Susanne Fischer Entscheidungsmacht und Handlungskontrolle am Lebensende
Susanne Fischer
Entscheidungsmacht und Handl...
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Susanne Fischer Entscheidungsmacht und Handlungskontrolle am Lebensende
Susanne Fischer
Entscheidungsmacht und Handlungskontrolle am Lebensende Eine Untersuchung bei Schweizer Ärztinnen und Ärzten zum Informationsund Sterbehilfeverhalten
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Wintersemester 2006 auf Antrag von Prof. Dr. François Höpflinger und Prof. Dr. Peter-Ulrich Merz-Benz als Dissertation angenommen.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen / Marianne Schultheis Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15866-2
Inhalt
Einleitung
.9
1
12
Arzt-Patient und Sterben 1.1
Arzt und Patient 12 1.1.1 Die klassische Arzt- und Patientenrolle 13 1.1.2 Die Arzt-Patienten-Beziehung im Wandel 19 1.1.3 Kommunikation: Information und Behandlungsentscheidung.... 23
1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.3
Kategorien des Todes und statistische Angaben Klinischer Tod, biologischer Tod und Himtod SozialerTod Lebenserwartung Todesursachen und Sterbeverlauf Sterbeort
40 40 42 44 45 48
Handeln gegeniiber Sterbenden Die gesellschaftliche Bedeutung des Todes und der Normalbiographie 1.3.2 Situationsdefmition 1.3.3 Sterben in Organisationen 1.3.4 Bewusstheitskontext und Information
50 51 52 55 63
Sterbehilfe
70
1.3.1
2 2.1
Terminologie, gesetzliche Regelungen und Richtlinien 70 Terminologie 70 Gesetzliche Regelung 74 Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften 76 2.1.4 Kritische Betrachtung der Terminologie und der Regelungen.... 78 2.1.1 2.1.2 2.1.3
2.2
Patientenautonomie Die stellvertretende Entscheidung und die Patientenverfugung 2.2.2 Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften
80
2.2.1
2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 3 3.1
Forschungsergebnisse zur Sterbehilfe Theoretische Vorarbeiten Methodische Vorgehensweisen in der Sterbehilfeforschung Zustimmung zur Sterbehilfe („ArztInnen-Studien") Haufigkeit der Sterbehilfe („Todesfall-Studien") Determinanten und Merkmale der Sterbehilfe Kommunikation und Sterbehilfe
84 85 86 93 97 101 148 121
Fragestellungen Information uber Prognose Patientenverlangen nach aktiver Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe 3.1.3 Sterbehilfe: bisheriges Verhalten und Verhaltensabsicht
121 123
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5
124 124
Methodik 128 Das EURELD-Projekt 128 Grundgesamtheit und Stichprobe 129 Gewichtung und Rucklauf 130 Fragebogen und Operationalisierung der zentralen Variablen.. 132 Auswertungsmethoden 138
Ergebnisse 4.1
83
Fragestellungen und Methodik 3.1.1 3.1.2
4
81
Stichprobenbeschreibung
140 140
4.2 Information iiber die Prognose 4.2.1 Information der Patientin/des Patienten 4.2.2 Information der Angehorigen
142 142 142
4.3 Sterbehilfe 4.3.1 Patientenverlangen nach aktiver Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe 4.3.2 Bisher praktizierte Sterbehilfe 4.3.3 Verhaltensabsicht
144 144 145 146
4.4 Bivariate Zusammenhange 4.4.1 Unabhangige Variablen 4.4.2 Unabhangige Variablen und Verhaltensabsicht in Bezug auf Information iiber die Prognose 4.4.3 Unabhangige Variablen und Patientenverlangen nach aktiver Sterbehilfe und Suizidbeihilfe 4.4.4 Unabhangige Variablen und bisher praktizierte Sterbehilfe 4.4.5 Unabhangige Variablen und Verhaltensabsicht in Bezug auf Sterbehilfe Determinanten der Information iiber die Prognose (multivariate Betrachtung) 4.5.1 Information der Patientin/des Patienten 4.5.2 Information der Angehorigen
149 149 152 154 155 156
4.5
4.6 4.7 4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4 4.8 4.8.1 4.8.2 4.8.3 4.8.4 4.8.5 4.8.6 4.8.7
Determinanten des Patientenverlangens nach aktiver Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe (multivariate Betrachtung)
168
Determinanten der bisher praktizierten Sterbehilfe (multivariate Betrachtung) Passive Sterbehilfe Indirekt aktive Sterbehilfe Tiefe terminale Sedierung Aktive Sterbehilfe und Suizidbeihilfe
169 169 170 170 171
Determinanten der Bereitschaft, Sterbehilfe zu praktizieren (multivariate Betrachtung) Passive Sterbehilfe (Verzicht auf Chemotherapie) Indirekt aktive Sterbehilfe. Tiefe terminale Sedierung Aktive Sterbehilfe Suizidbeihilfe Determinanten der Sterbehilfe Determinanten der Sterbehilfe nach Person der Entscheidungskontrolle
Zusammenfassung und Diskussion 5.1 5.1.1 5.1.2
162 162 164
Information iiber Prognose Information der Patientin/des Patienten Information der Angehorigen
171 172 176 180 184 188 190 194 196 196 196 198
5.2
Sterbehilfe Patientenverlangen nach aktiver Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe 5.2.2 Bisheriges Verhalten und Verhaltensabsicht
200
5.2.1
5.3 6
Methodische Uberlegungen Schlussfolgerungen
200 201 209 211
Danksagung
214
Literatur
215
Einleitung
Neue medizinische Methoden und Techniken haben in den Industrienationen dazu gefuhrt, dass der Todeszeitpunkt teilweise beeinflusst werden kann. Gleichzeitig ist das Recht des Einzelnen, uber sich und sein Leben selbst und unabhangig zu bestimmen, zu einer Grundideologie modemer Gesellschaften geworden, womit in den letzten Jahrzehnten auch die Patientinnen- und Patientenautonomie zunehmend an Gewicht gewonnen hat. Das Bild des Arztes als „Halbgott in WeiB" hat dagegen stark an Bedeutung verloren und das patemalistische Modell der Arzt-Patienten-Beziehung wird zunehmend kritisiert. Diese Tendenzen - und u.a. die Kostenprobleme im Gesundheitswesen - tragen dazu bei, dass medizinische Fragen vermehrt offentlich und politisch diskutiert werden. In diesen Rahmen ist auch die seit einigen Jahren in der Schweiz und in anderen industrialisierten Landem gefuhrte Debatte iiber die Sterbehilfe (Abbruch lebenserhaltender MaBnahmen oder Verzicht auf solche; zur Verfugung stellen, Verschreiben sowie Verabreichen von todhchen Medikamenten) einzubetten. Wissenschaftlich haben sich mit dem Thema Sterbehilfe bisher vorwiegend Medizinerinnen, Theologen, Ethikerinnen und Juristen befasst. Sozialwissenschaftliche Arbeiten, insbesondere Theorien und Konzepte zur Sterbehilfe, fehlen weitgehend. Ebenso selten wie mit dem Fragekomplex der Sterbehilfe befassen sich sozialwissenschaftliche Studien mit der Frage der Patienteninformation. Studien dazu wurden hauptsachlich von Psychologinnen und Medizinem durchgefuhrt, wobei vorwiegend der Einfluss stabiler Patientenmerkmale auf das arztliche Informationsverhalten analysiert wurde. Die vorliegende Arbeit will dazu beitragen, die Bedingungsfaktoren zu erkennen und zu verstehen, die ftir das unterschiedliche Informationsverhalten von Arztinnen und Arzten beziiglich der Prognose und fur ihren unterschiedlichen Umgang mit der Sterbehilfe ausschlaggebend sind. Die Untersuchung konzentriert sich dabei auf das arztliche Verhalten gegeniiber terminal Erkrankten, d.h. gegenliber Personen, die kurz vor dem Tod stehen. Im Zentrum stehen folgende Fragen: •
Wie haufig informieren Arztinnen und Arzte ihre Patientinnen und Patienten sowie deren Angehorige liber die Prognose?
• • •
Wie oft verlangen Patientinnen und Patienten von ihren Arztinnen und Arzten, dass diese den Sterbeprozess beschleunigen? Wie oft praktizieren Arztinnen und Arzte Sterbehilfe? Welche Faktoren beeinflussen das arztliche Informations- und Sterbehilfeverhalten?
Da bisher kaum sozialwissenschaftliche Theorien sowie Konzepte zum Informationsverhalten und zur Sterbehilfe vorliegen, stlitzt sich die Untersuchung auf geeignete Ansatze aus benachbarten Forschungsgebieten sowie auf Ergebnisse aus empirischen Studien, die von Forschenden auBerhalb der Sozialwissenschaften durchgefuhrt wurden. Zur Beantwortung der Forschungsfragen werden die Daten des europaischen Sterbehilfeprojektes „Medical end-of-life Decisions: Attitudes and Practices in six European Countries" analysiert, welches zwischen November 2000 und Oktober 2003 durchgefuhrt wurde. Im Rahmen dieses Projektes wurden Arztinnen und Arzte aus neun verschiedenen Fachgebieten in der Deutschschweiz, in der Romandie und im Tessin schriftlich befragt. Bis zu dieser Befragung lagen fur die Schweiz keine Daten zur Haufigkeit der verschiedenen Sterbehilfeformen sowie zu den Einstellungen von Arztinnen und Arzten gegentiber diesen verschiedenen Formen vor. Ebenso fehlten bis zu diesem Projekt Angaben zum arztlichen Informationsverhalten gegentiber terminal Erkrankten. Der Fragebogen wurde von einem europaischen Projektteam, das aus Forschenden verschiedener Disziplinen zusammengesetzt war, konstruiert, daher basiert er nicht auf den iiblichen sozialwissenschaftlichen Methoden der Fragebogenkonstruktion. Aufgrund des mangelhaften Forschungsstandes und der Spezifik der Fragebogenkonstruktion wird das Vorgehen der vorliegenden Untersuchung auBerst deskriptiv und explorativ sein. Im ersten Kapitel werden Konzepte, Theorien, Studienergebnisse und empirische Evidenzen zur Arzt-Patienten-Beziehung sowie zum Sterben prasentiert. Im Mittelpunkt der Ausfuhmngen steht dabei Parsons (1952, 1964a, 1964b, 1964c) klassische Arzt- und Patientenrolle, da dieses Konzept der Rollenstrukturen in der vorliegenden Arbeit als theoretisches Modell dient. Im zweiten Kapitel wird der Forschungsstand zur Sterbehilfe vorgestellt. Die der eigenen Untersuchung zugrunde liegenden Fragestellungen und die zur Beantwortung der Fragen verwendete Methodik werden im dritten Kapitel prasentiert. Kapitel vier befasst sich mit den Ergebnissen der Untersuchung. Mit Hilfe deskriptiver Analysen wird ein erster Zugang zum Informations- und Sterbehilfeverhalten der Arztinnen und Arzten geschaffen. AnschlieBend werden anhand von bivariaten und multivariaten Analyseverfahren mogliche Zusammenhange der Information und der Sterbehilfe mit soziodemographischen Merkmalen, Erfahrungen mit Sterbenden sowie Kontextmerkmalen (Arbeitssetting und Sprachregion) untersucht.
10
Die durchgefuhrten Analysen sind zumeist induktiv-deskriptiv, da sich aufgrund des mangelhaften Forschungsstandes nur wenige Hypothesen formulieren lassen. Die wichtigsten Resultate der Untersuchung werden in Kapitel funf zusammengefasst und diskutiert. Im Schlussteil, dem sechsten Kapitel, werden Schlussfolgerungen fur zukiinftige Studien zum Informations- und Sterbehilfeverhalten gezogen.
11
1 Arzt-Patient und Sterben
Die Medizinsoziologie setzt sich vorwiegend mit der Medizin als Institution, die Gesundheit wiederherstellt, auseinander. Fragen zur Sterbehilfe und zur Situation am Lebensende allgemein lasst sie weitgehend auBer Acht (Knoblauch & Zingerle, 2005, S. 11; Streckeisen, 2001, S. 67). Aus diesem Grund ist es verstandlich, dass sozialwissenschaftliche Arbeiten zur Sterbehilfe, insbesondere Konzepte und Theorien dazu, fast vollstandig fehlen (Feldmann, 2002a). Wer den Fragekomplex Sterbehilfe untersuchen will, sieht sich somit gezwungen, auf Konzepte und Theorien aus benachbarten Forschungsgebieten sowie auf Ergebnisse aus empirischen Studien zur Sterbehilfe, die von Forschenden auBerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften durchgefiihrt wurden, zuriickzugreifen. Das vorliegende Kapitel geht auf Konzepte, Theorien, Studienergebnisse und empirische Evidenzen zur Arzt-Patienten-Beziehung sowie zum Sterben ein, bevor im nachsten Kapitel der Forschungsstand zur Sterbehilfe dargestellt wird.
1.1 Arzt und Patient Mein Forschungsinteresse gilt primar dem arztlichen Umgang mit Sterbehilfe und der Interaktion zwischen Arztin/Arzt und Patientin/Patient, so dass es sich aufdrangt, zunachst die Arzt-Patienten-Beziehung zu untersuchen. Ausgangspunkt meiner Darlegungen bildet die klassische Arzt- und Patientenrolle nach Parsons (1952, 1964a, 1964b, 1964c). Parsons Konzept der Rollenstrukturen dient in der vorliegenden Arbeit als theoretisches Modell, in das Teilfragestellungen eingebettet werden, wobei dieses Modell im Verlauf der Arbeit um zusatzliche Aspekte, die fur den wissenschaftlichen Umgang mit Sterbehilfe von Bedeutung sind, erweitert wird. Im Anschluss an Parsons klassische ArztPatienten-Beziehung, die teilweise als patemalistisch kritisiert wird (z.B. Scheibler et al., 2003), sollen einige der in den letzten Jahrzehnten empirisch feststellbaren Veranderungen in der Arzt-Patienten-Beziehung aufgezeigt werden sowie deren Grunde zur Sprache kommen. Diese Veranderungen auBem sich u.a. darin, dass die wissenschaftliche Literatur der Partizipation von Patientinnen und Patienten am Entscheidungsprozess sowie dem Informationsaustausch zwischen Arzt und Patient wachsende Bedeutung beimisst (z.B. Charles, Gafni & Whelan,
1997). Daher werden im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels theoretische Modelle sowie Forschungsergebnisse zum Informationsverhalten sowie zum Entscheidungsprozess im Vordergrund stehen, wobei den Determinanten der Arzt-Patienten-Kommunikation besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Diese Themenbereiche sind deshalb von Interesse, well sich einige meiner Teilfragestellungen auf das Informationsverhalten gegentiber Sterbenden sowie auf die Rolle von Patientin/Patient, Arztin/Arzt und Angehorigen bei Sterbehilfeentscheiden beziehen, in der Sterbehilfeforschung aber entsprechende Konzepte oder Forschungsergebnisse bisher weitgehend fehlen.
7.7.7 Die klassische Arzt- und Patientenrolle Das klassische Konzept der Arzt- und Patientenrolle geht zuriick auf Talcott Parsons (1902-1972), welcher als Hauptvertreter der strukturfunktionalistischen Handlungstheorie sowie als Begriinder der Medizinsoziologie gilt (Parsons, 1952, 1964a, 1964b, 1964c, 1965a, 1965b, 1965c). Ziel seiner Arbeit war es, eine einheitliche Theorie des menschlichen Handelns zu schaffen, wobei fur ihn die Frage im Zentrum stand, wie soziales Handeln strukturiert sein muss, damit es fur den Bestand einer Gesellschaft wichtige Funktionen erfiillen kann. Die strukturfunktionalistisch orientierte Theorie weist Professionen eine Rationalitatssteigerungsfunktion zu. Professionen werden als notwendiger Bestandteil modemer Gesellschaften gesehen, die diese funktionstuchtig erhalten, indem sie die fur eine Gesellschaft wichtigen Werte verwalten (Parsons, 1965a). ^ Dabei ist es Aufgabe der Profession „Arzt", den fur gesellschaftliche Ordnung wichtigen Wert „Gesundheit" zu verwalten (Parsons, 1952). Im Rahmen dieses Modells wird Krankheit oder das Einnehmen der Krankenrolle als abweichendes Verhalten betrachtet, da der Kranke im Normalfall eine ihm sozial zugewiesene Rolle z.B. die des Arbeitenden - nicht mehr wahmehmen kann. (...) health is included in the functional needs of the individual member of the society so that from the point of view of functioning of the social system, too low a general level of health, too high an incidence of illness, is dysfunctional (Parsons, 1952 S. 430). Nach Parsons (1952, S. 432) ist die modeme medizinische Praxis ein „Mechanismus" in einem sozialen System, das dazu dient, die Krankheit ihrer Mitglieder zu bewaltigen. Dieser Mechanismus umfasst eine Reihe institutionalisierter RolEine Kritik an Parsons stmkturfunktionalistischem Professionsansatz findet sich z.B. in Pfadenhauer (2003, S. 37ff) und Heidenreich (1999).
13
len, wobei unter einer Rolle ein Biindel von Verhaltenserwartungen aus speziellen Normen verstanden wird, die Bezugsgruppen an Inhaber bestimmter sozialer Positionen herantragen. Der Handelnde kennt diese Erwartungen und orientiert sich an ihnen. Die Patientenrolle sieht Parsons (1952) idealerweise als komplementar zur Arztrolle, wobei sich Patient und Arzt an einem gemeinsamen Ziel orientieren, namlich der Wiederherstellung von Gesundheit. Die Eigenheiten der Kranken- bzw. Arztrolle lassen sich nach Parsons (1952, S. 437ff) in einer ZweiPflichten-Zwei-Rechte-Struktur zusammenfassen. Die beiden Rechte des Kranken bestehen darin, dass er erstens davon entbunden ist, seine Krankheit zu rechtfertigen, und dass er - zweitens - auch seinen alltaglichen sozialen Verpflichtungen hinsichtlich Beruf und Familie nicht nachzukommen braucht, die er aufgrund seines Krankheitszustandes nicht erfullen kann. Die zwei Pflichten des Kranken dienen dem Schutz der ihm gewahrten Rechte: Der Erkrankte ist verpflichtet - es wird von ihm erwartet -, dass er einerseits gesund zu werden wunscht und andererseits die Krankenrolle so schnell als moglich wieder verlasst. Der Patient hat zur Erfullung dieser Pflicht unter Umstanden Schamgefuhle zu uberwinden und Verletzungen auf psychischer und physischer Ebene auf sich zu nehmen. Beispielsweise muss der Patient, um von seiner Krankheit befreit zu werden, medizinische MaBnahmen, wie Chemotherapie, chirurgische Eingriffe, Stecken von Infusion etc., iiber sich ergehen lassen. Femer ist der Patient verpflichtet, fachkundige und technisch kompetente Hilfe aufzusuchen und mit dem behandelnden Arzt konstruktiv zusammenzuarbeiten. Die Rolle des Arztes umfasst ebenso zwei Pflichten und zwei Rechte. Dem Arzt obliegt es, zum Wohle des Patienten zu handeln und mit bestem Wissen an seiner Gesundung zu arbeiten. „(...) the physician's responsibility is to ,do everything possible' to forward the complete, early and painless recovery of his patients" (Parsons, 1952, S. 450). Diese Pflicht des Arztes wird auch als Ethos der Medizin bezeichnet. Im Weiteren ist der Arzt verpflichtet, sein wissenschaftliches Wissen und seine technische Kompetenz in seiner Disziplin optimal einzusetzen. Im Gegenzug hat er das Recht, in die Privat- und Intimsphare des Patienten vorzudringen und seinen Korper zu verletzen. Ebenso darf der Arzt vom Patienten erwarten, dass dieser sich wahrend seiner Erkrankung ausschlieBlich von ihm behandeln lasst und nicht ohne Absprache mit ihm arztliche Hilfe Dritter in Anspruch nimmt. Eines dieser Pflichten-Rechte-Paare wird von Oevermann (1996) sowie Streckeisen (2001) als Prinzip der „Heilung durch Verwundung" bezeichnet. Es ist die Pflicht des Erkrankten, wieder gesund zu werden, Verletzungen auf psychischer und physischer Ebene auf sich zu nehmen sowie das damit einhergehende Recht des Arztes auf Verletzung des Korpers (z.B. im Rahmen einer Operation) zu akzeptieren. Parsons (1952) schreibt hierzu:
14
In this connection it should be noted that the burdens the physician asks his patients and their famiHes to assume on his advice are often very severe. They include suffering - you 'have to get worse before you can get better' as for instance in the case of a major surgical operation (S. 442). Die symmetrische Verteilung von Rechten und Pflichten zwischen Arzt und Patient fmdet ihre Entsprechung in den „pattem variables" (Parsons, 1952). Hierbei handelt es sich um eine Typologie von gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Handlungsorientierungen, welche flinf Dimensionen beinhaltet: universalistisch/partikularistisch, funktional spezifisch/diffus, affektneutral/affektiv, selbstorientiert/kollektivistisch und leistungsorientiert/zugeschrieben. Die klassische Arzt- und Patientenrolle charakterisiert Parsons (1952, S. 438) durch 1. Universalismus, 2. funktionale Spezifitat, 3. affektive Neutralitat, 4. Kollektivitatsorientierung und 5. Leistungsorientierung (Aktivismus) (Tabelle 1). Diese Orientierungsmuster ermoglichen es dem Arzt und dem Patienten, sich in normativ vorstrukturierten Situationen zu orientieren (Parsons, 1952, S. 434ff). Tabelle 1. Pattern Variables; Parsons, 1952 Gesellschafl Gemeinschaft Universalismus Partikularismus funktionale Spezifitat Diffusheit affektive Neutralitat Affektivitat Selbstorientierung Kollektivitdtsorientierung Leistungsorientierung Zuschreibung Die der Arztrolle entsprechenden Pattern Variables werden folgendermaBen umschrieben: Mit dem Begriff Universalismus wird der Umstand angesprochen, dass das arztliche Fachwissen nach allgemein fur Arztinnen und Arzte geltenden Kriterien bemessen wird. Die fachliche Kompetenz beschrankt sich auf wissenschaftlich begriindetes Wissen aus Physik, Chemie und Biologic sowie die eingesetzte Technik (Gerhardt, 1987, S. 176). Das benotige Fachwissen eignen sich der Arzt und die Arztin im Medizinstudium an. AuBerdem garantiert die universalistische Orientierung, dass der Arzt und die Arztin ihre Patientinnen und Patienten gleich und nicht besser oder schlechter als andere behandeln, was Parsons (1952, S. 438) in folgenden Worten zum Ausdruck bringt: „It is inherently universalistic, in that generalized objective criteria determine whether one is or is not sick, how sick, and with what kind of sickness; its focus is thus classificatory not relational." Die universalistische Betrachtung ftihrt somit dazu, dass der
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Patient ^ r den Arzt eine bestimmte Krankheitskategorie bzw. einen Fall darstellt (Tabelle 2). Tabelle 2. Pattern Variables der Arzt- und PatientenroUe (Parsons, 1952) Patient
Arzt
Universalismus
Beziehung zahlt nicht - Wissenschaft und Kompetenz Patient = bestimmter Krankheitsfall - Gleichbehandlung aller Patienten - Patient = bestimmter Krankheitsfall
Funktionale Spezifitat
auf Gesundheit begrenzt
- auf Gesundheit begrenzt
Affektive Neutralitat
Wille gesund zu werden ohne Emotionen
- Problem objektiv angehen - Antipathie/Sympathie darf keine Rolle spielen
Kollektivitatsorientierung - Eigeninteresse an Gesundung - Kooperation mit Arzt
- keine „Selbst- /Gewinnorientierung"
Leistungsorientierung
- durch Ausbildung - aktive Bewaltigung •^ instrumenteller Aktivismus
- kontingente Rolle - aktive Beteiligung -^ instrumenteller Aktivismus
Mit „funktionaler Spezifitat" ist gemeint, dass der Arzt uber Spezialwissen verfugt und somit ein Spezialist ist. Er besitzt ein aufgabenbezogenes, relativ genau umrissenes Wissen, das zur Erfullung seiner Spezialistenfunktion erforderlich ist. Das arztliche Handeln beschrankt sich dabei auf gesundheitsbezogene Aktionen. Andere, nicht gesundheitsbezogene Handlungen am Patienten sind ausgeschlossen (Gerhardt, 1987, S. 177). Dementsprechend nimmt Parsons an, dass die Handlungen der Patientinnen und Patienten ebenfalls ausschlieBlich gesundheitsbegrenzt und behandlungsbezogen sind (Parsons, 1952, S. 438) (Tabelle 2). "It is also functionally specific, confined to the sphere of health, and particular
16
'complaints' and disabilities within that sphere" (Parsons, 1952, S. 438). Dieses Kriterium interpretiert Streckeisen (2001) dergestalt, dass die Arzt-PatientenBeziehung auf dem Prinzip der Ubertragung und Gegenubertragung basiere. Der Patient muss sich dem Arzt gegeniiber offhen: „Er bringt Themen zur Sprache, die sonst nur im Rahmen einer wirklichen diffUsen, durch bedingungsloses Vertrauen gekennzeichneten Intimbeziehung beruhrt werden" (Streckeisen, 2001, S. 73). Der Arzt seinerseits entwickelt eine Gegenubertragung und bemuht sich, dass die entstandene Diffusitat nicht aus dem Rahmen der Spezifitat fallt. Im Idealfall gelingt ihm stets von neuem ein souveraner Balanceakt der widersprtichlichen Einheit von Angleichung an die quasi-familiale Vergemeinschaftung einerseits und Beibehaltung der unpersonlichen Berufsleistung andererseits (Streckeisen, 2001,8.73). Die Fahigkeit zu diesem Balanceakt zwischen Diffusitat und Spezifitat basiert gemaB Streckeisen (2001) auf der arztlichen Sozialisation, und zwar insbesondere auf den Erfahrungen, die der Arzt oder die Arztin im Rahmen des Praparierkurses in der Anatomic zu Beginn des Medizinstudiums macht. Medizinstudierende erw^erben in diesen Kursen nicht nur medizinisches Fachwissen, sondem sie durchleben ebenso eine Personlichkeitsentwicklung, indem sie lemen, die spezifisch-diffuse Widerspruchlichkeit wahrend der Autopsie auszuhalten (Streckeisen, 2001, S. 73). Die affektive Neutralitat beschreibt den Umstand, dass der Arzt ein Problem objektiv auf wissenschaftlich begrundbare Weise angeht und emotionale Reaktionen zuriickhalt. Es soil fur ihn ohne Bedeutung bleiben, ob ihm der Patient sympathisch ist oder nicht (Parsons, 1952, S. 435). „Sowohl Antipathic und Aggression als auch Sympathie und erotische Anziehung werden unter Kontrolle gehalten" (Streckeisen, 2001, S. 68f) (Tabelle 2). The physician is expected to treat an objective problem in objective, scientifically justifiable terms. For example whether he likes or dislikes the particular patient as a person is supposed to be irrelevant, as indeed it is to most purely objective problems of how to handle a particular disease (Parsons, 1952, S. 435). Entsprechend wird vom Patienten erwartet, dass sein Wille, gesund zu werden, nicht von Emotionen beeinflusst wird (Parsons, 1952, S. 438). Die Kollektivitatsorientierung bezieht sich darauf, dass eine Selbstorientierung des Arztes zu unterbleiben hat und ein gewinn- und profitorientiertes Verhalten nicht vorkommen darf. "Unlike the role of the businessman, however, it is collectivity-oriented not self-oriented" (Parsons, 1952, S. 434). Der Patient wie-
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derum sollte ein offensichtliches Eigeninteresse an seiner Gesundung zeigen und mit dem Arzt kooperieren (Parsons, 1952, S. 438) (Tabelle 2). Die Leistungsorientierung steht in Zusammenhang mit dem „instrumentellen Aktivismus", welcher einen wichtigen gesellschaftlichen Wert darstellt (Parsons, 1964a, S. 277f, 1964b, S. 238; Streckeisen, 2001, S. 69). GemaB Parsons (1964b, S. 277f) sind Individuen verpflichtet, durch Leistung, und zwar durch Leistung von etwas Bedeutungsvollem, dem Erhalt oder, besser noch, der Verbesserung der Gesellschaft zu dienen (Tabelle 2). Die Individuen sollen das Unvermeidliche nicht akzeptieren, sondem auBeren Einfltissen aktiv gegentibertreten. Diesen instrumentellen Aktivismus betrachtet er vor allem in Bezug auf Erkrankung und Gesundheit als wichtig: (...) the main orientation clearly is one of maintaining the pattern of mastery, not of „adjustement" to the inevitable. In no field has this been more conspicuous than that of health where illness has presented a challenge to be met by mobilizing the resources of research, science, etc., to the full (Parsons, 1964a, S. 211 f). Damit Arztinnen und Arzte die ihnen gestellten Aufgaben aktiv und erfolgreich angehen konnen, miissen sie liber umfassende Fachkompetenzen verfiigen. Diese Kompetenzen werden durch Ausbildung (Approbation) und nicht durch Vererbung erreicht (Gerhardt, 1987, S. 176). Die Krankenrolle wird als kontingente Rolle betrachtet, die jeder, unabhangig vom Status, ubemehmen kann. Im Normalfall ist diese Rolle zeitlich befristet, und man erwartet vom Erkrankten, dass er mit seinen gesunden Anteilen alles untemimmt, um moglichst bald wieder gesund zu sein (Tabelle 2). Parsons klassische ArztroUe ist als Idealtypus zu betrachten (Cockerham 1978, S. 165). Verschiedene Autorinnen und Autoren heben hervor, dass die Rollenanalyse von Parsons die wesentlichen Merkmale der Arztrolle erfasse, womit dieses Konzept fur die Erforschung der Arzt-Patienten-Beziehung auch heute noch relevant sei (z.B. Gerhardt, 1987, S. 162ff; Konig, 2002, S. 145; Lau, 1975; Siegrist, 1978; Streckeisen, 2001). AUerdings werden die konkreten Probleme der realen Arztrolle erst fassbar, wenn man diese abstrakte Rollenstruktur mit der Wirklichkeit konfrontiert (z.B. Konig, 2002; Oevermann, 1997). GemaB Oevermann (1997) liegen den arztlichen Handlungsanforderungen keine eindeutigen Handlungsorientierungen im Sinne der „pattem variables" zugrunde, vielmehr geht der Arzt zum Patienten gleichzeitig eine gemeinschaftlich sowie gesellschaftlich gestaltete Beziehung ein. Die Handlungsanforderungen sind in sich widerspruchlich und weisen universalistische und partikularistische, spezifische und diffuse sowie affektive und affektiv neutrale Elemente auf. GemaB Streckeisen (2001) und Oevermann (1997) muss der Arzt in seinem Handeln die widerspriichliche Einheit von individuellem Fallverstehen und universalisierter 18
Regelanwendung herstellen, wobei er sich am spezifischen, unpersonlichen Rollenverstandnis orientiert. Das heiBt, die Probleme der Patientinnen und Patienten werden unter Benicksichtigung ihres individuellen Lebens betrachtet (Fallverstehen) und mit Hilfe von universellem, wissenschaftlichem Wissen erschlossen (Streckeisen, 2001,8.72). Die arztlichen Handlungsorientienmgen, Universalismus, funktionale Spezifitat, affektive Neutralitat, Kollektivitatsorientierung und Leistungsorientierung (Aktivismus), werden wahrend der beruflichen Sozialisation sowie in der nachuniversitaren Berufsausbildung erworben. Bin Teil solcher Orientierungen kann jedoch auch antizipatorisch erfolgen, d.h. in friiheren Lebensphasen. Eine entsprechende antizipatorische Berufssozialisation fmdet etwa bei Kindem statt, deren Eltem bereits Medizinerin/Mediziner sind. Diese Kinder erwerben von ihren Eltem in Form des Modell-Lemens berufstypische Einstellungen und Verhaltensweisen. Da die berufliche Selbstrekrutierung in der Medizin bis vor kurzem sehr verbreitet war, spielte diese Art der Sozialisation wahrscheinlich eine bedeutende Rolle (Siegrist, 1995, S. 227 und 238f). Neben den beruflichen Normen werden im beruflichen Sozialisationsprozess auch das Basiswissen sowie die Basisfahigkeiten fur die medizinische Tatigkeit erworben. Als besondere Anforderungen sind dabei das Aushalten von extremen Belastungen sowie das Treffen von Entscheidungen zu betrachten. So lemen die Medizinstudentin und der Medizinstudent auch in belastenden Situationen entscheidungs- und handlungsfahig zu bleiben, wobei das Lemen am Modell von besonderer Bedeutung ist (Siegrist, 1995, S. 239). Parsons wies darauf hin, dass der klassische Arzt „als ein spezieller, vermutlich zeitbedingter Rollentypus betrachtet werden [muss]", der dem Druck der gesellschaftlichen Differenzierung auf die Dauer nicht wird standhalten konnen (Parsons 1964c, S. 429; zitiert nach Streckeisen, 2001, S. 79). Inzwischen ist er tatsachlich zu einem Arzttyp unter zahlreichen anderen geworden (Streckeisen 2001, S. 79). Aber nicht nur die gesellschaftliche Differenzierung, sondem auch weitere Verandemngen wirken sich auf die Arzt-Patienten-RoUen aus. Auf einige dieser Verandemngen wird im folgenden Abschnitt eingegangen.
1.1.2 Die A rzt-Patienten-Beziehung im Wandel Die Arzt-Patienten-Beziehung befmdet sich seit einigen Jahrzehnten im Wandel. In Bezug auf diesen Wandel ist teilweise auch von Deprofessionalisiemng (z.B. Bollinger & Hohl, 1981) die Rede, womit gemeint ist, dass der Arztbemf, wel-
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cher aus berufssoziologischer Perspektive als Prototyp der Profession^ bezeichnet wird (z.B. Parsons, 1952, S. 434; Hitzler & Pfadenhauer, 1999, S. 97), wesentliche Merkmale einer Profession verloren hat. Beziiglich der Frage, welche Merkmale Professionen kennzeichnen, besteht Uneinigkeit (vgl. Pfadenhauer, 2003). Je nach theoretischem Ansatz werden unterschiedliche Merkmale aufgezahlt. Alle Theorien gehen aber davon aus, dass sich Professionen durch Selbstkontrolle und Autonomie sowie ein hohes Prestige charakterisieren. So handelt es sich gemaB dem Funktionalisten Goode (1972) bei einer Profession um eine zunftartige Primargruppe (community), die ein Monopol (iber die anspruchsvoile Qualifikation sowie die Kontrolle uber die Rekrutierung und die Ausbildung neuer Gruppenmitglieder innehat. Von den zehn Merkmalen, mit denen Goode (1960) Professionen beschreibt, beziehen sich deren flinf auf die Selbstkontrolle: Die Profession legt ihre Ausbildungsstandards selbst fest; die Lizenz und Zulassung erfolgt durch Professionsmitglieder; die meisten Gesetze, die die Profession betreffen, werden von ihr selbst ausgestaltet; der praktisch Tatige erfahrt keine Beurteilung und Kontrolle durch Laien; und die Praxisnormen der Profession sind zwingender als die gesetzHchen Kontrollen (Goode, 1960, S. 903). Seit einiger Zeit ist ein sukzessiver Autonomie- sowie Prestigeverlust des Arztestandes zu verzeichnen. Die Grunde fur diesen Verlust sind vielfaltig und werden sowohl auf der Ebene des konkreten Handels als auch auf der allgemeinen Ebene gesellschaftlicher Entwicklungen gesehen. Auf der Ebene des konkreten Handehis kommt Kritik sowohl von Berufsgruppen, mit denen Arztinnen und Arzte zusammenarbeiten, als auch von Patientinnen und Patienten: Jene Berufsgruppen, mit denen Arztinnen und Arzte in einem Kooperationsverhaltnis stehen (Sozialarbeiter, Psychologen, Psychotherapeuten, Logopaden), stellen nicht nur bestimmte arztliche Verhaltensweisen in Frage, sondem sie fechten ebenso die dominierende Stellung der Arztinnen und Arzte an, indem sie ihr eigenes Fachwissen gegen dasjenige der Arztinnen und Arzte setzen und diesen Kompetenzen in psychischen beziehungsweise in sozialen Bereichen absprechen (Bollinger & Hohl, 1981, S. 456f). Wahrend einige Autorinnen und Autoren der Auffassung sind, dass die arztliche Selbstkontrolle femer immer haufiger durch Ethikkommissionen, die uber den medizinischen Handlungsspielraum bestimmen, eingeschrankt werde (z.B. Feuerstein & Kuhlmann, 1999, S. 9), sieht Pfadenhauer
^ Das Wort „Profession" ist auf das lateinische Nomen „professio" zuruckzufiihren. Der Begriff beinhaltet somit das Moment des Bekenntnisses beziehungsweise des Geliibdes. Obwohl der Eid des Hippokrates in seiner ursprunglichen Form von Arztinnen und Arzten nicht mehr geleistet wird, hat er bis heute noch einen Einfluss. Der Eid enthalt verschiedene Elemente, die auch heute noch Bestandteil arztUcher Ethik sind: das Gebot, sein Wissen zum Nutzen der Kranken einzusetzen und den Kranken nicht zu schaden, die Schweigepflicht, das Totungsverbot, das Verbot sexueller Handlungen mit Patientinnen und Patienten etc. Das Geliibde gilt jedoch nicht als Merkmal von Professionen.
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(2003, S. 61) in Ethikkommissionen ein neues Instrument der arztlichen Selbstkontrolle, da es sich bei einem groBen Teil der Mitglieder von Ethikkommissionen um Medizinerinnen und Mediziner handle. Patientinnen und Patienten wiederum betrachten Arzte zunehmend als Dienstleistungsanbieter, was auch beinhaltet, dass sie fehlerhafte Leistungen als einklagbar auffassen. So steigt die Zahl von Schadenersatzprozessen gegen Arztinnen und Arzte kontinuierhch an (z.B. Hohner, 1997, S. 14). Aber auch die Arztinnen und Arzte selbst tragen dazu bei, dass der Autonomieverlust voranschreitet. So sehen sich Arztinnen und Arzte zunehmend weniger verpflichtet, eine umfassende Verantwortung fur die Patientin und den Patienten zu ubernehmen. Dies ist hauptsachlich das Ergebnis eines veranderten gesellschaftlichen Kontextes, in dem eine 40-Stunden-Woche, geregelter Urlaub, Trennung von Arbeit und Freizeit etc. als Selbstverstandlichkeiten gelten (Bollinger & Hohl, 1981, S. 458). Auf der allgemeinen Ebene gesellschaftlicher Entwicklungen ist ein Zusammenhang zwischen schwindender Autonomic der Arzte und neu entstandenen Problemlagen zu erkennen. So stehen neue diagnostische und therapeutische Verfahren sowie neue Forschungsfelder - wie z.B. Praimplantationsdiagnostik oder Embryonenforschung - mit herkommlichen moralischen Normen zum Teil im Widerspruch (z.B. Feuerstein & Kuhlmann, 1999). Ferner ermoghchen es neue medizinische Methoden und Techniken, den Todeszeitpunkt bis zu einem gewissen Grad zu beeinflussen. Die mit den neuen medizinischen Verfahren und Behandlungen einhergehenden sozialen Veranderungen, wachsenden Risiken, Kosten sowie ethischen Probleme fiihren einerseits zu - teilweise heftigen offentlichen Diskussionen und andererseits zur Einflussnahme nichtmedizinischer Expertinnen und Experten auf das medizinische System. Ferner steht das arztliche Handeln zunehmend unter dem Druck von Krankenkassen und anderen Versicherem und sieht sich permanent von allfalligen juristischen Sanktionen bedroht. Auch in anderen Bereichen lassen sich gesellschaftliche Prozesse aufzeigen, die den Autonomieverlust begiinstigen. So wurden zur „alten" medizinischen Ausbildung im Allgemeinen nur solche Studenten zugelassen, deren Eltem bereits Mediziner waren, die also bereits eine antizipatorische Berufssozialisation durchlebt batten (vgl. Siegrist, 1995, S. 238f).^ Ferner wurde der Inhalt des Studiums sowie des Priifungsstoffes von der Profession selbst festgelegt. Das flihrte u.a. dazu, dass „auBerliche" Elemente, wie das Auftreten, die Allgemeinbildung, die Kleidung etc., eine wichtige RoUe spielten, was „von Studenten als ,Unge^Aus machtheoretischer Perspektive erweisen sich die friiher geltenden Zulassungsbedingungen zum Medizinstudium als SchlieBungsstrategien, mittels derer eine Gruppe den Zugang zu privilegierten Positionen am Arbeitsmarkt monopolisiert (z.B. Freidson, 1970).
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rechtigkeit', Professorenwillkiir' ect. erlebt" wurde (Bollinger & Hohl, 1981, S. 449). Die veranderten Zulassungsbedingungen fiir das Medizinstudium haben inzwischen einerseits das Geschlechterverhaltnis der Studierenden verandert und andererseits dazu beigetragen, dass Studentinnen und Studenten aus anderen als den traditionellen Herkunftsmilieus ein Medizinstudium aufnehmen. Als Folge davon sind das berufliche Prestige der Medizin und gleichzeitig das Einkommen von Medizinerinnen und Medizinem gesunken (je hoher der Frauenanteil - desto geringer das berufliche Prestige), wobei zwischen den einzelnen Fachgebieten groBe Unterschiede bestehen (vgl. Hasler, 2002). AuBerdem bringen es die veranderten Zulassungsbedingungen zum Medizinstudium mit sich, dass der „heimliche Lehrplan""^ auf Subjekte trifft, die aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen nicht empfanglich sind fiir seine Gehalte, womit er seine Wirkung teilweise einbusst (Bollinger & Hohl, 1981, S. 459f). Der „heimliche Lehrplan" verliert uberdies dadurch an Macht, dass der Staat immer starker ins Prufungswesen eingreift. Ein weiterer Grund fiir den Autonomieverlust der Arztinnen und Arzte ist in der Differenzierung und Spezialisierung der arztlichen Tatigkeit zu sehen. In den letzten dreiBig Jahren stieg die Anzahl von Spezialistinnen und Spezialisten massiv an (z.B. Hohner, 1997, S. 12). Diese fachliche Spezialisierung fuhrt dazu, dass Arztinnen und Arzte zunehmend auf das Wissen von Kolleginnen und Kollegen angewiesen sind (Feuerstein & Kuhlmann, 1999, S. 10). Wahrend auf Seiten der Arztinnen und Arzte ein deutlicher Autonomieverlust zu verzeichnen ist, haben das Selbstbestimmungspotenzial und die Autonomie auf der Patientenseite in der jungeren Vergangenheit an Bedeutung gewonnen (z.B. Seale et al., 1997). Das in der Medizin der westlichen Gesellschaften traditionell geltende Prinzip „salus aegroti suprema lex esto" (das Wohl des Patienten sei oberstes Gebot) wird daher zunehmend durch das Prinzip „voluntas aegroti suprema lex esto" (der Wille des Patienten sei oberstes Gesetz) erganzt bzw. ersetzt (z.B. Jox, 2004, S. 402). Im Zuge dieser Veranderungen gerat die patemalistische Arzt-Patienten-Beziehung zunehmend unter Rechtfertigungsdruck und die - vorwiegend medizinische sowie psychologische - Literatur diskutiert hauptsachlich die partnerschaftliche Arzt-Patienten-Beziehung (z.B. Klemperer, 2006). Dabei wird die Kommunikation ins Zentrum des Interesses geriickt, da sie einen zentralen Aspekt der Arzt-Patienten-Beziehung darstellt. Indem Arzt und Patient kommunizieren, gewinnt der Erstere die Informationen, Unter dem „heimlichen Lehrplan" verstehen Bollinger und Hohl (1981) sowie Siegrist (1995), dass wahrend des Medizinstudiums „extrafunktionale" Qualifikationen gefordert werden, wie beispielsweise die Fahigkeit, die u.a. wahrend des Anatomiekurses vermittelt wird, auch unter psychischen Belastungen handlungsfahig zu bleiben, oder Distanzierungstechniken im emotionalen (Witze und Zynismus) oder im kognitiven Bereich (Abstraktionen von spezifischen Personen, Denken in Krankheits fallen).
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die es ihm erst ermoglichen, eine Diagnose zu stellen und daraus angemessene Behandlungsmoglichkeiten abzuleiten. AuBerdem ist das Gesprach unerlasslich, um eine sinnvolle Behandlungsentscheidung zu treffen. Da die Diagnosestellung sowie das Treffen von Behandlungsentscheiden zu den zentralen Aufgaben des Arztes gehoren, geht der folgende Abschnitt auf die Arzt-Patienten-Kommunikation ein, wobei das arztliche Informationsverhalten sowie die Mitbeteiligung der Patientinnen und Patienten am Entscheidungsprozess im Zentrum stehen sollen.
