, die Beschlüsse der Versammlung vom März umzusetzen. Nun fragte er den erfahrenen Abt um ‚Rat, wie wir diese [ Legation ] durchführen sollen‘ 69. Fardulf möge ihm doch per Brief mitteilen, qualiter episcopos vel canonicos aut monachos vel quibus capitulis ab eis debeamus requirere. Außerdem erbat Wulfar von dem Abt jene pagina, ‚die vor dem Herrn Kaiser und uns allen verlesen worden ist, als allen allgemein die Erlaubnis gegeben wurde, vom Hof abzureisen‘ 70. Aber damit nicht genug: Et non solum ea, so wünschte Wulfar, que nominatim expressimus, sed prebete cuncta, que huic negotio scitis esse congrua. Der Brief gewährt einen seltenen Einblick in jene Kommunikationsprozesse, die den heute überlieferten Kapitellisten zugrunde lagen: Hier erbat ein kaiserlicher Missus Ratschläge, Instruktionen und weiteres Material in schriftlicher Form von einem Kollegen, der für ein anderes Missaticum zuständig war. Fest steht lediglich, dass Wulfar später zumindest zwei Kapitel derjenigen Fassung von Nr. 34 kannte, die Fardulf als missus nennt 71. Offen aber muss bleiben, welche weiteren Kapitel und Informationen der Abt von Saint-Denis an Wulfar übersandt hat, worauf die schriftlich fixierte Form dieses Materials beruhte – und in welchem Verhältnis die von Wulfar erwähnte, im Frühjahr 802 verlesene pagina zu den heute noch bekannten Kapiteln stand. DAS BEMÜHEN UM GLEICHFÖRMIGE, SCHRIFTLICHE VERBREITUNG VON CAPITULA
Um diesen Befund einordnen zu können, muss man ihn mit einem zweiten konfrontieren. Es lässt sich leicht zeigen, dass die Könige zumindest einigen ihrer Kapitellisten eine hohe Verbindlichkeit zuerkannt wissen wollten – und zwar auch in deren schriftlich fixierter Form. Vor allem dreierlei weist darauf hin: Erstens wird für mehrere dieser Listen sehr detailliert geregelt, auf welchem Weg die capitula schriftlich in jede Diözese und jede Grafschaft des Reiches hinein verbreitet werden sollten. In seiner grundlegenden von 823/25 zum Beispiel sah Ludwig der Fromme vor, dass die Erzbischöfe und die Grafen in deren civitates entweder persönlich oder durch einen Boten eine Abschrift dieses Kapitulars, aber auch Ko68
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Das Schreiben ist, bei Textverlust zu Beginn, überliefert im Rahmen der Formelsammlung von SaintDenis, hg. von Karl Zeumer ( MGH Formulae ) Hannover 1886, Nr. 24, S. 509 f.; hierzu und zum Folgenden grundlegend Levison ( wie Anm. 58 ) S. 293–304. Dies und die folgenden Zitate nach Collectio sancti Dionysii ( wie Anm. 68 ) Nr. 24, S. 509: … consilium expetimus, quomodo ipsam agere debeamus … Ebd.: Illam quoque paginam, que coram domino imperatore et nobis omnibus lecta est, cum universis generaliter data fuit licentia eundi palatio, pariter cum prepetita epistola nobis mittite. Das hat Levison ( wie Anm. 58 ) S. 299–301, gezeigt.
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pien künftiger derartiger Texte erhalten sollten. Anschließend sollten sie ihrerseits in ihrer Provinz die Kapitel an die Bischöfe, Äbte, Grafen und übrigen fideles weitervermitteln, und zwar ausdrücklich in schriftlicher Form. Die Namen derjenigen Erzbischöfe und Grafen, die sich auftragsgemäß eine Abschrift besorgt hatten, sollten notiert und dem Kaiser vorgelegt werden; so sollte sich keiner seiner Aufgabe entziehen können 72. Ein etwas früheres Beispiel: In einer Kapitelliste von Anfang 808 hatte Karl bestimmt, dass vier exemplaria des Textes hergestellt werden sollten. Eines davon sollten diejenigen missi, das zweite diejenigen Grafen erhalten, die von den Bestimmungen betroffen waren; das dritte war für die Boten gedacht, die für das Heer benannt wurden; das vierte schließlich sollte dem cancellarius zugehen 73. Auch in diesem Fall ist das Bemühen unübersehbar, exemplaria – also schriftliche Kopien eines Texts – in identischer Form zu verbreiten. Hinweise auf die Aufbewahrung von Kopien im Pfalzarchiv sind überliefert 74. Das zweite Indiz: Einige capitula legen lapidar fest, dass bestimmte Dinge so gehalten werden sollen, wie es bereits in einer früheren Kapitelliste bestimmt worden sei. ‚In bezug auf Räuber soll es so bleiben, wie wir es schon früher in einem anderen capitulare empfohlen haben‘, heißt es beispielsweise in einem Text Karls aus dem Jahr 805 75. Eine solche Formulierung setzt voraus, dass die frühere Bestimmung, ein älteres capitulare, allgemein bekannt war und es daher genügte, nur noch einmal an diese ältere, noch immer in Schriftform vorliegende und gültige Norm zu erinnern. Drittens schließlich sind zumindest aus der Spätzeit Karls auch Anordnungen bekannt, in denen der Kaiser eindringlich Rechenschaft darüber forderte, welche seiner capitula eingehalten würden und welche nicht. Vielleicht 813, also im Zusammenhang mit seiner letzten großen Reformanstrengung, verlangte Karl: ‚ … in bezug auf diese capitularia hier und all die übrigen, die wir seit vielen Jahren in unserem Reich verbreitet haben, wollen wir nun durch unsere missi vollständig erfahren, was von alledem umgesetzt worden ist – und wer das, was dort angeordnet worden ist, einhält und wer es missbilligt und vernachlässigt – damit wir wissen, wie wir mit denjenigen umgehen sollen, die so viele Jahre hindurch die Gebote Gottes und unsere Anordnung verachtet haben‘ 76. Man hat diese Stelle als Indiz dafür angesehen, dass die Kapitularien wenig 72
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Admonitio ad omnes regni ordines, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 150, cap. 26, S. 307: Volumus etiam, ut capitula quae nunc et alio tempore consultu fidelium nostrorum a nobis constituta sunt a cancellario nostro archiepiscopi et comites eorum de propriis civitatibus modo, aut per se aut per suo missos, accipiant, et unusquisque per suam diocesim ceteris episcopis, abbatibus, comitibus et aliis fidelibus nostris ea transcribi faciant et in suis comitatibus coram omnibus relegant, ut cunctis nostra ordinatio et voluntas nota fieri possit. Cancellarius tamen noster nomina episcoporum et comitum qui ea accipere curaverint notet et ea ad nostram notitiam perferat, ut nullus hoc praetermittere praesumat. – Dazu Mordek, Kapitularien und Schriftlichkeit ( wie Anm. 8 ) S. 59. Capitulare missorum de exercitu promovendo, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 50, cap. 8, S. 138: Istius capitularii exemplaria quatuor volumus ut scribantur: et unum habeant missi nostri, alterum comes in cuius ministeriis haec facienda sunt, ut aliter non faciant neque missus noster neque comes nisi sicut a nobis capitulis ordinatum est, tertium habeant missi nostri qui super exercitum nostrum constituendi sunt, quartum habeat cancellarius noster. Dazu die Belege bei Mordek, Schriftlichkeit und Kapitularien ( wie Anm. 8 ) S. 58–60. Capitulare missorum in Theodonis villa datum secundum, generale, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 44, cap. 21, S. 125: De latronibus, sicut iam antea in alio capitulare commendavimus ita maneat. – Weitere Beispiele dieser Art zitiert Mordek, Kapitularien und Schriftlichkeit ( wie Anm. 8 ) S. 43. Caroli Magni capitulare generale, hg. von Hubert Mordek – Gerhard Schmitz, Neue Kapitularien und Kapitulariensammlungen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 43, 1987,
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effektiv gewesen seien und es in der Praxis erhebliche Probleme bei der Durchsetzung gegeben habe 77. Für die Frage nach dem Geltungsanspruch bleibt die Passage dennoch aufschlussreich: Sie zeigt, wie dringend Karl die Umsetzung der Normen wünschte, die in den Kapitellisten schriftlich fixiert worden waren. Dass es dabei aber nicht nur vage um mündlich vermittelte Inhalte, sondern auch um die Schriftfassung selbst gehen konnte, deutet sich in einem anderen Text an: In der Kapitulariensammlung, die der Bischof Ghaerbald von Lüttich 806 oder bald darauf zusammenstellen ließ 78, hat sich ein Formular für einen <Serienbrief > erhalten. Mit diesem Schreiben hatten sich die Äbte Adalhard von Corbie und Fulrad von SaintQuentin gemeinsam mit den Grafen Unroch und Rocculf in ihrer Funktion als missi domni imperatoris an die Grafen ihres Missaticums gewandt. In dem Brief erklärten sie den Empfängern, dass der Kaiser durch seine Missi zu ermitteln wünsche, was von seinen Anordnungen umgesetzt worden sei und was nicht; deshalb ermahnten die Boten die Grafen, sie sollten ihre capitularia erneut durchlesen ( relegere ) und alles, was ihnen dort empfohlen sei, noch einmal überdenken. Anschließend aber sollten sie diesbezüglich ein solches Bemühen an den Tag legen, dass Gott und der Kaiser sie dafür angemessen entlohnten 79. Karl und Ludwig regelten, wie einzelne Kapitellisten in schriftlicher Form im Reich verbreitet werden sollten. Die Zeitgenossen setzten voraus, dass frühere, schriftlich fixierte Kapitellisten bekannt und nachzulesen waren, und zwar nicht nur für die Geistlichen, sondern auch für Grafen. Und die Könige ließen kontrollieren, wieweit diese schriftlich niedergelegten capitula eingehalten wurden. Zusammengenommen zeigt das recht deutlich: Man hielt zumindest einige der Kapitellisten in ihrer schriftlich verbreiteten Form für verbindlich; und es erschien wichtig, dass sie umgesetzt wurden.
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S. 361–439, cap. 40, S. 423: De istis autem capitulariis atque de aliis omnibus, quê a multis annis misimus per regnum nostrum, volumus nunc pleniter per missos nostros scire, quid ex his omnibus factum sit vel quis hêc observet, quê ibi prêcepta sunt, vel quis illa condempnat et neglegat, ut sciamus, quid de his agere debeant [ für debeamus? ], qui tam multis annis dei prêcepta et decretum nostrum contempserunt. – Vgl. in der Sache ähnlich Capitulare missorum, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 60, cap. 4, S. 147. Von einer geringen Effektivität geht Hermann Nehlsen, Zur Aktualität und Effektivität germanischer Rechtsaufzeichnungen, in: Recht und Schrift ( wie Anm. 8 ) S. 449–502, aus; Mordek, Fränkische Kapitularien ( wie Anm. 5 ) S. 47, rechnete mit einer „nur mäßige[ n ] Akzeptanz“; vgl. außerdem Harald Siems, Zu Problemen der Bewertung frühmittelalterlicher Rechtstexte. Zugleich eine Besprechung von R. Kottje, Zum Geltungsbereich der Lex Alamannorum, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 106, 1989, S. 291–305. Vgl. oben, Anm. 56. Capitula a missis dominicis ad comites directa, hg. von Boretius ( wie Anm. 6 ) Nr. 85, Vorrede, S. 184: Praeceptum est enim nobis omnino et omnibus reliquis missis a domino nostro, ut medio Apreli ei veraciter renunciemus, quid in regno suo ex his quae ipse in istis annis per missos suos fieri iussit factum sit vel quid dimissum sit, ut facientibus gratias condignas reddat et non facientibus secundum quod ei placet increpationes meritas rependat. … Nunc autem admonemus vos, ut capitularia vestra relegatis et quaeque vobis per verba commendata sunt recolatis et tale exinde certamen habere studeatis, pro quo et apud Deum mercedem et apud ipsum magnum dominum nostrum condignam retributionem suscipiatis; zu der Stelle auch Mordek, Kapitularien und Schriftlichkeit ( wie Anm. 8 ) S. 42 f.
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Steffen Patzold 4. FOLGERUNGEN FÜR DIE GELTUNGSANSPRÜCHE DER SO GENANNTEN
Will man die Leitfrage nach den Geltungsansprüchen von Normen beantworten, dann gilt es, die so umrissene Spannung zu erklären: Einerseits wurden capitula auffällig diffus dokumentiert und waren in ihrer Textgestalt höchst instabil; andererseits nutzten die Zeitgenossen die Schrift in vielen Phasen der Entstehung dieser Kapitel, bemühten sich außerdem sichtlich, zumindest manche capitula systematisch in schriftlicher Form zu verbreiten, und forderten eine längerfristige Orientierung an diesen schriftlich fixierten Fassungen ein. In der Forschung hat man bisher vor allem mit zwei Modellen diese Spannung zu erklären versucht. Da wäre erstens der Ansatz, der zurzeit unter anderem von einer Reihe deutscher Rechtshistoriker vertreten wird 80. Demzufolge war das Recht des <Ersten Mittelalters> 81 von den Bedingungen der Oralität 82 geprägt. Schriftlich fixierte Normen wie die Kapitellisten der Karolingerzeit blieben in dieser mündlichen Rechtswelt ein Fremdkörper. Die – aus heutiger Sicht befremdlich diffuse – Dokumentation der capitula ließe sich in diesem Rahmen als Folge eines Unvermögens im Umgang mit einer sich rasch durchsetzenden Kulturtechnik verstehen: Diejenigen Menschen, welche die Listen von Kapiteln schufen, kopierten und verbreiteten, waren noch nicht in der Lage, die Technik des Schreibens ganz und gar zielführend einzusetzen 83. Das Modell hat den Vorteil, dass es die Überlieferung der capitula nicht als Folge primitiven oder archaischen Denkens erklärt, sondern als Konsequenz eines dramatischen Zuwachses an Literalität der fränkischen Gesellschaft. Auch dieses Modell hat jedoch eine Schwäche: Die ethnologischen Theorien, auf die es sich beruft, sind anhand von schriftlosen Gesellschaften erarbeitet worden und setzen Bedingungen primärer Mündlichkeit voraus. Für die Gesellschaft des Karolingerreichs galten
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Vgl. zum Folgenden die Überlegungen von Gerhard Dilcher, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, in: Ders. u. a., Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter ( Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 6 ) Berlin 1992, S. 21–65; zuletzt noch einmal Ders., Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle normativer Traditionen germanischer Völkerschaften bei der Ausbildung der mittelalterlichen Rechtskultur: Fragen und Probleme, in: Ders. – Eva-Marie Distler ( Hgg. ), Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, Berlin 2006, S. 15–42, bes. S. 22, S. 35–37, S. 39–41; Ders., Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der mittelalterlichen Rechtskultur, ebd., S. 603–637, S. 611–614; eine Zusammenfassung des Diskussionsstands auch bei Bernd Kannowski, Rechtsbegriffe im Mittelalter. Der Stand der Diskussion, in: Ders. – Albrecht Cordes ( Hgg. ), Rechtsbegriffe im Mittelalter ( Rechtshistorische Reihe 262 ) Frankfurt am Main u. a. 2002, S. 1–27, besonders S. 6 f. Zu diesem Epochenbegriff vgl. Kannowski ( wie Anm. 80 ) S. 1 f.; Dilcher, Leges ( wie Anm. 80 ) S. 39, Anm. 80. Methodisch noch immer wichtig ist Hanna Vollrath, Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, in: Historische Zeitschrift 233, 1981, S. 571–594. Vgl. in diesem Sinne Steffen Patzold, Die Veränderung frühmittelalterlichen Rechts im Spiegel der -Reformen Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, in: Stefan Esders – Christine Reinle ( Hgg. ), Rechtsveränderungen im politischen und sozialen Kontext mittelalterlicher Rechtsvielfalt ( Neue Aspekte der europäischen Mittelalterforschung 5 ) Münster 2005, S. 63–99, S. 91–99, mit weiterer Literatur.
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diese Bedingungen nicht 84: Sie verwendete Schrift, und zwar keineswegs nur zweckgebunden für den Bereich der Religion im engeren Sinne 85. Das zweite Modell könnte man als das bezeichnen. Ihm zufolge gab es zwar in der Karolingerzeit von den Königen ausgehende, schriftlich fixierte Kapitellisten von hoher Qualität und Verbindlichkeit; diese Listen sind heute jedoch zum größeren Teil verloren. Was überliefert ist, sind lediglich Reste eines rationalen und funktionalen Systems der Setzung und Fortentwicklung von Normen mit hohem Geltungsanspruch 86. Die <Schuld> am skizzierten Spannungsverhältnis wird in diesem Modell also in erster Linie den Zufällen der Überlieferung zugeschrieben, daneben auch der Ungeschicklichkeit oder den je eigenen Absichten der Sammler und Kopisten. Die Analyse des so genannten von 802 wie auch die älteren Untersuchungen zur Wort- und Begriffsgeschichte legen es nahe, eine etwas modifizierte dritte Erklärung vorzuschlagen. Karl, Ludwig und die fränkischen Großen wussten nicht, dass sie Kapitularien im Sinne des mediävistischen Fachbegriffs herstellten. Sie konzipierten, berieten, formulierten und verbreiteten Listen all jener Punkte, die ihnen wichtig schienen, um die populi christiani zu einem gottgefälligen Leben anzuleiten. Daraus konnten so unterschiedliche Texte hervorgehen wie die capitula des Jahres 802 einerseits und das so genannte von 801 andererseits, das eine Invocatio, eine Intitulatio und eine Inscriptio aufweist ( die freilich nicht den für Urkunden üblichen Wortlaut bieten ), eine ausführliche Datierung hat und durch einen wohlstilisierten Prolog eröffnet wird, an den sich sieben Kapitel anschließen – all das ohne irgendeinen sprachlichen Bruch 87. Selbstverständlich kann man so verschiedenartige Texte unter eine einzige, weite Kategorie fassen. Man muss sich dann aber bewusst bleiben, dass diese Kategorie einzig und allein durch ein grobes formales Kriterium definiert ist: Was die Texte vereint, ist nichts anderes als die Tatsache, dass sie Einzelpunkte listenförmig zusammenstellen. Die Frage nach der Normativität und nach dem Geltungsanspruch ist für die weite Kategorie dagegen von vornherein falsch gestellt und gar nicht zu beantworten 88.
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Vgl. zu Recht Kannowski ( wie Anm. 80 ) S. 7: „Bei aller Dominanz der schriftlosen Rechtskultur ist dennoch ein Nebeneinander von schriftlichem und mündlichem Recht zu bemerken“; ähnlich auch Dilcher, Entstehungs- und Wirkungsgeschichte ( wie Anm. 80 ) S. 611. Zum Frankenreich vgl. Rosamond McKitterick, The Carolingians and the written word, Cambridge u. a. 1989; den Band von Rudolf Schieffer ( Hg. ), Schriftkultur und Reichsverwaltung unter den Karolingern ( Abhandlungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften 97 ) Opladen 1996; zum Frühmittelalter insgesamt auch die Beiträge im Band von Rosamond McKitterick ( Hg. ), The Uses of Literacy in Early Mediaeval Europe, Cambridge 1990. – Dass Laien in der Karolingerzeit Archive angelegt haben, zeigt Warren Brown, When documents are destroyed or lost: lay people and archives in the early Middle Ages, in: Early Medieval Europe 11, 2002, S. 337–366. McKitterick ( wie Anm. 8 ); skeptisch dazu Mordek, Kapitularien und Schriftlichkeit ( wie Anm. 8 ) S. 61–65. Capitulare italicum ( wie Anm. 48 ); vgl. Buck ( wie Anm. 2 ) S. 222 f. Vgl. Mordek, Karolingische Kapitularien ( wie Anm. 5 ) S. 27: „Kapitularien erfüllen ja in der Tat nur zum Teil eine normative Funktion, andere regeln den Einzelfall, und ebenso wie auf die juristische und politische könnte man auf die bislang weniger beachtete religiöse Komponente vieler Kapitularien abheben …“.
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Zugleich ist aber fraglich, ob man annehmen muss, dass in jedem Falle auch ein in sich konsistenter Normtext verabschiedet, schriftlich fixiert und systematisch verbreitet wurde. Ist es zwingend notwendig, für 802 einen – heute verlorenen – Text zu postulieren, der ähnlich durchkomponiert war wie die ? Möglicherweise konnte ein großes politisches Reformwerk ohne einen derartigen Programmund Normtext auskommen. Den 802 produzierten capitula wäre dann freilich eine andere normative Funktion und auch ein anderer Geltungsanspruch zuzumessen als dem von 801 oder den Nachfolgeordnungen von 806 und 817: Ziel war es, für den populus christianus eine gottgefällige Ordnung auf Erden zu etablieren 89. In ihrer heute überlieferten Form sind die capitula Überreste der Aachener Beratungen der politischen Elite über die Frage, welche Punkte für eine solche umfassende, gottgewollte Ordnung wichtig waren. Diese Ordnung sollte aber offensichtlich nicht dadurch herbeigeführt und aufrechterhalten werden, dass Normen schriftlich fixiert wurden, deren Wortlaut dann als Basis dafür hätte dienen können, Konflikte zu entscheiden. In erster Linie sollte die Ordnung dadurch hergestellt und bewahrt werden, dass man die Menschen moralisch belehrte und besserte und zu Frieden und Eintracht aufrief – so dass Streit gar nicht erst entstand. Erst das erklärt, warum bisweilen bei der Sammlung von Normen, Anordnungen, Ermahnungen, Einzelfallregelungen, Lemmata usw. in Kapitelform der genaue Wortlaut weniger wichtiger erscheinen konnte als der gemeinte Inhalt 90. Die großen Kompilationen von capitula ( wie noch der späte Pariser Latinus 4613 ) dokumentierten handbuchartig diejenigen Bereiche, die zu beachten waren, wenn man den populus christianus zu einem gottgefälligen Leben anleiten wollte. Gerade aber weil diese Codices mehr waren als Gesetzbücher im engen, heutigen Sinne und eine andere Funktion für die Herstellung und Bewahrung sozialer Ordnung hatten, war der Geltungsanspruch der in ihnen formulierten capitula hoch.
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Vgl. dazu auch Mordek, Fränkische Kapitularien ( wie Anm. 5 ) S. 8; Johannes Fried, Karl der Große, die Artes liberales und die karolingische Renaissance, in: Butzer – Kerner – Oberschelp ( Hgg. ), Karl der Grosse ( wie Anm. 17 ) S. 25–43, hier S. 36–40. Dazu Mordek, Kapitularien und Schriftlichkeit ( wie Anm. 8 ) S. 37.
Rituale und Rechtsgewohnheiten im flämischen Lehnrecht des hohen Mittelalters
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DIRK HEIRBAUT
Rituale und Rechtsgewohnheiten im flämischen Lehnrecht des hohen Mittelalters 1. Das flämische Lehnrecht des hohen Mittelalters kennt keine fixierten Normen, S. 351. – 2. Ritual statt Schriftstück, S. 353. – 3. Die schriftlichen Quellen verengen die Rituale und ziehen the law in minds nicht in Betracht, S. 353. – 4. Das Ritual als Ausnahme und nicht als Norm, S. 356. – 5. Rechtsrituale und Rechtsregel ändern sich, S. 357. – 6. Man soll den juristischen Charakter der Rechtsregeln und Rechtsrituale immer im Auge behalten, S. 359. – 7. Rechtshistorische Studien sind wichtig, S. 360
1. DAS FLÄMISCHE LEHNRECHT DES HOHEN MITTELALTERS KENNT KEINE FIXIERTEN NORMEN
Sehr lange waren Historiker der Meinung, dass die Feudalität und das Chaos seit dem Zerfall des karolingischen Reiches, fast Synonyme waren. Heutzutage hat die Meinung sich jedoch größtenteils geändert. Die Feudalität sei sogar ein Element von Ordnung und Stabilität gewesen und das Lehnrecht sei in erster Linie von den Fürsten benutzt worden, um ihr Machtmonopol zu festigen, auszuweiten und aufrecht zu erhalten. Diese fürstliche, ordnungsorientierte Feudalität ist eng mit der Entstehung einer Staatsbürokratie verwoben. Dies führt zu dem Fazit, dass das Lehnrecht nur gut funktionieren kann, wenn es klare schriftliche Normen und Regeln gibt. Susan Reynolds hat dies zum Beispiel ganz deutlich in ihrem Buch „Fiefs and vassals“ bewiesen, in dem sie den beim Entstehen des Lehnrechts eine Schlüsselrolle zuordnet 1. In mehreren europäischen Regionen ist das Lehnrecht erst nach dem Entstehen eines bürokratischen Staates aufgetaucht, jedoch nicht in der Grafschaft Flandern. Hier entstand die Feudalität schon um das Jahr 1000; Verschriftlichung und Bürokratie dagegen traten erst im späten 13. Jahrhundert in Erscheinung 2. Deshalb fehlen in Flandern für die Jahre 1000–1250 die typischen Quellen der Lehnrechtsforschung. Es gibt kaum Lehngesetzgebung. Nur eine gräfliche lehnrechtliche Ordonnanz um 1250 ist nachweisbar. Den eigentliche Text jedoch gibt es nicht mehr und wir kennen diese Ordonnanz nur aus einigen Erwähnungen aus der Zeit um 1294–1297 3. Ebenso wenig verfügen wir über Texte von rechtsgelehrten Autoren. Die gehen immerhin bis 1276 zurück, aber es handelt sich dabei um zufällig überlie-
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Der Verfasser dankt Prof. Dr. Rik Opsommer, Ines Dartmann und Bart Quintelier für die Übersetzung ins Deutsche. Susan Reynolds, Fiefs and vassals. The medieval evidence reinterpreted, Oxford 1994. Dirk Heirbaut, Finding the sources of a non-bureaucratic feudalism: the case of Flanders during the High Middle Ages, in: Jean-François Nieus ( Hg. ), Le vassal, le fief et l’écrit, Brüssel 2008 ( im Druck ). Dirk Heirbaut, Thirteenth-century legislation on mortmain alienations in Flanders and its influence upon France and England, in: Andrew Lewis – Paul Brand – Paul Mitchell ( Hgg. ), Law in the city, Dublin 2007, S. 55–57, S. 70–71.
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Dirk Heirbaut
ferten Notizen von Privatpersonen für die eigene Verwendung bei den Lehnshöfen 4. Die wirklich typischen feudalen Quellen gibt es in Flandern ebenso wenig. Erst um 1290 wurden zum ersten Mal die gräflichen Lehen aufgelistet. Für die Lehen einiger flämischer Abteien gab es schon um 1275 solche Listen. Die ersten Belehnungsurkunden, Lehnsreverse und Lehnsanzeigen gibt es ab 1250, jedoch meistens in den Grenzbereichen der Grafschaft, oder bezüglich nicht-flämischer Vasallen 5. Dass das hochmittelalterliche flämische Lehnrecht kaum niedergeschrieben wurde, hat mehrere Gründe. Der wichtigste ist jedoch, dass man in rechtlichen Sachen die Schrift meistens nicht brauchte. Jeder Flame war, zusammen mit seinen Vasallen, verpflichtet dem Grafen zu dienen: der Feudaldienst konnte nicht abgekauft werden 6. Es war deshalb nicht notwendig schriftlich festzulegen, wie viele Männer jeder stellen sollte oder wie viel das Freikaufen vom Feudaldienst kostete. Um ein Lehen zu erwerben, war die Investitur durch den Lehnsherren oder dessen Stellvertreter notwendig 7. Diese Investitur geschah immer an einem Lehnshof wobei die anwesenden Lehnsmänner nachher als notwendige Zeugen auftraten 8. Eine schriftliche Urkunde der Investitur war deshalb überflüssig. Zusätzlich hatte der Graf Wilhelm Clito 1127 die gräflichen relevia, die Erbgebühren für Lehen, den Tempelrittern übereignet 9 und mehrere Lokalherren waren seinem Beispiel gefolgt 10. Die wichtigsten flämischen Lehnsherren brauchten also keine schriftlichen Quellen, um ihren relevia zu verwalten. Dies wurde den Tempelrittern überlassen 11.
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Dirk Heirbaut, The oldest part of the Lois des pers dou castel de Lille ( 1283–1308/1314 ) and the infancy of case law and law reporting on the continent, in: Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 75, 2007, S. 139–152. Heirbaut ( wie Anm. 2 ). Dirk Heirbaut, Flanders: a Pioneer of State-oriented Feudalism? Feudalism as an Instrument of Comital Power in Flanders during the High Middle Ages ( 1000–1300 ), in: Anthony Musson ( Hg. ), Expectations of the Law in the Middle Ages, Woodbridge 2001, S. 28–29. François-Louis Ganshof, Observations sur deux chartes intéressant l’histoire de la comtesse de Flandre et de sa cour au début du XIIIe siècle, in: Mélanges Edmond-René Labande. Études de civilisation médiévale, Poitiers 1975, S. 322–323 ( 1226 ); vgl. Leopold August Warnkönig, Flandrische Staatsund Rechtsgeschichte, Tübingen 1842, 3/2, Nr. 74, S. 140–141 ( 1211 ). Lille, Departementalarchiv Nord, B, 1250/1297 ( 1281 ); 12 H 2, Nr. LVII/67, fol. 65r-66r ( 1287 ). Actes des comtes de Flandre ( 1071–1128 ), hg. von Fernand Vercauteren, Brüssel 1938, Nr. 129, S. 302–303 ( 1127 ). S. auch: De oorkonden der graven van Vlaanderen ( Juli 1128–1191 ), 2/1, Regering van Diederik van de Elzas ( Juli 1128 – 17 Januar 1168 ), hg. von Thérèse De Hemptinne – Adriaan Verhulst, Brüssel 1988, Nr. 3, S. 18–19 ( 1128 ). Oorkonden der graven van Vlaanderen ( wie Anm. 9 ) 2/1, Nr. 3, S. 18–19 ( 1128 ); Monuments historiques. Cartons des rois, hg. von Jules Tardif, Paris 1866, S. 336 ( 1180 ); Cartulaire général de l’ordre du Temple ( 1119–1150 ), hg. von André d’Albon, Paris 1913, S. 11–12 ( 1228 ); Fiefs et feudataires de la Flandre maritime, hg. von Edmond De Coussemaker, in: Annales du Comité flamand de France 13, 1875–1877, S. 18 ( Ende des 13. Jahrhundert ); Mons, Reichsarchiv, Cartulaires, 64, Nr. 39, fol. 21v ( 1219 ). Mons, Reichsarchiv, Cartulaires, 64, nr. 137, fol. 83v-84v ( 1190 ); Paris, Archives nationales, S, 5207/7/6 ( 1365 ).
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2. RITUAL STATT SCHRIFTSTÜCK
Das flämische Lehnrecht stützte sich also auf Rituale. Der wichtigste Text eines lehnrechtlichen Rituals überhaupt ist in Flandern entstanden. Galbert von Brügge erwähnt in seinem Tagebuch, wie die flämischen Vasallen 1127 in Brügge dem flämischen Grafen Mannschaft und Treueid leisteten 12. Dieser Passus ist weltbekannt, und ist laut Robert Fossier schon mehr als hundert Mal veröffentlicht worden 13. Der Galbert-Passus und einige andere Quellen zeigen, dass das flämische Lehnrecht grundsätzlich nicht niedergeschrieben wurde, aber dass wir wenigstens anhand indirekter Quellen das flämische Lehnrecht kennen lernen können. Die Verwandlung komplexer lehnrechtlicher Rituale in einem schriftlichen Bericht damaliger Augenzeugen bietet jedoch viel Spielraum für Missverständnisse. 3. DIE SCHRIFTLICHEN QUELLEN VERENGEN DIE RITUALE UND ZIEHEN THE LAW IN MINDS NICHT IN BETRACHT.
Es fällt auf, dass die Augenzeugenberichte das Ritual oft verengen und dass viele formelle Elemente nicht erwähnt werden. Der Galbert-Passus ist eher die Ausnahme, die die Grundregel bestätigt. Die überlieferten Quellen bezüglich der Lehnsübertragungen bieten diesbezüglich ein gutes Beispiel. Jede Lehnsübertragung fand bei einem Lehnshof statt und ab und zu wurde eine solche Übertragung nachher in einer Urkunde niedergeschrieben. Was wir heute in diesen Urkunden finden, ist jedoch sehr divers. Nur das Grundprinzip ist immer gleich. Der Vasall gibt das Lehen nicht direkt seinem Nachfolger, sondern überreicht das Lehen zuerst dem Lehnsherrn ( Enterbung ). Nachher gibt der Lehnsherr es dem neuen Vasallen ( Einerbung ) 14. Sowohl für diese feudale Enterbung wie für die feudale Einerbung und ihre Rituale 15 finden wir in den Urkunden kein festes System. Manchmal trifft der Lehnshof einige Entscheidungen, manchmal nicht 16. Bisweilen wird sogar erwähnt, wie diese Entscheidungen in einer Art von Frage- und Antwortspiel zwischen dem Herrn ( oder dessen Vertreter ) und den Vasallen zu Stande kamen 17. Die notwendigen formellen Gesten werden mal erwähnt, aber manchmal auch nicht 18. Was genau gesagt worden ist, finden wir kaum 12
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Galbert von Brügge, De multro, traditione, et occisione gloriosi Karoli comitis Flandriarum, hg. von Jeff Rider ( CC Cont. Med. 131 ) Turnhout 1994, cap. 56, S. 105–106. Robert Fossier, Enfance de l’Europe, 1, Paris 1982, S. 443. Cartulaire de l’abbaye de Cambron, hg. von Joseph Jean De Smet, in: Monuments pour servir à l’histoire des provinces de Namur, de Hainaut et de Luxembourg, 2/1, Brüssel 1869, Nr. 32, S. 447 ( 1267 ); Cartulaire de l’abbaye d’Eename, hg. von Charles Piot, Brügge 1881, Nr. 317, S. 290–292 ( 1278 ). Z. B. rite et per legem ( De oorkonden van de Sint-Baafsabdij te Gent, hg. von Cyriel Vleeschouwers, 2, Brüssel 1990, Nr. 283, S. 306–307 [ 1244 ] ); fuerunt necessaria rite peractis ( Ebd., Nr. 345, S. 372–373 [ 1255 ] ). Chronique et cartulaire de l’abbaye de Hemelsdaele, hg. von Charles-Louis Carton – Fernand Van De Putte, Brügge 1858, Nr. 39, S. 73–74 ( 1257 ); Cartulaire de l’abbaye de Flines, hg. von Edouard Hautcoeur, Lille 1873, 1, Nr. 264, S. 284–287 ( 1288 ). Cronica et cartularium monasterii de Dunis, hg. von Fernand Van De Putte, Brügge 1864, 2, Nr. 465, S. 532–533 ( 1228 ); Chartes de l’abbaye de Saint-Martin de Tournai, hg. von Armand d’Herbomez, Brüssel 1901, 2, Nr. 680, S. 126–127 ( 1256 ). De oorkonden der graven van Vlaanderen ( 1191-aanvang 1206 ), hg. von Walter Prevenier, Brüssel 1964, 2, Nr. 280, S. 612–615 ( 1205 ); Aalst, Stadtarchiv, Marienspital Aalst, Oorkonden, 2 ( 1241 ).
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in den Urkunden 19. Teile des lehnrechtlichen Verfahrens wurden laut einigen Urkunden dreimal wiederholt, aber andere Urkunden sagen nichts darüber 20. Verschiedene Sachwörter wurden durcheinander angewandt 21. Fazit: Die Urkunden bringen kein klares oder uniformes Bild der Lehnsübereignungen. Man könnte deshalb geneigt sein zu denken, dass es in Flandern kein eindeutiges Lehnsübereignungsverfahren gab. Die Bedeutung der Urkunden soll jedoch relativiert werden. Sie hatten nur ein Ziel: sie sollten – falls notwendig – später beweisen, dass eine Übereignung stattgefunden hatte. Der Lehnsnehmer brauchte eigentlich keine Urkunde. Er war vor dem Lehnshof in ein Lehen eingeerbt worden und die anwesenden Vasallen konnten dies notfalls später bestätigen. Weiter brauchte der Vasall bei jedem Mann- oder Herrenfall eine neue Investitur, was einer Bestätigung seines Lehnsbesitzes gleichkam 22. Kirchliche Behörden, die ein Lehen als Allodium erwarben, brauchten dagegen eine Urkunde, da es nachher keine neue Lehnsinvestitur mehr geben würde, denn sie erhielten das ehemalige Lehen als Allodium 23. Aber auch in solchen Urkunden finden wir keine eindeutigen vollständigen Beschreibungen der Prozedur. Es reichte, wenn erwähnt wurde, alles sei gemäß dem Lehnsverfahren korrekt verlaufen 24. Die Übereignung konnte nachher nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Obwohl die Quellen auf eine chaotische Prozedur hindeuten, hat es in der Praxis ein ziemlich eindeutiges Verfahren gegeben. Wenn man alle Elemente aus den Quellen zusammenlegt, scheint es, als ob alle Beteiligten – der alte Lehnsmann, der neue Lehnsmann, der Lehnsherr und der Lehnshof – einem klaren Verfahren gefolgt sind, obwohl sie dieses Verfahren nachher nie vollständig in den Urkunden festgehalten haben. Wir sollten hier den vergleichenden Rechtswissenschaftler Ewald erwähnen. Dieser hat klargestellt, dass es nicht nur ein „law in action“ und ein „law in the books“ gibt, sondern auch ein , das der Praxis zuzuordnen ist, und welches nicht notwendig beschrieben worden ist 25. Selbstverständlich handelt es sich dabei um die Auffassungen der Lehnrechtsspezialisten, da diese das Lehnrecht kannten, genau 19
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Cartulaire de l’abbaye de Cambron ( wie Anm. 14 ) 2/2, Nr. 52, S. 474–478 ( 1287 ); Oorkonden van de Sint-Baafsabdij ( wie Anm. 15 ) 2, Nr. 200, S. 216–217 ( 1232 ). Chartes de l’abbaye de Saint-Martin de Tournai, hg. von Armand d’Herbomez, Brüssel 1898–1901, Nr. 14, S. 708–711 ( 1282 ); Histoire des châtelains de Tournai de la maison de Mortagne. Preuves, hg. von Armand d’Herbomez, in: Mémoires de la société historique et littéraire de Tournai 25, 1895, Nr. 52, S. 59–61 ( 1221 ). Oorkonden der graven van Vlaanderen ( wie Anm. 18 ) 2, Nr. 297, S. 642–643 ( 1205 ); Oorkonden van de Sint-Baafsabdij ( wie Anm. 15 ) 2, Nr. 219, S. 240–241 ( 1236 ). Chronique et cartulaire de l’abbaye de Bergues-Saint-Winoc, hg. von Alexandre Pruvost, Brügge 1875, 1, S. 219–220 ( 1231 ); Gent, Reichsarchiv, St. Petersabtei Gent, Charters, 659 ( 1258 ); Cartulaire de l’abbaye de Beaulieu, hg. von Amaury de Ghellinck-d’Elseghem, Brügge 1894, 1, Nr. 23, S. 35–40 ( 1295 ). Cartulaire de l’abbaye d’Afflighem et des monastères qui en dépendaient, hg. von Edgar De Marneffe, Löwen 1894–1901, Nr. 273, S. 358–359 ( 1213 ); Lille, Departementalarchiv Nord, 27 H, 9/112 ( 1227 ). Recueil des chartes du prieuré de Saint-Bertin à Poperinghe, et de ses dépendances à Bas-Warneston et à Couckelaere, hg. von Felix-Henri d’Hoop, Brügge 1870, Nr. 85, S. 89–91 ( 1249 ). William Ewald, Legal history and comparative law, in: Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 3, 1999, S. 556–557; Ders., Comparative jurisprudence ( I ): What was it like to try a rat?, in: University of Pennsylvania Law Review 143, 1995, S. 1889–2149; Ders., The jurisprudential approach to comparative law: A field guide to , in: American Journal of Comparative Law 46, 1998, S. 701–707.
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wussten, was stattzufinden hatte, was beim Lehnshof zu sagen und zu tun war. Schon die genaue Beschreibung im Galbertus-Passus erwähnt 1127 einen solchen Spezialisten. Wenn die flämischen Vasallen den Treueid leisten, wenden sie sich nicht an den Grafen, sondern an den prolocutor. Mehrere Historiker und Rechtshistoriker haben versucht, dieses etwas komische Verfahren zu deuten. Ganshof meinte, dieser prolocutor sei ein Dolmetscher gewesen 26. Die Vasallen aus der Brügger Region sprachen einen westflämischen Dialekt, den der aus der Normandie stammende Graf Wilhelm Clito, Enkel von Wilhelm dem Eroberer, keineswegs verstehen konnte. Diese Behauptung kann man widerlegen. Wilhelm war als Kind nicht in der Normandie, sondern im flämischen Brügge aufgewachsen 27. Weiter sprach er während der genannten Prozedur selbst zuerst mit dem Vasallen, also noch bevor der Vasall sich dem prolocutor zuwandte. Dies alles deutet drauf hin, dass er keineswegs einen Dolmetscher brauchte. Übrigens musste Wilhelm Clito das flämische Huld- und Treueidverfahren kennen. Er hatte es zuvor in anderen flämischsprachigen Orten schon mehrmals miterlebt, und auch in Brügge dauerte die ganze Veranstaltung drei Tage 28. Die Situation war für die flämischen Vasallen jedoch ganz anders. Vielen hatten damals nur einen Lehnsherren, also den Grafen 29. Die Mannschafts- und Treueidleistung war für diese Vasallen also ein wichtiges und einzigartiges Geschehen. Sie waren also höchstwahrscheinlich ein wenig nervös und daher ganz zufrieden, wenn ein Lehnrechtsspezialist ihnen die genaue Eidesformel vorsprach. Dies alles führt uns zu der Feststellung, dass es schon 1127 Lehnrechtsspezialisten gab. Dieser Befund wird auch durch eine Urkunde aus dem Jahre 1122 bestätigt 30. Die Spezialisten waren nicht nur Garanten für reibungslose Lehnshofverfahren, sondern sorgten für ein weitgehend einheitliches flämisches Lehnrecht. Rechtshistoriker haben die Aufgabe, das, was diese Lehnrechtsspezialisten in ihren Köpfen aufbewahrten, zu rekonstruieren. Sie sollten dieses an die Oberfläche bringen, das Lehnrecht beschreiben, so wie diese Leute es niedergeschrieben hätten, wenn sie es beschrieben hätten 31. Die in den Quellen benutzte Terminologie erschwert diese Aufgabe jedoch. Die lateinischen Quellen verwenden verschiedene Wörter für eine einzige Handlung. Dagegen findet man im Altfranzösischen oder Mittelniederländischen meist nur ein einziges klares Wort. Zum Beispiel, wenn ein Vasall bei der Übereignung das Lehen seinem Herren übermittelt, heißt es auf Latein entweder donare 32, reddere 33, reportare 34, 26 27 28 29 30
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François-Louis Ganshof, Qu’est-ce que la féodalité?, Paris 1982, S. 117 Anm. 5. Galbert von Brügge, cap. 52, S. 101–102. Galbert von Brügge, cap. 55–56, S. 103–106. Vgl. Galbert von Brügge, cap. 100, S. 146–147. Actes des comtes de Flandre ( wie Anm. 9 ) Nr. 108, S. 247–251. S. auch: Dirk Heirbaut, The precursors of the earliest law reports on the continent as sources about the spokesmen, the forgotten legal experts of customary law ( vorläufige Version: http://www.law.harvard.edu/programs/ames_foundation/BLHC07/Heirbaut%20oxford2007tekvoo.pdf ). Dirk Heirbaut, A tale of two legal histories, in: Dag Michalsen ( Hg. ), Reading past legal texts, Oslo 2006, S. 104–105. Cartulaire de l’ancienne église collégiale de Notre-Dame de Courtrai, hg. von Charles Mussely – Emile Molitor, Gent 1880, Nr. 125, S. 133–134 ( 1267 ). Cartulaire de l’église collégiale de Saint-Pierre de Lille, hg. von Edouard Hautcoeur, Lille 1894, 1, Nr. 91, S. 93 ( 1210 ).
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resignare 35 oder transferre 36, im Altfranzösischen jedoch nur raporter 37 oder im Mittelniederländischen nur draghen 38. Dies alles bedeutet, dass die Lehnrechtsspezialisten, im Gegensatz zu den Klerikern, ganz klar über eine einzigartige klare eindeutige Terminologie verfügten. 4. DAS RITUAL ALS AUSNAHME UND NICHT ALS NORM
Es besteht immer die Gefahr, dass man ein einmalig erwähntes Beispiel für die Norm hält, obwohl vielleicht gerade dieses Beispiel eine Ausnahme bildet. Nehmen wir etwa die Treuaufsage oder diffiduciatio. Ganshof erwähnt diese Möglichkeit für den Vasallen auf Grund einer schweren Vertragsverletzung. Weiter meint er, es habe für die diffiduciatio sogar ein Spezialverfahren gegeben, die sogenannte effestucatio oder das symbolische Hinwerfen eines Strohhalms 39. Marc Bloch hat der difiduciatio sogar einen Aufsatz gewidmet 40. Wenn man die Ganshofschen und Blochschen Äußerungen näher anschaut, stellt man jedoch fest, dass Ganshof alle seine Beispiele und Bloch mehr als die Hälfte seiner Beispiele Galbert von Brügge entnommen hat. Wenn man alle anderen flämischen hochmittelalterlichen Lehnrechtsquellen liest, findet man dort kaum eine Erwähnung der diffiduciatio. Das Verb diffiduciare findet man nur einmal bei Walter von Thérouanne 41, und das Wort diffiduciatio findet man sogar nie. Übrigens, auch außerhalb Flanderns hat es die diffiduciatio kaum gegeben 42. Die erwähnten diffiduciationes in Flandern um 1127–1128 sind eigentlich Ausnahmefälle, weil es um diese Zeit in der Grafschaft einen Bürgerkrieg gab 43. Die diffiduciatio ist und bleibt also ein Sonderfall. Hingegen ist die effestucatio lehnrechtlich etwas Gangbares. Wie bereits erwähnt, muss der frühere Vasall sich bei jeder Lehnsübereignung <enterben>, und dafür ist die effestucatio eine absolute Notwendigkeit. Man kann also die Geschehnisse aus den Revolutionsjahren 1127–1128 einschätzen. Ein Vasall will etwas Revolutionäres machen, nämlich den Vertrag mit dem Lehnsherren beenden. Um der Angst vor dieser ungewohnten neuen Situation zu begegnen, gibt es eine Flucht in die bekannte Formel der effestucatio. Das Alte, Vertraute ( die effestucatio ) mildert und ermöglicht also das Neue und Revolutionäre ( die diffiduciatio ). Es bekommt also einen ganz anderen Inhalt. Bei der normalen effestucatio hat der Vasall im Endergebnis auch das Lehen einem anderen übermittelt. Bei dieser revolutionären effestucatio behält der 34 35 36 37 38
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Histoire des châtelains de Tournai ( wie Anm. 20 ) Nr. 63, S. 70–71 ( 1239 ). Oorkonden van de Sint-Baafsabdij ( wie Anm. 15 ) 2, Nr. 397, S. 428–429 ( 1262 ). Cartulaire de Notre-Dame ( wie Anm. 32 ) Nr. 125, S. 133–134 ( 1267 ). Cartulaire de l’abbaye d’Eename ( wie Anm. 14 ) Nr. 317, S. 290–292 ( 1278 ). Corpus van Middelnederlandse teksten ( tot en met het jaar 1300 ), hg. von Maurits Gysseling, 1/1–4, Den Haag 1977, 1/2, Nr. 855, S. 1371 ( 1289 ). Ganshof, Féodalité ( wie Anm. 26 ) S. 157 f. Marc Bloch, Les formes de la rupture de l’hommage dans l’ancien droit féodal, in: Revue historique de droit français et étranger 36, 1912, S. 141–177. Walter von Thérouanne, Vita Karoli comitis Flandrie et vita domni Ioannis Morinensis episcopi, hg. von Jeff Rider ( CC Cont. Med. 217 ) Turnhout 2006, cap. 53, S. 76. Vgl. Donald Kagay, The Iberian diffidamentum: from vassalic defiance to the Code duello, in: Donald J. Kagay – L. J. Andrew Villalon ( Hg. ), The final argument. The imprint of violence on society in medieval and early modern Europe, Woodbridge 1998, S. 73–82. Zu einem späteren Ausnahmefall, s. Warnkönig ( wie Anm. 7 ) 3/2, Nr. 132, S. 210–211 ( 1229 ).
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Vasall sein Lehen und hat nur die Mannschaftsfolge und den Treueid verworfen 44. Ein zweites Element deutet auf den ungewöhnlichen Charakter der diffiduciatio aus den Jahren 1127–1128 hin. Sie findet mittels eines Stellvertreters statt, obwohl damals die Vertretung eines Vasallen im flämischen Lehnrecht nicht angewandt wurde. Es gibt gerade im 13. Jahrhundert nur zwei bekannte Ausnahmefälle: Eleonore von Kastilien, Königin von England 45, und Philipp von Courtenay, Titularkaiser von Konstantinopel 46. Es ist also interessant festzustellen, dass ein Ausnahmefall aus der Grafschaft Flandern zur Norm des europäischen Lehnrechts erhoben wurde. Galbert von Brügge erwähnt noch andere Rituale, die auf eine neue revolutionäre Situation übertragen wurden. Er erwähnt mehrmals, dass die mächtigen flämischen Städte und ihre Einwohner dem Grafen oder einem Prätendenten Mannschaft und Treueid leisteten. Auch dies ist nicht die Grundregel, da eigentlich nur die Vasallen Mannschaft leisteten. Dies geschah zum ersten Mal, als der Prätendent Wilhelm von Ypern die in Ypern tätigen Händler aufforderte, ihm Mannschaft und Treueid zu leisten. Er hoffte mit diesem Vorgehen seine Position zu stärken, aber es gab kaum Enthusiasmus, da Wilhelm ein uneheliches Kind war, und nur nachdem er einige Leute in Geiselhaft nahm, wurden die geforderten Eide geleistet 47. Später sind andere Prätendenten seinem Beispiel gefolgt und die Städte haben solche Verpflichtungen selbst voran getrieben, weil sie so behaupten konnten, sie seien den Vasallen gleich gestellt 48. Sie sagten einfach, diese Untertanenmannschaft gehöre zu den alten Sitten der Grafschaft, aber nur das Ritual war alt, die Art und Weise, in der die Städte es benutzten, war ganz neu 49. Wie neu es war, sieht man auch bei der effestucatio. Es wäre ganz logisch gewesen, hätten die Städte, da sie jetzt auch Mannschaft leisteten und eine vasallengleiche Position behaupteten, auch die revolutionäre effestucatio übernommen, um ihre Bindung an den Grafen zu beenden. Aber nur Gent, die mächtigste und auch widerspenstigste Stadt, hat das gemacht 50. 5. RECHTSRITUALE UND RECHTSREGEL ÄNDERN SICH
Selbstverständlich können wir im Laufe der Jahre bei den verwendeten Ritualen Änderungen feststellen. Nehmen wir die Mannschaftsfolge, die Lehnshulde und die Investitur, wie sie von Galbert beschrieben worden sind. Die Mannschaft umfasste drei Elemente: eine Willenserklärung, eine Handbewegung und einen Kuss. Diesen gibt es normalerweise nach 1128 nicht mehr 51. Die Lehnshulde umfasste das Verspre44 45
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Galbert von Brügge. cap. 38, S. 87–88. Genealogia comitum Flandriae, Probationes, hg. von Olivarius Vredius, Brügge, 1642, S. 100–101 ( 1280 ). Jean Bovesse, Notes sur Harelbeke et Biervliet dans le cadre de l’histoire des Maisons de Namur et de France, in: Handelingen van de koninklijke commissie voor geschiedenis 150, 1984, Nr. 3, S. 469–470. Galbert von Brügge, cap. 20, S. 47–49; cap. 25, S. 59–63. Galbert von Brügge, cap. 54–55, S. 102–105; cap. 66, S. 118–119; cap. 94, S. 141; cap. 101–103, S. 147–149; cap. 122, S. 169. Vgl. Giselbert von Mons, Chronicon Hanoniense, hg. von Léon Vanderkindere, Brüssel 1904, cap. 5, S. 6. Galbert von Brügge, cap. 95, S. 143. Rik Opsommer, Omme dat leengoed es thoochste dinc van der weerelt. Het leenrecht in Vlaanderen in de 14de en 15de eeuw, Brüssel 1995, 2, S. 649–650.
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chen, dem Herrn Treue zu halten, was noch durch eine Eidesleistung bekräftigt wurde. Das Versprechen ist jedoch schon im 13. Jahrhundert verschwunden 52. Die Lehnsinvestitur fand ursprünglich am Ende der ganzen Prozedur statt, rückte jedoch im Spätmittelalter an den Anfang des Verfahrens 53. Solche Änderungen gibt es auch bei den Lehnsübereignungen. Im hohen Mittelalter wurde bei der Übereignung eines Teils eines Lehens nur dieser Teil dem Herrn übermittelt, der es dann an den neuen Vasallen weiter leitete 54. Am Ende des Mittelalters gibt es ein ganz anderes Verfahren. Der Vasall gibt dem Herrn das ganze Lehen. Letzterer spaltet es und gibt dem alten Vasall sowie dem neuen Vasall ihren Teil des Lehens 55. Das Ritual ändert sich, obwohl die Texte erwähnen, alles sei laut einem alten Verfahren gelaufen. Diese Änderungen sind möglich, weil es keine älteren Texte gibt, die beweisen, dass das Ritual früher anders ablief. Sogar Lehnrechtregeln können sich grundsätzlich ändern. Das Lehnserbrecht bietet ein gutes Beispiel. Der europäische Erbrechtsspezialist Meyers meinte, das Flämische Lehnserbrecht sei sehr stabil und konservativ gewesen 56, aber die Realität war ganz anders. Beim Auftauchen des Lehnserbrechts in Flandern um das Jahr 1000 gab es in der Praxis kaum Schwierigkeiten. Der Erblasser hatte meistens viele Güter: Lehen und Nicht-Lehen. Der älteste Sohn bekam alle Lehen und ein Teil der Nicht-Feudalgüter. Der Rest der Nicht-Feudalgüter kam den anderen Kindern zugute. Wenn der neue Vasall starb, bekam sein ältester Sohn erneut alle Lehen, er und die anderen Erben teilten die Nicht-Feudalgüter, aber davon gab es natürlich weniger als in der vorherigen Generation. Wird dieses System einige Generationen angewandt, dann bekommen die jüngeren Söhne kaum noch etwas. Das Lehnrecht brauchte also eine Anpassung, damit die jüngeren Kinder nicht leer ausgingen. Diese Änderung taucht in Flandern um 1150 auf. Es heißt, der Älteste sei dazu verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, so dass die jüngeren Kinder nicht leer ausgehen. Es gibt also zuerst eine sehr offene, eher unbestimmte Norm. 1244 aber haben die flämischen Grafen die Lehnssachen zum größten Teil ihren Kastellanei-Lehnshöfen übermittelt. Diese Lehnshöfe benutzten am Anfang noch die ältere offene Norm. Am Ende des 13. Jahrhunderts jedoch wird bei diesen Kastellanei-Lehnshöfen schon eine mehr konkrete Rechtsregel angewandt. Die jüngeren Erben bekamen einen genau festgesetzten Teil der Erbschaft: ein Fünftel oder ein Drittel, wobei es noch mehrere Variationen gab. Später wurde dieses Prinzip noch weiter entwickelt 57. In Lille zum Beispiel bekamen die jüngeren Kinder zusammen ein Fünftel der Lehen, jedoch konnte
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Nachweisbar noch in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts: Cartulaire de l’abbaye de Cysoing et de ses dépendances ( 867-XVIIe s. ), hg. von Ignace De Coussemaker, Lille 1883, 1, Nr. 21, S. 26–27 ( 1160 ). Opsommer ( wie Anm. 51 ) 2, S. 643. Actes originaux rédigés en français dans la partie flamingante du comté de Flandre ( 1250–1350 ). Étude linguistique, hg. von Reine Mantou, Löwen 1972, Nr. 14, S. 18–20 ( 1258 ); Cartulaire de l’abbaye de Flines ( wie Anm. 16 ), 1, Nr. 276, S. 297–298 ( 1289 ). Opsommer ( wie Anm. 51 ) 2, S. 511–513. Vgl. Eduard Maurits Meijers, Het Ligurische erfrecht in de Nederlanden, 2, Haarlem 1932, 30. Dirk Heirbaut, Over lenen en families. Het zakelijk leenrecht in Vlaanderen, ca. 1000–1305. Een studie over de vroegste geschiedenis van het leenrecht in het graafschap Vlaanderen, Brüssel 2000, S. 70–87.
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das Lehen ursprünglich nur einmal um ein Fünftel verringert werden 58. Diese Beschränkung wurde nach einigen Jahren jedoch gestrichen 59. Innerhalb weniger Jahre hat es also bei dem Liller Kastellanei-Lehnshof drei Regelungen gegeben. Die finden wir sogar in einer Quelle, in den schon erwähnten . Wenn man die genaue Entstehungsgeschichte dieser Quelle nicht kennt 60, könnte man also zu dem falschen Ergebnis kommen, dass in Lille drei Erbfolgeregelungen durcheinander angewandt worden seien und dass es dort kein einheitliches Rechtssystem gegeben habe. Man muss also unbedingt die verschiedenen chronologischen Abschnitte der Quelle aufdecken, um festzustellen, dass es sich letztendlich um erbrechtlich logisch zu erklärende Änderungen handelt. Dass es bei jeder Generation andere Rechtsregeln und Rituale geben kann, führt zu dem Ergebnis, dass der Rechtshistoriker nie eine hundertprozentige Sicherheit bekommen kann. Findet er eine Rechtsregel oder ein Ritual in einer normalen Situation – also nicht während eines Ausnahmezustands wie Krieg oder Revolution – dann kann er die Regel oder das Ritual nur als für die damalige Generation gebräuchlich einstufen. 6. MAN SOLL DEN JURISTISCHEN CHARAKTER DER RECHTSREGELN UND RECHTSRITUALE IMMER IM AUGE BEHALTEN.
Es geschieht des Öfteren, dass Historiker und Rechtshistoriker die juristischen Eigenschaften einer Handlung bewusst oder unbewusst falsch interpretieren oder sogar ausklammern. Abermals liefert Galbert von Brügge ein exzellentes Beispiel. Jacques le Goff hat ganz klar bewiesen, dass der Galbert-Passus nicht nur juristische Elemente umfasste 61. Er beschreibt zum Beispiel die Mannschaft und er erwähnt, dass es dabei eine immixtion manuum ( die Hände des Lehnsherrn und des Vasallen werden zusammengelegt ) sowie einen Kuss gegeben habe. Beim ersten Teil hat der Vasall gekniet – dies sollte die Unterwerfung anschaulich machen; beim zweiten stand der Vasall – der Lehnsherr und der Vasall stehen schon auf der gleichen Ebene. Diese Theorie hört sich gut an, sie ist jedoch absolut falsch. Nirgendwo findet man, dass der Vasall gekniet hat. Und auch in anderen Flämischen Quellen wird erwähnt, dass der Vasall bei der immixtio imanuum aufrecht gestanden hat 62. Es gibt noch ein weiteres interessantes rechtshistorisches Beispiel, bei dem man oft den juristischen Hintergrund aus dem Auge verloren hat. Es handelt sich um das Verfahren, bei dem eine Person etwas schenkt und von dem Empfänger eine Geldsumme als Gegengabe bekommt. Man wundert sich, warum ein solches Verfahren nicht einfach als ein Kauf bezeichnet wird. Der französische Anthropologe Marcel Mauss liefert uns eine Antwort. Er kritisiert die Juristen, aus einer Schenkung eine 58
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Les lois, enquêtes et jugements des pairs du castel de Lille. Recueil des coutumes, conseils et jugements du tribunal de la Salle de Lille, 1283–1406, hg. von Raymond Monier, Lille 1937, Nr. 20, S. 30 ( Ende des 13. Jahrhunderts ). Ebd. Nr. 85, S. 62 ( Mitte des 14. Jahrhunderts ). Vgl. dazu Heirbaut, Oldest part ( wie Anm. 4 ) 139–152. Jacques Le Goff, Les gestes symboliques dans la vie sociale. Les gestes de la vassalité, in: Symboli e symbologia nell’alto medioevo ( Settimane di studio 23/2 ) Spoleto 1976, S. 706–707. Leenrechten van Vlaanderen, hg. von Louis Gilliodts-Van Severen, Coutume du Bourg de Bruges, 3, Brüssel, 1885, art. 106, S. 258.
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Übereignung ohne finanzielle Gegenleistung gemacht zu haben. Eine Schenkung ist laut Mauss jedoch ein viel komplexeres Sozialgeschehen. Eine Schenkung gehört zum allgemeinen Austausch von Gütern, von Leistungen, von Unterstützung, von Schutz usw., die es über Jahrhunderte zwischen Familien oder Gruppen gegeben hat. Eine Schenkung ist also nur eine Momentaufnahme innerhalb eines viel langfristigeren Geschehens 63. Jeder Jurist sollte also die Mausssche Theorie einmal näher betrachten, weil die klassische juristische Auffassung einer Schenkung viel zu eng ist, niemand – mit Ausnahme von Geisteskranken – schenke etwas umsonst. Auch das französische Recht des 18. und 19. Jahrhundert war dieser Meinung und hat versucht, die Schenkungsmöglichkeiten einzuschränken. Der französischer Code Civil zum Beispiel fordert für jede Schenkung ausdrücklich eine notarielle Urkunde 64. Die Anthropologie erklärt etwas, das nicht ganz logisch ist. Tatsache ist, dass eine Schenkung immerhin ein juristisches Geschehen ist. Man sollte immer den juristischen Aspekt im Auge behalten. Wenden wir uns erneut der Gegengabe zu. Im Mittelalter hat manche Person der Kirche ein Grundstück geschenkt und als Gegengabe Geld bekommen. Es handelt sich jedoch nicht um zwei Wertsachen, die gegeneinander ausgetauscht werden. Die Gegengabe ist nicht das Gegenstück zur Schenkung. Sie ist ein Preis, den man bezahlt, um das geschenkte Gut zu schützen. Bei einer Schenkung war der Geber nicht mehr zur Sicherung des Gutes verpflichtet. Im Normalfall gab es hier keine Probleme, da der Herr für den Schutz sorgte 65. Es gab jedoch ein Problem, wenn eine Kirche ein Grundstück als Allodium bekam und es somit nachher keinen Herrn mehr gab. Um den Schutz trotzdem ( vom Geber ) zu bekommen, musste man bezahlen und daher wurde eine Geldsumme als Gegengabe übermittelt. Letztere ist dann der Gegenwert des Schutzes und nicht der Schenkung 66. Fazit: Juristische Regeln und Rituale gehören zu einer komplexen sozialen Realität, aber man sollte dabei nicht vergessen, dass sie auch oder vielleicht zuerst dem Recht untergeordnet sind. 7. RECHTSHISTORISCHE STUDIEN SIND WICHTIG
Das flämische hochmittelalterliche Lehnrecht war ein ungeschriebenes Recht. Daher ist es schwierig, dieses Recht aus den Quellen herauszulesen. Da dieses Recht nicht aufgezeichnet wurde, konnte es einfach geändert werden und es besteht somit die Gefahr, dass man eine Ausnahmesituation als den Normalfall einstuft. Der Rechtshistoriker hat die Aufgabe, dieses orale Recht trotzdem schriftlich fixieren. Es ist ihm klar, dass er bestenfalls nur das rekonstruieren kann und dass andere Historiker nachher seine Arbeit vervollständigen müssen. Diese sollten jedoch auch ein bisschen wie ein Jurist denken. Juristen denken nicht mehr, dass jedes Recht in den Gesetzestexten und den Handbüchern steht. Historiker haben trotzdem noch immer den Eindruck, dass die Juristen weiterhin meinen, dass Recht nur aus absoluten Regeln
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Stephen D. White, Custom, kinship and gifts to saints. The laudatio parentum in Western France, 1050–1150, Chapel Hill 1988; Arnoud-Jan Bijsterveld, Do ut des: gift giving, memoria, and conflict management in the medieval Low Countries, Hilversum 2007. Art. 931. Heirbaut, Lenen ( wie Anm. 57 ) S. 30–34. Vgl. Jean Yver, Les contrats dans le très ancien droit normand ( XI–XIIIe siècle ), Caen 1926, S. 39–41.
Rituale und Rechtsgewohnheiten im flämischen Lehnrecht des hohen Mittelalters
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bestünde, die ohne Beschränkungen angewandt werden. Für Juristen sind Rechtsregeln jedoch hilfreich, um die Realität des Rechts zu erfassen, sie sind aber nicht mit dieser Realität gleichzustellen. Das gilt auch für rechtshistorische Arbeiten. Die Rechtsgeschichte ist keine Dogmatik. Sie ist nur ein Rahmen für eine viel flexiblere Realität. Fazit: Jede rechtshistorische Arbeit ist relativ einzustufen, auch dieser Text.
König Artus auf dem Schandkarren
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CHRISTIANE WITTHÖFT
König Artus auf dem Schandkarren oder: Die Wandelbarkeit von Normen und Rechtsgewohnheiten im Verbindlichkeit einer Rechtsgewohnheit, S. 364. – Destabilisierung, S. 369. – Umnormierung und neue Legitimation, S. 371. – Formalismus am Artushof und die Verlagerung wertsetzender Autoritäten, S. 374. – Gewohnheiten und Normen im Wandel, S. 377.
Im literarischen Minnedienst sind spektakuläre Formen der Selbsterniedrigung nichts Ungewöhnliches. So wird im -Roman Chrétiens die Fahrt des ritterlichen Helden auf einem Schandkarren, der für verurteilte Diebe und Mörder vorgesehen ist, als signifikantes Zeichen der Unterwerfung unter den Willen der Minneherrin Ginover verstanden. Das kurze Zögern Lancelots, den Karren zu besteigen und seine Ehre in Schande zu verwandeln, wird im Minnediskurs ausdrücklich getadelt. Wenn die Liebe befiehlt, sollen Vernunft und Ehrgefühl schweigen: Que de la honte ne li chaut / Puis qu’amors le comande et viaut ( V. 380 f. ) 1. Im aber, einer um 1250 entstandenen mittelhochdeutschen Übersetzung des altfranzösischen , welche den chrétienschen Karrenritt aufgreift, ist diese Lesart nicht mehr so eindeutig 2. Nachdem Lancelot den Schandkarren bestiegen hat, führt die Karrenfahrt in andere Erzählzusammenhänge 3. Der vermeintlich selbstlose Minnedienst ist zugleich ein 1
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Gemäß dieser Maxime weist Ginover ihren Befreier zunächst ab, verweigert ihm ihren Gruß und ihre Gesellschaft: Mout a grant anviz i monastes / Quant vos demorastes deus pas ( V. 4504 f. ). Hier und im Folgenden zitiert nach Chrestien de Troyes, Lancelot, übers. und eingeleitet von Helga Jauss-Meyer ( Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 13 ) München 1974. Zu einem grundlegenderen Vergleich beider Texte s. Walter Haug, „Das Land, von welchem niemand wiederkehrt“. Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chrétiens , im Ulrichs von Zatzikhoven und im -Prosaroman ( Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 21 ) Tübingen 1978, bes. S. 72 ff.; Monika Unzeitig-Herzog, Jungfrauen und Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiurewelt im Prosalancelot ( Beiträge zur älteren Literaturgeschichte ) Heidelberg 1990, S. 21–61; Elisabeth Schmid, Vers und Prosa. Die Erzählmanier in der Karrenritterepisode, in: Klaus Ridder – Christoph Huber ( Hgg. ), Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen 2007, S. 105–120, bes. S. 109 ff.; sowie Ernst Herbert Soudek, The Cart-Episode: Evolution of an Arthurian Incident from Chrétien’s through the Old French Prose , the Middle High German Prose , to Malory’s <Morte Darthur>, Ann Arbor ( Michigan ) 1969, bes. S. 94 ff. Vgl. Hans Fromm, Zur Karrenritter-Episode im . Struktur und Geschichte, in: Dietrich Huschenbett u. a. ( Hgg. ), Medium aevum deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Festschrift für Kurt Ruh zum 65. Geburtstag, Tübingen 1979, S. 69–97, S. 86 ff; Cornelia Reil, Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen ProsaLancelot ( Hermaea. N. F. 78 ) Tübingen 1996, S. 45 ff.; sowie Michèle Remakel, Rittertum zwischen Minne und Gral. Untersuchungen zum mittelhochdeutschen ‚Prosa-Lancelot‘ ( Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 42 ) Frankfurt a. M. 1995, S. 52 ff.
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sehr selbstbewusster Akt der Überschreitung und Neubewertung eines zunächst verbindlich geltenden Rechtsbrauchs 4. Die kollektiven Ehrvorstellungen kollidieren mit subjektiven und werden so einer normativen Prüfung unterzogen. Im Unterschied zu Chrétien wird um 1250 der Ritt auf dem Karren mit wechselnder Besetzung mehrfach wiederholt. Zwei weitere Karrenritter tragen die Normdiskussion um êre und schande an den Artushof. Im vermeintlichen Zentrum der Normwahrung kommt es durch mehrfache Adaption zu einer Umbewertung des Rechtsbrauchs und zu einer neuen Legitimation des Schandkarrens. Dieser dient letztlich nicht mehr zur Entehrung sondern zur Ehrung. Die Rechtsgewohnheit wird destabilisiert, aufgelöst und schließlich umnormiert: Schritt für Schritt wird vorgeführt, wie sie ihre objektiv-normative Wirkung verliert, während der Artushof in einem formalistischen ( Rechts- )Denken verharrt. Die Karrenritterepisode ist also ein erzählerischer Mikrokosmos für die Spielarten des Umgangs mit Rechtsgewohnheiten und den damit einhergehenden Normen. Die Karrenfahrt Lancelots löst an der entscheidenden Gelenkstelle des monumentalen Werkes eine Aventiurekette aus, an deren Ende das Normzentrum vorübergehend ein anderes ist. In der werden die religiösen Gesetze des Grals und nicht mehr die ritterlich-höfischen des Artushofes dem Verhalten der Protagonisten zugrunde liegen 5. Der aufwändig inszenierte Rechtswandel ist daher zugleich auch ein Wendepunkt in der Normwelt des Textes. VERBINDLICHKEIT EINER RECHTSGEWOHNHEIT
Wie alle Artusromane wird auch der durch Gebräuche und Gewohnheiten ( costume ) strukturiert, deren Verbindlichkeit in ihren jeweiligen Handlungszusammenhängen nicht in Frage gestellt wird 6. Bei der Karrenfahrt handelt es 4
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Zur Wandelbarkeit bzw. Verbindlichkeit von Rechtsgewohnheiten im Mittelalter vgl. Karl Kroeschell, Der Rechtsbegriff der Rechtsgeschichte. Das Beispiel des Mittelalters, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 111, 1994, S. 310–329; Gerhard Dilcher, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, in: Ders. u. a. ( Hgg. ), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter ( Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 6 ) Berlin 1992, S. 21–66, bes. S. 29 ff.; Bernd Kannowski, Rechtsbegriffe im Mittelalter. Stand der Diskussion, in: Ders. – Albrecht Cordes ( Hgg. ), Rechtsbegriffe im Mittelalter ( Rechtshistorische Reihe 262 ) Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 1–28, S. 6; sowie Jürgen Weitzel, Der Grund des Rechts in Gewohnheit und Herkommen, in: Dietmar Willoweit ( Hg. ), Die Begründung des Rechts als historisches Problem ( Schriften des Historischen Kollegs 45 ) München 2000, S. 138–152. Vgl. Hans-Hugo Steinhoff, Artusrittertum und Gralsheld. Zur Bewertung des höfischen Rittertums im Prosa-Lancelot, in: Harald Scholler ( Hg. ), The Epic in Medieval Society. Aesthetic and Moral Values, Tübingen 1977, S. 271–289, S. 280; Peter Utz, Lancelot und Parzival. Zur Klosterepisode im des mhd. Prosa-Lancelot, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 101, 1979, S. 369–384, bes. S. 377 ff.; sowie Christoph Huber, Von der zum . Zum Einheitsproblem des , in: Walter Haug – Burghart Wachinger ( Hgg. ), Positionen des Romans im späten Mittelalter ( Fortuna Vitrea 1 ) Tübingen 1991, S. 21–38, bes. S. 22 ff. Vgl. Erich Köhler, Die Rolle des ( costume ) in den Romanen des Chrétien de Troyes, in: Ders., Trobadorlyrik und höfischer Roman. Aufsätze zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters ( Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 15 ) Berlin 1962, S. 205–223, S. 205 f. u. S. 212. „Sie [ die ungeschriebene Norm, costumes, Bräuche ] werden nie als willkürlich oder unverbindlich
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sich aber um einen Rechtsbrauch, der sich von anderen textinternen Sitten und Gebräuchen abhebt und in seiner Funktion für die Erzählstruktur singulär ist 7. Der Ritt auf dem Karren ist Teil einer alten überlieferten Gewohnheit, die der Öffentlichkeit offenbart, dass derjenige, der auf dem Schandkarren sitzt, eines schändlichen Vergehens schuldig ist. Es handelt sich um eine pragmatische sitt, für die es im Roman eine geradezu „kulturhistorische Erklärung“ gibt 8: Jede Stadt, selbst die größte, besitzt nur einen Karren dieser Art, auf dem Delinquenten, verurteilte Diebe und Mörder so entehrend wie möglich zum Ort der Urteilsvollstreckung geführt werden. In seiner Funktion lässt sich der Karren also mit einem <mobilen> Pranger vergleichen, denn der Brauch zielt auf die öffentliche Bloßstellung des Delinquenten. Durch die Fahrt ist man als Verurteilter und somit Entehrter stigmatisiert: Da was sitt, das kein man off eim karch geseßen hett, er hett in allen höfen sin ere darumb verlorn; und welchem man sin ere nemen wolt, den saczt man uff ein karch und furt yn durch die statt dannen er was, so hett er ummer me sin ere verlorn. Auch was zu den ziten kein so große stat da men karren yn weren dan einer ( II 328, 20–25 ) 9. In den Erzählzusammenhängen der Karrenritterepisode wird der Karren recht unterschiedlich als „Symbol für den krisenhaften Zustand, in dem sich die Artusgesellschaft befindet“ 10, allgemeiner als „Symbol ritterlicher Demut“ oder als „Sinnbild des durch die Sünde gefallenen Menschen“ gedeutet 11. Zuvörderst handelt es sich aber um ein Rechtssymbol und soll auch als ein solches verstanden werden. Noch detaillierter schildert Chrétien den Karren und bringt ihn zusätzlich mit dem bretonischen Volksglauben in Verbindung, dass allein der Anblick eines solchen Unglück vorhersage 12: ‚Zu jener Zeit wurden Karren an Stelle der heutigen Pranger gebraucht. In jeder besseren Stadt, in der es heute über dreitausend diese Art gibt, hatte man damals nur einen, und dieser war wie heutzutage die Pranger für alle bestimmt, die Betrug und
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erlebt, sondern als überkommenes Recht, das als solches nicht in Frage gestellt wird.“ – so Hans-Hugo Steinhoff in seinem Kommentar zum Prosalancelot II. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übers., kommentiert und hg. von Hans-Hugo Steinhoff ( Bibliothek des Mittelalters 15 ) Frankfurt a. M. 1995, S. 876 f. ( Komm. zu 424, 20 ). Anders Wiebke Freytag, „Mundus fallax, Affekt und Recht oder exemplarisches Erzählen im Prosa-Lancelot“, in: Werner Schröder ( Hg. ), Wolfram-Studien IX. Schweinfurter -Kolloquium 1984, Berlin 1986, S. 134–194, S. 186 f., die die begrenzte Verbindlichkeit der consuetudines im betont. Vgl. zur Differenzierung von Rechtsgewohnheiten und anderen Gewohnheiten Weitzel ( wie Anm. 3 ) S. 138 ff. Friedrich Wolfzettel, Der Lancelot-Roman als Paradigma. Vom geschlossenen symbolischen Stil des Chrétienschen Versromans zur offenen Welterfassung der Prosa, in: Klaus Ridder – Christoph Huber ( Hgg. ), Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen 2007, S. 13–28, S. 24. Hier und im Folgenden zitiert nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147 ( wie Anm. 6 ). Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 88. Wolfzettel ( wie Anm. 8 ) S. 25. Vgl. Steinhoff ( wie Anm. 6 ) 2, S. 1009 ( Komm. zu II 328, 20–25 ); Wolfzettel ( wie Anm. 8 ) S. 24; Charles Foulon, Les deux humiliations de Lancelot, in: Bulletin Bibliographique de la Société Internationale Arthurienne 8, 1956, S. 79–90, S. 81 f. u. S. 85; sowie Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtssprechung, München 1980, S. 42 f.
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Mord begehen, die durch Gottesgericht im Zweikampf verurteilt werden und für Diebe, die die Habe des Nächsten durch Diebstahl oder durch Wegelagerei an sich gebracht haben. Wer bei einem Verbrechen ertappt wurde, wurde in den Karren gesetzt und durch alle Straßen geführt. Er hatte dann alle Ehrenrechte verloren, wurde am Hofe nicht angehört und weder geehrt noch willkommen geheißen. Da dies in jenen Zeiten die Bedeutung der Karren war und sie so grausam waren, kam zum ersten Mal der Spruch auf: „Erblickst du einen Karren und begegnest ihm, dann bekreuzige dich und denke an Gott, damit dir kein Unglück zustößt.“‘ 13 Als nun Lancelot einen solchen Schandkarren besteigt, um seine Minneherrin aus der Gefangenschaft zu erlösen – „Mag es anders nit sin“, sprach Lancelot, „so muß ich daruff!“ und sprang zuhant off den karch ( II 328, 29–31 ) – stilisiert er sich freiwillig und unschuldig zu einem wehr- und ehrlosen Geschöpf. Sofort zeigt sich die gesellschaftlich verbindliche Geltungskraft dieser Rechtsgewohnheit, ungeachtet des Ansehens der Person oder zugrunde liegender Motive für die Fahrt. Eindrücklich wird geschildert, wie die Stadtbevölkerung, die Lancelot auf dem Karren sieht, auf dessen Anblick reagiert. In aller Öffentlichkeit wird er verspottet und durch Taten gedemütigt: Alles das volck qwam ußgelauffen da sie den ritter uff dem karh sahen, und fragt yn was er mißethan het. Lancelot antwurt ein wort nit, und sie wurffen den brùch hantvollecht off yn und wuczeten uff yn, als er ein dieb were und man ym zum galgen furen solt ( II 330, 24–28 ). Die Nachricht von der Karrenfahrt verbreitet sich in Windeseile, denn im Land Gorre ist es Sitte, Boten mit Kunde von eingedrungenen Fremden an die jeweiligen Wegdurchgänge zu senden ( II 348, 26–30 ). In zahlreichen folgenden Szenen wird Lancelot als Karrenritter identifiziert, angesprochen, verhöhnt und beleidigt 14. Er ist nicht mehr Lancelot, der beste Ritter der Artusrunde, sondern der explizit so genannte Karrenritter, der ritter von dem karren ( II 336, 4 f.; 338, 9 ) oder auch der unselige[ n ] karrenman ( II 354, 10 ) – und der Name ist ein „Synonym für <Schande>“ 15. Wiederholt kommt es zu kämpferischen Auseinandersetzungen, weil ihm, dem Ehrlosen, keine Achtung entgegengebracht wird. Immer wieder wird der Ruf laut, er möge sich doch wie ein Dieb hängen lassen, denn schließlich habe er auf dem Karren gesessen: „als du bist uff einem karren gesleifft als ein diep den man zum galgen furen sol“ ( II 350, 7 f. ); „der off eim karch geschleuffet ist als ein diep den man hencken sol an einen galgen!“ ( II 352, 33–35 ); „er solt zu synem karch wiedder und solt sich laßen hencken!“ ( II 364, 32 f. ); „geuneret diep, uff eim karch geschleufft“ ( II 366, 1 f. ); „Wo ist der geuneret ritter der uff dem karren geschleifft wart als ein dieb den man an einen galgen hencken sol?“ ( II 380, 8–10 ); „Du bist in allen hofen geuneret, als ein morder zu recht sin sol und ein diep, und hast ritterschafft geuneret“ ( II 380,
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De ce servoit charrete lores,/ Don li pilori fervent ores,/ Et an chacune buene vile,/ Ou an a or plus de trois mile,/ N’aan avoit a cel tans que une,/ Et cele estoit a ceus commune,/ Aussi con li pilori sont,/ Qui träiʃon ou murtre font,/ Et as ceus qui sont chanp chëu,/ Et as larrons qui ont ëu/ Autrui avoir par larrecin/ Ou tolu par force an chemin./ Qui a forfet eʃtois repris,/ S’eʃtoit an la charrete mis/ Et menez par totes les rues,/ S’avoit puis totes lois perdues,/ Ne puis n’eʃtoit a cort öiz/ Ne encorez ne conjöiz./ Por ce qu’a cel tans furent teus/ Les charretes et ʃi crüeus,/ Fu dit premiers: „Quant tu verras/ Charrete et tu l’anconterras,/ Si te seingne et ʃi te ʃovaingne/ De Deu, que maus ne t’an avaingne.“ Chrestien de Troyes, Lancelot ( wie Anm. 1 ) V. 323–346. Zu den Erinnerungen an den Schandkarren bei Chrétien vgl. zusammenfassend Haug ( wie Anm. 2 ) S. 34 f. Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 76. Zu weiteren Demütigungen Lancelots vgl. Steinhoff ( wie Anm. 5 ) S. 280 f.
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16–18 ). Deutlich wird eine hohe Verbindlichkeit der geltenden Rechtsgewohnheit in Szene gesetzt 16. Die Entehrung durch den Karren wiegt schwerer als der Tod. Kein anderer Ritter ist bereit, den Karren zu besteigen. Selbst als Lancelot einem Ritter Schonung im Kampf gegen eine Fahrt auf dem Karren gewähren will, lehnt dieser ab: „Das verbiete mir got“, sprach er, „das ich ummer daruff kum; auch wer mir lieber das ich dot were mit eren dann das ich mit schanden ummer solt leben!“ ( II 384, 21–24 ). Zugleich aber entwickelt sich ein Geschehen, welches diese kollektive Beurteilung einer normativen Prüfung zu unterziehen scheint. Denn während die innerliterarische Gesellschaft, der Logik des allgemeinen Ehrcodes folgend, den Karrenritter als unehrenhaft empfindet, wird dem Rezipienten suggeriert, dass Lancelots Ansehen trotz der Karrenfahrt gewahrt bleibt 17. Zunächst stellt Lancelot selbst die Verbindlichkeit des normativen Verhaltenskodex in Frage, indem er die symbolische Wirkkraft des Karrens negiert. Seine erste Reaktion auf den Vorwurf des Ehrverlustes ist ein Infragestellen des allgemeinen Geltungsanspruches der Gleichung : „Der unere haben woll der hab es“, sprach Lancelot, „ich enwil ir nit“ ( II 330, 15 f. ). Lancelot widersetzt sich dem geltenden, überindividuellen Codierungssystem von Ehre 18, setzt der kollektiven Norm sein eigenes Urteil, seine eigene Handlungsmaxime entgegen und entscheidet eigenmächtig, was ihn entehrt und was nicht. Diese Einstellung wird in Handlung umgesetzt. In zahlreichen Szenen, in denen Lancelot mit der von außen an ihn herangetragenen Identität als verurteilter Verbrecher konfrontiert wird, fühlt er sich nicht angesprochen oder reagiert mit Zorn 19. Er nimmt diese Identität nicht an, für ihn bedeutet die Karrenfahrt keine Schande 20. Vielmehr soll sich der Wert der äußeren Handlung an der Absicht, am Willen, am muot orientieren. Nicht die äußere, sichtbare Tat zählt, sondern Lancelots subjektives Bestreben, die Königin zu befreien 21. Die Karrenfahrt ist somit Mittel zum Zweck und geht für ihn nicht mit einem Ehrverlust einher. Im Text stehen sich also ein allgemeiner normativer Verhaltenskodex und eine eigenwillige Moral Lancelots gegenüber. In seiner Rolle als Minnediener und für seine Bestimmung, zum Befreier der Gefangenen zu werden, verstößt er als Einzelner gegen eine geltende Rechtsvorstellung des Kollektivs. Gerade in einer Frage der Ehre, in der sich „Sozial- und Individualinteressen am meisten verschlingen“, setzt Lancelot dem
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Zu den unterschiedlichen Graden der Verbindlichkeit einer Regel im mittelalterlichen Verständnis vgl. den Diskussionsbericht von Christiane Birr u. a., in: Dietmar Willoweit ( Hg. ), Die Begründung des Rechts als historisches Problem ( Schriften des Historischen Kollegs 45 ) München 2000, S. 323–340, S. 328. Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 73, spricht von einer „Heldentat des Herzens.“ Horst Wenzel, Jâ unde nein sint beidiu dâ. Zu konfligierenden Ehrvorstellungen am Hof und in der höfischen Dichtung, in: Klaus Schreiner – Gerd Schwerhoff ( Hgg. ), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ( Norm und Struktur 5 ) Köln u. a. 1995, S. 339–360, S. 353. Des zurnte sich Lancelot das er yn diep gescholten hett ( II 366, 3 f. ). Vgl. auch II 380, 12–16. Anders Wolfzettel ( wie Anm. 8 ) S. 25, der die Schande als Anlass zum versuchten Selbstmord deutet. Vgl. zum Themenkomplex der Rüdiger Schnell, Abaelards Gesinnungsethik und die Rechtsthematik in Hartmanns , in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65, 1991, S. 15–69, bes. S. 16 ff.
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eine vermeintliche entgegen 22. Sein Ansehen orientiert sich allein an den Bedürfnissen seiner Minneherrin und entzieht sich den gesellschaftlichen Beurteilungen 23. Das bedeutet, dass Lancelot einen Gehorsam gegenüber einer anderen Normquelle zeigt und sein Verhalten einem anderen Normhorizont unterstellt ist: dem der Minne 24. Seine Verpflichtung ihr gegenüber steht in der rollenkonstituierenden Normhierarchie ganz oben, während allgemeine Konventionen nur begrenzte Geltungskraft haben. Lancelot handelt daher nicht normungebunden, willkürlich oder gar rechtlos 25. Die Prosaredaktoren scheinen ihm Recht zu geben. Sein Handeln wird nicht ausschließlich sanktioniert. Vielmehr bleibt Lancelot weiterhin auch auserwählter Artusritter 26. Gleich am ersten Abend nach der Karrenfahrt besteht er eine Aventiure, die bis zu dem Zeitpunkt im Text noch kein Artusritter bestanden hat. Allen Warnungen zum Trotz legt er sich in ein Prunkbett, von dem es heißt, dass es bislang kein Ritter – und auch kein Artusritter – wieder lebend verlassen habe. Lancelot aber überlebt; die Lanze, die aus dem Nichts ins Bett trifft, verfehlt ihn knapp ( II 334, 14–338, 7 ). Noch deutlicher wird Lancelots Auserwähltheit in der Klosteraventiure thematisiert. Lancelot erweist sich als Befreier der Gefangenen und wird zur Erlöserfigur stilisiert ( II 354, 29–370, 19 ). Bereits zuvor – in der Nacht nach dem Karrenritt – findet sich der Hinweis auf eine mündliche Weissagung der Frau vom See, dass Lancelot Ginover aus den Händen ihrer Feinde befreien werde. Zudem wird auf schriftlich fixierte, althergebrachte ( Aventiure- )Gesetze verwiesen, die Lancelots Auserwähltheit festschreiben: man sol glauben alter schrifft, die von alten ziten herre komen ist, wie das man die abenture enden sol; anders enwißen wir darumb nit ( II 370, 3–6 ). Allein Lancelot ist für die Befreiung der Gefangenen vorgesehen, nur er ist dafür prädestiniert. So ist sein Aufenthalt im Land Gorre neben den wiederholten Schmähungen und Ehrbeleidigungen von Tapferkeitstests, furiosen Siegen im Kampf und der Erfüllung 22
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Peter von Moos, Einleitung, in: Ders. ( Hg. ), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft ( Norm und Struktur 23 ) Köln u. a. 2004, S. 21, unter Hinweis auf Simmel. Lancelots êre „ist allein ein innerer Wert, der die gesellschaftliche Seite des honos-Begriffes abgestreift hat und an der spiritualisierenden Kraft der Epoche teilnimmt.“ Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 87. Zur Demut statt ich-verhafteter superbia vgl. Klaus Grubmüller, Der Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entführung, in: Walter Haug – Burghart Wachinger ( Hgg. ), Positionen des Romans im späten Mittelalter ( Fortuna Vitrea 1 ) Tübingen 1991, S. 1–20, S. 15. Zu Lancelots Bestrebung nach Autarkie gegenüber einer fremdbestimmten Gesellschaft im Zusammenhang eines Subjekt-Bewusstseins vgl. Judith Klinger, Möglichkeiten und Strategien der Subjekt-Reflexion im höfischen Roman. Tristan und Lancelot, in: Jan-Dirk Müller – Horst Wenzel ( Hgg. ), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, Stuttgart – Leipzig 1999, S. 127–148, S. 142 f. Zur Selbstbezogenheit und Vereinzelung der Helden im vgl. Walter Haug, Das erotische und das religiöse Konzept des , in: Klaus Ridder – Christoph Huber ( wie Anm. 2 ) S. 249–266, S. 262. Wie sehr Lancelot sein Leben an Ginover ausrichtet und zum Asketen und Märtyrer wird, beschreibt u. a. Steinhoff ( wie Anm. 5 ) S. 275 f., sowie bereits Kurt Ruh, Lancelot, in: Kurt Wais ( Hg. ), Der arthurische Roman ( Wege der Forschung 47 ) Darmstadt 1970, S. 237–253, S. 250 f. Zum Zusammenhang von Rechtsbegriff und Normativität sowie zum Aspekt des normungebundenen Verhaltens, welches Unrecht ist, vgl. Dietmar Willoweit, Rechtsbegründung und Rechtsbegriff. Ein Nachwort, in: Ders. ( wie Anm. 16 ) S. 315–322, S. 318. Vgl. Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 77; sowie Haug ( wie Anm. 2 ) S. 35. Zur Beurteilung Lancelots als vorbildlichsten Ritter vgl. Steinhoff ( wie Anm. 5 ) S. 280.
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der finalen Aventiure auf der Schwertbrücke geprägt. Insbesondere das Überqueren eines reißenden Flusses über ein blankes Schwert, welches Hände und Füße verletzt, ist für die positiv konnotierte, leidenschaftliche und leidensfähige Liebe Lancelots zum Sinnbild geworden ( II 392, 4–394, 8 ) 27. Um Ginover zu befreien, scheut der ritterliche Geliebte im Unterschied zu ihrem Ehemann König Artus keine Mühen und Verletzungen. Diese berühmte Kraft- und Mutdemonstration auf der Schwertbrücke hat sich als gegensätzliche Selbstinszenierung zum Karrenritt in zahlreichen Miniaturen der altfranzösischen Handschriften niedergeschlagen. Im Land der Entführten wird Lancelot trotz der Karrenfahrt zum auserwählten Erlöser 28. Um seine Prädestination zu erfüllen, setzt sich Lancelot also sehr selbstbewusst über eine bestehende Rechtsnorm hinweg. Dass von einem auserwählten Helden individuelle Auslegungen von Normen gefordert werden und Verstöße gegen sie gängiges Erzählrepertoire sind, mag nicht verwundern 29. Erstaunlich ist aber, dass sich aus dieser Haltung eines der Protagonisten heraus ein neues Normverständnis im Text entwickelt. Denn anders als bei Chrétien geht es im nicht um die Bewältigung einer Aufgabe, die Lancelot im Namen der Gesellschaft übernimmt, sondern vielmehr um ein sehr persönliches Anliegen, ungeachtet gesellschaftlicher Konsequenzen 30. Die ( subjektive ) Vorstellung eines einzelnen Protagonisten wird aufgegriffen und setzt sich im weiteren Handlungsverlauf gegen eine objektiv-normative Vorstellung der innerliterarischen Gesellschaft durch. Äußere, formale Rechtshandlungen aber auch Rechtssymbole werden dem Wandel unterworfen. Der Einzelne soll sich auf seine Intentionen berufen, gerade auch in Rechtsangelegenheiten. Die Frage nach dem Beweggrund, die Triebfeder der Handlung gewinnt an Gewichtung. So erfährt der Schandkarren als Teil einer Rechtsgewohnheit am Artushof eine Umbewertung, eine neue Legitimation. DESTABILISIERUNG
Nach den Befreiungsaventiuren im Land Gorre, die durch den Karrenritt Lancelots ihren Anfang nehmen, nähert sich der Schandkarren während eines Hoftages zu Pfingsten dem Artushof. König Artus, auf Aventiure wartend, wird Augenzeuge des herannahenden, ungewöhnlichen Besuchs. Der Karren, von einer Schindmäre mit abgeschnittenen Ohren und Schwanz gezogen und von einem verunstalteten Zwerg als Wagenlenker geführt, bringt Bohort, den Neffen Lancelots, an den Hof. Dieser prä-
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Vgl. Steinhoff ( wie Anm. 6 ) 2, S. 1018 ( Komm. zu 392, 18–394, 8 ). Zur Stofftradition der Auserwähltheit Lancelot, die somit mythisch sei, vgl. Christoph Cormeau, Rezension über Walter Haug, „Das Land von welchem niemand wiederkehrt“, in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 91, 1980, S. 23–25, S. 25. Zur individuellen Geltung von Normen für literarische Helden wie Iwein oder Erec vgl. Cormeau ( wie Anm. 28 ) S. 25. Immer wieder kommt es im zudem dazu, dass „normativ verbindliche[ n ] Verhaltensmuster[ n ] nicht zum gewünschten Erfolg“ führen. Sei es durch konfligierende Normvorstellungen, die immer zu Normverletzungen führen müssen oder sei es durch Normen, die sich als „inadäquat in der gegebenen Situation“ erweisen. Trude Ehlert, Normenkonstituierung und Normenwandel im Prosa-Lancelot, in: Werner Schröder ( Hg. ), Wolfram-Studien IX. Schweinfurter -Kolloquium 1984, Berlin 1986, S. 102–118, S. 113. Vgl. Haug ( wie Anm. 23 ) S. 254. Vgl. auch Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 86.
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sentiert sich unerkannt, an Händen und Füßen gefesselt, in einem erbärmlichen Aufzug 31. Ein wohlgestalteter Schimmel trottet im Schlepptau hinterher. Dieser Tross trägt die Normdiskussion um êre und schande des Karrenritts an den Artushof, in das Normzentrum der Artusromane. Der Hof reagiert gemäß der geltenden Rechtstradition abweisend gegenüber dem augenscheinlich der Schande Verfallenen. Als Artus den Zwerg fragt, was der Ritter verbrochen habe, bekommt er die kryptische Antwort: „Soviel allß die anndernn“ ( II 438, 35 ). Auf eine erneute Nachfrage bekommt er die gleiche Antwort. Nach einem längeren Schweigen fragt der König, wie dem Ritter zu helfen wäre. Der Karrenritter antwortet: „so ainer an mein statt sitzen würde da ich sitze, so wurde ich ledig“ ( II 440, 5 f. ). Die Artusgesellschaft wird also über die Gründe der Karrenfahrt im Unklaren gelassen. Die Sanktionen greifen dennoch. Bohort muss den Hof unter Spott verlassen, da der Karren und seine äußere Erscheinung Ehrlosigkeit suggerieren. Als er kurze Zeit später zurückkehrt, wird ihm ein Platz an der ritterlichen Tafel und sogar am Tisch der Dienerschaft verwehrt. Die dem Karrenritt inhärente soziale Exklusion wird am Hof durch öffentliches Bloßstellen fortgesetzt. Allein der Artusritter Gawan leistet ihm schließlich Gesellschaft, dieweil er ain ritter were ( II 440, 36 f. ) 32. Ungeachtet des königlichen Zorns und des Vorwurfs, mit seinem Verhalten gegen die Ordnung der Tafelrunde zu verstoßen – er [ König Artus ] hielte ine für geschenndet unnd geschmehet unnd er hette mitt dießer hanndlung wider die ordnung der tafellronde gethan ( II 442, 2–4 ) –, demonstriert Gawan dem ganzen Hof, dass der Karrenritter in seinen Augen nicht ehrlos ist. Bereits zu Beginn der Karrenritterepisode wird Gawan eine besondere Rolle zugeschrieben. Er ist für das Geschehen um Lancelots Karrenfahrt die reflektierende Instanz der Artusgesellschaft. Als Lancelot den Karren besteigt, ist Gawan der Erste, der – ganz der Beurteilungsperspektive des Hofes und der Gesellschaft verpflichtet – sich weigert, es ihm gleich zu tun. Er ist auch der Erste, der Lancelot darauf hinweist, dass der Karrenritt eine schande und unehrenhaft sei ( II 330, 1–3 ). Als er aber um Lancelots Identität erfährt, verteidigt er dessen Verhalten und hinterfragt die Norm in ihrer Bedingtheit und nicht den Helden 33. „Karrenschande und Lancelotidentität“ müssen einander widersprechen: lebet er mit der werlt mit schanden, so ist auch in der werlt keyn ere! ( II 338, 25 f. ) 34. Denn wenn der Held den Karren besteigt, dann kann der Brauch keine Wirkung mehr zeigen. Diese Argumentation überträgt Gawan nun von Beginn an auf den zweiten Karrenritter: Wenn der Ritter wegen des Karrens ehrlos geworden sei, dann sei auch Lancelot ehrlos und genau das ist nicht vorstellbar. Schließlich ist er der best [ ist ] under allen den guten ( II 340, 1 ). Wer den Helden imitiert, könne keine Schande davontragen: so er des karrchs halbenn geschmecht were, so seye Lanntzelot auch geschmecht, „aber wer unehre nach ime suchet, der finndet eehre.“ ( II 442, 5–7 ). 31
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Die Verbindung zwischen Bohort und Lancelot ist im ganzen Werk eine besonders hervorgehobene. Bohort ersetzt den toten Galahot und übernimmt nach Lancelots Tod dessen Platz in der Einsiedelei. Vgl. Steinhoff ( wie Anm. 6 ) 2, S. 1023 ( Komm. zu II 438, 16 ). Als Gawan von dem zweiten Karrenritter hört, fängt er, in Erinnerung an Lancelot, an zu weinen: er fienge fast hefftig an zu weynenn unnd sagt, das der so die karrenn dermaßen erdacht hett das ine gott verfluchen solltte ( II 440, 16–18 ). Denn „Lancelot und byderbekeit ( virtus )“ sind eins. Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 87. Vgl. auch Ehlert ( wie Anm. 29 ) S. 112. Utz ( wie Anm. 5 ) S. 370.
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Während also der König in seinem traditionellen Denkschema, in alten Konventionen verharrt und den Karrenritter aufgrund des äußeren Anscheins verurteilt, verbalisiert Gawan einen Umwertungsprozess, mit dessen Darlegung er sich dem Verständnis des Hofes weit überlegen zeigt 35. Seine Beurteilung des Karrenbrauchs greift den von Lancelot vorgelebten Gedanken einer subjektiven Wirksamkeit der Rechtsgewohnheit auf. Nicht jeder, der auf dem Karren sitzt, verliert automatisch seine Ehre, auch wenn dies dem allgemeinen gesellschaftlichen Verständnis entspricht. Gawan wird zum Sprachrohr dieser Beurteilung. Durch ihn wird der Gedanke am Hofe geboren, dass die Wirkmächtigkeit des Karrens nicht unumschränkt gültig ist. Immer kommt es auch darauf an, wer auf dem Karren sitzt und mit welcher Absicht. Das Autorenkollektiv des scheint sich somit kritisch mit der objektiv-normativen Wertung des Schandkarrenbrauchs Chrétiens auseinander zu setzen 36. In der Karrenritterepisode wird die rein formale Wirkmächtigkeit von Rechtsritualen bzw. -symbolen verneint. Vielmehr soll es zu einem Ehrverlust nach Ansehen oder auch Absicht der Person kommen 37. UMNORMIERUNG UND NEUE LEGITIMATION
Während der anhaltenden Diskussionen um den richtigen Umgang mit dem zweiten Karrenritter, bringt der Karren als dritten die Frau vom See, Lancelots Ziehmutter, an den Hof: Unnd wie sie allso redtenn, da kame der karrch wider, welchen der zwerg fuehret, unnd uff dem karren da saße ain frawe ( II 446, 32–34 ). Sie ist neben Artus eine der wertsetzenden Autoritäten des Textes, eine „außerarthurische[ n ] Autorität“ 38, die Lancelot mit den geltenden Normen einer Ritterlehre vertraut gemacht hat, seherische Qualitäten aufweist und anstelle des Artushofs eine Norm zu legitimieren versteht. Denn in der Karrenritterepisode ersetzt sie Artus, der sich durch sein Verhalten als wertsetzende Instanz disqualifiziert hat. Nach Gawan ist sie die finale Reflexionsinstanz, die durch ihre Autorität das gewandelte Rechtsverständnis im Umgang mit dem Karren festschreibt. Ihre Ausführungen und Argumentationsstrukturen ähneln zunächst denen Gawans, der nach ihrer Ankunft am Hof auf den Schandkarrenbrauch reagiert und um 35
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Nach Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 87, ist allein Gawan dieser Normdiskussion gewachsen. Vgl. auch Utz ( wie Anm. 5 ) S. 370. Aber neben der Rolle Gawans bedarf es der mehrfachen Wiederholung der Karrenfahrt mit wechselnden Autoritäten, um die Norm zu wandeln. Antonin Hruby, ´ Moralphilosophie und Moraltheologie in Hartmanns Erec, in: Harald Scholler ( Hg. ), The epic in medieval society. Aesthetic and Moral Values, Tübingen 1977, S. 193–213, S. 207, analysiert unter diesem Gesichtspunkt den <Erec> Hartmanns von Aue, in dem einiges aus der Moraltheologie Thomas’ von Aquin vorweggenommen zu sein scheint. Auch Hartmann verträte „die Ansicht [ … ], die höfischen Tugend- und Anstands-Normen besäßen nur dann moralischen Wert, wenn der Wille und der muot, die voluntatis und die mens, des ausübenden Subjektes von der zaller slahte guote geleitet wird.“ Vgl. auch Schnell ( wie Anm. 21 ) S. 24. Vgl. zu diesem Phänomen Gerd Althoff, Recht nach Ansehen der Person. Zum Verhältnis rechtlicher und außerrechtlicher Verfahren der Konfliktbeilegung im Mittelalter, in: Rechtsbegriffe im Mittelalter ( wie Anm. 4 ) S. 79–92. Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 88. Ehlert ( wie Anm. 29 ) S. 113, spricht von einer „mythischen Instanz“; für Wolfzettel ( wie Anm. 8 ) S. 26, gehört die Dame du Lac zu den „hermeneutischen Hilfsinstanzen“ des Textes.
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Lancelots willen sofort bereit ist, ihren Platz auf dem Karren einzunehmen: „so will ich druff sitzenn umb des bestenn ritters willenn, der auch uff ainem karrenn gesessenn ist“ ( II 448, 16–18 ). Auch die Frau vom See beharrt darauf, dass allein die Absicht zählt, nicht aber der formale Akt. Wer den Karren freiwillig und aus gutem Grund besteige, könne seine Ehre nicht verlieren – so ihre Exegese. Dann wird sie konkreter und offenbart dem Hof die inneren Motivationen der Karrenritter: Bohort hätte es um Lancelot willen, Lancelot um der Königin willen getan 39. Wer also selbstlos oder um der Liebe willen eine gesellschaftliche Norm missachtet, handelt nicht falsch. Die Rechtsgewohnheit wird mit einer höheren Wahrheit konfrontiert; die Gewohnheit soll der Wahrheit weichen 40. Indem Lancelot aus Liebe zur Königin gehandelt habe, sei sein Verhalten ehrenhaft – im Unterschied zu dem des königlichen Gemahls. Im Werthorizont der Liebe verkehrt sich die bislang geltende Norm und allen Schandkarren soll fortan Achtung erwiesen werden: Unnd wissent, das umb der liebe willen, sie vonn schannden zu erledigen, so solltte mann alle kärrche allwegen ehrenn ( II 448, 33–35 ) 41. Lancelots Innennorm, sich demütig und selbstlos ( der minne ) zu opfern, wird zu einer gesellschaftlichen Außennorm erhoben, nachdem sich auch Bohort und Gawan ungeachtet ihrer Ehre für andere auf den Karren gesetzt haben 42. Für die Umsetzung eines Normwandels aber bedarf es nicht Einzeltaten und einzelner Meinungen, sondern des Konsenses der Gesellschaft. Als ein überindividuelles Prinzip kann eine Rechtsgewohnheit nur durch das Kollektiv gewandelt werden und muss dem „individuellen Willen entzogen werden.“ 43 So wird im Folgenden die Anerkennung der Umnormierung durch die Gemeinschaft geradezu sinnbildlich in Szene gesetzt. Der gesamte Königshof springt auf den Karren auf. Zuerst die Königin, dann der König und schließlich alle Ritter des Hofes: da saß sie [ Ginover ] uff den karren, unnd der könig der sprannge auch doruff der königin nach, undd allso sprungen alle die ritter vonn königs Artus hof uff dießenn karrenn ( II 450, 33–36 ). Das Bild, dass sich die gesamte Hofgesellschaft – sogar der König Artus – auf dem Karren versammelt, ist ein sprechendes. Die Wirkung der sozialen Exklusion wird in actu und durchaus demonstrativ-symbolisch entwertet und 39
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[ … ] dann er ist kainer anndernn uhrsach halben uff dießenn karren gesessenn dann Lanntzelots halbenn, welcher umb dießer frawen der königin willen ist druff gesessenn unnd hatt das gethan unnd unndernohmenn umb irennt willenn, das Ir [ Artus ] nicht hettenn gethan oder thun durffenn ( II 448, 28–33 ). Zum Dualismus von Gewohnheit und Wahrheit vgl. den Diskussionsbericht ( wie Anm. 16 ) S. 329. Zur Exegese von Hiob 14, 6 [ „Denn der Herr hat im Evangelium gesagt: Ich bin die Wahrheit, und nicht: Ich bin die Gewohnheit. So wird die Gewohnheit der Wahrheit weichen, wenn sie sich offenbart.“ ] vgl. Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im Johanns von Salisbury ( Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 2 ) Hildesheim u. a. 1988, S. 85 ff.; Dilcher ( wie Anm. 4 ) S. 56; sowie Steinhoff ( wie Anm. 6 ) 2, S. 1024. Vgl. Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 87. Zur Unterscheidung zwischen Innen- und Außennormen vgl. Schnell ( wie Anm. 21 ) S. 23. Zur Verkehrung der höfischen Norm im Sinne des Protagonisten vgl. Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 86; sowie Huber ( wie Anm. 5 ) S. 24. Willoweit ( wie Anm. 25 ) S. 316. Zur Frage, ob im Mittelalter die Rechtsbildung nicht als ein „Gefüge von Konsensbeziehungen“ zu begreifen ist, und zur Unterscheidung von Rechtsnormen, die einen Geltungsanspruch ungeachtet der Zustimmung der Adressaten haben, und den Konventionalregeln, die keine Zwangsgebote sind und der Anerkennung durch die Normgemeinschaft bedürfen, vgl. ebd. S. 322. Anders Kroeschell ( wie Anm. 4 ) S. 319 ff. Vgl. auch Dilcher ( wie Anm. 4 ) S. 39.
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die Umnormierung der Rechtsgewohnheit performativ inszeniert. Sicherlich entbehrt die Vorstellung der auf dem Karren versammelten Artusgesellschaft nicht einer gewissen Komik. Lancelot selbst, dem später von der Karrenfahrt des ganzen Hofes berichtet wird, fängt an zu lachen 44. Die Konsequenzen sind aber deutlich ernsthafter Natur. Der Karren symbolisiert fortan keine Entehrung mehr und verliert somit seine Funktion als Mittel der Bestrafung. So heißt es weiter, dass Schandkarren seit diesem Zeitpunkt in der Strafjustiz verboten werden. Stattdessen sollen Schandmären mit abgeschnittenen Ohren und Schwänzen dazu eingesetzt werden, verurteilte Diebe und Mörder zum Urteilsplatz zu transportieren. Die Rechtsgewohnheit wird nicht beseitigt, sondern nur auf ein anderes, eindeutigeres Symbol übertragen 45: Unnd allß lannge der könig Artus lebt, wann schon ain mennsch verurtheylt wardt, so wardt er nimmer uff den karren gesetzt, sonndernn so wardt geordnet, das inn ainer jeden namhafftigenn statt ain alltte merrhenn ohne wadell unnd ohrenn, unnd die da verurttheylet wordenn, die worden uff dießelbig alltt merrhen gesetzt anstatt des karrenns ( II 450, 36–452, 5 ). So lässt sich zusammenfassen, dass Lancelot aufgrund seiner Liebe zu Ginover mit seinem Karrenritt einen Handlungsverlauf in Gang gesetzt hat, der schließlich dazu führt, dass eine Rechtsgewohnheit umnormiert wird. Nach mehrmaliger Wiederholung der Karrenfahrt mit wechselndem Personal ist diese entfunktionalisiert worden. Viermal wird der Karren nicht dazu genutzt, einen Verurteilten zu transportieren. Vielmehr wird er durch besonders angesehene Figuren besetzt: durch den besten Artusritter Lancelot, dessen Neffen Bohort, die Frau vom See, den Ritter Gawan und schließlich durch den gesamten Artushof. Durch die mehrfache Zweckentfremdung hat sich sein Symbolgehalt gewandelt: Aus dem Schandkarren wird ein Ehrenkarren, der selbstloses Verhalten honoriert. Denn alle Karrenritter waren bereit, für einen anderen ihre Ehre aufs Spiel zu setzen. Die Frau vom See wird zur normetablierenden und der gesamte Artushof zur normbestätigenden Instanz 46. Mehrfach wird betont, dass der Karren ein von Menschen geschaffener Brauch sei, indem der Erfinder des Karrens verflucht wird 47. So kann diese Rechtsgewohnheit, die die Ehre des Einzelnen betrifft, auch durch Menschen verändert werden. Und tatsächlich kommt es im Verlauf der Handlung zu keiner weiteren Karrenfahrt eines Verurteilten. Auch in späteren Fassungen finden sich kaum Belege 48. Warum aber kommt es zu dieser aufwändigen Inszenierung der Wandlung einer Rechtsgewohnheit, die in ihrer Singularität im hervorsticht? Zum besseren Verständnis muss man die Karrenritterepisode in ihrem Kontext sehen, denn sie setzt den Beginn für die Umorientierung der Werte in der darauf folgenden . Die für die höfische Artusliteratur etablierten Interaktionsformen des idealen Ritter- und Herrschertums gelten in den weiteren Erzählzusammenhängen nicht mehr 44
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[ … ] unnd wie alle ritter uff den karrenn geseßenn und gestiegen werenn. Dießer dinnge lachet Lanntzelot gnug ( II 484, 31–33 ). Vgl. auch Steinhoff ( wie Anm. 6 ) 2, S. 1024 ( Komm. zu II 450, 31–36 ). Nach Ehlert ( wie Anm. 29 ) S. 113, kommt es zu keinem am Hofe. Vgl. zu den Begrifflichkeiten ebd. S. 105. Vgl. II 330, 29 f.; II 440, 17 f. Mehrfach werden im auch die Erfinder der bösen Gebräuche verflucht. So etwa in der Klage einer jungen Frau, die ihren Geliebten aufgrund der Aventiuregesetze verloren hat: das ir sel und ir lip unselig muß syn die die bösen sitten da gemachet hant ( I 424, 20 f. ). Allein in der Handschrift a aus dem 16. Jahrhundert und in zwei französischen Handschrift finden sich noch weitere Stellen – so Ehlert ( wie Anm. 29 ) S. 113 mit Anm. 22.
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uneingeschränkt. Die ritterliche Weltordnung wird durch eine theologische abgelöst, denn mit dem Gral entsteht ein neues, religiöses Wertzentrum 49. Bevor sich dieses aber vollständig durchsetzen kann, muss das alte Zentrum weichen und in seiner Schwäche bloßgestellt werden. König Artus wird so im seine eigene literarische Tradition zum Verhängnis, gilt er doch bei Chrétien und Hartmann als positiver „Garant bestehender Gebräuche“, als Bewahrer von Recht und Ordnung 50. FORMALISMUS AM ARTUSHOF UND DIE VERLAGERUNG WERTSETZENDER AUTORITÄTEN
Eigentlich herrschen am Artushof strenge Gebräuche. Der bekannteste Brauch, der das Beharren auf Althergebrachtem geradezu karikierend überzeichnet, ist die so genannte Blankozusage ( rash-boon-Motiv, costume des don ) 51. Diese am Artushof streng befolgte Gewohnheit des vorbehaltslosen Versprechens umschreibt die königliche Verpflichtung, eine förmlich korrekt geäußerte Bitte im Voraus zu gewähren, ohne ihren Inhalt zu kennen. Um seine königliche Ehre zu wahren, darf Artus nicht meineidig werden, ein einmal gegebenes Versprechen muss eingehalten werden 52. Der Rechtscharakter dieses Verhaltens, welches nach Köhler auf die gesellschaftspolitischen Prinzipien der triuwe und milte mittelalterlicher Herrschaft zurückzuführen ist, impliziert, dass sich auch die normsetzende Autorität selbst diesen Normen verpflichtet 53. Der Artushof, der Ort der Rechtswahrung, kann somit auch leicht in seiner Schwäche dargestellt werden. Die Blankozusage wird in den Artusromanen immer nur dann eingesetzt, wenn die Absicht des Bittenden eine unlautere ist. Zumeist wird die Königin gefordert und vom Hofe entführt. Das Erzählmotiv belegt also, welche durch Akte des Formalismus gezeugt werden können, wenn nur die äußere Form,
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Vgl. Steinhoff ( wie Anm. 5 ) S. 280; sowie Utz ( wie Anm. 5 ) S. 377. Horst Brunner, Hartmann von Aue: Erec und Iwein, in: Ders. ( Hg. ), Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Interpretationen, Stuttgart 1993, S. 97–128, S. 103. Zu den bekannten Versen 1793–1809 des <Erec> Hartmanns von Aue vgl. Köhler ( wie Anm. 6 ) S. 205. Zur Idealität des Hartmannschen Königs vgl. Grubmüller ( wie Anm. 23 ) S. 8 f. u. S. 10: „er [ Artus ] stellt die Werte dar, die höfische Idealität ausmachen: milte, triuwe, êre, er wird zur Exempelfigur für die Regeln, die die ritterliche Gesellschaft organisieren sollen.“ Im wird Artus im allgemeinen überwiegend in Sündhaftigkeit, Normverstößen und in seiner Schwäche bloßgestellt. Zur diffizilen Differenzierung zwischen rash boon und don contraignant vgl. Harald Haferland, Das Vertrauen auf den König und das Vertrauen des Königs. Zu einer Archäologie der Skripts ausgehend von Hartmanns von Aue , in: Frühmittelalterliche Studien 39, 2005, S. 335–376, S. 339 ff. Vgl. auch Köhler ( wie Anm. 6 ) S. 208; Lisa Jefferson, Don – Don Contraignant, Don Contraint: A Motif and its Deployment in the French Prose Lancelot, in: Romanische Forschungen 104, 1992, S. 27–51, bes. S. 43 ff.; Grubmüller ( wie Anm. 23 ) S. 7 f.; sowie Steinhoff ( wie Anm. 6 ) Bd. II S. 925 ( Komm. zu I 832, 29–834, 2 ). Lancelot kann hingegen recht frei mit seiner Normhierarchie verfahren, während Artus und mit ihm die anderen Königsgestalten – man denke etwa an Marke – stärker an das Gesetz der Ehre gebunden sind. Vgl. Grubmüller ( wie Anm. 23 ) S. 15. Vgl. Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artusund Graldichtung, Tübingen 32002, S. 23–36. Zur Unterscheidung zwischen einer Normsetzung mit Selbstbindungswillen und Befehlen willkürlicher Art vgl. Willoweit ( wie Anm. 25 ) S. 320. Recht und Gesetz stehen über der Person des Königs. Vgl. dazu auch die Episode um die Gesetze der Engen Marck im ( I 1010, 11–1026, 23 ).
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nicht aber der Inhalt zählt. Die Blankozusage offenbart die Schwäche des Formalismus: Stets sind die Absichten schlecht und dennoch muss der korrekt vorgetragenen Bitte entsprochen werden 54. Diese formalistische Gewohnheit setzt nun zu Beginn der Karrenritterepisode einen Reflexionsprozess in Gang, an dessen Ende die Normwelt des Artushofes in Frage gestellt und sein Ende vorhergesagt wird. Meleagant, ein notorischer Übeltäter, kommt an den Artushof und provoziert die Hofgesellschaft durch sein Auftreten. Er fordert den Kampf mit einem Ritter um den Einsatz der Königin, nur dann würde er gefangene Artusritter freilassen. Der König geht auf dieses Angebot nicht ein. Das Motiv der Blankozusage wird durch den Truchsess Key eingeführt. Dieser nutzt den formalistischen Brauch, um Artus dazu zu zwingen, ihn gegen den Ritter Meleagant kämpfen zu lassen. Artus muss der Bitte nachkommen, obwohl ein unglückliches Ende vorherzusehen ist und der Hof seine Königin verlieren wird: Da gelobt der konig mit synen truwen im zu geben was er im hiesch ( II 320, 4 f. ) 55. So wird die königliche Pflicht zur Freigebigkeit ( milte ) konterkariert und Artus als Opfer seiner eigenen Rechtsgebundenheit geschildert. Im Unterschied zu anderen Blankozusagen der arthurischen Tradition, wie etwa im Hartmanns von Aue, kommt es im zu zwei Besonderheiten 56. Zum einen missbraucht nicht ein Fremder den Verhaltenscode, sondern ein Artusritter bedient sich der costume des don und ermöglicht die Entführung der Königin 57. Mitglieder des Hofes wissen ihre eigenen Gesetze zu missbrauchen und König Artus in seiner Funktion als normwahrende Autorität dar- bzw. im negativen Sinne als Sklave der Normen bloßzustellen: „Das zum starren Automatismus gewordene Prinzip der Freigebigkeit kehrt sich gegen die Ordnung, die es garantieren soll.“ 58 Zum anderen beharrt der König im geradezu übereifrig auf der Einhaltung des formalistischen Brauchs. Im Hartmanns wittert der König hingegen die Gefahr und versucht, dem bedingungslosen Gewähren der Bitte auszuweichen. Seine Ritter müssen intervenieren und zur Einhaltung des geltenden Brauchs mahnen. Die Erfüllung der absoluten Worttreue stehe über allen anderen Verpflichtungen und Aspekten der Ehre: „herre, ir habet missetân, / welt ir den rîter als˘os lân. / wem habt ir ouch iht verseit?“ 59. Im wird genau Entgegengesetztes berichtet: Artus wird geradezu von einem Ritter bedrängt, den Rechtsbrauch zu brechen. Er wird darauf hingewiesen, dass der Verlust der Ehre bei Nichteinhaltung des Versprechens weniger schwer wiegend sei als die Schmach und Schande bei Verlust der Königin. Er möge also lieber Meineid begehen als seine Frau zu verlieren ( II 320, 16–27 ). Durch 54
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„Artus ist an die costume gebunden, selbst wenn diese willkürlich von feindlichen Individuen etabliert und für ihn von vornherein verhängnisvoll ist.“ Köhler ( wie Anm. 6 ) S. 210; sowie Grubmüller ( wie Anm. 23 ) S. 10. Ganz anders die Schilderung bei Chrétien. Meleagant kämpft gar nicht erst gegen Key, sondern entführt die Königin aus einem Hinterhalt heraus. Vgl. Grubmüller ( wie Anm. 23 ) S. 7. Nach Grubmüller ( wie Anm. 23 ) S. 4 u. S. 9, handelt es sich bei Hartmann um einen Test der vorbildlichen Freigebigkeit, um eine Prüfung der königlichen Haltung. Anders Fischer und Borck, die in diesem Motiv eine Kritik am Artushof sehen. Vgl. auch Haferland ( wie Anm. 50 ) S. 336 ff. Vgl. Haug ( wie Anm. 2 ) S. 27 ff. Köhler ( wie Anm. 6 ) S. 208. Hartmann von Aue, Iwein. Text der siebenten Ausgabe von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff, übers. und Anm. von Thomas Cramer, 3., durchgesehene. u. ergänzte Aufl. Berlin – New York 1981, V. 4569–4571.
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diese eingeschobene Diskussion wird die formalistische Automatisierung auf die „Bewusstseinsebene der erzählten Figuren“ gehoben und Artus wird sogar eine Handlungsalternative geboten 60. Diese lehnt er aber ab: „Ich hans im gelobet“, sprach er, „und must es im leisten [ … ] ich verlúre myn ere, wurd sie im von mynen rittern wiedder genomen.“ ( II 320, 17–21 ). Erneut ist es Gawan, der sich in anderen Erzählzusammenhängen einem rein formalistischen Verhalten widersetzt. So lehnt er die Erfüllung einer Bitte Ginovers mit der Begründung ab, dass er schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht habe ( I 832, 23–836, 10 ) 61. Nach Steinhoff zählt das Ignorieren von Bitten zu den „rationalisierenden Zügen“ des , die „aus dem zwingenden Motiv eine Konvention macht, zu der man sich pragmatisch verhalten kann.“ 62 Die zwingende Kraft des Motivs aber verliert nicht an Wirksamkeit. Vielmehr dient es zur Demonstration, wie es im Umgang mit Recht und Gewohnheiten nach Person und Absicht zu differenzieren gilt 63. Im gibt es nicht die eine ideale, klare Normwelt, gegen die man verstoßen oder die man einhalten kann. Es gibt nicht nur das eine Recht oder die eine Wahrheit. Dies ist weniger dem Pragmatismus des zuzuschreiben als seinem Bestreben, die Situationsgebundenheit und Veränderbarkeit von weltlichen Gepflogenheiten vor Augen zu führen. Gawan, aber auch Lancelot, gehören zu den Figuren im Text, die vorführen, inwiefern weltliche Gewohnheiten je nach Situation zu hinterfragen sind. König Artus aber muss seiner literarischen Tradition gemäß alte Gebräuche wahren. So impliziert auch seine Blankozusage keine grundlegende Kritik am Hof, sondern betont allein seine Schwäche. Erst der Umgang des Königs mit dem Karrenritter lässt ihn angreifbar werden. Der Mythos beginnt zu bröckeln 64. Die inszenierte unsoziale Position des Bittenden lässt Artus gegen einen Brauch verstoßen, der für seinen Hof konstitutiv ist. Weder der König noch die anwesenden Ritter wollen der Bitte des Karrenritters nachkommen und seinen Platz auf dem Karren einnehmen. So verstößt der König gegen die Gewohnheit der milte, nach der jedem, der am Hofe um Hilfe bittet, auch geholfen wird 65. Die Entehrung des Schandkarrens wirkt mächtiger. Wenn der Anblick genügt, um den Hilfesuchenden zu verspotten und zu verjagen, ignoriert das königliche Urteil geltendes Gastrecht. Das Fehlverhalten des Königs wird umgehend bestraft. Prächtig gekleidet kehrt Bohort, der zweite Karrenritter, an den Hof zurück und verkündet öffentlich, dass Artus als erster König seiner Bitte nicht nachgekommen sei ( II 444, 1–3 ). Vor den Augen der Festgesellschaft entwendet er daraufhin das Pferd des Königs und düpiert den ganzen Hof, indem er die gegen ihn antretenden Artusritter besiegt und auch deren Pferde erobert. So fügt Bohort dem Artushof, der in einem formalistischen ( Rechts- )Denken 60 61
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Grubmüller ( wie Anm. 23 ) S. 15. Auch der des Fußfalls der ganzen Hofgesellschaft gegenüber bleibt er im Unterschied zu Key standhaft. Vgl. Christiane Witthöft, Ritual und Text. Formen symbolischer Kommunikation in der Historiographie und Literatur des Spätmittelalters ( Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst ) Darmstadt 2004. S. 164 f. Steinhoff ( wie Anm. 6 ) 2, S. 925 ( Komm. zu I 832, 29–834, 2 ). Vgl. zu diesem Aspekt Althoff ( wie Anm. 37 ). Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 88: „Die Änderung des Karrenbrauchs signalisiert Artus’ Schwäche vor dem Phänomen des Wandels und damit die tiefe Spannung zwischen Mythos und Geschichte.“ Zum Gastrecht als Gewohnheitsrecht vgl. Haferland ( wie Anm. 50 ) S. 336.
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verharrt und dennoch gegen eigene Gesetze verstößt, nicht zuletzt auch materiellen Schaden zu. Erneut wird der Bruch mit den Konventionen auch von der Frau vom See kritisiert. Sie beklagt ebenfalls in aller Öffentlichkeit, dass der Artushof seinen guten Ruf verloren habe: „König Artus, mann hatt bißhero gesagt, das wer an Ewernn hof käme, es breste ime was da wolltee, unnd hüllf unnd rath begehrte, so fuennde er hüllfe und rath. Aber es erscheynet sich wol uff dießenn tag, das solchs erlogenn ist. [ … ] Und Ir habenn deßenn mehr schannde dann eehre“ ( II 446, 37–448, 9 ). Die Frau vom See weissagt dem König, dass sein Hof veröden und die Aventiuren enden werden 66. Der falsche Umgang mit dem Karrenritter – „das er niemanndts an Ewerm hof hatt finnden mögenn, der umb seinet willen hette uff den karren sitzenn unnnd ine erledigen wöllenn“ ( II 448, 5–8 ) – wird für den Untergang des Artushofes verantwortlich gemacht 67. So markiert diese Episode einen deutlichen Wendepunkt. Es kommt zu einer Verlagerung der wertsetzenden Autoritäten im Text. Der Gral verkörpert eine neue Norminstanz. GEWOHNHEITEN UND NORMEN IM WANDEL
Ein Hof, dessen König gegen Normen verstößt und dem Untergang geweiht ist, kann êre nicht mehr definieren. Das höfische Ehrverständnis, welches auf dem äußeren Schein beruht, lässt den Hof in Misskredit geraten. Der geltende Ehrbegriff muss hinterfragt werden, wenn selbst Ritter, die sichtbar entehrt sind, als die größten Helden angesehen werden. So wird der Umgang mit den Gewohnheiten im zu einem weiteren Beleg, dass arthurische Ehrvorstellungen und andere literarische Traditionen aufgenommen, dann aber peu à peu unterlaufen werden 68. Ganz deutlich wird dies in der Zeichnung der Figur Lancelots. In der Karrenritterepisode führt seine minne zur Veränderung eines zunächst verbindlich geltenden Rechtsbrauchs. Er besteigt als Unschuldiger den Schandkarren, verweigert sich der gesellschaftlichen Aussagekraft seines Handelns und lässt somit subjektive und kollektive Normvorstellungen kollidieren. Nicht mehr Lancelot richtet sich nach geltenden, alten Normen, sondern die jüngeren Normen nach ihm. Indem die Karrenfahrt durch Bohort und Gawan adaptiert, durch mehrere Instanzen, auch von der Frau von See, positiv reflektiert und vom ganzen Artushof neu legitimiert wird, werden seine Innennormen zu Außennormen. Lancelot ist wertsetzende Autorität. Sein Normverständnis, nach dem allein die Absicht und nicht der formale Akt zählt, wird schließlich auch von der Artusgesellschaft akzeptiert. 66
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Anders als im Versroman Chrétiens gibt es keine übergeordnete Instanz mehr, „die Recht und Ordnung garantierte“. Artus verliert seine Funktion. Zudem verlieren auch die Aventiuren ihre feste Zuschreibung, ihre gesellschaftliche Funktion, und dienen nicht mehr „zur Sicherung des Rechts.“ UnzeitigHerzog ( wie Anm. 2 ) S. 172. Vgl. auch Utz ( wie Anm. 5 ) S. S. 372 u. S. 377, der allerdings den Untergang in der „Erstarrung“ des Hofes begründet sieht. Weitere Gründe für den Untergang finden sich in anderen Erzählzusammenhängen, so etwa die Ehebruchsliebe, der Inzest des Königs, das Verschwinden des Grals etc. Vgl. Steinhoff ( wie Anm. 6 ) Bd. V, S. 1049. Vgl. auch Michael Waltenberger, Das große Herz der Erzählung. Studien zur Narration und Interdiskursivität im ( Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 51 ) Frankfurt a. M. 1999, S. 152 ff. Vgl. Haug ( wie Anm. 23 ) S. 249.
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Das aus der höfischen Minne-Thematik entnommene Motiv der Karrenfahrt wird von seiner ursprünglichen Bedeutung gelöst, um dann paradoxerweise zu einem Ende der positiv bewerteten Ehebruchsminne zu führen. Lancelot erfährt auf dem Höhepunkt seiner Dienste für Ginover, die durch den Karren und die Schwertbrücke symbolisiert sind, dass gerade die minne seinen Heldenstatus in der zunichte machen wird 69. An der größten Aventiure, dem Auffinden des Grals, wird Lancelot scheitern. Seine herausragende Position im Text wird er an seinen Sohn Galaad abtreten müssen, der aufgrund seiner kiuscheit zum Heilsbringer prädestiniert ist 70. Die alten Normen der höfischen Ritterlichkeit verlieren ihre Wertigkeit und insbesondere die minne dient nicht mehr länger als Movens höchster Leistungen. Sie wird zur Sünde degradiert, während der Wert der kiuschheit Distinktionsmerkmal wird 71. Dennoch ist von zwei sich gänzlich ausschließenden Weltanschauungen im mittelalterlichen Verständnis nicht auszugehen. Es sei denn, man ignoriere den dritten Teil des Zyklus’, die <Mort Artu> 72. Indem aber die weltlich-höfische Artuswelt vorübergehend von der asketisch-geistlichen Gralswelt abgelöst wird, ändern sich die Normhierarchie und damit einhergehend die Beurteilungskriterien für die Protagonisten. Die Gralsritter unterliegen nicht mehr den höfischen Verhaltensregeln 73. In der dominiert das religiöse Leben vom Suchen und Finden des Grals das Handlungsgeschehen und verdrängt den Artushof und auch seine Normen. So lehnt etwa der zweite Karrenritter Bohort, der für die Gralssuche prädestiniert ist, das Angebot Artus’ dankend ab, in die Tafelrunde aufgenommen zu werden. Der Werthorizont hat sich verschoben. In der zählen andere Werte, die weltlich äußerlichen werden durch innere ersetzt 74. Immer wieder wurde auf den „double esprit“, auf die widersprüchlichen Normwelten hingewiesen 75. Der Bruch wurde unterschiedlich beurteilt. Für die Einen bedeutet dieser die siegreiche Überwindung des höfischen Erzählens durch religiösgeistliche Inhalte, indem die Gralssuche den Sinn stifte, auf den der ganze Roman zentriert sei. Kurz: Es sei ein gelungener auf weltliche Erzählstoffe, eine Art Propagandaschrift gegen die höfische Artusidealität oder gegen eine auto-
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Vgl. Steinhoff ( wie Anm. 6 ) 2, S. 1005. Lancelot wird von der Leitfigur zu einer „Vorläuferfigur“ Utz ( wie Anm. 5 ) S. 374. Vgl. auch Ehlert ( wie Anm. 29 ) S. 109 f.; Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 69; Steinhoff ( wie Anm. 5 ) S. 281; sowie Uwe Ruberg, Raum und Zeit im Prosa-Lancelot ( Medium Aevum 9 ) München 1965, S. 162 f. In der Klosteraventiure offenbart der brennende <Sünder> Symeus Lancelot, dass er aufgrund einer Erbsünde ( Ehebruch des Vaters ) nicht für die Gralsaventiure prädestiniert ist ( II 360, 29–31 ). Lancelots eigene Verfehlungen werden im mittelhochdeutschen Text anders als in den französischen Versionen nicht zur Begründung herangezogen. Vgl. auch Steinhoff ( wie Anm. 6 ) 2, S. 1015 f. ( Komm. zu II 360, 29–31 ). Vgl. Ehlert ( wie Anm. 29 ) S. 110 f.; sowie Steinhoff ( wie Anm. 5 ) S. 284 f. Vgl. Steinhoff ( wie Anm. 5 ) S. 277; sowie Ders. ( wie Anm. 6 ) 2, S. 1013 ( Komm. zu II 354, 29–364, 24 ). Vgl. Utz ( wie Anm. 5 ) S. 375. Anders Utz ( wie Anm. 5 ) S. 372: Die „Maßstäbe wechseln von geschichtlich relativierten zu absoluten.“ Ferdinand Lot, Étude sur le Lancelot en prose, Paris 1954, S. 85 ff. Anders Jean Frappier, Étude sur La Mort le Roi Artu ( Publications Romanes et Françaises 70 ) 2. überarb. Aufl., Genf – Paris 1961, S. 124 f.
König Artus auf dem Schandkarren
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nome, weltliche Literatur 76. Andere Autoren betonen die „Konstanz bestimmter Rahmennormen“, die friedliche Koexistenz oder gar die Autonomie unterschiedlicher Normwelten 77. Ob nun der zweite Teil des „im Sinne einer Revision oder einer Überbietung“ zu verstehen ist, ob sich „die Teile zueinander oder verhalten“ 78, wurde in der Forschung intensiv diskutiert und müsste weiter hinterfragt werden, auch mit Hinblick auf den dritten Teil des Werkes, der den Untergang der Artusgesellschaft umfasst. Vorab bleibt festzuhalten, dass der ein hochkomplexer Text ist, in dem Höfisches und Religiöses nebeneinander in Konkurrenz zu stehen scheinen und mit widerstreitenden Normkonzepten um die Deutungshoheit im Text wetteifern. Den Anspruch auf eine absolute Geltung scheint es nicht zu geben. Denn in der werden die vielen Wahrheiten der höfischen Welt nur vorübergehend durch die eine, göttliche Wahrheit ersetzt 79. In der <Mort Artu> wird das Höfische erneut aktualisiert. Die an gesellschaftlich-politischen Normen orientierte Verstehensebene des Textes wird nur vorübergehend durch theologische Argumentationen überlagert. Integrierte Ritterlehren, Fürstenspiegel und Predigten lassen also sehr unterschiedliche Normgemeinschaften innerhalb einer fiktiven Gesellschaft entstehen, deren Normen nur partikulär wirksam sind. So gehören Normdiskussionen zu den wiederkehrenden Erzählmomenten; ein Erzähler als normsetzende Instanz fehlt 80. Die Veränderung des Karrenbrauchs zeigt letztlich, dass im alle Handlungsnormen relativ und die Figuren der Kontingenz unterworfen sind 81. Zudem werden auch literarische Traditionen immer wieder durchbrochen. König Artus etwa agiert im Einhalten formalistischer Gewohnheiten gemäß der höfischen Tradition. Doch im weiteren Handlungsverlauf wird gerade dieses Verhalten im Umgang mit dem Karrenritter zur Begründung seines Untergangs herangezogen. Auch Lancelot handelt als Diener seiner Minneherrin im Umgang mit dem Karren gemäß der literarischen Tradition richtig. Dann aber ändern sich die Werte und seine minne wird zum Grund seiner Exklusion aus der entscheidenden Gralsaventiure. So ist der Karren nicht mehr nur „Requisit“ des Minnedienstes wie bei Chrétien 82, sondern wichtiger Baustein für die Gesamtkonzeption des . 76
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Vgl. Fritz Peter Knapp, De l’aventure profane à l’aventure spirituelle. Le double esprit du Lancelot en prose, in: Cahiers de civilisation médiévale 32, 1989, S. 263–266. Zum Widerstreit geistlicher und weltlicher Literatur vgl. auch Gerhard Wild, Erzählen als Weltverneinung. Transformation von Erzählstrukturen im Ritterroman des 13. Jahrhunderts ( Fora. Studien zu Literatur und Sprache 1 ) Essen 1993, S. 163 ff. Huber ( wie Anm. 5 ) S. 22 f. mit Anm. 8. Vgl. auch Unzeitig-Herzog ( wie Anm. 2 ) S. 15 ff.; Haug ( wie Anm. 23 ) S. 249; Jane Burns, Arthurian Fictions. Rereading the Vulgate Cycle, Columbus 1985, S. 56 ff.; Klinger ( wie Anm. 23 ) S. 13 ff.; Waltenberger ( wie Anm. 67 ) S. 18 ff.; sowie Ehlert ( wie Anm. 29 ) S. 102 ff. Huber ( wie Anm. 5 ) S. 23. Mit Galaad „beginnt die Epoche der unverhüllten Wahrheit.“ Steinhoff ( wie Anm. 5 ) S. 287. Zu anderen Formen der Normkonstituierung im Text etwa durch die Autorität geistlicher Personen, durch Sanktionen im Erzählverlauf bei Fehlhandlungen oder dadurch, dass der normenkonform Handelnde belohnt und der Verstoßende bestraft wird, vgl. Ehlert ( wie Anm. 29 ) S. 104 ff. Vgl. Ehlert ( wie Anm. 29 ) S. 117. Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 89.
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Christiane Witthöft
Nicht allein die Spielregeln der epischen Welt sind in Bewegung geraten, sondern auch die des Erzählens. Der Karren kann auch als Sinnbild des poetologischen Konzepts des Prosaromans verstanden werden, welches von variierender Wiederholung lebt und von einer Vorläufigkeit beziehungsweise Vieldeutigkeit geprägt ist 83. Nachträgliche Umdeutungen sind neben den zahlreichen Vorausdeutungen im Erzählgefüge nichts Ungewöhnliches, der Sinn entwickelt sich vielfach langsam oder wird im Laufe einer Episode verändert 84. Die Wiederholungen des Karrenritts sind daher nicht nur für die Inszenierung eines Normwandels konstitutiv, sondern auch fester Bestandteil des Erzählgestus der Prosa. Die erste Karrenfahrt wird zu einem Zeichen, welches durch die Wiederholungen neue Deutungsmöglichkeiten bekommt. Am Ende ist der Karren funktionslos geworden, seiner symbolischen Wirksamkeit beraubt. Wie auch immer die Veränderungen in der Normwelt zu bewerten sind – die zentrale Stellung der Karrenaventiure am Übergang vom zur verweist auf eine sehr intendierte und konstruierte Vorbereitung des Normwandels. Daher ist diese Episode entgegen anders lautender Forschungsmeinungen alles andere als funktionslos 85. An der Schnittstelle zweier Normwelten wird der Rezipient durch die auffällige Inszenierung der Wandlung einer Rechtsgewohnheit, durch die Demonstration der Veränderbarkeit gelebten Rechts, auf den Wandel eingestimmt. Je positiver der dargelegte Rechtswandel konnotiert wird, umso negativer muss der Rezipient das dargestellte Bewahren von falschen Traditionen am Artushof auffassen. Die Wahrung äußerer Formen soll eben nicht mehr über den Absichten, über den Intentionen des Einzelnen stehen. Der Karren verliert seine Funktion als formales Rechtssymbol, da die Absichten der Karrenritter für die Beurteilung von ehren- und unehrenhaftem Verhalten ausschlaggebend werden. Dies ist auch ein bleibender Grundgedanke der . Auch im Religiösen wird von den Figuren eine Innerlichkeit verlangt, während rein äußerliche Glaubensleistungen – etwa in der Buße – für sinnlos erachtet werden. Sowohl die rechtlichen als auch die religiösen Handlungsmuster bedürfen der individuellen Bewältigung und Verantwortlichkeit eines jeden Einzelnen. Auf eben diese Aspekte bereitet die Karrenritterepisode vor.