1.1.3 Kommunikation: Information und Behandlungsentscheidung Die Kommunikation zwischen Arztin/Arzt und Patientin/Patient dient im Wesentlichen dem Austausch von Informationen und dem Treffen von behandlungsbezogenen Entscheidungen (z.B. Arora, 2003; Ong, De Haes, Hoos & Lamnes, 1995). Dabei ist es von Bedeutung, dass es sich bei der Arzt-PatientenBeziehung um eine asymmetrische Beziehung handelt, d.h. dass zwischen Arzt und Patient ein Machtungleichgewicht besteht. Fur Patientinnen und Patienten ist es nicht ohne weiteres moglich, von ihren Arztinnen und Arzten Informationen einzufordem, ihre Wunsche durchzusetzen, eine verordnete Behandlung abzulehnen oder mitzuentscheiden bzw. selbst Entscheidungen zu treffen. Nachfolgend wird zuerst auf dieses Machtungleichgewicht eingegangen. AnschlieBend werden theoretische Modelle der Arzt-Patienten-Kommunikation vorgestellt sowie Studienergebnisse zur Mitentscheidung, zum arztlichen Informationsverhalten sowie zu den Determinanten der Arzt-Patienten-Kommunikation prasentiert. Machtungleichgewicht Die Arzt-Patienten-Interaktion ist eine strukturell asymmetrische Beziehung, die wesentlich durch die Experten-, Definitions- und Steuerungsmacht des Arztes beziehungsweise der Arztin gepragt ist (Siegrist, 1995, S. 244). Im Allgemeinen ist der Patient in Bezug auf medizinische Kenntnisse Laie der Arzt hingegen Experte. Der Arzt verfLigt somit uber Expertenmacht. Im Weiteren ermachtigt die soziale Rolle Arzt den Mediziner oder die Medizinerin dazu, zu defmieren (Defmitionsmacht). So stellen Arztinnen und Arzte zum Beispiel Diagnosen, schreiben Patientinnen und Patienten krank oder legen Behandlungen fest. AuBerdem verfiigen Arztinnen und Arzte in Interaktionssituationen liber Steuerungsmacht, da es ihnen zusteht beispielsweise Beginn, Ende und Verlauf eines Kontaktes zu steuem oder Sanktionen zu verhangen (Siegrist, 1995, S. 244). Zusatzliche De23
terminanten wie organisatorisch-institutionelle Rahmenbedingungen sowie soziookonomische bzw. soziokulturelle Charakteristika der Patienten konnen die Arzt-Patienten-Asymmetrie noch verstarken (Siegrist, 1995, S. 245). In Bezug auf die organisatorisch-institutionelle Rahmenbedingungen weist Siegrist (1995, S. 245) darauf hin, dass die Arztpraxis einen engeren Handlungsspielraum fur Asymmetrie bietet als das Krankenhaus. In der Arztpraxis verfiigen Patientinnen und Patienten im Allgemeinen tiber mehr Verhandlungsmacht als im Krankenhaus. Sie haben die Moglichkeit, die Praxis zu verlassen, eine Behandlung abzubrechen oder den Arzt oder die Arztin zu wechseki. In Krankenhausem dagegen sind die Handlungsspielraume der Patientinnen und Patienten stark eingeschrankt, und zwar durch zwei allgemeine Aufgaben dieser Organisation: medizinische Aufgaben und Pflege- und Versorgungsaufgaben. Die Organisation Krankenhaus hat diagnostische und therapeutische MaBnahmen zu realisieren, was „eine arbeitsteilig durchorganisierte Betriebsstruktur, in welcher sowohl Routineablaufe als auch Notfallsituationen bewaltigt werden konnen" (Siegrist, 1995, S. 246) erfordert. Diese Struktur stellt bestimmte Anforderungen an den Patienten: „Standige Erreichbarkeit, d.h. begrenzte Riickzugschancen; Storbarkeit zu jeder Tages- und Nachtzeit; Wartezeiten; kurzfristige Umdispositionen (z.B. Verlegungen, Entlassungen); Unterbrechung begonnener diagnostischer oder therapeutischer MaBnahmen; fehlende Wahlmoglichkeiten des betreuenden Personals, Personalwechsel nach Dienstplanen; begrenzte Einflussnahme auf Handlungsprogramme selbst unter untypischen, auBergewohnlichen Umstanden" (Siegrist, 1995, S. 246). Neben den diagnostischen und therapeutischen Aufgaben hat das Krankenhaus Pflege- und Versorgungsaufgaben. Um diese erfullen zu konnen, sind Anstaltsordnungen erforderlich, die u.a. den Tagesablauf koUektiv festlegen und Verfahren fiir bestimmte Patientenkategorien standardisieren. Die Asymmetrie wird zudem durch die Beeintrachtigung, die mit der Erkrankung einhergeht, verstarkt. Besonders ins Gewicht fallt diese ungleiche Machtverteilung, wenn der Patient schwerstkrank, sterbend, komatos, dement ist oder auf der Intensivstation liegt. Uberdies konnen Statusunterschiede zwischen Arzt und Patient in Bezug auf Ausbildung, Einkommen und Geschlecht dazu beitragen, die Machtunterschiede zu verstarken. Im Zusammenhang mit den Statusunterschieden sind vor allem die schichtspezifischen Sprachcodes von Bedeutung. Bernstein (1972) zeigt in seinen Studien, dass zwei schichtspezifische Sprachvarianten vorhanden sind, welche das kulturell vermittelte soziale Handeln der Mittelschicht von demjenigen der Unterschicht unterscheiden. Die beiden Sprachvarianten nennt er sprachliche Codes. Bernstein spricht von einem elaborierten und einem restringierten Code. Wahrend der elaborierte Code flir die Mitglieder der Mittelschicht charakteristisch ist, ist der restringierte Code flir
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Mitglieder der - wenig aufstiegsmobilen - Arbeiterschicht typisch. GemaB Siegrist (1995, S. 112) sind die wichtigsten Merkmale des elaborierten Codes: „Komplexere, vollstandigere Satze; Verwendung aller Zeitformen; Unterscheidung zwischen personlichen und unpersonlichen Pronomina; haufiger Gebrauch von Konjunktiv und Adverbien; Verbalisierung von Handlungsabsichten". Dieser Sprachcode begiinstigt anpassungsfahige Kommunikation und vereinfacht „Abstraktionsleistungen uber situativ Gegebenes hinaus" (Siegrist, 1995, S. 112). Der restringierte Code dagegen „schrankt Abstraktionsleistungen ein, (...) erschwert (...) flexible Interaktion und Verbalisierung von Handlungsintentionen ebenso wie eigenstandige kognitive Strukturierungsleistungen gegeniiber der Umwelt" (Siegrist, 1995, S. 112). Dieser Code ist gekennzeichnet durch „kurze, oft verblose Satze; Dominieren des Prasens; seltene Verwendung von Konjunktiv; keine scharfe Trennung von personlichen und unpersonlichen Pronomina" (Siegrist, 1995, S. 112). Ein solcher Kommunikationsstil erlaubt es nur in eingeschranktem Mal3, eigene Wunsche und Absichten adaquat zum Ausdruck zu bringen und komplexere Zusammenhange selbstandig zu ordnen. Verschiedene medizinsoziologische Studien halten fest, dass Arztinnen und Arzte ublicherweise einen elaborierten Sprachcode benutzen, wahrend es fiir Patientinnen und Patienten, welche diesen Code nicht anwenden konnen, schwierig ist, ihre Absichten und Informationsbediirfnisse sprachlich angemessen zu artikulieren und von sich aus Fragen zu stellen (Pendleton & Bochner, 1980; Siegrist, 1995, S. 247). Nachfolgend werden theoretische Modelle der Arzt-PatientenKommunikation vorgestellt, bevor empirische Ergebnisse zur Sprache kommen. Theoretische Modelle der Arzt-Patienten Kommunikation Charles, Gafhi und Whelan (1997, S. 682) unterscheiden vier Modelle, die die Arzt-Patienten-Kommunikation beschreiben. Diese konzipieren jeweils die Rolle des Arztes und die des Patienten im Entscheidungsprozess auf verschiedene Weise: Es sind dies das patemalistische Modell (paternalistic model), das partizipative Entscheidungsfmdungsmodell (shared decision-making), das Modell des Arztes als Experte (professional as agent model) und das Modell der informierten Entscheidungsfindung (informed decision-making). Als Unterscheidungsmerkmale fungieren dabei die Dimensionen „Kontrolle ixber die Information" und „Kontrolle iiber die Entscheidung" (vgl. Scheibler, Janssen & Pfaff, 2003). Das patemalistische Modell (paternalistic model) wird zumeist mit dem strukturfunktionalistischen Ansatz der Arzt- und Patientenrolle von Parsons (1952) gleichgesetzt, welcher von allgemein giiltigen Gesundheitszielen ausgeht (Scheibler et al., 2003). Beim patemahstischen Modell verfugt der Arzt sowohl
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iiber die Macht der Informationskontrolle als auch iiber jene der Behandlungsentscheidung. Der Informationsaustausch zwischen Arzt und Patient erfolgt hauptsachlich so, dass der Arzt dem Patienten Fragen stellt, die dieser zu beantworten hat: „if you want to get well, you have to give me the information I need to do my job" (Parsons, 1952, S. 456). Die moglichen Vorteile und Risiken der vorhandenen Behandlungsoptionen wagt der Arzt alleine oder im Gesprach mit Kolleginnen und Kollegen gegeneinander ab und trifft die Entscheidung selbst. Patientinnen und Patienten sowie deren Angehorigen kommt dabei bestenfalls im Rahmen der Umsetzung eine gewisse Mitwirkungspflicht zu. Teilweise wird dieses Modell auch als biomedizinisches Modell bezeichnet, weil sich der Informationsaustausch auf biomedizinische Bereiche beschrankt und psychosoziale Aspekte ausgeklammert bleiben. Dem patemalistischen Modell liegen gemaB Charles, Gafhi und Whelan (1999, S. 652) vier Annahmen zu Grunde, die es als vemiinftig erscheinen lassen, dass sowohl der Arzt als auch der Patient erwarten, dass der Arzt bei Behandlungsentscheiden eine dominante Rolle iibemimmt: (1) Fiir die meisten Erkrankungen existiert eine optimale Behandlungsvariante, wobei Arztinnen und Arzte stets ausreichend dariiber informiert sind, welches die beste zur Verfiigung stehende Behandlung ist; (2) Arztinnen und Arzte wenden ihr Wissen konsistent an; (3) aufgrund ihres Expertenwissens und ihrer Erfahrungen sind sie dazu pradestiniert, verschiedene Behandlungsoptionen gegeneinander abzuwagen und eine Entscheidung zu fallen; und (4) Arztinnen und Arzte sind wegen ihrer professionellen Zustandigkeit fur das Wohlergehen ihrer Patientinnen und Patienten legitimiert, Behandlungsentscheide zu fallen (Charles et al. 1999, S. 652). Das Modell der partizipativen Entscheidungsfmdung (shared decisionmaking model) fokussiert auf den Prozess der Verhandlung zwischen Patientin/Patient und Arztin/Arzt uber eine aus Sicht beider Parteien gute Therapieentscheidung. Ziel der partizipativen Entscheidungsfindung ist es somit, eine L6sung zu fmden, die beide Parteien als Ergebnis ihrer „Verhandlung" akzeptieren (Charles et al, 1997; Isfort et al, 2002). Dieses Vorgehen verlangt, dass Arztinnen und Arzte ihre Patientinnen und Patienten auf verschiedenen Stufen in den Prozess einbeziehen. Dies erfordert verglichen mit dem patemalistischen Vorgehen mehr Zeit und ist mit Schwierigkeiten verbunden, wenn zum Beispiel die Praferenzen des Patienten nicht mit denjenigen des Arztes libereinstimmen. Bei der partizipativen Entscheidungsfmdung werden sowohl Informationen als auch personliche Praferenzen und Wertvorstellungen zwischen Arzt und Patient ausgetauscht. Wichtige Voraussetzungen fur eine qualifizierte partizipative Entscheidung sind die Erklarungen und Informationen uber die Erkrankung(en) und Behandlungsoptionen sowie das Offenlegen der Wiinsche. Die Arztin oder der Arzt auf der einen Seite muss eine adaquate Diagnose stellen, iiber das notige
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Wissen bezuglich vorhandener Behandlungsoptionen sowie deren Wirkungen und Nebenwirkungen verfiigen und diese Informationen der Patientin oder dem Patienten auf verstandliche Weise vermitteln. Der Patient seinerseits muss seine Wiinsche und Praferenzen kennen, und zwar sowohl in Bezug auf die Behandlungen als auch auf deren Ergebnisse, und diese dem Arzt mitteilen. Dieses Modell wird auch als psychosoziales Modell bezeichnet, da hier - anders als beim patemalistischen Modell - nicht nur biomedizinische, sondern auch psychosoziale Aspekte wichtig sind. Das partizipative Vorgehen verlangt von den Arztinnen und Arzten, dass sie ihre Behandlungsvorschlage begrlinden. Auf der Grundlage eines so gestalteten Informationsaustausches lassen sich die Behandlungsoptionen im Kontext der spezifischen Situation eines Patienten und seiner Bediirfnisse evaluieren (Charles et al., 1999). Ein partizipatives Vorgehen bei der Therapieentscheidung wird hauptsachlich dort empfohlen, wo es um chronische Erkrankungen geht und wo mehrere Behandlungsoptionen offen stehen (Charles et al., 1999). Ziel des Modells des Arztes als Experte (professional as agent model) ist es, die Informationsasymmetrie zwischen Arzt und Patient aufzuheben. Der Arzt teilt zwar bei diesem Modell die Information mit dem Patienten, die Entscheidung hingegen fallt er alleine, indem er entweder davon ausgeht, die Praferenzen des Patienten zu kennen, oder nachdem er diese zuvor erfragt hat The professional-as-agent assumes responsibility for directing the health care utilization of the patient (...) as an agent trying to choose what the patient would have chosen, had she been as well-informed as the professional (Evans, 1984; zit. nach Charles, 1997, S. 684). Das Modell der informierten Entscheidungsfmdung (informed decision making) stellt die Autonomic des Patienten in den Mittelpunkt. Dem Patienten steht es sowohl zu, gemaB seinen Wunschen informiert zu werden, als auch, eigenstandig zu entscheiden, ob und wie er behandelt wird. Der Arzt liefert die notigen Informationen, der Patient trifft die Behandlungsentscheidung weitgehend selbst und der Arzt fuhrt die gewiinschte Behandlung durch (Charles et al, 1997, S. 689). Im Folgenden werden empirische Ergebnisse zur Arzt-PatientenKommunikation prasentiert, wobei zuerst auf Studienergebnisse zur Beteiligung von Patienten am Entscheidungsprozess eingegangen wird, bevor anschlieBend Resultate aus empirischen Studien zum arztlichen Informationsverhalten zusammengefasst dargestellt werden.
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Empirische Studien zur Entscheidungsbeteiligung Die vorhandenen Studienergebnisse zur Mitentscheidung von Patientinnen und Patienten zeigen, dass Arztinnen und Arzte den Wunsch der Patienten, in die Entscheidung einbezogen zu werden unterschatzen. So geben zum Beispiel in der Studie von Bruera, Sweeney, Calder, Palmer und Benisch-Tolley (2001, S. 2885) 63% der Patientinnen und Patienten an, eine partizipative Entscheidung zu bevorzugen, wahrend lediglich 39% der Arztinnen und Arzten davon ausgehen, dass die Patienten in die Entscheidung einbezogen werden mochten. Femer zeigt sich, dass die Zahl der Patientinnen und Patienten, die an Entscheidungen partizipieren mochten, deutlich hoher liegt als jene der Patienten, die tatsachlich an Entscheidungen teilhaben. Aufgrund verschiedener Studien, die in Bezug auf unterschiedliche Erkrankungen durchgefiihrt wurden, kann davon ausgegangen werden, dass ungefahr die Halfle der Patientinnen und Patienten mitentscheiden will, jedoch ein bedeutend geringerer Teil tatsachlich einbezogen wird (Pinquart & Silbereisen, 2002; Scheibler, Janssen & Paff, 2003). Den gewiinschten Grad der Beteiligung an der Behandlungsentscheidung (nur Arzt, hauptsachlich Arzt, geteilt, hauptsachlich Patient, nur Patient) und den tatsachlichen Grad der Beteiligung sowie die Ubereinstimmung zwischen dem gewiinschten und dem wahrgenommenen Grad der Beteiligung untersuchten Gattellari, Bitow und Tattersall (2001) bei Krebspatientinnen und -patienten (Tabelle 3). Tabelle 3. Entscheidungen: Praferenzen der Patientinnen und Patienten und wahrgenommene Praxis; Gattellari et al. 2001, S. 1872 Praferenz wahrgenommen geteilt 45% 24% nur Arztin/Arzt 12% 28% 22% hauptsachlich Arztin/Arzt 25% hauptsachlich Patientin/Patient 18% 19% nur Patientin/Patient 1% 7% Ihre Ergebnisse zeigen, dass Patientinnen und Patienten am haufigsten eine geteilte Entscheidungsfmdung wunschen (45%), eine entsprechende Rolle in der jeweiligen Arzt-Patienten-Interaktion jedoch lediglich von 24% wahrgenommen wurde. 12% wunschten, dass nur der Arzt entscheidet, bei 28% der Patientinnen und Patienten spielte sich der Vorgang aber so ab. Bei den ubrigen Graden der Einbindung waren die Differenzen zwischen der gewunschten und der wahrgenommenen Rolle deutlich geringer (Tabelle 3). Bei rund einem Drittel der be-
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fragten Patientinnen und Patienten stimmte die gewiinschte Rolle im Entscheidungsprozess mit der wahrgenommenen Rolle uberein, 29% nahmen eine aktivere und 37% eine weniger aktive Rolle als gewiinscht ein (Gattellari et al., 2001, S. 1871f). Die theoretischen Modelle der Arzt-Patienten-Konununikation unterstellen, dass Entscheidimgsprozesse rational verlaufen, d.h. dass Informationen uber verfugbare Optionen gesammelt und bewertet werden und mittels Vergleichen die beste Behandlung ausgewahlt wird. Es stellt sich die Frage, ob - sofern eine Entscheidung rational ablauft - im konkreten Fall jeweils die notigen Voraussetzungen fur die Entscheidungsbeteiligung bzw. die autonome Entscheidung der Patientin bzw. des Patienten erfiillt sind. Eine qualifizierte Entscheidung der Patientin oder des Patienten ist namlich an verschiedene Voraussetzungen gekniipft: Sie setzt erstens voraus, dass das relevante Wissen liber die jeweils gegebene Situation und die bestehenden Handlungsalternativen ohne manipulative Verzerrung vermittelt wird, dass zweitens das angemessene Verstehen der vermittelten Inhalte sichergestellt werden kann, und schlieBlich drittens, dass der Entscheidungsprozess des Patienten nicht einer externen oder abstrakten, sondem seiner ganz personlichen „Rationalitat" folgt, das heiBt als eine an individuellen Wertpraferenzen orientierte Abwagung von Handlungsalternativen (Nutzen, Risiken, Folgen) vorgenommen wird (Feuerstein & Kuhlmann, 1999, S. 11). Weder in der Studie von Gattellari et al. (2001) noch in anderen Studien zur Beteiligung von Patientinnen und Patienten am Entscheidungsprozess wairde untersucht, ob die Voraussetzungen fiir eine qualifizierte Mitentscheidung erfuUt waren oder nicht. Es bleibt also offen, welche Informationen zur Verfugung standen, ob die Patientinnen und Patienten die fiir eine Mitentscheidung bzv^. Entscheidung notigen Informationen ohne manipulative Verzerrungen erhielten, ob sie die erhaltenen Informationen verstanden und ob der Entscheidungsprozess den individuellen Wertepraferenzen der Patientinnen und Patienten folgte. GemaB Feuerstein und Kuhlmann (1999) sind die Voraussetzungen fiir eine qualifizierte rationale Entscheidung des Patienten oft nicht erfuUt, weil der Patemalismus in der Arzt-Patienten-Beziehung noch nicht uberwunden ist, sondem lediglich einen Formwandel durchlaufen hat. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von Neopatemalismus. Damit bezeichnen sie einen Patemalismus, der hinter arztlicher Informationspolitik verborgen bleibt und weniger offensichtlich erkennbar ist als die frlihere Form des patemahstischen Verhaltens. Entscheidungen werden nicht mehr offen patemalistisch gefallt, da solche Entscheidungen einem Legitimationszwang unterliegen und das Risiko juristischer Sanktionen bergen. Da die Entscheidung der Patientin oder des Patienten in hohem MaB von
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der arztlichen Information abhangig ist, kann die Arztin oder der Arzt den Entscheidungsprozess ohne weiteres manipulieren. In der neuen Form des Patemalismus fiihren Arztinnen imd Arzte ihre Patientinnen und Patienten somit mittels gezielter Informationsstrategien zu einer bestimmten Entscheidung, die diese dann als von ihnen selbst getroffene Entscheidung wahmehmen. Eine unangemessene Behandlungsentscheidung des Arztes ist weit besser sanktionierbar als eine unangemessene Information, die den Willen des Patienten in die Richtung einer unangemessenen Behandlungsentscheidung lenkt, die er aber letztlich als seine eigene Entscheidung wahmimmt, auch wenn er sie in all ihren Konsequenzen nicht iiberschaut und am Ende vielleicht bereut (Feuerstein & Kuhlmann, 1999 S. 12). Engert (1999) schildert die Praxis der Aufklarung uber und der Einwilligung in medizinische Eingriffe anhand seiner personlichen Erfahrungen, die er in Krankenhausem wahrend mehrerer Jahre sammelte. GemaB seinem Bericht dienen entsprechende Gesprache nicht dazu, den Patientinnen und Patienten die gegebene Situation und die vorhandenen Behandlungsoptionen moglichst prazise zu erlautem. Es werden kein gemeinsamer Entscheid und auch kein autonomer Behandlungsentscheid des Patienten angestrebt, vielmehr zielt das Gesprach darauf ab, vom Patienten die schriftliche Zustimmung zu einer bestimmten Behandlung zu erhalten. Im Hinblick auf eine solche Einwilligung wird der Patient vorwiegend liber Komplikationsmoglichkeiten informiert, damit die Arztin oder der Arzt bei allenfalls auftretenden Komplikationen vor juristischen Konsequenzen geschutzt ist. Andererseits zeigt sich, dass es den Arztinnen und Arzten in solchen Gesprachen wichtiger ist den Patientinnen und Patienten die Angst vor einem Eingriff zu nehmen, damit diese Ruhe bewahren, als sie adaquat zu informieren (z.B. Engert, 1999, S. 28; Waldschmidt, 1999, S. 118). So erhalten Patientinnen und Patienten auf die Frage, wie die Behandlung erfolgen wird, Antworten wie „Ach, das tut nicht weh, das ist nicht schlimm", obwohl dies oftmals nicht den Tatsachen entspricht (Waldschmidt, 1999, S. 118). Im Weiteren ist eine rationale Entscheidungsfmdung nicht ohne weiteres moglich, weil trotz universellen Wissens und funktionaler Spezifitat betreffend Prognose, Diagnose und Behandlungen Unsicherheiten bestehen (z.B. Hall, 2002; Parsons, 1952, S. 449-451 und 466; Streckeisen, 2001, S. 76-78). Es lassen sich drei Aspekte medizinischer Unsicherheit bzw. medizinischen Unwissens unterscheiden: (1) Nicht fiir alle diagnostizierten Krankheiten ist auch eine wirksame Therapie vorhanden; (2) herrscht eine gewisse Unkenntnis hinsichtlich komplexer physikahscher/biologischer Prozesse; und (3) besteht die Moghchkeit, dass Arztinnen und Arzte das zur Verfugung stehende Wissen nicht vollstandig beherrschen (Hall, 2002; Streckeisen, 2001, S. 76-78). Die Unkenntnis 30
hinsichtlich komplexer Prozesse meint zum Beispiel den Umstand, dass man bestimmte Faktoren kennt, aber nicht weiB, wann und wie diese auftreten warden, Oder dass mit unbekannten Faktoren zu rechnen ist, die eine Vorhersage umstoBen konnen. Die unvollstandige Beherrschung von Wissen bezieht sich darauf, dass sich der Arzt angesichts der standig neu entdeckten und entwickelten Techniken und Behandlungen oft nicht auf dem aktuellsten Wissenstand befindet. Wahrend es sich bei den beiden ersten Aspekten um objektive Unsicherheiten handelt, kann beim dritten Aspekt von subjektiver Unsicherheit gesprochen werden. Diese objektiven und subjektiven Aspekte lassen sich empirisch nicht immer auseinander halten (Streckeisen, 2001, S. 77). Die medizinsoziologische Literatur nimmt auf diese Uberschneidung Bezug, um die Strategien zu untersuchen, welche Arztinnen und Arzte anwenden, um ihre Glaubwurdigkeit zu erhalten beziehungsweise schwierige Situationen zu kontrolheren. GemaB Freidson (1970) ermoglicht es die unscharfe Grenze zwischen objektiven und subjektiven Unsicherheiten dem Arzt, eine eigene ungeniigende Leistung gegeniiber anderen mit einem ungentigenden Wissensstand zu begriinden. Im Weiteren geht Freidson (1970, S. 137ff) davon aus, dass Arztinnen und Arzte im Gesprach mit ihren Patientinnen und Patienten Unsicherheiten thematisieren, die objektiv gar nicht vorliegen, um schwierige Situationen zu vermeiden. In eine ahnliche Richtung geht auch Harvey (1996), indem er annimmt, dass sich Unsicherheiten sozial konstruieren lassen und diese Konstrukte die Funktion ubernehmen konnen, Situationen zu kontrolheren. Streckeisen (2001, S. 78) schlieBlich gibt zu bedenken, dass die flieBende Grenze zwischen objektiven und subjektiven Unsicherheiten bei den Arztinnen und Arzten Selbstvorwlirfe und Schuldgefuhle hervorrufen kann, da sich bei unerwtmschten Behandlungsverlaufen die Griinde nicht klar evaluieren lassen. Patienten brauchen vom Arzt Informationen uber Unsicherheiten, um Entscheidungen treffen zu konnen, doch Arztinnen und Arzte sind sehr zurtickhaltend im Mitteilen von Unsicherheiten (Hall, 2002). Sie begriinden ihre Zuriickhaltung damit, dass sie die Patienten nicht unnotig belasten wollen, da sich diese sonst nicht mehr entscheiden konnten. Hall (2002) hingegen sieht den Grund fiir die Nichtinformation in der Angst der Arztinnen und Arzte, Kontrolle und Macht iiber den Entscheidungsprozess zu verlieren. Aus juristischer Perspektive pladiert Katz (1984) fur eine Bekanntgabe von Unsicherheiten, da die Patientinnen und Patienten diese Informationen benotigen, um mitzuentscheiden oder autonom eine Entscheidung treffen zu konnen. Femer ist sie der Meinung, dass dadurch Vertrauen geschaffen werden konne und sich unrealistische Erwartungen sowie Gerichtsverhandlungen reduzieren lieBen. Bisher fehlen empirische Hinweise
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darauf, ob die Arztinnen und Arzte mit ihren Befurchtungen richtig liegen oder ob Katz mit ihren Argumenten Recht hat (Hall, 2002). Da sich Entscheidimgen nicht rein rational aufgrund von vorhandenem Wissen fallen lassen, sind auch Erfahrungen und Intuition, d.h. diffuse Komponenten der Handlungsorientierung, zu beachten (Streckeisen, 2001, S. 78f). Als Teil intuitiver Entscheidungen werden Heuristiken entwickelt, worunter leicht anzuwendende Regeln verstanden werden, die helfen sollen, komplexe Aufgaben einfacher zu handhaben (Hall, 2002). Als eine „einfache" Heuristik in der Medizin gilt: „Falls Aussicht auf eine Heilung besteht, dann behandle! Das Bemuhen lohnt sich, auch wenn dadurch nur ein einziger Patient gerettet werden kann. Kosten miissen nicht berlicksichtigt werden. Falls Zweifel bestehen, dann behandle!" (Hall, 2002). Als weitere Heuristiken erwahnt Hall (2002) u.a. die Vergegenwartigung von ahnlichen Situationen sowie das sich Vorstellen des Ausgangs. Da Situationen, die nicht weit zuriickliegen, sowie Situationen, die mit starken Emotionen verbunden sind, besser abrufbar sind, erinnem sich Arztinnen und Arzte eher an solche Situationen als an haufig vorkommende. Dieser „Abruffehler" beeinflusst die Annahmen uber Reaktionen von Patientinnen und Patienten oder Konsequenzen von bestimmten Handlungen und somit die arztlichen Entscheidungen. In Bezug auf den Ausgang konnen sich Arztinnen und Arzte im Vergleich zu Patientinnen und Patienten ein unerwlinschtes Ergebnis besser vorstellen, da sie mit Behandlungen und deren Folgen mehr Erfahrungen haben und negative Ausgange zumeist mit Emotionen verbunden sind. Arztinnen und Arzte iiberschatzen daher die Wahrscheinlichkeit eines schlechten Ausgangs einer Erkrankung. Aufgrund von verschiedenen Forschungsergebnissen kommt Hall (2002, S. 218) zum Schluss, dass Unsicherheiten bei Arztinnen und Arzte zu einem ubermaBigen Aktivismus fuhren konnen. Dieser kann sich darin auBem, dass haufiger eine Spitaleinweisung erfolgt, Diagnoseverfahren exzessiv durchgefuhrt werden oder dass bei diagnostischer Unsicherheit seltener auf intensive Behandlungen, wie zum Beispiel eine Operation, verzichtet wird als bei einer sicheren Diagnosestellung. Empirische Studien zum arztlichen Informationsverhalten Das Informationsverhalten zwischen Arzt und Patient wurde vorwiegend von Medizinerinnen und Medizinem rein empirisch anhand standardisierter schriftlicher Befragungen zumeist in Bezug auf Krebserkrankungen erforscht. In diesen Befragungen wurde die Information oft nur in Bezug auf Prognose, Diagnose und Art sowie Ziel der Behandlung untersucht. Die einzige soziologische Studie zum Informationsverhalten fiihrte Siegrist (1978) durch. Er uberprilfte dabei die Hypothese, dass Arztinnen und Arzte ihren Patientinnen und Patienten kritische
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Informationen vorenthalten, um belastende Situationen zu vermeiden. Als theoretischen Hintergrund zog er Parsons klassische Arztrolle heran. Im Folgenden wild die Studie „Vorenthalten kritischer Informationen - Visite bei Schwerstkranken" von Siegrist (1978) detailliert vorgestellt, bevor weitere Studienergebnisse zum Informationsverhalten sowie zu Determinanten der Arzt-PatientenKommunikation zusammengefasst prasentiert werden. Im Krankenhaus bieten Gesprache zur Aufklarung iiber und Einwilligung in medizinische Eingriffe sowie Visiten oft die einzigen Gelegenheiten fiir Patientinnen und Patienten, sich mit ihrer behandelnden Arztin bzw. ihrem behandelnden Arzt zu unterhalten (z.B. Engert, 1999, S.27f; Siegrist, 1978). Verschiedene Autoren (z.B. Freidson, 1961; Siegrist, 1978) haben darauf hingewiesen, dass die klinische Visite einen latenten Konflikt birgt, da die Arztin oder der Arzt und die Patientin oder der Patient unterschiedliche Erwartungen damit verknupfen. (...) wahrend diese [Visite] aus arztlicher Sicht cine regelmaBige, mit Routine durchftihrbare Tatigkeit darstellt, in welcher iiberdies krankheits- und befundspezifische sowie organisatorische und administrative MaBnahmen das Zentrum der Aufmerksamkeit bildet, sieht der Patient in ihr die oft entscheidende Gelegenheit, spezifische und personliche Zuwendung von Seiten des Arztes zu erhalten (Siegrist, 1978, S. 106). Siegrist stellt die Hypothese auf, dass die Visite fur Arztinnen und Arzte eine belastende Interaktionssituation darstellt und sie diese Belastung neutralisieren, indem sie dem Patienten kritische Information vorenthalten. Die Neutralisationshypothese begriindet Siegrist unter Rtickgriff auf die Rollenanalyse nach Parsons wie folgt: Die arztliche Rollennorm der ,affektiven Neutralitat' und ,Objektivitat' gegentiber Patienten erlaubt nicht, auf einer korrespondierenden affektiven Ebene zu reagieren, und die Verpflichtung zu Statuserhalt erschwert eine in jedem Fall vollstandige Einweihung des Kranken in medizinische Befunde, Uberlegungen und Handlungsstrategien (Siegrist, 1978, S. 107). Seine Hypothese iiberprufte Siegrist anhand eines spezifischen Typs einer belastenden Situation, und zwar anhand aller verbalen AuBerungen der Patientinnen und Patienten, welche eine direkte Bitte um Information liber die eigene Krankheit enthalten. Siegrist (1978) geht davon aus, dass von Arztinnen und Arzten „subtile Steuerungsmechanismen eingesetzt werden, die dem habituellen Besitz sprachlicher Sozialisationserfahrungen entstammen" (S. 110), um den Informationsverzicht gegen die Erwartungen der Patientinnen und Patienten durchzusetzen. Diese Steuerungsmechanismen nennt Siegrist zusammenfassend „asymmet-
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rische Verbalhandlungen". Er spricht davon, wenn die Bitte des Patienten urn Information vom Arzt zwar korrekt wahrgenommen, aber nicht erfullt wird. Asymmetrische Verbalhandlungen sind gemaB Siegrist (1978) Ausdruck positioneller Uberlegenheit. Die Haufigkeit, mit der solche Verbalhandlungen angewendet werden, kann als Indikator flir die positionelle Uberlegenheit dienen. In Situationen der Verunsicherung sowie der Bedrohung von Statusdistanz werden asymmetrische Verbalhandlungen als Mittel eingesetzt, die positionelle Uberlegenheit sicherzustellen. Es werden vier arzthche Reaktionstypen, die alle zu den asymmetrischen Verbalhandlungen zahlen, auf die Bitte des Patienten um Information unterschieden: (1) die Nichtbeachtung (Negation), (2) Adressaten- oder Themenwechsel, (3) Beziehungskommentar und (4) Mitteilung funktionaler Unsicherheit (Siegrist, 1978, S. 11 If). Beantwortet der Arzt die Frage des Patienten nicht, liegt ein Fall der Negation vor. Beim Adressaten- oder Themenwechsel weicht der Arzt der Patientenfrage mit einer konkurrierenden Initiative aus. Er wechselt beispielsweise das Gesprachsthema (thematischer Wechsel) oder er richtet sich an eine andere anwesende Person, zum Beispiel an die Krankenschwester (Adressatenwechsel). Flir diesen Reaktionstyp ist von besonderer Bedeutung, dass die Visitensituation in der Kegel eine triadische Beziehung ist. Beim Beziehungskommentar geht der Arzt zunachst scheinbar auf die Frage der Patientin oder des Patienten ein, wandelt diese aber durch seine Antwort gleichzeitig um, d.h. er verschiebt sie inhaltlich, indem er nicht den Inhalt, sondem den Beziehungsaspekt der Aussage thematisiert.^ Beim letzten asymmetrischen Reaktionstyp, der Mitteilung funktionaler Unsicherheit, verfugt der Arzt uber das entsprechende Wissen, liefert jedoch dem Patienten auf dessen Frage hin keine inhaltlich ergiebige Information, sondem teilt diesem mit, dass er nicht oder noch nicht uber das zur Beantwortung der Frage notige Wissen verfiige. Als symmetrische Verbalhandlungen werden schlieBlich jene Reaktionen des Arztes oder der Arztin bezeichnet, welche eine korrekte Wahmehmung und Erfullung der Bitte der Patientinnen und Patienten um Information enthalten. Die Ergebnisse von Siegrist (1978) zeigen, dass auf 64% der Bitten der Patientinnen und Patienten um Informationen die Arztinnen und Arzte asymmetrisch reagierten, wobei die beiden Reaktionstypen „Mitteilung funktionaler Unsicherheit" (51%) und „Adressat- oder Themenwechsel" (33%) am haufigsten auftraten. „Nichtbeachtung" (5%) und „Beziehungskommentare" (10%) waren bedeutend seltener.
^ Siegrist (1978, S. 122) veranschaulicht diesen Reaktionstyp mit dem Beispiel eines Arztes, der auf die besorgte AuBerung einer Karzinompatientin „hoffentlich habe ich nichts im Kopf' erwidert „ich weiB, dass Sie das jetzt sehr beunruhigt im Augenblick".
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Empirische Studien zu den Determinanten der Arzt-Patienten Kommunikation Als mogliche Einflussfaktoren auf die Arzt-Patientenkommunikation werden vor allem relativ stabile Patientenmerkmale wie das Alter, das Geschlecht und die soziale Schicht untersucht, wobei insbesondere deren Einfluss auf die Mitentscheidung erforscht wird. Studien, die den Einfluss von Arztmerkmalen auf das arztliche Informationsverhalten oder die Mitentscheidung von Patientinnen und Patienten analysieren, fehlen meines Wissens weitgehend. Lediglich in psychologischen Studien wurde das Geschlecht des Arztes untersucht (z.B. Roter & Hall, 2004) und in der Studie von Siegrist (1978) die arztliche Berufssozialisation. Alter der Patientin/des Patienten Verglichen mit jiingeren Patienten wollen altere Patienten seltener eine aktive Rolle bei der Entscheidungsfindung einnehmen und wunschen haufiger, dass der Arzt oder die Arztin die Entscheidung fallt oder dass Angehorige die Entscheidung fallen (Degner & Sloan, 1992; Liang et al., 2002; Pinquart & Silbereisen, 2002; Scheibler et al, 2003). GemaB Pinquart & Silbereisen (2002, S. 163) werden „der Wunsch nach Mitbestimmung und die Art und Weise, wie Behandlungsentscheidungen im Alter getroffen werden (...) in starkem MaBe von nachlassenden kognitiven Fahigkeiten beeinflusst", wobei das AusmaB dieser Veranderungen interindividuell sehr unterschiedlich ist. Weitere mogliche Grlinde fiir die Altersabhangigkeit des Wunsches nach Mitbestimmung sehen Pinquart und Silbereisen (2002) im groBeren Vertrauen von alteren Menschen in die Autoritat des Arztes im Vergleich zu jiingeren Menschen und im durchschnittlich geringeren Bildungsstand alterer Personen. SchlieBlich haben altere gegenuber jiingeren Personen im Durchschnitt „meist weniger und/oder veraltetes medizinisches und technisches Vorwissen" (Pinquart & Silbereisen, 2002, S. 163). Geschlecht der Patientin/des Patienten Es gibt sowohl Studien, in denen keine Geschlechtsunterschiede gefunden werden konnten (Davidson, Parker & Goldenberg, 2004) als auch solche, die Geschlechtsunterschiede nachwiesen, wobei bei letzteren die Zusammenhangsrichtung immer dieselbe war. Frauen auBerten einen starkeren Wunsch nach Mitbestimmung bei Entscheidungsprozessen als Manner (Davidson et al, 1999; Pinquart & Silbereisen, 2002, S. 161-163), Manner bevorzugen dagegen, dass der Arzt oder die Arztin die Behandlungsentscheidung trifft (Blanchard et al., 1988). Im Zusammenhang mit diesen Geschlechtsunterschieden erwahnen Blanchard et
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al. (1988, S. 1144), dass Manner es vermutlich vorziehen, sich nicht an der Entscheidung zu beteiligen, da sie ihre Ehefrauen als „brokers of the health care system" betrachten. Bei den von ihnen befragten mannlichen Patienten handelt es sich namlich zumeist um alte, verheiratete Manner und die Autoren gehen davon aus, dass deren Ehefrauen die Rolle iibemehmen, mit den Arztinnen und Arzten zu verhandeln. Leider fehlen in den Studien, die keine Geschlechtsunterschiede fmden konnten, Angaben zu Alter und Zivilstand der befragten Patientinnen und Patienten. Es bleibt somit offen, ob der Wunsch nach Mitbestinimung auch bei jiingeren und alleinlebenden Personen geschlechtsabhangig ist. Soziale Schicht der Patientin/des Patienten Von den drei Schichtdimensionen Bildung, Einkommen und Beruf wird zumeist die Bildung untersucht. Die Studien weisen fast immer einen Zusammenhang zwischen der Schulbildung der Patienten und der Mitentscheidungspraferenz nach (Willems, De Maesschalck, Deveugele, Derese & De Maeseneer, 2005). Hoher Gebildete auBem einen starkeren Wunsch nach Mitbeteiligung an Entscheidungsprozessen als weniger Gebildete (Floer et al., 2004; Janz et al., 2004; Meredith et al., 1996; Pinquart & Silbereisen, 2002, S. 161-163). Es sind jedoch auch Studien vorhanden, in denen kein Schichtgradient festgestellt wird (Wensing et al., 2002). Der Bildungsstand der Patientinnen und Patienten beeinflusst aber nicht nur den Starkegrad des Mitentscheidungswunsches, sondern auch den Kommunikationsstil der Patientinnen und Patienten, welcher sich auf den Kommunikationsstil der Arztinnen und Arzte auswirkt. So weisen Willems, De Maesschalck, Deveugele, Derese und De Maeseneer (2005) darauf hin, dass Patientinnen und Patienten aus hoheren sozialen Klassen aktiver kommunizieren, affektivere Ausdrucksfahigkeiten zeigen und den Arztinnen und Arzten mehr Informationen entlocken, wahrend Patientinnen und Patienten, die tieferen sozialen Klassen angehoren, oft benachteiligt sind, weil Arztinnen und Arzte ihre Wunsche, ihre Bedurfhisse nach Information und ihre Fahigkeit, an der Behandlungsentscheidung zu partizipieren, nicht richtig wahmehmen (Willems et al., 2005, S. 139). Auch Siegrist (1995) weist darauf hin, dass weniger gebildete Patientinnen und Patienten im Vergleich zu hoher gebildeten weniger Fragen stellen und seltener ihre Erwartungen auBem. Zudem fallen die Arztkonsultationen bei tiefer gebildeten Patientinnen und Patienten kiirzer aus und die Arztin/der Arzt gibt seltener ungefragt und freiwillig Auskilnfte (Siegrist, 1995).
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Schwere der Erkrankung sowie Symptome und Beschwerden Ausgehend von der These, dass sich der Konflikt, welcher bei der Visite zwischen Arzt und Patient stets besteht, bei jenen Patientinnen und Patienten verscharft, welche an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leiden, uberprufte Siegrist, ob Krankenhausarztinnen und -arzte in besonders belastenden Interaktionssituationen mit schwerstkranken Patienten typischerweise andere Verhaltensweisen zeigen als gegeniiber leicht erkrankten. Seine Ergebnisse zeigen, dass die arztlichen Reaktionen auf Bitte um Informationen gegeniiber Schwerstkranken haufiger asymmetrisch sind als gegeniiber Leichtkranken. So reagierten in der Studie von Siegrist (1978) Arztinnen und Arzte auf 92% der Bitten um Informationen von Schwerstkranken asymmetrisch, wahrend der Anteil der asymmetrischen Reaktionen bei leichtkranken Patienten bei 36% lag. Die Art und der Schweregrad der Erkrankung sowie die mit einer spezifischen Erkrankung einhergehenden Symptome und Einschrankungen wurden auBerst selten als potentielle Einflussfaktoren auf die Mitentscheidung untersucht (Ende, 1989; zit. nach Scheibler et al., 2003). Die wenigen dazu durchgeflihrten Studien kommen zum Schluss, dass Patientinnen und Patienten mit zunehmender Schwere der Erkrankung weniger partizipieren (Ende et al., 1989; Scheibler et al., 2003; Pinquart & Silbereisen, 2002, S. 161 und 163). Ferner weisen die Studien darauf hin, dass das Bediirfnis der Patientinnen und Patienten nach Information durch den Wunsch nach Linderung der teilweise ausgepragten Symptome und Beschwerden eingeschrankt wird (z.B. Pinquart & Silbereisen, 2002). Man kann in Anlehnung an Maslows Bediirfnispyramide davon ausgehen, dass zuerst Grundbediirfnisse - wie z.B. Schmerz- und Symptomfreiheit - befriedigt sein miissen, bevor den Betroffenen andere Wunsche - wie z.B. Informationsbediirfnisse - ins Bewusstsein treten konnen (Maslow, 1978). Art der Information Verschiedene Studien fragten nach unterschiedlichen Informationsbereichen, so dass Aussagen daruber moglich sind, ob das arztliche Informationsverhalten von der Art der Information abhangt. Sowohl die Studienergebnisse von Siegrist (1978) als auch von anderen Autoren zeigen, dass symmetrische Reaktionen zumeist im Bereich therapeutischer MaBnahmen, kaum jedoch im Bereich von Diagnose und Prognose erfolgen (Siegrist, 1978, S. 119 und 124). Auch die Studie von Raspe (1983) kommt zum Schluss, dass Krankenhausarztinnen und -arzte ihre Patientinnen und Patienten im Allgemeinen vor allem iiber diagnosti-
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sche^ (83%) und therapeutische MaBnahmen (76%), bedeutend seltener aber liber Diagnose (47%) und Prognose (13%)) informieren. Eine neuere Studie bei Krebserkrankten kommt zu vergleichbaren Ergebnissen, wobei hier der Anteil der Informierten etwas hoher liegt, was damit zusammenhangen diirfte, dass sich gegenuber Krebserkrankten negative Informationen weniger leicht verschweigen lassen als gegenuber anderen Erkrankten, da Krebserkrankte ihren Zustand bereits erahnen: Die meisten Krebspatientinnen und -patienten werden in Bezug auf die bevorstehende Behandlung und die Heilungschancen gut informiert (85% und 75%o), wahrend sie iiber ihre Lebenserwartung bedeutend seltener informiert werden (58%) (Gattellari, Voigt, Butow & Tattersall, 2002, S. 508). Allerdings differieren die Resultate bei verschiedenen Arten von Krebserkrankungen. So werden weniger gravierende Prognosen - wie z.B. bei Hautkrebs - eher mitgeteilt als besonders bedrohliche - wie z.B. bei Knochenkrebs (Glaser & Strauss, 1974, S.109). Die genannten Prozentzahlen zu den erhaltenen Informationen sagen allerdings noch nichts darliber aus, ob die Informationen der Arztinnen und Arzte richtig waren und ob die Patientinnen und Patienten das Mitgeteilte verstanden haben. Bisher fehlen Studien, die uber diese Aspekte Auskunft geben. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die erhaltenen Informationen haufig nicht verstanden werden, da die dargelegten medizinischen Zusammenhange oft kompliziert sind und Arztinnen und Arzte zumeist abstrakt-medizinische Erklarungsmuster sowie lateinische Fachbegriffe verwenden (z.B. Engert, 1999, S. 30; Ong et al., 1995). Arztinnen und Arzte fragen femer bei ihren Patientinnen selten nach, ob sie ihre Ausfuhrungen verstanden hatten. In der Studie von Gattellari et al. (2002) iiberprufte die Arztin oder der Arzt lediglich in 10% der Konsultationen, ob die Patientin oder der Patient die Informationen auch tatsachlich verstanden hatte. Dauer der Arzt-Patienten-Beziehung Nur wenige Autorinnen und Autoren untersuchten, ob sich die Mitbeteiligung von Patientinnen und Patienten im Verlaufe der Zeit bzw. mit der Dauer der Arzt-Patienten-Beziehung andert oder nicht. Eine Ausnahme bildet hier die Untersuchung von Schildmann und Kollegen (2004b) in Bezug auf Rheumaerkrankungen. Sie kommen zum Schluss, dass die Teilhabe an der Entscheidungsfindung im Verlauf der Erkrankung zunimmt. Als Griinde nermen sie den Zuwachs an Wissen uber die eigene Erkrankung auf Seiten des Patienten, seine Erfahrung
^ Diagnostische MaBnahmen sind z.B. Blut- und Urintests, Rontgenaufnahmen, Ultraschalluntersuchungen, Biopsien (Gewebeentnahmen) etc.
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mit der Erkrankung sowie die haufigen Kontakte mit dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Arztin. Geschlecht der Arztin/des Arztes Eine Metaanalyse von Roter und Hall (2004) weist Unterschiede im arztlichen Kommunikationsverhalten von Mannem und Frauen nach. So dauern Konsultationen bei Arztinnen durchschnittlich zehn Minuten langer als bei Arzten. Wahrend dieser Zeit gehen Arztinnen starker als Arzte auf die Anliegen ihrer Patientinnen und Patienten ein. Sie zeigen ein aktiveres partnerschaftliches Verhalten, fuhren haufiger positive und emotionsfokussierte Gesprache, bieten ofter psychosoziale Beratung und stellen haufiger psychosoziale Fragen. Im Weiteren zeigt sich, dass sich das Verhalten von Patientinnen und Patienten gegeniiber Arztinnen und Arzten unterscheidet. Patientinnen und Patienten von Arztinnen sprechen langer als solche von Arzten und geben sowohl mehr biomedizinische als auch mehr psychosoziale Informationen. Zur Erklarung dieser gefundenen Geschlechtsunterschiede verweisen Roter und Hall (2004, S. 498) auf verschiedene Studien, die aufzeigen, dass das Geschlecht mit unterschiedlichen alltaghchen Kommunikationsstilen korrespondiert: Frauen enthiillen verglichen mit Mannem in alltaglichen Gesprachen mehr Einzelheiten iiber sich selbst (Dindia & Allen, 1992), zeigen einen warmeren und ausgepragteren Stil in der nonverbalen Kommunikation (Hall, 1984) und erleichtem es anderen, mit ihnen freier und auf eine warmere und intimere Art zu sprechen (Hall, 1984). Wahrend Manner Statusdifferenzen haufiger geltend machen, bemiihen sich Frauen darum, ihren Status herunterzuspielen, um diesen dem Gesprachspartner anzugleichen (Eagly & Johnson, 1990). Zudem konnen Frauen Personlichkeitsmerkmale anderer besser beurteilen und anhand von nonverbalen Hinweisen die Gefiihle von anderen praziser deuten als Manner (Hall, 1984). Leider wurde bisher nicht untersucht, ob Patientinnen und Patienten bei Arztinnen haufiger mitentscheiden als bei Arzten. Berufssozialisation Siegrist (1978) untersuchte, ob sich eine unterschiedliche Berufssozialisation auf das AusmaB asymmetrischer Verbalhandlungen auswirkt. Er stellte die Hypothese auf, dass Arztinnen und Arzte, die neben der herkommlichen Medizinausbildung psychotherapeutisch ausgebildet oder orientiert sind, flexibler mit ihrer Rolle umgehen konnen und daher weniger haufig mit asymmetrischen Verbalhandlungen auf Bitten der Patienten um Information reagieren als herkommlich sozialisierte Medizinerinnen und Mediziner. Die Ergebnisse bestatigen diese
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Hypothese: In Kreiskrankenhausem herrscht gegenuber Schwerstkranken ein beinahe vollstandiger Informationsverzicht (92%), wahrend Arzte der psychosomatischen Abteilung immerhin auf 45% der Bitten um Informationen symmetrisch reagiert haben. Daraus lasst sich schlieBen, dass symmetrische Kommunikation in gewissem Umfang in der arztlichen Ausbildung lehr- und lembar ist (Siegrist, 1978, S. 129) oder dass sich unterschiedliche Charaktertypen fur die verschiedenen Laufbahnen entscheiden. Nach diesem Uberblick liber Konzepte, Theorien und Studienergebnisse zur Arzt-Patienten-Beziehung sollen nun nachfolgend die eigentlichen Themen der vorliegenden Studie, Sterben und Tod, genauer untersucht werden.