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Vgl. zu diesem Aspekt Wolfzettel ( wie Anm. 8 ) S. 26: „Der umherwandernde Schandkarren, auf den man gleichsam aus wechselnden Lebenssituationen unverhofft aufspringt, wird so fast zum Symbol dieses neuen problematischen Erzählens, das die Einsinnigkeit des Mythos nicht mehr einzuholen vermag und das die Ambivalenz des Mythischen zugleich als unvereinbar mit allegorisch-exemplarischem Erzählen zurückweisen muss.“ Vgl. Steinhoff ( wie Anm. 5 ) S. 286 f.; sowie Wolfzettel ( wie Anm. 8 ) S. 26. Zur Einschätzung der Episode vgl. Wolfzettel ( wie Anm. 8 ) S. 21: Nach Combes sei sie überflüssig, nach Lot sei sie das Herz des Romans. Nach Wolfzettel hingegen hat der Schandkarren wenig mit der Haupthandlung zu tun, präfiguriert „aber das Ende des Artusreiches.“ ( S. 25 ). Zur Funktion der für die Gesamtkonzeption des Prosaromans vgl. Fromm ( wie Anm. 3 ) S. 89; sowie Huber ( wie Anm. 5 ) S. 22.
Differentielle Sanktionsinteressen
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ALOIS HAHN
Differentielle Sanktionsinteressen 1. Strafe und Vergegenwärtigung, S. 381. – 2. Anamnesis, Amnesie und Amnestie, S. 383. – 3. Strafvermeidung und die Inszenierung von Vergessen, S. 384. – 4. Strafe als Öffentlichkeit der Marter, S. 388. – 5. Sanktionsohnmacht und Sanktionsverzicht, S. 389.
1. STRAFE UND VERGEGENWÄRTIGUNG
In der Soziologie spricht man von Sanktion im positiven und im negativen Sinne. Also sowohl Belohnungen als auch Strafen sind für sie Sanktionen. Im folgenden Text beschränke ich mich aber auf die negativen Sanktionen. Es geht ausschließlich um Strafen. Alle Strafe ist Erzählung. Wäre sie es nicht, sie ließe sich vom Verbrechen nicht unterscheiden, das sie ahndet. Strafe kann – ihrem Selbstverständnis nach – niemals der Anfang sein. Sie behauptet sich immer als Antwort auf etwas, das ihr vorausging. Daraus erwächst ihr der Zwang zur Vergegenwärtigung von Vergangenem. Strafe findet zwar immer zu einem bestimmten Zeitpunkt als Gegenwärtiges statt, aber gäbe es den Bezug auf Früheres nicht, wäre die Gewalt der Strafe blankes Unrecht. Nulla poena sine lege. Freilich handelt es sich hier um eine Erzählung eigener Art. Es geht um Beschwörung von Vergangenem, um eine Form der Erinnerung, die Tötung, Schmerzen oder Schmerzsurrogate wie Verbannung, Ächtung, Ehrverlust, Geld- oder Freiheitsentzug zur Folge hat. Es waltet deshalb ein bestimmter Formzwang, der sowohl die Selektion der zu erinnernden Ereignisse festlegt als auch die Logik der Narration selbst. Der gleichsam historische Bericht von Geschehenem wird verknüpft mit Tat- oder Verantwortungszuschreibungen einerseits. Das stellt den Vergegenwärtigungsaspekt des Strafprozesses dar. Andererseits wird diese Darstellung mit Folgen verbunden, die Zukünfte festlegen, eben die Exekution der Strafe im eigentlichen Sinne. Man könnte sich gewiss auch vorstellen, dass Strafe als Vergegenwärtigung von Zukunft organisiert wird. Genauer gesagt, Inszenierung von möglichen Zukünften, die durch Strafe gerade verhindert werden sollen, z. B. als Abschreckung. Die Inhaftierung, Verstümmelung oder Hinrichtung eines Täters kann auch von der Absicht getragen sein, zumindest vor i h m in Zukunft sicher zu sein. Aber wenn es sich um S t r a f e n handelt, muss auch die durch sie verhinderte Zukunft auf eine Vergangenheit bezogen werden. Weil X gemordet h a t , sperrt man ihn ein, damit er in Zukunft nicht erneut morden kann. usw. Fehlt diese Bindung an Vergangenes, wird Strafe ersetzt durch etwas völlig anderes. Die durch Strafe gestiftete Erinnerung ist keinesfalls einfach Sicherung von zeitlicher Kontinuität. Strafe ist im Gegenteil meist drastische Unterbrechung. Die Zusammenhänge, die sie herstellt, springen gleichsam aus der strömenden Zeit heraus. Strafe ist zeitliche Z ä s u r . Nicht die Zeit legt fest, was durch Strafe erinnert werden soll. Vielmehr definiert umgekehrt die Strafe, welche Ereignisse durch sie verbunden
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und welche Zeitstrecken dadurch gerade übersprungen werden sollen. Viele Jahre normaler bürgerlicher Existenz, die zwischen dem Verbrechen und seiner Sühnung liegen, werden durch die Strafe gleichsam für ungeschehen erklärt. Sie stellt Anschluss durch Abbruch her. Das ist immer mit einer nicht per se plausiblen Gewaltsamkeit, ja Künstlichkeit verbunden. Das Erinnern der Strafe muss darstellen, warum vieles andere vergessen werden muss und bislang Vergessenes von nun an das Einzige ist, das nicht vergessen werden darf. Das ist der Anspruch, den Strafe erhebt. Gerade weil sie <einschneidend> ist, versteht sie sich nicht von selbst. Verjährungsfristen sind ein Hinweis auf das Problem der Vergegenwärtigung von zeitlich Entlegenem. Zumal es hier nicht bloß um ein harmloses Erinnern in dem Sinne geht, dass lediglich ein Ereignis registriert wird. Die Erinnerung, um die es sich hier handelt, hat in jedem Falle eine dramatische Bedeutung für die Betroffenen. Sie verändert deren Identität selbst dann, wenn es ihnen nicht ans Leben geht. Der Radikalität der Unterbrechung entspricht der Zwang zur Darstellung der Gründe. Strafen können zwar einfach beschlossen und vollstreckt werden. Aber selbst im Extremfall bloßer Willkür werden wenigstens Rudimente von Begründungen fällig, die ein Minimum sozialer Anerkennung sichern sollen. Das Gegenwärtige als solches lässt aber von sich aus nicht ohne weiteres erkennen, dass es sich als Antwort auf Früheres verstanden wissen will. Strafen beziehen sich nur im Ausnahmefall auf etwas, das direkt vorausgeht. So wie wenn ich unverzüglich auf eine Beleidigung mit einer Ohrfeige oder einer Beschimpfung reagiere. Die Vergangenheit, die zur Strafe gehört, muss herbeizitiert werden. Oft müssen viele Jahre übersprungen werden, um an den Punkt zu gelangen, den die Strafe vergegenwärtigt ( Beim Jüngsten Gericht Gottes kann es gar die halbe Ewigkeit sein, die zwischen Schuld und Strafe liegt ). Weil es unter Umständen lange Intervalle zwischen der Strafe und dem Ereignis gibt, auf das sie sich bezieht, ist Inszenierung erforderlich. Nur sie kann zeitlich oft extrem Entferntes sinnfällig zusammenbinden. Wäre man zufällig Zeuge einer Hinrichtung, ohne zu wissen, dass es sich hier um eine Strafe handelt, könnte man leicht die Strafe für das Verbrechen halten und nicht für dessen Folge. Alles Strafen muss deshalb darauf verweisen, dass es der letzte und nicht der erste Akt eines Dramas ist. Strafen sind daher als solche erst durch Verfahren der Schuldzuweisung zu erkennen. In m o d e r n e n Rechtsstaaten nehmen diese üblicherweise den Charakter von Gerichtsprozessen an, in denen nach mehr oder minder festgelegtem Ritual ein Verbrechen rekonstruiert wird. Dann wird versucht zu beweisen, dass der Angeklagte der Täter ist. Dieser erhält dabei Gelegenheit, sich zu verteidigen, also Täterschaft und Schuld zu bestreiten. Am Schluss wird seine Schuld durch ein Urteil festgelegt und das Strafmaß bestimmt. Der Prozess ist das einzig Gegenwärtige. Hier wird die ( meist ) unter Ausschluss der Öffentlichkeit begangene Tat und die ebenfalls unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu erleidende Strafe als Verhältnis von Ursache und Wirkung definiert. Die Tat und die Strafe sind nur symbolisch präsent. Ihre empirische Wirklichkeit liegt aus der alleingegenwärtigen Perspektive des Urteils in der Vergangenheit bzw. in der Zukunft. Gerade weil sie a b w e s e n d sind, müssen sie dargestellt werden. Aber auch dort, wo, wie in vielen vormodernen Gerichtsordnungen, der eigentliche Prozess geheim geführt wird und nur die Strafe öffentlich erfolgt, wird typischerweise zumindest das Geständnis, nicht aber der Foltervorgang, der zu ihm
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führte, so inszeniert, dass der Zusammenhang zwischen aktueller Strafe und vergangener Schuld sichtbar wird. So wie bei allem Erzählen so gilt auch für Gerichtsstrafen, dass nicht alles berichtet werden kann, was geschehen ist. Viele Verbrechen bleiben ungesühnt, manche sogar auch unentdeckt. Wenn auch die Fiktion proklamiert wird, quidquid latet, apparebit, so ist doch für irdische Kontexte gerade das Gegenteil evident. Einer der Gründe dafür liegt darin, dass die Kosten für eine totale Überwachung und Ahndung sehr viel höher wären als der Schaden, der durch das Verbrechen entsteht. Das trifft selbst für moderne Staaten zu. In viel höherem Maße aber für die Welt des Mittelalters, das ja nicht über stehende Heere, große Polizeiapparate und Kontrollsysteme verfügt, wie wir sie kennen. Alles Strafen ist somit selektiv. Das betrifft aber nicht nur die Entdeckung von Verbrechen, die dann geahndet werden. Das Interesse an der Entdeckung selbst versteht sich nicht von selbst. Nicht nur die Überwachung ist nicht ohne Kosten, auch die Strafe hat stets unbeabsichtigte Konsequenzen, die ein Motiv sein können, selbst e n t d e c k t e Taten nicht sichtbar werden zu lassen, da man sonst strafen m ü s s t e . Ein Interesse an Geheimhaltung hat unter Umständen nicht nur der Täter, sondern auch das Opfer oder die für es agierende Gemeinschaft, wie wir später noch illustrieren werden 2. ANAMNESIS, AMNESIE UND AMNESTIE
Alle Strafe ist also Anamnesis. Sie inszeniert sich jedenfalls so. Das hat sie übrigens mit der Historie gemeinsam. Man könnte geradezu sagen, sie sei ihr gegenüber eine Radikalisierung. Das Rankesche Postulat, die Vergangenheit so zu erzählen, wie sie sich wirklich zugetragen hat, gilt für die juristische Anamnesis in verschärftem Maße. Denn nur wenn diese Forderung als erfüllt plausibel erscheint, kann Strafe den Anspruch erheben, Strafe zu sein. Bisweilen kann freilich das Interesse an der Bestrafung so groß sein, dass man die Vergangenheit erfinden muss, die zu ihr passt. Alle Folterungen und Schauprozesse legen dafür Zeugnis ab. Aber die kritische Beobachtung, die solche Inszenierungen als Fiktion denunziert, sollte nicht übersehen, dass selbst noch in der Fiktion am anamnetischen Charakter der Strafe festgehalten wird. Das Interesse an der Bestrafung erfindet dann die Vergangenheit, als deren Folge sie sich legitimiert. Deshalb spielen Bekenntnisse und Geständnisse in diesem Kontext eine so wichtige Rolle. Sie sind als Authentifizierung des erinnernden Charakters von Strafe von hoher intuitiver Überzeugungskraft. Aber die Aussagen von Zeugen oder Indizien erfüllen diesbezüglich die gleiche Funktion, wenn auch – vor allem im Mittelalter – das Geständnis als die ideale Form der Verknüpfung von Gegenwart der Strafe und der Vergangenheit der Tat galt und deshalb in manchen Fällen die Voraussetzung für die Exekution unabdingbar war. Aber die Kosten solcher institutionalisierter Anamnesis sind oft nicht gering. Schon der Ermittlungsaufwand kann so hoch sein, dass man lieber auf ihn verzichtet. Das führt dann auch in gegenwärtigen deutschen Strafprozessen immer häufiger zu sogenannten . Der Angeklagte gibt seine Schuld zu und erhält dafür eine Strafmilderung. Auf die genaue Aufklärung des Tatbestandes wird dabei verzichtet. Hermann Summa, Richter am Oberlandesgericht in Koblenz, kommentiert die entsprechenden Aushandlungsprozesse zwischen Verteidigung, Staatsanwaltschaft und
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Richtern wie folgt: „Geredet wird von einem . Der real existierende Deal ist aber geprägt von Drohungen und Täuschungen; die Auswüchse – wie etwa die sogenannte Sanktionsschere ( zwei Jahre mit Bewährung bei Geständnis, fünf Jahre bei Anwendung der Strafprozessordnung ) – sind keine Ausnahme. Das Ergebnis ist fast immer ein Handel mit der Gerechtigkeit. Die öffentliche Hauptverhandlung wird zu einer Farce, die nur der Täuschung der Öffentlichkeit dient. tritt an die Stelle der Gerechtigkeit. ( … ). Am real existierenden Deal ist der Beschuldigte in der Regel überhaupt nicht beteiligt. Vielmehr wird ihm von seinem Verteidiger nahegelegt, das zu schlucken, was die Juristen ausgeheckt haben. Das Grundübel, so die frühere BGHRichterin und jetzige Generalbundesanwältin Harms, liegt im gemeinsamen Interesse von Richtern, Verteidigern und Staatsanwälten, das Verfahren möglichst schnell über die Bühne zu kriegen. Ein Angeklagter, der seine Sicht der Dinge darstellen will oder sogar an Aufklärung interessiert ist, würde dabei nur stören.“ 1 Summa zitiert in diesem Kontext den Vizepräsidenten des BVG aus dessen Rede vom 24. 3. 2006 in der Frankfurter Paulskirche: „Der Sinn der Absprachen besteht darin, die lästigen Kategorien des traditionellen Strafrechts aus dem Strafverfahren herauszuhalten, sobald sie stören. Der Deal ist das schiere Gegenteil eines professionellen Interesses an Unrecht und Schuld. Dieses Interesse, und genau das umgehen die Absprachen, setzt dreierlei voraus: Rekonstruktion, Genauigkeit, Vergangenheitsorientierung Die Vergangenheit soll ruhen, die Aufklärung des wirklichen Geschehens wird durch die gegenwärtige Zustimmung der Beteiligten zu einem bestimmten Ergebnis ersetzt, über den Rest geht der Schwamm.“ 2 Wer die einschlägigen Arbeiten von Gerd Althoff über analoge Vorgänge im Mittelalter gelesen hat, kann nur konstatieren: . 3. STRAFVERMEIDUNG UND DIE INSZENIERUNG VON VERGESSEN
Das Interesse an Aufklärung kann aber auch aus anderen Gründen sehr gering sein. Oder besser gesagt: Das Interesse an Nicht-Aufklärung kann überwiegen. Dass man den Mord an den Erschlagenen sühnt, ist dann weniger wichtig, als dass man die Toten ruhen lassen soll. Statt Anamnesis richtet sich dann das Interesse auf Amnesie im Kognitiven und auf Amnestie im Praktischen. Solche Formen der entspringen typischerweise einer Situation, in der die <Schuldigen> entweder zu mächtig oder zu zahlreich sind, als dass man sie einfach bestrafen könnte. Entweder sie selbst oder ihre Angehörigen oder Anhänger werden noch gebraucht. Ein wäre nur möglich, wenn man auch das <et pereat mundus> in Kauf nähme. Woran in den meisten Fällen kein Interesse bestehen kann. Das Problem wird üblicherweise folgendermaßen : In einer ersten Phase werden die am meisten Verhassten sanktioniert. Gleichsam als Zugeständnis an die Dann aber: Von einer bestimmten Phase an versucht man einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen. Man unterscheidet Rädelsführer von Mitverantwortli-
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Hermann Summa, Die Hauptverhandlung wird zur Farce, in FAZ, 19. 9. 2007, S. 8 ( Leserbrief ). Ebd.
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chen und bloßen Mitläufern. Man hält sich an die prominenten Schuldigen. Die anderen lässt man laufen. Denkt man etwa an die französischen Amnestiegesetze nach der Niederlage des Pétain-Régimes, so lässt sich ein typischer, auch sonst vorfindbarer Verlauf erkennen. Zunächst der Volkszorn gegenüber den am meisten sichtbaren Symbolfiguren des Régimes und den besonders horriblen Kollaborateuren in der Nachbarschaft. Dann aber werden von einem bestimmten Zeitpunkt an, eben der Amnestiesituation, Belastete nicht nur nicht mehr verfolgt, sondern schon die sie beschuldigende Enthüllung der Vergangenheit als solche wird als Friedensstörung gesetzlich untersagt. Erst in einer dritten Phase, in der die meisten Kollaborateure und Täter verstorben sind, lässt sich eine späte Sanktionierung bislang übersehener Einzeldelinquenten ins Auge fassen, die sich, weil sie sich – sozusagen durch die Ungnade des allzu langen Lebens, der Verfolgung nicht entzogen haben. Erst jetzt wird die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit sozial leistbar. Viele Ethnologen haben bei Analysen der Aufarbeitung von Schuld in schriftlosen Kulturen immer wieder erstaunt berichtet, dass man die Thematisierung von Schuld vermeidet, dass man öffentliche Schuldbekenntnisse umgeht, ja dass man vielfach von Bestrafung der an sich bekannten Täter absieht und statt dessen rituelle Opferungen von ( nach unseren Begriffen ) Schuldlosen vornimmt. Es geht darum, rituell zu vermeiden, dass die an einen Mord anschließende Opferung als Strafe inszeniert wird. Es hat nicht an ethnologischen Stimmen gefehlt, die den die Fähigkeit abgesprochen haben, so abstrakte Konzepte wie ethische Schuld und moralische Verantwortung überhaupt zu bilden und die den Rekurs auf magische Praktiken und Konzepte von ritueller Unreinheit als bloßes Defizit konstatierten. Demgegenüber möchte ich geltend machen, dass die Vermeidung von Schuldzumessungen und Strafzuweisungen sehr wohl eine aktive institutionelle Leistung sein kann. Eine Reihe von Arbeiten zeigt denn auch, dass selbst da, wo Bekenntnisse vermieden, Dramatisierung von Schuldzuweisung umgangen wird, die Identifikation des Täters sehr wohl stattfindet. Der problematische Charakter zumindest von öffentlichen Schuldvorwürfen ist soziologisch einigermaßen plausibel. Jede dramatische Enthüllung von Verbrechen und Übertretung von Normen führt zunächst einmal zur Erschütterung des Glaubens an die Gültigkeit des Geltenden. Die berühmte These Durkheims, welche die Funktionalität der Verbrechen aus der durch sie ausgelösten normverstärkenden Empörung über die Tat und die integrierende Wirkung der Strafriten ableitet, ist von daher zu relativieren: Gerade in Gesellschaften ohne Zentralinstanz oder mit relativ machtlosen Zentralinstanzen bleibt die integrative Wirkung von Strafen höchst prekär. Abweichung ist an sich schon problematisch. Ihre Thematisierung wiederholt, dramatisiert und steigert den Aufwand der ( Luhmann ). Das gilt jedenfalls besonders in den Fällen, wo die handlungsleitenden Regeln in geringer Distanz zu den Handlungen selbst stehen. Und das trifft auf der Ebene der Gesellschaft vor allem für die Gesellschaftstypen zu, die nicht über Schrift, nicht über autoritätsgestützte neutrale Instanzen verfügen. Aber selbst in Gesellschaften, in denen solche Institutionen an sich existieren, wirken sie sich nicht in allen Gruppen aus. In modernen Ehen beispielsweise führt schon die Thematisierung von Schuld zu oft gruppensprengenden Konflikten. Ehepartner können einander nicht wirklich <strafen> ohne ihre Beziehung aufs Spiel zu setzen.
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Viele Normen – und ihre kontrafaktische Geltung im Sinne Luhmanns 3 – können sich nur deshalb erhalten, weil ihre Übertretungen nicht bekannt werden oder nicht mitgeteilt werden dürfen. Die Einsicht in diesen Zusammenhang hat lange soziologische Tradition 4. Das Interesse nicht nur der Individuen 5, sondern auch bestimmter Institutionen 6 an Latenzschutz 7 kann massiv in Widerspruch geraten zu öffentlichen Schuldbekundungen und Bestrafungen. Öffentliche Schuldbekenntnisse oder Anklagen haben, wenn sie nicht rein rituell und ohne Verweis auf konkrete einzelne Taten erfolgen ( wie das z. B. im allgemeinen Sündenbekenntnis der Gemeinde im Gottesdienst oder im geschieht: quia peccavi verbis operibus et cogitationibus ), überall die unabweisbare Konsequenz, zur Strafe aufzufordern. Strafe und Konfession hängen insofern tatsächlich – wie Durkheim es beschrieben hat – eng zusammen. Aber bei fehlender Zentralinstanz ergeben sich eben hier die Probleme. Fast immer gilt – und jedenfalls trifft das auf Kapitalstrafen zu – dass Strafhandlung und Verbrechen eine große Ähnlichkeit aufweisen. Für alle einfachen Gesellschaften und für Gruppen in modernen Gesellschaften, die ihre inneren Angelegenheiten unter sich ausmachen müssen, also zur Lösung ihrer Probleme erst dann auf übergeordnete Instanzen zurückgreifen können, wenn sie sich als Gemeinschaften bereits aufgegeben haben, ist mit jeder Dramatisierung von Schuld folglich der virtuelle Anfang eines Rachezyklus gesetzt. Die hier gegebenen Zusammenhänge sind besonders eindringlich von René Girard am Beispiel der Chuchki analysiert worden, so wie sie Lowie in „Primitive Society“ geschildert hatte. Bei den Chuchki bieten demnach die Angehörigen der Gruppe eines Mörders oder Totschlägers ( A ) unmittelbar im Anschluss an die Tat der Gruppe des Ermordeten ( B ) als Sühne das Opfer eines Mitglieds der eigenen Gruppe ( A ) an, das dann von seiner eigenen Gruppe ( A ) getötet wird. Denn wenn die Gruppe des Ermordeten ( B ) die Tötung vollzöge, wäre die Gruppe ( A ) gezwungen, diesen zweiten Mord zu rächen. Was aus der Perspektive von B Antwort auf eine frühere Tat – also Strafe – wäre, wäre aus der Sicht von A ein erneutes Verbrechen, auf das mit Strafe reagiert werden müsste. Um den Zusammenhang von Opfer und Schuld systematisch zu kaschieren, opfern die Chuchki niemals den Mörder selbst. „Ce n’est pas au coupable qu’on s’intéresse le plus mais au victimes 3
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Sie ist für Luhmann geradezu das Definiens für Normen überhaupt: „Normen sind demnach kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen. Ihr Sinn impliziert Unbedingtheit der Geltung insofern, als die Geltung als unabhängig von der faktischen Erfüllung oder Nichterfüllung der Norm erlebt und so auch institutionalisiert wird.“ Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 1, Reinbek 1972, S. 43. Der klassische Text hierzu ist: Georg Simmel, Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, in: Ders., Soziologie, 4. Auflage Berlin 1958 ( zuerst 1908 ), S. 257–304. Ferner: Wilbert E. Moore – Melvin M. Tumin, Some Social Functions of Ignorance, in: American Sociological Review 14, 1949, S. 787–795; Louis Schneider, The Role of the Category of Ignorance in Sociological Theory, in: American Sociological Review 27, 1962, S. 492–795. Dass individuelles Rollenhandeln auf Verhüllungen angewiesen ist, hat, neben viel anderen, besonders eindrucksvoll Erving Goffman gezeigt. Vgl. etwa: Erving Goffman, On Face-Work, in: Psychiatry 18, 1955, S. 213–231, Ders., Embarassment and Social Organization, in: American Journal of Sociology 62, 1956, S. 264–271, und Ders., The Presentation of Self in Everyday Life, Edinburgh 1956. Vgl. hierzu etwa die inzwischen klassische Arbeit von Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968. Vgl. Robert K. Merton, Manifest and Latent Functions, in: Ders., Social Theory and Social Practice. Revised and enlarged Edition, Glencoe 1963 ( zuerst 1949 ), S. 19–84.
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non vengées; c’est d’elles que vient le peril le plus immédiat; il faut donner à ces victimes une satisfaction strictement mesurée, celle qui apaisera leur désir de vengeance sans l’allumer ailleurs. Il ne s’agit pas de faire légiférer au sujet du bien et du mal, il ne s’agit pas de respecter une justice abstraite, il s’agit de préserver la sécurité du groupe en coupant court à la vengeance …“ 8 Die gleiche Situation, wenn natürlich auch nicht für Bluttaten, ergibt sich in der Sphäre der Schuld jenseits physischer Gewalt auch in modernen Gesellschaften innerhalb sozialer Gruppen, die zur Regelung ihrer Konflikte nicht auf äußere Agenten – wie etwa den Staat – zurückgreifen können, ohne sich selbst aufzugeben. Auch hier würden Dramatisierungen der Schuld vor interner Öffentlichkeit den in Gang setzen oder – um ein weniger pathetisches Wort zu benutzen und Paul Watzlawick zu zitieren – „Interpunktionsprobleme“ heraufbeschwören. Weil die Strafe der zu sühnenden Tat zu ähnlich ist, lässt sich bald nicht mehr zwischen beiden unterscheiden. Jeder schiebt dem anderen sein in die Schuhe. In Gesellschaften oder Gruppen ohne überlegene Zentralgewalt, die in der Tat in der Lage ist, das Legitimitätsmonopol physischer Gewaltausübung oder unbestreitbarer Parteiüberlegenheit ( also Neutralität ) durchzusetzen, ist der Verzicht auf Thematisierung von Schuld folglich oft eine wesentliche Voraussetzung für Frieden. Das, worauf es unter solchen Umständen zur Erhaltung des Friedens ankommt, ist rituelle Ablenkung vom Schuldigen. In den zahlreichen Fällen, in denen sog. primitive Gesellschaften das praktizieren, handelt es sich also nicht um Unfähigkeit zur Erfassung abstrakter Schuldbegriffe, sondern um sozial aktive Verschiebung der Aufmerksamkeit auf Ersatzobjekte zur Unterbrechung des Rachezyklus: „Nous nous imaginons toujours que la différence décisive entre le primitif et le civilisé consiste en une certaine impuissance du primitif à identifier le coupable et à respecter le principe de la culpabilité. C’est sur ce point que nous nous mystifions nous-mêmes. Si le primitif paraît se détourner du coupable avec une obstination qui passe à nos yeux pour de la stupidité ou de la perversité, c’est parce qu’il redoute de n o u r r i r la vengeance“ 9. Für unsere theoretischen Zwecke lässt sich dieser Ansatz indessen generalisieren: nicht nur physische Gewalt ( obwohl sie in zugespitztem Sinne ) löst Rachezyklen aus, sondern virtuell jede Dramatisierung von Schuld mit anschließender Vergeltung ( wobei die Besonderheit von Gewalt natürlich darin zu sehen ist, dass auch ursprünglich nicht gewaltsame Formen von Schuld und Ahndung zu Gewaltsamkeiten führen können ). Dramatisierung von Schuld durch Bekenntnisse ist also mit Frieden nur vereinbar, wenn es dieses erwähnten Zyklus gibt. Wer oder was aber käme als in diesem Sinne in Frage? In Gesellschaften ohne Zentralgewalt nimmt das Opfer diesen Platz ein. Aber seine Unterbrecherfunktion bleibt gleichwohl prekär. Die Ablenkung kann missglücken, weil die Opfer ( im Sinne von victima ), die geopfert werden ( im Sinne von sacrificium ) nicht als angemessen erscheinen ( das Lamm ersetzt den Isaak nicht: die Ähnlichkeit zwischen dem <eigentlich> gemeinten Schuldigen und dem Sündenbock ist zu gering ) oder umgekehrt, weil die rituelle Immunisierung misslingt: die Gruppe, deren 8 9
René Girard, La violence et le sacré, Paris 1972, S. 37. Ebd., S. 38.
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Mitglied geopfert wird, empfindet diese Opferung als Rache ( die Ähnlichkeit zwischen dem Opfer und dem eigentlich gemeinten Schuldigen ist zu groß ). 4. STRAFE ALS ÖFFENTLICHKEIT DER MARTER
Eine erheblich wirksamere Unterbrechung des Rachezyklus ergibt sich erst mit der Entstehung von Zentralgewalten. In dem Maße, in dem sie tatsächlich die Anwendung physischer Gewalt monopolisieren können, etablieren sie sich als der Rache entzogene Rächer. Das Prinzip wäre für jede Gesellschaft ohne Staat eine ernsthafte Bedrohung für das Überleben der Gruppe. Erst in zumindest rudimentär ausgebildeten staatlich verfassten Gesellschaften wird es relativ gefahrlos möglich, Schuld öffentlich zu bekennen und nach dem Prinzip der Gleichgewichtigkeit von Schuld und Bestrafung zu verfahren. Es ist deshalb nicht zufällig, dass die eigentliche historische Stunde für Geständnisse als Dramatisierung der Schuld und Historie als Dramatisierung des Ruhms mit der Entstehung von Hochkulturen zusammenfällt. Staatlich administrierte Gerechtigkeit wird dann die institutionelle Voraussetzung für relativ gefahrlose Thematisierung von Schuld. Das Opfer ( im Sinne von sacrificium ) wird – jedenfalls prinzipiell – ersetzbar durch das Gericht. Die Sprengkraft, die aller Ethisierung von Schuld innewohnt, wird erst in Hochkulturen zähmbar. „Si notre système nous paraît plus rationnel c’est, en vérité, parce qu’il est plus strictement conforme au principe de vengeance. L’insistance sur le châtiment du coupable n’a pas d’autre sens. Au lieu de travailler à empêcher la vengeance, à la modérer, à l’éluder, ou à la détourner sur un but sécondaire, comme tous les procédés proprement religieux, le système judiciaire rationnalise la vengeance … Ne représentant aucun groupe particulier, n’étant rien d’autre qu’elle-même, l’autorité judiciaire n’hésite jamais à frapper la violence en plein coeur parce qu’il possède sur la vengeance un monopole absolu. Grâce à ce monopole, il réussit, normalement à étouffer la vengeance, au lieu de l’exaspérer, au lieu de l’étendre et de la multiplier, comme le ferait le même type de conduite dans une société primitive. Le système judiciaire et le sacrifice ont donc en fin de compte la même fonction mais le système judiciaire est infiniment plus efficace. Il ne peut exister qu’associé à un pouvoir vraiment fort.“ 10 Erst Hochkulturen lassen dramatische Formen von Schuldthematisierung zu. Justiz und Gerichtswesen treten hier in nennenswerter Form erstmals auf. Gleichzeitig ermöglichen und erzwingen sie ein höheres Ausmaß von Individualisierung und versperren insofern die Möglichkeit, persönliche Schuld durch kollektive Strafen abzuarbeiten. Hier erst wird es möglich, nicht nur öffentliche Schuldzuweisungen zu inszenieren, sondern auch grausamste Strafen als Schauspiel aufzuführen, ohne dass die Angehörigen der Hingerichteten zur Blutrache schreiten könnten. In Gesellschaften ohne Zentralgewalt ist demgegenüber jede Strafe immer auch als zu rächendes Verbrechen der Sippe interpretierbar, die sie vollstreckt. Der Staat aber entzieht sich jeder Möglichkeit, sich an ihm zu rächen. Aber auch da, wo es im Prinzip sehr wohl Zentralgewalten gibt wie den König oder Kaiser oder städtische Justiz im Mittelalter kann das Interesse an Friedenssicherung das Interesse an Bestrafung erheblich einschränken. So zeigt z. B. Franz-Josef Arlinghaus in einer Studie über die Rechtsprechung in Köln 10
Ebd., S. 38 f.
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( Unveröffentlichte Habilschrift Kassel 2006 ) 11, dass die mittelalterliche Rechtsprechung sowohl der Ratsgerichte der Stadt als auch des erzbischöflichen Hochgerichts zunächst darauf gerichtet war, Sanktionen zu vermeiden und vielmehr friedlichen Ausgleich zwischen den Parteien zu erreichen versuchte. Was soweit ging, dass schon bereits der Versuch, vor Gericht eine Sanktionierung der gegnerischen Partei zu erzwingen, nicht ohne Risiko war: Wer Sanktionierung verlangt, stört virtuell den städtischen Frieden und riskiert selbst aus der Stadt verbannt zu werden. 5. SANKTIONSOHNMACHT UND SANKTIONSVERZICHT
Grundsätzlich ist bei Nichterfüllung von Erwartungen mit Enttäuschungserlebnissen zu rechnen. Die Frage ist, wie man auf diese Enttäuschung reagiert, wie sie abgearbeitet wird. Eine Möglichkeit besteht immer darin, den Verstoß zu übersehen. Man kann sogar eigens Vorkehrungen dafür treffen zu verhindern, eine Gesetzesübertretung bemerken zu müssen. So schickt in einer Novelle von Luigi Pirandello ein Bauer stets einen Boten zu seiner Frau, bevor er heimkehrt. Auf diese Weise schützt er sich davor, sie beim Ehebruch in flagranti zu erwischen. Das nämlich zwänge ihn, den Ehebrecher und seine Frau zu töten, was er unter allen Umständen vermeiden will. ( Die Tragik der Geschichte besteht dann allerdings darin, dass die Verwandten den Boten abfangen und so den Ehemann zwingen, den Ehebruch zu konstatieren und die Sanktionslawine auszulösen ). Das Verfahren ist aber nicht nur in Novellen über das Leben in Sizilien verbreitet. <Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß> ist auch nicht nur nicht nur im Privatleben eine probate Strategie, um sich dem Zwang zu entziehen, strafen zu müssen oder doch wenigstens Anzeige zu erstatten oder sich moralisch zu empören. Die sizilianische Omertà und das Wegschauen bei erlebter Kriminalität haben insofern bei aller Verschiedenheit im Übrigen strukturelle Gemeinsamkeiten. Manchmal lässt sich die Wahrnehmung der Erwartungsverletzung nicht kaschieren. Auch dann bleiben, wie Luhmann gezeigt hat, zwei Alternativen übrig: Man kann lernend oder kontrafaktisch stabilisierend reagieren. Die lernende Reaktion bestünde darin, dass man die Erwartung aufgibt. Ich dachte, man könne seinen Geldbeutel im Bahnhof liegen lassen, ohne damit rechnen zu müssen, dass ihn jemand stiehlt. Inzwischen weiß ich, dass es töricht war, eine solche Erwartung zu hegen. Jemand dachte, als Ehemann auf ehelich Treue einen Anspruch zu haben, inzwischen weiß er, dass die Erwartung selbst fehlerhaft war und der sexuellen Selbstbestimmung der Partnerin widerspricht. Man kann auch kontrafaktisch stabilisierend, also normativ, auf die Normverletzung antworten. Zwar wurde man enttäuscht. Aber die Schuld daran fällt nicht auf den unangemessen Erwartenden, sondern auf den, der die Norm verletzt hat. Die Erwartung wird also nicht als unrealistisch gestrichen, sondern aufrechterhalten. In diesem Zusammenhang spielen nun Sanktionen eine wichtige Rolle. Gewiss mögen sie manchmal als Abschreckung gegenüber zukünftigen Abweichungen speziell oder generell präventiv wirken. Aber das ist möglicherweise nicht das Wichtigste. Die Hauptsache ist, dass die Legitimität der Erwartung symbolisch verdeutlich wird. Das Opfer
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Franz-Josef Arlinghaus, Inklusion/Exklusion. Funktion und Formen des Rechts in der spätmittelalterlichen Stadt. Das Beispiel Köln, im Druck.
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war nicht im Unrecht, sondern der Täter. Die Sanktion führt also nicht in jedem Falle zur realen Entschädigung, sondern zur Bekräftigung der Legitimität der Erwartung. Man kann auch nicht davon ausgehen, dass Sanktionsfurcht das zentrale Fügsamkeitsmotiv normkonformen Verhaltens oder des Gehorsams gegenüber Befehlen der Obrigkeit ist. Das spielt zwar gewiss eine wichtige Rolle. Stabiler und dauerhafter ist aber in beiden Fällen der Legitimitätsglaube. Wir gehorchen Normen und herrschaftlichen Befehlen nicht nur, weil wir Vorteile erwarten und Nachteile vermeiden wollen, sondern weil wir unsere Fügsamkeit für unsere Pflicht halten, weil wir Gehorsam für richtig ansehen. Genau diesen Zusammenhang hat Max Weber in seiner Theorie der legitimen Herrschaft expliziert. Die Sanktion behauptet deshalb kontrafaktisch die Legitimitätsgeltung der verletzten Norm oder des herrschaftlichen Gehorsamsanspruchs z. B. des Königs gegenüber seinen Vasallen. Gerade der mittelalterliche Umgang mit Vasallenuntreue zeigt deshalb eine merkwürdige Kombination von lernenden und kontrafaktisch stabilisierenden Reaktionen. Ich habe das anderweitig in einer dargestellt und beschränke mich deshalb hier auf Andeutungen. Lernend verhält sich etwa Barbarossa, wenn er seinen unbotmäßigen Vasallen kniefällig um Beistand bittet. Er weiß, er kann die Gefolgschaft nicht erzwingen. Die feudalen Gefolgschaftsverhältnisse basieren darauf, dass gleichzeitig berücksichtigt wird, dass in der Regel die Zentralgewalt zu schwach ist, die unbotmäßigen Vasallen einfach zu zerschmettern. Man bleibt auf sie angewiesen. Generell ist Herrschaft ja kein Nullsummenspiel: Mächtig ist nur, wer über den Gehorsam Mächtiger gebietet. Insofern ist die Steigerung der Macht ( oder unter modernen Bedingungen der Kompetenz ) der Untergebenen paradoxerweise die Voraussetzung der Steigerung der eigenen. Ich brauche das Schwert meines Mannes und riskiere dabei, dass er es gegen mich richtet oder jedenfalls nicht dann zückt, wenn ich es ihm gebiete. Hätte er kein Schwert, könnte er mich nicht ermorden, aber er könnte es auch nicht für mich ziehen. In Fällen realen Normverstoßes oder einer Felonie kann es deshalb sehr häufig vorkommen, dass die Zentralinstanz zu schwach ist, um die an sich institutionell angedrohten Sanktionen zu vollstrecken. Das ist aber nur die eine Seite der Angelegenheit. Alles kommt in dieser Situation darauf an, die reale Sanktionsunfähigkeit symbolisch in einen freiwilligen Sanktionsverzicht umzustilisieren, Ohnmacht als Gewährung von Gnade und Verzeihung zu präsentieren. Ich verweise hier nur auf eine lange Liste von Beispielen, die Moeglins Buch über die „Bürger von Calais“ zitiert. Dort zeigt sich das berühmte Ereignis, das uns nicht zuletzt Rodins grandiose Bronze als Dokument des frühbürgerlichen Heroismus tief ins Imaginäre eingeprägt hat, als eines von vielen Fällen, in denen sich genau diese Verwandlung vollzieht: Jeder kennt die Geschichte, so wie sie Jean Froissart erzählt. Eduard III. von England droht 1347 der abgefallenen Stadt Calais totale Vernichtung an. Da finden sich sechs wackere Bürger, um mit nackten Füßen, den Strick um den Hals, beim König um Gnade für ihre Stadt zu bitten und freiwillig den Tod auf sich zu nehmen. Der König nimmt zunächst das Gnadengesuch nicht an. Aber die Königin Philippa wirft sich ihrem Gemahl zu Füßen und erwirkt Gnade und Verzeihung. Aber das, was als einmaliges Ereignis erscheint, ist in Wirklichkeit ein Topos. Immer geht es um demonstrative Selbstdemütigungsrituale, die typischerweise erst nach der Intervention Dritter zum Sanktionierungsverzicht führen. In der Vita des Hl. Bernward von Hildesheim gewährt Otto III. ( 1001 ) auf Intervention des Bischofs und des Papstes den Bür-
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gern von Tivoli diese Strafverschonung, nachdem sie in ähnlichem Aufzug erscheinen und die vom Bischof erwirkte Unterwerfung der belagerten Stadt verkünden. Analoge Szenen bei den Bürgern von Ravenna 1026 vor Konrad II. oder der von Mailand vor Barbarossa 1158 und 1162 12. Moeglin zieht aus der langen Reihe von analogen Szenen dieser Art den Schluss: „Le rituel pratiqué par les défenseurs et bourgeois de Calais s’inscrit dans l’histoire longue de ce qu’il faut bien considérer comme un rituel de majesté permettant à un prince – ou à une autorité revendiquant la souveraineté – de gracier des rebelles, tout en restaurant son honneur gravement blessé par la désobéissance de ses sujets.“ 13 Was bei Moeglin nicht erwähnt wird, wohl aber Althoffs zentrale These in diesem Kontext darstellt, ist, dass es sich hier zwar um ein Ritual handelt, aber um ein ausgehandeltes. Die real nicht vorhandene Sanktionsmacht des Fürsten muss Sanktionsohnmacht als Sanktionsverzicht inszenieren. Genau das aber liegt im Interesse schwacher Zentren. Die Legitimität der Gehorsamsansprüche wird kontrafaktisch unterstrichen. Wie gerade das Mailänder Beispiel zeigt, ist die Macht des Kaisers nicht einmal so groß, eine Wiederholung der Rebellion zu verhindern. Aber auch auf sie antwortet die kontrafaktische Stabilisierung des Anspruchs. Sie kann zwar in Wirklichkeit Rückfall nicht verhindern, sichert aber die Legitimität der verletzten Norm durch deren symbolische Inszenierung. Peter von Moos 14 verdanke ich den Hinweis auf die Tatsache, dass es dem Mittelalter durchaus bewusst war, dass menschliche Strafen, insbesondere bei inflationärem Anwachsen der Straftaten mit Effizienzdefizit rechnen müssen. Er schreibt: „Die Schwierigkeiten begannen da, wo das Konzept [ scil.: universitas ] seinen verwaltungspraktischen Hauptnutzen als Sanktionsinstrument zeigen sollte. Es wurde nicht zuletzt dazu eingeführt, um schuldige Kollektivitäten wie Einzelpersonen zur Rechenschaft ziehen und bestrafen zu können. Doch wie ließen sich personhafte von nicht-personhaften unterscheiden? War eine Bauernmeute, die gegen ihren Bischof rebellierte, eine Person? Aus vielen Gerichtsfällen zog der große Erforscher dieser Materie, Pierre Michaud-Quantin 15, den Schluss: Eine Gruppe konstituiert sich nur dann als Person, wenn sie sich auch dauernd oder zeitweilig zu einem bestimmten Zweck symbolisiert und organisiert. Sollte sich also die erwähnte Bauernmeute in einem Spontanaufstand zusammengerottet haben, wäre sie kein zurechnungsfähiger Verband, sondern eine bloße aggregatio, und der Bischof müsste jeden Bauern einzeln belangen. Hat sie sich aber vorgängig versammelt, die Glocken geläutet, bei der Tat eine Standarte getragen oder ein Horn geblasen, dann erfüllt sie das Kriterium einer personhaften universitas und kann als solche in einem einzigen Akt verurteilt werden. Als 4000 Einwohner einer Stadt in der Nähe von Toulouse sich gegen ihren königlichen Vogt erhoben hatten, befand das Gericht die Stadt sei unschuldig, weil sie nicht als Stadt, nicht als Institutionsperson, sondern als informelle Menge, als
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Vgl. mit zahlreichen weiteren Beispielen: Jean-Marie Moeglin, Les bourgeois de Calais. Essai sur un mythe historique, Paris 2002, S. 82–88. Ebd., S. 87 f. S. Anm. 15. Verweis auf: Pierre Michaud-Quantin, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dans le moyen-âge latin ( L’église et l’état au moyen âge 13 ) Paris 1970, S. 299 f., S. 327 ff.
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bloßer Einwohnerhaufen gehandelt habe. Dass damit auch die 4000 Individuen nicht einzeln verfolgt werden konnten, liegt in der Natur der Sache. Hier und in vielen ähnlichen Fällen resignierte die Gerichtsbarkeit, wie sie es gelegentlich heute noch tun muss, im Sinne einer Maxime Augustins: ‚Die Sünden einer Menge werden … nicht bestraft, sondern beklagt.‘“ 16 Viele mittelalterliche Denker, aber auch noch Voltaire, haben daraus die Notwendigkeit jenseitiger Sanktionen ( alias Hölle ) abgeleitet. Ein ähnliches Problem ergibt sich auch bei Exkommunikationen. Alle Exkommunikation steht nämlich immer vor dem Problem, zu viele oder zu wenige als mitschuldig zu definieren. Sollen nur der Ketzer und seine Familie oder das ganze Dorf als bedrohlich gelten? Nur er selbst oder seine ganze Verwandtschaft? Nur die Terroristen oder auch diejenigen, die sie unterstützt haben? Sind auch die Mitläufer im Wesenskern verdorben? Die Schwierigkeit, die sich schon in archaischen Gesellschaften bei der Begrenzung der Blutrache zeigte, bleibt ein höchst aktuelles Dilemma. Bei allzu umfassenden Mitschuld-Theorien bleibt am Ende niemand mehr übrig, der nicht wenigstens indirekt auch kontaminiert ist. Man kann das anschaulich lesen im Kanon Quoniam multos 17 von 1078. Einerseits lag es im Interesse des Papstes ( Gregors VII. ) alle Anhänger Heinrichs IV., die weiterhin zu ihm hielten, ebenfalls zu exkommunizieren. Aber andererseits hätte die Ausdehnung dieses Prinzips dazu geführt, dass es schließlich nur noch Exkludierte gegeben hätte. Es werden folglich eine Reihe von Personen vom Kontaktverbot ausgenommen. „ … the wife and children of an excommunicated lord could associate with him without incurring excommunication; so, too, could his other dependents and servants ( servi, ancillae, mancipia, rustici, servientes ) and his courtiers ( curiales ) unless their advice had contributed to the crime. People who associated with an excommunicate in ignorance of his status were also to be spared according to Quoniam multos ( … ). Finally and most controversially, Quoniam decreed that excommunication was contagious only at first hand: contact with these communicatores would not be penalized. Thus, unlike the ninth-century canons that required forty days’ penance or exclusion from the Eucharist for any association with excommunicates, Quoniam multos retained the full penalty, ordinary exclusion, limiting only its contagion”. 18 Je massiver im Sachlichen die Folgen der Exklusion, desto eingeschränkter im Zeitlichen und Sozialen müssen also ceteris paribus die Ausgrenzungen ausfallen ( et vice versa ). Das gilt sicherlich auch für an Erblichkeit geknüpfte Ausschließung. Selbst die Nazis konnten ihre rassistische Ausgrenzung nicht auf alle Personen ausdehnen, die irgendwo in ihrer Ahnenreihe jüdische Vorfahren aufwiesen. Das hätte dazu geführt, dass man a l l e 16
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Peter von Moos, Krise und Kritik der Institutionalität. Die mittelalterliche Kirche als und , in: Ders., Öffentliches und Privates, Gemeinsames und Eigenes, Gesammelte Studien zum Mittelalter, 3 ( Geschichte: Forschung und Wissenschaft 16 ) Münster 2007, S. 65–119, S. 99 f.; zuerst in: Gert Melville ( Hg. ), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln u. a. 2001, S. 293–340. Das Register Gregors VII, hg. von Erich Caspar ( MGH Epp. selectae 2 ) Berlin 21955, V, 14a, Nr. 16, S. 372 f. Der Text wurde später aufgenommen in die Dekretalensammlung: Gratiani Decretum, pars 2, causa 11, quaest. 3, can. 103, in: Corpus Iuris Canonici, hg. von Emil Friedberg, 1, Leipzig 1879, ND Graz 1955, Sp. 672 f. Elisabeth Vodola, Excommunication in the Middle Ages, Berkeley u. a. 1986, S. 24. Parallelen zu Bin Laden und seinen Taliban-Anhängern sind vermutlich nicht an den Haaren herbeigezogen.
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Volksgenossen als mit Juden verwandt erkannt hätte. Umgekehrt konnte bei der <Entnazifizierung> nicht j e d e s Parteimitglied oder j e d e r Professor, der sich durch rassistische Publikationen eine Karriere verschafft hatte, als endgültig gebrandmarkt exkludiert werden. Es wären zu wenige Unschuldige übriggeblieben. Das Beispiel Pol Pots oder eben von Auschwitz zeigt allerdings, dass Massenermordungen sich nicht in jedem Fall durch Gesichtspunkte des wohlverstandenen Eigeninteresses disziplinieren lassen. Grundsätzlich bietet sich als Lösung für diesen Konflikt an, abgestufte Formen der Exklusion für Kontaminierte ersten, zweiten dritten usw. Grades einzuführen. Gratian z. B. unterscheidet deshalb zwischen Exkommunikation und Anathem. Die erste Form von Exklusion sollte lediglich vom Sakramentenempfang, die letztere von jeglichem sozialen Kontakt ausschließen. Problematiken dieser Art kommen vor allem dann auf, wenn nicht eindeutig klar ist, ob eine betreffende Person tatsächlich durch deviantes Sein oder Handeln ist. Im kanonischen Recht des Mittelalters hat es denn auch ernste Debatten darüber gegeben, ob es sozusagen automatische Selbstexkommunikationen geben könne, die ohne ein eigenes Verfahren mit einem entsprechenden Urteil mit einer Tat als solcher verbunden ist. Wer einen Geistlichen physisch bedrängt, ist in diesem Sinne nach dem Kanon Si quis suadente des Zweiten Laterankonzils ( 1139 ) 19 automatisch exkommuniziert, ohne dass es eines weiteren Urteils bedürfte. Entsprechende Auffassungen ließen sich auch auf andere Sünden ausdehnen und führten damit zur Verschärfung des . Institutionell scheint die Lösung durch Ausdifferenzierung von Sanktionsinstanzen versucht worden zu sein. So bleiben rein geistliche Exklusionen eher dem Beichtvater vorbehalten, Totalexklusionen eher den Gerichten. Dadurch ließ sich auch die Frage der Heilsrelevanz von Exkommunikationen differenzierter beantworten. Wer nicht offiziell verurteilt war, konnte doch verdammt sein. Er blieb damit eine stets latente Gefahr. Andererseits konnte aber auch jemand zu Unrecht exkommuniziert sein. Darauf weisen spätestens Innozenz IV und das Erste Konzil von Lyon hin ( 1245 ), und bei Thomas von Aquin heißt es explizit, dass kein direkter Zusammenhang zwischen Heil und Exkommunikation besteht, wenn diese auch selbstredend für den Betroffenen schon dadurch indirekt höchst heilsrelevant bleibt, weil sie ihm die Gnadenmittel der Kirche entzieht. Aber selbst für den Fall, dass eine Exkommunikation zu unrecht verhängt wird, ist der Exkommunizierte gehalten, sein Los in Demut zu akzeptieren. 20
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Kanon 15, vgl. Josef Wohlmuth ( Hg. ), Dekrete der ökumenischen Konzilien, 2, Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil ( 1123 ) bis zum fünften Laterankonzil ( 1512–1517 ), Paderborn 2000, S. 200 f. Aufgenommen in das Gratiani Decretum, causa. 17, quaest. 4, can. 29: Corpus Iuris Canonici ( wie Anm. 17 ) 2, Sp. 822. Vodola, Excommunication ( wie Anm. 18 ) S. 28. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, Supplementum, q. 21–24.
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Kodifizieren und Auslegen Symbolische Grenzziehungen zwischen päpstlich-gesetzgeberischer und gelehrter Praxis im späteren Mittelalter ( 1209/10–1317 ) I. Gelehrte und Normen, S. 395. – II. Gesetzgeber und Rechtsgelehrte: Rollentrennung unter den Bedingungen des positiven Rechts, S. 399. – III. Ein Beispiel: Die Autorisation des päpstlichen Dekretalenrechts im 13. und 14. Jahrhundert, S. 402. – IV. Die Erfindung der Authentifikationspraxis 1209/10, S. 407. – V. Scandalizare: Der Habitus der Gelehrten, S. 411.
I. GELEHRTE UND NORMEN
Fragt man sich, welchen Veränderungen soziale Normen beim Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Kommunikation unterliegen, dann muss man sich zwangsläufig mit Gelehrten beschäftigen 1. Denn Gelehrte sind zum einen in ihren Tätigkeiten und in ihren Denkstilen auf Schriftlichkeit hin orientiert, und zum anderen haben sie beständig mit Normen zu tun – sei es mit deren Auslegung oder mit der Reflexion über diese. Unter Gelehrten sollen im Folgenden – in bewusster Abgrenzung von <Studierten> als Trägern einer anderen sozialen Rolle 2 – Personen verstanden werden, die mindestens zwei Bedingungen erfüllen: Erstens müssen sie über , <wissenschaftliches> Wissen verfügen und dauerhaft an der weiteren Elaboration dieses Wissens mitarbeiten. Zweitens müssen sie institutionell legitimiert sein. Seit es Universitäten gibt, also seit ca. 1200, bedeutet dies für die meisten, dass sie an einer solchen studiert haben 3. An den Universitäten wird die Zugehörigkeit zum Gelehrtenstand 1
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Den Text meines Münsteraner Vortrages habe ich für die Druckfassung stark überarbeitet. Im Folgenden stelle ich nur meine Überlegungen zur Relation von Gesetzgebung und dem gelehrten Umgang mit den Gesetzen zur Diskussion. Mein zweites Münsteraner Thema, die Ritualität des Gutachtens ( verstanden als eine gelehrte Praxis und nicht als eine Textsorte ), bleibt ausgeklammert. Dank für wertvolle Hinweise schulde ich neben allen Münsteraner Diskutanten insbesondere den Kollegen Hans-Jürgen Becker ( Regensburg ) und Werner Maleczek ( Wien ). Studierte sind in Kants Worten die „Geschäftsleute oder Werkkundige[ n ] der Gelehrsamkeit“: Männer, die einmal an der Universität ihr Wissen erworben haben, die dann aber draußen in der Welt außerhalb der Universitäten tätig geworden sind. Als „Werkzeuge der Regierung“ haben sie „aufs Publicum gesetzlichen Einfluß“, sie haben „zwar nicht die gesetzgebende, doch zum Theil die ausübende Gewalt“. Kants Werke, Akademie-Textausgabe, 7, Berlin 1968, S. 18; Max Weber sprach im selben Sinn vom „eingeschulte[ n ] Fachmenschentum“, dem „Fachbeamten, de[ m ] Eckpfeiler des modernen Staats“. Der juristisch geschulte Beamte gilt ihm als der Inbegriff dieses Typus. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1, Tübingen 21922, S. 3. Um die Gelehrten, nicht die Studierten, und ihr Verhältnis zum päpstlichen Gesetzgeber in diesem Sinn muss es daher hier gehen. Walter Rüegg ( Hg. ), Geschichte der Universität in Europa, 1: Mittelalter, München 1993; Otto Gerhard Oexle, Alteuropäische Voraussetzungen des Bildungsbürgertums – Universitäten, Gelehrte und Studierte, in: Werner Conze – Jürgen Kocka ( Hgg. ), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, 1: Bildungsbürgertum und Professionalisierung in internationalen Vergleichen ( Industrielle Welt.
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auch besonders nachhaltig markiert: Aus den Funktionsbezeichnungen magister und doctor werden akademische Grade, die auf bestandene Examina verweisen 4. Über diese beiden notwendigen Bedingungen hinaus lässt sich die Definition noch durch ein Kriterium erweitern: den gelehrten Habitus, das heißt die Tatsache, dass Gelehrte dazu tendieren, sich bestimmte Attribute, Haltungen und Eigenschaften einzuverleiben. Demnach gelten den Zeitgenossen diejenigen als Gelehrte, die sich wie Gelehrte verhalten, das heißt wie Gelehrte sprechen, sich so kleiden und so konsumieren 5.
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Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 3/1 ) Stuttgart 1985, S. 29–78; Jaques Verger, Les gens de savoir en Europe de la fin du moyen age, Paris 1997; Martin Kintzinger, Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter, Darmstadt 2003; Frank Rexroth, Die Weisheit und ihre 17 Häuser. Universitäten und Gelehrte im spätmittelalterlichen Reich, in: Matthias Puhle – ClausPeter Hasse ( Hgg. ), Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 962 bis 1806. Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters – Essays, Dresden 2006, S. 424–436. Rainer Christoph Schwinges ( Hg. ), Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert ( Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 7 ) Basel 2007; Rainer A. Müller ( Hg. ), Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit ( Pallas Athene 24 ) Stuttgart 2007; Barbara Stollberg-Rilinger, Von der sozialen Magie der Promotion. Ritual und Ritualkritik in der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, in: Paragrana: Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie 12, 2003, S. 273–296; Olga Weijers, Les règles d’examen dans les universités médiévales, in: Maarten J. F. M. Hoenen – Jakob Hans Josef Schneider – Georg Wieland ( Hgg. ), Philosophy and Learning: Universities in the Middle Ages ( Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 6 ) 1995, S. 201–223; Jarques Verger, Examen privatum, examen publicum. Aux origines médiévales de la thèse, in: Mélanges de la Bibliothèque de la Sorbonne 12, 1993, S. 15–43; George L. Haskins, The University of Oxford and the , in: English Historical Review 222, 1941, S. 281–291. Künftig Gadi Algazi, „Habitus“, „familia“ und „forma vitae“: Die Lebensweisen mittelalterlicher Gelehrten in muslimischen, jüdischen und christlichen Gemeinden – vergleichend betrachtet, erscheint in: Frank Rexroth ( Hg. ), Kulturgeschichte der Gelehrten im späteren Mittelalter ( Vorträge und Forschungen ) Ostfildern 2009 ( im Druck ); vgl. Dens., Scholars in Households: Refiguring the Learned Habitus, 1480–1550, in: Science in Context 16, 2003, S. 9–42; Ders., Food for Thought. Hieronymus Wolf grapples with the Scholarly Habitus, in: Rudolf Dekker ( Hg. ), Egodocuments and History. Autobiographical Writing in its Social Context since the Middle Ages, Hilversum 2002, S. 21–43; Ders., Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergesslichkeit. Bemerkungen zu ihrer Rolle in der Herausbildung des Gelehrtenhabitus, in: Peter von Moos ( Hg. ), Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne, Köln – Weimar u. a. 2001, S. 235–250. Zum gelehrten Sprechen Thomas Haye, Lateinische Oralität. Gelehrte Sprache in der mündlichen Kommunikation des hohen und späten Mittelalters, Berlin – New York 2005; Franz-Josef Arlinghaus, Sprachformeln und Fachsprache. Zur kommunikativen Funktion verschiedener Sprachmodi im vormodernen Gerichtswesen, in: Reiner Schulze ( Hg. ), Symbolische Kommunikation vor Gericht in der Frühen Neuzeit ( Schriften zur Europäischen Rechtsund Verfassungsgeschichte 51 ) Berlin 2006, S. 57–72; Ders., Inklusion/Exklusion. Funktion und Formen des Rechts in der spätmittelalterlichen Stadt. Das Beispiel Köln. Habilitationsschrift Kassel 2006; zum Sichkleiden: Andrea von Hülsen-Esch, Gelehrte im Bild. Repräsentation, Darstellung und Wahrnehmung einer sozialen Gruppe im Mittelalter ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 201 ) Göttingen 2006. Als Beweis dafür, dass jemand Jurist ist, kann vor Gericht gelten, dass sich die besagte Person wie ein Jurist kleidet: Susanne Lepsius, Juristische Theoriebildung und philosophische Kategorien: Bemerkungen zur Arbeitsweise des Bartolus von Sassoferrato, in: Martin Kaufhold ( Hg. ), Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters – Political Thought in the Age of Scholasticism. Essays in Honor of Jürgen Miethke, Leiden – Boston 2004, S. 287–304, hier S. 301 f. Dort auch zur veralteten Forschungsmeinung, der juristische Habitus sei erst ein Thema der humanistischen Jurisprudenz.
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Die ersten beiden Bestandteile dieser Definition ( die Elaboration Wissens und die institutionelle Legitimation ) sind bei den folgenden Ausführungen zwingend vorausgesetzt. Es gibt auch reine Wissensverwalter und Gedächtnisakrobaten, doch machen die Zeitgenossen einen Unterschied zwischen ihnen und denjenigen, die Wissen systematisierend und reflektierend erschließen 6. Es gibt ferner belesene Häupter ohne den Segen der Institutionen ( etwa der Graduierungen und der licentia docendi ), doch diese beziehen sich in ihren Äußerungen so auffällig auf die Welt der Universitäten, dass man ihr Verhalten unschwer als Epiphänomen der gelehrten Institutionalität erkennen kann 7. Der Habitus als das dritte Kriterium ist deshalb flexibler zu handhaben, weil seine Ausprägung einen Differenzierungsprozess in der Welt der Schriftkundigen voraussetzt, der während des 12. Jahrhunderts zwar schon voranschreitet, der aber erst im 16. Jahrhundert abgeschlossen sein wird: nämlich die Loslösung eines Standes von Gelehrten aus dem Klerus 8 und – im Falle der Rechtsgelehrten – aus der Funktionselite städtischer Kommunen 9. Dieser Prozess wird von den Zeitgenossen häufig ( und meist kritisch ) kommentiert 10. Doch verzichten kann man auf die Gelehrten immer weniger. Die Wissensproduktion, die mit dem enormen Aufschwung der Wissenschaften in den Schulen des 12. Jahrhunderts einsetzt 11, führt zu einer immer weiter voranschreitenden Ausdiffe6
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Die Vierte Bairische Fortsetzung der Sächsischen Weltchronik, hg. von Ludwig Weiland ( MGH Deutsche Chroniken 2, Hannover 1877 ), S. 373 f. Vgl. den ( William Ockam zugeschriebenen ) Traktat bei Jürgen Miethke, Die mittelalterlichen Universitäten und das gesprochene Wort, in: Historische Zeitschrift 251, 1990, S. 33 f. Andreas Beriger, Der Typus des „monastischen Privatgelehrten“, in: Rainer Christoph Schwinges ( Hg. ), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts ( Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 18 ) Berlin 1996, S. 375–412; vor der Verallgemeinerung von Berigers Befunden hat jüngst gewarnt Harald Müller, Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog ( Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 32 ) Tübingen 2006. Siehe die Arbeiten von Algazi ( wie Anm. 5 ). Künftig Wolfgang Eric Wagner, Verheiratete Magister und Scholaren an der spätmittelalterlichen Universität, erscheint in: Kulturgeschichte der Gelehrten ( wie Anm. 5 ); vgl. Dens., „uxorati – conjugati – bigami“. Die Verheirateten an der spätmittelalterlichen Universität ( Rostocker Universitätsreden 16 ) Rostock 2007. Hermann Lange, Römisches Recht im Mittelalter, 1: Die Glossatoren, München 1997; Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena ( Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte 21 ) Köln – Wien 1974; Peter Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hg. von Johannes Fried ( Schriften der MGH 29 ) Stuttgart 1983. Für die Juristen Patrick Gilli, La noblesse du droit: débats controverses sur la culture juridique et le rôle des juristes dans l’Italie médiévale ( XIIe – XVe siècles ) Paris 2003; Reiner Haussherr, Eine Warnung vor dem Studium von zivilem und kanonischem Recht in der „Bible moralisée“, in: Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, S. 390–404; Robert Gramsch – Nikolaus von Bibra – Heinrich von Kirchberg: Juristenschelte und Juristenleben im 13. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56, 2002, S. 133–168; Carlos Gilly, Das Sprichwort „Die Gelehrten die Verkehrten“ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Antonio Rotondo ( Hg. ), Forme e destinazione des messaggio religioso. Aspetti della propaganda religiosa nel cinquecento, Florenz 1991, S. 229–375; Heiko A. Oberman, Die Gelehrten die Verkehrten: Popular Response to Learned Culture in the Renaissance and Reformation, in: Steven Ozment ( Hg. ), Religion and Culture in the Renaissance and Reformation ( Sixteenth Century Essays and Studies 11 ) Ann Arbor 1989, S. 43–63. Peter Weimar ( Hg. ), Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert ( Züricher Hochschulforum 2 ) Zürich – München 1981; Robert L. Benson – Giles Constable ( Hgg. ), Renaissance and
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renzierung der Wissensprovinzen: Für die Zeit Papst Alexanders III. ( 1159–1181 ) sind Theologie und Kirchenrecht noch nicht zu unterscheiden; im 13. Jahrhundert wird diese Scheidung dann aber vollzogen, so dass schon bald in scholastischen Quaestionen die Frage erörtert wird, ob man mit der Leitung der Kirche lieber einen Kanonisten oder einen Theologen betrauen soll 12. Ethische Unterweisung ist von nun an kein arbiträrer Mehrwert des Grammatik- und Rhetorikunterrichts mehr und wird, angestoßen von der Übersetzung der Nikomachischen Ethik durch Robert Grosseteste, zu einer philosophischen Disziplin 13. Aus lebensweltlichen Anstößen und der Rezeption der aristotelischen Philosophie heraus entsteht der Gedanke von einem Eigenwert des Politischen, so dass seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert eine scientia politica entsteht 14. Zur selben Zeit wird immer deutlicher definiert, welche sozialen Beziehungen genau als Rechtsbeziehungen zu verstehen sind; und <Moral> treten auseinander. 15 Man bedarf der Gelehrten, um auf alle diese Wissensfelder zugleich zugreifen zu können. Damit aber werden den Gelehrten auch Normen überantwortet, die für den Bestand der sozialen Ordnung von höchster Bedeutung sind. Zu Büchern zusammengefasst und systematisiert sind sie insofern auf eine evidente Weise komplex, als sich einzelne Verhaltensanforderungen unschwer als Teile eines – vielleicht sogar systematischen – normativen Zusammenhangs erweisen. Daher können sie nur von Gelehrten als den Kennern dieses Gesamtzusammenhangs aus dem des Gesamtsystems heraus wirklich begriffen werden. Auch in dieser Hinsicht ist der Gelehrte in den Augen seiner Zeitgenossen mehr als nur ein Gedächtnisakrobat: Er gilt diesen vielmehr als Experte für die Kenntnis des normativen Ganzen, für die Vermittlung des spezifischen Verfügungswissens ( <welche Norm soll zur Anwendung kommen?> ) mit dem
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Renewal in the Twelfth Century, Cambridge 1982, S. 154–158; Classen ( wie Anm. 9 ). Zu den Pariser Schulen als <Schrittmachern> Stephen C. Ferruolo, The Origins of the University. The Schools of Paris and their Critics, 1100–1215, Stanford 1985; Jacques Verger, A propos de la naissance de l’université de Paris: contexte social, enjeu politique, portée intellectuelle, in: Johannes Fried ( Hg. ), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters ( Vorträge und Forschungen 30 ) Sigmaringen 1986, S. 69–96; Joachim Ehlers, Paris. Die Entstehung der europäischen Universität, in: Alexander Demandt ( Hg. ), Stätten des Geistes. Große Universitäten Europas von der Antike bis zur Gegenwart, Köln – Weimar u. a. 1999, S. 75–89. Dies tun etwa Gottfried von Fontaines, Augustinus Triumphus von Ancona und Franciscus Carracioli; Martin Grabmann, Die Erörterung der Frage, ob die Kirche besser durch einen guten Juristen oder durch einen Theologen regiert werde, bei Gottfried von Fontaines ( gest. nach 1306 ) und Augustinus Triumphus von Ancona ( gest. 1328 ), in: Ders. – Karl Hofmann ( Hgg. ), Festschrift für Eduard Eichmann zum 70. Geburtstag, Paderborn 1940, S. 1–19. Die Dekretsumme des Huguccio ( gest. 1210 ) hat man noch als „ein Gemisch theologischer und juristischer Darstellung“ bezeichnet; Johann Friedrich von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des canonischen Rechts, 1, Stuttgart 1875, S. 165. Georg Wieland, Ethica – scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik im 13. Jahrhundert ( Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, N.F. 21 ) Münster 1981. Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, 1, Cambridge u. a. 1978; Ulrich Meier, Mensch und Bürger. Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen, München 1994; Christoph Flüeler, Rezeption und Interepretation der aristotelischen Politica im späten Mittelalter, 2 Bde. ( Bochumer Studien zur Philosophie 19 ) Amsterdam u. a. 1992. Georg Wieland, Praktische Philosophie und Politikberatung bei Thomas von Aquin, in: Martin Kaufhold ( Hg. ), Politische Reflexion in der Welt des späten Mittelalters – Political Thought in the Age of Scholasticism. Essays in Honor of Jürgen Miethke, Leiden – Boston 2004, S. 65–83.
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übergreifenden Orientierungswissen ( <welche Implikationen ergeben sich aus dieser Anwendung angesichts der Tatsache eines systematischen Zusammenhangs im Normensystem?> ) 16. So kann man wohl fürs erste und in aller Allgemeinheit sagen, dass den Gelehrten im Umgang mit Normen und Normensystemen besondere Leistungen abverlangt werden. Sie sollen diese speichern, zur Beurteilung lebensweltlicher Situationen bereithalten und sie sollen sie begründen und kritisch reflektieren. Der Gelehrte wird von den Zeitgenossen als derjenige Teilhaber an der sozialen Kommunikation imaginiert, der nicht nur auf Zuruf sagen kann, wie man sich in einer spezifischen Situation zu verhalten hat, sondern auch, warum man unter mehreren Handlungsoptionen diese eine zu wählen hat und welche dem Einzelfall übergeordneten Sinnzusammenhänge dadurch berührt werden, dass man sich so und nicht anders verhält. Sich zwischen diesen verschiedenen Ebenen des Wissens hin- und herzubewegen, wird besonders dem Gelehrten abverlangt: Über konkrete Normen sprechend, ist er derjenige, der schließlich auch erörtern soll, was eine Norm überhaupt ist 17. II. GESETZGEBER UND RECHTSGELEHRTE: ROLLENTRENNUNG UNTER DEN BEDINGUNGEN DES POSITIVEN RECHTS
Einen besonders aufschlussreichen Fall bieten die Normen des Rechts. Dass ihnen eine zentrale Bedeutung für den Bestand des Gemeinwesens zukommt, ist schon für die mittelalterlichen Zeitgenossen evident. Zugleich gehört es zu deren Alltagserfahrung, dass die innere Widerspruchsfreiheit juristischer Normen ein hoher Anspruch ist, den die Experten des Rechts zwar an ihre Arbeit stellen, der in der Praxis aber kaum einlösbar ist. Rechtsnormen gelten als besonders prekär, weil ihre kategorische Anwendung auf den konkreten Einzelfall Schaden anrichten, vielleicht sogar Unrecht stiften kann. Denn im Einzelfall kompromisslos Gerechtigkeit anzustreben, kann höhere Rechtsgüter verletzen ( summum ius summa iniuria ). Also muss der Widerspruch zwischen beiden Maximen durch die Einführung neuer Normen aufgehoben oder doch zumindest gemildert werden ( in diesem Fall: aequitas oder misericordia ) 18. 16
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Jürgen Mittelstraß, Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt am Main 1992, S. 32–46; Ders., Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt am Main 1989, S. 33 u. ö.; künftig Hartmut Bleumer – Caroline Emmelius, Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers „Ring“, in: Klaus Ridder u. a. ( Hgg. ), Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurener Kolloquium 2006 ( Wolfram-Studien 20 ) Berlin, S. 179–206 ( im Druck ). So Huguccio: … regula id est norma quia rectam viam vivendi praebat vel quia regat ad recte vivendum, et declinare non permittat, vel quia quod pravum est et distortum corrigat, vel ad recte vivendum ducat … ( ‚die Regel, das ist die Norm, weil sie den richtigen Lebensweg zeigt oder weil sie zum richtigen Leben leitet und nicht erlaubt abzuirren oder weil sie korrigiert, was verkehrt und verdreht ist, oder weil sie zum richtigen Leben führt‘ ). Hier zitiert nach Hasso Hofmann, Art. , in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 6, 1984, Sp. 906–910, hier 907. Summum ius summa iniuria. Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Ringvorlesung, gehalten von Mitgliedern der Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1963; Karl Büchner, Summum ius summa iniuria, in: Historisches Jahrbuch 73, 1954, S. 11–35; Marcus Nelles, Summum ius summa iniuria? Eine kanonistische Untersuchung zum Verhältnis von Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit im Recht der Kirche ( Münchener Theologische Studien, Kan. Abt. 59 ) St. Ottilien 2004.
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Dafür eben braucht man die Gelehrten des Rechts: Es ist ihre Aufgabe, zwischen der Aktualisierung und der Kritik von Normen zu changieren, das heißt, nicht nur den Einzelfall an der Richtschnur des Gesetzes zu messen, sondern umgekehrt auch darüber zu reflektieren, ob das Gesetz so, wie es fixiert ist, angesichts einer kontingenten Wirklichkeit als Maßstab des Handelns überhaupt sinnvoll ist 19. Eine besondere Situation ist mit der allmählichen Positivierung des Rechts gegeben 20, denn mit dieser wird die Relaisfunktion der Rechtsgelehrten zwischen der Schaffung und der Anwendung von Normen vollends evident 21. Die Praxis der Gesetzgebung wird durch den Kontakt mit einer jungen Wissenschaft vom Recht entscheidend geprägt. ist ein Konzept, das im nachantiken Europa im 12. Jahrhundert wiederentdeckt wird und das sich im 13. Jahrhundert bemerkenswert weit durchsetzt. , so könnte man leicht vereinfachend sagen, wird vor dieser Zeit als praeexistent vorausgesetzt, so dass es vom Herrscher , nicht aber werden muss. Das Konzept eines positiven Rechts – also die Denkform, dass ein Gesetz heute durch einen wie auch immer beschaffenen Akt in die Welt gebracht werden kann, auch wenn es nicht durch Tradition oder Naturrecht gedeckt ist – ist eine genuin wissenschaftliche und keine gesetzgeberische. Sie wurde in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in der Schule von Chartres gefasst und noch vor 1200 von den Bologneser Juristen aufgegriffen und weiterentwickelt 22. Im Kirchenrecht etwa schiebt sich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, gleich nach der Verbreitung des seit ca. 1140, die legislatorische Tätigkeit der Päpste immer mehr vor die Kirchenväterschriften und die Beschlüsse der Konzilien. Normen aber, die ihren letzten Grund im Willensakt eines oder mehrerer Menschen haben, können von Menschen prinzipiell auch jederzeit in ihrer Geltung wieder 19
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Juristisches Subsumieren meint nach einer modernen Definition „das stete Wandern des Blicks zwischen Lebenssachverhalt und Gesetz“; Lepsius ( wie Anm. 5 ) S. 299. Armin Wolf, Gesetzgebung in Europa 1100–1500. Zur Entstehung der Territorialstaaten, München 1996; Von einem „Herunterholen des Rechtes aus einer unantastbaren göttlichen Sphäre in die menschliche Verfügung“, der „Übergabe der Kompetenz, neues Recht zu setzen, zunächst an einen, dann an zwei, dann an viele Gesetzgeber“, sprach Hans Martin Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit des Rechtes im frühen und hohen Mittelalter, in: Paul Wilpert ( Hg. ), Lex et sacramentum im Mittelalter ( Miscellanea mediaevalia 6 ) Berlin 1969, S. 157–188, hier S. 187. Ebd., S. 173 f., dazu, wie zuerst der Papst im Rahmen der gregorianischen Wende „zum Verfüger über das Recht“, zum legum conditor, zu werden begann. Diese Arbeit ist grundlegend für die Denkformen um die Wandelbarkeit des Rechts, sofern die Zeit vor der Scheidung von ius naturale und ius divinum im 12. Jahrhundert betroffen ist. Für die Entstehung des Konzepts <positives Recht> ist ferner maßgeblich Sten Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung ( Acta Universitatis Upsaliensis: Studia iuridica Upsaliensia 1 ) Stockholm – Uppsala u. a. 1960; Eckhard Homann, „Totum posse, quod est in ecclesia, reservatur in summo pontifice“. Studien zur politischen Theorie bei Aegidius Romanus ( Contradictio. Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte 2 ) Würzburg 2004. Der Abt eines Klosters in der Diözese Thérouanne ist in den 1220er Jahren stolz darauf, dass die Dekretale, die er bei Innozenz III. erwirkt hat, in die aufgenommen worden ist und damit bei den Gelehrten Beachtung findet, die sich über die Definition von consuetudo Gedanken machen: Hec autem commissio in tertia compilatione inter decretales nominatissima habetur et inter modernos scolares, quotiens agitur de consuetudine, frequenter recensetur. Werner Maleczek, Der Mittelpunkt Europas im frühen 13. Jahrhundert. Chronisten, Fürsten und Bischöfe an der Kurie zur Zeit Papst Innocenz’ III., in: Römische Historische Mitteilungen 49, 2007, S. 89–157, hier S. 104 mit Anm. 46. Gagnér ( wie Anm. 20 ) S. 231, eine frühe Definition ( ca. 1125 ): Et est positiva que est ab hominibus inventa ut suspensio latronis etc. Naturalis vero que non est homine inventa ut parentum dilectio et similia.
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eingeschränkt, modifiziert oder abgeschafft werden 23. Jede derartige Rechtsveränderung, so Hans Martin Klinkenberg, bringt Rechtsunsicherheit. „Im Augenblick, da sie geschieht, wird Recht einem Gewalthaber anheim gestellt, ja, für einen abstrakten Moment wenigstens, partiell oder ganz aufgehoben. Danach ist Recht, was vorher nicht Recht war. Wo bleibt dann Recht?“ 24 Wenn Gesetze ausschließlich auf den menschlichen Willen statt auf Tradition oder eine andere unhintergehbare Instanz gegründet sind, muss auch ihre Begründung und Auslegung eine andere werden. Wo die Kodifikation des Rechts unter dem Vorverständnis betrieben worden war, dass damit gutes altes Recht aufgezeichnet oder Gottes Wille gewiesen wird, ist auch der, der Gesetze in Codices zu Gesetzessammlungen versammelt, primär ein Lehrer des Rechts, oder genauer: ein Be-Lehrer über das a limine geltende Recht. Kodifikation und Rechtsunterricht liegen damit recht nahe beieinander. Unter den Bedingungen des positiven Rechts erst kann die Rollentrennung zwischen dem Gesetzgeber und dem Ausleger des in Gesetzen gefassten Normensystems stattfinden. Und nicht nur die Gesetzgebung und die Rechtsprechung, sondern auch die Lehre des Rechts wird unter diesen Bedingungen verweltlicht. Um so wichtiger muss es in diesem Kontext erscheinen, die Grenze zwischen dem Akt der Rechtsschöpfung und der Interpretation der Gesetze symbolisch zu trennen. Je weiter das Konzept der Positivierung vordringt, um so mehr bedarf man der Legitimation, die sich aus der Auslegung durch die Gelehrten ergibt. Denn diese wird unter den Bedingungen weitgehender Immanenz in der Tat zu einer bedeutenden Legitimationsinstanz. Die Praxis der Gelehrten weist nach, dass das Normensystem vielleicht nicht göttlichen Ursprungs oder im Einklang mit der Natur, aber doch immerhin konsistent und rational ist. Auch die Institutionalität der wissenschaftlichen Rechtslehre mit ihren Attributen – den akademischen Graden, Sprechweisen, Kleidungen etc. – legitimiert nicht nur die Rechtsgelehrten, sondern die Rechtsordnung der Gesetzgeber und Gesetzesausleger im Ganzen. So einfach lassen sich Gesetzgebung und -auslegung allerdings gar nicht voneinander trennen! Von der Auslegung zur Umformulierung von Normen, zur Einschränkung ihres Geltungsbereichs oder dem Nachweis ihrer Sinnlosigkeit und damit zur Veränderung des Normensystems ist es nur ein kleiner Schritt. Unter den Bedingungen des positiven Rechts übt die Auslegung von Gesetzen jedenfalls einen massiven Druck auf deren Revision aus 25. So sehr Normsetzer die Interpretation von Ver-
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Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1983, S. 141: „Unter positivem Recht sind Rechtsnormen zu verstehen, die durch Entscheidung in Geltung gesetz worden sind und demgemäß durch Entscheidung wieder außer Kraft gesetzt werden können.“ Klinkenberg ( wie Anm. 20 ) S. 158. Knut Wolfgang Nörr, Texturen mittelalterlicher Rechtsfortbildung: Die Dekretale und Dekretalensammlung ( von Alexander III. bis Gregor IX. ), in: Anna Egler – Wilhelm Rees ( Hgg. ), Dienst an Glaube und Recht. Festschrift für Georg May zum 80. Geburtstag, Berlin 2006, S. 263–279. Anderswo spricht Nörr sogar von einem „Kreislauf“, der zwischen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft bestehe: Ders., Ideen und Wirklichkeiten: Zur kirchlichen Rechtssetzung im 13. Jahrhundert, in: Andrea Romano ( Hg. ), Colendo iustitiam et iura condendo. Federico II legislatore del regno di Sicilia nell’Europa del duecento. Per una storia comparata delle codificazioni europee, Rom 1997, S. 39–50. Entsprechend führten diejenigen päpstlichen Gesetze ein „Doppelleben“ ( ! ), die nicht nur als Einzeltexte bzw. Bestandteile von Gesetzbüchern ( Dekretalensammlungen ) tradiert würden, sondern die darüber
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haltensanforderungen durch Gelehrte aber auch willkommen heißen mögen, so können sie es sich nicht leisten, dass die Rechtsgelehrten mit ihrer kommentierenden und systematisierenden Arbeit eine wild wuchernde Modifikation von Normen oder gar einen Umbau des Systems anstoßen. Dieses Problem kann auch nur partiell dadurch behoben werden, dass schon der Akt der Gesetzgebung selbst von gelehrten Gesetzgebern vorgenommen oder von beratenden Rechtsexperten begleitet wird. Die Auslegung der Normensysteme in ihrer gesamten Komplexität bleibt doch unverzichtbar, und sei es in dem beschriebenen Sinn als Legitimationsgrundlage. Die Verbindlichkeit der Gesetze kann aber nur garantiert werden, wenn man dafür sorgt, dass der Akt der Gesetzgebung nicht vom Echo aus der Auslegungskultur der Gelehrten heraus übertönt wird. Neben dem Bedürfnis, die Gelehrtenarbeit durch die symbolische Trennung von der Gesetzgebung als Legitimationsinstanz einzubeziehen, ist damit ein zweiter Anlass dafür gegeben, die Grenze zwischen dem Geltungsanspruch und der Exegese von Rechtsnormen zu markieren. Es geht also um die Gewinnung der Jurisprudenz als Legitimationsinstanz und um ihre Einhegung zugleich. III. EIN BEISPIEL: DIE AUTORISATION DES PÄPSTLICHEN DEKRETALENRECHTS IM 13. UND 14. JAHRHUNDERT
Um eine Vorstellung davon zu erhalten, wie sich eine solche Grenzziehung in der Praxis einstellen konnte, soll im Folgenden das päpstliche Dekretalenrecht betrachtet werden, das schon in der Ära Alexanders III. ( 1159–1181 ) binnen verhältnismäßig weniger Jahrzehnte zum Kern des Kirchenrechts geworden war. Dekretalen sind päpstliche Schreiben in Urkundenform, die anlassbezogen Streitfragen klären sollen, die aber eine starke Tendenz haben, sich von dieser Anlassbezogenheit loszulösen und zum allgemeingültigen Gesetz zu werden 26. Ihre Produktion war durch Gratians Dekret in den 1140er Jahren keineswegs gebremst worden. Im Gegenteil wurde mit Gratians Privatarbeit der Bedeutungsaufschwung der Dekretale gegenüber dem Synodalbeschluss erst recht sichtbar, so dass man die Jahrzehnte danach als „das Zeitalter explosiver Rechtsfortbildung durch päpstliches Dekretalenrecht“ bezeichnet hat 27. Alleine Papst Alexander III. lassen sich 713 solcher Texte zweifelsfrei zuordnen 28. Bis ca. 1300 war dieser Prozess jedoch mehr oder weniger abgeschlossen. Sofern sie in die Gesetzbücher eingegangen sind, waren Dekretalen fortan nicht mehr als Fall-
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hinaus „in die Hände der Kanonisten und ihrer grammatischen, rhetorischen und dialektischen Künste“ gerieten; ebd., S. 43. Gérard Fransen, Les décrétales et les collections des décrétales ( Typologie des sources du moyen âge occidental Fasc. 2 ) Turnhout 1972; Nörr ( wie Anm. 25 ) S. 272–274; Ders., Päpstliche Dekretalen und römisch-kanonischer Zivilprozeß, in: Walter Wilhelm ( Hg. ), Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main 1972, S. 53–65; Othmar Hageneder, Papstregister und Dekretalenrecht, in: Peter Classen ( Hg. ), Recht und Schrift im Mittelalter ( Vorträge und Forschungen 23 ) Sigmaringen 1977, S. 319–347, bes. S. 320–330. Peter Landau, Typen von Dekretalensammlungen, in: Vincenzo Colli ( Hg. ), Juristische Buchproduktion im Mittelalter ( Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 155 ) Frankfurt am Main 2002, S. 269–282, hier S. 270. Ebd., S. 270 mit Anm. 5. Aus den 14 Pontifikatsjahren seiner beiden Vorgänger, Eugens III. und Hadrians IV., sind ca. 20 überliefert; Nörr ( wie Anm. 25 ) S. 54.
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entscheidungen, sondern eher wie Konstitutionen zu verstehen 29. Im Folgenden wird jedoch, wie schon angedeutet, nicht der Erlass einzelner solcher Texte, sondern deren Kombination zu umfassenden und gegliederten Sammlungen behandelt werden. Diese sollten neben die Privatarbeit des Gratian treten und gemeinsam mit dieser ein Gesamt-Gesetzeswerk für die römische Kirche bieten 30. An ihrem Beispiel kann man eine spezifische Praxis der Interaktion zwischen Normsetzern und Gelehrten studieren, die für etwa 100 Jahre, bis zum Erscheinen der Clementinen 1317, Bestand haben sollte. Gemeint ist die Praxis, mit der für die Dekretalensammlungen Gültigkeit als Gesetzessammlungen reklamiert, das heißt: mit der das neue Recht wird. Ein Blick auf das Endprodukt dieser Entwicklung soll zeigen, wie man sich diese Praxis vorzustellen hat. Als deutliches Beispiel für die erfolgreiche Authentifikation einer Dekretalensammlung gelten die Vorgänge um die Inkraftsetzung des sogenannten 1298 durch Papst Bonifaz VIII. ( 1294–1303 ), einen der Hauptvertreter der Lehre vom positiven Recht 31. Bonifaz motiviert sein Vorgehen in der den Codex begleitenden Authentifikationsbulle, die an die Doktoren und Scholaren von Bologna gerichtet ist: Nächte verbringe er schlaflos anlässlich der Aufgabe, Streitsachen aus der Welt zu schaffen, indem er alte Gesetze erkläre und neue erlasse. Manche der Dekretalen aus der Zeit seit Gregor IX. würden in iudiciis et in scholis angezweifelt, und so sei es seine Aufgabe, diese Dinge aufzuhellen und zu entscheiden, welche Bestand haben und welche zurückgewiesen werden sollten. Aus diesem Grund habe er eine Kommission eingesetzt, um die Überlieferung durchzuarbeiten und das Resultat in einem Band in gegliederter Form sub debitis titulis zusammenzutragen. Dieser Band solle künftig genannt werden. Den Adressaten, also den Bologneser Juristen, wird aufgetragen, nur diejenigen Dekretalen und Konstitutionen in iudiciis et in scholis zu verwenden, die in dieser Sammlung enthalten sind. 32 Diese Bulle hat man schon als eine Programmschrift für die Ideologie des positiven Rechts angesehen 33. Gerade der Vorgang ihrer Übersendung an die Universität – und nicht etwa ein Promulgationsakt im päpstlichen Konsistorium – war ausschlaggebend für die Authentifizierung des . Entsprechend auch die jüngsten rechtshistorischen Arbeiten zu diesem Phänomen: Im 13. Jahrhundert, so liest man, 29
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Nörr ( wie Anm. 25 ) S. 279: „In der Theorie“ seien die Dekretalen eine heterogene Gattung geblieben, „in der täglichen Anwendung und Argumentationsarbeit“ jedoch hätten sie „die Gestalt einer auf gleichartig-universale Weise verbindlichen Rechtsnorm“ angenommen. Landau ( wie Anm. 25 ) S. 269–282; Ders., Die Entstehung der systematischen Dekretalensammlungen und die europäische Kanonistik des 12. Jahrhunderts ( zuerst 1979 ), in: Ders., Kanones und Dekretalen. Beiträge zur Geschichte der Quellen des kanonischen Rechts ( Bibliotheca eruditorum 2 ) Goldbach 1997, S. 227*–255*. Zur kodifikatorischen Bewegung seit dem 13. Jahrhundert Jacques Vanderlinden, Le concept de code en Europe occidentale du XIIIe au XIXe siècle. Essai de definition, Brüssel 1967, S. 23–25; Armin Wolf, Gesetzgebung in Europa 1100–1500. Zur Entstehung der Territorialstaaten, München 1996. Gagnér überschrieb sein ganzes zweites Großkapitel „Sacrosanctae“, womit er auf die Authentifikationsbulle des verwies. Gagnér ( wie Anm. 20 ) S. 121–287. Corpus Iuris Canonici, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1881, 2, Sp. 933–936. Siehe oben, Anm. 31. Zu den Positionen gegenüber dem Naturrecht, den päpstlichen Gesetzen und den Gesetzgebungsverfahren Rudolf Weigand, Die Rechtslehre der Scholastik, bei den Dekretisten und Dekretalisten, in: La norma en el derecho canonico. Actas del III congresso internacional de derecho canonico, Pamplona, 10–15 de octubre de 1976, Pamplona 1979, S. 81–110.
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habe sich durchgesetzt, dass päpstliche Dekretalensammlungen dadurch in Geltung gesetzt würden, dass sie vom Papst an die Universität Bologna ( oder auch an die Universitäten Bologna und Paris ) versandt würden 34. Nun ist es in der Tat unstrittig, dass dieser Modus der Publikation als der rechtserhebliche Schritt für die Inkraftsetzung von Gesetzbüchern angesehen wurde. Doch nur von Bologna oder von Bologna und Paris zu sprechen, ist nicht präzise genug, wie eine Sichtung der Überlieferung für alle solche Sammlungen und die zugehörigen Authentifikationen belegt 35. Am Anfang dieser Entwicklung steht die Inkraftsetzung der sogenannten durch Papst Innozenz III. ( 1209/10 ) 36; auf sie soll wegen ihrer großen Bedeutung für diesen Vorgang unten ausführlich eingegangen werden. Nach Innozenz nutzte schon Honorius III. die Authentifikationsstrategie seines Vorgängers erneut, indem er 1226 die zusammen mit einer Bulle ( mit dem sprechenden Incipit Novae causarum emergentium ) dem „caput decretalistarum Bononiensium“ Tancred übersandte 37. Doch war Bologna ja nur eine Rechtsschule unter anderen, und so können wir beobachten, wie auch andere Universitäten in eine derartige Verbindung zur Kurie traten: Die Bulle des Honorius wurde vielleicht auch dem Paduaner Magister Martinus übersandt 38. Der , den Raymund von Peñaforte 1234 fertiggestellt hatte, ging außer an die Bologneser 39 auch an die Doktoren und Scholaren der Universität Paris 40; es gibt Exemplare der begleitenden Bulle , die beides zusammenziehen und von den Parisius Bononiaeque commorantibus sprechen ( und damit den modernen Erinnerungsort <Paris und Bologna> antizipieren ). Andere sprechen von Paris et ubicunque. Dies scheint den Tatsachen zu entsprechen, jedenfalls hat man den Eintrag der Promulgationsbulle in den Registern Gregors IX. mit der No-
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Hans-Jürgen Becker, Päpstliche Gesetzgebung und Kodifikationspläne für das kanonische Recht im 15. und 16. Jahrhundert, in: Hartmut Boockmann – Ludger Grenzmann – Bernd Moeller ( Hgg. ), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, 2 ( Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, phil.-hist. Kl., 3. Folge 239 ) Göttingen 2001, S. 277–295, hier S. 280. Ebd. zur Übersendung des „an die Universitäten von Bologna und Paris“, so auch S. 281 zu den Clementinen. Walter Ullmann hat schon 1983 betont, dass die Zahl der Universitäten, denen die Dekretalensammlungen übersandt werden, steigt. Auch Oxford und Cambridge seien schließlich darunter. Walter Ullmann, Rez. zur Edition der Konstitutionen des vierten Laterankonzils und zur Edition der Glossen des Johannes Teutonicus zu den Konstitutionen, in: Journal of Theological Studies 34, 1983, S. 654–658, hier S. 657 Anm. 5. Kenneth Pennington, The Making of a Decretal Collection: The Genesis of ( zuerst 1980 ), in: Ders., Popes, Canonists and Texts, 1150–1550, Aldershot u. a. 1993, Nr. VIII. Penningtons weitere Arbeiten zur Kompilation und zu deren Kommentierung durch Johannes Teutonicus können am leichtesten über seine Website erschlossen werden: http://faculty.cua.edu/Pennington/ #Curriculum%20vitae ( Juli 2008 ). Quinque compilationes antiquae, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1882, S. 151. Als caput decretalistarum Bononiensium bezeichnet den Tancred Alphons Stickler, Historia iuris canonici Latini, Turin 1950, S. 235. Ebd., S. 236. Corpus Iuris Canonici ( wie Anm. 32 ) Sp. 1–4. Dort ist in der Inscriptio nur von den doctoribus et scholaribus universis Bononiae commorantibus die Rede. Chartularium Universitatis Parisiensis, hg. von Heinrich Suso Denifle und Emile Châtelain, 1, Paris 1889, Nr. 104, S. 154. Dort analog die Inscriptio dilectis filiis doctoribus et scholaribus universis Parisius commorantibus. Gedruckt ist sie aus den Registern Gregors IX.
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tiz versehen: In eundem modum scriptum est pluribus aliis 41. Also haben wir es schon in den 1230er Jahren nicht mehr mit einem Dialog zwischen dem Haupt der Christenheit und einem oder zwei protegierten Orten der Rechtslehre zu tun, sondern mit einem funktionalen Zusammenhang zwischen <der Kurie> und <der Universität>. Erstmals wird in Gregors IX. Schreiben auch ausgesagt, dass es dem Papst und nur dem Papst anstehe, eine solche Sammlung in Auftrag zu geben 42. Für den , von dem wir ausgegangen waren, kennen wir neben dem Anschreiben für Bologna weitere für die Universitäten von Toulouse und Orléans, das Studium der römischen Kurie und die Universität Salamanca 43. Die Clementinen sollten 1317 weit gestreut werden: Frank Soetermeer hat als Adressaten die hohen Schulen von Paris, Oxford, Toulouse, Padua, Orléans, Avignon, Bologna und Salamanca eruiert 44. Andere Päpste schlugen mit weniger Erfolg als Gregor IX., Bonifaz VIII. oder Johannes XXII. denselben Weg ein, so etwa Innozenz IV., Alexander IV., Urban IV., Clemens IV. und Nikolaus III. 45 Fassen wir zusammen: Es ist durchaus so, dass die Universität Bologna als Adressatin eine prominente Rolle gespielt hat, doch spätestens 1234 scheinen weitere dazugekommen zu sein. Für die Wende zum 14. Jahrhundert ist der Fall dann vollends klar: Nicht mehr ein Austausch zwischen der römischen Kurie und den Bologneser Rechtsgelehrten hat sich mittlerweile als Normal-Prozedur für die päpstliche Kodifikation eingespielt, sondern ein Mechanismus zwischen <der Kurie> und <der Universität> schlechthin. Um diesen Befund gebührend würdigen zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Universitäten, die seit ca. 1200 entstanden waren und weiterhin entstehen sollten, nirgendwo in Europa staatliche Organe gewesen wären, sozusagen Staats-
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Alle Angaben ebd. im editorischen Kommentar. Corpus Iuris Canonici ( wie Anm. 32 ) Sp. 3 f.: Volentes igitur, ut hac tantum compilatione universi utantur in iudiciis et in scholis, districtius prohibemus, ne quis praesumat aliam facere absque auctoritate sedis apostolicae speciali. – Raffael sollte 1510 die Übergabe der Dekretalen durch Papst Gregor auf die rechte Seite der sog. Justitia-Wand in der päpstlichen Stanza del Segnatura malen. Links gegenüber war zu sehen, wie Justitian die Pandekten übergibt. Nur ersteres ist leider abgebildet in: Deocletio Redig de Campos, Raphaels Fresken in den Stanzen, übers. von Patrizia und Harald Möhring, Stuttgart 1984, Taf. 30. Corpus Iuris Canonici ( wie Anm. 32 ) Sp. 933–936, mit dem kritischen Apparat. Der Text für die Schule von Salamanca scheint von den anderen abgewichen zu sein. Ebd., Sp. 1129–1132; Frank Soetermeer, The Origin of Ms. D’Ablaing 14 and the of the Clementines to the Universities ( zuerst 1986 ), in: Ders., Livres et juristes au Moyen Age ( Bibliotheca eruditorum 26 ) Goldbach 1999, S. 83*–94*. Stickler ( wie Anm. 37 ) S. 251–257. Innozenz IV. hat alleine drei solche Sammlungen publiziert; vgl. Becker, Päpstliche Gesetzgebung ( wie Anm. 34 ) S. 281; Martin Bertram, Die Dekretalensammlung Papst Nikolaus’ III. ( 1280 ), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 90, 2004, S. 60–76; vgl. Dens., Die Extravaganten Gregors IX. und Innozenz’ IV. ( 1234–1254 ), in: ebd. 92, 2006, S. 1–44. Zur Bulle Nikolaus’ I. zusätzlich das Chartularium Universitatis Parisiensis ( wie Anm. 40 ) 1, Nr. 500, S. 586. – Die Collectio Novellarum I des ersten Lyoner Konzils wurde promulgiert durch Übersendung an die Schulen von Paris und Bologna; Stickler ( wie Anm. 37 ) S. 254 f. Für die Collectio Novellarum II von 1246 spricht Stickler ebd., S. 255, von einer Übersendung „ad universitates“. Gregor X. sendet die Ergebnisse des zweiten Lyoner Konzils zumindest nach Bologna, Paris und Padua; ebd., S. 256 und unten, bei Anm. 66, und Chartularium Universitatis Parisiensis ( wie Anm. 40 ) 1, Nr. 449, S. 514 f. mit dem editorischen Apparat. Die Sammlung Nikolaus’ III. von 1280 geht an die Pariser; Bertram ( wie Anm. 43 ) S. 63.
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Hochschulen, oder dass sie in einem anderen irgendwie rechtlich zu fassenden Delegationszusammenhang, sei es mit der Kurie, dem Kaisertum oder einer sonstigen fürstlichen Herrschaft, gestanden hätten. Freilich waren sie in ihrer sozialen Zusammensetzung tief in die Welt der Kirche, der Reiche und der Kommunen hineinverwoben 46. Ihrer Bauart nach handelte es sich bei ihnen aber um Schwureinungen von prinzipiell Gleichen, die ihre Gruppenexistenz mittels , Rechts nach dem Prinzipien der Autonomie und Autokephalie organisierten und ihre Innen- und Außenbeziehungen gewählten ( und turnusmäßig wechselnden ) Amtsträgern überließen. Diese nominelle Autonomie der Universitäten war den Päpsten des 13. Jahrhunderts durchaus bewusst, immerhin hat eine erhebliche Zahl von ihnen selbst einmal an einer Universität studiert oder gar gelehrt. Was steckt dann aber hinter dieser merkwürdigen Praxis: dass man Gesetzeskodifikationen gerade dadurch verbindlich macht, dass man sie nicht einem staatlichen, in diesem Fall papstkirchlichen, Organ zur Wahrung überlässt, sondern einer Mehrzahl von autonomen und sozial amorphen Personengruppen? Wir beobachten damit an einer zentralen Stelle die Entstehung der – horribile dictu – besonderen okzidentalen Relation zwischen <Wissenschaft> und <Staat> als sozialen Systemen. Deren Ratio beruht darauf, dass <der Staat> bzw. seine Vorläufer in einen gesteuerten Austausch mit der nicht dem Staat angehörenden Wissenschafts-Organisation tritt. Deren Repräsentanten, die Gelehrten im oben beschriebenen Sinn, dürfen dieser Logik gemäß gar keine Staatsdiener sein. Vielmehr müssen sie Distanz zum Staat und seinen Organen halten, wobei es darauf ankommt, dass diese Distanz auch von Außen betrachtet wahrnehmbar ist. Hierin liegt die soziale Relevanz der gelehrten Praxis begründet. Die Distanz zwischen päpstlicher Gesetzgebung und universitärer Jurisprudenz, so die These, die hier vertreten werden soll, muss gerade wegen der faktischen personellen Nähe von Herrschaftsorganen und Universitäten beständig symbolisch markiert werden. Unter einem funktionalen Blickwinkel hat man die gelehrte Praxis daher darauf zu befragen, inwiefern sie dieser Grenzziehung dient. Die Kultivierung eines spezifischen Denkstils und eigener Techniken im Umgang mit Gesetzestexten, die Entstehung eigener Werte, Normen und Ehrvorstellungen zeigen, wie diese Praxis der Grenzziehung zur außerwissenschaftlichen Welt ihren Trägern in Fleisch und Blut übergeht, mit anderen Worten: gelehrter Habitus wird 47. Entscheidend ist, dass die Gelehrten dabei als Gelehrte und nicht einfach als Studierte wahrgenommen werden, also als Leute, die der Universität über den Zeitraum der Graduierung hinaus verbunden bleiben und an der weiteren Elaboration ihrer Wissenschaft aktiv mitwirken 48.
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Zu der Kontroverse über die Relation der mittelalterlichen Universität zur <Welt> Christian Wieland, Idealisten und Materialisten in der deutschen Universitätsgeschichtsforschung: Herbert Grundmann, Peter Classen und die Frage nach dem Nutzen der mittelalterlichen Hochschule, in: Johannes Brachtendorf ( Hg. ), Prudentia und Contemplatio. Ethik und Metaphysik im Mittelalter. Festschrift für Georg Wieland zum 65. Geburtstag, Paderborn 2002, S. 294–316. Siehe dazu oben, bei Anm. 5. Siehe oben, bei Anm. 2.
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IV. DIE ERFINDUNG DER AUTHENTIFIKATIONSPRAXIS 1209/10
Da die Praxis der Authentifikation päpstlicher Gesetzbücher durch Übersendung an die Universitäten regelrecht erfunden wurde, bietet es sich an, auf der Suche nach den symbolischen Grenzziehungen zwischen Gelehrtenwelt und Umwelt, zwischen und <Staat>, bei diesem Ereignis anzusetzen. Urheber war der selbst juristisch gebildete Papst Innozenz III. anlässlich der Verabschiedung der sogenannten , einer Arbeit seines Notars Peter von Benevent 49. Aus seiner Authentifikationsbulle von 1209 oder 1210 für die Bologneser Gelehrten und aus fast gleichzeitigen Berichten Anderer, etwa des Kanonisten Tancred von Bologna, ist dieser Vorgang bereits recht gut rekonstruiert worden 50. Innozenz reagierte mit dieser Authentifikation auf die Praxis der Gelehrten an den Rechtsschulen, päpstliche Dekretalen zu Lehrzwecken in Sammlungen zu vereinen. Solche Sammlungen waren im 12. Jahrhundert zunächst als Nachträge in Handschriften des entstanden, dann aber recht bald als eigenständige Texte geführt worden. Gelehrte wie Bernhard von Pavia, die solche Kompilationen in Angriff nahmen, wären keine Gelehrten gewesen, hätten sie sich dabei auf die Rolle von Kopisten beschränkt. Seit den 1190er Jahren stand die Praxis hoch im Kurs, die Papstgesetze zu diesem Anlass zu systematisieren, das heißt aus ihrem unmittelbaren Überlieferungszusammenhang herauszulösen und nach Sachkriterien zu ordnen. Bernhard von Pavia, der Verfasser der sogenannten ( vor 1191/92 ), muss deshalb erwähnt werden, weil seine Technik, die Materie in fünf Bücher ( und dort wiederum unter tituli ) zu gliedern, schon bei den Zeitgenossen der 1190er Jahre Furore machte und bis 1917 die gängige Praxis bleiben sollte 51. War der Stoff erst einmal systematisch durchgearbeitet und umgegliedert, dann eignete er sich erheblich besser für den Unterricht in den Rechtsschulen. Vorlesungen scheinen zu jener Zeit nämlich damit begonnen zu haben, dass der doctor vor der sukzessiven Erörterung von Einzelgesetzen zunächst in einem systematischen Teil ( der summa ) vortrug, welches die Leitaspekte der jeweils einzelnen Materien sind, um so eine Vorstellung vom großen Ganzen der Gesetzesmasse, gleichsam vom , zu geben 52. Es ist daher nicht erstaunlich, dass mit Bern49
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Zum folgenden ist besonders zu beachten Hageneder ( wie Anm. 26 ). Ähnlich Andreas Thier, Die päpstlichen Register im Spannungsfeld zwischen Rechtswissenschaft und päpstlicher Normsetzung: Innocenz III. und die Compilatio Tertia, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 88, 2002, S. 44–69. Gemeinsam ist den Arbeiten, dass sie die Relation zwischen ( Papsttum ) und ( Schule ) als ein Konkurrenzverhältnis ( oder als ein „latentes Spannungsverhältnis“, so Thier S. 46 ) um die Entstehung der Dekretalensammlungen beschreiben, das während des 13. Jahrhunderts zu Gunsten der Päpste entschieden worden sei. Mein Argument zielt auf die funktionale Zuordnung der Universitäten auf den Gesetzgeber zur Gewinnung von Legitimität. Zur Datierung der Bulle Stephan Kuttner, Johannes Teutonicus, das Vierte Laterankonzil und die Compilatio Quarta, in: Miscellanea Giovanni Mercati, 5 ( Studi e Testi 125 ) Città del Vaticano 1946, S. 608–634, hier S. 621; Werner Maleczek, Papst und Kardinalskolleg von 1191 bis 1216 ( Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom: Abteilung 1, Abh. 6 ) Wien 1984, S. 172 Anm. 361. Der Bericht des Tancred ist unten, Anm. 55, nachgewiesen. Bernhard beschrieb seine Fünf-Bücher-Ordnung selbst: Ordo agendi talis est: dividetur opus in quinque libros, in quorum primo tractatur de constitutionibus ecclesiasticis, de ordinationibus et officiis clericorum, et de praeparatoriis iudiciorum, in secundo de iudiciis et processu iudiciorum, in tertio de vita clericorum et rebus eorum, de statu monachorum et rebus eorum, in quarto de matrimoniis, in quinto de criminibus et poenis. Friedberg ( wie Anm. 37 ) S. VI. Von Schulte ( wie Anm. 12 ) S. 213.
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hards Klassifikation im Rahmen der in Bologna überhaupt erst Vorlesungen über päpstliches Dekretalenrecht einsetzten 53. Bernhard war sehr stolz auf diese Leistung und verheimlichte seine Bedeutung im Wortlaut seiner Sammlung nicht. In der Welt der Rechtsgelehrten gereichte es zur Ehre, auf diese Weise mit Texten umzugehen, und seien ihre Urheber auch so hochrangige Gestalten wie Päpste. Bescheidenheit ist ohnehin nicht die Stärke der Rechtsgelehrten, was kulturell durchaus von Belang ist. Dies war der Zustand, gegen den Innozenz 1209/10 mit der Authentifikation der vorgehen wollte 54. Er zweifelte die Validität dieser Sammlungen an, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Echtheit. Es störte den Papst, dass Gelehrte Sammlungen in Umlauf gebracht hatten und aller Voraussicht nach auch künftig bringen würden, die angefochtene Dekretalen enthielten 55. Nun waren in der Tat auch Dekretalen gefälscht worden, und bedeutende Fälschungen haben durchaus über Dekretalensammlungen Eingang in die Rechtspraxis gefunden 56. Doch was konnte angesichts der Arbeitstechnik der Gelehrten überhaupt noch als ein <echtes> Gesetz gelten? Indem sie die in Urkundenform erlassenen Gesetze ihren Sammlungen einverleibten, ließen die Gelehrten nicht nur häufig die formelhaften Teile der Dekretalen weg, sondern sie zergliederten auch deren dispositive Hauptbestandteile, in denen durchaus mehr als eine Materie berührt wurde, und verteilten die Bestandteile über ihre Systematik. Schon die Zeitgenossen sprachen um 1200 vom „Zerschneiden“ 57 der Texte, in der modernen Forschung hat man vom „Zerreißen“ als einer typischen gelehrten Arbeitstechnik gesprochen 58. Verfährt man aber mit dem zu bearbeitenden Material erst einmal so ( und sei es in der Absicht, Gleich und Gleich zusammenzuführen ), dann werden Inkonsistenzen der Rechtslage leicht sichtbar. Folgerichtig haben die gelehrten Kompilatoren, Bernhard von Compostela etwa, den Text ihrer Vorlagen und den ihrer Meinung nach maßgeblichen Rechtszustand einfach in ihre Referenztexte hineingeschrieben 59. In diesem Zusammenhang von <Echtheit> oder zu sprechen, hieße, die Gelehrtenpartei an Normen zu messen, die ihre eigenen nicht mehr waren.
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Ebd. S. 180. Friedberg ( wie Anm. 37 ) S. 105: Innocentius episcopus servus servorum Dei universis magistris et scolaribus Bononiae commorantibus salutem et apostolicam benedictionem. Devotioni uestrae insinuatione presentium innotescat, decretales epistolas a dilecto filio magistro P[ etro ] subdiacono et notario nostro compilatas fideliter, et sub competentibus titulis collocatas, in nostris usque ad XII. annum contineri registris, quas ad cautelam uobis sub bulla nostra duximus transmittendas, ut eisdem absque quolibet dubitationis scrupulo uti possitis, cum opus fuerit, tam in iudiciis quam in scholis. So der Bericht des Tancred aus geringer zeitlicher Distanz; ebd., S. XXIII f. Horst Fuhrmann, Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit, 2 ( Schriften der MGH 24/2 ) Stuttgart 1973. Bekannt ist die Skepsis gegenüber dem Dickicht der Dekretalen, die Bischof Stephan von Tournai gegenüber Papst Cölestin III. oder Innozenz III. geäußert hat; dazu Hageneder ( wie Anm. 26 ) S. 329 f., und Thier ( wie Anm. 49 ) S. 44 f. Rainer von Pomposa in der Einleitung seiner Dekretalensammlung: Migne PL 216, Paris 1891, Sp. 1173: … licet quaedam, quia diversos in se continens casus, intercidenda duxerim, ut sub competentibus sibi titulis locarentur. Von Schulte ( wie Anm. 12 ) S. 87, 89, 162. Hageneder ( wie Anm. 26 ) S. 338.
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Als Innozenz III. Peter von Benevent mit der Fertigstellung der beauftragte, muss schnell klar geworden sein, dass das Problem der Authentizität gar nicht im Umlauf gefälschter Dekretalen bestand, sondern in der Arbeitstechnik der doctores decretorum: im Bearbeiten von Texten unter dem Primat von Systematik und Widerspruchsfreiheit. Innozenz schwebte zur Behebung dieses Zustands zunächst noch ein scheinbar objektives Kriterium für Authentizität vor. Ausschlaggebend für die Aufnahme einer Dekretale in die sollte sein, dass diese in den päpstlichen Registern auffindbar war 60. Othmar Hageneder hat schon 1977 unter Verweis auf eine Studie Friedrich Kempfs gezeigt, dass sich dieses Kriterium von Anfang an nicht durchhalten ließ und daher schnell aufgegeben wurde. Peter als der wissenschaftlich Verantwortliche, dem Papst Innozenz bei der Arbeit gleichsam über die Schulter schaute 61, merkte, dass für die Schaffung eines kohärenten, systematischen Codex Stücke und Aussagen erforderlich waren, die er in den Registern nicht ausfindig machen konnte. Für den Augenblick löste Peter die Aufgabe sozusagen mit einem Kniff: Die fehlenden Dekretalen, die er unbedingt in seine Kompilation aufnehmen wollte, fügte er dem aktuellen Registerband auf einer gesonderten Lage hinzu 62. Auch um das Zerreißen der Vorlagen kam auch er nicht herum: Innozenz’ umfangreiche Dekretale <Pastoralis officii diligentia> von 1204 beispielsweise zerlegte er in zwölf Einzelteile und verteilte diese über die fünf Bücher der Systematik 63. So scheint der Papst bald eingesehen zu haben, dass das Echtheitskriterium nicht das richtige sein konnte. Übrig blieb nur der Weg des positiven Rechts: Als echt hatten die Stücke zu gelten, insofern sie in den Sammlungen veröffentlicht und mittels der Authentifikationsbulle für echt erklärt wurden 64. Wie nun verhielt man sich während des 13. und 14. Jahrhunderts an den Universitäten, die mit einer Authentifikationsbulle und einem Codex bedacht wurden? Einen Hinweis darauf, wie sehr man den Empfang dieser Arbeiten schätzte, bietet eine späte Reminiszenz Abt Engelberts von Admont um 1325 an seine Studienjahre 65. Engelbert betonte dabei, wie lebhaft sein Studienort Padua in den 1270er Jahren gewesen sei, und zwar, weil die Bologneser gerade in einen Krieg involviert gewesen seien und die Dok-
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Möglicherweise wurde er dabei von Huguccio beeinflusst, der in seiner zwischen 1188 und 1190 geschriebenen Dekretsumme diesen Gedanken äußert; dazu Hageneder ( wie Anm. 26 ) S. 330 f., samt Nachweisen der Rezeption. – Zu den Registern Othmar Hageneder, Die Register Innozenz’ III., in: Thomas Frenz ( Hg. ), Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas, Stuttgart 2000, S. 91–101. Hageneder ( wie Anm. 26 ) S. 336. Es handelt sich um Lage 13 in Reg. Vat. 7A, fol. 90–94. Friedrich Kempf, Die Register Innocenz III: Eine paläographisch-diplomatische Untersuchung ( Miscellanea Historiae Pontificiae 9 ) Rom 1945, S. 95–101; Hageneder ( wie Anm. 26 ) S. 336 f.; Nörr ( wie Anm. 25 ) S. 275 f. Thier ( wie Anm. 49 ) S. 62. In den späteren Authentifikationsbullen wurde die Echtheitsaussage, die die Register betrifft, weggelassen, und nur die positive Setzung der Gesetzesgeltung blieb übrig. Die Stücke beispielsweise des von 1234 waren per definitionem authentisch, insofern Gregor IX. sie offiziell zum geltenden Recht erklärte. George B. Fowler, Letter of Abbot Engelbert of Admont to Master Ulrich of Vienna, in: Recherches de théologie anciénne et médiévale 29, 1962, S. 298–306. Zur Datierung ebd., S. 299. Zu Engelbert s. Karl Ubl, Engelbert von Admont. Ein Gelehrter im Spannungsfeld von Aristotelismus und christlicher Überlieferung, Wien 2000.
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toren und Scholaren daher nach Padua übergesiedelt seien. Daher habe Papst Gregor die Ergebnisse seines zu Lyon gehaltenen Konzils nicht wie bisher üblich den Bolognesern, sondern den Magistern und Scholaren von Padua sub bulla übersandt 66. Dies war freilich eine Fehleinschätzung. Eine neue Dekretalensammlung wurde zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem halben Jahrhundert nicht mehr ausschließlich den Bolognesern übersandt; offenbar sind die Paduaner dem Wunschdenken aufgesessen, dass sie in diejenige singuläre Position eingerückt wären, die man an der Kurie zu Beginn des 13. Jahrhunderts dem Bologneser Studium zugedacht hatte. Engelberts Reminiszenz ist vor allem daher so interessant, weil die Übersendung der Synodalstatuten als ein Ereignis eingebracht wird, das ein Zeitzeuge offenbar sein Leben lang nicht vergisst. Ein Notariatsinstrument von 1317 informiert weiterhin darüber, dass die Clementinen in ihrer im Auftrag Johannes’ XXII. überarbeiteten Fassung, versehen mit dem päpstlichen Schreiben , von einem Gesandten an der Universität von Toulouse überreicht wurden, und zwar im Rahmen einer feierlichen akademischen Versammlung im örtlichen Franziskanerkonvent 67. Immerhin erahnen lässt sich der Akt der Rezeption durch die Hochschulen, wenn man versuchsweise einen Fall kaiserlicher Gesetzgebung heranzieht, der ganz offensichtlich unter dem Einfluss der päpstlichen Authentifikationspraxis inszeniert worden ist. Noch am Tag seiner Kaiserkrönung erließ nämlich Friedrich II. eine Reihe von Kaisergesetzen ( edictaliter edita, wie man im Umkreis des Papstes schrieb ). Diese sogenannte vom 22. November 1220 überstellte er sogleich universis sacrarum legum doctoribus et scolaribus Bononie commorantibus mit der Aufforderung, dass sie diese Gesetze in ihre codices eintrügen, das heißt dem römischen Recht einverleibten, und künftig und für immer in ihren Vorlesungen behandelten 68. Dieser Fall wird durch eine gelehrte Reminiszenz bezeugt, die noch ein wenig ausführlicher als die des greisen Abtes von Admont ist: Der Legist Odofredus erinnerte sich später daran, dass sich die örtlichen Doktoren auf das Eintreffen der Kaisergesetze hin in der Bologneser Peterskirche zusammengefunden hätten, dem traditionellen Ort für festliche Zusammenkünfte, und zwar zu dem Zweck, die neuen Gesetze in das Corpus des römischen Rechts sub congruentibus titulis zu inserieren. Diesen Vorgang aber, also den Akt der Beratung darüber,
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Fowler ( wie Anm. 65 ) S. 300 f.: Engelbert studierte zuerst an der Prager Schule. Als die Gerüchte um die Wahl Rudolfs von Habsburg eintreffen, musste er wie andere Studenten aus Österreich und der Steiermark auch Böhmen verlassen. Er ging zunächst nach Admont zurück, zog aber von dort weiter nach Padua, wo sich ein großes studium befand, doctoribus et scolaribus de Bononia illuc translatis propter discordiam, quam Bononienses maximam cum Forlinensibus tunc gerebant, ita quod papa Gregorius statuta sui concilii Lugdunensis non Bononiensibus, sicut fuit antea consuetum, sed Paduanis magistris et scolaribus sub bulla transmisit ad utendum ipsis in iudiciis et in scolis, sicut patet in eorundem statutorum titulis evidenter. Zum Nachweis der Bulle für Padua Heinrich Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, Berlin 1885, S. 286 Anm. 253. Chartularium Universitatis Parisiensis ( wie Anm. 40 ) 2, Paris 1891, Nr. 755, S. 212. Dazu Soetermeer ( wie Anm. 42 ) S. 92* f. MGH Const. 2, hg. von Ludwig Weiland, Hannover 1896, Nr. 85 f., S. 106–110. Das Mandat an die Bologneser lautet: … edidimus quasdam leges, quas presenti pagina fecimus adnotari, per imperalia vobis scripta mandantes, quatinus eas faciatis in vestris scribi codicibus et de cetero legatis solenpniter tamquam perpetuis temporibus valituras. Ebd., Nr. 86, S. 110, 18 ff.
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welche staufische Konstitution welchem Titel des Codex anzufügen sei, nahm man offenbar in einer feierlichen Versammlung vor 69. V. SCANDALIZARE: DER HABITUS DER GELEHRTEN
Es war Innozenz’ autoritativer Akt von 1209/10, der zu der Trennung der Exegese von der Kodifikation, des Erläuterns vom Erlassen, der Wissenschafts- von den Gesetzgebungsorganisationen und der gleichzeitigen funktionalen Zuordnung der beiden Instanzen zueinander führte. Der Gesetzgeber verzichtete auf den Anspruch, der erste Interpret seiner eigenen Werke zu sein und wies diese Aufgabe einer Instanz zu, die nominell seinem Zugriff verborgen blieb und einer auch von Außen wahrnehmbaren Eigenlogik verpflichtet war, die aber gerade aus diesen beiden Gründen die Legitimation des Gesetzestextes bewirken konnte. Dass Innozenz dies tat und den Anspruch auf selbständige Interpretation des Rechts aufgab, war keine Selbstverständlichkeit, wenn wir die Strategie des gelehrten Papstes mit der seines Vorbildes Justinian vergleichen. Denn schon Hermann Kantorowicz hat gezeigt, dass sich auch Innozenz als der Erfinder der Authentifikationspraxis an Vorbildern orientierte. Die Bulle von 1209/10 war angelehnt an die Konstitution , mit der Kaiser Justinian im November 534 den überarbeiteten feierlich eingeleitet hatte 70. Doch Justinian hatte seine Sammlung an den Senat der Stadt Konstantinopel und nicht an eine Universität übersandt, und überdies wurde im unzweideutig gesagt, dass dem Kaiser nicht nur das alleinige Recht zum Geben von Gesetzen, sondern ebenso das alleinige Recht zu dessen Auslegung zukomme 71. Dies war nicht der Weg, der für das lateinische Europa prägend werden sollte. Wegweisend sollte hier die programmatische Trennung der herrschaftszentrierten Gesetzgebungs- von der gelehrten Auslegungskultur sein. Ausschlaggebend für die Erfindung des juristisch versierten Papstes war der in kurzer Zeit sichtbar gewordene Umstand, dass das Milieu der Rechtsgelehrten auf der Grundlage anderer Qualitätskriterien andere Praktiken im Umgang mit Texten entwickelt hatte als die, die an der Kurie in Ehren gehalten wurden. Verankert waren diese Maßstäbe und Praktiken in einer noch ganz jungen Gelehrtenkultur. Es ist ein besonders erstaunlicher Aspekt dieses Themas, dass der gelehrte Kommunikationszusam69
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Friedrich Carl von Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. ND der zweiten Ausgabe in 7 Bänden von 1834–1851, 3, Bad Homburg 1961, S. 521 Anm. b: „Odofredus in Codicem, ad Auth. de sacros. eccles. … in longa constitutione de qua est extracta haec constitutio ( sc. Auth. ) … decima collatione in corpore autheticorum, Ut unum sciatis, authenticum quod fuit compositum a Justiniano habet IX. collationes. Postea quando venit Imperator Federicus junior, misit has constitutiones ad civitatem istam doctoribus legum, ut aptarent eas singulis legibus sub congruentibus titulis. Et ita fecerunt doctores, dum convenerunt in S. Petro: quoniam istam adaptaverunt ad legem istam. Postea quid fecerunt? Dominus Hugolinus post nonam collationem posuit librum feudalem, et omnes constitutiones Federici antiqui, et junioris, et aliquas Conradi Imperatoris: et vocatur decima collatio. Sed pauci sunt qui habeant ita ordinate In libris suis.“ Corpus Iuris civilis, 2. Codex Iustinianus, hg. von Paul Krüger, Berlin 1915, S. 4; Hermann U. Kantorowicz, Das Principium decretalium des Johannes de Deo, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 12, 1922, S. 418–444, hier S. 429. Codex Iustinianus ( wie Anm. 70 ). Zentral ist Cod. 1.14.12 ( ebd., S. 68 ): ( 3 ) Si enim in praesenti leges condere soli imperatori concessum est, et leges interpretari solum dignum imperio esse oportet, ( 5 ): … tam conditor quam interpres legum solus imperator iuste existimabitur.
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menhang, mit dem Innozenz III. um 1210 fertig werden musste, zu diesem Zeitpunkt höchstens zwei Generationen alt war, ja dass sich die Organisation dieser Gelehrtenkultur in der Gruppenform der universitas mehr oder weniger gleichzeitig mit seiner Intervention ereignete. Die Päpste kommunizierten hier mit Angehörigen einer Textwissenschaft, mit einem in Schulen gegliederten Ensemble von Exegeten. Diese waren stark beeinflusst von der Wissenschaft vom römischen Recht und damit erstens von der Arbeit an einem kanonisierten Gesetzeswerk, dem , und zweitens von den Kommunikationsformen, die sich im Milieu der Legisten einstellten. War während der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts der tonangebende Typus unter den Bolognesern der iudex gewesen, der laikale, aristokratische, waffenführende Richter, so trat in der zweiten Jahrhunderthälfte der doctor in den Vordergrund. Mit dieser Wandlung war auch ein Umbau der Ehrvorstellungen verbunden, das heißt auch der Kriterien für Prestige. Die Gelehrten des Rechts, so hat Johannes Fried gezeigt, mussten im Unterschied zu den judices der Vergangenheit nicht mehr gut aussehen, wenn sie auf einem Pferd saßen. Vielmehr mussten sie ihre fama im Hörsaal und, noch wichtiger, publizierend verteidigen 72. Dies scheint für die Kanonisten ebenso sehr gegolten zu haben wie für die Legisten. Auch hier verhielt man sich agonal, nur eben auf andere Weise als die Aristokraten der ersten Jahrhunderthälfte: Die Vertreter ein und derselben Wissenschaft bezogen sich auf die selben Referenztexte und stritten um deren Auslegung. Vorlesung, Glosse, Summe und der Neuling in der Rechtsliteratur, die juristische Monographie 73, standen prinzipiell unter dem Gebot der Agonalität: Man musste den Referenztext besser auslegen als dessen letzter Kommentator. Folgerichtig fällt an diesen Texten auf, wie sehr Legisten und Kanonisten zum Eigenlob und im Hinblick auf ihre Vorgänger zum Bekritteln und zur Häme neigten. Selbst eine so souveräne Gestalt wie Huguccio ( gest. 1210 ) konnte es nicht lassen, in seiner Summe zu Gratians Arbeit den Johannes Faventinus als den letzten Verfasser einer Dekretsumme ständig zu widerlegen, und handele es sich auch um Quisquilien 74. In der Forschung hat man aus der Beobachtung, dass er den älteren Gandulphus gegen seine eingefleischte Gewohnheit nicht bemäkelte, gar geschlossen, dass dies wohl sein Lehrer gewesen sein muss 75! Der enge disziplinäre Zusammenhang, der durch den Bezug auf Referenztexte zustande kam, schlug sich so in agonalem Verhalten nieder, das wiederum die Bildung von Schulen und die Ausprägung eines disziplinären Regelwerks begünstigte 76 und das doch zugleich wegen eines gewissen Unterhaltungswerts von der Umwelt interessiert beobachtet wurde. Zu einer Eigenart der wissenschaftlichen
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Fried ( wie Anm. 9 ) Kap. III. Von Schulte ( wie Anm. 12 ) S. 179. Ebd., S. 163 f. Es dränge sich, so von Schulte, „unwillkürlich“ die Meinung auf, „er habe das Ansehen und den Gebrauch der Summa desselben vernichten wollen.“ Huguccio verhalte sich „bei jeder Gelegenheit andern gegenüber kritisch; er ist sich dieser Selbstständigkeit so sehr bewusst, dass er nicht blos häufig sehr scharfe Urtheile fällt, sondern unzählige Mal seine eigne Ansicht hervorhebt und fast ungebührlich betont.” Ebd. S. 156. Zu einem unverzichtbaren Kennzeichen der Professionalität wird unter diesen Bedingungen beispielsweise auch das verbindliche kanonistische Verweissystem; ebd., S. 20.
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Kommunikation, so hat Johannes Fried auch festgestellt, wurde das scandalizare – die Praxis, den wissenschaftlichen Gegner bloßzustellen, um damit selber in umso hellerem Licht zu erstrahlen 77. Diese Praktiken, die sich am besten am Werk des Legisten Odofred zeigen lassen, scheinen auch bei den Lehrern des Kirchenrechts eine Rolle gespielt zu haben, sie gaben dem wissenschaftlichen Betrieb an den Schulen seine Kohärenz und Selbst-Referenz. Die Eigenlogik der gelehrten Welt, die ihrer Trennung von der Sphäre der Gesetzgeber zugrunde liegt, wurde in ihnen sichtbar. Mochten die Rechtsgelehrten auch vorrangig Texte schreiben, die nur für ihresgleichen gedacht waren – auch aus der Perspektive der Nichtjuristen waren sie eine enorm streitbare Spezies, die zugleich ständig bei ihrem Austausch mit den Institutionen der Herrschaft beobachtet werden konnte. Juristenskepsis, Juristenkritik, Juristenfeindschaft wurden noch im 13. Jahrhundert zu einer beständig hörbaren Stimme im politischen Diskurs. Die Juristen, die doch eigentlich Schlichter sein sollten, galten als Sykophanten und zugleich als korrupt und habgierig. Auch ihre Nähe zu den Zentren der Macht machte sie nicht sympathischer 78. Und doch galten sie den Zeitgenossen schon als die eigentlichen Systemgewinner der spätmittelalterlichen Verwissenschaftlichungstendenzen. Ähnlich ambivalent bleibt diese Kommunikation für die Päpste. Das Legitimitätsdefizit, das die Ablösung traditionalen oder geoffenbarten durch positives Recht mit sich bringt, bürdete dem wissenschaftlichen Umgang mit dem Recht und auch der Elaboration von Verfahren die Aufgabe auf, Legitimation zu stiften. Offenbar glaubten daher viele Kardinäle während des 13. und 14. Jahrhunderts, dass man sich einen Petrusnachfolger nicht mehr leisten konnte, der von der Wissenschaft vom Recht nichts oder wenig verstand. Entsprechend häufig wählte man studierte Juristen, mitunter sogar Virtuosen des Rechts wie Innozenz IV. Solche Päpste steigerten freilich die Gefahr, dass das Negativimage der Juristen auf das Papsttum als Institution abfärbte. Ein Papst hatte etwas anderes – und mehr – zu sein als ein gelehrter Schreibtischtäter. Gregor IX., aber auch Bonifaz VIII. suchten diese Gefahr dadurch zu konterkarieren, dass sie sich als diejenigen präsentierten, die um die Juristendispute ihrer Zeit wussten und in ihrer großen Weisheit deren Streitfragen lösten 79. Schöpferisch wurde die Kritik an der Juristennähe der Päpste dort, wo sie den Mythos von der baldigen Ankunft eines Engelspapstes speiste; es werde einmal ein Papst kommen, so schrieb Roger Bacon 1267 in seinem , ‚der durch seine Güte, Wahrheit und Gerechtigkeit alle Welt einigen und das kanonische Recht und die Kirche Gottes von den Sticheleien und Betrügereien der Juristen reinigen werde – dann würde man allen Gerechtigkeit wider-
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Fried ( wie Anm. 9 ) S. 100–115, bes. S. 110–112. Siehe die Literatur oben in Anm. 10. Zu Bonifaz berichtet beispielsweise ein deutsches Annalenwerk: Circa idem tempus Bonifacius papa [ VIII., F.R. ] fecit, et ad generalia studia sub bulla transmisit Sextum librum decretalium. In quo multa, que antea erant in scolis et in iudiciis ambigua, declaravit … ( MGH SS 17, Hannover 1861 ), S. 420. Zu Gregor IX. sagt ein anderes: Decretales corriguntur a Gregorio papa, resecando superflua et utilia retinendo. ( MGH SS 19, Hannover 1866 ), S. 369. Vor Kritik waren sie dadurch freilich nicht gefeit. Odofredus bemerkte anlässlich einer päpstlichen Entscheidung, die sich im niederschlug, ironisch, „hier habe der Papst Partei im Streit der Lehrmeinung ergriffen und sich zum Glossator der leges erhoben“; Nörr ( wie Anm. 25 ) S. 267 f. Dort mehr Material zur Aufnahme juristischer Streitfragen durch den Papst.
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Frank Rexroth
fahren lassen, ohne Streit und Lärm.‘ 80 Der Mechanismus, mit dem die Welt der Gelehrten auf die Welt der Politik bezogen wurde, sollte nicht mehr verloren gehen, auch wenn er ständig von Stimmen begleitet wurde, die eine einfachere und einheitlichere Welt einforderten.
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Roger Bacon, Opera quaedam inedita, hg. von John S. Brewer ( Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 1, London 1859 ), S. 86: Sed prophetatum est a quadraginta annis et multorum visiones habitae sunt, quod unus papa erit his temporibus, qui purgabit ius canonicum et ecclesiam Dei a cavillationibus et fraudibus iuristarum, et fiet iustitia universaliter sine strepitu litis. Bei Petrus Johannis Olivi wird die Erneuerung von Christi lex eine Rolle spielen. Gagnér ( wie Anm. 20 ) S. 160. Vgl. Friedrich Baethgen, Der Engelspapst ( Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswiss. Klasse, 10. Jahr 2 ) Halle ( Saale ) 1933, S. 78 mit Anm. 3.
Die Narration der Normen oder die Beschreibung des Ungeschriebenen
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WOLFGANG HAUBRICHS
Die Narration der Normen oder die Beschreibung des Ungeschriebenen. Das Beispiel <Erec> I
Als der schon zu schönster Vollkommenheit ausgebildete Artusritter Erec – nach der Version des Chrétien de Troyes 1 – eine verarmte, aber wunderschöne Grafentochter erwirbt, die alsbald von König Artus als die Schönste aller Damen öffentlich mit einem Kuss ausgezeichnet wird, als er mit ihr zu Pfingsten auf einem Artusfest Hochzeit gefeiert hat, als er nach Hause zurückgekehrt ist und ihm der alte König Lac, sein Vater, die Herrschaft über Hof und Reich übergeben hat, als alle Dinge also zu bester Stunde fast märchenhaft geordnet erscheinen, da begeht das Paar in inniger Vertrautheit einen Missgriff, der uns Heutigen vielleicht <pas grave> erscheinen möchte, im narrativen Verfolg des Romans aber den beiden Protagonisten Erec und Enite ihre Ehre kostet: Tant l’ama Erec d’amors – ‚Erec liebte sie so sehr, dass er das Interesse an den Waffen verlor und nicht mehr zum Turnier zog‘ 2, zum Turnier, in dem er zuvor bei König Artus noch als vorzüglichster der chevaliers geglänzt hatte. ‚Es lag ihm nichts mehr daran, im Turnier zu kämpfen; er wollte in Liebe mit seiner Frau leben und machte sie zu seiner Freundin und Geliebten‘ 3, fist s’amie et sa drue ( v. 2435 ). ‚Mit ihr allein beschäftigte er sich, nur um sie zu umarmen und zu küssen. Sie wünschten sich kein anderes Vergnügen‘. Sie verbrachten den Tag oft bis nach Mittag im Bett. ‚Ihm gefiel das, und es war ihm gleichgültig, wer etwas dagegen hatte‘ 4. Zwar stattete er weiterhin die Ritter seines Gefolges mit Waffen, Kleider und Geld aus und sandte sie zu Turnieren. Er selbst aber nahm an der chevalerie nicht mehr teil. Das Gefolge und seine Gefährten vom Artushof bedrückt diese Entwicklung, Enite hört davon, man gibt ihr wohl partiell die Schuld und sie ist explizit selbst voller Trauer und voller Schuldgefühl darüber, dass ‚der allerbeste, der kühnste und stolzeste, der treueste und höfischste, der jemals Graf oder König war, meinetwegen alle ritterliche Betätigung ganz und gar aufgegeben hat. Dadurch habe ich ihm wahrlich Schande ( honte ) zugefügt; um nichts auf der Welt hätte ich das gewünscht‘ 5. 1
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Benutzt wird hier die Ausgabe: Chrétien de Troyes, Erec et Enide – Erec und Enide. Altfranzösisch/ Deutsch, übersetzt und hg. von Albert Gier, Stuttgart 1987. Ebd. S. 138, v. 2430–32: Mes tant l’ama Erec d’amors, / que d’armes mes ne li chaloit, / ne a tornoiemant n’aloit. Ebd. S. 138, v. 2433–35: N’avoit mes soing de tornoier: / a sa fame volt dosnoier, / si an fist s’amie et sa drue. Ebd. S. 138., v. 2444: lui estoit bel, cui qu’il pesast. Ebd., S. 142 v. 2495–2502: quant toz li miaudres chevaliers, / li plus hardiz et li plus fiers, / qui onques fust ne cuens ne rois, / li plus lëax, li plus cortois, / a del tot an tot relanquie / por moi tote chevalerie. / Dons l’ai ge honi tot por voir; / nel volsisse por nul avoir.