1.2 Kategorien des Todes und statistische Angaben Bevor im nachsten Kapitel der Themenbereich Sterbehilfe ins Zentrum riickt, erscheint es sinnvoll, zunachst einige Informationen zu den Kategorien des Todes, zu Entwicklungen und zu wesentlichen Merkmalen des Sterbens zu geben sowie Forschungsergebnisse aus der Sterbeforschung darzustellen (Kapitel 1.3). In den letzten 30 bis 35 Jahren haben verschiedene Autorinnen und Autoren versucht, Kategorien des Todes zu defmieren. Im Allgemeinen wird zwischen dem physischen und dem sozialen Tod unterschieden, wobei beim Ersteren welter differenziert wird zwischen klinischem und biologischem Tod sowie Himtod (z.B. Lindemann, 2003; Sweeting & Gilhooly, 1991/1992).^ Im arztlichen Alltag wird der Tod anhand der drei Unterformen des physischen Todes defmiert. Arztinnen und Arzte interessieren sich deshalb vor allem flir diese drei Todesarten, wahrend das Interesse von Sozialwissenschafterinnen und Sozialwissenschaftern vorwiegend dem sozialen Tod gilt.
1.2.1 Klinischer Tod, biologischer Tod und Himtod Der klinische Tod liegt vor, wenn Bewusstlosigkeit, Atemstillstand und Kreislaufstillstand, der an Pulslosigkeit der Halsarterien und weite lichtstarre Pupillen erkennbar ist, eingetreten sind. Vom biologischen Tod wird gesprochen, wenn Gehim- und Herzfunktionen infolge von Sauerstoffmangel irreversibel ausgefallen sind (siehe Tabelle 4).
^ Feldmann erwahnt als weitere Form das psychische Sterben, welches insbesondere im Zusammenhang mit dem Selbstmord relevant ist. Das psychische Sterben umfasst den Verlust des Bewusstseins, aber auch verschiedener Teile des Ichs und des Selbstbewusstseins (Feldmann, 1997, S. 13).
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Der „klinische Tod" und der „biologische Tod" lassen sich hinsichtlich ihres unterschiedlichen Verhaltnisses zum Tod voneinander abgrenzen. Der klinische Tod ist reversibel, er schlieBt eine Wiederbelebung des Organismus nicht aus, wahrend der biologische Tod irreversibel ist; eine Widerbelebung ist ausgeschlossen (Lindemann, 2003, S. 60). Beim Ubergang vom Leben in den Tod handelt es sich also nicht um einen abrupten Wechsel, sondern um eine allmahhche Veranderung. Der Tod ist somit nicht in erster Linie als Ereignis, sondern hauptsachlich als Prozess aufzufassen. Negovskij (1959, S. 2f; zitiert nach Lindemann, 2003, S. 60) schreibt hierzu: Der Tod bildet somit eine Einheit von Diskontinuitat und Kontinuitat, ist sowohl ein Sprung als auch ein Prozess. In einem bestimmten Moment des Sterbevorganges, wahrend noch eine eigenartige ,vita minima' fortdauert, erfolgt ein Sprung: Die Herztatigkeit und die Atmung setzen aus, es tritt der klinische Tod ein, der nach einer gewissen Zeit, die hauptsachhch durch die Uberlebensdauer der Himrinde bestimmt wird, wieder in eine neue Quahtat, in den biologischen Tod, iibergeht. Die Wiederbelebungszeiten liegen innerhalb von vier bis sechs Minuten. Gelingt es wahrend dieser Zeitspanne, den Patienten mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen, lassen sich Herz und Gehim wieder beleben. Nach Ablauf dieser Dauer ist das Gehim irreversibel tot. Kinder, Sauglinge und unterktihlte Menschen haben etwas bessere Chancen, ohne Himschaden wieder belebt zu werden. Das Herz kann innerhalb der folgenden fiinfzehn bis dreiBig Minuten wieder aktiviert werden (Natur- und Grenzwissenschaftliche Forschungsgemeinschaft, 2004). Falls das Herz wieder belebt wird, das Gehim jedoch schon tot ist, spricht man vom Himtod. Frilher fixhrte ein irreversibler schwerster Hirnschaden unmittelbar zum Herztod: Wenn das Gehim keinen eigenen Atemantrieb aussendet, hort die Atmung auf, wodurch die Sauerstoffzufuhr endet, worauf das Herz welches an sich ohne Hiraantrieb selbstandig schlagen konnte - aufgmnd des Sauerstoffmangels zu schlagen aufhort (personliche Mitteilung von G. Bosshard, 25. Oktober, 2004). Mit den neuen Reanimationstechniken, die Personen Uber langere Zeit himtot erhalten konnen, ohne dass es zum Herztod kommt, wurde in den 60er Jahren das Himtodkonzept eingefuhrt. Der Himtod oder zerebrale Tod charakterisiert sich durch verschiedene Symptome, die alle auf einen „vollstandigen zerebralen Funktionsausfall trotz vorhandener Herzreaktion" hinweisen, wie z.B. kein Ansprechen auf Reize und keine spontane Atmung (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 1968). Ursprilnglich diente das Himtodkonzept dazu, das Abstellen der Beatmungsgerate im Falle des Himtodes zu rechtfertigen. Spater wurde das Himtodkonzept von der Transplantationsmedizin iibemommen (Lindemann, 2003, S. 9) (siehe Tabelle 4). 41
Tabelle 4. Kategorien des Todes und deren Merkmale Kategorien des Todes physischer Tod klinischer Tod biologischer Tod Hirntod sozialer Tod
Merkmale Bewusstlosigkeit, Atemstillstand und Kreislaufstillstand (=reversibel; Wiederbelebungszeit: 4-6 Minuten) Gehim- und Herzfunktionen infolge von Sauerstoffmangel ausgefallen (irreversibel) Herz wurde wieder belebt (Reanimation), Gehirn ist tot, kiinstliche Beatmung notig Behandlung des Sterbenden als Toter (Sudnow, 1973) Nicht-Person-Behandlung, soziale Isolation (Kalish, 1968) Verlust der sozialen Identitat (Feldmann, 1997)
1.2.2 Sozialer Tod Der Ausdruck des „sozialen Todes" wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet (siehe Tabelle 4). Zumeist wird jedoch auf Goffman (1973) und seine Konzepte der Demutigung („mortification") und der Nicht-Person-Behandlung („non-person treatment") Bezug genommen. Goffman (1973) fiihrte diese Begriffe in seiner Beschreibung der totalen Institutionen ein. Beim Eintritt in eine totale Institution - bei Goffinan handelt es sich um eine psychiatrische Klinik ~ erfolgt zuerst eine Demutigung, indem die Personen ihre sozialen Rollen ablegen mussen, welche sie zuvor innehatten. Durch Aufhahmeprozeduren wie Ent- und Bekleiden, das Wegnehmen der personlichen Gegenstande, d.h. aller Attribute, welche ein Individuum als Person mit Selbstbestimmungsrecht, Autonomic und Handlungsfreiheit charakterisieren, erfolgt eine "Beschneidung" („trimming") der Person. Diese Beschneidungen haben den Zweck, die Personen leichter in die administrative Maschinerie der Institution einzuordnen (Goffman, 1973, S. 29). Ab diesem Zeitpunkt sind die Handlungen, welche sich auf diese Personen (Insassen) beziehen, nicht mehr auf ein Individuum ausgerichtet, sondem auf die abstrakte Kategorie „Mensch". Zu der Nicht-Person-Behandlung („non-person treatment") kommt es gemaB Goffman dadurch, dass das Personal zwischen sich und den Insassen eine soziale Distanz schafft, um sich vor den Handlungen, welche sich in totalen Institutionen ereignen, zu schtitzen (Goffman, 1973, S. 29). Das Personal behandelt den Insassen so, als ob er gar nicht als soziale Person anwesend ware, sondem bloB als ein Gegenstand, den jemand hat liegen lassen. Von den vorhandenen Defmitionen des sozialen Todes ist jene von Sudnow (1973) am engsten gefasst. Er bezieht den sozialen Tod auf die Phase, in der ein 42
physisch noch lebender Patient im Allgemeinen als Leiche behandelt wird, womit er den Begriff des sozialen Todes auf den wortlichen Sinn des „Todes" eingrenzt (Sudnow, 1973): Der soziale Tod tritt in dem Augenblick ein, in dem die sozial relevanten Attribute des Patienten fiir den Umgang mit ihm keine Rolle mehr spielen und er im wesentlichen schon als ,tot' betrachtet wird (S. 98). Sudnow beschreibt den sozialen Tod als Vorspiel des biologischen Todes, der im Allgemeinen beginnt, sobald die Arztin oder der Arzt die Hoffnung auf eine Genesung aufgegeben hat und annimmt, dass dem Sterbenden nur noch eine kurze Zeit bis zum Tod bleibt. Mit diesem Zeitpunkt - der Akzeptanz des bevorstehenden Todes - verliert die Organisation ihr Interesse am sterbenden Individuum und behandelt es wie einen Korper, der bereits tot ist. Er veranschaulicht dies mit Beispielen wie der Krankenschwester, die einer Frau die Augenlieder zu schlieBen versucht, bevor sie tot ist, weil dies bei einer Toten schwieriger ist, da die Muskeln weniger elastisch sind. Kalish (1968) dehnt die Definition auf die Nicht-Person-Behandlung und die soziale Isolation aus. Die Nicht-PersonalBehandlung kann sich darin auBem, dass Personen als „Falle" behandelt oder als Personen nicht beachtet werden. So werden Patientinnen und Patienten von Arztinnen und Arzten sowie dem Pflegepersonal, wenn Patienten und Angehorige nicht anwesend sind, nach ihren Krankheiten und nicht nach ihren Namen benannt (Lau, 1975, S. 66). Oder es wird iiber sie hinweg mit anderen anwesenden Personen geredet, als ob sie selbst als Person gar nicht anwesend waren. Die soziale Isolation beinhaltet femer, dass die Anzahl Bezugspersonen sowie die Haufigkeit der Interaktionen abnimmt oder die Person raumlich isoliert wird, indem sie beispielsweise in einem Pflegeheim untergebracht wird. GemaB Feldmann (2002b) ist fiir viele Betroffene das soziale Sterben ein Geschehen, d.h. ein Handeln der anderen: Sie werden vergessen, ignoriert und abgeschoben (Feldmann, 2002b). Nach ihm umfasst soziales Sterben den Verlust der Anerkennung durch andere, von Rollen und sozialen Teilhabechancen. Der soziale Tod bedeutet somit das Ende der sozialen Identitat des Individuums (Feldmann, 1997, S. 12). GemaB Schneider (1999) weisen die Begriffe „soziales Sterben" und „sozialer Tod" auf einen gesellschafthchen Mechanismus der sozialen Ausgrenzung hin, „durch den dem (in der Regel) physisch noch lebenden, aber als sterbend defmierten Subjekt, die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft entzogen wird" (S. 23). Bei diesem Mechanismus geht es „um Selektion und Kontrolle, um die Regulierung und Differenzierung sozialer Mitgliedschaft und um Zulassung zur sozialen Kommunikation (...). Der institutionelle Umgang mit Sterben und Tod
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erscheint als signifikanter Vorgang, in dem Individuen als Statuslose von der Gesellschaft ausgegrenzt und als ,Unperson' an den Rand der Kommunikationslosigkeit gedrangt werden" (Weber, 1978, S. 50). Vom sozialen Tod sind insbesondere die folgenden drei Gruppen betroffen: (1) Personen mit einer lang andauemden, zum Tode ftihrenden Erkrankung; (2) sehr alte Personen und (3) Personen, welche ihre Personlichkeit - zum Beispiel durch ein irreversibles Koma oder durch eine altersbedingte, weit vorangeschrittene Demenzerkrankung - verloren haben (Sweeting & Gilhooly, 1991/1992, S. 216). Gemeinsam ist diesen drei Gruppen, dass bei ihren Mitgliedern dem biologischen Tod eine relativ lange Zeit die Pflege in einer Institution vorausgeht. Fixr den „Ritus" des sozialen Ubergangs in den Tod ist die Institutionalisierung wichtig, da sie die Moglichkeit bietet, Personen in „Falle" zu transformieren (Sweeting & Gilhooly, 1991/1992, S. 264). In der westlichen Gesellschaft ist es iiblich geworden, dass der soziale Tod dem biologischen Tod vorausgeht. Dies hat verschiedene Grunde. Die gestiegene Lebenserwartung durch verbesserte Ernahrung, Hygiene und allgemein bessere Lebensbedingungen fuhrt dazu, dass viele Menschen genug lange leben, um an Demenz zu erkranken. Im Weiteren ermoglicht es die modeme HightechMedizin, komatose Patienten lange am Leben zu erhalten, wodurch sich der Sterbeprozess verlangert. Diese Entwicklungen und die veranderten Familienstrukturen (wie zum Beispiel: mehr Alleinlebende, weniger Kinder), machen institutionelle Pflege vor dem Tod erforderlich (Sweeting & Gilhooly, 1997; Sweeting & Gilhooly, 1991/1992, S. 265).
1.2.3 Lebenserwartung In den letzten drei Jahrhunderten ist die Lebenserwartung stetig angestiegen und fiir die Zukunft wird ein weiterer Anstieg prognostiziert. So stieg beispielsweise in der Schweiz die durchschnittliche Lebenserwartung zwischen 1878 und 2002 bei den Mannem von 41 auf 78 Jahre und bei den Frauen von 43 auf 83 Jahre an (Bundesamt fiir Statistik, 2004a; Weidmann, 2000, S. 58). Der Ruckgang der Sterblichkeit im 18. und 19. Jahrhundert war im Wesentlichen das Ergebnis verbesserter Agrar- sowie Produktionstechnik, besserer Transportmoglichkeiten, verbesserter Hygiene, eines verbesserten Wohnungsbaus (Kontrolle von Feuchtigkeit und Temperatur) sowie sozialer Reformen (Arbeits- und Betriebspolitik, Unfallschutz, Krankenversicherung u.a.) (Siegrist, 1995, S. 44). Seit der zweiten Halfe des 19. Jahrhunderts, hauptsachlich aber im 20. und 21. Jahrhundert, ist die Senkung der Sterbhchkeit vor allem auf Fortschritte in der Medizin zuruckzufiihren. Die hohe Sauglingssterblichkeit konnte drastisch
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reduziert werden. Wahrend 1878 pro 1000 Lebendgeburten 200 Sauglinge starben (Weidmann, 2000, S. 58), waren es 2003 noch 4 (Bundesamt fur Statistik, 2004a). Neben der gesunkenen Sauglingssterblichkeit ist fur die gestiegene Lebenserwartung auch die Verminderung des Sterberisikos von Menschen im mittleren und im letzten Lebensabschnitt verantwortlich (Bundesamt fur Statistik, 2004a). Im Weiteren war die Entdeckung von Antibiotika (1940) sowie der Moglichkeit, Personen durch kunstliche Beatmung am Leben zu erhalten (1951) bedeutsam. Die Technik der praktisch unbeschrankten Reanimation mit der Herz-Lungen-Maschine erlaubt es, Schwerstkranke und Schwerstverletzte uber langere Zeit kiinstlich am Leben zu erhalten. Neben solchen groBen technischen Erfolgen in der Geschichte der Medizin werden aber auch immer wieder neue Diagnoseverfahren, neue Medikamente sowie andere neue Behandlungen entwickelt, die oftmals den Tod zu verhindem bzw. das Leben zu verlangem vermogen. So ist der Anstieg der Lebenserwartung beziehungsweise der Riickgang der Sterblichkeitsrate, welcher zwischen 1999 und 2000 zu verzeichnen ist (Bundesamt fur Statistik, 2004c), hauptsachlich auf die effektivere medizinische Verhinderung des akuten Herztodes (personliche Mitteilung von Hannes Staehelin, 30.12.2003) und der Todesfalle infolge von HimgefaBkrankheiten (Himschlag) zuruckzufuhren (Bundesamt fur Statistik, 2004c). Die neuen medizinischen Techniken haben den Tod zurtickgedrangt und die Wahrscheinlichkeit, das biologisch gegebene Alter zu erreichen, erhoht. Das Sterben findet heute seltener unerwartet und in jungen Jahren statt, sondem zumeist im hohen Alter. So verstirbt in den Industrienationen rund die Halfte der Personen im Alter von uber 80 Jahren und rund ein Drittel im Alter zwischen 65 und 79 Jahren (van der Heide et al., 2003). Mit der Erhohung der Lebenserwartung haben sich auch die Todesursachen geandert.
1.2.4
Todesursachen und Sterheverlauf
Wahrend im 19. und fruheren 20. Jahrhundert hauptsachlich Infektionskrankheiten zum Tod fuhrten, sind es in der Zwischenzeit vor allem degenerative und chronische Erkrankungen. Im Jahr 2000 machten Infektionskrankheiten nur 1% der Todesursachen aus. Die haufigste Todesursache war bei beiden Geschlechtern eine Herzkreislaufkrankheit (40%), an zweiter Stelle kamen bei Mannern und Frauen Krebserkrankungen (26%). Mit einem Anteil von je 1% spielen auch Erkrankungen der Atmungsorgane sowie Unfalle und gewaltsame Todesfalle eine bedeutende Rolle. Bei den zum Tode fixhrenden Erkrankungen handelt es sich zumeist um solche Krankheiten, die mit der Alterung des menschhchen Organismus zusammenhangen. Weidmann (2000, S. 59) schreibt in diesem Zu-
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sammenhang: „Es sterben mehr Menschen an solchen Krankheiten, well es mehr Menschen gibt, die das Alter erreichen, in dem diese Krankheiten auftreten." Die Todesursachen unterscheiden sich je nach Alter, in welchem der Tod auftritt. Bei Sauglingen, Kindem und jungen Erwachsenen iiberwiegen die angeborenen Krankheiten, nachher dominieren die auBeren Ursachen, also die Todesfalle wegen Unfallen oder Suizid. Bei den Todesfallen im mittleren Alter bilden die bosartigen Krebserkrankungen, d.h. die zum Tode fiihrenden, nicht behandelbaren Krebserkrankungen, die haufigste Todesursache. Im hoheren Alter treten vor allem Herzkreislaufkrankheiten auf. Neben Altersunterschieden sind auch Geschlechtsunterschiede zu beachten. Manner sterben bedeutend haufiger als Frauen an Erkrankungen wie Herzinfarkt, Krebs der Luftrohre, Lungen oder Bronchien oder infolge eines Verkehrsunfalls oder eines Suizides, wahrend Frauen haufiger an Brustkrebs sowie HimgefaBerkrankungen sterben (Bundesamt fur Statistik, 2004d). Ftir die verschiedenen Todesursachen bzw. Erkrankungsarten sind unterschiedliche Sterbeverlaufe charakteristisch. Lunney, Lynn und Hogan (2002) unterscheiden ausgehend von Glaser und Strauss (1968) vier Sterbeverlaufe („trajectories of dying"): plotzlicher Tod („sudden death"), zum Tode fiihrende Erkrankung („terminal illness"), Organversagen („organ failure") und Gebrechlichkeit („frailty") (siehe Abbildung 1).
Zeit Plotzlicher Tod
Zeit Terminale Erkrankung
Zeit Organversagen
Altersschwache
Abbildung 1. Sterbeverlaufe nach Lunney, Lynn und Hogan (2002) Diese Sterbeverlaufe unterscheiden sich bezuglich der Zeitdauer und des Grades der Abnahme der lebenswichtigen Funktionen und sind fur verschiedene Erkrankungsarten sowie Todesursachen charakteristisch. Bei Personen, die durch Sui-
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zid, Gewalteinfluss oder durch eine Herz- und Kreislauferkrankung sterben, ereignet sich der Tod haufig plotzlich (plotzlicher Tod). Personen, die in der Folge einer langen terminalen Krankheitsphase, wie sie fur bestimmte Krebsarten charakteristisch ist, sterben, fuhlen sich lange Zeit verhaltnismaBig gut, bevor die Erkrankung uberhand nimmt und nicht mehr behandelbar ist (terminale Erkrankung). Personen, die an einem Organversagen - wie zum Beispiel an einer Herzinsuffizienz oder einer chronischen Bronchitis - leiden, erleben oft eine stufenweise Abnahme des funktionalen Status mit periodisch auftretenden dramatischen Krankheitsverschhmmerungen. Jede Verschlimmerung konnte zum Tod fiihren. Vielfach durchlebt eine Person mehrere solcher Episoden (Organversagen). Personen mit dem vierten Sterbeverlauf (Altersschwache), der zum Beispiel fur Demenz oder Schlaganfall typisch ist, erfahren eine langsamere Funktionsabnahme, welche mit stetig fortschreitender Gebrechlichkeit (disability) verbunden ist. SchlieBlich fiihren Komplikationen der Erkrankung zum Tod. Dieser Sterbeverlauf hat sich verbreitet, da immer mehr Menschen ein hohes Lebensalter ereichen und sich die Todesursachen entsprechend verandert haben. GemaB Lunney und Kollegen (2002) ereignet sich rund die Halfte alter Todesfalle nach diesem Sterbeverlauf Dieser Verlauf, der vorwiegend in Institutionen stattfmdet, ist haufig mit einem sozialen Tod vor dem physischen Tod verbunden (Sweeting & Gilhooly 1991/1992, S. 261). Bereits Glaser und Strauss (1968) haben diesen Sterbeverlauf erwahnt und ihn „lingery trajectory: institutional dying" genannt. Bei diesem Sterbeverlauf ist der Tod zwar gewiss, aber die Todeszeit noch nicht bekannt. Den typischen Patienten dieses Sterbeverlaufs beschreiben sie als - zumeist altere - Person mit einer chronischen Erkrankung oder mehreren chronischen Erkrankungen, welche durch ihre Erkrankungen physiologisch gealtert ist und sich in einer Institution aufhalt. Die Angehorigen distanzieren sich von dieser Person schrittweise, indem sie sie immer seltener besuchen (Glaser & Strauss, 1968). Mit dem Anstieg der Lebenserwartung und der Zunahme des Sterbeverlaufs Altersschwache steigt auch der Anteil an dementen Personen. So sind gemaB der Berliner Altersstudie im Alter zwischen 75 und 79 Jahren 6%, zwischen 80 und 84 Jahren 13%, zwischen 85 und 89 Jahren 24% und im Alter von liber 90 Jahren 35%) dement (Helmchen et al., 1996). Haufigste Ursache einer Demenz ist die Alzheimersche Krankheit. Bei fortschreitender Demenzerkrankung verliert die Person ihre Gedachtnisleistung. Die Zunahme von Demenzerkrankungen bringt es mit sich, dass ein bedeutender Anteil sehr alter Personen nicht mehr urteilsfahig ist.
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1.2.5 Sterbeort Vergleicht man unser Jahrhundert mit den vorangegangenen, so sterben in westlichen Industrienationen immer weniger Menschen zu Hause und immer mehr in Organisationen (Spitaler, Alters-, Kranken- und Pflegeheime; Elias, 1982; Streckeisen, 2001). Vergleicht man den Sterbeort in der Schweiz fur die Jahre 1969, 1986 und 2001 (EHas, 1982; Fischer, Bosshard, Zellweger & Faisst, 2004; Streckeisen, 2001), so zeigt sich, dass sich die Tendenz, nicht mehr zu Hause, sondem in einer Organisationen zu sterben, auch in den letzten 30 Jahren fortgesetzt hat (siehe Abbildung 2), wobei im Verlaufe der Zeit die Organisation Heim gegeniiber dem Spital an Bedeutung gewonnen hat. Zwischen 1969 und 2001 sank der Anteil von Personen, die zu Hause verstarben, kontinuierlich von 38% im Jahr 1969 uber 28% im Jahr 1986 auf 23% im Jahr 2001. Der Anteil von Personen, die im Spital verstarben, blieb zwischen 1969 und 1986 konstant (56% bzw. 55%) und sank im Jahr 2001 auf 37%. Der Anteil jener, die in Alters- oder Pflegeheimen verstarben, stieg im selben Zeitraum von 8% im Jahr 1969 iiber 14% im Jahr 1986 auf 34% im Jahre 2001. Somit fand der Tod 2001 gegenuber 1986 mehr als doppelt so haufig in Alters-, Kranken- und Pflegeheimen (34 % gegenuber 14 % „im Altersheim" im Jahre 1986) und deutlich seltener im Spital (37% gegenuber 55% im Jahre 1986) statt.^ Es zeichnen sich somit fiir die letzten dreiBig Jahre die folgenden Entwicklungen ab: Wahrend zwischen 1969 und 1986 eine Tendenz hin zum Sterben in Organisationen erkennbar ist, verlagerte sich zwischen 1986 und 2001 das Sterben innerhalb der Organisationen von den Spitalem weg in die Alters- und Pflegeheime (Fischer et al., 2004). GemaB Streckeisen (2001, S. 52) ist fur die letztere Entwicklung der Ausbau des Altersheimbereiches, der in den spaten siebziger Jahren einsetzte, hauptverantwortlich. Als weiterer Grund ist der stetige Anstieg der Lebenserwartung zu nennen, mit welchem die Zunahme von degenerativen Erkrankungen einhergeht, die oftmals eine Langzeitpflege notig machen. Fiir den Ruckgang des Sterbens zu Hause und den Anstieg des Sterbens in Organisationen wird als mitverantwortlich betrachtet, dass Frauen vermehrt erwerbstatig sind und sich die Familienstrukturen verandert haben. Oftmals haben Betagte nur noch wenige Angehorige, fur die es schwierig oder gar unmoglich ist, sie iiber langere Zeit zu Hause zu pflegen (Fischer et al., 2004).
^ Da das Bundesamt fur Statistik nur bis zum Jahre 1986 Angaben zum Sterbeort erfasste, beziehen sich nur die Zahlen fur 1969 und 1986 auf die gesamte Schweiz (Streckeisen, 2001). Die Zahlen fiir das Jahr 2001 beziehen sich nur auf die deutschsprachige Schweiz; sie wurden im Rahmen der europaischen Todesfall-Studie, welche nur in der deutschsprachigen Schweiz durchgefuhrt werden konnte, erhoben (Fischer et al,. 2004).
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S1969 E3 1986 • 2001
•NNV--.-'U
zu Hause
Spital
Heim
ubriges
Abbildung 2. Anteil Todesfalle nach Sterbeort fur die Jahre 1969, 1986 und 2001, Schweiz. Quelle: Streckeisen, 2001; Fischer et al, 2004^ Der Sterbeort wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst (Fischer et al, 2004; Ochsmann et al., 1997; Streckeisen, 2001; Studer, 1996). So hangt es maBgeblich von der Todesursache bzw. vom Sterbeverlauf ab, wo jemand stirbt. Bei Personen, deren Tod sich plotzlich ereignet, wie zum Beispiel bei Suizid, Gewalteinfluss oder bei einer Herz- und Kreislauferkrankung, ist die Zeitspanne zwischen dem normalen Funktionieren des Korpers und dem Tod sehr kurz und es sind zumeist keine Vorzeichen fur den Tod vorhanden, womit eine Behandlung durch das Gesundheitssystem oft nicht mehr moglich ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Personen zu Hause oder im Freien sterben, ist sehr hoch. Bei Personen, die in der Folge einer langen terminalen Krankheitsphase, wie sie fur bestimmte Krebsarten charakteristisch ist, sterben, ist der Tod zumeist vorhersehbar und eine medizinische Symptom- und Schmerzkontrolle wird notig. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass sich Patienten mit einem terminalen Krankheitsverlauf in der letzten Lebensphase in einem Spital aufhalten und auch dort versterben. Der Tod fmdet somit vor allem bei Krebserkrankungen im Spital statt. Bei Personen, die an einem Organversagen - wie zum Beispiel an einer Herzinsuffizienz oder einer chronischen Bronchitis - leiden, konnte jede Verschlimmerung zum Tode fuhren. Die Uberlebensprognose bleibt daher unklar und der Tod kann sich nach einer Konsolidierungsphase plotzHch auBerhalb einer medizinischen Institution, zu Hause oder im Freien, ereignen. In Alters- und Pflegeheimen ster^ Die Kategorie „Altersheim" wurde erst ab 1979 separat erfasst. Fiir das Jahr 1969 sind daher die Kategorien „Heim" und „ubriges" zusammengefasst dargestellt.
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ben haufig Personen mit einer Erkrankung des Atmungs- oder Nervensystems mit dem Sterbeverlauf „Altersschwache". Der Gesundheitszustand dieser Personen verschlechtert sich stetig uber lange Zeit, weshalb sie auf Pflege und Betreuung angewiesen sind. Neben der Todesursache und dem Sterbeverlauf haben auch das Geschlecht, das Alter, der Zivilstand und die soziale Schicht der verstorbenen Person einen Einfluss auf den Sterbeort: Manner sterben haufiger als Frauen zu Hause und im Freien. Im Altersheim sterben vorwiegend betagte oder hochbetagte, verwitwete, geschiedene und allein stehende Frauen, die der Unterschicht angehoren (Fischer et al, 2004; Ochsmann et al., 1997; Streckeisen, 2001). AuBerdem haben die vorhandenen Dienstleistungsangebote einen Einfluss auf den Sterbeort. So liegt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand im Spital stirbt hoher, wenn in seiner Wohngemeinde ein Spital vorhanden ist (Ochsmann et al., 1997; Studer, 1996).
1.3 Handeln gegeniiber Sterbenden Im Folgenden richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Handeln gegeniiber Sterbenden, wobei als Akteure vorwiegend die Arztinnen und Arzten betrachtet werden. Im Zentrum steht dabei die Frage, wodurch das Handeln Nichtsterbender gegeniiber Sterbenden im Allgemeinen beeinflusst wird, weil dies zumindest teilweise den arztlichen Umgang mit der Sterbehilfe erklaren kann. Uberdies sollen die entsprechenden Erkenntnisse dazu dienen, Fragestellungen und Hypothesen zur Sterbehilfe zu formulieren. Studien, die das Handehi gegenuber Sterbenden analysieren, sind vorwiegend in den 60er und 70er Jahren entstanden. Wobei Interaktionen mit Sterbenden in Krankenhausem anhand von Beobachtungen untersucht wurden (z.B. Glaser & Strauss, 1965; Lau, 1975; Sudnow, 1973). Eine neuere Studie hegt von Streckeisen (2001) vor. Sie hat in den 90er Jahren auf einer Station einer Schweizer Universitatsklinik Interviews und Beobachtungen durchgefuhrt. Das Krankenhaus stand und steht als Beobachtungsort im Zentrum, weil sich ein groBer Anteil der Todesfalle im Spital ereignete und ereignet. Quantitative Studien, in denen die Determinanten des Handelns gegeniiber Sterbenden untersucht wurden, sind meines Wissens keine vorhanden. Es sind somit keine Aussagen dariiber moglich, ob bestimmte Patientenmerkmale (z.B. Geschlecht, Alter, Bildung etc.), Arztmerkmale (Geschlecht, Alter, Herkunft, Fachgebiet etc.) oder Situations- sowie Kontextmerkmale (z.B. Organisationstyp, Erkrankungsart, Symptome etc.) einen Einfluss auf den Umgang mit Sterbenden haben oder nicht. Dass in den letzten Jahrzehnten das Interesse an den Themen Sterben und Tod in der Medizinsoziologie als auch in der Gesundheitspsychologie relativ gering war, lasst sich gemaB Streckeisen (2001) teilwei-
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se dadurch erklaren, dass der defizitorientierte Ansatz von einem ressourcenorientierten Ansatz abgelost wurde, der kaum Raum fur Themen wie Sterben und Tod bietet.
1.3.1 Die gesellschaftliche Bedeutung des Todes und der Normalbiographie Einstellungen sowie das Handeln gegeniiber Sterbenden sind u.a. von Einstellungen, Vorstellungen und Erwartungen in Bezug auf Sterben und Tod, welche von groBen Teilen der Bevolkerung geteilt werden, gepragt. In unserer Gesellschaft wird der Tod nicht glorifiziert, da Leistung als wichtiger Wert gilt und der Tod dieser ein Ende setzt (Mischke, 1996, S. 223; Parsons, 1964b, S. 241). Weil die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft den Tod negativ und die Leistung positiv bewerten, neigt man dazu, den Tod moglichst zu verhindem (Lau, 1975, S. 86). Zwar wird der Tod im Allgemeinen negativ bewertet, gleichwohl sind diesbeziiglich auch Nuancen zu beachten, wobei hier die Vorstellung vom idealen Lebenslauf eine wichtige Rolle spielt. Beim als normal vorgestellten Lebenslauf soil der Tod diesen nicht unterbrechen, sondem er soil am Schluss stehen. Lau (1975) schreibt dazu: In unserem Kulturbereich gehort es zu den wesentlichen Elementen der als normal vorgestellten Biographie des Individuums, dass es den Status des Erwachsenen erreicht, den erlemten Beruf mit Erfolg ausiibt, eine Familie grundet, Kinder erzieht, schlieBlich aus dem Beruf ausscheidet und einen einigermaBen sorglosen Lebensabend verbringt (S, 33). Dem „normalen" Tod geht eine allmahliche Ausgliederung aus sozialen Gebilden und Bezugen voraus. Tritt er vor dem Ausgliederungsprozess ein, so gilt der Tod als illegitim. Die Bewertung des Todes hangt vom Grad der Vollendung des Lebenslaufs ab. Feldmann (1990, S. 90ff) spricht in diesem Zusammenhang vom „guten Sterben" sowie vom „guten Tod". Hinsichtlich des „guten Todes" fmden sich gesellschaftliche Normierungen, die institutionalisiert sind bzw. von einem groBen Teil der Bevolkerung anerkannt werden. An verbreiteten Trauerreaktionen lassen sich fiinf Kriterien des guten Todes ablesen: (1) Das physische Sterben soil erst nach dem sozialen Sterben erfolgen; (2) GroBeltern sollen vor den Eltem und diese vor den Kindem sterben; (3) Je mehr positive Erwartungen des Sterbenden und seiner Bezugspersonen - in Erfollung gegangen sind, um so leichter fallt das Sterben; (4) je hoher der erreichte Status des Individuums, um so besser ist der Tod; (5) Sterben und Tod sind „gut", wenn die zentralen Bezugskollektive leben und gedeihen sowie das Individuum in ihnen eingeordnet ist (Feldmann, 1990, S. 228). Die extremsten Trauerreaktionen konnen beim Tod 51
von Kindem und jungen Menschen beobachtet werden. Ein solcher Tod verletzt die ersten vier Kriterien. Der Tod im Alter dagegen erfiillt zumeist alle fiinf Kriterien und wird somit von den Bezugspersonen als „gut" angesehen. Feraer hat sich der gute Tod nicht nur in hohem Alter zu ereignen, sondern er soil auch unter medizinischer Uberwachung stattfmden. Wer dem medizinischen System ausweicht oder gar Suizid begeht, wird als abweichend betrachtet (Feldmann, 1995, S. 145ff). Studien, die das Sterben im Krankenhaus untersuchten, zeigen, dass das Krankenhauspersonal auf Todesfalle, die sich nicht nach dem Muster des normalen Lebenslaufes ereignen, oft mit Trauer reagiert und sich bei der Pflege dieser Sterbenden besonders bemuht (Lau, 1975, S. 64). Glaser und Strauss (1964) versuchen diese Reaktion des Personals teilweise mit ihrem Modell des „social loss", des „sozialen Verlustes", zu erklaren: Je hoher der soziale Verlust ist, desto starker sind die Trauerreaktionen. Sie sehen dabei als SchlUsselfaktor fur den sozialen Wert das Alter, weil es mit anderen Faktoren, wie Stellung im Beruf und in der Familie usw. stark korreliert und zudem ein leicht zu erkennendes Faktum ist. Im Weiteren zahlen sie dazu Hautfarbe, Volkszugehorigkeit, Schonheit, Personlichkeit, Erziehung, Beruf, Talente etc. Sie gehen davon aus, dass die Gesamtheit der positiv bewerteten Merkmale, die der Sterbende besitzt, den sozialen Verlust defmiert. Daraus leiten sie die These ab, dass das Personal sich im Grade seiner Trauer und in den pflegerischen Bemtihungen nach dem Grad des sozialen Verlustes richtet.
1.3.2 Situationsdefinition Ftir das Handeln im Allgemeinen ist es von groBer Bedeutung, dass der einzelne Handelnde sich daruber im Klaren ist, mit welcher Situation er es zu tun hat. Es geht also zuerst darum, die hier interessierende Situation zu defmieren. Dieser Schritt ist jedoch nicht immer unproblematisch. Wahrend die Definition des physischen Todes (biologischer, klinischer Tod und Himtod) relativ leicht fallt, erweist es sich als schwierig, zu entscheiden, ob sich eine Person im Sterbeprozess befmdet bzw. sterbend ist oder nicht. Nach Sudnow (1973, S. 82) sind Aussagen wie „er stirbt" bzw. „er wird sterben" das Ergebnis von Beurteilungsprozessen durch Personen, fiir die die Feststellung des Sterbens bestimmte Konsequenzen hat. Soziologisch betrachtet ist ein Mensch folglich ein Sterbender, wenn er von Personen entsprechend eingeschatzt wird, die zu derartigen Beurteilungen legitimiert sind, sie routinemaBig vomehmen und daraus fur sich selbst und andere gewisse Verhaltensregeln ableiten. Zentrale Personen bei der Beurteilung bzw. bei der Situationsdefmition sind Arztinnen und Arzte, weil sie durch
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ihre Ausbildung, Erfahmngen und ihr Wissen gesellschaftlich dazu legitimiert sind. Die Frage nach der Situationsdefmition zielt nicht nur darauf ab, ob sich eine Person im Sterbeprozess befindet oder nicht, sondem auch darauf, wo sich eine Person in diesem Prozess des Ubergangs zwischen Leben und Tod aufhalt. Es wird somit sowohl der Aspekt der „Ungewissheit des Todes" als auch jener der „Todeszeit" angesprochen (Glaser & Strauss, 1965/66, S. 49). Kombiniert man die Aspekte „Gewissheit" und „Zeit" ergeben sich vier Arten von „Todeserwartungen": (1) gewisser Tod zu bekannter Zeit; (2) gewisser Tod zu unbekannter Zeit; (3) ungewisser Tod, aber der Zeitpunkt, an dem Gewissheit eintritt, ist bekannt (z.B. Operationstermin); und (4) Tod wie Zeitpunkt sind ungewiss. Dabei ist die Prognose uber den Zeitpunkt des Todeseintrittes meistens schwieriger als die Voraussage, dass der Tod mit Sicherheit eintreten wird. In Bezug auf den Todeszeitpunkt zeigen verschiedene Studien, dass Arztinnen und Arzte die Uberlebenszeit ihrer Patientinnen und Patienten normalerweise ilberschatzen und dass die Schatzung umso ungenauer ausfallt, je langer die Lebenserwartung ist (Glare, Virik, Jones, Hudson, Eychmiiller, Simes & Christakis, 2003). Filr die Situationsdefmition ist neben der Gewissheit und der Zeit des Todes auch die Zeitspanne von Bedeutung, in welcher sich das Sterben vollzieht. Diese Zeitspanne kann sehr unterschiedlich lang sein. Glaser und Strauss stellten fest, dass die Interaktionen, die wahrend des Sterbeprozesses stattfmden, nur zu verstehen sind, wenn neben dem Grad der Prognosesicherheit auch die zeitliche Ausdehnung des Vorganges berucksichtigt wird. So hangt das Verhalten gegenuber Sterbenden stark davon ab, ob der Sterbeprozess ausgedehnt ist, ob er erwartet oder unerwartet schnell ablauft (vgl. Lau, 1975). Hinsichtlich der Dauer des Sterbens unterscheiden Glaser und Strauss (1968) zwischen einer „erwartet schnellen Bahn", einer „unerwartet schnellen Bahn" und einer „zogemden Bahn" („lingering trajectory"). Mit der „schnellen erwarteten Bahn" sind Notfallsituationen gemeint, in denen es um Leben und Tod geht. Von einer „unerwartet schnellen Bahn" wird gesprochen, wenn aufgrund der diagnostizierten Erkrankung der Todeseintritt nicht oder noch nicht erwartet wird, sowie dann, wenn die Patientin oder der Patient mit einer lebensgefahrlichen Symptomkonstellation eingeliefert wird. In beiden Fallen werden von der Arztin und dem Arzt MaBnahmen - wie Beatmungsversuche, Herzmassagen, Operationen oder die Verabreichung rasch wirkender Medikamente - erwartet. In Fallen des unerwarteten Todes treten Arztinnen und Arzte oft als Lebensretterinnen oder Lebensretter auf, wobei sich ihre Rolle andert, sobald sich zeigt, dass sie gegeniiber dem Tod machtlos sind. In solchen Situationen verlassen sie meist schnell die Szene (Lau, 1975, S. 51). Bei der „zogemden Bahn" schwindet das Leben allmahhch; das Sterben schreitet langsam voran und ist nicht abzuwenden. In den meisten Fallen
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wird die Betreuung auf das Notigste beschrankt und auf intensive Behandlungen verzichtet (Lau, 1975). Indem sie die Situation definieren, legen die Arztin und der Arzt das Handlungsziel sowie die Strategien fest, die zum festgelegten Ziel fuhren sollen. Die arztliche Beurteilung der Situation sowie die arztlichen Handlungsanweisungen bestimmen in vielen Fallen liber den Todeseintritt. Die Folgen der Situationsdefinition sowie des medizinischen Eingreifens lassen sich grob in die zwei Kategorien „Leben" und „Sterben" unterteilen (Lau, 1975, S. 19). Damit das medizinische Handeln „Sterben" zur Folge hat, muss zuerst die Situation als „Nichts mehr zu machen" (Glaser & Strauss, 1974, S. 163ff) defmiert werden. In solchen Situationen unterbleiben lebenserhaltende MaBnahmen sowie Rettungsversuche. Wird die Situation als „heilbar" defmiert, werden kurative MaBnahmen eingeleitet und die Person wird am Leben erhalten. Die Situation des Sterbenden wird gemaB Lau (1975) umso seltener als hoffnungslos defmiert, je mehr die Wiederherstellung der Gesundheit gesellschaftlich und in der Organisation Krankenhaus belohnt wird und je starker die Problematik des nicht zu verhindernden Todes als Tabu gilt (S. 86ff). Nicht immer lasst sich allerdings mit letzter Sicherheit voraussagen, ob eine Heilung noch moglich ist oder nicht, d.h. man hat mit Unsicherheiten umzugehen. Verschiedene Studien kommen - wie bereits in Kapitel 1.1.3 erwahnt - zum Schluss, dass Arztinnen und Arzte auf Unsicherheiten mit „instrumentellem Aktivismus" reagieren (z.B. Hall, 2001). Aber nicht nur Arztinnen und Arzte, sondem auch andere Beteiligte reagieren auf Unsicherheiten mit Aktivismus. Obwohl das Handeln gegeniiber Sterbenden, das auBerhalb eines Krankenhauses stattfmdet, weniger gut dokumentiert ist, gibt es auch hier Hinweise dafur, dass man Unsicherheiten mit „instrumentellem Aktivismus" begegnet. Da Angehorige im Umgang mit Sterbenden oft unerfahren sind, konmit es zum Teil vor, dass sie kurz vor Todeseintritt noch unsicher sind, ob nicht doch noch etwas unternommen werden musste, und veranlassen beispielsweise eine Krankenhauseinliefsrung. Oftmals ereignen sich daher Todesfalle wahrend des Transportes ins Spital oder direkt bei der Einheferung (Lau, 1975).^^ In Bezug auf die Situationseinschatzung zeigen verschiedene Beobachtungen und Interviews, dass das Pflegepersonal fruher als Arztinnen und Arzte auf kurative MaBnahmen verzichten wiirde. So sind die von Streckeisen (2001, S. 138) interviewten Schwestem eines Krankenhauses - vor allem die erfahrenen der Ansicht, die Arztinnen und Arzte wiirden noch sehr lange versuchen, Leben zu erhalten. Eine Krankenschwester eines deutschen Hospizes sagt dazu: „Im
'^ Diese Todesfalle werden in den amtlichen Statistiken nicht als separate Kategorie aufgefuhrt.
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GroBen und Ganzen sind ja Pflegende mehr fiir Therapieverzicht und Arzte mehr fiir Therapie" (Kolbe-Alberdi, 2005, S. 50).