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Wolfgang Haubrichs
Die Inszenierung treibt einer Krise entgegen: Eines Morgens, nach vollendetem Spiel der Liebe – Cil dormi et cele veilla ( v. 2475 ): Er schlief und sie war wach und hing ihren Gedanken nach, bis sie in Tränen ausbrach und sich selbst als Schuldige beklagte. Übrigens wurde diese Szene in zahlreichen altfranzösischen Fabliaux, also schwankoder novellenartigen Kurzerzählungen, als Beweis für die auch in klerikalem Diskurs unterstellte sexuelle Unersättlichkeit der Frau zitiert, was möglicherweise ein Schlaglicht auf die sozialen Normen wirft, denen sich Enite in ihrem Schuldbekenntnis bei Chrétien unterwirft 6. Erec freilich erwacht von ihrer Stimme, sieht seine dolce amie chiere weinen und erfragt von ihr den Grund: ‚Euer Ruhm ( pris ) hat sehr abgenommen … jetzt machen sich alle über Euch lustig … alle sagen, dass Ihre Eure Pflichten vernachlässigt‘ 7. Recreant vos apelent tuit ( v. 2551 ). Er ist, wie William Nitze deutlich gemacht hat 8, dem Laster der pigritia ( Faulheit ) anheim gefallen, hat die schon von Geoffrey of Monmouth und Wace für die Artusgesellschaft formulierte notwendige Verbindung von militia und amor einseitig verletzt 9. Enite ruft ihrem Gemahl die sozialen Pflichten eines chevalier in Erinnerung, es ist völlig klar, dass sie die Normen der adligen Gemeinschaft vertritt, die an der Ausschließlichkeit einer individuellen Zweierbeziehung kein Interesse hat. ‚Jetzt müsst ihr einen Entschluss fassen, damit Ihr diesen Tadel ( ce blasme ) auslöschen und Euren früheren Ruhm wiedererlangen könnt‘ 10. Es ist eine Sache der Ehre, der Ehre Erecs, aber ein wenig vertritt Enite auch sich selbst, der man Vorwürfe macht, und deswegen tadelt sie sich selbst ( und auch der Autor tadelt sie ), deswegen klagt sie sich der Unbedachtheit, des Stolzes und des Hochmuts an 11. Die Normen werden in dieser Szene von den Protagonisten und vom Autor explizit verhandelt. Erec reagiert unmittelbar und öffentlich: Er gibt ihr und den Kritikern vollkommen recht. Er heißt Enite ihr bestes Kleid anziehen, ihren Zelter zu satteln, er selbst heißt seine Rüstung bringen, er erklärt seinem Vater die Situation und seinen Entschluss. Er weiß, da ja seine Fähigkeit und sein Wille zu ritterlicher Tat angezweifelt wird, dass er seine Ehre nur durch Taten, durch neue ritterliche Taten wiederherstellen kann, er weiß, dass er die neuen aventiuren alleine bestehen muss. Nur Enite darf ihn begleiten. Er weiß auch, dass er seinen höfischen Status, der ihm – wie ihm sein Vater ins Gedächtnis ruft – Gefolge und Repräsentation auferlegt hätte ( ‚der 6 7
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Albert Gier, ebd., Nachwort, S. 447. Ebd., S. 144 f., v. 2544, 2549 ff.: Vostre pris est molt abessiez: … or se vont tuit de vos gabant, / juesne et chenu, petit et grant; / recreant vos apelent tuit. William A. Nitze, Erec and the Joy of the Cort, in: Speculum 29, 1954, S. 691–701, S. 691 f. Geoffrey of Monmouth, Historia Regum Britanniae, hg. von Neil Wright, Cambridge 1985, lib. 9, cap. 13, Abschnitt 157, S. 112: Quicunque vero famosus probitate miles in eadem erat unius coloris vestibus atque armis utebatur. Facete etiam mulieres consimilia indumenta habentes, nullius amorem habere dignabantur nisi tertio in milicia probatus esset. Efficiebantur ergo caste et meliores et milites pro amore illarum probiores. Wace hat diese Passage in seinem hg. von Ivor Arnold, 2 Bde., Paris 1938–1940 ( v. 10513–516 ) paraphrasiert: Ja peüst aveir drüerie / Ne curteise dame a amie, / Se il n’eüst treis feiz esté / De chevalerie pruvé. Chrétien de Troyes ( wie Anm. 1 ) S. 146 f., v. 2562–564: Or vos an estuet consoil prandre, / que vos puissiez ce blasme estaindre / et vostre premier los ataindre. Ebd., S. 146 f., v. 2580 ff.; Chrétien nennt die Äußerung Enides eine folie und wird noch deutlicher ( v. 2584 ): tant grate chievre que mal gist ( ‚so lange scharrt eine Ziege, bis sie unbequem liegt‘ ): In einer Gesellschaft der Scham bedeutet ein Ehrverlust erst etwas, wenn er ans Tageslicht tritt. Vgl. zur Szene Albert Gier, ebd., S. 447 ff.
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Sohn eines Königs darf nicht allein reiten‘ – ne doit sens aler filz de roi v. 2705 ), dass er diesen Status verloren hat 12. Hartmann von Aue, der nach der Vorlage Chrétiens um 1180 eine neue Version des <Erec> – ich beziehe mich im Folgenden auf die 13 – schuf, hat diese Schlüsselszene des Romans in erheblichem Umfange und in entscheidenden Details neu konzipiert und neu konstruiert 14: Zwar formuliert auch er wie Chrétien Erecs Abkehr von der riterschefte als gemache ( v. 2933, 2967 ), doch spitzt er die Situation, für die er das konkretisierende Wort sich verligen findet, so zu, dass das Maß der unmäßigen Liebe des Paares deutlich von Gott und Natur, von Messe und Mahlzeit gesetzt wird, nicht aber von der ritterlichen Gesellschaft ( v. 2935 ff. ) 15: als er nie würde der man, alsô vertreip er den tac. des morgens er nider lac, daz er sîn wîp trûte unz daz man messe lûte. sô stuonden si ûf gelîche 12
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Zur Interpretation der Szene bei Chrétien vgl. u. a. William A. Nitze, The Romance of Erec, Son of Lac, in: Modern Philology 10, 1914, S. 445–489, S. 455 ff.; Ernst Scheunemann, Artushof und Abenteuer. Zeichnung höfischen Daseins in Hartmanns Erec, Breslau 1937, S. 40 ff.; Reto R. Bezzola, Le sens de l’aventure et de l’amour ( Chrétien de Troyes ) Paris 1947, S. 136–152; Hans-Peter Kramer, Erzählerbemerkungen und Erzählerkommentare in Chrestiens und Hartmanns <Erec> und , Göppingen 1971, S. 158 ff. [ Lit. ]; Gier ( wie Anm. 1 ) S. 447 f. Raymond Cormier, Cinq motifs ovidiens retrouvés chez Chrétien de Troyes, in: Medioevo romanzo 28, 2004, S. 189–207. Hier werden benutzt: Hartmann von Aue, Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, 7. Auflage bearbeitet von Kurt Gärtner ( = Altdeutsche Textbibliothek 39 ) Tübingen 2006; Hartmann von Aue, Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Thomas Cramer, Frankfurt a. M. 221999; Hartmann von Aue, Erec, hg. von Manfred G. Scholz ( = Bibliothek des Mittelalters 5 ) Frankfurt a. M. 2004. Vgl. zur Interpretation der Szene bei Hartmann von Aue Hendricus Sparnaay, Hartmann von Aue. Studien zu einer Biographie ( 1933/38 ) Darmstadt 1975, 1, S. 76 ff., S. 104; Helmut De Boor, Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang ( = Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 2 ) München 51962, S. 71; Hugo Kuhn, Erec in: Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, Tübingen 1948, S. 122–147; neu in: Ders., Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 21969, S. 133–150, 265–270, S. 136; Wilhelm Kellermann, Die Bearbeitung des <Erec und Enide>-Romans Chrestiens von Troyes durch Hartmann von Aue ( 1970 ) Darmstadt 1973, S. 511–531, S. 525 ff.; Peter Wapnewski, Hartmann von Aue, Stuttgart 51972, S. 48; Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, 1, Berlin 21977, S. 127 f.; Rudolf Voss, Die Artusepik Hartmanns von Aue, Köln – Wien 1983, S. 122 ff.; Christoph Cormeau – Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, München 1985, 32007, S. 182 f.; Joachim Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 1990, S. 152 ff.; Leslie Peter Johnson, Die höfische Literatur der Blütezeit ( = Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 2, 1 ) Tübingen 1999, S. 263 ff.; Irmgard Gephart, Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue Erec, Frankfurt a. M. 23005, S. 45 ff.; Joachim Bumke, Der <Erec> Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin – New York 2006, S. 34–37; Jürgen Wolf, Einführung in das Werk Hartmanns von Aue, Darmstadt 2007, S. 59 f.; Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 586 ff., 731 ff. [ mit abgewogener Diskussion der Forschung ]. Für die Übersetzung wurde die Übertragung von Cramer ( wie Anm. 13 ) zugrundegelegt und, wo es mir sinnvoll schien, geändert. Zu Rate gezogen wurde auch die Übertragung von Scholz ( wie Anm. 13 ).
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Wolfgang Haubrichs
vïl unmüeczeclîche. ze handen si sich viengen, zer kappeln si giengen: dâ was ir tweln alsô lanc unz daz man messe gesanc. diz was sîn meistiu arbeit: sô was der imbîz bereit. swie schiere man die tische ûf zôch, mit sînem wîbe er dô vlôch ze bette von den liuten. dâ huop sich aber triuten. von danne kam er aber nie unz er ze naht ze tische gie … ( ‚Als sei er nie ein Mann geworden, so vertrieb er den Tag. Morgens legte er sich nieder, um seine Frau zu lieben, bis man zur Messe läutete. Dann standen sie beide eilig auf. Sie nahmen sich bei der Hand und gingen zur Kapelle; dort blieben sie gerade so lange, wie man die Messe sang. Das war seine größte Mühe; dann war schon das Essen fertig. Sobald man aber die Tische hochgezogen hatte, eilte er mit seiner Frau von den Leuten weg ins Bett. Da ging die Liebe von neuem an. Von dort kam er nicht mehr weg, bis er zum Abendessen ging.‘ ) Das ist nicht ohne Humor ( aber auch nicht ohne Kritik ) erzählt, aber es bleibt auch zu bemerken, dass Hartmann die gemeinschaftsferne Liebe des Paares gegenüber Chrétien, der sie ‚öfter‘ erst nach Mittag sich erheben lässt, bis ins Endlose von Tag und Nacht und Nacht und Tag steigert. Ebenso steigert er Fluch und Schande, die die verlassene ritterliche Gemeinschaft des Hofes ihm nun zuspricht. Bei Chrétien lästert und flucht die société des chevaliers, bei Hartmann verlassen ritter unde knehte ( v. 2974 ff. ), Ritter und Knappen gar den Hof. Erec verliert nicht nur seinen Ruf und seine Ehre, sein Hof zu Karnant verliert den höfischen Zentralwert der vreude, dann das Personal und damit jede Attraktivität für die internationale Gesellschaft der Ritter ( v. 2988 ff. ): in schalt die welt gar. sîn hof wart aller vreuden bar unde stuont nâch schanden: in endorfte ûz vremden landen durch vreude niemen suochen. ( ‚Alle Welt schalt ihn. Sein Hof wurde freudenleer und füllte sich mit Schande. Aus fremden Ländern brauchte ihn niemand aufzusuchen, um Freude zu finden‘ ) Auch der entscheidende Moment der Umkehr ist bei Hartmann anders konstruiert. Zwar sieht auch bei ihm Enite, dass die Gesellschaftsferne Erecs ir schult waere ( v. 3008 ), doch anders als bei Chrétien mahnt sie Erec nicht an seine ritterlichen Pflichten, diese werden nicht besprochen, sie bleiben unbesprochen. Zwar seufzt und klagt Enite auch bei Hartmann im Bette, anders übrigens als bei Chrétien glaubt sie nur, daz
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er sliefe ( v. 3026 ), doch kann Erec, da die Normen unbesprochen bleiben, auch nicht seiner Frau und den Anklägern aus der ritterlichen Gemeinschaft Recht geben. Er begnügt sich mit einem ‚Es ist genug gesagt‘ und schreitet zur Tat. Dieser Aufbruch zur ritterlichen Tat, zur aventiure, ist erneut anders konstruiert als bei Chrétien. Erec bei Hartmann gibt vor, er wolde rîten ûz kurzwîlen ( v. 3061 f. ), sozusagen <spazieren reiten>; ‚heimlich‘ legt er Rüstung an, verbirgt sie unter seinem Gewande; der Küche gibt er die Anordnung, sich für baldige Rückkehr bereitzuhalten und das Essen vorzubereiten. Anders als Chrétien wird nicht einmal der königliche Vater über die Gründe seines Wegreitens informiert. Der Erzähler erzählt die im Gegensatz zu Chrétien ausgeprägte Heimlichkeit des Tuns nicht nur, er lobt sie sogar ( v. 3069 f. ): sîn vlîz was ze helne grôz: er tete alsam der karge sol. ( ‚Er verwandte großen Fleiß darauf, seine Absichten zu verbergen; er tat so, wie es der Kluge soll‘ ) Hier breche ich die vergleichende Paraphrase der Narrationen Chrétiens und Hartmanns ab und wende mich dem strukturalen Vergleich zu. Dass Hartmann anders konstruierte als Chrétien, ist deutlich, doch muss man den Autor als Konstrukteur auch ernstnehmen. Es gilt zu fragen, welchen narrativen Sinn das Konstrukt der heimlichen conversio bei Hartmann gegenüber dem Konzept des öffentlichen Aufbruchs bei Chrétien besitzen könnte. Auch bei Chrétien gibt es ja ein bei Hartmann beibehaltenes und noch gesteigertes Moment der Heimlichkeit, der res privata. Enite offenbart die Klage des Hofes, die Schande Erecs und ihre eigene Schuld erst unfreiwillig im Schlafe, dann gezwungen. Chrétien tadelt sie gar noch, durchaus mit beißendem Spott ( er sagt: ‚eine Ziege scharrt so lange, bis sie unbequem liegt‘ ) 16. Der erzählerische Sinn dieser Konstruktion ist aber zu zeigen, dass Erec trotz seiner Verfehlung, trotz seiner Schande weiterhin über das Wertesystem der chevalerie verfügt, wobei die Funktion dieses ideologischen Konstrukts erst ganz am Ende des Romans völlig deutlich wird. Nur durch den Kunstgriff, dass Enite die Verfehlung Erecs heimlich offen legt, erhält der chevalier die Gelegenheit, selbst seine Umkehr in die Tat zu vollziehen, selbst zu offenbaren, dass er das richtige Bewusstsein von der Gesellschaftlichkeit einer wenn auch durch Minne gefestigten Beziehung zwischen Mann und Frau, König und Königin hat. Hartmann steigert diese Konstruktion der Heimlichkeit, die doch die Öffentlichkeit, das Ziel der Rekonstruktion der Gesellschaftlichkeit des fürstlichen Paares unausgesprochen in sich aufnimmt, dadurch, dass er die Pflichten und Normen der riterschefte – anders als bei Chrétien 17 – nicht mehr besprechen lässt, dass er die Wende zur ritterlichen Tat sich völlig außerhalb der Öffentlichkeit des Hofes vollziehen lässt. Die gesteigerte Heimlichkeit der Szenerie trägt dazu bei, die innere conversio des Protagonisten konzentriert als eigen- und nicht fremdbestimmte Tat quasi wie ein Rätsel, das es noch zu lösen gilt, in der Erzählung vor dem Hörer oder Leser aufscheinen zu lassen. 16 17
Vgl. o. Anm. 11. Chrétien de Troyes ( wie Anm. 1 ) S. 148 ff., v. 2620 ff.
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Wolfgang Haubrichs II
Ich übergehe nun die Serie der aventiuren, in denen der ritterliche Held des Romans seine Ehre und seinen Ruhm wiedererlangt, und zugleich seine Taten eine neue soziale Qualität der Hilfe gewinnen, und zugleich das partnerschaftliche Verhältnis zwischen den Ehegatten wiederhergestellt wird. Ganz am Ende des Romans, aber doch mit einem erheblichen erzählerischen Eigengewicht versehen, hat Chrétien eine aventiure platziert, auf die die Protagonisten unvermutet treffen – sie wollen eigentlich zum Artushof, verirren sich aber 18. Chrétien hat der aventiure einen eigenen Namen gegeben, la Joie de la Cort ( ‚Die Freude des Hofes‘ ), vermutlich mit ironischem Unterton, denn diese größte und gefährlichste aventiure des Romans wird sich alsbald als das genaue Gegenteil höfischer Freude erweisen 19. In diesem Schlussabenteuer geht es erneut um eine Zweierbeziehung zwischen einem chevalier und seiner Geliebten, seiner amie, die dem Geliebten das beschworene Versprechen abgenommen hat, in einem verschlossenen Park nur ihr und der Liebe zu leben, bis er von einem Herausforderer, deren es viele geben wird, in ritterlichem Zweikampf besiegt würde. Die Konstruktion der Isolation des Paares von der Gesellschaft durch Minne, die nur durch ritterliche Tat durchbrochen werden kann, ist überdeutlich, und hat natürlich längst und zu Recht dazu geführt, dass diese Schlussaventiure des Romans von den Interpreten als narrative Spiegelung des Paarschicksals Erecs und Enites aufgefasst wurde 20.
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Chrétien de Troyes ( wie Anm. 1 ) S. 301 ff., v. 5319 ff. Es ist zweifellos ironisches Wortspiel, wenn Chrétien ( wie Anm. 1 ) S. 304 ff., v. 5413 ff. auf Guivrets Warnungen Erec quasi naiv antworten lässt: „Li nons est molt biax a nomer, / mes molt est griés a asomer, / car nus n’an puet eschaper vis. / L’avanture, ce vos plevis, / la Joie de la Cort a non.“ – „Dex! an joie n’a se bien non,“ / fet Erec; „ce vois je querant. / … granz biens an puet avenir. / Rien ne me porroit retenier / que je n’aille querre la Joie.“ ( ‚Es ist sehr schön, diesen Namen zu nennen, aber das Abenteuer ist sehr schwer zu bestehen; denn niemand vermag von diesem Ort lebendig wegzukommen. Es heißt, ich versichere es Euch, die Joie-de-laCour.‘ – ‚Gott, in der Freude [ joie ] kann nur Gutes liegen‘, rief Erec aus, ‚ich will dieses Abenteuer aufsuchen … Viel Gutes mag daraus entstehen. Nichts wäre imstande, mich davon zurückzuhalten, dass ich die Joie suchen ginge‘ ). Vgl. ebd. S. 312 f., v. 5548, 5556 f.; S. 316 f. v. 5609 ff.; S. 318 f., v. 5655 ff.; S. 324af., v. 5775 f.; S. 342 f., v. 6068 ff.; S. 344 f., v. 6133 ff.; S. 352 ff., v. 6275 ff.; S. 356 f., v. 6323 ff. Zum Wortfeld der joie bei Chrétien und der vreude bei Hartmann vgl. Hans-Werner Eroms, Vreude bei Hartmann von Aue, München 1969, S. 53–81. Zur aventiure der <Joie de la Cort> bei Chrétien und Hartmann vgl. Nitze ( wie Anm. 12 ) S. 458 ff.; Ders. ( wie Anm. 8 ) S. 695 ff.; Ernest Hoepffner, <Matière de sens> dans le roman d’Erec et Enide, in: Archivum Romanicum 18, 1934, S. 433–450, S. 447 ff.; Scheunemann ( wie Anm. 12 ) S. 81 ff.; Bezzola ( wie Anm. 12 ) S. 190–226; Jean Frappier, Chrétien de Troyes, in: Roger Sherman Loomis ( Hg. ), Arthurian Literature in the Middle Ages. A Collaborative History, Oxford 1959, S. 168; De Boor ( wie Anm. 14 ) S. 72 f.; Antonin Hruby, ´ Die Problemstellung in Chrétiens und Hartmanns <Erec> ( 1964 ), in: Hugo Kuhn – Christoph Cormeau ( Hgg. ), Hartmann von Aue, Darmstadt 1973, S. 342–372, S. 366 ff.; Ruh, Höfische Epik ( wie Anm. 14 ) S. 136 ff.; Kuhn ( wie Anm. 14 ) S. 144 ff.; Wapnewski ( wie Anm. 14 ) S. 52 f.; Barbara Nelson-Sargent, Petite histoire de Mabonagrain, in: Romania 93, 1972, S. 87–96; Gertrud Höhler, Der Kampf im Garten. Studien zur Brandigan-Episode in Hartmanns Erec, in: Euphorion 68, 1974, S. 371–419; Christoph Cormeau, Joie de la curt. Bedeutungssetzung und ethische Erkenntnis, in: Walter Haug ( Hg. ) Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, S. 194–205; Thomas Heine, Shifting Perspectives. The Narrative Strategy in Hartmanns’s <Erec>, in: Orbis Litterarum 36, 1981, S. 95–115, S. 110 ff.; Sara Sturm-Maddox, : Critics and the Joie de la Cort, in: Oeuvres et Critiques 5, 1981, S. 61–73; Dies., The Joie de la Cort: Thematic Unity in Chrétien’s Erec et Enide, in: Romania 103, 1982, S. 514–528; Ursula Schulze, amîs unde man. Die zentrale Problematik in Hartmanns <Erec>, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 105, 1983, S. 14–47, S. 40–42; Cormeau – Störmer ( wie Anm. 14 ) S. 189 f.; Bumke, Geschichte ( wie Anm. 14 ) S. 153 f.; Ders., Erec ( wie Anm. 14 ) S. 62 ff.; Christina Noacco, La dialectique du don dans la quête de la Joie d’Erec et Enide, in: Alain Labbé ( Hg. ), Guerres, voyages et quêtes au Moyen Age. Mélanges offerts à Jean-Claude Faucon, Paris 2000, S. 299–311; Irmgard Gephart, Welt der Frauen, Welt der Männer. Geschlechterbeziehung und Identitätssuche in Hartmanns von Aue <Erec>, in: Archiv für Kulturgeschichte 85, 2003, S. 171–199, S. 191–194; Alexandra Sterling-Hellenbrand, Gender and Love in the Epic Romances of Hartmann von Aue, in: Francis G. Gentry ( Hg. ), A Companion to the Works of Hartmann von Aue, Cambridge 2005, S. 71–92, S. 73 ff.; Francis G. Gentry, The Two-Fold Path: Erec and Enite on the Road to Wisdom, ebd., S. 92–103, S. 99–101; Ulrich Ernst, Virtuelle Gärten in der mittelalterlichen Literatur. Anschauungsmodelle und symbolische Projektionen, in: Imaginäre Räume ( = Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philos.-Hist. Kl., SB 758 ) Wien 2007, S. 155–190, S. 174 ff.; Johnson ( wie Anm. 14 ) S. 265 f.; Walter Haug, Joie de la curt, in: Marc Chinca u. a. ( Hgg. ), Blütezeit. Festschrift L. P. Johnson, Tübingen 2000, S. 271–290; Ders., Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue: Erec und des hoves vreude, in: Ders., Die Wahrheit der Fiktion, Tübingen 2003, S. 223–238; Gephart ( wie Anm. 14 ) S. 87 ff.; Wolf ( wie Anm. 14 ) S. 68. Die These von Michel Huby, L’adaptation des romans courtois en Allemagne au XIIe et au XIIIe siècle, Paris 1968, z. B. S. 433 ff., von der Bedeutungslosigkeit der Erweiterungen Hartmanns ist bei einer textbezogenen Interpretation unhaltbar. Vgl. auch die Kritik von Kellermann ( wie Anm. 14 ) S. 511–531; René Pérennec, Adaptation et société: l’adaptation par Hartmann d’Aue du roman de Chrétien de Troyes, Erec et Enide, in: Etudes Germaniques 28, 1973, S. 289–303; Alois Wolf, Die Adaptation courtoise. Kritische Anmerkungen zu einem neuen Dogma, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 27, 1977, S. 257–283; Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 588. Zur Frage eventueller Nebenquellen vgl. Spaarnay ( wie Anm. 14 ) S. 98 ff.; Ruh ( wie Anm. 14 ) S. 137 f.; Wapnewski ( wie Anm. 14 ) S. 41 ff.; Bumke, Erec ( wie Anm. 14 ) S. 149 f. Die Frage spielt für die Interpretation nur eine untergeordnete Rolle, denn sicher ist, dass sich Hartmann in Kongruenz und Differenz an Chrétien orientiert und seine Änderungen, woher sie auch stammen mögen, intentional sind. Natürlich schwingt in dieser Neufassung des Motivs durch Hartmann die christliche Wegesymbolik mit, einmal die der recta via zum Himmelreich und dann die des breiten Weges, der ins Verderben führt ( Mt. 7, 13 f. ). Vgl. Hinrich Siefken, Der saelden strâze. Zum Motiv der zwei Wege bei Hartmann von Aue, in:
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den Artushof zur Burg Brandigan, die bei Hartmann nicht nur wie bei Chrétien als fort et riche et bel ( v. 5323 ) bezeichnet wird, sondern – der Erzähler beruft sich gerade hier merkwürdigerweise zweimal auf eine Quelle – ausführlich mit ihrem geradezu römischen Aussehen ( 30 ‚Türme von mächtigen Quadern, deren Fugen nicht durch Mörtel zusammengehalten wurden – sie waren fester verbunden mit Eisenklammern und Blei, je drei dicht zusammengefügt‘, die Burganlage viereckig etc. ) in ihrer Pracht und Uneinnehmbarkeit beschrieben wird 24. Zur Burg gehört ein stat vil rîche und ein weiter schoener boumgarte, der noch seine Rolle spielen wird. Es folgt nun – erneut stärker ausgebildet bei Hartmann – eine nahezu nicht enden wollende Serie von Warnungen vor den tödlichen Gefahren, die in dieser Burg auf den Helden lauern, ausgesprochen von König Guivreiz, der sie kennt, vom Burgherrn Evrain und anderen. In Andeutungen kommt die Wahrheit ans Licht 25: Im Baumgarten hat sich ein Ritter niedergelassen, mit dem, um die aventiure zu bestehen, zu kämpfen ist. An Stärke und Tapferkeit gleicht ihm niemand im Lande ( v. 8023 ff. ): swaz im noch ritter widerreit, die si wolden bejagen, die hât er alle erslagen. ( ‚Alle Ritter, die gegen ihn angetreten sind‘ – wir erfahren später, es sind mindestens achtzig – ‚und die aventiure bestehen wollten, hat er getötet‘ ) Der Burgherr offenbart noch, dass der Baumgartenritter seine Dame mit sich führt, und dass die Pforte des Gartens nach Eintritt des Herausforderers sich wie
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Euphorion 61, 1967, S. 1–21; Ernst Trachsler, Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman, Bonn 1979, S. 213 ff.; Haug ( wie Anm. 20 ) S. 271 f.; Andrea Glaser, Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2004, S. 52 f.; Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 931 f. Die recta via hat auch eine praktische, aus dem Gesichtspunkt des mittelalterlichen Wegerechts und Straßenzwangs zu betrachtende Bedeutungskomponente: vgl. dazu Wolfgang Haubrichs, Die volkssprachlichen Bezeichnungen für alte Fernwege im Deutschen, in: Friedhelm Burgard – Alfred Haverkamp ( Hgg. ), Auf Römerstraßen ins Mittelalter. Beiträge zur Verkehrsgeschichte zwischen Maas und Rhein von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert, Mainz 1997, S. 97–181, S. 174. Vgl. zur musterhaften Burganlage von Brandigan Peter Wiesinger, Die Funktion der Burg und der Stadt in der mittelhochdeutschen Epik um 1200. Eine sprachliche und literarische Studie zu Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg, in: Hans Patze ( Hg. ), Die Burgen im deutschen Sprachraum. Ihre rechts- und verfassungsgeschichtliche Bedeutung, 1, Sigmaringen 1976, S. 211–264, S. 222 ff.; Glaser ( wie Anm. 23 ) S. 53–58; Jürgen Schulz-Grobert, von quâdrestein geworhte. Bautechnische in Architekturphantasien der höfischen Epik?, in: Zeitschrift für Deutsches Altertum und Deutsche Literatur 129, 2000, S. 275–295. Dort wird gezeigt, dass die Technik der Eisen-Blei-Verklammerung von Quadern im 12. Jahrhundert geübt wurde, die Burg technisch also auch als eine <moderne> imaginiert wurde. Zur besonderen Art Hartmanns, in der Szene Spannung aufzubauen, vgl. Haug ( wie Anm. 20 ) S. 276 f. Die allmähliche Enthüllung der kommenden Gefahr ermöglicht es Hartmann aber auch, stärker als bei Chrétien die Freiwilligkeit der Entscheidung des Helden für den Kampf zu akzentuieren, den Wolfram als die schwierigste aller aventiuren erkannte ( 583,26 ff. ): Erek der Schoydelakurt erstreit ab Mabonagrîn, der newederz gap sô hôhen pîn ….
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durch Zauber wieder schließt, so dass der Held von nun an völlig auf sich allein gestellt ist 26. Das zentrale Geheimnis der aventiure wird noch nicht gelüftet. Immer von neuem wird nun der Zwiespalt von erwünschter Freude und gegebenem, zu ertragendem Leid, das Stadt, Burg und Park durchweht, ausführlich und zwar wiederum gesteigert gegenüber Chrétien von Hartmann evoziert: Als die Dame Enite und die beiden Ritter durch die Stadt reiten, dâ was inne vreuden vil, tanz und aller slahte spil daz jungen liuten wol gezam ( v. 8062 f. ). Doch verstummen die Lustbarkeiten, als man den präsumptiven Herausforderer und seine schöne, edle, prächtige Dame sieht; sie schlagen um in Mitleid, Trauer, Weinen, Jammer über seinen bevorstehenden Tod ( v. 8105 ff. ). Und wie dû dînen gelphen muot mit leide verkiusest sô dû dînen man verliusest! heißt es zu Enite ( ‚Und wie wirst Du Deinen heiteren Sinn mit Leid vertauschen, wenn Du Deinen Mann verlierst!‘ ). In einer bei Chrétien fehlenden Szene grüßt Erec freilich die Bewohner der Stadt mit einem ‚fröhlichen Lied‘ ( v. 8155 ff. ) 27. Doch das Volk murmelt: ‚Man merkt, dass Du nicht weißt, was Dir hier geschehen wird. Leider wird es nicht lange dauern, bis Dein fröhlicher Gesang ein jammervolles Ende nimmt. Das wird noch vor morgen um diese Zeit geschehen. Wenn Du und Deine Frau wüssten, dass Du Dein heiteres Leben nur noch kurze Zeit haben sollst, dann würde Dir das Singen vergehn‘. Auf der Burg angekommen, erblicken die Reisenden – die Szene fehlt völlig bei Chrétien 28 – in einer mit kostbarsten Steinen ausgeschlagenen Kemenate ‚die schönsten Frauen, die man sich vorstellen kann, eine schöner als die andere‘ ( v. 8260 ff. ). Reich und kostbar sind sie gekleidet, doch ihre Kleidung ist Trauerkleidung und während die Geschichte ihres herzeleides erzählt wird, weicht ihnen das Blut aus den Wangen, sie werden blass unter Tränen; muget ir schouwen / wie dise edeln vrouwen / mit jâmer quellent den lîp? sagt Guivreiz ( v. 8324 ff. ), der Begleiter, der weiß, was Erec noch nicht weiß, und der Erzähler erzählt ( v. 8334 ff. ):
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Der Zugang zur finalen aventiure des Helden ist im Sinne eines ( magischer Verschluss des Zaubergartens durch eine undurchdringliche Wolke, enger Pfad und schließende Pforte ) gestaltet, so dass der Schwellencharakter, die Liminalität des geheimnisvoll Joie de la Cort genannten Abenteuers dem Leser/Hörer noch eindringlicher vor Augen gestellt wird. Wie, so müssen sich Held und Rezipient fragen, wird das semantische Rätsel der verborgenen gelöst werden. Vgl. Nitze ( wie Anm. 8 ) S. 697; Höhler ( wie Anm. 20 ) S. 379 ff.; Glaser ( wie Anm. 23 ) S. 49 ff., 58 ff.; Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 955. Vgl. dazu mit Lit. Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 941. Chrétien ( wie Anm. 1 ) S. 310 ff., v. 5494 ff. Vgl. Überlegungen zur Herkunft des Motivs schon bei Anton E. Schönbach, Über Hartmann von Aue. Drei Bücher Untersuchungen, Graz 1894, S. 458; vgl. aber Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 942 f.
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Nû bewegete der vrouwen smerze Eˇrecke sô gar sîn herze,
sît in der lîp was gestalt sô gar in vreuden gewalt, daz ir jugent und ir leben sô gar den sorgen was ergeben. ( ‚Es bewegte der Schmerz der Damen Erec so sehr in seinem Herzen, da sie doch ihrem Aussehen nach für die Freude geschaffen waren, dass nun ihre Jugend und ihr Leben so gänzlich dem Kummer anheim gegeben waren‘ ). Es sind die 80 Witwen, deren Ehemänner der Baumgartenritter erschlagen hatte. Die hybride Mischung von Freude und Leid zeigt sich auch in der eigentlichen Baumgartenszene, kurz bevor es zum Kampf kommt. Dieser Garten ist ein wahrer Paradiesgarten, von bunten, duftenden Blumen und vom süßen Gesang der Vögel durchzogen, so dass man für immer darin voll Freude leben könnte 29. Dann aber folgt der Umschlag ins Grauen: man erblickt den im Garten gepflanzten Kreis von Eichenpfählen, das zutiefst Pagane und Antihöfische, Pfähle, auf denen die Köpfe jener Ritter stecken, die der Herr des Gartens erschlagen hatte und deren Witwen in der Burg von Brandigan trauerten 30. Verglichen mit Chrétien ist das Thema der unerlösten, in ihrem Leid gefangenen Welt bei Hartmann viel ausführlicher dargestellt, in eindrucksvollen Bildern, aber nie besprochen, während Chrétien immer erneut in Wortspielen mit dem Namen der aventiure „Joie de la Cort“ das Thema der joie und ihrer Abwesenheit umkreist und beschwört 31. Vor der Kulisse des evozierten Leides, des Schmerzes, der Trauer und unbewegt von allen Warnungen steht der Held Hartmanns allerdings um so deutlicher und lichter im Glanz seiner constantia, seiner staete, die von drei Kräften gespeist wird, von Selbstvertrauen, Gottvertrauen und der Liebe zu Enite 32. Selbstvertrauen des inzwischen in seinem Rittertum gefestigten Helden zeigt sich z. B. in seinen mehrfach erneuerten, über Chrétien hinausgehenden Mutbeteuerungen. Umkehren vor der Gefahr ziemt dem Helden nicht: ‚Ihr könntet denken, ich hätte diese Fahrt aus Furcht unterlassen‘, sagt er zu Guivreiz ( v. 7943 ff. ). Und zum andern ( v. 7983 f. ): ‚Dann wäre ich ein Feigling, ein verzaget man und handelte schändlich‘. Über die dritte Warnung des Begleiters lacht er nur ( v. 8030 ff. ): ‚Edler Ritter, vorwärts! Es ist ja bloß ein Mensch, gegen den man bestehen soll, da kann geholfen werden‘. Vor der ihren düsteren Vorahnungen Ausdruck gebenden Stadtbevölkerung gibt er sich heiter ( v. 8119 ff.; 8141 ff. ):
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Zur weiteren quasi paradiesischen Ausgestaltung des locus amoenus bei Hartmann gegenüber Chrétien vgl. Ernst ( wie Anm. 20 ) S. 175; Glaser ( wie Anm. 23 ) S. 62 f.; Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 953 f. Zum um das Zentrum des Gartens vgl. Höhler ( wie Anm. 20 ) S. 393 ff.; Trachsler ( wie Anm. 23 ) S. 187; Glaser ( wie Anm. 23 ) S. 64 f.; Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 956. Vgl. oben Anm. 19; ferner Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 938. Zur constantia mentis des Helden vgl. Cormeau – Störmer ( wie Anm. 14 ) S. 189; Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 941.
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Erec der muotveste bedâhte sich vroelîch und wol, alsam der unverzagete sol den man niht lîhte entsprechen mac. ( ‚Erec, der Unerschütterliche, der muotveste, hatte heitere Gedanken, wie es zu einem Tapferen passt, den man nicht leicht durch Worte aus der Fassung bringt‘ ) er was ein alsô vester man, swie in das volc untrôste, daz in daz niht belôste sîner manlîchen staetekeit gegen einem hâre breit, und emphienc ez allez vür spot. ( ‚er war ein Mensch so festen Sinnes, dass, wie sehr man ihm auch Angst machen wollte, ihn das nicht in seiner männlichen Standhaftigkeit auch nur im Geringsten wankend machte, und er nahm das alles nicht ernst‘ ). Auf die Erzählung des Hausherrn über die tödlichen Gefahren der aventiure und seine Warnungen antwortet ihm Erec als ein unverzageter man, des herze doch vil staete was und vester dan der adamas etc., ‚als ein niemals mutloser Mann, dessen Herz standhaft war und fester als der Diamant …‘ ( v. 8424 ff. ) Der Erzähler bemüht sich sogar in einem der raren ideologischen Kommentare, die er gibt, zu beteuern, dass auch Erec wie andere der ‚kühnsten Herzen‘ ( v. 8625 ez enwart nie herze alsô balt ) durchaus zur Furcht vor Gefahren berechtigt ist, jedoch nicht zur Angst, die aus der Feigheit kommt. Parallel dazu hat Hartmann die constantia mentis des Helden und die gesamte Szenerie sakralisiert. Während Anrufungen Gottes bei Chrétien so gut wie nicht vorkommen, werden sie von Hartmann systematisch eingeführt. Wenn Gott es will, wird er gegen den Baumgartenritter gewinnen ( v. 8043 f. ). ‚Er dachte: Solange mich Gott in sîner huote, in seinem Schutz hält, kann mir nichts zustoßen‘ ( v. 8147 ff. ). Gottvertrauen wird zur Ergebenheit in den Willen des Herrn des Lebens ( v. 8150 ff. ). Selbst die Anwesenheit der schönen, trauernden Witwen auf Brandigan wird ihm zum Zeichen der gewalt und des gebots des vil wunderlîchen got, des wundertätigen Gottes ( v. 8295 ff.; vgl. v. 8351 ff. ). Die aventiure, vor der er steht, wird Erec zu einer Art Läuterungsweg, zum Saelden wec ( das ist freilich im Text Konjektur ) 33, dem Weg der weltlichen beatitudo, nach dem
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Die Handschriften haben der selbe wec bzw. der selbig wec ( A ). Vgl. dazu Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 478 f., 948 ff.; Ders., Der hövesche got und der Saelden wec. Zwei Erec-Konjekturen und ihre Folgen, in: Christoph Huber ( Hg. ), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, S. 135–151, S. 146 ff. Recht überzeugen will diese Formulierung nur in der Bedeutung von ; aber ist diese Übersetzung erlaubt? Wie dem auch sei, auf alle Fälle ist Erecs Weg in seinem Selbstverständnis ein von Gott geführter Weg: got hât wol ze mir getân, daz er mich hât gewîset her ( v. 8528 f. ) … diz sint genaedeclîchiu dinc ( v. 8537: ‚es ist ein Geschenk der Gnade‘ ). Vgl. auch Frederick P. Pickering, The of Hartmann’s Erec, in: German Life and Letters 30, 1976/77, S. 94–109,
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er sein Leben suochende reit in grôzer ungewisheit ( v. 8520 ff. ). Wortreich dankt der Held Gott für diese genaedeclîchiu dinc, diese Gnadengabe, bei der er mit dem geringen Einsatz seiner Ehre den größten Gewinn des höchsten Ruhmes erzielen kann ( v. 8560 ff. ): ‚Wenn mir Gott diese Ehre gönnt, dass ich diesen Mann besiege, so werde ich reich an Ehre‘ ( vgl. v. 8589 ) 34. Selbst seine Frau tröstet Erec aus seinem Gottvertrauen heraus, mit leiser Ironie sogar ( v. 8855 ff. ): ‚Es ist mir auch versichert worden, Gott sei so gütig wie eh und je. Ach, wie oft wurde der gerettet, dem er gnädig sein wollte. Wenn er will, habe ich Zutrauen, am Leben zu bleiben‘. Auch seine königlichen Begleiter in den geheimnisvollen Baumgarten rufen Gott als Helfer an ( v. 8891 ff. ): Nû bewar eht in diu gotes kraft, daz, im der lîp belîbe: des helfet sînem wîbe durch got biten alle, daz ím der sige gevalle. ( ‚Möge ihn die Macht Gottes bewahren, dass er am Leben bleibt; darum helft seiner Frau alle Gott bitten, dass der Sieg ihm zufalle.‘ ) Noch in der Wortreizung vor dem Kampf hält Erec dem gottfernen Gegner den Willen Gottes als Garant des Sieges vor, gegen den der tumbe Verstand nichts vermag ( v. 9047 ff. ). Zur Kraft Gottes gesellt sich die Kraft der Minne – übrigens während des folgenden erbarmungslosen Kampfes für beide Kämpfer: der Baumgartenritter schöpft, wo sie schon zu versagen drohen, neue Kräfte aus dem Anblick seiner Geliebten, Erec aus dem Gedenken an Enite ( v. 9171 ff. ): sô starcten im ir minne sîn herze und ouch die sinne … Schon beim Abschied vor dem Kampf sagte ihr Erec ( v. 8864 ff. ): haete ich aller manheit niender eines hâres breit, wan der die ich von iu hân, mir enmöhte nimmer missegân. swenne mich der muot iuwer mant, sôst sigesaelic mîn hant wan iuwer guote minne die sterkent mîne sinne, daz mir den vil langen tac niht widere gewesen enmac.
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S. 107; Ursula Kuttner, Das Erzählen des Erzählten. Eine Studie zum Stil in Hartmanns <Erec> und , Bonn 1978, S. 183. Vgl. hierzu Petrus W. Tax, Studien zum Symbolischen in Hartmanns <Erec>: Erecs ritterliche Erhöhung, in: Wirkendes Wort 13, 1963, S. 277–288, S. 281.
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( ‚Hätte ich auch nicht die geringste Tapferkeit außer der, die ich durch Euch habe, so könnte mir nichts fehlschlagen. Wenn ich an Euch denke, so ist meine Hand schon sieghaft, sigesaelic, denn Eure tiefe Liebe stärkt meinen Sinn, so dass mir den ganzen Tag lang nichts geschehen kann‘ ) 35 Es ist in diesem Sinne zu verstehen, dass das Paar seine wiedergefundene Einung in der Nacht vor dem Kampf noch einmal körperlich vollzieht ( v. 8614 ff. ): ‚Erec und Enite waren glücklich, als sie zusammen lagen und sich der Liebe hingaben‘ – erneut steht hier der Begriff guote minne – ‚bis der Morgen kam‘. Doch ist diese Einheit eingelassen in die Sakralisierung des Geschehens. Ganz anders als Chrétien lässt Hartmann das Paar am Morgen des Kampftages eine Messe zu Ehren des hl. Geistes, des Paraklets, des Helfers feiern 36, und Erec ( v. 8639 ff. ) … vlêhete got vil sêre daz er im behielte den lîp, des selben bat ouch sîn wîp. ( ‚ … flehte Gott inbrünstig an, dass er ihm das Leben bewahre. Das Gleiche bat auch seine Frau‘ ). Erec lässt sich den Schutzsegen erteilen und während der Morgenmahlzeit ehrt er einen weiteren heiligen Helfer, einen Beschützer vor allem vor den Gefahren einer Reise, indem er ‚den Johannessegen trinkt‘ ( v. 8651 f. ) 37. Der Sakralisierung der preparatio auf Seiten des Helden entspricht auf der anderen Seite der sich allmählich enthüllende, intensiver noch bei Hartmann als bei Chrétien akzentuierte magische und pagane Charakter der Baumgartenwelt: die verborgene Pforte, die sich auf ein Wort öffnet und hinter dem Eindringling schließt, die ausdrücklich auf schwarze Kunst zurückgeführte Verborgenheit des Gartens, eines negativen hortus conclusus, von dessen wunderbaren Produkten nichts hinausgetragen werden kann, seine Verschließung durch eine undurchdringliche Wolke ( v. 8748 ff. ). Der Gegner Erecs, auf brandrotem Pferde, in brandroter Rüstung, von riesenhaftem Wuchs, ein mordlustiger Geselle ( v. 9011 ff. ) wird während des Kampfes zu einem wahren Teufel, einem vâlant ( v. 9197, 9270 ), dessen Repräsentationsform ja der Rote, der rufus ist ( v. 9274, 9317 ) 38. Im Hinblick auf diese erst allmählich in der Narration sich entfal-
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Vgl. zu dieser Stelle mit Lit. Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 957 f. sigesaelic kommt vor Hartmann in und vor ( vgl. Anm. 47 ) ebenso bei Heinrich von Veldeke. Schönbach ( wie Anm. 28 ) S. 22 f. Dies ist die erste Erwähnung des dem Evangelisten Johannes, der die Wirkung eines Giftbechers durch Segnung überwand, zugeeigneten Johannessegen. Vgl. dazu Ignaz V. Zingerle, Johannissegen und Gertrudenminne. Ein Beitrag zur deutschen Mythologie. In: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl., 40, 1862, S. 177–229; Lutz Mackensen, Art. <Johannisminne>, in: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens 4, 1931/32, Sp. 745–760, Sp. 745 f.; Lambertus Okken Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue, Amsterdam – Atlanta 1993, S. 229 f. Die Meinung von Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 967 f., dass hier und an anderer Stelle vâlant nur auf die Körpergröße Mabonagrîns hinweisen solle, scheint mir die Stelle allzu vereinfachend aus dem Textzusammenhang zu lösen.
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tenden Gefahren nicht-natürlichen Ursprungs wird schon vorher ( v. 8123 ff. ) formuliert, dass Erec keinen swachen gelouben besaß. Aberglauben und geheimen Künsten vertraute er nicht, nicht den Propheten des Wetters, nicht den Eulen und Bussarden, die des Morgens über den Weg fliegen, nicht dem Wahrsagen aus Reisigfeuern, nicht den Linien in der Hand. Es ist diese Resistenz gegenüber dem Aberglauben, der nigromanzie, die den Helden befähigt, den Paganien des Baumgartens, seiner Zauberwelt zu widerstehen. Er ist von starkem Glauben 39. Die duale Konstruktion der Joie de la Curt-Szene, ausgespannt zwischen einer sich zunehmend über das reine Streben nach Ehre und Ruhm hinaus in der Narrration entfaltenden militia christiana Erecs und der magisch inszenierten ( bei Chrétien explizit in nigromanzie eingebetteten ) Baumgartenepisode 40 samt dem in paganoidem Bewusstsein und grausamen, Leid und Trauer schaffenden Taten erstarrten Baumgartenritter, ist für Hartmann unübersehbar. Man kann von einer bereits bei Chrétien angelegten Mythisierung 41 und einer in christlichem Sinne aufzufassenden Demythisierung des Geschehens zugleich reden. Die Demythisierung ist in drei Akten höfischer Erlösung, die Erec und ( bezeichnenderweise ) Enite, seiner Partnerin, aufgetragen sind, über Chrétien hinaus seriell formuliert. Als nach langem schweren Kampf der vâlant, der Baumgartenritter, in roter Rüstung auf rotem Pferde, nun seinen Namen Mabonagrîn offenbarend, unterlegen ist, spricht er die Erlösung selber an ( v. 9583 ff. ): ich waene hiute erworben hân ein schadelôse schande, sît mich von disem bande hât erloeset iuwer hant. got, der hât iuch her gesant. hiute ist mines kumbers zil … ( ‚Ich glaube heute eine Schande ohne Schaden erworben zu haben, denn von dieser Fessel habt ihr mich erlöst. Gott hat Euch her gesandt. Heute hat mein Leid ein Ende‘ ). Dies gilt auch für das gesamte Land von Brandigan, dem Erec die höfische Freude restituiert hat ( v. 9605 ff. ):
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Schönbach ( wie Anm. 28 ) S. 338 f.; Silvia Ranawake, Erec’s verligen and the sin of sloth, in: Timothy McFarland – Silvia Ranawake ( Hgg. ), Hartmann von Aue. Changing perspectives, Göppingen 1988, S. 93–115, S. 111 f.; Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 941. Zu dieser Differenz vgl. Ernst ( wie Anm. 20 ) S. 175. Die Mythisierung vollzieht sich bei Chrétien und Hartmann mittels der nicht verschmolzenen Reste der keltischen Erzählsubstanz der aventiure, wie das vor allem Höhler ( wie Anm. 20 ) S. 415 ff. herausgearbeitet hat. Dieser quasi magisch aus der Alltagswelt herausgehobenen Welt vermag Hartmanns Erec durch seine constantia mentis und seinen Glauben zu widerstehen, so dass der Mythos in dem Maße zerfällt, wie der Sieg der Helden voranschreitet und von der Welt als Sieg der höfischen Freude und der christlichen erbaermde entdeckt, akzeptiert und gefeiert wird.
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ez hât von michelm sêre erlôst iuwer ellenthaftiu hant diz vil riuwige lant und gar ze vreude gekêret: des sît ir immer g’êret. ( ‚Von großem Schmerz hat Eure kraftvolle Hand dieses leidgeprüfte Land erlöst und zur Freude bekehrt. Das wird Euch immer zur Ehre gereichen‘ ) 42. Erst jetzt, nach dem Kampf, erfährt Erec von Mabonagrin die wirkliche Geschichte des Leides von Land und Leuten, die Geschichte des Untergangs der Joie de la Cort und auch die Geschichte des Leides des fremden Ritters selbst. Dabei interessiert Erec vor allem der Aspekt der unhöfischen Isolation des Baumgarten-Paares: ‚Wie konntet Ihr, ein so stattlicher Mann, alleine hier bleiben. Das wundert mich sehr. Denn in der Gesellschaft, bî den liuten zu leben, das ist gut‘ ( v. 9435 ff. ) 43. Und auch seiner Dame hätte es besser gestanden, , anstatt zwölf Jahre in Isolation zu verbringen. Das Unglück der Gesellschaftsferne begann mit einem Liebesschwur, den der Ritter einem Mädchen leistete, das er den Eltern entführt hatte. Sie, die mit ihm in gleichgestimmter Liebe lebte, verlangte von ihm die Einschließung im Baumgarten, bis ein Ritter käme, der ihn im Kampfe besiegte. Er stimmte aus freiem Willen zu, unterwarf sich völlig ihrem Willen, wie sie dem seinen ( v. 9508 f. ) 44:
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Zu Erec als einem weltlichen, höfischen Erlöser vgl z. B. Höhler ( wie Anm. 20 ) S. 418; Alois Wolf, Die : Vergleichende Betrachtungen zur Eros-exsultatio in Minnekanzonen, im <Erec> und im , in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 34, 1993, S. 49–79, S. 68; Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 977 f. Zu weit geht die christologische Parallelisierung bei H. B. Willson, Sin and Redemption in Hartmann’s Erec, in: Germanic Review 33, 1958, S. 5–14. Vgl. zum <sozialen Bekenntnis> Erecs, diesem Credo der Gesellschaftlichkeit des Lebens Kellermann ( wie Anm. 14 ) S. 528. Zur „soumission totale de l’homme … sous la volonté de sa dame“ bei Chrétien und Hartmann vgl. Nitze ( wie Anm. 8 ) S. 695; Scheunemann ( wie Anm. 12 ) S. 88; Gudrun Haase, Die germanistische Forschung zum <Erec> Hartmanns von Aue, Frankfurt a. M. 1988, S. 342 ff.; Ranawake ( wie Anm. 39 ) S. 109 f.; Walter Haug, Lesen oder Lieben? Erzählen in der Erzählung: vom <Erec> bis zum <Titurel>, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 116, 1994, S. 302–323, S. 318; Haug ( wie Anm. 20 ) S. 286 f., 288 f.; Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 975 ff. Bei aller berechtigten Betonung der Differenzen zwischen der Karnant-Szene des verligen und Mabonagrîns unheilvoller Bindung an seine amîe, wie sie zuletzt Haug und Scholz vertraten, darf doch der strukturelle Bezug beider Szenen in der narrativen Struktur des Romans nicht verschüttet werden, auch wenn dies im Text nicht explizit wird. Hier eine explizite Referenz auf Karnant zu verlangen, hieße von Hartmann einen narrativen Kunstfehler zu verlangen. Es ist auch die Struktur der Geschichte, welche die Utopie der von den Liebenden projektierten Joie-de-la-Cort in ihrem Scheitern dementiert. Dass „die Idee der durch nichts beeinträchtigten idealen erotischen Gemeinsamkeit“ trotz ihres Scheiterns ihr Recht bei Hartmann behauptet, wie Haug ( wie Anm. 20 ) S. 289 postuliert, und dass so in der ( entwerteten? ) „äußerlichen Lösung“durch den Sieg Erecs der „unlösbare Widerspruch“ des Liebesdilemmas aufscheine, ist zwar faszinierend, aber doch wohl zu modern dialektisch gedacht. Die bei Hartmann ausgeprägte Wiedereinbindung Mabonagrîns und seiner amîe in die höfische Gesellschaft und sogar in die Verwandtschaft Enites, die Erlösung der Witwen zu höfischer Freude, auch die repräsentative Einbindung des Paares Erec und Enite in die Herrschaft wären so nicht zu verstehen.
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Wolfgang Haubrichs
swaz si wil daz wil ouch ich, und swaz ich wil des wert si mich. Zuerst erschien dieser Zustand der Minne-Isolation wie das Paradies 45, doch das Leid kroch in das Paradies, mit jedem besiegten Ritter, mit jedem grausigen Kopf auf eichenem Pfahl, mit jeder trauernden Witwe auf der Burg mehr, bis die joie, die vreude aus allem Leben wich. Chrétien interessiert es, ob eine solche völlige Unterwerfung unter den Willen einer Frau eine gerechte Minne heißen dürfe 46, Hartmann aber interessiert vorrangig der Aspekt der gesellschaftlichen Isolation, den diese schwurgebundene Paar-Beziehung hervorzurufen imstande ist. Und er, der das Abenteuer suchte, um seinen Ruhm und seine Ehre zu mehren, erfährt nun, dass er in dieser aventiure zur Erlösung anderer vom Jammer bestimmt ist. Und genau dies geschieht. Das Volk, das nun in den Baumgarten drängt, feiert die beiden Ritter, den Erlöser und den Erlösten, einen Tag lang mit wîcsange, mit Kampfliedern und Laudes, die die Zeremonie zu einer Art Adventus steigern 47; sie rufen ( v. 9669 ff. ): Ritter, gêret sî dîn lîp! mit saelden müezest immer leben! got hât dich uns ze trôste gegeben und in daz lant gewîset. wis gevreuwet und geprîset, aller ritter êre! jâ hât dich immer mêre got und dîn ellenthaftiu hant gekroenet über elliu lant. mit heile müezest werden alt! ( ‚Ritter, Ehre soll Dich umfangen! Mögest Du stets im Glück leben! Gott hat Dich uns zum Trost gesendet und in dies Land geführt! Lebe in Freuden und sei gepriesen, du Maß aller Ritterehre! Gott hat Dich und Deine starke Hand für alle Zeit und in allen Ländern ruhmgekrönt! Mögest Du ein langes heilvolles Leben haben!‘ ) 45
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Die Formulierung wir haben hie besezzen / daz ander paradîse gebraucht Mabonagrîns amîe: Hartmann, hg. von Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 531, v. 9541 f. ( mit S. 977 ). Scheunemann ( wie Anm. 12 ) S. 87. Die Passage ist in der Forschung bisher wenig beachtet worden. Vgl. Scheunemann ( wie Anm. 12 ) S. 96; Höhler ( wie Anm. 20 ) S. 396 ff. Das Wort wîcsang begegnet nur im <Erec>. Doch dürfte sich Hartmann wie für sigesaelic ( vgl. Anm. 35 ) an und mit deren wohl mündlicher Dichtung oder realer Praxis entnommenem Begriff wîc-liet orientiert haben. Vgl. Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, 1, München 1932, ND 1966, S. 25 f. Zum Zeremoniell des Herrscheradventus vgl. ferner Ernst Kantorowicz, The King’s Advent, in: The Art Bulletin 26, 1944, S. 207–231; Winfried Dotzauer, Die Ankunft des Herrschers. Der festliche <Einzug> in die Stadt ( bis zum Ende des Alten Reiches ), in: Archiv für Kulturgeschichte 55, 1973, S. 245–288; Theodor Kölzer, Art. , in: LMA 1, 1980, Sp. 170–171. Zum im Mittelalter in ähnlichen Bahnen verlaufenden Triumphus zur Feier von militärischen Siegen vgl. Michael Mc Cormick, Eternal Victory, Cambridge 21990; Ders. – Franco Cardini, Art. , in: LMA 8, 1996, Sp. 1024–1027.
Die Narration der Normen oder die Beschreibung des Ungeschriebenen
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Schmerzvoll hatte die Dame des Baumgartenritters das Geschehen beobachtet. Ihr Leid wird von Enite getröstet: im Sprechen über Glück und Unglück wird sie in die Gesellschaft der Frauen zurückgeleitet, auch in die Gesellschaft von Enite, denn beide entdecken, dass sie Verwandte, Cousinen sind 48. ‚Seht, da hatte das Leid ein Ende. Sie fielen sich um den Hals und freuten sich übereinander‘ ( v. 9725 ff. ). Sie weinen und lachen vor Freude und kehren in die Gesellschaft der Freude zurück, um ihre Gesellschaft und Verwandtschaft den anderen mitzuteilen. Die Botschaft verbreitet sich überall: daz des hoves vreude waere widere gewunnen der in was zerunnen ( v. 9759 ff. ). Die Verwandtschaft, die Vasallen, die ganze familia des Königs von Brandigan, die Damen des Landes kommen in die Stadt und feiern ein Fest, das vier Wochen dauert ( v. 9773 f. ): mit vreuden wart zebrochen diu swaere gewonheit ( ‚Durch Freude wurde gebrochen der alte Zustand des schweren Jammers‘ ). Die Köpfe der getöteten Ritter waren schon vorher ehrenvoll und christlich begraben worden – auch dies ein Zug, den Chrétien nicht hat 49. Es ist das erste Zeichen der christlichen Barmherzigkeit, die mit Erec ins Land gekommen ist. Aber noch sind die 80 Witwen der erschlagenen Ritter aus ihrer Trauer zu erlösen. Allein Erec, der miles christianus, erbarmt sich ihrer, hilft ihnen trauern, lindert ihren Schmerz, weiß schließlich Rat 50. Auf Brandigan, dem Ort der alten Trauer, können sie nicht glücklich werden. So führt Erec sie zum Artushof. Ihr Schmerz, ihre Beständigkeit, ihre Treue, ihre Vollkommenheit, ihr Adel, ihre Gesinnung bewegen das Herz des Königs Artus. Und hier erleben die Frauen ihre conversio zur Freude ( v. 9953 ff. ) 51: 48 49 50
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Zur Verwandtschaft der beiden Frauen vgl. Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 981 ff. Vgl. hierzu Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 983. Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 984 weist zu Recht darauf hin, dass v. 9787–9798 fünfmal Chrétiens joie durch Angehörige der Wortfamilie des <Erbarmen> ersetzt wird. Vgl. zum Motivkomplex der misericordia und der damit geübten militia christiana Kuhn ( wie Anm. 14 ) S. 139 f.; Siegfrid Grosse, Der Gedanke des Erbarmens in den deutschen Dichtungen des 12. und des beginnenden 13. Jahrhunderts, Diss. Freiburg i. Br. 1952, S. 154; Ursula Peters, Artusroman und Fürstenhof. Darstellung und Kritik neuerer sozialgeschichtlicher Untersuchungen zu Hartmanns <Erec>, in: Euphorion 69, 1975, S. 175–196, S. 190 f.; Schulze ( wie Anm. 20 ) S. 39; René Pérennec, Recherches sur le roman arthurien en vers en Allemagne aux XIIe et XIIIe siècles, Göppingen 1984, S. 49; Ingrid Strasser, Fiktion und ihre Vermittlung in Hartmanns <Erec>-Roman, in: Volker Mertens – Friedrich Wolfzettel ( Hgg. ), Fiktionalität im Artusroman Tübingen 1993, S. 63–82, S. 79; Martin H. Jones, Durch schoenen list er sprach: Empathy, pretence, and narrative point of view in Hartmann von Aue’s <Erec>, in: Marc Chinca u. a. ( Hgg. ), Blütezeit. Festschrift L. P. Johnson, Tübingen 2000, S. 291–307. Vgl. das Forschungsreferat zur Neueinkleidung der Witwen durch Artus bei Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 988 f. Die Szene darf nicht psychologisierend beurteilt werden, sondern als zeremonielles Zeichen ei-
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Wolfgang Haubrichs
si wurden überwunden, diu vil riuwigen wîp, daz si ir muot und ir lîp ze vreuden verkêrten und den künec dar an êrten daz er in die wât nam diu in ze vreuden niht gezam, und kleite si mit solher wât sô si ze vreuden beste stât, … ( ‚Sie wurden dazu gebracht, die tieftraurigen Frauen, dass sie ihren Sinn und ihr Leben der Freude zuwandten und den König damit ehrten, dass er ihnen die Kleider nahm, die sich nicht zur Freude fügten, und sie in solche Kleider kleidete, die zur Freude passen‘ ). So finden auch sie in die Gesellschaft zurück und die auf das deutlichste dreimal artikulierte Freude als Zentralwert höfischen Daseins ist endgültig wiederhergestellt. III
Auch das bei Hartmann erheblich von Chrétien abweichende Konstrukt der finalen aventiure ist auf seinen narrativen Sinn hin zu befragen. Dabei ist es klar, aber auch nicht so wichtig, dass sich der Konstrukteur über das Schema des Ritters, der aus bestandener aventiure Ehre gewinnt, hinaus des Schemas des Retters, des salvator, bedient, womit im Roman die Rückkehr zur höfischen Freude in die Nähe des Sakralen rückt, ohne dass die Differenz jedoch jemals ganz aufgegeben würde 52. Wichtiger ist, dass dieses Schema ermöglicht, zum zweiten Mal in diesem Roman den Wert der Integration in die Gesellschaft zu feiern, und diesmal durch die Außenleitung des einen Helden, der falsche Fremdbestimmtheit aufzuheben vermag, weil er sein richtiges Bewusstsein inzwischen als Eigenbestimmtheit erfahren hat 53. Und da-
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ner repräsentativen conversio zu den Werten des Hofes, zu einem neuen Habitus der Freude, der den bis dahin ebenso gültigen Habitus der Trauer mitsamt seinen seelischen Dispositionen reinigend ablöst und den nur Artus bewirken kann. Vgl. zum Status von Kleidung Jacques Le Goff, Quelques remarques sur les codes vestimentaire et alimentaire dans <Erec et Enide>, in: Emmanuèle Baumgartner u. a. ( Hgg. ), La chanson de geste et le mythe carolingien. Mélanges René Louis, 2, Saint-Père-sous-Vézelay 1982, S. 1243–1258; deutsch erschienen als: Kleidungs- und Nahrungskode und höfischer Kodex in Erec und Enide, in: Ders., Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart 1980, S. 201–217, 386–397 [ nur zu Chrétien ]. Noch bei seiner Heimkehr nach Karnant wird formuliert ( v. 10043–45 ): an sînem lobe daz stât, / daz er genant waere / Êrec der wunderaere, wobei wunderaere zugleich die Qualitäten des heroisch und des legendarisch Wunderbaren ausdrückt. Vgl. Scholz ( wie Anm. 13 ) S. 991. Zum säkular gewendeten Schema der conversio vgl. Wolfgang Haubrichs, Bekennen und Bekehren ( confessio und conversio ). Probleme einer historischen Begriffs- und Verhaltenssemantik im 12. Jahrhundert, in: Wolfram-Studien 16, 2000, S. 121–156. Zu Recht erblickt Haug ( wie Anm. 20 ) S. 288 im Sieg Erecs über Mabonagrin die „narrative Bestätigung, dass der Held seine eigene Verfehlung überwunden hat: er darf Mabonagrin befreien, weil er selbst sich aus einem analogen Zustand befreit hat. Noch einmal wird die Grundthematik in Szene gesetzt und die Lösung des Problems, die bislang unausgesprochen in den Handlungsgang eingezeichnet war, in einem symbolischen Akt narrativ objektiviert“.
Die Narration der Normen oder die Beschreibung des Ungeschriebenen
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mit wird ein Band geknüpft zu jener als erster analysierten Szene, in der es ebenfalls schon um die gesellschaftliche Einordnung eines Paares ging. Hier hatte der Held falsch gehandelt und seine Partnerin auch, doch besaß er bereits das Bewusstsein des Richtigen und konnte so, anders als der Baumgartenritter, eigenbestimmt handeln. Er wusste, was zu tun war, aber er konnte sein Bewusstsein des Richtigen ( anders als der Erec des Chrétien ) noch nicht öffentlich machen. Das gelang ihm erst, als ihn die letzte aventiure des Romans in die Rolle des Außenstehenden versetzte. Erst dieser Kunstgriff ermöglicht es dem Roman, die in der Narration aufscheinenden Diskurse des Unrichtigen und des Richtigen, der sozialen Isolation und der gesellschaftlich gebundenen Partnerschaft als Diskussion von Normen deutlich werden zu lassen 54. Die dahinter stehende Normativität des richtigen Verhaltens wird freilich nie expliziert, doch so erzählt, dass sie exemplarisch werden kann 55. Die Normen werden in Handlung umgesetzt, ohne dass sie eigentlich formuliert werden, außer in der Einsicht der Handelnden. Sie werden dargestellt, so dass sie den Personen der Handlungen ungeschrieben, aber evident erscheinen, den Rezipienten des Romans aber, wenn schon nicht geschrieben, so doch beschrieben 56.
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Zuerst hat wohl Cormeau ( wie Anm. 20 ) S. 201 „Erecs Einsicht in Norm und Situation, sein[ en ] freie[ n ] Wille[ n ] und sein[ e ] Intention zur Normerfüllung“ deutlich formuliert. Dass für das Kernproblem des Romans jeder Erzählerkommentar fehlt, vielmehr vom Leser/Hörer als symbolische Struktur erschlossen werden sollte, sah schon Hans Peter Kramer, Erzählerbemerkungen und Erzählerkommentare in Chrestiens und Hartmanns <Erec> und , Göppingen 1971, S. 168 f. Auf den in gewisser Weise vergleichbaren Begriff der im Recht macht mich dankenswerterweise Christian Hattenhauer ( Heidelberg ) aufmerksam. Vgl. Erik Jayme, Narrative Normen im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, Tübingen 1993; Ders., Narrative Normen und Kunstrecht, in: Jürgen Becker – Reto M. Hilty u. a. ( Hgg. ), Recht im Wandel seines sozialen und technologischen Umfeldes. Festschrift für Manfred Rehbinder, Bern 2002, S. 539–544.
Von der Gnade erzählen
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STEPHAN FUCHS-JOLIE
Von der Gnade erzählen Parzival, Gottes hulde und die Gesetze des Grals * Nach der Verfluchung durch Cundrie im sechsten Buch von Wolframs <Parzival> hat der Held Huld verloren: Die Huld der artusritterlichen Gesellschaft und die Huld Gottes. Er imaginiert, hier wie noch später, Gott als einen Herrscher, der seine Macht und Gewalt falsch, willkürlich gebrauche. Sich selbst sieht er als Dienstmann, der seinem Herrn nun den Dienst aufkündigt, da dieser ihm offenbar haz, Feindschaft, Missachtung entgegenbringe. Und auch nachdem er zumindest Letzteres nach Belehrung durch seinen weisen Eremitenonkel fallen gelassen hat, denkt er das Verhältnis zu Gott strikt lehnsrechtlich in der Logik von Huld und helfe als Lohn für Dienst 1. Noch das glückliche Ende der Geschichte ist als Vergabe von Huld und gratia inszeniert: Die Gralsberufung leitet die Gralsbotin mit der Huldvergabeformel got wil genâde an dir tuon ( 781, 4 ) ein und Parzival antwortet: ich bin vor gote erkennet ( 783, 6 ), ‚ich bin vor dem Antlitz Gottes kenntlich, sichtbar gemacht‘, in die Huld, und das heißt: vor das Angesicht des Herrschers zurückgekehrt. Auf genau dies, auf Rückkehr und Wieder-sichtbar-werden, wird es ankommen. Dass Parzival, andere Figuren und zuweilen auch der Erzähler in diesem Roman das Verhältnis zu Gott lehnsrechtlich denken, ist ja nun alles andere als eine neue Beobachtung. Überhaupt vergegenwärtigt man sich im Mittelalter das Verhältnis Herrscher/Vasall parallel zum Verhältnis Gott/Mensch, gerade hinsichtlich der Huld- und Gnade-Beziehungen 2. Umgekehrt versteht sich zumindest das westliche Christentum
* Dieser Beitrag, der weitgehend in der Vortragsform belassen ist, versteht sich als Ergänzung und Per-
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spektivierung einer kürzlich vorgelegten ‚Parzival‘-Lektüre: Stephan Fuchs-Jolie, lebendec begrabn. Ein Versuch über Parzivals Unsichtbarkeit, in: Friedrich Wolfzettel ( Hg. ), Körperkonzepte im arthurischen Roman, Tübingen 2007, S. 33–56. Dort findet sich auch eine detaillierte ‚Parzival‘-Interpretation mit ausführlicheren Nachweisen und Zitaten sowie eine breitere Dokumentation der Forschungsdebatte um den Roman. Verwiesen sei auf die <Parzival>-Passagen 330–332 und 694–701. Ich zitiere nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausg. von Karl Lachmann, Übers. v. Peter Knecht, Einf. von Bernd Schirok, Berlin – New York 1998. Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca – London 1992, insbes. S. 25–108, und Gerd Althoff, Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Öffentlichkeit, in: Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 199–228. – Zu Wolfram zuletzt Peter Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung, 1, Frankfurt u. a. 1989, insbes. S. 160–177, und Joachim Schröder, schildes ambet umben grâl. Untersuchungen zur Figurenkonzeption, zur Schuldproblematik und zur politischen Intention in Wolfram von Eschenbachs <Parzival>, Frankfurt u. a. 2004, insbes. S. 265–269.
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Stephan Fuchs-Jolie
seit Tertullian als „Religion des göttlichen Rechts“ 3, und konstruiert die Beziehung zwischen Gott und Mensch wesentlich als rechtliche. Das zeigt sich deutlich im Umgang mit Schuld, Buße und Vergebung. Aber genau hier beginnen auch die Schwierigkeiten, die sowohl mit fundamentalsten Fragen der Theologie nach Gnade, Providenz und Rechtfertigung zu tun haben als auch mit den praktischen religiösen Lebensvollzügen. I.