1.3.3 Sterben in Organisationen In den Industrienationen ereignet sich - wie bereits erwahnt - ein groBer Anteil der Todesfalle in Organisationen, namlich in Krankenhausern sowie Alters- und Pflegeheimen. Ebenfalls um eine Organisation, in der gestorben wird - wenn auch bedeutend seltener als in Krankenhausern und Heimen -, handelt es sich beim Hospiz. Im Folgenden wird auf diese drei Organisationen und deren Umgang mit Sterben eingegangen, wobei in erster Linie analysiert werden soil, inwieweit sich der Umgang mit Sterbenden in diesen Organisationstypen unterscheidet sowie welches die Grlinde ftir allfallige Unterschiede sind. Diese Fragen sind deshalb von Interesse, weil in der vorliegenden Untersuchung u.a. der Einfluss des Arbeitssettings der Arztinnen und Arzte auf die Sterbehilfe beleuchtet werden soil, ein Aspekt der weitgehend unberiicksichtigt geblieben ist. Krankenhaus Im Krankenhaus liegt die Kontrolle liber die Sterbephase hauptsachlich in den Handen von Professionellen, insbesondere von Medizinerinnen und Medizinem. Die Asymmetrie in der Arzt-Patienten-Beziehung wird durch die organisationellen Einschrankungen verstarkt. Die Sterbenden verlieren hier Selbstkontrollmoglichkeiten, sie sind hilflos und abhangig. Andererseits erhalten sie institutionelle Pflege und Betreuung (z.B. Feldmann, 1997, S. 67). Streckeisen (2001, S. 82f) stellt sich gestiitzt auf Rohde (1962, S. 254ff und 265ff) die Frage, ob klassische Arzte und Krankenhausarzte unterschiedliche Handlungsorientierungen zeigen. Sie kommt zu folgenden Ergebnissen: Aufgrund der organisationstypischen Arbeitsteilung ist die flinktionale Spezifitat der Arztin oder des Arztes im Krankenhaus auf einen viel kleineren Bereich beschrankt als in der Allgemeinpraxis. Zumeist beschaftigen sich die Krankenhausarztinnen und -arzte mit einer Subdisziplin, wahrend sich die Praxisarztinnen und -arzte mit einer breiteren Palette auseinander setzen. Neben der im Krankenhaus herrschenden (horizontalen) Arbeitsteilung unter den Arztinnen und Arzten wird das Tatigkeitsfeld auch durch die (vertikale) Arbeitsteilung zwischen Arztin/Arzt und der Pflege eingegrenzt. So erbringen die Praxisarztin und der -arzt bestimmte Leistungen - wie beispielsweise die Verabreichung von Medikamenten - selbst, die im Krankenhaus an das Pflegepersonal delegiert werden. Diese beiden Formen der Arbeitsteilung verlangen von Krankenhausarztinnen und -arzten in ihrer Subdisziplin
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vertiefte Kenntnisse (Universalismus), und aufgrund ihrer Spezialisierung in einem Teilgebiet sehen sie sich gedrangt, „besonderen medizinischen Herausforderungen mit mehr Aussicht auf Erfolg zu begegnen (Leistungsorientierung)" (Streckeisen, 2001, S. 83). Der instrumentelle Aktivismus dlirfte somit im Krankenhaus ausgepragter sein als in der medizinischen Praxis. Die Kollektivitatsorientierung kann im Krankenhaus zum groBten Teil an die Pflege delegiert werden, die Selbstorientierung sowie die affektive Neutralitat gewinnen dagegen im Krankenhaus gegenuber der Allgemeinpraxis an Bedeutung. Die Grlinde sind in der Betriebsorganisation des Krankenhauses wie auch in der Arbeitsteilung zwischen Arztin/Arzt und Pflege zu suchen (Streckeisen, 2001, S. 83). Der Kontakt zwischen Arztin/Arzt und Patientin/Patient beschrankt sich auf die meist kurzen Visiten, bei denen Arztin und Arzt Aufgaben wie Diagnosestellung und Festlegung der Behandlung zu erfullen haben. Diese Aufgaben akzentuieren die Distanz gegenuber den Betroffenen und verhindern, dass sich bei Krankenhausarztinnen und -arzten die Kollektivitatsorientierung entfalten kann. Da diese jedoch fur eine adaquate Diagnose und Therapie notig ist, ubemimmt das Pflegepersonal, welches bei seiner Arbeit die Kollektivitatsorientierung starker betont und naher beim Patienten arbeitet, eine Vermittlungsfunktion zwischen Patient und Arzt. Wie im Falle des klassischen Arztes nach Parsons (1952) haben also auch im klassischen Krankenhaus das Prinzip der „Heilung durch Verwundung" und der „instrumentelle Aktivismus" Gliltigkeit, wobei hier allerdings, weil vom Krankenhausarzt eine starkere Leistungsorientierung erwartet wird, der instrumentelle Aktivismus ausgepragter sein dlirfte als in der Arztpraxis (Streckeisen, 2001, S. 82f). Das Krankenhaus ist dazu legitimiert, die Prinzipien „Heilung durch Verwundung" und den „instrumentellen Aktivismus" durchzusetzen, weil das Ziel dieser Organisation die „Wiederherstellung der Gesundheit" ist (Streckeisen, 2001). Die Studien aus den 60er und 70er Jahren halten fest, dass das Sterben im Gegensatz zum Ziel des klassischen Krankenhauses, Leben zu bewahren, steht (z.B. Lau, 1975, S. 12). Weder die Organisation Krankenhaus noch ihre Rollentrager sind auf den Umgang mit Sterbenden eingestellt. Fiir Sterbende ist in dieser Organisation kein struktureller Status vorhanden und der Sterbende hat, obwohl seine Gesundheit nicht wiederhergestellt werden kann, die Patientenrolle einzunehmen, wobei von ihm erwartet wird, dass er die Pflichten, die diese Rolle beinhaltet, erfullt. Eine Rolle flir Sterbende in Krankenhausem sehen auch die meisten der von Streckeisen (2001) in den 90er Jahren interviewten Arztinnen und Arzte nicht vor (Streckeisen, 2001, S. 170). Die Rolle des Sterbenden wird als eine Zuspitzung der Krankenrolle gesehen, wodurch sich, obschon eine RiickfLihrung in die Gesundheit ausgeschlossen ist, die Kontrolle, die Abhangigkeit und der Druck auf die Patientinnen und Pati-
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enten, mit dem Pflegepersonal und den Arztinnen und Arzten zusammenzuarbeiten erhoht. Ein „guter" sterbender Patient soil somit die Patientenrolle nach Parsons iibemehmen, welche affektive Neutralitat, Kollektivitatsorientierung, Universalismus, Leistungsorientierung und funktionale Spezifitat vorschreibt, obschon sie der Rolle des Sterbenden, die partikularistisch, affektiv, diffus und zugeschrieben ist (Lau, 1975), nicht entspricht. Im Weiteren werden als „gute" sterbende Patientinnen und Patienten diejenigen betrachtet, die ein angepasstes Sterbeverhalten zeigen, d.h. die Erwartungen der Pflege sowie der Arztinnen und Arzte erfiillen. Sie sollen Fassung und Ausgeglichenheit bewahren; mit Wiirde den Tod erwarten; sich bemiihen „gute" Mitglieder ihrer Familien zu bleiben; „nett" sein zu Mitpatientinnen und -patienten; sich so lange wie moglich sozial verhalten; und kooperieren. Solche Patienten vermitteln dem Personal ein Gefuhl von professioneller Niitzlichkeit. Schwierige Patientinnen und Patienten, die Angst zeigen, „ubertriebene" Forderungen an Pflege sowie Arztinnen und Arzte stellen, sich „schwierig" verhalten, indem sie beispielsweise die Infusionsnadel herausziehen wollen um zu sterben, oder apathisch sind, werden zur Kooperation gezwungen (Glaser & Strauss, 1974, S. 82-85; Good, 1990). Neben Vorstellungen von einem „guten" Patienten existieren auch Vorstellungen des „wurdigen Todeskandidaten". Als wurdige Todeskandidatinnen und -kandidaten, d.h. als Personen, die den Tod verdient haben bzw. ihr Recht auf schnelleres Sterben behaupten konnen, erwiesen sich gemaB den Beobachtungen von Glaser und Strauss (1974) sehr alte Personen; FrUhgeburten mit Gehimschaden; Kranke im Koma; Personen, die im vollen Bewusstsein dahinsiechen. Wie sich in den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zeigt, haben entsprechende Kriterien auch heute noch Giiltigkeit (SAMW, 2004c). Die Werte- und Zielkonstellation des Krankenhauses lasst das Sterben als Aufforderung erscheinen, mit Hilfe von medizinischen Behandlungsmethoden den Tod zu verhindem (Lau, 1975, S. 88). Das Prinzip der „Heilung durch Verwundung" und der „instrumentelle Aktivismus" haben somit auch bei der Betreuung von Sterbenden noch Giiltigkeit (Streckeisen, 2001, S.14). Die Verlangerung des Lebens wird anderen Bedurfnissen der Sterbenden - wie zum Beispiel nach bestimmten Speisen oder Getranken oder Schmerzfreiheit, die eventuell das Leben verklirzen konnten - ubergeordnet (Lau 1975, S. 30). Die Hoffnung auf Wiederherstellung der Gesundheit wird so lange wie moglich aufrechterhalten. Die Beobachtungen von Streckeisen (2001, 2005) zeigen, dass Arztinnen und Arzte im Krankenhaus vor allem bei unsicheren Prognosen die Hoffnung auf Heilung nicht aufgeben und auf Unsicherheiten mit „instrumentellem Aktivismus" reagieren. So werden in solchen Situationen zumeist Forschungsphasen mit radikal-kurativen Verfahren eingesetzt, da davon ausgegan-
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gen wird, dass Heilung nie auszuschlieBen ist (Streckeisen, 2001). Ein von Streckeisen (2001) interviewter Chefarzt meint in Bezug auf Heilungschancen und kurative Behandlungsmethoden: „Wenn es ein Prozent Chance gibt, dass Heilung moglich ist, kann man mit kurativer Absicht handeln" (S. 137). Falls sich jedoch kein Erfolg abzeichnet, wird der „Widerstand" aufgegeben und die Arztinnen und Arzte ziehen sich zurlick (Streckeisen, 2001, S. 136-140 und S. 171) und iiberlassen die Betreuung des Sterbenden den Pflegenden (Glaser & Strauss, 1974; Lau, 1975; von Ferber, 1970). Ein Ruckzug bzw. ein Vermeidungsverhalten gegeniiber Sterbenden ist aber nicht nur bei Arztinnen und Arzten, sondern auch beim Pflegepersonal zu beobachten. So lasst das Pflegepersonal Sterbende langer warten als die iibrigen Patientinnen und Patienten. Dieses Vermeidungsverhalten des Krankenhauspersonals ergibt sich aus der Rolle des Helfenden und aus dem Ziel des Gesundheitssystems, Gesundheit wieder herzustellen. Dabei erleben Krankenhausarztinnen und -arzte den Tod negativer als das Pflegepersonal. Erstere erleben den Tod eines Patienten eher als personliche Niederlage, da sie sich mit „ihrer Position als Entscheidungs- und Verantwortungstrager weit mehr als mit Aufgaben der Ftirsorglichkeit" identifizieren (Streckeisen, 2001, S. 95). Da bei Pflegenden die Fursorge im Vordergrund steht, stellt der Tod ihre Kompetenz nicht in Frage (vgl. Feldmann, 1997, S. 68). Heim Alters- und Pflegeheime werden als Produkt der zunehmenden Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Gesellschaft gesehen. Sie dienen der dauemden Unterbringung, Verpflegung und personhchen Betreuung von Menschen. Bei den Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Organisationstyps handelt es sich zumeist um hochbetagte Frauen. Das Durchschnittsalter der Bewohnerinnen und Bewohner des von Salis Gross (1998; 2005) im Jahre 1990 untersuchten schweizerischen Alters- und Pflegeheims lag bei 86 Jahren. Die Eintretenden sind oft physisch und psychisch beeintrachtigt und sie sind sich bewusst, dass sie nicht mehr von hier wegziehen - auBer vorubergehend in ein Krankenhaus - und auch hier sterben werden. Teils bleiben sie lediglich einige Wochen oder Monate, haufig jedoch auch mehrere Jahre in dieser Organisation, bis sie schlieBhch sterben. Die Heime werden daher als Sterbeorganisationen bezeichnet (Salis Gross, 2005, S. 157ff). Die Handlungsorientierungen der Arztinnen und Arzten, die in Alters- und Pflegeheimen tatig sind, wurden meines Wissens bisher noch nie genauer analysiert. Im Focus der Studien standen einerseits das arztliche Handeln im Krankenhaus (z.B. Glaser & Strauss, 1974; Lau, 1975; Sudnow, 1973; Streckeisen, 2001), andererseits die Interaktionen zwischen Heimbewohnerinnen bzw.
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-bewohnem und Pflegenden in Heimen, dies u.a. deshalb, weil dem Pflegepersonal in diesem Organisationstyp eine viel groBere Bedeutung zukommt als Arztinnen und Arzten (Salis Gross, 1998; 2005). Es ist davon auszugehen, dass sich die Handlungsorientierungen der Heimarztinnen und -arzte von jenen der Krankenhausarztinnen und -arzte unterscheiden, und zwar hauptsachlich deswegen, weil diese Organisationen unterschiedliche Ziele verfolgen und somit deren Mitglieder unterschiedliche Aufgaben zu erfullen haben (vgl. Jaag & Riissli, 2001). So besteht der Zweck des Krankenhauses in der Wiederherstellung von Gesundheit und die Aufgabe der dort Arbeitenden liegt in der kurzfristigen Kranken- und Unfallbehandlung, also vorwiegend in der Behandlung von Akuterkrankungen, wahrend die Hauptaufgabe von Pflege- und Altersheimen die stationare Langzeitbetreuung und -pflege ist. Alle Beteiligten sind sich in dieser Organisation bewusst, dass die Bewohnerinnen und Bewohner hier sterben werden. Da das Hauptziel nicht in der Wiederherstellung der Gesundheit liegt bzw. eine vollstandige Heilung gar nicht moglich ist, da die Bewohnerinnen und Bewohner das biologische Alter (fast) erreicht haben, diirften die Leistungsorientierung bzw. der instrumentelle Aktivismus sowie das Prinzip der „Heilung durch Verwundung" im Vergleich zum Krankenhaus weniger ausgepragt sein. Treten Akuterkrankungen auf, werden jedoch auch in Heimen MaBnahmen zur Wiederherstellung der Gesundheit bzw. - falls dies aufgrund der fehlenden medizinischen Ausstattung in Heimen nicht moglich ist - Spitaleinweisungen eingeleitet. Ob eine Behandlung erfolgt oder nicht, ist auch hier von der Situationsdefmition abhangig sowie von der Sicherheit einer Prognose. Aufgrund der Multimorbiditat Hochbetagter (z.B. Hopflinger & Hugentobler, 2003, S. 12) sind die Prognosen meist unsicher, da sich oft unvorhersehbare Verschlimmerungen oder Verbesserungen des Zustandes ergeben konnen (Salis Gross, 2005, S, 161). Das heiBt, der Sterbeverlauf „Altersschwache" weist Gesundheitsschwankungen und Unsicherheiten auf, wobei diese Schwankungen im Vergleich zum Sterbeverlauf „Organversagen" viel geringer sind. Fiir Unterschiede in der Handlungsorientierung sind neben dem Organisationsziel und dem Gesundheitszustand der Bewohnerinnen und Bewohnem weitere Faktoren ausschlaggebend. Anders als die Mediziner im Krankenhaus beschranken sich die Heimarztin und der Heimarzt nicht auf eine Subdisziplin, sondem sie setzen sich - ahnlich wie die Praxisarztin und der -arzt - mit einer breiteren Palette von medizinischen Bereichen auseinander. Das arztliche Handlungsfeld in Heimen wird jedoch wie im Krankenhaus durch die (vertikale) Arbeitsteilung zwischen Arztin/Arzt und der Pflege eingegrenzt. So werden auch hier bestimmte Leistungen, die in der medizinischen Praxis die Arztin und der Arzt selbst erbringen, an das Pflegepersonal delegiert. Ahnlich wie im Krankenhaus kann somit in Heimen die Kollektivitatsorientierung zum groBten Teil an
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die Pflege iibergeben werden. Der Kontakt zwischen Arztin/Arzt und Patientinnen/Patient beschrankt sich in Heimen wie im Krankenhaus auf die meist kurzen Visiten, d.h. auch in Heimen wird die Pflege als Vermittlerin zwischen Patient und Arzt eingesetzt. Die affektive Neutralitat der Arztinnen und Arzte diirfte somit im Heim ausgepragter sein als in der medizinischen Praxis. Da die Patientinnen und Patienten in Alters- und Pflegeheimen dauernd untergebracht sind, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sich zwischen Arzt und Patient verstarkt partikularistische, diffuse und emotionale Komponenten entwickeln, was dazu beitragt, dass der Universalismus, die funktionale Spezifitat als auch die affektive Neutralitat im Vergleich zum Krankenhaus geringer ist. Allerdings trifft dies nur zu, wenn dieselben Arztinnen und Arzte liber einen langeren Zeitraum in einem Heim arbeiten. Zu beachten ist, dass es einerseits Arztinnen und Arzte gibt, die fest in einem Heim tatig sind - teilweise neben ihrer Arbeit in der eigenen Praxis -, und andererseits solche, die normalerweise als Krankenhausarzte arbeiten, voriibergehend aber in einem Heim zum Einsatz kommen. Hospiz Der Umgang mit Sterben und Tod im traditionellen Krankenhaus wird seit den 60er Jahren zunehmend in Frage gestellt. Kritik und Veranderungen gingen im Wesentlichen von der Hospizbewegung aus, deren Ziel es ist, sich fur einen Tod in Wurde einzusetzen und den biologischen Tod mit dem sozialen Tod in Einklang zu bringen, indem die Sterbenden bis zum Tod sozial eingebettet bleiben (z.B. Student, 1987). Als Begriinderin dieser Bewegung gilt die Arztin Cicely Saunders, die 1967 das erste Hospiz, das St. Christophers Hospiz, in London eroffhete. In Hospizen werden hauptsachlich Krebserkrankte gepflegt und betreut. Hospize gibt es vorwiegend in angelsachsischen Landern. Die Hospizidee stiitzt sich auf zehn Grundprinzipien: (1) Die Patientin und der Patient werden nicht alleine, sondem in Zusammenhang mit ihren Angehorigen und Bezugspersonen gesehen; (2) die Betreuung und Pflege tibemimmt ein multidisziplinar zusammengesetztes Team; (3) wichtige Dienstleistungen sollten standig vorhanden sein; (4) der Schmerzbekampfling kommt eine zentrale Rolle zu; (5) freiwillige Helferinnen und Heifer erganzen das Team; (6) Patientinnen und Patienten sollten moglichst unabhangig von der Kostenregelung aufgenommen werden; (7) die Betreuung endet nicht mit dem Tod der Patientinnen und Patienten, vielmehr werden die Trauemden ebenfalls betreut; (8) Arztinnen und Arzte sind zwar Teil des Teams, nehmen jedoch keine dominante Stellung ein wie im traditionellen Krankenhaus; (9) das Hospizteam kooperiert mit Hausarztinnen und -arzten sowie ambulanten Pflegediensten; und (10) stationare Rlickendeckung ermoglicht das Sterben zu Hause (Student, 1987; zit. in Feldmann, 1997, S. 7If).
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Wahrend das traditionelle Krankenhaus hauptsachlich die Wiederherstellung der Gesundheit anstrebt und dabei der Schmerz- und Symptomkontrolle relativ wenig Gewicht beimisst, steht in Hospizen die Schmerz- und Symptomlinderung im Vordergrund. Es wird davon ausgegangen, dass Schmerz- und Symptomfreiheit wichtige Voraussetzungen fiir ein wiirdevolles Sterben sind. Die optimale Symptom- und Schmerzkontrolle soil zudem dem Sterbewunsch, d.h. dem Wunsch nach Beschleunigung des Todeseintritts, entgegenwirken. Anders als im Krankenhaus steht im Hospiz nicht die Heilung (cure), sondem die Pflege und Betreuung (care) der Sterbenden im Zentrum, weshalb in Hospizen weitgehend auf lebenserhaltende MaBnahmen verzichtet wird. Das Prinzip der „Heilung durch Verwundung" hat im Hospiz keine Bedeutung. Als weiteres wichtiges Ziel der Hospizbewegung gilt - neben der Schmerz- und Symptombehandlung - das personliche Wachstum im Sterben, das in Zusammenhang gebracht wird mit einem „good death" (vgl. Streckeisen, 2001, S. 98ff). Mit gutem Sterben ist ein bewusstes Sterben gemeint. Der Sterbende soil sein Sterben aktiv gestalten und seine sozialen Beziige bis zu seinem Tod aufrechterhalten. Personen, die wegen ihrer Erkrankungen nicht mehr in der Lage sind, sich sozial zu verhalten, oder dies gar nicht wollen, verstoBen somit gegen dieses Konzept des „guten Todes". Die Idee des Hospizes wird daher auch in Frage gestellt, wobei von einer neuen Normierung des Sterbens gesprochen wird. Die Kritiker der Bewegung fordem, dass Menschen auch schwach, mutlos und kontaktunfahig sein diirfen (Neidhart, 1995). Zudem wird das Konzept des „good death" als „Prinzip der Verzuckerung bitterer Pillen" kritisiert. Diese teilweise berechtigte Kritik an Hospizen soil jedoch die Verdienste der Hospizbewegung nicht schmalem. Vergleich zwischen Hospizen und Krankenhausern Scale (1991b) verglich Hospize und Krankenhauser in Bezug auf die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten mit der Betreuung durch Arztinnen und Arzten sowie mit der Pflege durch das Pflegepersonal, die Zufriedenheit mit der Schmerzbehandlung und die Anzahl Operationen in den letzten zwolf Monaten vor dem Tod. Es zeigen sich signifikante Unterschiede: Wahrend in Hospizen mit der Betreuung durch Arztinnen und Arzten 91% und mit der Pflege durch das Pflegepersonal und andere Mitarbeitende 96% der Patientinnen und Patienten sehr zufrieden sind, liegt dieser Anteil in Krankenhausern lediglich bei 40% und 57%). In Bezug auf die Schmerzbehandlung geben 100%) der Hospizpatientinnen und -patienten an, dass ihre Schmerzen und Symptome immer oder oft vollstandig kontroUiert werden, wahrend dieser Anteil bei Spitalpatientinnen und -patienten bei 68%) liegt. Bei Personen, die im Hospiz verstarben, wurden inner-
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halb der letzten zwolf Monate vor dem Tod keine Operationen durchgefuhrt, wahrend bei 30% der Personen, die im Spital verstarben, Operationen stattfanden. Palliativmedizin Die Palliativmedizin hat sich in den 60er und 70er Jahren aus der Hospizidee entwickelt. Hauptzielsetzung der Palliativmedizin ist die Optimierung der Lebensqualitat der Patientinnen und Patienten, wobei die Beseitigung oder Linderung von Symptomen, insbesondere von Schmerzen, im Mittelpunkt steht. Wie der Hospizbewegung geht es auch der Palliativmedizin nicht um Heilung (cure), sondem um die Pflege und Betreuung (care) von terminal Erkrankten, wobei sie sich ebenfalls hauptsachlich um Krebserkrankte kiimmert. Die World Health Organization (WHO) formuliert in einer Erklarung die Grundsatze der palliativen Betreuung wie folgt: [Die palliative Betreuung] bejaht Leben und betrachtet den Tod als noraialen Prozess, verschafft Linderung bei Schmerzen und anderen Symptomen, beschleunigt den Tod nicht, verzogert ihn aber auch nicht, beriicksichtigt neben den korperlichen auch die psychischen und spirituellen Bediirfnisse, unterstiitzt Patienten in einer aktiven und autonomen Lebensfuhrung bis hin zum Tod, bietet Hilfe fur Angehorige in der Phase der Krankheit und in der Trauerbewaltigung (World Health Organization, 1990; Ubersetzung in AIDS info docu, 1990). Die Palliativmedizin steckt noch in den Kinderschuhen, was u.a. daran zu erkennen ist, dass sie erst sehr spat eine eigene Fachdisziplin bzw. eine eigene Gesellschaft wurde, dass es an palliativmedizinischen Pflegeplatzen noch mangelt und dass die palliativmedizinische Ausbildung und Betreuung im Allgemeinen noch unzureichend sind. In GroBbritannien wurde die Palliativmedizin erst 1987 eine eigene Fachdisziplin, in der Schweiz entstand 1988 und in Deutschland 1994 eine eigene Gesellschaft. Momentan stehen in der Schweiz pro Million Einwohner erst 20 Palliativpflegeplatze zu Verfiigung, die uberdies regional sehr ungleichmaBig verteilt sind. So ist die Ausstattung in der Romandie wesentHch besser als in der deutschsprachigen Schweiz und im Tessin (Eychmiiller, 2001). Die Forschung zur Schmerzbehandlung weist verschiedentlich darauf hin, dass die von Nicht-Palliativmedizin-Arztinnen und -Arzten zur Schmerz- und Symptomkontrolle verabreichten Opioide zumeist zu niedrig dosiert sind, um Schmerzen und Symptome adaquat zu behandebi, was auf einen unzureichenden Wissenstand der Arztinnen und Arzte in Bezug auf eine wirkungsvolle Symptom- und Schmerzkontrolle zurtickgefuhrt wird (z.B. Groenewoud, 2002c). Neben der ungeniigenden palliativmedizinischen Ausstattung, Ausbildung und
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Pflege wird auch der Umstand kritisiert, dass die Palliativmedizin bisher hauptsachlich bei Krebserkrankten zum Einsatz kommt, bei chronischen Herz/Kreislauf- und Atmungserkrankungen aber noch kaum angewendet wird, obwohl diese Erkrankungen mit der Alterung der Gesellschaft an Bedeutung gewinnen. Die World Health Organization fordert daher u.a. eine Forderung der Forschung im Bereich der effektiven palliativen Pflege und Betreuung, eine Investition in effektive MaBnahmen sowie den Einsatz palliativer Pflege nicht nur bei Krebserkrankten, sondem auch bei alten Menschen sowie bei anderen Erkrankungen (World Health Organization, 2004). Palliativmedizin und Krankenhaus Seit einigen Jahren haben auch im Krankenhaus neben den herkommlichen Organisationseinheiten, die auf Wiederherstellung der Gesundheit ausgerichtet sind, als neue Aufgabenbereiche die palliativmedizinische Behandlung und Pflege sowie die Betreuung von sterbenden Patientinnen und Patienten ihren Platz (vgl. Streckeisen, 2001, S. 81). So sind in verschiedenen Krankenhausem Palliativstationen vorhanden. Diese neue zusatzliche Ausrichtung des Krankenhauses bringt es u.a. mit sich, dass gegenixber Sterbenden das Prinzip der „Heilung durch Verwundung" zunehmend durch das Prinzip der „Schmerzlinderung durch Verwundung" ersetzt wird. Bei Sterbenden werden Operationen und andere invasive MaBnahmen vermehrt zur Symptom- und Schmerzlinderung durchgefuhrt, um nach Aussagen der Arztinnen und Arzte die Lebensqualitat flir die verbleibende Lebenszeit zu verbessem (Streckeisen, 2001, 2005). Nicht Krankheit, sondem Schmerzen sollen nun bekampft werden. Schmerzlinderung erscheint als neue Aufgabe der Arzte und soil dank einer Orientierung an aktiver Meisterung bewaltigt werden. An die Stelle der Heilung durch Verwundung tritt die Linderung durch Verwundung (Streckeisen, 2005, S. 132).
1.3 A Bewusstheitskontext und Information Glaser und Strauss (1974) haben aufgrund ihrer Beobachtungen in verschiedenen amerikanischen Krankenhausem die These formuliert, dass die Interaktionen zwischen Sterbenden und dem Klinikpersonal wesentlich davon bestimmt werden, „was jeder Interagierende tiber einen bestimmten Zustand des Patienten weiB, sowie sein Wissen darum, dass die anderen sich dessen bewusst sind, was er weiB" (Glaser & Strauss, 1974, S. 16f). Glaser und Strauss (1974) nennen dies „Bewusstheitskontext" (awareness context). Sie unterscheiden vier Typen solcher Kontexte: die geschlossene Bewusstheit (closed awareness), den Argwohn 63
(suspected awareness), die wechselseitige Tauschung (context of mutual pretense) sowie die offene Bewusstheit (open awareness). Als geschlossene Bewusstheit (close awareness) wird der Kontext bezeichnet, in dem die Sterbenden nichts von ihrem nahen Tod wissen und die Arztinnen und Arzte sowie das Pflegepersonal alles tun, um zu verhindem, dass die Patientinnen und Patienten ihren Zustand realisieren. Dabei werden Informationen, die die Betroffenen argwohnisch machen konnten, vorenthalten oder sogar geleugnet. Voraussetzungen fur diesen Bewusstheitskontext sind, dass die Sterbenden in Bezug auf ihren Zustand zumeist zu unerfahren sind, um die Anzeichen des Todes zu erkennen, geringe medizinische Kenntnisse besitzen und das Krankenhauspersonal ihnen falsche Auskunfte uber ihre Situation gibt oder die Sterbenden meidet. Damit dieser Bewussheitskontext aufrechterhalten werden kann, ist es im Weiteren notig, dass auch Angehorige, denen die Diagnose oft mitgeteilt wird, es scheuen, die Betroffenen uber ihren Zustand aufzuklaren. Zudem tragt auch der Umstand, dass Gesprache oder Unterlagen zum Krankheitszustand - wie Krankenblatter - auBer Reichweite der Sterbenden gefiihrt bzw. abgelegt werden, dazu bei, diesen Kontext aufrechtzuerhalten. Bei den Sterbenden entsteht so der Eindruck, der Krankenhausaufenthalt sei nur eine „Episode" in ihrem Leben. Wollen die Patientinnen und Patienten von Krankenhauspersonal wissen, wie es um sie steht, erfmdet dieses eine fiktive Krankengeschichte. Die Tauschung des Sterbenden kann so weit gehen, dass Arztinnen und Arzte unnotige Untersuchungen oder Tests durchfuhren lassen. Das Personal, das befurchtet, es konnte versehentlich etwas verraten, bleibt nur kurze Zeit bei den Sterbenden, um diese zu versorgen, ohne mit ihnen zu sprechen. Dauert das Sterben sehr lange, wachst die Gefahr, dass die Schwestern sich verraten, weil ihre Selbstkontrolle mit der Zeit nachlasst oder die Patientinnen und Patienten argwohnisch werden (Glaser & Strauss 1974, S. 32ff.). Beim Argwohn (suspected awareness) haben die Sterbenden den Verdacht, dass sie sterben miissen, und suchen nach Bestatigungen, indem sie beispielsweise andere Personen zum Reden bringen. In diesem Bewusstheitskontext versuchen die Arztinnen und Arzte eine definitive Antwort zu vermeiden. Das Pflegepersonal weicht den Fragen der Sterbenden aus und versucht ihr Vertrauen wiederherzustellen. Typisch fur diesen Bewusstheitskontext ist, dass sich vor allem die Pflegenden immer bemiihen, moglichst heiter, freundlich und munter zu erscheinen, obwohl sie diese Situation schwer belastet. Meist sind sie erlost, wenn die Sterbenden endlich die Wahrheit kennen, da sie dann im Gesprach nicht mehr ausweichen miissen. Falls die Sterbenden, denen man die Wahrheit vorenthalten hat, erst sehr spat erkennen, dass sie sterben werden, hat es das Krankenhauspersonal umso schwerer mit ihnen, weil den Sterbenden nicht mehr
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ausreichend Zeit bleibt, sich auf ihren Tod einzustellen (Glaser & Strauss, 1974, 48ff). Beim dritten Bewusstheitskontext, der wechselseitigen Tauschung (context of mutual pretense), wissen die Patientinnen und Patienten um ihr Sterben und Arztinnen und Arzte sowie das Pflegepersonal sind sich dessen bewusst. Trotzdem verhalten sich alle so, als ob die Sterbenden wieder genesen wiirden. Dieser Bewusstheitskontext kann nur aufrechterhalten werden, wenn alle Beteiligten in jeder Situation ihre Rolle spielen. Lasst einer der Beteiligten aus Unbedachtheit erkennen, dass er uber die tatsachliche Situation Bescheid weiB, tut der andere so, als habe er es nicht bemerkt. GemaB Lau (1975, S 73) spieh der Sterbende das Spiel des Nichtswissens mit, auch wenn er Verdacht geschopft hat, well er einsehen muss, dass es unanstandig ist, vom Tod zu sprechen, und weil er weiB und oft genug erfahren hat, dass man seine Befurchtungen sofort widerlegen wird. „Er hat gelernt, dass man im Krankenhaus vom Sterben nicht spricht und dass die anderen zusammenhalten" (Lau, 1975, S. 73). Bei der offenen Bewusstheit (open awareness) wissen die Sterbenden, Arztinnen, Arzte sowie das Pflegepersonal um das Sterben und dieses Wissen flieBt in ihr Verhalten ein. Dieser Bewusstheitskontext hat den Vorteil, dass sich die Sterbenden ausreichend auf ihren Tod vorbereiten konnen. Das Krankenhauspersonal fiihlt sich allerdings im Umgang und in Gesprachen mit Sterbenden oft stark belastet und tiberfordert. GemaB Glaser und Strauss ist der offene Bewusstheitskontext am seltensten zu finden, wahrend es sich beim Kontext der wechselseitigen Tauschung um den am haufigsten beobachteten Bewusstheitskontext handelt. Lau untersuchte in den 70er Jahren ebenfalls das Sterben in Krankenhausern. Dabei traf sie uberwiegend auf den geschlossenen Bewusstheitskontext sowie auf den Argwohn (Lau, 1975). In Bezug auf das Informationsverhalten beobachteten Glaser und Strauss (1974), dass Arztinnen und Arzte in Krankenhausern den Patientinnen und Patienten nur undeutliche Hinweise darauf geben, dass sie sterben miissen. Falls die Patientinnen und Patienten diese Hinweise nicht verstehen, gehen Arztinnen und Arzte davon aus, dass die Sterbenden von ihrem baldigen Tod nichts wissen wollen (S. 27)." In einer neueren Studie haben Scale, Addington und Mc Carthy (1997) ans Bewusstheitskontext-Konzept angekniipft, wobei sie die Pravalenzen der „open" und der „closed awareness" in England mit Verwandten und Bekannten von Sterbenden untersuchten. Die anderen zwei Bewusstheitskontexte wurden nicht analysiert. Die Ergebnisse aus dem Jahre 1987 verglichen die Autoren mit Er^^ Das nonverbale Kommunikationsverhalten zwischen Arzt und Patient wurde bisher kaum untersucht. Erst allmahlich geraten koqjersprachliche Verhaltensweisen in den Blick (vgl. Pfadenhauer, 2003, S. 133ff).
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gebnissen von 1969. Wahrend bei der Todesursache Krebs der Anteil von Sterbenden, die wussten, dass sie sterben wurden, zwischen 1969 und 1987 von 42% auf 68% stieg, blieb der Anteil bei den ubrigen Todesursachen beinahe unverandert bzw. sank sogar ein wenig und zwar von 38% auf 33%. Somit wusste im Jahre 1987 gemaB Angaben von Angehorigen oder Bekannten lediglich ein Drittel der Personen, die an einer anderen Krankheit als Krebs verstarben, dass sie sterben wurden, wahrend rund drei Viertel der Krebserkrankten von ihrem nahen Tod wussten. Der Anteil der Personen, die im geschlossenen Bewusstheitskontext verstarben, sank jedoch sowohl bei Krebserkrankungen als auch bei den ubrigen Todesursachen zwischen 1969 und 1987 auf rund 10% (siehe Tabelle 5). Als Ausloser fur das veranderte Informationsverhalten bei Krebserkrankten ist die Hospizbewegung zu sehen, die sich vorwiegend mit der Betreuung von Krebserkrankten befasst (Feldmann, 1997, S. 71). Lau (1975, S. 73) weist darauf hin, dass die Verheimlichung der Todesnahe bei Krebspatientinnen und -patienten schwieriger ist als bei anderen Erkrankten, da sie den Zweck der Tests bei Krebsverdacht kennen und daher nach den Testresultaten fragen. Krebsdiagnosetests werden zum Beispiel auch bei Magenoperationen durchgefuhrt, doch hier ist es einfacher, den Patienten sehr lange nicht uber ein positives Testresultat zu informieren, da er nicht nach den Resultaten fragt. Tabelle 5. Haufigkeit der Bewusstheitskontexte, Quelle: Scale, Addington und Mc Carthy, 1997, S. 480 1969 1987 Offene Bewusstheit 42% Krebs 68% andere Todesursachen 38% 33% Geschlossene Bewusstheit 47% Krebs 10% andere Todesursachen 32% 13% Scale et al. (1997) wiesen in einer Studie nach, dass das Alter der sterbenden Person keinen Einfluss darauf hat, ob diese ihren Tod in einem offenen oder in einem geschlossenen Bewusstheitskontext erwartet. Als relevante Determinanten erwiesen sich hingegen die soziale Klassenzugehorigkeit der sterbenden Person, ihre geistige Verfassung und die Art ihrer Krankheit. Im Weiteren zeigten die Autoren, dass es von Belang ist, wie lange die befragten Bezugspersonen schon wussten, dass die Patientin oder der Patient sterben wtirde. Auch in anderen Studien wurde das Informationsverhalten gegeniiber terminal Erkrankten sowie Sterbenden erforscht. Diese Studien kommen ebenfalls 66
wie die Studien von Glaser und Strauss (1974) sowie Seale (1991a) - zum Schluss, dass Arztinnen und Arzte Sterbenskranke selten uber ihren Zustand informieren (z.B. Streckeisen, 2001, S. 170). Es werden verschiedene Begriindungen aufgefuhrt, weshalb Patientinnen und Patienten nicht oder nur unvollstandig tiber ihren Zustand aufgeklart werden. Als Griinde erwahnt Streckeisen medizinische Unsicherheiten sowie Befurchtungen der Arztinnen und Arzte. Diese sind sich bewusst, dass ihr „wissenschaftliches Wissen und damit auch ihr prognostisches Vermogen begrenzt ist" (Streckeisen, 2001, S. 170), wobei insbesondere die Vorhersage des Todeszeitpunktes schwierig ist. Zwar lassen sich diese Wissensliicken durch Erfahrungen sowie Intuition kompensieren, doch auch Arztinnen und Arzten fallt es schwer, die Tatsache des nahen Todes auszuhalten (Streckeisen, 2001, S. 170). Zudem befurchten sie - im Sinne der „self-" fulfilling prophecy" nach Merton (1957) -, den Tod herbeizureden. Einen weiteren Grund fiir die Nichtinformation sehen Glaser und Strauss (1974) sowie Feuerstein und Kuhlmann (1999) in der Angst der Arztinnen und Arzte vor gerichtlichen Belangungen fur Fehlentscheide bei Diagnose und Behandlung. Diese Angst ftihrt dazu, dass sie erst vom Tod sprechen, wenn ein eindeutiger pathologischer Befund vorliegt. Arztinnen und Arzte begriinden ihr Verhalten damit, dass sterbenskranke Patientinnen und Patienten nicht liber den wirklichen Krankheitsverlauf informiert werden mochten, weil sie die Hoffnung auf Heilung nicht aufgeben wollen und weil sich eine entsprechende Information ungiinstig auf ihr Befmden auswirken wiirde (George, Beckmann & Vaitl, 1989, S. 307; zit. nach Feldmann, 1997, S. 70). Eine weitere Erklarung fur die arzthche Zuruckhaltung macht Siegrist (1978) geltend. Seiner Meinung nach vermeiden Arztinnen und Arzte belastende Situationen, indem sie auf offene Information verzichten. Eine ahnliche Erklarung liefem Glaser und Strauss (1974) mit der These, dass mit dem Verschweigen des nahenden Todes die Ruhe im Krankenhaus bewahrt werden konne. Sowohl Befragungen in der Bevolkerung als auch solche von Schwerstkranken sowie Sterbenden zeigen, dass die Mehrheit in alien medizinischen Belangen offen aufgeklart werden will. Arztinnen und Arzte schatzen somit den Wunsch der Patientinnen und Patienten nach Information falsch ein. Der iiberwiegende Teil der deutschen Bevolkerung will im Fall einer unheilbaren Erkrankung liber den eigenen Zustand informiert werden, wahrend nur ein geringer Anteil lieber auf die Konfrontation mit der Wahrheit verzichtet: Rund 16% mochten nicht aufgeklart werden bzw. wlinschen, dass nur die Angehorigen informiert werden, 59% der Befragten wunschen eine vollstandige und sofortige Aufklarung und 25% ziehen eine schrittweise schonende Vermittlung vor (Schroder et al., 2002, S. 239). Zu ahnlichen Resultaten kam auch eine altere Studie mit Krebspatientinnen und -patienten aus dem Jahr 1980: 96 von 100
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befragten Leukamiepatientinnen und -patienten eines deutschen Krankenhauses wollten ihre Diagnose wissen (Schmied 1985, S. 66). Der Wunsch nach einem offenen Bewusstheitskontext ist allerdings nicht in alien Landem gleich verbreitet (Seale et al., 1997, S. 477). Der wenig verbreitete Wunsch nach einer „open awareness" ist besonders gut fur Japan und Italien dokumentiert. Aber auch fur andere Lander, wie zum Beispiel Spanien und Uganda, liegen Daten vor, die darauf hindeuten, dass Sterbende nicht iiber ihren baldigen Tod informiert sein mochten (Seale et al., 1997, S. 478). GemaB Seale und Kollegen diirfte dieser Refund vor allem fur Kulturen typisch sein, in denen das Vertrauen in traditionelle Autoritatsquellen stark ist und in denen die eigene Pflege bereitwillig anderen, insbesondere Familienangehorigen, iiberlassen wird (Seale et al, 1997, S. 478). Der Wunsch nach Information liber das bevorstehende Lebensende wird mit der Individualisierung in Zusammenhang gebracht. Das Wissen uber das bevorstehende Lebensende ermoghcht es den Individuen, dieses moglichst entsprechend den eigenen Wertepraferenzen zu planen. Verwandte oder Freundinnen und Freunde konnen gerufen werden, praktische Dinge oder andere noch offene Angelegenheiten lassen sich in Ordnung bringen, und es bietet sich die Gelegenheit, zu tiberlegen, wie die letzte Zeit des Lebens verbracht werden soil, zum Beispiel abzuklaren, welche Pflegealtemativen vorhanden sind, welche davon in Frage kommen oder ob die Moglichkeit besteht, zu Hause zu sterben. Seale et al. (1997) zeigen, dass Personen in einem „open awareness" haufiger die Moglichkeit haben, ihre Sterbephase zu planen, als Personen in einem „closed awareness", so dass sie mit der Wahl ihres Sterbeortes zufriedener sind: Sie sterben seltener alleine und haufiger zu Hause. Zudem haben diese Verstorbenen haufiger iiber ihre Wlinsche nach Sterbehilfe gesprochen, ein weiterer Indikator fiir den Wunsch nach Kontrolle uber Art und Zeit des Sterbens. Von denjenigen Personen, die an Krebs verstarben, erhielten diejenigen, die uber ihr Sterben informiert waren, haufiger Hospizpflege als die iibrigen (Seale et al., 1997). Wird den Sterbenden die Wahrheit gesagt, verfallen diese im Allgemeinen nicht in eine Lethargic, obwohl, vor allem direkt nach dieser Aufklarung, auch Phasen einer depressiven Grundstimmung auftreten (Schmied 1985, S. 69f). In der Kegel streben sterbende Patientinnen und Patienten nicht - wie von Arztinnen und Arzten oft angenommen - das unerreichbare Ziel Heilung an, sondem richten ihre Hoffnung auf erreichbare Ziele wie Schmerzfreiheit oder einen letzten Besuch zu Hause. Aber auch wenn Sterbenden von Arztinnen und Arzten nicht offenbart wird, dass sie sterben miissen, wissen viele, wie es um sie steht, und erahnen oft den Zeitpunkt ihres bevorstehenden Todes. Fehlen direkte Hinweise auf den baldigen Tod, konnen den Patientinnen und Patienten auch indi-
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rekte Signale auf verbalem als auch auf nonverbalem Gebiet offenbaren, dass mit dem Tod in naher Zukunft zu rechnen ist (Schmied, 1985, S. 69f).
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2 Sterbehilfe
Wie bereits einleitend erwahnt, lasst die Medizinsoziologie Fragen zur Sterbehilfe weitgehend auBer Acht. Daher sind weder sozialwissenschaftliche Defmitionen noch Konzepte und Theorien zur Sterbehilfe vorhanden. Ebenso fehlen sozialwissenschaftliche empirische Studien zur Sterbehilfe fast vollstandig. Der Fragekomplex Sterbehilfe wurde bisher vorwiegend von Medizinerinnen, Ethikem und Juristinnen untersucht und die vorhandenen empirischen Studien zur Sterbehilfe stammen groBtenteils von Medizinerinnen und Medizinem. Aus diesem Grund kommen in diesem Kapitel Konzepte und Forschungsergebnisse aus diesen Disziplinen zur Sprache. Im ersten Teil des Kapitels wird zuerst die von diesen Disziplinen verwendete Terminologie der Sterbehilfe, welche auch im Alltag sowie in den empirischen Studien benutzt wird und der eigenen Untersuchung zugrunde liegt, dargestellt und kritisch betrachtet. AnschlieBend werden die gesetzlichen Regelungen sowie die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, die fur Arztinnen und Arzte einen gesetzesahnlichen Status haben, prasentiert, da davon auszugehen ist, dass fiir das arztliche Handeln neben den Handlungsorientierungen nach Parsons (1952) u.a. diese Gesetze und Richtlinien maBgeblich sind. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich dem einzigen sozialwissenschaftlichen Modell, dem „right-to-die"Konstrukt von Rogers (1996), bevor das Augenmerk auf die empirischen Studienergebnisse zur Sterbehilfe gerichtet wird.