Ich kann die weitreichenden und komplexen Diskurse hier nicht rekonstruieren und nur die dialektischen Spitzen herausarbeiten in dem Versuch, Theologie einerseits, feudale Ordnung anderseits und schließlich den fiktionalen Text ganz prinzipiell aufeinander beziehbar zu machen. Vorab sei auf Zweierlei hingewiesen, was mir im Hinblick auf den <Parzival> interessant scheint: 1. Das theologische Problem von Gottes Gnade und der Mitwirkung des Menschen hat mit der Interferenz von Finalität respektive Providenz und Kausalität zu tun. Gratia ist – so wird es ab dem 12. Jahrhundert in Anschluss an Augustinus diskutiert – einerseits gratia praeveniens, schon immer gegebene Gnade, denn der Mensch könnte nicht zum Guten finden oder zurückfinden, wenn Gott ihn nicht dazu bestimmt hätte. Gratia ist anderseits gratia subsequens oder gratia cooperans, die den Willen permanent ausrichtet und auf dem Weg zum Guten helfend hinzutritt 4. Für diese Doppelperspektive haben die frühen Scholastiker den – durchaus umstrittenen, halb augustinischen, halb pelagianischen – Satz geprägt: Facienti quod est in se Deus non denegat gratiam – ‚Dem, der tut, was in ihm ist, verweigert Gott nicht die Gnade‘ 5. Ich sehe in dieser Dialektik von Finalität und Kausalität eine strukturelle Ähnlichkeit zum kardinalen erzählerischen Problem, zur narrativen Aporie des <Parzival>. 2. Das praktische Problem des Umgangs mit Verfehlung wird erst auf dem IV. Laterankonzil 1215 vereinheitlicht – also nach Wolfram. Hier erst wird Beichte und Buße unter priesterlicher Anleitung als Sakrament der Gnadenvermittlung fest etabliert 6. Es bestehen seit der Karolingerzeit bis ins 12. Jahrhundert zwei pastorale Verfahren des Umgangs mit dem Sünder nebeneinander: Die öffentliche Kirchenbuße
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Gisbert Greshake – Eva Maria Faber, Art. , in LThK 4, 1995, Sp. 773–774. Verwiesen sei an dieser Stelle nur auf die Darstellungen der einschlägigen Handbücher: Wolf-dieter Hauschild, Art. , in: TRE 13, 1984, S. 476–495; Gisbert Greshake, Eva Maria Faber ( wie Anm. 3 ); Reinhold Rieger, Art. , in: RGG 3, 2000, Sp. 1027–1032; Leo Scheffczyk, Art. , in: LMA 4, 2003, Sp. 1519–1521; Bernhard Lohse, Epochen der Dogmengeschichte, Stuttgart 61986, S. 113–119; Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 104–108, S. 528–531. Zur Herkunft des Axioms aus dem 12. Jahrhundert s. Artur Michael Landgraf, Dogmengeschichte der Frühscholastik I, 1, Regensburg 1952, S. 249–264. Vgl. auch die ausführliche Erörterung der Formulierung bei Thomas von Aquin, Summa Theologiae Ia/IIae qu. 112 art. 3. Ausführlich zum fraglichen Kanon 21 Omnis utriusque des IV. Laterankonzils und seiner Vorgeschichte Martin Ohst, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter ( Beiträge zur historischen Theologie 89 ) Tübingen 1995.
Von der Gnade erzählen
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und die private Tarifbuße 7. Man kann sich die Unterschiede – freilich stark vergröbert 8 – folgendermaßen klar machen: Die penitentia publica der Kirchenbuße, vorgesehen für öffentliche schwere Vergehen, ist durch Rituale von Ausstoßung, Absonderung und Wiederaufnahme bestimmt. Die Buße besteht nicht oder nicht primär in sündenbezogenen Werken, sondern in zeitlich definierter sozialer Deklassierung, Exkommunikation und Askese. Entscheidend ist, dass sie unwiederholbar ist, nur einmal im Leben vollzogen werden kann. Dass dieses aufwändige Verfahren sich nur bedingt für das alltägliche Leben des Christen eignet, ist evident. Daher entwickelte sich, herkommend aus der iro-schottischen Kirche und der Mönchsdisziplin, die stets wiederholbare penitentia taxata, die für heimliche Vergehen. Der geistliche Beichtvater legt, oft nach Maßgabe von Bußbüchern, bestimmte, den Verfehlungen entsprechende Werke der Buße auf und wacht über deren Einhaltung. Das trägt Züge der compositio legalis, der Genugtuung, des Schadenersatzes aus dem weltlich-germanischen Recht 9, – und stets war diese Tarifbuße dem Verdacht einer „Verrechtlichung und Veräußerlichung“ von Gottes Gnadenwirken ausgesetzt 10. Freilich gab es verschiedene Mischformen. Aber die strukturelle Dichotomie und Gleichzeitigkeit der Verfahren zeigt, dass man im 12. Jahrhundert mit folgenden Fragen des christlichen Alltagslebens zu tun hatte: Ist Buße, Wiedergewinnung von Gottes Huld eher etwas, das durch öffentliche Rituale aufgeführt und verwirklicht wird, oder ein von außen nicht einsehbarer Vorgang? Ist es an definierbare, codifizierbare Werke der satisfactio geknüpft oder an die Demonstration reuiger Gesinnung durch Askese und Absonderung? Genau diese Fragen und Widersprüche sind es, die auch Parzivals Problem mit dem Gral bestimmen oder besser: Wolframs Darstellung. Soweit mein Fragehorizont in theologischer Hinsicht. Nun sei in einem zweiten Schritt eine weitere Perspektive auf Gnade und Huld eingeführt und der religiöse Diskurs mit dem feudalrechtlichen jeweils kontrastiert. Meine Vermutung ist, dass sich die Überschneidungen von Theologie, Lehnsrecht und Romantext nicht auf terminologische Entlehnungen oder partikulare lebensweltliche Elemente beschränken, sondern 7
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Zu dieser auch „dichotomie carolingienne“ genannten Situation s. Gustav Adolf Benrath, Art. <Buße V. Historisch>, in: TRE 7, 1981, S. 452–473, S. 459 f.; Cyril Vogel – Ludwig Hödl, Art. <Buße ( Liturgisch-theologisch ) D. Westkirche>, in: LMA 2, 2002, Sp. 1130–1141, Sp. 1133; Martin Ohst, Art. <Buße IV. Christentum 2. Kirchengeschichtlich> in: RGG 1, 1998, Sp. 1910–1918. Auch wenn in jüngerer Zeit in Zweifel gezogen wird, ob sich von einer parallelen Existenz mehrerer Verfahren und Praktiken sinnvoll sprechen lässt, da die Grenzen stets sehr durchlässig waren, sei um der Klarheit der Argumente willen eine solche Dichotomisierung skizziert – zumal es hier weniger um diskrete historische Entwicklungen von Praktiken geht, sondern alleine auf die zugrunde liegenden Denkund Verhaltensmuster ankommt. Ich beschränke mich darauf, aus der reichhaltigen jüngeren Diskussion um Bußpraktiken des frühen und hohen Mittelalters hinzuweisen auf: Mary C. Mansfield, The Humiliation of Sinners. Public penance in thirteenth-century France, Ithaca – London 1995; Peter Biller – Alastair J. Minnis ( Hgg. ), Handling Sin. Confession in the Middle Ages ( York Studies in Medieval Theology 2 ) Woodbridge 1998; Mayke B. de Jong, Transformations of Penance, in: Frans Theuws – Janet L. Nelson ( Hgg. ), Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages, Leiden u. a. 2000, S. 185–224; Sarah Hamilton, The Practice of Penance, 900–1050, Woodbridge 2001; Early Medieval Europe 14/1, 2006 ( Sonderheft zu „Sin, Satisfaction and Reconciliation in the tenth and eleventh Centuries“ ). – Hingewiesen sei auch auf den Beitrag von Rob Meens und Adriaen Gaastra in diesem Band. Rob Meens danke ich für wertvolle Hinweise zur aktuellen Forschung. Vogel – Hödl ( wie Anm. 7 ) Sp. 1132. Benrath ( wie Anm. 7 ) S. 459. Dazu s. auch Angenendt ( wie Anm. 4 ) S. 632 ff.
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dass es dabei um weitergehend prägende Denk- und Vorstellungsmuster geht, die das Verhalten, die Wahrnehmung und die literarische Darstellung der Figuren strukturieren. Huld, gratia, hulde, genâde ist – ich folge hier Gerd Althoff – „einer der Zentralbegriffe der mittelalterlichen Herrschafts- und Lebensordnung.“ 11 Vergabe, Entziehen, Wiedervergabe von Huld ist eines der wichtigsten höfischen Herrschaftsinstrumente. Ich will drei Aspekte herausgreifen, die mir zentral zu sein scheinen: 1. Aus-der-Huld-Fallen meint wesentlich ein Verbot von Kommunikation, und zwar unmittelbarer face-to-face-Kommunikation mit dem Herrscher. Der verstoßene Vasall darf nicht bei Hof erscheinen, der Herrscher ‚übersieht‘ ihn, wie es heißt. Es bedeutet Abtrennung aus der sozialen Gruppe, der familia, Ausschluss von den Ritualen, man könnte sagen: Zerstörung oder zumindest Unsichtbarmachung des sozialen Körpers. Der Vasall ist darauf angewiesen, Vermittler, Mediatoren zu finden, die an seiner statt mit dem Herrscher kommunizieren können, die Bedingungen und Wege aushandeln, wie ein Wiedererlangen der Huld faktisch möglich ist 12. An der Gemeinschaftsfeier der communio, der Eucharistie, darf kein Büßender teilnehmen, er muss in der Kirche gesondert sitzen. Gerade bei der öffentlichen Kirchbuße ist die soziale Aussonderung entscheidend, das Abgesondert-Sein an einem Ort der Buße – es geht weniger um bestimmte Werke, als um das asketische Aushalten einer Trennungszeit. Auch beim ambulare pro Deo, der frühen Bußwallfahrt, einer Mischform aus öffentlicher und tariflicher Buße, ist das Entscheidende die zeitlich verordnete Rast- und Heimatlosigkeit des Büßers, sein Aus-der-Welt-Sein 13. 2. Zweiter Aspekt: Das Problem herrscherlicher Willkür. Es gibt kein codifiziertes Recht, nach dem der Herrscher Huld entzieht oder vergibt. Der Herrscher soll mit diesem Herrschaftsinstrument politische Klugheit und Gerechtigkeitssinn demonstrieren, ist dabei aber nicht förmlich gebunden. Gerade die Wiedererlangung der Huld ist kein rationalisierbares Procedere, nichts, worauf ein Anrecht seitens des Vasallen bestünde 14. Gratia vero nisi gratis est gratia non est – ‚Gnade ist überhaupt keine Gnade, wenn sie nicht umsonst, ein Gnadengeschenk ist‘, sagt Augustinus im <Enchiridion> 15. Sogar die menschlichen Verdienste sind ein freiwillig gegebenes Geschenk Gottes 16. Gnade ist dem Menschen qua Schöpfung geschenkt und wird dann helfend im Leben noch dazugeschenkt. Wie erlangt man aber diese gratia cooperans, die einen den rechten Weg der Buße führt? Wie erkennt man ihr Wirken? Wodurch kann sichergestellt werden, dass Buße und Reue hinreichend waren und die Versöhnung mit Gott vollendet
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Althoff, Huld ( wie Anm. 2 ) S. 200. Ebd. S. 206–209; Gerd Althoff, Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: Ders., Spielregeln ( wie Anm. 2 ) S. 99–125, und Koziol ( wie Anm. 2 ). Zur Bußwallfahrt Vogel – Hödl ( wie Anm. 7 ) Sp. 1134–1135. Dazu Kai-Peter Ebel, Huld im . Friedliche Konfliktbewältigung als Reichslegende, in: Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 186–212, insbes. S. 199, S. 211, sowie Gerd Althoff, Huld ( wie Anm. 2 ) insbes. S. 204 f., S. 214, S. 227. Aurelius Augustinus, Enchiridion ad Laurentium sive de fide, spe et charitate, hg. von Joseph Barbel, Düsseldorf 1960, cap. XXVIII, 107. Ebd.: Intellegendum est igitur etiam ipsa hominis bona merita esse Dei munera, quibus cum vita aeterna redditur quid nisi gratia pro gratia redditur. – ‚Damit ist zu verstehen gegeben, dass auch die guten Verdienste des Menschen Geschenke Gottes sind.‘
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ist? Man kann die göttliche Offenbarung nicht verkürzt als ethisch-rationalisierbare Handlungsanweisung zum Erreichen dieses Zieles verstehen – codifizierbares Recht ist daraus nicht abzuleiten. Wiederaufnahme in die Huld ist, bei allen Leistungen und Bedingungen, sowohl lehnsrechtlich als auch religiös als ein Akt der Gnade zu denken – und so wird es auch inszeniert. 3. Und das führt zum dritten Aspekt, dem Problem der Darstellung und Inszenierung. So wenig Huldentzug ein förmlicher Akt ist, so sehr ist es die Wieder-Gewährung der Huld. Sie ist verknüpft mit dem Ritual der deditio: Ein öffentlicher Unterwerfungsakt, meist mit Fußfall, Tränen und einer Demutsformel. Entscheidend ist, dass erst durch den performativen Akt, der als spontanes Geschehen inszeniert ist, rechtliche und soziale Wirklichkeit geschaffen wird, obwohl Inszenierung und Vorbedingungen wohl schon zuvor ausgehandelt wurden. Solche nicht-öffentlichen Verhandlungen werden selten geschildert, und daher ist meist sehr undeutlich, worin die zu leistende oder geleistete satisfactio oder buoze besteht – das schiere öffentliche Zu-Füßen-Fallen ist sicher nicht die buoze 17. Im Kirchenbußverfahren betritt – so eine exemplarische Variante 18 – der Poenitent am Gründonnerstag die Kirche gesondert, in dreifachem Abstand. Und obwohl die Bußwerke in der vierzigtätigen, asketischen Absonderung schon geleistet sind, erfolgt die Wiederaufnahme erst nach Unterwerfungsgesten und -formeln 19. Auch für die nicht-öffentliche Buße gilt: Schon immer und auch nach dem IV. Laterankonzil war klar, dass die priesterlichen Bußauflagen und Absolutionen Elemente sind, die äußerlich hinzukommen und je nach Stand des Kirchenrechts notwendig sein mögen – aber hinreichend sind sie niemals. Dem radikalen Abaelard zufolge vergibt Gott zwar schon im Moment der reuigen Zerknirschung – aber ob die Zerknirschung hinreichend ist, vermag kein Mensch zu sehen 20. Es bleibt festzuhalten: Was sichtbar ist, ist die Rechtswirklichkeit schaffende, symbolische Inszenierung für die Öffentlichkeit; was unsichtbar und nicht formalisierbar oder codifizierbar bleibt, sind die Bedingungen und Prozesse, die dazu führen. Um diese notwendigerweise nur sehr allgemeinen Diskurs- und Problemskizzen zu konkretisieren und damit vor allem die möglichen Analogien zum Romantext anschaulicher zu machen, sei – als dritter einleitender Schritt – noch kurz ein sehr interessantes, exemplarisches Dokument vorgestellt. Das Dienstrecht der Ministerialen
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Dazu Gerd Althoff, deditio ( wie Anm. 12 ); Gerd Althoff, Herrschaftsrituale im 12. Jahrhundert, in: Ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 136–169; Gerd Althoff, Colloquium familiare – colloquium secretum – colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters, in: Ders., Spielregeln ( wie Anm. 2 ) S. 157–184. Vogel – Hödl ( wie Anm. 7 ) Sp. 1133–1134. Zum öffentlich-rituellen Charakter der öffentlichen Buße s. auch Angenendt ( wie Anm. 4 ) S. 642–644. Dazu Mayke B. de Jong, What was public about public penance? Paenitentia publica and justice in the Carolingian world, in: La Giustizia nell’alto medioevo II ( secoli IX–XI ), ( Settimane di Studio 44 ) Spoleto 1997, S. 863–904. Zur sozialen Funktion der öffentlichen, demonstrativ-demonstrierenden Bußakte s. Mansfield ( wie Anm. 8 ) S. 16 ff., S. 159–188. Zur Frage nach der Abgrenzung von Ritualen mit öffentlichem bzw. nicht-öffentlichem Charakter vgl. Meens ( wie Anm. 8 ) insbes. S. 47–52, und Hamilton ( wie Anm. 8 ) S. 104–136. Zum Wandel der Buße in der Scholastik und dem Problem von Abaelards contritio-Begriff vgl. Ohst ( wie Anm. 6 ) S. 55–63; Angenendt ( wie Anm. 4 ) S. 644–647; Benrath ( wie Anm. 7 ) S. 460. Zur Debatte um versus <Buße> s. auch Mansfield ( wie Anm. 8 ) S. 34 ff.
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des Kölner Erzbischofs 21 aus der Mitte des 12. Jahrhunderts – eines der wohl seltenen Beispiele, in denen der Versuch einer Codifizierung von Huldentzug und -wiedergewährung gemacht wird – zeichnet Folgendes auf: Hat ein Vasall die Huld des Erzbischofs verloren, muss er eine bestimmte Zeit in Demut, humiliter dienen. Humiliter heißt: Er kann und darf nicht mit dem Herrn kommunizieren, darf auf keinen Fall vor sein Angesicht treten, ja muss ihm aus dem Weg gehen, wenn er ihn zufällig antreffen sollte – er muss sich also unsichtbar machen, aber zugleich dienen, was hier meint, mit zwei Knechten und drei Pferden dem Herrn und dem Hof zu folgen. Während dieser Zeit muss er versuchen, Vermittler zu finden, die Fürsprache beim Herrscher einlegen und Bedingungen für satisfactio aushandeln. Ist die Frist erfolglos abgelaufen, wird der Vasall in eine camera der Burg bzw. des Palastes eingesperrt, wo er nur sehr restriktiv kommunizieren kann, was ihm die Chance erhalten soll, weiterhin Fürsprecher zu gewinnen. Was aber Leistungen der satisfactio sein könnten, ist über den Begriff des humiliter servire hinaus völlig offen und nicht festgelegt, es bleibt den nicht-öffentlichen Verhandlungen vorbehalten 22. Am Ende steht ein deditio-Ritual vor größtmöglicher Öffentlichkeit. Was ist also auffällig an diesem Versuch, die Willkür des Herrschers zu beschränken und Wege der Wiedergewinnung von Huld zu reglementieren? Es ist die Unbestimmtheit der möglichen Satisfaktionsleistungen, die durch nichts als den Begriff des und durch die öffentliche Unsichtbarmachung des aus der Huld Gefallenen bezeichnet sind. Was daran könnte uns nun Wolframs Text, das Handeln seiner Figuren und die Strategien seines Darstellens und Erzählens erhellen? Und vor allem: Wie könnte man das auf literarische, d. h. aus Zeichen konstruierte Figuren übertragen? Dazu einige Textbeobachtungen, geordnet wiederum nach drei Perspektiven 23. II.
Der Gral, gedacht als Substitut göttlicher Herrschaft, ist ein Herrscher, der Kommunikation radikal verweigert. Er entzieht sich, ist unsichtbar für alle, die nicht zu seiner familia gehören. Das dienstrechtliche Element des Kommunikationsverbotes ist radikalisiert, und zwar nicht nur für den aus der Huld gefallenen Parzival, sondern durch die Prämissen der Erzählung. Dies macht es natürlich unmöglich für Parzival, genau das zu tun, was der demütig und unsichtbar dienende Vasall tun kann, um seine Chancen zu wahren, nämlich Mediatoren zu finden, die für ihn kommunizieren. Wer käme in Frage? Cundrie, die Gralsbotin, kennt den Weg, sie führt durch Grußverweigerung und Grüßen Huldentzug und -gewährung performativ und stellvertretend aus 24. Sie ist 21
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Das Kölner Dienstrecht, in: Ausgewählte Urkunden zur Erläuterung der Verfassungsgeschichte Deutschlands im Mittelalter, hg. von Wilhelm Altmann – Ernst Bernheim, Berlin 41909, S. 165–170, Nr. 83. Ich folge hier weitgehend den Darstellungen und Deutungen von Althoff, Huld ( wie Anm. 2 ) S. 209 f., und Ebel ( wie Anm. 12 ) S. 196 f. Ich erlaube mir, nochmals auf die eingangs genannte wesentlich ausführlichere Fassung der folgenden Parzival-Interpretation ( wie Anm. * ) zu verweisen. Zur Bedeutung von Grüßen als ritualisierte Form und Inszenierung von Huldentzug und Hulderweis in der feudalen Gesellschaft s. Corinna Dörrich, Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur, Darmstadt 2002, insbes. S. 54 ff.
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aber nur ausführendes Organ des Grals, ihre Spur verliert sich stets: Sie ist eine Modifikation der sich entziehenden Physis des Grals. Gegen Romanende wird König Artus als virtuoser Mediator gezeigt 25 – aber hier sind alle Beteiligten erreichbar und rationaler Überlegung zugänglich. Die Huld dieser Artusgesellschaft ist für Parzival unproblematisch wiederzugewinnen, weil sie ja auch nie eigentlich entzogen war – ihr gelten Parzivals Bemühungen nicht. Wolframs Held schickt die besiegten Gegner zu Condwiramurs und nicht zu Artus. Doch nichts scheint deutlicher die Vergeblichkeit von Parzivals Versuchen zu demonstrieren, mit dem Gral zu kommunizieren und ihm Zeugen seines demütigen Dienstes vor Augen zu führen, als die Tatsache, dass Condwiramurs immer nur das Ersatzziel für besiegte Gegner ist: Das erste Ziel wäre stets der Gral. Was aber bleibt Parzival zunächst anderes übrig, als den Gral wie einen Herrn zu behandeln? Dass man mit dem Gral nicht kommunizieren kann, wird ihm erst von Trevrizent gesagt, von seinem weisen Eremitenonkel – und von da ab wird Parzival tatsächlich auch keinen mehr zum Gral schicken. Das liegt auch daran, dass Trevrizent ihm ja das Entscheidende klar macht: Der Gral ist Instrument von Gottes Herrschaft – es geht also nicht einfach darum, dem Gral satisfactio zu leisten, sondern darum, Gottes hulde zu erlangen. Handeln oder auch nur Handlungsanweisung folgt daraus nicht – Trevrizents Rat besteht in der Aufklärung von Zusammenhängen. Er kann nur die Bedingungen der Möglichkeit zur Versöhnung zeigen, aber nicht den Weg zur Versöhnung. Dass er kein Mediator oder Fürsprecher ist, wird dadurch am deutlichsten, dass Wolfram alle kirchlich-institutionellen Kennzeichen gegenüber seiner Vorlage und Hauptquelle, Chrétiens , sorgsam tilgt. Ein geregeltes Bußverfahren findet hier nicht statt. Sollen wir, gemäß der abaelardschen Denkfigur, die Zerknirschung des Helden als Wirkung der gratia cooperans würdigen und als hinreichend für eine Versöhnung mit Gott und dem Gral begreifen? Wir wissen es nicht, Parzival weiß es nicht, auch Trevrizent weiß es nicht. Die von ihm empfohlene buoze und diemüete ist eine schiere Gesinnung, ein Vertrauen auf Gottes helfe und Gnade; es ist gerade keine Handlungsanweisung. Gibt es eine Wandlung in dem, was Parzival tut oder nicht tut, nachdem er diese Zusammenhänge zwischen dem Gral, seiner Person und Gottes Huld erfahren hat? 26 Da aus dem Wissen kein Handlungsmodell abzuleiten ist, kann auch Trevrizent nicht anders, als ritterlîchen râten ( 501, 18 ). Er rät, die schiere Spannung auszuhalten, rät, daz du den prîs bejagtes unt an got niht verzagtes ( 489, 15–16 ) – ‚dass du nach Siegesruhm jagst und zugleich nicht das Vertrauen auf Gott verlierst‘. Parzival ist nun belehrt darüber, dass Gott keinen haz, keine Feindschaft ihm gegenüber trägt und verwandelt seinen haz gegenüber Gott in demütiges Hoffen. Diese diemüete scheint die zentrale Idee zu sein. Was meint diemüete? Doch wohl vor allem Anerkennung von Gottes Herrschertum; das Wissen, dass es keine andere Chance gegen den höchsten Herrscher gibt, als 25
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Monika Unzeitig-Herzog, Artus mediator. Zur Konfliktlösung in Wolframs <Parzival> Buch XIV, in: Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, S. 169–217. Zur Diskussion um die <Wende> Parzivals bei Trevrizent sei nur verwiesen auf die exemplarischen Beiträge von Walter Haug, Parzival ohne Illusionen, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64, 1990, 199–217, und Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im <Parzival> Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001, insbes. S. 88 ff.
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auf seine helfe zu vertrauen; das Wissen, dass zum Gral nur der kommt, der benennet ist. Was Parzival ab jetzt tut, ist humiliter servire – allerdings unter extrem verschärften Prinzipien. III.
Als nächstes sei nach dem Problem der Willkür und der Providenz im Romantext gefragt. Den Gesetzen des Grals und Gottes Providenz ist Parzival noch viel radikaler ausgeliefert als ein Vasall der Willkür seines Herrn in Huldentzug und -gewährung. Trevrizent sagt im 16. Buch ganz richtig: got vil tougen hât, wer gesaz ie an sînem rât ( 797, 23–24 ) – ‚Bei Gott sind viele Dinge verborgen. Wer hat je in seinem Rat gesessen?‘ Es gibt niemandem, der Gott raten kann, die Gesetze seiner Erwählung und Gnadenvergabe sind radikal heimlich, unsichtbar, unnennbar. Und für den Gral, der den Status der Huld Gottes für Parzival unmittelbar repräsentiert, gilt das erst recht. Die Gesetze sind streng ritualistisch, zwar zuweilen sogar eingeschrieben in den Rand des GralDings, aber dennoch von unklarer Geltung, ja, variabel veränderbar. Alle werden als Kinder zum Gral berufen – für Parzival gilt das nicht; Gott hilft durch den Gral dem Leiden des Anfortas nicht ab, sondern prolongiert es; er verlangt Fragen, wo nach allen rituellen Handlungsgeboten Fragen verboten ist, er verbietet schließlich Fragen, wie um zu demonstrieren, wie defizient menschliches Verhalten seinen Gesetzen gegenüber bleibt. Wie ist einem Herrn mit einem solchen Terrorinstrument der Willkür zu dienen? 27 Parzival ist die Figur, die in der Tat dem Gral dient. Was gemeinhin Gral-<Suche> genannt wird, heißt im Text meist strîten nâch dem grâle, werben umbe den grâle – Formulierungen, die sich auf räumliches Auffinden beziehen, sind äußerst selten. Und der Erzähler selbst benennt Parzivals Handlungen dezidiert als vasallitischen Dienst am Gral: Er nennt es schildes ambet umben grâl ( 333, 7 ), er nennt ihn dienstmann des Gral ( 740, 21 ). Dieser Dienst – soweit wir ihn eben sehen – bleibt sich stets gleich: Es ist strîten, ratund heimatlos, ja zuweilen sinn- und ziellos. Gleich im siebten Buch, bei seinem Aufbruch nach der Verfluchung durch Cundrie, heißt es: ern suochte niht wan strîten ( 390, 9 ) – ‚er suchte nichts als Kampf‘ – so und ähnlich an ungezählten Stellen, bis zum Ende des Romans. Selbst direkt nach dem Trevrizent-Gespräch, in dem man erfährt, dass man den Gral nicht erstrîten könne, verkündet der Erzähler: wan swers grâles gerte, der muose mit dem swerte sich dem prîse nâhen. ( 503, 27–29 ). ‚denn jeder, der den Gral begehrte, der musste vorher mit dem Schwert Siegsruhm erlangen.‘ 27
Zur Debatte um die prekären Gralsgesetze sei verwiesen auf Elisabeth Schmid, Wolfram von Eschenbach: Parzival, in: Horst Brunner ( Hg. ), Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, Stuttgart 1993, S. 173–195; Joachim Bumke, Die Utopie des Grals. Eine Gesellschaft ohne Liebe?, in: Hiltrud Gnüg ( Hg. ), Literarische Utopie-Entwürfe, Frankfurt 1982, S. 70–79; Dietmar Peschel, Fragen, nichts als Fragen – wer nicht fragt, wird nie erwachsen! Oder doch? Oder doch nicht? Wolfram aus Eschenbach: <Parzival>, in: Ders., Beziehungsknoten. Sieben Essays über Kindschaft und Liebschaft und Herrschaft in mittelalterlicher Literatur, Erlangen 2007, S. 75–109.
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Damit ist das Programm des nun gänzlich unsichtbaren Parzival benannt. Wie er es erfüllt haben wird, zeigt sich, als er seinem Bruder viele Jahre und Verse später vor versammelter Artusgesellschaft eine Unmenge von Rittern aufzählt, mit denen er streit und an denen er rîterschaft erzeigte, die wîle ich nâch dem grâle reit ( 772, 25 ), wie er sagt. Schließlich muss auch Trevrizent widerrufen und sagen, dass er den Gral offenbar mit arebeit erstriten habe, und Cundrie bestätigt dies. In der Tat scheint diese Deutung, dass Dienst umbe und nâch dem Gral in ritterlichem Kämpfen und Erwerben von prîs mit Waffen besteht, durch das gedeckt, was wir von Parzival hören. Freilich: Mehrfach wird behauptet, dass man den Gral gerade nicht erjagn oder erstrîten könne, wenn man nicht zum Gral benannt sei. Ist dennoch das, was Parzival tut, indem er humiliter dient, nämlich permanentes strîten und erwerben von prîs, eine Bedingung für seine Berufung? 28 Der hervorragendste aller ritterlichen Kämpfer ist er schon je, und ein besonderer Dienst nach seiner contritio im neunten Buch, an dem so etwas wie Demut und Gottesfürchtigkeit als Handeln kenntlich würde, ist nicht zu sehen. Im Motiv der Verwandtenkämpfe wird im Gegenteil ritterliches strîten sichtlich zunehmend problematisiert, und zunehmend wird der Held uns als Kampfmaschine vorgeführt, die strîten um prîs schon beinahe als Selbstzweck betreibt. Was diesen Ritter zum Gralskönig qualifiziert, ist mit Handeln nicht zu verdeutlichen, es ist als Geschehenslogik nicht sichtbar zu machen. Und diesen Bruch zwischen Weg und Ziel, zwischen Handeln und Bestimmung inszeniert Wolfram, indem er die Denkform des Dienstrechts gleichsam narrativ beim Wort nimmt und den Helden unsichtbar macht. IV.
Damit zur dritten und letzten Perspektive auf den Text. Zu Trevrizent sagt Parzival: mîn freude ist lebendec begrabn ( 461, 12 ). ‚Lebendig begraben‘ – das ist das, was der Erzähler mit seiner Heldenfigur macht: unsichtbar machen und doch weiterleben lassen, als Schatten, im Spiegel, sozusagen als bloßen körperlichen Umriss einer Figur, die auf wenige Signifikanten ihres jeweiligen Handelns reduziert ist. Es ist als ein stufenweises Unsichtbar- und Wieder-Sichtbar-Werden inszeniert. Nach der Verfluchung durch die Gralsbotin im sechsten Buch, der Absage an den untreuen Lehnsherren Gott und dem Abschied von den Artusrittern handelt der Roman von einem anderen, von Gawan. Parzival tritt nur ganz kurz als redende Nebenfigur auf, dann nur noch in Berichten Anderer und in Verweisen. Allein im neunten Buch, das eine exorbitante Zeit- und Rauminsel in der Handlung bleibt, ist er freilich körperlich präsent, wenn auch erstaunlich konturlos und schattenhaft. Ganz am Ende des 13. Buches tritt er dann wieder in persona in die Geschichte ein, aber noch im 14. Buch, das den Abschluss der GawanHandlung und Parzivals Rückkehr in die Artusgesellschaft erzählt, ist er ein passiver Fremdkörper: manege clâren frouwen muos er sich küssen schouwen ( 698, 23–24 ), wörtlich etwa: ‚Viele schöne Damen sah er sich küssen‘ – die Figur sieht sich selbst zu, wie ihr Körper die höfischen Rituale vollzieht. Es ist ein Körper, der das vollzieht, was einen 28
Otto Neudeck, Das Stigma des Anfortas. Zum Paradoxon der Gewalt in Wolframs <Parzival>, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19/2, 1994, S. 52–75; Will Hasty, daz prîset in, und sleht er mich. Knighthood and Gewalt in the Arthurian Works of Hartmann von Aue and Wolfram von Eschenbach, in: Monatshefte 86/1, 1994, S. 7–21.
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höfischen Körper ausmacht, der aber etwas anderes vollziehen müsste, was nicht darstellbar ist. Es ist nur symbolisch abzubilden, und zwar privativ – durch Unsichtbarkeit, Entzug. Parzival versucht noch zweimal, sich für die höfische Gesellschaft unsichtbar zu machen, er schleicht sich zweimal heimlich fort. Noch ist der ihm zukommende Ort der Raum des rast und heimatlosen Umherschweifens, gleichsam der Raum der Exkommunikation. Unsichtbar ist Parzival im Grunde nie vollständig, insofern er in diversen Figuren auch während seiner körperlichen Absenz gespiegelt ist, am deutlichsten freilich in Gawan selbst, beständig changierend zwischen Identität und Opposition 29. Gawan ist die Leinwand im Vordergrund, durch die und auf der Parzival als Schatten erst wahrnehmbar wird. Denn: Es gibt kein Rollenmodell und insofern keine adäquate Visualisierung für einen Ritter, der ritterlich kämpft, aber nicht um Minne zu erwerben, sondern um etwas, von dem man nicht wissen kann, wie man es bekommt und ob kämpfen dafür überhaupt etwas nützt. Parzivals zunehmende Präsenz und Sichtbarwerdung ist ein prekärer Versuch, ihm Rollenmodelle durch Attribute und Gesten zu verleihen, die ihm allesamt nicht angemessen sind und deshalb nur Spiegelungen, Reflexe, geborgte Requisiten sind. Es sind Versuche, ihm Kleider anzuprobieren, die ihm alle nicht recht passen. Ändert sich das am Ende? Er kämpft unerkannt mit seinem Bruder wie mit seinem eigenen Spiegelbild, bis Gott das Schwert zerbricht, mit dem er gerade den Bruder erschlagen will ( 744, 10–18 ). Das Zerbrechen dieses Ither-Schwertes – jenes Schwertes, das er der Leiche des ersten von ihm besiegten, von ihm barbarisch ermordeten Ritters weggenommen hatte – ist ein gewaltsames erzählerisches Konstrukt und als solches offensiv ausgestellt: Längst schon hatte er das Gralsschwert zum Kämpfen – aber das Gralsschwert ist aus der Erzählung verschwunden, gegen seinen Bruder muss es das Ither-Schwert sein, das zerbricht, und mit ihm vollends die Idee, dass das, was noch aussteht, mit ritterlichen Mitteln zu erreichen sei. V.
Und damit endlich zur eigentlich interessanten Frage und zum Schluss: Was wäre ein narrativer Sinn dieser Konzeption? Auf welchen Wegen ein aus der Huld Gefallener die Huld wiedererlangt, ist nicht codifizierbar; wie es von einem Zustand zum anderen kommt, ist nicht als Prozess beschreibbar. Benennbar sind nur die Zustände: das humiliter servire, die Unsichtbarkeit vorher; die deditio, die sichtbare Auflösung am Ende. Für Parzival, für den es auch keine mittelbare Möglichkeit gibt, über buoze zu verhandeln, bleibt es beim bloßen servire, beim Dienen als solchem. Und das kann nur so gedacht werden, wie es das ritterliche Modell hergibt, als ein strîten, auch wenn völlig unentschieden bleibt, was strîten mit der Gralsberufung und Gottes Huld und Gnade zu tun hat. Aber das eben scheint es zu sein, was humiliter, was demütig meint – eine Pascalsche Wette sozusagen, weil es alles zu gewinnen und nichts mehr zu verlieren gibt; ein reines des Hoffens auf Gnade, zu der es keinen sichtbaren Weg gibt. 29
Die narrative Funktion der Gawan-Figur und Gawan-Handlung ist zuletzt – mit Blick auf die breite Forschungsdebatte – umsichtig diskutiert worden von Cornelia Schu, Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs <Parzival>, Frankfurt u. a. 2002.
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Und es gibt keine kausale Logik des Handelns, kein Figurenkonzept, das dies plausibel motivieren könnte – Parzival bleibt unsichtbar und schattenhaft; der Sünder ist abgesondert, ausgesondert, nur im Moment der contritio noch einmal zwischendurch sichtbar. Aber ist contritio allein satisfactio und buoze? Die Wiederaufnahme in die Huld findet im Erzählen einfach statt, sie wird schlicht gesetzt: das Schwert zerbricht, auf Munsalvaesche wird – im selben Moment, so kann man es sich am schönsten zurechtdenken, obwohl es so nicht gesagt wird – die Inschrift auf dem Gral gelesen. Statt einer kohärenten Motivation wird uns ein mythisches Analogon geboten: Der keusche Sünder ist der Erwählte, der Schwesternsohn ist der Königserbe. Das ist die pure Gnade – und keiner möge sich anmaßen zu entscheiden, was daran gratia praeveniens und was gratia subsequens ist und womit er sich die Hilfe der gratia cooperans verdient hätte. Es konfligieren hier die beiden fundamentalen Prinzipien des Erzählens: Geschehenslogik und Erzähllogik, kausale und finale Motivation, Motivation von vorne und von hinten 30. Man mag sagen, das sei im vormodernen Erzählen, zumal im höfischen Roman, immer so. Sicherlich – doch Wolfram hat, so scheint mir, durch die Orientierung an sozio-kulturellen Denk- und Wahrnehmungsmustern und vielleicht auch durch Wahrnehmung der Dialektik der Sünden- und Gnadentheologie seiner Zeit eine besonders eindringliche Form gefunden, dies darzustellen und als narrative Aporie offenzulegen. Wolfram inszeniert die Erlösung und Erwählung als ein Ritual – ein Ritual, das eben genau das als spontan inszeniert, was vorher schon feststeht. Für die Rezipienten ist dies durchschaubar, aber so funktionieren Rituale, höfische und religiöse. Der leidende Gralskönig Anfortas bittet Parzival, ihn sterben zu lassen, denn sein ritueller Körper darf nicht wissen, was alle schon längst wissen und was sein geschehenslogischer, todkranker Körper wissen muss: Dass Parzival die Erlösungsworte jetzt gleich sprechen wird. Parzival wirft sich dreimal in Richtung des unsichtbaren Grals auf die Knie – ein deditio-Ritual als Demutsgeste, das den Herrscher angeblich spontan gnädig stimmen soll, genauso wie die rituellen Tränen 31, die Parzival vergießt; genauso wie der Einzug des Büßers am Gründonnerstag in die Gemeinde mit allen Zeichen der Buße und Reue und Unterwerfung, wo doch die Reue und Unterwerfung am Aschermittwoch entscheidend war und die Buße schon vierzig Tage angedauert hatte. Und dann stellt Parzival die Frage, die er schon dem Wortlaut nach kennt und auf die er schon sechsmal hingewiesen wurde – aber er formuliert unerwartet etwas anders, eben so, als ob es eine spontane Frage sei. Nachdem Anfortas wieder gesund ist und schön wie zuvor, wählt die Gralsgesellschaft Parzival zum König, so wie man ja auch Anfortas einst zum Gralskönig wählte – als ob da etwas zu wählen sei, nachdem längst die Schrift auf dem Gral erschienen ist! Naiv-märchenhaft, belustigend wird das nur dem erscheinen, der den Charakter von Ritualen nicht kennt. Wundern darf man sich aber schon, mit welcher Rigidität dies ausgespielt wird. Die lineare Handlungszeit ist durch 30
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Zu dieser Terminologie Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, Berlin 1932, ND Frankfurt 1976, und Matías Martínez, Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen 1996. – Für den höfischen und speziell den arthurischen Roman hat dies jetzt erneut fruchtbar gemacht: Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin – New York 2007. Zum Weinen als Bestandteil von höfischen Ritualen und Zeremonien s. Gerd Althoff, Empörung, Tränen, Zerknirschung. Emotionen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters, in: Althoff, Spielregeln ( wie Anm. 2 ) S. 258–281.
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eine zyklische Ritualzeit aufgehoben: Parzival tritt im Grunde nicht ein zweites Mal als anderer und zum Besseren verwandelter vor Anfortas, sondern die Uhr wird zurückgedreht auf den Stand vor der Verfehlung 32. Buße im Sinne von <Wiedergutmachung>, compositio ist auch im weltlichen und kirchlichen Recht weniger ein Weg vorwärts, als vielmehr eine Rückversetzung in den Zustand vor der Verfehlung 33 – gnadentheologisch gesprochen: weniger Vergebung der Sünden und neuerliche Gnade als vielmehr Heilung der durch Verfehlung verletzten, ursprünglich unversehrten Menschennatur im Vollbesitz der Schöpfungsgnade. Am Schluss des <Parzival>, unterliegen die Figuren und ihre Körper der Ordnung der Rituale. Dass dies mit der Ordnung einer logisch-kohärenten Handlung bruchlos zu verfugen sei, wird gar nicht prätendiert. Aus der Tatsache, dass B nach A kommt, folgt eben nicht, dass B aufgrund von A geschieht. Parzival hat gekämpft um den Gral und die Huld und gekämpft für den Gral und die Huld, abgesondert, rast- und heimatlos, unsichtbar für seine soziale Gruppe, die ihm keine communio geben kann – und am Ende bekommt er den Gral und die Huld. Das heißt nicht, dass er das bekommen hat, weil er gekämpft hat. Aber ohne Kämpfen und Dienen kann er ihn wohl auch nicht bekommen. Dies ist, um es boethianisch zu formulieren, von vorne betrachtet Fortunas Logik der Willkür, von hinten und oben betrachtet ist es Gottes Providenz 34 – oder eben die Perspektive des Erzählers, der von sich selbst im Epilog sagt: wande ich in dem munde trage daz slôz dirre âventiure. ( 734, 6–7 ) Der Held Parzival und seine Geschichte ist am Ende vor allem das Werk des Erzählers: sîniu kint, sîn hôch geslehte hân ich iu benennet rehte, Parzivâls, den ich hân brâht dar sîn doch saelde het erdâht. ( 827, 12–18 ) Er, das Erzähler-Ich Wolfram, hat Schloss und Schlüssel der Geschichte im Munde und er ist es, der den Helden dorthin transportiert hat, wo sein Heil ihn hingedacht hat. Am Ende sind es weder die auf dem Rand des Gral-Dings schriftlich fixierten Normen mit ihren unklaren Geltungsansprüchen, die den Ausgang der Geschichte bestimmen, noch sind es die ungeschriebenen Gesetze, die ein Trevrizent oder andere zu kennen meinen. Das Einzige, was am Ende gilt, ist die zeitlose göttliche Providenz – beziehungsweise das, was der Erzähler sagt. Was die Durchsetzung von Geltungsansprüchen betrifft, so sind zumindest im Roman Gott und die Dichter in einer ähnlich guten Position. 32 33
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In diesem Sinne auch die Bemerkungen zum <Parzival> von Störmer-Caysa ( wie Anm. 30 ) S. 175–179. Dazu Hermann Nehlsen, Art. <Buße ( weltliches Recht ) II. Deutsches Recht>, in: LMA 2, 2003, Sp. 1144–1149, Sp. 1145; Ludwig Hödl, Art. , in: LMA 4, 2003, Sp. 1261; Ekkehard Kaufmann, Art. <Buße>, in: HRG 1, 1971, Sp. 575–577; Störmer-Caysa ( wie Anm. 31 ) S. 101–103 u. 173 f. Frederik P. Pickering, Augustinus oder Boethius? Geschichtsschreibung und epische Dichtung im Mittelalter und in der Neuzeit, 2 Bde., Berlin 1976.
Im Spannungsfeld zwischen christlichen und adligen Normvorstellungen
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Im Spannungsfeld zwischen christlichen und adligen Normvorstellungen. Zur Beurteilung Friedrich Barbarossas in stauferzeitlicher Historiographie 1. Der Zwischenfall während der Aachener Krönung, S. 451. – 2. Friedrich Barbarossa vor Tortona, S. 456. – 3. Friedrich Barbarossa als herrscherlicher Kreuzritter, S. 461.
Der vorliegende Beitrag will das spannungsvolle Aufeinandertreffen konkurrierender Normvorstellungen, nämlich einerseits religiös begründeter und andererseits adliger Anforderungen an den Herrscher, am Beispiel der Wahrnehmung und Beurteilung des Handelns Friedrich Barbarossas in stauferzeitlicher Historiographie näher in den Blick nehmen 1. Es geht in diesem Zusammenhang um die historiographische eines Herrscherverhaltens, das sich offenbar vorrangig an den des Kriegeradels orientierte und damit vor dem Hintergrund konfligierender christlicher und adliger Wertvorstellungen problematisch wurde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die historiographischen Spiegelungen des Verhaltens Friedrich Barbarossas einer Zeit entstammen, in der sich die ritterlich-höfische Kultur ausbildete, die nicht zuletzt auch eine Veränderung des herrscherlichen Leitbildes mit sich brachte 2. Anhand ausgewählter Beispiele soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, wie das Handeln Friedrich Barbarossas von verschiedenen stauferzeitlichen Chronisten im Spannungsfeld christlicher und adliger Normvorstellungen dargestellt wurde. Dieses exemplarische Vorgehen ermöglicht dabei keine Rekonstruktion eines einheitlichen oder gar umfassenden Normenkatalogs für den Herrscher; stattdessen bezeugen die unterschiedlichen Perspektiven verschiedener Geschichtsschreiber eher ein gleichzeitiges Nebeneinander mehrerer Wertesysteme und sie verweisen damit auf eine Pluralität von Normvorstellungen, wie sie im zeitlichen Umfeld der entstehenden ritterlich-höfischen Kultur zu beobachten ist 3.
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Das Folgende schließt an die entsprechenden Überlegungen in Heinz Krieg, Herrscherdarstellung in der Stauferzeit. Friedrich Barbarossa im Spiegel seiner Urkunden und der staufischen Geschichtsschreibung ( Vorträge und Forschungen, Sonderband 50 ) Stuttgart 2003 an und führt diese im Hinblick auf die im vorliegenden Beitrag fokussierte Thematik weiter. Dazu ebd. passim, besonders S. 349–359 ( VI. Zusammenfassung ). Zur ritterlich-höfischen Kultur der Stauferzeit vgl. Werner Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters ( Enzyklopädie deutscher Geschichte 32 ) München 21999 ( mit weiterer Literatur ); Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 102002; Johannes Laudage – Yvonne Leiverkus ( Hgg. ), Rittertum und höfische Kultur der Stauferzeit ( Europäische Geschichtsdarstellungen 12 ) Köln 2006.
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Zum Aufeinandertreffen der beiden Wertehorizonte des Christentums und der adligen Kriegergesellschaft und den Auswirkungen dieses Wertekonflikts auf symbolische Handlungen hat jüngst Gerd Althoff wichtige Überlegungen in einem Aufsatz über „Christliche Ethik und adliges Rangbewusstsein. Auswirkungen eines Wertekonflikts auf symbolische Handlungen“ vorgestellt 4. Darin behandelt er die Problematik, wie sich die christlichen Tugenden der misericordia, der humilitas und der clementia veränderten, „als sie an die adlige Kriegergesellschaft herangetragen wurden“ 5. Demnach konnte etwa die Barmherzigkeit und Mildtätigkeit der christlichen misericordia zwar im Sinne der traditionellen Herrentugend der Freigiebigkeit adaptiert werden, doch veränderte sie sich hierbei, indem die Armen zum bloßen Objekt von Milde und Erbarmen wurden, „ohne dass eine persönliche Beziehung zwischen ihnen und den sich Erbarmenden zustande gekommen oder auch nur intendiert gewesen wäre“ 6. Die Armen fungierten damit nur als „Objekte einer demonstrativen misericordia des adligen Herrn“ 7, die nun „in der Form unpersönlicher materieller Zuwendungen an die Armen fester Bestandteil adligen Verhaltens wurde“ 8. Eine ähnliche Konzentration auf nach außen gerichtetes, demonstratives Handeln konstatiert Althoff auch bei der Aneignung der christlichen Tugenden der humilitas und der clementia durch die adlige Kriegergesellschaft, indem es auf die eigentliche christliche Intention und die innere Gesinnung nicht mehr angekommen sei. Vielmehr genügte Althoff zufolge „äußerliches Verhalten, um entsprechende Wirkungen zu begründen“ 9. Kurz zusammengefasst könnte man sagen, dass ursprünglich christlich geprägte Normen im Zuge ihrer Adaption durch die adlige Kriegergesellschaft eine Funktionalisierung und Umdeutung im Sinne der adligen beziehungsweise laienadligen Ordnungs- und Verhaltensmuster erfuhren. Althoff weist dabei zu Recht darauf hin, dass es sich um eine „gegenseitige Beeinflussung“ gehandelt habe, aus der als Ergebnis eines Vermischungsprozesses schließlich etwas Neues entstanden sei, nämlich „der höfische Ritter, der den amor excellentiae propriae mit christlichen Tugenden vermengt und so erträglicher gemacht“ habe 10. Gewissermaßen der Vorgänger dieses sozialen Leitbildes des höfischen Ritters war bekanntlich der zunächst von kirchlicher Seite propagierte miles Christi 11. Die entscheidende Neuerung der christlichen Ritterideologie bestand darin, dass den Waffenträgern mit der Verpflichtung zum kriegerischen Einsatz für die Kirche und die Chris-
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S. Gerd Althoff, Christliche Ethik und adliges Rangbewusstsein. Auswirkungen eines Wertekonflikts auf symbolische Handlungen, in: Barbara Stollberg-Rilinger – Thomas Weller ( Hgg. ), Wertekonflikte – Deutungskonflikte ( Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des SFB 496, 16 ) Münster 2007, S. 37–49. Herrn Althoff danke ich für die freundliche Überlassung des noch ungedruckten Manuskripts dieses Aufsatzes. Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 44. Ebd., S. 49. Ebd. Vgl. dazu Gerd Althoff, Nunc fiant Christi milites, qui dudum extiterunt raptores. Zur Entstehung von Rittertum und Ritterethos, in: Saeculum 32, 1981, S. 317–333, besonders S. 330–333.
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tenheit eine neue religiöse Funktion verliehen wurde 12. Der Waffendienst gewann so einen kirchlich sanktionierten sittlichen Wert, wodurch die genuin weltlichen Kriegertugenden religiös legitimiert wurden und daher im Rahmen der ritterlich-höfischen Kultur gewissermaßen mit neuer Selbstverständlichkeit und einem gesteigertem adligen Selbstbewusstsein propagiert werden konnten. Da Tugenden und Leitvorstellungen, die dem adligen Kriegerethos entstammten, seither nicht mehr als heilsgefährdend, sondern ganz im Gegenteil als dem Seelenheil förderlich angesehen werden konnten, musste sich diese auch auf die Beurteilung der spezifisch laienadligen und besonders der heroischen Herrschertugenden auswirken. Denn Leitvorstellungen der adligen Kriegergesellschaft waren nunmehr in ebenso prestigesteigernder wie auch heilswirksamer Weise zu Idealen einer christlichen Ritterschaft geworden! Nachdem der entscheidende Anstoß für die Entstehung der Ritterideologie von geistlicher Seite gekommen war, griffen in der Barbarossazeit offensichtlich auch der staufische Herrscher beziehungsweise dessen höfisches Umfeld diese Vorstellungen auf. Denn seitens des Hofes und genauer der Kanzlei Barbarossas wurden in der herrscherlichen Selbstdarstellung verstärkt ritterliche Tugenden, wie zum Beispiel Tapferkeit im Kampf, Treue im Dienst und das Streben nach irdischem Ruhm und weltlicher Ehre propagiert 13. In diesem Zusammenhang sind neben den historiographischen Zeugnissen aus dem Umfeld des staufischen Hofes für die herrscherliche Selbstdarstellung insbesondere die Arengen der feierlicher gestalteten Diplome von Bedeutung 14. In den stark formelhaften Arengen wurden vor der Barbarossazeit über Jahrhunderte hinweg regelmäßig immer wieder die gleichen, sehr stark dem geistlichen Standpunkt verpflichteten Gedanken in kaum veränderten Formulierungen wiederholt. Die ausgesprochen konservativen Arengenformeln spiegeln damit zunächst das lange Fortwirken des traditionellen christlichen Herrscherideals in der Urkundensprache wider. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich in den von ausgeprägtem Konservatismus bestimmten und spezifisch geistlichen Normen verpflichteten Arengen der Herrscherurkunden während der Barbarossazeit signifikante Veränderungen abzeichnen. Diese betreffen auffälligerweise Normen und Leitvorstellungen, die dem adligen Kriegerethos entstammen, nämlich insbesondere die kriegerische Tüchtigkeit ( virtus und fortitudo ), die weltliche Ehre ( honor ) und den irdischen Ruhm ( gloria ). Diese adligen Normvorstellungen drangen damals verstärkt in die Arengenformeln ein und wurden damit an dieser besonders ausgezeichneten Stelle zu wichtigen Momenten der offiziellen herrscherlichen Selbstdarstellung. Die damit einhergehende Erweiterung des weltlichen Legitimationsrahmens des Königtums und Kaisertums in staufischer Zeit ist wohl als Reaktion auf die Krise des 11. Jahrhunderts und zugleich vor dem Hintergrund der Entfaltung der ritterlich-höfischen Kultur im 12. Jahrhundert zu verstehen 15. Die Frage, inwiefern sich dabei der
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Vgl. auch zum Folgenden Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 13–15, S. 55–57 ( mit weiterer Literatur ) und zur Entstehung der christlichen Ritterideologie Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens ( Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 6 ) Stuttgart 1935, ND Darmstadt 1974. S. dazu und zum Folgenden Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 51–298. Zum Folgenden ebd. S. 85–115, S. 123–137, S. 238–298. Vgl. ebd. besonders S. 55–57 und wie oben Anm. 2.
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Normenkatalog für das Verhalten des Herrschers insgesamt veränderte, lässt sich im gegebenen Rahmen selbstverständlich nicht umfassend behandeln. Vielmehr sollen im Folgenden beispielhaft einzelne Elemente dieses Normenkatalogs etwas näher beleuchtet werden, an denen sich Abweichungen oder <Schwerpunktverschiebungen> gegenüber dem traditionellen christlichen Herrscherethos abzeichnen, wie es die karolingischen Fürstenspiegel und die Herrscherdarstellungen der ottonisch-frühsalischen Zeit propagierten 16. Die Verchristlichung des Kriegertums und die Übertragung wesentlicher Elemente des traditionellen Herrscherethos auf alle Waffenträger wirkte offenbar in einer Art Rückkopplung auf das Herrscherethos zurück, indem mit der religiösen Legitimierung genuin adliger Leitvorstellungen des Kriegertums auch eine Aufwertung der heroischen Tugenden des Herrschers einherging. Das neue, religiös überhöhte Kriegerethos des Rittertums ermöglichte es allem Anschein nach, die spezifisch adligen, heroischen Elemente im Herrscherbild offener herauszustellen und stärker zu betonen, obwohl gerade der König bis dahin zumindest aus kirchlicher Sicht stets in ganz besonderer Weise christlichen Normen verpflichtet war 17. Abgesehen von den heroischen Leitvorstellungen und dem damit eng verknüpften Streben nach Ehre und Ruhm gewannen im ritterlichen Ethos besonders der Dienstgedanke und der kirchlicherseits schon in den karolingerzeitlichen Fürstenspiegeln vom Herrscher geforderte Waffengebrauch zum Schutz der Schwachen und zur Verteidigung des Glaubens eine zentrale Bedeutung 18. Die vornehmste Aufgabe des christlichen Rittertums war aber zweifellos der Kampf gegen die Ungläubigen auf dem Kreuzzug. Erst der Kreuzzugsgedanke verlieh dem Rittertum gegenüber älteren Formen des Kriegertums eine wirklich neue Qualität. Darüber hinaus wurden neben der traditionellen Königsaufgabe des bewaffneten Schutzes der Schwachen weitere, dem Königsethos zugehörige Leitvorstellungen, die sich bis in die antike Herrschertopik zurückverfolgen lassen, auf sämtliche Waffenträger projiziert. Hierzu gehörten zunächst die bereits erwähnte Frei-
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S. zu den Fürstenspiegeln Hans Hubert Anton ( Hg. ), Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 45 ) Darmstadt 2006; Ders., Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit ( Bonner historische Forschungen 32 ) Bonn 1968; Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters ( Schriften der MGH 2 ) Leipzig 1938. Zum Herrscherbild der ottonisch-frühsalischen Zeit vgl. besonders Gerd Althoff, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung im 10. und 11. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, S. 265–290 ( wieder in: Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter, Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 21–56 ); Ders., Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat, Stuttgart – Berlin – Köln 2000; Hagen Keller, Das Bildnis Kaiser Heinrichs im Regensburger Evangeliar aus Montecassino ( Bibl. Vat., Ottob. lat. 74 ). Zugleich ein Beitrag zu Wipos , in: Frühmittelalterliche Studien 30, 1996, S. 173–214; Ders., Grundlagen ottonischer Königsherrschaft, in: Karl Schmid ( Hg. ), Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Zum 80. Geburtstag von Gerd Tellenbach, Sigmaringen 1985, S. 17–34; Ders., Die Idee der Gerechtigkeit und die Praxis königlicher Rechtswahrung im Reich der Ottonen, in: La giustizia nell’alto medio evo ( secoli IX–XI ) ( Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 44 ) Spoleto 1997, S. 91–128; Ders., Herrscherbild und Herrscherlegitimation. Zur Deutung der ottonischen Denkmäler, in: Frühmittelalterliche Studien 19, 1985, S. 290–311 ( die drei letztgenannten Beiträge wieder in: Ders., Ottonische Königsherrschaft. Organisation und Legitimation königlicher Macht, Darmstadt 2002, S. 22–33, S. 34–50, S. 167–183 ). S. dazu Krieg ( wie Anm. 1 ). Vgl. auch zum Folgenden Bumke ( wie Anm. 3 ) S. 382–415.
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giebigkeit, nämlich largitas oder milte, 19 dann auch etwa die constantia oder staete, die Beständigkeit, 20 und nicht zuletzt die temperantia oder moderatio, mittelhochdeutsch mâze, also die Mäßigung und Selbstbeherrschung 21. Vor dem hier nur ganz knapp skizzierten Hintergrund der entstehenden ritterlich-höfischen Kultur soll im Folgenden anhand dreier das Spannungsfeld zwischen christlichen und adligen Normvorstellungen untersucht werden. Das erste betrifft den berühmten, von der Forschung immer wieder traktierten Zwischenfall bei der Aachener Krönung Friedrich Barbarossas, danach wird das Verhalten des Herrschers bei der Unterwerfung Tortonas näher in den Blick genommen und abschließend ist noch auf den Kaiser in der Rolle des herrscherlichen Kreuzritters einzugehen. 1. DER ZWISCHENFALL WÄHREND DER AACHENER KRÖNUNG
Mit der Schilderung der Wahl und Krönung Friedrich Barbarossas eröffnet Otto von Freising das zweite Buch seiner 22. Der Chronist berichtet, wie Barbarossa während seiner Krönung einem seiner Ministerialen, dem er zuvor aufgrund schwerer Vergehen seine Gnade entzogen hatte, die Wiederaufnahme in seine Huld verweigerte 23. Offensichtlich wollte der in Ungnade gefallene Dienstmann die Gunst der Stunde und, wie Theo Broekmann in seiner Dissertation betont hat 24, nicht zuletzt auch die Gunst des Orts nutzen, als er sich mitten in der Kirche dem frisch ge19 20
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Vgl. dazu Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 150 f. ( mit weiterer Literatur ). Vgl. ebd. S. 206 Anm. 50 und Karl Bosl, Leitbilder und Wertvorstellungen des Adels von der Merowingerzeit bis zur Höhe der feudalen Gesellschaft ( SB der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 5 ) München 1974, S. 28; Hatto Kallfelz, Das Standesethos des Adels im 10. und 11. Jahrhundert, Phil. Diss. Würzburg 1960, S. 34 f. Vgl. dazu Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 200 ( mit weiterer Literatur ); Otfrid Ehrismann, Ehre und Mut, Aventiure und Minne, Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, München 1995, S. 130 f.; Bumke ( wie Anm. 3 ) S. 418 f. Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, hg. von FranzJosef Schmale ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom SteinGedächtnisausgabe 17 ) Darmstadt 1965, II, 1–3, S. 284–289. Zum Wahlbericht insgesamt s. Stefanie Dick, Die Königserhebung Friedrich Barbarossas im Spiegel der Quellen. Kritische Anmerkungen zu den „Gesta Frederici“ Ottos von Freising, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 121, 2004, S. 200–237, hier S. 212, wo vor allem „der apologetische Charakter“ der Ausführungen Ottos eindringlich herausgearbeitet wird. In Ottos Bericht erhält die Wahl Friedrich Barbarossas demzufolge „einen Anstrich von Normalität, der ihr in den Augen der Zeitgenossen nicht zugekommen sein kann.“ Ebd., S. 223. Otto von Freising ( wie Anm. 22 ) II, 3, S. 286 Z. 30 – S. 288 Z. 11: Nec pretereundum estimo, quod, dum finito unctionis sacramento diadema sibi imponeretur, quidam de ministris eius, qui pro quibusdam excessibus gravibus a gratia sua adhuc privati sequestratus fuerat, circa mediam ecclesiam ad pedes ipsius se proiecit, sperans ob presentis diei alacritatem eius se animum a rigore iustitie emollire posse. Ipse vero mentem in priori severitate retinens et tamquam fixus manens constantie sue omnibus nobis non parvum dedit indicium, dicens non ex odio, sed iustitie intuitu illum a gratia sua exclusum fuisse. Nec etiam sine admiratione plurium, quod virum iuvenem, tamquam senis indutum animo, tanta flectere a rigoris virtute ad remissionis vitium non potuit gloria. Quid multa? Non illi misero intercessionis principum, non arridentis fortune blandimentum non tante festivitatis instans gaudium suppeditare poterant; ab inexorabili inexauditus abiit. Vgl. zum Folgenden auch Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 206–208. Theo Broekmann, . Herrschaft, Recht und Terror im normannisch-staufischen Sizilien ( 1050–1250 ) ( Symbolische Kommunikation in der Vormoderne ) Darmstadt 2005, S. 110.
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salbten König zu Füßen warf. Otto von Freising macht dabei darauf aufmerksam, dass der Dienstmann dies in der Hoffnung tat, seinen Herrn ‚wegen der heiteren Stimmung dieses Tages erweichen und vom harten Rechtsstandpunkt ( a rigore iustitiae ) abbringen zu können. Er aber verharrte bei seiner früheren Strenge ( in priori severitate ); er blieb fest und gab uns allen damit ein nicht geringes Zeichen seiner Stetigkeit ( constantie sue non parvum indicium ), wobei er erklärte, er habe jenen nicht aus Hass, sondern aus Gerechtigkeitssinn ( non ex odio sed iustitie intuitu ) von seiner Gunst ausgeschlossen.‘ 25 In, wie es zunächst scheint, lobender Absicht kommentiert der Chronist, Barbarossa habe sich durch die ihm damals zuteil gewordene große Ehre ( tanta gloria ) nicht von der rigoris virtus abbringen und zum ‚Fehler der Vergebung‘ ( remissionis vitium ) verleiten lassen 26. Weder die Fürsprache der Fürsten, noch ‚die Verlockung des ihm lächelnden Glücks‘, noch die bevorstehende Freude einer großen Festlichkeit hätten den ‚Unerbittlichen‘ ( inexorabilis ) erweichen können 27. Da Otto von Freising im direkten Anschluss an diese bekannte Szene explizit auf den sakramentalen Charakter der Königssalbung eingeht und den Herrscher betontermaßen ebenso wie den damals ebenfalls geweihten Bischof Friedrich von Münster als wahre christi Domini kennzeichnet 28, drängt sich der Eindruck auf, der Chronist habe hier mit dem Aufrufen des traditionellen, sakralen Modells christlicher Königsherrschaft absichtlich ein Kontrastbild zum unmittelbar zuvor berichteten, wenig christlichen Verhalten Barbarossas entwerfen und somit eine geschickt formulierte Mahnung oder auch versteckte Kritik andeuten wollen. Hält man sich nämlich die zentrale Bedeutung der remissio peccatorum in der christlichen Vorstellungswelt und kirchlichen Liturgie sowie die vom christlichen König gemäß dem ottonisch-frühsalischen Herrscherideal regelmäßig erwartete Bereitschaft zu Milde und Vergebung vor Augen, so mutet es doch mehr als auffällig an, wie Otto von Freising einerseits ganz entsprechend der vor die Zeit des sogenannten Investiturstreits zurückreichenden Tradition christlichen Herrschertums Barbarossa als wahren christus Domini rühmt, andererseits jedoch kurz vorher die remissio, die dieser seinem Dienstmann verweigerte, geradezu als vitium abwertet oder aber – bei genauerer Betrachtung – tatsächlich eben nur abzuwerten scheint. Im Hinblick auf die Verweigerung der clementia, wie sie das christliche Herrscherideal forderte, bleibt in jedem Fall der Eindruck einer außerordentlich strengen, ja allzu strengen herrscherlichen Rechtsgesinnung, obwohl Otto von Freising diese zunächst vordergründig als lobenswert etikettiert. Dabei gibt die Darstellung jedoch gleichzeitig
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Deutsche Übersetzung in Anlehnung an Gesta ( wie Anm. 23 ) S. 289 Z. 1–6. Ebd. S. 289 Z. 9 wird ad remissionis vitium irrig mit ‚zur Vergebung von Vergehen‘ übersetzt. Vgl. dazu auch Gerd Althoff, Konfliktverhalten und Rechtsbewußtsein. Die Welfen in der Mitte des 12. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 26, 1992, S. 331–352, hier S. 337 f. ( wieder in: Ders., Spielregeln [ wie Anm. 16 ], S. 65 ). Gesta ( wie Anm. 23 ) S. 288 Z. 5–11. Vgl. entsprechend Gunther der Dichter, Ligurinus, hg. von Erwin Assmann ( MGH SS rer. Germ. 63 ) Hannover 1987, 1, V. 450 f., S. 178: Nec reticere libet quedam manifesta severae / Pignora iusticiae strictique exempla rigoris. Gesta ( wie Anm. 23 ) S. 288 Z. 11–18: Sed et hoc silentio tegendum non erit, quod eadem die in eadem ecclesia Monasteriensis electus item Fredericus ab eisdem, a quibus et rex, episcopis in episcopum consecratur, ut revera summus rex et sacerdos presenti iocunditati hoc quasi prognostico interesse crederetur, quia in una ecclesia una dies duarum personarum, que sole novi ac veteris instrumenti institutione sacramentaliter unguntur et christi Domini rite dicuntur, vidit unctionem.