2.1 Terminologie, gesetzliche Regelungen und Richtlinien 2.1.1
Term inologie
Zur Sterbehilfe existieren unterschiedliche Defmitionen (z.B. Antoine, 2004; Arbeitsgruppe Sterbehilfe, 1999; Schone-Seifert, 1996; Schroder et al, 2003), welche allesamt von Juristinnen, Ethikerinnen und Mediziner stammen. Gemeinsam ist all diesen Defmitionen, dass sie mit dem Begriff „Sterbehilfe" Handlungen bezeichnen, die den Tod herbeifiihren bzw. das Leben beenden. Unterschiede bestehen in Bezug auf die verschiedenen miterwahnten Kontexte und hinsichtlich allfallig genannter Motive der Sterbehilfeleistenden oder Begriindungen
fur die Durchfuhrung der Sterbehilfe. So stiitzen sich die Defmitionen auf unterschiedliche Formulierungen betreffend Gesundheitszustand, Prognose, Symptome sowie physisches oder psychisches Leiden: Einige Defmitionen nennen Motive der Sterbehilfeleistenden wie z.B. „um das Leiden zu beenden". Diese Unterschiede sind darin begriindet, dass bisher keine Einigkeit dariiber besteht, auf welche Kontexte die Sterbehilfe beschrankt sein soil. GemaB dem Mediziner und Ethiker Bosshard (2005a, S. 194) werden im Allgemeinen diejenigen Aspekte in die Defmitionen aufgenommen, die aus der subjektiven Sicht der Autorin bzw. des Autors wichtig sind, was oftmals eine moralische Wertung impliziert. Uberblickt man die verschiedenen Defmitionen, zeigen sich in Bezug auf den jeweils umrissenen Kontext aber dennoch Gemeinsamkeiten. So wird die Moglichkeit der Sterbehilfe zumeist auf Personen beschrankt, bei denen ein physisches Grundleiden vorliegt, welches irreversibel ist und zum Tode fuhren wird. Als physisches Grundleiden kommt sowohl eine Erkrankung als auch ein Leiden, welches durch Unfall, Gewalteinfluss oder Ahnliches verursacht wurde, oder ein Geburtsleiden in Frage. Die betroffene Person, die ein irreversibles physisches Grundleiden aufweist, welches zum Tode fiihren wird, wird oftmals als „Schwerstkranke/r", „hoffnungslos Schwerstkranke/r" oder „terminal Erkrankte/r" bezeichnet. GemaB Siegrist (1978, S. 116) meint der Begriff „schwerstkrank" sowohl einen hohen Grad der Einschrankung vitaler Funktionen (Schweregrad der Erkrankung) als auch eine Verkurzung der Lebenserwartung aufgrund der Krankheit (Krankheitsprognose). Verschiedentlich wird zwischen einer Sterbehilfe im engeren und einer Sterbehilfe im weiteren Sinn unterschieden. Das Unterscheidungskriterium bildet dabei die verbleibende Lebenszeit, wobei die Dauer dieser Lebenszeit durch Arztinnen und Arzten eingeschatzt wird. Der Jurist Antoine (2004, S. 29) definiert die Sterbehilfe im engeren und im weiteren Sinn wie folgt: Eine Sterbehilfe im engeren Sinn ist erst gegeben, wenn (1) das Grundleiden des Kranken nach arztlicher Uberzeugung unumkehrbar (irreversibel) ist, (2) einen todlichen Verlauf angenommen hat und (3) der Tod in kurzer Zeit eintreten wird. Die Sterbehilfe im weiteren Sinn stellt dagegen allein auf das Vorliegen einer Krankheit oder Ausfall von Korperfunktionen ab, die mit Sicherheit in einiger Zeit den Tod herbeiflihren wird (infauste Prognose) (Antoine, 2004, S. 29). Wie in den Defmitionen von Antoine (2004) wird auch in jenen anderer Autorinnen und Autoren festgehalten, dass die Frage, ob die entsprechenden Kriterien (irreversibles physisches Grundleiden, sterbend, Tod in kurzer Zeit, Tod in einiger Zeit) erfiillt sind, durch einen Arzt bzw. eine Arztin zu beantworten ist, was die Medizinethikerin Schone-Seifert (1996, S. 605) beispielsweise mit der Umschreibung „nach medizinischer Einschatzung" ausdriickt. Dies bedeutet,
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dass der Arztin oder dem Arzt die Defmitionsmacht zukommt. Die bisher vorliegenden Defmitionen und Sterbehilfekonstrukte messen der Selbsteinschatzung der sterbenden Person keine Bedeutung zu. Daher fehlen darin Begriffe wie „Lebensqualitat" oder „Autonomieverlust". Es existieren verschiedene Unterformen der Sterbehilfe (siehe Tabelle 6). Was diese Unterformen angeht, wird einerseits zwischen passiven und aktiven, andererseits zwischen indirekten und direkten Formen unterschieden. Wahrend sich das Begriffspaar „aktiv/passiv" auf die Handlung bezieht, zielt die Unterscheidung „iiidirekt/direkt" auf die Absicht des Sterbehilfeleistenden (vgl. Arbeitsgruppe Sterbehilfe, 1999; Bosshard, 2005a). Tabelle 6. Unterformen der Sterbehilfe und deren Defmitionen Sterbehilfeform passive Sterbehilfe
indirekte Sterbehilfe
(direkte) aktive Sterbehilfe Suizidbeihilfe
terminale tiefe Sedierung
Definition Verzicht auf bzw. Abbruch von lebenserhaltenden MaBnahmen, wie z.B. kiinstliche Wasser- und Nahrungszufuhr, Dialyse, Antibiotikabehandlung etc. Einsatz von Medikamenten zur Schmerz- und Symptomlinderung, welche als Nebenwirkung die Uberlebensdauer verkiirzen konnen Verabreichung eines todlichen Medikamentes Bereitstellung oder Verschreibung eines todlichen Medikamentes, um einer Person die Selbsttotung zu ermoglichen Bis zum Tode anhaltende Ausschaltung des Bewusstseins durch Medikamente
Mit passiver Sterbehilfe sind Unterlassungen von Handlungen gemeint, die das Leben beenden. Passive Sterbehilfe besteht im Verzicht auf bzw. Abbruch von lebenserhaltenden MaBnahmen, wie z.B. kiinstliche Wasser- und Nahrungszufuhr, Dialyse, Antibiotikabehandlung etc. Dagegen bezeichnet aktive Sterbehilfe eine Handlung, die den Tod herbeiflihrt. Zu denken ist hier beispielsweise an die Anwendung eines todlichen Medikamentes in Form einer sehr hohen Dosis Morphium. Die aktive Sterbhilfe wird in aktive Sterbehilfe und Suizidbeihilfe unterteilt. Von Suizidbeihilfe spricht man, wenn einer Person auf deren Verlangen ein todhches Mittel zur Verfugung gestellt oder verschrieben wird, damit sie sich selber das Leben nehmen kann. Von aktiver Sterbehilfe ist die Rede, wenn das todliche Medikament dem SterbewiUigen von einer anderen Person verabreicht wird. Mit indirekter Sterbehilfe werden Handlungen bezeichnet, die nicht mit der Absicht einer Lebensverkiirzung vorgenommen werden, sondern bei denen die Lebensverktirzung lediglich in Kauf genommen wird. Von einer indirekt aktiven
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Sterbehilfeform spricht man z.B., wenn der Arzt einem terminalen Patienten mit Krebs, dessen Schmerzen kaum zu kontrollieren sind, eine sehr hohe Dosis Morphium verabreicht, mit der Absicht die Schmerzen zu lindem, wobei er in Kauf nehmen muss, dass dadurch das Leben des Patienten verkiirzt wird. Das Ziel der Behandlung liegt somit in der Schmerz- und Symptomlinderung und nicht in der Beschleunigung des Sterbeprozesses. Von direkter Sterbehilfe wird gesprochen, wenn der Handelnde die Lebensverkiirzung beabsichtigt, wenn also das Ziel seiner Handlung in der Herbeifuhrung des Todes liegt. Einige neue Arbeiten erwahnen die terminale tiefe Sedierung als weitere Form der Sterbehilfe (z.B. Rietjens et al., 2004). Bei dieser Form der Sterbehilfe wird dem Schwerstkranken zur Symptom- und Schmerzlinderung eine so groBe Dosis Sedativa verabreicht, dass er bis zu seinem Tod im Tiefschlaf liegt bzw. in ein tiefes Koma versetzt wird und somit seine Symptome nicht mehr wahrnimmt. Die terminale tiefe Sedierung wird mit dem sozialen Tod in Zusammenhang gebracht, da der tief Sedierte bzw. die tief Sedierte kein soziales Leben mehr ftihren kann (z.B. Miccinesi et al., 2006). Bei dieser Sterbehilfeform ist zu berticksichtigen, ob sie zusammen mit einer passiven Sterbehilfe erfolgt oder nicht. Falls sie mit einer passiven Sterbehilfe kombiniert wird, wie z.B. dem Verzicht auf kixnstliche Nahrungs- und Fliissigkeitszufuhr, fiihrt sie nicht nur zum sozialen, sondem in kurzer Zeit auch zum physischen Tod. Die Unterscheidung „passiv/aktiv" bzw. „indirekt/direkt" geht bis ins Mittelalter zuriick, und zwar auf den katholischen Moraltheologen Thomas von Aquin (1225-1274). Das Konzept impliziert, dass passive und indirekte Sterbehilfeformen moralisch akzeptabel seien, wahrend aktive und direkte Formen als inakzeptabel gelten mussen. Aus dieser moraltheologischen Sicht erscheint es als ein groBeres Vergehen, etwas zu tun - wie z.B. ein todliches Medikament zu verabreichen (aktive Sterbehilfe) - als etwas zu unterlassen - wie z.B. auf eine lebenserhaltende MaBnahme zu verzichten (passive Sterbehilfe). Die indirekte Sterbehilfe wird als moralisch akzeptabel beurteilt, da die Handlung einen moralisch positiven Haupteffekt hat - z.B. die Schmerzen zu lindem -, wahrend die negative Folge - eine allfallige Lebensverkiirzung - eine unvermeidbare Nebenerscheinung darstellt (Bosshard 2005a, S. 195). Im Folgenden werden zuerst die gesetzlichen Regelungen zur Sterbehilfe in den europaischen Landem zusammengefasst dargestellt (Kapitel 2.1.2), bevor anschlieBend auf die Gesetze in der Schweiz (Kapitel 2.1.2) und die SterbehilfeRichtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) eingegangen wird (Kapitel 2.1.3).
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2.1.2 Gesetzliche Regelung Die oben erwahnte Unterteilung der Sterbehilfe (vgl. Kapitel 2.1.1) und die damit einhergehende moralische Bewertung pragen das gesellschaftliche Bewusstsein bis heute und spiegeln sich weitgehend in den gesetzlichen Regelungen wider. So sind in alien westlichen Industriestaaten die passive sowie die indirekte Sterbehilfe legal. Die terminale tiefe Sedierung ist gesetzlich nicht geregelt und somit ebenfalls legal. Hingegen ist auBer in Holland und Belgien die aktive Sterbehilfe in alien industrialisierten Landem unter alien Umstanden strafbar. In Holland existiert seit 2001 und in Belgien seit 2002 ein Gesetz, das festhalt, dass die durch Arztinnen und Arzte praktizierte aktive Sterbehilfe nicht bestraft wird, sofem bestimmte Sorgfaltsanforderungen erflillt werden. Diese Sorgfaltsanforderungen beziehen sich darauf, dass eingehend zu priifen ist, ob der Patient freiwillig und wohlerwogen nach dem Tod verlangt, sein Leiden aussichtslos und unertraglich ist und keine verniinftige Alternative besteht. Mindestens zwei Arzte miissen jeweils bestatigen, dass diese Kriterien erfullt sind. Solche Falle von aktiver Sterbehilfe sind sowohl in Belgien als auch in Holland meldepflichtig. Die Suizidbeihilfe ist in verschiedenen Landem straflos. So z.B. in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und Oregon (vgl. Bosshard, Fischer & Bar, 2002). In Belgien ist der Gesetzesstatus dieser Sterbehilfeform unklar. Das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) regelt die indirekt aktive sowie die passive Sterbehilfe nicht verbindlich, womit diese beiden Sterbehilfefonnen legal sind. Die indirekt aktive Sterbehilfe wird als zulassig betrachtet, weil die Arztin und der Arzt einen Heilauftrag zu erfiillen haben, welcher nicht nur die Heilung, sondem ebenso die Leidenslinderung betrifft (Arbeitsgruppe Sterbehilfe, 1999, S. 13). Als relevant wird die Absicht der Behandlung betrachtet. Das Ziel der Behandlung muss in der Schmerz- und Symptomlinderung bestehen und darf nicht in der Beschleunigung des Sterbeprozesses hegen. Letztere wird lediglich in Kauf genommen. In Bezug auf die passive Sterbehilfe weist die Arbeitsgruppe Sterbehilfe (1999, S. 14) darauf hin, dass nach allgemein anerkanntem Rechtsgrundsatz ,jede arztliche MaBnahme der ausdriicklichen oder mutmaBlichen Einwilligung des Patienten bedarf. Falls eine solche Einwilligung der Patientin oder des Patienten fehlt, hat eine arztliche MaBnahme als unerlaubt zu gelten. Aktive Sterbehilfe ist in der Schweiz nach Artikel 111 (vorsatzliche Totung), Artikel 114 (Totung auf Verlangen) sowie Artikel 113 (Totschlag) des Strafgesetzbuches strafbar. Somit ist diese Form der Sterbehilfe immer gesetzwidrig, d.h. selbst dann, wenn das „Opfer" aus fremder Hand zu sterben verlangt, schwerstkrank ist, leidet und nur noch kurze Zeit zu leben hat. Im Jahr 2000 reichte der Onkologe und Nationalrat Franco Cavalli eine Parlamentarische Initi-
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ative ein, die verlangte, dass die aktive Sterbehilfe, ahnlich wie in Holland, unter gewissen Bedingungen straflos werden soil. Diese Initiative wurde im Parlament abgelehnt/^ In der Schweiz ist die Unterstutzung der Selbsttotung (Suizidbeihilfe) generell, d.h. auch gegenuber Personen, die sterben wollen, ohne dies bald zu miissen, legal, sofem keine „selbstsuchtigen Beweggriinde" vorliegen (Art. 115 StGB; Kunz, 2001, S. 16). Die Suizidbeihilfe ist straffrei, weil auch der Suizid straffrei ist. Das heiBt die Straffreiheit der Suizidbeihilfe beruht auf dem Gedanken, dass der Suizid in gewissen Fallen ein freier und ixberlegter Entscheid ist und daher auch die Beihilfe zum Suizid als solcher betrachtet werden muss. Die Abgrenzung zwischen der regelmaBig straflosen Hilfe zur Selbsttotung und der strafbaren Fremdtotung auf Verlangen erfolgt danach, wer die letztlich todbringende Handlung vomimmt: Vollzieht der Sterbewillige sie autonom und eigenhandig, so gelten vorgangige Handlungen Dritter als bloBe Hilfe (Kunz, 2001, S. 16). In der Schweiz arbeiten die Sterbehilfeorganisationen wie Exit und Dignitas vor dem rechtlichen Hintergrund der Straffreiheit der Suizidbeihilfe. Die Sterbehilfeorganisationen stellen dem Sterbewilligen einen Becher mit einem todlichen Medikament zur Verfugung, welches dieser dann trinkt. Eine weitere Moglichkeit besteht darin, dass das Medikament liber eine Magensonde zugefuhrt wird. Auch bei dieser Verabreichungsart ist es entscheidend, dass der Sterbewillige die letzte Handlung (das Aufdrehen des Hahns) selbst vomimmt, damit von Suizidbeihilfe gesprochen werden kann. Falle von Suizidbeihilfe sind als auBergewohnliche Todesfalle meldungspflichtig und werden in jedem Fall durch die Untersuchungsbehorden abgeklart. Im folgenden Abschnitt werden die Sterbehilfe-Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) dargestellt.
'^ Streckeisen (2001) spricht in Bezug auf Bemuhungen, die aktive Sterbehilfe zu legalisieren, von einer Sterbehilfebewegung. Sie vergleicht diese Bewegung mit der Hospizbewegung und sagt, dass sich beide Bewegungen fur einen wiirdevollen Tod stark machen. Gemeinsam ist den beiden Bewegungen, dass sie sich zum Ziel gesetzt haben, den biologischen Tod mit dem sozialen Tod in Einklang zu bringen, wobei dieses Ziel auf unterschiedlichem Weg erreicht werden soil. Wahrend die Hospizbewegung den sozialen Tod bis zum Eintritt des biologischen Todes hinausschieben will, indem sie die Sterbenden sozial einbettet, beabsichtigt die Euthanasiebewegung den biologischen Tod dem sozialen Tod vorwegzunehmen, indem sie den biologischen Tod herbeifuhrt. Die beiden Bewegungen verfolgen somit unterschiedliche Ziele: Der Hospizbewegung geht es um die Betreuung Sterbender, wahrend sich die Sterbehilfebewegung vor allem fur eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe stark macht (vgl. Streckeisen, 2001, S. 46).
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2.1.3 Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) sah und sieht es als ihre Aufgabe, den Grenzbereich zwischen Leben und Tod mit Richtlinien zu regeh (z.B. SAMW, 1968, 1995, 1996, 1999, 2003, 2004a, 2004b, 2004c). Bei diesen Richtlinien handelt es sich um „standesrechtliche Regelungen einer privatrechtlichen Stiftung, welche als nationaler Forschungsrat fiir die medizinischen Wissenschaften fungiert" (Kunz, 2002, S. 616). Die Richtlinien werden als Empfehlungen fur die Sorgfalt des arztlichen Handelns verstanden. Ihre Missachtung zieht „nicht unmittelbar staatliche Sanktionen nach sich" (Kunz, 2002, S. 616). Da die Richtlinien den Gerichten und den kantonalen Gesetzgebem als MaBstab fur das sorgfaltige arztliche Handehi dienen, sind sie jedoch juristisch mittelbar relevant (Kunz, 2002, S. 616). Die Richtlinien der Akademie waren bis zur Annahme eines Artikels zur Transplantation in der Volksabstimmung 1999 die einzigen gesamtschweizerischen Leitlinien flir arztliches Handeln in Grenzsituationen. In einigen Kantonen wurden die Richtlinien der Akademie sogar zum Gesetz erhoben. Es schien und scheint niemanden zu beunruhigen, dass damit die Regelung eines wichtigen Bereichs - ohne demokratische Legitimation - einer privaten Organisation tiberlassen wird (Keller, 2000, S78). Diese Richtlinien stellen somit eigentliche Gesetze dar, die die Profession Arzt betreffen und von ihr selbst ausgestaltet werden. GemaB Goode (1960, S. 903) ist genau dies eines der zehn Merkmale, die fur Professionen charakteristisch sind. Sterbehilfe Die ersten Richtlinien zur Sterbehilfe wurden von der SAMW im Zusammenhang mit einem konkreten Sterbehilfefall, welcher sich in den 70er Jahren in der Schweiz ereignete, ausgearbeitet. Dieser Fall loste eine heftige Diskussion zum Thema Sterbehilfe aus. 1975 wurde der internistische Chefarzt des Zilrcher Triemlispitals Professor Hammerli verhaftet und wegen vorsatzlicher Totung angeklagt, weil er bei einer schwerstkranken Patientin auf die Nahrungszufuhr verzichtet hatte. Die Akademie nahm das Problem auf und legte 1977 die „Richtlinien fiir die Sterbehilfe" fest. In diesen Richtlinien wurde festgehalten, dass „bei Sterbenden, auf den Tod Kranken oder lebensgefahrlich Verletzten", deren Krankheitsverlauf „irreversibel" ist und die „kein bewusstes und umweltbezogenes Leben mit eigener Personlichkeitsgestaltung" mehr flihren konnen, der Arzt nicht mehr verpflichtet sein soil, „alle der Lebensverlangerungen dienenden
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therapeutischen Moglichkeiten einzusetzen". Die SAMW sprach sich somit in ihren Richtlinien klar flir die passive Sterbehilfe aus. 1995 wurden die Richtlinien zur Sterbehilfe mit den „Medizinisch-ethischen Richtlinien fur die arztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerst geschadigter Patienten" modifiziert bzw. auf die librigen Sterbehilfeformen ausgeweitet (SAMW, 1995). 2004 uberarbeitete man die Richtlinien emeut. Sowohl die Richtlinien aus dem Jahre 1995 als auch die neuen Richtlinien beziehen sich auf die arztliche Betreuung von Sterbenden, d.h. von Personen, bei welchen der Arzt Oder die Arztin aufgrund klinischer Anzeichen iiberzeugt ist, dass die Krankheit oder Schadigung irreversibel ist und trotz Behandlung in absehbarer Zeit zum Tode ftihren wird. Die Richtlinien lehnen die aktive Sterbehilfe in jeder Form klar ab. Die Suizidbeihilfe wird in den Richtlinien aus dem Jahre 1995 als nicht mit der arztlichen Tatigkeit vereinbar beurteilt, wahrend in den uberarbeiteten Richtlinien des Jahres 2004 zu dieser Sterbehilfeform wie folgt Stellung bezogen wird: Die Entscheidung, im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist als solche zu respektieren. In jedem Fall hat der Arzt das Recht, Suizidbeihilfe abzulehnen. EntschlieBt er sich zu einer Beihilfe zum Suizid, tragt er die Verantwortung flir die Priifung der (...) Voraussetzungen (SAMW, 2004c). Als Voraussetzungen werden aufgezahlt, (1) dass der Tod kurz bevorstehen soil, (2) dass dem Patienten alternative Moglichkeiten zur Suizidbeihilfe erortert und angeboten wurden und (3) der Patient urteilsfahig ist und sein Wunsch wohlerwogen sowie dauerhaft ist (SAMW, 2004c). Zur indirekt aktiven Sterbehilfe sowie zur terminalen tiefen Sedierung - welche im Gesetz nicht verbindlich geregelt sind - wird wie folgt Stellung genommen: Der Arzt ist verpflichtet, Schmerzen und Leiden zu lindem, auch wenn dies in einzelnen Fallen zu einer Beeinflussung (Verkiirzung oder Verlangerung) der Lebensdauer fuhren sollte. Bei therapierefraktaren Symptomen kann gelegentlich eine palliative Sedation notwendig werden. Hierbei ist zu beachten, dass nur soweit sediert werden soil, als dies zur Linderung der Symptome notig ist (SAMW, 2004c, S. 6). Bei sterbenden und zerebral schwerstgeschadigten Patienten rechtfertigen die Richtlinien den Verzicht auf bzw. den Abbruch von lebenserhaltenden MaBnahmen ausdnicklich (SAMW, 2003, 2004c), wobei sie die entsprechenden MaBnahmen aufzahlen: (...) insbesondere die kiinstliche Wasser- und Nahrungszufuhr, die kiinstliche Beatmung und die kardiopulmonale Reanimation. Je nach Situation muss auch tjber Sau-
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erstoffzufiihr, Medikation, Transfusion, Dialyse und operative Eingriffe entschieden werden (SAMW, 2004c, S. 9).
2.1 A Kritische Betrachtung der Terminologie und der Regelungen Die Nomenklatur bzw. Einteilung der verschiedenen Sterbehilfeformen und die gesetzlichen Regelungen werden immer wieder in Frage gestellt. So wird kritisiert, dass die Begriffe „aktiv" und „passiv" eine exakte Grenzziehung sowie ein „Toten" bzw. ein „Sterben lassen" implizieren, womit die gesetzlichen Regelungen legitimiert werden sollen (z.B. Feldmann, 2002a). Sofem man sich bei der passiven und aktiven Sterbehilfe zwei unterschiedliche Kontexte vorstellt, lasst sich eine unterschiedliche moralische Bewertung nachvollziehen (Bosshard, 2005a). Passive Sterbehilfe ist lediglich im Kontext einer lebensbedrohlichen Situation - wie z.B. einer Lungenentziindung -- moglich, wahrend ein solcher Kontext bei der aktiven Sterbehilfe nicht vorausgesetzt wird, d.h. aktive Sterbehilfe ist beispielsweise auch bei einer nicht in naher Zukunft zum Tode fuhrenden Erkrankung durchfiihrbar. Kaum vemiinftig zu begriinden ist allerdings eine unterschiedliche moralische Bewertung, falls derselbe Kontext vorliegt, wie z.B. die Situation eines terminal Krebserkrankten, der im Endstadium seiner Erkrankung nach Sterbehilfe verlangt (vgl. Bosshard, 2005a, S. 194f). Falls der Erkrankte das „Gluck" hat, eine lebensbedrohliche Komplikation zu „erleiden", darf er mittels passiver Sterbehilfe aus dem Leben scheiden, wahrend er, falls keine entsprechende Komplikation auftritt, am Leben bleiben muss. Teilweise wird versucht, diese Bewertung mit dem natiirlichen Krankheitsverlauf zu rechtfertigen. Bosshard (2005a) hebt in diesem Zusammenhang jedoch hervor, dass in der Medizin ublicherweise dem Schicksal auch nicht eine so zentrale Rolle eingeraumt werde, solange die Moglichkeit zur Heilung bestehe. Auch von juristischer Seite wird der Umstand kritisiert, dass zwar der Sterbewunsch desjenigen, dem Sterbehilfe geleistet werden soil, vorausgesetzt wird, diesem Wunsch aber nicht entsprochen wird, falls er nur durch direkte aktive Sterbehilfe erfullt werden kann. Kunz (2002, S. 627) spricht hier vom „Patemalismus einer Fremdbestimmung uber das Lebenmlissen". Da in der Schweiz die dogmatischen Vorgaben zur Unterscheidung von zulassiger und unzulassiger Sterbehilfe so ausgelegt werden konnen, dass eine direkte aktive Sterbehilfe oft nicht als solche wahrgenommen wird, stellt Kunz (2002) die Frage, ob es nicht aufrichtiger ware, dem Sterbewunsch von Patienten, bei denen in naher Zukunft mit dem Tod zu rechnen ist, in jedem Fall Beachtung zu verschaffen. Ebenfalls heftig kritisiert wird das Konzept der indirekt aktiven Sterbehilfe. Dieses Konzept ist hauptsachhch in Situationen von Belang, in denen die Arztin
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Oder der Arzt bei einem demnachst sterbenden Menschen, dessen Schmerzen und Symptome sich nur schwer behandeln lassen, mit dem Problem konfrontiert wird, dass die zu verabreichende Dosis an Opiaten und/oder Sedativa so hoch ist, dass diese eine Atemdepression bewirken konnte, die das Leben verkiirzt. Diese Sterbehilfeform wird damit gerechtfertigt, dass die Lebensverklirzung nicht beabsichtigt, sondem nur in Kauf genommen wurde. Diese Rechtfertigung ist gemaB Bosshard (2005a, S. 195) nicht liberzeugend: „Denn angesichts der Schmerzen eines nicht unmittelbar vor dem Tode stehenden Patienten wiirde es wohl niemand als vertretbar erachten, Opiate in lebensbedrohlichen Dosierungen zu applizieren". Der Grund fur eine Akzeptanz der Sterbehilfe ist somit eher darin zu sehen, dass sich die Person kurz vor dem Tod befmdet, als in der Absicht der Arztin Oder des Arztes. Es ware daher sinnvoller, die Umstande festzulegen, unter denen eine Sterbehilfe als gerechtfertigt gelten soil, als die Illegalitat bzw. Legalitat von der Absicht des Arztes abhangig zu machen (Bosshard, 2005a). Auch Juristinnen und Juristen kritisieren die weit verbreitete Auffassung, dass die Straflosigkeit der indirekt aktiven Sterbehilfe durch die Absicht des behandelnden Arztes begriindet sei, Leiden unter der notgedrungenen Inkaufnahme einer Beschleunigung des Sterbens zu lindem. GemaB Kunz (2002) ist diese Verlagerung des Problems von der objektiven in die subjektive TatbestandsmaBigkeit abzulehnen, da Missbrauche nicht iiberprtifbar sind und das erlaubte Risiko der Lebensverklirzung behebig hoch sein kann, so dass diese zur eigentlichen Gewissheit wird. Die indirekt aktive Sterbehilfe ist in solchen Fallen nicht mehr von der direkten aktiven Sterbehilfe zu unterscheiden. Kunz (2002) schreibt dazu: In dem Masse, wie die indirekte aktive Sterbehilfe solchermaBen extensiv praktiziert wird, schrumpft das Bedtirfnis nach ktinftiger Legalisierung bestimmter Formen der direkten aktiven Sterbehilfe. Anders ausgedruckt: Die mangelnde rechtsformliche Uberpriifbarkeit der Anwendungspraxis der indirekten aktiven Sterbehilfe gestattet es, die Rigiditat des Fremdtotungsverbots faktisch zu unterlaufen (S. 620). In Bezug auf die indirekt aktive Sterbehilfe weisen insbesondere Palliativmedizinerinnen und -mediziner darauf hin, dass eine fachgerechte Schmerz- und Symptomkontrolle keine Lebensverklirzung bewirke; sie stellen somit einen lebensverklirzenden Effekt von Opiaten grundsatzlich in Frage. Einige Arztinnen und Arzte sind sogar der Meinung, dass sogar ein lebensverlangemder Effekt moglich sei (personliche Mitteilung von Jan Schildmann, 15. Februar 2006). Teilweise wird die Frage aufgeworfen, ob der Begriff der indirekt aktiven Sterbehilfe gestrichen werden sollte, womit entweder von Symptom- und Schmerzlinderung zu sprechen ware, falls die Wahrscheinlichkeit einer Herbeifiihrung des Todes gering ist, hingegen von aktiver Sterbehilfe, wenn die Wahrschein79
lichkeit einer Beschleunigung des Todes sehr hoch ist. Auch die SAMW weist in ihren Richtlinien darauf hin, dass sich Schmerzmittel missbrauchlich einsetzen lassen und im Allgemeinen anhand der Dosierung beurteilt werden kann, ob eine palliativmedizinische Linderung oder eine Lebensbeendigung beabsichtigt ist (SAMW, 2004c, S. 9). Weil sie die klassischen Sterbehilfebegriffe als zu problematisch empfinden, meiden insbesondere im englischen Sprachraum einige Autorinnen und Autoren die Bezeichnungen „aktiv" und „passiv" sowie „indirekt" und „direkt", stattdessen verwenden sie die folgenden Begriffe: „non-treatment decision" (=passive Sterbehilfe), „voluntary euthanasia" (=aktive Sterbehilfe auf Verlangen), „non-voluntary euthanasia" (=aktive Sterbehilfe ohne Verlangen), „alleviation of symptoms with possible life-shortening effect" (=indirekt aktive Sterbehilfe) und „assisted suicide" (=Suizidbeihilfe). Im deutschen Sprachraum hat sich eine entsprechende Begrifflichkeit bisher noch nicht durchgesetzt. Lediglich fur die passive Sterbehilfe wird teilweise der Begriff „Therapiebegrenzung" verwendet. Der Begriff Euthanasie fiir die aktive Sterbehilfe wird im deutschen Sprachraum zumeist gemieden, da das nationalsozialistische Regime wahrend des Zweiten Weltkrieges unter dieser Bezeichnung Kinder und Erwachsene mit Behinderungen im Sinne der Totung so genannt „lebensunwerten" Lebens systematisch umbrachte. Im Weiteren wird an der Systematik der klassischen Sterbehilfeformen bemangelt, dass die Frage, ob die Sterbehilfe auf Wunsch der Patientin/des Patienten oder ohne einen solchen Wunsch praktiziert wird als Unterscheidungskriterium keine Rolle spielt. Die englische Terminologie berlicksichtigt dieses Kriterium zwar bei der aktiven Sterbehilfe, bei den ubrigen Formen jedoch nicht. Die Berlicksichtigung dieses Aspekts bei der aktiven Sterbehilfe hangt wohl damit zusammen, dass in Belgien sowie Holland nur die aktive Sterbehilfe auf Verlangen unter bestimmten Umstanden nicht strafbar ist, wahrend sie ohne Verlangen immer illegal ist.
2.2 Patientenautonomie Das Selbstbestimmungsrecht gilt als Grundpfeiler modemer Gesellschaften. Seit einigen Jahrzehnten gewinnt dieses Recht auch in der Arzt-Patienten-Beziehung in Form der Patientenautonomie an Gewicht, und spielt in der Sterbehilfediskussion eine zunehmend wichtigere Rolle (vgl. Arbeitsgruppe Sterbehilfe, 1999). Wenn ein Mensch durch Alter, Unfall oder Krankheit seine Fahigkeit zu entscheiden verliert, ist es notig, dass stellvertretend fur ihn entschieden wird, d.h. dass andere Personen - wie z.B. Angehorige, Arztinnen und Arzte - Entscheidungen fur ihn treffen oder dass auf seinen vorausverfiigten Willen zuriickgegrif-
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fen wird. Falls der Wille schriftlich festgehalten wird, ist von einer Patientenverftigung die Rede. Jeder Mensch kann in einer Patientenverfugung festhalten, welche Behandlungen er im Fall seiner Urteilsunfahigkeit fur sich wunscht und welche er ablehnt. Zu den Problemkomplexen der stellvertretenden Entscheidungen sowie der Patientenverfugung fehlen meines Wissens sozialwissenschaftliche Konzepte, Theorien sowie Studien vollstandig. Wissenschaftliche Arbeiten, welche die Patientenautonomie bei nicht entscheidungsfahigen Patientinnen und Patienten diskutieren, stammen hauptsachlich von Ethikem und Medizinem. Im Folgenden wird kurz auf einige in diesen Arbeiten erwahnte Aspekte eingegangen, bevor die Richtlinien der SAMW zur Patientenautonomie zusammengefasst werden.
2.2.1 Die stellvertretende Entscheidung und die Patientenverfugung In den medizinethischen Arbeiten wird hervorgehoben, dass Entscheidungen so getroffen werden sollen, dass diese dem Wohl des nicht mehr entscheidungsfahigen Patienten am besten dienen und, wenn moglich, die Autonomic des Patienten fordern oder wiederherstellen. In Bezug auf das Wohlergehen merkt Jox (2004, S. 404) an, dass der Patient im Allgemeinen am besten weiB, was sein Wohlergehen fordert, und man daher auch bei nicht mehr entscheidungsfahigen Patienten versuchen sollte, dessen Wiinsche und Gefuhle zu beriicksichtigen. Dies kann entweder dadurch geschehen, dass man Angehorige und vertraute Personen befragt oder die nonverbalen Signale der nicht mehr entscheidungsfahigen Personen zu deuten versucht. Falls die Wunsche in einer Patientenverfugung festgehalten sind, sollen diese respektiert werden, wobei in der Literatur auf Probleme der Aktualitat sowie Applikabilitat von solchen Verfugungen hingewiesen wird. Um zu verhindem, dass die Frage auftaucht, ob die in einer Verfugung festgehaltenen Wunsche noch aktuell sind oder nicht, wird daher empfohlen, die Patientenverfugung haufig zu aktuahsieren (z.B. Dialog Ethik, 2006). Was die Applikabilitat betrifft, zeigt sich, dass sich Wiinsche umso eher umsetzen lassen, je spezifischer sie formuliert sind und je genauer sie auf eine konkrete Situation bezogen sind. Falls beispielsweise eine (noch) entscheidungsfahige Patientin oder ein (noch) entscheidungsfahiger Patient an einer bestimmten Krankheit leidet, deren Verlauf bekannt ist und von der man weiB, dass sie mit der Zeit zu einer Entscheidungsunfahigkeit fiihrt, kann sie ihre Patientenverfugung sehr konkret ausformulieren, was weniger leicht moglich ist, wenn noch nicht voraussehbar ist, ob die betroffene Person ihre Entscheidungsfahigkeit einbiissen wird.
Falls keine Patientenverfugungen vorhanden sind, stellt sich die Frage, wer anstelle und zugunsten der Patientin oder des Patienten entscheiden soil: der Arzt, ein Angehoriger, ein Richter? Femer taucht die Frage auf, wie die stellvertretende Person zu ihrer Entscheidung gelangen bzw. welche Kriterien sie der Entscheidung zugrunde legen soil (Jox, 2004, S. 402). In Bezug auf den Arzt als Entscheidungstrager wird angemerkt, dass dieser aufgrund seines Fachwissens, d.h. mit Parsons Handlungsorientierungen gesprochen, aufgrund der funktionalen Spezifitat sowie des Universalismus, den Verlauf einer Krankheit und die Moglichkeiten von Behandlungen am besten beurteilen konne und somit geeignet sei, stellvertretende Entscheidungen zu treffen. Es werden jedoch auch Argumente gegen den Arzt als Entscheidungstrager aufgefiihrt. So erwahnt Jox (2004, S. 412), dass das arztliche Urteil einem dreifachen Bias unterliege und zwar (1) einem institutionell bedingten Bias, (2) einem emotional bedingten sowie (3) einem professionell bedingten. Das institutionell bedingte Bias bestehe darin, dass die arztliche Routine sowie die zur Verfugung stehenden Ressourcen es Arztinnen und Arzten erschwere, abweichend von Behandlungsstandards bestimmte Therapien zu unterlassen. Zum emotional bedingten Bias zahlt Jox den Umstand, dass Arztinnen und Arzte aus Angst vor strafrechtlichen Folgen eher zu viele als zu wenige Behandlungen durchfiihren. Das professionell bedingte Bias schlieBlich basiert primar auf dem aus der standesethischen Geschichte entwickelten Prinzip des absoluten Lebensschutzes. Zusatzlich zu diesem dreifachen Bias sei die partikulare Perspektive der Arztinnen und Arzte zu beachten, aus welcher Patientinnen und Patienten als Organismen anstatt als Personen wahrgenommen wiirden, wobei diese Perspektive bei Hausarztinnen und -arzten, die ihre Patientinnen und Patienten jahrelang kennen, weniger verbreitet sein diirfte. Weil Spitalarztinnen und -arzte den Patienten mit seiner Biographic sowie seinen Lebensumstanden und -gewohnheiten nicht kennen, miissten sie aufgrund medizinischer Indikationen entscheiden (Jox, 2004, S. 412). Fur Angehorige als stellvertretende Entscheidungstrager spricht, dass diese die Patientin oder den Patienten als Menschen mit seinem Lebensstil etc. kennen. Ferner ist die Beziehung zwischen Patienten und Angehorigen cine fortbestehende, d.h. die Angehorigen sind zumeist direkt von den Folgen einer Entscheidung betroffen. In diesem Zusammenhang wird allerdings auch die Befurchtung geauBert, dass Angehorige Entscheidungen zu ihrem eigenen Vorteil treffen konnen, z.B. um sich allfalliger Pflegeaufgaben zu entziehen, Pflegekosten zu sparen, um friiher erben zu konnen etc. (Jox, 2004). Die Frage nach fmanziellen Vorteilen kann m.E. auch bei Arztinnen und Arzten gestellt werden, sie taucht allerdings in der aktuellen Diskussion liber die Person des Entscheidungstragers kaum auf.
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2.2.2 Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften Die SAMW (2005) weist darauf hin, dass jede Patientin und jeder Patient das Recht auf Selbstbestimmung hat. Damit die betroffene Person dieses Recht wahmehmen kann, muss sie gemaB diesen Richtlinien von der Arztin oder vom Arzt die notigen Informationen erhalten. Wie in Kapitel 1 gezeigt wurde, werden Patientinnen und Patienten zumeist unvollstandig und ungeniigend informiert, so dass die Voraussetzungen fiir eine selbstbestimmte Entscheidung oft nicht erfulh sind. Doch darauf wird in den Richthnien nicht eingegangen. Das Selbstbestimmungsrecht soil gemaB Richtlinien nicht nur in Fallen gelten, in denen die Patientin oder der Patient entscheidungsfahig ist, sondern auch in Situationen, in denen sie oder er nicht mehr entscheidungsfahig ist. Das Selbstbestimmungsrecht soil also sowohl bei urteilsfahigen als auch bei nichturteilsfahigen Personen zum Tragen kommen. Dabei wird als urteilsfahig betrachtet, wer die Realitat wahmehmen kann, zur autonomen Willensentscheidung fahig ist und sich iiber die Konsequenzen seines Handebis Rechenschaft zu geben vermag (Art. 16 Schweizerisches Zivilgesetzbuch; SAMW, 2005, S. 12). Der Wille des urteilsfahigen Patienten soil respektiert werden. Folglich ist eine arztliche Behandlung gegen den Patientenwillen unzulassig. Falls der Patient nicht (mehr) urteilsfahig ist, soil der mutmaBliche Wille eruiert werden. Dazu sollen die Arztinnen und Arzte sowie das Pflegepersonal abklaren, ob eine Patientenverfugung vorhanden ist, eine Vertrauensperson bevollmachtigt wurde oder ob die betroffene Person gegeniiber Angehorigen oder anderen Personen ihre Wixnsche geauBert hat (SAMW, 2005, S. 5). Die SAMW legt in ihren Richtlinien fest, dass Patientenverfiigungen zu befolgen sind, „soweit sie auf die konkrete Situation zutreffen und keine Anhaltspunkte dafur vorliegen, dass sie dem derzeitigen Willen des Patienten nicht mehr entsprechen" (SAMW, 2005, S. 5). Falls keine Patientenverfligung vorhanden ist oder die vorhandene Verfiigung fur die aktuelle Situation nicht zutrifft, ist die Entscheidung iiber eine Behandlung zusammen mit der bezeichneten Vertrauensperson zu treffen. Da sehr oft weder eine Patientenverfugung vorhanden ist noch eine Vertrauensperson ernannt wurde, legt die SAMW auch fur diese Falle ein Vorgehen fest: In solchen Situationen sollen Auskunfte daruber eingeholt werden - z.B. bei Angehorigen, vertrauten Personen oder der Hausarztin/dem Hausarzt -, wie die Patientin oder der Patient bisher gelebt und gedacht hat. Gelegentlich ist auch dies nicht moglich, weil z.B. keine Angehorigen vorhanden sind oder eine Notfallsituation besteht, in der keine Zeit fiir Riickfragen bleibt. In solchen Fallen soil nach dem besten Interesse der Patientin/des Patienten gehandelt werden.
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Die SAMW (2005, S. 8f) versteht unter „bestem Interesse" Folgendes: „Die Durchfuhrung von medizinisch oder pflegerisch indiziert erscheinenden MaBnahmen, denen ein hypothetischer vemiinftiger Patient in der entsprechenden Situation voraussichtlich zustimmen wiirde". Dieser „best-interest"-Ansatz kann als patemalistisch bezeichnet werden, da er nur scheinbar auf die Interessen des Patienten abstellt. Weil sich das arztliche Handeln primar am Ziel der Wiederherstellung von Gesundheit sowie am instrumentellem Aktivismus orientiert (vgl. Streckeisen, 2001), dlirfte sich dieser „best interest"-Ansatz dahingehend auswirken, dass Behandlungen eher durchgefiihrt als unterlassen werden. Nachfolgend wird der Forschungsstand zum Thema Sterbehilfe dargestellt.
2.3 Forschungsergebnisse zur Sterbehilfe Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist die Erforschung der Sterbehilfe als defizitar zu bezeichnen. Bisher sind keine spezifisch fiir die Sterbehilfe entwickelten sozialwissenschaftlichen Konzepte und Theorien vorhanden (vgl. Feldmann, 2002a). Wissenschaftlich haben sich mit dem Thema Sterbehilfe bisher vorwiegend Medizinerinnen, Theologen, Ethikerinnen und Juristen befasst (z.B. Antoine, 2004; Bosshard, 2003; 2005a; 2005b; Schildmann et al, 2004a; Schone-Seifert, 1996; Zimmermann-Acklin, 2002). Die vorhandenen empirischen Studien zur Sterbehilfe wurden hauptsachlich von Medizinerinnen und Medizinem ohne theoretischen Hintergrund durchgefiihrt. Bis zum europaischen Projekt „Medical end-of-life decisions in six European countries", welches zwischen 2000 und 2003 durchgefiihrt wurde, lagen zudem fiir die Schweiz keinerlei Daten dariiber vor, wie haufig einem Todesfall Sterbehilfe vorausgeht, welche Formen von Sterbehilfe praktiziert werden, welche Einstellungen und Verhaltensabsichten von Arztinnen und Arzten dabei eine Rolle spielen und von welchen Determinanten Letztere abhangen (z.B. Bosshard et al., 2005b; Fischer et al. 2006b; Miccinesi et al., 2005; Onwuteaka-Philipsen et al. 2006; van der Heide et al., 2003). Im Folgenden kommen zuerst theoretische Vorarbeiten zur Sterbehilfe bzw. das Verhaltnis zwischen Theorie und Empiric in der Sterbehilfeforschung zur Sprache. Bevor die vorhandenen Studienergebnisse zusammengefasst dargestellt werden, stehen anschlieBend haufige methodische Vorgehensweisen in der Sterbehilfeforschung sowie deren Starken und Schwachen im Zentrum, da die Aussagekraft von Studien maBgeblich von der verwendeten Methodik abhangt.
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2.3.1 Theoretische Vorarheiten Sozialwissenschaftliche Arbeiten, insbesondere Theorien und Konzepte zur Sterbehilfe, fehlen weitgehend (vgl. Feldmann, 2002a). Bislang hat meines Wissens lediglich Rogers (1996) flir die Sterbehilfe ein konzeptuelles Modell entwickelt, mit dessen Hilfe sich die verschiedenen Sterbehilfeformen einordnen lassen. Dieses Modell definiert die Konstrukte als eine Funktion der Entscheidungsdimension („locus of decision") und der Handlungsdimension („locus of action"). Der Ort der Entscheidung bezughch des Sterbens („locus of decision to die") kann entweder bei der betroffenen Person selbst oder bei einer anderen Person liegen. Die Entscheidung befmdet sich naher beim Patienten selbst, wenn eine aktuelle Willenserklarung bzw. ein Verlangen des Patienten vorliegt als wenn Arztinnen und Arzte den mutmaBlichen Willen feststellen. Die zweite Dimension ist der Ort der Totungshandlung („locus of action"). Auch hier sind die verschiedenen Formen der Sterbehilfe zwischen den beiden Polen „Person selbst" oder „andere Person" zu platzieren. Mit der Dimensionalisierung der Sterbehilfe nach Rogers (1996) wird nicht wie ublich lediglich bei der aktiven Sterbehilfe unterschieden, wer die Entscheidung fallt (aktive Sterbehilfe auf oder ohne Verlangen des Patienten/der Patientin), sondem auch bei den (ibrigen Sterbehilfeformen. Damit ruckt auch die Frage des Akteurs ins Zentrum. Neben diesen beiden Dimensionen betrachtet Rogers (1996) das Alter so wie den Gesundheitszustand der Patientin oder des Patienten als zentrale Faktoren, die in Zusammenhang mit der Sterbehilfe zu beachten sind. Medizinerinnen und Mediziner fiihren Studien rein empirisch ohne theoretischen Hintergrund durch. Es werden keine Hypothesen aufgestellt, die anhand von Daten uberpruft werden, und auch bei der Diskussion der Ergebnisse wird selten nach moglichen Erklarungen gesucht. Ein Grund dafur ist darin zu sehen, dass die Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen Theorien, Konzepten sowie Forschungsmethoden im Medizinstudium fehlt. Wie in der klinischen Praxis entscheiden und handeln die Medizinerin und der Mediziner auch in der Forschung vor allem auf der Grundlage einfacher, pragmatischer Uberlegungen und praktischer Ziele (Meyer-Fehr, 1988). Es werden aus der Praxis hergeleitete Fragestellungen mittels empirischer Daten beantwortet, wobei die dabei verwendeten Konzepte und Modelle zumeist implizit und daher schlecht diskutier- und kritisierbar bleiben. Vielfach wird ein Einzelfall dargestellt, d.h. die Arztin bzw. der Arzt orientiert sich an einem bestimmten Kontext und die Variation dieses Kontextes ist ihr bzw. ihm nicht wichtig. Die Ergebnisse werden haufig anhand einfacher Haufigkeitsauszahlungen prasentiert und Zusammenhange oft nur bivariat betrachtet (Meyer-Fehr, 1988). Somit handelt es sich also bei den meis-
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ten der Studien, deren Resultate im nachfolgenden Kapitel zusammengefasst prasentiert werden, um rein empirische Untersuchungen.
2.3.2 Methodische Vorgehensweisen in der Sterbehilfeforschung In den letzten Jahren sind zahlreiche Studienergebnisse zur Sterbehilfe (Abbruch lebenserhaltender MaBnahmen oder Verzicht auf solche, Zur-Verfugung-Stellen, Verschreiben sowie Verabreichen von todlichen Medikamenten) von Medizinerinnen und Medizinem publiziert worden. Bei diesen Studien handelt es sich vorwiegend um schriflliche, standardisierte Befragungen von Arztinnen und Arzten, Qualitative Studien - wie z.B. Beobachtungen oder offene Interviews -, die einen detaillierten Einblick in Situationen, in denen Entscheidungen am Lebensende getroffen werden miissen, vermitteln, sind kaum vorhanden. Ebenso fehlt die Sicht von anderen sozialen Gruppen als jene der Arztinnen und Arzte, wie beispielsweise von Pflegenden oder von Patientinnen/Patienten, Angehorigen, vertrauten Personen sowie der Bevolkerung weitgehend. Die vorhandenen Befragungen von Arztinnen und Arzten zur Sterbehilfe lassen sich anhand der verwendeten Stichproben in zwei unterschiedliche Typen einteilen. Zum einen gibt es Studien, in welchen die Stichproben aus Arztinnen und Arzten bestehen, die nach ihren Einstellungen, Verhaltensabsichten oder ihrem bisherigen Verhalten gegeniiber der Sterbehilfe befragt werden („Arztinnen-Studien"). Zum anderen werden die Angaben zur Sterbehilfe anhand von so genannten „TodesfallStudien" gewonnen. Bei dieser Art von Studien geht man von einer Stichprobe von Todesfallen aus und befragt jeweils die behandelnden Arztinnen und Arzte zu den Handlungen, die diesen spezifischen Todesfallen vorausgingen, schrifthch. Todesfall-Studien wurden bisher in Holland, Belgien und im Rahmen des europaischen Projektes „Medical end-of-life decisions: Attitudes and practices in six European countries" (=EURELD) in sechs Landem (Holland, Belgien, Danemark, Schweden, Italien und der Schweiz) durchgefuhrt (Deliens et al., 2000; van der Maas et al., 1991; van der Maas et al., 1996; van der Heide et al., 2003). Das Hauptziel solcher Studien besteht darin, Angaben dariiber zu gewinnen, wie oft einem Todesfall Sterbehilfe vorausgeht und welche Sterbehilfeform (passive, indirekt aktive Sterbehilfe, Suizidbeihilfe und aktive Sterbehilfe mit und ohne ausdriickliches Verlangen) dabei jeweils praktiziert wird. Nachfolgend werden die methodischen Starken und Schwachen dieser beiden Typen von Untersuchungen („ArztInnen-Studien" und „Todesfall-Studien") diskutiert, wobei auf Probleme der Stichprobe und Reprasentativitat sowie der Operationalisierung bzw. „Messung" oder „Quantifizierung" von Sterbehilfe eingegangen wird.
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Stichprobe und Reprasentativitat Die meisten Befragungen im Rahmen von „ArztInnen-Studien" beschranken sich auf einzelne Fachgebiete oder beziehen sich auf bestimmte Patientinnen- und Patientengruppen (Neonatologie, Onkologie, Intensivmedizin), womit die jeweiligen Ergebnisse nicht fur alle Sterbesituationen reprasentativ sind bzw. sich nicht auf andere Situationen iibertragen lassen. In Bezug auf Betagte bzw. Hochbetagte ist kaum Datenmaterial vorhanden, obwohl diese Gruppe den hochsten Prozentsatz der Verstorbenen ausmacht. Im Weiteren sind die zugrunde hegenden Stichproben oft sehr klein oder der Rucklauf ist zu gering (vgl. Emanuel, 1994). So erzielte zum Beispiel die Studie von Mebane et al. (1999) einen Riicklauf von 28% und jene von Ming-Ling Cong und Fok (2005) einen Rucklauf von 26%. Da die Forschenden bei der Publikation der Ergebnisse keine Aussagen darllber machen, ob und inwiefem sich die Gruppe der antwortenden Arztinnen und Arzte von jener der nicht antwortenden unterscheidet, ist zu bezweifeln, ob die Resultate fiir die Grundgesamtheit reprasentativ sind. Das Problem moglicher Antwortverzerrungen durch Nichtteilnahme stellt sich aber nicht nur bei geringen Rucklaufquoten, sondern auch bei Umfragen mit hoher Antwortbeteiligung. Die Richtung und das AusmaB von Teilnahmeverzerrungen in der Sterbehilfeforschung wurden anhand einer im Rahmen des europaischen Sterbehilfeprojektes „Medical end-of-life decisions" durchgefiihrten Befragung von nicht antwortenden Arztinnen und Arzten aus neun verschiedenen Fachgebieten in Danemark, Holland, Schweden und in der Schweiz bestimmt (Fischer, Hornung, Bosshard et al., 2006a). Diese Resultate zeigen, dass (1) Nichtteilnahme zu keinen soziodemographischen Verzerrungen fuhrte, (2) Arztinnen und Arzte, die seltener Sterbende betreuen, weniger haufig an der Umfrage teilnahmen als solche, die mehr sterbende Patientinnen und Patienten betreuen, dass (3) die Nichtteilnahme zu einer Uberreprasentation der Befiirwortenden sowohl von Sterbehilfe (Behandlungsabbruch bzw. Verzicht auf lebenserhaltende MaBnahmen, Verabreichen von todlichen Medikamenten) als auch von lebenserhaltenden Entscheidungen fuhrte und, dass (4) hinsichtlich der Entscheidung zwischen „Lebenserhaltung unter alien Umstanden" und „aktiver Sterbehilfe" neutrale Antworten unter den Nichtantwortenden signifikant haufiger waren als bei den Antwortenden. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass einerseits Arztinnen und Arzte, die in ihrer bisherigen klinischen Tatigkeit oft mit dem Thema Sterben sowie Sterbehilfe konfrontiert waren, eine differenziertere Meinung zum Thema gebildet haben und haufiger an solchen Befragungen teilnehmen als Arztinnen und Arzte mit geringeren Erfahrungen mit Sterbenden und dass andererseits in der Sterbehilfeforschung „non-response biasis" bestehen.
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In „Todesfall-Studien" basieren die Stichproben auf Todesfallen. Bei den Amtem, in denen die Totenscheine statistisch erfasst werden - in der Schweiz beispielsweise ist dies das Bundesamt fiir Statistik (BfS) - wurden Todesfallformulare nach dem Zufallsprinzip ausgewahlt, womit die Stichproben fiir alle Todesfalle reprasentativ sind. Um einen moglichst hohen Rucklauf zu erzielen, ergriff man in den teilnehmenden Landem verschiedene vorbeugende MaBnahmen. Da einige der erfragten Sterbehilfeformen gesetzlich strafbare Handlungen darstellen, war die vollstandige Anonymisierung der Daten zentral, so dass weder Ruckschliisse auf die befragten Arztinnen und Arzte noch auf die Verstorbenen moglich waren. Femer wurden die verschiedenen Fachgesellschaften uber die Studie vorinformiert und um ihre ideelle Unterstutzung gebeten. Und schlieBlich verschickte man, wenn die Arztinnen und Arzte den Fragebogen nicht retoumierten, ein bis zwei Erinnerungsschreiben. Es wurde international ein Riicklauf von insgesamt 61% erzielt (zwischen 44% in Italien und 75% in Holland). Um die Reprasentativitat der Befragung fiir alle Todesfalle in Bezug auf die Patientenmerkmale (Alter, Geschlecht, Todesursache sowie Sterbeort) sicherzustellen, wurden die Ergebnisse mit entsprechenden Gewichtungsfaktoren gewichtet. Gleichwohl bleibt allerdings offen, ob systematische Unterschiede zwischen der Gruppe der antwortenden und jener der nicht antwortenden Arztinnen und Arzten bestehen, was zu einer Uber- bzw. Unterschatzung der tatsachlich praktizierten Sterbehilfe fuhren konnte. Operationalisierung - bzw. „Messung" oder „Quantifizierung" - von Sterbehilfe Einige Befragungen im Rahmen von „Arztinnen-Studien" stutzen sich unreflektiert auf die im Alltag verwendeten Bezeichnungen fiir unterschiedliche Sterbehilfeformen (aktive Sterbehilfe auf Verlangen und ohne Verlangen, passive Sterbehilfe, indirekt aktive Sterbehilfe, Suizidbeihilfe). Falls Arztinnen und Arzte unter den Begriffen Unterschiedliches verstehen und/oder nicht genau wissen, welche Handlung welcher Sterbehilfeform zu zuordnen ist, fiihrt diese Erhebungsart zu nicht validen Ergebnissen. Hinweise darauf, dass Arztinnen und Arzte nicht uber ein einheitliches Verstandnis im betreffenden Sachbereich verfiigen, liefert eine Befragung von Medizinstudierenden in Deutschland von Schildmann et al. (2004a sowie eine Befragung von praktizierenden Arztinnen und Arzten von Emanuel et al. (1998). In der Umfrage von Schildmann et al. mussten MaBnahmen des Therapieabbruchs beziehungsweise des -verzichts (=passive Sterbehilfe) den Kategorien „aktive" oder „passive" Sterbehilfe zugeordnet werden. 46% der Befragten fassten falschlicherweise die Beendigung der parenteralen Fliissigkeitszufuhr als aktive Sterbehilfe auf und 13% ordneten die Nichteinleitung der kiinstlichen Beatmung dieser Kategorie zu (Schildmann et al.
2004a, S. 127). Emanuel et al. (1998) bemerken in ihrer Studie, dass rund ein Viertel der von den Arztinnen und Arzten selbst als „Suizidbeihilfe" oder „aktive Sterbehilfe" bezeichneten Falle gemaB herkommlicher Terminologie als „passive Sterbehilfe" bezeichnet werden miisste. Zu diesem Schluss kommen sie aufgrund Follow-up-Tiefeninterviews mit Onkologinnen und Onkologen, die in einer vorangehenden Studie auf die Frage, ob sie bisher aktive Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe praktiziert batten, mit ,ja" geantwortet batten. Da verschiedene Studien iiberdies zum Ergebnis kamen, dass Behandlungsbegrenzungen viel deutlicher befiirwortet werden als die Verabreichung todlicher Medikamente (z.B. Miccinesi et al., 2005), ist davon auszugehen, dass die Zustimmung der befragten Arztinnen und Arzte zur aktiven Sterbehilfe uberschatzt wird, da sie zumindest teilweise auf terminologischen Missverstandnissen beruht. Viele Arztlnnen-Studien, die in den letzten Jahren durchgefuhrt wurden, stiitzen sich auf Umschreibungen der Handlungen statt auf die herkommliche Sterbehilfeterminologie (z.B. Miccinesi et al., 2005) oder sie defmieren die verwendeten Sterbehilfebegriffe zu Beginn des Fragebogens (z.B. Mtiller-Busch et al., 2003; Schroder et al., 2003). Aber auch bei diesen Erhebungsarten stellt sich die Frage nach der Qualitat der verwendeten Messinstrumente. Da im Methodenteil der betreffenden Artikel nicht erwahnt wird, ob die Operationalisierung der Sterbehilfe validiert wurde, ist anzunehmen, dass die Defmitionen von den Autorinnen und Autoren selbst kreiert und vor der Verwendung in den Befragungen anders als in der sozialwissenschaftlichen Methodenausbildung gelehrt wird nicht auf ihre Tauglichkeit hin getestet worden sind. Beispielsweise verwenden Schroder et al. (2003) in ihrer Bevolkerungsumfrage, in der sie nach der personlichen hypothetischen Inanspruchnahme der verschiedenen Sterbehilfeformen fragen, im Fragebogen die traditionellen Sterbehilfebegriffe und liefem eingangs des Fragebogens eigene Defmitionen dazu. Zur aktiven Sterbehilfe fmdet sich die folgende Definition: „Bewusste Herbeifuhrung des Todes durch gezielte medizinische MaBnahme". Die Formulierung „gezielte medizinische MaBnahme" lasst verschiedene Interpretationen zu. Es ist vorstellbar, dass die Befragten damit sowohl die Begrenzung lebenserhaltender MaBnahmen (passive Sterbehilfe) als auch die Verabreichung todlicher Medikamente (aktive Sterbehilfe) in Zusammenhang bringen. Die auf diese Weise erfasste „aktive Sterbehilfe" wird gemaB den Befragungsergebnissen denn auch stark befurwortet. So lautete die Rangfolge der hypothetischen personlichen Inanspruchnahme: passive Sterbehilfe 26%, aktive Sterbehilfe 21%, indirekte Sterbehilfe 13%) und Beihilfe zum Suizid 6% (Schroder et al., 2003). Fasst man die in den Studien verwendeten Operationalisierungen genauer ins Auge, zeigt sich im Weiteren, dass die jeweils gelieferten Definitionen der Sterbehilfeformen unterschiedHche Dimensionen (wie z.B. Person, welche die
Sterbehilfeentscheidung fallt, Gesundheitszustand, Lebenserwartung etc.) berucksichtigen. Da diese Dimensionen das AusmaB der Zustimmung zur Sterbehilfe beeinflussen und sie nicht explizit zur Anwendung kommen, kann ihr Einfluss auf die Zustimmung zur Sterbehilfe nicht kontrolliert werden. So wird beispielsweise zumeist lediglich bei der aktiven Sterbehilfe danach unterschieden, ob die Sterbehilfe auf Verlangen oder ohne Verlangen des Patienten bzw. der Patientin erfolgt, wahrend bei den librigen Sterbehilfeformen diese Unterscheidung nicht vorgenommen wird. Da verschiedene Studienergebnisse zeigen, dass der Sterbehilfe starker zugestimmt wird, falls ein Patientenwunsch vorhanden ist (z.B, Onwuteaka-Philipsen, Fischer, Cartwright et al., 2006), dlirfte die uneinheitliche Berucksichtigung dieser Dimension („locus of decision") die Ergebnisse maBgeblich beeinflussen. Neben den beiden von Rogers erwahnten Dimensionen „locus of decision" und „locus of action" sind weitere Aspekte bzw. Dimensionen zu berucksichtigen. Meines Erachtens sind die gebrauchlichen Sterbehilfeformen hauptsachlich durch folgende Dimensionen gepragt: die Person des Handekiden (die Person selbst, Arzt/Arztin, Angehorige oder andere Personen), die Person, welche die Entscheidung fallt (die Person selbst, Arzt/Arztin, Angehorige oder andere Personen), die Art der Handlung (der Verzicht auf oder Abbruch von lebensverlangemden MaBnahmen, die Verabreichung, Verschreibung oder das Bereitstellen von todlichen Medikamenten), die Wahrscheinlichkeit, dass die Handlung zum Tode fuhrt, die Entscheidungsfahigkeit (die Person kann vollumfanglich oder teilweise entscheidungsfahig oder iiberhaupt nicht entscheidungsfahig sein) sowie der Gesundheitszustand bzw. die Prognose. SchlieBlich ist, sofem die termin a l tiefe Sedierung ebenfalls als Sterbehilfeform betrachtet wird, die Art des Todes zu spezifizieren (physischer und sozialer Tod). Bis heute existieren meines Wissens keine validen, reliablen und objektiven Skalen zur Messung der Einstellungen zu den verschiedenen Sterbehilfeformen, die die wichtigsten Dimensionen berticksichtigen. Ende der 70er Jahre stellten Tordella und Neutens (1979) fest, dass ein valides, rehables und objektives Instrument zur Messung der Einstellungen gegenUber der Sterbehilfe fehlt, und entwickelten die „Euthanasia Attitude Scale" (EAS), welche 21 Items umfasst. Dieses Instrument wurde erst Ende der 90er Jahre von Rogers (1996) zur „Euthanasia Attitude Scale Revised" (EAS-R) weiterentwickelt. Leider fmden die konzeptuellen Unterscheidungen von Rogers in den Items keine Berucksichtigung. Die Skala umfasst Items wie „Euthanasia should be accepted in todays' society" oder „Euthanasia gives a person a chance to die with dignity". Nicht berlicksichtigt wird in den Items, ob die Entscheidung bzw. die Handlung bei der betroffenen Person selbst oder bei anderen Personen liegt. Problematisch ist femer, dass nach der Zustimmung zur Sterbehilfe (euthanasia) gefragt wird, eine
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Definition des Begriffs „euthanasia" aber fehlt. Ebenso fehlt eine Unterscheidung verschiedener Formen der Sterbehilfe (aktive und passive Sterbehilfe sowie Suizidbeihilfe), obwohl Rogers eine solche Differenzierung in seinem Konzept vorgenommen hat. Die EAS-R-Skala von Rogers (1996) eignet sich somit nicht als Grundlage von Befragungen, die darauf abzielen festzustellen, in welchem MaB die unterschiedlichen Formen der Sterbehilfe von bestimmten sozialen Gruppen beflirwortet werden (Seibert, Ochsmann, Feith & Klein, 1999). In Arztlnnen-Studien werden sehr oft nur eine oder zwei Sterbehilfeformen gleichzeitig erfasst. Studien, die Arztinnen und Arzte zu alien verschiedenen Sterbehilfeformen gleichzeitig befragen und somit einen Vergleich des Grads der Zustimmung zu den verschiedenen Sterbehilfeformen im gleichen Befragungskontext ermoglichen, sind bisher kaum durchgefuhrt worden. Ausnahmen bilden beispielsweise die Studien von Miccinesi et al. (2005), Onwuteaka et al. (2006) sowie Miiller-Busch et al. (2003). In Todesfall-Studien werden alle Sterbehilfeformen gleichzeitig untersucht, wobei im Fragebogen nicht die traditionellen Sterbehilfebegriffe als solche, sondem entsprechende Umschreibungen verwendet werden. Die verschiedenen Sterbehilfeformen werden durch folgende Fragen operationalisiert: a.
b.
c.
Verzichteten Sie oder ein anderer Arzt auf eine Behandlung und/oder wurde eine Behandlung abgebrochen, wobei wahrscheinlich oder sicher davon ausgegangen werden musste, dass diese Handlung(en) den Todeseintritt beschleunigen wurde(n)? Haben Sie oder ein anderer Arzt die medikamentose Schmerz- und/oder Symptomlinderung intensiviert, wobei Sie in Kauf nehmen mussten, dass dies moglicherweise oder sicher den Todeseintritt beschleunigen wurde? War der Tod die Folge der Anwendung eines Medikamentes, welches von Ihnen oder einem anderen Arzt verschrieben, zur Verfixgung gestellt oder verabreicht worden war mit der ausdriicklichen Absicht, den Todeseintritt zu beschleunigen (oder den Patienten zu befahigen, sein eigenes Leben zu beenden)? Falls, ja: Wer verabreichte dieses Medikament? Wurde die Entscheidung bei dieser Handlung auf ausdriickliches Verlangen des Patienten so getroffen?
Falls die Frage (a) mit ja beantwortet wird, wird der Fall als „non-treatment decision" (passive Sterbehilfe) klassifiziert. Wenn die Frage (b) mit ja beantwortet wird, wird der Fall als „alleviation of symptoms with possible life-shortening effect" (indirekt aktive Sterbehilfe) eingeordnet. Wird die Frage (c) mit ja beantwortet, wird der Fall als „euthanasia" (aktive Sterbehilfe auf Verlangen) klassifiziert, falls das Medikament auf Verlangen des Patienten von einer anderen
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Person als dem Patienten selbst verabreicht wurde, oder als „assisted suicide" (Suizidbeihilfe) falls der Patient sich selbst das Medikament verabreichte. Alle anderen Falle, bei denen die Frage (c) mit ja beantwortet wird, werden als „ending of life without an explicit request from the patient" (aktive Sterbehilfe ohne Verlangen) eingeordnet (van der Heide et al., 2003). Wie bei den Arztlnnen-Studien wird auch hier lediglich bei der aktiven Sterbehilfe danach gefragt, ob die Sterbehilfe auf ausdriickliches Verlangen oder ohne ein solches Verlangen praktiziert wurde. Die Zuweisung der von den Arztinnen und Arzten angegebenen Handlungen zu den verschiedenen Sterbehilfeformen erfolgt nicht nach objektiven Kriterien, sondem aufgrund des subjektiven Kriteriums „Absicht" (van der Heide et al., 2003). So wird beispielsweise fLir die Qualifizierung einer Handlung als indirekt aktive Sterbehilfe lediglich berlicksichtigt, ob die Arztin bzw. der Arzt bei der Schmerz- und Symptomlinderung eine Lebensverkiirzung „in Kauf genommen hat" oder nicht; objektive Indizien fur einen allenfalls lebensverkiirzenden Effekt der Medikamentenverabreichung - wie beispielsweise die Art des verabreichten Medikamentes und die Dosis bleiben unberilcksichtigt. Eine wichtige Frage ist namlich, ob die Arztinnen und Arzte mit ihrer Annahme, dass die Medikamentenverabreichung den Tod beschleunigen konnte, richtig liegen oder nicht. Im Allgemeinen ist aufgrund der Dosierung der Schmerzmittel feststellbar, ob eine palliativmedizinische Lindemng oder eine absichtliche Lebensbeendigung vorliegt (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 2004c, S. 9). Es gibt Hinweise darauf, dass Arztinnen und Arzte den lebensverkiirzenden Effekt iiberschatzen. So zeigt die europaische Todesfall-Studie, welche die Dosis des Opioids bei denjenigen Todesfallen untersuchte, denen eine indirekt aktive Sterbehilfe - defmiert anhand der Absicht des Arztes oder der Arztin, den Tod zu beschleunigen - vorausging, dass die verabreichten Opioidmengen zumeist nicht ausreichend sind, um den Sterbeprozess zu beschleunigen. Die meisten der Patientinnen und Patienten erhielten in den letzten 24 Stunden vor dem Tod eine geringere Dosis als Equivalent zu 300mg oral verabreichtem Morphium (zwischen 83% der Falle in Belgien und 93% in Schweden) (Bilsen et al. 2006, S. 111). Dabei ist anzumerken, dass die meisten der Patientinnen und Patienten bereits vorher Opioide erhalten hatten, womit die lebensverklirzende Wirkung dieser Dosis aufgrund des physischen Gewohnungseffekts als verringert einzustufen ist. Es stellt sich bei einigen Fallen sogar die Frage, ob die Dosis genugend hoch war, um die Schmerzen und Symptome erfolgreich zu kontrollieren. Minder (2007) hat im Rahmen der Schweizerischen Todesfall-Studie ebenfalls untersucht, inwieweit die subjektiven Einschatzungen der Arztinnen und Arzte betreffend Todesbeschleunigung richtig sind oder nicht. Er konnte zeigen,
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dass zwischen der Absicht des Arztes bzw. der Arztin, in Form von indirekt aktiver oder aktiver Sterbehilfe das Leben zu verkurzen, und der Wahrscheinlichkeit, dass die dabei verabreichte Opioiddosis zum Tod fiihrt, kein statistisch signifikanter Zusammenhang besteht, ja dass die Enge des Zusammenhanges nahezu null ist (X^= 0.12; p = 0,73; Phi. 0.02). Von zehn Todesfallen, in denen Arztinnen oder Arzte mit der ausdrucklichen Absicht, den Todeseintritt der Patientin bzw. des Patienten zu beschleunigen, Morphin verabreichten - was von den Autorinnen und Autoren der europaischen Todesfall-Studie als aktive Sterbehilfe gewertet wurde (van der Heide et al., 2003) -, war ledighch in einem einzigen dieser Falle die Morphiumdosis so hoch, dass sie offensichtlich zu einer Beschleunigung des Todeseintrittes fiihrte; in fiinf Fallen war die Dosis sogar so tief, dass ein lebensverkiirzender Effekt ausgeschlossen werden konnte. Von denjenigen Todesfallen, die aufgrund der Absicht des Arztes bzw. der Arztin als indirekt aktive Sterbehilfe beurteilt wurden (Todesbeschleunigung „in Kauf genommen"), war in 44% der Falle aufgrund der verabreichten Dosis eine Lebensverkurzung ausgeschlossen, in 53% war eine Lebensverklirzung moglich und nur bei 3% eine Lebensverklirzung sicher (Minder, 2007). Die Ergebnisse von Minder (2007) sowie Bilsen et al. (2006) weisen darauf hin, dass die „Absicht" kein geeignetes Kriterium zur Erfassung der aktiven und indirekt aktiven Sterbehilfe ist. Femer zeigen die Resultate, dass der Wissensstand der Arztinnen und Arzte in Bezug auf einen lebensverklirzenden Effekt von Opioiden sowie in Bezug auf adaquate Schmerz- und Symptomlinderung unzureichend ist (vgl. policy considerations der WHO, 2004). Inwieweit die subjektiven Einschatzungen der Arztinnen und Arzte betreffend Todesbeschleunigung bei der passiven Sterbehilfe (= Abbruch von oder Verzicht auf lebenserhaltende MaBnahmen) richtig sind oder nicht, bleibt offen.
2.3.3 Zustimmung zur Sterbehilfe („ Arztlnnen-Studien ") „ArztInnen-Studien" beschranken sich zumeist auf die Erfassung von Einstellungen oder Verhaltensabsichten. Die Einstellungen und Verhaltensabsichten werden vielfach mittels einer einzigen Frage oder mittels Fallbeispielen erhoben, d.h. es wird eine spezifische Situation eines Patienten oder einer Patientin geschildert und die Arztinnen und Arzte werden nach ihrer Bereitschaft gefragt, in diesem spezifischen Fall Sterbehilfe zu praktizieren. Das folgende Fallbeispiel aus der Studie von Dlubis-Dach und Glogner (2001), in der auf Intensivstationen arbeitende Arztinnen und Arzte nach ihrer Absicht, verschiedene lebenserhaltende MaBnahmen durchzufuhren, befragt wurden, soil der Veranschaulichung dieser Erhebungsart dienen:
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Ein 35-jahriger Patient mit athyltoxischer Lebercirrhose befindet sich seit sechs Wochen wegen akuter Aortenklappenendokarditis mit Aorteninsuffizienz, rezidivierenden Blutungen im Nasenrachenraum bei Gerinnungsstomngen (insgesamt bereits Gabe von zwanzig Erythrozytenkonzentraten) sowie initialem Alkoholentzugsdelir auf der Intensivstation. Nun nach erstmaligem Krampfanfall Somnolenz, Meningismus und respiratorische Insuffizienz (Dlubis-Dach & Glogner, 2001, S. 78). In der Ergebnispublikation begriinden weder Dlubis-Dach und Glogner noch andere Forschende, die Fallbeispiele verwenden, die Auswahl der gebrauchten Fallbeispiele mit deren spezifischen Merkmalen. Es bleibt somit offen, ob die geschilderte Situation fur den interessierenden Realitatsbereich typisch ist oder nicht. Zudem fragt sich, ob sich die auf diese Art gewonnenen Ergebnisse auf andere Situationen ubertragen lassen und ob es tatsachlich die die Fallbeispiele charakterisierenden Merkmale sind, die das Sterbehilfeverhalten von Arztinnen und Arzten entscheidend beeinflussen. Die geschilderten Fallbeispiele konnen jedoch als Hinw^eis darauf gedeutet werden, dass Arztinnen und Arzte in ihrer praktischen Tatigkeit mit sehr komplexen Krankheitsbildern konfrontiert werden. Im Zusammenhang mit den Einstellungen und Verhaltensabsichten von Arztinnen und Arzten zur Sterbehilfe stellt sich im Ubrigen auch die Frage, v^elcher Zusammenhang zwischen Einstellung bzw. Verhaltensabsicht und dem tatsachlichen Verhalten besteht. Aus anderen Forschungsbereichen ist bekannt, dass Einstellungen das Verhalten zwar maBgeblich beeinflussen, dass aber das tatsachliche Verhalten auch sehr stark von situationellen Faktoren bestimmt wird. Um anhand der erhobenen Einstellungen bzw. Verhaltensabsichten Voraussagen zum Sterbehilfeverhalten von Arztinnen und Arzten machen zu konnen, ist es daher von Bedeutung, dass bei der Erfassung der entsprechenden Daten diejenigen situationellen Umstande geschildert werden, die fur den interessierenden Realitatsbereich reprasentativ und von Bedeutung sind. In „ArztInnen-Studien" werden sehr oft nur eine oder zwei Sterbehilfeformen gleichzeitig erfasst. Falls zwei Sterbehilfeformen erforscht werden, wird zumeist die Befiirwortung der Suizidbeihilfe (=Verschreiben oder ZurVerfiigung-Stellen von todlichen Medikamenten) mit derjenigen der aktiven Sterbehilfe (=Verabreichen von todlichen Medikamenten) verglichen (Anderson & Caddell, 1993; Bachman et al., 1996; Back, Wallace, Starks & Pearlman, 1996; Cohen, Fihn, Boyko, Jonsen & Wood, 1994; Di Mola et al., 1996; Doukas, Waterhouse, Gorenflo & Seid, 1995; Emanuel, Fairclough, Daniels & Clarridge, 1996; Ganzini, Fenn, Lee, Heintz & Bloom, 1996; Grassi, Magnani & Ercolani, 1999; Haverkate et al., 2000; Jorgenson & Neubecker, 1980/81; Kuhse & Singer, 1988; Lee et al., 1996; MacDonald, 1998; Diane E. Meier et al, 1998; Muller, Onwuteaka-Philipsen, Kriegsman & van der Wal, 1996; Portenoy et al, 1997; 94
Slome, Mitchell, Charlebois, Benevedes & Abrams, 1997; Suarez, Belzile & Bruera, 1997). Fasst man diese Untersuchungsergebnisse zusammen, zeigt sich, dass Arztinnen und Arzte die Suizidbeihilfe starker befurworten als die aktive Sterbehilfe (z.B. Emanuel, 2002). Was den jeweiligen Anteil der zustimmenden Arztinnen und Arzte betrifft, kommen jedoch die verschiedenen Studien zu teilweise stark differierenden Resultaten. So stimmen beispielsweise in der Studie von Fried et al. (1993) 1% der Arztinnen und Arzte der aktiven Sterbehilfe und 9% der Suizidbeihilfe zu, wahrend in der Studie von Emanuel et al. (1996) 23% die aktive Sterbehilfe und 46% die Suizidbeihilfe befurworten. Die Antworten hangen u.a. von den geschilderten Umstanden ab. So wird die Sterbehilfe deutlich starker befurwortet, wenn der terminate Patient unter Schmerzen leidet, die sich nicht adaquat kontrollieren lassen, als wenn er keine Schmerzen hat, aber Sterbehilfe beanspruchen will, weil er das Leben als sinnlos betrachtet oder die Familie nicht langer belasten will (Emanuel et al., 1996). Zahlreiche Studien wurden uberdies zum Behandlungsabbruch bzw. Verzicht auf lebenserhaltende MaBnahmen durchgefuhrt, wobei nach unterschiedlichen Behandlungsarten (wie z.B. kunsthche Beatmung) gefragt wurde (Asch & Christakis, 1996; Bailey et al., 2003; Dlubis-Dach & Glogner, 2001; Esteban et al., 2001; HaUiday & Witteck, 2002; Hanson, Danis, Mutran & Keenan, 1994; Keenan et al., 1997; Prendergast & Luce, 1997; Smedira, Bradley, Grais & al., 1990; Wall & Partridge, 1997; Wood & Martin, 1995). Wie bei den Untersuchungen zur aktiven Sterbehilfe und Suizidbeihilfe zeigen sich auch hier zwischen den verschiedenen Studienergebnissen erhebliche Unterschiede. So liegt der Anteil der Zustimmung zur passiven Sterbehilfe zwischen 13% (Hinkka, 2001) und 97% (Miccinesi et al, 2005). Die Antworten hangen hauptsachhch von der verwendeten Stichprobe (Fachgebiet, Land bzw. Region etc.), von der geschilderten Situation sowie von der Behandlungsart, nach der gefragt wird, ab. Hinsichtlich der Behandlungsarten zeigen die Ergebnisse von Hinkka (2001), Christakis und Asch (1993) sowie Asch et al. (1999), dass Arztinnen und Arzte bedeutend seltener auf Fliissigkeits- oder Nahrungszufuhr verzichten wiirden als auf andere Behandlungsarten. Ein groBer Anteil der Arztinnen und Arzte wurde auf eine Bluttransfusion, eine Thrombose-Prophylaxe, eine kiinstliche Beatmung oder eine Antibiotikabehandlung verzichten (82%, 81%, 79% und 60%), aber nur eine Minderheit auf eine kiinstliche Fliissigkeits- oder erganzende Sauerstoffzuflihr (29% bzw. 13%) (Hinkka 2001, S. 50). Zur indirekt aktiven Sterbehilfe liegen bisher kaum Studienergebnisse vor. Die vorhandenen Daten zeigen, dass die Mehrheit der Befragten diese Sterbehilfeform befurwortet (Brown, Thompson & Prentice, 1998; Groenewoud, 2002a; Miccinesi et al., 2005; Burdette, Hill & Moulton, 2005).
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Arztinnen-Studien, in denen die Einstellungen zu alien verschiedenen Sterbehilfeformen gleichzeitig untersucht wurden, fehlen weitgehend. Eine Ausnahme bildet dabei die Studie von Miccinesi et al. (2005). Die Ergebnisse, zu denen Miccinesi et al. (2005) im Rahmen der Arztlnnen-Studie des europaischen Sterbehilfeprojektes „Medical end-of-life decisions" in sechs europaischen Landem sowie Australien kamen, zeigen eine sehr starke BefLirwortung der indirekt aktiven Sterbehilfe (Frage: „Wenn notig, sollte ein terminal kranker Patient Medikamente zur Schmerz- und Leidenslinderung erhalten, selbst wenn diese Medikamente den Todeseintritt des Patienten beschleunigen konnen." Zustimmung zwischen 91% in Italien und 99% in Holland) sowie der passiven Sterbehilfe. Dabei fallt die Zustimmung bedeutend hoher aus, falls ein Patientenverlangen vorliegt (Frage: „Arzte sollten dem Verlangen eines Patienten nachkommen, auf eine lebenserhaltende Behandlung zu verzichten oder diese abzubrechen." Zustimmung zwischen 62%) in Italien und 97%o in Danemark) als wenn kein solches Verlangen vorliegt und die Angehorigen danach verlangen (Frage: „Wenn ein Patient nicht urteilsfahig ist, sollten die Angehorigen uber den Verzicht auf resp. den Abbruch von lebenserhaltenden Behandlungen entscheiden durfen." Zustimmung zwischen 33%o in Italien und 64%o in Austrahen). Die Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe auf Verlangen und zur Suizidbeihilfe liegt zwischen 35% (Schweden) und 78%) (Belgien) (Frage: „Die Anwendung von Medikamenten in todlichen Dosierungen auf ausdriickliches Verlangen des Patienten ist bei terminal Kranken mit extremen, unkontrollierbaren Schmerzen oder anderen Leiden akzeptabel."), wahrend bei einer nicht entscheidungsfahigen Patientin bzw. einem nicht entscheidungsfahigem Patienten zwischen 18% (Schweden) und 45% (Belgien) der Arztinnen und Arzten die aktive Sterbehilfe befurworten (Frage: „Falls ein terminal kranker Patient unertraglich leidet und nicht fahig ist, Entscheidungen zu treffen, dann sollte der Arzt Medikamente in todlichen Dosierungen verabreichen dUrfen.") (Miccinesi et al., 2005). Kritisch anzumerken ist hinsichtlich der verwendeten OperationaHsierung, dass nicht bei alien Fragen dieselben Dimensionen („terminale Erkrankung", „unkontrollierbare Schmerzen" etc.) erwahnt wurden. Es bleibt off en, inwieweit diese Unterschiede die Antworten der Arztinnen und Arzte beeinflussten. Fiir die Schweiz zeigen die im Rahmen dieser europaischen Studie gewonnenen Ergebnisse, dass die groBe Mehrheit der befragten Arztinnen und Arzte der passiven sowie der indirekt aktiven Sterbehilfe zustimmt. Rund die Halfte der Befragten akzeptiert die Suizidbeihilfe sowie die aktive Sterbehilfe auf Verlangen eines Patienten, der unter starken unkontrollierbaren Schmerzen leidet. Ungefahr ein Drittel der Befragten stimmt der aktiven Sterbehilfe ohne Verlangen eines terminal erkrankten Patienten zu, der unertraglich leidet und nicht mehr fahig ist, Entscheidungen zu treffen (Fischer et al, 2006b).
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Die vorhandenen Studienergebnisse weisen darauf bin, dass der Anteil der der Sterbebilfe zustimmenden Arztinnen und Arzte davon abbangt, ob nach Einstellungen, Verhaltensabsichten oder tatsachlichem Verhalten gefragt wird. Die Bereitschaft, selber Sterbebilfe zu praktizieren, ist deutHch geringer als die allgemeine Akzeptanz der Sterbebilfe; am tiefsten liegt die Quote bei der von Arztinnen und Arzten tatsacblicb praktizierten Sterbebilfe (Miccinesi et al., 2005; Scbroder et al., 2003; van der Heide et al, 2003).
2.3.4 Hdufigkeit der Sterbehilfe („ Todesfall-Studien'') Anhand der europaischen Todesfall-Studie lasst sicb fiir sechs Lander (Holland, Belgien, Danemark, Scbweden, Italien und die Scbweiz) aufzeigen, wie haufig Todesfallen Sterbebilfe vorausgebt und welche Sterbebilfeform dabei praktiziert wird. Es sind somit zum ersten Mai Internationale Vergleicbe zur Haufigkeit von Sterbehilfe moglicb, und zwar anhand von reprasentativen groBen Stichproben von Todesfallen (van der Heide et al., 2003; Bosshard et al, 2005b; Miccinesi et al., 2006). Solche Angaben zu konkreten Todesfallen lagen bis zur Durchfuhrung dieses europaischen Projekts nur fiir Holland und Belgien vor (Deliens et al., 2000; van der Maas et al., 1991; van der Maas et al., 1996). Neben Aussagen zur Haufigkeit der Sterbehilfe ermoglichen die europaischen Daten zudem genauere Erkenntnisse zur praktizierten Sterbehilfe. So lasst sicb in Bezug auf verabreichte todliche Medikamente die Art, Dosis sowie der Verabreichungsmodus eruieren; hinsichtlich der Begrenzung von lebenserhaltenden MaBnahmen kann gezeigt werden, welche Behandlungsart betroffen ist und ob die Behandlung abgebrochen oder unterlassen wurde. Keine Aussagen erlaubt dagegen die Studie dartiber, wie oft Behandlungen bis zum Tode weitergeftibrt wurden und um welche Behandlungsarten es sicb dabei handelte. Ebenso offen bleibt die Frage, ob der Zeitpunkt eines Behandlungsabbruchs bzw. -verzichts von den Beteiligten als passend wahrgenommen wird oder nicht. In verschiedenen Studien zeigt sicb beispielsweise, dass die Pflegenden lebenserhaltende MaBnahmen oft fruher als die Arztinnen und Arzte aufgeben mochten und der Ansicht sind, dass Arztinnen und Arzte zu lange „noch alles versuchen" (Streckeisen, 2001, S. 138). Im Folgenden werden die Ergebnisse der europaischen Todesfall-Studie vorgestellt. Erklarungen fiir die vorhandenen Landerunterschiede kommen erst im nachstfolgenden Unterkapitel, in dem die Determinanten der Sterbehilfe diskutiert werden, zur Sprache. In alien sechs Landern, in denen bisher Todesfall-Studien durchgefLihrt wurden (Holland, Belgien, Danemark, Italien, Scbweden, Schweiz), ereignete sicb - gemaB Angaben des behandelnden Arztes beziehungsweise der behan-
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delnden Arztin - rund jeder dritte Todesfall plotzlich und unerwartet, d.h. bei diesen Fallen stand gar nicht zur Debatte, ob eine Form der Sterbehilfe zur Anwendung kommen sollte oder nicht. Der Anteil der Todesfalle, denen gemaB Angaben der behandelnden Arztinnen und Arzte eine Sterbehilfe vorausging, variierte zwischen den sechs Landem betrachtlich (zwischen 23% und 51%) (van der Heide et al., 2003). Sterbehilfe wurde mit rund 51%) aller Todesfalle am haufigsten in der Schweiz praktiziert, gefolgt von Holland, Danemark und Belgien. Die tiefsten Prozentsatze fmden sich in Schweden (36%) und in Italien (23%)) (siehe Abbildung 3). Von den verschiedenen Sterbehilfeformen wurden am haufigsten passive und indirekt aktive Sterbehilfe praktiziert, Suizidbeihilfe und aktive Sterbehilfe mit und ohne Verlangen waren bedeutend seltener (van der Heide et al., 2003) (Abbildung 3). Im Folgenden wird auf die Ergebnisse zu den einzebien Sterbehilfeformen detaiUierter eingegangen. Passive Sterbehilfe Die beschriebenen groBen Landerunterschiede basieren hauptsachlich auf Haufigkeitsunterschieden bei der passiven Sterbehilfe. Passive Sterbehilfe wurde mit einem Anteil von 28%) aller Todesfalle am haufigsten in der deutschsprachigen Schweiz und mit 4%o am seltensten in den vier Regionen Norditaliens durchgefiihrt. In den ubrigen Landem liegt der Prozentsatz zwischen 14% und 20%) (van der Heide et al., 2003, S. 347) (Abbildung 3). Bei der passiven Sterbehilfe handelt es sich in alien der sechs untersuchten Landem am haufigsten um einen Verzicht auf eine medikamentose Behandlung beziehungsweise um den Abbmch einer solchen - wie zum Beispiel einer Behandlung mit Antibiotika oder Arzneimitteln, welche auf das kardiovaskulare System oder das Atmungssystem einwirken - (in alien Landem insgesamt 44% aller passiven Sterbehilfefalle). Am zweithaufigsten erfolgte der Verzicht auf beziehungsweise der Abbruch von Fltissigkeits- und Nahmngszufuhr (22%). Deutlich seltener betroffen waren die Ubrigen Behandlungsarten wie Chemo- oder Radiotherapie (6%)); Intubation oder maschinelle Beatmung (6%), chimrgische Interventionen (6%)), Dialysen (3%) und weitere Formen wie Bluttransfusionen, diagnostische Verfahren, Hospitahsationen u.a. (insgesamt 15%) (Bosshard et al., 2005b). In alien der sechs untersuchten Landem wurden Behandlungen haufiger unterlassen als abgebrochen (Verhaltnis Verzicht: Abbmch in alien Landem insgesamt = 60 : 40) (Bosshard etal, 2005b).
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Indirekt aktive Sterbehilfe Bei der indirekt aktiven Sterbehilfe ist die Streuung zwischen den einzelnen Landem deutlich geringer als bei der passiven Sterbehilfe. Der Prozentsatz war in Danemark am hochsten (26%) und am tiefsten in Italien (19%); in der Schweiz lag er bei 22%) (van der Heide et al., 2003, S. 347) (Abbildung 3). Da diese Haufigkeitsangaben auf der subjektiven Einschatzung der Arztinnen und Arzte beruhen, sich aber in den Studien von Bilsen (2006) sowie Minder (2007) gezeigt hat, dass anhand des subjektiven Kriteriums „Absicht" die tatsachliche Lebensverkiirzung iiberschatzt wird, ist davon auszugehen, dass eine tatsachliche Lebensverktirzung durch den Einsatz von Medikamenten zur Schmerz- und Symptomkontrolle in den einzelnen Landem wohl eher zwischen 10% bis 15% als zwischen 19% und 26% hegt. Suizidbeihilfe und aktive Sterbehilfe Bedeutend seltener als passive und indirekt aktive Sterbehilfe wurden Suizidbeihilfe und aktive Sterbehilfe praktiziert. Betrachtet man diese beiden Sterbehilfeformen zusammengefasst, so ist der Anteil in Holland am hochsten (3%), gefolgt von Belgien (1.8%)). Am tiefsten hegt die Quote in Italien und Schweden (0.1%) und 0.2%o). Die Schweiz Hegt mit 1% im mittleren Bereich (van der Heide et al., 2003, S. 347) (Abbildung 3).
Abbildung 3: Haufigkeit der verschiedenen Sterbehilfeformen; Quelle: van der Heide et al. 2003
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Nachfolgend werden die Suizidbeihilfe sowie die aktive Sterbehilfe getrennt betrachtet (Abbildung 4).
B Suizidbeihilfe H aktive Sterbehilfe m.V. • aktive SterbehUfe o.V.
S
I
Abbildung 4. Haufigkeit der Suizidbeihilfe und der aktiven Sterbehilfe; Quelle: van der Heide et al. 2003 Suizidbeihilfe war mit 0.4% aller Todesfalle unter alien der sechs untersuchten europaischen Lander in der Schweiz am haufigsten. In der Schweiz wurde die Suizidbeihilfe in 92% der Falle von einer Sterbehilfeorganisation durchgefiihrt. Die anderen Lander kennen den Einbezug von Sterbehilfeorganisation in der Form, wie sie sich in der Schweiz herausgebildet hat, nicht. Kein einziger Fall von Suizidbeihilfe wurde in Schweden und Italien erfasst. Aktive Sterbehilfe wurde am haufigsten in Holland (3.2%) und Belgien (1.8%o) geleistet. Die Schweiz lag hier im mittleren Bereich (1%) (van der Heide et al., 2003, S. 347). Die meisten Falle aktiver Sterbehilfe in Holland waren als aktive Sterbehilfe auf Verlangen deklariert (2.6% aller Todesfalle), wahrend in den iibrigen Landem aktive Sterbehilfe, sofem sie uberhaupt geleistet wurde, haufiger ohne ausdriickliches Verlangen der Patientin bzw. des Patienten erfolgte (Abbildung 4). Wie bereits in Bezug auf die indirekt aktive Sterbehilfe festgestellt, zeigt sich auch bei der aktiven Sterbehilfe, dass die Arztinnen und Arzte die tatsachliche Lebensverkiirzung durch die Verabreichung von Medikamenten iiberschatzen und eine Lebensverkiirzung wohl eher nur bei rund der Halfte der Falle, in denen nach Angaben der Arztinnen und Arzte die Medikamentenverabreichung zum Tode ftihrte, wahrscheinlich ist (Minder, 2007). Wie die Ergebnisse einer Studie zur Suizidbeihilfe des Institutes fur Rechtsmedizin der Universitat Zurich zeigen, diirfte die eruierte Haufigkeit bei der Suizidbeihilfe dagegen fur die Schweiz zutreffend sein (Bosshard et al., 2003).
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Terminale tiefe Sedierung Im Rahmen der europaischen Todesfall-Studie wurde auch die Haufigkeit der tiefen terminalen Sedierung erhoben (Miccinesi et al., 2006). Terminale tiefe Sedierung wurde mit 9% aller Todesfalle am haufigsten in den vier Regionen Norditaliens durchgefuhrt und mit 3% am seltensten in Danemark und Schweden. In den ubrigen Landem liegt der Prozentsatz zwischen 5% und 8%. In der deutschsprachigen Schweiz wurde in 5% aller Todesfalle der Patient in tiefe terminale Sedierung versetzt. Damit kam diese Sterbehilfeform bedeutend seltener zur Anwendung als die passive und indirekt aktive Sterbehilfe.
2.3.5 Determinanten und Merkmale der Sterbehilfe Die Ergebnisse der Studien lassen sich nicht ohne weiteres vergleichen, weil die Untersuchungen die Sterbehilfe unterschiedlich operationalisieren, unterschiedliche Einflussfaktoren berucksichtigen und auf unterschiedliche Stichproben hinsichtlich Fachgebiet (wie z.B. Onkologie, Innere Medizin, Allgemeinmedizin) Oder Patientengruppe (wie z.B. Patienten auf Intensivstationen, Krebserkrankte) basieren. Die vorliegenden Studienergebnisse werden dennoch - so weit wie moglich - im Folgenden zusammengefasst dargestellt. In den quantitativen Studien, die sich auf Arztlnnen-Stichproben stiitzten, wurden als potentielle Determinanten der Sterbehilfe hauptsachlich Arztmerkmale (Alter, Arbeitserfahrung (in Jahren), Geschlecht, Religion so wie Spezialgebiet) sowie teilweise situational Umstande (Schmerzen, Lebenserwartung etc.) analysiert. Todesfall-Studien konzentrierten sich dagegen ausschlieBlich auf Patientenmerkmale (Sterbeort, Todesursache, Alter sowie Geschlecht). Femer wurden sowohl in intemationalen Arztlnnen- als auch in Todesfall-Studien Landerunterschiede erforscht.