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durchaus zu erkennen, dass die Unbarmherzigkeit des Herrschers von den Anwesenden als außergewöhnlich und erklärungsbedürftig angesehen wurde. Otto bezeugt ausdrücklich die admiratio plurium, also die Bewunderung oder auch Verwunderung der Mehrzahl der Anwesenden angesichts der severitas Barbarossas 29, dessen Verhalten insbesondere etwa bei den Fürsten, die sich vergeblich als Fürsprecher eingesetzt hatten, verständlicherweise auf Unverständnis gestoßen sein dürfte. Daher legt der Chronist dem Herrscher eigens eine Rechtfertigung seines Verhaltens in den Mund, wonach dieser seinen Ministerialen eben ‚nicht aus Hass, sondern aus Gerechtigkeitssinn von seiner Gunst ausgeschlossen‘ 30 habe. Es ist dabei unsicher, ob man Ottos Bericht möglicherweise als bewussten Gegenentwurf zu Wipos Darstellung der Krönung und der ersten Regierungshandlungen Konrads II. verstehen darf 31. Wipo schildert bekanntlich bei den ersten Regierungshandlungen Konrads II., wie dieser sich auf dem Weg zur Königsweihe zunächst um die Klagen eines Bauern, eines Waisen, einer Witwe und eines weiteren Bittstellers kümmert, bevor er den Thron besteigt. Im Gegensatz zu Otto von Freising hebt Wipo mit Nachdruck und sehr plastisch die mustergültige gratia und miseratio des neu gewählten Königs hervor 32. Man kann nur vermuten, dass Otto von Freising diese Szene aus Wipos Gesta Chuonradi vor Augen hatte 33, als er in seiner Darstellung mit der severitas und dem rigor iustitiae, die er als Ausweis der constantia markierte oder aber gewissermaßen , offensichtlich ganz andere Leitvorstellungen des Herrscherethos thematisierte. Im Blick auf die Frage, ob Otto hier affirmativ ein neues Herrscherideal formulieren wollte 34 oder ob seine Darstellung vielmehr als Reflex und Verarbeitung 29
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Ebd. S. 289 Z. 7 wird admiratio mit ‚Bewunderung‘ übersetzt. Ebenso könnte aber auch gemeint sein. Deutsch zitiert nach ebd. Z. 5 f. Die Annahme, dass die Darstellung Wipos die Vorlage für den Gegenentwurf Ottos von Freising bildete, vertreten etwa Hans-Werner Goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising ( Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 19 ) Köln – Wien 1984, S. 296 Anm. 246; Keller, Idee ( wie Anm. 16 ) S. 127. Vgl. ähnlich Timothy Reuter, The Medieval German Sonderweg? The Empire and its Rulers in the high Middle Ages, in: Anne J. Duggan ( Hg. ), Kings and Kingship in Medieval Europe ( King’s College London Medieval Studies 10 ) London 1993, S. 179–211, hier S. 208. Sverre Bagge, Ideas and Narrative in Otto of Freising’s Gesta Frederici, in: Journal of Medieval Studies 22, 1996, S. 345–377, hier S. 350–353 stellt heraus, dass Otto mit der Krönungsszene vor allem ein positives Gegenbild zum Verhalten Heinrichs IV. und Heinrichs V. entworfen habe, wie er es im ersten Buch der Gesta dargestellt hat. Wipo, Gesta Chuonradi II. imperatoris, hg. von Harry Bresslau ( MGH SS rer. Germ. 61 ) Hannover – Leipzig 31915, V. De primis gestis Chuonradi regis, S. 26 Z. 11 – S. 27 Z. 27. Bei Gerd Althoff, Otto III. und Heinrich II. in Konflikten, in: Bernd Schneidmüller – Stefan Weinfurter ( Hgg. ), Otto III. – Heinrich II. Eine Wende? ( Mittelalter-Forschungen 1 ) Sigmaringen 1997, S. 77–94, hier S. 93 wird angedeutet, dass die Betonung der clementia, misericordia und iustitia Konrads II. in Wipos Darstellung als reale „Neuerungen im Zeremoniell der Königserhebung“ zu verstehen seien, die damit zu erklären wären, dass es Heinrich II. gerade an diesen Herrschertugenden „zumindest nach Meinung nicht weniger mangelte“. Zu Wipos Darstellung vgl. auch Ders., Demonstration und Inszenierung, Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in: Ders., Spielregeln ( wie Anm. 16 ) S. 229–257, hier S. 233–235 ( zuerst in: Frühmittelalterliche Studien 27, 1993, S. 27–50 ). Vgl. dazu Otto von Freising, Cronica sive historia de duabus civitatibus, hg. von Adolf Hofmeister ( MGH SS rer. Germ. 45 ) Hannover – Leipzig 21912, S. XCV. So Althoff, Königsherrschaft ( wie Anm. 16 ) S. 52 f.; Ders., Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: Ders., Spielregeln ( wie Anm. 16 ) S. 99–125, hier S. 102 ( auch in: Otto Gerhard Oexle – Werner Paravicini [ Hgg. ], Nobilitas. Funk-
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eines bestimmten herrscherlichen Verhaltens zu verstehen ist, erscheint mir die zweite Deutungsmöglichkeit angesichts des Textbefundes eindeutig als die plausiblere 35. Die ausdrücklich erwähnte admiratio plurium, also die admiratio der ‚Mehrzahl‘ und keineswegs aller ( ! ), und insbesondere die rechtfertigende Erklärung, mit der Otto den Herrscher sein Handeln kommentieren lässt, weisen m. E. darauf hin, dass Ottos Darstellung wahrscheinlich als Reaktion auf ein Verhalten Barbarossas zu deuten ist, das tatsächlich als außergewöhnlich unbarmherzig und daher erklärungsbedürftig wahrgenommen wurde und das wohl auch entsprechende Kritik hervorrief 36. Otto von Freising selbst beweist dabei hier wie auch an anderer Stelle in seinen ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein gegenüber dem Herrscher, indem er diesen nicht nur zum richtigen Verhalten ermahnte, sondern darüber hinaus mitunter auch mehr oder weniger versteckte Kritik zum Ausdruck zu brachte, die er dem Adressaten und Helden seines Werks durchaus vor Augen zu halten wusste 37. Dafür, dass Barbarossas Verhalten tatsächlich diskutiert und kritisiert wurde, scheint nicht zuletzt auch die Verarbeitung dieser Szene im sogenannten zu sprechen 38. Bei dem in den 80er Jahren des 12. Jahrhunderts entstandenen Ligurinus handelt es sich um ein panegyrisches Heldengedicht, das Kaiser Friedrich Bar-
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tion und Repräsentation des Adels in Alteuropa [ Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 133 ], Göttingen 1997, S. 27–52, S. 30 ); Keller, Idee ( wie Anm. 16 ) S. 127 ( mit weiterer Literatur ). Vgl. auch Reuter ( wie Anm. 31 ); Bagge ( wie Anm. 31 ). Von einer „Normveränderung“ seitens des Herrschers spricht Reinhard Schneider, Implizierte Normen königlichen Handelns und Verhaltens – Herrschaftspraxis in Abhängigkeit von ungeschriebenen Leitvorstellungen, in: Doris Ruhe – Karl-Heinz Spiess ( Hgg. ), Prozesse der Normbildung und Normveränderung im mittelalterlichen Europa, Stuttgart 2000, S. 203–316, hier S. 210. S. zum letzteren aber auch Anm. 37. So auch etwa Broekmann ( wie Anm. 24 ) S. 108–113; Hartmut Boockmann, Ghibellinen oder Welfen, Italien- oder Ostpolitik. Wünsche des deutschen 19. Jahrhunderts an das Mittelalter, in: Reinhard Elze – Pierangelo Schiera ( Hgg. ), Italia e Germania. Immagini, modelli, miti fra due popoli nell’Ottocento: Il Medievo. Das Mittelalter. Ansichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im neunzehnten Jahrhundert: Deutschland und Italien, Bologna – Berlin 1988, S. 127–150, hier S. 139–141. Auch Knut Görich, Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert ( Symbolische Kommunikation in der Vormoderne ) Darmstadt 2001, S. 311 f. kann in Ottos Darstellung kein „charakteristisches Zeichen für ein in frühstaufischer Zeit gewandeltes Verhältnis des Herrschers zum Recht“ erkennen, sondern betont demgegenüber zu Recht „die ungebrochene Lebendigkeit traditioneller Vorstellungen gegenüber einer angeblich neuartigen Gesetzesstrenge“. Darüber hinaus lässt er aber auch Zweifel an der Faktizität von Ottos Bericht anklingen, weil es ihm verdächtig erscheint, dass „sich die Fürsten ausgerechnet für einen Dienstmann eingesetzt haben sollen“. Davon geht auch Broekmann ( wie Anm. 24 ) S. 110 f. aus, wobei er Ottos Darstellung jedoch eindeutig als Versuch versteht, „Barbarossa in einer Situation, die offensichtlich Hautgout hatte, den Rücken zu stärken“. Ebd. S. 112. Ähnlich steht auch bei Dick ( wie Anm. 22 ) der apologetische Charakter ganz im Vordergrund, so dass mahnende oder gar kritische Untertöne des Chronisten ebenso wie bei Broekmann nicht in den Blick kommen. S. dazu Krieg ( Anm. 1 ) S. 208 f.; Ders., Gott und die Welt. Zum Geschichtsdenken im Mittelalter, in: Freiburger Universitätsblätter 179, 2008, S. 29–50, hier S. 48 und unten Abschnitt 2. Schon Schneider ( wie Anm. 34 ) S. 211 kam im Hinblick auf die Darstellung des Zwischenfalls bei Barbarossas Krönung zu der Einschätzung, man könne „sich des Eindrucks kaum erwehren, daß Otto von Freising verdeckt Kritik an der starren Haltung des neuen Königs habe üben wollen, wüßte man sicher, daß Otto von Freising den Geschichtsschreiber Wipo kannte, dann wäre die Annahme zur Gewißheit verdichtet.“ Auch wenn man nicht sicher sein kann, dass Wipos Darstellung tatsächlich als Vorlage diente, so bleibt Ottos implizite Kritik m. E. dennoch in jedem Fall deutlich genug erkennbar. S. dazu auch Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 207 f.
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barossa und seinen Söhnen gewidmet ist und eine ausschmückende, dichterische Umarbeitung der Ottos von Freising und Rahewins bietet 39. Der Autor namens Gunther stand offenbar in näherer Beziehung zur kaiserlichen Familie und konzipierte sein Werk für den staufischen Herrscherhof 40. Es zeichnet sich demgemäß durch einen ausgesprochen höfischen Charakter aus, der sich vor allem in der freimütigeren Propagierung weltlich-adliger Leitvorstellungen zeigt. Auch aus diesem Grund und gerade im Hinblick auf die hier behandelte Szene scheint mir dieses Heldenepos von besonderem Interesse zu sein, weil es eine vergleichende Betrachtung der Darstellung seiner Vorlage, der , ermöglicht. Gunther schreibt in seiner dichterischen Umgestaltung der Krönungsszene dem Herrscher nicht nur die ‚Liebe des strengen Rechts‘ ( stricti iuris amor ) 41 zu, sondern er spricht im Unterschied zu Otto von Freising auch ganz freimütig vom ‚gerechten Zorn‘ ( iusta ira ) 42 Barbarossas gegenüber dem in Ungnade gefallenen Ministerialen. Einerseits unterstreicht der Dichter die Notwendigkeit des herrscherlichen rigor, andererseits macht er jedoch ausdrücklich darauf aufmerksam, dass im Unterschied zu ihm selbst andere das Verhalten des Herrschers vielleicht tadeln würden ( forsitan hec alii culpent ) und dass der Herrscher damit rechnen musste, wegen seines Verhaltens üble Nachrede zu ertragen ( omnem sustulit invidiam ) 43! Die in den und im Ligurinus dargestellten Reaktionen der unmittelbar Anwesenden und anderer zeitgenössischer Beobachter sowie die Bestimmung beider Werke für den Herrscher und den Hof, wo man noch am ehesten eine Kenntnis des Geschehens bei der Aachener Krönung vermuten darf, deuten m. E. darauf hin, dass hier ein reales Ereignis – Broekmann spricht von einem „peinlichen Zwischenfall“ 44 – historiographisch verarbeitet und damit in rechtfertigender Stilisierung gewissermaßen wurde 45. Das Verhalten Barbarossas nahm man dabei nicht nur als außergewöhnlich, sondern zumindest teilweise auch als problematisch und kritikwürdig wahr. Die Strenge seines Handelns bedurfte einer besonderen Rechtfertigung, weil die unbarmherzige Verweigerung der Gnade offensichtlich jener Handlungsnorm widersprach, welche die allem Anschein nach immer noch als gültig angesehene christliche Herrschertugend der clementia vorgab.
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Ebd. S. 30. Ebd. S. 31–33. Gunther der Dichter ( wie Anm. 27 ) 1, V. 470, S. 179. Ebd. V. 455, S. 179. Ebd. V. 474–479, S. 179 f.: Forsitan hec alii culpent; ego nobile factum / Laudo viri dignumque voco gestare potenti / Sceptra manu, qui sic animum pietate repressa / Continuit cunctisque sui documenta rigoris / Certa dedit. Plus saepe nocet paciencia regis / Quam rigor: … Broekmann ( wie Anm. 24 ) S. 110. Vgl. ähnlich Boockmann ( wie Anm. 35 ) hier S. 140, wo von einem „unangenehmen Zwischenfall“ die Rede ist. Vgl. Gerd Althoff, Die Historiographie bewältigt. Der Sturz Heinrichs des Löwen in der Darstellung Arnolds von Lübeck, in: Bernd Schneidmüller ( Hg. ), Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter, Wiesbaden 1995, S. 163–182 ( wieder in: Gerd Althoff, Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 190–210 ).
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Heinz Krieg 2. FRIEDRICH BARBAROSSA VOR TORTONA
Von der besonderen severitas Friedrich Barbarossas ist, was kaum überraschen dürfte, besonders häufig im Zusammenhang mit seinen langjährigen Kämpfen gegen die italienischen Städte die Rede 46. Auch stauferfreundliche Autoren schreiben hier Barbarossa immer wieder eine besondere Härte und Strenge zu und berichten darüber hinaus auch häufiger vom Zorn und von der Wut des Herrschers – Verhaltensweisen also, die zwar nicht in jedem Fall, aber doch sehr leicht als unangemessen kritisiert werden konnten. Zwar war die severitas selbst aus geistlicher Sicht ein unverzichtbarer Bestandteil der iustitia des Herrschers, der die Guten belohnen, die Schlechten aber durch harte Bestrafung zügeln musste. Doch war der gerechte christliche Herrscher stets gehalten, „den richtigen Mittelweg zwischen der strafenden Gerechtigkeit und der verzeihenden Milde, zwischen der iustitia und der clementia“ 47, zu finden, wobei letztere regelmäßig als Ausgleich zur Strenge der iustitia gefordert wurde 48. Die Forschung hat nun aber – hier sind vor allem Gerd Althoff und Hagen Keller zu nennen – einen im 11. Jahrhundert einsetzenden Wandel in der königlichen Herrschaftspraxis festgestellt: Die Herrscher suchten demzufolge Konflikte zunehmend durch gerichtliche Entscheidungen und nicht mehr vorrangig auf dem Verhandlungsweg und durch die demonstrative Gewährung von Gnade zu lösen, womit auch in der Herrscherdarstellung die severitas des königlichen Richters gegenüber der misericordia und clementia stärker in den Vordergrund rückte 49. Dennoch blieben neben der Härte und Strenge die Milde und Barmherzigkeit grundlegende Elemente des herrscherlichen Tugendkatalogs und ein Übermaß an Strenge stieß weiterhin auf Kritik 50. Neben der Tendenz, die herrscherliche Strafgewalt zu betonen, dürfte im Übrigen auch die verstärkte Betonung der Sorge um den weltlichen honor dazu beigetragen haben, dass Härte und Rigorosität in der Herrscherdarstellung eine größere Bedeutung gewannen. Jedenfalls traten die typisch christlichen Tugenden der Demut und Barmherzigkeit bei einem an der adligen Ehre orientierten Denken und Handeln eher in den Hintergrund. Daher könnte die Betonung der unerbittlichen Rechtsgesinnung Barbarossas, die beispielsweise Otto von Freising als strenges Festhalten an herausstellt und damit in das Leitbild des christlichen rex iustus et pacificus einpasst, in gewisser Weise auch ein Mittel sein, ein in Wirklichkeit vorrangig am welt-
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S. auch zum Folgenden Krieg ( wie Anm. 1 ) besonders S. 196–226. Hans Kurt Schulze, Königsherrschaft und Königsmythos. Herrscher und Volk im politischen Denken des Hochmittelalters, in: Helmut Maurer – Hans Patze ( Hgg. ), Festschrift für Berent Schwineköper zu seinem 60. Geburtstag, Sigmaringen 1982, S. 177–186, hier S. 181. S. Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 196 f. Vgl. Althoff, Königsherrschaft ( wie Anm. 16 ); Keller, Herrscherbild ( wie Anm. 16 ). Bei Althoff, Königsherrschaft ( wie Anm. 16 ) S. 288 ist mit Verweis auf Otto von Freisings Darstellung der Verweigerung herrscherlicher Gnade bei Barbarossas Krönung und die Behandlung politischer Gegner in der Stauferzeit von einem „Sieg der iustitia über die clementia“ die Rede. Doch stellt Ders., Otto III. ( wie Anm. 32 ) S. 84–94 schon im Verhalten Kaiser Heinrichs II. eine ungewöhnliche Härte fest, die bei den Zeitgenossen auf Kritik stieß. Zum Wandel der Vorstellungen von der Gerechtigkeit des Königs und der königlichen Rechtswahrung s. auch Keller, Idee ( wie Anm. 16 ). S. Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 198 und ebenso Görich ( wie Anm. 35 ) S. 298 f., wonach „die traditionellen Herrschertugenden zur Zeit Barbarossas keineswegs generell hinter einen neuartigen rigor iustitiae“ zurücktraten. S. dazu auch oben Anm. 35.
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lichen honor ausgerichtetes Verhalten umzudeuten und es dadurch rechtlich und religiös zu legitimieren 51. Empörung ( indignatio ) und Zorn ( ira ), wie sie gerade für Barbarossa häufig bezeugt sind 52, waren zunächst typische Reaktionen bei Ehrverletzungen und sie entsprachen durchaus adligen Normvorstellungen 53. Selbst aus geistlicher Sicht konnten Empörung und Zorn zumindest denjenigen gegenüber, die sich als superbi gegen die gottgewollte Ordnung erhoben, durchaus als gerechtfertigt erscheinen 54. Doch wurde vom Herrscher in den karolingischen Fürstenspiegeln ebenso wie auch wieder im 12. Jahrhundert im des Johannes von Salisbury stets gefordert, dass er Zornesausbrüche überhaupt unterdrückt und sich keinesfalls durch iracundia vom maßvollen und gerechten Handeln abbringen lässt 55. Unbeherrschtheit galt immer als Laster, das gerade der Herrscher tunlichst zu vermeiden hatte. Die Kontrolle von Emotionen und Leidenschaften wurde sicher nicht zu Unrecht als wichtige Voraussetzung für gute und gerechte Herrschaft angesehen 56. Nicht zuletzt forderte auch das ritterlich-höfische Ideal die Zügelung der Leidenschaften. Und die mâze, also die Mäßigung und Selbstbeherrschung, war eine zentrale ritterliche Verhaltensnorm, die als temperantia oder moderatio bereits in der Antike zu den grundlegenden Herrschertugenden zählte 57.
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S. Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 198 f. Ebd. S. 199. S. Gerd Althoff, Ira regis: Prolegomena to a History of Royal Anger, in: Barbara H. Rosenwein ( Hg. ), Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, Ithaca – London 1998, S. 59–74, hier S. 74. Mit Blick auf die Entwicklung des Königtums seit der Karolingerzeit bis zum sogenannten Investiturstreit erklärt Althoff, dass die Gewohnheiten herrscherlichen Verhaltens zu dieser Zeit eigentlich kaum einen „Raum für die Demonstration königlicher Strenge oder gar königlichen Zorns“ gelassen hätten. Althoff, Otto III. ( wie Anm. 32 ) S. 79. Für das 12. Jahrhundert konstatiert Althoff „the renaissance of royal anger“, wobei es sich um eine <Wiedergeburt> königlichen Zorns handelt, wie ihn Althoff bereits bei den Merowingern konstatiert. S. Ders., Ira regis, S. 62–64, S. 74 ( Zitat ). S. Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 196 und vgl. etwa Helmut Nörenberg, Die Darstellung Friedrich Barbarossas in den Gesten Ottos von Freising mit Hinblick auf Ottos augustinische Geschichtsauffassung, Phil. Diss. Greifswald 1917, S. 33 f. Nach Pseudo-Cyprian, De duodecim abusivis saeculi, hg. von Siegmund Hellmann ( Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 34, 1 ) Leipzig 1910, S. 52 Z. 1 erfordert es die Gerechtigkeit des Königs, iracundiam differe. Adalbold von Utrecht, Vita Heinrici, hg. von H. van Rij ( Nederlandse Historische Bronnen 3 ) Amsterdam 1983, 22, S. 68–70: … quia ira et festinatio semper inimicae sunt consilio. Policratici sive de nugis curialium et vestigiis philosophorum libri VIII, hg. von Clemens C. J. Webb, Oxford 1909, IV, 3, S. 239 Z. 2–7: Hic siquidem gladius est columbae, quae sine felle rixatur, sine iracundia ferit et, cum dimicat, nullam omnino concipit amaritudinem. Nam, sicut lex culpas persequitur sine odio personarum, ita et princeps delinquentes rectissime punit, non aliquo iracundiae motu sed mansuetae legis arbitrio. Wipo ( wie Anm. 32 ) 3, S. 21 Z. 14 – S. 22 Z. 1 zufolge sind diejenigen, die die Königswürde mit Hochmut, Neid, Begierden, Habsucht, Zorn, Ungeduld und Härte besudeln, ihrer unwürdig und reichen sich sowie allen ihren Untergebenen ‚den gefährlichen Trank des Unrechts‘. Vgl. Hagen Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024 bis 1250, Frankfurt a. M. – Berlin 1990 ( = Propyläen Geschichte Deutschlands 2, Frankfurt a. M. – Berlin 1986 ) S. 111; Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 200. Vgl. Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 73. S. auch zum Folgenden ebd., S. 200. S. Ehrismann ( wie Anm. 21 ) S. 130 f.; Bumke ( wie Anm. 3 ) S. 418 f.; Friedrich Zunkel, Art. <Ehre, Reputation>, in: Otto Brunner – Werner Conze – Reinhart Koselleck ( Hgg. ), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 2, Stuttgart 1975,
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Heinz Krieg
Nach diesen allgemeineren Vorbemerkungen soll nun beispielhaft das Vorgehen Barbarossas bei der Unterwerfung Tortonas näher betrachtet werden. Als die Stadt Tortona im März 1155 bereits mehr als einen Monat lang von den kaiserlichen Truppen belagert worden war und die Stadtbewohner Otto von Freising zufolge schon unter unerträglichem Wassermangel und Durst schwer zu leiden hatten, seien in der Zeit der Waffenruhe über die Osterfeiertage am Karfreitag ‚die mit den Stadtbewohnern eingeschlossenen Kleriker und Mönche in ihren heiligen Gewändern mit Kreuzen, Weihrauchfässern und den übrigen Geräten des christlichen Ritus durch die geöffneten Tore‘ zu Barbarossas Lager gezogen, um diesen zu bitten, wenigstens sie, also die am militärischen Konflikt unbeteiligte Geistlichkeit, zu schonen 58. Doch Barbarossa verweigerte den Tortoneser Geistlichen den Zutritt zu seinem Lager. Erfolglos hätten sie an die Barmherzigkeit des Herrschers appelliert, indem sie daran erinnerten, dass der irdische Fürst den himmlischen nachahmen sollte und daher, wenn sich in einer Stadt Hochmütige ebenso wie Demütige befänden, der Demütige nicht mit dem Hochmütigen zu bestrafen sei 59. Dabei wirkt es alles andere als überzeugend, wenn Otto von Freising dem Herrscher als Reaktion auf die Bitte der Geistlichen eine ‚innerliche Neigung zum Mitleid‘ zuschreibt, während Barbarossa ‚nach außen hin‘ tatsächlich in seiner Strenge verharrte, um ‚den Verdacht der Schwäche zu vermeiden‘ 60. Allzu durchsichtig mutet der Versuch des Chronisten an, die tatsächlich geübte herrscherliche Unbarmherzigkeit durch die Zuschreibung einer unsichtbaren Gefühlsregung gewissermaßen ein Stück weit zu entschärfen und <erträglicher> erscheinen zu lassen. Die Strenge des Herrschers gegenüber der belagerten Stadt beziehungsweise gegenüber den Tortoneser Geistlichen erforderte in diesem Fall offenbar eine Rechtfertigung, und die ‚innerliche‘ misericordia mutet dabei sozusagen wie ein Tribut an das
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S. 1–63, hier S. 8. Keller, Bildnis ( wie Anm. 16 ) S. 190 verweist darauf, dass „die temperantia, die Mäßigung, … durchaus so verstanden [ wurde ], daß sie den Herrscher auch vor überzogener Härte oder Strenge bewahren soll“. Siehe zum Folgenden Gesta ( wie Anm. 23 ) 26, S. 328–335. Deutsches Zitat nach ebd. S. 329 Z. 8–11. Görich ( wie Anm. 35 ) S. 191 macht hierzu darauf aufmerksam, dass die – so nur bei Otto von Freising überlieferte – „angebliche Bitte um freien Abzug nur des Klerus … singulär“ ist. Ihm zufolge wäre eher davon auszugehen, dass die Geistlichen für die Stadt selbst vermitteln sollten. S. auch ebd. S. 202. Zum Folgenden s. Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 208–211. Gesta ( wie Anm. 58 ) S. 332 Z. 11–13: Imitetur princeps terre principem celi, et si in eadem civitate cum superbo humilis inveniatur, non tamen cum superbo humilis puniatur. Ebd. 27, S. 334 Z. 27–30: Cognitis his princeps animum quidem intus ad misericordiam flexum presensit, sed dissolutionis suspicionem vitans extra eum in prioris severitatis constantia servavit, illis ut ad arcem redeant, iussis. Vgl. dazu auch Nörenberg ( wie Anm. 54 ) S. 35 f.: „Zwischen die beiden Tatsachen der Bitte und der Zurückweisung schiebt Otto die konstruierte mitleidige Erregung und den ebenfalls konstruierten Entschluss, nicht schwach zu erscheinen; … Güte und Weichheit des Herzens zeigt der ottonische Friedrich also selbst da noch, wo es äusserlich garnicht so scheint.“ Klaus Schreiner, Friedrich Barbarossa – Herr der Welt, Zeuge der Wahrheit, die Verkörperung nationaler Macht und Herrlichkeit, in: Die Zeit der Staufer 5, Stuttgart 1979, S. 521–579, hier S. 525 kommentiert diese Szene dagegen dahingehend, dass der Freisinger Bischof „Hartherzigkeit … offenkundig für eine kaiserliche Amtspflicht“ gehalten habe. Demgegenüber deutet auch etwa Bagge ( wie Anm. 31 ) S. 362 an, dass Otto das Verhalten gegenüber den Geistlichen möglicherweise als „somewhat too stern“ ansah. Im Übrigen spricht Otto von Freising die miseratio und mansuetudo Barbarossas explizit überhaupt nur ein einziges Mal an, nämlich gerade im vorliegenden Zusammenhang, als er berichtet, dass der Herrscher den Tortonesen schließlich ihr Leben schenkt. S. Gesta ( wie Anm. 23 ) 28, S. 336 Z. 15–17.
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christliche Herrscherethos und wie eine Art Gegengewicht zur tatsächlich geübten Unbarmherzigkeit an. Otto von Freising liefert Zweifeln an Barbarossas ‚innerlich‘ barmherziger Haltung selbst weitere Nahrung, indem er erklärt, dieser habe zwar für das schlimme Los der Geistlichen Mitleid empfunden, sich aber gleichzeitig über ‚das Schicksal des hochmütigen Volkes‘ gefreut, ‚das, wie er aus diesem Anzeichen erkannte, fast ohne Hoffnung und der Verzweiflung nahe war‘ 61. Ottos Darstellung bezeugt damit Barbarossas freudige Erwartung der sich bereits abzeichnenden, vollkommenen Niederlage der gegnerischen Stadt, die ihm einen triumphalen Sieg bescheren sollte, der, wie der Chronist hier suggeriert, für ihn wichtiger war als die aus christlicher Sicht geforderte Barmherzigkeit. Die Rede, die Otto von Freising den Tortoneser Geistlichen in den Mund legt, enthält an dieser Stelle den indirekt formulierten Vorwurf des Chronisten, Barbarossas Verhalten gegenüber Tortona sei von ungerechter Parteilichkeit bestimmt und schädlich für den honor von Herrscher und Reich. Knut Görich hat Barbarossas Verhalten vor Tortona eindringlich untersucht und dabei auch darauf aufmerksam gemacht, wie Otto von Freising hier sehr schwerwiegende Kritik zum Ausdruck bringt 62. Denn in Ottos Darstellung werfen die Tortoneser Geistlichen dem Herrscher im Grunde Bestechlichkeit vor, nämlich, dass er sich von der gegnerischen Stadt Pavia habe kaufen lassen. Äußerst bemerkenswert ist es, wenn Otto die Geistlichen in nur vermeintlicher Abschwächung ihrer Kritik, schließlich noch erklären lässt, dass es ihnen letztlich ja eigentlich gar nicht zukomme, über die tiranni terre zu urteilen 63. Damit aber wird Barbarossa fast beiläufig den ‚Tyrannen der Erde‘ zugeordnet! Die massive Kritik, die diese Formulierung beinhaltet, geht im Übrigen in der deutschen Übertragung der Freiherr vom Stein-Ausgabe vollständig verloren, indem tiranni dort sinnentstellend mit ‚Mächtige‘ übersetzt wird 64. Die Versfassung im ersetzt die innerliche misericordia des Herrschers aus ihrer Vorlage in inhaltlich adäquater Weise durch eine oculta pietas, also eine ‚verborgene Güte/Milde‘, doch erklärt der Ligurinusdichter auch unmissverständlich, dass Barbarossa hier ein Exempel zu statuieren gedachte 65. Er vergleicht dabei Barbarossas Verhalten ausdrücklich mit dem des Weltenrichters, der in seinem Zorn die Verdammten in das ewige Feuer der Hölle stürzt, weil sie, immer wieder ermahnt, den Mahner stets missachteten 66. Während Otto von Freising es noch als Zeichen des Erbarmens beziehungsweise der Milde des Herrschers wertet, dass dieser Tortona zwar 61
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Gesta ( wie Anm. 23 ) 27, S. 334 Z. 30 – S. 336 Z. 2: Condescendebat misere cleri sorti, sed subridebat superbi populi fortune, quem hoc indicio quasi desperatum et desolationi proximum animadvertebat. Deutsche Übersetzung in Anlehnung an ebd. S. 337 Z. 1 f. Zu dieser Rede und zur Auseinandersetzung um Tortona 1155 s. Görich ( wie Anm. 35 ) S. 187–214. Vgl. auch Ders., Der Herrscher als parteiischer Richter. Barbarossa in der Lombardei, in: Frühmittelalterliche Studien 29, 1995, S. 273–288. Gesta ( wie Anm. 58 ) S. 334 Z. 9–12: Sed quid ad nos de talibus? Nos miserum vulgus, nos Dei tantum servitio mancipati nostram intueamur sortem. Nichil ad nos de tirannis terre. S. dazu Görich ( wie Anm. 35 ) S. 208 f. Gunther der Dichter ( wie Anm. 27 ) 3, V. 125–128, S. 238: Qui [ sc. imperator ( d. Verf. ) ] tamen oculta tactus pietate, laborem / Dissimulans animi, documentaque magna suique / Exemplum sanctire volens, ad tuta redire / Imperat et clausam miseros compellit in arcem. Ebd. V. 129–134, S. 238.
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plündern und zerstören ließ, den Einwohnern aber ‚Leben und Freiheit‘ geschenkt habe 67, stellt Gunther freimütig fest, dass den Tortonesen als größte Gnade ‚lediglich‘ ihr Leben geschenkt worden sei. Zudem merkt er noch an, dass ihnen der Herrscher dies nur ungern und erst auf die dringenden Bitten seiner Großen hin zugestanden habe 68. Anders als in den zeitgenössische Darstellungen italienischer Chronisten, denenzufolge die Auseinandersetzungen Barbarossas mit den italienischen Städten ganz im Sinne der adligen Wertewelt vorrangig vom Kampf um die Wahrung des honor, der Ehre, bestimmt waren, fassen Otto von Freising und auch noch der Ligurinusdichter das Geschehen um die Eroberung und Zerstörung Tortonas in rechtlichen Kategorien und suchen das Verhalten des Herrschers in der Rolle des gerechten Richters nicht nur vor dem Hintergrund adliger, sondern auch christlicher Normvorstellungen einzuordnen 69. Die Zwiespältigkeit der stauferfreundlichen Darstellungen, die im Falle der Unterwerfung Tortonas einerseits die Strenge und Unbarmherzigkeit des richtenden Herrschers herausstellen und andererseits bei ihm zugleich noch unsichtbares Mitleid erkennen wollen, scheint darauf hinzudeuten, dass hier versucht wurde, ein Herrscherverhalten, das wohl real vor allem laienadligen Normen verpflichtet war, mit den ebenfalls als verpflichtend verstandenen christlichen Normen in Einklang zu bringen. Die indirekte Kritik, wie sie bei Otto von Freising greifbar wird, verweist aber darauf, dass selbst Autoren, die dem Herrscher prinzipiell freundlich gesinnt waren, bestimmte Verhaltensweisen Barbarossas nicht mehr mit ihren eigenen Vorstellungen vom richtigen Herrscherverhalten vereinbaren konnten 70. Dass Barbarossas Verhalten mitunter auch bei stauferfreundlichen Autoren als Normverletzung und als problematisch beurteilt wurde, gilt dabei nicht nur für Otto von Freising. Vielmehr ist dies gerade im Hinblick auf den herrscherlichen Zorn häufiger und zwar selbst im Heldenepos des Ligurinusdichters zu beobachten, der dem Stauferkaiser ansonsten gänzlich unkritisch gegenübersteht 71. Obwohl das Epos, dessen Darstellung in besonderer Weise von der adligen Wertewelt bestimmt ist, einen ausgeprägt panegyrischen Charakter aufweist, bezeugt auch der Ligurinusdichter Gunther, dass der herrscherliche Zorn zur Gefahr für die bona fama, also den guten Ruf, 67
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Gesta ( wie Anm. 23 ) 28, S. 336 Z. 15–17: …, animabus solum ex miseratione et mansuetudine principis saluti et libertati datis, civitas primo direptioni exposita excidio et flamme mox traditur. Gunther der Dichter ( wie Anm. 27 ) 3, V. 162–164, S. 240: … tantumque reis pro munere summo – / Id quoque vix procerum precibus multoque rogatu – / Est concessa salus. Auf diesen Unterschied zur Darstellung Ottos machte schon Joseph Sturm, Der Ligurinus. Ein deutsches Heldengedicht zum Lobe Kaiser Friedrich Rotbarts ( Studien und Darstellungen aus dem Gebiete der Geschichte 8, 1/2 ) Freiburg i. Br. 1911, S. 96 aufmerksam. Der Ligurinusdichter zeigt sich verglichen mit Otto von Freising auch insofern freimütiger, als er ganz klar zu erkennen gibt, dass die Eroberung von Tortona „eine Gefälligkeit des Königs gegenüber Pavia“ war, für die sich die Pavesen auch entsprechend revanchieren wollten. S. Gunther der Dichter ( wie Anm. 27 ) 3, V. 177–188, S. 240 f. Zitat ebd. S. 240 Anm. 100. Im Übrigen wird Barbarossa in Gunthers Darstellung auch der Gestavorlage gemäß mit der unangenehmen Wahrheit konfrontiert, dass die mit ihm verbündeten Pavesen die Herrschaft des königlichen Pfalzgrafen gewaltsam abgeschüttelt und ihn von sich abhängig gemacht hatten, wobei dieser ausdrücklich als concors et regius aulae potens princeps bezeichnet wird. Vgl. ebd. V. 62–93, S. 235 f. Vgl. dazu auch Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 176 f., 201–203. Vgl. Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 211. S. zum Folgenden ebd. S. 204 f.
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werden konnte. So berichtet er, Barbarossa habe sich durch das Vorgehen der Griechen in Süditalien getäuscht und so sehr in seiner Ehre verletzt gefühlt, dass er darauf mit heftigstem Zorn reagierte 72. Für die ihm angetane Schmach habe er sich daher an den griechischen Gesandten rächen wollen, was nur durch die Mahnung der Großen seines Gefolges verhindert werden konnte, die den Herrscher daran erinnerten, ‚den eigenen guten Ruf vom Groll nicht verdunkeln zu lassen‘ 73. Ein weiteres, explizites Zeugnis für die Problematik unmäßigen herrscherlichen Zorns bieten beispielsweise auch die sogenannten <Marbacher Annalen>. Im Zusammenhang mit dem Papstschisma, das der Autor im Rückblick als ‚fluchwürdig‘ und ‚schrecklich‘ kennzeichnet 74, ist dort davon die Rede, Barbarossa sei, als ihm einige Bischöfe eingeredet hätten, dass die Papstwahl von jeher nicht ohne Rat und Zustimmung des Kaisers vollzogen worden sei, ‚mehr, als er durfte, von Zorn entflammt‘ ( plus quam debuit ira succensus ) 75. 3. FRIEDRICH BARBAROSSA ALS HERRSCHERLICHER KREUZRITTER
In der Rolle des herrscherlichen Kreuzritters wird Friedrich Barbarossa in der Weltchronik eines ausgesprochen monastisch orientierten Geschichtsschreibers präsentiert, der nicht dem personellen Umfeld des Stauferhofes entstammte, sondern sein Werk im Schwarzwaldkloster St. Blasien niederschrieb, das damals unter dem Einfluss der Herzöge von Zähringen stand 76. Diese wohl um 1209/10 verfasste Weltchronik 72
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Gunther der Dichter ( wie Anm. 27 ) 5, V. 361–433, S. 316–320. Ebd. V. 367, S. 316 ist von den graves offensi caesaris iras die Rede, vor denen sich die griechischen Gesandten fürchteten. S. auch ebd. V. 409 f., S. 319: Quod satis indignum caesar penitusque pudendum / Duxit, et ingenti turbatus inhorruit ira. Ebd. V. 423–428, S. 319 f. Ebd. V. 427 f., S. 320: Ni bona pars procerum legatis parcere regem / Censeret famamque bonam preferre dolori. Deutsches Zitat nach Gunther, Ligurinus. Ein Lied auf den Kaiser Friedrich Barbarossa, aus dem Lateinischen übersetzt und erläutert von Gerhard Streckenbach ( mit einer Einführung von Walter Berschin ) Sigmaringendorf 1995, V. 425–428, S. 110. Doch der ‚wilde Zorn‘ Barbarossas beruhigt sich erst, als die Fürsten einen Heerzug nach Apulien beschwören. Gunther der Dichter ( wie Anm. 27 ) 5, V. 429–433, S. 320, V. 431, S. 320: Non tamen invicti fera principis ira resedit, … Auch Otto von Freising weist darauf hin, dass Barbarossa, der indignatione motus gewesen sei, sich erst durch die Bitten einiger Ratgeber habe erweichen lassen, den Gesandten endlich doch Audienz zu gewähren: Tandem inclinatus quorundam precibus audientium eis prestare disponuit, … Gesta ( wie Anm. 23 ) 51, S. 384 Z. 12 f. Annales Marbacenses qui dicuntur, hg. von Hermann Bloch ( MGH SS rer. Germ. 9 ) Hannover – Leipzig 1907, S. 53 Z. 15 f.: Huius execrabilis et horrende scismatis causa hec fuit. Ebd. Z. 16–20, Z. 19 f.: … nimium credulus et plus quam debuit ira succensus, … Vgl. auch etwa ebd. S. 52 Z. 16, wo Barbarossa in der Auseinandersetzung mit Heinrich dem Löwen als nimium exacerbatus bezeichnet wird. Die Zähringer verfügten über die Klostervogtei. S. dazu Petra Skoda, St. Blasien, Rudolf von Rheinfelden und die Zähringer, in: Heinz Krieg – Alfons Zettler ( Hgg. ), in frumento et vino opima. Festschrift für Thomas Zotz zu seinem 60. Geburtstag, Ostfildern 2004, S. 181–194. Zur Sanblasianer Weltchronik und zum Folgenden vgl. Heinz Krieg, Die Zähringer in der Darstellung Ottos von St. Blasien, in: ebd., S. 39–58. Zum Konkurrenzverhältnis zwischen Staufern und Zähringern s. Karl Schmid, Staufer und Zähringer. Über die Verwandtschaft und Rivalität zweier Geschlechter, in: Die Staufer in Schwaben und Europa ( Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst 5 ) Göppingen 1980, S. 64–80; Gerd Althoff, Die Zähringer – Herzöge ohne Herzogtum, in: Karl Schmid ( Hg. ), Die Zähringer. Schweizer Vorträge und neue Forschungen ( Veröffentlichung zur Zähringer-Ausstellung 3 ) Sigmaringen 1990, S. 81–94; Thomas Zotz, Die frühen Staufer, Breisach und das Zähringerland, in: Franz J.
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des Mönchs Otto von St. Blasien bietet unter Benutzung der historiographischen Werke Ottos von Freising und Rahewins eine Reichsgeschichte im Anschluss an die Weltchronik Ottos von Freising, deren zeitgeschichtliche Darstellung der Sanblasianer Mönch bis zur Kaiserkrönung Ottos IV. fortgesetzt hat 77. Trotz seines Interesses an der Reichsgeschichte und besonders an der Zeit und Herrschaft Friedrich Barbarossas lässt Otto von St. Blasien im Gegensatz zum dezidiert höfisch orientierten Ligurinusdichter Gunther gegenüber der vor allem vom Streben nach irdischem Ruhm und weltlicher Ehre geprägten Welt des Laienadels und zum Teil auch gegenüber dem Stauferkaiser selbst eine gewisse Distanz erkennen. Von dieser Haltung zeugt insbesondere seine Schilderung des berühmten Mainzer Hoftags von 1184, der als glanzvoller Kristallisationspunkt ritterlich-höfischer Kultur und zugleich als Schlüsselereignis für die Verbindung zwischen dem staufischen Herrscher und der ritterlichen Kultur gilt 78. Es ist bezeichnend für die Bedeutung des Mainzer Festes, bei dem zwei Söhne Friedrich Barbarossas mit feierlichem Zeremoniell zu Rittern erhoben wurden ( novi ordinati sunt milites ) 79, dass es im , obwohl dessen Berichtszeitraum eigentlich nur bis zum Jahr 1160 reicht, dennoch rühmend erwähnt wird 80 – ähnlich wie das nicht zuletzt auch im Eneasroman Heinrichs von Veldeke geschieht 81. Auch Otto von St. Blasien schildert eingehend den außergewöhnlichen Glanz der Prachtentfaltung des Kaisers und der Großen des Reichs auf diesem Fest 82: Jeder habe dabei, um die Großartigkeit ( magnificentia ) seiner Würde zu demonstrieren, in ehrgei-
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Felten – Stephanie Irrgang – Kurt Wesoly ( Hgg. ), Ein gefüllter Willkomm. Festschrift für Knut Schulz, Aachen 2002, S. 53–72; Heinz Krieg, Adel in Schwaben: Die Staufer und die Zähringer, in: Hubertus Seibert – Jürgen Dendorfer ( Hgg. ), Grafen, Herzöge, Könige. Der Aufstieg der frühen Staufer und das Reich ( 1079–1152 ) ( Mittelalter-Forschungen 18 ) Ostfildern 2005, S. 65–97. Otto von St. Blasien fügte an das 33. Kapitel des siebten Buches der Weltchronik Ottos von Freising 52 neue Kapitel über den Zeitraum von 1146 bis 1209 an. Vgl. zum Autor und seinem Werk Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 37–39; Ders., Zähringer ( wie Anm. 76 ). S. Josef Fleckenstein, Friedrich Barbarossa und das Rittertum. Zur Bedeutung der großen Mainzer Hoftage von 1184 und 1188, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag II ( Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36, 2 ) Göttingen 1972, S. 1023–1041 ( wieder in: Arno Borst [ Hg. ], Das Rittertum im Mittelalter, Darmstadt 31998, S. 392–418 ) hier S. 1027, mit Verweis auf Karl Hampe, der die Mainzer Hoftage Barbarossas bereits als „Durchbruchspunkt einer neuen Kulturströmung“ bezeichnete. Vgl. dazu auch Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 167 f. ( mit weiterer Literatur ); Ders., Friedrich Barbarossa und das Rittertum ( erscheint in: Friedrich Barbarossa und sein Hof [ Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst ] Göppingen 2009 ). La Chronique de Gislebert de Mons, hg. von Léon Vanderkindere ( Recueil de Textes pour servir à l’étude de l’Histoire de Belgique ) Brüssel 1904, S. 156. Dem Ligurinusdichter zufolge seien zu diesem Mainzer Hoftag Fürsten aus der ganzen Welt zusammengerufen worden, so dass es niemals zuvor eine curia von solcher Größe gegeben habe und auch zukünftig keine vergleichbare zu erwarten sei. Gunther der Dichter ( wie Anm. 27 ) 5, V. 353–355, S. 316: …, cum de toto semel orbe vocatos, / Quanta nec ante fuit nec creditur esse futura, / Monguntina suos aspexit curia patres. Bei der Schilderung der Hochzeit von Eneas und Lavinia verweist Heinrich von Veldeke vergleichend auf das Mainzer Hoffest. Dem Kaiser sei damals ‚so viel Ehre‘ ( sô menich êre ) erwiesen worden, dass man noch bis an den Jüngsten Tag davon sprechen werde. Helmut De Boor ( Hg. ), Mittelalter. Texte und Zeugnisse ( Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse I, 2 ) München 1965, S. 1003 Z. 24–29: … / den keiser Frederîke / geskiede sô menich êre, / dat man iemer mêre / wonder dâ vane seggen mach / went an den jongesten dach / âne logene vor wâr. Vgl. Fleckenstein ( wie Anm. 78 ) S. 1032 f. S. zum Folgenden auch Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 167–170.
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zigster Weise Aufwand getrieben. Im Überfluss der Lebensmittel, der Mannigfaltigkeit der Kleidung, den Behängen der Pferde und dem Vergnügen der Schauspiele habe nichts gefehlt, um – so das kritische Urteil des Mönchs aus St. Blasien – ‚den Ruhm des irdischen Elends‘ vor Augen zu führen 83. Unmissverständlich gibt gerade diese unter den stauferzeitlichen Chronisten ganz einsame Stimme zu erkennen, dass die ritterlichhöfischen Verhaltensweisen des Adels durchaus in Gegensatz zu jenen Anforderungen geraten konnten, die an den christlichen Ritter, den demütigen miles Christi, aus geistlicher Sicht gestellt wurden 84. Dass auf dem Mainzer Hoftag die ‚Söhne dieser Welt‘ bei ihrem Treiben ihre Weisheit, die vor Gott Torheit sei, missbraucht hätten, habe dann, wie der Chronist betont, schließlich Gott selbst durch ein sichtbares Zeichen bewiesen. Denn ein heftiger Sturm habe die Kapelle des kaiserlichen Palasts und viele andere Gebäude, die allesamt eigens für das Fest errichtet worden waren, völlig zerstört und auf diese Weise alle Teilnehmer mit Zweifeln erfüllt, ‚so dass sie, von größtem Schrecken erschüttert, beinahe den Ort verlassen hätten‘, wobei die Weisen unter ihnen dieses Unglück sogleich als schlechtes Vorzeichen gedeutet hätten 85. Das Spannungsverhältnis zwischen der von christlichen Normen geprägten Perspektive des Mönchs aus St. Blasien und den von ihm mit kritischer Distanz beschriebenen, typisch adligen Verhaltensweisen der ritterlich-höfischen Welt dürfte deutlich geworden sein. Ohne dass hier näher darauf eingegangen werden könnte, ist anzumerken, dass der Chronist, wie bereits angedeutet, auch gegenüber Friedrich Barbarossa selbst verschiedentlich eine gewisse Distanz erkennen lässt, die sicher zu einem nicht geringen Teil mit seiner Zähringernähe zusammenhängen dürfte 86. Ein ganz anderes Bild Barbarossas scheint er jedoch in seiner Schilderung des kaiserlichen Kreuzritters zu entwerfen. Von dem Moment an, als der Kaiser in der Darstellung Ottos von St. Blasien die Rolle des miles Christi übernimmt, und zwar als Führer der militia Christi, hat es den Anschein, als ob damit für den Chronisten in der Wahrnehmung des Herrschers die Spannung zwischen christlichem und adligem Wertesystem aufgehoben wäre. Otto von St. Blasien unterstreicht nicht nur die Führungsrolle Barbarossas bei 83
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Otto von St. Blasien, Chronica, hg. von Adolf Hofmeister ( MGH SS rer. Germ. 47 ) Hannover – Leipzig 1912, 26, S. 37 Z. 24 – S. 38 Z. 8: Itaque foris civitatem in campi planicie palacio cum amplissimo oratorio ad diversorium imperatoris ex ligni materia facto domus principum procerissime constructe sunt in circuitu, singulis ad ostendendam sue dignitatis magnificenciam sumptus ambiciosissime conferentibus. Preterea tentoriis diversicoloribus numerum excedentibus erectis, velut maxima civitate constructa, tota planicies ambitur, nichilque hic ostendendam mundane miserie gloriam habundancia victualium, varietate vestium, faleramentis equorum, delectatione spectaculorum defuit, … Die Übersetzung dieser Stelle in Die Chronik Ottos von St. Blasien und die Marbacher Annalen, hg. von Franz-Josef Schmale ( Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 18a ) Darmstadt 1998, S. 15–157, hier S. 78 f. ist teilweise unzutreffend. Zur mönchischen Distanz Ottos gegenüber allzu weltlichen Verhaltensweisen s. Otto von St. Blasien, hg. von Hofmeister ( wie Anm. 83 ) 11, S. 12 Z. 17 – S. 13 Z. 13; 16, S. 19 Z. 3–5 und vgl. Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 84 f., 168 f., 225 f. Otto von St. Blasien, hg. von Hofmeister ( wie Anm. 83 ) 26, S. 38 Z. 8–17: …, filiis huius seculi prudencia sua, que „stulticia est apud Deum“ [ vgl. 1. Cor 3, 19 ], in generatione sua abutentibus. Quod evidenti indicio divina potencia futura presagiens demonstravit. Nam sacre noctis crepusculo ventus validissimus ab occidente ortus palatio imperatoris oratorium eius contiguum multaque alia edificia, inhabitantibus vix evadentibus, funditus evertit maximoque terrore perculsos, ut pene loco cessissent, omnes dubitantes reddidit. Quod a sapientibus non pro bono omine susceptum eis omnino displicuit. Zur unterschiedlichen Deutung dieses Zwischenfalls in den Quellen vgl. Bumke ( wie Anm. 3 ) S. 279; Fleckenstein, Friedrich Barbarossa ( wie Anm. 78 ) S. 1025. S. dazu Krieg, Zühringer ( wie Anm. 76 ).
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diesem Unternehmen, sondern markiert zugleich die besondere sakrale Qualität, die der Stauferkaiser hier erhält, indem Otto darauf hinweist, dass bei der Sammlung des Heeres in Pressburg Kaiser Friedrich das Heer der Pilger ( exercitus peregrinorum ) zur milicia Christi vereint habe 87. Der Kaiser führte die Kreuzfahrer somit zur höchsten und würdigsten Form ritterlichen Dienstes, wobei er nunmehr nicht mehr nur für die eigene Ehre und die Ehre des Reichs, sondern für die Wiederherstellung der Ehre Christi kämpfte. Dies erklärt wohl, warum Otto von St. Blasien entgegen seiner ansonsten eher distanzierten Haltung in der Darstellung des Kreuzzugs eine geradezu enthusiastische Begeisterung für den Kaiser zeigt 88. Im Übrigen lässt sich auch an der Beurteilung des Kaisers außerhalb des Reichs eine deutliche Steigerung seines Ansehens ablesen, indem mit seiner Kreuznahme an die Stelle verbreiteter Kritik an Barbarossa, der lange Zeit als Schismatiker und Tyrann gebrandmarkt wurde, nunmehr die Bewunderung für den kraftvollen Anführer der Christenheit im Kampf gegen die Heiden trat 89. Das Modell des kaiserlichen Kreuzritters ermöglichte es offenbar, das adlige Ideal des heroischen Kriegers und machtvollen Herrschers mit der miles Christi-Vorstellung harmonisch zu vereinen. Und so zeichnet auch Otto von St. Blasien den kaiserlichen Kreuzritter durchaus ganz im Sinne adliger Leitvorstellungen als tapferen Kämpfer und als ruhmreichen, zunächst unbesiegbar erscheinenden Heerführer 90. Nach dem Sieg über den Sultan von Ikonium sei der Kaiser im Triumph ( cum triumpho ) weitergezogen und wurde von den Fürsten Armeniens ‚freudig und mit würdigem Lobpreis‘ empfangen. Unter großem Jubel und im Ruhm des errungenen Sieges sei er dann in Richtung Tarsus vorgerückt, wobei er sich alle nach Belieben zugeneigt habe: ‚Denn die Erde schwieg vor seinem Angesicht.‘ 91
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Otto von St. Blasien, hg. von Hofmeister ( wie Anm. 83 ) 32, S. 46 Z. 4–6: Fridricus imperator … exercitum peregrinorum in miliciam Christi coadunavit, … S. dazu Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 65–67, 236 f., 331. Auch etwa die sogenannten Annales Marbacenses bezeugen die religiöse Überhöhung, die das Bild Barbarossas im Zusammenhang mit seiner Kreuznahme erfuhr. S. Annales Marbacenses qui dicuntur, hg. von Bloch ( wie Anm. 74 ) S. 59 Z. 7–9. Der Annalist kennzeichnet das Kreuzzugsunternehmen dabei als felicissimum iter. S. ebd. Z. 13 – S. 60 Z. 9. Vgl. dazu auch Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 196. Vgl. Franz Böhm, Das Bild Friedrich Barbarossas und seines Kaisertums in den ausländischen Quellen seiner Zeit ( Historische Studien 289 ) Berlin 1936, ND Vaduz 1965. S. zum Beispiel Richard von London, Itinerarium peregrinorum, hg. von Felix Liebermann – Reinhold Pauli ( MGH SS 27 ) Hannover 1885, S. 191–219, hier S. 196 Z. 45–50. Dort wird es als Zeichen der besonderen strenuitas Friedrichs gelobt, dass er trotz seines vorgerückten Alters selbst dieses christianismi negocium übernahm, weil ihm seine Söhne dafür tamquam insufficientes erschienen. Zum dritten Kreuzzug insgesamt vgl. Rudolf Hiestand, precipua tocius christianismi columpna. Barbarossa und der Kreuzzug, in: Alfred Haverkamp ( Hg. ), Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers ( Vorträge und Forschungen 40 ) Sigmaringen 1992, S. 51–108. Zum Folgenden s. Otto von St. Blasien, hg. von Hofmeister ( wie Anm. 83 ) 31, S. 44–35, S. 53 und dazu auch Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 65–67, 84 f., 236 f., 331. Vgl. ähnlich etwa Annales Marbacenses qui dicuntur, hg. von Bloch ( wie Anm. 74 ) S. 57 ff.; Burchard von Ursberg, Chronicon, hg. von Oswald Holder-Egger – Bernhard von Simson – Harry Bresslau ( MGH SS rer. Germ. 16 ) Hannover – Leipzig 21916, S. 61 Z. 15–28. S. Otto von St. Blasien, hg. von Hofmeister ( wie Anm. 83 ) 35, S. 51 Z. 1–11 und vgl. entsprechend Burchard von Ursberg, hg. von Holder-Egger u. a. ( wie Anm. 90 ) S. 61 Z. 19 f., Z. 24 f. Vgl. auch Richard von London ( wie Anm. 89 ) S. 204 Z. 3 f., 24 f.
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Die Schilderung dieses letzten Triumphzuges, der den Kaiser zum Höhepunkt seines Ruhmes zu führen scheint, verleiht dem jähen Schicksalsschlag des unerwarteten Todes Barbarossas umso größere Dramatik. Denn auf der Höhe seines Erfolges im Kampf gegen die Heiden fällt der Kaiser einem Badeunfall zum Opfer. Gott – so kommentiert Otto von St. Blasien –, der schrecklich sei in seinem Rat über die Menschenkinder, habe dadurch gezeigt, dass die Zeit des Erbarmens für Sion noch nicht gekommen sei. Er habe den ‚festesten Anker des Schiffleins Petri‘ abgeschnitten, indem er nach so vielen glücklichen Erfolgen mit dem Tod Kaiser Friedrichs ‚das Seil der Hoffnung‘ zerrissen habe. Äußerst bemerkenswert ist dabei, wie Otto von St. Blasien in geradezu sarkastischem Ton auf die Ironie des Schicksals verweist, die sich für ihn in der miserabilis mors, dem jämmerlichen Tod, des Kaisers zeigt. Denn zum Ertrinken des im Fluss badenden Herrschers erklärt der Chronist, dass auf diese Weise ‚in jämmerlichem Tode‘ der Kaiser sein Ende fand, der, wie der Mönch Otto hier ausdrücklich betont, ‚zu Wasser [ ! ( d. Verf. ) ] und zu Land mächtig‘ gewesen sei 92. Etwas sibyllinisch fügt der Chronist an dieser Stelle noch an, einige würden berichten, der Kaiser sei in demselben Fluss umgekommen, in dem auch Alexander der Große auf ähnliche Weise in Gefahr geriet, aber nicht starb 93. Alexander der Große wurde im 12. Jahrhundert einerseits zwar als vorbildlicher ritterlicher Herrscher und Held angesehen, andererseits galt er aus geistlicher Sicht aber auch als Verkörperung der superbia, des Hochmuts 94. Wenn Otto von St. Blasien bei der Schilderung des Todes Barbarossas also explizit einen Bezug zu Alexander dem Großen herstellt, dann könnte es sich dabei um eine subtil formulierte Kritik handeln 95. Trifft diese Deutung zu, so würde sich diese Kritik wieder gegen ein allzu weltliches, nämlich konkret von Selbstüberhebung und mangelnder christlicher Demut bestimmtes Verhalten richten. Damit schiene letztlich auch bei der Darstellung Barbarossas in der Rolle des heroischen kaiserlichen Kreuzritters noch einmal die Spannung zwischen einem aus geistlicher Sicht allzu herrscherlichen Verhalten und den stärker christlich bestimmten Normvorstellungen des Chronisten auf. Nicht nur die Chronik Ottos von St. Blasien, die von vornherein eine deutlicher distanzierte Haltung sowohl gegenüber allzu weltlich-adlig bestimmtem Verhalten im allgemeinen als auch gegenüber der Herrschergestalt Friedrich Barbarossas im besonderen aufweist, sondern auch die historiographischen Darstellungen von Autoren, die von diesem Stauferkaiser eigentlich ein grundsätzlich positives oder, wie im Fall des Ligurinusdichters, ein ausgeprägt panegyrisches Bild entwerfen, geben bei näherer Untersuchung klar zu erkennen, dass gewisse Handlungen und Verhaltensweisen dieses 92
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Otto von St. Blasien, hg. von Hofmeister ( wie Anm. 83 ) 35, S. 51 Z. 11–23, deutsche Zitate nach Otto von St. Blasien, Chronik, hg. von Horst Kohl ( Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 58 ) Leipzig 1894, S. 54. Otto von St. Blasien, hg. von Hofmeister ( wie Anm. 92 ) Z. 23–25: Fertur a quibusdam hoc in Cidno amne accidisse, in quo et Alexander Magnus simili quidem modo sed non morte periclitatus est. S. den Artikel , in: LMA 1, München 1980, Sp. 354–366, hier Sp. 354 f., 362. Zu einer anderen Stelle, an der der Chronist in ähnlich subtiler Weise Kritik an Barbarossa formuliert, s. Krieg ( wie Anm. 1 ) S. 224–226. Im Übrigen übt Otto von St. Blasien ganz offen Kritik an Barbarossas Sohn Heinrich VI. Vgl. Otto von St. Blasien, hg. von Hofmeister ( wie Anm. 83 ) 33, S. 48 Z. 18 – S. 49 Z. 5.
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Herrschers von den Zeitgenossen als problematisch wahrgenommen und beurteilt wurden. Teilweise bezeugt auch mehr oder weniger sublim formulierte Kritik, dass selbst ein als ausgesprochen herrscherfreundlich geltender Autor wie Otto von Freising die Diskrepanzen zwischen einem offenbar vor allem an den des Kriegeradels orientierten Herrscherverhalten und den sicher nicht nur von den hier behandelten Chronisten auch noch im 12. Jahrhunderts als verbindlich angesehenen traditionellen Normvorstellungen christlichen Herrschertums nicht bruchlos überbrücken konnte oder wollte. Auch die im Umfeld des staufischen Herrscherhofs entstandenen historiographischen Werke, die diesen als Adressaten im Blick hatten, deuten vielmehr darauf hin, dass sich selbst im Rahmen der entstehenden ritterlich-höfischen Kultur weltlich-adlige und christliche Leitbilder und Modelle vorbildlichen Handelns nicht völlig zur Deckung bringen ließen. Beide Seiten blieben trotz aller Annäherung <der Kirche> an die Kriegergesellschaft, trotz der Verchristlichung des Adels und der namentlich im Ideal des Rittertums und des miles Christi fassbaren Verbindung weiterhin unterscheidbar. So lässt sich aus den hier behandelten Texten kein wirklich einheitliches ritterlich-höfisches Herrscherbild extrahieren, sondern es ergibt sich in Bezug auf das hier thematisierte Spannungsfeld eher eine konfliktträchtige Pluralität nebeneinander bestehender, konfligierender Normvorstellungen, die sich je nach Autor mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung gruppieren.
Zusammenfassungen der Beiträge
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Zusammenfassungen der Beiträge in englischer Sprache Wilhelm Heizmann, Gold, Macht, Kult: Karl Haucks Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten ( Taf. I–VII, Abb. 1–26 ), S. 11–23 Karl Haucks Kontext-Ikonographie opened the way to our growing understanding of the intrigue iconography of the gold-bracteats. He approached the problem from two sides: the iconography of the coins and medallions of the late Roman Empire on the one side and the written traditions of the medieval Icelandic texts on the other. This paper tries to value Karl Haucks near livelong dedication to that subject, exemplifying his achievements by means of the so called Drei-Götter-Brakteaten as visual manifestations of the story of Balder’s death. Hagen Keller, Das <Erbe> Ottos des Großen. Das ottonische Reich nach der Erweiterung zum Imperium, S. 43–74 This essay was originally designed as one chapter within a volume which reconsiders the history of the East Frankish-German Empire in late Carolingian and Ottonian times ( 888–1024 ). With the death of Otto the Great ( 973 ) as a starting point, the essay looks back in a summarizing manner on the reign of the second ruler from the Saxon dynasty, in which a fundamental reorganisation of the post-Carolingian political order took place. Against the backdrop of the current state of knowledge, the author takes a stand on the questions which have been discussed in German historiography, at times in fierce controversies, since the struggle for the nation state. He discusses the principles according to which the protagonists acted in the 10th century and the ways the actions were perceived by their contemporaries. Labelled as „Kaiserpolitik“ ( I ) and „Ostpolitik“ ( II ) in the 19th century, these actions and perspectives were misunderstood and misinterpreted in many ways. Subsequently, the article looks at the dominions won by Otto I in the south ( III ) and points out the basic structures of royal government in the ( IV ). Under the conditions of his times, the of royal-imperial power in the empire on both sides of the Alps seems to have been the central problem of his reign ( V ). A problem which Otto the Great passed on to his successors and unsolved. Steffen Patzold, Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik, S. 75–103 Recent contributions in German medieval studies – rightly – emphasize, that ruling was tied to consensual forms of decision making. By means of three case studies from the Early and High Middle Ages this article states that the circle of those great men, who were able to raise a claim on participation in decision making, was relatively small and exclusive but powerful. Therefore, regulating the access to that circle and controlling the composition of its personnel was an important issue in medieval politics. In paying attention to this competitive situation it becomes clear how often speaking and writing about consensus itself was connected to concrete political aims.
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Oliver Becker, Der Dom von Salerno und die Abteikirche von Montecassino: Anspruch und Wirkung zweier Bauprojekte in Unteritalien im 11. Jahrhundert ( Taf. VIII–XIII, Abb. 27–50 ), S. 105–140 The present study revises the relationship between two of the most eminent examples of 11th-century religious architecture in Southern Italy: the Norman cathedral of S. Matteo in Salerno and the Benedictine abbey church of Montecassino. Specifically, this article questions whether S. Benedetto must by necessity have served as a blueprint for the construction of S. Matteo, as it has been put forward time and again in scholarly literature. Three approaches shall be brought forward to tackle the problem: First, the supposed structural similarities between the two churches will be discussed and hence juxtaposed with a number of significant elements that are, on the contrary, decidedly different. Consequently, it will be newly examined to what degree – or whether at all – it is permissible to conclude that the Cassinese church served the cathedral as an architectural model. A key witness in this context is Leo of Ostia who, in his Chronicle, minutely describes the circumstances of the building history and layout of abbot Desiderius’ new basilica and claims the unrivalled importance of the monastic structure in the region. Subsequently, the present author offers a new interpretation of Salerno cathedral being primarily Robert Guiscard’s foundation rather than an architectural manifestation of the reform movement. He gives not only credence to the content of the facade inscriptions, but rather reads them as part of a longstanding monumental epigraphical tradition maintained by the Longobard rulers and exploited by their Norman successors. Franz Neiske – Carlos Reglero de la Fuente, Das neu entdeckte Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes. Ein Beitrag zum Totengedenken der Abtei Cluny ( Taf. XIV–XV, Abb. 51–52 ) S. 141–184 An important fragment of a Cluniac necrology has recently been discovered in Spain. It was written about 1220/50 in the priory of San Zoilo de Carrión de los Condes ( dioc. Palencia ), the administrative centre of the Cluniac province Hispania. Actually the fragment contains only 84 days of the calendar year with the names of more than 5800 deceased. But the complete manuscript ( presumably containing about 25000 names ) must have been one of the largest necrologies of the Middle Ages we know about. The verso-pages of the manuscript include the names of Cluniac monks and nuns; more than 80 percent find their corresponding names in the „Synopse der cluniacensischen Necrologien“. The recto-pages present in a very distinctive way the names of friends and benefactors. The names on these pages reveal for the first time the liturgical memory carried out day by day in the abbey of Cluny itself. They permit a better interpretation of many – until now – puzzling entries in other Cluniac necrologies ( for instance the one from Marcigny ). The fragment of San Zoilo seems to be in the very pattern of the lost necrology of the abbey of Cluny. A minor part of this document is important for local prosopography. The latest entries of the 15th century concern more historiographical information than memoria of the dead.
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Christoph Friedrich Weber, Das Kommunikationsgeschehen der Privilegierung als Ort der Inszenierung Reichsitaliens im Hochmittelalter, oder: Wie die Staufer zu Nachfolgern des Langobardenkönigs Liutprand wurden, S. 185–206 Guided by the master narrative of the rise of the modern state, historical research on the Regnum Italicum has mainly examined the power politics, the constitution and the material basis of kingship. In this perspective, the papacy and the communes emerged as winners in contrast to the emperors who failed in establishing lasting structures of royal government. However, the Kingdom of Italy became manifest not only in institutions but all the more in acts of symbolic communication. The Staufen and their partners used the encounters in the orbit of itinerant kingship to act out their understanding of the realm in the light of its history. This essay focuses on acts of granting charters as one kind of rituals, by which medieval governance was performed quite successfully. Frederick I Barbarossa’s second Italian campaign marks a turn in using solemn acts of privileging for staging invented traditions as part of broader political strategies. The emperor demonstrated the harmony between his concepts of kingship as proclaimed at Roncaglia and the Lombard heritage, by privileging Monza as the alleged coronation place and capital of the Kingdom of Italy. He and his grandson Frederick II accepted the role as successors of good King Liutprand offered to them by the representatives of Casale Sant’ Evasio. Communes like Casale or Pavia identified themselves with the traditions of the realm by communicating with the emperor. Their enemies, Milan and its allies, propagated in return contradictory versions of the same history. The examples show that historical images were not only developed by the historiography of the period, but also by communicative acts like the production of charters. The perception of the intermediality of this medieval discourse can lead towards a better understanding of such phenomena and, however, towards an opening of the classic auxiliary sciences in this sense. Heinz Meyer, Nutzen und Wirkungsabsicht des Theaters nach Paratexten lateinischer Dramen der frühen Neuzeit, S. 207–248 Time and again the didactic function of the theatre is the focus of <Paratexts> of early modern dramas, and such a focus is part of a long tradition. The criteria of intention and utility ( intentio, utilitas, causa finalis, finis, scopus ) were already used by the medieval practice of to evaluate literary works and to assess their value in terms of the moral education of the audience. This paper attempts to clarify the arguments and contexts of this discussion by presenting statements of selected early modern playwrights and examining them in terms of what poetological models ( Aristotle, Horace, Terence ) and intermediary functions ( e.g. in comparison with the sermon ) define the expected effect of the theatre. Furthermore, the most important ideals and values that ought to be served by the educational activity of the theatre are described: the humanistic ideal of the unity of literary culture and moral formation, the political education, the christian dissociation from the profane world, the support of either the Protestant or the Counter Reformation. Finally the question arises whether the stress on the didactic function demonstrates a mere formal expression of justification or signifies an actual expectation of the achievement of the stage and dramatic literature.