Arztmerkmale Geschlecht Geschlechtsunterschiede lieBen sich in den Studien haufig nicht nachweisen (z.B. Cuttini et al. 2000; Lee et al., 1996; Portenoy et al., 1997). Falls jedoch Unterschiede vorhanden sind, dann zeigen sie sich zumeist dahingehend, dass Arztinnen die Sterbehilfe starker verurteilen als ihre mannlichen Kollegen. So lehnen Arztinnen die aktive Sterbehilfe sowie die Suizidbeihilfe starker ab als
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Arzte (z.B. Hinkka, 2001; Meier et al, 1998; Miccinesi et al., 2005). In der Studie von Meier et al. (1998) beispielsweise gaben Arzte funf mal haufiger als Arztinnen an, einem Patientenwunsch nach Suizidbeihilfe schon einmal entsprochen zu haben. Im Zusammenhang mit der passiven Sterbehilfe zeigen viele Studien, dass Arztinnen seltener auf Behandlungen verzichten als Arzte (Mebane et al., 1999; Waddel, Clamette, Smith, Oldham & Kellehear, 1996), d.h. seltener passive Sterbehilfe praktizieren als ihre mannlichen Kollegen. Es sind allerdings auch Studien vorhanden, die diesbeziighch keine Geschlechtsunterschiede nachweisen (Christakis & Asch, 1995) bzw. erkennen lassen, dass je nach Behandlungsart unterschiedliche Zusammenhangsrichtungen zwischen Geschlecht und der Zustimmung zur Behandlungsbegrenzung vorliegen. So wurden Arztinnen zwar weniger oft als ihre mannlichen Kollegen eine Thromboseprophylaxe abbrechen und auf kiinstliche Sauerstoffzufuhr verzichten, aber sie wurden bedeutend haufiger auf Rontgen- und Laboruntersuchungen, d.h. also auf diagnostische MaBnahmen, verzichten (Hinkka et al., 2002). In Bezug auf die indirekt aktive Sterbehilfe konnten Burdette et al. (2005) keine Geschlechtsunterschiede fmden. Alter Zwischen dem Alter der Befragten und deren Einstellungen zur Sterbehilfe ist kein konsistenter Zusammenhang nachweisbar. Einige Studien geben Hinweise auf einen negativen Zusammenhang zwischen steigendem Alter der Arztin oder des Arztes und der Befurwortung von aktiver Sterbehilfe und Suizidbeihilfe (Anderson & Caddell, 1993; Portenoy et al., 1997; Shuman, Foumet, Zelhart, Roland & Estes, 1992), andere weisen auf einen positiven Zusammenhang hin (z.B. Szlezak, 1982) und wieder andere Studien haben gar keinen Zusammenhang zwischen Alter und Akzeptanz dieser beiden Sterbehilfeformen gefunden (z.B. Burdette et al., 2005; Emanuel et al., 2000). In Bezug auf die passive und die indirekt aktive Sterbehilfe sowie die terminale tiefe Sedierung zeigt sich die Tendenz, dass altere Arztinnen und Arzte diese Formen starker befurworten als jungere (Burdette, Hill & Moulton, 2005; Hinkka, 2001; Onwuteaka et al., 2004; Onwuteaka et al, 2006). Es sind allerdings auch einige Studien vorhanden, die eine andere Zusammenhangsrichtung erkennen lassen (z.B. Christakis & Asch, 1995). Eine hollandische Studie, in der Arztinnen und Arzte u.a. zu Veranderungen ihres Verhaltens bei der passiven Sterbehilfe liber die Zeit hinweg befragt wurden, zeigt, dass sich bei mehr als der Halfte der Arztinnen und Arzte das Verhalten in Bezug auf diese Sterbehilfeform im Verlaufe ihrer praktischen Tatigkeit gewandelt hat, und zwar zumeist dahingehend, dass sie zum Befragungszeit-
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punkt haufiger auf Behandlungen verzichten und dem Patientenwunsch mehr Beachtung schenkten als frtiher (Pijnenborg et al., 1995 S. 290). Aufgrund der gefiindenen Zusammenhange zwischen Alter und passiver Sterbehilfe und insbesondere aufgrund der zeitlichen Veranderungen ist zu vermuten, dass Kohorteneffekte kaum zur Erklarung dieser Ergebnisse beitragen, sondem dass bestimmte Erfahrungen, die Arztinnen und Arzte im Verlauf ihrer Berufstatigkeit gemacht haben, dazu fuhren, dass ihre Akzeptanz gegenuber der passiven Sterbehilfe wachst, was sich in einem Alterseffekt niederschlagt. Da gemaB einer Befragung von Schildmann, Herrmann, Burchardi, Schwantes und Vollmann (2004a) nur 54% der Medizinstudierenden wissen, dass die Beendigung lebenserhaltender MaBnahmen legal sein kann, konnte man den Umstand, dass jlingere Arztinnen und Arzten seltener passive Sterbehilfe praktizieren als altere, damit zu erklaren versuchen, dass Unsicherheiten in Bezug auf die Rechtslage bestehen und diese Sterbehilfe aus Angst vor Sanktionen nicht praktiziert wird. Man darf annehmen, dass die Arztinnen und Arzte im Verlaufe ihrer praktischen Tatigkeit erfahren, dass diese Sterbehilfeform legal ist bzw. ohne Sanktionen angewandt werden kann. Leider liegen bisher keine Langsschnittuntersuchungen vor, die Einstellungs- sowie Verhaltensanderungen erforschen und verlassliche Aussagen tiber die Ursachen der gefundenen Zusammenhange zulassen. Religionszugehorigkeit und Religiositat In den meisten Studien wurde einzig die Religionszugehorigkeit untersucht, wobei oft nur sehr grobe Kategorien verwendet wurden (katholisch, protestantisch, andere, keine). Selten wurde innerhalb der einzelnen Kategorien, wie z.B. jener der Protestanten, nach Subkategorien (liberale, moderate, konservative Protestanten) differenziert (Burdette, Hill & Moulton, 2005). Einige Studien erfassten zusatzlich zur Konfessionszugehorigkeit die Religiositat, was unterschiedlich operationalisiert wurde. Zum Teil wurde die „Wichtigkeit der Religion" erfragt (Cuttini et al., 2000; Miccinesi et al, 2005; Onwuteaka et al, 2006), zum Teil die „religiose Einbindung" in Form der Anzahl von Kirchenbesuchen (Burdette, Hill & Moulton, 2005) oder die Haufigkeit von Gebeten (Meier et al., 1998). Konsistent nachgewiesen werden konnte ein starker Zusammenhang zwischen der Religionszugehorigkeit und der Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe sowie zur Suizidbeihilfe. Katholiken lehnen diese beiden Sterbehilfeformen bedeutend starker ab als Protestanten (z.B. Di Mola et al., 1996; E.J. Emanuel et al., 1996; Nagi, Pugh & Lazerine, 1977/1978). Diese signifikanten Unterschiede zeigen sich auch beim tatsachlichen Verhalten. Aber auch katholische Arztinnen
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und Arzte praktizieren aktive Sterbehilfe und Suizidbeihilfe. So zeigt eine Studie, die in Australien durchgefuhrt wurde, dass 18% der befragten katholischen Arztiimen und Arzte, 25% der protestantischen und 35%) der konfessionslosen bisher diese Sterbehilfeformen angewandt batten (Baume et al, 1995). Wird die Gruppe der Protestanten differenzierter betrachtet, zeigt sich allerdings, dass die konservativen Protestanten diese Sterbehilfeformen noch starker ablehnen als die Katholiken, wahrend moderate Protestanten ahnliche Meinungen vertreten wie Katholiken. Liberale Protestanten dagegen befiirworten diese Sterbehilfeformen bedeutend haufiger als Katholiken (Burdette, Hill & Moulton, 2005). Diese Resultate deuten darauf hin, dass es wichtig ist, in weiteren Studien innerhalb der Gruppe der Katholiken und insbesondere jener der Protestanten Subkategorien zu untersuchen. Bedeutend schwacher wirkt sich die Religion auf die passive, die indirekt aktive Sterbehilfe sowie die terminale tiefe Sedierung aus als auf die aktive Sterbehilfe so wie die Suizidbeihilfe. Vielfach wurden keine oder nur schwache Zusammenhange gefunden (z.B. Onwuteaka et al., 2006). Teilweise lieBen sich jedoch auch signifikante Zusammenhange nachweisen. Katholische Arztinnen und Arzte beabsichtigen seltener als die iibrigen Arztinnen und Arzte Behandlungen abzubrechen oder auf sie zu verzichten (z.B. Christakis & Asch, 1995; Grassi, Magnani & Ercolani, 1999; Hinkka, 2002; Miccinesi et al., 2005; Vincent, 1999). In Bezug auf die indirekt aktive Sterbehilfe zeigen die Ergebnisse von Burdette et al. (2005), dass lediglich konservative Protestanten dieser Sterbehilfeform seltener zustimmen als Arztinnen und Arzte, die keiner Religion angehoren. Katholiken sov^ie moderate und liberale Protestanten und Konfessionslose antworteten in Bezug auf diese Sterbehilfeformen nicht signifikant unterschiedlich. GemaB der intemationalen Studie von Onwuteaka et al. (2006) erwies sich die Religion fiir die Einstellung zur indirekt aktiven Sterbehilfe nur in der Schweiz und fiir jene zur terminalen tiefen Sedierung nur in Australien als signifikant. In den anderen Landem (Belgien, Danemark, Holland, Italien sowie Schweden) wirkt sich die Religion gemaB der Studie nicht entscheidend auf die Einschatzung dieser beiden Sterbhilfeformen aus. Neben der Konfessionszugehorigkeit erwies sich auch die Religiositat als bedeutsam fur die Einstellungen der Arzte gegenuber der Sterbehilfe (Burdette et al., 2005; Cuttini et al., 2000; Miccinesi et al., 2005). So konnten Burdette und Kollegen (2005) mittels der Religionszugehorigkeit sowie weiterer Arzt- und Patientenmerkmale 12% der Varianz der Einstellungen gegenuber der Suizidbeihilfe erklaren, wahrend sie unter zusatzlichem Einbezug der „religiosen Einbindung" 18% der Varianz erklaren konnten. Fiir die indirekt aktive Sterbehilfe lieB sich unter Einbezug der Religiositat nur gering mehr an Varianz erklaren (10% anstatt 9%) (Burdette et al., 2005).
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Dass die Religionszugehorigkeit die Einstellung zur passiven sowie zur indirekt aktiven Sterbehilfe weniger beeinflusst als jene zur aktiven Sterbehilfe und zur Suizidbeihilfe lasst sich mit den moraltheologischen Unterscheidungen von Thomas von Aquin (1225-1274) erklaren. GemaB dem katholischen Moraltheologen ist es ein groBeres Vergehen, etwas zu tun - wie zum Beispiel ein todliches Medikament zu verabreichen (aktive Sterbehilfe) - als etwas nicht zu tun - wie zum Beispiel auf eine lebenserhaltende MaBnahme zu verzichten (passive).'^ Wahrend Ersteres als „Toten" beurteilt wird, wird Letzteres als „Sterbenlassen" bewertet. Die indirekt aktive Sterbehilfe erscheint aus dieser Perspektive als gerechtfertigt, weil der Tod als unvermeidbare Nebenerscheinungen eines beabsichtigten, moralisch guten Haupteffektes, namlich dem der Leidenslinderung, lediglich in Kauf genommen werden muss. Die gefundenen Zusammenhange zwischen der Religionszugehorigkeit bzw. der Religiositat und der Zustimmung zur Sterbehilfe lassen sich gemaB Anderson und Caddell (1993) durch den traditionellen christlichen Glauben erklaren, welcher auf den folgenden drei Vorstellungen basiert: dem Verbot „Gott zu spielen"; dem Gebot, nicht zu toten; der Annahme eines moglichen spirituellen Nutzens des Leidens. Zur Erklarung, weshalb die Ablehnung der aktiven Sterbehilfe bei Katholiken ausgepragter ist als bei Reformierten, weisen Anderson und Caddell (1993) auf Unterschiede in offiziellen Stellungnahmen zur Sterbehilfe sowie auf die unterschiedliche Bedeutung hin, die Autoritaten fiir Katholiken und Protestanten haben. Wahrend sich die katholische Kirche offiziell gegen die aktive Sterbehilfe geauBert hat und Katholiken dazu tendieren in der offiziellen Kirchenlehre den Autoritaten groBes Gewicht beizumessen, verkiindet die protestantische Kirche ihre Opposition gegen die aktive Sterbehilfe weniger stark und Protestanten betrachten das individuelle Gewissen als wichtigste Grundlage des Glaubens. In Bezug auf die groBen Unterschiede innerhalb der Gruppe der Protestanten, insbesondere jene zwischen den konservativen und den tibrigen Protestanten, verweisen Burdette et al. (2005, S. 81) darauf, dass konservative Protestanten die Kirche haufiger besuchen, die Bibel viel starker als Personen anderer Konfessionen als das Wort Gottes betrachten und sich starker der Autoritat Gottes unterwerfen. In den Augen von biblischen Literalisten steht Sterbehilfe in direktem Widerspruch zu einigen Bibelstellen - wie „du sollst nicht toten".
Thomas von Aquin (1225-1274): „Majus delictum est in faciendo quam in omittendo."
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Fachgebiet Sowohl bei den Einstellimgen als auch beim tatsachlichen Verhalten zeigen sich Unterschiede zwischen den verschiedenen Fachgebieten (z.B. Cohen et al, 1994; Meier et al., 1998; Miccinesi et al., 2005). So befurworten beispielsweise Psychiater und Gynakologen die Suizidbeihilfe und die aktive Sterbehilfe starker als Onkologen, AUgemeinpraktiker und Chirurgen (Cohen et al., 1994; Emanuel, 2002). Bin Grund dafur konnte sein, dass in der Psychiatrie und in der Gynakologie im Vergleich zu anderen Fachgebieten Arztinnen und Arzte sehr selten Kontakt mit terminal Erkrankten haben. Dass der Kontakt mit Sterbenden einen Einfluss auf die Einstellungen gegeniiber der Sterbehilfe hat, zeigen verschiedene Studien: Arztinnen und Arzte, die mehr Sterbende betreuen, sind der aktiven Sterbehilfe gegenuber skeptischer eingestellt als Arztinnen und Arzte, die weniger sterbende Patienten betreuen. Jedoch befurworten Erstere die passive sowie die indirekt aktive Sterbehilfe starker als Arztinnen und Arzte, die uber weniger Erfahrungen mit terminal Erkrankten verfiigen (Burdette et al, 2005; Hanson, Danis, Garrett & Mutran, 1996; Hinkka, 2001; Miccinesi et al, 2005). Diese Unterschiede zeigen sich auch in Bezug auf das tatsachliche Verhalten (z.B. Hanson etal., 1996). Es gibt allerdings auch Unterschiede zwischen Fachgebieten, die nicht mit der Anzahl der betreuten sterbenden Patientinnen und Patienten in Zusammenhang zu bringen sind. So stimmen chirurgische Onkologen der Suizidbeihilfe sowie der aktiven Sterbehilfe starker zu als medizinische Onkologen; Familienarzte sowie AUgemeinpraktiker starker als Internisten (Emanuel, 2002). In der Studie von Meier et al. (1998), in der amerikanische Arztinnen und Arzte aus neun verschiedenen Fachgebieten zu ihren Verhaltensabsichten als auch zu ihrem bisherigen Verhalten hinsichtlich aktiver Sterbehilfe sowie Suizidbeihilfe befragt wurden, befurworten Arztinnen und Arzte aus Pulmologie, Innerer Medizin sowie Neurologic diese beiden Sterbehilfeformen bedeutend starker als Arztinnen und Arzte aus Kardiologie, Hamatologie/Onkologie sowie Nephrologie. So beabsichtigen beispielsweise 15% der Pulmologinnen und Pulmologen, assistierten Suizid zu praktizieren, wahrend dieser Anteil bei den Kardiologinnen und Kardiologen sowie bei den Hamatologinnen/Onkologinnen und Hamatologen/Onkologen lediglich bei 9% bzw. 8% liegt. In Bezug auf das tatsachliche Verhalten zeigen sich dann jedoch geringere Unterschiede zwischen den verschiedenen Fachgebieten. So geben 5% der Pulmologen, 1% der Kardiologen und 3% der Hamatologen/Onkologen an, bisher Suizidbeihilfe geleistet zu haben. Uber mogliche Griinde fur die gefundenen Unterschiede zwischen den Fachgebieten fmden sich in den vorhandenen Studien keine Aussagen. Der Zu-
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sammenhang zwischen der Sterbehilfe und dem Facharztgebiet wiirde nur bivariat betrachtet. Es wurde nicht beriicksichtigt bzw. diskutiert, dass in den einzelnen Fachgebieten Arztinnen und Arzte arbeiten, die sich in Bezug auf verschiedene Merkmale - wie zum Beispiel das Geschlecht, technisch-operative Fahigkeiten oder Kommunikationskompetenzen - fachspezifisch unterscheiden. Ebenso bleibt in den Studien unberiicksichtigt, dass die Arztinnen und Arzte in den einzelnen Fachgebieten unterschiedlich oft mit Sterbenden konfrontiert sind und unterschiedliche Erfahrungen mitbringen, wahrend sich die Patientinnen und Patienten der einzelnen Fachgebiete in Bezug auf Erkrankungsart, Erkrankungsund Sterbeverlaufverlauf, Entscheidungsfahigkeit sowie Prognosesicherheit stark unterscheiden. So haben beispielsweise Onkologen und Geriater bedeutend mehr Sterbende zu betreuen als Arztinnen und Arzte anderer Fachgebiete (Miccinesi et al. 2005), wobei sich ihre Patientinnen und Patienten stark unterscheiden: Wahrend Onkologiepatientinnen und -patienten meist jung sowie entscheidungsfahig sind und oftmals unter starken Schmerzen leiden, handelt es sich bei geriatrischen Patientinnen und Patienten um alte bis sehr alte Menschen, die oft nicht (mehr) entscheidungsfahig sind. Auf einige Unterschiede zwischen den Fachgebieten sind Pijnenborg, van der Maas, Kardaun, Glerum, van Delden und Looman (1995) bei ihrer Untersuchung der passiven Sterbehilfe anhand einer Todesfall-Studie in Holland eingegangen. Die Ergebnisse zeigen, dass der Anteil an Todesfallen, denen eine passive Sterbehilfe vorausging, zwischen den verschiedenen Fachgebieten stark variiert (zwischen 28% und 55%). Dies hangt unter anderem damit zusammen, dass sich der Anteil der Todesfalle, die sich plotzlich ereignen und denen somit gar keine Sterbehilfe vorausgehen kann, ungleich zwischen den verschiedenen Fachgebieten verteilt (Pijnenborg et al., 1995, S. 288). So gaben Kardiologinnen und Kardiologen an, dass sich 54% all ihrer Todesfalle plotzlich und unerwartet ereigneten. Bei Allgemeinpraktikerinnen und Allgemeinpraktikern liegt der Anteil der plotzlichen Todesfalle bei 38%), wahrend er bei Nursing-home-Arztinnen und -Arzten lediglich bei 16%) Hegt. Die Resultate von Pijnenborg et al. (1995) zeigen im Weiteren, dass sich der Anteil der Todesfalle, denen eine passive Sterbehilfe vorausging, bei den nicht plotzHchen Todesfallen ebenfalls unterscheidet: 55%) bei den Chirurginnen und Chirurgen, 44%) bei Nursing-home-Arztinnen und -Arzten und 28% bei den Kardiologinnen und Kardiologen. In einigen Fachgebieten handelt es sich bei den Fallen von passiver Sterbehilfe zumeist um einen Abbruch einer Behandlung, welche bereits begonnen wurde (Kardiologinnen, Kardiologen, Chirurginnen, Chirurgen), wahrend in anderen Fachgebieten mehrheitlich auf eine Behandlung verzichtet wurde (Neurologinnen, Neurologen, Nursing-homeArztinnen und -Arzte).
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GemaB Pijnenborg et al. (1995, S. 291) diirften die Unterschiede der Anteile von passiver Sterbehilfe zwischen den Fachgebieten mit der unterschiedlichen Prognosesicherheit sowie mit der Einschatzung der Lebensqualitat zusammenhangen. Sowohl die Prognose als auch die Lebensqualitat durften fur Nursinghome-Patientinnen und -Patienten sowie Patientinnen und Patienten, die an einer neurologischen Erkrankung leiden, so schlecht sein, dass keine Verbesserung durch eine Behandlung zu erwarten ist, was den hohen Anteil der Behandlungsverzichte erklart. Bei Patientinnen und Patienten mit einer Herz- oder Kreislauferkrankung sowie bei chirurgischen Patientinnen und Patienten dtirfen die Prognose sowie die Moglichkeit, dass sich die Lebensqualitat durch eine Behandlung verbessert, schwieriger einzuschatzen sein, womit der Beginn einer Behandlung mit unsicherem Ausgang eher gerechtfertigt erscheint. Bisherige Erfahrungen mit Sterbehilfe Der Einfluss bisheriger Erfahrungen von Arztinnen und Arzten mit Sterbehilfe auf deren Einstellungen und Verhaltensabsichten wurde kaum untersucht. Eine Ausnahme bildet die Studie von Christakis und Asch (1995). Sie fmden in ihrer Untersuchung einen positiven Zusammenhang: Arztinnen und Arzte, die beabsichtigen passive Sterbehilfe zu praktizieren, geben haufiger als die ubrigen Arztinnen und Arzte an, dass sie schon passive Sterbehilfe durchgefiihrt hatten. Meines Erachtens kann dieses Ergebnis dahin gehend gedeutet werden, dass fur das Verhalten Einstellungen gegeniiber der Sterbehilfe entscheidend sind und dass diese Einstellungen liber die Zeit hinweg relativ stabil bleiben. Femer kann angenommen werden, dass die Arztinnen und Arzte mit ihrem Verhalten keine negativen Erfahrungen gemacht haben und keinen Sanktionen ausgesetzt waren (z.B. Gewissensbisse, negative Reaktionen von Angehorigen, Kolleginnen und Kollegen etc.), so dass sie nicht zogem wiirden, wieder passive Sterbehilfe zu leisten. Inwiefem dieser Zusammenhang auch fur die ubrigen Sterbehilfeformen vorhanden ist, wurde bisher nicht untersucht. Karriereerfolg Ein interessantes Ergebnis fand Hinkka (2001) in Bezug auf die Bedeutung des Karriereerfolgs der Arztinnen und Arzte fur die passive Sterbehilfe. Arztinnen und Arzte, denen der Karriereerfolg wichtig ist, brechen signifikant seltener als die anderen Arztinnen und Arzte die kixnstliche Emahrung ab, falls die Angehorigen den Wunsch auBem, dass alle moglichen lebenserhaltenden MaBnahmen ergriffen werden (Hinkka, 2001). Fiir diesen gefundenen Zusammenhang konnte - wie bereits bei jenem zwischen Alter und Sterbehilfe - die Angst vor negativen
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Sanktionen ausschlaggebend sein. Falls Arztinnen und Arzte den Wunsch der Angehorigen nicht beachten, konnten Letztere beispielsweise ein gerichtliches Verfahren gegen den Arzt in die Wege leiten, was den Karriereverlauf negativ beeinflussen diirfte. Betreuung durch eine Privatarztin oder einen Privatarzt Kollef und Ward (1999) untersuchten in einer prospektiven Kohortenstudie wahrend eines Zeitraums von funf Monaten Behandlungsabbriiche und -verzichte bei Patientinnen und Patienten auf einer Intensivstation. Ihre Ergebnisse zeigen, dass bei Patientinnen und Patienten ohne eine Privatarztin oder einen Privatarzt haufiger Behandlungen abgebrochen werden als bei Patientinnen und Patienten mit einem Privatarzt oder einer Privatarztin (81% versus 30%). Die durchgefuhrte logistische Regressionsanalyse, bei der die Schwere der Erkrankung, soziodemographische Merkmale sowie die Diagnose kontrolliert wurde, zeigt, dass das Fehlen eines privaten Arztes oder einer privaten Arztin sowie das Vorhandensein einer „do-not-resusciate order" (Nichtbeatmungsentscheid) wahrend des Aufenthaltes auf der Intensivstation die einzigen Pradiktoren fiir ein Behandlungsabbruch vor dem Tod waren. Dieses Ergebnis fuhrt zur Frage nach der Bedeutung von okonomischen Faktoren fur Entscheidungen am Lebensende.
Situations- sowie Patientenmerkmale Wunsch von Patientinnen und Patienten sowie von Angehorigen Arztinnen und Arzte werden bei Sterbehilfeentscheidungen durch die Wunsche der Patientinnen und Patienten sowie der Angehorigen beeinflusst. So konnten Onwuteaka-Philipsen et al. (2006) zeigen, dass von den untersuchten potentiellen Determinanten der arztlichen Sterbehilfeentscheidungen (Verlangen nach Sterbehilfe, Lebenserwartung, unkontrollierbare Schmerzen, Alter, Religion sowie Geschlecht des Arztes bzw. der Arztin) gegenuber einem terminalen Krebspatienten der Wunsch eines entscheidungsfahigen Patienten sowie der Wunsch eines Angehorigen eines nicht mehr entscheidungsfahigen Patienten die starksten Pradiktoren sind. Dabei ist die Bedeutung fiir die passive Sterbehilfe erheblich groBer als fur die ubrigen der untersuchten Sterbehilfeformen (indirekt aktive und aktive Sterbehilfe, terminale tiefe Sedierung), wobei sich zeigt, dass die Arztinnen und Arzte die passive Sterbehilfe deuthcher befurworten, wenn der Patient selbst danach verlangt, als wenn die Angehorigen eines nicht mehr entscheidungsfahigen Patienten einen entsprechenden Wunsch auBem (Miccinesi et al.
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2005; Onwuteaka et al., 2006). GemaB der intemationalen Arztlnnen-Studie stimmen in den sechs europaischen Landem zwischen 62% (Italien) und 97% (Danemark) der passiven Sterbehilfe zu, falls die Patientin oder der Patient danach verlangt,^"^ zwischen 52%) (Italien) und 91% (Danemark), falls ein solcher Wunsch in einer Patientenverfligimg geauBert wird,^^ und nur zwischen 33% (Italien) und 51% (Schweiz), falls bei einem nicht mehr entscheidungsfahigen Patienten die Angehorigen danach verlangen.'^ Als Grunde fiir die relativ geringe Quote der Zustimmung zur passiven Sterbehilfe auf Verlangen der Angehorigen werden Unsicherheiten der Arztinnen und Arzten in Bezug auf die Rechtslage genannt, im Weiteren der Umstand, dass Angehorige oft die Wtinsche des bzw. der Betroffenen nicht kennen. Angehorige fordem auch in hoffnungslosen Situationen, dass alles Mogliche getan wird. Dass der Appell von Angehorigen, alles Mogliche zu tun, dazu fiihrt, dass haufiger lebenserhaltende MaBnahmen ergriffen werden, konnten verschiedene Studien zeigen (Feldman, Zhang & Cummings, 1999; Hinkka, Kosunen, Metsanoja, Lammi & Kellokumpu-Lehtinen, 2002; Vincent, 1999). Verschiedentlich wurde ein Einfluss bestimmter Arztmerkmalen auf den Zusammenhang zwischen dem Wunsch der Angehorigen und den Behandlungsentscheidungen festgestellt. So war der Einfluss des Wunsches der Angehorigen bei jungen, weiblichen und religiosen Arzten sowie Onkologen besonders groB (Hinkka et al., 2002; Miccinesi et al., 2005; Vincent, 1999). Zudem zeigen sich groBe Landerunterschiede (Feldman et al., 1999; Vincent, 1999). Arztinnen und Arzte aus mediterranen Landem reagieren besonders stark auf die Anliegen der Angehorigen. In der Studie von Vincent (1999) gaben 48% der griechischen Arztinnen und Arzte an, alle lebenserhaltenden Behandlungen durchzufuhren, falls die Angehorigen dies wiinschen, wahrend es bei den skandinavischen Arztinnen und Arzten nur 2% waren. Kulturelle Unterschiede konnte auch die Studie von Feldman, Zhang und Cummings (1999) nachweisen: Chinesische Arztinnen und Arzte berticksichtigen die Wunsche von Angehorigen mehr als amerikanische Arztinnen und Arzte. Bisher fehlen Studien, welche die Determinanten der Sterbehilfe, die der Arzt bzw. die Arztin aus eigener Initiative, d.h. ohne Mitent-
'"* Die Aussage lautete: „Arzte sollten dem Verlangen eines Patienten nachkommen, auf eine lebenserhaltende Behandlung zu verzichten oder diese abzubrechen." '^ Die Aussage lautete: „Hat ein nicht mehr urteilsfahiger Patient in einer Patientenverftigung einen klar formulierten Wunsch hinsichtlich des Verzichts auf bzw. Abbruchs von lebenserhaltenden Behandlungen festgehalten, dann muss dieser Wunsch immer respektiert werden, selbst wenn dies zu einer Beschleunigung des Todeseintrittes des Patienten fiihren konnte." '^ Die Aussage lautete: „Wenn ein Patient nicht urteilsfahig ist, sollten die Angehorigen iiber den Verzicht auf resp. den Abbruch von lebenserhaltenden Behandlungen entscheiden diirfen."
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scheidung der Betroffenen (Patientin, Patient, Angehorige), durchfuhrt, untersucht. Symptome und andere Umstande sowie Todesursachen Symptome sowie weitere Umstande sind einerseits entscheidend dafur, ob Patientinnen und Patienten einen Sterbewunsch auBem, andererseits ist es ausschlaggebend, welche Symptome und Umstande vorhanden sind, damit Arztinnen und Arzte die Sterbehilfe befurworten bzw. durchfiihren oder nicht. Die meisten Studien, die den Sterbewunsch untersuchten, wurden zu Krebserkrankungen durchgefuhrt. Diese Studien zeigen, dass Krebserkrankte, die einen Sterbewunsch auBem, zumeist an einer Krebserkrankung mit Metastasen in fortgeschrittenem Stadium, unter starken Schmerzen oder anderen physischen Symptomen leiden und nur noch kurze Zeit zu leben haben (Meier et al., 2003; Virik & Glare, 2002). Aufgrund dieser Resultate konnte angenommen werden, dass Patientinnen und Patienten nur deshalb Sterbehilfe wunschen, weil die palliative Pflege nicht ausreichend ist. Studien, die auf palliativmedizinischen Stationen durchgefuhrt wurden, zeigen jedoch, dass auch bei sichergestellter palliativer Versorgung ein solcher Sterbewunsch vorkommt. So zeigen die Ergebnisse von Morita et al. (2004), dass 20% der terminal kranken Krebspatientinnen und -patienten einer Palliative Care Station einen Sterbewunsch auBerten und 10% wiinschten, dass der Tod beschleunigt werde. GemaB einer Studie von Virik und Glare (2002) verlangten von 490 Patientinnen und Patienten einer Palliative Care Station eines Krankenhauses 1.6% nach aktiver Sterbehilfe. Scale und Addington (1994) analysierten die Griinde flir einen Sterbewunsch getrennt nach Todesursache (Krebserkrankung versus iibrige Erkrankungen). Dabei ergaben sich in Bezug auf die Griinde fur einen solchen Wunsch signifikante Unterschiede zwischen den Todesursachen. So waren bei Krebserkrankten Schmerzen, psychische Symptome (geistige Verwirrung, Depression sowie Schlaflosigkeit) und Kontrollverlust (Blase, Darm, Wundliegen) die wichtigsten Griinde fiir einen Sterbewunsch, wahrend sich bei Nicht-Krebserkrankten psychische Symptome sowie Abhangigkeit (Hilfe bei der Korperpflege, Toilettengang etc.) als zentrale Motive erwiesen. Als nicht bedeutend flir einen Sterbewunsch erwiesen sich soziodemographische Merkmale wie die soziale Klasse, Religiositat und Stadt-Land Unterschiede. Da verschiedene Studien zeigen, dass die Religiositat fur Einstellungen gegeniiber der Sterbehilfe zentral sind (z.B. Miccinesi et al., 2005), konnen diese Resultate als Hinweis darauf betrachtet werden, dass fur einen Sterbewunsch situationale Umstande entscheidender sind als Einstellungen.
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Die Befurwortung der Sterbehilfe durch Arztinnen und Arzte fallt bedeutend klarer aus, wenn die Patientin oder der Patient unter unertraglichen Schmerzen leidet als wenn andere Grunde fur einen Sterbewunsch angegeben werden, wie etwa Abhangigkeit, Sinnlosigkeit des Lebens, Belastung der Familie oder Lebensmudigkeit (Emanuel et al., 1996; Haverkate et al., 2000; Willems et al, 2000). So zeigen Emanuel et al. (1996) anhand einer Befragung von amerikanischen Onkologinnen und Onkolgen, dass die Suizidbeihilfe sowie die aktive Sterbehilfe eine breitere Zustimmung erfahrt, wenn die Schmerzen der erkrankten Person unkontrollierbar sind (23% Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe, 46% zur Suizidbeihilfe), als wenn die Schmerzen kontrollierbar sind, der Patient jedoch so schwach ist, dass er dass Bett nicht verlassen und sich nicht selbst pflegen kann und daher nach Sterbehilfe verlangt (15% Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe, 36% zur Suizidbeihilfe). Bedeutend geringer fallt die Zustimmung aus, wenn als Grund fiir die Sterbehilfe die Belastung der Familie oder die Sinnlosigkeit des Lebens angegeben wird (6% Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe, 23%) bzw. 18% zur Suizidbeihilfe) (Emanuel et al., 1996). In Bezug auf die Akzeptanz der Motive „Sinnlosigkeit des Lebens" und „Belastung der Familie" als Grunde fiir den Patientenwunsch nach Sterbehilfe zeigen sich Landerunterschiede. So wird in Holland das Gefiihl der „Sinnlosigkeit des Lebens" eher als Grund fiir einen Sterbewunsch anerkannt als die „Belastung der Familie", wahrend in Amerika die Sterbehilfe starker befiirwortet wird, wenn der Patient sterben will, um der Familie nicht langer zur Last zu fallen, als wenn er keinen Sinn mehr in seinem Leben sehen kann (Willems, Daniels, van der Wal, van der Maas & Emanuel, 2000). Die Frage, weshalb Arztinnen und Arzte einem Wunsch nach aktiver Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe entsprechen oder nicht, untersuchte auch eine hollandische Studie. Es wurden 405 hollandische Arztinnen und Arzte zum letzten Fall befragt, in dem sie einen solchen Wunsch erfullten, sowie zum letzten Fall, bei dem sie einen solchen Wunsch verweigerten (Haverkate et al., 2000). Es wurden 134 „gewahrte" und 148 „verweigerte" Falle analysiert. Die Resultate zeigen, dass bei denjenigen Fallen, in denen dem Wunsch entsprochen wurde, als Grund fiir den Sterbewunsch oft unertragliches und hoffnungsloses Leiden angegeben wurde (74%o aller gewahrten Falle) und eine Krebserkrankung vorlag, wahrend bei den nicht gewahrten Fallen als Grund fiir den Sterbewunsch Lebensmiidigkeit genannt wurde (40% aller nicht gewahrten Falle). In den Fallen, in denen dem Sterbewunsch nicht entsprochen wurde, waren, verglichen mit den gewahrten Fallen, haufiger Frauen betroffen, deren Lebenserwartung auf mehr als sechs Monate geschatzt wurde und die alter als 80 Jahre alt waren (Haverkate et al., 2000). Auch andere Studien zeigen, dass die Sterbehilfe eine breitere Zustim-
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mung findet, wenn die verbleibende Lebenszeit gering ist (z.B. Emanuel et al, 1996; Seibert et al., 1999; Onwuteaka-Philipsen et al, 2006). Unertragliches Leiden und unkontrollierbare Schmerzen erweisen sich aber nicht nur fur die arztliche Befurwortung der aktiven Sterbehilfe sowie der Suizidbeihilfe als entscheidend, sondem auch fur die Befurwortung der indirekt aktiven Sterbehilfe und der tiefen terminalen Sedierung. Da Schmerzen besonders bei Krebserkrankungen auftreten, uberrascht es daher nicht, dass Personen, deren Tod eine Suizidbeihilfe, aktive Sterbehilfe, indirekt aktive Sterbehilfe oder tiefe terminale Sedierung vorausging, haufig an einer Krebserkrankung litten (van der Heide et al., 2003; Miccinesi et al, 2006). Fur die Zustimmung zur passiven Sterbehilfe sind Schmerzen nicht oder kaum von Bedeutung (Onwuteaka-Philipsen et al., 2006). Passive Sterbehilfe wird haufig bei Personen mit einer Erkrankung des Nervensystems praktiziert (Bosshard et al., 2005b; Dehens et al., 2000; Fischer, 2005; Groenewoud, 2002b; van der Heide et al., 2003), bei denen eine weitere Behandlung sinnlos erscheint, da der allgemeine Gesundheitszustand bereits so schlecht ist, dass eine Besserung nicht mehr zu erwarten ist (Pijnenborg et al., 1995). Alter und Geschlecht Suizidbeihilfe, aktive Sterbehilfe und tiefe terminale Sedierung wurden eher bei jiingeren Personen durchgefiihrt (van der Heide et al., 2003; Miccinesi et al., 2006). Das diirfte damit zusammenhangen, dass diese Personen haufiger als altere noch entscheidungsfahig und somit in der Lage sind, iiberhaupt nach diesen Sterbehilfeformen zu verlangen. Ftir die iibrigen Sterbehilfeformen erwies sich das Alter in multivariaten Analysen, d.h. unter Kontrolle der iibrigen Patientenmerkmale (Geschlecht, Todesursache, Sterbeort), als nicht bedeutend (Fischer, 2005). Das Alter der verstorbenen Person hat jedoch einen Einfluss darauf, ob bei der passiven Sterbehilfe ein Behandlungsverzicht oder ein -abbruch stattfand, Bei alteren Patientinnen und Patienten (alter als 80 Jahre) ist die Wahrscheinhchkeit signifikant groBer als bei jiingeren Patientinnen und Patienten, dass eine Behandlung gar nicht erst begonnen wird (Behandlungsverzicht), als dass sie eingeleitet und wieder abgebrochen wird (Behandlungsabbruch) (Bosshard et al., 2005b). Dies lasst sich damit erklaren, dass bei sehr alten Menschen der allgemeine Gesundheitszustand oft so schlecht ist, dass mit groBer Sicherheit davon auszugehen ist, dass eine Behandlung zu keiner Verbesserung des Gesundheitszustandes fiihrt. Bei sehr alten Menschen ist also die Prognose oft sehr schlecht, wobei keine Prognoseunsicherheiten bestehen, weshalb hier selten mit „instrumentellem Aktivismus" in Form einer Behandlung reagiert wird. Ein weiterer Grund fur den haufigeren Behandlungsverzicht bei alteren Personen im
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Vergleich zu jiingeren diirfte darin liegen, dass der Tod im hohen Alter der Normalbiographie entspricht. Das Geschlecht der Verstorbenen erwies sich - auBer in der Schweiz und in Danemark - fiir die Suizidbeihilfe und die aktive Sterbehilfe als bedeutend. Bei diesen beiden Sterbehilfeformen fallt der Frauenanteil in Belgien, Holland, Schweden sowie Italien sehr gering aus. Das heisst, in diesen Landem beanspruchten vorwiegend Manner Suizidbeihilfe und aktive Sterbehilfe. Fiir die iibrigen Sterbehilfeforaien zeigen sich keine Geschlechtsunterschiede (van der Heide et al., 2003; Fischer, 2005). Erklarungen fiir diese Geschlechtsunterschiede werden in diesen Studien nicht angefiihrt. Arbeissetting bzw. Sterbeort Der Einfluss des Arbeitssettings bzw. des Organisationstyps auf die Sterbehilfe wurde in Arztlnnen-Studien kaum untersucht. In der europaischen TodesfallStudie wurde der Sterbeort mittels der Kategorien „Spitar' und „auBerhalb Spital" analysiert. In den sechs untersuchten europaischen Landem liegt bei einer bivariaten Betrachtung, mit Ausnahme von Italien, bei den Todesfallen mit passiver Sterbehilfe der Spitalanteil hoher als bei den Todesfallen ohne Sterbehilfe (Bosshard et al., 2005b; van der Heide et al., 2003). In multivariaten Analysen, in denen der Einfluss von Patientenmerkmalen wie Todesursache, Geschlecht und Alter kontrolliert wurden, zeigten sich diese Unterschiede jedoch lediglich fur Danemark und Schweden (Fischer, 2005). Der Sterbeort hat jedoch einen Einfluss darauf, ob bei der passiven Sterbehilfe ein Behandlungsverzicht oder ein -abbruch stattfindet. Bei Patientinnen und Patienten, die auBerhalb eines Spitals versterben, ist die Wahrscheinlichkeit signifikant groBer als bei Personen, die in einem Spital versterben, dass eine Behandlung gar nicht erst begonnen wird (Behandlungsverzicht) als dass sie begonnen und zu einem spateren Zeitpunkt eingestellt wird (Behandlungsabbruch) (Bosshard et al., 2005b). Meines Erachtens lasst sich dieses Ergebnis mit den unterschiedlich ausgepragten Handlungsorientierungen von Spital- und Nicht-Spitalarztinnen und -arzten sowie mit den unterschiedlichen Organisationszielen erklaren (vgl. Streckeisen, 2001; Jaag & Russli, 2001). So haben der instrumentelle Aktivismus und das Prinzip der Heilung durch Verwundung im Spital, welches dem Ziel der Wiederherstellung von Gesundheit verpflichtet ist, mehr Gewicht als auBerhalb des Spitals. Indirekt aktive Sterbehilfe wurde zu einem gleich groBen Prozentsatz bei Personen, die im Spital verstarben, und bei solchen, die anderswo verstarben, durchgefuhrt (van der Heide et al., 2003, S. 348). Tiefe terminale Sedierung kam in alien Landem zusammengefasst betrachtet, signifikant haufiger im Spital als auBerhalb eines Spital zur Anwendung (Miccinesi et al., 2006).
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In Danemark, Holland und der Schweiz wurden Suizidbeihilfe und aktive Sterbehilfe haufiger auBerhalb als innerhalb eines Spitals durchgefiihrt (van der Heide et al., 2003, S. 348) und in Belgian fand aktive Sterbehilfe auf Verlangen und Suizidbeihilfe am haufigsten zu Hause, d.h. nicht in einer Organisation, statt (Deliens et al., 2000). Diese Ergebnisse lassen sich darauf zuriickfuhren, dass die Selbstkontrolle in Organisationen eingeschrankt ist und aktive Sterbehilfeformen dem Organisationsziel des Spitals widersprechen. Schulbildung Die Todesfall-Studie, die im flandrischen Teil Belgiens von Deliens et al. (2000) durchgefiihrt wurde, erfasste als Patientenmerkmal neben Alter, Geschlecht und Todesursache die Schulbildung. Die Ergebnisse zeigen, dass passive Sterbehilfe haufiger bei Personen mit geringer Schulbildung, und aktive Sterbehilfe auf Verlangen, Suizidbeihilfe und indirekt aktive Sterbehilfe hingegen haufiger bei Personen mit hoher Bildung durchgefuhrt wurden. Diese signifikanten unterschiedlichen Zusammenhangsrichtungen zwischen der Bildung und den Sterbehilfeformen, konnten meines Erachtens ein Hinweis darauf sein, dass hoher gebildete Personen zumeist sprachlich versierter bzw. dem Arzt hinsichtlich Kommunikationsstil ahnlicher sind und somit einerseits eher um ihren Zustand (Prognose, Lebenserwartung) wissen und andererseits ihre Wiinsche besser ausdrucken und durchsetzen konnen als Menschen mit geringer Bildung; diesen „bleibt" haufiger nur die Moglichkeit der passiven Sterbehilfe. Mit Feldmann (1997) gesprochen ist zu vermuten, dass Menschen mit weniger Bildung zuerst den sozialen Tod sterben, bevor sie physisch sterben, wahrend hoher Gebildete eher die Moglichkeit haben, den physischen Tod mit dem sozialen Tod in Ubereinstimmung zu bringen. Gesetzliche Regelung In alien der sechs europaischen Lander (Belgien, Danemark, Holland, Italien, Schweden und der Schweiz), in denen bisher Todesfall-Studien durchgefuhrt wurden, sind die passive sowie die indirekt aktive Sterbehilfe gesetzlich legal. In der Schweiz ist auBerdem die Suizidbeihilfe - sofem sie nicht aus selbstsUchtigen Beweggrunden geschieht - legal, wahrend in Holland und Belgien - unter bestimmten festgesetzten Bedingungen ~ die Suizidbeihilfe sowie die aktive Sterbehilfe auf Verlangen des Patienten bzw. der Patientin straffrei sind. Die unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen spiegeln sich weitgehend in den Haufigkeiten der verschiedenen Sterbehilfeformen wider. So werden die passive Sterbehilfe sowie die indirekt aktive Sterbehilfe verglichen mit den anderen
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Sterbehilfeformen relativ haufig praktiziert, wahrend die ubrigen Formen bedeutend seltener zur Anwendung kommen. Eine Ausnahme bildet hier jedoch Italien, wo der Anteil der Todesfalle, denen eine passive Sterbehilfe vorausging, mit 4% sehr gering ausfallt. Die aktive Sterbehilfe auf Verlangen des Patienten bzw. der Patientin erreicht in Holland und Belgien, wo diese Sterbehilfeform zum Teil nicht strafbar ist, die hochste Quote. Der groBte Anteil an Todesfallen, denen eine Suizidbeihilfe vorausging, findet sich in der Schweiz, wo diese Sterbehilfeform legal ist. Femer zeigen die Ergebnisse, dass, obwohl in alien Landem aktive Sterbehilfe ohne ausdnickliches Verlangen illegal ist, Arztinnen und Arzte in alien untersuchten Landem auch diese Sterbehilfeform in seltenen Fallen praktizieren. Diese Feststellung ist gemaB Bosshard (2006) bemerkenswert, weil noch in den 90er Jahren zur aktiven Sterbehilfe ohne Verlangen nur fur Holland Zahlen vorlagen, wobei manche Experten diese Praxis fur ein typisch hollandisches Phanomen hielten, welches in Zusammenhang mit der Billigung der aktiven Sterbehilfe auf Verlangen zu sehen sei (Keown, 1994). Kultur Vergleicht man die anhand von Todesfall-Studien eruierten Haufigkeiten der verschiedenen Sterbehilfeformen in den untersuchten Landem, so zeigen sich bei der in alien Landem legalen passiven Sterbehilfe betrachtliche Unterschiede. Besonders gering ist der Anteil der Todesfalle, denen eine solche Sterbehilfe vorausging, in Italien (Anteil passiver Sterbehilfe: 4% aller Todesfalle) und besonders hoch in der Schweiz (Anteil passiver Sterbehilfe: 28% aller Todesfalle) (van der Heide et al, 2003). Es zeigt sich, dass die Unterschiede nicht auf einzelne Behandlungsarten zuruckzufuhren sind (Bosshard et al., 2005b), sondern mutmaBlich auf kulturelle Faktoren. Die Frage, welche kulturellen Faktoren hierftir ausschlaggebend sind, wurden in den bisherigen Publikationen nicht beantwortet (van der Heide et al., 2003). Ich nehme an, dass fur den hohen Anteil an passiver Sterbehilfe in der deutschsprachigen Schweiz die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) entscheidend sind. Diese Richtlinien haben fur die Arztinnen und Arzte gesetzesahnlichen Status und die SAMW bezog schon sehr fruh klar fur die passive Sterbehilfe Stellung. In den Richtlinien von 1977 wurde festgehalten, dass „bei Sterbenden, auf den Tod Kranken oder lebensgefahrlich Verletzten", deren Krankheitsverlauf „irreversibel" ist und die „kein bewusstes und umweltbezogenes Leben mit eigener Personlichkeitsgestaltung" mehr fuhren konnen, der Arzt nicht mehr verpflichtet sein soil, „alle der Lebensverlangerungen dienenden therapeutischen Moglichkeiten einzusetzen" (SAMW, 1977). Fiir den geringen Anteil an passiver Sterbehilfe in Italien hingegen konnte meines Erachtens die
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Bedeutung der Partizipation von Angehorigen am Entscheidungsprozess eine Rolle spielen. So zeigen Studien, dass in mediterranen Landem der Wunsch der Angehorigen viel mehr Gewicht hat als in anderen Landem, und Angehorige haufig wiinschen, dass selbst in aussichtslosen Situationen noch alles Mogliche zur Lebenserhaltung untemommen wird (Feldman, Zhang & Cummings, 1999; Hinkka, Kosunen, Metsanoja, Lammi & Kellokumpu-Lehtinen, 2002; Vincent, 1999). In Bezug auf die legale indirekt aktive Sterbehilfe sind Landerunterschiede, wie sie bei der passiven Sterbehilfe vorhanden sind, anhand der TodesfallStudie nicht zu fmden (van der Heide et al., 2003). Kulturelle Unterschiede pragen auch innerhalb der Schweiz die Einstellungen von Arztinnen und Arzten zur Sterbehilfe, wobei Differenzen in Bezug auf die passive, aktive und indirekt aktive Sterbehilfe sowie die Suizidbeihilfe festzustellen sind (Fischer et al., 2006b). Arztinnen und Arzte aus der franzosischsprachigen Schweiz lehnen die passive Sterbehilfe auf Patientenverlangen starker ab als ihre Kolleginnen und Kollegen aus der deutschsprachigen Schweiz, wogegen bei der passiven Sterbehilfe aufgrund einer Patientenverfiigung oder auf Wunsch der Angehorigen keine Unterschiede zwischen den Sprachregionen zu finden sind. Der aktiven Sterbehilfe mit und ohne Patientenverlangen, der Suizidbeihilfe sowie der indirekt aktiven Sterbehilfe stimmen Arztinnen und Arzte aus der franzosischsprachigen Schweiz haufiger zu als Arztinnen und Arzte in der deutschsprachigen Schweiz. Italienischsprachige Arztinnen und Arzte nehmen viel deutlicher zugunsten der Lebenserhaltung unter alien Umstanden und somit gegen die Sterbehilfe Stellung als die iibrigen Arztinnen und Arzte. Diese Unterschiede zwischen den drei Sprachregionen in der Schweiz weisen darauf hin, dass die Ergebnisse, die anhand der europaischen Todesfall-Studie zur Haufigkeit der Sterbehilfe in der deutschsprachigen Schweiz gewonnen wurden (van der Heide et al., 2003), nicht ohne weiteres auf die gesamte Schweiz ubertragbar sind. Da Willems et al. (2000) in ihrer Studie, die sie in Amerika und Holland durchfuhrten, zeigen konnten, dass das tatsachliche Sterbehilfeverhalten starker von kulturellen Faktoren beeinflusst wird als die Einstellungen, ist anzunehmen, dass auch in der Schweiz in Bezug auf das tatsachliche Sterbehilfeverhalten groBere Unterschiede zwischen den Sprachregionen vorhanden sind als in Bezug auf die Einstellungen. Die gefundenen Unterschiede zwischen den Sprachregionen konnen nicht durch unterschiedliche Sterbehilfegesetze oder -richtlinien bedingt sein, da in der ganzen Schweiz dieselben gesetzlichen Regelungen bestehen und die Richtlinien der SAMW fur die gesamte Schweiz gultig sind (Fischer et al., 2006b). Vielmehr zeigt ein Vergleich mit intemationalen Daten, dass die innerhalb der Schweiz gefundenen Unterschiede denjenigen zwischen Deutschland, Frankreich sowie Itahen entsprechen (Cuttini et al., 2000; Miccinesi et al., 2005; Rebagliato et al.,
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2000). GemaB der Studie von Cuttini et al. (2000) liegt der Prozentsatz der passiven Sterbehilfe in Deutschland am hochsten, gefolgt von Frankreich. Der geringste Anteil wurde in Italien gefunden. Die Anteile der Arztinnen und Arzte, die aktive sowie indirekt aktive Sterbehilfe praktizierten, waren in Frankreich am hochsten, gefolgt von Deutschland. Am seltensten leisteten italienische Arztinnen und Arzte aktive und indirekt aktive Sterbehilfe.