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Bernd Roling, Charles Baudelaire und Carl Georg Brunius: Bilder des Mittellateinischen im 19. Jahrhundert, S. 249–275 Besides philology and editorial skills, how were medieval Latin and medieval Latin poetry esteemed in 19th century literary culture? This paper gives two examples, one taken from late French Romanticism and fin de siècle, the other one taken from Swedish university culture. According to the French novelists Joris-Huysmans and Remy Gourmont medieval Latinity became a voice of immediate and innocent emotion, in contrast to the Latinity of classical antiquity. Especially Charles Baudelaire made use of medieval Latin, to separate himself from classicism. In Scandinavia, on the contrary, the Latin language, at least in academic circles, continuously remained an object of poetry and an instrument of poetical and scientific translations. Classical and medieval Latinity were not seen as antagonism. Inheriting this long academic tradition on the one hand and the ideas of Swedish Romanticism on the other, the Lund professor Carl-Georg Brunius could transform the Old Norse Edda into a poem, consisting of 3000 hexametrical verses, without being in doubt about its archaic medieval spirit. Werner Röcke, Das Spiel mit der Transgression. Normübertretung und Sanktionswille im geistlichen Spiel des Mittelalters ( Maria Magdalena und Martha ), S. 281–295 The validity of cultural norms in medieval society is claimed either through written rules or by common practice. The religious drama of the Middle Ages gives a third possibility to deal with cultural norms by putting them to the test in a rather playful way. Cultural norms must always be regarded in relation to their transgression. Being performed on stage, these transgressions are not only narrated but realized. This article discusses different possibilities of transgression or affirmation of cultural norms, using the example of the sisters Mary Magdalene and Martha, presented in passages of the New Testament and of medieval legend, but particularly in mystery plays of the late Middle Ages ( from Erlau, Frankfurt Passion, Alsfeld Passion: 15/16th century ). Especially remarkable in terms of norm and transgression is the character of Mary Magdalene, who cannot be seen either as good or as bad, but as pacing off all the way from good to evil, enjoying herself in transgressing rules, but seriously doing penance in the end. Martha, on the other hand, is obedient to religious rules and female duties and claims the same of her sister. Thus, two different concepts of women’s life are – literally – acted out in medieval religious drama and displayed to the audience as possible options. Gerhard Dilcher, Mittelalterliches Recht und Ritual in ihrer wechselseitigen Beziehung, S. 297–316 Legal history today regards itself methodologically as a part of historical science. So, the relation between law and ritual should not be defined by demarcation and definition, but has to be discussed in a dialogue of both disciplines, with regard to their social functions. Both, law and ritual, have the societal function to stabilize mutual expectations, and thus the structure of a society, especially in case of conflict. In the medieval oral culture, law itself uses more often rituals as means of decision, than norms and their
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empirical application. So, law is partly formed by rituals. Until today the best overview over this field is to be found in Jacob Grimm’s Deutsche Rechtsaltertümer. Other interesting examples are presented by the various applications of the Lombard ritual of gairethinx (consent of the people in assembly to legislation, donation, manumission). On the other side, the Norman-Staufen principle of rigor iuris, including crimen lesae maiestatis as normative law sharply contrasts mediation and ritual solutions of conflicts. Until today, in modern international public law and between global enterprises similar methods of consented and ritual conflict management and mediation are applicated, when there is no institution holding the monopoly of legal power. Rob Meens, Kirchliche Buße und Konfliktbewältigung. Thietmar von Merseburg näher betrachtet, S. 317–330 This article argues for a better understanding of the role of ecclesiastical penance in the settlement of disputes in Ottonian Germany by analysing the early eleventh century chronicle of Thietmar of Merseburg, a key witness for the study of the secular ritual of submission analysed by Gerd Althoff and known as deditio. The article discusses Thietmar’s conception of his own sinfulness, the role of royal confession and penance in his chronicle and the importance of deathbed confession, in order to get a better idea of confession in Thietmar’s time and its function in his chronicle. The conflicts described by Thietmar between Henry II and Henry of Schweinfurt as well as a violent dispute between bishop Arnulf of Halberstadt and a hunting cleric assisted by his militant supporter Hungal, reveal that ecclesiastical penance was not only a model for rituals of submission and reconciliation, but that it often was part and parcel of such rituals. Steffen Patzold, Normen im Buch. Überlegungen zu Geltungsansprüchen so genannter , S. 331–350 The capitularies prove that, in the Carolingian realm, political and judicial decisions could be documented in written form. Concerning the transmission of these normative texts, however, we have to bear a discrepancy in mind: On the one hand, our material shows that Charlemagne and Louis the Pious attached great importance to a correct, uniform and general distribution of written normative texts. On the other hand, in practice, basic reform initiatives were documented in an astonishingly careless and diffuse way. The article takes the Aachen Capitula of 802 as an example. It first analyses the way from the oral decision-making of the king and the aristocracy to the fixed, written norms handed down to us. Then, the article argues that we should not consider capitularies as a genre, but rather evaluate the normativity of every single text separately. Dirk Heirbaut, Rituale und Rechtsgwohnheiten im flämischen Lehnrecht des hohen Mittelalters, S. 351–361 In Flemish feudal law during the High Middle Ages written documents were less important than rituals. However, we know of the latter only through incomplete texts, a full record of feudal proceedings not being required by law. Even though the sources give the impression of a very chaotic situation, the reality was more orderly because, at least in the minds of experts, there was a general framework which had to be adhered
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to. However, some rituals and rules were very exceptional. For example, in 1127–1128 after the murder of count Charles the Good, familiar rituals were used in new ways to give expression to revolutionary situations. Moreover, Flemish feudal law and its rituals were always changing, so that, even discounting extraordinary situations, our sources are only reliable for the generation in which they were written. A last point to be made is that, although legal rules belong to a more complex reality, one should not neglect their legal core. The historian should approach the latter like today’s lawyers, who see legal rules only as handy, though flawed, instruments. Christiane Witthöft, König Artus auf dem Schandkarren oder: Die Wandelbarkeit von Rechtsgewohnheiten im , S. 363–380 In early medieval times delinquents could be transferred by cart to the place of execution – a legal custom with an originally disgraceful meaning. In Prose Lancelot the traditional connotation seems to have changed – it appears destabilized and increasingly dissolved. In the end, the traditional, collective legal norm finds a new legitimation in a subjective code of honour. Different from Chrétien’s Lancelot, around 1250 the cart-episode is no longer only part of the minne service. The episode now mirrors a contemporary process of individual reflections and the acquaintance with a microcosm of traditional and new, legal and habitual customs. Alois Hahn, Differenzielle Sanktionsinteressen, S. 381–393 All punishment has to be a narration. Since the act of punishment and the crime punished may show a certain similarity it is crucial for all forms of punishment to demonstrate an unambiguous line of causality between the deed done and the punishment in order to mark clearly that the punishment is the reaction to a crime and not a crime for itself. The variety of penalties doesn’t only range from capital punishment to the fining of people but also to the abdication of punishment in a special situation. The article tries to depict some sociologically relevant interdependency between forms of punishment and the structures of the societies wherein these forms take place. For example the abdication of punishment in „primitive societies“ is in no respect caused by disability of these societies but, since these societies don’t have a legal monopoly of power, in order to avoid circles of vengeance. In contrast, it can be shown for some medieval contexts that an apparently voluntary abdication of punishment by the king in fact is a way of coping with the actual disability to execute the punishment: The abdication then is staged as an act of mercy. Emphasizing punishments in the otherworld is another possibility for religious societies to adhere to the necessity of a penalty where its realization is impossible e.g. because the number of delinquents too high. Frank Rexroth, Kodifizieren und Auslegen. Symbolische Grenzziehungen zwischen päpstlich-gesetzgeberischer und gelehrter Praxis im späteren Mittelalter ( 1209/10–1317 ), S. 395–414 From the ( 1209/10 ) to the Clementines ( 1317 ), collections of papal decretals were authorized by sending them together with a papal bull of authentification to more and more universities. The argument of this article is that this stan-
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dardized procedure can be understood as a new practice of separation between the act of codification and the act of teaching and interpreting law. This separation seemed necessary in order to gain the scholarly practice as an authority for the legitimation of positive law. Wolfgang Haubrichs, Die Narration der Normen oder die Beschreibung des Ungeschriebenen. Das Beispiel <Erec>, S. 415–433 In the Arthurian Romance dealing with the story of the knight Erec, it is after the latter’s almost irresistible rise to a perfect chevalier, winning tournaments, fights and a lady, that a crisis emerges, resulting from a conflict between the knight’s emotional bonds towards his beloved wife and his aristocratic duties towards society as lord of a court and a country, leading to the loss of his honour. After the active recovery of his reputation, and after obtaining for him and his lady Enite a new socially legitimized and emotionally confirmed status, the hero finally succeeds in saving a loving couple, which had deliberately isolated itself from society, bound by an oath. The crisis of the protagonist-couple Erec/Enite and the concluding aventiure of the second couple, constructed as mirror images, each reveal the norms of aristocratic and courtly integration into society. But whereas Chrétien de Troyes in his initial version of the romance explicitly discusses the norms, they are only narrated by the German adaptor Hartmann von Aue, so they can be decoded as unwritten rules by listeners or readers. Stephan Fuchs-Jolie, Von der Gnade erzählen. Parzival, Gottes hulde und die Gesetze des Grals, S. 435–446 At the end of Wolfram von Eschenbach’s romance, the protagonist Parzival is named to be king of the grail. Obviously, he has regained the lost hulde, the favour of the Grail and God. But whereby and how exactly did he regain it? Wolfram doesn’t narrate the way from breach to election. By making his hero nearly invisible he meanwhile tells the novel of a Gawan, a second hero. An almost similar invisibility we notice by looking on the problem of regaining hulde and favour in the theological discussion and in the regulations of vassalage. Is God’s favour something to be earned by certain acts? How can a vassal, who has lost the favour of his lord find back to favour? Different acts and rituals of penance and service have been developed, but the actual awarding of grace always remains something which is not to be fixed in terms of rules and laws. There is always a gap remaining between penance, service, acting on the one hand and election, providence, favour on the other hand. That’s what Wolfram demonstrates by making the hero invisible on his umbral way to the grail’s favour. Heinz Krieg, Im Spannungsfeld zwischen christlichen und adligen Normvorstellungen. Zur Beurteilung Friedrich Barbarossas in stauferzeitlicher Historiographie, S. 447–466 Close analysis shows that certain actions and ways of behaving on the part of Frederick Barbarossa were perceived and judged as problematic by his contemporaries. This is supported not only by the chronicle of Otto of St. Blaise, which was just as critical of excessively worldly-aristocratic behaviour in general as of Barbarossa as a ruler in particular. Even other historiographic depictions with a basically positive or, as
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in the case of the Poet of Ligurinus, panegyric image of Barbarossa do so as well. Even such a notably ruler-friendly author like Otto of Freising and certainly all of the hitherto discussed chroniclers could not or did not want to seamlessly bridge over the discrepancy between the behaviour of the emperor that apparently followed of the warrior-nobility and what were regarded as binding traditional conceptions of behavioural norms of a Christian monarch. Also within the emerging knightlycourtly culture of the twelfth century worldly-aristocratic and Christian models and exemplary actions were not congruent. Despite all attempts by the Church to approach the warrior community, notably in the ideal of the knighthood and the miles Christi, both sides remained distinguishable. The texts which were discussed here do not render a truly uniform knightly-courtly conception of a monarchy, however, they do yield with respect to the area of conflict that was discussed here a rather conflict-laden coexisting plurality – conflicting conceptions of standards – that in each case depends on the author’s different emphasis.
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Orts-, Personen- und Sachregister bearbeitet von Franz Neiske Abkürzungen: Äbt. bayr. belg. Bez. Bf. byz. clun. dän. dép. Diöz. dt. Ebf. finn. frk. frz. Gem. germ. Gf. Gft.
= Äbtissin = bayrisch = belgisch = Bezirk = Bischof = byzantinisch = cluniacensisch = dänisch = département = Diözese = deutsch = Erzbischof = finnisch = fränkisch = französisch = Gemahl, Gemahlin = germanisch = Graf = Grafschaft
Hg. isländ. ital. Kg. Kgn. Kgr. Kr. Ks. langob. Mgf. niederl. Pp. päpstl. Prov. Reg. röm. schwed. span.
= Herzog = isländisch = italienisch = König = Königin = Königreich = Kreis = Kaiser = langobardisch = Markgraf = niederländisch = Papst = päpstlich = Provinz = Region = römisch = schwedisch = spanisch
Die Handschriften sind unter der Position < Handschriften> zusammengefaßt.
Aachen 47, 62, 74, 193, 198, 205 – Krönung Barbarossas 447, 451, 453, 455 – Marienstift 193 – Pfalzkapelle 118, 124, 136 Anm. 96 Abaelard ( Petrus ) 153 Abodriten 56 Absolution 323, 325 f., 328 Accessus ad auctores 208–213, 239 Adalbert, Kg. v. Italien 58 f., 62 f. Adalbert, Ebf. v. Hamburg-Bremen 89 f., 94 f., 96 Anm. 125, 97, 100, 103 Adalbert Atto, Mitglied d. Hauses Canossa 65 f. Adaldag, Ebf. v. Hamburg-Bremen 65, 72 Adam v. Bremen, Geschichtsschreiber 37, 95, 96 Anm. 125, 97 Anm. 129 Adelbertus, Abt v. St. Mihiel 171 Adelheid, Gem. Ks. Ottos I. 59, 63, 68, 71, 173, 176 Anm. 182
Admonitio 331 Anm. 2, 335 Anm. 22, 336, 338, 340 Anm. 47, 341, 345, 346 Anm. 72, 350 Admonitio generalis 336, 340 f., 350 Admont s. Engelbert Adraldus, Bf. v. Chartres 166 Agilulf, langob. Kg. 307 Agnes, Ksn., Gem. Heinrichs III. 89, 128 Alarcos, Schlacht v. ( 1195 ) 180 Alemannen 40 Alexander d. Gr. 84, 88, 465 Alexander II., Pp. 110, 125, 132 Anm. 82, 179 Alexander III., Pp. 398, 402 Alfanus, Ebf. v. Salerno 105, 110, 120, 123–125, 132 Alfons I. ( <el Batallador> ), Kg. v. Aragón u. Navarra 161 Alfons IX., Kg. v. Léon 162 Alfons VI., Kg. v. Kastilien-León 156–160, 178
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Alfons VII., Kg. v. Kastilien-León 161 Alfons VIII., Kg. v. Kastilien 171, 180 Alpen 58, 62, 64, 66–72, 74 Alsfelder Passionsspiel 283 Anm. 6, 285 Anm. 11, 286, 288 f., 290 Anm. 31, 291 Anm. 36, 292 Anm. 48, 293 Anm. 50 Altuppsala ( Uppland ), Kultzentrum 30, 37, 40 Amatus, Abt v. Montecassino 108 Anm. 7, 110, 113 Anm. 29, 119 Anm. 44, 121 Anm. 48, 122 Anm. 50, 123 Anm. 52, 132 Anm. 82 Anaklet II., Gegenpapst 178 Annales Altahenses 90 Annales Bertiniani 78 Anm. 13, 79 Anm. 16, 80 Anm. 26, 81 Anm. 32, 83 Anm. 44, 84 Anm. 51 Annales Casinenses 110 Annales Laureshamenses 335 Annales Palidenses 98, 99 Anm. 135 Anniversar 146, 154, 157 Anm. 63, 180 f. Anno II., Ebf. v. Köln 89 Ansegis, Ebf. v. Sens 79, 80 Anm. 23, 83 Anselm, Ebf. v. Canterbury 149, 151–153 Antike 28, 34, 36, 38, 41, 120 Anm. 47, 134, 135 Anm. 92, 136 Anm. 96, 138 Antonio da Sangallo 111, 113, 115, 116 Anm. 35 Apside 107, 114–118, 129, 131 Apulien s. Robert Aquitanien s. Ingelberga, Wilhelm Aragon 155 f. Aragón s. Alfons Archimbald v. Bourbon 176 Archipoeta, Vagantendichter 274 Arichis II. v. Benevent, Fürst d. Langobarden 125, 126 Anm. 67, 136 Anm. 96, 137 Aristoteles 207, 223–226, 239 – Rezeption 209, 226 Arkaden 107, 112, 115–117, 127 Anm. 70, 129 Armenspeisung 142, 146, 157, 163, 180 Arnold, Abt v. St. Johannes in Lübeck, Chronist 100–102 Arnulf, Hg. v. Bayern 58 Arnulf v. Mailand, Geschichtsschreiber 187 Ars moriendi 228, 247 Anm. 178, 248 Artus, Sagenkg. 363–366, 368–380, 415 f., 420, 422, 431, 435, 441, 443 Asen 264 f., 267–269 Askese 285, 288, 292 Asti s. Evasius Asylrecht 318 Atenulf, Abt v. Montecassino 125 Atrium 106 f., 114 f., 117, 124 Anm. 54, 130, 137 Anm. 98 Augsburg s. Heinrich, Leotulf Aurillac s. Gerald Authentifikation 403 Anm. 31, 404, 407–411 Auxerre ( dép. Yonne ), St. Germain, Kloster 124 f.
Balder, germ. Gott 19–22 Bann 303, 306, 310 Bari ( Reg. Apulien ) 105 Anm. 2, 126, 131, 133, 136 Anm. 97 Basilika 105, 107–110, 113, 115 Anm. 32, 116–118, 119 Anm. 44, 120 Anm. 45, 121 Anm. 48, 125, 127, 129–133, 136, 137 Anm. 98, 138–140 Baudelaire, Charles 250, 253–257, 264, 274 Baumgarten 422, 424, 426–430 Baumgartenritter 422, 424–426, 428, 431, 433 Bayern s. Arnulf, Heinrich Beatrix, Mgf. v. Tuszien 177 Beauvais ( dép. Oise ), Bistum 79, 84–88, 170 s. a. Odo, Ursus Beichte 319–327, 329 f. Belehnung 352 Benedikt VIII., Pp. 173, 179 Benedikt v. Nursia 110, 114, 120 Anm. 46, 121 Anm. 49, 123 Anm. 52, 124 Anm. 54, 125, 127 Anm. 68 Benediktsregel 141 Benevent 48, 66 – Erzbistum 118, 126, 129 f., 133 Anm. 83, 134 Anm. 88, 135 – St. Sofia 118 Benno II., Bf. v. Osnabrück 91 Anm. 98, 94 Beowulf 37 Anm. 74, 39, 41 Berengar II., Kg. v. Italien 58 f., 62 Bergues-St-Winnoc ( dép. Nord ), Kloster 169 Bernhard v. Pavia, Kanonist, Bf. v. Pavia 407 f. Bernward, Bf. v. Hildesheim 390 Besançon ( dép. Doubs ), Bistum 172 – s. a. Hugo Bhagavadgîtâ 261 Anm. 65 Bibeldrama 213–216, 217 Anm. 36, 218, 220 f., 228, 231 Anm. 111, 232–234, 237 f., 243 f., 247 Bidermann, Jakob, Jesuit 221–223, 226, 232 Bierzo ( Léon ) 158 Billunger 56 Bleiurkunde 201 f., 205 Böhmen 44, 51 Bohlen, Petrus v., Orientalist 262 Bohort 369, 370 Anm. 31, 372 f., 376–378 Bolesław I. Chrobry, Kg. v. Polen 325, 329 Bologna, Universität 397 Anm. 9, 400, 403–405, 407, 407 Anm. 49, 408–410, 412 Bonifaz VIII., Pp. 403, 405, 413 Bosoniden 174 Bourges ( dép. Cher ), Konzil 1031 172 Brakteaten 11–17, 19–23, 34 f., 37–40 – Drei-Götter-Brakteat 19, 21 f. – Zweig 19–22 – Ikonographischer Katalog – – IK 165 Skovsborg-B 17 – – IK 20, Zagórzyn-B, Zentralpolen 21
Orts-, Personen- und Sachregister – – IK 340 Raum Sønderby-C/Femø 16 – – IK 39 Dänemark ( X )-B 21 – – IK 51, 1 Faxe 19, 21 – – IK 595 Sorte Muld 19 – – IK 66 Gummerup-B 17, 21 Brandenburg, Bistum 55 f. Brandigan 422, 424 f., 428, 431 Brügge ( Prov. Westflandern ) 353, 355–357, 359 Brun v. Querfurt, Missions-Ebf. 324 Brunius, Carl Georg, schwed. Gräzist 256–260, 263–271, 273 Burchard, Gf. v. Vendôme 171 Burgund s. Heinrich Burkhard, Hg. v. Schwaben 58, 63 Bußbücher 320–322, 325 Anm. 43, 326, 328–330 Buße 319–330, 436–439, 441, 444–446 Byzanz 49, 61–63, 67, 72 f. s. a. Konstantin, Michael, Philipp Calais ( Bürger v. ) 390, 391 Anm. 12 Calixt II., Pp. 161 Cambrai ( dép. Nord ), Bistum 196 Campanile 106, 117, 136 Anm. 97, 139 Canossa ( Prov. Reggio Emilia ) 63, 65 f. – 93, 319 Anm. 12 Canterbury s. Anselm Capitulare s. a. Kapitular Capitulare Aquisgranense 335 Capitulare generale 331, 334–336, 342–344, 346 Anm. 75, 349 Capitulare italicum 340, 349 f. Capitulare missorum 335 f., 341, 342 Anm. 58, 344, 346 Anm. 73 Carrión de los Condes ( Diözese Palencia ), St. Zoilo, clun. Priorat 141, 143–145, 145 Anm. 15, 146–149, 151–154, 158–162, 162 Anm. 97, 163–171, 175–184 s. a. Teresa Casale Monferrato ( Prov. Alessandria ) s. Casale Sant’Evasio Casale Sant’Evasio ( Prov. Alessandria ) 191, 193, 195, 197–206 s. a. Vita Evasii causa finalis 208 f., 211 Celtis, Konrad, Humanist 212, 229, 236 f. Chalon-sur-Saône s. Hildebold, Hugo, Lambert Chartres ( dép. Eure-et-Loir ), Bistum 166, 172 f., 175 – s. a. Adraldus, Fulbert Chrétien de Troyes, Conte du Graal 441 – Erec et Enide 415–431, 433 Christianisierung 47, 52, 56 Clemens v. Alexandria, Theologe 294 clementia 448, 452, 453 Anm. 32, 455 f. Clementinae, 403, 404 Anm. 34, 405, 410
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Clermont-Ferrand ( dép. Puy-de-Dôme ) 153 Anm. 41, 172 s. a. Renco Clitumnustempel, bei Spoleto 134 Anm. 91, 135, 138 Cluny ( dép. Saône-et-Loire ), Kloster 141–143, 145–147, 152 f., 154 Anm. 47, 155–157, 158 Anm. 65, 159 f., 161 Anm. 85, 162 Anm. 97, 163 Anm. 104, 164–167, 168 Anm. 130, 169, 170 Anm. 136, 171–173, 174 Anm. 166, 175, 176 Anm. 181, 177 Anm. 186, 178 f., 180 Anm. 205, 181, 182 Anm. 214, 183, 184 Anm. 220 – Necrolog 143, 168, 183 f. s. a. Gerald, Hugo, Jean, Maiolus, Odilo, Odo, Petrus, Wilhelm Codex Justinianus 411 Compiègne, Pfalz 80, 83, 87 consensus 76 Anm. 3, 77 Anm. 6, 78, 81, 88 consilium 78, 81, 88, 92 Anm. 107 consuetudines 141, 146 Anm. 20, 155, 157, 163, 168, 184 consuetudo 300 Corpus Iuris Canonici 403 Anm. 32, 404 Anm. 39, 405 Anm. 42 Corpus Iuris civilis 411 Anm. 70, 412 Corvey ( Kr. Höxter ), Kloster 36 crimen lesae maiestatis 311, 314 Cundrie 435, 440, 442 f. Decretum Gratiani 201, 300 – Quoniam multos 392 deditio 308, 314 f., 319, 328, 439 f., 444 f. Dekretalen 401 Anm. 25, 402, 403 Anm. 29, 404, 405 Anm. 42, 407 Anm. 49, 408–410 Dekretalenrecht 395, 400 Anm. 21, 402, 403 Anm. 33, 408 Desiderius, Abt v. Montecassino 105, 108, 110, 113, 116, 119 Anm. 44, 120, 121 Anm. 48, 122 Anm. 50, 123 Anm. 52, 124 Anm. 54, 125, 126 Anm. 64, 127, 128 Anm. 72, 129, 134, 140 s. a. Viktor III. Dietrich I., Bf. v. Metz 72 diffiduciatio 356 f. Dijon, St. Bénigne, Kloster 147, 169 Dingversammlung 302 Divisio regnorum 340, 341 Anm. 50 Drache 41 Ebroin, Bf. v. Poitiers 174 Edda 15, 257 f., 263–269 s. a. Snorri Sturluson Edictus Rothari 306 Eduard III., Kg. v. England 390 Eid 302, 304–306, 310 s. a. Schwur
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Orts-, Personen- und Sachregister
Eidhelfer 302 f. Elbe 51–57 Eleonore v. Kastilien, Gem. Kg. Heinrichs II. v. England 357 Emilia, oberital. Region 62 Engelbert, Abt v. Admont 409, 410 Anm. 66 England s. Eduard, Eleonore Enite 415 f., 418–421, 423 f., 426–428, 429 Anm. 44, 431 Erec 415–431, 433 Erlauer Passionsspiel 283 Anm. 6, 286, 288–290 Erziehung, im Theater 207, 209, 213 Anm. 25, 214, 216–224, 227, 229–232, 234, 235 Anm. 130, 236, 238 f., 241, 243 f., 246 f. Evasius, Bf. v. Asti 194 f., 201 f. Exarchat 59–61 s. a. Ravenna Exklusion 392 f., 437 – ( soziale ) 370, 372, 379 Exkommunikation 392 f. Falkenjagd 329 familiares 144, 168–172, 175–179, 183 f. Fardulf, Abt v. St. Denis 342 Anm. 58, 345 Farfa ( Prov. Rieti ), Kloster 124 Anm. 55, 128 Fassade 106 f., 111, 113, 115, 117, 132–138 s. a. Westfassade Fenriswolf 266, 269 Ferdinand I. ( <el Magno> ), Kg. v. Léon 156 f., 160 Ferdinand II., Kg. v. Léon 157, 178 Ferdinand III., Kg. v. Kastilien 162 Fernando Pérez de Traba, Gf. 171, 178 Fernregierung s. Herrschaft Ferrières ( dép. Loiret ), Kloster 83 festuca 305 Anm. 34 finis 207, 209, 211 f., 218, 226, 228, 235, 243 Fismes, Synode ( 881 ) 84 Anm. 52, 85, 86 Anm. 64, 88 Flandern s. Galbert, Wilhelm Flandern, Gft. 351–354, 356–358 Flodoard v. Reims, Geschichtsschreiber 81 Anm. 34, 83, 342 Anm. 58 Florenz ( Reg. Toscana ) 111 Anm. 22, 126, 134 Franken 48, 53, 62, 72, 74 Frankfurt 47 Freising s. Otto Friedrich I. Barbarossa, dt. Kg., Ks. 99, 101–103, 191–199, 201, 309, 314, 390 f., 447, 449, 451–465 Friedrich II., dt. Kg., Ks. 200, 202–205, 310 f., 315 Fries 107, 133, 135–138, 139 Anm. 106 Frigg ( Freyja ), germ. Göttin 18 f., 22, 39 Frischlin, Nicodemus, Humanist 218–221, 228 f., 234 f. Frómista ( St. Martin ), clun. Priorat 157, 161 f. Fruttuaria ( Prov. Turin ), Kloster 173 f.
Fünen 38 Fürstenspiegel 237–239, 248, 450, 457 Fulbert, Bf. v. Chartres 172 f., 175 Fulrad, Abt v. St. Quentin 342 Anm. 58, 347 gairethinx 306–308 Galbert v. Brügge, Notar d. Gf. v. Flandern 353, 355 f., 357 Anm. 44, 359 Galizien 156, 158, 159 Anm. 70, 162 Gaufred, Prior v. St. Zoilo 147 Gauzlin, Erzkanzler, Abt v. St. Denis, Bf. v. Paris 80, 84 Anm. 51, 87 Gawan 370–373, 376 f. Gebetsverbrüderung 142 Anm. 6, 144, 147, 152, 168 f., 171, 172 Anm. 154, 174–177, 179, 183 f. Gelasius II., Pp. 161, 178 Gelehrte 395–403, 405–408, 410–414 Gelnhausen, Pfalz 99 f., 102, 306, 309 Generalkapitel 162, 182 Gerald, Gf. v. Aurillac, Vita 172 Gerald v. Flandern, Abt v. Cluny 162 Gero I., Mgf. 51, 55 f., 58 Gerstungen, Versammlung ( 1073 ) 91 Gewohnheitsrecht 300 Geza I. ( Geycha ), Kg. v. Ungarn 173 Ginover 363, 368 Anm. 23, 369, 372 f., 376, 378 Goderannus, Bf. v. Saintes 166 Götterthron 37, 39 f. Goethe, Johann Wolfgang v., Hermann u. Dorothea 271 Anm. 129, 274 Goldbrakteaten s. Brakteaten Goldfolien 12 f. Goldhalsring 39 Goldmünzen 156 f., 160 Gottesfrieden 172 Gottesurteil 302 f. s. a. Ordal Gottfried III. d. Bärtige, Hg. v. Oberlothringen, Mgf. v. Tuszien 177 Gott-Trinken 40 Gourmont, Remy de, frz. Schriftsteller 253, 256, 264 Gral 435, 437, 440–446 Gral-Queste 363 Anm. 3, 364, 373 f., 375 Anm. 53, 377 Anm. 67, 378–380 Gregor I. d. Gr., Pp. 38 Gregor VII., Pp. 105 Anm. 2, 106, 108 Anm. 7, 124 Anm. 54, 126 Anm. 64, 132, 140, 170, 173, 392 Anm. 17 Gregor IX., Pp. 401 Anm. 25, 403, 404 Anm. 40, 405, 409 Anm. 64, 410, 413 Gregor, Bf. v. Tours, Decem libri historiarum 127 Anm. 70 Gretser, Jakob, Jesuit 207 Grimm, Jacob, Deutsche Rechtsalterthümer 297, 304, 305 Anm. 34, 307
Orts-, Personen- und Sachregister Guarinoni, Hippolyt, Arzt 232 Gutierre ( Gunterus ), Bf. v. Segovia 180 Gwalther, Rudolf, Humanist u. reformierter Theologe 216–218, 232, 244 f. Halinard, Abt v. St. Bénigne, Ebf. v. Lyon 169 f. Halsring 39 f. Hamburg-Bremen s. Adalbert, Adaldag, Liemar Handschriften, Berlin, Staatsbibl. Preußischer Kulturbesitz, Ms. lat. fol. 626 342 Anm. 58 – Leiden, Bibl. d. Rijksuniversiteit, Ms. Voss. lat. Q. 119 342 Anm. 58 – Paris, Bibl. Nationale de France, Ms. lat. 4613 334 f., 338, 339 Anm. 37, 340 Anm. 44, 341–344, 350 – – Ms. lat. 4995 342 Anm. 58, 343 Anm. 62 – – Ms. lat. 9654 342 Anm. 58 – – Ms. lat. 10758 338, 340 Anm. 46 – Rom, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Pal. Lat. 582 342 Anm. 58 – – Cod. Vat. lat. 7790 344 – Salamanca, Colegio de San Estanislao, Fondo de San Zoilo de Carrión, 4 141–184 Hartmann v. Aue 374 f. – Erec 417–419, 421–425, 427 f., 430, 432 Havelberg, Bistum 55 f. Heinrich I., dt. Kg. 44, 50, 56, 71, 323 Heinrich II., dt. Kg., Ks. 121 Anm. 49, 157, 170, 172, 187, 323–325, 328 Heinrich III., dt. Kg., Ks. 128, 157, 319 Anm. 12 Heinrich IV., dt. Kg., Ks. 89–94, 96, 179, 199, 392 Heinrich VI., dt. Kg., Ks. 101 Heinrich ( VII. ), dt. Kg., Kg. v. Sizilien 310 f. Heinrich I., Hg. v. Bayern, Bruder Ks. Ottos I. 55 Heinrich d. Löwe, Hg. v. Sachsen u. Bayern 97–102, 306, 309, 314 Heinrich III., Hg. v. Bayern u. Kärnten 326 Heinrich, Bf. v. Augsburg 89 Heinrich, Gf. v. Burgund 157 Heinrich v. Schweinfurt, Gf. 328 Heinrich v. Veldeke, Eneasroman 462 Helgodus, Abt v. Marmoutier 168 Helm 29, 31, 37–40 – Kammhelm 29–31, 37, 39–41 Heloïse, Äbt. v. Paraclet 153 Herder, Johann Gottfried 257, 260 f., 263 Hermann, Hg. v. Schwaben 328 Hermann Billung, Hg. in Sachsen 56 Herrschaft, Fernregierung 72–74 Herrschaftszeichen 27–29 Herrscherethos 450, 453, 459 Hilbodus, Bf. v. Mâcon 176 Hildebert v. Lavardin 272 Hildebold, Bf. v. Chalon-sur-Saône 176 Hildesheim s. Bernward
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Hinkmar, Ebf. v. Reims 77–88, 90, 97, 100, 103, 340 Anm. 46 – De ordine palatii 77 f., 87, 342 Anm. 61 Hispania, clun. Ordensprovinz 157 Anm. 63, 158 f., 161–163, 182–184 Hoftag, Mainz ( 1184 ) 462 f. Hofzeremoniell 73 honor 309 f., 449, 456 f., 459 f. Honorius III., Pp. 199 Anm. 62, 203, 404 Horaz ( Quintus Horatius Flaccus ) 250, 253 – Ars poetica 207, 221, 223 f. Hrotsvit v. Gandersheim 272 Hubert, Mgf. v. Tuszien 63 Hubert, päpstl. Legat, Kardinalpresbyter v. San Clemente 161 Hugo v. Arles u. Vienne, Kg. v. Italien 173 Hugo, Ebf. v. Besançon 172 Hugo v. Die, Ebf. v. Lyon 179 Hugo, Bf. v. Chalon-sur-Saône 174 f. Hugo I. v. Semur, Abt v. Cluny 141, 143 Anm. 11, 152 Anm. 38, 156, 157 Anm. 61, 158 f., 165–167, 179 Hugo IV. de Clermont, Abt v. Cluny 153 Anm. 41, 159 Hugo V. de Anjou, Abt v. Cluny 158 Huguccio, Dekretist 398 Anm. 12, 399 Anm. 17, 409 Anm. 60, 412 Huld, Huldentzug 435, 437–442, 444–446 humilitas 448 Huysmans, Joris Karl, belg. Schriftsteller 250–253, 256 f., 264, 270, 275 indische Literatur 261 Anm. 63, 262, 274 s. a. Sanskrit Ingelberga, Gem. Hg. Wilhelms v. Aquitanien 173 Ingelheim ( Kr. Mainz-Bingen ) 47 Innozenz III., Pp. 400 Anm. 21, 404, 407–409, 411 f. – Compilatio tertia 400 Anm. 21, 404, 407–409 Innozenz IV., Pp. 393, 405, 413 Inschriften 106 f., 124 Anm. 54, 125 f., 132–139 Inszenierung 281 f., 285, 295 intentio 208, 211 f., 220 f., 223, 225, 232, 241, 243 Irminsul 38 Ischyrius, Christian, Komödienautor 227 f., 247 Isenbardus, Abt v. St. Germain-des-Prés 171 Isidor, Bf. v. Sevilla 300 Italien 48, 50, 58–66, 68, 70–74, 78, 80 f., 102, 185–193, 195–198, 200 f., 203–206 s. a. Adalbert, Berengar Iwein 375 Jacobus de Voragine, Legenda aurea 287 Jean ( III. ) de Bourbon, Abt v. Cluny 181, 182 Anm. 214
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Orts-, Personen- und Sachregister
Jerusalem, himmlisches 123, 127 – Tempel 127 Anm. 68 – s. a. Salomon Jesuiten, Jesuitendrama 207, 210, 213, 221–223, 225 f., 229–234, 236, 238–240, 242 f., 246 Johannes XII., Pp. 51 Johannes XIII., Pp. 51 Johannes XIX., Pp. 174 Johannes Codagnellus, Notar u. Geschichtsschreiber 198 f. Jurisprudenz 396 Anm. 5, 402, 406 Kämmerer ( im Kloster ) 147, 158, 159 Anm. 70, 161–163, 180, 182 Kärnten s. Heinrich Kaiseridee 47, 49 Kaiserpolitik 48 Anm. 15, 50 Anm. 22, 57 Kalabrien s. Robert Kalevala, finn. Dichtung 260, 274 f. Kammhelm 18 Kapitell 113, 121 Anm. 49, 138, 139 Anm. 107 Kapitelsaal 125 Kapitular 299, 331–344, 346–350 s. a. Capitulare Karl d. Gr., Ks. 47 f., 52 f., 57 f., 62, 68, 77 Anm. 6, 82, 85, 87 f., 172, 174, 193, 202, 205, 334–336, 339–341, 343 f., 346 f., 349 Karl ( II. ) d. Kahle, westfrk. Kg., Ks. 78–83, 85, 87, 331 Karlmann, westfrk. Kg. 83 f., 87 Karolinger 43 f., 47 f., 56, 58, 60, 62, 64 f., 71 f., 76 f., 87 f., 102, 319 Anm. 12, 331 f., 334, 348 f. Karrenritt 363–373, 375–380 s. a. Schandkarren Kastilien 155 f., 158, 162, 171, 180, 204 s. a. Alfons, Eleonore, Ferdinand, Nuño Pérez, Sancho Kastilien-León s. Alfons, Urraca Katalonien 155 Katharsis 224, 226, 232 Kirchenbuße 437, 439 Kirchenrecht 398, 400, 402, 413 Kirchenrechtssammlung 320, 325 f. Kodifikation 401, 404 Anm. 34, 405 f., 411 Köln, Erzbistum 440 s. a. Anno, Philipp, Rainald Kölner Königschronik ( Chronica regia Colonensis ) 99 Königsboten 332 Anm. 5, 335, 335 Anm. 19, 336, 336 Anm. 26, 342, 342 Anm. 58, 343–347 Koloman, Kg. v. Ungarn 139 Kommune, ital. Stadtkommune 186 f., 198 f., 202–204, 206 Kommunikation, Kommunikationsakt 185, 189–191, 196, 198 f., 202, 204–206 Komödie 208 f., 212, 214, 215 Anm. 30, 216 f., 219,
223 Anm. 70, 226–229, 236 f., 240, 244, 247 Anm. 179, 248 Konflikt, Konfliktlösung 317, 318 Anm. 5, 319, 328 Anm. 60, 329 Konrad II., dt. Kg., Ks. 391 Konsens, konsensuale Herrschaft 75–78, 81, 84, 88–90, 93 f., 97, 100, 102 f. s. a. consensus, consilium Konstantin I. d. Gr., röm. Ks. 57, 60 – Konstantinische Schenkung 60 Konstantin VII. Porphyrogennetos, byz. Ks. 123 Anm. 51 Konstantinopel 118, 121 Anm. 49, 122 Anm. 50, 123 Anm. 51, 132 – Hagia Sophia 118, 123 Anm. 51, 126 Anm. 67, 127 Anm. 68 Konstitutionen 403, 404 Anm. 35, 411 s. a. Clementinae Konstitutionen v. Melfi 311 Anm. 52 Konzil, Lateran II, Si quis suadente 393 – Lateran IV 302, 436, 439 – Lyon I 393 Kreuz 22 Kreuzzug 447, 449 Anm. 12, 450 f., 458, 461, 463–465 Krönungsort 192 Anm. 27, 197, 198 Anm. 53, 204 Krone 48 f., 57 f., 71–73 Krypta 106 f., 116 f., 125, 131 f., 136 Anm. 96 Kunigunde, Gem. Ks. Heinrichs II. 172 Kybele 22 Kymbala 22 Lambert, Gf. v. Chalon-sur-Saône 175 Lampert, Mönch v. Hersfeld, Annales 89, 89 Anm. 84, 90–96 Lancelot 363 f., 366–373, 376–380 – Chrétien de Troyes 363 f., 365 Anm. 8, 366 Anm. 13, 369, 371, 374, 375 Anm. 55, 377 Anm. 66, 379 – Prosalancelot 363 f., 369, 371, 373–377, 379 Landricus, Bf. v. Mâcon 171 Lang, Franciscus, Rhetorikprofessor 225 f., 230, 246 Langhaus 107, 113, 115 f., 120 Langobarden 185 f., 187 Anm. 9, 191 f., 194 Anm. 39, 195 Anm. 40, 196, 198, 201, 203, 205 f., 306–308 Lantward, Bf. v. Minden 72 Lecce ( Reg. Apulien ) 126 Lehen 352–356, 358 f. Lehnrecht 351–358, 360 Lehnshof 352–355, 359 Lehnsinvestitur 354, 358 Lehnsmann 352, 354 Leo IX., Pp. 179
Orts-, Personen- und Sachregister Leo Marsicanus, Bf. v. Ostia 110, 113–118, 120, 123–128, 132 Léon, span. Kgr. 156–158 s. a. Alfons, Ferdinand Léon, St. Isidoro, Kloster 178 Leotulf, Bf. v. Augsburg 176 Liber Pontificalis 113 Anm. 29, 119 Anm. 44, 120 Anm. 46, 123 Anm. 52, 124 Anm. 55 Liemar, Ebf. v. Hamburg-Bremen 91 Anm. 98, 94 f. Ligurinusepos 454 f., 459 f., 462, 465 Lille ( dép. Nord ) 351, 359 Limoges ( dép. Haute-Vienne ) 172 s. a. St. Martial, Turpio Liudolfinger 53 Liutprand, langob. Kg. 185, 191, 194, 195 Anm. 40, 196 f., 201–203, 206 Lokasenna, Götterlied d. Edda 269 Loki, germ. Gott 19–22, 264–269 Lombardei 192, 198 f., 206 – Lombardenbund 187 Anm. 9, 198 Longpont ( dép. Essonne ), clun. Priorat 145, 149, 153, 166, 169 Lothar II., frk. Kg. 83 Lothar III., Ks. 192, 201 Anm. 71 Lothringen 44, 48, 64, 66, 70–73 Lucca ( Reg. Toscana ) 68 Ludwig I. d. Fromme, Ks. 80 Anm. 23, 81 Anm. 33, 82, 86 f., 331 f., 341, 345, 347, 349 Ludwig II. d. Stammler, westfrk. Kg. 81–83, 173 f. Ludwig III., westfrk. Kg. 83–87 Ludwig III. d. Jüngere, ostfrk. Kg. 80, 83 Lüttich 170 s. a. Wolbodo Lund ( Prov. Malmöhus ) 257, 259, 270 f. Luther, Martin 227, 231, 237, 241, 247 Lyon ( dép. Rhône ), Erzbistum 166, 169, 174, 179 s. a. Halinard, Hugo, Rainald Mâcon ( dép. Saône-et-Loire ), Bistum 171, 176 s. a. Hilbodus, Landricus Macropedius, Georg, niederl. Schulrektor 214, 216 Magdalenerinnen 287 Magdeburg, Erzbistum 48, 51, 55, 57, 65, 323, 326 f. s. a. Tagino Mailand 61, 68, 187, 191, 192 Anm. 27, 193, 198 f., 200 Anm. 66, 206, 391 Maillezais ( dép. Vendée ), Kloster 166 Mainz 92, 101 f. – Erzbistum 51, 56, 62 Maiolus, Abt v. Cluny 141, 171, 176 Marcellus I., Pp. 173 Marcigny-sur-Loire ( dép. Saône-et-Loire ), clun. Priorat, Necrolog 143, 149, 153, 164–167, 169, 171 f., 175–178, 184 Maria Magdalena 281, 283–295
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Markgraf 51, 53–59, 63–66, 69 Marmor 111, 113 Anm. 29, 118 Anm. 41, 120 Anm. 47, 123, 125 Anm. 58, 133, 134 Anm. 91, 136 f., 139 Marmoutier ( dép. Indre-et-Loire ) s. Helgodus Marmoutier ( dép. Indre-et-Loire ), Kloster 168 Mars, röm. Gott 18 Anm. 37, 19 Marseille, St. Victor, Kloster 155 Martha, Schwester Maria Magdalenas 281, 283 f., 286–291, 293–295 Martyrolog 153 f., 163, 165, 179 Mathilde, Mgf. v. Tuszien 177 Maximilian I., bayr. Kurfürst 238 Mediator 308, 310, 312, 317, 319, 328, 438, 440 f. Meißen, Bistum 55 Meistererzählung 186 f., 188 Anm. 11 Melanchthon, Philipp 224, 227, 235 Memorienbuch 181 Merseburg, Bistum 55 – – Necrolog 173 s. a. Thietmar Metz ( dép. Moselle ), Bistum 166 s. a. Dietrich, Theoger Michael VII. Dukas, byz. Ks. 110, 119 Anm. 43, 132 Midgardschlange 266, 268 f. Mieszko I., Fürst v. Polen 51 Anm. 27, 56 miles Christi 448, 463 f., 466 militia Christi 463 f. Minden s. Lantward Minne 363, 366–368, 372, 377–379, 419 f., 426 f., 430 misericordia 448, 453 Anm. 32, 456, 458 Anm. 60, 459 missi s. Königsboten Mistel 20 f. Moissac ( dép. Tarn-et-Garonne ), St. Pierre, Kloster, Necrolog 149, 151, 155, 165, 167 Montecassino ( Prov. Frosinone ), Kloster 105, 108–110, 113, 115–119, 121, 128, 130–132, 135, 139 f., 173, 179 s. a. Amatus, Atenulf, Desiderius, Oderisius Montferrat, Mgf. 191, 194 s. a. Casale Montferrat Montier-en-Der ( dép. Haute-Marne ), Kloster, Necrolog 181 Anm. 209 Montierneuf ( Poitiers ), Kloster 165 s. a. Wido Monza ( Lombardei ) 191–193, 197 f., 205 Mosaik 115, 117 Anm. 37, 124 f., 134, 136 Anm. 97 Münze, Münzprägung 62, 65, 67 f., 72 Nájera ( Kastilien ), St. María de Nájera, clun. Priorat 147, 157 f., 160–163, 171 Naogeorg, Thomas, Dramatiker 230–233, 241 f. Narthex 117 Nationalstaat 50, 57
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Orts-, Personen- und Sachregister
Navarra 155 f. s. a. Alfons, Sancho Necrolog 141, 143–149, 151–153, 155, 163–167, 168 Anm. 130, 169–184 Nikolaus II., Pp. 126, 177 Nisard, Désiré, frz. Philologe 251 Nomentheorie 86 Anm. 64 Normandie 355 Normannen 105, 108 Anm. 7, 117 Anm. 39, 119 Anm. 44, 121 Anm. 48, 126, 132 f., 135 Anm. 94, 138 Normen 277–466 – Geltung, Geltungsanspruch 277 f. – Transgression, Überschreitung 281–285, 289 f., 292–295 Nornen 265, 269 Northumbrien 38 Nuño Pérez de Lara, Gf. ( Kastilien ) 171, 178 Nutzanwendung, moralische 208, 220, 234, 245 Obergaden 107, 113, 115 Anm. 33 Oberkirche 107, 116 Oberlothringen s. Gottfried Oderisius, Abt v. Montecassino 110, 127 Anm. 69 Odilo, Abt v. Cluny 141 f., 154, 155 Anm. 53, 159, 170 Anm. 137, 172 f., 179 Odin, germ. Gott 20 f., 38 f., 264–269 Odo, Bf. v. Beauvais 79 Anm. 15, 84 Odo, Abt v. Cluny 141, 154 Anm. 47, 170, 172, 174, 286 – Vita Geraldi 172 Oralität 348 Ordal 302, 309 Ordinatio Imperii 339 Anm. 40, 341, 346 Anm. 72 Osnabrück s. Benno Ostanglien s. Raedwald Ostia s. Leo Ostpolitik 50, 52, 57 Otgar, Bf. v. Speyer 72 Otto I. d. Gr., dt. Kg., Ks. 43 f., 47–51, 55–58, 60–66, 68–74, 185, 187, 323 Otto II., dt. Kg., Ks. 57, 60, 69, 74, 323, 326 Otto III., dt. Kg., Ks. 60, 67, 324 f., 327, 390 Otto IV., Ks. 462 Otto I., Bf. v. Freising 201 Anm. 71, 205, 451–456, 458–460, 462, 466 Otto v. St. Blasien, Chronist 462–465 Ottonen 185, 200 Anm. 64, 204 f. Paderborn ( Reg.-Bez. Detmold ) 32, 34, 36 Palermo 116 Anm. 36, 126, 139 Anm. 106 Paraclet s. Heloïse Paray-le-Monial ( dép. Saône-et-Loire ), clun. Priorat 174 f. Parias ( Schutzgeldzahlungen ) 156
Paris, St. Germain-des-Prés, Kloster 171, 174 – Universität 404 f. s. a. Gauzlin, St. Martin-des-Champs Parzival 435–437, 440–446 Paschalis I., Pp. 124, 195 Paschalis II., Pp. 126 Anm. 65, 178 Passionsspiel 283, 286–289, 294 f. Paternus, Abt v. St. Juan de la Peña 155 Paulus Diaconus 121 Anm. 49, 126 Anm. 67, 137 Pavia ( Reg. Lombardia ) 62, 67–69, 72, 74, 186 f., 192–194, 197, 199 Anm. 62, 200 Anm. 64, 202 f., 206 Anm. 88 – Palatium 67–69 Paviment 109 Anm. 12, 111 Anm. 25, 114, 122, 123 Anm. 51, 124, 125 Anm. 58 Pekkanen, Tuomo, finn. Latinist 273–275 Pentapolis 61 Perrecy-les-Forges ( Saône-et-Loire ), Priorat 121 Anm. 49 Pest 181 Peter v. Benevent, Notar Innozenz’ III. 407, 409 Petrus Diaconus 110 Anm. 15, 119 Anm. 43, 121 Anm. 49, 123 Anm. 52, 126 Anm. 67, 129 Petrus Venerabilis, Abt v. Cluny 146, 153, 161, 183 Anm. 217 Pfalzen 32, 36, 47, 52, 61, 65, 68 f., 74, 186 f., 187 Anm. 7, 192 f., 193 Anm. 31, 195, 198, 200 Anm. 64 Pferd 16, 18 Philipp v. Courtenay, byz. Titularkaiser 357 Philipp v. Heinsberg, Ebf. v. Köln 98–103 Philipp v. Schwaben, dt. Kg. 162 Plautus, Titus Maccius 227–229, 244 Poitiers s. Ebroin Polen 44, 51, 56 s. a. Bolesław, Mieszko Pontanus, Jakobus, Jesuit 226, 242 Ponthion ( dép. Marne ), Pfalz 78, 79 Anm. 18, 80 Anm. 30, 83 Porthan, Henrik Gabriel, finn. Dichter 260, 274 Portikus 117 Portugal 158, 159 Anm. 70, 162, 171, 178 Pranger 365 Predigt 222 f., 231–233, 247 Privilegierung 185, 190, 192 Anm. 25, 193, 194 Anm. 39, 196, 197 Anm. 50, 198 f., 200 Anm. 64, 201 Anm. 70, 203–205 Prozess 301–304, 306–308, 312 f. Psalter 21 Quedlinburg ( Reg.-Bez. Magdeburg ) 74, 324 Querhaus 107, 114–117, 131 Rache 384, 386–388, 392 Raedwald, Kg. v. Ostanglien 38
Orts-, Personen- und Sachregister Rainald, Ebf. v. Lyon 166 Rainald v. Dassel, Ebf. v. Köln 99 Ravenna ( Reg. Emilia-Romagna ) 59–62, 72, 74, 123 Anm. 52, 125 Anm. 61, 391 Raymund v. Peñaforte, Liber Extra 404, 404 Anm. 34, 409 Anm. 64, 413 Anm. 79 Rechtgelehrte 395, 397, 399–402, 405, 408, 411, 413 s. a. Gelehrte Rechtsethnologie 298, 301, 309, 314, 348 Rechtsgewohnheit 299 f., 307, 309, 315, 348 Anm. 80 s. a. Gewohnheitsrecht Rechtssymbol 304 f. Redarier 56 Regino, Abt v. Prüm, Chronist, Sendhandbuch 320 Regnum Italiae 43, 58, 61 f., 64, 66, 69–71, 74 Regnum Italicum 185, 190, 194, 196 Anm. 44, 197, 205 Regnum Teutonicum 66 Reichskrone 29 Reims ( dép. Marne ) 345 – Erzbistum 77, 80–83, 100 – St. Remi, Kloster 147 s. a. Hinkmar, Wulfar Reinigungseid 302 Reliquien 47, 58, 159 Anm. 76, 160, 173, 302 – Apostel Matthäus 106, 117, 120 Anm. 46, 121 Anm. 48, 131, 132 Anm. 82 – Nikolaus 133 – Translation 121 Anm. 49, 133 Renco, Bf. v. Clermont 172 rex christianissimus 173, 194 Rioja ( Kastilien ) 158 Ritterideal 447–451, 457, 462–466 Ritual 71–73, 190 f., 194, 297–299, 301–316, 319, 324, 326, 330, 353, 356–360, 437–440, 442 f., 445 f. – Demutsritual 315 – Herrschaftsritual 304 – Rechtsritual 304 – Unterwerfungsritual 308 f. – Versöhnungsritual 314 f. s. a. deditio Ritualmord 304 Robert II., frz. Kg. 174 f. Robert Guiscard, Hg. v. Apulien u. Kalabrien 105, 106 Anm. 3, 126, 132 f., 135, 138 f. Rodulfus Glaber, Chronist 172, 173 Anm. 156 Rom 48, 57–61, 71 f., 74 – St. Prassede 124 Roncaglia, Reichstag v. ( 1158 ) 191, 192 Anm. 25, 197, 204 Rotulus 142 Anm. 6, 152 Anm. 36, 161 Rudbeck, Olof, schwed. Barockdichter 259 f. Rudolf v. Rheinfelden, Hg. v. Schwaben, dt. Gegenkg. 90 Anm. 92, 91–94
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Rügebrauch 281, 294 Runen, Runenstein 11, 13, 15 f., 18 St. Bénigne ( Dijon ) s. Halinard, Wilhelm St. Benoît-sur-Loire ( dép. Loiret ), Kloster 121, 127 Anm. 70 St. Denis, Kloster 80, 84, 342 Anm. 58, 345 s. a. Fardulf, Gauzlin St. Georgen s. Theoger St. Germain-des-Prés s. Isenbardus, Paris St. Johannes ( Lübeck ) s. Arnold St. Juan de la Peña, Kloster 155 s. a. Paternus St. Maixent ( dép. Deux-Sèvres ), Kloster 166 Anm. 125, 175 St. Marcel / Chalon-sur-Saône, clun. Priorat 153 St. María de Villafranca del Bierzo 157 f., 162 St. Martial ( Limoges ), Kloster, Necrolog 147, 165 f., 169, 172 St. Martin ( Tours ), Kloster 170, 174 St. Martin-des-Champs ( Paris ), clun. Priorat, Necrolog 146, 149, 153, 164, 166–171, 178 St. Maur-des-Fossés ( dép. Val-de- Marne ), Kloster 171 St. Mihiel s. Adelbertus St. Quentin s. Fulrad St. Robert de Cornillon ( dép. Isère ), Kloster 172 St. Vaast ( Arras ), Kloster 342 Anm. 58 St. Vincenzo al Volturno ( Prov. Molise ), Kloster 118 Anm. 41, 120 Anm. 47, 127 Anm. 70, 129 f., 134 Anm. 91, 135, 136 Anm. 95, 137 f. St. Zoilo s. Carríon de los Condes, Gaufred, Stephanus Saale 52, 54 f., 57 Sachforschung, historische 25, 27–31, 34, 36, 42 Sachsen 43 f., 47 f., 50, 52–58, 68, 70, 72, 74, 90–94, 100 s. a. Heinrich Sachsenspiegel 315 Säule 107, 111, 113–116, 129 f., 135 Anm. 93, 138, 139 Anm. 107 Sahagún ( Diöz. Léon ), Kloster 157 Saintes ( dép. Charente-Maritime ), Bistum 166 f. s. a. Goderannus Salerno ( Reg. Campania ) 105 f., 108 f., 115–117, 125, 129–132, 134–140 – St. Matteo ( Dom ) 105, 109, 116–118, 129, 132, 133 Anm. 83, 137 f. s. a. Alfanus Salomon, Kg. v. Israel 84, 238 f. – Tempelbau 113 Anm. 29, 120, 123 Anm. 51, 126–129 San Isidro de Dueñas ( Diöz. Palencia ), clun. Priorat 157, 159–161 Sancho II., Kg. v. Kastilien 156
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Orts-, Personen- und Sachregister
Sancho III. Garcés, Kg. v. Navarra 155 f., 172 Sanktionen 381, 384 f., 389–393 s. a. Strafe Sanskrit 261 f. s. a. indische Literatur satisfactio 319, 437 Anm. 8, 439–441, 445 Saxo Grammaticus, dän. Historiker 272 Schandkarren 363–366, 369, 371–373, 376 f., 380 Anm. 83 Schlegel, August Wilhelm 261, 262 Anm. 69 Schlegel, Friedrich 261 Schramm, Percy Ernst 27–29, 34–36 Schulen, Hochschulen 397, 400, 404–407, 410, 412 f. Schwaben s. Burkhard, Hermann, Rudolf Schwert 442, 444 f. Schwur 302 Schwureinung 406 scopus 207, 213, 218, 228, 235, 242 Segovia ( Kastilien ), Bistum 180 Seitenschiff 107, 113, 115 f. senior, seniores 78, 80 Sens s. Ansegis Siegel 72 f. Silvester I., Pp. 41 Simonie 322 Sizilien 116, 139 Anm. 106 s. a. Heinrich Skaldendichtung 12, 18 Slawen 50–57 Snorri Sturluson, isländ. Dichter 15, 19, 257, 263–269 s. a. Edda Söderström, Carl Emil August, schwed. Dichter 273 Souvigny ( dép. Allier ), clun. Priorat 154, 177, 181 Anm. 209 Spanien 143, 148, 151, 155, 158 f., 162 f., 166 f., 178, 182 f. Speyer s. Otgar Statuten 142, 146, 158 f., 182 Staufer 185 f., 189, 191–193, 195, 197, 200, 202–206, 447, 456, 457 Anm. 55, 458 Anm. 60, 460–465 Stephan II., Pp. 177 f. Stephan ( István ) I., <der Heilige>, Kg. v. Ungarn 172 f. Stephanus, Prior v. St. Zoilo 160 f. Strafe 381–385, 386 Anm. 6, 387–389, 391 Sünde 322–329 Sutri, Treffen v. 1155 196 Sutton Hoo ( Suffolk, England ), Grablege 27, 31, 38 Szepter 72 Tacitus, Publius Cornelius, Germania 37 Tagino, Ebf. v. Magdeburg 323, 326 Tancred v. Bologna, Kanonist 404, 407, 408 Anm. 55
Tanz 281, 285–293, 295 Tarent ( Reg. Apulien ) 120 Anm. 46, 131, 132 Anm. 82 Tarifbuße 437 Tegnér, Esaias, schwed. Gräzist 271, 273 Tempelritter 352 Teotolo, Ebf. v. Tours 170, 174 Terenz ( Publius Terentius Afer ) 209 f., 219, 226–229, 237, 244, 248 Teresa, Gf. v. Carrión u. Saldaña 157, 159 f. Teresa v. Portugal, Gem. Gf. Graf Fernando Pérez de Traba 171, 178 Teresa Fernández de Traba, Gem. Gf. Nuño Pérez de Lara 171, 178 Thankmar, Sohn Kg. Heinrichs I. 318 Theater 281–285, 293, 295 Theoger, Abt v. St. Georgen, Bf. v. Metz 166 Thietmar, Bf. v. Merseburg, Geschichtsschreiber 318, 321–330 Thomas v. Aquin 393 Thor, germ. Gott 39 f., 266–269, 272 Tivoli ( Reg. Latium ) 391 Torslunda ( Öland, Schweden ) 37, 39 Tortona ( Prov. Alessandria ) 447, 451, 456, 458–460 Totenmemoria s. Necrolog Tours ( dép. Indre-et-Loire ) 170, 174 s. a. Gregor, Teotolo Transept 107, 115, 116 Anm. 35, 117, 131 Translatio 154, 159 Anm. 76, 160 f. Treueid 335, 339 Trevrizent 441–443, 446 Triumphbogen 107, 114–116 Turin 173 Turpio, Bf. v. Limoges 172 Tuszien s. Beatrix, Gottfried, Hubert, Mathilde Tympanon 121 Anm. 49, 135 Ungarn s. Geza, Koloman, Stephan Urban II., Pp. 169, 178 f. Urkunde s. Bleiurkunde, Privilegierung Urraca, Kgn. v. Kastilien-León 157, 161, 168 Anm. 130, 178 Ursus, Bf. v. Beauvais 170 utilitas 208 Anm. 5, 209, 210 Anm. 12, 211 f., 236, 243 Västergötland 39 Valsgärde ( Altuppsala ) 30 f., 37, 40 Vasall 352–359, 390, 431, 435, 438, 440, 442 Venantius Fortunatus 251, 272 Vendelzeit 40 Vendôme s. Burchard Venedig, Frieden v. ( 1177 ) 198 Vercelli ( Reg. Piemont ), Bistum 193, 195, 197, 199, 203 f.
Orts-, Personen- und Sachregister Verdun ( dép. Meuse ) 170 Verona ( Reg. Veneto ) 68 f., 74 Victoria, röm. Göttin 19 f., 22 Viktor II., Pp. 179 Viktor III., Pp. 179 Viperano, Giovanni Antonio 226 Anm. 79 virtus 449, 452 Vision 82, 142, 179 Visitatoren ( in clun. Provinzen ) 159 Anm. 74, 181 f. Vita activa 293–295 Viten, Vita Evasii 194, 196 – Vita Heinrici IV. 94, 95 Anm. 121 Völuspá, Dichtung d. Liederedda 257, 263 f., 269 Volksversammlung 307 f. Walahfrid Strabo 252, 272 Walhall 20, 38, 41 Warburg, Aby 27–29, 36 Welfen 97, 98 Anm. 132, 99, 100 Anm. 143 Weltenesche Yggdrasil 265 Westfassade 106, 132, 136
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s. a. Fassade Wichmann II. d. Jüngere, Gf. in Sachsen 56 Wido, Abt v. Montierneuf 165 Widukind, Mönch v. Corvey 55 f. Wikinger 37–40 Wilhelm III. ( der Fromme ), Hg. v. Aquitanien 173 Wilhelm V., Hg. v. Aquitanien 175 Wilhelm II., Abt v. Cluny 147 Wilhelm, Abt v. St. Bénigne ( Dijon ) 174 Wilhelm Clito, Gf. v. Flandern 352, 355 Wirkungspoetik 217, 221, 223, 244 Wolbodo, Bf. v. Lüttich, Kaplan Kaiser Heinrichs II. 170 Wolfram v. Eschenbach, Parzival 435–437, 440 f., 443, 445 f. Wulfar, Ebf. v. Reims 342 Anm. 58, 345 Ypern ( Prov. Westflandern ) 357 Zeitz, Bistum 55 Zweikampf 302 f., 309
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Orts-, Personen- und Sachregister
Orts-, Personen- und Sachregister
Tafelteil
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Orts-, Personen- und Sachregister
Tafel I 1 a–b
2 a–b
3 a–b
4 a–b
Abb. 1a-b IK 256 Godøy-M Rv – Solidus, Rv: Constantius II. in Quadriga, ca. 350/361 n. Chr. ( Kent – Overbeck – Stylow, römische Münze [ wie Anm. 28 ] Tafel 146, S. 169 ) Abb. 2a-b IK 62 Gerete-C – Silbermedaillon, Av: Constantin I. im Helm mit Christusmonogramm, 315. n. Chr. ( Tafel 136, S. 160 ) Abb. 3a-b IK 374 Undley-A – Argentius, Rv: Mars, Rhea Silvia und die Römische Wölfin, ca. 308/312 n. Chr. ( Tafel 135, S. 159 ) Abb. 4a-b IK 3 Åv-M Rv – Goldmedaillon ( zu 1 1/2 Solidi ), Rv: Victoria und Libertas mit Szepter halten eine zwischen ihnen stehende Trophäe, 352 n. Chr. ( Tafel 144, S. 167 )
Tafel II 5 a–b
6 a–b
7 a–b
8 a–b
Abb. 5a-b
IK 299 Maglemose ( I )-A/Gummersmark – Solidus, Av: Theodosius II mit Schild und Lanze, ca. 425 n. Chr. ( Tafel 162, S. 176 ) Abb. 6-b IK 345 Store Salte-A – Aureus, Av: Diocletianus mit Lorbeerkranz, die Hand im Adlokutionsgestus erhoben, 286 n. Chr. ( Tafel 129, S. 153 ) Abb. 7a-b IK 126 Midtmjelde-M Rv – Goldmedaillon ( zu 1 1/2 Solidi ), Rv: Valens zu Pferd in militärischer Tracht, die Rechte im Begrüßungsgestus erhoben, 367/375 n. Chr. ( Tafel 153, S. 171 ) Abb. 8a-b IK 90 Kejlungs-A – Aureus, Av: Probus mit Lorbeerkranz, in der Rechten einen Zweig, 278 n. Chr. ( Tafel 124, S. 148 )
Tafel III 9 a–b
10
11 a–b
12 a–b
9 a-b
IK 101 Kongsvad Å-A ( Zeichnung IK 3,2, S. 130 ) – Aureus, Rv: Victoria und Felicitas oder Pax mit einem Zweig in der Hand, 265 n. Chr. ( Tafel 113, S. 142 f. ) 10 IK 340 Raum Sønderby-C/Femø 11 a-b IK 66 Gummerup-B ( Detail ) – IK 165 Skovsborg-B ( Detail ) 12 a-b IK 66 Gummerup-B ( Detail ) – IK 165 Skovsborg-B ( Detail )
Tafel IV 13
14 a–b
15 a–b
16 a–b
13 IK 51, 1 Faxe-B 14 a-b 51, 1 Faxe-B ( Detail ) – Silbermedaillon, Rv ( vgl. Abb. 2 ): Adlocutio, 315. n. Chr. ( Tafel 136, S. 160 ) 15 a-b IK IK 51, 1 Faxe-B ( Detail ) – Sesterz des Antonius Pius, Rv: Mars Ultor mit Helm, Panzer, Beinschienen und Mantel, mit der Rechten auf die Lanze gestützt, die Linke hält den auf den Boden gesetzten Rundschild, 140/144 n. Chr. ( Tafel 76, S. 116 ) 16 a-b IK 51, 1 Faxe-B ( Detail ) – Goldmedaillon ( zu 4 1/2 Solidi ), Rv: Personifikation der Stadt Constantinopolis, in der Rechten den von Victoria mit Kranz und Palmzweig bekrönten Globus, ca. 353/361 n. Chr. ( Tafel 149, S. 169 )
Tafel V 17 a–b
18 a–d
17a-b 18a-d
IK 51, 1 Faxe-B ( Detail ); IK 595 Sorte Muld-B ( Detail ) ( Beck – Hauck, Zur philologischen und historischen Auswertung [ wie Anm.19 ] Tafel I ) IK 20 Beresina-Raum-B ( Detail ); IK 39 Dänemark ( X )-B ( Detail ); IK 165 Skovsborg-B ( Detail ); IK 51, 3 Gudme II-B ( Detail ) ( Zeichnung IK 3,2, S. 132 )
Tafel VI 19 a–b
20 a–b
21 a–b
21a-d
19a-b IK 66 Gummerup-B & Detail 20a-b IK 39 Dänemark ( X )-B & Detail IK 20 Beresina-Raum-B ( Detail ); IK 39 Dänemark ( X )-B ( Detail ); IK 51, 1 Faxe-B ( Detail ); IK 66 Gummerup-B ( Detail ); IK 165 Skovsborg-B ( Detail )
Tafel VII 22
23 a–b
24
25
26 a–c
22
Solidus, Rv: Kaiser Petronius Maximus mit Kreuzzepter, den rechten Fuß auf eine menschenköpfige Schlange gesetzt, 455 n. Chr. ( Tafel 165, S. 179 ) 23a-b IK 51, 1 Faxe-B & Detail 24 Stuttgarter Bilderpsalter, fol 84v: Asaph mit Gabelbecken ( wie Anm. 51 ) 25 Solidus, Rv: Honorius in militärischer Tracht, in der Rechten ein Vexillum, in der Linken Victoria auf Globus mit Kranz und Palmzweig, 394/432 n. Chr. ( Tafel 161, S. 176 ) 26 a-c IK 39 Dänemark ( X )-B ( Detail ); IK 66 Gummerup-B ( Detail ); IK 165 Skovsborg-B ( Detail )
Tafel VIII 27
29 28
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Salerno, S. Matteo, Grundriss und vermutliche Bauphasen ( Entwurf des Verfassers ). 28 Salerno, S. Matteo, Ansicht von Westen ( Archiv des Verfassers ). Darstellung Salernos im ‚Liber ad honorem Augusti‘, Bern, Burgerbibliothek, Cod. 120 II, fol. 116r ( hg. von Theo Kölzer – Marlis Stähli, Sigmaringen 1994, S. 119 ). 30 Salerno, S. Matteo, Querhaus und Apsiden von Südosten ( Foto des Verfassers ).
Tafel IX 33
31
32
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Salerno, S. Matteo, westliches Ende des nördlichen Obergadens ( Foto des Verfassers ). 32 Salerno, S. Matteo, obere Zone der südlichen Atriumsaußenwand von Südwesten ( Foto des Verfassers ). 33 Montecassino, Grundriß der Abtei von Antonio da Sangallo d. J., Galleria degli Uffizi, Inv. Nr. 1276 A ( Archiv des Verfassers ). 34 Erasmo Gattola, Historia abbatiae Casinensis, Venedig 1733, S. XVI, Umzeichnung eines Siegels von Montecassino ( Foto des Verfassers ).
34
Tafel X
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36 Cod. Vat. Lat. 1202, fol. 2r ( Mario D’Onofrio ( Hg. ), I Normanni. Popolo d’Europa 1030–1200, Ausstellungskatalog Rom, Venedig 1994, S. 176 ). 36 S. Germano ( Cassino ), S. Salvatore, Grundriß und Schnitt ( Erasmo Gattola, Historia abbatiae Casinensis, Venedig 1733, Taf. 7 ). 37 Salerno, S. Matteo, Atrium, Blick aus der Ostportikus nach Nordwesten ( Foto des Verfassers ). 38 Salerno, S. Matteo, Hauptportal ( Porta del Paradiso ), Ausschnitt ( Foto des Verfassers ). 35
Tafel XI
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Salerno, S. Matteo, Fassadengiebel und Stifterinschrift ( Foto des Verfassers ). 40 Venedig, S. Giacomo a Rialto, Inschrift ( Foto des Verfassers ) 41 Spoleto, sog. Clitumnustempel, oberer Teil der Fassade ( Foto des Verfassers ). 42 S. Vincenzo al Volturno, Inschriftenfragmente der Josuabasilika ( John Mitchell, The Display of Script and the Uses of Painting in Longobard Italy, in: Centro di Studi sull’Alto Medioevo, Spoleto ( Hg. ), Testo e immagine nell’alto Medioevo, XLI Settimana di Studio del CISAM ( Spoleto, 15.–21. April 1993 ), Spoleto 1994, Taf. 29 ).
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43 Salerno, S. Pietro a corte, Inschriftenfragmente ( Foto des Verfassers ). Salerno, S. Massimo, Gebälkstücke mit Stifterinschrift ( Bruno Ruggiero, Principi, nobiltà e Chiesa nel Mezzogiorno. L’esempio di s. Massimo di Salerno, Neapel 1973, Taf. 4 ). 46 Zara ( Zadar ), S. Maria, Inschriftenband am Glockenturm ( Fotos des Verfassers ).
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Tafel XII
Zara ( Zadar ), S. Maria, Inschriftenband am Glockenturm ( Fotos des Verfassers ).
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Tafel XIII
Tafel XIV
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Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes ( Bibliothek: Colegio de San Estanislao de Salamanca ) fol. 17v, 19. – 21. April
Tafel XV
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Necrolog von San Zoilo de Carrión de los Condes ( Bibliothek: Colegio de San Estanislao de Salamanca ) fol. 14r, 7. – 9. April