2.3.6 Kommumkation und Sterbehilfe Bisher liegen kaum Studien zur Sterbehilfe vor, die Auskunft liber die ArztPatienten-Kommunikation geben (z.B. van der Heide et al, 2003). Somit fehlen Angaben daruber, welche Informationen zwischen Arzt und Patient ausgetauscht wurden und in welcher Form Patientinnen und Patienten an Sterbehilfeentscheidungen partizipieren, fast vollstandig. Lediglich im Rahmen der europaischen Todesfall-Studie wurden die Arztinnen und Arzte in Bezug auf diejenigen Todesfalle, denen eine Sterbehilfe vorausging, danach gefragt, ob die Patientinnen und Patienten entscheidungsfahig gewesen seien oder nicht und wie haufig sie als Arztinnen und Arzte die Sterbehilfeentscheidungen mit den Betroffenen (Patientin/Patient oder Angehorigen), mit Kolleginnen, Kollegen und dem Pflegepersonal diskutiert hatten. Zudem gibt es einige wenige Studien, die untersucht haben, wie haufig Patientinnen und Patienten einen Wunsch nach Sterbehilfe auBem. Im Folgenden werden zuerst die Erkenntnisse der europaischen Studie und anschlieBend die Studienergebnisse zum Sterbehilfewunsch vorgestellt. Die europaische Studie zeigt, dass in alien untersuchten Landem ein geringer Anteil der Patientinnen und Patienten, deren Tod eine Sterbehilfe vorausging, entscheidungsfahig (zwischen 9% in Italien und 35% in Holland; Schweiz 32%) und ein groBer Prozentsatz nicht entscheidungsfahig war (zwischen 48% in Holland und 66% in Belgien; Schweiz: 58%) (van der Heide et al., 2003).^"^ Betrachtet man den Entscheidungsprozess fiir alle Sterbehilfeformen gesamthaft, zeigt sich, dass in Holland und der Schweiz die Sterbehilfe in mehr als drei von vier Sterbehilfefallen mit der Patientin bzw. dem Patienten besprochen wurde, wenn dieser als entscheidungsfahig eingeschatzt worden war, wahrend in Italien und Schweden lediglich in etwa vier von zehn Fallen eine Diskussion stattfand (van der Heide et al., 2003). Falls die Patienten nicht mehr entscheidungsfahig sind, kommt den Angehorigen eine zentrale Rolle im Entscheidungsprozess zu. '^ Nur fur diejenigen Todesfalle, denen eine Sterbehilfe vorausging, wurde erfasst, ob der Patient entscheidungsfahig war oder nicht. Es kann somit keine Aussage daruber gemacht werden, ob bei Todesfallen mit Sterbehilfe haufiger oder seltener als bei jenen ohne Sterbehilfe entscheidungsfahige Patientinnen und Patienten betroffen waren.
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Falle von Sterbehilfe wurden mit den Angehorigen sehr haufig in Holland (88%), Belgien (80%) und der Schweiz (71%) besprochen, wahrend sie in Italien und Schweden mit je 42% bedeutend seltener diskutiert wiirden. Hinsichtlich der Besprechung mit Kollegen zeigt sich eine ahnliche Verteilung. Am haufigsten besprachen Arztinnen und Arzte in Belgien und Holland solche Entscheidungen mit Kolleginnen und Kollegen. In der Schweiz fand in 38% der Sterbehilfefalle eine Diskussion mit einem Kollegen und in 50% mit dem Pflegepersonal statt (van der Heide et al., 2003, S. 349). Diese Ergebnisse zeigen, dass in Landem, in denen haufiger Sterbehilfe geleistet wird - Schweiz, Holland, Belgien - , diese Falle auch haufiger mit Betroffenen (Patientinnen, Patienten sowie Angehorigen) und Kolleginnen und Kollegen diskutiert werden als in Landem, in denen Sterbehilfe selten vorkommt - Italien und Schweden. Die Prozentsatze sagen jedoch nichts tiber die Qualitat bzw. den Inhalt der Diskussion zwischen Arzt bzw. Arztin und Patient bzw. Patientin aus. Zudem ist zu beriicksichtigen, dass nur die Sicht von Arztinnen und Arzten erfasst wurde, die Aussagen von Dritten aber fehlen. Bisher haben nur wenige Studien die Haufigkeit der Nachfragen von terminal kranken Patientinnen und Patienten nach Sterbehilfe erfasst (Back et al., 2002; Daly, Hooks, Youngner & al, 2000; Emanuel et al., 2000; Jones, Huggins, Rydall & Rodin, 2003; Meier, Emmons, Litke, Wallenstein & Morrison, 2003; Morita, Sakagucji, Hirai, Tsuneto & Shima, 2004; Virik & Glare, 2002). In den meisten der vorhandenen Studien wurden in Form von Querschnittserhebungen entweder Angehorige oder Arztinnen und Arzte befragt. Nur selten wurden prospektive Untersuchungen bei terminal Erkrankten durchgefiihrt (Emanuel et al., 2000). Bei den Studien, in denen die Angaben von Arztinnen und Arzte stammen, handelt es sich um Arztlnnen-Studien. Todesfall-Studien, die sich diesem Aspekt widmen, gibt es bislang nicht. Die Nachfrage nach Sterbehilfe wurde in den Studien unterschiedlich erfragt. Zum einen fragte man nach dem Wunsch nach aktiver Sterbehilfe oder nach Suizidbeihilfe, zum anderen nach einem Sterbewunsch des terminalen Patienten oder nach einem Wunsch nach Beschleunigung des Todes. Nach Angaben der befragten Arztinnen und Arzte liegt die Nachfrage von terminalen Patientinnen und Patienten nach der Beschleunigung des Todes, aktiver Sterbehilfe oder nach Suizidbeihilfe zwischen 1.6%) (Virik & Glare, 2002) und 8.5% (Daly et al., 2000). Gegeniiber Angehorigen auBerten 20% einen Sterbewunsch und 10%) wunschten, dass der Tod beschleunigt werde (Jones et al, 2003; Morita et al., 2004). GemaB der einzigen mir bekannten prospektiven Kohortenstudie, in der 1000 terminal Erkrankte sowie die Pflegenden befragt wurden, befurworteten 60% der sterbenskranken Patientinnen und Patienten aktive Sterbehilfe oder arztliche Suizidbeihilfe in hypothetischen Situationen, wahrend nur 11% fur sich
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selbst eine solche emsthaft in Betracht zogen. 16 Monate spater hatte rund die Halfte derjenigen, die die beiden Sterbehilfeformen fur sich in Erwagung gezogen hatte, die Meinung geandert, wahrend eine ungefahr gleiche groBe Zahl die beiden Formen weiterhin fur sich in Betracht zog. SchUeBHch starben 0.4% der befragten Patientinnen und Patienten durch aktive Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe (Emanuel et al., 2000). Wie reagieren Arztinnen und Arzte, wenn Patientinnen und Patienten den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe auBem? Back, Wallace, Starks und Pearlman (1996) berichten, dass 76% der Arztinnen und Arzte zuerst die Symptombehandlung verstarken, 65% behandeln Depressionen und Angste und 24% iiberweisen den Patienten oder die Patientin fur eine psychiatrische Einschatzung. Meier, Emmons, Wallenstein, Timothy, Morrison und Cassel (1998) halten fest, dass 71% der Arzteschaft auf eine Nachfrage damit reagiert, dass sie die Schmerzbehandlung intensivieren, 30% setzen weniger lebenserhaltende MaBnahmen ein und 25% verschreiben Antidepressiva.
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Fragestellungen und Methodik
3.1 Fragestellungen Meine Fragestellungen beziehen sich auf das arztliche Handeln gegenliber terminal Erkrankten, d,h. gegeniiber Personen, die kurz vor dem Tod stehen. Im Zentrum des Interesses stehen das Informationsverhalten sowie die Sterbehilfe und deren Determinanten. In Kapitel 1 und 2 wurde dargelegt, dass in bisherigen Studien vorwiegend der Einfluss von Patientenmerkmalen auf das arztliche Informationsverhalten untersucht wurde und Studien, in denen als potentielle Determinanten Arztmerkmale und weitere Faktoren beriicksichtigt werden, fast vollstandig fehlen. In Bezug auf die Sterbehilfe hat Kapitel 2 gezeigt, dass zu den wichtigsten Dimensionen, die den verschiedenen Sterbehilfekonstrukten zugrunde liegen, die Person gehort, die die Sterbehilfeentscheidung fallt („locus of decision") sowie jene Person, die die Sterbehilfehandlung durchfiihrt („locus of action"). Dasselbe Kapitel hat femer illustriert, dass diese beiden Dimensionen in bisherigen empirischen Studien nicht berucksichtigt wurden, dass die verwendeten Operationalisierungen sich oft auf unterschiedliche Dimensionen sttitzen und zumeist nicht validiert wurden. Zudem wurde in Kapitel 2 dargelegt, dass bei der bisherigen Erforschung der Determinanten der Sterbehilfe zumeist rein empirisch, d.h. ohne explizit herausgearbeiteten theoretischen Hintergrund, vorgegangen wurde.'^ Im Weiteren wurde dargelegt, dass Studien, die Arztinnen und Arzte zu alien verschiedenen Sterbehilfeformen gleichzeitig befragen und somit einen Vergleich der jeweiligen Zustimmung zu den verschiedenen Sterbehilfeformen im gleichen Befragungskontext ermoglichen, bisher weitgehend fehlen. Die vorliegende Arbeit will dazu beitragen diese Forschungslticken zu schheBen. Im Einzelnen werden folgende Fragen untersucht: •
Wie haufig beabsichtigen Arztinnen und Arzte, eine terminal erkrankte Patientin oder einen terminal erkrankten Patienten und deren/dessen Angehorige iiber die Prognose zu informieren?
'^ Eine Ausnahme bilden dabei Studien, die den Zusammenhang zwischen der Religionszugehorigkeit und/oder Religiositat und der Sterbehilfe analysieren (vgl. Kapitel 2.2.5).
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Wie oft wurde innerhalb der letzten zwolf Monate der Wunsch nach Suizidbeihilfe oder aktiver Sterbehilfe an die Arztinnen und Arzte herangetragen? Wie oft praktizierten die Arztinnen und Arzte innerhalb der letzten zwolf Monate die verschiedenen Sterbehilfeformen (passive Sterbehilfe, indirekt aktive Sterbehilfe, tiefe terminale Sedierung, aktive Sterbehilfe, Suizidbeihilfe)? Wie haufig beabsichtigen Arztinnen und Arzte, bei einer terminalen Krebspatientin/einem terminalen Krebspatienten die verschiedenen Sterbehilfeformen (passive Sterbehilfe, indirekt aktive Sterbehilfe, tiefe terminale Sedierung, aktive Sterbehilfe, Suizidbeihilfe) durchzuflihren?
Fixr den erhaltenen Wunsch nach Suizidbeihilfe oder aktiver Sterbehilfe, das bisherige Sterbehilfeverhalten und die Bereitschaft, Sterbehilfe zu leisten sowie den Patienten und deren Angehorigen tiber die Prognose zu informieren, werden als mogliche Pradiktoren betrachtet: • • •
Soziodemographische Merkmale der Arztinnen und Arzte (Fachgebiet, Alter, Geschlecht, Religionszugehorigkeit/Religiositat); Erfahrungen mit Sterbenden; Kontextmerkmale (Sprachregion sowie Arbeitssetting).
Im Weiteren konnen fur das Informationsverhalten sowie die Bereitschaft, Sterbehilfe durchzufiihren, situational Faktoren (Lebenserwartung, Kontrollierbarkeit der Schmerzen, Entscheidungsfahigkeit des Patienten) mitberlicksichtigt werden. Femer wird bezuglich der Bereitschaft Sterbehilfe zu praktizieren, zudem das bisherige Sterbehilfeverhalten als unabhangige Variable in die Analysen miteinbezogen. Da bei der Erfassung der Bereitschaft, Sterbehilfe zu leisten, nach der Person, die die Sterbehilfeentscheidung fallt, unterschieden wird, kann die Frage beantwortet werden, welche Rolle es fur die Zustimmung zur Sterbehilfe spielt, wer (Patient, Angehorige, Arzt) die Sterbehilfeentscheidung fallt, und ob es fur die Bedeutung der verschiedenen Determinanten fur die Sterbehilfe relevant ist, wer Entscheidungstrager/in ist. Zu einigen dieser Fragen werden nun - so weit aufgrund des Forschungsstandes moglich - Hypothesen bzw. Annahmen formuliert, die dann in den folgenden Kapiteln iiberpriift werden. Da - wie in Kapitel 1 und 2 dargestellt - der bisherige Forschungsstand zur arztlichen Information sowie zur Sterbehilfe mangelhaft ist, lassen sich zu vielen der Fragen keine Hypothesen formulieren; die Analysen sind somit oft induktiv-deskriptiver Art und stiitzen sich auf Annahmen, die lediglich auf empirischen Ergebnissen beruhen.
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3.1.1 Information uber Prognose Die theoretischen Ausfuhrungen in Kapitel 1.1.3 haben gezeigt, dass Arztinnen und Arzte belastende Situationen zu vermeiden versuchen, indem sie ihren Patientinnen und Patienten kritische Informationen vorenthalten. Diese Hypothese wurde mit Parsons Konzept der arztlichen Rollenstruktur und mit der Verpflichtung des Statuserhalts begrundet. Allerdings zeigen empirische Studien, welche in Kapitel 1.3.4 prasentiert wurden, dass terminale Krebspatientinnen und -patienten zumeist uber ihre Prognose informiert werden, da hier die Verheimlichung der Todesnahe schwieriger ist als bei anderen Erkrankungsarten. Daher wird in der vorliegenden Untersuchung davon ausgegangen, dass die meisten Arztinnen und Arzte terminale Krebspatientinnen und -patienten liber ihren Krankheitszustand aufklaren. Arbeitssetting bzw. Organisationstyp als Determinante In Kapitel 1.3.3 wurde dargelegt, dass die arztliche Rollennorm der „affektiven Neutralitat" und der „Objektivitat" im Krankenhaus ausgepragter ist als auBerhalb des Krankenhauses und dass diese Handlungsorientierung eine Aufklarung des Sterbenden erschwert. Deshalb wird die Hypothese uberpriift, ob Spitalarztinnen und -arzte schlechte Nachrichten eher zuriickhalten als die iibrigen Arztinnen und Arzte. Lebenserwartung als Determinante Da in Kapitel 1.3.4 gezeigt wurde, dass Arztinnen und Arzte die Ubermittlung von schlechten Nachrichten moglichst lange hinausschieben, wird angenommen, dass Patientinnen und Patienten, deren Lebenserwartung als gering eingeschatzt wird, haufiger iiber ihren bevorstehenden Tod informiert werden als Personen mit einer langeren verbleibenden Lebenszeit. Sprachregion als Determinante Weil in mediterranen Landem Angehorige im Entscheidungsprozess eine wichtigere Rolle spielen als in anderen Landem (Kapitel 1.3.4), wird ferner erwartet, dass Arztinnen und Arzte aus der italienischsprachigen Schweiz die Angehorigen bedeutend haufiger iiber die Prognose informieren als Arztinnen und Arzte in der deutsch- sowie in der franzosischsprachigen Schweiz.
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3.1.2 Patientenverlangen nach aktiver Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe Erfahrungen mit Sterbenden als Determinante Es kann davon ausgegangen warden, dass Arztinnen und Arzte, die mehr Sterbende betreuen, haufiger mit einem Wunsch nach Beschleimigung des Todes konfrontiert werden als die iibrigen Arzte. Fiir die iibrigen potentiellen Pradiktoren sind aufgrimd des Forschungsstandes keine Annahmen moglich.
3.1.3 Sterbehilfe: bisheriges Verhalten und Verhaltensabsicht Aufgrund der im Rahmen der EURELD-Studie bisher gewonnenen Erkenntnisse zur Sterbehilfe in der Schweiz (z.B. Bosshard et al, 2005; Fischer et al., 2006b; van der Heide et al., 2003) wird angenommen, dass eine groBe Mehrheit der Befragten bisher passive Sterbehilfe und indirekt aktive Sterbehilfe geleistet hat bzw. bereit ware, diese beiden Sterbehilfeformen zu praktizieren. Bedeutend geringer dlirfte der Anteil der Arztinnen und Arzte ausfallen, die der tiefen terminalen Sedierung zustimmen. Auch der Anteil derer, die eigene Erfahrungen mit aktiver Sterbehilfe oder Suizidbeihilfe haben (vgl. van der Heide et al., 2003) bzw. diese beiden Sterbehilfeformen praktizieren wlirden, ist als sehr gering einzuschatzen. Da sich gezeigt hat, dass der Prozentsatz der Sterbehilfebefiirworter hoher ist, wenn man Einstellungen oder Verhaltensabsichten anstatt das tatsachliche Verhalten erfragt, wird erwartet, dass auch die vorliegende Untersuchung in Bezug auf den Anteil zustimmender Arztinnen und Arzte solche Unterschiede zwischen der Verhaltensabsicht und dem bisherigen Verhalten zu Tage bringen wird. In Bezug auf die potentiellen Determinanten der Sterbehilfe lassen ich verschiedene Annahmen formulieren. Die Person des Verlangens („Entscheidungsmacht") als Determinante Da bisherige Studienergebnisse zeigen, dass die Arzteschaft die Sterbehilfe deutlich befurwortet, wenn der Patient danach verlangt (vgl. Kapitel 2), wird ein solcher Zusammenhang auch in dieser Studie erwartet. Im Weiteren wird angenommen, dass die Zustimmung bedeutend schwacher ausfallt, wenn die Angehorigen sich fiir die Sterbehilfe entscheiden (vgl. Kapitel 2). Da die Sterbehilfe aus eigener Initiative des Arztes bisher nicht untersucht wurde, sind diesbeziiglich keine Annahmen moglich.
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Situation als Determinante Die vorhandenen Studienergebnisse (Kapitel 2) lassen vermuten, dass aktive Sterbehilfe, Suizidbeihilfe, tiefe terminale Sedierung sowie indirekt aktive Sterbehilfe am haufigsten bei Krebserkrankten praktiziert werden, da diese Patientinnen und Patienten haufiger unter starken Schmerzen leiden als Patienten mit anderen Erkrankungen, und starke Schmerzen ein unter der Arzteschaft anerkannter Grund ist, um Sterbehilfe zu leisten (z.B. Haverkate et al., 2000; van der Heide et al., 2003). Dagegen diirfte passive Sterbehilfe vermehrt bei sehr alten Patientinnen und Patienten vorgenommen werden, da hier die Wahrscheinlichkeit, dass eine Behandlung zu einer lang anhaltenden Verbesserung des Gesundheitszustandes fuhrt, sehr gering ist (Kapitel 2.2.5). Alter des Arztes als Determinante Die Ausfiihrungen in Kapitel 2.2.5 haben illustriert, dass das Alter der Arztinnen und Arzte in keiner konsistenten Beziehung zur Sterbehilfe steht. Flir den Zusammenhang zwischen dem Alter und der Suizidbeihilfe sowie der aktiven Sterbehilfe liegen widerspruchliche Resultate vor. Lediglich fiir die passive und die indirekt aktive Sterbehilfe sowie die terminale tiefe Sedierung zeigt sich aufgrund bisheriger Studien die Tendenz, dass altere Arztinnen und Arzte diese Sterbehilfeformen starker befurworten als jiingere. Es wird angenommen, dass zwischen dem Alter und der passiven, der indirekt aktiven Sterbehilfe und der terminalen tiefen Sedierung signifikante Korrelationen bestehen: Altere Arztinnen und Arzte sind eher als jiingere bereit diese Sterbehilfeformen zu praktizieren. Geschlecht des Arztes als Determinante Da sich das Geschlecht des Arztes gemaO den vorhandenen Studien vor allem fiir die aktive Sterbehilfe sowie die Suizidbeihilfe als Pradiktor erwies, werden auch in der vorliegenden Untersuchung Geschlechtsunterschiede vorwiegend bei diesen beiden Sterbehilfeformen erwartet. Ebenfalls relevant konnte das Geschlecht fiir die passive Sterbehilfe sein, obwohl hierzu widerspruchliche Resultate vorliegen (Kapitel 2.2.5). Da die indirekt aktive Sterbehilfe und die tiefe terminale Sedierung hauptsachlich eine Reaktion auf starke Schmerzen und Symptome darstellen (Kapitel 2.2.5) und in bisherigen Studien fur diese Sterbehilfeformen zumeist keine Geschlechtsunterschiede gefunden werden konnten, ist davon auszugehen, dass zwischen dem Geschlecht und der indirekt aktive Sterbehilfe sowie der tiefen terminalen Sedierung keine Korrelationen bestehen. Der Einsatz
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dieser Sterbehilfeformen diirfte starker von situationalen Faktoren abhangig sein als vom Geschlecht. Religionszugehorigkeit/Religiositat der Arztinnen und Arzte als Determinante Es wird aufgrund der Ausfuhrungen in Kapitel 2 erwartet, dass die Religionszugehorigkeit/Religiositat hauptsachlich fur die aktive Sterbehilfe und die Suizidbeihilfe von Bedeutung ist, wobei die Ablehnung dieser Sterbehilfeformen bei den Katholiken besonders ausgepragt sein durfte. Diese Zusammenhange konnen mit dem traditionellen christlichen Glauben erklart werden (Anderson & Caddell, 1993). Fur die iibrigen Sterbehilfeformen durfte die Religionszugehorigkeit/Religiositat kaum von Bedeutung sein. Fachgebiet/Anzahl Sterbende als Determinante Arzte, die in Fachgebieten tatig sind, in denen viele Sterbende zu betreuen sind, diirften der aktiven Sterbehilfe und der Suizidbeihilfe weniger zustimmend gegeniiberstehen als die iibrigen Arzte, wahrend Erstere die passive und indirekt aktive Sterbehilfe starker befiirworten als Letztere. Zudem ist zu erwarten, dass Arzte in Fachgebieten, in denen seltener Prognoseunsicherheiten bestehen und in denen der Sterbeverlauf „Altersschwache" iibervertreten ist, haufiger passive Sterbehilfe leisten als die iibrigen Arzte. Arzte in Fachgebieten, in denen vorwiegend Schmerzpatienten und -patientinnen zu betreuen sind, diirften haufiger indirekt aktive Sterbehilfe, tiefe terminale Sedierung, aktive Sterbehilfe und Suizidbeihilfe praktizieren (vgl. Kapitel 2.2.5). Bisheriges Sterbehilfeverhalten als Determinante der Bereitschaft, Sterbehilfe durchzufuhren Der Einfluss des bisherigen Sterbehilfeverhaltens auf die Bereitschaft, Sterbehilfe zu leisten, wurde bisher lediglich fiir die passive Sterbehilfe untersucht: Es zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen dem bisherigen Verhalten und der Verhaltensabsicht (Kapitel 2.2.5). Ich deute dieses Resultat folgendermaBen: Das Sterbehilfeverhalten wird durch Einstellungen gegenuber der Sterbehilfe determiniert und diese Einstellungen sind iiber die Zeit hinweg relativ stabil. Femer ist aufgrund dieses Ergebnisses davon auszugehen, dass das Verhalten der Arztinnen und Arzte keine negativen Reaktionen ausgelost hat, die sie davon abhalten wiirden, in Zukunft wieder passive Sterbehilfe zu praktizieren. Ich gehe aufgrund dieser Uberlegungen davon aus, dass far die passive Sterbehilfe eine positive Korrelation zwischen dem bisherigen Verhalten und der Verhaltensab-
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sicht besteht. Uber die Zusammenhange fiir die iibrigen Sterbehilfeformen (indirekt aktive Sterbehilfe, tiefe terminale Sedierung, aktive Sterbehilfe und Suizidbeihilfe) verzichte ich auf Annahmen. Arbeitssetting bzw. Organisationstyp als Determinante Es wird davon ausgegangen, dass im Spital seltener Sterbehilfe praktiziert wird als auBerhalb des Spitals. Diese Annahme grundet darauf, dass das Krankenhaus in seiner Zielformulierung die Wiederherstellung der Leistungsfahigkeit und den Kampf gegen den Tod betont. Die Werte- und Zielkonstellation des Krankenhauses lasst das Sterben als Aufforderung erscheinen, den Tod zu verhindem. Im Weiteren lasst sich diese Annahme mit Parsons Konzept der arztlichen Rollenstrukturen untermauem. Die Zielformulierung und die Arbeitsteilung des Krankenhauses fordem von Krankenhausarztinnen und -arzten eine gesteigerte Leistungsorientierung, weshalb der instrumentelle Aktivismus und das Prinzip der „Heilung durch Verwundung" im Spital mehr Gewicht haben als auBerhalb des Spitals (vgl. Kapitel 1.3.3). Da die Handlungskontrolle und Entscheidungsmacht der Einzelnen in Organisationen eingeschrankt ist (vgl. Kapitel 1.1.3), wird ferner angenommen, dass Arztinnen und Arzte, die in der eigenen Praxis tatig sind, haufiger aktive Sterbehilfe und Suizidbeihilfe leisten als Arztinnen und Arzte in Organisationen. Sprachregion als Determinante Ausgehend von den empirischen Ergebnissen zu den Einstellungen der Sterbehilfe (Fischer et al., 2006b) werden sprachregionale Unterschiede erwartet. Es wird angenommen, dass Arztinnen und Arzte in der Deutschschweiz die passive Sterbehilfe starker befiirworten als ihre Kolleginnen und Kollegen in der franzosischund italienischsprachigen Schweiz. Die Romands durften den aktiven Formen der Sterbehilfe (indirekt aktive und aktive Sterbehilfe) sowie der Suizidbeihilfe haufiger zustimmen als die iibrigen Schweizer Arztinnen und Arzte. Im Weiteren ist anzunehmen, dass italienischsprachige Arztinnen und Arzte sich starker gegen die Sterbehilfe aussprechen als Romands und Deutschschweizer. Erklarungen fur diese Unterschiede fehlen bisher vollstandig. Bedeutung der Determinanten je nach der Person, welche die Entscheidung faUt („Entscheidungsmacht") Da in bisherigen Studien zur Sterbehilfe zumeist nicht danach unterschieden wurde, wer die Sterbehilfeentscheidung trifft, konnen kaum Annahmen getroffen
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werden, welche Bedeutung es fiir den Einfluss der potentiellen Determinanten auf die Sterbehilfe hat, wer (Arzt, Patient, Angehorige), die Entscheidung fallt. Lediglich fur die passive Sterbehilfe auf Verlangen der Patientin/des Patienten zeigt eine Studie, dass altere Arztinnen und Arzte diese Sterbehilfeform starker befiirworten als jungere.
3.2 Methodik 3.2.1 Das EURELD-Projekt Die fur die statistischen Auswertungen verwendeten Daten wurden im Rahmen des europaischen Projekts „Medical End-of-Life Decisions: Attitudes and Practices in six European countries" ( E U R E L D ' ^ ) erhoben. Das Projekt wurde im funften Rahmenprogramm der EU „Biomedical ethics and bioethics in the context of respect for fundamental human values: public policies, laws and bioethics" zwischen 2000 und 2003 durchgefiihrt.^^ Das europaische Projekt umfasste zwei Studien. In beiden Studien wurden Arztinnen und Arzte in sechs europaischen Landern (Belgien (Flandern), Danemark, Holland, Italien (vier Regionen im Norden), Schweden und Schweiz (erste Studie: deutschsprachiger Teil; zweite Studie: deutschsprachige, franzosischsprachige und italienischsprachige Schweiz) schriftlich befragt. Die erste Studie (Todesfall-Studie) erlaubt Aussagen dariiber, wie oft in den sechs Landern einem Todesfall Sterbehilfe vorausgeht, um welche Form von Sterbehilfe es sich dabei handelt und welche Patientenmerkmale (Alter, Geschlecht, Todesursache, Sterbeort) diese Sterbehilfefalle aufweisen (Bosshard et al, 2005b; Miccinesi et al., 2005; van der Heide et al., 2003). Fiir die vorliegende Arbeit werden die Daten der zweiten EURELD-Studie (Arztinnen-Studie) verwendet (z.B. Fischer et al., 2006b; Miccinesi et al., 2005; Onwuteaka-Philipsen et al., 2006). Auf der Basis dieser Studie lasst sich u.a. die Bereitschaft der Arztinnen und Arzte untersuchen '^ EURELD steht dabei fur EURopean End-of-Life Decisions. ^^ Contract QLRT-1999-30859. In der Schweiz wurde das Projekt gemeinsam vom Institut fiir Sozialund Praventivmedizin und vom Institut fiir Rechtsmedizin der Universitat Zurich durchgefiihrt (Projektteam: Georg Bosshard, Karin Faisst, Susanne Fischer, Ueli Zellweger). Finanziert wurde es vom Bundesamt fur Bildung und Wissenschaft (contract BBW 99.0889), der Schweizerischen Krebsliga, der Vereinigung gegen Krebs sowie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Die Internationale Koordination des Projektes lag bei Professor Paul van der Maas (Erasmus Medical Center, Rotterdam, Holland) und Professor Gerrit van der Wal (University Medical Center, Amsterdam, Holland). Professor van der Wal und Professor van der Maas hatten vor dem EURELD-Projekt bereits mehrere Studien zur Sterbehilfe durchgefiihrt (van der Maas et al., 1992; van der Maas et al., 1991; van der Maas et al., 1996; van der Wal et al., 1996).
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die verschiedenen Sterbehilfeformen bei terminalen Patientinnen und Patienten durchzufuhren sowie die Betroffenen und deren Angehorige liber die Prognose zu informieren. Dabei kann analysiert werden, welche Bedeutung Arztmerkmale (Alter, Geschlecht, Religion), bisherige Erfahrungen (Anzahl der betreuten sterbenden Patientinnen und Patienten sowie Erfahrungen mit den Sterbehilfeformen innerhalb der letzten zwolf Monate), aber auch kontextuelle Aspekte (Arbeitssetting) fur die Verhaltensabsichten haben. Zudem lasst sich, da die Studie in der Schweiz in drei Sprachregionen (deutschsprachige Schweiz, Romandie und Tessin) durchgefiihrt wurde, der Einfluss der Kultur betrachten. Im Gegensatz zu fruheren Studien, die nur eine Sterbehilfeform (aktive Sterbehilfe oder passive Sterbehilfe) oder zwei Sterbehilfeformen gleichzeitig (aktive Sterbehilfe und Suizidbeihilfe) untersuchten, erfasst die EURELD-Arztlnnen-Studie alle verschiedenen Sterbehilfeformen zugleich. Dies erlaubt es, fur alle Formen dieselben potentiellen Determinanten zu betrachten. Zudem bietet diese Studie die Moglichkeit, sowohl das bisherige Verhalten als auch die Verhaltensabsichten zu analysieren. Fur die Schweiz lagen bis zum EURELD-Projekt keine Daten zur Pravalenz der verschiedenen Sterbehilfeformen sowie zu den Einstellungen, Verhaltenabsichten und dem bisherigen Verhalten von Arztinnen und Arzten in Bezug auf die verschiedenen Sterbehilfeformen vor.
3.2.2 Grundgesamtheit und Stichprobe Wahrend bisher durchgefuhrte Studien zur Sterbehilfe auf bestimmte Fachgebiete (z.B. Intensivmedizin oder Onkologie) begrenzt waren, sollten in der EURELD-Studie Arztinnen und Arzte aus denjenigen Fachgebieten befragt werden, in denen besonders haufig Sterbende betreut werden; auBerdem sollten die Arztinnen und Arzten zum Zeitpunkt der Befragung praktisch tatig sein. Angaben daruber, in welchen Fachgebieten besonders haufig sterbende Patientinnen und Patienten zu betreuen sind, wurden anhand hoUandischer Studien gewonnen. Es wurden Arztinnen und Arzte aus den folgenden acht Fachgebieten in die Stichprobe aufgenommen: Allgemeinmedizin, Anasthesie, Chirurgie, Gynakologie, Innere Medizin, Neurologic, Onkologie und Pneumologie. Zusatzlich wurden alle Geriaterinnen^^ angeschrieben.^^ Um auch Aussagen iiber die Verhaltnisse innerhalb der einzelnen Fachgebiete zu ermoglichen, wurde eine disproportional ^' Geriatrie ist ein Subfacharzttitel der Allgemeinmedizin und der Inneren Medizin. ^^ In der Schweiz werden in der Gynakologie sowie Neurologie kaum Sterbende betreut, wahrend in einigen der anderen teilnehmenden Landem in diesen Fachgebieten viele Sterbende betreut werden. Um in alien Landern in Bezug auf die Fachgebiete identische Stichproben zur Verfiigung zu haben, wurden daher auch in der Schweiz diese Fachgebiete in die Stichprobe aufgenommen.
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geschichtete Stichprobe gezogen; iiberdies wurden nur diejenigen Fachgebiete in die Stichprobe aufgenommen, fiir die rund 300^^ Arztadressen oder mehr vorhanden waren. Falls ungefahr 300 Arztadressen fur ein Fachgebiet vorlagen, wurden alle Adressen aufgenommen; falls mehr Adressen vorhanden waren, wurde aus der Gesamtmenge eine systematische Zufallsstichprobe (jede n-te Adresse) von 300 gezogen. Die Stichprobenziehung fand im Sommer 2002 mittels der Adresskartei der Schweizerischen Arzteverbindung (FMH) statt. Die Datensatze der FMH enthielten die folgenden Variablen: Name und Adresse des Arztes/der Arztin sowie Facharzttitel. Die StichprobengroBe betrug fiir die Gesamtschweiz N=2'235. Um eine moglichst hohe Rticklaufquote zu erzielen, wurden die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) sowie verschiedene Fachgesellschaften darum gebeten, die Studie ideell zu unterstlitzen; auBerdem stellte man die vollstandige Anonymisierung der Daten sicher. Zudem wurden die Arztinnen und Arzten in der Schweizerischen Arztezeitung (SAEZ) uber die Studie vorinformiert (Fischer, Bosshard, Faisst & Zellweger, 2002). Die Datensicherheit wurde vom Datenschutzbeauftragten des Kantons Zurich bestatigt und den Arztinnen und Arzten im Begleitschreiben garantiert. Zur Anonymisierung der Daten wurden jeder Datensatz sowie der Fragebogen und das Riickantwortkuvert mit einer Codenummer versehen. Die Fragebogen verschickte man in der Schweiz im Oktober und November 2002. Die Arztinnen und Arzte sandten den ausgefullten Fragebogen an die SAMW. Diese informierte das Institut fiir Sozialund Praventivmedizin der Universitat Ziirich (ISPMZ) per E-Mail uber die Codenummem der Rticksendungen, welche bei ihnen eingetroffen waren. Erst nachdem die Namen und Adressen der Arztinnen und Arzten in den Datensatzen geloscht waren, wurden die ausgefullten Fragebogen an das ISPMZ gesandt. Dieses kombinierte die Fragebogendaten und die Hintergrundsdaten (Sprachregion und Spezialgebiet) aufgrund der Codenummern. Drei Wochen nach dem Versand der Fragebogen erhielten alle Arztinnen und Arzte, die bis dahin noch nicht geantwortet batten, ein Erinnerungsschreiben.
3.2.3 Gewichtung und Rucklauf Um die Reprasentativitat der Daten fiir alle Arztinnen und Arzte aus den verschiedenen Facharzttiteln zu gewahrleisten, wird fiir jeden Facharzttitel ein Gewichtungsfaktor berechnet (Tabellen 7 und 8). Grundlage fur diese Berechnung
^^ Die Anzahl Arztinnen und Arzte in einem Fachgebiet wurde nicht anhand von PowerBerechnungen bestimmt, sondem wurde vom Koordinationszentrum in Holland festgelegt.
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sind die Grundgesamtheit, die Stichprobe und die retournierten Fragebogen. Da die Stichprobe auch Arztinnen und Arzte umfasst, die zurzeit nicht praktisch tatig sind (n=52) oder denen der Fragebogen nicht zugestellt werden konnte (n=4) (z.B. weil sie verstorben oder im Ausland sind), wurden die Stichprobe und die Grundgesamtheit nachtraghch korrigiert. Dabei wurde angenommen, dass die Anteile an momentan nicht praktisch tatigen Arztinnen und Arzten sowie an solchen, denen der Fragebogen nicht zugestellt werden konnte, in der Grundgesamtheit quantitativ im gleichen Verhaltnis zueinander stehen wie in der Stichprobe. Nach den vorgenommen Korrekturen der Stichprobe und der Grundgesamtheit ergibt sich ein Riicklauf von 64% (n=r397). Die hochsten Riicklaufquoten fmden sich bei den Facharzttiteln Geriatric (73.7%) und Innere Medizin (72.5%)) und die tiefsten bei der Gynakologie (53.7%) und der Neurologic (58.7%) (Tabelle 8). Zwischen den Sprachregionen zeigen sich in Bezug auf den Rucklauf keine signifikanten Unterschiede (deutschsprachige und franzosischsprachige Schweiz: 64%; itahenischsprachige Schweiz: 63%)) (keine Tabelle). Tabelle 7. Berechnungen der Gewichtungsfaktoren Korrigierte Stichprobe B'=B-D-E z.B. fiir Anasthesistinnen und Anasthesisten: 300-6-0=294 Korrigierte Grundgesamtheit A'=Ax((l-D+E)/C) z.B. fur Anasthesistinnen und Anasthesisten: A'=804x(l-6-0)/300)=788 Gewichtungsfaktor: I=(A'/G) x Total G/Total A' z.B. fur Anasthesistinnen und Anasthesisten: H788/205) x (1 '397/7'698) = 0.70
Tabelle 8. Grundgesamtheit, Stichprobe, Rucklauf und Gewichtung
Facharzttitel
Grundgsamtheit
berichtigtes A
A
A'
STP (N)
versendet
B
C
prakti- unzu- berichziert stellbar tigtes nicht N D
E 2
F
retourniert
Rucklauf %
Gewichtung
G
H
I
2'863
2'787
300
300
6
292
198
67.8
2.55
Anasthesie
804
788
300
300
6
294
205
69.7
0.70
Chirurgie
895
859
300
300
12
288
186
64.6
0.84
Geriatric
79
76
79
79
3
76
56
73.7
0.25 1.04
Allgemeinmedizin
927
921
300
300
2
298
160
53.7
1'672
1'600
300
300
12
1
287
208
72.5
1.40
Neurologie
261
259
261
261
1
1
259
152
58.7
0.31
Onkologie
187
180
187
187
n
180
115
63.9
0.28
Pneumologie
208
205
208
208
3
205
117
57.1
0.32
7'896
7'698
2'235
2'235
52
2'179
r397
64.1
1.00
Gynakologie Innere Medizin
Total
4
131
3.2.4 Fragebogen und Operationalisierung der zentralen Variablen Bei der Studie handelt es sich um eine schriftliche Befragung von Arztinnen und Arzten anhand eines neunseitigen standardisierten Fragebogens, den das EURELD-Projektteam groBtenteils selbst konstruiert hat. Nur einzelne Operationalisierungen wurden aus fruheren Studien ubemommen (vgl. Miccinesi et al., 2005). Der Fragebogen wurde im Rahmen des europaischen Projektes in englischer Sprache entwickelt. Um zu gewahrleisten, dass in alien Sprachen identische Formulierungen verwendet werden, wurde der urspriingliche Fragebogen zunachst in die verschiedenen Sprachen ubersetzt. AnschlieBend ubersetzte eine weitere Ubersetzerin die Fragen wieder ins Englische zuriick. Unstimmigkeiten zwischen den Ubersetzungen wurden von den zwei Ubersetzenden sowie einem Mitglied des Projektteams des entsprechenden Landes gemeinsam besprochen und geklart. In der Schweiz wurden deutsch-, franzosisch- sowie italienischsprachige Fragebogenversionen benutzt. Das europaische Projektteam setzte sich vorwiegend aus Medizinerinnen und Medizinem zusammen und auch die Gesamtkoordination des Projektes lag in den Handen von Medizinem. Im Weiteren waren Ethiker, Philosophen, Psychologen, Soziologinnen und Soziologen sowie Gesundheitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler vertreten. Da im Medizinstudium keine Forschungsmethoden gelehrt und gelemt werden und Sozialwissenschaftlerinnen und wissenschaftler im Vergleich zu Medizinerinnen und Mediziner im Projekt eine marginale Stellung hatten, entspricht das methodische Vorgehen der Fragebogenkonstruktion nicht den sozialwissenschaftlichen Gepflogenheiten (vgl. Meyer-Fehr, 1988). So wurde der Fragebogen nicht anhand eines theoretischen Modells Oder expliziter Fragestellungen konstruiert, vielmehr blieben die Fragestellungen implizit. Es gingen Konzepte in den Fragebogen ein, die den Arztinnen und Arzten aufgrund praktischer Erfahrungen oder aufgrund des Literaturstudiums als relevant erschienen, wobei die Grunde fiir die Verwendung dieser Konzepte mehrheitlich unerlautert blieben. Es wurde nicht darauf geachtet, fiir die Auswertungen ein moglichst hohes Skalenniveau (intervall oder proportional) zur Verfugung zu haben. So wurden uberhaupt keine Skalen verwendet, da solche den Medizinerinnen und Medizinem nicht vertraut sind. Femer wurde der Fragebogen lediglich mittels Gesprachen mit einigen Arztinnen und Arzten getestet und nicht - wie in Sozialwissenschaften ubhch - anhand eines Pretests. Da kein Pretest durchgefiihrt wurde, konnten Fragen, bei denen die Antworten zu wenig streuten, nicht ersetzt werden. Ebenso fehlte bei der Fragebogenkonstmktion eine Reflexion dariiber, wie die entsprechenden Daten anschlieBend ausgewertet werden sollen. Auf weitere
132
Kritikpunkte wird im Rahmen der nachfolgenden Darstellung der fur die Untersuchung zentralen Variablen eingegangen. Verhaltensabsicht in Bezug auf Information liber Prognose und Sterbehilfe (abhangige Variablen) Die Bereitschaft des Arztes oder der Arztin, den Patienten bzw. die Patientin und deren Angehorige ilber die Prognose zu informieren und die verschiedenen Sterbehilfeformen auszufuhren, wurde anhand von vier Fallbeispielen erfasst. Die Beispiele beziehen sich auf eine terminale Krebserkrankung bei einem 71jahrigen Patienten bzw. einer 71-jahrigen Patientin, da diese Situation alien involvierten Fachgebieten gleichermaBen vertraut sein durfte (Tabelle 9). Die vier Fallbeispiele variieren hinsichtlich der folgenden drei Situationsmerkmale: •
•
•
Geistige Kompetenz der Patientin/ des Patienten (Pat. ist geistig klar und in der Kommunikation (noch) nicht eingeschrankt versus Pat. ist schlafrig oder subkomatos und eine Kommunikation ist nicht moglich) Schmerzen (Schmerzen konnen kaum behandelt werden versus Schmerzen konnen adaquat kontrolliert werden, aber Pat. ist extrem miide, kurzatmig und bettlagerig) Lebenserwartung (2 Wochen oder weniger versus 3 Monate oder mehr)
Da diese Merkmale (geistige Kompetenz, Schmerzen und Lebenserwartung) nicht als eigenstandige Variablen in den Datensatzen abgespeichert werden konnen, ist es nicht moglich, sie als unabhangige Variablen in die Analysen miteinzubeziehen. Information iiber Prognose Die Arztinnen und Arzte wurden nach der Bereitschaft gefragt, in den vier geschilderten Fallen (1) den Patienten bzw. die Patientin und (2) die Angehorigen ohne den Patienten/die Patientin zu informieren - iiber die Prognose aufzuklaren, wobei die erste Frage nur fur die zwei Fallbeispiele gestellt wurde, in denen die Patientin bzw. der Patient als kompetent, d.h. als geistig klar und in der Kommunikation (noch) nicht eingeschrankt, beschrieben wird. In Bezug auf die Patienteninformation waren folgende Antwortmoglichkeiten vorgegeben: „ja, sicher", ,Ja, aber erst, nachdem ich mich vergewissert habe, dass der/die Pat. dies wissen will", ,ja, aber nur, falls der/die Pat. danach fragt" und „nein." In Bezug auf die Information der Angehorigen lauten die Antwortkategorien: „ja, sicher", „ja,
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aber erst, nachdem ich mich vergewissert habe, dass die Angehorigen dies wissen wollen",, ja, aber nur, falls die Angehorigen danach fragen" und „nein". Die Antwortkategorien sind somit lediglich nominalskaliert. Sie wurden von den Medizinerinnen und Medizinem im Projekt vorgeschlagen. Die Antwortkategorie „ja, aber erst, nachdem ich mich vergewissert habe, dass der Patient/die Angehorigen dies wissen wollen" wurde damit begrundet, dass es in alien am Projekt teilnehmenden Landern der arztlichen Praxis entspreche, dass man sich zuerst vergewissere, ob die Patientinnen und Patienten informiert werden mochten oder nicht.^^ Dabei blieb die Frage, wie Arztinnen und Arzte dabei konkret vorgehen, unbeantwortet. Tabelle 9. Fallbeispiele Die Fallbeispiele haben Folgendes gemeinsam:
Ein 71-jahriger Patient bzw. eine 71-jahrige Patientin hat Krebs mit ausgedehnten Gehirn- und KnochenmetastaserI. Der/die Pat. hat sich bereits zwei belastenden Chemotherapien unterzogen . Die Wahrscheinlichkeit, dass eine weitere Chemotherapie zu einer lang anhaltenden Remission fiihren wtirde, ist gering(50 (Referenz) 41-49 50 (Referenz) 41-49 50 (Referenz) 41-49 50 (Referenz) 41-49 50 (Referenz) 41-49 ^ > ^ ^ "« ^
Patient/-in
Angehorige
Arzt/Arztin
•5
C
Patient/-in
.2 •3 (Z)
13
CM
Angehorige
Arzt/Arztin
H
i^v
Patient/-in
k.
^ .^
Angehorige
Arzt/Arztin
Suizidbeihilfe
Fall
i
2
1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4 1 2 3 4 1 2
Geschlecht
Ref:
Ref:
>50
Mann
Religion Ref: rom.kathol.
Anz. Sterb.
Erfahrungen
Organisation
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